Zwischen Freizeitpark und Wohlstandsmüll

Zwischen Freizeitpark und Wohlstandsmüll

Arbeitslosigkeit als Beispiel des Wirkens struktureller Gewalt

von Barbara Hedderich

Über 4,8 Millionen offiziell registrierte Arbeitslose in Deutschland Ende Januar 1998; ein trauriger Rekord, der auf der einen Seite Betroffenheitsbekundungen provoziert, andererseits kommt es aber auch immer wieder zu Verbalattacken, von denen das Unwort des Jahres 1997, das die Arbeitslosen zu »Wohlstandsmüll« abstempelte, wohl ein überdeutliches Beispiel bietet. In der Diskussion über mögliche Lösungen angesichts der festzustellenden ökonomischen Krise finden sich Ambivalenzen bis hin zum Paradoxen. Da werden die einen ermahnt, mehr zu arbeiten und Deutschland nicht als Freizeitpark zu betrachten, während den anderen (z.B. Asylbewerbern) verboten wird zu arbeiten. Arbeitslosigkeit ist ganz offensichtlich ein stark mit widersprüchlichen Emotionen besetzter Begriff, was nicht verwundert, wenn bedacht wird, daß Arbeitslosigkeit nichts anderes als das Fehlen von Erwerbstätigkeit bedeutet.

Erwerbstätigkeit ist aber in einer Gesellschaft, die als Arbeitsgesellschaft sich identitätsstiftend über dieses Konzept definiert, einer der entscheidenden Bereiche, der über das Ausmaß an ökonomischer und sonstiger gesellschaftlicher Partizipation bestimmt. Strukturelle Gewalt wird durch den Ausschluß von dieser Partizipation ausgeübt. Sie ist insofern unbeabsichtigt als sie durch eine gesellschaftliche Ordnung hervorgerufen wird, von der alle Beteiligten – sowohl die Besser- als auch die Schlechtergestellten – geprägt sind.

Einige Zahlen

Das Diagramm zeigt ein durchaus uneinheitliches Bild. Während die Arbeitslosigkeit in einigen Ländern wie den USA, Norwegen und den Niederlanden in den letzten Jahren gesunken ist bzw. auf vergleichsweise niedrigem Niveau verblieb, stieg sie in anderen Ländern, darunter Deutschland, kontinuierlich an. Mit Ausnahme von Norwegen liegen alle Werte über 5%. In allen Quoten wird ein hoher Durchfluß nur kurzer Zeit Arbeitsloser mit den sogenannten Langzeitarbeitslosen zusammengefaßt. Gerade die Zunahme im Bereich der letzten Gruppe gibt Anlaß zur Besorgnis, da hier eine Ausgliederung aus der Arbeitsgesellschaft befürchtet werden kann, die zu Abhängigkeit von Sozialhilfe und relativer Armut führt.In vielen Industrieländern ist nahezu jeder zweite Arbeitslose bereits länger als ein Jahr arbeitslos. Hierunter befinden sich neben gering Qualifizierten überdurchschnittlich viele Jugendliche.“ (Kulessa/Grzib, 1998: 174) Als weitere Problemgruppen lassen sich Frauen mit durchschnittlich höheren Arbeitslosenquoten als Männer und ältere Arbeitnehmer anführen. Lediglich die Minderheit gut qualifizierter, nicht zu alter Männer scheint keiner Problemgruppe anzugehören. Das Potential der von Arbeitslosigkeit akut gefährdeten Personen ist somit groß; umso wichtiger scheint die Suche nach Lösungsmöglichkeiten.

Erwerbsarbeit als Leitbild unserer Gesellschaft

Dabei wird die Suche nach Lösungsmöglichkeiten durch unser aller Eingebundensein in vorhandene Strukturen erschwert, vor allem da diese Strukturen im Laufe ihrer Entstehung und Ausbreitung mit Werten und sinnstiftenden Mustern angefüllt wurden, die erst durch Alternativen ersetzt werden müssen. So ist Arbeitslosigkeit ein zeitgebundenes Phänomen. Es gibt sie erst, seitdem sich im Laufe der Industrialisierung das Konzept der Erwerbstätigkeit entwickelte, denn Arbeitslosigkeit ist ja nicht das Fehlen von Arbeit an sich, wie der Name nahelegen könnte, sondern die Unmöglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Zum Problem wird Arbeitslosigkeit, wenn Erwerbstätigkeit wie in den westlichen Gesellschaften eine zentrale Funktion zugestanden wird. So wird Erwerbstätigkeit als die normale legitime Form der Einkommenserzielung zumindest für die Mehrheit der männlichen Gesellschaftsmitglieder gesehen, und an diese Einkommenserzielung knüpfen sich die Möglichkeiten an dem materiellen Wohlstand der Gesellschaft zu partizipieren. Auch Systeme der sozialen Absicherung, wie Krankheits- und Altersvorsorge sind bei uns im Regelfall direkt mit der Erwerbstätigkeit verknüpft. Über diese im engeren Sinne ökonomischen Aspekte hinaus verweist Marie Jahoda (1986: 99) auf Erfahrungen, die die Erwerbstätigkeit den Arbeitenden aufzwingt, wie „die Auferlegung einer festen Zeitstruktur, die Ausweitung der Bandbreite sozialer Erfahrungen in Bereiche hinein, die weniger stark emotional besetzt sind als das Familienleben, die Teilnahme an kollektiven Zielsetzungen oder Anstrengungen, die Zuweisung von Status und Identität und die verlangte regelmäßige Tätigkeit.“

Der Entzug dieser Erfahrungsmöglichkeiten wird als Verlust erlebt, d.h. Arbeitslose werden nicht nur von allen ökonomischen Vorteilen der Erwerbstätigkeit sondern auch von deren Erfahrungsmöglichkeiten ausgeschlossen. Allerdings deutet schon das Verb »aufgezwungen« auf eine vielschichtige Ambivalenz in der Beurteilung gerade dieser nichtökonomischen Vorteile hin. Es ist zumindest zweifelhaft, ob diese psychischen Erfordernisse tatsächlich bleibenden menschlichen Bedürfnissen entsprechen oder nicht vielmehr zeit- und kulturgebunden sind. Für diese Vermutung spricht neben der Tatsache, daß es Erwerbstätigkeit in unserem heutigen Sinne in früheren Zeiten nicht gab, auch die Beobachtung, daß diese konkreten durch Erwerbsarbeit zu erfüllenden Bedürfnisse im Rahmen der Sozialisation vorbereitet werden müssen. Dickinson/Emler (1992: 15f.) sehen darin eine der Hauptaufgaben der Schule und Jahoda (1986: 149) verweist auf die Gefahr, daß gerade arbeitslose Jugendliche die Gewohnheiten und Erwartungen ablegen könnten, die ihnen Schule und Familie mit auf den Weg gegeben haben. Und selbst wenn es sich um grundlegende menschliche Bedürfnisse handeln sollte, stellt sich die Frage, ob es nicht unter Umständen bessere Möglichkeiten als die Erwerbsarbeit zu ihrer Befriedigung gibt, denn diese kann inhumane (entfremdende, krankmachende (Jahoda, 1986: 40 / Triebig, 1995: 46)) Züge aufweisen.

Diese Ambivalenz gegenüber der Erwerbsarbeit spiegelt sich in der Beurteilung der Arbeitslosen. Tritt der Aspekt des Ausschlusses in den Vordergrund, werden sie als bemitleidenswerte Opfer gesehen. Bilden demgegenüber die negativen Aspekte der Erwerbsarbeit den Bezugsrahmen für ihre Beurteilung, können sie als arbeitsscheue Faulenzer abgestempelt werden, die sich auf Kosten anderer den unangenehmen Seiten der Erwerbsarbeit entziehen, wobei die Arbeitslosen selbst diese ambivalente Beurteilung ihrer Situation in gewissem Umfang teilen dürften. In der Arbeitsgesellschaft entsteht folgende Situation: Möglichst viele Mitglieder der Gesellschaft werden auf eine Akzeptanz und Befürwortung des zentralen Konzeptes der Erwerbsarbeit hin sozialisiert, um für ein effizientes Funktionieren eines auf Erwerbstätigkeit basierenden Produktionssystems zu sorgen. Ist die Gesellschaft erfolgreich in dem Sinne, daß viele dieses Konzept internalisieren und bietet die Gesellschaft dann Einzelnen oder Gruppen keine Möglichkeit zur Ausübung dieser Lebensform, schließt sie sie von der vollen gesellschaftlichen Partizipation auf der ökonomischen sowie auf der sinnstiftenden Ebene aus. Der Ausschluß erfolgt auch dann, wenn es zwar alternative Lebensentwürfe gibt, diese aber nicht alle Kategorien enthalten, die von den Gesellschaftsmitgliedern als wichtig wenn nicht sogar als lebensnotwendig erachtet werden. Ein Beispiel hierfür ist der traditionelle weibliche Lebensentwurf, der die direkte ökonomische Partizipation nicht vorsieht und dem allgemein eine niedrigere gesellschaftliche Wertschätzung zugeordnet wird. Die Konzentration auf die Wertschätzung eines einzigen Standardlebensentwurfs bedingt zwangsläufig die Abwertung aller anderen Lebensentwürfe. Dem kann sich ein einzelnes Gesellschaftsmitglied kaum entziehen, da Identitätsstiftung und Partizipationsmöglichkeiten den Rückhalt einer Gruppe erfordern.

Ursachen der Arbeitslosigkeit und Vorschläge zu ihrer Überwindung

Als eine Hauptursache für steigende Arbeitslosigkeit wird schon lange die Abnahme der Erwerbsmöglichkeiten vermutet. Keynes prophezeite in den 30er Jahren ein Ende der Notwendigkeit, sich mit dem ökonomischen Problem der Knappheit von Gütern zur Befriedigung von Bedürfnissen auseinanderzusetzen. Er zeichnet die Utopie einer Menschheit, die dank der Kapitalakkumulation und des technischen Fortschritts die Freiheit zur Muße gewinnt (Keynes, 1972: 325). Die Vernichtung der Erwerbsarbeit wird von ihm als Chance gesehen. Allerdings müssen für die Verwirklichung dieser von ihm als paradiesisch geschilderten Zustände einige Bedingungen erfüllt sein. So dürfen die positiven Fortschrittseffekte weder durch kriegerische Auseinandersetzungen noch durch übermäßiges Bevölkerungswachstum überkompensiert werden. Zudem müssen die Bedürfnisse grundsätzlich begrenzt sein, d.h. das Streben nach Positionsgütern, die dazu dienen sollen, unsere Stellung im Vergleich zu anderen zu verbessern, muß aufgegeben werden (Keynes, 1972: 326). Diese Forderung wird in neueren Diskussionen noch aufgrund von ökologischen Grenzen eines quantitativen Wirtschaftswachstums (vgl. Fetscher, 1995: 35) gestellt. Wie genau diese Voraussetzungen geschaffen werden sollen, ist jedoch unklar.

Keynes verweist auf Widerstände gegen die Aufgabe alter Gewohnheiten und sieht es als schwierige Herausforderung an, sich mit der neugewonnenen Freiheit sinnvoll auseinanderzusetzen. Außerdem sieht er natürlich auch die Probleme der Übergangszeit, in der Erwerbsarbeit durchaus noch nötig sein wird, wenn auch in immer geringerem Umfang. Er empfiehlt eine stetige Verringerung der Arbeitszeit (Keynes, 1972: 329). Nicht angesprochen wird von Keynes in diesem Zusammenhang, daß uns auch bei Rückgang der Erwerbstätigkeit Arbeit an sich nicht ausgeht, wie jede Hausfrau und die wenigen Hausmänner, die sich um Kinder, ältere Menschen und sonstige Mitmenschen kümmern, bestätigen können. Viele dieser Funktionen lassen sich im Sinne einer Professionalisierung in das Korsett der Erwerbstätigkeit zwängen. Es gibt aber auch Überlegungen in umgekehrter Richtung, langfristig heute schon professionalisierte Funktionen, Pflege und Hilfstätigkeiten aus dem Erwerbskonzept herauszunehmen (Gorz, 1989: 202ff). Geklärt werden muß allerdings, wie die Partizipation der Einzelnen am gesellschaftlichen Wohlstand geregelt werden soll und vor allem, wie wir ausgehend von unseren Verankerungen in der heutigen Arbeitsgesellschaft zu dieser utopischen Gesellschaft gelangen sollen. Konfliktfrei wird dies kaum möglich sein, denn es ist unwahrscheinlich, daß die Vorstellungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen über eine angemessene Teilhabe gerade auch im ökonomischen Bereich zusammenpassen. Es bleibt nur die Hoffnung, daß eine Utopie über ein besseres Leben so tragfähig ist, daß die verschiedenen Gruppen sich auf eine friedliche Austragung ihrer Interessenskonflikte mit dem Ziel einer Kompromißbildung einigen.

Prognosen darüber sind zum jetzigen Zeitpunkt schwierig, da wir uns mitten in einer Phase des Wandels befinden. Sicher scheint nur, daß das Ende der Erwerbstätigkeit trotz Massenarbeitslosigkeit noch nicht abzusehen ist. Selbst hohe europäische Arbeitslosenquoten wie die spanische, die seit 1993 über 20% liegt, bedeuten ja immer noch, daß die Mehrheit der sogenannten Erwerbsbevölkerung eine Erwerbstätigkeit hat, d.h. aber auch, daß viele zumindest noch die Hoffnung haben, über Erwerbsarbeit gemäß ihrer erlernten Erwartungen gesellschaftlich zu partizipieren. An erster Stelle steht daher die Suche nach Möglichkeiten, das Problem der Arbeitslosigkeit durch Erhöhung der Erwerbstätigkeit zumindest zu mildern. Nur als Nebenprodukt lassen sich Tendenzen zu einer Abkehr vom allumfassenden Erwerbstätigkeitsprinzip erahnen.

Bei der Reduktion von Arbeitslosigkeit mittels Erhöhung der Erwerbstätigenzahl kommen dabei jedoch durchaus unterschiedliche Strategien zur Anwendung und je nach vermuteter Ursache- bzw. Interessenlage werden auch verschiedene Lösungswege empfohlen. Die USA mit einer Arbeitslosenquote, die schon seit Jahren unter dem europäischen Durchschnitt liegt, wird gerne von denen angeführt, die die Probleme vor allem in der Inflexibilität europäischer Arbeitsmärkte vermuten und sich von einem Abbau dieser Verkrustungen einen Beitrag zur Lösung des Arbeitslosenproblems erhoffen. Allerdings verweisen selbst Befürworter dieser Strategie auf ihre Schattenseiten. So schreibt der Sachverständigenrat in seinem Gutachten (1996/97: 44), daß bei einer Diskussion, ob in Europa aus dem amerikanischen Modell des Arbeitsmarktes Lehren gezogen werden sollen, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen berücksichtigt werden müssen. „Betrachtet man den hohen Beschäftigungsstand in den Vereinigten Staaten vor diesem Hintergrund, dann darf nicht übersehen werden, daß dieser Vorzug für den einzelnen Arbeitnehmer mit einer geringeren sozialen Absicherung und für nicht wenige mit dem Risiko zu verarmen einhergeht. Demgegenüber bieten die europäischen Modelle eine weitaus größere Sicherheit bei allerdings oftmals höherer Erwerbslosigkeit.“

Die aufgestellte Alternative zwischen Erwerbslosigkeit und Armut läßt kaum Hoffnung aufkommen, da in beiden Fällen die ökonomischen Partizipationsmöglichkeiten der Betroffenen eingeschränkt werden. Auch die Erfolge einer Flexibilisierung in Großbritannien, die durch eine größere Furcht vor Verlust des Arbeitsplatzes sowie durch eine zunehmende Ungleichheit in der Einkommensverteilung erkauft wurden (Sachverständigenrat 1997/98: 35), lassen sich in Bezug auf eine Verringerung struktureller Gewalt kritisch bewerten. In den Niederlanden hingegen scheint es möglich gewesen zu sein, sich der Keyneschen Empfehlung des Einstiegs in die Arbeitszeitverkürzung zu nähern, bei gleichzeitiger Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Betont wird in der Literatur der gesellschaftliche Konsens als Basis für den Erfolg der niederländischen Strategie (vgl. Kulessa/Grzib, 1998: 172 und Sachverständigenrat 1997/98: 37).

Arbeitslose werden wieder Akteure

Typischerweise werden als Akteure bei diesem Konsens Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Staat genannt. Die Arbeitslosen bleiben auch hier außen vor. Die anderen haben zwar ebenfalls ein Interesse an der Lösung des Problems, um ihr eigenes Arbeitslosigkeitsrisiko zu reduzieren bzw. den für alle notwendigen sozialen Frieden zu erhalten. Die Sicht der direkt Betroffenen wird in der Regel nicht gehört, was bezeichnend für ihre gesellschaftliche Ausgeschlossenheit ist. Für sie, nicht mit ihnen, werden Arbeitslosengeldbestimmungen und Sozialleistungen ausgehandelt, werden Löhnerhöhungsspielräume nicht ausgeschöpft und Flexibilisierungen der Regeln beschlossen.

In dieser Hinsicht ist die französische Arbeitslosenbewegung ein hoffnungsvoller Anfang der Betroffenen, sich in der Gesellschaft wieder selbst Gehör zu verschaffen, ihre eigene Perspektive im Rahmen der gesellschaftlichen Diskussions- und Verhandlungsprozesse einzubringen. Pierre Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem soziologischen Wunder. Die Bewegung in Frankreich durchbricht damit bisher beobachtbare Verhaltensmuster von Langzeitarbeitslosen, die eher isoliert und als Einzelne sich ihrem Schicksal auslieferten und höchstens ab und zu ihre Frustration in kurzen Gewaltaktionen entluden. Wenn es gelingt, die Arbeitslosen in irgendeiner Form institutionell abgesichert auf Dauer am gesellschaftlichen Dialog zu beteiligen, hat das für alle den Vorteil, daß Konflikte offen ausgetragen werden. Es besteht die Möglichkeit, konsensuale Kompromisse zu finden, denn es ist wohl eine trügerische Hoffnung anzunehmen, der bisherige Rückzug der Arbeitslosen ins Private schaffe keine Probleme. Diese fallen vielmehr völlig unvorbereitet auf eine Öffentlichkeit zurück, die ihre Entwicklung im privaten Bereich nicht wahrgenommen hat. So stören die resignierten Arbeitslosen oder die, die ihre Frustration an sich selbst oder ihren Familien auslassen, erst einmal nicht. Aber sie tragen zu einer Aushöhlung des gesellschaftlichen Leitbildes bei, da die von Frustration und Resignation Betroffenen an der allgemeinen gesellschaftlichen Aufgabe der Sozialisation nachwachsender Gesellschaftsmitglieder nur noch bedingt teilnehmen (Jahoda, 1986: 151). Auch das Ausweichen als andere Rückzugsmöglichkeit Arbeitsloser, z.B. in Schwarzarbeit und in viel geringerem Ausmaß in Kriminalität sowie extreme politische Gruppierungen, führt direkt zu einer Aufweichung des Leitbildes. Auch wenn eine grundsätzliche Abkehr vom jetzigen Leitbild angestrebt werden sollte, bringt diese Form der unterschwelligen Abkehr allen Beteiligten Nachteile. Die Arbeitslosen schaffen sich im privaten Rückzug höchsten Notbehelfe, denen eine gesellschaftliche Anerkennung versagt bleibt. Der Ersatz führt nicht zur vollständigen Partizipation. Die anderen müssen eine vage für sie nicht näher faßbare Bedrohung durch die Arbeitslosen als Reaktion auf den Ausschluß aus der gesellschaftlichen Mitte befürchten, ohne die Möglichkeit zu haben, durch einen eventuellen Ausgleich an einem für alle akzeptablen Ergebnis mitzuarbeiten.

Literatur

Bourdieu, Pierre (1998): Kapitalismus als konservative Restauration. Das Elend der Welt, der Skandal der Arbeitslosigkeit und eine Erinnerung an die Sozialutopie Ernst Blochs, in: Die Zeit, Nr. 5, 22. Januar, S. 45

Dickinson, Julie/ Emler, N. (1992): Developing Conceptions of Work. In: Hartley, I./Stephenson, G. (Hrsg.): Employment Relations, Oxford, S. 19-43.

Fetscher, Iring (1995): Arbeit, Muße, Spiel. In: Ruprecht-Karls-Universität (Hrsg.): Arbeitslosigkeit in der Arbeitsgesellschaft, Heidelberg, S. 29-43.

Gorz, Andrè (1989): Kritik der ökonomischen Vernunft, Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft, Berlin.

Jahoda, Marie (1986): Wieviel Arbeit braucht der Mensch? Arbeit und Arbeitslosigkeit im 20. Jahrhundert, Weinheim/Basel.

Keynes, John Maynard (1930/1972): Economic Possibilities For Our Grandchildren. In: The Collected Writings of John Maynard Keynes, Vol. IX, London/Basingstoke, S. 321-332.

Kulessa, Margareta/Grzib, Andreas (1998): Arbeit und Beschäftigung. In: Hauchler, Ingomar/Messner, Dirk/Nuscheler, Franz: Globale Trends 1998. Fakten Analysen Prognosen, Frankfurt am Main, S. 168-191.

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1996/97 und 1997/98, Stuttgart 1996 und 1997.

Triebig, Gerhard (1995): Krank durch Arbeit oder krank ohne Arbeit? In: Ruprecht-Karls-Universität (Hrsg.): Arbeitslosigkeit in der Arbeitsgesellschaft, S. 45-57.

Barbara Hedderich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften derJohannes-Gutenberg-Universität, Mainz.

Vergewaltigung

Vergewaltigung

Analyse eines Kriegsverbrechens

von Cornelia Zirpins

Vor vier Jahren gelangten die ersten Berichte über Massenvergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien in die Öffentlichkeit. Politik, Gesellschaft und die Medien verurteilten damals, daß die Serben, aber auch alle anderen kriegsführenden Parteien, Vergewaltigungen ganz gezielt als Kriegsmittel anwendeten. Mit dem Krieg in Bosnien rückte ein »vergessenes« Kriegsverbrechen wieder in das Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit. Heute, vier Jahre später, scheinen die Opfer der Vergewaltigungen erneut in Vergessenheit zu geraten. In der aktuellen Diskussion um die Rückkehr der bosnischen Flüchtlinge in ihre Heimat tritt neben politischen, militärischen und verwaltungstechnischen Aspekten die besondere Situation der mißbrauchten Frauen in den Hintergrund.

Durch das Rotkreuzabkommen von 1949 ist die Vergewaltigung zwar namentlich im Völkerrecht verankert, eine Definition dieses Verbrechens erfolgt jedoch nicht. Die Schwierigkeit einer solchen Begriffsbestimmung wird bei der Betrachtung nationalen Strafrechts am Beispiel des Strafgesetzbuches der Bundesrepublik deutlich. Nach § 177 Abs.1 StGB begeht eine Vergewaltigung, „wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben zum außerehelichen Beischlaf mit ihm oder einem Dritten nötigt…“ (Strafgesetzbuch 1994: 94)

Der Begriff »Beischlaf« wird hier in seiner engen Auslegung des gewaltsamen Eindringens des Penis in die Vagina definiert; Zwang zu analem und/oder oralem Verkehr werden durch diesen Paragraphen nicht erfaßt. Diese Handlungen fallen der Definition nach § 178 StGB unter den Tatbestand der »Sexuellen Nötigung«, die mit geringeren Strafen geahndet wird.

Das Strafgesetz der BRD ordnet diese Straftaten einer »normalen« Vergewaltigung unter. Gerade aus dem Krieg in Ex-Jugoslawien gibt es zahlreiche Berichte über erzwungene sexuelle Handlungen, die nach bundesrepublikanischem Recht nur den Tatbestand der sexuellen Nötigung erfüllen1. Es ist aber kaum anzunehmen, daß die psychologischen und physischen Folgen eines erzwungenen Analverkehrs beispielsweise geringer sind als die einer Vergewaltigung, wie sie in § 177 StGB definiert ist. Eine Festlegung des Vergewaltigungsbegriffs ausgehend von nationalem Recht ist daher unzureichend.

Der soziologisch-psychologische Aspekt

Wesentlich umfassender und mehr auf die Empfindungen der Betroffenen eingehend ist die soziologisch-psychologische Begriffsbestimmung. Demnach haben Vergewaltigungen weniger mit Sexualität zu tun, sondern stellen vielmehr einen extremen Gewaltakt dar, der sich sexueller Mittel bedient.

Die Soziologin Ruth Seifert weist darauf hin, daß „Vergewaltigung kein aggressiver Ausdruck von Sexualität, sondern ein sexueller Ausdruck von Aggression“ ist (Seifert 1993: 88). Vergewaltigung dient in der Psyche des Täters nicht zur Befriedigung eines Triebes, sondern als Mittel zur Erniedrigung, Demütigung und Unterwerfung der Frau. Diese These wird gestützt durch Untersuchungen von Vergewaltigungen in zivilen Kontexten, aus denen hervorgeht, daß die Opfer die Tat in den meisten Fällen eben nicht als sexuelle Handlung empfinden, sondern als extreme und demütigende Form der Ge-walt-ausübung. Ebenso beschreiben die Täter die Vergewaltigung nicht als ein sexuelles Erlebnis, sie artikulieren vielmehr Gefühle der Feindseligkeit, Aggression, Macht und Herrschaft (Smaus 1994: 86 und Feldmann 1992: 7). Der Lustgewinn besteht darin, „die Unterdrückung der Frau zu genießen, die eigene Macht zu spüren und auszukosten“ <>(Smaus 1994: 85).<>

Hiervon ausgehend muß Vergewaltigung verstanden werden als der schwerstmögliche Angriff auf das intimste Selbst mittels sexueller (nicht sexuell motivierter!) Gewalt mit dem Ziel, Machtverhältnisse am Körper der Unterlegenen zu manifestieren. Vergewaltigung ist also ein Werkzeug sozialer Kontrolle der Frau durch den Mann.

Vergewaltigung und das Völkerrecht

Neben der namentlichen Erwähnung im Rotkreuzabkommen hat die Kriegsvergewaltigung auch als Folter und als Bestandteil der »ethnischen Säuberung« zum Zwecke des Völkermords Eingang ins Völkerrecht gefunden. Nach Art. 1 I des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vom 10. Dezember 1984 ist als Folter jede Handlung zu verstehen, „durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, … oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen…“ (Menschenrechte 1995: 118).

Die Vergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien wurden durchgeführt, sowohl um die Frauen und ihre Angehörigen einzuschüchtern und zu diskriminieren (Wullweber 1993: 182 und Helsinki Watch 1994: 21) als auch um von ihnen Auskunft über gegnerische Gefechtsstellungen zu erfahren (Stiglmayer 1993: 172).

Art. 2 der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948 bezeichnet u. a. die „Tötung von Mitgliedern einer Gruppe“ oder die „Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schäden an Mitgliedern der Gruppe“ als Völkermord, wenn diese in der Absicht begangen werden, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ (Menschenrechte 1995: 44).

Die zum Zweck der »ethnischen Säuberung« vorgenommenen Massenvergewaltigungen, die auf die psychische und physische Vernichtung und Demoralisierung der gegnerischen Frauen, Männer und Kinder zielen, müssen nach dieser Definition als Bestandteil des Völkermords aufgefaßt werden.

In beiden Abkommen werden die Kriegsvergewaltigungen nicht speziell genannt, sie sind aber so formuliert, daß sie Vergewaltigung durchaus mit einbeziehen. Sie betonen vor allem die psychische und physische Gewalt.

Ursachen der Kriegsvergewaltigung

Neben der auch in Friedenszeiten vorhandenen Gewalt gegen Frauen gibt es weitere Erklärungsmodelle dafür, warum es gerade in Kriegszeiten zu einer Eskalation der Gewalt gegen die weibliche Bevölkerung, namentlich zu brutalen Massenvergewaltigungen, kommt. Dabei spielen die Identifikationsmodelle von Männlichkeit, die die Armeen ihren Soldaten geben, eine wesentliche Rolle.

Lange Zeit stellte der Dienst beim Militär für die jungen Männer eine Art „Reifeprüfung der Mannwerdung“ dar (Haltiner 1985: 37). Autorität, Macht, Stärke und Siegeswillen, aber auch die Fähigkeit zu schützen und zu verteidigen, werden als Werte dargeboten, über die sich männliche Identität definiert.

Obwohl sich die Geschlechterverhältnisse in den letzten Jahrzehnten geändert haben, werden im Soldatenberuf noch immer Subjektpositionen bereitgestellt, die Konnotationen von Macht und Herrschaft sowie Erotik und Sexualität aufweisen. Besonders deutlich wird dies in der Sprache, die durch eine Vermengung von Gewalt und Sexualität gekennzeichnet ist: »erobert« wird sowohl im Krieg als auch im Schlafzimmer; der Einmarsch deutscher Truppen in Belgien im Ersten Weltkrieg und der irakische Angriff auf Kuwait 1990 wurden als »Rape of Belgium« bzw. »Rape of Kuwait« tituliert; das Gewehr wird als die »Braut des Soldaten« bezeichnet (Seifert 1993: 96).

Der Zusammenhang zwischen (sexueller) Gewalt und Männlichkeit in den Armeen zeigt sich auch in den Berichten über Gruppenvergewaltigungen, die von den Amerikanern in Vietnam begangen wurden. Zusätzliche Grausamkeiten am Opfer wurden als Wettbewerb um mehr Männlichkeit aufgefaßt. Susan Brownmiller schildert den Fall eines Soldaten, der sich weigerte, eine Vergewaltigung zu begehen, und infolgedessen von seinem Einsatzleiter als Schwuler und Schwächling bezeichnet wurde. Soldaten, die ihre Kameraden wegen eines solchen Vergehens anzeigten, mußten vor Gericht ihre Männlichkeit in Frage stellen lassen (Brownmiller 1978: 105f).

Nach Joan Smith geschieht in den Militärorganisationen die Konstruktion von Männlichkeit durch die Minderbewertung »weiblicher« Eigenschaften wie Empathie, Weichheit oder Ängstlichkeit (Smith 1992: 135f). Die Leugnung dieser Emotionen macht es den Männern fast unmöglich, mit Lust, Angst, Mitleid und Wut reflektiert umzugehen, vielmehr werden diese als Bedrohung der maskulinen Existenz angesehen. Gerade im Krieg, wenn die Männer zu Befehlsempfängern in einer unendlich langen Kette erniedrigt werden und erfahren, wie wenig sie dem übersteigerten Ideal überlegener Männlichkeit entsprechen, kommt es zur Auslösung solcher Gefühle, die dann einen Affekt gegen Weiblichkeit hervorrufen. Das heißt nicht, daß jeder Soldat vergewaltigt, aber „in der Konstruktion des Soldaten sind bestimmte Verhaltensweisen eher als andere angelegt“ (Seifert 1993: 97).

Ob in einer Extremsituation mit Gewalt reagiert wird, ist davon abhängig, welche Alternativen in einem kulturellen Kontext zur Kanalisierung von Gefühlen zur Verfügung stehen. Häufig greifen die Soldaten zum „kulturell bereitgestellten… Lösungsangebot, für das sie auch noch als Experten ausgebildet sind: der Gewalt, die dann zur spezifisch sexuellen Gewalt gegen Frauen wird“ (Smith 1992: 135f).

Motive der Täter

Schon in Friedenszeiten stellt die Vergewaltigung eine Manifestation von Machtverhältnissen dar. Vor dem Hintergrund eines militärischen Konfliktes kommt es zu einer Erweiterung der Bedeutung von Vergewaltigung. Der in Kriegen häufig mobilisierte Beschützermythos der Männer ist in der Regel nicht ein wirkliches Anliegen, die Frauen zu beschützen, trotzdem hat er eine soziale Bedeutung. Für die Männer, deren »Pflicht« es ist, »ihre Frauen« zu beschützen, ist die nichtverhinderte Mißhandlung und Vergewaltigung »ihrer Frauen« einer militärischen Niederlage vergleichbar, wird als eine persönliche Demütigung empfunden. Die Frauenkörper werden damit zu Orten des Austauschs männlicher Botschaften.

Ein Beispiel für diese Kommunikationsfunktion von Mann zu Mann sind die im ehemaligen Jugoslawien begangenen Rücktransporte von vergewaltigten Frauen. Diese wurden im siebten oder höheren Schwangerschaftsmonat über die feindlichen Linien zurückgeschickt – in Bussen, die meist zynische Aufschriften über die zu gebärenden Kinder enthielten (Seifert 1993: 94).

Die Frau als Bestandteil der gegnerischen Kultur zerstören

Massenvergewaltigungen während der militärischen Auseinandersetzungen in diesem Jahrhundert geben Anlaß zu der Vermutung, daß dahinter eine ganz bewußte militärische Strategie steckt, daß die Zerstörung der gegnerischen Kultur, für die die Frau wegen der »Reproduktionsfähigkeit« eine besondere Bedeutung einnimmt, gezielt zerstört werden soll.

Im Zweiten Weltkrieg zwang nicht nur die japanische Armee Tausende Koreanerinnen in die sexuelle Sklaverei, es gab auch deutsche Kriegsbordelle, in die Frauen zwangsweise hineingetrieben wurden. 1943 wurde den zu der Restarmee Frankreichs gehörenden marokkanischen Söldnertruppen explizit zugestanden, auf Feindesgebiet zu plündern und zu vergewaltigen, was zu ausgedehntem Mißbrauch von Frauen in Italien führte (Walzer 1977: 133f), und am Ende das Krieges standen massenhafte Vergewaltigungen durch die Rote Armee im Raum Berlin.

Während des Bürgerkrieges in Bangladesch 1971/72 wurden etwa 200 000 Frauen vergewaltigt. Ein indischer Schriftsteller war damals davon überzeugt, „daß es sich um ein geplantes Verbrechen gehandelt hat. Es ist derart systematisch und flächendeckend vergewaltigt worden, daß nur bewußte militärische Taktik dahinterstecken kann.“ Er nahm an, daß mit den Vergewaltigungen eine neue Rasse geschaffen und das bengalische Nationalgefühl ausgelöscht werden sollte (zitiert nach Brownmiller 1978: 89).

Die Vergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien richteten sich offensichtlich gegen die Fortpflanzungsfähigkeit besonders der bosnischen Bevölkerung. Junge Frauen starben an den körperlichen und seelischen Folgen der Vergewaltigungen, die Überlebenden sind häufig so stark traumatisiert, daß sie keine Kinder mehr gebären werden.

Vor dem Hintergrund dieser Beispiele müssen Massenvergewaltigungen nicht als planlose Gewalteruptionen in Extremzeiten, sondern als militärische Strategie und damit zu den Spielregeln des Krieges zugehörig betrachtet werden.

Vergewaltigung und die Folgen

Viel schwerwiegender als die körperlichen Folgeerscheinungen (Schürfwunden, Prellungen, Quetschungen, Hämatome, Geschlechtskrankheiten und auch Verstümmlungen) sind in der Regel die psychischen Folgen einer Vergewaltigung. Während der unmittelbaren Gewalthandlung kommt es nach Studien von Harry Feldmann bei 98,7<0> <>% der Frauen zu einem „Gefühl des hoffnungslosen Ausgeliefertseins“. Als Langzeitreaktionen sind bei den untersuchten Frauen festzustellen: Sexualabwehr (85<0> <>%), phobische Ängste (81,3<0> <>%) und eine Veränderung des äußeren Lebensstils (72<0> <>%). Noch mehr als 46 Monate nach der Tat wurden bei mehr als 50<0> <>% der Opfer Depressionen und Emotionen wie Mutlosigkeit, Hilflosigkeit, Ängstlichkeit und Mißtrauen verzeichnet (Feldmann 1992: 27).

Man geht davon aus, daß diese Symptomatik durch die Zahl der Angreifer verstärkt wird, ebenso wie durch den Grad der erfahrenen Gewalt. Erschwerend kommt hinzu, daß in Krisenzeiten kaum Hilfestellungen für die betroffenen Frauen geleistet werden können, da zunehmend auch zivile Einrichtungen (Krankenhäuser, Therapiezentren, Beratungsstellen) Ziele von Angriffen werden und die Frauen oft zusätzlich belastet werden durch den Verlust von Familienangehörigen und Freunden sowie des eigenen Heimes.

Bei Kriegsvergewaltigungen sind aber nicht nur die Frauen, sondern oft auch ihr soziales Umfeld direkt betroffen. Nicht selten werden die Frauen in Kriegszeiten im Beisein ihrer Angehörigen vergewaltigt, um diese einzuschüchtern und zu diskriminieren, was bei den Familienmitgliedern zu einer starken Traumatisierung führen kann.

Das verminderte Selbstwertgefühl des Opfers und die (sexuelle) Ablehnung des Partners infolge der Tat kann außerdem zu einer Belastung der Beziehung, nicht selten auch zu ihrem Ende führen. Damit kommt es zu einem völligen Bruch in der Lebenskontinuität, was die Verarbeitung des Erlebten erschwert. So berichtet Vera Folnegovic-Smalc, Chefärztin des Zentrums für klinische Psychiatrie in Zagreb, daß psychische Störungen infolge der Vergewaltigungen schneller abnahmen, wenn die Opfer durch Familie und Freunde eine starke emotionale Unterstützung erfuhren (Folnegovic-Smalc 1993: 221).

Die Frau als Objekt der Propaganda

Hilfestellung durch die offiziellen Vertreter »ihrer« Gruppe können die Frauen meist ebenfalls nicht erwarten, vielmehr müssen sie damit rechnen, zum Objekt der Kriegspropaganda zu werden. Durch die Mobilisierung des Beschützermythos kann die Präsentation der mißbrauchten Frauen zur Steigerung der Kampfbereitschaft der eigenen Soldaten dienen. Unter dem Vorwand, »ihre« Frauen vor der Schändung zu bewahren, werden die Männer zum Kampf gegen den Feind motiviert. Aber auch nicht direkt betroffene Staaten profitieren von solchen Greueltaten. Hanne-Magret Birckenbach geht davon aus, das die Grausamkeiten an der Zivilbevölkerung generell der Rechtfertigung militärischer Interventionen und der Fortsetzung des Rüstungsgeschäftes dienen, besonders wenn diese in der Öffentlichkeit umstritten sind (Birckenbach 1993: 234).

Besonders instrumentalisiert werden die Frauen, wenn sie durch die Vergewaltigungen schwanger geworden sind. Die Frauen sehen sich dann Anfeindungen und Anmaßungen ihrer eigenen Gruppe ausgesetzt, weil sie ein Kind des Feindes in sich tragen. Ruth Harris beschreibt den Fall französischer Frauen aus dem Ersten Weltkrieg, die durch die Vergewaltigung deutscher Soldaten schwanger geworden waren. Vertreter der Katholischen Kirche forderten öffentlich, die Kinder zur Erhaltung der französischen Kultur abzutreiben (Harris 1993: 191ff).

Kirsten Poutrus schildert ähnliche Vorgänge in Deutschland am Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Erlaß über die „Unterbrechung der Schwangerschaften, die auf eine Vergewaltigung der Frau durch Angehörige der Sowjet-Armee zurückzuführen sind“, sollte den Frauen Möglichkeiten einer schnellen und unbürokratischen Abtreibung eröffnen. Ziel war es aber nicht, den Betroffenen zu helfen, denn dieses Angebot bezog sich nur auf unerwünschte Kinder, die nach der NS-Ideologie als rassisch minderwertig zu betrachten waren. Hingegen sollten die Frauen ihre Kinder austragen, wenn sie von Deutschen und Westallierten mißbraucht worden waren (Poutrus 1995: 124).

Abschließende Betrachtung

Natürlich wäre die Verhinderung des Krieges die beste aller Möglichkeiten, um zukünftig kriegsbedingte Gewaltakte gegen Frauen zu verhindern. Bei der Betrachtung des derzeitigen Kriegsgeschehens mutet dies jedoch wie eine Utopie an.

Deshalb muß damit angefangen werden, die Ursachen dieses speziellen Kriegsverbrechens bereits im zivilen Kontext zu bekämpfen. Der Gewalt gegen den weiblichen Teil der Bevölkerung muß im täglichen Leben entgegengewirkt werden. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen stellt in ihrer Erklärung über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen fest, „daß Gewalt gegen Frauen… der Herbeiführung von… Frieden entgegensteht, … daß die Anwendung von Gewalt gegen Frauen einer der maßgeblichen sozialen Mechanismen ist, durch die Frauen gezwungenen werden, sich dem Mann unterzuordnen“ und daß „Gewalt gegen Frauen … in allen Einkommensschichten, Klassen und Kulturen vorkommt.“

Die Erklärung versteht unter Gewalt gegen Frauen jede gegen Frauen aufgrund ihrer Geschlechterzugehörigkeit gerichtete körperliche, sexuelle und psychologische Gewalt in der Familie, im Umfeld der Gemeinschaft sowie staatliche oder staatlich geduldete Gewalt (Menschenrechte 1995: 150).

Zur Verwirklichung ihrer Ziele fordert die Erklärung u. a. strafrechtliche Sanktionen und „alle sonstigen gesetzlichen, politischen, administrativen und kulturellen Maßnahmen, die den Schutz der Frau gegen jede Art von Gewalt fördern.“

Es muß konsequent darauf hingearbeitet werden, daß diese Erklärung für alle Staaten verbindlich wird.

Eine Aufwertung der Frau, bis hin zu ihrer völligen Gleichstellung, könnte auch das Motiv, die Frau in Kriegszeiten zur »zwischenmännlichen« Kommunikation zu instrumentalisieren, hinfällig werden lassen. Denn wenn die Frau als gleichwertiges Wesen über sich selbst definiert und nicht dem Mann untergeordnet wird, wenn sie zum Subjekt wird und nicht länger Objekt ist, über das sich Machtpositionen manifestieren, wird die Symbolik der Vergewaltigung diesbezüglich an Bedeutung verlieren. Damit einhergehend kann auch davon ausgegangen werden, daß durch die Subjektivierung der Frau der Gehalt der Vergewaltigung als über den Körper der Frau vollzogene Kulturzerstörung verloren geht.

Wird die Frau trotzdem Opfer einer Kriegsvergewaltigung, kann ein neues Frauenbild dennoch hilfreich sein. Die Frau kann selbst bestimmen, was mit ihrem Körper bei einer eventuellen Schwangerschaft nach der Vergewaltigung geschieht und auch aus ihrem Umfeld kann mit einer größeren emotionalen Unterstützung gerechnet werden. Natürlich sind das nur langfristig zu verwirklichende Ziele.

Wie aber kann den Betroffenen geholfen werden, wenn sie bereits Opfer einer Kriegsvergewaltigung geworden sind? Die Erklärung zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen macht außerdem auf die Notwendigkeit von Maßnahmen zur körperlichen und seelischen Rehabilitation aufmerksam. Für die Frauen aus dem ehemaligen Jugoslawien bedeutet dies verstärkte therapeutische und medizinische Hilfe. Ebenso muß von der Abschiebung der mißbrauchten Frauen nach Bosnien abgesehen werden, denn wie sollen sie ihre Erlebnisse bewältigen in einer Umgebung, in der die Auswirkungen des Krieges immer noch allgegenwärtig sind.

Ferner haben die Ereignisse auf dem Balkan gezeigt, daß den Opfern unmittelbar nur humanitär geholfen werden kann. Von politischen Drohungen gegen die Täter profitieren sie nicht. Weder die Androhung einer militärischen Intervention noch die Schaffung eines UN-Kriegsverbrechertribunals stellten für die Täter ein psychologisches Signal dar, ihre Taten zu beenden.

In Zukunft muß also auch weiterhin das Prinzip gelten, daß Frieden und Zivilisierung der Weltgemeinschaft nicht durch den Einsatz von Gewalt, sondern durch die Bekämpfung dieser zu erreichen sind.

Literatur

Birckenbach, Hanne-Margret (1993): Das Verbrechen beschreiben, analysieren und ihm vorbeugen. Zur Vergewaltigung im Krieg aus der Sicht der Friedensforschung, in: Stiglmayer (1993).

Brownmiller, Susan (1978): Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft, Frankfurt a. M.

Feldmann, Harry (1992): Vergewaltigung und ihre psychischen Folgen: Ein Beitrag zur posttraumatischen Belastungsreaktion, Stuttgart.

Folnegovic-Smalc, Vera (1993): Psychiatrische Aspekte der Vergewaltigungen im Krieg gegen die Republiken Kroatien und Bosnien-Herzegowina, in: Stiglmayer (1993).

Haltiner, Karl (1985): Milizarmee – Bürgerleitbild oder angeschlagenes Ideal?, Frauenfeld.

Harris, Ruth (1993): The „Child of the Barbarian“: Rape, Race and Nationalism in France during the First World War, in: Past and Present – a Journal of Historical Studies 11/1993, o. O., S. 170-206.

Helsinki Watch (Hrsg.) (1994): War Crimes in Bosnia-Herzegowina. Vol. II, New York April.

Menschenrechte (1995): Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, 2., aktualisierte Auflage, Bonn.

Poutrus, Kirsten (1995): Ein fixiertes Trauma – Massenvergewaltigung bei Kriegsende in Berlin, in: Feministische Studien 2/1995, Weinheim, S. 120-129.

Seifert, Ruth (1993): Vergewaltigung und Krieg, in: Stiglmayer (1993), S.87-112.

Smaus, Gerlinda (1994): Psychische Gewalt und die Macht des Patriarchts, in: Kriminologisches Journal 2/1994, Weinheim, S. 82-104.

Smith, Joan (1992): Misogynies. Frauenhaß in der Gesellschaft, München.

Stiglmayer, Alexandra (1993): Vergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina, in: dies. (1993), S.113-218.

Stiglmayer, Alexandra (1993): Massenvergewaltigung: Krieg gegen die Frauen, Frankfurt a. M.

Strafgesetzbuch (1994): Beck-Texte im dtv 5007, München.

Walzer, Michael (1977): Just and Unjust Wars. A Moral Argument with Historical Illustrations, New York.

Wullweber, Helga (1993): Vergewaltigung als Waffe und das Kriegsvölkerrecht, in: Kritische Justiz 1993, Baden-Baden, S. 178-193.

Alle 2 Jahre zeichnet die Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konliktforschung (AFK) Personen oder Projekte mit dem Christiane-Rajewsky-Preis aus, die sich besonders um die Friedens- und Konfliktforschung verdient gemacht haben. Preisträger 1997 ist die Redaktion der »ami«.

Cornelia Zirpins erhielt für ihre Arbeit »Vergewaltigung – Analyse eines Kriegsverbrechens« – die wir hier stark gekürzt wiedergeben – in diesem Jahr einen Sonderpreis der AFK.

Anmerkungen

1) Auf eine detaillierte Beschreibung der Verbrechen soll hier bewußt verzichtet werden, es sei jedoch verwiesen auf Stiglmayer (1993); zur Problematik der Beschreibung der Verbrechen siehe außerdem Birckenbach (1993). Zurück

Cornelia Zirpins ist Studentin an der Universität Münster.

Umweltzerstörung, eine Konfliktursache

Umweltzerstörung, eine Konfliktursache

von Günther Bächler, Stefan Klötzli, Stefan Libiszewski und Kurt R. Spillmann

Der vorliegende Beitrag stellt die Zusammenfassung der Ergebnisse des mehrjährigen »Environment and Conflicts Project« der Schweizerischen Friedensstiftung dar. Der gesamte Bericht wird demnächst in drei Bänden beim Rüegger Verlag in Chur erscheinen.

Die anthropogene Transformation der Umwelt stellt eine wesentliche Ursache bei der Entstehung, Verstetigung und Zuspitzung von bewaffneten Konflikten zwischen kollektiven Akteuren in unterentwickelten und politisch instabilen Regionen dar. Umweltverursachte bewaffnete Konflikte erweisen sich als Teil sozioökonomischer und politischer Fehlentwicklungen. Gleichzeitig sind soziale und politische Folgen von Unterentwicklung, die sich auf Umweltzerstörungen und Ressourcenübernutzung zurückführen lassen, zu einem Problem nationaler und internationaler Sicherheit geworden. Entwicklungs- und Sicherheitsdilemmata verbinden sich somit zu einem Problembündel, das umweltverursachte bewaffnete Regionalkonflikte unterschiedlicher Intensität und Ausprägung hervorbringt.

Allerdings sind weder endzeitliche Szenarien über Umweltkatastrophen noch alarmistische Prognosen über Welt-Umweltkriege haltbar. Umweltverursachte Konflikte eskalieren nur unter bestimmten Voraussetzungen über die Gewaltschwelle hinaus. Wir haben die konkreten Bedingungen, unter denen dies geschieht, herausgearbeitet. Im folgenden werden die verschiedenen Diskussionsstränge im Lichte zweier Thesen dargestellt, die wir aus den vorangegangenen vier empirischen Kapiteln (der o. g. Buchveröffentlichung, die Red.), in denen wir uns mit der Zusammenschau unterschiedlichster Konfliktformationen befaßten, gewonnen haben. Einer Typologie, welche Konfliktebenen und Konfliktparteien berücksichtigt, folgen generalisierende Erörterungen zur Rolle, welche die Umwelt bei der Konfliktverursachung spielt, sowie zur Intensität aktueller und künftig absehbarer Konflikte.

1. Umweltverursachte bewaffnete Konflikte: ein Phänomen in Entwicklungs- und Übergangs- gesellschaften – These Eins

Da umweltbedingte Konflikte – wie andere Konflikte auch – soziale und politische Ereignisse sind, ist eine Kausalanalyse, die von der Art und Tiefe des Umweltproblems ausgeht, zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Für eine vollständige Erklärung sind weitere Konfliktmerkmale wie die Charakteristik der Akteure, ihre Interessen, ihre Handlungen sowie die Ergebnisse ihrer Handlungen einzubeziehen. Unsere erste These lautet deshalb:

Umweltverursachte Konflikte aufgrund der Degradation erneuerbarer Ressourcen (Wasser, Land, Wald, Vegetation) manifestieren sich generell in sozioökologischen Krisenregionen der Entwicklungs- und Übergangsgesellschaften, wenn aufgrund der vorhandenen Stratifizierung gesellschaftliche Spaltungslinien vorhanden sind, die sich so instrumentalisieren lassen, daß darüber – zum Teil gewaltsame – soziale, ethno- und machtpolitische sowie internationale Auseinandersetzungen entstehen oder vorangetrieben werden.

Unsere Beobachtungen erhärten die Vermutung, daß es sich bei der anthropogenen Transformation der Umwelt um grundlegende entwicklungsgeschichtliche Phänomene handelt, welche Länder, die über geringe Problemlösungskapazitäten verfügen, mit besonderer Härte treffen. Es sind Entwicklungs- und Übergangsgesellschaften oder, noch präziser ausgedrückt, marginalisierte Gebiete in den erwähnten Ländern, die von krisenverschärfenden Wechselwirkungen zwischen Umweltdegradation, sozialer Erosion und Gewalt betroffen sind. Konfliktanfällige Krisengebiete sind in ariden und semi-ariden Ökoregionen, in interregionalen Zusammenhängen von Hoch- und Tiefländern, in Regionen mit geteilten Wasserressourcen, in von Bergbauvorhaben und Staudämmen degradierten Zonen, im Tropenwaldgürtel und im Umfeld von sich ausdehnenden Metropolen zu finden. In diesen Subregionen Afrikas, Lateinamerikas, Zentral- und Südostasiens sowie Ozeaniens sind historisch gewachsene und kulturspezifisch geregelte gesellschaftliche Naturverhältnisse einem grundlegenden Wandel unterworfen, gar akut bedroht.

Das Argument von der Marginalisierung trifft auf Konflikte um grenzübergreifende Wasserressourcen (sowie auf Meeresfischbestände, die jedoch von ENCOP nicht untersucht wurden) nur bedingt zu. Internationale Konflikte zwischen Ober- und Unterlaufstaaten können sich zwar in marginalen Regionen benachbarter Länder abspielen. Jedoch stehen bei den Konfliktparteien strategische und sicherheitspolitische Fragen im Vordergrund, während landwirtschaftliche und entwicklungspolitische Probleme in den Hintergrund gerückt werden. Dies gilt insbesondere für die regionalen Wasserkonflikte im Nahen Osten, die im Rahmen des historischen Territorialkonflikts zwischen Arabern und Israelis ausgetragen werden.

Die Konfliktgeographie der umweltverursachten bewaffneten Konflikte stimmt weitgehend mit derjenigen des weltweiten Konfliktgeschehens überein. Das heißt, umweltinduzierte bewaffnete Konflikte sind eine Teilmenge derjenigen bewaffneten Konflikte, die sich hauptsächlich in Regionen der Entwicklungsländer ereigneten. Die seit dem Zweiten Weltkrieg zu beobachtende Tendenz zum »Südkonflikt« scheint sich zu bestätigen. Zwar ist die Zahl größerer bewaffneter Konflikte unmittelbar nach 1989 infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion vorübergehend stark angestiegen. Da sich das Konfliktgeschehen in den östlichen Übergangsgesellschaften wieder leicht beruhigt hat, ist es jedoch seit 1994/95 zu einer Abnahme der Gesamtzahl bewaffneter Konflikte gekommen. Die Zahl potentiell bewaffneter Südkonflikte, vor allem niedriger Intensität, ist aber nach wie vor hoch und aufgrund der Verbindung von Umwelt- und Entwicklungsproblematik vermutlich im Steigen begriffen. Diese Beurteilung ergibt sich aus unseren verschiedenen Regionalanalysen, die im Unterschied zu den bekannten Kriegsregistern blutige Unruhen als Vorformen umweltverursachter bewaffneter Konflikte in die Bewertung der Lage einbeziehen. So gibt es zum Beispiel in Zentralasien eine Reihe von solchen Unruhen, die bereits zahlreiche Menschenleben gefordert haben, die aber in den zugänglichen Datenbanken nicht registriert sind (Fergana-Tal). Auch wurde von ENCOP der bewaffnete Konflikt in Ogoniland, einem Erdölfördergebiet Nigerias, bereits 1992, als weder Medienvertreter noch Politiker ein Interesse an dem Konflikt zwischen den Ogoni, der Zentralregierung und Dutch Shell zeigten, als besonders eskalationsverdächtig herausgehoben. Es steht zu erwarten, daß weitere vergleichbare Konflikte aufgrund der zunehmenden Umweltkrise kurz- oder mittelfristig in die heiße Phase treten werden.

Die meisten umweltverursachten bewaffneten Konflikte werden zwischen Akteuren innerhalb eines Staates ausgetragen (A). Bei einigen wenigen Konflikten besteht die Tendenz der Internationalisierung (B), wofür verschiedene Gründe maßgeblich sind. Meist handelt es sich dabei um Folgen von Migration und Flucht: Ein Teil der Land- und Umweltflüchtlinge zieht nicht in fruchtbarere Ökoregionen oder in die größeren Städte des eigenen Landes, sondern überquert in der Hoffnung auf besseres Land oder eine bezahlte Beschäftigung nationale Grenzen und sorgt jenseits des Herkunftslandes für politischen, sozialen oder ethnopolitischen Konfliktstoff. Auch Kriegsflüchtlinge, die Zuflucht in Nachbarländern suchen, können die Folge eines innerstaatlichen Gewaltkonfliktes mit ökologischen Dimensionen sein. Ein weiteres Element der Internationalisierung besteht in der Bildung von neuen Staaten wie zum Beispiel den zentralasiatischen Republiken nach dem Zerfall der Sowjetunion. Dadurch erhalten vertrackte innerstaatliche Konflikte, zum Beispiel um die regionale Wasserverteilung durch zentralistische Behörden, relativ unvermittelt eine internationale Dimension.

Hingegen werden internationale Konflikte (C) aufgrund ihrer Entstehungszusammenhänge von Anfang an zwischen souveränen Staaten ausgetragen. Sie resultieren aus grenzüberschreitenden degradierten Ökoregionen und aus nicht-raumgebundenen Ressourcen (Wasser, Luft), die vor nationalen Grenzen nicht haltmachen. Insbesondere zwischen Staaten, die von der gemeinschaftlichen Nutzung eines internationalen Flußbeckens abhängig sind, kommt es aufgrund asymmetrischer Ober- und Unteranrainer-Verhältnisse zu internationalen Disputen. Diese münden jedoch nicht in der Anwendung militärischer Gewalt; in der Regel bleibt es bei deren Androhung.

Die Unterscheidung der drei Ebenen (vgl. Tabelle 1) dient lediglich der Groborientierung. Die Grenzen sind im wahrsten Sinne fließend: Nahrung erhalten die meisten Konflikte aus innergesellschaftlichen Widersprüchen und Krisen. Grenzüberschreitende oder internationale Konflikte sind dann Ausdruck eines Umsichgreifens der Krise oder deren gezielten Eskalation. Im Hinblick auf die Ursachenanalyse bedarf es daher einer weiteren Feingliederung hin zu einer Konflikttypologie, welche die Art der Umweltdegradation mit den sozioökonomischen Folgen und den davon betroffenen Konfliktparteien in Verbindung setzt. Wir unterscheiden im folgenden sieben Umweltkonflikttypen, wobei die Trennschärfe in der Realität nicht immer gegeben ist; es gibt Konflikte, die durchaus Elemente mehrerer Typen gleichzeitig aufweisen.

1.1 Zentrum-Peripherie- Konflikte (Typ AI)

Die Verhältnisse zwischen Einwohnern peripherer Regionen einerseits und den Zentren von Entwicklungsländern, die sowohl die nationalen Eliten als auch die internationalen Investoren umfassen, andererseits, nehmen aufgrund der Umwelttransformation vielerorts prekäre Formen an. Diese Formen stellen sich in einer macht- und letztlich konfliktrelevanten Differenz von Handlungsalternativen im Umgang mit den Umweltproblemen dar. Während die sich modernisierenden Zentren über gewisse ökonomische und umwelt- sowie energiepolitische Handlungsalternativen verfügen, die sie aufgrund ihrer Machtausstattung verfolgen können, erweisen sich die sozioökonomischen Spielräume für große Teile der ländlichen Bevölkerungsschichten als äußerst begrenzt.

Katalysator eskalierender Zentrum-Peripherie-Konflikte sind daher vor allem landwirtschaftliche Großprojekte für die Exportwirtschaft, Staudämme und Bergbauvorhaben. Dabei treffen kapitalintensive Hochtechnologie- und Hochenergiesysteme weltmarktorientierter Unternehmen auf traditionale oder auf indigene Gemeinschaften, die auf technisch anspruchsloser Subsistenzwirtschaft oder auf kleinbäuerlicher Wirtschaft mit niedrigem Fremdenergieeinsatz basieren. Durch solche (agro-)industriellen Großprojekte in bis dahin nicht oder kaum in die Marktwirtschaft integrierte Gebieten werden die gesellschaftlichen Naturverhältnisse gegen den Willen der lokalen Bevölkerungen transformiert. Die Mechanisierung und, je nach Region, entweder die Kollektivierung oder die Privatisierung der Landwirtschaft verdrängen die traditionellen Anbaumethoden und die mit ihr verbundenen kulturräumlichen Verhältnisse, Landnutzungsmuster und Rechtspraktiken. Boden- und Gewässerdegradation infolge von weiträumigen Monokulturen für den Export oder von Staudämmen und Bergbauvorhaben befördern – durchaus in Wechselwirkung mit relativer Überbevölkerung in ländlichen Gebieten – die Erosion der Lebensordnungen und hemmen periphere wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten. Ein verschärfter Wettbewerb um Wasser, um Siedlungsraum, um Ackerland für die Selbstversorgung und um Arbeitsplätze gehört zu den unabwendbaren Folgen.

Gesellschaftliche Gruppen der Peripherie, die aufgrund von Großprojekten marginalisiert oder umgesiedelt werden, ohne daß sich ihnen Alternativen zum Bestreiten ihres Lebensunterhalts eröffnen, sehen sich in der Rolle der Modernisierungsverlierer. Nur verhältnismäßig wenige finden bei kapitalintensiven Großprojekten eine bezahlte Arbeit und noch weniger erhalten finanzielle Kompensationen für den Verlust ihrer Ressourcen, die eine Existenzgründung im modernen Sektor der Wirtschaft erlauben würden. Eine solche Zentrum-Peripherie-Konfiguration eskaliert dann, wenn die vom Zentrum abgegebenen Versprechen über die positiven Entwicklungseffekte eines Projekts nicht eingelöst werden oder sich sogar in ihr Gegenteil verkehren. Die Opfer von Entwicklungsversprechen wähnen sich materiell, sozial, kulturell und spirituell schlechter gestellt als je zuvor in ihrer Geschichte; oft sind sie es auch tatsächlich.

Zentrum-Peripherie-Konflikte differieren aufgrund des Grads der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie sowie dem damit verbundenen Machtgefälle stark. Anders als bei Staudämmen oder Bergbauprojekten, die vom Zentrum relativ autonom verwirklicht werden, ist bei landwirtschaftlichen und Bewässerungsprojekten die Interdependenz zwischen Zentrum und Peripherie meist höher, weil zu deren Verwirklichung und Aufrechterhaltung eine größere Abstimmung notwendig ist. Eine Mine kann notfalls militärisch bewacht und geschützt werden, ein ausgedehntes Bewässerungsgebiet hingegen nicht.

Konflikte aufgrund von neo-kolonialistischem Ökoraubbau sind die internationale Variante des Zentrum-Peripherie-Konflikts (AI). Das Spezifische an Konflikten, die aufgrund von neo-kolonialistischem Ökoraubbau entstehen, ist, daß die Konfliktparteien unterschiedlichen Kulturkreisen angehören. Wie wir gesehen haben, ist die Distanz zwischen Vertretern ausländischer Interessen und marginalisierter Landbevölkerung nicht nur wegen der geographischen Entfernungen sehr groß. Bezeichnend für diesen Konflikttyp ist, daß damit verbundene Gewalthandlungen nicht mit der Tragweite und Globalität der Umweltproblematik korrespondieren. Die Gewalt nimmt sogar umgekehrt proportional zur Distanz ab. So waren die Proteste gegen die französischen Atomversuche in Europa im Vergleich zu den Protesten aus Neuseeland und anderen Pazifikstaaten vergleichsweise moderat. Zu blutigen Ausschreitungen und direkten Zusammenstößen zwischen der französischen Armee und protestierenden Gruppen kam es hingegen nur in Polynesien, das heißt, in unmittelbarer Nähe des Anlasses selbst. Das gleiche gilt für den Konflikt im Erdölfördergebiet Nigerias.

1.2 Ethnopolitisierte Konflikte (Typ AII)

Die Transformation der Umwelt stellt dann eine Ursache für ethnopolitische Spannungen und Konflikte dar, wenn Konfliktparteien mit divergierenden sozioökonomischen Interessen den Ausgang eines umweltverursachten Konfliktes mittels Akzentuierung von äußerlichen (rassischen) Unterscheidungsmerkmalen zu beeinflussen suchen. Die Ethnie wird instrumentalisiert und dient – je nach Konfliktphase – als Identifikationsmuster oder als Mobilisierungselement. Wie der Zentrum-Peripherie-Konflikt stellt der ethnopolitisierte Konflikt im Kern einen Modernisierungskonflikt dar. Im Unterschied zum ersteren verläuft die Konfliktlinie bei letzterem nicht zwischen einem definierten Zentrum und dessen Peripherie, sondern entlang gruppenspezifischer Merkmale innerhalb multiethnischer Gesellschaften. Der ökoregionale Bevölkerungsdruck trägt im Zusammenhang mit knappen und degradierten Ressourcen ebenfalls zur Verhärtung interethnischer Beziehungen bei.

Die landwirtschaftliche Übernutzung von Land, Holz und verfügbaren Wasserressourcen mündet – oft im Zusammenwirken mit der demographischen Dynamik – in Verteilungskonflikte um knappe Umweltgüter. Vielerorts steht in unterentwickelten Agrarstaaten der traditionelle Dualismus zwischen Garten- und Ackerbau einerseits sowie nomadisierender Viehzucht und Großviehhaltung andererseits im Hintergrund, wenn nicht sogar im Zentrum ethnopolitisierter Konflikte. Durch den Kampf um fruchtbares Land werden kulturökologische Nischen von regional gegeneinander abgegrenzt lebenden Gemeinschaften aufgebrochen. Aufgrund der intensiven Nutzung sowohl von ökologisch relativ stabilen Gunst- als auch von sensitiven Ungunsträumen durch eine wachsende Zahl ländlicher Produzenten ist die weitgehende territoriale Trennung von Lebensräumen ethnischer Gruppen zugunsten einer raumunabhängigeren ethnischen Vermischung und sozialen Schichtung verloren gegangen. Dieser Prozeß wurde durch Kolonisierung und Modernisierung, aber auch durch Kriege, nur noch verschärft.

Während große Flächen an gutem Land von Zentralregierungen, meist im Verein mit Agromultis, für Monokulturen ausgeschieden werden (vgl. AI), gibt es gleichzeitig immer weniger fruchtbares Land, das ausschließlich einer einzigen Nutzungsart durch Kleinproduzenten vorbehalten bleibt. Ackerflächen dienen saisonal als Weide und als Jagdgebiete, Weideland wird von Ackerbauern genutzt. Trotz der kompetitiven Interessen sind traditional produzierende Gruppen, seien es Abstammungsverbände, Clans oder ethnische Einheiten, in der Regel nicht dazu bereit, ihre oft über Jahrhunderte überlieferten Rechtsansprüche, die sie aus der ersten Aneignung herrenlosen Bodens als einer res nullius ableiten, aufzugeben. Historisch werden Landverteilungs- und Landnutzungskonflikte zwischen Anhängern des traditionalen Rechts und Protagonisten von Privat- oder Staatseigentum an Grund und Boden durch den Rückgriff auf gezielte Gewaltmaßnahmen »gelöst«. Dies gilt insbesondere, wenn sie in den Sog einer ethnosozialen Stratifizierung und ethnopolitischen Hierarchisierung der Gesellschaft geraten. In jüngerer Zeit werden solche Konflikte durch die negativen ökologischen Begleiterscheinungen einer strukturellen Fehlentwicklung überlagert und durch die leichte Verfügbarkeit über moderne Waffen brutalisiert. Dadurch erhalten sie sowohl eine qualitativ neue Dimension als auch eine besondere Virulenz.

1.3 Regionalistische Migrationskonflikte (Typ AIII)

Konflikte dieses Typs entstehen aufgrund von freiwilliger oder erzwungener Migration bzw. Umsiedlung von Menschen von einer ökogeographischen Region in eine andere Region in ihrem eigenen Land. Bei den mit interregionaler Migration zusammenhängenden Konflikten ist die geographische Herkunft das primäre Kriterium für die sozialen und politischen Konfliktbeziehungen der Akteure zueinander; dadurch unterscheiden sich regionalistische Migrationskonflikte von ethnopolitischen (AII) und von Zentrum-Peripherie-Konflikten (AI). Interregionale Migration konfrontiert Angehörige verschiedener, nicht notwendigerweise benachbarter Regionen miteinander. Zugezogene Arbeits- und Landsuchende und ansässige Bevölkerung geraten in als bedrohlich empfundene Konkurrenzsituationen, die es »auszufechten« gilt. Zugewanderte entwickeln aufgrund ihrer bisherigen Tätigkeiten meist andere Interessen im Hinblick auf die Nutzung von Umweltressourcen als sie von ansässigen Gruppen, die über ausgeprägtere Einblicke in ihre spezifischen gesellschaftlichen Naturverhältnisse verfügen, vertreten werden. Solche Wanderungsbewegungen sind zum einen oft strukturell bedingt, etwa dann, wenn Trockenheit und Bodenerosion eine Abwanderung aus Ungunsträumen in produktivere Gunsträume oder (peri-)urbane Räume auslösen. Abwanderung, zwangsweise Umsiedlung und Vertreibung treten zum anderen im Zusammenhang mit (agro-)industriellen Großprojekten auf.

Dabei entstehen die unterschiedlichsten Interaktions- und Verhaltensweisen: Es kommt in übervölkerten und degradierten Gebirgsregionen mit Nomadenkulturen zu erheblichen Migrationsbewegungen in Bewässerungsgebiete, aber auch in Bevölkerungszentren des Vorlandes mit seßhaften Ackerbaukulturen. Ehemaligen Viehzüchtern fällt die Integration in die ihnen fremde Bewässerungslandwirtschaft schwer (z.B. in Zentralasien). Umgekehrt gibt es auch die Abwanderung von Bauern aus erodierten Hochländern in von Halbnomaden besiedelte fruchtbarere Tieflandgebiete (z.B. in Äthiopien). Eine dritte Bewegungsrichtung entsteht dann, wenn Halbnomaden aufgrund anhaltender Trockenheit und Bodenerosion Zuflucht in semi-ariden und sub-humiden Bergregionen, die von Ackerbauern besiedelt sind, suchen (z.B. im Sudan).

Die den drei interregionalen Interaktionssystemen zwischen Hoch- und Tieflandbewohnern zugrundeliegenden Muster sind vergleichbar. Die Migrationsbewegungen sind durch die sozioökologische Differenz der Lebensbedingungen in relativen Gunsträumen einerseits und in Ungunsträumen andererseits bestimmt. Die Wahrnehmung dieser Differenz mündet in einen Teufelskreis: Die Verhältnisse in den relativen Ungunsträumen, die nach und nach besiedelt wurden, weil der sozioökonomische und demographische Druck in den relativen Gunsträumen zu groß wurde, werden ökologisch in verhältnismäßig rascher Zeit prekär. Aus diesem Grund drängen Gruppen unter dem Eindruck klimatischer Schwankungen bzw. dauerhafter Klimaveränderungen aus marginalen Ungunsträumen (zurück) in relative Gunsträume, die ihrerseits starkem Druck ausgesetzt sind. Als Gunsträume gelten oft auch die Hauptstädte des Landes, wo es zu einem spannungsgeladenen Mix aus ansässiger Stadtbevölkerung und massenhaft Zugezogenen kommt.

Die regionalistischen Konflikte bleiben in der Regel örtlich begrenzt oder nehmen jedenfalls nur kleinräumige Ausmasse an; sie tangieren weder das ganze Land noch die Hauptstadt als Zentrum der Macht. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen spielen sich entweder in (peri-)urbanen Räumen ab und vermischen sich mit Gewalt- und Bandenkriminalität, die nicht selten von ehemaligen Soldaten getragen wird, oder sie finden in den umstrittenen Ökoregionen selbst statt. In Gebieten mit einer komplizierten ethnischen und kulturellen Zusammensetzung können sich ansässige Bevölkerung und nach und nach infiltrierende Einwanderergruppen durchaus auch neutralisieren, weil sich die Gruppenloyalitäten verhältnismäßig leicht und opportunistisch nach Bedarf ändern.

Trotzdem führt die interregionale Migration oder Umsiedlung zu politischen Auseinandersetzungen um die Machtbeteiligung von Angehörigen bisher politisch und wirtschaftlich zweitrangiger oder gar marginalisierter Regionen. In Ländern mit starken regionalen Disparitäten, die nicht durch rechtsstaatliche und demokratische Mechanismen (Finanzausgleich, Strukturhilfefonds etc.) ausgeglichen werden, können interregionale Bevölkerungsverschiebungen durchaus zu Veränderungen der Machtstrukturen bis hin zur Okkupation des staatlichen Gewaltmonopols durch neue regionalistische Gruppen führen, wenn es ihnen gelingt, die herrschende Elite erfolgreich zu durchdringen oder anderweitig von der Macht zu vertreiben.

1.4 Grenzüberschreitende Migrationskonflikte (Typ BIV)

Wenn Umweltflüchtlinge freiwillig oder aufgrund von Vertreibungen nationale Grenzen überschreiten und sich entweder in grenznah gelegenen ländlichen Gebieten oder in Städten eines Drittlandes ansiedeln, stellen sie ein ernstzunehmendes soziales und gelegentlich auch (ethno-) politisch instrumentalisierbares Konfliktpotential dar. Umweltdegradationsflüchtlinge verstärken Konfliktsituationen insbesondere an jenen Orten, an denen die ökonomische Situation erodiert, politische Instabilitäten oder traditionelle Zwistigkeiten schon existieren oder durch den Migrations- und Bevölkerungsdruck Konfliktlinien vertieft oder neu gezogen werden. Gewaltanwendung beschleunigt diesen Prozeß und öffnet oft auch vorkoloniale Gräben zwischen ehemals verfeindeten Clans, ethnischen Gruppen oder Völkern.

Bei der Umweltflucht handelt es sich meist um die beharrliche Infiltration in Räume, die günstigere Lebens- bzw. Überlebensbedingungen erwarten lassen. Nur in Ausnahmesituationen wie zum Beispiel bei akuter Dürre, kommt es zu spontaner massenhafter Flucht. Die Fluchtwege sind verzweigt. Vielerorts lohnt es sich, die Landesgrenze zu überschreiten, weil ausländische Gunsträume geographisch näher liegen und die Menschen dort ähnlicher sind (möglicherweise der gleichen Ethnie angehören) als in der fernen Hauptstadt des Landes. Vereinzelt führen die Wege auch in die nördlichen Industrieländer, die aufgrund der Entwicklungsunterschiede und der vorurteilsbildenden Wertediffusion generell als Gunsträume betrachtet werden.

Die Konflikte, die durch Umweltflucht aus akut degradationsgefährdeten ländlichen Regionen in Entwicklungsländern ausgelöst werden, fallen in drei Kategorien:

  • An erster Stelle stehen Probleme, die aus Armut und Unterentwicklung als solchen resultieren. Dazu gehören die Krise der traditionellen Landwirtschaft sowie das Bevölkerungswachstum auf dem Lande. Der überwiegende Teil der Bevölkerung in Entwicklungsländern siedelt in ländlichen Gebieten. Eine ungenügende Infrastruktur, ungeklärte Besitzverhältnisse bzw. divergierende Rechtsvorstellungen sowie ein mangel- und lückenhaftes bäuerliches Kreditwesen tragen zum Erhalt von landwirtschaftlichen Strukturen niedriger Produktivität und demzufolge auch einer schwachen Einkommensstruktur bei. Gleichzeitig bewirkt die Marktwirtschaft die Auflösung von überkommenen Strukturen nur sehr selektiv, so daß Subsistenz- und Kleinbauern aufgrund der Dualität von marktwirtchaftlichen und traditionalen Produktionsweisen weiter unter Druck geraten. So unterschiedliche Phänomene wie Bodenerosion, starker Regen und Flut, Trockenheit und Dürre, Versalzung durch Bewässerung, Abholzung und Waldrodung sowie Überweidung von Grassavannen durch immer größere Viehherden beschleunigen die Auflösung traditionaler Lebensordnungen, das heißt, spezifischer lokaler bzw. regionaler Ensembles von Wirtschaft, Kultur, Nachbarschaft und Familie. Den Menschen bleibt ab einem bestimmten Punkt keine andere Wahl, als ihre Heimat aufzugeben.

Die armutsbedingte Erosion von Acker- und Weideland ist diejenige Variante der Umweltzerstörung, die bis heute die meisten Umweltflüchtlinge hervorgebracht hat. Die direkten Anlässe, die den Entscheid zur Flucht herbeiführen, sind in den betroffenen Regionen selbst zu suchen.

  • An zweiter Stelle stehen Probleme, die sich aus den – wenn auch schwachen und verbogenen – Entwicklungsprozessen selbst ergeben: dazu gehören die Mechanisierung der Landwirtschaft, Staudammbauten, Teilindustrialisierung und Urbanisierung. Die Mechanisierung der Landwirtschaft bewirkt die Freisetzung zahlloser Kleinbauern und Landarbeiter. Sie zwingt diese, sich auf marginale Böden zurückzuziehen oder in Städte abzuwandern. Während diese erzwungenen Bewegungen als eine Form der Landflucht oder Vertreibung durch wirtschaftliche und politische Gewalt betrachtet werden können, führen die diversen Nebeneffekte der Mechanisierung wie der Einsatz von Dünger, von Pestiziden und Herbiziden sowie die weiträumige Versalzung von Böden aufgrund von Bewässerungssystemen, zu eigentlicher Umweltdegradationsflucht.

Umweltprobleme, die mit der Wasserversorgung bzw. dem Wassermanagement zu tun haben und zu Umweltflucht und Umsiedelungen führen, sind mit Staudamm- und Bewässerungsprojekten sowie den daraus resultierenden Nebeneffekten verbunden. Die Überschwemmung von Siedlungsgebieten und der Verlust von fruchtbarem Land, von Fischbeständen und Artenvielfalt, aber auch die Versalzung und die Ausbreitung von Krankheiten, hervorgerufen durch das Schrumpfen von Binnengewässern und durch anhaltende Trockenheit, können zu großen Umsiedlungs-, Vertreibungs- und Fluchtaktivitäten führen. An dieser Stelle sind aber auch modernisierungsbedingte Formen der Transformation und ihre Auswirkungen auf die Bevölkerungen zu nennen: Umweltzerstörung durch militärische Aktivitäten, Umweltverschmutzung und -vergiftung, Verdrängungsprozesse durch den Bau von Staudämmen und Ressourcenverknappung.

  • An dritter Stelle schließlich muß die Gefährdung einer wachsenden Zahl von Menschen, die gezwungen ist, aufgrund sozioökonomischer und demographischer Faktoren auf marginalen Böden oder in gefährdeten Regionen zu siedeln und dadurch Opfer von natürlichen Ereignissen (wie Bergrutschen) zu werden, genannt werden. Diese Ereignisse werden von den betroffenen durchwegs als »Natur-« und nicht als »Sozialkatastrophen«, die sie im Grunde sind, angesehen.

Vor allem die Probleme der ersten Kategorie führen heute zu den gravierendsten sozialen und individuellen Härten in den Entwicklungsländern. Armuts- und modernisierungsbedingte Milieuzerstörung sind dabei nur zwei Seiten derselben Medaille.

Ein erwähnenswerter Konfliktgegenstand, den wir allerdings nur oberflächlich streifen, bildet die interkontinentale Migration aus den südlichen in die nördlichen Kontinente. An den Bruchstellen zwischen Nord und Süd, zum Beispiel am Rio Grande, der die USA und Kanada von Mexiko und Lateinamerika trennt, versuchen die nördlichen Industrieländer durch den Bau von Zäunen, grenzpolizeilichen und militärischen Maßnahmen, eine Politik der Einwanderungskontrolle bzw. des -stopps sowie der Rückführung von illegal Eingereisten durchzusetzen. Umweltdegradationsflüchtlinge sind vor diesem Hintergrund ein Faktor im globalen Verteilungskonflikt, der zu einer ökologischen Bevorteilung der industriellen Vorreiterökonomien, die die Ressourcen weltweit noch ungehemmt genutzt haben, und zu einer ökologischen Marginalisierung der Armut der Nachzügler geführt hat.

In der Regel verfügen Umweltdegradationsflüchtlinge jedoch nicht über die notwendigen Ressourcen und die gesundheitliche Konstitution für kostspielige und lange Reisen. Aus diesem Grund liegen die Destinationen des überwiegenden Teils der Migranten und Flüchtlinge nicht in anderen Teilen ihres Kontinents oder gar in anderen Kontinenten. Verfolgt man den Weg eines Umweltdegradationsflüchtlings von seiner Heimat bis zur möglichen Destination in einem Industrieland, so gibt es auf seinen Stationen verschiedene Konfliktherde: in der benachbarten Ökoregion, in der Hauptstadt des Landes, im grenznahen Raum jenseits der Landesgrenze, in anderen Ländern oder Kontinenten.

1.5 Demographisch verursachte Migrationskonflikte (Typ BV)

Die relative Überbevölkerung in stark beanspruchten oder übernutzten Ökoregionen stellt ein weiteres Motiv für Migration, Flucht und Umsiedlungsaktionen dar. Damit einhergehende Konflikte sind ähnlich gelagert wie regionalistische oder internationale Migrationskonflikte. Das Bevölkerungswachstum ist ebenfalls eng mit sozioökonomischen Problemen der Armut verknüpft. In einigen Ländern (Ruanda, Bangladesch, Indonesien) führt der lokale Bevölkerungsdruck auf das genutzte Land zu einem deutlichen Auseinanderklaffen der ökologischen und ökonomischen »carrying capacity« von Ökoregionen, was sich in einem verschärften Wettbewerb um knappe und degradationsgefährdete Ressourcen niederschlägt. Ein Indiz dafür sind immer kleinere landwirtschaftlich nutzbare Flächen pro Kopf der Bevölkerung. Kleine Anbauflächen, geringe Hektarerträge und mangelnde Alternativen im gewerblichen Sektor zwingen große Teile der Landbevölkerung zur Abwanderung Richtung Stadt. Deutlich kommt der Zusammenhang zwischen Bevölkerungsentwicklung und Umweltzerstörung auch dort zum Ausdruck, wo der Bevölkerungsdruck durch Migration auf noch ungenutzte Flächen in Regenwald- und Berggebieten zunimmt. Ein weiterer Trend ist das überdurchschnittlich hohe Bevölkerungswachstum in ökologisch empfindlichen Küstenregionen. Und schließlich trägt das allmähliche Einsickern von Landlosen oder das Ausweichen von Halbnomaden mit ihren Herden in staatliche Naturschutzzonen bzw. Parks ein erhebliches Konfliktpotential in sich.

Zu akuten Konflikten kommt es dort, wo die Ausweichbewegungen in Regionen hineinführen, in denen die Land- und/oder Wasserressourcen bereits durch die ansässige Bevölkerung stark genutzt werden. Wenn demographische, ökologische, soziale und/oder ethnopolitische Faktoren kumulieren, kommt es zu Konflikten mit einer hohen Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von Waffengewalt wie zum Beispiel zwischen bengalischen Umweltflüchtlingen und Bewohnern der indischen Provinz Assam.

Demographisch verursachte Migrationskonflikte sind Ausdruck eines tiefgreifenden Strukturwandels von Gesellschaften und ihrem internationalen Umfeld. Im innerstaatlichen Bereich ist die Kluft zwischen Zentrum und Peripherie bestimmend: Wenn der Druck in der Peripherie zu groß wird, dann wird er in Form von Migration auf die Stadt weitergegeben, so daß es vor allem im peri-urbanen Bereich zu einem wachsenden sozialen Potential für Konflikte und Gewaltkriminalität kommt. Diese Konflikte bewirken eine Dynamik in Richtung grenzüberschreitender Migration, die – im Kontext von gewaltsamem Machtwechsel und Bürgerkrieg – nicht selten die Form massenhafter Flucht annimmt (Region der Großen Seen in Ostafrika).

1.6 Internationale Wasserkonflikte (Typ CVI)

In dieser Kategorie befinden sich Konflikte zwischen Staaten, die ein grenzüberschreitendes Flußbecken teilen. Wassernutzungskonflikte ereignen sich typischerweise zwischen Ober- und Unteranrainern eines Flußbeckens oder zwischen Hoch- und Tieflandbewohnern. Aufgrund der Gerichtetheit des Wasserflusses sind die Nutzungschancen und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Staaten eines Beckens höchst asymmetrisch verteilt. Fließende Gewässer sind das augenscheinlichste Beispiel für den generellen Widerspruch zwischen den natürlichen Grenzen von Ökoregionen und den historisch gewachsenen politischen Grenzen von Nationalstaaten. Sie verbinden ökologische Funktionsräume ökologisch miteinander, die unterschiedlichen Herrschaftssphären angehören.

Grundsätzlich sind Verschmutzungs- und Verteilungskonflikte zu unterscheiden: erstere betreffen die qualitative Degradation der Ressourcen, letztere deren quantitative Verknappung. Verschmutzungskonflikte stellen sich als Streitigkeiten um ein unteilbares öffentliches Gut dar, die erfahrungsgemäß hauptsächlich Grenzwerte, Verantwortlichkeiten und wirtschaftliche Kosten betreffen. Weil in der Regel alle Anrainer ein Eigeninteresse an der Behebung des Problems haben, lassen sich diese Konflikte durch technische Massnahmen oder einen finanziellen Ausgleich prinzipiell leichter lösen als die Frage der physischen Verfügung über die Ressourcen selbst. Verteilungskonflikte stellen sich nämlich als Konflikte um teilbare Güter bzw. absolute Nullsummenspiele dar. Sie berühren die staatliche Souveränität und Integrität direkter als die Problematik der Wasserverschmutzung. Insbesondere in Regionen, die saisonal oder absolut ohnehin unter Wasserknappheit leiden (z.B. der Nahe Osten oder der Indische Subkontinent), ist die Wasserverteilung eine höchst brisante Frage, die sich unmittelbar in der Gestalt einer Bedrohung der nationalen Sicherheit stellt. Weil sie politisch leicht instrumentalisierbar sind, vermengen sich Verknappungskonflikte in politischen Krisenregionen unweigerlich mit anderen Konfliktursachen. Beide Grundtypen können freilich auch in kombinierter Form auftreten.

Internationale Wassernutzungskonflikte entfalten sich im Spannungsfeld zwischen dem unmittelbaren Interesse der betreffenden Staaten an den geteilten Ressourcen, der Machtverteilung zwischen ihnen und dem Verhältnis von konfrontativer und kooperativer Tradition in ihren zwischenstaatlichen Beziehungen. Das Interesse an der Ressource ist wiederum eine Funktion des sozioökonomischen Problemdrucks, der aus dem Grad der Abhängigkeit von den geteilten Ressourcen, dem Bevölkerungswachstum sowie der Fähigkeit der betroffenen Staaten, mit Verwundbarkeit umzugehen, resultiert. Demnach ist neben den objektiven hydrologischen Bedingungen das politische und sozioökonomische Umfeld für die Austragung internationaler Wasserkonflikte von zentraler Bedeutung. Von den mit der Wassernutzung zusammenhängenden Problemen allein können keine direkten Schlüsse auf die Gewaltträchtigkeit der Nutzungskonflikte gemacht werden.

Besteht auf verschiedenen Politikfeldern eine kooperative bilaterale Tradition, so hat dies auf Wassernutzungskonflikte eine dämpfende Wirkung. Präzedenzfälle erfolgreicher Kompromißfindung oder gar institutionalisierte Mechanismen der Streitschlichtung und Kooperation verringern die Gefahr, daß Wassernutzungskonflikte außer Kontrolle und in eine Eskalationsdynamik geraten. In integrierten Räumen werden internationale Verträge über die Nutzung grenzüberschreitender Gewässer häufiger und früher geschlossen als in nicht-integrierten. Am günstigsten auf die Konfliktdynamik wirkt sich aus, wenn auf dem Gebiet der Wassernutzung bereits zwischenstaatliche Regime bestehen, an die bei neu auftretenden Konflikten angeknüpft werden kann.

Verschmutzungs- und Knappheitskonflikte in und zwischen Industriestaaten in politisch stark integrierten Regionen lassen sich demnach aufgrund der hohen Handlungskompetenz der beteiligten Staaten und der bestehenden regulativen Mechanismen auf der politischen Ebene bearbeiten. Umweltkonflikte können hier zu einem Katalysator von Kooperation werden, wenn von den beteiligten Akteuren politische Kompromisse als wünschbar und technische Lösungen als durchführbar angesehen werden. Hingegen stellen sie in politisch-institutionell schwachen Staaten und nur dürftig integrierten Regionen einen potentiellen Faktor der Konfrontation dar. Konflikte, welche die Gewaltschwelle überschreiten, müssen im Kontext dieses politischen Umfeldes untersucht werden. Selbst Streitigkeiten um die Verteilung von grenzüberschreitenden Wasserressourcen in ariden Regionen haftet demnach nicht jener Automatismus zum gewaltsamen Konfliktaustrag an, der von manchen Autoren unterstellt wird.

Im Nahen Osten ergibt sich eine besondere Eskalationsträchtigkeit internationaler Wasserkonflikte aus der Vermengung einer äußerst akuten Wasserknappheit mit dem Jahrhundertkonflikt zwischen den Israelis und den Arabern. Das Wasser war und ist in diesem Rahmen sowohl ein zusätzlicher Streitgegenstand als auch ein Instrument zur Austragung des traditionellen Konfliktes um Grenzen, Sicherheit und nationale Identität. Wenn auch der Konflikt keineswegs definitiv gelöst ist, zeigt sich andererseits am Beispiel des gegenwärtigen arabisch-israelischen Friedensprozesses, daß kooperatives Management von Wasserressourcen selbst unter Bedingungen akuter Knappheit möglich ist, wenn die beteiligten Staaten die grundlegenden politischen Differenzen beizulegen vermögen und über die nötigen Mittel für ökonomische und technische Korrekturen im Bereich von Wasserangebot und -nachfrage verfügen. Israel und Jordanien schlossen im Rahmen eines umfassenden Friedensvertrages im Oktober 1994 ein Wasserregime, das eine begrenzte Umverteilung der Ressourcen mit Maßnahmen zu einem verbesserten Wassermanagement verbindet.

Auf dem indischen Subkontinent sind die Wassernutzungskonflikte hingegen in einen Kontext eingebettet, der von extremer Armut, ethnopolitischen Spaltungen und den Hegemonialansprüchen einer Regionalmacht geprägt ist. Die vom Oberanrainer Indien verursachte Verminderung des Wasserabflusses trug beim Unteranrainer Bangladesch zu Verelendungsprozessen und zu Migrationsbewegungen in die benachbarten indischen Bundesstaaten bei. Diese sind die Ursache für zum Teil gewaltsam ausgetragene ethnopolitische Auseinandersetzungen und latente Sezessionsbestrebungen, die einen zusätzlichen Faktor der Unstabilität auf dem indischen Subkontinent bilden. Letztlich handelt es sich in diesem Fall um eine machtpolitische Manifestation ökoregionaler Abhängigkeitsverhältnisse, die ihre Wurzeln in der ökosozialen Heterogenität zwischen den regionalen Akteuren hat.

Wie in jedem Konflikt spielen bei Wassernutzungskonflikten zwischen Ober- und Unteranrainern die Machtverhältnisse bei der Wahl der Mittel des Konfliktaustrags eine wesentliche Rolle. Im Kontext hoher institutioneller Verflechtung und kooperativer Tradition wird die Bedeutung der Machtverhältnisse durch rechtliche Schranken und gewohnheitsbestimmte Verhaltensregeln mediiert. Das Vorhandensein eines handlungskompetenten Hegemons am Oberlauf kann in solch einem Umfeld durchaus eine stabilisierende Wirkung haben, wenn dieser im Interesse gutnachbarschaftlicher Beziehungen Entgegenkommen zeigt und seine Kompetenzen dazu nutzt, beidseitig befriedigende technische Lösungen zu ermöglichen (Bsp. USA-Mexiko).

In einem konfrontativen politischen Kontext ist es hingegen von zentraler Bedeutung, in welcher Anrainerposition sich der militärisch und politisch stärkere Staat befindet. Die geographische Position am Flußlauf ist selbst ein Faktor der Macht, dem beim Konfliktaustrag Beachtung zu schenken ist. Wenn ein Staat sowohl Oberanrainer als auch militärisch überlegen ist, hält er alle Trümpfe in der Hand. Er kann den oder die Unteranrainer bei der verfügbaren Wassermenge rücksichtslos diskriminieren. Ist seine Überlegenheit überwältigend, werden die Unteranrainer trotzt der Diskriminierung aufgrund einer rationalen Kosten-Nutzen-Analyse kaum zu einer offenen kriegerischen Auseinandersetzung bereit sein. Gewaltsame Auseinandersetzungen werden sich allenfalls auf der substaatlichen Ebene als Folge von Migrationsbewegungen zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer oder regionaler Gruppen abspielen. Befindet sich der potentere Staat hingegen in der Unteranrainerposition, so kann er seine ungünstige ökoregionale Position machtpolitisch kompensieren.

Offene Kriege aufgrund von Wasserverteilungsfragen allein sind allerdings bis heute nicht nachweisbar. Nur wenn die Wasserfrage mit ungünstigen politischen Rahmenbedingungen wie einem historischen Konflikt zusammentraf, wurden Streitigkeiten um Wasserprojekte zum unmittelbaren Auslöser von kriegerischen Handlungen (Bsp. Scharmützel zwischen Israel und Syrien im Vorfeld des Sechs-Tage-Krieges). Die asymmetrischen ökogeographischen Positionen im Becken werden unter solchen Bedingungen von den Oberanrainern hemmungslos ausgenutzt. Klimatisch und demographisch bedingte Knappheitssituationen verschärfen die Lage zusätzlich. Befinden sich die dominanten Anrainer unter autoritären Regimes, die von der Zentrale aus Modernisierungsprozesse auch gegen die eigene oder die Bevölkerung im Nachbarstaat implementieren, sind die geteilten Wasserwege latent dauerhaft Gegenstand von politischen Konflikten. Sie bilden häufig Anlaß zu militärischen Drohgebährden gegen den Nachbarn oder zur Gewaltanwendung gegen marginalisierte ländliche Gruppen.

1.7 Fernwirkungskonflikte (Typ CVII)

Klimaveränderungen und die Zerstörung der Ozonschicht sind Ausdruck globaler Transformationserscheinungen. Sie führen aber offenbar nicht zu globalen Konfliktformationen. Vielmehr fördert die weltweite Umweltdegeneration weiterhin strukturelle und ökologische Heterogenität auf ökoregionaler Ebene. Nutznießer und Geschädigte sind regional ungleich verteilt. Aufgrund der vorliegenden Fallstudien sind wir nicht in der Lage, konkrete Aussagen über die sozioökonomischen und -ökologischen Auswirkungen von Klimaveränderungen zu treffen. Da der prognostizierte Meeresspiegelanstieg ein Phänomen der mittel- und langfristigen Zukunft sein wird und auch die anhaltende Trockenheit in ariden und semi-ariden Zonen nicht eindeutig dem anthropogenen Klimawandel zuzuordnen ist, bleiben Aussagen dazu spekulativ. Sicher ist, daß aufgrund des Entwicklungsdilemmas die Verlierer dort zu finden sein werden, wo die gesellschaftlichen Naturverhältnisse ohnehin prekäre Situationen hervorgerufen haben. Sollten aktuelle Konflikte auf globale Umweltphänomene zurückgeführt werden können, handelt es sich vermutlich in erster Linie um innerstaatliche Konflikte der Typen AI bis AIV. Mit anderen Worten, akute Konflikte zeichnen sich nicht entlang des Kompetenzgefälles zwischen Nord und Süd ab, sondern dort, wo der Klimawandel und seine Folgen Agrargesellschaften zum Kollaps, Millionen Menschen in die Flucht und politische Instanzen in den Zusammenbruch treiben können.

Fazit:

Die sozioökologische Heterogenität schlägt sich in machtrelevanten Differenzen von Handlungsoptionen nieder. Diese manifestieren sich als internationale, soziale, regionalistische, ethnopolitisierte und machtpolitische Verteilkämpfe um knappe und degradierte Ressourcen. Genauer noch: Wenn sich höhere ökonomische Erwartungen von sozialen Gruppen und eine größere Ressourcennachfrage einer wachsenden Bevölkerung einerseits und begrenzte oder unklare Entwicklungsperspektiven, degradierte Ressourcen, versiegende Energiequellen und technische Defizite bzw. steile Kompetenzgefälle bei der nachhaltigen Erschließung neuer Energiequellen andererseits gegenüberstehen, kommt es unweigerlich zu Konflikten darüber, welche Akteure die degradierten Ressourcen weiterhin nutzen werden und welche abgedrängt oder von der Nutzung ausgeschlossen werden. Ob es darüber dann auch zu einem Rückgriff auf organisierte Gewalt kommt, hängt zusätzlich von den Möglichkeiten zivilen Konfliktaustrags, der Mobilisierungsfähigkeit der Akteure, der Wahrnehmung von Handlungsalternativen, mithin von den Präferenzen der Akteure und deren Begrenzungen ab.

2. Unausweichliche Lage und Mangel an Regulierungsmechanismen – These Zwei

In Kapitel 3 (des demnächst erscheinenden Buches, die Red.) haben wir Akteurshandeln als das Ergebnis von zwei zeitlich nachgeordneten Filterprozessen beschrieben. Filter I, der die beliebig vielen Handlungsmöglichkeiten von Akteuren auf einige wenige begrenzt, wirft die doppelte Frage danach auf, wie die Umweltdegradation einerseits und der daraus entstehende Konflikt andererseits die Handlungsoptionen der Akteure beeinflußt. Beim Filter II, der die Präferenzordnung bestimmt, entsteht das Problem, wie die Umweltdegradation einerseits und der daraus entstehende Konflikt andererseits die Präferenzen der Akteure dahingehend beeinflußt, daß sie meinen, zur bewaffneten Gewalt greifen zu müssen.

In der zweiten These gehen wir davon aus, daß es dann und nur dann zu umweltverursachten bewaffneten Konflikten kommt, wenn mehrere der folgenden fünf Faktoren zusammentreffen:

1. Degradierte Ressourcen, die in absehbarer Zeit nicht substituierbar sind, bringen Gruppen, deren Existenz vom Erhalt dieser Ressourcen abhängt, in eine unausweichliche und mithin verzweifelte Lage. Unausweichliche Zustände sind solche, die man nicht verstandesmäßig oder absichtlich verlassen kann.

2. Es existiert ein Mangel an gesellschaftlichen Regulierungsmechanismen. Dieser ist nichts anderes als der Ausdruck der sozialen und politischen Machtlosigkeit staatlicher, traditionaler und moderner zivilgesellschaftlicher Institutionen. Zur »Machtlosigkeit der Macht« kommt es dann, wenn sich ein politisches System als unfähig erweist, gewisse soziale und politische Zustände herbeizuführen. Gesellschaftliche Ziele, wie zum Beispiel die nachhaltige Ressourcennutzung, werden dadurch unerreichbar.

3. Die Umweltzerstörung wird von staatlichen oder gesellschaftlichen Akteuren zur Verfolgung gruppenspezifischer Interessen auf eine Weise instrumentalisiert, daß die Ressourcenproblematik zu einer Gruppenidentitätsfrage wird.

4. Der umweltverursachte Konflikt findet in einem politischen Umfeld statt, der es den Akteuren erlaubt, sich zu organisieren, sich zu bewaffnen und Alliierte entweder in von ähnlichen Problemen betroffenen Gruppen, in anderen sozialen Schichten oder im Ausland zu gewinnen.

5. Der umweltverursachte Konflikt findet im Kontext einer bereits bestehenden Konfliktkonstellation statt, die durch die subjektive Wahrnehmung der Tragweite der Umwelttransformation oder durch den verschärften Ressourcenwettbewerb polarisierter Gruppen neuen Auftrieb erhält.

Unausweichliche sozioökonomische Zustände, Mangel an gesellschaftlichen Regulierungsmechanismen, Instrumentalisierung, Gruppenidentität, Organisation und Bewaffnung und Überlagerung eines historischen Konfliktes bilden den Rahmen, innerhalb dessen sich die umweltverursachten bewaffneten Konflikte ereignen.

2.1 Unausweichliche Lage der Akteure

Es sind prinzipiell die gleichen soziokulturellen Faktoren und Verhaltensmuster, die einerseits zur Degeneration der Umwelt und andererseits zu bewaffneten Konflikten führen: konkurrierende Interessen bei der Nutzung der erneuerbaren Ressourcen, Verknappung und Verschmutzung durch Übernutzung, unklare bzw. kompetitive Rechtsordnungen und Eigentumsregelungen sowie politische Mobilisierung von kollektiven Akteuren, die sich in Verteilungs- und Abwehrkämpfen verstricken. Diese sind Ausdruck eines tiefgreifenden sozialen Wandels, der insbesondere die Landbevölkerung in Entwicklungsländern erfaßt hat. Die Landbevölkerung, die von der Transformation besonders stark betroffen ist, umfaßt in erster Linie die Agrarproduzenten von niedrigem sozialem und politischem Status, einschließlich der Landarbeiter, der Knechte, der Geldpächter etc. Das heißt insbesondere, daß ihre Angehörigen keine Agrarunternehmer sind und nicht zu den politisch Herrschenden gehören.

Zu den Faktoren, die zum Leiden und Widerstand der Landbevölkerung beigetragen haben, gehörten in erster Linie die Verdrängung der autochthonen vorkolonialen Agrar- und Arbeitsverfassungen mit ihrem hohen Anteil an genossenschaftlichen und kollektivistischen Zügen durch das Vordringen moderner landwirtschaftlicher Produktionsweisen und Besitzverhältnisse. Die Umwelttransformation erweist sich in diesem gegenläufigen Prozeß von Modernisierung versus Marginalisierung nicht so sehr als eine Frage von einfacher Ressourcenknappheit, sondern eher als eine Folge von fehlgeleiteter Entwicklung. Elemente davon sind:

  • das modernisierungsbedingte Bevölkerungswachstum bei fehlenden sozialen und ökonomischen Institutionen, die den entstehenden Druck auf die erneuerbaren Ressourcen einer Ökoregion auffangen und in produktive Kanäle leiten können;
  • die Kommerzialisierung der landwirtschaftlichen Produktion. Da diese in der Regel kapitalintensiv verläuft, wird die traditionale Landwirtschaft marginalisiert und in relative oder absolute Ungunsträume abgedrängt. Bauern und Viehzüchter werden freigesetzt, ohne daß ihnen im kommerziellen Sektor oder in der Stadt eine Alternative angeboten wird;
  • die Krise der Subsistenzwirtschaft, die einerseits auf die beiden ersten Einflußfaktoren zurückzuführen ist, andererseits mit der Subsistenzproduktion selbst zu tun hat. Dazu gehören abnehmende Erträge, hohe Anfälligkeit für klimatische Schwankungen, geringe Überschußproduktion zur Reservebildung, starre Produktionsstrukturen, die zu einer auf Dauer unnachhaltigen Nutzung der jeweiligen Ökoregion führen.

Die drei Faktoren führen für sich allein genommen nicht notwendigerweise zu bewaffneten Konflikten. Es kommen jedoch zwei wichtige Einflußfaktoren hinzu, welche unsere Arbeitsthesen erhärten: die unausweichliche Lage vieler kleiner Produzenten, die keine alternative Möglichkeit zur Bestreitung des Lebensunterhalts sehen, gepaart mit der Machtlosigkeit der Entwicklungspolitik des Zentrums im Hinblick auf wünschbare Ziele wie zum Beispiel die Verteilung von mehr produktivem Land an mehr Produzenten, die Schaffung von Arbeitsplätzen im gewerblichen und industriellen Sektor oder die Drosselung des Bevölkerungswachstums auf dem Lande. Die unausweichliche Lage und die Machtlosigkeit der Politik sind die beiden Extremformen der machtrelevanten Differenz von Handlungsalternativen. Es ist dann das beiderseitige Fehlen von Handlungsoptionen bzw. die starre Polarisierung, die hoch gewaltanfällig ist.

Eine globale Antwort auf die Frage, ob diese Faktoren in jedem Fall und zwingend zu einem bewaffneten Konflikt führen, ist nicht möglich. Vielmehr müssen lokale und regionale Unterschiede, aber auch jahreszeitliche Schwankungen in Betracht gezogen werden. Nicht die »globale Tendenz zur Desertifikation durch Überweidung« gilt als verläßlicher Konfliktindikator, sondern lokalspezifisch unterschiedlich größer werdende Instabilitäten im sozioökologischen Netzwerk. Ein generelles Indiz dafür ist, daß Regulierungsphasen bei der Nutzung von erneuerbaren Ressourcen kürzer und daher häufiger werden. Hinzu kommen extreme ökonomische und kulturelle Heterogenitäten, die Produktionsweisen selbst innerhalb scheinbar einheitlicher Regionen, wie etwa dem Horn von Afrika oder der Sahelzone, prägen. Soziale Differenzierungen bilden zusammen mit politischen Mobilisierungen entlang identitätsbildender Grenzen (Ethnie, Stamm, Volk, Religionsgemeinschaft) einen Indikator dafür, daß in bestimmten Regionen aufgrund der Zerrüttung gesellschaftlicher Naturverhältnisse erhöhte Anpassungs- und Regulierungsprozesse notwendig wurden bzw. werden. Zusammen mit weiteren exogenen und endogenen Einflüssen, wie Klimaschwankungen, Urbanisierung, Landflucht und Niederlassen illegaler Siedler im Umkreis von Städten, ergibt sich eine Reihe von unausweichlichen Konsequenzen, die vom Prinzip der Nachhaltigkeit wegführen. Dort, wo ausreichende technische und ökonomische Mittel zum Umgang mit destruktiven Naturverhältnissen vorhanden sind, bilden Umweltprobleme keinen akuten oder gar unausweichlichen Kriegsgrund. Wo hingegen keine Möglichkeiten zur Substitution degradierter Ressourcen existieren und/oder die Beziehungen zwischen den Parteien durch Alternativlosigkeit belastet sind, ist eine Konflikteskalation wahrscheinlich. Wenn Menschen gezwungen werden, sich das, was sie zum Leben brauchen, von wo auch immer zu nehmen, haben sie keine andere Wahl, als das übermäßig zu nutzen, was immer für sie verfügbar ist, um ihre gegenwärtigen Bedürfnisse zu erfüllen und zwar selbst gegen den Widerstand Dritter.

2.2 Mangel an gesellschaftlichen Konfliktbearbeitungsmechanismen

Allen präsentierten Konflikten ist gemeinsam, daß der Mangel an gesellschaftlichen Konfliktbearbeitungsmechanismen die gewaltförmige Konflikteskalation befördert. Denn wenn über lange Zeiträume hinweg eingeübte und sozial verankerte Mechanismen zur Konfliktregelung versagen, sei es, weil sie den neuen Herausforderungen der Umweltzerstörung nicht gewachsen sind, weil externe Akteure mit anderen Interessen in die Konfliktregelung einbezogen sind oder sei es, weil moderne rechtsstaatliche Institutionen nicht vorhanden sind oder nicht greifen, dann ist der Rückgriff auf Gewalt aus der Sicht der betroffenen Akteure durchaus ein rationales Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen. In Konfliktregionen hat sich demgegenüber der Staat weder als durchsetzungsfähiger Verwaltungs- und Ordnungsapparat noch als von den Bürgern legitimierter und akzeptierter Rechtsstaat konsolidiert.

Im Zusammenhang mit umweltverursachten bewaffneten Konflikten kann die herausragende Rolle rechtsstaatlicher und zivilgesellschaftlicher Strukturen und Institutionen nicht genügend betont werden. Die Zivilgesellschaft als konfliktregulierendes Korrektiv fällt in den Ländern des Südens (weitgehend) aus. Es fehlt an politischem Pluralismus, das heißt, an oppositionellen und trotzdem etablierten Interessenvertretungsstrukturen sowie einer breiten informierten Öffentlichkeit, vor deren Hintergrund Konflikte in regulierter, ziviler und symbolischer Form ausgetragen werden können. Wenn der Satz gilt: Je weniger stabil und entwickelt diese Strukturen sind, desto gewaltanfälliger und einbruchgefährdeter ist die Ordnung, dann kann der Umkehrschluß nur lauten: Je festgefügter und ausgeprägter vorhandene rechtsstaatliche und zivilgesellschaftliche Strukturen, desto niedriger das Gewaltniveau und desto marginaler die Bedeutung von Gewaltanwendung im Konfliktaustrag. In demokratischen Industriestaaten werden die unzähligen und zum Teil schwerwiegenden Umweltkonflikte gewaltfrei mit juristischen und politischen Mitteln und unter Mobilisierung der öffentlichen Meinung ausgetragen. Verhandlungen, Vergleiche und Mediation spielen dabei eine zentrale Rolle. Punktuelle sporadische Gewaltanwendungen wie Blockaden oder Sabotage haben dabei entweder unterstützende Funktion oder sind der Überreaktion staatlicher Sicherheitskräfte geschuldet. Organisierte Gewaltanwendung ist hingegen kein zentrales Mittel im Rahmen einer politischen Strategie und kein den Gesamteindruck eines Konflikts prägendes Charakteristikum.

Zur Handlungskompetenz eines Staates gehört eine ganze Reihe von ökonomischen, sozialen und institutionellen Faktoren. Diese sind in den Ländern unserer Fallstudien kaum vorhanden, wobei es im Hinblick auf die Kompetenzverteilung eine relativ große Bandbreite gibt. Sie reicht von der Machtlosigkeit der Politik im Hinblick auf die Realisierung eines allgemein geteilten Zielhorizonts wie der Nachhaltigkeit bis hin zur reinen Machtpolitik, bei der demokratische Erwartungen von vornherein ignoriert werden. Dort, wo der Staat als starker Staat auftritt, tut er es willkürlich, von oben herab, autoritativ und vielerorts gegen die ländliche Bevölkerungsmehrheit gerichtet. Er ist den Interessen des Zentrums unterworfen und durchaus darum besorgt, internationalem Standard gemäße handels- und investitionsrechtliche Maßnahmen vorzukehren. Umso mehr erscheint er marginalisierten und von der Modernisierung ausgeschlossenen Bevölkerungsteilen als Agent fremder Interessen, der die nationalen Ressourcen zugunsten Dritter plündert. Sie nehmen den Staat als weit entfernten bürokratischen Apparat wahr, der in die eigene Lebenswelt eindringt und sie zerstört und den Profit daraus zum Nachteil der lokalen Bevölkerung unter den Eliten im Zentrum verteilt.

Der Umgang mit umweltverursachten Konfikten würde die Einführung spezifischer, von allen Beteiligten als gerecht empfundener und auf Nachhaltigkeit angelegter Austauschmechanismen erfordern, die über eine bloße ökonomische Verteilungslogik hinaus gehen würden (vgl. 9). Doch gerade der Mangel an Konfliktregelungsmechanismen verhindert innovative Praktiken. Institutionell und zivilgesellschaftlich schwache Staaten sind weder dazu bereit, überkommene Nutzungsregime, falls überhaupt vorhanden, zu überprüfen oder zu dezentralisieren, noch sind sie gewillt, substantielle Machtbefugnisse an eine übergeordnete ökoregionale Instanz wie zum Beispiel die IGADD im Horn von Afrika zu delegieren. Maßnahmen wie die Abtretung von Nutzungsrechten haben aufgrund konservativer politischer und institutioneller Strukturen, die meist irgendwelchen Partikularinteressen lokaler Nomenklatura und Bürokratien dienen, wenig Chancen auf Erfolg. Vielerorts läßt die vorherrschende politische Kultur, selbst bei vorhandener lokaler Mitbestimmung, wenig Spielraum für ein subsidiäres ökoregionales Ressourcenmanagement. Erschwerend kommt hinzu, daß die Landeigentumsfrage praktisch nirgendwo befriedigend gelöst worden ist, was eine Voraussetzung für lokale Selbstverwaltung wäre.

Bestehende Umweltabkommen zeigen oft einen beträchtlichen Mangel an bindender legaler Kraft und straffem Vollzug. Oft bringen sie gute Absichten zum Ausdruck, die durch wenig bindende Verpflichtungen gestützt sind. Die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, schwache Vollzugsmechanismen und die Interessen von »Trittbrettfahrern«, die sich der geteilten Verantwortung entziehen, charakterisieren regionale Übereinkünfte. Inkompetente bzw. schwache Regierungen sind nicht gewillt, die politische Verantwortung für die ökologische Krise zu übernehmen. Politische Entscheidungsträger neigen eher dazu, die Verantwortung zu internationalisieren und auf Hilfe von außen zu zählen. Aufgrund sozialer, regionalistischer oder ethnopolitischer Stratifizierungen gelingt es ohnehin kaum, entwicklungsabträgliche und umweltschädigende Agrarverfassungen aufzulösen sowie räumliche Zersplitterungen und politische Schwäche der Landbevölkerung zu überwinden.

Aufgrund der Schwäche staatlicher Institutionen kommt es zur (Re-)/Privatisierung von Gewalt, indem relativ kleine und abgeschlossene Cliquen das Gewaltmonopol usurpieren und zu einer Speerspitze gegen die eigene Bevölkerung umfunktionieren. Auf sub-staatlicher Ebene sehen lokale Akteure aufgrund dessen eine Notwendigkeit und Berechtigung darin, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen und im Zweifelsfalle gewaltsam durchzusetzen, worauf herrschende Klientelverbände wiederum mit dem Einsatz zentralisierter bzw. privatisierter Gewaltmittel antworten.

2.3 Instrumentalisierung der Umweltproblematik

Die Umweltzerstörung erweist sich bei Interessenkonflikten als gutes Element zur Mobiliserung von identitätsstiftenden Gruppenzugehörigkeiten. Insofern entwickeln verschiedene Akteure ein instrumentelles Verhältnis zur Umweltproblematik, zumal die Umweltvorsorge international hoch angesehen wird. Das verführt Konfliktparteien, die sich bisher kaum um den Naturschutz kümmerten oder die grundlegende machtpolitische Ziele verfolgen, dazu, sich des ökologischen Vokabulars zu bedienen.

Aufgrund der großen Bedeutung einer gesicherten Wasserversorgung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eines Staates lassen sich insbesondere grenzüberschreitende Flüsse relativ leicht als politisches Druckmittel instrumentalisieren. So kann ein starker Staat am Oberlauf eines Flußsystems geopolitische Interessen gegenüber seinen Nachbarn am Unterlauf durchsetzen, indem er die Abhängigkeit und die Verwundbarkeit durch Wasser ins Spiel bringt oder sogar mit der Verknappung der Durchflußmengen droht. Die Unteranrainer ihrerseits verfügen über deutlich weniger Druckmittel. Sie können jedoch die Wasserfrage exemplarisch aufgreifen, um den Oberlaufstaat als unmoralischen Hegemon zu denunzieren und um ihn damit gegenüber einer interessierten internationalen Öffentlichkeit in Beweisnotstand zu bringen.

Oppositionelle Gruppen neigen dazu, ökologische Krisen und damit verbundene Konflikte für ihre Kritik am Staat zu instrumentalisieren. Sozioökonomisch und ökologisch marginalisierte Bevölkerungssegmente werden dabei für spezifische politische Ziele benutzt, etwa, indem sich die Überbleibsel einer kommunistischen Guerilla mit Rekrutierungsproblemen den Forderungen protestierender Bauern gegen Abholzung und Exportwirtschaft anschließt. Aber auch traditionale Gemeinschaften, die enge und mythische Naturbeziehungen pflegen, sehen sich aufgrund des Eindringens von Vertretern auswärtiger Interessen darin bestärkt, die Umweltfrage zum Angelpunkt ihrer Beziehung zum modernen Staat zu machen. So wird aufgrund des Unbehagens an der eindringenden Moderne die kulturell-spirituelle Dimension der Mensch-Natur-Beziehungen besonders hervorgehoben. Aufgrund dessen wird die Zerstörung der sakral verklärten Natur als äußerst unmoralisch und existenzbedrohend zurückgewiesen.

2.4 Organisations-, Bündnis- und Bewaffnungsmöglichkeiten der Parteien

Die Instrumentalisierung der Umwelttransformation ist nicht a priori gewaltträchtig. Erst wenn darüber spezifische Spaltungslinien akzentuiert, Polarisierungen vorangetrieben und Gruppen organisiert bzw. mobilisiert werden, zeichnet sich ein militanter Konflikt ab.

Zunächst fällt auf, daß die Schwelle organisierter Gewaltanwendung, gemessen an der Tragweite der Umweltproblematik in Krisenregionen, relativ hoch liegt. Die Zahl von bewaffneten Konflikten weltweit müßte, obwohl bereits heute beeindruckend hoch, noch weit höher liegen, wenn man die akuten Krisenherde addiert. Offensichtlich besteht der Grund für die – im Verhältnis zur Tragweite der Umweltprobleme – zum Teil erstaunlich geringe Gewaltbereitschaft darin, daß es keinen linearen Ursache-Wirkungszusammenhang zwischen Gewalt einerseits und Umweltzerstörung, Armut, Bevölkerungswachstum etc. andererseits gibt. Es lassen sich verschiedene passive Verhaltensweisen von Individuen und von kollektiven Akteuren beobachten, die sich als nicht-konfliktfähig erweisen. Marginalisierung und mangelnder Organisationsgrad, schlechter Gesundheitszustand und verbreitete Apathie, Schicksalsergebenheit, kollektive Verdrängung der Ausweglosigkeit und (religiöse) Mystifizierungen der eigenen Lage gehören dazu. Die unterschiedlichen Wahrnehmungsmuster und Optionen sind darauf zurückzuführen, daß die Umweltdegeneration nicht nur einen Verlust an ökonomischen Lebensgrundlagen darstellt, sondern mit der Zerrüttung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse eine Auflösung tradierter Lebensordnungen von meist ländlichen Bevölkerungsteilen einhergeht, die in vielen Ländern an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, und das, obwohl es sich dabei oft um die überwiegende Mehrheit der Einwohner eines Landes handelt. Vor diesem Hintergrund gehören zum Beispiel Binnenmigration oder massenhafte Flucht vor den Folgen der Umweltzerstörung in (peri-)urbane Zentren durchaus zu den aktiven und strategischen Verhaltensweisen.

Wird der sozioökologische Wandel nicht stillschweigend hingenommen, dann entwickelt sich eine konfliktive Beziehung zwischen Betroffenen und Verursachern der ökologischen Degradation und sozialen Desintegration. Die Akteure organisieren sich als Konfliktpartei, entwickeln Vorstellungen über zu erreichende Ziele, über Strategie und Taktik und tragen den Konflikt mit verschiedenen Mitteln sowie in verschiedenen Formen aus. Nur Gruppen, die sich tatsächlich organisieren und sich legal oder über internationale Waffenschieber aufrüsten können, greifen zu Mitteln der kollektiven Gegengewalt gegen die vermeintlich oder tatsächlich Schuldigen. Die Bündnisfähigkeit und die Gelegenheit, Koalitionen mit anderen Akteuren eingehen zu können, bilden wichtige Voraussetzungen dafür, daß es zu gewaltsamen Ausschreitungen oder gar Krieg kommen kann. Konfliktfähige Gruppen brauchen als Koalitionspartner Vertreter aus anderen sozialen Schichten, zum Beispiel der Intelligenz oder dem Bürgertum, oder aus mächtigeren politischen Zusammenhängen wie etwa charismatische Führer ethnischer Minderheiten. Durch die Proliferation von billigen Waffen, die beinahe überall erhältlich sind, können einzelne Konflikte wie zum Beispiel zwischen Bauern und Nomaden dramatischere Verläufe annehmen als von den Parteien intendiert war. Die Tendenz zu einem eskalierenden Konfliktaustrag wird insbesondere dort verstärkt, wo marodierende bewaffnete Banden, militante Jugendgangs und demobilisierte Soldaten bzw. Söldner aus ehemaligen Kriegsgebieten für die Ausrüstung mit Waffen besorgt sind und sich an der Austragung eines Konfliktes beteiligen.

Koalitionsmöglichkeiten sind jedoch nicht immer gegeben. Da einerseits kommunistische Guerillas mit langer Kampferfahrung aufgrund ihres allmählichen Verschwindens seit der Überwindung des Ost-West-Konflikts als potentielle Bündnispartner bis auf wenige Ausnahmen (Malaysia, Philippinen) wegfallen, fällt es der marginalisierten Landbevölkerung schwerer als noch in den siebziger oder achtziger Jahren, gewaltbereite Bündnispartner zu finden. Andererseits sind nationale und internationale Umweltorganisationen (I/NGOs) in der Regel gewaltfreien Widerstandsformen verpflichtet. Ihre Solidarität und Expertise gilt den Umweltanliegen, die sie durchaus in Polarisierung zu Regierungspositionen, jedoch nicht unter Rückgriff auf bewaffnete Gewalt durchzusetzen bereit sind (z.B. Botswana). Darüber hinaus wird auch im internationalen Kontext der Vereinten Nationen zunehmend auf friedliche Streitbeilegung im Inneren von Staaten wertgelegt, so daß gewaltbereite Gruppen kaum mit einer Unterstützung rechnen können wie es zum Beispiel die (post-)kolonialen Befreiungsbewegungen noch konnten. Sowohl der Gewalt als Strategie als auch aus Verzweiflung sind somit klare Grenzen gesetzt.

2.5 Kontext eines laufenden bewaffneten Konfliktes

Die Aussage über die klaren Grenzen der Gewaltbereitschaft gilt mit der Einschränkung, daß umweltverursachte Konflikte nicht in den Sog eines historischen bewaffneten Konfliktes geraten oder diesen sogar erneut entfachen. Umweltprobleme wie zum Beispiel die Verknappung von Flußwasser können, ausgesprochen oder unausgesprochen, im Rahmen eines umfassenden historischen Konfliktes massive machtpolitische Konsequenzen haben und eine Friedensregelung komplizieren (Naher Osten).

Ein häufiger anzutreffendes Phänomen besteht in der Wechselwirkung zwischen Umweltzerstörung und Krieg. Viele inner- und zwischenstaatliche Kriege in der Dritten Welt, die im Kontext des Kalten Krieges ausgetragen wurden, haben verheerende Auswirkungen auf die erneuerbaren Ressourcen gehabt. Durch Abholzung, Vernichtung von Vegetation sowie durch Vertreibung oder Tötung von Bauern und Vieh kam es in Regionen wie dem Horn von Afrika zu massiven Degradationserscheinungen im ohnehin erosionsgefährdeten Hochland. In der Nachkriegszeit sind damit die geographischen und ökologischen Voraussetzungen für die Existenzsicherung durch Landwirtschaft bedeutend schlechter als vor dem Krieg. Zusammen mit politischen Spannungen in der Nachkriegsära, mit Zusammenstößen zwischen ethnischen Gruppen, rückkehrenden Flüchtlingen und Ansässigen sowie weiterer Erosion kann sich wiederum eine Vorkriegssituation einstellen. In einem nächsten Waffengang wäre die Umweltzerstörung Teil des Ursachenbündels und nicht Folge des Konflikts – wobei ein neuer Krieg möglicherweise irreversible Schäden in landwirtschaftlich nutzbaren Regionen zeitigen würde.

3.Rolle der Umwelt als Konfliktursache

Welche Rolle spielt die Umwelttransformation bei der Verursachung von Konflikten: gehört sie zu den tieferliegenden Gründen eines Konflikts, ist sie Teil der Identitätsbildung zur Mobilisierung von Gruppen oder ist sie Gegenstand des äußeren Anlasses für das Umschlagen eines Konfliktes in Gewalt?

Die Umwelttransformation spielt in Konflikten, zumal in bewaffneten, oft eine hintergründige, dafür aber nicht minder tiefgreifende Rolle. Die Auswirkungen der seit den fünfziger Jahren beschleunigten humanökologischen Transformation erstrecken sich über lange Zeiträume. Sie „agieren“ je nach dem als versteckte oder als deutlich sichtbare Systemkräfte und tangieren dadurch die Interessen betroffener Gruppen oder Staaten auf vielfältige Weise. Das bedeutet auch, daß es nicht die Trockenheit, die Überflutung oder der Meeresspiegelanstieg per se sind, auf die die Gewalthandlungen zurückgeführt werden, sondern die Schwäche von politischen Institutionen, die mangelnde Tragfähigkeit sozioökonomischer Strukturen oder die Auflösung tradierter Lebensordnungen müssen im Zentrum der Analyse stehen.

Gerade aufgrund der komplexen Wechselwirkungen ist es oft schwierig, zwischen der Rolle der Umwelttransformation und dem Stellenwert der ökonomischen Knappheit in einem Konflikt zu unterscheiden. Insofern die Wirtschaftsweise Ausdruck des gesellschaftlichen Naturverhältnisses ist, trägt die Ökonomie unmittelbar dazu bei, durch die Ressourcenausbeutung den Stoffwechselkreislauf zwischen Mensch und Natur zu stören oder zu unterbrechen. Ökonomische Knappheit als Problem der Interaktion zwischen Gruppen ist dabei von ökologischer Knappheit als einem Schwinden der Basis für wirtschaftliche Aktivitäten zu unterscheiden. Umweltverursachte Konflikte gehen aus der ökologischen Knappheit von erneuerbaren Ressourcen einschließlich des Bodens hervor, während traditionelle Ressourcenkonflikte aus der ökonomischen Knappheit erwachsen. Letztere drehen sich um die Ausbeutung von Schätzen und Lagerstätten der Natur oder um die Landnahme durch die Aneignung von fruchtbaren, aber bereits besiedelten Territorien. Beim Umweltkonflikt handelt es sich um etwas Anderes. Sein Gegenstand sind ausgelaugte Quellen und überbeanspruchte Senken. Nicht fruchtbare Weidegründe locken zum Kampf, sondern marginale und erodierte Landschaften zwingen zur Ab- und Gegenwehr. Nicht frische und fischreiche Wassermassen führen zu einem Konkurrenzkampf um Reichtum und Wohlstand, sondern versiegende oder verschmutzte Quellen und Wasserläufe erhöhen den Druck. Bei den untersuchten Fällen wirken die ungleiche Verteilung einer Ressource, die Aussperrung vom Zugang zu einer solchen sowie deren Degradierung und Transformierung eng zusammen. Nicht die »common goods«, sondern die »common bads« sind der casus belli.

Die anthropogene Transformation der Umwelt spielt je nach Konflikt eine unterschiedliche Rolle. Im folgenden unterscheiden wir deren vier:

  • Erstens. Die Umwelt kann eigentlicher Grund bzw. zeitlich weit zurückliegende Ursache für einen aktuellen Konflikt sein. Die Umweltzerstörung wirkt dann – ähnlich wie sozioökonomischer Wandel – über eine längere Zeit im Sinne einer Verschiebung und Verbiegung von Tiefenstrukturen, die die gesellschaftliche Reproduktion, vielleicht sogar unmerklich, dafür aber dauerhaft beeinflußt (Sahel-Problematik). Die Veränderungen der Umwelt stellen sich als totales, fast schicksalhaft wahrgenommenes Ereignis dar, das aus der Sicht der betroffenen Gruppen kaum aus eigenen Kräften heraus abzuwenden ist.
  • Zweitens. Massive Degradationserscheinungen werden insbesondere dann zu einem unmittelbaren Auslöser bzw. zu einer zeitlich naheliegenden Ursache eines Konfliktes (Bougainville), wenn die Schäden von Dritten verursacht werden. Die Umweltprobleme werden in diesem Zusammenhang meist als sektorielles Ergebnis bestimmter Handlungen betrachtet, deren negative Folgen grundsätzlich durch politische und technische Maßnahmen rückgängig gemacht werden können.

Der Widerstand gegen die fremden Eingriffe in die eigene Umwelt ist dabei in sich widersprüchlich. Einerseits dreht er sich darum, die natürliche und kulturelle Umwelt gegen die Invasion der Moderne zu bewahren, andererseits darum, die drohende Marginalisierung durch die Teilnahme an Modernisierung und Entwicklung abzuwenden. Das kollektive Bewußtsein der Vernachlässigung durch das Zentrum bzw. die eigene Regierung motiviert Bestrebungen nach Autonomie oder gar Sezession. Auf den Ruf nach Selbstbestimmung reagiert das Zentrum mit dem Hochhalten der nationalen Souveränität und territorialen Integrität und mit der Anwendung militärischer Gewalt.

  • Drittens. Von dritter Seite zugefügte Umweltschäden dienen als Instrument der Kanalisierung entlang sozialer oder ethnischer Identifikationsmuster. Nicht Trockenheit, Wasserknappheit oder Brennholzmangel als solche bewirken, daß ein Konflikt aus seinem latenten Stadium in eine heiße Phase eintritt. Zur Eskalation bis hin zum Überspringen der Gewaltschwelle ist das Verhalten der Konfliktparteien beim Umgang mit einer machtrelevanten Differenz von Handlungsalternativen entscheidend. Über die objektiv meßbare Degradation der Umweltgüter hinaus spielt somit ein subjektives Moment bei der »Wahl der Waffen« mit. Der Wahrnehmungsfilter verarbeitet allerdings Informationen aus zwei verschiedenen Richtungen: Einmal aus der Richtung der Umwelt und zum anderen aus der Richtung der gegnerischen Akteure. Beide Informationssysteme bestimmen die Präferenzordnung der Akteure und damit ihre Ziele und ihre Handlungen, die sie im Lichte ihrer Perzeptionen ausführen:

Wenn die Schwere der Naturzerstörung eine Bedrohungswahrnehmung hervorruft, die bei den Akteuren zur Ansicht führt, daß kein anderes Mittel als Gewalt hilft, einer ausweglos erscheinenden Lage zu entkommen, dann schlägt die Wahrnehmung der Ausweglosigkeit auf die Intensität des Konfliktes durch. Die Präferenzen und das darauf folgende Handeln sind wiederum abhängig vom sozioökonomischen, politischen und kulturellen Umfeld einerseits und vom Grad der Mobilisierungsmöglichkeiten andererseits (vgl. 2.3 und 2.4). Hinzu kommt, daß nur wenn die militärische Einschätzung der anderen Konfliktpartei korrekt ist, erwartet werden kann, der Rückgriff auf Gewalt möge zum gewünschten Ergebnis führen und nicht in einem Desaster enden.

Überdies tritt die ökologische Dimension als solche im Stadium des laufenden bewaffneten Konflikts vielerorts in den Hintergrund. Das heißt, ist ein Konflikt einmal bis auf die Ebene eines Krieges eskaliert, so wird er vordergründig kaum noch um die eigentlich zugrundeliegenden ökologischen Probleme geführt. In der heißen Konfliktphase greifen essentialistische Legitimationsmuster und Ziele, die als mobilisierungsfähiger eingestuft werden; dann geht es um Themen wie Unterdrückung und Gruppenidentität, um das Überleben, um Sein oder Nichtsein des Staates oder vielmehr der Nation, der Ethnie oder der religiösen Gemeinschaft etc. So versprechen sich die Akteure unter anderem von Forderungen nach Autonomie oder von der Sezession gleichzeitig eine Lösung der ökologischen Probleme. Ein »eigener« Staat, so die Annahme, werde mit den eigenen Ressourcen und der eigenen Umwelt nicht so verantwortungslos umgehen wie die »Fremden«. Krieg wird somit nicht direkt zur Behebung der ökologischen Probleme geführt, ebensowenig wie er allein der Bewahrung traditionaler Vergesellschaftungsformen oder dem Erhalt eines angemessenen Anteils an den erhofften Segnungen von Modernisierung und Entwicklung dient. Vielmehr steht er im Zeichen der nationalen Unabhängigkeit, die dann quasi automatisch zur Realisierung der ökologischen Zielsetzungen beitragen soll.

  • Viertens. In politisierten Identitätskonflikten, aber auch in Auseinandersetzungen mit dem Zentrum wird die Umwelt jedoch auch zu einem Katalysator bzw. Verstärker. Dies geschieht dann, wenn eine marginalisierte Gruppe zum Ergebnis kommt, daß sie nur Koalitionspartner und internationales Gehör findet, wenn sie die ihnen zugefügten Umweltschäden zur Realisierung eines weiteren Ziels, zum Beispiel Unabhängigkeit von einer korrupten und nepotistischen Zentralregierung, für Solidarisierungszwecke einsetzen kann (Ogoni). Zwar liegt dieser Mobilisierungsstrategie eine deutlich wahrnehmbare und vielleicht sogar dramatische Umweltzerstörung zugrunde. Sie wird jedoch – anders als beim dritten Fall – als Faktor aus dem übrigen Kontext herausgegriffen und gezielt als Element der Mobilisierung, Identitätsbildung und Solidarisierung eingesetzt.

Für die Auslöser und Motive eines gewaltsamen Konfliktaustrags, dessen Ursachen auf die Umweltzerstörung zurückzuführen sind, können einzig und allein die sozialen Akteure verantwortlich gemacht werden. Es hängt von den sozialen, kulturellen und politischen Institutionen ab, ob ein umweltverursachter Konflikt eskaliert oder mediiert wird. Konfliktverschärfend kommt generell hinzu, daß sich heute und in Zukunft die Auswege der Vergangenheit verschließen, nämlich durch Landnahmen, ausgedehnte Rodungen, Eroberungskriege und gesteigerte Ausnutzung von Naturreserven etc., innergesellschaftliche Antagonismen zu kompensieren. Grund dafür ist das festgefügte Staatensystem mit seinen starren Grenzen sowie die regional hohe Siedlungsdichte in allen relativen Gunst- und teilweise auch bereits in den Ungunsträumen. Dieses Moment wirkt sich mithin als Mobilitäts- und letztlich Entwicklungsbarriere aus, so daß zum Beispiel degradierte Böden nicht spontan verlassen werden können, und wenn, dann um das Risiko, andernorts einen Konflikt mit Ansässigen zu provozieren.

4.Intensität von Umweltkonflikten

Wir unterscheiden zwischen den materiellen Ursachen eines Konfliktes und den Gründen für dessen Eskalation. Während die Umweltzerstörung eine Ursache für einen Konflikt darstellt und dabei, wie wir gesehen haben, verschiedene Rollen spielt, ist sie hinsichtlich der Konfliktintensität von mittelbarer Bedeutung. In Auseinandersetzungen zwischen Zentrum und Peripherie um »nationale Opfergebiete« sind größere kriegerische Ereignisse eher unwahrscheinlich. Das gilt insbesondere für die vorgestellten Bergbauvorhaben und Staudämme, in deren Umfeld es nur in Ausnahmefällen zu einer Eskalation kriegerischer Gewalt kommt (Bougainville und Chico). Vorherrschend ist Gewalt auf relativ niedrigem Niveau mit bisher nur wenigen Todesopfern. Vielfach handelt es sich um beinahe alltägliche endemische Gewalt von Gruppen Unzufriedener, die keine Organisiertheit und Zielgerichtetheit in Richtung der Herausbildung von »Kriegs-Parteien« mit klar definierten politischen Kriegszielen aufweist. Oft eskalieren Konflikte aufgrund von Sabotageakten, die dann eine Spirale der Gewalt ingangsetzen, wenn sich Strafaktionen von Regierungstruppen unterschiedslos gegen Dörfer und Siedlungen richten. Gleiches gilt auch für die Mehrzahl der Konflikte um Bergbauprojekte. Kommt es tatsächlich zu Gewaltkonflikten im Zusammenhang mit Großprojekten und damit einhergehenden ökologischen Degradationen, so verbleiben sie – wie gezeigt – meist unterhalb der Kriegsschwelle. Es kommt aufgrund der militärischen Überlegenheit des Zentrums vielerorts zu einer Verkapselung des Konfliktgeschehens innerhalb besonders sensitiver Gebiete.

Das aktuell größte Konfliktpotential liegt bei ethnopolitisierten Umweltkonflikten und bei regionalistischen bzw. demographischen Migrationskonflikten in Staaten mit schwach ausgeprägten Institutionen. Die Akteure sind ebenso zahlreich wie vielfältig: Minderheiten vs. Mehrheiten, Stämme oder Clans vs. Stämme oder Clans, Eingeborene vs. Immigranten, Siedler vs. Nomaden, Nomaden vs. Regierung, Subsistenzbauern vs. multinationale Konzerne und Zentralregierungen, Arbeitslose vs. sozial Abgesicherte, ländliche Schichten vs. die Zentralregierung und Nomenklatura etc. Die Vielfältigkeit der Akteursgruppen weist bereits darauf hin, daß selten zwei gut ausgerüstete Armeen mit Großwaffen gegeneinander stehen. Oft sehen sich mehr oder weniger motivierte Regierungstruppen mit leichtbewaffneten Gruppierungen konfrontiert. Trotzdem sollte die Bewaffnung letzterer nicht unterschätzt werden. Anders als in den relativ begrenzten und teilweise ritualisierten traditionellen Ressourcenkämpfen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen kommt es aufgrund der modernen Bewaffnung zu einer oft ungewollt heftigen Auseinandersetzung zwischen gegnerischen Gruppen (Sudan, Niger).

In einzelnen ethnopolitisierten Konflikten kumulieren Ressourcendegradation, konkurrierende Landnutzungsrechte, Bevölkerungswachstum, ethnosoziale Stratifizierung, Regionalismus und entwicklungspolitische Defizite zu einem unauflösbaren Problemsyndrom, aus welchem eine hohe Gewaltintensität mit all ihren Auswüchsen, angefangen von Kriegsverbrechen über Verbrechen gegen die Menschlichkeit bis hin zum Genozid, hervorgeht (Rwanda).

Hingegen wird der umweltverursachte Konflikt in absehbarer Zukunft nicht ein »Weltkrieg«, gar der große Brand mit einem globalen Frontverlauf, sein. Auch werden klassische Kriege zwischen Staaten eher die Ausnahme bleiben. Ein Krieg zwischen den USA und China um die Erhaltung der Ozonschicht zum Beispiel wäre absurd. Die OECD-Welt, Osteuropa und Rußland werden nicht die Austragungsorte der Umweltkonflikte sein, obwohl die Gesellschaften in den drei Regionen alles andere als ein nachhaltiges Naturverhältnis und -verständnis aufweisen. Auch werden asymmetrische Verteilungskonflikte in Form von militanten grenzübergreifenden Wasserkonflikten aufgrund verstärkter Bemühungen um internationale Abkommen eine Ausnahmeerscheinung bleiben. Die wachsenden Probleme bei der Versorgung von Bevölkerung und Landwirtschaft mit Frischwasser werden eher innerstaatliche Probleme sein und sich entweder mit Konflikten aufgrund von Marginalisierung oder mit Konflikten in nationalen Opfergebieten verbinden.

5. Drei generelle Muster umweltverursachter bewaffneter Konflikte

Welche Rolle spielt Ökologie als Ursache und Medium in aktuell und potentiell bewaffneten Konflikten? Wenn wir zum Schluß die Ergebnisse der vorhergehenden Abschnitte in einen größeren Rahmen stellen, so gilt es zunächst festzuhalten, daß die Umwelttransformation ein totales gesellschaftliches Ereignis darstellt, das sowohl die Mensch-Umwelt- als auch die sozialen Beziehungen kurz-, mittel- und langfristig beeinträchtigt. Allerdings vollziehen sich die laufenden Veränderungen der Umwelt für den menschlichen Beobachter verschieden schnell und einige gar so langsam, daß deshalb das System aus menschlicher Optik nicht als Prozeß, sondern als Zustand wahrgenommen wird. Eine Landschaft zum Beispiel verändert sich unter den natürlichen Bedingungen der Erosion eher langsam, aber rasend schnell verglichen mit der Veränderung der Struktur des Kosmos. Geologische, evolutionäre und biologische Metamorphosen haben verschiedene Rhythmen, und innerhalb dieser Kategorien gibt es nochmals große Geschwindigkeitsunterschiede. Es gibt keine objektiv vorgegebene Bezugsgeschwindigkeit für »natürliche« Veränderungen. Die geologischen Veränderungen zum Beispiel entziehen sich wegen ihrer langsamen Ablaufgeschwindigkeit der direktsinnlichen Wahrnehmung durch den Menschen. Andere Umweltveränderungen sind direktsinnlich nicht wahrzunehmen, weil sie von grundsätzlich neuer Art sind. Dazu gehören radioaktive Verstrahlungen wie nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl, Vergiftungen durch hochgiftige Chemikalien wie Dioxin etc.

Die Bezugsgeschwindigkeit für den Beobachter ist deshalb immer durch den menschlichen Lebensrhythmus und den sozialen Bezug gegeben, das heißt, durch die je besondere Interessenlage der betroffenen Menschen. Erst die Auswirkungen auf den Menschen machen unbewertbare Umweltveränderungen zu Umweltschäden. Es gab und gibt keinen objektiven »Normalzustand« oder einen »Optimalzustand« der Natur, von dem her konfliktträchtige Abweichungen genau quantifiziert und beschrieben werden könnten. Veränderungen in der Natur vollziehen sich ohne erkennbares Ziel und ohne erkennbaren Sinn. Der Gedanke einer zielgerichteten bzw. geplanten Evolution läßt sich wissenschaftlich nicht nachweisen. In Ermangelung eines übergeordneten Referenzpunktes setzen Menschen ihre Überlebens- und Reproduktionsinteressen als Referenzpunkte und definieren von da aus im Rahmen ihrer jeweiligen Kultur gewisse Naturzustände oder Naturprozesse als nützlich, ertragreich, schön, und andere als nutzlos, zerstört/zerstörerisch, häßlich. Aus dieser eingeschränkt anthropozentrischen Sicht, die aus den jeweiligen Interessen und kulturspezifischen Wertsetzungen der beurteilenden Gruppe hervorgeht, lassen sich Umweltveränderungen dann als günstig oder ungünstig bewerten, bzw. sie erweisen sich, bezogen auf den Kontext von ENCOP, als akut konfliktträchtig oder nicht.

Dort, wo wir direktsinnlich oder mit Hilfe technischer Instrumente solche Umweltveränderungen erkennen und sie als gefährlich beurteilen, sprechen wir von Störfällen oder Umweltschäden. Da die ganze Kategorie der Umweltschäden (als Unterkategorie von Umweltveränderungen) eine strikte von der menschlichen Interessenlage abhängige Kategorienbildung ist, ist entsprechend auch jede Taxonomie konflikthafter Umweltveränderungen anthropozentrisch bestimmt. Dabei lassen sich die Schadenswirkungen auf Menschen drei unterschiedlichen Ursache-Wirkungsmustern zuschreiben: es sind natürliche Ereignisse mit ihren sozial katastrophalen Folgen einerseits sowie geplante Umweltveränderungen in nationalen und internationalen Opferzonen und ungeplante Umweltveränderungen, die auf die „Tragödie der Allmend“ zurückgeführt werden können, andererseits (vgl. Tabelle 2).

Das erste Muster ist die ungeplante, »natürliche« Umweltveränderung, wie sie sich in Naturkatastrophen kleineren und größeren Ausmaßes präsentiert, das heißt, in Erdbeben, Bergstürzen, Vulkanausbrüchen, Sturmfluten, Überschwemmungen, Sandstürmen, Dürreperioden, Heuschreckeninvasionen, Hagelschlägen. Diese Umweltveränderungen sind nicht auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen. Sie ereignen sich unabhängig von menschlicher Planungstätigkeit und Entscheidungen. Sie demonstrieren den ständigen Wandel der globalen Umwelt, den dynamischen Charakter des Planeten und besonders der Lebenswelt. Mit zunehmender Durchdringung der Erdoberfläche durch den Menschen und mit der zunehmenden Dichte des Netzes menschlicher Aktivitäten steigt die Wahrscheinlichkeit, daß »natürliche« Umweltveränderungen dieses Typus Rückwirkungen auf kleinere oder größere soziale Gruppen hervorrufen.

Wenn traditionale Überlebensstrategien und Überlebensmöglichkeiten unter dem Druck solcher Umweltveränderungen versagen, geraten geschädigte Gruppen unter den oben herausgearbeiteten Voraussetzungen (vgl. 1 bis 3) um die verbliebenen Ressourcen in Konflikt, der im bewaffneten Kampf um die Ressourcen oder um die Entscheidung, welche Gruppe abwandern muß, münden kann. Zudem ist bei einigen Fällen, zum Beispiel in der Sahelzone, oft nicht genau auszumachen, ob ein Konflikt unter das Muster 1 (Naturkatastrophe) oder Muster 3 (Allmend-Effekt) zu zählen ist, da sich natürliche Umweltveränderungen und die Vermehrung menschlicher Aktivitäten zu einem konfliktträchtigen Gemisch vereinen.

Das zweite Muster von Umweltveränderungen mit Konfliktpotential ist durch menschliches Planen und Handeln verursacht. Eine Regierung oder eine private Unternehmung entscheidet sich für die Ausbeutung einer in ihrem Zuständigkeitsbereich vorkommenden Ressource und nimmt in Kauf, daß die Interessen der lokalen Bevölkerung oder eine durch Fernwirkungen betroffene Nachbarbevölkerung unter dem Großprojekt leiden. Die Regierung bzw. die Unternehmung ist indessen bereit, Nachteile in dieser »Opferzone« im Austausch mit den Vorteilen, die der Staat bzw. die Unternehmung als Ganzes aus dem Projekt erzielen, zu akzeptieren. Probleme und Konflikte im Zusammenhang mit solchen Projekten tauchen vor allem bei großen Dammbauten, Wasserabzweigungen an Flüssen oder beim Abbau von Mineralien im Tagebau auf.

Ein Merkmal dieses Konfliktmusters ist, daß die zugrundeliegenden Umweltschäden aus einer klar definierbaren und ersichtlichen staatlichen – oder staatlich tolerierten – Handlung resultieren und bewußt in Kauf genommen werden. Es ist eine Konfliktsituation zwischen klar bestimmbaren Akteuren gegeben. Die Umweltschädigung kann von dem als »Opfer« betroffenen Akteur als eine Verletzung seiner traditionellen Lebensrechte verstanden und entsprechend beantwortet werden. Die zwischenstaatliche Variante dieses Konfliktmusters betrifft nicht-raumgebundene Ressourcen, zumeist die Verteilung von grenzüberschreitenden fließenden Gewässern. Diese Konflikte können bis hin zu ernsthaften internationalen Krisen eskalieren.

In seiner innerstaatlichen Variante stellt sich dieses Konfliktmuster als Modernisierungskonflikt dar und betrifft in der Regel das fruchtbare Land. Die örtliche Bevölkerung einer nationalen Opferregion, meist marginale ethnische Gruppen, die nicht an der Zentralmacht teilhaben oder/und kleine Produzenten für die Selbstversorgung, tragen die sozialen und ökologischen Hauptlasten von außen implantierter Großprojekte. Die Bewohner dieser Gegenden sind oft zum Wegziehen gezwungen (Staudammbau), gelegentlich werden sie im Rahmen der nationalen Planung als Arbeiter auf unterster Ebene angestellt (Eukalyptus in Thailand) oder sie verfolgen weiterhin ihre Subsistenzwirtschaft, nur diesmal in stark belasteten Regionen unter schweren Gesundheitsgefahren (Bougainville, Aralsee). In nationalen Opferregionen kommt es unweigerlich zu Konflikten, welche die Regierung entweder durch Management oder militärische Maßnahmen vom Zentrum fernzuhalten versucht, regional eindämmt und auf diese Weise unter Kontrolle zu bringen trachtet. Die »Ethnisierung« dieser Konflikte bietet sich oft als Strategie an. Meist wird sogar bestritten, daß der Konflikt eine ökologische Ursache hat.

Sowohl Konflikte in marginalisierten Regionen als auch in Opfergebieten beeinflussen generell nicht alle gesellschaftlichen Beziehungen im Staat. Vielmehr sollen die Konfliktherde möglichst in den betroffenen Regionen eingekapselt werden. Dadurch vertieft sich die strukturelle Heterogenität zwischen hoch-produktiven ländlichen Agrargebieten und effizienten urbanen Zentren einerseits sowie ökologisch empfindlichen ländlichen Gebieten und infrastrukturell schwachen Provinzzentren andererseits. Die trennende Linie zwischen den beiden Sektoren wird zur symbolischen Frontlinie des Konfliktverlaufs. Der Graben zwischen den modernen und traditionalen Sektoren wird weiter akzentuiert. Es entsteht ein Gefälle zwischen dem weltmarktorientierten modernen Sektor und dem lokal orientierten ländlichen Sektor.

Das dritte Muster von Umweltveränderungen mit Konfliktpotential ist von Garret Hardin schon 1970 in seinem mittlerweile klassisch gewordenen Aufsatz »The Tragedy of the Commons« als Tragödie der Allmend (dörflicher Gemeinschaftsbesitz an Wald und Weide) beschrieben worden. Gemeint sind damit die Auswirkungen von kleinen Einzelhandlungen, die individuell als (über-)lebensnotwendig oder wenigstens nicht unvernünftig gelten mögen, in ihrer Gesamtsumme aber zu einer schädlichen Umweltveränderung führen. Hardins klassisches Beispiel ist die Verwendung der Allmend als Viehweide einer Gemeinde. Ein Benutzer der Allmend, also eines kollektiv allen Gemeindemitgliedern gehörenden Weidegrundes, kommt mit der Ernährung seiner wachsenden Familie kaum zurecht und denkt, es sei weder auffällig noch schädlich, wenn er ein Haupt Vieh mehr weiden lasse, als ihm eigentlich zusteht. Andere – in vergleichbar engen Verhältnissen lebend – ziehen nach, bis die Allmend schließlich in jeder Hinsicht zu stark beansprucht wird und sie auch die ursprünglich vorgesehene und zugelassene Zahl von weidenden Tieren nicht mehr zu ernähren vermag. Entscheidend in dieser Kategorie von anthropogenen Umweltveränderungen ist die Tatsache, daß die umweltschädigende Handlung vom Handelnden selbst nicht als schädigend erkannt wird und aus seiner Perspektive in aller Unschuld als zweckrational und notwendig im Sinne einer individuellen Überlebensstrategie oder im Sinne einer Verbesserung der individuellen Lebensqualität betrachtet werden kann. Der einzelne Farmer auf Hardins Allmend handelt gleich wie der einzelne Kapitän eines Fischerkutters, der alle technischen Mittel einsetzt und noch den letzten Fischschwarm aufspürt, um nicht ohne Ladung umkehren zu müssen. Er handelt gleich zweckrational wie der Campesino im brasilianischen Amazonasgebiet, der ein Stück Urwald rodet, um seiner Familie für zwei oder drei Jahre das Überleben zu sichern. Erst das kumulative Resultat dieser minimalen – einzeln harmlosen – Rodungen macht ihre potentiell existenzbedrohende Wirkung aus, die z.B. im Falle des tropischen Regenwaldes im Verlust des wichtigsten Puffers gegen starke Klimaschwankungen besteht, was dann schließlich maßgebend zur Destabilisierung des Weltklimas beiträgt (Woodwell 1995:viii).

Zu den anthropogenen Umweltveränderungen in dieser Kategorie sind auch die minimalen Beiträge zu zählen, die jeder Benützer eines Automobils oder einer erdölbetriebenen Heizung bzw. jeder Konsument von Elektrizität, die aus fossilen Brennstoffen gewonnen wurde, an die Erwärmung der Erdatmosphäre beisteuert. Jeder einzelne fühlt sich unschuldig, weil sein einzelner Beitrag so verschwindend – unmeßbar – klein ist. Und doch produziert die kumulative Wirkung dieser Einzelbeiträge Schäden bedrohlichen Ausmaßes.

Diese Phänomene sind heute unter dem Druck wachsender Beanspruchung z.B. bei der Belastung der Atmosphäre durch Schadstoffe, weltweit bei der Nutzung der Wälder, der Wasservorkommen, bei der Übernutzung der Fischbestände in den Weltmeeren und an vielen weiteren Orten, wo »Allgemeingut« genutzt oder als Senke verwendet wird, zu beobachten. Zu konkreten Konflikten haben solche Schadenswirkungen allerdings bisher erst in marginalen Ökologien geführt.

Die Allmend-Problematik äußert sich in unterentwickelten Ländern als Modernisierungskonflikt aufgrund von Bevölkerungswachstum und Marginalisierung breiter, vor allem ländlicher Bevölkerungsschichten. Konfliktgegenstand ist die Landschaft mit ihren Ressourcen Boden, Vegetation und Wasser im ökoregionalen Zusammenhang. Marginalisierung heißt Existenz am Rande des modernen Sektors, in ökologisch empfindlichen oder schwer degradierten Regionen. Effizientere Nutzungstechniken einerseits, wachsende Bevölkerungszahlen und steigende Ansprüche an die Natur andererseits können besonders in den marginalen Ökologien mit Subsistenzwirtschaft in Afrika, Asien und Lateinamerika zur dramatischen Zuspitzung dieser Allmend-Phänomene und zu gewaltsamen Auseinandersetzungen entlang ethnischer oder kultureller Gruppengrenzen führen.

Das Zusammenwirken dieser Faktoren erzeugt besonders in ländlichen Gegenden mit geringem landwirtschaftlichem Potential und in rasch wachsenden peri-urbanen Gebieten starke ökologische Degradation. So leben heute mehrere hundert Millionen der ärmsten Menschen in ländlichen Regionen und stadtnahen Gürteln, in denen die Abnahme der landwirtschaftlichen Produktivität, die Degradation der Bodenoberfläche und die Wasserknappheit eine elementare Beschränkung der Nahrungsmittelproduktion bewirken. Immer stärker konzentriert sich die überwiegende Mehrheit der weltweit Ärmsten in wenigen solchen Regionen. Die marginalisierten Gebiete mit struktureller und ökologischer Armut gehören somit zu den hochempfindlichen Krisen- und Konfliktgebieten. In Asien, Afrika und Lateinamerika leben heute mehr Menschen in degradierten als in hochproduktiven Regionen. Das bedeutet, daß Abwanderung und Flucht längst nicht für alle eine Alternative darstellen. Allerdings sind diejenigen, die erodierten Agrarverhältnissen entfliehen, der sichtbarste Ausdruck tiefgreifender Umschichtungsprozesse im gesellschaftlichen Naturverhältnis. Die transformierte Umwelt wird durch die Abwanderung tendenziell zum „Niemandsland“, während es zu einer räumlichen Verlagerung der Verteilungskonflikte in die als Siedlungs- und Handlungsräume genutzten und noch nutzbaren Ökoregionen kommt.

Die Konflikttypen, die von ENCOP in den Fallstudien analysiert und oben zusammenfassend dargestellt wurden (vgl. 1), lassen sich einem der drei Muster von Umweltveränderungen zuordnen (vgl. Tabelle 3). Doppelte Zuschreibungen sind dabei möglich und durch die Tatsache bedingt, daß gewisse Erscheinungen sowohl durch natürliche, nicht von Menschen beeinflußte, als auch durch anthropogene Ursachen bewirkt werden. Dürre zum Beispiel kann in der Tat eine Naturkatastrophe sein, wenn sie Ausdruck von natürlichen klimatischen Schwankungen ist. Sie kann aber auch Folge von anthropogenen Klimaveränderungen sein, die entweder lokal zum Beispiel durch weiträumige Abholzung oder global durch industrielle Emissionen verursacht sind. Vor diesem Hintergrund können Konflikte, die im Zusammenhang mit Dürre entstanden sind, auch unter den Typus der Allmend-Problematik subsummiert werden.

6. Ausblick

Der in der Erdgeschichte einmalige Überlebens- und Vermehrungserfolg einer einzelnen Lebensform innerhalb weniger tausend Jahre scheint zum größten Problem des homo sapiens zu werden. Der Mensch wird aufgrund seines zahlenmäßigen Vorkommens sowie durch die ständig wachsende Potenz seiner Instrumente, mit denen er die Erde, die Meere und die Atmosphäre verändert, zu einem immer bedeutenderen Faktor im Gefüge jener Prozesse, die die Randbedingungen des Lebens auf der Erde darstellen. Allein die weitere Zunahme der Teilnehmer am weltweiten Ausbeutungsprozeß der Natur läßt Grenzen der Tragfähigkeit dieses Planeten sichtbar werden. Der jährliche Zuwachs der Weltbevölkerung um 90 Millionen (ein Nettozuwachs von mehr als 10.000 Menschen in jeder Stunde) kann nicht mehr – wie während der vier bis sechs Millionen Jahre seines sensationellen Aufstiegs zum Kulturwesen – in leere Räume abfließen, da es solche nicht mehr gibt. Die biologischen Grundlagen des menschlichen Daseins sind seit kurzem der Erschöpfung nahe. Eine weitere Steigerung der Weltgetreideernte war zum Beispiel seit 1990 nicht mehr möglich (Brown 1996: 20). Selbst Trinkwasser, eine einst in scheinbar unerschöpflicher Fülle vorkommende Ressource, wird an immer mehr Orten knapp. Raum, Nahrung, Wasser und weitere knappe Güter werden damit vermehrt zu Konfliktgegenständen unter Gruppen, die um ihr Überleben, um die Erhaltung ihrer traditionellen Lebensformen oder die Anhebung ihres Lebensstandards kämpfen. Es ist für die Gegenwart von grundlegender Bedeutung und für die Zukunft überlebenswichtig, diese Konflikte in ihren proximaten, das heißt vordergründigen, und in ihren ultimaten, das heißt hintergründigen Ursachen, besser zu verstehen, um sie entschärfen, soweit wie möglich lösen oder wenigstens unter Vermeidung von Gewaltexzessen überstehen zu können.

Vor dem Hintergrund einer historischen Betrachtungsweise gilt es nochmals in Erinnerung zu rufen, daß Mangel grundsätzlich durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch eine elementare und allgegenwärtige Existenzbedingung war. Alle Menschen in allen Kulturen haben sich seit jeher auf ihre je eigene Weise unter Einsatz all ihrer sozialen und instrumentalen Möglichkeiten bemüht, diese Knappheiten zu überwinden (Cohen 1977). Wissenschaft, Technik und Industrie haben hierzu in den letzten zwei Jahrhunderten Möglichkeiten eröffnet, die es vorher in der Geschichte noch nie gegeben hatte. In den bevorzugten Gesellschaften der Ersten Welt trat Fülle und Reichtum an die Stelle der Knappheit. Leider ist nur wenigen der unter diesen Privilegien lebenden Zeitgenossen bewußt, daß die Fülle an Verbrauchsgütern, die in der Ersten Welt zur Verfügung steht, im historischen Vergleich eine extrem »unnatürliche« Ausnahmeerscheinung darstellt. Die Höhe des Niveaus westlichen Konsumverhaltens wird sich auf Dauer nicht halten lassen, wenn auf der Basis eines globalen Demokratieverständnisses, Stichwort »Chancengleichheit durch Entwicklung«, einer möglichst großen Zahl der heute lebenden annähernd sechs Milliarden Menschen eine schrittweise Erhöhung ihres Lebensstandards ermöglicht werden soll.

Der Druck auf die biophysische Basis wird durch das Anwachsen von drei Faktoren bestimmt: Bevölkerungswachstum, Konsumverhalten und technische Potenz (vgl. dazu 2.4), wobei letzter Begriff einerseits das Maß angeben soll, nach dem eine Menschengruppe in der Lage ist, in die Naturprozesse einzugreifen, andererseits ihre Fähigkeit, die Umwelt ressourcenschonend zu benutzen. Da die drei Faktoren interdependent funktionieren, kann Nachhaltigkeit nur erreicht werden, wenn es gelingt, das quantitative Wachstum des Produktes aus den drei Faktoren abzudämpfen. Für die Bevölkerungszahl und das Konsumverhalten ist die Forderung nach Beschränkung alt und unbestritten. Für den Bereich der technischen Potenz wird keine Abkehr von der Technik oder eine Rückkehr zu einem imaginären »Naturzustand« postuliert. Ein solcher Idealzustand existiert in einer Natur, die als Prozeß verstanden werden muß, nicht. Indessen ist eine Abkehr von quantitativ erheblichen, die Umwelt folgenreich verändernden Eingriffen zu fordern. Als Minimum muß eine sorgfältigste Abklärung der Nebenwirkungen und allfälligen Kollateralschäden vor dem Entscheid zum Werkbeginn gelten. Nachhaltigkeit setzt voraus, daß das Volumen aller – insbesondere auch der erneuerbaren – Ressourcen als endlich und begrenzt akzeptiert wird. In diesem Sinne ist der Übergang von einer auf quantitative Erfolgsmaximierung ausgerichteten Verwendung technischer Potenzen zu einem systemisch sorgfältig überprüften qualitativen Einsatz zu postulieren.

Unsere Analyse der kausalen Verknüpfungen von Umwelttransformationen und Gewaltkonflikten soll helfen, Wege zu einer erfolgreichen Früherkennung ökologischer Konflikte und zu einem erfolgreichen Konfliktmanagement in akuten Konfrontationen aufzuzeigen. Es ist aber offensichtlich, daß Konfliktmanagement allein nicht zum Erfolg führen kann und in den Dimensionen der bloßen Symptombekämpfung steckenbleibt, wenn nicht gleichzeitig öffentliche Aufklärungsarbeit über schonenden Technikeinsatz und nachhaltige Nutzung der Natur, über die notwendige Begrenzung des Konsums und über die Gefahren eines nicht umweltangepaßten Bevölkerungswachstums an der Reduktion des Druckes auf die biophysische Umwelt erfolgreich mitwirkt.

Das in Rio beschlossene Konzept der Nachhaltigkeit kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß es ökonomische und ökologische Gründe für das Scheitern von Modernisierungs- und Industrialisierungsstrategien in Entwicklungs- und Übergangsgesellschaften gibt. Mit Nachhaltigkeit wird ein einheitlicher Zielhorizont von Entwicklung für alle suggeriert, der vor dem Hintergrund globaler Knappheiten und wachsender Bedürfnisse zum Trugbild wird. Ein um das Prinzip der Nachhaltigkeit qualitativ erweitertes Entwicklungskonzept macht keinen Sinn, solange zentrale Fragen nach der Entwicklung generell offen sind; so zum Beispiel: Wie müssen die Institutionen gestaltet sein, um Umweltkonflikte in stark heterogenen und multiethnischen Gesellschaften einzugrenzen und zivil zu lösen? Wie lassen sich notwendige Spielräume für nachhaltige Ressourcennutzung unter den Bedingungen der Armut öffnen? Friert das Postulat der Nachhaltigkeit nicht sogar bestehende Ungleichzeitigkeiten, das heißt als Ungerechtigkeiten wahrgenommene Entwicklungsunterschiede ein? Wo bleibt der Brundtlandsche Generationenvertrag, wenn beispielsweise die Realerbteilung bewirkt, daß Subsistenzgüter innerhalb der nächsten zwei Generationen auf Kleinstparzellen schrumpfen und damit nicht nur die Nachhaltigkeit, sondern die landwirtschaftliche Produktion grundsätzlich infrage gestellt wird? Und schließlich: wie kann nachhaltige Entwicklung induziert werden, wenn durch die innerstaatlichen bewaffneten Konflikte in mehr als einem Viertel der Staaten der Welt bzw. in rund der Hälfte der am wenigsten entwickelten Länder bereits die Frage nach dem Sinn jeglicher Entwicklungspolitik gestellt ist?

Damit werfen wir zum Schluß mehr Fragen auf als wir beantworten können. Aber auch Fragen geben eine Richtung an, in der weitergedacht werden kann und soll. Mit der Tatsache konfrontiert, daß vielerorts zur gleichen Zeit ähnliche Konflikte mit vergleichbaren Ursachen, Akteuren und Zielsetzungen vorkommen, stellt sich die Frage, ob diese einzelnen Umweltkonflikte – die wir oben als Spitze eines Eisbergs bezeichnet haben – Vorboten eines größeren Umbruchprozesses sind, der insbesondere die Agrarstrukturen der Entwicklungs- und Übergangsgesellschaften erfaßt hat. Wenn dem so ist, dann gibt es für diese Erscheinung und ihren weiteren Verlauf zwei Interpretationsmöglichkeiten: Entweder sind die Umweltkonflikte im Kern Rückzugsgefechte einer zunehmend marginalisierten Landbevölkerung im Süden, die sich ob der Kapitulation vor der Moderne und der umweltbedingten Auflösung ihrer Lebensordnungen in eine ausweglose Lage manövriert sieht. Oder aber sie sind Vorhutgefechte einer kommenden Konfliktformation, die zu einer nachhaltigen Änderung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse durch eine grundlegende Neubewertung und Neubelebung der ländlichen Strukturen führen werden.

Tabelle 1
Taxonomie von Umweltveränderungen, die zu Konflikten führen können, ausgehend von den
Konfliktebenen
Konfliktebene Kontrahenten
A: Innerstaatlich (ethnische) Gruppe vs. (ethnische) Gruppe Regierung vs. (ethnische) Gruppe / Regierung vs.
Migranten / Flüchtlinge
B: Innerstaatlich mit zwischenstaatlichen Aspekten
/ internationalisiert
Regierung vs. immigrierte Gruppen aus anderen
Staaten
C: Zwischenstaatlich / international Regierung vs. Regierung Regierung vs. IOs / INGOs
Tabelle 2
Taxonomie von Umweltveränderungen, die zu Konflikten führen können, ausgehend von den
Verursachern der Umweltveränderungen
1: Natürliches Ereignis /Naturkatastrophe 2: Nationale oder internationale Opferzone 3: Allmend-Effekt
Typus Ungeplante, „natürliche“
Umweltveränderung
Geplante / erwünschte bzw. akzeptierte
Umweltveränderung
Ungeplante / unerwünschte Umweltveränderung
Ursache Von Menschen unabhängige Instanz Handlungen eines einzelnen (oder weniger) klar
erkennbarer sozialer Akteure
Kumulative Wirkung zahlreicher u. einzeln kaum
faßbarer menschlicher Handlungen
Vorkommen Überschwemmungen, Trockenheit, Erdbeben, Stürme,
Vulkanausbrüche etc.)
Dammbauten, Flußwasserableitungen, Kanalbauten,
Abholzung, Mineralabbau, Ölgewinnung
Abholzen, Abweiden, Allmendnutzung, Abfallbeseitigung
durch Verdünnung in Wasser, Luft und Boden
Folgen Kann zu Konflikten zwischen Gruppen von Betroffenen
führen, die überleben und den Schaden je für sich begrenzen wollen
Kann zu Konflikten zwischen den Verursachern und den
Betroffenen der Umweltveränderung in einer „Opferzone“ führen
Kann zu Konflikten zwischen Gruppen, die um ihr
Überleben kämpfen und Gruppen, die Schaden begrenzen wollen, führen
Tabelle 3
Zuordnung der ENCOP-Fallstudien zu den drei grundlegenden Mustern von konfliktträchtigen
Umweltveränderungen
Naturkatastrophen Nationale und
internationale Opferzonen
Allmend- Effekte
Dürre Flut Bergbau/ Ölförderung (lokale
Auswirkungen)
Lokale Auswirkungen
v. Großprojek-
ten (Dammbau, Bewässerung, Abholzung)
Fern-
wirkungen von Flußaufstau- ungen/- umleitungen
Übernutzung von Gemein-
schafts-
gütern und Bevöl-
kerungs- druck
Sudan Bangladesch Bougainville Indien (Narmada) Jordan- Becken Ruanda
Süd-Algerien Papua- Neuguinea Philippinen Ganges- Becken Sudan
Mali Irian Jaya (Indonesien) China Mekong- Becken Senegal
Niger Neukaledo- nien Chile (Bio-Bio) Aralsee- Becken Algerien
Nigeria Philippinen Brasilien Gabcikovo (Donau) Kenia
Senegal Nigeria Nigeria Colorado/ Rio Grande Namibia
Mauretanien Botswana (Okavango) Tschadsee (Nigeria) Brasilien
Usbekistan China
Turkme- nistan Indonesien
Kasachstan Bangla- desch

Gleichberechtigung und Minderheitenrechte

Gleichberechtigung und Minderheitenrechte

Widersprüche der liberalen Demokratie in Indien

von Gurpreet Mahajan

Die Philosophie einer liberalen Demokratie, insbesondere die Betonung der Autonomie des einzelnen, inspirierte die erste Welle der Frauenbewegung. Die individualistische Ethik erlaubte es Frauen, soziale Konventionen in Frage zu stellen und gleiche Bürgerrechte zu verlangen. Die Demokratie bot den politischen Raum zur Formulierung dieser Forderungen, die Philosophie des Liberalismus lieferte das begriffliche Instrumentarium für die Forderung nach dem Recht auf eigene Entscheidung und die freie Gestaltung des Lebens entsprechend den eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Interessen. Daher bediente sich die Frauenbewegung in ihren frühen Jahren der Ideen der liberalen Demokratie, um bestehende Vorurteile zu hinterfragen und rechtliche Hindernisse zu überwinden, die der Anerkennung der Frauen als freie Individuen und gleichberechtigte Bürgerinnen der Gesellschaft im Wege stehen.

Frauen an der Macht zu beteiligen setzt die Abschaffung des Patriarchats voraus, und eine solche Veränderung in den sozialen Strukturen ist im institutionellen Rahmen einer liberalen Demokratie oder durch den Kampf um Rechte nicht zu herbeizuführen. Die liberale Demokratie kann zwar für eine formale Gleichheit sorgen, doch wird der Gewinn daraus den Frauen innerhalb eines patriarchalischen Systems unter Umständen nicht zugute kommen.

Die liberalen demokratischen Strukturen beinhalten drei Schwierigkeiten:

1) Innerhalb dieser Strukturen müssen Frauen ihre Forderungen an einen Staat richten, der neben seiner Verankerung in patriarchalischen Werten, auch seiner gesamten Orientierung und Politik nach wesentlich »männlich« ist (MacKinnon 1983).

2) Das Recht auf die eigene Entscheidung, unter dessen Perspektive in diesen Strukturen die Beteiligung der Frauen an der Macht zumeist gesehen wird, reicht nicht aus, um die Interessen der Frauen tatsächlich zu gewährleisten. Dieses Recht kann etwa dafür genutzt werden, die selektive Abtreibung weiblicher Foeten zu fördern.

3) Die liberale Betonung von formaler Gleichheit und abstraktem Individualismus ignoriert die »Ungleichheiten« zwischen Männern und Frauen. Sie geht von »Gleichartigkeit« aus und hat die Auswechselbarkeit von Individuen im Blick (Wolgast 1980). Nach Ansicht einiger Feministinnen erwachsen aus weiblicher Erfahrung, allen voran der der Geburt, spezifische Bedürfnisse, die geschützt werden müssen. Darüber hinaus legen sie besonderes Gewicht auf Fürsorglichkeit und die Erziehung der Kinder, Qualitäten, die sich dem für das frühe liberale Denken essentiellen Modell eines besitzstrebenden Individualismus widersetzen und es in Frage stellen. Mit anderen Worten eröffnet sich eine Perspektive, die von ihren Grundsätzen her mit der Umwelt in Einklang, humanisierend und demokratisch ist. Manche Frauen sind der Ansicht, diese Perspektive sollte dazu dienen, die liberale demokratische Ethik abzufedern, andere jedoch behaupten, das den liberalen Strukturen verschriebene Modell von Entwicklung, freiem Markt und Wettbewerb sei grundsätzlich unvereinbar mit der feministischen Perspektive (Mies & Shiva 1994).

So steht die Frauenbewegung schon lange in einem etwas prekären Verhältnis zur liberalen Demokratie. Während viele engagierte Frauen weiterhin die Bedeutung der Demokratie anerkennen, bleiben sie skeptisch gegenüber der Möglichkeit, Frauen mit Hilfe liberaler individualistischer Ethik, oder vielmehr innerhalb des Spielraums, den die institutionellen Strukturen einer liberalen Demokratie bieten, zu Macht zu verhelfen (Smart 1989). Doch obwohl diese Ernüchterung bei vielen Frauen aus Ländern der Dritten Welt, wie Indien, zum Ausdruck kommt, akzeptieren die meisten Frauengruppen und -organisationen, daß ein Appell an den Staat und das Rechtssystem im gegenwärtigen Kontext notwendig und unumgänglich ist. Veränderungen in der gesellschaftlichen Stellung der Frauen und der Kampf für die Gleichberechtigung der Geschlechter sind nicht durchführbar ohne die Unterstützung durch den Staat, und ohne neue Gesetze zu erlassen, die die Zwangslage der Frauen berücksichtigen.

Indische Frauenperspektive

Unter dieser Perspektive arbeiten Frauengruppen in Indien weiterhin innerhalb der existierenden Strukturen der liberalen demokratischen Verfassung und bemühen sich, spezifische Zugeständnisse für Frauen zu sichern.

In der jüngeren Vergangenheit haben sie einige greifbare Erfolge verzeichnen können. Änderungen in der Gesetzgebung zur Vergewaltigung etwa, Schutz der Rechte von geschiedenen Frauen und eine spezielle Frauenquote für Institutionen auf lokaler Ebene1. Allerdings ist es ihnen nicht gelungen, entscheidende Veränderungen im Personenrecht der verschiedenen Minderheiten zu erreichen. Auch wenn Änderungen im hinduistischen bürgerlichen Recht, z.B. das Verbot der Bigamie und das Erbrecht für Frauen, die Aufmerksamkeit stärker auf die Gebräuche und Praktiken der Minderheiten gelenkt haben, bleiben weitere Reformen des hinduistischen bürgerlichen Rechts notwendig. Alles in allem bleibt das Nichtzustandekommen eines allgemeinbindenden bürgerlichen Rechts, das der rechtlichen Praxis der religiösen und ethnischen Gemeinschaften in Fragen der Ehe, Familie und Erbschaft übergeordnet wäre, ein wichtiges Problem für die indische Frauenbewegung und ein Anlaß zu ernsthafter Sorge2.

Vor dem Hintergrund dieser Frage untersucht der vorliegende Aufsatz, warum die liberalen Ideale der Autonomie und der Gleichheit in einer funktionierenden Demokratie wie Indien nicht haben verwirklicht werden können, und er behauptet, daß sie weder zentral für das Funktionieren einer Demokratie, noch in jeder Demokratie verwirklicht sind. Er stellt des weiteren fest, daß im Falle Indiens, in dem die Hauptsorge weniger der individuellen Autonomie, als der Gleichberechtigung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen gilt, die institutionellen Strukturen einer liberalen Demokratie zu Verhältnissen führen, die die Identität der verschiedenen Gemeinschaften und die Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe stärken. Dies zeigt sich in der Unterordnung der Ansprüche der Frauen unter die der jeweiligen Gemeinschaft. Es erweist sich, daß aus den Prozessen, die mit der Bildung einer repräsentativen Regierung verbunden sind, Zwänge entstehen, unter denen die Verpflichtung für die Autonomie des Individuums zweitrangig wird. Diese Untersuchung geht unausgesprochen davon aus, daß in Gesellschaften, in denen das Patriarchat tief verwurzelt ist und durch die Praktiken und Gebräuche religiöser Gemeinschaften gestützt wird, das Bemühen um Gleichberechtigung zwischen den Gruppen sich nicht von selbst auf die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern überträgt. Diese würde vielleicht ein auf Mitbestimmung gegründetes Modell von Demokratie voraussetzen, das durch seine Betonung von Selbstbestimmung und Verantwortung den Frauen zu einem Bewußtsein verhelfen könnte, das der Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter Priorität einräumt.

Folgen eines Urteils des Obersten Gerichtshofes

Der Widerspruch zwischen religiösen Ansprüchen und Anforderungen von Frauen wurde sehr deutlich an dem Urteil des Obersten Gerichtshofes und seiner darauffolgenden Diskussion in Indien. Die 65jährige Shah Bano, eine geschiedene moslemische Frau, hatte sich wegen Unterhaltsforderungen an ihren Ex-Ehemann an den Obersten Gerichtshof Indiens gewandt. Obwohl Angehörige der islamischen Gemeinschaft in Angelegenheiten wie Ehe, Scheidung, Unterhalt und Erbschaft dem islamischen Personenrecht unterworfen sind, das keinen Unterhalt für die geschiedene Ehefrau oder ihre Kinder vorsieht, gab der Oberste Gerichtshof ihrer Berufung statt und bezog sich dabei auf den »Indischen Criminal Procedure Code« (IPCC) (Absatz 125), der die Versorgung mittelloser Frauen vorsieht. Infolgedessen stand ihr nach dem Urteil des Gerichts ein bescheidener Unterhalt von ihrem Ex-Ehemann zu.

Das Urteil, das zudem Aussagen über das islamische Personenrecht beinhaltete, wurde von Frauenorganisationen und anderen Liberalen als erstes Anzeichen für einen Sieg der säkularen Kräfte begrüßt. Die islamische Bevölkerung, vor allem die Politiker und die männlichen orthodoxen Geistlichen, verdammten es als einen Versuch, das islamische Personenrecht anzutasten. Es wurden Versuche unternommen, zu zeigen, daß die Vorgehensweise der islamischen Gemeinschaft nicht diskriminierend sei und daß es Bestimmungen gebe, unter denen die Interessen der Frauen gewahrt werden könnten. Zwar behauptete niemand, daß die Interessen Shah Banos innerhalb der vorgegebenen Strukturen gewahrt worden seien, doch waren sie überzeugt, es gäbe, zumindest theoretisch, Bestimmungen innerhalb des »Shariyat« (dem Gesetz des Koran), die für solche Sonderfälle herangezogen werden könnten.

Zusammengefaßt heißt das, die Mehrzahl von ihnen kritisierte den Obersten Gerichtshof für seine Rechtssprechung in dieser Frage; während die liberaleren Mitglieder die in dem Urteil enthaltene Anklage des islamischen Personenrechts ungerechtfertigt und unnötig fanden, argumentierten andere, daß diese »Einmischung« die große Masse der islamischen Bevölkerung (die bis jetzt noch nicht orthodox ist) in die Arme orthodoxer Geistlicher treiben würde, da deren Argumente, die islamische Gemeinschaft und ihre Identität seien bedroht, auf diese Weise an Glaubwürdigkeit gewännen.

Liberaldemokratische Institutionen in Indien

Bevor wir uns den spezifischen Erfahrungen mit der Funktionsweise liberaler demokratischer Institutionen in Indien zuwenden, sollte daran erinnert werden, daß ein feministisches Bewußtsein nicht das natürliche oder spontane Bewußtsein von Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft ist. Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß indische Frauen sich schon aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Besonderheit im Widerstand gegen die jeweiligen Formen männlicher Herrschaft und Unterdrückung organisieren und sie zu verändern versuchen.

Ebenso wichtig ist es, daran zu erinnern, daß diese Frauen gleichzeitig Mitglieder weiterer Gemeinschaften und Gruppen sind und daher Trägerinnen einer mehrfachen Identität; das heißt, sie gehören zusätzlich jeweils einer religiösen Gemeinschaft und einer spezifischen sprachlichen und ethnischen Gruppe an; außerdem kommen sie aus einer bestimmten Schicht der Gesellschaft und sind Teil der ländlichen oder der städtischen Bevölkerung.

Ihre Identität macht sich also nicht an einem einzelnen Punkt fest, vielmehr besetzt jede dieser Frauen eine Reihe verschiedener Positionen. Das Engagement für eine politische Sache, wie etwa die der Frauenbewegung, läßt zwar eine dieser Positionen in den Vordergrund treten, doch ist diese weder auf Dauer noch allein bestimmend für die jeweilige Identität der Frau.

Tatsächlich ergibt sich die Art der Auseinandersetzungen, die in einer Gesellschaft entstehen, aus dem Konflikt unterschiedlicher Identitäten und den historisch-kulturellen Umständen, die eine dieser Identitäten gegenüber allen anderen begünstigen.

Kaste und Religion

Die Besonderheit der indischen Situation besteht darin, daß, im Vergleich zu anderen, die auf Kaste und Religion basierenden Identitäten die dominierenden sind und daß das Verhalten des Staates im Laufe der Zeit zu einer weiteren Stärkung der religiösen Identität geführt hat. Während einerseits Versuche unternommen wurden, im Kastenwesen strukturell vorhandene Ungleichheiten zu beseitigen, haben sich die führenden Politiker andererseits kontinuierlich bemüht, den Schutz der religiösen Idenität der verschiedenen Gemeinschaften sicherzustellen. Insbesondere versuchten sie, die Angehörigen der religiösen Minderheiten zu beruhigen, indem sie ihnen zusicherten, es werde keinerlei Einmischung in ihre internen Regelungen und Praktiken geben. Dies bedeutete unter anderem, daß das Personenrecht der verschiedenen religiösen Minderheiten (z.B Moslems, Christen, Parsen) unangetastet bleiben würde.

In der Tat gab es schwerwiegende historische Gründe, dies so deutlich zu betonen. Die Unabhängigkeit, die erst in der Folge heftiger Kämpfe zwischen den verschiedenen Gruppen erreicht wurde, machte Zusicherungen gegenüber den Minderheiten notwendig. Überdies betrachteten die Begründer der indischen Verfassung die Ungleichheit zwischen Bevölkerungsgruppen, wie sie durch gewisse Aspekte des Kastensystems verursacht wurde, als ein Übel, das es zu bekämpfen galt. Die Einrichtung demokratischer Institutionen, die auf dem allgemeinen Wahlrecht und dem Prinzip der formalen Gleichheit gründeten, ermöglichten es, die grundsätzliche Gleichheit aller zu erklären, trotz der jeweiligen Zugehörigkeit der einzelnen zu verschiedenen Gruppen. Eine dieser Hervorhebung der Gleichheit entsprechende Gewichtung der Idee individueller Autonomie gab es nicht, und Gruppen und religiöse Gemeinschaften wurden als legitime Akteure der politischen Arena betrachtet. Bemerkenswert ist, daß in den westlichen Demokratien das Interesse an der Autonomie des Individuums für einzelne aus den unterschiedlichsten Bereichen zum Auslöser wurde, dieses Grundrecht für sich einzufordern, während das Interesse an der Gleichheit zwischen Gruppen nicht dasselbe Potential zu haben scheint. Dieser Umstand hat der Verwirklichung der Gleichberechtigung der Geschlechter im Wege gestanden.

Das Paradox im indischen Kontext besteht darin, daß die Prozesse, die mit einer liberalen demokratischen Regierungsweise verbunden sind, diese Unterordnung der Ansprüche der Frauen begünstigt haben.

Eine liberale Demokratie erzeugt, nach ihrer eigenen Logik, eine Mehrheit und eine Minderheit. Keine der beiden freilich ist vorgegeben oder unveränderlich, d.h. in einer Bevölkerung werden Mehrheit und Minderheit durch die Wahl neu bestimmt und zumindest theoretisch besteht die Möglichkeit, daß die bestehende Minderheit in der nächsten Runde zur Mehrheit wird. Eine solche Möglichkeit ist allerdings nur in einer Situation realisierbar, in der die bestehenden Konstellationen zwischen den Gruppen variieren. Anders ausgedrückt: Betrachten sich die einzelnen als Teil einer Gruppe oder Gemeinschaft und handeln vorrangig in dieser Eigenschaft, so ergibt sich eine zahlenmäßig vorgegebene Mehrheit und Minderheit. Durch die relativ große Bedeutung, die in Indien der religiösen Identität zukommt, haben wir eine Situation, in der sich der handelnde einzelne als Mitglied einer religiösen Mehrheit oder spezifischen Minderheit begreift. Darüber hinaus erkennen sie als Angehörige einer Minderheit, daß sie ihre Interessen am ehesten durch kollektive Entscheidungen wahren und ausbauen können. Der Logik der Zahlen folgend gehen daher die Minderheiten, stärker als die Mehrheit, davon aus, daß kollektives Handeln ihren Interessen nützt. Da überdies kollektives Handeln ihre Bedeutung in Wahlkämpfen erhöht, treffen die politischen Parteien nur ungern Entscheidungen, die für die Führer der religiösen Gemeinschaften (gewöhnlich orthodoxe, männliche Geistliche) vielleicht nicht akzeptabel wären. Dieser Standpunkt vieler politisch Verantwortlicher hat zur Folge, daß die Interessen der Frauen als Staatsbürgerinnen dem speziellen Interesse der jeweiligen religiösen Gemeinschaft untergeordnet werden.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Wahlniederlage der Kongreßpartei in Assam, Bijnor, Kishankanj, Bolpur, Baroda etc. 1985-86 kurz nach dem Fall Shah Bano ließ die Führung der Partei annehmen, die islamische Bevölkerung entferne sich von der Partei. Um daher ihre Unterstützung zurückzugewinnen, verabschiedete die Partei das »Muslim Women's Bill« gegen den Widerstand zahlreicher auch moslemischer Frauengruppen. Das Gesetz bedeutete ein Zugeständnis an die orthodoxen Mitglieder der moslemischen Gemeinschaft, denn es versagte moslemischen Frauen die Möglichkeit, sich unter Berufung auf das IPCC (Absatz 125) an den Obersten Gerichtshof zu wenden. Außerdem legte es fest, daß nach der Zeit des »idaat«, d.h. der Scheidung, von nun an die Familie der Frau und nicht mehr der Ex-Ehemann für den Unterhalt verantwortlich ist. Die Kongreßpartei ließ sich aus Sorge um Wahlverluste zu diesem Verhalten bewegen, doch opferte sie diesem politischen Interesse die Interessen der Frauen. Dies ist keineswegs ein Einzelfall; immer wieder stehen Parteien und Politiker Situationen gegenüber, in denen die Zwänge der Wahlpolitik, die integraler Bestandteil liberaler demokratischer Strukturen sind, zu einer Begünstigung von Gemeinschaftsinteressen und -identitäten geführt haben.

Auch muß festgehalten werden, daß die Identifizierung der individuellen Interessen mit denen der religiösen Gemeinschaft und die damit verbundene Wahrnehmung von Mehrheit und Minderheit zu einer Lage geführt haben, in der sich diese Gemeinschaftsidentitäten weiter verstärken. In der Folge des »Shah Bano-Urteils« verabschiedete die regierende Kongreßpartei das oben erwähnte »Muslim Women's Bill«. Danach, im selben Jahr, wurden, um der hinduistischen Bevölkerung entgegenzukommen, die Tore des Babri Masjid geöffnet und so die Anbetung des Bildnisses des Ram ermöglicht (Hasan 1994).

Auch in diesem Fall griff der Staat in einer Weise ein, die die Selbstwahrnehmung der einzelnen als Angehörige einer religiösen Gemeinschaft akzeptierte und noch verstärkte. Paradoxerweise war es gerade die liberale demokratische Struktur, die die Verdrängung der individuellen Identität durch die der Gemeinschaft zuließ.

Drei Punkte müssen in diesem Zusammenhang hervorgehoben werden.

1) Entgegen einer verbreiteten Annahme und der liberalen Erwartung nehmen Menschen am politischen Prozeß häufig als Angehörige verschiedener Gruppen teil. In einem Zusammenhang, in dem die Identifizierung mit einer dieser Gruppen die mit allen anderen zahlenmäßig dominiert, erscheint diese erstarrte Position den verschiedenen am politischen Prozeß Beteiligten als die »gegebene« Realität. Es entsteht der Eindruck einer natürlichen Gruppe, über die die einzelnen angesprochen und ihre Forderungen verhandelt werden können. Diese Wahrnehmung wiederum ist der Grund für die weitere Festigung bestehender Gemeinschaftsidentitäten.

2) Als Erben des liberalen Vermächtnisses mögen wir davon ausgehen, daß das Individuum die Grundeinheit der Gesellschaft sei und daß sich die politische Wirklichkeit nach dieser Annahme zu richten habe. Doch in den Institutionen und Verfahrensweisen einer liberalen Demokratie selbst ist nichts enthalten, durch das aus dieser Annahme eine Realität würde. In vielen Fällen bleibt sie eine philosophische Hypothese, die sich gegebenenfalls in einem allgemeinen bürgerlichen Recht oder in der Vorstellung von den primären menschlichen Gütern, Ansprüchen und Bedürfnissen niederschlägt. Mit anderen Worten, sie ergibt sich nicht als Konsequenz aus der institutionellen und verfahrensrechtlichen Struktur.

3) Die Realität, der wir ins Auge sehen müssen, ist, daß in Indien weder die Mechanismen des Marktes noch die Erfahrung der Demokratie die Identitäten der religiösen Gemeinschaften zu untergraben vermochten.

Auf der einen Seite haben die demokratischen Verfahrensweisen die Wahrnehmung von Minderheiten und die Identitäten der verschiedenen Gemeinschaften gestärkt, auf der anderen Seite haben sie zu der Unterordnung der Interessen von Frauen als einer Gruppe beigetragen.

Die Tatsache, daß es in Indien nicht gelungen ist, die Unterstützung weiter Teile der weiblichen Bevölkerung zu mobilisieren, ist im Kontext zweier einschränkender Bedingungen zu sehen:

1) Immer wieder ausbrechende Gewalt zwischen den verschiedenen Gruppen und das Verhalten der politischen Parteien festigen die religiöse Identität und verleihen ihr stärkeres Gewicht. Im Vergleich damit erscheinen andere Identitäten als nebensächlich. Da die Forderungen der Frauenbewegung überdies in direktem Gegensatz zu denen stehen, über die sich die religiösen Gemeinschaften definieren, werden die ersteren stets den letzteren untergeordnet. Im Unterschied dazu sind Gruppeninteressen, die nicht mit religiösen Interessen kollidieren – z.B. solche der Bauern – oft ausgesprochen erfolgreich in ihrer Durchsetzung. Die Stärke der reichen Bauern ergibt sich aus der Tatsache, daß sie gemeinsame, auf ihrer Klassenzugehörigkeit basierende Interessen haben. Da Frauen auf der Ebene der Klassen und der Kasten getrennt sind, fehlt es ihrem Kampf an Homogenität und an Kraft.

2) Unter den gegebenen Bedingungen der Unterordnung waren Frauen nur selten in den vordersten Reihen der ideologischen, insbesondere der religiösen ideologischen Produktion zu finden. Daher erscheint in der von Männern beherrschten Arena der religiösen ideologischen Produktion die Gleichberechtigung der Geschlechter niemals auf der Tagesordnung (Dietrich 1992).

Während der Konflikt zwischen der religiös bestimmten Identität und den Forderungen der Frauen eine indische Besonderheit darstellt, sind weder die Existenz durch Gemeinschaften definierter Identitäten noch die Forderungen nach Rechten für diese Gemeinschaften auf Indien beschränkt. Daher können diese Probleme nicht einfach als Abweichungen von der liberalen Norm abgetan werden. Auch in westlichen liberalen Demokratien haben verschiedene kulturelle und religiöse Gemeinschaften Ansprüche auf ihre Rechte angemeldet, die nicht ignoriert werden können.

Im übrigen stehen diese Ansprüche trotz allem, auch dann, wenn die Forderung nach kulturellen Rechten mit der liberalen Vorstellung individueller Rechte kollidiert, durchaus im Einklang mit der inneren Logik liberaler Demokratie. Während die erste Generation der Rechte – z.B. das Recht auf Leben, auf Freiheit und auf Eigentum – direkt den einzelnen betrafen, betrachteten die sozialen Rechte den einzelnen als einer bestimmten Gruppe zugehörig. Es entstanden Kategorien wie Alte, Behinderte, Schwarze, Frauen, ethnische Gruppen, Immigranten etc. Die liberale Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit schuf den Raum für die Anerkennung der Gruppe als einem legitimen Subjekt gesellschaftlichen und politischen Handelns. Darüber hinaus waren einige dieser Gruppen über ihre kulturellen und sozialen Attribute identifizierbar. Der demokratische Wohlfahrtsstaat nahm die unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Gruppen in ihrer jeweiligen Identität wahr, um über ihre gemeinsamen Erfahrungen und mögliche Quellen von Ungleichheit informiert zu sein; er hoffte außerdem, daß eine aktive Unterstützung und andere Formen der Hilfe es ihnen ermöglichen würde, als gleichberechtigte Bürger am politischen Prozeß teilzunehmen. Paradoxerweise war es gerade die Anerkennung der nach ethnischen, sprachlichen oder regionalen Kriterien definierten Gruppe, die diesen Gruppen die Möglichkeit zur Formulierung weiterer Forderungen eröffnete. Mit anderen Worten, durch den demokratischen Wohlfahrtsstaat als solche identifizierte und anerkannte Gruppen stellten am Ende Forderungen, die einige der Grundvoraussetzungen liberaler Ethik in Frage stellten. Auf der philosophischen Ebene wurden mit einmal Attribute, die bislang als hergeleitet und zweitrangig gegolten hatten, als die wesentlichen Eigenschaften des »Seins« betrachtet, als der große Zusammenhang, in dem jeder sein Leben lebt und seine Entscheidungen trifft. Die eigene Kultur wurde zu einem kollektiven Gut, aus dem legitime Forderungen erwuchsen.

Keine Wahlmöglichkeit

Es ist offensichtlich, daß für Indien der Konflikt zwischen den Ansprüchen der religiösen Gruppen und denen der Gleichberechtigung nicht innerhalb des liberalen Diskurses lösbar ist. Ein Beispiel: In Indien wird manchmal argumentiert, der Konflikt könne gelöst werden, indem der/dem einzelnen das Recht zugestanden wird, aus der jeweiligen religiösen Gemeinschaft auszusteigen; das heißt, einzelne, die sich nicht an die Normen der Gemeinschaft gebunden fühlen, sollen die Möglichkeit haben, sich dem bürgerlichen Recht zu unterstellen. Der Erlaß des »Special Marriage Act« war ein Schritt in diese Richtung (Parashar 1992).

Obwohl dieser Vorschlag eine Lösung zu bieten scheint, in der sowohl die individuelle Autonomie als auch die Werte der Gemeinschaft anerkannt werden, ergeben sich in Wirklichkeit zwei Schwierigkeiten. Zum ersten ist es mehr als wahrscheinlich, daß die Entscheidungen der beiden Ehepartner in Fragen der Ehe und der Erbschaft sehr unterschiedlich ausfallen würden. Zum Beispiel könnte sich bei einem moslemischen Paar der Mann für das Recht der Religionsgemeinschaft entscheiden, während die Frau vielleicht das bürgerliche Recht vorzieht.

Selbst wenn wir davon ausgehen, daß stets derjenige Partner recht bekommt, der sich an den Obersten Gerichtshof wendet oder der sich für das bürgerliche Gesetz entscheidet, das Recht des Staatsbürgers also sich gegen die Rechte der Religionsgemeinschaft behauptet, handelt es sich vielleicht dennoch nicht um eine durchführbare Lösung. Was etwa den Fall Shah Bano betrifft, stellte sich heraus, daß sie, obwohl das Urteil des Obersten Gerichts zu ihren Gunsten ausfiel und ihr einen Unterhalt zusicherte, den Nutzen aus diesem Urteil nicht ziehen konnte oder wollte. Sie wurde von der Gemeinschaft überredet, das Urteil abzulehnen, und die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung in Verbindung mit der Überzeugung, sie setze die Autonomie der islamischen Gemeinschaft aufs Spiel, überwog.

Zum zweiten ist der Vorschlag, Frauen sollten aus der Obhut der religiösen Gemeinschaften heraustreten, um unter dem »Special Marriage Act« zu heiraten, ebenfalls einigermaßen unrealistisch. In einer Gesellschaft, in der Frauen nur selten von ihrem Recht auf die freie Wahl des Ehepartners Gebrauch machen, werden sie sich wohl kaum dem Druck der Familie, sich den Sitten und Gebräuchen der Gemeinschaft entsprechend zu verhalten, widersetzen. Die Tatsache, daß die meisten von ihnen von einer solchen Wahlmöglichkeit gar nichts wissen, ist ein zusätzliches Problem.

Worum es hier geht, ist, daß zwar die liberale Ethik allgemeine Normen bereitstellt, mit deren Hilfe sich dieses Dilemma lösen ließe, doch vermag sie keine Lösung anzubieten, die im Rahmen einer von religiösen Gruppeninteressen bestimmten Gesellschaft durchführbar wäre. Nahezu alle Vorschläge verlangen eigenständiges individuelles Handeln, das sich innerhalb der formalen Verfahrensstrukturen einer liberalen Demokratie allerdings kaum in die Wirklichkeit umsetzen läßt.

Vielleicht müßte die Frauenbewegung ihre Aufmerksamkeit statt auf das repräsentative stärker auf ein durch Mitbestimmung geprägtes Modell von Demokratie richten, das den Frauen das politische Bewußtsein und das Selbstvertrauen geben könnte, den Kampf gegen das System der Ungleichheit aufzunehmen.

Unvereinbarkeit zwischen Anforderungen von Frauen und religiösen Gemeinschaften

Ein Ergebnis unserer Erörterungen ist, daß sich die Ansprüche und Forderungen religiöser Gemeinschaften nur schwer mit anderen Gruppeninteressen vereinbaren lassen. In Ländern wie Indien stehen sie den Forderungen der Frauen nach einer gleichberechtigten Staatsbürgerschaft entgegen. Die liberale Demokratie, mit ihrer begrenzten repräsentativen Regierungsform und den dazugehörigen Verfahrensweisen und Institutionen, vermag diese Konflikte nicht zugunsten der Gleichberechtigung zu lösen. Auch ist sie unfähig, Änderungen herbeizuführen, durch die dem liberalen Anliegen der Autonomie des einzelnen der Vorrang vor allen anderen eingeräumt würde. Tatsächlich lassen sich die erwähnten Institutionen in einer Gesellschaft, die um verschiedene religiöse Gemeinschaften zentriert ist, sogar zur weiteren Festigung der Identität dieser Gemeinschaften und zur Verstärkung ihrer Forderungen nutzen.

In Indien geht es nicht darum, ob die Mehrheit sich durchsetzen wird, oder ob die Stimme der Minderheit sich durchsetzen sollte. Obgleich die Mehrheit wie auch die kulturellen Minderheiten ihren Gefühlen in dieser Weise Ausdruck geben, ignorieren in Wirklichkeit beide die Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter. Beschwört die eine das Gespenst der »Hinduisierung« herauf, so sanktioniert die andere die Unterordnung der Frauen.

All diese Paradoxien deuten auf die Unangemessenheit der Begriffe im gegenwärtigen liberalen Diskurs und beweisen die Notwendigkeit einer differenzierteren und historisch genaueren Lesart in der Frage der Rechte kultureller und religiöser Gemeinschaften. Sie lenken aber unsere Aufmerksamkeit auch auf die Vielfalt an Möglichkeiten, in der selbst liberale demokratische Institutionen in einer Gesellschaft genutzt werden können, manchmal sogar um eben die Rechte und Ansprüche zu untergraben, die von je her mit der Philosophie des Liberalismus verbunden waren.

Literatur

Dietrich, Gabriele: Reflections on the Women's Movement in India. Horizon India Books, Delhi, 1992.

Hasan, Zoya: Communalism, State Policy and the Question of Women's Rights in Contemporary India. Bulletin of Concerned Asian Scholars, Vol.25, N.42, 1994.

Hobsbawm, E.J,: Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality. Cambridge University Press, Cambridge, 1990.

Kymlicka, Will: Liberalism, Community and Culture. Clarendon Press, Oxford, 1989.

Mies, M. & V. Shiva: Ecofeminism. Kali, Delhi, 1994.

MacKinnon, C.A.: Feminism, Marxism, Method and the State: Towards Feminist Jurisprudence. Signs, Vol.8, No.4, 1983.

Parashar, Archana: Women and Family Law Reform in India: Uniform Civil Code and Gender Equality. Sage Publications, Delhi, 1992.

Sathe, S.P.: Towards Gender Equality. SNDT University, Bombay, 1993.

Smart, Carol: Feminism and the Power of Law. Routledge, London & New York, 1989.

Wolgast, E.H.: Equality and the Rights of Women. Cornell University Press, Ithaca & New York, 1980.

Anmerkungen

1) Zum Beispiel wird durch die Änderungen unter Absatz 376 A,B,C und D der Geschlechtsverkehr mit einer juristisch geschiedenen Frau, ohne ihr Einverständnis, zu einer Straftat; und im Falle der Vergewaltigung liegt die Last des Beweises (daß das Opfer zugestimmt hat) nun bei dem Angeklagten (Sathe 1993) Zurück

2) Das Problem liegt darin, daß in einer patriarchalischen Gesellschaft viele dieser rechtlichen Praktiken zugunsten des Mannes gewichtet sind. So kann sich nach islamischem Personenrecht der Mann von seiner Frau durch das dreifache Aussprechen des taalag während einer Sitzung scheiden lassen; nur während der Zeit der Trennung bekommen die Frauen Unterhalt von ihrem Mann.  Das christliche Scheidungsgesetz macht es einer Frau fast unmöglich, sich scheiden zu lassen. Anders als der Mann muß sie zwei Verstöße gegen das Eherecht nachweisen, z.B. Ehebruch, Vergewaltigung, Bigamie. Überdies besitzt ihr Mann, falls sie lediglich eine rechtliche Trennung erwirken konnte, Anspruch auf ihren Besitz und auf die Vormundschaft der Kinder; er kann sogar die Wiederherstellung der ehelichen Rechte verlangen. Zurück

Gurpreet Mahajan arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Centre for Political Studies, School of Social Sciences, Jawaharlal Nehru University, New Delhi 110067, India. Sie stellte diesen Text auf der Weltkonferenz der »International Political Science Association« im August diesen Jahres in Berlin vor.
Übersetzung: Barbara Kronsfoth

Ein europäischer Unfrieden

Ein europäischer Unfrieden

Politische Reisenotizen von Skopje nach Zagreb (II)

von Michael Kalman

Vom 20. Februar bis 1. März 1993 unternahm eine gemischte Delegation aus dem Bayerischen Landtag, Flüchtlingsrat, Friedensbewegung, Studentenvertretung und Friedensforschung eine Informationsreise in das ehemalige Jugoslawien. Die Stationen der Reise, die überwiegend von den GRÜNEN im Bayerischen Landtag finanziert wurde, waren Skopje, Pristina, Belgrad, Novi Sad und Zagreb. Wir setzen den Reisebericht mit dem 2. Teil fort.

Die Bundesrepublik Jugoslawien, insbesondere die Republik Serbien ist – das ist unstrittig – in diesen Krieg involviert. Kontrovers müssen aber Formen und Ausmaß von Belgrads Engagement diskutiert werden. Mit den nationalistischen großserbischen Vorstellungen eines Milosevic ist die geistige Mittäterschaft zweifelsfrei gegeben, auch wenn expansionistische Staatsideen zum »normalen« Repertoire der radikalen Elemente fast jeder größeren ethnischen Gruppe im ehemaligen Jugoslawien gehören. Kein seriöser Experte bestreitet ferner die logistische Unterstützung der bosnisch-serbischen Einheiten. Der stellvertretende bosnische Präsident sprach gar von regelmäßigen »Linienflügen« von hundert bis zweihundert serbischen Versorgungshubschraubern des Typs MI-8 nach Bosnien-Herzegowina. Der deutsche Geschäftsträger in Belgrad war da zurückhaltender. Von der Vorsitzenden des Serbischen Roten Kreuzes in Belgrad bekommen wir hingegen zu hören, daß in der Region Banja Luka serbische Kinder sterben müssen, weil die serbischen Hubschrauber keine Hilfsflüge mit nötiger Medizin mehr unternehmen können.

Es wird ferner behauptet, daß die serbisch-bosnischen Einheiten vom Generalstab der Jugoslawischen Streitkräfte in Belgrad operativ geführt werden. Eindeutig ist hingegen, daß seit der Reorganisation im Mai 1992 keine Bodentruppen der Jugoslawischen Streitkräfte in Bosnien-Herzegowina mehr operieren. Teile der jungen kroatischen Streitkräfte sollen hingegen immer wieder offen an der Seite des Kroatischen Verteidigungsrates, der militärischen Komponente der Kroaten in Bosnien, vor allem in der Herzegowina operiert haben.

Durch das Raster der Schwarz-Weiß-Malereien der deutschen Presse fallen häufig auch die Versuche der Regierungen in Belgrad und Zagreb, sich im geheimen zu arrangieren. So enthüllte ein kroatischer Präsidentenberater bereits Mitte 1991 der Londoner »Times« Geheimgespräche zwischen Tudjman und Milosevic über eine Aufteilung Bosnien-Herzegowinas. Am 6. Januar 1993 nun erzielten Milosevic und Tudjman eine Geheimvereinbarung, wonach die Republik Serbien bei der bevorstehenden Krajina-Offensive kroatischer Verbände ein Eingreifen der Jugoslawischen Streitkräfte unterbinden würde. Milosevic schien also von den geplanten kroatischen Operationen um die Maslenica-Brücke gewußt zu haben. Der serbische Regierungschef möchte offenbar den paramilitärischen Einheiten Serbiens keine uneingeschränkte Unterstützung mehr zukommen lassen.

Die irregulären bewaffneten Gruppen

Denn der Krieg wird sehr stark von paramilitärischen Einheiten und Parteiarmeen geprägt, die niemand kontrolliert, aber insbesondere Belgrad fortdauernd und zusätzlich in Mißkredit bringt. Wie der deutsche Geschäftsträger in Belgrad sinngemäß ganz zutreffend bemerkt: Selbst wenn Milosevic nichts Schlechtes tun würde, so unterläßt er es doch, Gutes zu tun. Gemeint ist die aktive Herstellung der Kontrolle aller paramilitärischen Einheiten jener Serben, die sich auf dem Boden der Bundesrepublik Jugoslawien, insbesondere in Belgrad, völlig frei bewegen können und deren berüchtigte Führer in der serbischen Hauptstadt ungeniert und ungehindert Geschäfte betreiben können. Der militärische Arm der rechtsradikalen kroatischen »Partei des Rechts« von Paraga ist in Kroatien immerhin verboten worden, Paraga selbst muß sich in vier Gerichtsverfahren verantworten. Gleiches wäre in Belgrad zu fordern, um insbesondere die Beli Orli (Weiße Adler) des Mirko Jovic, die Dusan Slini (Dusan der Mächtige) von Dragoslav Bokan und »Arkans Tiger« unschädlich zu machen. Allerdings unterhält auch der Führer der ultranationalistischen »Serbischen Radikalen Partei«, Vojislav Seselj, eine Art Privatarmee, die in Bosnien kämpft. Nach den Wahlen vom Dezember 1992 ist Seselj Koalitionspartner von Milocevics Sozialistischer Partei, was die Schwierigkeit illustriert, den irregulären Einheiten den Garaus zu machen, falls dies überhaupt der Wille der Sozialisten wäre.

Auch der royalistische Oppositionspolitiker Vuk Draskovic (Serbische Erneuerungsbewegung) unterhält seine »Serbische Garde«, die sich allerdings in letzter Zeit eher zurückhält.

Auf Seiten der anderen Kriegsparteien kämpfen ebenfalls paramilitärische Einheiten – so die »Grünen Barette« bei den Muslimen und neben der schon erwähnten HOS, kleinere Einheiten wie die »Zebras« des Sinisa Dvorski, die den ehemaligen »Ustasa«-Neofaschisten zugerechnet werden.

Aus diplomatischen Kreisen eines Staates, dessen Regierung alles andere als serbienfreundlich gilt, hören wir, daß die sogenannte »ethnische Säuberung« gängige Praxis aller drei ethnischen Gruppen in Bosnien-Herzegowina sei, lediglich die Serben würden dabei besonders erfolgreich agieren.

Was die hier kursorisch und unvollständig aufgezählten irregulären bewaffneten Gruppen zusammen mit den »regulären« Streitkräften alles angerichtet haben, erfahren wir exemplarisch in den Flüchtlingslagern außerhalb der Kriegsgebiete. Der Flüchtlingsstrom scheint nicht enden zu wollen – auch Makedonien ist von ihm betroffen. Obwohl das Land nach der offiziellen UNHCR-Statistik im November 1992 »nur« 19.000 Flüchtlinge aufgenommen hat – unsere Gesprächspartner im Lande selbst nennen Ende Februar 1993 die Zahl von 40.000 – bedeuten diese für das wirtschaftlich ausgeblutete Land eine erhebliche Zusatzbelastung. Ein vertriebener bosnischer Muslim erzählt in Gostivar seine Geschichte. Dieser Mann von Anfang dreißig aus Zvornik (Ostbosnien), sah sich angesichts des Dauerterrors von Einheiten der bosnischen Serben und paramilitärischen Gruppen Ende April 1992 zur Flucht genötigt. Er überquerte die Drina und erreichte am anderen Ufer die Republik Serbien. Von einer Anhöhe konnte er die Einnahme und Zerstörung seiner Heimatstadt beobachten. Moscheen wurden einfach in die Luft gesprengt, zahlreiche Häuser brannten. Der Vertriebene konnte ausgehobene Massengräber erkennen, in welche die zahlreichen Leichen einfach reingeschmissen wurden. Er versteckte sich in einem Wochenendhaus in den serbischen Wäldern. Dann schlug er sich nach Loznica durch, von wo er mit einem regulären Linienbus nach Subotica (Wojwodina), nahe der ungarischen Grenze, gelangte. Dort meldete er sich beim Serbischen Roten Kreuz und versuchte sich Ausreisepapiere zu besorgen. Der Vertreter des Roten Kreuzes wies ihn zurecht und drohte dem bosnischen Flüchtling eine Rekrutierung in die Jugoslawische Armee oder die Gefangennahme als Geisel für einen späteren Gefangenenaustausch an. Daraufhin floh der Muslim nach Novi Sad und fand wochenlang Unterschlupf beim dortigen Imam. Später gelang ihm offenbar problemlos die Flucht mit einem Reisebus über Nis nach Skopje. Hier und später in Gostivar wird er von der islamischen Hilfsorganisation El Hilah (Neumond) betreut.

Flüchtlingselend auch auf serbischer Seite. In der »Kollektiven Unterbringungsstätte« Pionierski Grad am Stadtrand von Belgrad sprechen wir mit einer alten Frau aus Vukovar. Ihr lebensbejahendes, aber verbrauchtes Gesicht kann ein schluchzendes Stocken in ihrer Stimme nicht verbergen als sie auf die Umstände ihrer Flucht angesprochen wird. Sie kam Ende 1991 hier an und hoffte auf einen nur kurzen Aufenthalt von wenigen Wochen im Camp – nun ist sie schon weit über ein Jahr hier und sieht keine Aussicht, daß sich das ändert. 162.000 serbische Frauen und Männer sind bisher aus Kroatien (Krajina und Slawonien) vertrieben worden – eine Zahl, die in den deutschen Medien nicht vorkommt.

Flüchtlingslager in Zagreb

Wir besuchen mit einem Kinderarzt aus Deutschland, der sich für die Hilfsorganisation »Suncocret« (Sonnenblume) ein halbes Jahr als freiwilliger Helfer in Kroatien verpflichtet hat, ein muslimisches Flüchtlingslager in Zagreb. Die vierstöckigen Mietshäuser der Einheimischen des Vororts sind in gutem baulichen Zustand. Durch eine Toreinfahrt gehen wir in einen Hinterhof, der in Ödland übergeht. Hier stehen vier niedrige Holzbaracken, die den Bauarbeitern der Firma »Tempo« einmal als Arbeitsunterkunft dienten. Jedes der Provisorien ist ca. 40 Meter lang und zwölf Meter breit. Hier hausen 700 überwiegend muslimische Flüchtlinge, einige kroatische Familien aus den Kriegsgebieten sind auch dabei. In den einzelnen Zimmern mit 16 bis 20 Quadratmetern müssen sich fünf bis zehn Personen zusammendrängen. Niemandem steht mehr als drei Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung. Jedes Zimmer hat zwar uralte Kohleöfen, aber die dünnen Holzwände sind nicht isoliert, es ist zugig und feucht. Über ein Drittel sind Kinder und Jugendliche, die auf dem Hof spielen und toben. Hungern muß niemand, aber der Mangel ist spürbar. Unser deutscher Begleiter spricht von erheblichem Proteinmangel der Flüchtlinge. Um dem ärgsten Vitaminmangel vorzubeugen, hat er ein »Fruchtprogramm« aufgelegt. Das bedeutet: Für jede/n pro Woche einen Apfel. Wir gehen in ein kleines Barackenhäuschen mit den sanitären Anlagen. Zwei Frauen rubbeln Wäsche in den vier einzigen Waschbecken des gesamten Lagers. Abgeteilt davon die Toiletten, in ziemlich verrottetem Zustand, ebenfalls vier an der Zahl. Dies heißt nichts anderes: 175 Kinder, Erwachsene und Greise müssen sich eine Toilette teilen. Wieder im Hof wehen uns rauchige Schwaden ins Gesicht. Am Rande der Barracken liegt die eigene wilde Mülldeponie, der Abfall wird durch offenes Feuer »entsorgt«. Wer hier nicht krank wird, muß eine sehr robuste Natur haben.

Sind die äußeren Bedingungen dieser vertriebenen Menschen schon mehr als dürftig, so sind die psychischen Folgen von Mord, Greuel und Vertreibung kaum noch in Worte zu fassen.

Der »Lagerälteste«, ein alter gebeugter Muslim mit wachen Augen und zerfurchtem, faltigem Gesicht, begrüßt uns herzlich. Er wird seine Heimat, in der er viele Jahrzehnte friedlich gelebt hat, vielleicht nie mehr wiedersehen. Seine Redepausen, sein Stocken, die feucht werdenden Augen erzählen uns mehr als seine Geschichten. Dabei gehören diese Menschen noch zu den Davongekommenen.

Und dennoch: Der Krieg und der Völkerhaß dringt auch hierhin. Seitdem sich auch Muslime und Kroaten in Bosnien-Herzegowina bekämpfen, gibt es fast kein gemischtes Lager mehr mit Muslimen und Kroaten. Die Auseinandersetzungen wollten kein Ende mehr nehmen. Auch die christlichen und muslimischen Hilfsorganisationen stecken ihre »claims« ab. Nichtmuslimische Hilfsorganisationen haben es immer schwerer, in Flüchtlingslager der bosnischen Muslime zu gelangen.

Das Bestürzendste ist jedoch, daß die wehrfähigen Flüchtlinge als Menschenmaterial für den Krieg interessant bleiben. Die kroatische Polizei führt nachts Razzien in Flüchtlingslagern durch und zwingt die Männer – Kroaten, vor allem aber Muslime – zum Kampf an die Front. Neben dem immer offensichtlicher werdenden kroatisch-muslimischen Gegensatz gibt es nämlich noch einen weitreichenden Verteidigungspakt, den die Präsidenten Tudjman und Izetbegovic am 24. September 1992 in New York bekanntgaben. Danach verpflichtete sich die kroatische Seite auch zu dieser unmenschlichen Art von »Unterstützungsleistung«. Nun leben die Mütter in ständiger Angst um ihre Söhne, die sie so gut es geht vor dem Zugriff der Häscher zu verstecken suchen.

Zurück im »Hauptquartier« der Suncocret. Hier arbeiten Freiwillige – häufig aus dem Ausland – zur Betreuung der ca. 650.000 registrierten Flüchtlinge in Kroatien. Die Helfer aus Deutschland werden vom Service Civil International (SCI) in einem sechswöchigen Kurs auf ihre Aufgaben vor Ort vorbereitet. Die Helfer werden auf die Camps verteilt. Pro Flüchtlingslager arbeiten zehn freiwillige Helfer und vier Einheimische. Die freundliche, junge Kroatin in der unkomfortablen »Zentrale« von Suncocret gibt sich unpolitisch, will helfen, das Leid vermindern. Was wären die Flüchtlinge ohne diese Wellen der Hilfsbereitschaft, obwohl die meisten davon nach Kroatien, weit weniger nach Serbien gehen. Nichts in diesem gewalttätigen Konflikt kann unpolitisch bleiben. Der »Politik der Hilfe«, obwohl ein wenig asymmetrisch angewandt, kommt sicher erstrangige Bedeutung zu.

Anti-War-Center in Zagreb

Auch Zagreb hat sein Anti-War-Center. Es wurde zur gleichen Zeit wie in Belgrad, im Juli 1991 gegründet. Zoran Ostric erzählt von der Arbeit. Ein Schwerpunkt sind Menschenrechtsfragen. Zusammen mit amnesty international ist ein Buchprojekt durchgeführt worden. Auf der innenpolitisch-gesellschaftlichen Ebene soll das Recht auf Zivildienst durchgesetzt werden. Das Antikriegszentrum initiiert zudem eine Rechtshilfe für Menschenrechtsfälle. Die Situation der Serben in Kroatien ist alarmierend. Immer wieder werden ganze Häuser mitsamt serbischen Familien in die Luft gesprengt. In Split wurde das Haus eines Kroaten, der einen Serben in Schutz genommen hatte, dem Erdboden gleichgemacht. Es gibt im Lande kaum noch Rechtsanwälte, die bereit sind, Serben zu verteidigen.

Ein weiterer Schwerpunkt sind Workshops für gewaltfreie Lösungen. Zoran erweist sich als Realist und Mann der Praxis. Er mißt den sozialen Bewegungen wichtige Funktionen vor und nach gewalttätigen Konflikten zu. Sind die kriegerischen Auseinandersetzungen jedoch erst einmal ausgebrochen, so blieben den Bewegungen keine direkten Einwirkungsmöglichkeiten mehr.

Zoran wünscht sich eine Verlängerung des UNPROFOR-Mandats in den Schutzzonen Slawoniens und der Krajina, das zum 21. Februar 1993 ausgelaufen ist. Die Blauhelme sollten erweiterte, quasi hoheitliche Funktionen erhalten. Ihm schwebt eine Art Protektorat der Schutzzonen-Gebiete vor, in dem das Militär notfalls auch gesellschaftliche Funktionen übernimmt. Es soll jedoch vor allem einer vergrößerten zivilen Komponente der UNO vorbehalten bleiben, die Verwaltung aufzubauen und soziale Probleme zu moderieren und zu bearbeiten. Nur in einem solchen Protektorat könnten soziale Bewegungen in Krisengebieten agieren. Ich frage Zoran nach den »Praxis«-Philosophen in Zagreb. Ja, sie gibt es noch, die Intellektuellen undogmatisch-marxistischer Provenienz des ehemaligen Jugoslawien. Er empfiehlt durchaus das Gespräch mit ihnen, moniert jedoch deren abgehobene, theoretische Art. Auch Sonja Licht bezieht er in diese Beurteilung mit ein. Ihre Überlegungen seien doch sehr »global« angelegt, wo es doch vor allem gelte, im Lokalen zu wirken.

Die Arbeit des Antiwar Centers ist zu würdigen und unterstützenswert, nicht zuletzt wegen der Mailbox-Verbindung mit den anderen Zentren in Ljubljana und Belgrad. Hier kann in einer Zeit abgebrochener Kommunikation wichtige Vernetzungsarbeit geleistet werden. Dennoch regt sich bei mir Widerstand gegen diese Art von Theorievergessenheit. Schließlich handelt der Mensch in der Praxis immer theoriebezogen, ob es ihm bewußt ist oder nicht. Das unterscheidet ihn vom Regenwurm. Auch Zoran hat ein theoretisches Raster, daß von Sonja Lichts Konzept einer »civil society« sicher nicht weit entfernt ist.

Die »unpolitischen« Intellektuellen

Ein kleiner Teil unserer Delegation besucht Professor Flego in seiner Zagreber Wohnung. Er ist einer der »ungleichzeitigen« Intellektuellen, die es im Zeitalter der »nationalen Wiedergeburt« Kroatiens gleichwohl noch gibt und die sich der einfältigen Dichotomie kroatisch-unkroatisch nicht fügen. Der Hochschullehrer für Philosophie an der Universität Zagreb schildert uns mit ruhigen und sachlichen Worten die aktuelle Situation in Kroatien. Nein, seine Stelle an der Universität sei nicht gefährdet, administrative Maßnahmen gegen ihn und andere Kollegen wurden bisher nicht ergriffen oder angedroht. Das Klima an den Hochschulen allerdings hätte sich verändert. Immer häufiger würden (ehemalige) »Praxis«-Philosophen kompromittiert, meistens beschränkt auf die Privatsphäre. Auch öffentliche Angriffe in Form von Beiträgen in Fachzeitschriften und Tageszeitungen würden geführt. Gegendarstellungen allerdings werden genauso ungekürzt veröffentlicht. Irgendwann werde auch er sich gegen die Anwürfe öffentlich wehren müssen.

Inzwischen ist »Kroatische Philosophie« als Studienfach an der Universität Zagreb eingeführt worden. Der Kroate Petricius gilt als mittelalterlicher Begründer der Hermeneutik. Wie wäre es, wenn Max Streibl die Einrichtung eines Lehrstuhls für »Bayerische Philosophie« verfügen würde? Provinzialistische Größenordnungen auch im wissenschaftlichen und literarischen Output Kroatiens: vor dem Krieg habe es in der Teilrepublik jährlich 2.000 selbstständige Publikationen gegeben. Nun sind es nur 200. Dafür ist allerdings auch die allgemeine wirtschaftliche Lage verantwortlich.

Die Universitäten in Kroatien – Osijek, Zadar, Pula, Rijeka, Split und Zagreb – werden zentralistisch gelenkt, die Alleinkompetenz der Gebietskörperschaften ist abgeschafft worden. Die Studenten seien völlig apolitisch. Sie hätten sich zwar in Vereinigungen organisiert, würden jedoch nicht profiliert in der Öffentlichkeit hervortreten.

Die Kollateralschäden des kroatischen Ethnonationalismus, die teils verständliche, teils irrationale Abgrenzung gegenüber dem Feind Serbien, überhaupt die ganzen Geburtswehen des neuen Staates, haben offensichtlich eine lebendige demokratische Öffentlichkeit und politische Kultur bislang verhindert. Hier sind ganz verschiedene Faktoren bestimmend. Mit der Unabhängigkeit spielen nun ganz neue/alte gesellschaftliche Substrate eine größere, zuweilen dominierende Rolle. Exilkroaten, insbesondere Ustasa-Emigranten kehren nach Kroatien zurück. Eine gewisse Indifferenz gegenüber dem kroatischen Faschismus im Zweiten Weltkrieg macht sich breit. Tudjman habe in seinem Werk über die kroatische Geschichte immerhin die Massenmorde der Ustasas an den Serben nicht geleugnet. Gleichwohl taxiert er die Anzahl der Toten auf 40.000 bis 60.000 und nicht, wie historisch belegt ist, auf mindestens 400.000. Diese Zugeständnisse scheint der Staatspräsident gegenüber den oft sehr vermögenden Exilkroaten machen zu müssen, die zu den wichtigsten Investoren im Land gehören.

Seit Jahren wird die kroatische Bevölkerung mit Dauerpropaganda überschwemmt. Die Angestellten bei Fernsehen und Hörfunk sind fast komplett ausgewechselt worden. Da das Vertriebssystem für Zeitungen und Zeitschriften fest in der monopolistischen Hand des Staates ist, werden die letzten noch unabhängigen Blätter benachteiligt, womit ein indirekter Hebel der Zensur gegeben ist. Mittlerweile droht auch der letzten kritischen Zeitung, die »Slobodna Dalmacija« das Aus.

Überall im Lande werden Straßen und Plätze umbenannt. In Zagreb soll eine Straße nach dem Minister der Regierung des Faschisten Ante Pavelic benannt werden. Die staatliche Kommission für die Umbenennung der Straßen versucht jetzt in Übereinstimmung mit den Anwohnern einen heiklen »Kompromiß«. Danach soll die Straße nun »Straße des Schriftstellers Mile Budak« heißen. Dieser Mile Budak, der auch Schriftsteller war, gehört zu den Mitunterzeichnern jenes Rassengesetzes, daß die Grundlage für die Ausrottung von Juden, Serben und Zigeunern lieferte.

Die Renaissance der Kirche

Auch die katholische Kirche feiert ihre Renaissance, ja ihr »Roll-back«. Sie ist „unter Kardinal Kuharic zur fünften Kolonne von Franjo Tudjmans autoritär-chauvinistischer Sammlungsbewegung »Kroatische Demokratische Eintracht (bzw. Gemeinschaft, M.K.)« geworden“ (Wolf Oschlies). Überall in Zagreb sehen wir große Plakate, die für die regierende HDZ Tudjmans wirbt. Die Motive gerieren sich in scheinbar unpolitischer Provinzialität. Man sieht einen Fensterausschnitt mit dem katholischen Zagreber Dom, auf einem Tisch sind ein Laib Brot und Früchte zu sehen – und die aufgeschlagene Bibel. Soll das eine demokratische politische Partei in einer pluralistischen Gesellschaft symbolisieren?

Im Gespräch mit Professor Flego diskutieren wir den Begriff »Gemeinschaft«, der im Namen der HDZ enthalten ist. Er ist symptomatisch für die innere Situation Kroatiens. Jugoslawien sei ein Einparteiensystem ohne entwickelte Gesellschaft gewesen, dieser Typus einer »sozialistischen« Gemeinschaft sei nun durch einen neuen nationalistischen Typus von Gemeinschaft abgelöst worden. Tudjmans Politik orientiert sich an der einenden Vorstellung »des Kroatischen« und fördert damit eine politische Apathie, die uns auch Uta Kalavares, eine Literaturdozentin und Friedensaktivistin aus Rijeka bestätigt. Mag sein, daß Tudjman diesen Krieg wie Milosevic braucht, um eine weitere demokratische Ausdifferenzierung der kroatischen Kriegsgesellschaft zwecks Machterhalt zu verhindern.

Wir diskutieren aktuelle philosophische und soziologische Tendenzen, insbesondere den Kommunitarismus, der vor allem in den USA vorgedacht wurde. Die Denker dieses »Communitarianism« stellen den Begriff der »Gemeinschaft« wieder in den Mittelpunkt der Reflexion. Damit wird rehabilitiert, was wegen Hitlers „Vorstellung einer biologisch begründeten Kollektividentität der Deutschen und (damit einhergehenden) … totalitären Ausgrenzung alles Fremden“ (Axel Honneth) jahrzehntelang außer in kulturkonservativen Kreisen verpönt war. Der Kommunitarismus ist als wissenschaftliche Gegenbewegung zum alles durchdringenden Prozeß der Individualisierung in den (post)modernen Dienstleistungs- und Industriegesellschaften interpretierbar. Diesen Zustand der Individualisierung kann man mit dem unzureichenden Wort »Entwurzelung« umschreiben, die aus der zunehmenden Abkoppelung des einzelnen Subjekts aus vorgegebenen Sozialformen resultiert. In diesem Kontext erscheint die Einbindung der Subjekte in Wertgemeinschaften geradezu als unabdingbare Voraussetzung von Freiheit.

Nach Flego sind jedoch die kommunitaristischen Reflexionen eigentlich nur sinnvoll auf entwickelte pluralistische Gesellschaften zu beziehen. Nur dort könnten sich verschiedene gesellschaftliche und gemeinschaftliche Systemkreise entwickeln. Nur dort können gemeinschaftliche Wertbezüge ein sinnvolles Korrektiv zu ausufernden individualistischen Ansprüchen darstellen. Flego wundert sich – nicht ohne Ironie –, daß im heutigen Kroatien der Kommunitarismus noch nicht rezipiert worden ist, lieferte er doch eine hervorragende Legitimation für Tudjmans »Gemeinschaftsprojekt«. Diese Art von Gemeinschaft wäre allerdings genau jenes einschnürende Korsett, welches Freiheit nicht befördert, sondern verhindert – eben weil ein gewachsener Pluralismus in Politik und Gesellschaft Kroatiens noch fehlt.

Ähnlich wie Sonja Licht rekurriert auch Flego auf den untergegangenen Vielvölkerstaat, ohne allerdings auf seine Renaissance zu hoffen oder diese als Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Es läge eine innere Logik des Zerfalls vor, die allerdings durch externe Faktoren bedeutend unterstützt wurde. Es hätte keine ökonomische Balance zwischen den verschiedenen Teilrepubliken gegeben, wobei die ökonomischen Mehr- und Transferleistungen insbesondere Kroatiens nicht ausreichend kompensiert und honoriert wurden, hier würde Flego Licht widersprechen. Kroatien erwirtschaftete nach Flego 50 % aller jugoslawischen Devisen und mußte 35 % des Steueraufkommens tragen, seine Bevölkerung machte jedoch nur 27 % der Gesamtbevölkerung aus. Das Botschaftspersonal der Jugoslawischen Föderation wurde zudem nur zu 3 bis 11 % aus Kroaten rekrutiert. Die serbische Dominanz in anderen Apparaten wie Armee und Geheimdienst war groß. Die kroatischen und slowenischen Zahlungen für den gemeinsamen Ausgleichsfond seien in nationalem Sinne umgedeutet worden: Man wollte keine Gelder mehr für die serbische Polizei verausgaben. Die ökonomische Reaktion folgte prompt: Serbien erhob Zölle für kroatische und slowenische Waren.

Das Kosovo-Problem war sicher ein Katalysator sowohl für den serbischen wie für den kroatischen Nationalismus. Man beschuldigte sich in der Folge der reziproken Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Zagreb protestierte gegen die Unterdrückung der Kosovo-Albaner durch Serbien, serbische Nationalisten und Freiwillige sickerten bereits 1989 in den kroatischen Teil der Krajina ein und schürten den serbischen Chauvinismus. Die Organe der Jugoslawischen Föderation waren in ihrem labilen Gleichgewicht bald nicht mehr handlungsfähig und zerbröselten unter den Mühlsteinen des slowenisch-kroatischen Sezessionismus und des serbischen Strebens nach Vorherrschaft.

Die Jugoslawische Volksarmee versuchte noch durch den Rückzug aus Slowenien das Patt im Staatspräsidium zur serbischen Majorität von vier zu drei hin zu wenden. Nach dem Ausscheiden Sloweniens aus dem Staatsverband hätte der serbische Block mit Serbien, Montenegro, Wojwodina und Kosovo die drei übrigen Republiken Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Makedonien überstimmen können. Aber die Rechnung ging nicht auf. Eine Militärmacht, die 1968 zur Zeit des sowjetischen Einmarschs in die CSSR acht Millionen Soldaten mobilisieren konnte, ist nichts wert, wenn die Unterstützung des Volkes fehlt – genau diese ist für Titos Partisanenkonzept aber unabdingbar.

Zu den externen Faktoren seien nach Flego die hohen Auslandsschulden in Höhe von 20 Mrd. US-Dollar zu zählen, welche die jugoslawische Wirtschaft zunehmend belastete. Allerdings sei dafür auch die starke Aufrüstung der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) in den achtziger Jahren verantwortlich. Allein in Kroatien hätte es 38.000 Offiziers- und Unteroffizierswohnungen gegeben – ein Staat im Staate? Vielleicht.

Mit Titos Tod und der Auflösung des Ost-West-Konflikts hätte Jugoslawien aus der Sicht des Westens seine weltpolitische Funktion als Motor der Blockfreienbewegung und Bollwerk gegen den Sowjetkommunismus verloren. Das westliche Interesse an der Schwächung einer der stärksten Armeen Europas wuchs. Noch im Mai 1991 hätte die JVA einen Vertrag mit der Sowjetunion über die Nutzung jugoslawischer Marinestützpunkte unterschrieben. Diese Ausweitung sowjetischer Militäroptionen wurde dann durch die Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens am 25. Juni 1991 zunichte gemacht. Das muß wohl auch in westlichem Interesse gelegen haben.

Zagreb ist die letzte Station unserer Reise durch eine europäische Krisenregion, wie sie vielfältiger nicht sein kann. Slawische Makedonier und Serben orthodoxen Glaubens, albanische und bosnische Muslime, kroatische Katholiken, um nur wenige ethnische Gruppen und Religionen zu nennen, leben in dieser Region, die einstmals in einem Staat zusammengefaßt war. Meine politischen Reisenotizen konnten nicht mehr sein als ein Selbstversuch in der Tugend des Unterscheidungsvermögens, der die Unterschiede nicht verdecken aber auch keine überzeichneten Feindbilder produzieren soll.

Teil 1

Michael Kalman, Politikwissenschaftler, freier Autor, lebt in München.

Umweltkonflikte

Umweltkonflikte

Die Konfliktform im post-ideologischen Zeitalter?

von Stephan Libiszewski

In den letzten Jahren hat sich auch die Friedens- und Konfliktforschung verstärkt der Ökologie angenommen. Einerseits ist Umweltzerstörung als Teil eines erweiterten Sicherheitsbegriffes diskutiert worden. Andererseits werden ökologische Veränderungen als eine potentielle Ursache künftiger Konflikte und Kriege angesehen.1

Diese zweite Debatte hat sich aber bisher hauptsächlich darauf beschränkt, empirische Beispiele für Umweltkonflikte aufzulisten, wie z.B. Auseinandersetzungen um knappe Wasserressourcen, Spannungen im Zusammenhang mit sogenannten »Umweltflüchtlingen« oder der Streit um die Verantwortlichkeiten für den globalen Klimawandel. Ihr mangelte es bislang weitgehend an theoretischer Schärfe.

Der folgende Beitrag will deshalb einige zentrale Begriffe im Zusammenhang mit dem Phänomen und Untersuchungsgegenstand »Umweltkonflikte« bzw. »ökologische Konflikte« reflektieren.2 Dies wird in der Form von zwei Definitionen und drei Thesen erfolgen.3 Erst auf dem Hintergrund dieser Präzisierungen werden sich schliesslich einige Rückschlüsse ziehen lassen bezüglich der Frage, ob wir es bei Umweltkonflikten mit einer neuen Konfliktform zu tun haben sowie ob und inwiefern dieser im Zeitalter nach dem Ost-West-Konflikt die Rolle eines strukturierenden Faktors der internationalen Politik zukommen wird.

Erster Punkt: Was ist das Ökologische an ökologischen Konflikten?

Diese Frage mag trivial klingen, ihre Klärung ist aber nötig. Denn in der relativ jungen Diskussion über ökologisch verursachte Gewaltkonflikte bestehen diesbezüglich zahlreiche Unschärfen und Missverständnisse. Häufig werden Umweltkonflikte einfach mit Konflikten um natürliche Ressourcen gleichgesetzt.4 Eine andere Variante ist, die ökologische Problematik und damit zusammenhängende Konflikte allein auf das Problem der Umweltverschmutzung zu beziehen.5

Beide Kriterien treffen jedoch nicht die »differentia specifica« des ökologischen Faktors. Das allgemeine Kriterium der natürlichen Ressourcen ist zu unspezifisch: Land, Erdöl und andere Ressourcen spielten in fast jedem Territorial- und Kolonialkrieg der letzten 200 Jahre und auch schon in historischer Zeit eine wichtige Rolle. Das Kriterium der Senken hingegen ist zu eng: Etliche ökologische Probleme wie z.B. Bodenerosion, Süsswasserverknappung oder die Dezimierung von Fischbeständen würden davon nicht erfasst. Denn diese sind oft nicht in erster Linie auf Verschmutzung zurückzuführen, wenn auch diese eine Rolle spielen kann, sondern originär auf die Übernutzung dieser Ressourcen.

Der ökologische Charakter von Umweltkonflikten muss also in einem anderen Merkmal zum Ausdruck kommen. Das entscheidende Kriterium, das hier vorgeschlagen wird, ist das der Erneuerbarkeit von Ressourcen. Der Ressourcenbegriff soll hier freilich nicht nur die materiellen Ausgangsstoffe der Produktion – sog. Quellen – umfassen, sondern auch natürliche »Dienstleistungen« wie günstige klimatische Bedingungen oder die Qualität von Wasser, Böden und Luft, die mit der Eigenschaft der Natur als Senke zusammenhängen, das heisst mit ihrer Fähigkeit, Abfälle und Nebenprodukte menschlicher Aktivitäten aufzunehmen und/oder zu verarbeiten.

Das Kriterium der Erneuerbarkeit ist eng verwandt mit der Bedeutung von Ökologie als der Lehre von den Wechselbeziehungen zwischen Lebewesen und ihrer belebten und unbelebten Umwelt. Denn es ist das Eingebundensein in regelhafte Stoffwechselkreisläufe, das die Erneuerbarkeit einer Ressource ausmacht. Deren tatsächliche regelmässige Erneuerung bzw. die Regenerierung von deren Qualität hängt wiederum vom ungestörten Funktionieren dieser Ökosysteme ab. Als Teil der Stoffwechselkreisläufe, die das Leben erhalten, sind erneuerbare Ressourcen darüber hinaus oft nicht substituierbar (Luft, Wasser, Nahrung). Darin kommt ihr Doppelcharakter als Quelle von Wohlstand im ökonomischen Sinne und als biologische Voraussetzungen für das menschliche Überleben zum Ausdruck.

Nicht-erneuerbare fossile und mineralische Ressourcen sind hingegen gerade deshalb nicht-erneuerbar, weil sie nicht gleichermassen in ökologische Stoffwechselkreisläufe eingebunden sind.6 Der enorme Verbrauch nicht-erneuerbarer Ressourcen und die Freisetzung der darin enthaltenen Energien und Schadstoffe sind zwar eine der Hauptursachen der ökologischen Krise in der Moderne. Insofern hängen der Raubbau an den nicht-erneuerbaren Ressourcen und die Degradierung der erneuerbaren Ressourcen eng zusammen. Für sich genommen stellt aber die Extraktion z.B. von Erdöl kein Eingriff in das Ökosytem dar. Die Erschöpfung der Rohölreserven ist kein ökologisches, sondern ein originär ökonomisches Problem. Nicht-erneuerbare Ressourcen können demnach knapp werden, sie können aber nicht in dem Sinne degradiert werden.

Deshalb sind Konflikte über den Besitz von oder den Zugang zu nicht-erneuerbaren Ressourcen keine ökologischen Konflikte. Dies sind traditionelle Verteilungskonflikte um absolut knappe und ungleich verteilte Güter. Als erste Definition muss hingegen festgehalten werden: Ökologische Konflikte sind Konflikte im Zusammenhang mit der Degradierung erneuerbarer Ressourcen, d.h. der Verringerung ihrer Menge oder Beeinträchtigung ihrer Qualität in Folge einer anthropogenen Störung ihrer Erneuerung bzw. Regenerierung. Der Begriff der ökologischen Degradierung ist eng verwandt mit dem Konzept der Nachhaltigkeit. Die Definition könnte demnach auch lauten: Ökologische Konflikte sind Konflikte im Zusammenhang mit erneuerbaren Ressourcen, sofern diese nicht nachhaltig genutzt werden.

Ökologische Degradierung kann eine oder mehrere folgender Formen annehmen:

  • die Übernutzung eines erneuerbaren Gutes (Dimension der Quellen);7
  • die Überbeanspruchung der Umwelt in ihrer Fähigkeit, als Senke für Abfälle und Nebenprodukte menschlicher Aktivitäten zu dienen (Verschmutzung);
  • eine Verarmung des natürlichen Lebensraumes, womit sowohl Phänomene wie der Artenverlust erfasst werden sollen, die schwer im Sinne von Quellen oder Senken zu fassen sind, als auch ästhetische und emotionale Dimensionen von Naturzerstörung.

Auch ökologische Degradierung ist historisch kein völlig neues Phänomen. Aber erst auf dem Hintergrund globaler human-ökologischer Transformation8, im Zuge von Industrialisierung und der weltweiten Verbreitung des westlichen Wachstumsmodells, ist die Degradierung erneuerbarer Ressourcen zu einem allgegenwärtigen und bezeichnenderweise heute dringenderen Problem geworden als die Verknappung nicht-erneuerbarer Rohstoffe, die noch vor 20 Jahren die Debatte dominierte.

Wie führt ökologische Degradierung zu Gewaltkonflikten?

Diese Frage betrifft das Problem der Kausalitätsbeziehung und interdisziplinären Vermittlung von ökologischer Degradierung und Konflikt. Im allgemeinen wird dieser Zusammenhang nur assoziativ hergestellt in dem Sinne, dass wo Ressourcenverknappung aufgrund von Degradierung zu verzeichnen ist, es auch verstärkt zu Verteilungskonflikten kommen muss. Dieser Schluss ist nicht völlig falsch. Ressourcen sind in der Tat die Gestalt, in der Natur vom Menschen angeeignet wird, und dadurch auch die Stelle, an der Natur am ehesten zum Anlass konflikthafter Phänomene wird. Insofern leistet der Ressourcenbegriff bereits eine gewisse Vermittlung. Er erklärt aber noch nicht sehr viel.

Konflikte sind soziale und keine natürliche Phänomene. Ökologische Degradierung und Ressourcenverknappung führen deshalb nicht als solche und nicht automatisch zu Konflikten, sondern dann und dort, wo sie ökonomische, soziale und politische Interessen berühren. Es bedarf deshalb einer dritten analytischen Ebene, in der diese Übersetzung von einem ökologischen in ein soziales Phänomen geschieht. Wir nennen dies die sozialen Effekte von ökologischer Degradierung.

Demnach hat eine Analyse ökologischer Konflikte stets in zwei Schritten zu erfolgen:

1) Welche sozialen Effekte resultieren aus der ökologischen Degradierung?

2) Welche (Gewalt-)Konflikte resultieren aus diesen sozialen Effekten?9

In beiden Analyseschritten müssen der sozioökonomische und politische Kontext, in dem die ökologische Degradierung und ihre sozialen Effekte stehen, berücksichtigt und in die Analyse einbezogen werden.10 Agrargesellschaften etwa sind in viel stärkerer und direkterer Weise von klimatischen Veränderungen betroffen als Industriegesellschaften, in denen die Landwirtschaft einen relativ geringeren Stellenwert besitzt, und die eher über technische und finanzielle Möglichkeiten zu Gegenmassnahmen verfügen. Die aus den sozialen Effekten ökologischer Degradierung resultierenden Konflikte werden wiederum in Gesellschaften, in denen ohnehin tiefe soziale oder ethnische Spaltungslinien bestehen, eher gewaltsam ausgetragen werden denn in homogenen und stark integrierten politischen Zusammenhängen. Schliesslich ist die Kriegsträchtigkeit internationaler Konflikte im Zusammenhang mit ökologischer Degradierung und ihren sozialen Folgen nicht losgelöst zu sehen vom Zustand der sonstigen politischen Beziehungen zwischen den betreffenden Staaten und dem Grad ihrer zwischenstaatlichen Verflechtung.

In theoretischer Hinsicht ergibt sich aus diesem Analysemodell eine wichtige Konsequenz: Wenn es ihre sozialen Effekte und nicht die ökologische Degradierung selbst sind, die zu Konflikten führen, dann werden sich letztere nicht notwendigerweise als Konflikte um die Verteilung erneuerbarer Ressourcen bzw. der Kosten ihrer Degradierung manifestieren, sondern unter Umständen als soziale und ökonomische, ethnische oder nationale Konflikte, als Anti-Regime-Kriege oder als Herrschaftskonflikte.

Das veranlasst mich, als zweite Definition zu formulieren: Ökologische Konflikte sind durch ökologische Degradierung induzierte Konflikte.

Der Begriff »induziert« soll zum Ausdruck bringen, dass Umweltdegradierung eines sozialen und/oder politischen Brennpunktes bedarf, um zu Konflikten zu führen. Ökologische Degradierung wird demnach selten allein, sondern meistens als konfliktverursachender Faktor unter anderen vorkommen und sich nicht notwendigerweise in Form eines explizit ökologischen Konfliktgegenstandes manifestieren.11

Erste These: Die meisten ökologisch induzierten Gewaltkonflikte werden innerstaatliche Konflikte sein bzw. auf der innerstaatlichen Ebene ihren Ausgangspunkt haben.

Wenn von Ökologie als Ursache von Konflikten die Rede ist, wird meistens in erster Linie an zwischenstaatliche Konflikte um einen klar umgrenzten ökologischen Gegenstand gedacht,

  • etwa an die Kontroversen um den Schutz der globalen Gemeinschaftsgüter Atmosphäre, Klima, Wälder, Biodiversität und Ozeane, wie sie im letzten Jahr auf dem Umweltgipfel in Rio de Janeiro aufgetreten sind;
  • an zwischenstaatliche Streitigkeiten um regionale öffentliche Güter wie grenzüberschreitende Gewässer- und Luftverschmutzung oder die Überfischung von Seen und Binnenmeeren;
  • oder an Konflikte über die Nutzung von teilbaren kollektiven Gütern, in erster Linie von fliessenden Gewässern, in einem gewissen Sinne auch Konflikte über Luftverschmutzung bei konstanter Windrichtung.12

Diese Ebene von zwischenstaatlichen Konflikten um ökologische Ressourcen gibt es. Sie ist eminent wichtig und auf ihr findet statt, was man die »Ökologisierung der internationalen Beziehungen« nennen kann. Auch die Gewaltträchtigkeit dieser zwischenstaatlichen ökologischen Konflikte soll an dieser Stelle in keiner Weise heruntergespielt werden. Insbesondere Konflikte um die Nutzung grenzüberschreitender Flüsse sind wegen der asymmetrischen Situation zwischen Ober- und Unteranrainer schwer verregelbar. Sie können, wo Wasser ohnehin knapp ist und eine politisch gespannte Lage herrscht wie im Nahen Osten, eine ernstzunehmenden Kriegsgefahr darstellen. Bei öffentlichen Ressourcen – regionalen wie globalen – wirkt hingegen das »Trittbrettfahrer-Dilemma«, das den Abschluss wirksamer zwischenstaatlicher Abkommen verzögern oder gar verhindern kann.

Das reale Kriegsgeschehen hat sich aber seit der Beendigung des Dekolonisierungsprozesses allgemein von der zwischenstaatlichen auf die innerstaatliche Ebene verschoben.13 Von dieser Ebene werden auch die meisten ökologisch induzierten Gewaltkonflikte ausgehen, ich würde sogar sagen: an der zwischenstaatlichen Kooperation vorbei. Zum einen, weil ökologische Degradierung immer noch in erheblichem Masse »Selbstzerstörung« ist – Selbstzerstörung nicht notwendigerweise bezogen auf die Ursachen und Hintergründe; diese liegen oft in weltmarktbedingten Zwängen zum Ressourcenraubbau. Selbstzerstörung aber in bezug auf die Wirkungen.

Hier greift eine funktionale Kooperation im Umweltbereich, die nicht Fragen der sozioökonomischen Entwicklung miteinschliesst, in der Tat zu kurz. Sie mag auf das Verhältnis zwischen Staaten vertrauensbildend wirken, sie verhindert aber unter Umständen nicht die Desintegration ihrer jeweiligen Gesellschaften. Es sind dann auch nicht notwendigerweise die staatlichen Akteure, die interne ökologische Problemlagen nach aussen tragen und sie dadurch zu einem internationalen Konfliktpotential machen. Sondern oft sind es im wörtlichen Sinne die Gesellschaften selbst, die in Form ökologisch (mit-)bedingter Migrationsbewegungen die Staatsgrenzen überschreiten.

Die These vom Vorherrschen innerstaatlicher Konflikte gilt zum anderen auch für Gewaltkonflikte im Zusammenhang mit der Degradierung der globalen Gemeinschaftsgüter. Es liegt in der Natur dieser Güter, und es ist Teil ihrer »Tragödie«, dass die Kausalitäten und Wirkungsweisen sehr komplex sind und nur vermittelt auftreten. Verursacher und Opfer globaler Umweltveränderungen sind schwer genau zu bestimmen, sie liegen geographisch meist weit auseinander und kommen, wenn überhaupt, nur auf einer relativ abstrakten Ebene politisch miteinander in Berührung.

Die Konfliktlinien, die etwa auf dem Umweltgipfel in Rio zu verfolgen waren – der Nord-Süd-Konflikt und die quer dazu verlaufenden Trennungslinien – werden nicht die typischen Konfliktlinien der zukünftigen ökologisch induzierten Kriege sein. Es sind zwar militärische Interventionen seitens der Staatengemeinschaft oder derjenigen Mächte, die sich für deren Vertreter halten, denkbar, um besondere Umweltsünder – bzw. Staaten, die zu solchen gebrandmarkt werden – zu bestrafen.14 Man denke dabei an das vielpublizierte Szenario, wonach die Länder in den Tropen notfalls mit Gewalt gezwungen werden sollen, auf eine weitere Abholzung ihrer Regenwälder zu verzichten. Die meisten Kriege werden aber zwischen den von globaler Umweltzerstörung Betroffenen ungeachtet ihres Anteils an den Ursachen ausgetragen werden, nämlich dort, wo klimatische Veränderungen und der Meeresspiegelanstieg Agrarwirtschaften zum Kollaps, Millionen Menschen in die Flucht und politische Strukturen zum Auflösen führen werden.

Der Konfliktgegenstand ist bei solchen innerstaatlichen Konflikten schwer als ein eindeutig ökologischer zu umgrenzen. Wenn wir ethnische Konflikte und Sezessionsbestrebungen in der Sahel-Zone, in Nigeria oder auf der Insel Bougainville, oder Anti-Regime-Kriege in Mittelamerika und auf den Philippinen als ökologisch induzierte Konflikte interpretieren, so bilden dort Bodenerosion, Desertifikation oder die ökologischen Folgen von Bergbauprojekten lediglich Glieder in einem vernetzten Bündel verschiedener, sich gegenseitig verstärkender Konfliktursachen. Zu diesem Bündel gehören neben ökologischen Problemen und mit ihnen verknüpft: ungerechte Landbesitzverhältnisse, die überstürzte Umwandlung von subsistenten Landwirtschaften in unangepasste marktorientierte Monokulturen, Bevölkerungswachstum, unkoordinierte Teilindustrialisierung und unkontrollierte Urbanisierung, Aussenverschuldung und der Zwang zum Ressourcenexport sowie unabgeschlossene Prozesse der Nationenbildung – also die klassischen Ursachen und Merkmale von Unter- bzw. Fehlentwicklung.

Gesellschaftliche Produktions-, Konsumtions- und Verteilungsmuster sind also sowohl der Ausgangspunkt von Umweltdegradierung als auch dasjenige Feld, auf das die veränderte Umwelt wiederum zurückwirkt: sie zwingt ihrerseits zu sozialen Redistributions- und politischen Reorganisationsprozessen, die gezwungenermassen konflikthaft und potentiell gewaltsam verlaufen. Das Verhältnis von Umwelt und Gesellschaft muss deshalb eher als ein rückgekoppeltes dargestellt werden denn als ein lineares. Ökologische Konflikte entstehen dort, wo gesellschaftliche Erwartungen mit der Realität einer degradierten Ressourcenbasis in Widerspruch geraten (Graphik 2).

Meine zweite These lautet deshalb: Der konfliktverursachende Charakter von ökologischer Degradierung ist stets zu sehen im Verhältnis von Umwelt zu gesellschaftlicher Entwicklung.15

Dies gilt auch für diejenigen Fälle, die oben als zwischenstaatliche Konflikte um klar bestimmbare ökologische Ressourcen charakterisiert wurden – wenn auch hier die Kausalitätsbeziehung zwischen Umwelt und Konflikt offenkundiger und leichter zu bestimmen ist. Denn natürliche Güter sind ja nicht einfach Ressourcen, sondern sie bekommen ihren spezifischen Wert als Ressourcen erst in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand einer Gesellschaft. Selbst bei biologisch unverzichtbaren Stoffen wie Luft und Süsswasser hängt die benötigte Menge stärker von der Art und dem Grad der ökonomischen Aktivitäten und von den kulturellen Gewohnheiten ab als von den biologischen Grundbedürfnissen einer bestimmten Bevölkerungszahl. Der tägliche Süsswasserverbrauch der privaten Haushalte variiert z.B. von 5,4 Liter pro Kopf in Madagaskar bis zu 500 Litern in den USA.

Umwelt und Entwicklung sind rückgekoppelt, in ihrem Verhältnis zu Konflikt sind sie aber untereinander nicht austauschbar (Graphik 3). Entwicklung und Unterentwicklung, und in diesem Zusammenhang muss als teilweise eigenständige und genuin politische Variable auch Nationenbildung genannt werden, können unabhängig von ökologischer Degradierung zu Konflikten führen und haben dies in der Vergangenheit stets getan. Umwelt ist deshalb in bezug auf Konflikt eine abhängige Variable von Entwicklung. – Das ist der tiefe Sinn des Begriffes induziert.

Umwelt ist aber eine Variable, die heute von Entwicklung nicht mehr wegzudenken ist, will letztere Bestand haben und sich nicht ihre eigene natürliche Grundlage unter den Füssen abgraben. Insofern wird – auf dem Hintergrund globaler human- ökologischer Transformation – ökologische Degradierung auch das Konflikt- und Kriegsgeschehen wie allgemein sowohl die innerstaatliche als auch die internationale Politik in zunehmendem Masse bestimmen.

Als Einschränkung und um einem verkürzten »Ökologismus« vorzubeugen, muss aber abschliessend als dritte These präzisiert werden: Wenn es stimmt, dass die Kausalitätsbeziehung zwischen Umwelt und Konflikt eine vermittelte ist, dann sind ökologische Gewaltkonflikte keine eigene Konfliktform, sondern es gibt verschiedene Erscheinungsformen ökologisch induzierter Gewaltkonflikte. Diese ergeben sich aus den spezifischen sozialen Problemlagen, die durch ökologische Degradierung erzeugt werden.

Ökologisch induzierte Konflikte stellen in diesem Sinne auch keine Konfliktformation dar. Die einzelnen ökologischen Konfliktlinien sind zu kontextgebunden und stehen untereinander und mit anderen politischen Gegensätzen zu sehr im Widerspruch, als dass sie bisher die Welt in geschlossene »Lager« hätten spalten könnten. Auch der vielbeschworene »Nord-Süd-Konflikt« um Umwelt und Entwicklung ist durch mehrere quer dazu verlaufende Spaltungslinien gebrochen. Er steht zudem mit der Tatsache im Widerspruch, dass die meisten ökologisch induzierten Gewaltkonflikte innerhalb des Südens stattfinden.

Die globale ökologische Krise wird aber dann zu einem sowohl die Innenpolitik als auch potentiell das internationale System als Ganzes strukturierenden Faktor werden, wenn sie, analog zur sozialen Krise im 19. Jahrhundert, unterschiedliche und entgegengesetzte ordnungspolitische Entwürfe zu ihrer Lösung hervorbringen wird. »Umweltkonflikte« und »ideologische Konflikte«, um die zentralen Konzepte aus dem Titel meines Beitrages zum Schluss nochmals aufzugreifen, wären dann aber nicht notwendigerweise sich gegenseitig ausschliessende Begriffe. Vielmehr würde »Ideologie« – hier allgemein verstanden als das Bild der gewünschten Gesellschaft und der wichtigsten Mittel, die zum Aufbau einer solchen Gesellschaft nötig sind – zum Katalysator von Konflikten, die ihre Wurzeln in ökologischen Transformationsprozessen haben.

Bei dem Aufsatz handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Vortrages im Rahmen des AFK-Workshops »Ökologische Sicherheit oder Frieden durch nachhaltige Entwicklung«, 13./14. November 1992 in Hamburg

Anmerkungen

1) Vgl. etwa: Bastian, Till: Naturzerstörung: Die Quelle der künftigen Kriege, IPPNW Wissenschaftliche Reihe Bd. 1, Heidesheim 1991; Meyer, Berthold/ Wellmann, Christian (Red.): Umweltzerstörung: Kriegsfolge und Kriegsursache, Friedensanalysen Nr. 27, Frankfurt/M 1992; auch Bächler, Günther: Ökologische Sicherheit und Konflikt, Arbeitspapiere der Schweizerischen Friedensstiftung Nr. 05, Bern 1990. Zurück

2) Die Begriffe »Umweltkonflikt« und »ökologischer Konflikt« werden im weiteren als Sinonyme verwendet. Zurück

3) Die beiden Definitionen basieren auf meinem Aufsatz What is an Environmental Conflict?, ENCOP Occasional Paper No. 1, Bern/Zürich 1992; bei den drei Thesen handelt es sich um ergänzende und weiterführende Gedanken. Zurück

4) Ein bekannter Vertreter dieser Sichtweise ist Arthur H. Westing. Vgl. etwa seinen Aufsatz Environmental factors in strategic policy and action: an overview, in: ders. (Ed.): Global Resources and International Conflict, Oxford, New York 1986, S. 3-20. Zu dieser Betrachtung tendiert aber auch Lothar Brock: Peace through Parks: The Environment on the Peace Research Agenda, in: Journal of Peace Research, Vol. 28, No. 4 (1991), S. 408f. Zurück

5) Dies dürfte eher dem Verständnis von Ökologie entsprechen, wie es in der öffentlichen Diskussion vorherrscht. Zurück

6) Genaugenommen sind auch fossile und mineralische Bodenschätze »erneuerbar«. Ihre Entstehung hängt aber von geologischen Prozessen ab, die Millionen Jahre dauern und nicht im engeren Sinne Ökosysteme darstellen. Ressourcen, deren Formation die Zeitdimension der Menschheitsgeschichte sprengen, müssen – aus menschlicher Perspektive – als nicht-erneuerbar gelten. Zurück

7) Übernutzung wird hier verstanden als eine Verbrauchsrate, die höher liegt als die Erneuerungsrate einer Ressource – oder um es ökonomisch auszudrücken: einer Verbrauchsrate, die den »Kapitalstock« der Ressource angreift. Da nicht-erneuerbare Ressourcen ausschliesslich aus »Kapital« bestehen, ist der Begriff Übernutzung wie überhaupt der Begriff Degradierung sinnvollerweise nur auf erneuerbare Ressourcen anwendbar. Zurück

8) Zum Begriff der humanökologischen Transformation siehe Bächler, Günther: Konflikt und Kooperation auf dem Hintergrund globaler human-ökologischer Transformation, ENCOP Occasional Paper No. 5, Bern/Zürich 1993 Zurück

9) Für die Ausdifferenzierung des Modells in Form eines Analyserasters siehe Böge, Volker: Proposal for an Analytical Framework to Grasp »Environmental Conflict«, ENCOP Occasional Paper No. 1, Bern/Zürich July 1992. Zurück

10) Zu dieser Interpretation siehe auch Homer-Dixon, Thomas: On the Threshold: Environmental Changes and Acute Conflict, in: International Security, Vol. 16, No. 2 (1991), S. 76-116. Zurück

11) Der Begriff des ökologisch »induzierten« Konflikts ist – ohne ihn theoretisch zu explizieren – von Reidulf K. Molvær in die Debatte eingeführt worden. Vgl. seinen Aufsatz Environmentally Induced Conflicts? A Discussion Based on Studies from the Horn of Africa, in: Bulletin of Peace Proposals, Vol. 22, No. 2 (1991). Zurück

12) Eine gute Typologisierung zwischenstaatlicher Umweltkonflikte befindet sich bei Breitmeier, Helmut/ Zürn, Michael: Gewalt oder Kooperation. Zur Austragungsform internationaler Umweltkonflikte, in: antimilitarismus information (ami) Nr. 12/1990, S. 14-23. Siehe dazu auch Müller, Harald: Internationale Ressourcen- und Umweltproblematik, in: Knapp, Manfred/Krell, Gert: Einführung in die internationale Politik, Ein Studienbuch, München 1990, S. 350-382, sowie Libiszewski, Stephan: Ökologische Konflikte im internationalen System – heute und in der Zukunft; in Bächler, Günther et. al.: Umweltzerstörung – Krieg oder Kooperation? Ökologische Konflikte im internationalen System und Möglichkeiten der friedlichen Bearbeitung, im Erscheinen Zurück

13) Vergleiche dazu die empirischen und theoretischen Arbeiten der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität Hamburg. Zurück

14) Dieses und andere Szenarien sind dokumentiert bei Böge, Volker: Die Militarisierung der internationalen Umweltpolitik, in: Bächler, Günther et. al., im Erscheinen (s. Anm. 12) Zurück

15) Entwicklung wird hier ganz allgemein verstanden als die Entfaltung der Produktivkräfte und die Verwirklichung sozialer und politischer Werte. Insofern ist das hier gezeichnete Verhältnis von Umwelt, Entwicklung und Konflikt gleichermassen auf »Entwicklungs-« wie auf Industrieländer anwendbar. Zurück

16) Die schraffierten Pfeile sollen zum Ausdruck bringen, dass von »Konflikt« wiederum Rückwirkungen auf »Umwelt« und »Entwicklung« ausgehen, nämlich in der Form von ökologischen Zerstörungen durch Kriegsvorbereitung und Kriegsführung sowie ihrer volkswirtschaftlichen und sozialpsychologischen Schäden. Die Untersuchung dieser Rückkoppelungen sind aber nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrages. Zurück

Stephan Libiszewski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse der ETH Zürich. Er arbeitet an einem gemeinsam mit der Schweizerischen Friedensstiftung Bern durchgeführten Forschungsprojekt über »Gewaltkonflikte aufgrund ökologischer Probleme« (ENCOP).

Ein europäischer Unfrieden

Ein europäischer Unfrieden

Politische Reisenotizen von Skopje nach Zagreb (I)

von Michael Kalman

Vom 20. Februar bis 1. März 1993 unternahm eine gemischte bayerische Delegation aus dem Bayerischen Landtag, Flüchtlingsrat, Friedensbewegung, Studentenvertretung und Friedensforschung eine Informationsreise in das ehemalige Jugoslawien. Die Stationen waren Skopje, Pristina, Belgrad, Novi Sad und Zagreb. Das dichtgedrängte Programm umfaßte Gespräche und Diskussionen mit Oppositionsparteien, Friedensbewegung, Menschrechtsgruppen, Hilfsorganisationen, Intellektuellen und Offiziellen. Daneben besuchte die Delegation Flüchtlingslager bei Belgrad und Zagreb, sowie Albanerviertel in Skopje und Pristina.
Die Mitglieder der elfköpfigen Delegation hatten ein mulmiges Gefühl, als die kleine Maschine der »Palair Makedonia« von München aus in Richtung Skopje startete. In Makedonien herrscht noch kein Krieg, aber manche Medien befürchten seinen Ausbruch. Diese Sorgen schienen unbegründet, denn zumindest äußerlich war es in der Innenstadt von Skopje ruhig. Auffällig waren lediglich die ärmlich gekleideten Geldwechsler, die an jeder Straßenecke mit dicken Bündel Geldscheinen zum Schwarzmarktkurs anboten.

Makedonien

Unsere erste Station ist Haracin, ein Vorort von Skopje, der fast ausschließlich von Albanern bewohnt ist. Wir entfernen uns von der leidlich geteerten »Hauptstraße« und gehen in die Nebenwege aus festgetretenem Lehm. Zwei albanische Männer mit der traditionellen muslimischen Kopfbedeckung begegnen uns mit großer Freundlichkeit. Sie beklagen die mangelnde Unterstützung des makedonischen Staates. Es gibt keine Mittel für den Straßen- und Wegebau, eine Kanalisation fehlt. Die albanische Bevölkerung würde systematisch im Stich gelassen. Die Hauptstraße hätten die albanischen Anwohner aus ihren spärlichen Privatmitteln gebaut. Auch die Moschee sei aus Spenden der Gemeinde errichtet worden. Sie überragt die kleinen, geduckten Ziegelsteinhäuser der Albaner und entfaltet für diese primitive ländliche Gegend eine gewisse Pracht. Vielleicht sind auch Gelder aus Saudi-Arabien geflossen, aber das sind Vermutungen.

Ein Blick auf ein verödetes Grundstück zeigt eine verfallene orthodoxe Kirche. In diesem Vorort müssen also auch einmal Makedonier südslawischer Herkunft und orthodoxen Glaubens gewohnt haben. Ein Blick auf die Geburtenstatistik der ethnischen Gruppen scheint eine Erklärung zu bieten. Die Albaner in Makedonien, wie auch im Kosovo haben eine erheblich höhere Geburtenrate als die slawische Bevölkerung in Makedonien. In einer Zeit der Desintegration, des Zerfalls, sowie ethnonationaler Reorientierungen und Ausgrenzungen spielen die ethnischen Bevölkerungsanteile und ihre Veränderungen plötzlich eine explosive politische Rolle. So wie die slawischstämmigen Makedonier in diesem Vorort möglicherweise herausgedrängt worden sind, werden sie vielleicht auch einmal aus ganz Makedonien herausgedrängt werden. Solche übertriebenen Ängste können Gewalt und Unterdrückung hervorrufen und davon müssen die Albaner scheinbar unbillig viel ertragen.

Die Repression gegenüber den Albanern

Ein anderer Albaner auf der Straße erzählt uns von den Repressionen durch die makedonische Staatsgewalt. Um jedes albanische Haus sind traditionell dicke halbhohe Mauern aus Steinen und bröckeliger Erde gezogen. Die Stadtverwaltung von Skopje habe den Abriß aller dieser Mauern verlangt, weil sie nicht den baurechtlichen Bestimmungen entsprächen. Die Albaner hätten sich geweigert, woraufhin Bulldozer anrückten, um die Mauern mit Gewalt zu entfernen. Die albanische Bevölkerung hätte eine Straßenblockade errichtet, um die vorrückenden Maschinen zu stoppen; dabei sei ein Albaner umgekommen. Die Stadtverwaltung hätte ihr Ziel nur teilweise erreicht. Hiervon zeugen die Reste von zerstörten Mauern. In Einzelfällen sollen ganze Häuser dem Erdboden gleichgemacht worden sein. Ferner sei das Minarett der Moschee abgerissen worden.

Zurück auf der Hauptstraße sehen wir ungeklärte Fäkalien- und Abwasserströme in einen Rinnsal längs der Straße fließen. Die behauptete und hier auch sichtbare ökonomische Diskriminierung der Albaner in Makedonien fällt in eine Zeit allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs. Makedonien ist durch seine geopolitische Lage de facto international geächtet. Der Handel mit Serbien ist stark zurückgegangen. KSZE-Beobachter an der makedonisch-serbischen Grenze achten u.a. darauf, daß keine kriegswichtigen Güter mehr nach Serbien gelangen. Ferner ist das Land durch den Wirtschaftsboykott Griechenlands sehr hart getroffen.

Am kleinen Marktplatz schildert uns ein albanischer Lehrer die Benachteiligung der Albaner im Erziehungswesen. Von den 31 Mittelschulen in Skopje gäbe es nur eine einzige für Albaner. Der Zugang zu den anderen wäre seiner ethnischen Gruppe verwehrt, dort wäre auch die albanische Sprache verboten. Mir kommt das Gutachten Nr. 5 der EG-Schiedskommission in den Sinn. Darin wird Makedonien auf normativer, vor allem verfassungsrechtlicher Ebene ein ausreichender Minderheitenschutz attestiert. Damit hat Makedonien die Voraussetzung für eine Anerkennung durch die Mitgliedsstaaten der EG erfüllt, muß jedoch seit über einem Jahr darauf warten.

Auch der deutsche Generalkonsul, mit dem wir uns am Abend zum Essen treffen, hält das Problem der Minderheiten in Makedonien für kalkulierbar. Ich spreche ihn auf die VMRO, der deutsche Kürzel lautet IMRO (übersetzt: Innermakedonische Revolutionäre Organisation), eine starke nationalistische Partei, an. Die sei harmloser als die deutschen »Republikaner« und eher zu belächeln. Allerdings werden der IMRO großmakedonische Pläne nachgesagt, die Teile Westbulgariens und Saloniki in Griechenland mit einschließen. Das Symbol der IMRO, deren Ursprünge bis in das 19. Jahrhundert hineinreichen, ist die sechzehnzackige Sonne, die einst am Grab des makedonischen Königs Philipp II. freigelegt wurde. Der antike Herrscher verschaffte seinem Binnenstaat mit dem erfolgreichen Vorstoß zur Halbinsel Chalkidike im Jahre 357 v. Chr. erstmals einen Zugang zum Meer. Später besiegte er die verbündeten Athener und Thebaner und übernahm im Korinthischen Bund als Hegemon die Führung Griechenlands (337 v. Chr.).

Die Geschichte macht die Namensgebung des neuen Staates aus der Sicht Griechenlands so brisant. Athen weigert sich strikt, das »Land der Skopjaner« unter dem Namen »Makedonien« anzuerkennen, weil es glaubt, damit einem destabilisierenden großmakedonischen Anspruch Vorschub zu leisten. Das EG-Mitglied Griechenland erweist sich damit auch als Bremser für die Anerkennung seitens der Europäischen Gemeinschaft.

Ordnungspolitisch ist in Makedonien ein Machtvakuum entstanden, das den Begehrlichkeiten der Nachbarländer auf dieses Land nicht gerade entgegenwirkt. Nur wenige Staaten haben Makedonien bisher anerkannt, so z.B. Bulgarien und die Türkei. Allein dies aber schon zum Verdruß Griechenlands. Athen läßt vermehrt Großmanöver an der Grenze zu Makedonien abhalten. Die Republik Serbien im Norden sieht sich zunehmend als Protektor der kleinen serbischen Minderheit in Makedonien und könnte sich auch irgendwann zum Eingreifen genötigt sehen. Chauvinistische großserbische Vorstellungen schließen Makedonien durchaus ein, dessen nördliche Gebiete nach den Balkankriegen 1912/13 schon einmal zu Serbien gehörten. Bulgarien hat bisher den Staat, wohlweißlich aber nicht die »Nation« Makedonien anerkannt, deren Territorium mindestens bis in die westbulgarischen Siedlungsgebiete der Makedonier um Blagoevgrad reichen würde. Nationalistische Kreise in Bulgarien, die jedoch bislang keine Mehrheit darstellen, wünschen sich den Anschluß Makedoniens an Bulgarien. Schließlich grenzt im Westen und Nordwesten Albanien und der Kosovo an, die für Serbien wie für Makedonien das Schreckgespenst »Großalbanien« symbolisieren.

UN-Blauhelme in Makedonien

Wir besuchen das neu eingerichtete »Macedonian Command« der UN-Blauhelme im ehemaligen Jugoslawien (UNPROFOR). Die Blauhelme in einer neuen Rolle: Sie werden in ein Krisengebiet geschickt, noch bevor der Konflikt sich in kriegerische Auseinandersetzungen entlädt. Diese Form der Konfliktprophylaxe mag friedenspolitisch sogar sinnvoll sein. Das 700-köpfige Bataillon wird an der Grenze zu Serbien, den Kosovo und Albanien stationiert und soll an den Grenzen Zwischenfälle beobachten und an das UNPROFOR-Hauptquartier in Zagreb melden. Von unserer albanischen Dolmetscherin wird der freundliche Kommandant gefragt, warum nicht auch einige Trupps entlang der Grenze zu Griechenland stationiert werden. Hier verweist der Oberst auf sein begrenztes Mandat. Die Dolmetscherin schüttelt ungläubig den Kopf, daß von dem militärisch bedeutungslosen europäischen Armenhaus Albanien mehr militärische Gefahr ausgehen soll, als vom hochgerüsteten NATO-Mitglied Griechenland.

Am zweiten und letzten Tag in Makedonien begeben wir uns in die mehrheitlich von Albanern bewohnten Gebiete südwestlich von Skopje in Richtung albanischer Grenze. Wir passieren Gorce Petrov, einen Außenbezirk Skopjes. Am Straßenrand steht eine größere Menschenmenge, die von schwerbewaffneten Polizeikräften in Schach gehalten wird. Wir halten an und mischen uns unter die Leute. Nun kommt erstmals unser serbokroatischer Dolmetscher zum Zuge, denn es handelt sich bei den Demonstranten um slawische Makedonier. Zuerst sind uns die Motive des Protestes nicht klar. Dann erblicken wir auf der anderen Straßenseite ein größeres eingezäuntes Gelände, das früher von der Jugoslawischen Volksarmee genutzt wurde. Das ganze Gelände ist von Polizei besetzt. Ab und zu fahren LKWs mit Erdreich weg. Unsere aufgebrachten Gesprächspartner erklären, daß hier mit Mitteln der nordrhein-westfälischen Landesregierung Häuser für bosnische Flüchtlinge errichtet werden sollen. Das humanitäre Engagement Düsseldorfs erscheint in ihren Augen als Kolonialismus: damit die Flüchtlinge nicht nach Nordrhein-Westfalen gehen oder dort bleiben, setzt die Landesregierung die Muslime einfach der makedonischen Bevölkerung vor die Haustür. Hier mischt sich Sozialneid mit ethnischem und religiösem Haß. Die Häuser werden neu sein und von besserer baulicher Qualität als die grauen Hochhäuser der Makedonier. Den fremden Flüchtlingen wird es womöglich besser gehen, als den Einheimischen und die Anzahl der Muslime wächst ständig. So sieht es offenbar eine große Anzahl der slawischen Makedonier im angrenzenden Wohnviertel.

Die Emotionen kochen allmählich über, man unterstellt uns, daß wir aus Nordrhein-Westfalen kommen und den Bau beaufsichtigen. Von einigen werden wir mit dem deutschen Wort »Schweine« beschimpft. Als einige herausfinden, daß unter uns eine albanischstämmige Dolmetscherin ist, wird sie rüde beschimpft. Es wird uns allmählich mulmig. Wir ziehen uns in den Bus zurück und fahren in das große Siedlungsgebiet mit überwiegend albanischer Bevölkerung, welches bereits zehn Kilometer westlich von Skopje beginnt. Bei der Abfahrt erkennen wir ein Plakat mit historischen Persönlichkeiten der IMRO aus dem späten 19. Jahrhundert, Mitstreiter des IMRO-Gründers Goce Deltcev. Auf dem Plakat prangt die sechzehnzackige makedonische Sonne … In den Abendnachrichten hören wir, daß es zu Tumulten und Schlägereien gekommen sei, die Polizei setzte Tränengas ein. Unsere Delegation hat auch Erwähnung gefunden. Bei der Rückkehr nach Skopje mußten wir einen großen Umweg fahren, weil Gorce Petrov großräumig von der Polizei abgeriegelt worden war.

Im überwiegend von Albanern bewohnten westlichen Teil Makedoniens besuchen wir die »Partia Per Prosperitet Demokratik« (deutsches Kürzel: PDP), die größte albanische Partei in Makedonien. Sie stellt immerhin fünf Minister im Kabinett des jungen Ministerpräsidenten Branko Crvenkovski. Ist damit nicht eine angemessene Repräsentanz für die Belange der Albaner in Makedonien gegeben? Der Präsident der PDP, Nervat Halili, wiegelt ab. Die fünf Minister hätten entweder keinen Geschäftsbereich oder verträten unbedeutende Ressorts. Die anderen Kabinettsmitglieder könnten sie regelmäßig majorisieren. Die PDP trete nicht für einen Anschluß der kompakten albanischen Siedlungsgebiete an Albanien ein, sondern verlangt die juristische, vor allem aber faktische Gleichberechtigung der Albaner in Makedonien mit den slawischstämmigen Makedoniern, die nach der Volkszählung von 1991 64,6% der Gesamtbevölkerung Makedoniens ausmachten.

Mit den prozentualen Bevölkerungsanteilen wird Politik gemacht. Unsere albanischen Gesprächspartner sprechen von 35 bis 40% Albanern in Makedonien, die Volkszählung von 1991 nennt lediglich 21%. Spiegelfechtereien mit Zahlen lassen jedoch den Grundsatz gänzlich unberührt: Menschen- und Minderheitenrechte sind unveräußerlich und an keine Bedingungen geknüpft.

Das »Demokratische Forum für die Verteidigung der Menschenrechte und Freiheit in Makedonien« empfängt uns in Gostivar. Es wird von Albanern getragen und beobachtet die Menschenrechtssituation in Makedonien. Es wird nicht verschwiegen, daß alle politischen Gefangenen im Jahre 1992 freigelassen worden sind. Es werde allerdings nichts getan für deren Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Im Staatsapparat wie bei den Medien seien die Albaner deutlich unterrepräsentiert. Fernsehsendungen in albanischer Sprache würden nur 45 Minuten täglich laufen, das Radio sendet sechs Stunden pro Woche albanisch, es gebe für Albaner nur eine Zeitung, die zudem nur dreimal pro Woche erscheint. 80% der Staatsbediensteten seien Nichtalbaner.

Eine Synopse des Demokratischen Forums soll uns die Verschlechterung der rechtlichen Position der albanischen Bevölkerung im Spiegel der Verfassungen von 1974 und 1991 zeigen: 1974 waren die Albaner noch ein »staatsformendes Element«, also ein den Staat Makedonien mit konstituierendes Staatsvolk. In der 1991er Verfassung steht demgegenüber: „ … Makedonien (ist) als ein Nationalstaat des makedonischen Volkes konstituiert …, in dem die vollständige bürgerliche Gleichberechtigung und dauerhafte Koexistenz des makedonischen Volkes mit Albanern …, die in der Republik Makedonien leben, gesichert ist ….“ Ein anderes Beispiel bezieht sich auf den Gebrauch der albanischen Sprache. In Artikel 180 von 1974 werden die Sprachen der Nationalitäten als völlig gleichberechtigt mit der makedonischen Sprache bezeichnet. In Artikel 7 der 1991er Verfassung heißt es dagegen: „In der Republik Makedonien ist die Amtssprache die makedonische Sprache in ihrer kyrillischen Schreibweise.“ Nur in Gemeinden der lokalen Selbstverwaltung, in denen mehrheitlich Angehörige der Nationalitäten leben, kann neben der makedonischen auch die betreffende andere Sprache in öffentlichen Angelegenheiten benutzt werden.

Makedonische Menschenrechtsgruppen

Am Vorabend unserer Abreise von Skopje treffen wir verschiedene makedonische BürgerInnenbewegungen. Der Vertreter einer Menschrechtsgruppe kümmert sich um die Menschenrechte der Makedonier in Griechenland, sicher eine wichtige und ehrenvolle Aufgabe, die allerdings nicht im besten Licht erscheint, weil der Menschenrechtler eher abwertend von den Albanern spricht und die albanische Kollaboration mit Mussolinis Italien im Zweiten Weltkrieg hervorhebt.

Nicht selten auf unserer Reise im ehemaligen Jugoslawien begegnen wir der unheilvollen Verquickung von berechtigten Forderungen nach ökonomischer und demokratischer Partizipation, sowie nach Umsetzung der Menschenrechte und neuen Staatsvorstellungen, die wie eine Art Zauberformel alle Probleme zu lösen versprechen.

Im PDP-Büro sahen wir an Wänden und als Wimpel ein Wappentier, einem Adler ähnlich, mit zwei Köpfen. Auf die Frage, was dieses Wappen bedeute, sagte der Vorsitzende, es stehe für Albanien. Den Staat Albanien? Nicht nur. Das Fabelwesen steht auch für alle anderen albanischen Siedlungsgebiete, also insbesondere im angrenzenden Makedonien und Kosovo. Dann wäre ein Großalbanien – hier symbolisch vorweggenommen – nicht mehr weit. In der makedonischen Verfassung von 1974 war jeder Nationalität in Makedonien noch das öffentliche Vorzeigen der eigenen Nationalflagge erlaubt. Die neue Verfassung von 1991 beinhaltet dieses Recht bereits nicht mehr. Die Gegensätze der Nationalitäten werden deutlicher. Der Wimpel mit dem albanischen Fabelwesen erhält neue Bedeutungen, auch wenn die PDP eine Abspaltung und gar Vereinigung mit Albanien gar nicht anstrebt.

Kosovo

Die unmenschliche Unterdrückung der albanischen Frauen und Männer im Kosovo durch die serbische Staatsmacht ist ein Fakt. Die im humanitären Gestus vorgetragene Forderung nach einer staatlichen Unabhängigkeit des Kosovo kann jedoch Eskalationen auslösen, die außer Kontrolle geraten. Falls die Albaner durch Lippenbekenntnisse auswärtiger Politiker ermutigt werden sollten, für die staatliche Unabhängigkeit auf die Straße zu gehen, so werden sie unter dem Kugelhagel des schwerbewaffneten serbischen Korps in Pristina und den Spezialeinheiten des serbischen Innenministeriums verbluten – eine unerträgliche Vorstellung, die durch die allseits vorgetragene humanitäre Gesinnung nicht unwirklicher wird.

Die Forderung einflußreicher westlicher Politiker, insbesondere aus dem US-Repräsentantenhaus, nach einer Unabhängigkeit des Kosovo wird leider nur vordergründig von Menschenrechtserwägungen getragen. Hier sind vor allem geopolitische und ideologische Motive tragend. Die Sezession würde den letzten sozialistischen Betonstaat in Europa schwächen und das letzte Hindernis für die lückenlose Neuordnung des »balkanischen Raumes« durch die Hegemonialstaaten wegräumen.

Es muß befremden, wie undifferenziert und abgehoben von außen die staatliche Unabhängigkeit und Abspaltung des Kosovo gefordert wird, ohne den gefährlichen Würgegriff der serbischen Repression und die ökonomische Zerrüttung des Kosovo in Betracht zu ziehen.

Unser nächstes Ziel ist Pristina, die Provinzhauptstadt des Kosovo. Die Einreise nach Serbien, dieses geächtete Land, verläuft völlig problemlos. Am Grenzübergang ist ein weißer gepanzerter Mannschaftstransportwagen der UN-Blauhelme ständig stationiert. Das Schneegestöber wird dichter, die Kälte schneidender. Wir befinden uns im ärmsten Landesteil des ehemaligen Jugoslawien: Bereits Mitte der achtziger Jahre wurde hier fast ein Viertel weniger verdient als im Landesdurchschnitt, sogar 41% weniger als in Slowenien. Unser Reisebus durchfährt eine monotone, verschneite Hochebene. Das ist Kosovo Polje, das Amselfeld, Symbol für die Remythisierung der Politik. 1389 wurde hier das serbische Heer von den Kämpfern des Osmanischen Reiches vernichtend geschlagen. Ein sterbender serbischer Krieger wird im Augenblick seines Todes noch vom Kosovo-Mädchen mit Wein gelabt. Die »serbische Seele« liegt hier begraben. Das Motiv soll in vielen serbischen Wohnzimmern und Gaststätten als kitschiges Ölgemälde zu sehen sein. Dieser Mythos eignet sich hervorragend als emotional-irrationales Unterpfand für Chauvinismus und Repression gegen nichtserbische ethnische Gruppen, wie die Albaner, deren Bevölkerungsanteil in der ehemals autonomen Provinz der Jugoslawischen Föderation 90% beträgt. Allerdings hatte sich dieser Anteil im Laufe der Jahrzehnte zugunsten der Albaner verschoben. Nach der Volkszählung von 1991 gab es in ganz Serbien inklusive Wojwodina und Kosovo 29,4% mehr Albaner als 1981. Die Serben hatten demgegenüber lediglich einen Zuwachs von 4%. Im Kosovo selbst, wo praktisch alle Albaner Serbiens leben, hat es bis Ende der achtziger Jahre eine stete Abwanderung von Serben gegeben. Ein Wiedererwachen des albanischen Nationalismus reicht bis in Titos Jugoslawien zurück. Zu ersten Unruhen zwischen der albanischen Bevölkerungsmehrheit und der serbischen Republiksregierung war es bereits 1968/69 gekommen. Tito versuchte dem albanischen Nationalismus durch ein großangelegtes Investitionsprogramm und die Gründung einer albanischen Universität in Pristina den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die neue jugoslawische Verfassung von 1974 hatte dem Kosovo die Autonomie und einen eigenen Sitz im achtköpfigen Staatspräsidium gebracht. Die Migration der Serben aus dem Kosovo verstärkte sich mit der im gleichen Jahr erlassenen Provinzverfassung. Sie sah die Beherrschung sowohl des Albanischen als auch des Serbokroatischen für die meisten Arbeitsplätze vor. „Da eher die Albaner Serbokroatisch als die Serben Albanisch lernten, führte dies de facto zu einer Bevorzugung der Albaner und in der Folge zu einer beständigen … Abwanderungsbewegung“, formuliert Heinz Vetschera, ein österreichischer Politikwissenschaftler. Der Anteil der serbischen Schulkinder ging dramatisch zurück und zwischen 1981 und 1986 verließen nach Angaben der »Neuen Züricher Zeitung« rund 40.000 Serben und Montenegriner die Provinz.

Die Studentendemonstration gegen zu hohe Mensapreise und das brutale Einschreiten der Polizei im Frühjahr 1981 brachte wohl die endgültige Wende von einer jugoslawischen zu einer nationalen Sichtweise. Die serbisch dominierte Polizei wurde von den Albanern nämlich nicht mehr als jugoslawische, sondern als serbische Ordnungsmacht gesehen, eine Perzeption, die – mit welcher Berechtigung auch immer – Schule machen und bald auch in den nördlichen Teilrepubliken virulent werden sollte, wie in Serbien selbst, wo der Nationalismus seit der Machtübernahme Milosevics im Jahre 1986 die heftigste Ausprägung erfuhr. Die Repressionen gegen die Kosovo-Albaner nahmen zu, 1989 wurde de facto die Autonomie abgeschafft, ein Jahr später erfolgte die faktische Annexion des Kosovo durch Serbien. Die Gewalt des serbischen Staates wurde mit politischen Manifestationen, Streiks und Demonstrationen der Albaner beantwortet. Sie alle wurden brutal niedergeschlagen. Verschärfte Repressionen auf nahezu allen Gebieten gehören seit mindestens drei Jahren zum Alltag.

Pristina – eine ganz normale Großstadt im Kosovo?

Wir erreichen Pristina und sind erstaunt, eine Großstadt mit relativ modernen Hochhäusern zu sehen. Der Kulturpalast ist in seinem progressiven Pathos der Tito-Jahre schon fast wieder liebenswert. Wir sehen kein Militär auf den Straßen, keine Kontrollen, kaum Polizei. Im Zentrum der Stadt ist das riesige Fünf-Sterne-Hotel, das wir uns leisten können, weil der Geldwertzerfall die harten ausländischen Währungen begünstigt. Eine »normale« Stadt also? Wir werden am Mittag von einem unserer albanischen Gesprächspartner abgeholt. Wir gehen die Hauptstraße hoch, vorbei am trutzigen Gebäude der serbischen Provinzregierung. Nach zehn Minuten werden die Häuser niedriger, einfacher. Kleine, unverputzte Ziegelsteinhäuser, einstöckig, werden nun zur Regel. Auf einem offenen verschneiten Platz ist der Schnee schwarz vor Dohlen. Sie picken ihre Nahrung aus großen Abfallhaufen. Hier ist eine der wilden Müllkippen, mitten im Wohngebiet. Unser albanischer Begleiter lobt die eisige Kälte. Sobald es wärmer werde, im Frühjahr, könne man den Gestank kaum aushalten.

Nur 150 Meter von dieser Müllkippe entfernt liegt die einzige Krankenstation für Albaner im ganzen Kosovo – sechs Betten! Ja, es gäbe Krankenhäuser, aber für Albaner sei die Behandlung unerschwinglich teuer. Und wer möchte sich schon von einem serbischen Arzt operieren lassen?

Später treffen wir in einem Hinterhaus Mitglieder einer albanischen Menschenrechtsorganisation. Die Zahlen und Fakten, die uns genannt werden, sind niederschmetternd, auch wenn nur die Hälfte der Wahrheit entspräche. Seit dem Jahr 1981 hätten Albaner aus politischen Gründen 125.000 Jahre in serbischen Gefängnissen verbracht. Seit 30 Monaten seien alle albanischen Grundschullehrer ohne Bezahlung, vor 25 Monaten kamen alle Lehrer der Mittel- und höheren Schulen hinzu, vor 18 Monaten schließlich bekamen auch alle Hochschullehrer kein Geld mehr. Mittlerweile sind alle Mittelschulen für Albaner geschlossen, auch der Zugang zur Universität ist ihnen verwehrt. Die albanischen Lehrer dürfen lediglich die Gebäude der Grundschulen benutzen und dort ehrenamtlich Unterricht für albanische Schulkinder abhalten. Spärliche Gelder werden von der albanischen Bevölkerung für die »Löhne« gespendet, maximal 40,- DM pro Monat. Mittlerweile seien 1.150 albanische Schulklassen auf diese Weise »illegal« organisiert. Von 1987 bis 1992 sind 70% aller arbeitenden Albaner entlassen worden. Die Albaner seien auch in den Medien fast nicht mehr vertreten. An den Kiosken sehe ich eine einzige albanische Zeitung. Am 5. Juli 1990 wurde die albanische Fernsehanstalt von serbischer Polizei besetzt, in der Folge wurden 1.300 Mitarbeiter entlassen. Einst hätten 3 Kanäle 34 Stunden pro Tag albanisch gesendet, jetzt würden vier Fernsehsender keine einzige Stunde albanisch mehr bringen. Die Lebensbedingungen werden immer schlechter und demütigender – eine »ethnische Säuberungswelle« in einer Vorkriegszeit? Viele Albaner versuchen in der Tat auszuwandern. Umgekehrt ist ein Gesetz zur Ansiedlung von Serben im Kosovo mit gezielten Anreizen erlassen worden. Die neuen »Mitbürger« sind in der Regel serbische Offiziere und Polizisten.

An vielen Plakatwänden und Häuserwänden sieht man das Wahlplakat des Kandidaten Zelko Raznjatovic, der sich am 20. Dezember 1992 für das serbische Parlament im Kosovo bewarb und schließlich für seine Bewegung fünf Sitze in Belgrad errang. Dieser lächelnde Mann im blauen Anzug ist »Arkan«, ein international zur Fahndung ausgeschriebener Verbrecher, der u.a. von Interpol gesucht wird. Arkan befehligt eine besonders brutale paramilitärische Einheit, die autonom agierend in den kroatisch-bosnischen Kriegsgebieten Greueltaten verübt. Zur Zeit unseres Aufenthaltes in Pristina kämpfte seine Truppe gerade in der kroatischen Krajina gegen die kroatischen Streitkräfte. In einem Nebenzimmer der Rezeption des besten Hotels von Pristina sehen wir denselben Arkan auf einem anderen Plakat in militärischer »Wojwod-Uniform« mit Säbel als serbischer Führer, darunter ein Schriftzug „Serbien soll wieder lächeln…“. Die Kehrseite dieses »Lächelns« sehen wir auf Farbphotos von mißhandelten AlbanerInnen, die uns die albanischen MenschenrechtlerInnen vorlegen. Diese Eindrücke lassen uns verstummen und treiben uns die Blässe ins Gesicht.

Am Abend gibt es ein Treffen mit der LDK (Demokratischer Bund Kosovos), die größte politische Kraft der Kosovo-Albaner mit 700.000 Mitgliedern – nach eigenen Angaben. Die LDK und ihr Vorsitzender Rugova streben die staatliche Unabhängigkeit des Kosovo und Abspaltung von Serbien an. Es gäbe kein Zurück mehr, der serbische Druck sei unerträglich geworden, die Geduld der Albaner gehe zu Ende. Werden die Albaner, die selbst keine Waffen haben und wehrlos sind, in ihrer Verzweiflung serbische Depots stürmen und sich die Waffen besorgen? Auch die serbischen Soldaten im Kosovo fürchten sich natürlich. Noch herrscht hier ein äußerst labiles Gleichgewicht der Angst.

Belgrad

Wir machen uns auf den Weg nach Belgrad. Bei Nis fahren wir auf die einzige Autobahn Ex-Jugoslawiens, normalerweise die Lebensader des Landes. An diesem verschneiten Wintertag ist die Autobahn leer, alle fünf Minuten kommt uns ein Auto entgegen. Dieses Faktum spricht mehr Bände als detaillierte Statistiken. Die ökonomischen Austauschverhältnisse in Serbien sind buchstäblich eingefroren.

Das totale Handelsembargo der UNO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien hat nicht nur die industrielle Basis Serbiens paralysiert, sondern treibt auch die Kosovo-Albaner unter den Rand des Existenzminimums. Hinzu kommt noch die ökonomische Diskriminierung durch Belgrad.

Das Embargo trifft alle gleich hart – die Opposition, die nichtserbischen ethnischen Gruppen. Nur die Herrschenden profitieren, können mit ihrer Medienmacht von eigenen Fehlern ablenken und für alle Mißstände dieses Embargo verantwortlich machen. Viele Delegationsmitglieder äußerten vor Reisebeginn eher Verständnis für die Handelssanktionen. Nach den Eindrücken und Gesprächen in Pristina und Belgrad waren die embargokritischen Stimmen durchgängig.

Wer in ein Lebensmittelgeschäft in Belgrad geht, sieht leidlich volle Regale, aber kaum Kunden. Die Preise sind exorbitant. Für ein Kilo Bananen bezahle ich Ende Februar 1993 20.000 Dinar, ein großes Glas lösliches Kaffeepulver ist für den Einheimischen praktisch unerschwinglich: 140.000 Dinar, 1/5 des Monatslohns eines Arbeiters. Die Inflationsrate dürfte mittlerweile weltrekordverdächtig sein: 12.000% im Jahr, also über 30% pro Tag, mit steigender Tendenz, berichten uns Einheimische.

Zweifelhaftes Embargo

Die Friedensgruppe in Novi Sad, die mit ihren bescheidenen Mitteln 14tägig eine Zeitung herausgibt, kann von den Einnahmen nicht einmal die Hälfte der Unkosten für die nächste Ausgabe bezahlen.

Mit dem Embargo soll die Regierung Milosevic in die Knie gezwungen werden. Das Gegenteil wird allerdings bewirkt. Die Bevölkerung der Republik Serbien wird in einer künstlichen Gemeinschaft der Angst gehalten, die entweder zu einem radikalen Nationalismus oder zur politischen Apathie führt. Der tägliche Kampf der BelgraderInnen um ihr Überleben verhindert Opposition. Der propagandistische Verweis staatlich gelenkter Medien auf die negativen Folgen des Embargos erhält leider argumentative Schützenhilfe durch die offensichtlich einseitige Anwendung der Sanktionen.

Die Offensive der kroatischen Streitkräfte in die Krajina, Ende Januar 1993, war ein klarer Bruch der Waffenstillstandsvereinbarung vom 3. Januar 1992. Dennoch muß die Republik Kroatien nicht mit negativen UN-Sanktionen rechnen.

Die Diskussionen um eine Ausweitung des Embargos auf Post und Telekommunikation, also in Richtung Totalisolierung Serbiens, aber auch die breiter werdende Anzahl derer, die eine umfassende militärische Intervention in Bosnien-Herzegowina und Strafaktionen gegen Restjugoslawien fordern, müssen friedenspolitisch und aus humanitären Gründen befremden. Wo ist das Konzept, daß auch die Wiedereingliederung Serbiens in das Europa der Nachkriegszeit reflektiert? „Serbien muß sterbien“ war der Ruf im Ersten Weltkrieg, aber jeder muß im KSZE-Europa wissen, daß man Serbien nicht einfach abschaffen kann. Die Volkswirtschaft des Landes ist durch das Embargo bereits zerschlagen, die industrielle Produktion nahezu lückenlos lahmgelegt. Wo die Maschinen nicht mehr laufen und gewartet werden können, werden sie dem Verfall überlassen. Das trifft sicher auch die militärischen Fähigkeiten der Jugoslawischen Streitkräfte, es trifft aber vor allem die Chancen für eine zivile Entwicklung in der Nachkriegszeit. Die serbische Wirtschaft ist jetzt bereits um Jahrzehnte zurückgeworfen. Armut und Verelendung breiter Bevölkerungsschichten ist schon jetzt offensichtlich und wird die Zukunft bestimmen.

Vor allem aber werden im kollektiven Gedächtnis vieler – nicht nur ausgesprochen nationalistischer – SerbInnen die Strafaktionen als Demütigung durch auswärtige Mächte haften bleiben. Auch militärische Schläge werden den Nationalismus nicht aus serbischen Köpfen bomben können.

Die humanitäre Balance ist aus dem Ruder gelaufen. Hilfe kommt aus die Bundesrepublik in Jugoslawien nur unzureichend an. Allein Serbien hat nach Angaben seines Kommissariats für Flüchtlinge zum 31. Januar 1993 575.000 Flüchtlinge registriert und aufgenommen. Das UNHCR Zagreb bestätigt diese Größenordnung, obwohl seine Zahlenangaben etwas niedriger liegen. Hinzu kommen noch etwa 150.000 bis 200.000 unregistrierte Flüchtlinge.

Die Schwierigkeiten, Hilfsgüter nach Serbien zu bringen, liegen an den langen Genehmigungsverfahren. Private Hilfslieferungen aus Deutschland müssen lückenlos inventarisiert dem Bundesamt für Wirtschaft zur Genehmigung vorgelegt werden. Bis zum Genehmigungsbescheid können vier Wochen vergehen.

Häufig wird das Rote Kreuz des Absenderlandes eingeschaltet, das sich erst beim UN-Embargokomitee die Erlaubnis für die Hilfssendungen besorgen muß. Nach der Genehmigung wendet sich der Absender mit eingereichten Papieren an Spediteure, die für Überfahrten nach Serbien zugelassen sind. Diese Prozeduren dauern lange und werden nur wegen des Handelsembargos notwendig.

Die Vorsitzende des Serbischen Roten Kreuzes räumt unserer Delegation gegenüber ein, daß sich die ausländische Hilfe etwas verbessert hat. So sei der Anteil des Volumens der Flüchtlingshilfe von internationalen Organisationen (vor allem: IKRK, UNHCR, UNICEF, EG, Roter Halbmond) gegenüber der nationalen Hilfe von 10% auf 30% gestiegen. Dies läge allerdings auch daran, daß die nationalen Mittel immer mehr zurückgehen. Der UNHCR betreibt in Zusammenarbeit mit dem Serbischen Roten Kreuz neun regionale Magazine über das ganze Land verstreut, um eine wirksame Verteilung der Hilfssendungen zu gewährleisten. Der UNHCR stellt auch LKWs für den Transport der von ihr Monat für Monat gelieferten 12.000 Tonnen Nahrungsmittel. Daneben hilft die UN-Flüchtlingsorganisation auch bei dem Umbau und der Errichtung von sogenannten »kollektiven Unterbringungszentren«, deren Beheizung wegen der Embargosituation jedoch immer wieder ungesichert ist.

Trotz dieser positiven Ansätze ist die Situation vieler Flüchtlinge in der Republik Serbien verzweifelt. Fast 97% sind in Familien untergebracht, die sich wegen des Embargos und der desolaten wirtschaftlichen Lage kaum noch selbst ernähren können. Hinzu kommt, daß eine Durchschnittswohnung in Belgrad lediglich 40 qm umfaßt und die überwiegende Anzahl der Flüchtlinge zumeist bei den niedrigen sozialen Schichten anzutreffen ist. Der Extremfall in Belgrad liegt bei 20 Personen pro Wohnung. Mittlerweile liegen den Behörden 286.000 Anträge von betroffenen Familien auf kollektive Unterbringung vor. Diese Unterbringungsmöglichkeiten sind jedoch wegen der fehlenden finanziellen Möglichkeiten nicht vorhanden. Nun wird befürchtet, daß die Familien die aufgenommenen Flüchtlinge im Frühjahr aus purer Verzweiflung einfach vor die Tür setzen.

Die Hilfsorganisationen sollten alles unternehmen, um diesen Exodus zu verhindern. Denn die Benachteiligung der Republik Serbien in humanitären Fragen ist frappierend: Obwohl Serbien 25% aller aus den Jugoslawienkriegen erwachsenen Flüchtlinge aufnimmt, erhält sie nur 14% der gesamten Flüchtlingshilfe.

Selbstbestimmungsrecht, Unabhängigkeit und Menschenrechte

Es gibt in der Diskussion um die Jugoslawienkrise niemanden, der die Dringlichkeit humanitärer Hilfe in einem tragfähigen friedenspolitischen Konzept verortet. Dieses Konzept hätte die Möglichkeiten und Grenzen des Staates als immer noch dominierende Bauform der internationalen Politik mitzureflektieren.

Meistens wird vergessen, daß mit der Schaffung neuer Staaten das Problem der Repression und des Machtmißbrauchs durch herrschende Eliten nicht gebannt ist. Um es drastisch auszudrücken: Ob die Kosovo-Albaner von Mitgliedern der eigenen ethnischen Gruppe in einem unabhängigen und souveränen Kosovo unterdrückt werden oder vom serbischen Staat in einem abhängigen Landesteil Serbiens ist aus menschenrechtlicher Sicht egal. Nun wird die Unabhängigkeit des Kosovo auch von humanitär gesinnten Persönlichkeiten deswegen gefordert, weil sie eine Verbesserung der Aussicht verspricht, daß sich die Menschenrechtssituation der Albaner dramatisch verbessert. Dies mag stimmen, ist jedoch keine zwangsläufige Entwicklung. In vielen Staaten mit einer formaldemokratischen Verfassung ist die Menschenrechtssituation nicht zufriedenstellend, ja werden Menschenrechte zuweilen mit Füßen getreten. Der schillernde Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker erweist sich als abgehobenes Recht, neue Staaten zu bilden, die als solche noch keineswegs die Gewähr gegen Diskriminierung und Benachteiligung einzelner Bevölkerungsgruppen bieten.

Wir sprechen mit Sonja Licht, eine Schlüsselfigur der europäischen BürgerInnen- und Friedensbewegung. Ihre Analyse der Situation ist wohltuend rational und hebt sich von den Stellungnahmen anderer ZeitgenossInnen ab. Sie redet einer raschen Unabhängigkeit des Kosovo nicht das Wort, sieht dabei lediglich ein Spiel mit dem Feuer, weil die serbische Reaktion Krieg bedeuten würde, in dem alle Verlierer sind. Friedhöfe sind unzulängliche Orte für die Wahrung der Menschenrechte. Die stellvertretende Vorsitzende der Helsinki Citizen's Assembly betont die Notwendigkeit der ökonomischen Emanzipation der Albaner. Sie fordert das Ausland und deren Unternehmen zu Direktinvestitionen in albanischen Klein- und Mittelbetrieben auf und eine Aufhebung der Sanktionen gegenüber dem Kosovo sowie Gewährung von Wirtschaftshilfe. Eine Autonomie des Kosovo sieht sie als unabdingbar an.

Freilich stellt sich auch bei mir die Frage der Praktikabilität. Wie könnte Serbien es zulassen, daß die meisten ausländischen Ressourcen nach Pristina gehen und Belgrad leer ausgeht? Eskalationsrisiken gibt es bei nahezu allen Vorschlägen. Sonja Lichts Betrachtungen sind jedoch eher evolutionärer, mittel- bis langfristiger Natur. So spricht sie etwas aus, was in der Zwergstaatenmentalität in Ex-Jugoslawien derzeit wohl eher verpönt ist: Die Logik der ökonomischen Zusammenarbeit könnte in der weiteren Zukunft (wieder) zu einer jugoslawischen Konföderation führen. In ökonomischer Hinsicht haben in der Tat sämtliche neue Staaten des ehemaligen Jugoslawien dramatisch verloren. Der jugoslawische Binnenmarkt ist zerstört, die neuen, auf dem Weltmarkt allein kaum konkurrenzfähigen Republiken begeben sich wie nie zuvor in die außenwirtschaftliche Abhängigkeit von Hegemonialmächten. Slowenien fühlt sich inzwischen alleingelassen und eine Aufnahme der beiden Nordrepubliken in die Europäische Gemeinschaft ist unkonkrete Utopie.

Sonja Lichts Ehemann Milan Nikolic, der Vorsitzende einer kleinen sozialdemokratischen Partei und Geisteswissenschaftler, erarbeitet derzeit für die UNO eine Studie über die Politische Ökonomie des Zerfalls Jugoslawiens. Eine seiner leitenden Hypothesen ist, daß im ehemaligen Jugoslawien keine Ausbeutung der einen durch eine andere Teilrepublik stattgefunden habe. Vielmehr habe gerade der Fond für Entwicklung ausgleichend gewirkt, nicht zuletzt der rückständige und ländliche Kosovo machte durch ihn eine rasante wirtschaftliche Entwicklung durch. Die vorhandenen Disparitäten führe Nikolic auf endogene Standortfaktoren zurück.

Sonja Licht sieht im Auseinanderfallen Jugoslawiens denn auch weniger ökonomische, sondern nationale Ursachen. Nicht zuletzt Nationalisten der Nordrepubliken hätten scheinbar stichhaltige ökonomische Argumente benutzt, und damit bewußt oder unbewußt sezessionistischen Tendenzen Vorschub geleistet. Inwieweit der Ressourcenabfluß von Nord nach Süd im ehemaligen Jugoslawien nicht doch ohne ausreichende Kompensation und politische Honorierung erfolgte, bleibt sicherlich historisch kontrovers.

Friedenskultur

Sonja Licht kommt zu ihrem zentralen Thema, der Entwicklung einer civil society in Europa, gerade auch in Serbien. Eng damit verbunden ist die Vorstellung einer Friedenskultur, die in Serbien noch eher in den Kinderschuhen steckt. Jahrzehntelang schien Jugoslawien als Führer der Blockfreien eine globale Friedensmacht zu sein; eine entwickelte Friedenskultur im Innern schien daher überflüssig. Die Blockfreien haben nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ihre Bedeutung verloren, Jugoslawien ist zerfallen. Sonja Licht verweist auf das schlummernde gesellschaftliche Potential in Serbien. Über 100.000 Leute seien im Frühjahr gegen die Bombardierung Sarajevos in Belgrad auf die Straße gegangen. Es gibt einen breiten passiven Widerstand gegen die Reservisteneinberufungen in die Jugoslawischen Streitkräfte. Landesweit würden nur 43% der Reservisten ihren Einberufungsbescheiden Folge leisten. In Belgrad allein verweigern sich 90% den Einberufungen! Der deutsche Generalkonsul nennt uns die Zahl von 120.000 anhängigen Desertionsfällen, die sich mittlerweile seit über einem Jahr angesammelt haben. Diese Flut kann kein Gericht mehr bewältigen. Sonja Licht möchte die Aufmerksamkeit auf die beachtliche Wirkung dieser Friedensbewegungen auf die politische Kultur des Landes lenken. Zahlreiche Oppositionsparteien haben zentrale friedenspolitische Forderungen in ihr Programm aufgenommen. Bei den Parlamentswahlen hätten immerhin 35% für Panic, also gegen den kriegsfördernden großserbischen Nationalismus gestimmt.

Die kulturellen Aktivitäten Sonja Lichts in einem sich ständig vergrößernden Netzwerk einer zivilen Gesellschaft sind langfristig angelegt. So initiiert die Soros Foundation, in der die Soziologin federführend mitarbeitet, Projekte zur Flüchtlingskinderbetreuung unter dem Motto »Let's live together«. Die Gründerin des Antikriegszentrums Belgrad, Vesna Pesic, berichtet uns von einem pädagogischen Projekt, das militaristische und ethnizistische Tendenzen in Schulbüchern nachweisen und neue Schulbücher konzipieren soll, die der Entwicklung einer Friedenskultur dienlich sind. Der Belgrader Klub von kritischen Intellektuellen hat ein Forum gegen Diskriminierung mit SOS-Notruf für Diskriminierte, insbesondere nichtserbischer Nationalitäten eingerichtet. Vielfach wird vergessen, daß neben den Serben in den Grenzen der heutigen Republik Serbien noch 34,2% der Gesamtbevölkerung 16 anderen Ethnien, darunter Albaner, Magyaren, Rumänen, Bulgaren, Slowaken, Ruthenen u.a. angehören. Von den Flüchtlingen in der Republik Serbien sind nach offiziellen Angaben immerhin 15,8% Nichtserben, davon 36.000 Muslime und 9.000 Kroaten.

Der Krieg in Bosnien-Herzegowina hat das lähmende Politikparadigma des Ethnonationalismus hoffähig gemacht. Selbst der Vance-Owen-Plan mit seiner Kantonalseinteilung der Kriegsrepublik folgt tendenziell der Logik »ethnisch reiner« Gebiete. In der Behörde des serbischen Flüchtlingskommissars sehen wir gemeindescharfe Karten mit der ethnischen Verteilung und ethnischen Zuordnung der Grundbucheintragungen. Dieses Paradigma läßt vergessen, daß die multikulturellen, überethnischen Bezüge auch in diesem grausamen Krieg fortbestehen, wenn auch in reduzierter, teilweise kaum noch erkennbarer Form. Die »ethnische Reinheit« ist allein schon deswegen eine Fiktion, weil es auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawien 35% Mischehen gibt.

Wir besuchen den Humanitarian Law Fund, eine Nichtregierungsorganisation in Belgrad zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Ihre Vorsitzende Natasa Kandic nennt Beispiele von fortbestehenden Solidarzusammenhängen im Schatten der Kriegsgreuel. Immer wieder hätte sie Zeugnisse über bosnische Serben, die bosnische Muslime in den Kriegsorten vor anrückenden serbischen Einheiten bei sich verstecken und umgekehrt. In einer von muslimischen Soldaten besetzten Kaserne in Sarajevo seien dreizehn serbische Mädchen gefangengehalten und regelmäßig vergewaltigt worden. Eine muslimische Köchin, die dort arbeitete, hätte unter hohem Risiko einem serbischen Mädchen zur Flucht verholfen.

Nichts liegt dem Humanitarian Law Fund ferner als ethnische Parteinahme. Akribisch werden die Kriegsverbrechen dokumentiert, Opfer und womöglich Täter ermittelt, wenn möglich mit Namen. Auch der Kreis der Drahtzieher und Befehlshaber soll in kriminalistischer Detailarbeit eingegrenzt werden. Der Fund befragt Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet, und besitzt auch das Vertrauen derjenigen Muslime, die sich nicht mehr anders zu helfen wissen, als in der Republik Serbien Zuflucht zu suchen. Natasa Kandic begreift die Kriegsverbrechen als individuelle Straftaten, die Einzelpersonen verüben, die identifizierbar sind und einem Tribunal zugeführt werden sollen, so ein Fernziel. Der Fund möchte identifizieren und dokumentieren. Die Exekutive und Jurisdiktion müßten andere legitime Organe wahrnehmen. In Vorbereitung ist eine umfangreiche Dokumentation über Kriegsgreuel in der Region Foca. Dort haben serbische paramilitärische Gruppierungen und Einheiten der bosnischen Serben einen Dauerterror gegen die überwiegend muslimische Bevölkerung ausgeübt. Zum Schluß waren die Muslime froh, daß sie von den Marodeuren die »Erlaubnis« erhielten zu fliehen.

In Heft 2/93 erscheint der zweite Teil des Berichtes, in dem es um die Kriegsschuldfrage, um das Flüchtlingselend und um die letzte Station der Reise »Zagreb« geht.

Michael Kalman ist Mitarbeiter im Institut für Friedenspolitik, Weilheim e.V.

Gewaltpotentiale in der ehemaligen UdSSR

Gewaltpotentiale in der ehemaligen UdSSR

von Andrej Fadin

Nach Einschätzung des russischen Generalstabes existieren gegenwärtig auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR mindestens 70 real oder potentiell gewaltförmige Konflikte. Dies sind keine Kriege im eigentlichen Sinne, Perioden aktiver Kampfhandlungen werden häufig durch längere Ruheperioden oder Zeiten »bewaffneten Friedens« abgelöst und die Gewalt in den Konfliktgebieten sind nicht nur auf Kampfhandlungen der verfeindeten Seiten beschränkt. Gewalt durchdringt das Innere der jeweiligen Gemeinschaften, erstreckt sich auf die »eigenen Leute«, wird zum Element ihres Alltags und zum organischen Bestandteil der politischen Kultur. Noch weniger kann man das, was vor sich geht, als »Revolution« bezeichnen, da in vielen der betroffenen Gesellschaften die soziale Hierarchie unverändert bleibt.

Deshalb verwende ich der Einfachheit halber bei der Analyse der gegenwärtigen Welle der Gewalt auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR den mit vielen Assoziationen verbundenen Terminus »Violencia«. Im Kolumbien der 40er Jahre entstanden, widerspiegelt dieser Begriff alle Sphären des Lebens durchdringende, brutale sozialpolitische Gewalt.

Das Geschehen auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR kann man als Prozeß der Reorganisierung dieses Gebietes im Zuge der Genese neuer, postimperialer nationalstaatlicher Hierarchien interpretieren. Dieser im 20. Jahrhundert in seinen Maßstäben, Tiefe und Dynamik beispiellose Umgestaltungsprozeß wird aller Wahrscheinlichkeit nach über viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte – real also die aktive Lebenszeit der heute lebenden Generation – andauern.

Langwierigkeit, Schärfe und scheinbare »Irrationalität« des Umstrukturierungsprozesses des euro-asiatischen Raumes werden nicht nur durch seine gigantischen Ausmaße, die kulturelle Heterogenität und seine Lage im Zentrum verschiedener weltpolitischer Kraftfelder bestimmt: Der Zerfall des Imperiums bedeutete eine Öffnung dieses Raumes, welcher nun durch mächtige äußere Kraftfelder quasi auseinandergerissen wird. Eine derartige Öffnung gegenüber äußeren Einflüssen zerstört die traditionell geopolitisch ausgerichtete national-politische Hierarchie und erschwert die Prozesse einer neuen Hierarchisierung.

Andererseits hat das Veschwinden des sowjetischen Pols tiefgreifende Veränderungen im Weltsystem ausgelöst. Der bis dahin stabile äußere Kontext, der die Rolle eines starken strukturierenden Kraftfeldes spielen konnte, gehört der Vergangenheit an. Damit stellt er bei weitem keinen eindeutig stabilisierenden Faktor mehr dar, sondern kann innere Kräfteverhältnisse nachhaltig destabilisieren. Anschaulich sichtbar ist diese Tendenz z.B. am Beispiel der rumänisch-moldowischen oder türkisch-aserbaidshanischen Bezeihungen.

Offensichtlich ist, das von der Dauer, Intensität und den Ausmaßen der Gewaltwelle auf den Trümmern des Imperiums in bedeutendem Maße das Schicksal Rußlands abhängt. Damit ist auch die Zukunft Europas und – in gewisser Weise – die gesamte Welt betroffen. Um die Chancen für ein Abflauen der scheinbar unendlichen Welle von nationalen Kriegen und Konflikten an den Grenzen Rußlands analysieren zu können, müssen Antworten auf eine Reihe von Schlüsselfragen gefunden werden:

Welche makrosozialen und politischen Prozesse bilden die Grundlage für Gewalt? Wer sind die sozialen Hauptakteure der Gewalt, wer kämpft wofür in den verschiedenen Konflikten auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR? Welche Prozesse und Akteure werden in welcher Situation eine »Befriedung« fördern?

Die soziale Basis der Gewalt

In sozialer Hinsicht – wie Konfliktforscher längst festgestellt haben – ernährt der Krieg sich selbst, ist es wesentlich einfacher, einen Krieg zu beginnen, als ihn später zu beenden. In den von Konflikten erfaßten Regionen der ehemaligen UdSSR haben sich bereits Interessensgruppen gebildet, deren Schicksal mit dem Krieg verbunden ist, einige sind direkt am Krieg interessiert. Dazu gehören nicht nur die neuen militär-politischen Eliten, sondern auch ein Teil der Geschäftswelt, welcher von der totalen Versorgungsknappheit, von Lebensmittel-, Treibstoff- und Waffenlieferungen an die Konfliktparteien profitiert.

Flüchtlinge

Wenig beachtet wird bisher der eigentlich offensichtliche Fakt, daß es bereits große Bevölkerungsgruppen gibt, die an der Festschreibung der bisherigen Ergebnisse der Konflikte interessiert sind. Das sind jene, denen es möglich war, das Land, Immobilien und das sonstige Eigentum der die jeweilige Republik verlassenden Flüchtlinge an sich zu bringen. Hunderttausende Osseten und Georgier, Armenier und Aserbaidshaner, Usbeken und Tadshiken haben auf der Flucht vor Verfolgung ihre bestellten Felder und Gärten, ihre Häuser und eingerichteten Wohnungen, Vieh und sonstiges Eigentum zurückgelassen. Alles dies fiel ihren früheren Nachbarn, besonders »aktiven Privatisateuren« oder mafia-artigen Organisationen zu.

Die Flüchtlinge selbst sollten als Betroffene eigentlich zu den entschiedensten Gegnern von Gewalt gehören. In Wirklichkeit ergibt sich jedoch ein völlig anderes Bild.

Die Flüchtlinge finden sich ohne reguläres Einkommen im Kellergeschoß der sozialen Pyramide wieder. Für die meisten bedeutet dies den Zusammenbruch ihres bisherigen Lebens, eine psychologische Katrastrophe, verschärft dadurch, daß es für sie keinerlei absehbare, reale Perspektiven der Wiederherstellung der früheren sozialen Stellung gibt. Die formal existierenden Systeme der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen funktionieren faktisch nicht. Die Menschen leben jahrelang auf Bahnhöfen, in Zelten und überfüllten Aufnahmeheimen.

Die Tragik der Situation besteht darin, daß ihre objektiven Interessen (Rückkehr in die Heimatgebiete oder wenigstens eine entsprechende Kompensation) in den meisten Fällen nicht durch Kompromisse, sondern durch eine Revanche nach dem Sieg im Konflikt erreicht werden können. So bildet sich auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das »palästinensische Paradigma« heraus: Nach ihrer Vertreibung werden die Flüchtlinge zu einer chronischen Quelle der Gewalt, ihrem Träger und demographischen Hauptpotential. Gerade aserbaidshanische Flüchtlinge waren die Hauptkraft der anti-armenischen Pogrome in Baku und Gindsho. Ihrerseits bildeten Flüchtlinge aus den von der aserbaidshanischen Armee eroberten Dörfern den Kern der armenischen bewaffneten Gruppen im Karabach und entlang der armenisch – aserbaidshanischen Grenze. Dasselbe geschah auf beiden Seiten der Front in Südossetien und Abchasien.

Verständlich wird in diesem Zusammenhang auch, warum beispielsweise Flüchtlinge aus Tadshikistan die Aufnahme in Usbekistan verweigert wurde: Die Regierung fürchtete, daß die Flüchtlinge wie ein Katalysator auf alle inneren Widersprüche der usbekischen Gesellschaft wirken würden.

Das Militär

Ein anderes, ebenso gefährliches, jedoch zahlenmäßig nicht so starkes soziales Produkt des Krieges sind die in den Strudel der inneren Konflikte hineingezogenenen Angehörigen der ehemaligen Sowjetarmee. Die vor ihnen stehenden Probleme sind beinahe unlösbar.

Während ihres manchmal jahrzehntelangen Dienstes in den Unionsrepubliken der UdSSR sind sie buchstäblich mit der Erde dort verwachsen, besitzen Haus und Land. Für viele bedeutet der Abzug aus diesen Gebieten minimal den Verlust des Wohnraumes, oft eine irreparable Lebenskatastrophe, den Zusammenbruch des mit viel Mühe hergestellten Lebensstiles, ein kolossales Absinken von Lebensqualität und -standard. Der Tausch einer Wohnung in Riga, Tallinn oder Tblissi gegen ein einfaches Zelt im Gebiet Pskow oder eine kalte Kaserne ohne Wasserleitung und Kanalisation in Abakan – dies ist für die meisten die reale Perspektive. Die Einheiten des berühmt-berüchtigten Rigaer OMON (Sondereinheiten des sowjetischen Innenministeriums) wurden, beispielsweise, nach Surgut und Tjumen (Westsibirien) verlegt. Ihr Schicksal zeigt anschaulich, gegen welche Zukunft diese Kräfte real gekämpft haben.

Weiterhin hängt ein Großteil der Lebensqualität (Wohnraum, Wochenendhäuser, Grundstücke, die Versorgung mit allen möglichen ansonsten knappen Waren) der provinziellen Generäle traditionell von den örtlichen zivilen (früher: Partei-) Verwaltungen ab. Ein offener Konflikt mit diesen Kräften bedeutet für die Generalität einen automatischen Entzug all dessen und stellt unter Umständen eine Bedrohung ihrer Familien dar. Fälle von Erpressung der Militärs mit Drohungen gegen ihre Familien werden regelmäßig in nahezu allen Konfliktregionen bekannt.

Gerade der Kompromiß der provinziellen Generäle (früher der sowjetischen, heute der russischen) mit den örtlichen politischen Eliten führte mehrfach zur Teilnahme von Armeeeinheiten in national-staatlichen Konflikten auf Seiten der Republik ihrer Stationierung. Das anschaulichste Beispiel hierfür sind die Operationen der 4. Armee (seit fast 20 Jahren in Aserbaidshan stationiert) gegen armenische Siedlungen in Karabach (Mai 1991). Ihrerseits führten Kampfhubschrauber der in Armenien stationierten russischen 7. Gardearmee in der Folgezeit (Herbst 1992) Schläge gegen Positionen der aserbaidshanischen Armee. Es entsteht also eine Situation, in der russische Militärangehörige (nicht nur ehemalige, sondern in Ausübung ihres Dienstes!) gleichzeitig auf beiden Seiten aktiv an einem Konflikt teilnehmen.

Die beiden am meisten verbreiteten Formen der Teilnahme von Militärs an den Konflikten sind jedoch die Übergabe (der Verkauf) von Waffen und Söldnertum.

Bei der Tiefe des gegenwärtigen Chaos' und Desorganisation der Verwaltung ist es unmöglich festzustellen, welcher Teil der Waffen in den Händen von Dutzenden verschiedenen »Regierungen«, unterschiedlichen nationalen »Milizen«, militarisierten pollitischen Gruppierungen und einfach Banden von ihnen geraubt (»nationalisiert«) wurde, welcher Teil einfach beim Abzug der Truppen verloren ging, und welcher Teil an die örtlichen Machthaber verkauft oder gegen irgendeine »Vergütung« überlassen wurde. Fakt ist, daß das Niveau der Bewaffnung vieler dieser Regierungen weit über den Erwartungen der Militärspezialisten liegt. Einige von ihnen haben durchaus das Niveau eines kleinen europäischen Staates erreicht. Die russische Armee ließ allein beim Abzug aus dem kleinen Tschetschenien, dessen selbsterklärte Unabhängigkeit von keinem Staat der Erde anerkannt wurde, immerhin 165 Panzer (darunter modernste), ca. 25 Flugzeuge, Millionen Einheiten Munition und eine ungezählte Anzahl von Handfeuerwaffen zurück.

Das Vorhandensein einer derartigen Zahl von Waffen in einem Land, dessen gesamte männliche Bevölkerung während des Wehrdienstes eine insgesamt nicht schlechte militärische Ausbildung erhielt und teilweise (über eine Million Menschen) Kampferfahrung im Afghanistan-Krieg sammeln konnte, läßt die Aufstellung einer Vielzahl verschiedener »Armeen« wahrscheinlich erscheinen.

Auch die für die Durchführung komplizierter taktischer Operationen (etwa den Angriff der Abchasen auf Gagra im Oktober 1992) und die Bedienung moderner Waffensysteme (etwa die »georgischen« und »aserbaidshanischen« Bomber SU-25 oder Hubschrauber Mi-24) nötigen hochqualifizierten militärischen Spezialisten stellt die zerfallende Sowjetarmee im Überfluß zur Verfügung.

Die Rede ist hier nicht nur von purem Söldnertum, oft stellt der Dienst in fremden Armeen lediglich die Lösung jener lebenswichtigen Probleme dar, welche die russische Regierung nicht zu lösen im Stande ist.

Die Entwurzelten

Die Dauer und das Ausmaß der Konflikte sind selbst schon Faktoren, die ihnen selbsttragenden Charakter verleihen. In den bisher langandauernsten Konflikten (im Berg-Karabach und in Ossetien) ist bereits eine ganze Generation herangewachsen, die ins bewußte Leben mit der Waffe in der Hand eingetreten ist und außer an Waffen keinerlei Ausbildung erfahren hat. Ein gewöhnliches Arbeitsleben erscheint diesen Jugendlichen nüchtern und langweilig im Vergleich mit den heldenhaften Kriegstagen. Diese Menschen sind nicht mehr in der Lage, selbst die Waffen niederzulegen.

Augenzeugen berichten, daß in Südossetien bereits nach Verkündung des Waffenstillstands eine Gruppe von fünfzehnjährigen Halbwüchsigen nachts abwechselnd die Stellungen der georgischen und ossetischen Truppen beschossen hat und, als zwischen beiden der Schußwechsel begann und die örtliche Bevölkerung sich in Kellern in Sicherheit brachte, in aller Ruhe Wohnungen ausraubte. Diese Jungen endeten tragisch – sie wurden von ossetischen Truppen aufgegriffen und erschossen, vorher jedoch waren in den von ihnen provozierten Schußwechseln Dutzende Menschen gestorben.

Der Zerfall der sozialen Hierarchie, der Verlust von Autoritäten, das Chaos und der Krieg aller gegen alle bringen aus traditionellen Gemeinschaften neue Führerpersönlichkeiten hervor. Der Krieg verleiht den Feldkommandeuren und militärischen Führern unbedingte Autorität und macht ihre Stellung in der Gesellschaft unangreifbar. Für viele von ihnen würde der Frieden automatisch den Abstieg – und nicht nur um eine Stufe – in der sozialen Pyramide bedeuten. Ohne die Garantie, daß ihnen nach dem Krieg ein neuer, gleichwertiger Status sicher ist, werden sie die Waffen nicht niederlegen.

Die Eliten

Von den verschiedenen Kriterien, unter denen man die »Violencia« betrachten kann (geopolitisch, politisch, kulturell, sozial-psychologisch, juristisch usw.) wurde bisher der soziologische am wenigsten betrachtet. Die Frage nach dem sozialen Sinn des Geschehens auf Grundlage der Interessen und Lage verschiedener Gruppen der nationalen und regionalen Gesellschaften wurde nicht durchdacht und erst gar nicht gestellt.

Dabei spricht die Analyse von Struktur und Dynamik der postsowjetischen Konflikte eindeutig für eine enorm starke organisierende Rolle der nationalen (lokalen, regionalen) Eliten in diesen Konflikten.

In der Anfangsetappe (Beginn der Perestroika Gorbatschows) erreichten die örtlichen Eliten in ihrem Tauziehen mit dem reformistischen Zentrum ein höheres Niveau der regionalen Selbstständigkeit. Das Zentrum seinerseits versuchte die traditionelle sowjetische Elite zu spalten und ihr ein Gegengewicht in Gestalt der Bürgerbewegungen entgegenzusetzen, indem sie diesen einen politischen Schirm durch das Verbot von Repressionen und den offiziell verkündeten Pluralismus zur Verfügung stellte.

Im Ergebnis dessen spaltete sich die alte sowjetische Elite in verschiedene Lager (nach dem Verhältnis zu Moskau, der Orientierung nach außen, der Basis in verschiedenen Bevölkerungsgruppen). Der Eintritt der neuen, sich an der Peripherie bildenden »Gegeneliten« in den Machtkampf bewirkte, daß der »natürliche« Gegensatz zwischen den imperialen und nationalen Eliten sich rasch zu einem eskalierenden Konflikt entwickelte.

In der folgenden Etappe führte die Eskalation zu nationaler Gewalt, danach zum Krieg. Der Krieg seinerseits ermöglichte die Tabuisierung von Gewaltanwendung bei inneren Konflikten aufzuheben. Eine anschauliche Illustration für dieses Modell ist der Ablauf der Ereignisse in Georgien: Zunächst eine »nationale Revolution«, danach der äußere Krieg gegen Süd-Ossetien, dann ein kriegerischer innerer Konflikt (Sturz von Präsident Gamsachurdia und Kampf seiner Anhänger für die Restauration). Danach wiederum versucht das neue Regime (Schewardnadse) angesichts des wachsenden Widerstandes, die mit militärischen Mitteln errungene Macht durch »ein Schließen der Reihen gegen den gesamtgesellschaftlichen Feind« durch neuen Krieg zu legitimieren. Die Lage erfordert ein Hinaustragen des inneren Konfliktes »nach außen«: Es entsteht das Bedürfnis nach dem »Abchasien – Feldzug«. So werden im relativ kleinen Georgien gleich drei Kriege geführt, die sich gegenseitig entfachen. Ein klassisches Beispiel von »Violencia«.

Die Veränderungen, die während der langandauernden und tiefgehenden kriegerischen Konflikte (vergleichbar mit dem afghanischen) innerhalb der Hierarchie der Eliten vor sich gehen, sind unumkehrbar. Damit hängt der Befriedungsprozeß der »Violencia« direkt von der Stabilisierung der durch sie gesprengten sozialen Ordnung ab. In der neuen Hierarchie müssen sich die während des Konfliktes emporgekommenen neuen Gruppierungen organisch in die alten Eliten einordnen und die von ihnen im Krieg eroberte »hohe Position« einnehmen. Diese Erscheinung ist gut bekannt, z.B. aus dem Beispiel Afghanistan: Bei Fehlen einer starken und einheitlichen Staatsmacht können und wollen sich die »Emporkömmlinge des Krieges« in das friedliche Leben nicht auf Grundlage der alten, »Vorkriegsrollen« eingliedern. Eine einmal gestörte soziale und politische Hierarchie kann sich selbst bei einem vollständigen Sieg einer Seite nicht wieder in alter Form herstellen, auch nicht beim Sieg der für die Restauration kämpfenden Seite.

Leider ist in diesen Situationen das logische Endergebnis nicht der demokratische Protest des Volkes gegen den Krieg, sondern die Errichtung straffer national-autoritärer Regimes. Unter pluralistischen Bedingungen ist es für die entsprechenden Regierungen unmöglich, die zur Erreichung des Friedens notwendigen Kompromisse zu machen, da die Opposition sie sofort des Verrates der nationalen Interessen bezichtigen würde. Beispiel dafür sind u.a. die Unmöglichkeit für die Regierung Moldowas, dem Dnjestr-Gebiet einen politischen Status zu verleihen und den föderativen Staatsaufbau festzuschreiben. In ähnlicher Lage befinden sich die Regierungen Armeniens und Aserbaidshans, was die Regulierung des Karabach-Problems betrifft. Das Paradoxe der Situation besteht darin, daß nur ein autoritäres Regime, welches entweder die Opposition ignoriert oder aber mit Repressalien unterdrückt, Frieden schließen kann, ohne dabei gestürzt zu werden.

Der Prozeß der Formierung derartiger Regimes hat bereits begonnen. Es ist nachzuvollziehen, wie sich die Strukturen der Exekutive (zuungunsten der Legislative) während des Konfliktes in Moldowa und in Armenien bzw. Aserbaidshan verstärkten. Vor unseren Augen wird ein autoritäres Militärregime in Georgien aufgebaut.

Von diesem Standpunkt aus gesehen können die Kriege nur von denen beendet werden, die sie begonnen haben: von den nationalen politischen Eliten; Und nur nachdem die von ihnen verfolgten realen Kriegsziele erreicht sind. Ihr reales Ziel war überall die Übernahme der Macht von den alten, kommunistischen Eliten, ihre Konsolidierung und Legitimierung.

Volkskriege werden bis zum Sieg geführt, politische jedoch nur bis zur Erreichung der gewünschten, rationalen Resultate. Ein endloser »Volkskrieg« wird also für die neue Elite unnötig, da er die Nutzung der im Krieg neu gewonnenen Stellung in der Gesellschaft behindert. Deshalb ist die »Wiederherstellung der Ordnung« nach innen auf jeder der beteiligten Seiten eine unausweichliche Folge des Krieges. Mit anderen Worten: Die Beseitigung des Obersten Kostenko im Dnjestr-Gebiet durch die Führung des Gebietes selbst, die Liquidierung der ossetischen Jugendlichen durch ossetische Truppen.

Dieser Fakt erlaubt seltsamerweise einen gewissen Optimismus: Sobald also die Ziele erreicht sind, beginnen die Seiten, nach Auswegen aus der Situation zu suchen – natürlich möglichst ohne Macht- oder Gesichtsverlust. Dies an sich ist jedoch – zugegeben – eine schwierige Aufgabe.

Die menschliche Dimension der »Violencia«

Im Prozeß eines langanhaltenden und wenig intensiven Konfliktes bildet sich ein aus allen Bürgerkriegen, einschließlich des ersten russischen und des mexikanischen, bekannter spezifischer Persönlichkeitstyp heraus: Der Typ des Atamans, eines örtlichen oder regionalen charismatischen Kriegshelden, wie des Obersten Kostenko oder des Führers der Kuljaber Aufständischen in Tadshikistan, Safarow. Andererseits ist für die einfachen Mitglieder der zahllosen Armeen, Volksmilizen, militarisierten Organisationen die Zugehörigkeit zu diesen Organisationen und das Recht, in der Öffentlichkeit Waffen tragen zu können, ein bestimmtes Privileg und ein starker sozialer Stimulus.

Eine solche Einstellung zum Krieg und zu Waffen ist jedoch nur solange möglich, wie der Konflikt nicht in einen »vollwertigen« Krieg übergegangen ist, der das äußerste Anspannen aller physischen und moralischen Kräfte des Individuums und der Gemeinschaft erfordert.

In dieser Hinsicht unterscheidet sich die »Violencia« von einem »totalen« Krieg, wo Tod eher die Regel als die Ausnahme ist. Gerade solche Kriege konnten bisher von den nationalen Eliten vermieden werden. Die Konflikte auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR eskalieren interessanterweise nicht zu »totalen« Kriegen (mit der Ausnahme, vielleicht des Konfliktes um Berg-Karabach). Die Gesamtzahl der Getöteten in allen Konflikten übersteigt nach allen Schätzungen bisher 15-20.000 nicht.

In ihrer Intensität, den Maßstäben der Kampfhandlungen und Verlusten und dem Grad der Mobilisierung von inneren Ressourcen sind alle diese Konflikte vergleichbar etwa mit dem Krieg in Jugoslawien oder dem Konflikt auf Sri Lanka. Geht man jedoch von der Größe der betroffenen Territorien und der Gesamtzahl der in die Konflikte verwickelten Kräfte, von der Bewaffnung und vor allem von der Gefahr eines Ausweitens nach dem Domino-Prinzip aus, so ist das Gewaltpotential in den postsowjetischen Staaten präzedenzlos in der Nachkriegsgeschichte.

Rußland

1991 realisierte sich die fünf Jahre zuvor geäußerte metaphorische Prognose eines Redakteurs der Zeitschrift »Mir-XX Wek« (Die Welt im 20. Jahrhundert): Die Grenzen Afghanistans verschoben sich bis an die Grenzen des Gebietes Krasnodar, d.h. bis ins russische »Mutterland«.

Die blutigen Ereignisse in Abchasien eröffneten die scheinbar ausweglose Perspektive eines langanhaltenden Krieges unmittelbar an der russischen Grenze. Die Einbeziehung der nordkaukasischen Autonomie in der Russischen Förderation wurde aktueller Fakt. Der Konflikt zwischen Georgien und Ossetien ist ungelöst, es schwelen der ossetisch-inguschische Konflikt und – am gefährlichsten – die chronische Drohung einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Tschetschenien. All das gestattet es, von der Gefahr der Verschmelzung all dieser Konflikte in einem Zweiten Kaukasuskrieg zu sprechen, der für Rußland selbst schwere Folgen auf eigenem Territorium bedeuten würde.

Unausweichlich sind gewaltige Flüchtlingsströme (schon heute gibt es ca. 500.000 registrierte Flüchtlinge, die Zahl der nicht registrierten wird auf eine Million geschätzt). Die gesellschaftlichen Folgen dieser Fluchtbewegungen muß man vor dem Hintergrund der schweren sozialen Krise in Rußland selbst betrachten: Absinken der Produktion 1992 fast um ein Viertel, bis Mitte 1993 wird die Arbeitslosigkeit auf 4-7 Millionen ansteigen, eine zumindest für die nachstalinistische Periode ungekannte Welle der Kriminalität usw.

Vor einem solchen Hintergrund stellen sich die Folgen der »Violencia« entlang der Grenzen Rußland mit furchtbarer Klarheit dar: Zunächst erfolgt eine Militarisierung des gesamten Lebens, die Zerschlagung jeglicher Opposition und die Verstärkung der totalitären Kontrolle in den an die Konfliktregionen angrenzenden Gebieten. Schon heute realisieren sich derartige Tendenzen im Zusammenspiel von Kosakentum, örtlichen Machtzentren und der Armee. In einigen Orten wurden bereits mit der Losung »Rußland den Russen« Menschen anderer Nationalität vertrieben.

Danach durchdringen diese Merkmale aus den Grenzgebieten das gesamtrussische politische Leben, werden immer einflußreicher bei der Fällung von Entscheidungen durch das Parlament und die Exekutive. Das logische Ergebnis einer solchen Entwicklung kann leicht als autoritäres Regime modelliert werden, welches unter der Losung des Überlebens, der »Aufrechterhaltung der Ordnung« errichtet wird. Ein Teil der inneren Widersprüche wird hierbei nach außen getragen; Rußland beginnt, auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR eine aktive Machtpolitik zu betreiben und – möglicherweise nicht ohne Zustimmung des Westens – die Rolle des regionalen Gendarmen zu erfüllen.

Denkbar ist jedoch auch ein anderes Szenario: Anwachsen des sozialen Chaos, Zerfall der zentralstaatlichen Strukturen und Beginn der »Violencia« in Rußland selbst. Dieses Szenario erfordert eine gesonderte Analyse.

Die Hauptfrage hierbei ist, ob die Gewalt an den Grenzen Rußlands haltmachen wird oder als politisch-ideologischer (wie der Erste Russische Bürgerkrieg) oder als interregionaler (wie in China Anfang des Jahrhunderts), in sein Inneres vordringen wird.

Meiner Meinung nach wirken zwei Faktoren einer solch katastrophalen Entwicklung entgegen: Der erste besteht darin, daß sich die alten russischen Eliten größtenteils erhalten haben, vor allem in der Provinz. Die traditionelle sowjetische Hierarchie ist hier faktisch nicht zerstört, irgendwelche starken Gegenkräfte sind nicht entstanden und konnten so auch nicht als destabilisierender Faktor in Erscheinung treten.

Ein noch wichtigerer Faktor ist jedoch die sozial-demographische Veränderung Rußlands: Das neue, nicht-traditionelle Rußland ist eine urbanisierte Gesellschaft mit der für die Stadtbevölkerung typischen niedrigen Geburtenrate. Psychologisch ist der Verlust des einzigen Kindes eine völlig irreparable Katastrophe für die Familie. Aus dieser Sicht stellen die neuen Familien mit nur einem Kind (vor allem in den städtischen Mittelschichten) eine die Vorstellungen vom Wert des menschlichen Lebens revolutionierende Erscheinung dar, die bewirkt hat, daß der Wert des menschlichen Lebens seit Beendigung des Weltkrieges um mehrer Stufen höher eingeschätzt wird.

Die negative Bevölkerungsentwicklung in den meisten Gebieten Rußlands wird von den meisten Publizisten als nationale Tragödie beschrieben, ist jedoch in Wirklichkeit lediglich das unausweichliche Resultat der Modernisierung der Gesellschaft (vergleichbar mit dem Bevölkerungswachstum in Deutschland und Schweden) und vielleicht eine der stabilsten Grundlagen für das niedrige Gewaltpotential im heutigen Rußland.

Keine auch noch so ideologisierten Systeme ermöglichen heute eine Akzeptanz von Blutvergießen großen Ausmaßes in der urbanisierten Gesellschaft. Trotz der großen Versuchung, Gewalt zum Sturz des nicht legitimen Regimes im kleinen Tschetschenien anzuwenden, haben selbst die radikalsten Patrioten nicht zur Intervention aufgerufen: Die Erinnerung an die Kaukasuskriege der Geschichte und die nicht verheilten Wunden des Afghanistan-Krieges haben eine Immunität gegenüber derart »einfachen Lösungen« geschaffen.

Es gibt im Land nicht mehr die Massen von jugendlicher Dorfbevölkerung, die in der Vergangenheit ein ideales Kanonenfutter in jedem Kriege, einschließlich des Bürgerkrieges, darstellten. Es gibt – bisher – noch nicht die Massen von arbeitslosen lumpenproletarischen Schichten innerhalb der jugendlichen Stadtbevölkerung. Gerade dieses soziale Material lieferte den Sprengstoff für die blutigen Explosionen im Nordkaukasus und Transkaukasien sowie auf dem Balkan.

Seine geopolitischen Ziele könnte Rußland in dieser Situation nur mit Hilfe einer Berufsarmee, von Söldnern oder Freiwilligen erreichen. Söldnertum war bisher für Rußland untypisch. Die Teilnahme der Kosaken an praktisch allen Konflikten auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR relativiert diese Trradition jedoch spürbar.

Die Gefahr eines sozialen Chaos, der wirtschaftlichen Krise, massenhafter Langzeitarbeitslosigkeit kann die Tendenz »des steigenden Wertes« des menschlichen Leben durchaus umkehren, die ersten Alarmsignale gibt es bereits.

Andrej Fadin ist Redakteur der Zeitschrift »Mir-XX Wek« (Die Welt im 20. Jahrhundert) in Moskau. Übersetzung aus dem Russischen: Andreas Schön.

Strafen als Prinzip

Strafen als Prinzip

Ursache gewalttätiger Konfliktbearbeitung?

von Peter Krasemann

In einer Welt gewalttätiger Konfliktbearbeitungen, die in ethnischen und zwischenstaatlichen Kriegen eskalieren, stellt sich die Frage, welche gesellschaftlich anerkannten Denk- und Handlungsweisen dazu beitragen. Von Bedeutung scheint das in allen Gesellschaften in unterschiedlicher Weise differenziert angewandte Strafprinzip zu sein.

Historisch ist offenkundig, daß Strafmaßnahmen in der Regel Konflikteskalationen fördern. Nur in Ausnahmefällen führt die Strafe allein zur Versöhnung und Wiederherstellung eines friedlichen Zusammenlebens. Bestrafungen bedrohen den einzelnen wie die Nationen von den ersten Stunden ihres Daseins an.

Im Mittelpunkt meiner Überlegungen stehen die Auswirkungen der psychisch-gedanklichen Orientierung auf das Strafprinzip, vor allem bei gewaltträchtigen Konflikten. Aufgrund der komplexen Probleme bei bewußtem und unbewußtem Strafen konzentriert sich die Analyse vom Alltagsbewußtsein ausgehend von der Erziehung des Kindes zum Erwachsenen sowie den Gerechtigkeitsempfindungen und Rachebedürfnissen in der Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, ob die individuelle Bereitschaft zur Sicherung relativer Autonomie, Regelverstöße gegebenenfalls staatlich bestrafen zu lassen, auch die gesellschaftliche Bereitschaft fördert, mit militärischen Mitteln staatliche Souveränitätsinteressen im internationalen Herrschaftsystem durchzusetzen.

Da in fast allen Gesellschaften die vorherrschende Denk- und Handlungsweise zur Aufrechterhaltung von Ordnung, Normen, Werten sowie innerer und äußerer Sicherheit das Strafen ist, sind die Untersuchungsergebnisse für diese Länder von exemplarischer Bedeutung. Mit der Analyse des »Lehrmittels Strafe« soll eine der anscheinend universellen Ursachen für gewalttätige Konfliktbearbeitungen in die Fachdiskussionen von Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Pädagogik, Philosophie, Theologie, Rechts-, Kommunikations- und Politikwissenschaft zurückgeführt werden. Die bisherigen Untersuchungen zur Konfliktbearbeitung durch das Strafprinzip reichen nicht aus, das Ausmaß der Eskalationsförderung und -resistenz genauer anzugeben und verantwortbare alternative Denk- und Handlungsweisen auszuweisen.

Strafprinzip im Alltagsbewußtsein

Im Alltagsbewußtsein verbindet die große Mehrheit der Bevölkerung mit dem Strafprinzip den Begriff der Strafe, der unangenehme Assoziationen weckt.1 Im Bewußtsein bleiben Erlebnisse an die erste Lüge, die erste Ohrfeige, die erste »5« in der Schule, die letzte Mißachtung durch Freunde oder Bekannte, die letzte Zurücksetzung bei der Beförderung, die letzte Bestrafung der eigenen Kinder, die bewußte Nichtbeachtung des Nachbarn, den Führerscheinentzug oder gar an den Freiheitsentzug. Kurzum: wir haben uns fast alle im Denken, Fühlen, Spüren und Handeln schon als Strafende und als Bestrafte erlebt. Nahezu alle Jugendliche und Erwachsene haben persönliche Erfahrungen, wie es ist, bewußt oder unbewußt zu bestrafen oder bestraft zu werden. Mit allen Assoziationen zum Begriff der Strafe ist die Verletzung eines Denk- oder Handlungsgebotes verbunden, der den Souveränitätsanspruch anderer Menschen berührt. Diese Reaktionen können vielfältig ausfallen. Verzeihen und Kompromißbereitschaft werden in einem auf den Grundsätzen der Konkurrenz aufgebauten Gesellschaftssystem aber vielfach als inadäquates Verhalten verachtet und als Ausdruck von Schwäche gedeutet. Sowohl genetisch als auch sozialisationsbedingt wird im menschlichen Konkurrenzverhalten Stärke gefordert und gefördert, die über die Selbstbehauptung hinausreicht. Der Einsatz der Stärke zum persönlichen Vorteil wird in fast allen Gesellschaften akzeptiert und auch im zwischenstaatlichen Umgang gerechtfertigt. Der dem Strafprinzip zugrundeliegende Gerechtigkeitsmaßstab besteht darin, daß es erlaubt ist, Stärke in den jeweiligen Legitimationsgrenzen auszunutzen. Die national und international legalisierten Souveränitätsgrenzen werden im wesentlichen als allgemeingültige Grundsätze des Denkens und Handelns anerkannt. Und im vorherrschenden Bewußtsein wird ihnen jeweils auch eine universelle Gültigkeit zugeschrieben.

In der zu beobachtenden Lebensordnung der meisten Menschen wird der Einsatz des Strafprinzips unabhängig von der jeweiligen individuellen und kollektiven Stärke zwar immer dort gefordert, wo die soziale Gerechtigkeit gestört wird, aber nur im Sinne der ideologischen Bewahrung absoluter humaner Gerechtigkeitsvorstellungen. Da soziale Gerechtigkeit nicht exakt definiert werden kann, muß sie gesetzlich als relativer Maßstab unter Berücksichtigung gesellschaftlich akzeptierter, natürlicher und sozialer Vorteile in praktikablen Rechtsnormen fixiert werden. Diese Praktikabilitätsforderung wird folgerichtig auch an die Durchsetzung der Gesetze durch Strafen gestellt. Als allgemeingültiges legitimes Mittel sollen Strafen die Einhaltung der Gesetze gewährleisten, sowie Gesetzesbrüche sanktionieren.

Im Strafprinzip spiegelt sich ein gesellschaftlicher Konsens über die Denk- und Handlungsweisen wider, der von Gerechtigkeitsüberlegungen ausgehend, auch Vergeltungsbedürfnisse befriedigt. Im Sinne eines Prinzips stellt das Strafen die bewußte oder unbewußte Zufügung eines fühlbaren Nachteils dar, weil etwas getan oder unterlassen wurde, das nicht erlaubt war, oder wie der niederländische Begründer des Völkerrechts Huigh De Groot, in der Literatur als Hugo Grotius geführt, es formulierte: „Die Strafe ist ein Übel, zu leiden, das zugefügt wird wegen eines Übels im Handeln.“ 2 Wenn man einmal von Selbstbestrafungen absieht, wird durch die Zufügung eines Übels das über die Wiedergutmachung des Schadens hinausgeht und Ausdruck eines allgemeinen Rachebedürfnisses ist, das Vergeltungselement der Lerneffekt des »Lehrmittels Strafe« als Hilfestellung zur Befähigung einer zukünftigen Lebensführung in sozialer Verantwortung stark gemindert. Obwohl eine allgemeine Unsicherheit über die Zweckmäßigkeit einzelner Strafen besteht, wird das allgemeine Strafprinzip nicht in Frage gestellt. Um den Gründen für die tiefe Verwurzelung des Strafprinzips und ihres gewalttätigen – und möglicherweise gewaltfördernden Charakters – näher zu kommen, sollen zunächst die lebensgeschichtlichen Erfahrungen von der Geburt bis zum Erwachsenendasein untersucht werden.

Strafprinzip in der Erziehung

Jedes Kind wird in eine vielschichtige Gesellschaftsstruktur mit unterschiedlichen Sozialnormen hineingeboren. Diese Normen unterliegen dem gesellschaftlichen Wandel sowohl der Wertbilder3 als auch den sozialen und geschlechtsspezifischen Rollennormen und darüber hinaus der Gruppennormen, denen das Individuum zugeordnet werden kann. Im Rahmen des jeweiligen sozialen und natürlichen Umfeldes werden die genetischen Entwicklungspotentiale des Kindes gefördert oder eingeengt. Dabei erfährt das Kind die ersten Normen durch die Eltern. Es entdeckt, daß die wahrgenommenen Dinge seiner Umgebung mit seinen Triebspannungen in Beziehung stehen und seine Bezugspersonen andere Unterscheidungen machen als es selbst. Auf mannigfaltige Art und Weise – insbesondere durch Belohnung oder Bestrafung – erlernen Kinder die Bezugssysteme und Gruppennormen der Eltern.

Das Kind benötigt bei seinen primären Erfahrungen die Hinweise der Menschen seiner Umwelt, um Gefahren zu vermeiden und Vertrauen in die Voraussicht der Erwachsenen zu gewinnen. Warnungen derart, daß Herdplatten heiß, Messer scharf und dampfendes Wasser gefährlich sind, schaffen durch die Genauigkeit der Voraussage – die durch kindliche Erfahrungen früher oder später bestätigt werden – Vertrauen in die Korrektur- und Wahrnehmungsfähigkeit der Mitmenschen. Kleine Kinder schenken den Voraussagen der Eltern häufig mehr Vertrauen als ihren eigenen Sinneswahrnehmungen. So haben Untersuchungen gezeigt, daß Kinder von den Eltern vorausgesagte Ereignisse mit Sicherheit gesehen, gehört oder gerochen zu haben glauben, obwohl in den entsprechenden Experimenten derartiges nicht geschah. Mit zunehmendem Alter nimmt das Vertrauen in die Eigenwahrnehmungen wieder zu.4 Je besser ein Kind seine Beobachtungen und Erfahrungen durch die Verläßlichkeit der von den Erwachsenen vermittelten Normen ordnen kann, desto schneller wird es in der gemeinsamen Wahrnehmungssphäre seiner Gruppe die für das Kind wirkliche, das heißt verläßliche Welt allein zu entdecken versuchen.

Beim Erlernen der Gruppennormen, die das Kind sich aneignet, um in Kommunikationen eintreten zu können, muß es eine Reihe interpersoneller und intrapersonaler Konfliktbearbeitungen leisten. In diesem Prozeß lernt das Kind entweder, durch eigene Korrekturen seine Wahrnehmungen denen der Bezugspersonen anzupassen, oder es werden Belohnung und Strafe als Mittel der Beeinflussung des Verhaltens des Kindes eingesetzt. Zwar ist in diesem Falle die Strafe ein Teil einer umfassenden personellen Beziehung, die meist auch durch eine Vielzahl positiver fürsorglicher und anerkennender Zuwendungen gekennzeichnet ist, dennoch wird dem Kind ein Nachteil zugefügt, der nicht folgenlos bleibt. Die Eltern-Kind-Beziehung ist gestört. Auf den kindlichen Entwicklungsprozeß bezogen, führt der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter über die elterliche Autorität aus: „Wo das Kind Recht und Unrecht anders sieht als sie, soll es sich ihrem Urteil unterwerfen … . Es ist für sie – mehr oder weniger bewußt – eine Machtfrage, vom Kind in einer unbezweifelbaren Autoritätsrolle bestätigt zu werden.“ 5 Bei Kindern können durch die in derartigen Erziehungsprozessen eingesetzten physischen und psychischen Strafen so große Spannungen und Ohnmachtsgefühle entstehen, daß Selbstachtung, Selbstbestätigung und Selbstbehauptung beschädigt oder zerstört werden. Als Spätfolgen sind im intrapersonalen Bereich Neurosen, Psychosen, Selbsthaß, Phobien und verschiedene Formen der Gewalttätigkeit und Aggression gegen die eigene Person nicht auszuschließen. Interpersonell sind als Folgelasten kindlicher Entwicklungsstörungen Intoleranzen, Fremdenhaß sowie Aggressionen und Gewalttätigkeiten gegen andere individuell oder kollektiv zu befürchten.

Auch wenn Eltern bewußt auf Strafe verzichten, setzen sie häufig ihre Kinder Wettbewerbsbedingungen derart aus, daß nur beim Gehorchen des Kindes Gegenleistungen in Form von immateriellen und/oder materiellen Zuwendungen gewährt werden. Diese Einschränkungen in der Persönlichkeitsentfaltung des Kindes haben häufig ein manisches Bedürfnis nach Selbstbestätigung im Erwachsenenalter zur Folge. Die Abhängigkeit gegenüber anderen Bezugsgruppen wird bei Kindern besonders groß, die emotional vernachlässigt oder unbewußt abgelehnt werden. Ihr spontanes Kontaktverhalten verringert sich, und sie haben später Schwierigkeiten, eine autonome Moral sowie Selbstkontrolle zu entwickeln.6

Ist gelegentliches Strafen mit ebenso konsequent erteiltem Lob gepaart, und fördern die Eltern die emotionale Identifikation sowie den Aufbau eines positiven Selbstbildes beim Kind, behindern Strafen die Verhaltensentwicklung kurzfristiger, als Lob sie langfristig zu verstärken vermag. „Hier wirkt die außerordentlich wichtige Regel der intermittierenden Verstärkung: Ein Verhalten, das hin und wieder zu einem Erfolg, hin und wieder zu einem Mißerfolg führt, wird im allgemeinen nicht gehemmt; es wird vielmehr hartnäckig gelernt. Es ist so, als nehme der Lernende einige Mißerfolge hin, um sich dann der nächsten Belohnung um so sicherer zu sein.“ 7

Bei strenger Erziehung – und die ist viel weiter verbreitet als gemeinhin angenommen wird – findet häufig auch das elterliche Züchtigungsrecht Anwendung. Das Strafen von Kindern mit physischer Gewalt ist in der Bundesrepublik Deutschland staatlich legalisiert. Dieses »individuelle Strafrecht« ist Ausdruck der gesellschaftlichen Akzeptanz der Prügelstrafe in der Familie (75 % der Mütter und 62 % der Väter ohrfeigten, 40 % der Mütter und 36 % der Väter gaben an, eine »Tracht Prügel« ihren 9 – 14jährigen Kindern zu verabreichen8) und der Hinnahme von 1145 polizeilich registrierten Kindesmißhandlungen bei einer geschätzten Dunkelziffer nicht erfaßter körperlich mißhandelter Kinder von 20 000 bis 500 000 pro Jahr in den alten Bundesländern9. Obwohl mit einem Verbot körperlicher Strafen in der Erziehung in Schweden seit 1979 positive Erfahrungen gemacht wurden und keine »Inflation« staatlicher Zwangsmaßnahmen notwendig war, schlug eine Unabhängige Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt 1990 zwar ein Züchtigungsverbot als „Signal zur Verbannung körperlicher Strafen aus der Erziehung“ auch für die Bundesrepublik Deutschland vor, aber war sich auch einig, „daß ein Verbot körperlicher Strafen in der Erziehung kein Ansatzpunkt für generelle … strafrechtliche Interventionen sein darf.“ 10 Dieser inkonsequente Vorschlag macht angesichts der schwedischen Erfolge deutlich, wie gering die Sensibilität für die Folgen körperlicher Gewalt bei Kindern ist und wie gewichtig die praktische bewußtseinsmäßige Verankerung des Strafprinzips bei deutschen Eltern eingeschätzt wird. Während sonst darauf vertraut wird, durch Strafandrohungen Gewalt zu verhindern oder einzudämmen, gewährt man Kindern weder diesen Schutz, noch werden alternative Maßnahmen ergriffen. Die Würde des Kindes wird legal herabgesetzt, bleibt schutzlos.

Straffreie Jugenderziehung

Über die Jugenderziehung lassen sich aus psychotherapeutischen und pädagogischen Falldarstellungen wichtige Sachverhalte über den Strafvorgang im Strafenden und im Bestraften erfassen. Von physischen Gewalttätigkeiten, Vielstraferei und individuellen Racheakten kann dabei abgesehen werden. Wenn man nur das Strafverhalten betrachtet, das von Dritten vollzogen wird11, ist aus psychologischer Sicht überzeugend belegt, welche „triebbestimmten, moralisch fragwürdigen Motive den Strafenden leiten können und welche vorübergehenden und dauernden Schäden die Straferziehung“ 12 bei den Bestraften zur Folge hat. Daraus läßt sich nur der Schluß ziehen, prinzipiell eine straffreie Erziehung zu fordern. Aufgrund dieses eindeutigen Ergebnisses über Strafen durch neutrale Personen kann davon ausgegangen werden, daß die allgemeinen Wirkungen einer Jugenderziehung mit Strafen noch wesentlich negativer ausfallen.

Trotzdem wird die Strafe dem heranreifenden Erwachsenen fast ausnahmslos als eine Selbstverständlichkeit der Sanktionierung von Normverstößen vorgeführt, die einer ausdrücklichen Begründung als eines tatsächlich geeigneten Mittels nicht bedarf. In fast allen Interaktionsfeldern der Jugendlichen begegnen sie Zurechtweisungen, Vorhaltungen, Ge- und Verboten, Ermahnungen, Verwarnungen, Drohungen, Bloßstellungen und Tadeln. Ihre Lebenswelt ist von Regelungen aller Art durchsetzt – ist verregelt – , und um deren Einhaltung durchzusetzen, »muß Strafe sein«. Die Folgen des Reflexionsdefizits über die Ersetzbarkeit des Strafprinzips in der Jugenderziehung zeigen sich in immer früher und zahlreichen Strafmaßnahmen in Schulen, Familien sowie anderen Jugendbereichen.13 Als Begründung für zunehmende Kontrollen und Bestrafungen wird auf ihren Zweck verwiesen, nicht jedoch ihre Effizienz einer Überprüfung unterzogen. Jugendliche Hilferufe werden überhört, Warnsignale ignoriert, bis es letztlich immer häufiger zu gewalttätigen Regelverstößen kommt. Dagegen werden dann in schöner Regelmäßigkeit verstärkte Polizeieinsätze und verschärfte Strafen eingeführt, anstatt die Konfliktursachen zu beseitigen und die Eskalationswarnsysteme zu verbessern.

Die Konflikte werden zunehmend unpersönlicher und institutionalisierter geregelt. Individuelle Durchsetzungserfolge bei erlittenem Unrecht sind kaum mehr möglich. Was Jean Jacques Rousseau einer der schärfsten Gegner jeder Strafe, 1762 in seinem pädagogischen Werk „Emile“ beschrieben hat, noch bei der persönlichen Konfliktbearbeitung einer unverdient zugefügten Prügelstrafe widerfahren konnte: „Schließlich ging ich als Sieger aus dieser grausamen Prüfung hervor“ 15, ist in unserer verregelten, durch institutionelle Strafen gekennzeichneten Welt kaum mehr möglich. Die Empfindungen eigener Ohnmacht, wie das Gefühl »nicht zu zählen«, mit den Werten »die für wichtig gehalten werden«, nicht ernst genommen zu werden, bedeutungslos für die Mitmenschen und vor sich selbst zu sein, breiten sich unter Jugendlichen, insbesondere arbeitslosen, immer weiter aus. Mit dem Gefühl »nichts zu verlieren zu haben«, wächst auch die Bereitschaft, Strafe in Kauf zu nehmen. Straftaten werden bei Jugendlichen zunehmend von denen begangen, die ein geringes Selbstwertgefühl haben und dessen Hilfeschreie nach zwischenmenschlichen Kontakten ignoriert werden.

Pauschalisierend läßt sich feststellen, daß die negativen Ergebnisse der Anwendung des Strafprinzips in der Erziehung aus der Herabsetzung der Individualität der Kinder und Jugendlichen resultieren. Durch Strafen wird die Möglichkeit zur Selbstkorrektur eingeschränkt. Die Formbestimmung durchdringt im mitmenschlichen und gesellschaftlichen Umgang mittels Strafe das individuelle Bewußtsein. Kinder und Jugendliche werden zur Veränderung bisher nicht erkannter Fehlsteuerungen genötigt und zu noch nicht erfolgten Selbstkorrekturen gezwungen. Ihr zeitliches und intellektuelles Verhalten wird den Gruppennormen unterworfen. Dabei wird das Menschliche der sich entwickelnden Persönlichkeiten, Fehler zu machen, durch die Zufügung eines Nachteils – die Strafe – geschädigt. Die Individualitätsverletzung führt zur Einschränkung der Bewußtwerdung, verletzt das Verantwortungsgefühl und mindert das Selbstvertrauen. Darüber hinaus wachsen angesichts der Verregelung unserer Gesellschaft die Gefahren der Externalisierungen. Anstelle persönlicher Verantwortung breitet sich Anpassungsverhalten schon sehr früh aus. Je eindringlicher die Einhaltung des Strafprinzips gesellschaftlich eingefordert wird, desto größer wird faktisch jedoch die individuelle Gleichgültigkeit gegenüber Strafdrohungen. Wirkungsvoller scheint die vorrangig emotionale Übernahme des elterlichen Strafprinzips in den kindlichen Lernprozeß, bei der Lob und Strafe Erfolg und Mißerfolg signalisieren, zu sein. Da das Vergeltungselement der Strafe vorwiegend kognitiv erst mit zunehmendem Alter erkannt wird, wächst auch dann erst der Widerstand gegen die zugefügten Benachteiligungen. In seinen ersten Lebenserfahrungen wird dem Menschen das Strafprinzip aber bereits vermittelt. Es erhöht seine Anspannung und läßt ihn die potentielle Bereitschaft zu gewalttätiger Konfliktbearbeitung übernehmen.

Strafprinzip im internationalen Herrschaftssystem

In den komplexen Industrienationen ist angesichts sinkender Möglichkeiten, gesellschaftlich »etwas beeinflussen« und eine »anerkennenswerte, befriedigende Arbeit« leisten zu können, die Verwirklichung verantwortlichen Denkens und Handelns für jeden einzelnen erschwert. Das gesellschaftliche Zutrauen zur individuellen Selbstkorrektur nimmt immer mehr ab und führt zu einer ständig wachsenden Verregelung des sozialen Lebens mit Geboten und Verboten. Mit dem Ausbau eines komplizierten, bis heute nicht allgemeinverständlich formulierten Rechtssystems, haben auch gerichtliche Verurteilungen ständig zugenommen, die im Interesse des Gemeinwohls Rechtsbrüche in der einen oder anderen Form strafen, also über die Wiedergutmachung hinaus einen Nachteil zufügen.

Im deutschen Strafrecht findet die sozialstaatliche Verpflichtung des Rechtssystems kaum Beachtung. Die gültigen Rechtsnormen verstärken das im allgemeinen Geflecht der gesellschaftlichen Regelungen übliche Strafprinzip durch eine ausgeprägte Betonung von Schuld und Vergeltung.

Man könnte nun meinen, durch die Behebung des individuellen und kollektiven Tatschadens sei das Opfer- und Gesellschaftsinteresse angemessen gewahrt. Gegen diesen Gedanken der Wiedergutmachung des Tatschadens und der Aussöhnung von Tätern und Opfern sperren sich Theorie und Praxis des Strafrechts. Die bundesdeutsche Gesellschaft fordert darüber hinaus eine Strafe für die Beschädigung des Rechtsgutes, das als überindividuelle Sozialnorm als beschädigt angesehen wird. Die Verletzung der Gesellschaftsnorm kann nur durch Buße und Sühne vergolten werden. Durch Sühneleistungen soll der Bestrafte sein Sinnerleben der zusätzlichen gesellschaftlichen Benachteiligung dokumentieren. Was aber, wenn er deren Sinn nicht erkennen kann? Dann, so argumentieren die Verteidiger der Vergeltung, muß er zur Duldung der Strafe als »Machtäußerung des sittlichen Lebens« gezwungen werden. Damit ist eine so abstrakte Begründungsebene für das Strafprinzip erreicht, daß der soziale Konfliktcharakter des Rechtsbruchs völlig verlorengeht. Der Sinn der Sühne, die Versöhnung, kann vom Täter auf diese Weise kaum erreicht werden.

Diese starke Verankerung des Sühnegedankens in der deutschen Verrechtlichung und Rechtsdurchführung des Strafprinzips beinhaltet die Gefahr, bei zwischenstaatlichen und internationalen Konfliktbearbeitungen auch nach Vergeltung zu rufen und den kollektiven Rachegefühlen nachzugeben. Die gesellschaftliche Erfahrung, daß der gewalttätige Charakter der Strafe die Rechtsbrüche nicht einzudämmen oder gar zu beseitigen vermag, ist bisher trotz weltweiter augenfälliger Beweise von Gewalttätigkeiten und Kriegen folgenlos geblieben. Mit der Kriminalisierung von Normverletzungen besitzt der demokratische Nationalstaat vielfältige Rechte zur innerstaatlichen Herrschaftsdurchsetzung und Machtwahrung. Da bei den staatlichen Instanzen das Gewaltmonopol liegt, können diese ungefährdet ein allgemeines gesellschaftliches Gewaltverbot proklamieren, ohne selbst die ultima ratio des Gewaltgebrauchs einzuhalten. Aufgrund des extensiven Einsatzes des Strafprinzips in der Bundesrepublik ist zu befürchten, daß bei zwischenstaatlichen und internationalen Streitigkeiten friedliche Konfliktbearbeitungen nicht ausgeschöpft oder erweitert werden. Da die »Nächsten-Ethik«, wie der Philosoph Hans Jonas es nennt, sich bereits im Vereinigungsprozeß von Ost- und Westdeutschland als wenig tragfähig erweist und bereits viele Risse in der geeinten deutschen Nation sichtbar werden, erscheint es wenig wahrscheinlich, daß in Zukunft die deutsche Außenpolitik durch eine globale »Fremd-Ethik«, wie Arnold Gehlen sie beschrieben hat, bestimmt wird.

Auch bei anderen Nationen hat die Inanspruchnahme völkerrechtlicher Streitbeilegungsmechanismen bei internationalen Gerichten und Schiedsgerichten abgenommen, so daß deren Bedeutung schwindet.16 Bi- und multilaterale Konfliktbearbeitungen, bei denen das Risiko einer neutralen Beurteilung nicht besteht, nehmen stattdessen zu. Dennoch finden die Gedanken zur Schaffung eines weltstaatlichen Gewaltmonopols der Vereinten Nationen in den Industrieländern immer mehr Zuspruch. Die Dominanz der den Weltmarkt beherrschenden kapitalistischen Nationen ist nach dem Zusammenbruch der osteuropäischen sozialistischen Länder so groß geworden, daß es nicht nur denkbar, sondern teilweise bereits gelungen ist, ihre politisch-militärische Vorherrschaft im Rahmen des Sicherheitsrates der UNO durchzusetzen. Die Verrechtlichung eines weltstaatlichen Gewaltmonopols, dessen Eingriffen und Urteilen sich alle Nationen unterwerfen müßten, wurde bisher aber aufgrund der zahlenmäßigen Unterlegenheit der dominierenden Industrienationen in der UNO nicht angestrebt.

Abgesehen von den Mehrheitsverhältnissen der Weltbevölkerung in einem repräsentativen Weltparlament müssen die Industrienationen bei einer Fixierung und Rechtsdurchsetzung eines universellen Humanismus befürchten, ihr Gerechtigkeitsempfinden nicht verabsolutieren zu können und häufig selbst als Straftäter – z.B. bei Umweltschäden – belangt zu werden. Angesichts der Gefahren, die bei einem weltstaatlichen Gewaltmonopol mit einem Strafsystem, das zu weltweiten militärischen Aktionen fähig sein soll, bestehen, erstaunt es, daß PolitikerInnen und BürgerInnen der Bundesrepublik Deutschland nach den Erfahrungen von zwei Weltkriegen einer deutschen militärischen Beteiligung bereits wieder aufgeschlossen gegenüberstehen.

Momentan wird im Bereich der internationalen militärischen Anwendung des Strafprinzips die Einhaltung rechtlicher Regelungen für suspendierungsfähig erachtet. Kulturell erworbene Tötungshemmungen werden bei militärischen »Strafexpeditionen«, z.B. im zweiten Golfkrieg, in Windeseile überwunden und gewalttätige Konfliktbearbeitungen werden zwischenstaatlich als rechtmäßig angesehen. In ethnischen und nationalen Auseinandersetzungen geht fast ausnahmslos jedes Unrechtsempfinden bei politischen und militärischen Gewalt- und Destruktionsakten verloren. „Bei der Nichtwahrnehmung bzw. Nichtakzeptierung des kriminellen Charakters der begangenen Taten (handelt es sich d.V.) nicht um abnorme Gewissensausfälle eines einzelnen, sondern um ein weitverbreitetes Kollektivphänomen.“ 17 Auch wenn die rechtlichen Mittel nicht geeignet sind, individuelle und kollektive Gewalttätigkeiten bei Kriegshandlungen zu verhindern, müßten Entscheidungen und Verhaltensweisen, die Menschenleben gefährden oder zerstören, konsequenterweise dennoch bestraft werden. Als zentrale Elemente des Srafprinzips werden Gerechtigkeitsempfindungen, Vergeltungsforderungen und Rachebedürfnisse bei kriegerischen Auseinandersetzungen im wesentlichen aber von der Interessen- und Identitätslage bestimmt. Daher werden auch eindeutige schwere Gewalttätigkeiten oft nicht als individuelle und kollektive Straftaten bewertet, sondern den „unvermeidlichen Begleiterscheinungen und »Notwendigkeiten« von Politik und Krieg zugeschlagen“.18

Die weitverbreitete Vorstellung, daß Politik und Militär sich im Falle militärischer Auseinandersetzungen in einem Ausnahmezustand befinden, legitimiert den Einsatz kollektiver Gewalt in seinen brutalsten Formen. Dabei werden auch die durch das Kriegsvölkerrecht gesetzten Grenzen außer Acht gelassen und individuelle sowie kollektive Verantwortlichkeiten suspendiert. Kriege werden in dieser Sichtweise zu anonymen Kulturphänomenen, in denen alle Beteiligten frei von persönlicher Verantwortung gezwungen sind, als bloße Befehlsempfänger mitzumachen. Diese allgemeine Deutung, daß jedermann sich dem Willen der politischen und militärischen Führung unterwerfen muß, ist durch genaue Einzelfallanalysen allerdings widerlegt.19 Die Tabuisierung der Individualverantwortung von PolitikerInnen und Militärs bei Kriegshandlungen muß generell überwunden werden.

Ein zentrales Problem des Individualverhaltens im Krieg besteht darin, daß die eigenen Handlungsweisen nicht als persönliche Taten gesehen und auch die Gegner nicht als Individuen wahrgenommen werden. Soldaten werden zu Vertretern der Gesellschaft stilisiert; so erklärte beispielsweise ein amerikanischer Offizier, daß er persönlich niemanden im Vietnamkrieg getötet habe, er hätte nur die Vereinigten Staaten von Amerika verkörpert, sein Vaterland. Individuell und gesellschaftlich wird damit das Bild des Krieges als anonymes Kollektivgeschehen idealisierend verfälscht und beschönigt. Damit werden gleichzeitig auch die folgenreichen Entscheidungen der PolitikerInnen und ihrer WählerInnen, die zum Krieg geführt haben, verharmlost und von vornherein einer individuellen Verantwortlichkeit entzogen.

Nachdem die Verantwortungsprobleme des individuellen Verhaltens in Kriegen sichtbar geworden sind, soll abschließend die Bedeutung und Wirkung des Strafprinzips bei kollektiven, gewalttätigen internationalen Konfliktbearbeitungen betrachtet werden. Wie der Blick in die Menschheitsgeschichte zeigt, wurden Kriege als Strafaktionen gegen andere Stämme, Ethnien, Völker oder Nationen deklariert und kollektiv verstanden. Die Berechtigung militärischer Konfliktbearbeitung wurde mit der gegnerischen Verletzung von eigenen souveränen Rechten begründet, deren Hinnahme nicht ungestraft bleiben sollte. Über die Wiederherstellung des bisherigen Zustandes hinaus wurde eine kollektive Sühneleistung angestrebt. Von den jeweiligen Verlierern wurden physische oder psychische Erniedrigungen erzwungen, die meist die Ursache für spätere gewalttätige Racheaktionen waren. Die technologische Waffenentwicklung brachte es mit sich, daß die ökonomischen Auszehrungen so weitreichende gesellschaftliche Folgewirkungen zeigten, daß trotz der materiellen Strafleistungen der Kriegsverlierer die Folgelasten auch bei den Kriegsgewinnern nicht ausgeglichen werden konnten. Die Kriegsführung brachte häufig für Sieger und Unterlegene langfristig nur ökonomische Nachteile, die die Hemmschwellen für militärische Konfliktregelungen zwischen reichen Nationen erhöhten. Mit den wachsenden gegenseitigen politischen und ökonomischen Abhängigkeiten wurden die Militäreinsätze von den ökonomischen Entwicklungsständen beeinflußt, in Bündnissysteme eingebunden immer weiträumiger; zuletzt in Europa gekennzeichnet durch die großflächige west-östliche Blockkonfrontation.

Mit den geminderten Fähigkeiten der nationalstaatlichen Kriegssieger, den besiegten Staaten langfristig profitable Strafen aufzuerlegen – sie zu zerstören, einzugliedern, zu Gebietsabtretungen oder Strafleistungen zu zwingen – stieg die Bereitschaft auf kollektive militärische Rachefeldzüge zu verzichten. Technologisch-ökonomische Entwicklungen, die bis zur globalen Vernichtungsfähigkeit führten, haben die Kriegsführungsfähigkeit des Militärs vorübergehend zwar gemindert, ohne allerdings – atomare Zweit-, Dritt- und Mehrfach-Schlagfähigkeit bestehen noch heute – zu einem vollständigen Verzicht auf das militärische »Lehrmittel Strafe« zu führen. Im historischen Rückblick lassen sich kaum Indizien erkennen, daß die Menschen aus dem Einsatz der vielfältigen militärischen Strafen, die gegen die unterschiedlichsten Volksgruppen und Nationen verhängt wurden, gelernt haben, Konflikte gewaltloser zu lösen. Außer der Ausrottung von Stämmen und Ethnien sind durch den militärischen Einsatz des »Lehrmittel Strafe« Milliarden von Tote und eine unvorstellbare Menge von physischen und psychischen Deformationen nachweisbar.

Trotz aller affektiven und kognitiven Erschütterungen, die beispielsweise durch den 2. Weltkrieg ausgelöst wurden, läßt sich für die Nachkriegsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland nicht feststellen, daß ein gravierender psychisch-gedanklicher Lernprozeß hinsichtlich des Einsatzes des Strafprinzips in der Erziehung, in der Verrechtlichung, in der Rechtsdurchführung und im internationalen Herrschaftssystem stattgefunden hat. Vielmehr scheint das Vertrauen in das praktizierte Strafprinzip – trotz der sichtbar wachsenden Mängelerscheinungen – unerschütterlich und daher auch im internationalen Herrschaftssystem als alternativlos angesehen zu werden. Obwohl die internationale Gemeinschaft auf grausame Weise bisher ihre Unfähigkeit, Macht- und Verteilungsinteressen friedlich zu regeln unter Beweis gestellt hat, sind die Menschen mehrheitlich bisher nicht bereit, auf gewalttätige Konfliktbearbeitungen zu verzichten. Stattdessen werden die Kriege und Militäraktionen, die trotz global geringfügig sinkender Militärausgaben in vielen Gesellschaften und zwischenstaatlichen Konflikten auf der Tagesordnung stehen und der Nationalismus zahlreicher Volksgruppen in Ost- und Südosteuropa zum Anlaß genommen, die Notwendigkeit zur Kriegsbereitschaft nachzuweisen. Für die westlichen und östlichen Industrienationen wird eine weltweite militärische Ressourcensicherung sowie militärische globale Konflikteinhegung als notwendig und legitim erachtet. Dadurch wird der Gewaltcharakter des Strafprinzips im internationalen Herrschaftssystem fest verankert und die Möglichkeit zu gewaltfreien Konfliktbearbeitungen selbst unter befriedeten Gesellschaften für die absehbare Zukunft als realitätsuntüchtig abgetan.

Schlußbemerkung

Das individualgeschichtliche Erlernen des Strafprinzips ist gefühlsmäßig so tief verwurzelt, daß alle kognitiven Einwände gegen seinen Einsatz in zwischenmenschlichen, innergesellschaftlichen, zwischenstaatlichen und internationalen Konflikten uns bisher nicht haben hindern können, auf das »Lehrmittel Strafe« – trotz aller gewalttätigen Reaktionen – zurückzugreifen. Wie nachgewiesen werden konnte, ist die umfassende Durchdringung unserer Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland durch das Strafprinzip eine wichtige Ursache für gewalttätige Konfliktbearbeitungen. Um gewaltärmere Konfliktregelungen zu ermöglichen ist es prinzipiell notwendig, auf das »Lehrmittel Strafe« zu verzichten.

Mit dem schrittweisen Verzicht auf das Strafprinzip sind zwar nicht alle Gewalttätigkeiten aus der Welt zu schaffen, aber ihr Umfang ließe sich wesentlich reduzieren. Internatinal würden sich die Chancen verbessern, durch den mehrheitlichen nationalen einseitigen Verzicht auf militärische Mittel, die kriegsbereiten Nationen auf eine kleine Zahl zu reduzieren.

Anmerkungen

1) Vgl. u. a. Heinelt, Gottfried, Psychologie der Strafe und des Strafens, in: Rombach, Heinrich (Hg.), Pädagogik der Strafe, Freiburg, Basel, Wien 1967, S. 32 – 68, insbesondere S. 32/33 Zurück

2) Grotius, Hugo, De iure belli ac pacis libri tres, 1625, lib. II cap. XX, nach: Bockelmann, Paul, Strafrecht Allgemeiner Teil, München 1973, S. 2 Zurück

3) Vgl. zur Begriffsdefinition, Krasemann, Peter, Leben ohne Militär als gesellschaftliche Perspektive, in: ders. (Hg.) Leben ohne Militär – Perspektive oder Utopie? Aspekte einer gesellschaftlihen Problematik, Berlin 1991, S. 7 Zurück

4) Vgl. u. a. Newcomb, Theodore M., Sozialpsychologie, Meisenheim am Glan 1959, S. 224 – 226 Zurück

5) Richter, Horst-Eberhard, Umgang mit Angst, Hamburg 1992, S. 205 Zurück

6) Vgl. u. a. Berckhauer, Friedhelm; Steinhilper, Monica, Zwischengutachten der Arbeitsgruppe A der Unterkommissionen Psychologie, Psychiatrie, Soziologie und Kriminologie, in: Schwind, Hans-Dieter; Baumann, Jürgen, u. a. (Hg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. 1, Berlin 1990, S. 302-305 Zurück

7) Schwind, Hans-Dieter; Baumann, Jürgen u.a. (Hg.) a.a.O., S. 78 Zurück

8) Vgl. Ebenda, S. 76 Zurück

9) Vgl. Ebenda, S. 75 u. 76 Zurück

10) Ebenda, S. 158 Zurück

11) Vgl. zur Unterscheidung der Konfliktbearbeitung mit und ohne neutrale Instanz, Wasmuth, Ulrike C. (Hg.) Konfliktverwaltung – Ein Zerrbild unserer Demokratie? Berlin 1992, S. 33 Zurück

12) Heinelt, Gottfried, a.a.O., S. 37 Zurück

13) Vgl. Schwind, Hans-Dieter, Baumann, Jürgen u.a. (Hg.) a.a.O., S. 62 – 117 14) Von Altenbockum, Jasper, Im ausgebrannten Jugendhaus von Groß-Klein zeigen die Kids an die Wand – dort steht: Total normal, in: FAZ, 2.9.1992, S.4 Zurück

15) Zitiert nach: Scheibe, Wolfgang, Die Strafe als Problem der Erziehung, Weinheim 1972, S. 60 Zurück

16) Vgl. Wühler, Norbert, Die internationale Schiedsgerichtsbarkeit in der völkerrechtlichen Praxis der Bundesrepublik Deutschland, Berlin, Heidelberg, New York, Tokio 1985 Zurück

17) Jäger, Herbert, Makrokriminalität, Frankfurt am Main 1989, S. 20 Zurück

18) Ebenda, S. 34 Zurück

19) Vgl. Ebenda, S. 63 Zurück 20) Vgl. Ebenda, S. 72

Peter Krasemann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle »Kommunikation zur Förderung der Friedensfähigkeit« an der Hochschule der Künste in Berlin.

Wider die Entwertung des Gewaltbegriffs

Wider die Entwertung des Gewaltbegriffs

von Albert Fuchs

Im »deutschen Herbst« '92 – angesichts in Flammen aufgehender Asylbewerberunterkünfte und hundertfacher anderer Angriffe auf die physische und psychische Integrität ausländischer Mitbürger, angesichts der von der politischen Klasse losgetretenen unsäglichen Asyldebatte, angesichts unbeschwerter Waffenlieferungen in Krisengebiete (Türkei, Indonesien) und einer immer schonungsloser betriebenen Remilitarisierung der Republik – in diesem neudeutschen Herbst muß Streit um den Gewaltbegriff auf den ersten Blick reichlich »akademisch« erscheinen. Ich möchte diesen Streit trotzdem führen.

Wenn sich dieser Vorwurf nämlich eher aus einem drängenden Engagement für eine Verhinderung und Verminderung gewaltförmiger Auseinandersetzungen zwischen Individuen, Gruppen, Ethnien und Staaten durch koordinierte Anstrengungen der Gutwilligen speist, muß er auf einen zweiten Blick wieder zurückgenommen werden. Denn eine Koordinierung der Anstrengungen der Gutwilligen setzt eine Verständigung bezüglich der Handlungssituationen und der Ziele und Mittel der erforderlichen Anstrengungen voraus und damit eine gemeinsame Sprache, eine geteilte Begrifflichkeit und insbesondere eine Einigung bezüglich des Gewaltbegriffs.

Die anhaltende Auseinandersetzungen um diesen Begriff (vgl. Neidhardt, 1986) drehen sich um die Begriffsextension, d.h. um die Frage, welche Erfahrungskonstellationen bzw. welche Situations-Handlungs-Komplexe darunter zu subsumieren sind, und einschlußweise um eine entsprechende Selektion und Akzentuierung konstitutiver Merkmale. Ich möchte ein kräftiges Fragezeichen hinter die allenthalben zu beobachtende – auch in Beiträgen zu diesem Heft exemplarisch dokumentierte – Tendenz setzen, den Gewaltbegriff zu einer wertgeladenen sozialmetaphysischen Kategorie aufzublähen und dadurch seines deskriptiven Gehaltes zu berauben.

Begriffserweiterungsstrategien

Von sozialwissenschaftlicher Seite hat als einer der ersten Friedens- und Konfliktforscher Johann Galtung (1975) mit ungefähr folgendem, durchaus noch nachvollziehbarem Rationale eine vieldiskutierte Begriffserweiterung vorgeschlagen. Wird als fraglos unterstellt – so Galtung –, daß Frieden die Abwesenheit von Gewalt beinhaltet, und versteht man unter Gewalt nur direkte, personale Destruktionshandlungen, läuft Frieden auf die bloße Abwesenheit von personaler Gewalt bzw. auf Nicht-Krieg hinaus, ist also negativ bestimmt. Friedensforschung als Disziplin aber erfordert eine positive Gegenstandsbestimmung. Daher sind unter dem Gewaltbegriff Unrechtsverhältnisse politisch-sozialer Art zu subsumieren, so daß Frieden über Nicht-Krieg hinaus auch politisch-soziale Gerechtigkeit als positive Zielkategorie und Gegensatz zu dieser »strukturellen Gewalt« umfaßt. Allgemein liegt Galtung zufolge „Gewalt … dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werde, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“ (a.a.O., S.9).

Die entscheidende Frage zur Differenzierung von personaler und struktureller Gewalt lautet: Gibt es in dem Einflußverhältnis, das Gewalt für Galtung abstrakt gesprochen immer darstellt, ein handelndes Subjekt, einen Akteur, oder nicht? Im ersten Fall liegt personale oder direkte Gewalt vor, im zweiten Fall strukturelle oder indirekte Gewalt. In beiden Fällen können Menschen verletzt oder getötet oder sonstwie geschädigt werden. Während bei personaler Gewalt jedoch immer konkrete Personen als verantwortliche Akteure identifizierbar sind, kann im Falle struktureller Gewalt lediglich auf anonyme Strukturen verwiesen werden (Galtung, a.a.O., S.12). Damit ist die Bindung des Gewaltbegriffs an eine Subjekt-Objektbeziehung aufgehoben; im Vordergrund stehen die (destruktiven) Auswirkungen auf die Opfer der Gewalt.

Abgesehen von der m.E. im Ansatz problematischen Ableitung des Friedensbegriffs aus dem Gewaltbegriff, enthält Galtungs Konzeption bereits alle wesentlichen Schwierigkeiten, denen sich auch andere Erweiterungsversuche aussetzen und die unten im einzelen zur Sprache kommen sollen. Zur Illustration der Multifunktionalität von Erweiterungsstrategien ist jedoch noch das Bemühen der (alt-)bundesdeutschen Strafgerichtsbarkeit und Rechtswissenschaft zu skizzieren, den strafrechtlich besonders relevanten Begriff der sogenannten dynamischen Gewalt zu präzisieren.

Eine Differenzierung von statischer und dynamischer Gewalt kann man ohne Schwierigkeiten bis in das römische Rechtssystem zurückverfolgen (vgl. Hofmann, 1985). Statische Gewalt – als »Staatsgewalt« oder »öffentliche Gewalt« weitgehend mit legitimer Machtausübung identiiziert – wird insbesondere im Staatsrecht thematisiert; dynamische Gewalt – als illegitime, direkt oder indirekt gegen die verfaßte staatliche Ordnung gerichtete »Gewalttaten« dieser Ordnung Unterworfener – ist eher strafrechtlich von Interesse. Obwohl die Beschreibung des statischen Moments im allgemeinen die Charakterisierung des dynamischen Moments, d.h. von machtbegründenden und -stabilisierenden gewaltsamen Interaktionsprozessen als notwendige Bedingungen einschließt (vgl. Müller-Dietz, 1974, S.36), ist im vorliegenden Zusammenhang primär die strafrechtliche Diskussion von Belang.

Seit der Einführung des Strafgesetzbuches im Jahre 1871 gilt nach Hofmann (1985) für die strafrechtliche Dogmatik „die zur Überwindung eines Widerstandes entfaltete physische Kraft“ gegen Personen oder auch gegen Sachen (Hofmann 1985, S.261) als kleinster gemeinsamer Nenner einer Definition der dynamischen Gewalt. Unter Rekurs auf das römische Strafrecht unterscheidet man die Schaffung eines unüberwindlichen Hindernisses für die Willensentschließung oder -betätigung des Opfers, d.h. deren Verunmöglichung beispielsweise durch Betäuben, Fesseln, Einschließen usw. (vis absoluta) und die Setzung von zwar nicht unwiderstehlichen, aber doch »mürbemachenden« Einflüssen, z.B. durch Prügeln (vis compulsiva).

Diese Differenzierung führt allerdings erst weiter, wenn man berücksichtigt, wie beide Formen von dynamischer Gewalt in der Rechtsprechung – insbesondere zum »Nötigungsparagraphen« 240 StGB – inhaltlich bestimmt werden im Hinblick auf die begriffskonstitutive, qualifizierte Kennzeichnung des Mittels und des Ergebnisses einer kritischen Einwirkung. Die einschlägige Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs wird vielfach idealtypisierend als Entwicklung in drei Phasen rekonstruiert (z.B. Krey, 1974; 1986). Danach galt unter dem Aspekt des Mittels zunächst die täterseitige Entfaltung körperlicher Kraft als entscheidendes Kriterium für die Anwendbarkeit des Begriffs (im Sinne der vis absoluta). Daneben gibt es aber auch bereits einige Urteile des Reichsgerichts, die zwar an dieser Formel festhielten, sie aber der Sache nach preisgaben bzw. auf das Erfordernis einer körperlichen Handlung reduzierten und das physische Moment auf die Einwirkung auf das Opfer verlagerten (im Sinne des vis compulsiva). Vor allem aber hielt der Bundesgerichtshof schon in einem frühen Urteil die Einwirkung auf den Körper des Opfers für entscheidend.

In der dritten Phase trat der Mittelaspekt weitgehend in den Hintergrund; der Bundesgerichtshof stellte jetzt allgemein auf eine die Freiheit der Willensentschließung oder -betätigung beeinträchtigende Zwangswirkung ab. Am weitesten wurde diese »Entmaterialisierung« oder »Vergeistigung« des Gewaltbegriffs in dem sog. Laepple-Urteil aus dem Jahre 1969 getrieben, in dem es um den Protest gegen Fahrpreiserhöhungen durch Sitzen auf Straßenbahnschienen ging. Sowohl das Erfordernis der täterseitigen Aufwendung körperlicher Kraft als auch das der physischen Einwirkung auf das Opfer verloren ihre kritische Bedeutung; es genüge, daß der Täter mit nur geringem Kraftaufwand einen lediglich psychisch determinierten Prozeß in Gang setze und dadurch einen »unwiderstehlichen Zwang« auf den Genötigten ausübe, um den Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB zur Anwendung kommen zu lassen.

Wie immer man diese auch vom Bundesverfassungsgericht (1986) übernommene Rekonstruktion der Entwicklung des strafrechtlichen Gewaltbegriffs beurteilt – kritisch beispielsweise Starck (1987) –, klar dürfte sein, daß sich je nach Kriterienbestimmung und -gewichtung ein ganz unterschiedlicher Begriffsumfang und damit ein ganz unterschiedliches Potential für justitiell gerechtfertigte »Gegengewalt« in Form von Strafmaßnahmen aufgrund etwa des »Nötigungsparagraphen« ergibt.

Erweiterungsstrategien sind Entwertungsstrategien

Die Galtungsche Begriffserweiterung setzt im wesentlichen bei der Komponente Akteur an, die justitielle beim Handlungsmittel. Entsprechend unterschiedlich sind die Ergebnisse: bei Galtung geht es um die Skandalisierung herrschender Verhältnisse, Diskreditierung ihrer Repräsentanten und Agenten und Rechtfertigung von Widerstand gegen diese Verhältnisse; bei den Erweiterungsstrategen unter den Strafrechtlern und Rechtswissenschaftlern wiederum um Einschränkung des auf Veränderung herrschender Verhältnisse gerichteten Handlungspotentials der diesen Verhältnisse Unterworfenen, Kriminalisierung der Träger der Veränderungsdynamik und Rechtfertigung von staatlicher Repressionsgewalt. Damit wird ein Grundproblem jeder Erweiterungsstrategie offensichtlich: Der (extrem negative) evaluative Gehalt des Gewaltbegriffs (vgl. Blumenthal, Kahn, Andrews u. Head, 1972, S.76-84; Kaase u. Neidhardt, 1990, S.41-45) gewinnt Vorrang vor dem deskriptiven. Um entscheiden zu können, wann dieser Begriff adäquat zu verwenden ist, benötigt man folglich eine normative Theorie, die einem sagt, was man zu tun und zu lassen hat bzw. was sein soll und was nicht. Ich bezweifele, daß man auf diesem Weg in absehbarer Zeit zu einer konsensualen Verwendung des Gewaltbegriffs kommen kann.

Was jedoch schwerer wiegt: Soweit die zwischenzeitliche Orientierung an partikularen Interessen und Prinzipien bei Anwendung des Gewaltbegriffs einhergeht mit einer fast durchgängigen Orientierung an Grundsätzen einer Vergeltungsmoral bei aktueller Verwicklung in soziale Konflikte, droht jede Erweiterungsstrategie geradezu kontraproduktiv, d.h. gewaltstimulierend oder -eskalierend, zu wirken. Eine systematische Perspektivendivergenz der Gewaltzuschreibung ist empirisch gut belegt. Einschlägigen Untersuchungen zufolge neigen Teilnehmer an gewaltverdächtigen Auseinandersetzungen – bzw. den Konfliktparteien unterschiedlich nahe stehende Beobachter – dazu, die Gewalthaftigkeit des eigenen Handelns systematisch zu untertreiben, die Gewalthaftigkeit des gegnerischen Handelns jedoch ebenso systematisch zu übertreiben (vgl. Blumenthal et al., 1972; Duncan, 1976; Fuchs u. Maihöfer, 1992; Kaase u. Neidhardt, 1990; Mummendey, Linneweber u. Löschper, 1984; Mummendey u. Otten, 1989). Andererseits scheint sich die »lex talionis«, das Prinzip der Vergeltung des »Gleichen mit Gleichem«, in unserer Gesellschaft gerade im Problemfeld Gewalt praktisch unbeschränkter Herrschaft zu erfreuen (vgl. Blumenthal et al., 1972; Gouldner, 1960).1

Neben diesen substantiellen Bedenken sprechen m.E. auch zwei gewichtige metawissenschaftliche Gesichtspunkte, die sich wechselseitig bedingen, gegen eine anscheinend bedenkenlose Ausweitung des Gewaltbegriffs. Der erste ist das Operationalisierungsproblem. Um empirisch gehaltvolle Hypothesen über Gewaltphänomene als Voraussetzung rationaler Interventionsstrategien entwickeln und prüfen zu können, müssen diese Phänomene objektiv beobachtbar sein. Ich denke, das ist unstrittig. Wie aber konstatiert man oder mißt man gar z.B. daß „Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“ (Galtung, 1975, S.9)?

Analogen Frage muß sich jede Begriffserweiterungsstrategie stellen. Galtung gibt immerhin Hinweise zur Beantwortung solcher Fragen. Kriterium der potentiellen Verwirklichung ist für ihn, was „mit einem gegebenen Maß an Einsicht und Hilfsmitteln“ möglich ist (a.a.O., S.10). Werden Einsicht und/oder Hilfsmittel von einer Gruppe oder Klasse innerhalb eines Systems monopolisiert oder zweckentfremdet gebraucht, liegt das Maß der aktuellen unter dem der potentiellen Verwirklichung, und in dem System ist Gewalt präsent (ebd.). In späteren Arbeiten (Galtung, 1978; 1986) hat er sein Gewaltkonzept unter Rückgriff auf eine vier Bereiche umfassende Liste von materiellen und nicht-materiellen Grundbedürfnissen, denen bei Nichtbefriedigung vier Typen von Gewalt entsprechen sollen, spezifiziert. »Klassische«, d.h. direkte, dem menschlichen Körper zugefügte Gewalt umfaßt alle Formen der körperlichen Verletzung und Destruktion seitens eines Täters. Gewalt kann dem menschlichen Körper aber auch auf andere Weise, in Form strukturell bedingter Armut, d.h. durch Entzug des Lebensnotwendigen, zugefügt werden. Die dritte Kategorie erschließt sich, wenn man davon ausgeht, daß auch die menschliche Psyche oder der Geist in Form strukturell bedingter Unterdrückung, d.h. durch Entzug des Funktionsnotwendigen (bspw. von Meinungsfreiheit oder Arbeitsmöglichkeit) geschädigt werden kann. Schließlich können geistige Schädigungen auch mit nicht-repressiven Regierungsformen in Form von strukturell bedingter Entfremdung bei Entzug höherer Erfordernisse der Selbstverwirklichung einhergehen. Bezogen auf die ursprüngliche zentrale Differenzierung, stellt der erste Typ personale Gewalt dar, die Typen zwei bis vier strukturelle Gewalt. In der Arbeit von 1986 wird der dritte Typ allerdings als Variante direkter Gewalt klassifiziert, und als Grundbedürfnisse figurieren Überleben, Wohlstand, Freiheit und Identität (a.a.O., S.8).

Solche Hinweise mögen in Richtung einer Lösung des Operationalisierungsproblems zeigen, stellen aber beileibe noch keine Lösung dar. Die zuletzt erwähnte Klassifikationsunsicherheit bringt die Kehrseite der Medaille in den Blick: Der Operationalisierungsproblematik liegt eine unbefriedigende konzeptuell-phänomenologische Analyse des Problemfeldes zugrunde. Einerseits wird zu differenzieren versucht, was kaum zu differenzieren ist, und andererseits werden konzeptuell und wohl auch theoretisch und empirisch zu differenzierende Phänomenkomplexe nicht hinreichend differenziert.

Was zunächst das erste Moment betrifft, so ist beispielsweise Galtungs grundlegende Unterscheidung von personaler und struktureller Gewalt kaum tragfähig, da Strukturen letztendlich immer nur wirksam werden durch Handlungen oder Unterlassungen von individuellen oder kollektiven Akteuren, diese Handlungen und Unterlassungen aber auch kaum zerlegbar sind in persönliche und gesellschaftliche Elemente. Ob man dieser Schwierigkeit mit der Annahme eines Kontinuums zwischen überwiegend personalen und überwiegend strukturellen Elementen beikommen kann (vgl. Roth, 1988, S.59f.), mag dahingestellt bleiben. Einen präziseren und konsistenteren Begriffsgebrauch – und größere empirisch-theoretische Fruchtbarkeit – dürfte die Ersetzung der Galtungschen Dichotomie durch das Gegensatzpaar Protestgewalt (»Gewalt von unten«) – Repressionsgewalt (»Gewalt von oben«), das offensichtlich mitgemeint ist, garantieren.2

Was das zweite Moment betrifft, so bringt es Galtung wiederum fertig, Gewalt sozusagen im gleichen Atemzug als Diskrepanz von aktueller und potentieller Verwirklichung zu definieren und als „Ursache für den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen“ zu erläutern, als „das, was den Abstand zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen vergrößert oder die Verringerung dieses Abstandes erschwert“ (Galtung 1975, S.9). Entweder wird damit Gewalt zur »causa sui« mystifiziert, oder es ist von begriffslogisch, empirisch und theoretisch zu trennenden Phänomenen die Rede. Warum aber dann keine entsprechend differenzierende Terminologie? Welchen Erkenntnisgewinn soll es bringen, wenn man ein Phänomen und seine Ursache(n) mit demselben Etikett versieht? Bestenfalls dient hier die typisch reziproke Determiniertheit wohl der meisten personalen Gewaltprozesse – Stichwort »lex talionis« – als Erklärungsmodell für Gewalt überhaupt. Aber weder wird man durch eine derartige Konfusion dem zirkulären Charakter personaler Gewaltprozesse gerecht, noch läßt sich dieses Modell unbesehen auf alle Gewaltvorkommnisse bzw. auf alle Erklärungsniveaus übertragen. In analoge Schwierigkeiten geraten abermals die Begriffserweiterungsstrategen unter den Juristen, wenn sie die Gewaltalternative des »Nötigungsparagraphen« 240 StGB von der Drohungsalternative und beide Alternativen von Zwang oder Nötigung allgemein abgrenzen wollen (vgl. Callies, 1974).

Die Verschränkung von Operationalisierungsproblematik und Problemen der begrifflich-theoretischen Klärung des Gegenstandbereichs läßt eine befriedigende Lösung dieser Probleme nur mittelfristig, im Laufe eines längeren Prozesses kumulativer Forschung, erreichbar erscheinen. Forschungsstrategisch am zweckmäßigsten dürfte aber sein, diesen Prozeß mit der Festlegung auf einen möglichst präzisen und konsistenten Gewaltbegriff zu verankern. Doch woran soll man sich dabei orientieren?

Therapievorschlag: den Leuten aufs Maul schauen

Um auch Rechtswissenschaftler in den Gewaltdiskurs der Sozialwissenschaftler einzubeziehen, ist eine Orientierung an der Alltagssprache indiziert. Durch das Bestimmtheitsgebot und Analogieverbot des Art. 103(2) GG sehen sich Juristen an den vorgegebenen, der Manipulation nicht unmittelbar zugänglichen Alltagssprachgebrauch gleichsam als »höhere Instanz« verwiesen. Er ist maßgeblich für den möglichen Wortsinn eines Gesetzes, der seinerseits die Grenze kennzeichnet zwischen zulässiger richterlicher Gesetzesauslegung und unzulässiger Rechtsfortbildung (vgl. Krey, 1986, S.19).

Unabhängig von dieser Rücksichtnahme auf rechtswissenschaftliche »Sachzwänge« gibt es gute Gründe im Zusammenhang der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Gewaltproblematik dem empirischen Gehalt des Ausdrucks »Gewalt« besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Zum einen müssen in alltagssprachliche Begriffe gefaßte „naive Verhaltenstheorien“ (Laucken, 1974) und die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger u. Luckmann, 1969) zur Erklärung von sozialem Handeln in Rechnung gestellt werden. Das besagt aber, daß diese subjektiven Theorien und ihre Begrifflichkeit als solche zu klären und ihre Beziehungen zu wissenschaftlichen Theorien zu explizieren sind. Zumindest im Falle einer Prüfung durch Befragung kommen wissenschaftliche Theorien in direkten Kontakt mit subjektiven Theorien. Womöglich noch wichtiger ist, daß sozialwissenschaftliche Theorien und Analysen eingebettet sind in einen größeren lebenspraktischen Zusammenhang; sie sollen Antwort geben auf vor- und außerwissenschaftliche gesellschaftliche Fragen und rationale Problemlösungen ermöglichen. Dazu aber müssen sie kommunikativ rückgebunden bleiben an diesen größeren Zusammenhang.

Zu diesen allgemeinen Gründen kommt beim Gewaltbegriff die bereits erörterte spezifische Be- bzw. Verurteilungsdynamik hinzu, so daß die Verwendung dieses Begriffs i.d.R. selbst eine wesentliche Rolle in dem betreffenden sozialen Prozeß spielt. Die strafrechtliche »Bewältigung« bestimmter Formen des friedensbewegten Widerstands gegen die »Nachrüstung« als »verwerfliche Gewalt« ist ein klares Beispiel für diese Verzahnung von Sprachverwendung und sozialem Prozeß.3 Diese Dynamik ist aber auch generell als motivationale Grundlage der skizzierten Erweiterungsstategien zu vermuten. Dagegen könnte gerade die sorgfältige Analyse des Alltagssprachgebrauchs einen Einstieg eröffnen zu ihrer Überwindung in dem unterstellten allseitigen Interesse an der Reduzierung von Gewalt.

Im deutschsprachigen Raum haben Kaase u. Neidhardt (1990) im Rahmen der Arbeit der »Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission)« im (alten) Bundesgebiet auch zum Gewaltverständnis Bevölkerungsbefragungen durchgeführt. U.a. ließ man die Befragten zu 13 Kennzeichnungen gewaltverdächtiger Situations-Handlungs-Komplexe angeben, in welchem Fall sie von Gewalt oder Gewaltanwendung sprechen würden. Die Hauptergebnisse: Quasi-Kontinuität des Etikettierungsprofils der zu beurteilenden 13 Ereignisse (mit einem Anteil von 17% im Falle von Behinderungsaktionen von »Greenpeace gegen Giftmüllfrachter«; bis 81% im Falle der Abwehr von Übergriffen der Polizei – „mit Latten und Steinen“ – durch Demonstranten) und Differenzierbarkeit des Etikettierungsprofils nach der selbsteingestuften politischen Grundorientierung der Befragten. Und zwar wurden Protestaktivitäten von rechts orientierten Beurteilern durchgehend eher als Gewalt angesehen als von links orientierten; genau umgekehrt verhielt es sich bei Repressionsmaßnahmen (Kaase u. Neidhardt, 1990, Standardtab. 5, S. 229-236).4 Die Anwendung eindeutig physischer Durchsetzungsmittel führte allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit und nahezu orientierungsunabhängigem Konsens zur Gewaltzuschreibung.

Fuchs u. Maihöfer (1992) wiesen gezielt nach, daß die statusmäßige Beziehung der Beurteiler (Mitglieder links-alternativer Gruppierungen und Auszubildende der Bereitschaftspolizei) zu den Positionshaltern in konflikthaften Interaktionen (Protestaktivitäten und Repressionsmaßnahmen, die das gesamte Typikalitätskontinuum gewaltverdächtiger Zwangsmaßnahmen repräsentierten) ein wesentlicher Bestimmungsfaktor der Gewaltzuschreibung darstellt. Diese Perspektivendivergenz trat umso markanter hervor, je mehrdeutiger die Szene bzw. je heterogener ihre Beurteilung war, während in den Extrembereichen kein nennenswerter Unterschied zwischen den beiden Informantengruppen bestand. Dieser Befund stellt in der Interpretation der Autoren ein beachtliches Indiz für einen einheitlichen Gewaltbegriff der, dessen Kern eine (direkte oder indirekte, versuchte oder erfolgreiche) absichtliche Schädigung physischer Natur bzw. mit physischen Mitteln zu bilden scheint. Demgegenüber lege das Phänomen der Perspektivendivergenz lediglich gruppenspezifische (partikularinteressengeleitete) Identifikationsroutinen nahe.

Die geschilderten Untersuchungen stehen im Kontext der Auseinandersetzung mit der rechtswissenschaftlich-justitiellen Begriffserweiterungsstrategie. Nichts spricht dagegen, einiges dafür das Galtungsche Konzept – und an Galtung orientierte Begriffserweiterungen – in ähnlicher Weise unter die Lupe zu nehmen und dazu zunächt einmal Galtungs opferzentriertes Vorverständnis mitzuvollziehen. Ob sich dieses Vorverständnis bewährt, wäre der vorgeschlagenen Therapie zufolge nach dem Muster der referierten Arbeiten empirisch zu prüfen. Solche Untersuchungen zum Status des Galtungschen Gewaltbegriffs im Lichte des Alltagssprachgebrauchs sind im Interesse eines konsensualen Gewaltbegriffs als Voraussetzung eines rationalen Umgangs mit der Gewaltproblematik m.E. überfällig.

Literatur

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Anmerkungen

1) Der von konservativer Seite allenthalben erhobene Vorwurf, Galtungs Gewaltkonzeption diene „auch dazu, private Gewalttätigkeit mit Gloriole der Rechtfertigung zu versehen“ (Wassermann, 1989, S.83; für weitere Belege s. Hennig, 1989) ist m.E. eine infame Unterstellung, sofern Galtung Friedensforschung erklärtermaßen nicht nur als „Studium von Gewalt, sondern auch (als) das der Möglichkeiten“ versteht, „Gewalt mit nicht-gewaltsamen Mitteln zu überwinden, z.B. durch nicht-militärische Verteidigung und nicht-gewaltförmige Revolution“ (Galtung, 1978, S.29). Bestenfalls handelt es sich um eine Wirkungszuschreibung, die m.W. bisher empirisch nicht belegt wurde. Sollte sie aber empirisch zu belegen sein, würde das die hier vorgebrachten eigenen Vorbehalte stützen. Zurück

2) Eine solche Substitution scheint mir »unter der Hand« bspw. E. Hennig (1988, S. 69-73) in Anwendung der Galtungschen Begrifflichkeit zur Analyse jugendgeprägter Subkulturen zu vollziehen. Zurück

3) Nach §240 (2) StGB ist zwar grundsätzlich zwischen Tatbestandsfeststellung und Rechtswidrigkeitsurteil zu unterscheiden. Spätestens mit dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 5. Mai 1988, wonach die sog. politischen Fernziele der Akteure „nicht bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Nötigung, sondern ausschließlich bei der Strafzumessung zu berücksichtigen“ sind (Bundesgerichtshof, 1988, Leitsatz), wurden faktisch jedoch alle Weichen in Richtung auf Konfundierung beider Aspekte gestellt. Zurück

4) Ähnlich unterschiedliche Profilverläufe erhält man, wenn man die Parteipräferenz der Befragten zum Differenzierungskriterium macht; vor allem CDU/CSU-Anhänger einerseits und Anhänger der GRÜNEN andererseits urteilten tendenziell gegenläufig. Zurück

Albert Fuchs ist Psychologe, Professurvertreter in Erfurt.