Ökologie & Frieden in krisenträchtigen Regionen

Ökologie & Frieden in krisenträchtigen Regionen

Der Beitrag der Wirtschaft

von Paul Schäfer

Unter diesem Titel hat die Evangelische Akademie Loccum sich erstmals mit der Rolle der Wirtschaft bei der Entstehung, der Eskalation, aber auch der Regulierung bzw. Vorbeugung von gewaltförmigen Konflikten beschäftigt. Damit hat die Akademie die positive Tradition fortgesetzt, neue Themen aufzugreifen und Richtungen der öffentlichen Debatte mitzuprägen. Eine weitere Stärke der Akademie: Bei der Bearbeitung der neuen Fragen Kontrahenten unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Positionen zusammen zu bringen. Gerade in den Bereichen Frieden, Sicherheit, Umwelt, Entwicklung hat Loccum in der Vergangenheit spannende Debatten organisiert (Ost – West, Friedensbewegung – Bundeswehr etc.). Diese Konferenz hat Vertreter aus multinationalen Unternehmen, Ministerien, internationaler Einrichtungen und Engagierte aus der Umwelt- , Entwicklungs- und Friedenspolitik zusammengeführt.

Erstmalig vorgestellt wurden zwei Studien: Die eine befasst sich mit dem Zusammenhang der (illegalen) Ausplünderung des Tropenwaldes mit dem gewaltförmigen Austrag von Konflikten – am Beispiel Indonesiens. Durchgeführt wurde sie vom Adelphi Research Institut in Berlin, gefördert durch InWent, eine verhältnismäßig neue, dem BMZ eng verbundene Einrichtung, die u.a. die frühere Carl-Duisberg-Gesellschaft ablöste und die sich als bildungs- bzw. ausbildungspolitische Säule der Entwicklungspolitik versteht. Studie: Etwa ein Viertel der bewaffneten Konflikte heutzutage steht nach Einschätzung des Adelphi-Forschers Dr. Carius mit dem Kampf um die Ressource Holz/Wald in einem ursächlichen Zusammenhang. Daher erscheint es überfällig, sich näher mit diesem Thema zu beschäftigen. Zündstoff bekam die Tagung an dieser Stelle auch dadurch, dass sich eine Reihe von NGO- und Wissenschaftsvertretern aus betroffenen Regionen (Indonesien, Philippinen, aber auch Vietnam) beteiligte und in Verbindung mit weiteren »Repräsentanten des Südens« aus Afrika und Lateinamerika andere Perspektiven auf die Problemlagen eröffneten. Während der »Norden« dazu neigt, sich mehr auf die lokalen und regionalen Akteure zu beziehen, die durch Korruption und Gewalt ihre Anteile an der Ausplünderung der Natur usurpieren, richtete »der Süden« den Fokus eher auf die Nachfrager nach solchen Gütern, wie Tropenholz, auf die in den industriellen Zentren involvierten Unternehmen, auf Schuldenkrise und unzureichende Entwicklungshilfe. Es ist zu hoffen, dass sich daraus ein fortgesetzter Dialog entwickelt, denn weder einseitige Schuldzuweisungen noch paternalistisch anmutende Vorschläge über »good governance« in den Entwicklungsländern (so wichtig Regelungen gegen Korruption und über gute Regierungsführung sind) werden weiterhelfen.

In der zweiten Studie, unter dem Titel »In Stabilität investieren«, wurde in grundsätzlicher Weise der Frage nachgegangen, wie die Finanzwelt (Versicherungen, Banken, Investmentfonds) zur Befriedung und nachhaltigen Entwicklung in gefährdeten Regionen beitragen kann. Diese Forschungsarbeit entstand im Rahmen der »Finance Initiative« des UN-Entwicklungsprogramms (UNEP, Genf). Mareijke Hussels (UNEP FI) stellte die Eingangsfrage: Wann tritt Gewalt auf? Ihre Antwort: In Zeiten raschen Wandels, der mit verschärftem Wettbewerb um Ressourcen, Identitäten, Ideologie und Macht einhergeht. Die Studie der UNEP macht klar, wie wichtig »Conflict Analysis, Risk assessment und -management« gerade für die international agierende Geschäftswelt ist. Sie versucht zugleich die Vorteile herauszuarbeiten, die es für den Finanzsektor hat, wenn er sich in Verbindung mit der Staatenwelt und der Zivilgesellschaft um Konfliktprävention, um Standards des angemessenen Verhaltens in Konfliktfällen und um »investment in post-conflict-builduing« bemüht. Vertreter der Finanzwirtschaft merkten in der Debatte an, dass noch deutlicher zwischen verschiedenen Konflikttypen und Akteuren unterschieden werden müsse und die Rolle solcher Finanzinstitutionen wie »ranking-agencies« in die Untersuchung einbezogen werden müsse. Außerdem sollten die Realitäten »on the ground« mehr Beachtung finden. Warum bspw. sollte sich die Wirtschaft in Afghanistan eingedenk der schwierigen Lage engagieren? Schließlich: Der Finanzsektor könne Kriege zwar nicht verhindern, aber in einigen Fällen durch Information und die Herstellung von Transparenz die Staatengemeinschaft zum frühzeitigen Eingreifen in Krisenfällen bringen. Denn diese Einrichtungen verfügten oft über mehr Kenntnisse über Krisenregionen als die Geheimdienste oder die diplomatischen Vertretungen der verschiedenen Länder.

Am Beginn der Tagung hatte Dr. Armbruster vom BuMin für Entwicklungszusammenarbeit bereits einen weiten Bogen über die heutige Problemlage gespannt, für einen erweiterten Sicherheitsbegriff plädiert und ausgeführt, dass Frieden und strukturelle Stabilität im Interesse der Wirtschaft läge. Er ließ allerdings auch keinen Zweifel daran, dass es auch Geschäftemacherei gäbe, die sich über soziale Folgen hinwegsetze und sogar zur Verschärfung von Konflikten beitragen könne. Namentlich erwähnte er Waffenlieferungen, die Firmen, die an der Rohstoffausbeutung im Kongo verdienen wollten und Ölkonzerne, die auf den Bau der Baku-Ceyhan-Pipeline (Aserbeidshan, Georgien, Türkei/Kurdistan) gedrängt hätten.

Es ist evident, dass die Frage der Ökonomie durch die Globalisierungsprozesse neue Brisanz erlangt hat. AutorInnen sprechen von der Privatisierung der Weltpolitik. Der Begriff hat verschiedene Facetten. Er zielt auf die Machtverschiebungen zwischen transnationalen Konzernen und den Einzelstaaten – zu Gunsten Ersterer – ab, hat aber auch auf die galoppierende Erosion staatlicher Strukturen in den besonders konfliktträchtigen Regionen, in denen private Akteure (etwa Warlords) eine prominente Rolle spielen, im Visier. Dass Geschäftsbelange von Privatunternehmen und gewaltförmige Konflikte etwas miteinander zu tun haben könnten, wurde in Loccum intensiver am Beispiel der Ausplünderung wertvoller Rohstoffvorkommen in der Demokratischen Republik Kongo thematisiert. In Studien der Vereinten Nationen wurden Ross und Reiter genannt. Auch Untersuchungen der Weltbank haben sich dieses Themas angenommen und Kritisches zutage gefördert. Doch bleibt die Frage, ob es hier lediglich um »Schwarze Schafe« geht oder ob sich Skrupellosigkeit und Gewinnsucht nicht strukturbedingt verbinden. Und es bleibt die Frage, ob die vom Chefankläger des ISGH angestrebte Strafverfolgung der beteiligten Unternehmen auf Basis der bestehenden Rechtslage überhaupt Aussicht auf Erfolg hat.

Dass Privatunternehmen im Zuge der Globalisierung eine immer wichtigere Rolle spielen, ist also unverkennbar. Es bleiben dennoch viele Fragen offen:

  • Inwieweit sind die Vertreter der »global players« in ihren unternehmerischen Planungen und Strategien von Destabilisierungsprozessen in den Ländern betroffen und wenn ja, wie reagieren sie darauf?
  • Welche Relevanz haben die inzwischen weit verbreiteten »Standards for Sustainability«, denen sich die Unternehmen verpflichtet fühlen, wenn sich Widersprüche aus kurzfristigem wirtschaftlichem Nutzen und ökologischen/sozialen/politischen Folgen ergeben?
  • Verstehen sich die Wirtschaftseliten als auch politische Akteure oder als reine Geschäftsleute? Welche Bewusstseins- und Einstellungsveränderungen ergeben sich aus den gegenwärtigen Globalisierungsprozessen?
  • Von welchen Vorstellungen der internationalen und regionalen Konfliktregulierung lassen sie sich dabei leiten?

Noch scheint nicht ausgemacht, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln. Schlagzeilen macht regelmäßig das Weltwirtschaftsforum in Davos, das nach eigenem Anspruch die global engagierten Unternehmensvertreter mit Entscheidungsträgern der Politik zusammenführen und zukunftsfähige Konzepte für nachhaltige globale Entwicklung erarbeiten will. Offenkundig wird hier der Anspruch formuliert, global mitgestaltend wirken zu wollen. Andererseits wurden gerade bei der Loccumer Tagung die Vertreter der Geschäftswelt nicht müde zu betonen, dass Privatunternehmen weder über die Instrumente noch über die Legitimation verfügten, um die heutigen Probleme des globalen Überlebens zu lösen. Eine andere Frage, die im Raum steht, lautet: Geht es bei solchen Veranstaltungen wie dem Weltwirtschaftsforum, aber auch Symposien und Broschüren der einzelnen Firmen über Nachhaltigkeit und Konfliktbearbeitung, um mehr als PR-Kampagnen der in die Kritik geratenen »Geschäftswelt«? Oder hat in diesen Kreisen ein Umdenkungsprozess eingesetzt, weil die Problemlage das verlangt? Kann man davon ausgehen, dass, wie es im Konzept des »Global Compact« des VN-Generalsekretärs Kofi Annan angestrebt wird, die Unternehmen bereits wichtige Partner im Rahmen globaler Krisenbewältigungsstrategien sind, oder dass sie dafür noch gewonnen werden müssen?

Die Debatten in Loccum jedenfalls haben die Ambivalenzen und Widersprüche der heutigen Entwicklung offengelegt. Die Vertreter der Energiewirtschaft konnten einigermaßen plausibel zeigen, dass ihre Investitionen langfristiger Natur sind und sie daher ein hohes Interesse an Frieden und Stabilität haben müssen. Den kritischen Nachfragen nach ihrer Rolle in solchen Konfliktregionen wie Kolumbien, Nigeria oder Indonesien wichen sie eher aus und verwiesen auf ihre Investitionen in soziale Projekte vor Ort. Die Frage, ob es für Privatfirmen ggf. auch »No Go Areas« geben könnte, weil ein bestimmtes Geschäft umweltunverträglich und konfliktfördernd sein könnte, stellt sich auf den Chefetagen dieser Unternehmen derzeit nicht. Hier ist noch viel Diskussionsbedarf.

Das gilt auch für die Erarbeitung umfassender und zugleich möglichst konkreter Konzepte, die allen Beteiligten »Win-Win-Optionen« eröffnen können. In diesem Rahmen wären auch die spezifischen Beiträge der verschiedenen Akteure – Staat, Wirtschaft, Zivilgesellschaft – noch genauer herauszuarbeiten. In dieser Hinsicht wurde in Loccum ein Anfang gemacht, der eine Fortsetzung verlangt.

Wo war die Friedenscommunity?

Interessant ist der Blick in die TeilnehmerInnen-Liste der Loccumer Tagung: Der Diskussion stellten sich Vertreter der großen Erdölkonzerne (BP und SHELL), der Versicherungsbranche (Gerling), der Chemie-Unternehmen (BASF). Könnte es sein, dass v.a. die Branchen reagieren müssen, die im besonderen Maße im Rampenlicht öffentlicher Kritik stehen oder die am direktesten von den Chaotisierungsprozessen in den Entwicklungsregionen betroffen sind? Ansonsten blieb die Resonanz in der Wirtschaft eher spärlich.

Vertreten waren Repräsentanten des UN-Entwicklungsprogramms (UNEP), des UN-Instituts für Abrüstungsforschung, des »World Business Council for Sustainable Development«, des BMZ und des Umweltministeriums, InWent, schließlich eine größere Anzahl von Menschen aus der NGO-Szene , ob aus dem internationalen Bereich wie »International Alert« oder »Transparency International«, oder aus nationalen Zusammenhängen wie »Germanwatch«, »Robin Wood« etc. Es fällt auf, dass in hohem Maße Repräsentanten der Entwicklungs- und Umweltpolitik vertreten waren, aus der Friedenspolitik im engeren Sinne bis auf drei Ausnahmen niemand. Offenkundig ist der Anfang der neunziger Jahre formulierte Anspruch, dass man Entwicklungs-, Regional- und Friedensforschung stärker zusammen bringen müsse, noch uneingelöst. Das gilt auch für die bewegungsorientierten Gruppen der EZ einerseits, der Friedensbewegung andererseits. Dass Friedens- und Entwicklungspolitik und Globalisierungskritik zusammen gehören, ist bislang eher programmatischer Vorsatz. Die Realisierung steht noch aus.

Paul Schäfer ist W&F- Redakteur

Gewaltsame Konflikte in Somalia:

Gewaltsame Konflikte in Somalia:

Lehren aus einem Dutzend gescheiterter Friedensprozesse

von Thania Paffenholz

Alle Bemühungen, Frieden in Somalia zu schaffen, sind bislang gescheitert. Das, obwohl im Land am Horn von Afrika schon fast alle Optionen der zivilen und militärischen Konfliktbearbeitung zur Anwendung kamen: Von der militärischen Intervention, über Vermittlung durch internationale Akteure wie die Vereinten Nationen oder die Europäische Union oder die Staaten der Region (Äthiopien, Ägypten, Kenia) sowie zuletzt durch die Regionalorganisation »Intergovernmental Agency for Development« (IGAD). Weiterhin hat es zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen gegeben sowie verschiedene Versuche, Frieden durch traditionelle Akteure wie Ältestenräte zu erzielen. Letztere waren erfolgreich in der Befriedung des nordwestlichen Teils Somalias, Somaliland. Hier herrscht seit fast zehn Jahren Frieden und die Region befindet sich im Wiederaufbau. Leider ist es nicht gelungen, dieses Erfolgsmodell auf den Rest Somalias zu übertragen. Denn seit 1991 ist Somalia de facto und de jure ohne einen Staat.

Ziel des vorliegenden Artikels ist es, die Gründe dieses Scheiterns der vielen Friedensbemühungen zu analysieren, um Vorschläge für weitere Bemühungen in Somalia zu entwickeln.

Krieg und Frieden in Somalia

Der bewaffnete Kampf in Somalia begann bereits 1988 mit dem Kampf von Widerstandsgruppen in Somaliland gegen den Zentralstaat im Süden.1 Dem langjährigen Diktator Somalias Siad Barre war es nicht gelungen, die ehemalige britische Kolonie Somalialand gleichwertig in den somalischen Staatsverbund zu integrieren. Das Machtzentrum im Staat lag in den Regionen um die Hauptstadt Mogadischu im Süden. Somaliland und seine Klans wurden benachteiligt. Dies führte zu Widerstand gegen den Staat, den die nationale Armee mit massiver Gegengewalt beantwortete.

Vom Anti-Regime Krieg zum Kampf um die Macht

Anfang der 90er Jahre weitete sich der bewaffnete Kampf auf den Süden aus: 1991 rückten verschiedene Widerstandsgruppen auf die Hauptstadt zu und zwangen den Diktator Barre das Land zu verlassen. Somaliland erklärte daraufhin seine Unabhängigkeit, die allerdings bis heute international nicht anerkannt wird. In Somaliland vermittelten die Klanältesten im Friedensprozess, der 1994 erneut von blutigen Kämpfen unterbrochen wurde. Nach einem erneuten Vermittlungsprozess der Ältesten wurde Somalialand dauerhaft befriedet und ist nunmehr ein klassisches Nachkriegsland/region.

1992 weitete sich der bewaffnete Kampf im Süden aus, da die verschiedenen Gruppen sich nicht auf eine für alle interessante Verteilung der Macht im Staat, einigen konnten. So entstand ein Kampf um die Macht in einem Staat, der nicht mehr existierte.

Die Kombination von Hungersnot und Krieg zog das Interesse der internationalen Medien auf Somalia. Die USA intervenierten zum Schutz der Hilfskonvois vor Plünderungen. Die anschließende UN-Mission, UNOSOM, erhielt auch ein weitreichendes politisches Mandat zur Befriedigung des Landes. Mehrere Verhandlungen mit den verschiedenen Warlords fanden im Laufe der Jahre statt. Alle scheiterten.

Mehr als ein Dutzend gescheiterter Friedensinitiativen

1995 verließen die VN ohne Erfolg Somalia (siehe dazu Diehl 2003, Sahnoun 1994, Rahmesh 1994). Die Europäische Kommission setzte einen Sonderbotschafter für den politischen Prozess in Somalia ein und unternahm in den darauf folgenden Jahren verschiedene Versuche, eine politische Regelung für Somalia zu erreichen (Paffenholz 1998). Ab 1997 bemühten sich die Staaten der Region, nämlich Äthiopien, Ägypten und Kenia, um eine politische Regelung. Zu den vermittelnden Akteuren stieß von europäischer Seite noch Italien hinzu, die ehemalige Kolonialmacht im Süden Somalias.

Nachdem alle Friedensinitiativen gescheitert waren, begannen die internationalen Akteure ab 1997 sich mehr auf zivilgesellschaftliche Akteure zu konzentrieren (näheres Paffenholz 2003). Dabei zeigte sich das Problem, das es wenig klan-unabhängige zivilgesellschaftliche Gruppen gab. Dennoch ist es damals gelungen, eine neue Dynamik für Friedensförderung zu schaffen, die nicht mehr allein auf die Warlords abzielte.

Während bis Mitte der 90er Jahre die Warlords die dominanten Kräfte im Land waren, setze nach dem Rückzug von UNOSOM eine Machtverschiebung ein: Der Anti-Regime-Krieg wandelte sich ab 1991 zunächst in einen Krieg zwischen den größeren Klans vor allem im Süden Somalias, dann in bewaffnete Auseinandersetzungen innerhalb dieser Klans bzw. zwischen Unterklangruppen (Sub-Sub-Clans). Dadurch wurde die Macht der Klans geschwächt. An ihre Stelle traten vor allem die Geschäftsleute, die zunehmend Milizen der Klans für ihre Sicherheit und den Schutz ihrer Interessen rekrutierten. Auch traten zivilgesellschaftliche Akteure stärker hervor, aber nicht vergleichbar mit dem Geschäftssektor (siehe Menkhaus 2003).

Neue Friedensinitiativen stellen die Klans in den Mittelpunkt

Im Jahre 2000 begann auf Initiative der Regierung in Djibuti ein neuer Friedensprozess, der Vertreterinnen und Vertreter der vielen somalischen Klans in den Mittelpunkt rückte und die Warlords ausschloss. In mehrere Monate dauernde Verhandlungen entstand daraufhin eine neue somalische Übergangsregierung (Transitional National Government, TNG). Somaliland hielt sich im Wesentlichen fern vom diesem Prozess. Obwohl einige internationale Akteure die neue Regierung politisch (VN) und finanziell (Golfstaaten) unterstützten, gelang es dieser aber nicht, ihren Herrschaftsbereich über einen Teil der Hauptstadt Mogadischu hinaus auszuweiten (siehe International Crisis Group 2002).

Die Regionalorganisation IGAD lancierte unter Führung von Kenia im Jahr 2002 einen neuen Friedensprozess. Dieser basierte auf dem Djibuti-Prozess und stellte ebenfalls die Klans in den Mittelpunkt, bezog aber auch die Warlords mit ein. Mehrere Verhandlungsrunden in Kenia führten zur Unterzeichnung von Waffenstillstandsabkommen, zuletzt im Juli 2003. Erneute Kämpfe im Süden des Landes untermauern, dass auch dieser Prozess höchst instabil ist (siehe Terlinden 2003).

Warum sind alle Friedensbemühungen bislang gescheitert?

Hier liegen die Wurzeln des ursprünglichen Anti-Regime Krieges Ende der 80er Jahre. Die Gründe sind aber nach wie vor relevant und erklären, warum Somaliland sich von allen nationalen Friedensregelungen bisher fern gehalten hat.

Hinzukommt, dass die große Macht des einstigen Zentralstaates zu einer wesentlichen Blockade aller Friedensbemühungen wurde. Obwohl jeder der beteiligten somalischen Akteure dezentralisierten Strukturen zustimmt, bleibt aufgrund der Historie eine Konkretisierung schwierig.

Um seine Macht abzustützen, hatte Siad Barre ein komplexes, klientelistisches System basierend auf den alten Klanstrukturen aufgebaut. Dies führte dazu, dass die Entstehung eines modernen politischen Staates blockiert wurde, da immer wieder die Interessen der Klans statt anderer Interessensverbände gestärkt wurden. Diese Entwicklung schürte Rivalitäten unter den Klans und hat den Aufbau klan-unabhängiger Strukturen verhindert, was bis heute eine Blockade für den Friedensprozess im Süden darstellt.

Divergierende Interessen der Regionalstaaten

Obwohl viele Vermittlungsinitiativen in der Regel auch viele Optionen für den Frieden bergen, sind im Falle Somalias die divergierenden Interessen, vor allem der Regionalstaaten, für den Friedensprozess insgesamt nicht von Vorteil gewesen. Äthiopien unterstützt beispielsweise lange Zeit nur eine bestimmte Gruppe von somalischen Warlords und positionierte sich gezielt gegen andere. Damit wurde vor allem von 1997 bis 2000 mehr Konflikte geschürt als geregelt. Dies liegt am ambivalenten Verhältnis Äthiopiens zu seinem Nachbarn Somalia. Denn Äthiopien war in der Zeit von Siad Barre Opfer der somalischen regionalen Hegemonialansprüche. Siad Barre wollte alle somalisch-sprachigen Terroritorien in der Region zu einem »Greater Somalia« zusammenführen. Dies betraf Teile von Nordkenia sowie den Süden Äthiopiens (Region 5). In einem Feldzug wurde deshalb die Region 5 Äthiopiens von der somalische Armee kurzzeitig besetzt. Die Staatenlosigkeit Somalias bietet für Äthiopien mehrere Vorteile. Zunächst ist, wie oben erläutert, ein nicht- handlungsfähiger Staat ohne Armee keine Bedrohung. Des Weiteren konnte Äthiopien seine Kontrolle der bewaffneten äthiopischen Opposition aus dem Ogaden, die in Somalia über Basen verfügten, militärisch ausdehnen. Denn keiner protestierte als die äthiopische Armee nach dem Abzug der VN Schritt für Schritt nach Somalia einzog und weite Teile der Grenzregion mit dem Süden besetzte.2

Kenia verfolgte eine ambivalente Politik gegenüber Somalia. Grundsätzlich besteht aus demselben Grund wie im Falle Äthiopien keine sehr positive allgemeine Einstellung gegenüber Somalia. Dies wird noch verstärkt, da Kenia die Hauptlast der somalischen Flüchtlinge trägt. Die kenianische Regierung ist daher einerseits an einer Friedensregelung für Somalia interessiert und hofft auf eine Rückführung der Flüchtlinge.

Auch Ägypten spielte eine ambivalente Rolle. Einerseits wollte es sich durch eine erfolgreiche Friedensregelung in Somalia als Führungsmacht in der Region etablieren und den Einfluss der Arabischen Liga im Horn von Afrika steigern. So entstand eine Rivalität um die regionale Führung zwischen Äthiopien und Ägypten. Dies führte dazu, dass Ägypten gezielt solche somalischen Kriegsparteien unterstützte, die nicht von Äthiopien unterstützt wurden. Dies schürte den Konflikt weiter.

Hinzukommen auch Rivalitäten zwischen den IGAD Staaten um die Führung in den regionalen Friedensprozessen.

So entstand aus vielen Vermittlungsbemühungen ein Nullsummenspiel für den Frieden!

Mangelhafte Vermittlungsstrategien

Alle Vermittlungsstrategien vor Djibuti waren wenig an die realen Bedingungen in Somalia angepasst. Der Fokus wurde viel zu lange auf die zersplitterten Warlord Fraktionen gelegt. Zu wenig wurden Alternativen ausgelotet wie beispielsweise der Fokus auf die Klans, die Zivilgesellschaft, die Diaspora oder die Geschäftswelt. Obwohl in einigen Teilen Somalias immer wieder Zonen des Friedens etabliert worden sind (am deutlichsten im Norden), wurde darauf wenig zurückgegriffen für die weitere Befriedung des Landes.

Auch waren und sind die vermittelnden Staaten viel zu sehr auf das Konzept eines somalischen Gesamtstaates fixiert. Friedensförderung wird mit Neugestaltung von Staatlichkeit gleichgesetzt (siehe Menkhaus 2003). Zwar werden seit Beginn der von der Europäischen Kommission 1996 initiierten Diskussion um dezentrale Strukturen (siehe London Scholl 1996), die bis zum heutigen Tage von allen Beteiligten gutgeheißen, doch wurden solche Strukturen ausschließlich innerhalb eines Gesamtstaates weitergedacht. Real ist es aber unklar, wie dieser Staat – fern der formalen Regelungen – funktionieren wird. Daher optieren viele somalische Gruppen lieber für eine klare und schwierige Gegenwart, als für eine unsichere Zukunft.

Einige Nicht-Regierungsorganisationen, allen voran das schwedische »Life and Peace Institute« (LPI), unterstützten schon seit Beginn der Auseinandersetzungen immer wieder die somalische Zivilgesellschaft (Pfaffenholz 2003). LPI machte auch Lobby- und Advocacy-Arbeit für den Einbezug der Zivilgesellschaft in den Friedensprozess in verschiedenen internationalen Gremien. Nach einer kurzen Phase eines parallelen Warlord/zivilgesellschaftlichen Prozesses 1993/94, den die VN zusammen mit LPI durchführten, fokussierten die VN und andere Vermittler wieder auf die Warlords (siehe Sahnoun 1994). Erst als alle diese Friedensbemühungen gescheitert waren, richteten die Vermittler ab 1996 ihr Augenmerk auf die Zivilgesellschaft (Djibuti-Prozess). Der aktuelle IGAD-Prozess unter kenianischer Führung versucht die verschiedenen Gruppen mit einzubeziehen, wobei der Schwerpunkt bei den Warlords liegt und das Konzept des Einbezugs der Zivilgesellschaft nicht ausgereift ist.

In all den Jahren mangelte es zudem an einer Gesamtstrategie für den somalischen Friedensprozess. Erst mit dem aktuellen Prozess wurde dieses Versäumnis nachgeholt. Doch auch der aktuellen Strategie unter dem erfahrenen kenianischen Vermittler Bethuel Kiplagat mangelt es an einem Gesamtkonzept für den Einbezug der Zivilgesellschaft, das sich an konstruktiven Erfahrungsmodellen aus anderen Ländern orientiert. Ebenfalls mangelt es an einer klaren Vision für die Zukunft Somalias nach dem Krieg.

Eigendynamik: Konfliktverschärfende Faktoren

Bewaffnete Konflikte und Kriege sind keine neue Form der Auseinandersetzung unter den somalischen Klans. Von jeher haben die unterschiedlichen Nomadenklans ihre Weidegründe verteidigt, wenn es aus ihrer Sicht nötig war auch gewaltsam.

Auch zeigt sich, dass der Großteil der somalischen Bevölkerung einigermaßen gut überleben kann im Krieg. Dies liegt neben der lokalen Begrenztheit der Auseinandersetzungen vor allem an der großen somalischen Diaspora im Ausland, die die Daheimgebliebenen mitfinanziert. Hier hat sich eine Art Diasporaklientelismus entwickelt. Zu einem geringen Anteil leben Somalis auch von den Einnahmen aus der Hilfsindustrie.

Im Laufe der Jahre haben sich viele Somalis mit dem Zustand der Staatenlosigkeit gut arrangiert. In einer Gesellschaft ohne Staat entfallen Dinge wie Zoll, Steuern oder die staatliche Regulierung des Marktes, was auch Vorteile für die Geschäftswelt hat. Beispielsweise verfügt Somalia über eines der modernsten Telekommunikationssysteme der Welt. Somalia ist deshalb ein interessanter Fall von konsequenter Marktwirtschaft. Mit der Weiterentwicklung der somalischen Ökonomie scheint die Staatenlosigkeit allerdings nicht mehr größere Vorteile zu bringen. Denn die Geschäftsleute in Somalia investieren viel Geld in den Schutz ihrer Investitionen. Sie rekrutieren beispielsweise Milizen und finanzieren Gerichte (Sharia Courts) zur Verbesserung der öffentlichen Sicherheit. Dass die Staatenlosigkeit von vielen Somalis immer noch als ein Vorteil gesehen wird, liegt vor allem in der Unsicherheit über die Gegebenheiten in einem zukünftigen Staat und stellt damit eine Blockade für den Friedensprozess dar (siehe Menkhaus 2003). Diese Haltung blendet systematisch die Nachteile der Staatenlosigkeit aus: Somalia ist international nicht vertreten, und niemand nimmt die Rechte des somalischen Staates wahr. So fischen beispielsweise koreanische und japanische Konzerne mit ihren Flotten die somalischen Küstengewässer leer, einige internationale Firmen laden hemmungslos radioaktiven Müll an der Küste ab. Für den Friedensprozess ist es deshalb wichtig, dass die Nachteile der Staatenlosigkeit den verschiedenen Interessensgruppen klarer vermittelt werden und Vorteile für die Geschäftswelt innerhalb eines Staates aufgezeigt werden.

Ein weiterer konflikteskalierender Faktor liegt in der Art und Weise wie an vielen Orten die Humanitäre Hilfe vergeben wurde. Obwohl die Arbeit des »Somalia Aid Coordination Body« (SACB) eine wichtige Koordinationshilfe für die internationalen Geber darstellt, ist es insgesamt nicht gelungen, die vergangene Fehler der humanitären Hilfe in Somalia zu überwinden.

In Somalia nahm die höchst problematische Tradition des bewaffneten Schutzes von Hilfskonvois und Hilfsprojekten Anfang der 90er Jahre ihren Anfang und hat sich gewohnheitsmäßig verstetigt. Denn so wurde ein neuer Arbeitszweig für bewaffnete junge Männer eröffnet, die keine andere Ausbildung erhalten hatten. Da der Schutz von Hilfsprojekten zu einer Einkommensbeschaffungsmaßnahme geworden war, kam es immer wieder dort, wo sich die Sicherheitslage verbessert hatte, zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Diese zielten darauf zu verdeutlichen, dass der bewaffnete Schutz nach wie vor notwendig ist. In anderen Fällen bekriegten sich die bewaffneten Schutztruppen der einzelnen Hilfs-Agenturen gegenseitig, da sie zu unterschiedlichen Klans gehörten.

Konkrete Vorschläge für den weiteren Friedensprozess

Wichtig ist jetzt trotz erster Rückschläge am Konzept des IGAD Friedensprozesses unter kenianischer Führung festzuhalten. Es bedarf aber einer Weiterentwicklung der Gesamtstrategie. Diese muss zu allererst um die Erarbeitung einer klaren Vision für ein Nachkriegs-Somalia angereichert werden. Hierzu bedarf es eines Prozesses, der alle relevanten Akteure auch auf der lokalen Ebene mit einbezieht. Die jetzige Form ist nicht ausreichend. Dies heißt nicht, dass alle Akteure mit am Verhandlungstisch sitzen müssen. Es geht vielmehr darum, geeignete Mechanismen und Prozesse der Rückkoppelung in beide Richtungen zu schaffen. Wichtig ist dabei, dass ein solcher Prozess mit Advocacy für diese Vision begleitet wird. Ziel ist es, Unsicherheiten und Zweifel über die konkrete Ausgestaltung der Zukunft Somalias bei den relevanten Interessengruppen zu beseitigen.

Der aktuelle Friedensprozess hat den Warlords wieder viel Macht im Prozess gegeben. Dies entspricht nicht mehr den realen Machtverhältnissen in Somalia. Der Einbezug der Warlords als größte potentielle und aktuelle »Spoiler« ist aber dennoch wichtig. Jedoch ist genauso zentral, wie der Einbezug der anderen Akteure geregelt ist und welche Legitimität diese Akteure haben. Dazu muss der Einbezug der Zivilgesellschaft auf eine transparente und legitime Basis gestellt werden und durch einen offiziellen Diskurs in Somalia abgestützt werden (siehe vorheriger Punkt).

Aufgrund der historischen Erfahrungen der somalischen Akteure mit einem Gesamtstaat gilt es in einer Vermittlungsstrategie zu vermeiden, die Perspektive unmittelbar auf die Schaffung eines Gesamtstaats zu richten. Dies entspricht einer westlichen Logik vom demokratischen, dezentralen Verfassungsstaat. Interessanterweise sind aber die meisten europäischen dezentralen Staaten wie beispielsweise die Schweiz oder auch Deutschland gar nicht so entstanden: Diese Staaten entstanden durch das stückweise, nacheinander Zusammenwachsen verschiedener Einzelgebilde, die sich aus gemeinsamen Interessen zusammenschlossen. Dieses Modell der »Building Blocks« wurde Ende der 90er Jahre im somalischen Kontext auch diskutiert, dann aber teilweise wieder fallengelassen. Die Frage muss ernsthaft gestellt werden, inwieweit ein solches Modell nicht einmal in ganzer Konsequenz durchdacht werden sollte. Tut man dies, so müsste Somaliland die staatliche Anerkennung und die offizielle Vertretung Somalias in den VN gewährt werden, mit einer Klausel, die den Beitritt anderer Teilgebilde Somalias zum somalischen Staat vorsieht. Ebenfalls würde eine solche Konstruktion besondere Regelungen zum Schutz vor Dominanz der später beitretenden Gebiete vor der Gründungsregion Somalialand nötig machen. Auch müsste ein solcher Staat internationale Schutzgarantien erhalten. Es wäre interessant zu sehen, ob ein solcher Schritt nicht einen friedenspolitischen Sog auf andere Regionen ausüben würde. Der Vorschlag hört sich auf den ersten Blick ungewöhnlich an. Doch birgt er wenige Risiken. Scheitert er, erhielte Somaliland die staatliche Anerkennung, was langfristig ohnehin schwer zu vermeiden ist, wenn die Situation im Süden sich nicht verbessert.

Literatur

Anderson, Mary B. (1999): Do no harm, How aid can affect peace or war, Lynne Rienner Publisher Boulder.

Bryden, Matt (2003): Security Challenges and the International Dimension of the Somali Crisis, in: Journal of Conflict Studies, im Erscheinen (Herbst 2003).

Diehl, Paul F. (1996): With the Best Intentions. Lessons from UNOSOM I and II, in: Studies in Conflict and Terrorism, 19, 2, pp. 153-177.

International Crisis Group (2002): Salvaging Somalia’s Chance for Peace, Report 9 December 2002.

International Crisis Group (2002): Counteracting terrorism in a failed state, Report 23 May 2002.

Lessons Learned Unit. [UN] Department of Peacekeeping Operations (1995): Comprehensive Report on Lessons Learned from United Nations Operations in Somalia, April 1992-March 1995.

London School of Economics (1996): A Menu of Options, Report für die Europäischen Kommission.

Menkhaus, Ken (2003): State Collapse in Somalia: Second Thoughts, in: Review of African Political Economy 9/2003, im Erscheinen.

Paffenholz, Thania (1998): The European Union and the practice of peacebuilding in Africa. The European Commission in Somalia: Challenges, problems and the way forward, in: Engler, Ulf/Mehler, Andreas, Gewaltkonflikte und ihre Prävention in Afrika, Institut für Afrikakunde, Hamburg, S. 119-133.

Paffenholz, Thania (2003): Community bottom-up Peacebuilding. The role of the Life and Peace Institute in Somalia (1990-2000), Horn of Africa Series LPI Uppsala.

Ramesh, Thakur (1994): From Peacekeeping to Peace Enforcement. The UN Operation in Somalia, in: Journal of Modern African Studies, 32, 3, pp. 387-410.

Sahnoun, Mohamed (1994): Somalia. The Missed Opportunities, US Institute of Peace, Washington/D.C.

Terlinden, Ulf/Debiel, Tobias (2003): Trügerische Friedenshoffnung? Das Horn von Afrika zwischen Krisendiplomatie und Entwicklungsblockaden, in: Hofmeier R./Mehler, A., Afrika-Jahrbuch 2002, im Erscheinen.

Websites: www.crisisweb.org

Anmerkungen

1) Zur politischen Entwicklung in Somalia siehe die Dokumentation der IGAD: sowie die Reports der International Crisis Group (ICG) unter www.crisisweb.org/projects/project.cfm?subtypeid=31

2) Der genaue Zeitpunkt des Beginns der Besetzung ist schwierig zu benennen, da er schleichend von statten ging und die äthiopische Regierung die Tatsache in internationalen Gremien lange leugnete.

Dr. Tanja Paffenholz lehrt Entwicklungs- und Friedenspolitik am Institut für Politische Wissenschaften der Universität Bern in der Schweiz und unterhält das politische Beratungsbüro »Peacebuilding Research and Advice« ebenfalls in Bern. Sie war von 1996 bis Ende 1999 friedenspolitische Beraterin der Europäischen Kommission in Somalia. Eine längere Version des vorliegenden Artikels wurde im September verfasst für eine Veröffentlichung beim Afrika-Kunde Institut in Hamburg.

Terror und Energie-Sicherheit

Terror und Energie-Sicherheit

Ein neuer Krieg um Öl?

von Jürgen Scheffran

Seit ihrem Amtsantritt hat die Bush-Administration zwei große außenpolitische Initiativen in Angriff genommen: einen „nie endenden Krieg gegen den Terrorismus“ und die globale Ausweitung des amerikanischen Zugriffs auf Erdöl. Obwohl beide Problemfelder verschiedene Ursachen haben und unterschiedliche Strategien erfordern, sind sie durch den Lauf der Ereignisse miteinander verwoben. Der Krieg gegen den Terrorismus und der Kampf ums Öl erweisen sich zunehmend als zwei Seiten derselben Medaille. In beiden Fällen geht es um die Folgen einer nicht-nachhaltigen Wirtschaftsweise und den Ausbau der globalen Vorherrschaft der USA.
Es scheint, als sei ein Angriff auf den Irak und der Sturz Saddam Husseins zu einer fixen Idee der Bush-Administration geworden, ungeachtet weltweiter Proteste und des Risikos einer weiteren Destabilisiung des Nahen Ostens. Hat die US-Regierung keine anderen Probleme, als das vermeintliche Waffenarsenal eines geschwächten Potentaten auszuschalten? Sollte nicht der Kampf gegen den Terror, um den es im Falle des Irak nicht geht, Vorrang haben? Oder will Bush gegenüber Saddam bloß das Werk seines Vaters vollenden?

Von der Carter-Doktrin zur Enron-Connection

Mit den offiziell vorgebrachten Argumenten allein ist das Festhalten von George W. Bush an einer Invasion im Irak nicht zu begründen. Stutzig machen sollte es schon, dass ein naheliegender Faktor in den offiziellen Begründungen ausgeblendet wird: Erdöl. Dabei ist es kein Geheimnis, dass die gewaltigen Ölreserven in Nahost schon lange ein Hauptmotiv für das Engagement der US-Politik in dieser Region sind. Bereits in der 1980 verabschiedeten Carter-Doktrin galt jede Anstrengung zur Beeinträchtigung des Ölflusses aus der Golfregion als feindlicher „Anschlag auf die vitalen Interessen der Vereinigten Staaten“, der „mit allen Mitteln, einschließlich militärischer zurückzuschlagen“ sei. An diese Doktrin konnte dann nach Ende des Kalten Krieges der Vater des heutigen Präsidenten anknüpfen, auch wenn es bei der Operation Desert Storm 1991 offiziell weniger um »Blut für Öl« gegangen sein soll, wie Kritiker argwöhnten, als vielmehr um die Durchsetzung des Völkerrechts nach dem Angriff Iraks auf Kuwait.

Jetzt will George W. Bush die in Folge des zweiten Golfkrieges erheblich gewachsene Truppenpräsenz der USA für den dritten und entscheidenden Golfkrieg nutzen – wohl kaum, um das von ihm sonst missachtete Völkerrecht durchzusetzen. Wie sein Vater ist auch der heutige Bush den texanischen Ölclans verpflichtet, die seinen Wahlkampf finanziert haben. Bushs oberster Energiepolitiker ist Vizepräsident Dick Cheney, der das neue Energieprogramm der Regierung gestaltet. Bis zu seinem Amtsantritt war er Generaldirektor der Firma Halliburton-Energy und ist bis heute ihr Teilhaber. Tatkräftig zur Seite stehen ihm seine alten Freunde aus der Energiewirtschaft, darunter auch einige aus dem Energiekonzern Enron, der vor kriminellen Machenschaften nicht zurückschreckte und spektakulär Pleite ging. Beispiele für die Enron-Conncetion sind Lawrence Lindsey, Bushs Wirtschaftschef im Weißen Haus, Pat Wood, Leiter der US-Energie-Regulierungsbehörde, oder Thomas White, Bushs Minister für die Streitkräfte. Selbst Bushs Sicherheitsberaterin, Condoleezza Rice, war früher Mitglied im Aufsichtsrat des Chevron-Ölkonzerns.

Wachsende Öl-Abhängigkeit

Bei konstanter Fortsetzung der gegenwärtigen Förderrate sind nach einer Schätzung des deutschen Wirtschaftsministeriums aus dem Jahr 2000 (die nach wie vor mit großen Unsicherheiten behaftet ist) die Vorräte für Öl in 42 Jahren, für Gas in 65 Jahren und für Kohle in 169 Jahren erschöpft. Für Öl ist die Situation am dramatischsten. Aus der langjährigen Beobachtung des zeitlichen Verlaufs der Fördermengen der weltweiten Ölvorkommen lässt sich schließen, dass über die Hälfte der bekannten Reserven bereits verbraucht sind. Das lässt in den kommenden Jahren ernste Verteilungskämpfe erwarten. Hinzu kommt die ungleichmäßige geografische Verteilung: Für den Nahen Osten werden Reichdauern (Länge der noch zu erwartenden Förderzeit) von 94 Jahren genannt. Für Nordamerika beträgt die Schätzung 16, Russland 33, Norwegen 13 und für England nur 10 Jahre. Ölimporte aus Russland und der Nordsee decken jeweils 31% bzw. 33% des deutschen Bedarfs. Bei ihrem Wegfall würde sich die Energieabhängigkeit Deutschlands vom Nahen Osten verschärfen.

Da die heimische Ölproduktion der USA einem relativ schnellen Niedergang ausgesetzt ist und zugleich die Nachfrage der USA nach Erdöl mit jedem Tag zunimmt, steigern die USA gegenwärtig ihre Ölabhängigkeit von den großen Ölförderländern. Bis zum Jahr 2020, so jüngste Berechnungen des US-Energieministeriums, soll der tägliche Import-Bedarf der USA um 6 Millionen Barrel Öl höher liegen als heute – wo rund 17 Millionen Barrel pro Tag verbraucht werden (7 Barrel entsprechen etwa einer metrischen Tonne). Ein Teil dieses Öls soll zwar von Ölfeldern in Lateinamerika, Afrika, Russland und der Kaspischen Region kommen, aber der Löwenanteil wird aus der Golfregion erwartet, da nur hier die nötigen Reserven für eine erhebliche Produktionssteigerung gegeben sind. Mit geschätzten 113 Milliarden Barrel liegt der Irak an zweiter Stelle hinter Saudi-Arabien (262 Mrd. Barrel). Zusammen mit Iran, Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emiraten verfügen diese Länder über zwei Drittel der bekannten Ölreserven der Welt.

Die Bush-Regierung ist sich ihrer Abhängigkeit vom Öl bewusst und hat in der am 17. Mai 2001 veröffentlichten Nationalen Energiepolitik (nach ihrem Verfasser, Vizepräsident Dick Cheney, auch als Cheney-Report bekannt) daraus bereits Konsequenzen gezogen. Der Bericht löste zunächst einigen Wirbel aus, weil er die Namen der beteiligten Berater nicht offenlegte und die Freigabe von Bohrungen im arktischen Nationalpark ankündigte. Weniger Aufmerksamkeit erhielt die zentrale Empfehlung des Reports, dass die Energiesicherheit in Zukunft ein Schwerpunkt der Handels- und Außenpolitik der USA sein solle. Kurz und bündig wird festgestellt: „Das Wachstum in der internationalen Nachfrage nach Öl wird zu einem wachsendem Druck auf die globale Verfügbarkeit von Öl führen.“ Etwa die Hälfte des US-Ölverbrauchs stammt aus auswärtigen Quellen; bis 2020 werde der Anteil auf zwei Drittel ansteigen. Zugleich wird erkannt, dass die „Ölproduzenten des Nahen Ostens von zentraler Bedeutung für die Ölsicherheit der Erde“ sind und damit ein Hauptschwerpunkt der internationalen Energiepolitik der USA bleiben werden. Daraus folgt, dass die USA ihre guten Beziehungen zu Saudi-Arabien aufrechterhalten und gleichzeitig ihren Ölimport auf verschiedene Quellen verteilen müssen. Die Golfstaaten müssten überzeugt werden, ihren täglichen Ausstoß erheblich zu erhöhen, um den Öldurst der USA zu befriedigen; der Irak und Saudi-Arabien müssten in den nächsten zwei Jahrzehnten Millionen von Barrel zu der derzeitigen täglichen Fördermenge hinzufügen.

Die Bedeutung des Irak

Zwar leidet die irakische Bevölkerung seit einem Jahrzehnt unter dem von den USA forcierten Boykott, doch zugleich versorgt der Irak die USA derzeit mit etwa 800.000 Barrel Rohöl pro Tag, was rund 9% der gesamten Ölimporte der USA entspricht. Da die USA nicht direkt im Irak kaufen wollen, erfolgt der Handel mit Bagdad über Mittelsmänner im Rahmen des »Öl-für-Nahrung«-Programms der UNO.

Wichtiger noch als der derzeitige Ölzufluss ist die langfristige strategische Bedeutung des Iraks für die USA. Zwar könnten die USA theoretisch ihren wachsenden Ölbedarf allein durch Importe aus Kuwait, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten befriedigen. Doch befürchten US-Regierungsvertreter, dass Konflikte und instabile politische Verhältnisse oder auch mangelnde Investitionen eines Tages den Nachschub in diesen Ländern zum Erliegen bringen könnten. Weitere Staaten können zusätzliche Quellen eröffnen, darunter Russland, Nigeria und die Staaten am Kaspischen Meer. Keiner dieser Staaten kann jedoch mit der Förderkapazität des Irak mithalten.

Daher will die US-Regierung die Lage im Irak so rasch wie möglich zu ihren Gunsten entscheiden – und damit verhindern, dass andere das Geschäft mit dem Irak machen. Dem Weltenergieausblick 2001 der International Energ Agency (IEA) zufolge hat der Irak bereits die Rechte an geschätzten 44 Mrd. Barrel Öl verkauft, was den gesamten nachgewiesenen Reserven aller ostasiatischen Länder zusammen entspricht. Zu den Vertragspartnern dieser Deals gehören europäische Ölkonzerne wie ENI und TotalFinaElf gemeinsam mit der russischen Lukoil und der chinesischen National Petroleum Company (CNPC). Sollte das derzeitige Regime an der Macht bleiben, so befürchten US-Strategen, dass die irakischen Ölreserven von Firmen anderer Staaten kontrolliert werden können. Eine Möglichkeit, dies zu verhindern, wäre ein Sturz der derzeitigen und die Etablierung einer neuen US-freundlichen Regierung. Unter diesem Blickwinkel erscheinen die Interventionspläne der USA auch als Teil der innerkapitalistischen Konkurrenz im Ölsektor. Die USA versuchen, ihr Militär dafür zu instrumentalisieren, ihren Firmen günstigere Geschäftsbedingungen zu sichern. Zugeben will dies in der US-Regierung jedoch niemand. Es dürfte den letzten Rest von Bushs Glaubwürdigkeit in der Welt beseitigen und im In- und Ausland stärkere Widerstände unter dem Slogan »Kein Blut für Öl« provozieren.

Öl und Terror – eine starke Verbindung

Angesichts der starken Fixierung der amerikanischen Öffentlichkeit auf die Bedrohung durch den Terrorismus ist es für die US-Administration derzeit nicht ganz einfach, die Außenpolitik auf den Schutz der Ölvorräte zu richten. Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus eignet sich allerdings als Vorwand, um den militärischen Machtanspruch in den für die eigene Energiesicherung wichtigen Regionen auszubauen. Einige Faktoren begünstigen eine dauerhafte Verknüpfung des Anti-Terror-Kampfes mit der Sicherung der Ölvorräte. So liegen einige der weltweit größten Ölreservoire in politisch instabilen Regionen, allen voran im explosiven Nahen Osten. Zumindest zwei der großen Ölförderländer – Iran und Irak – gehören in den Augen der US-Regierung zur »Achse des Bösen«. Auch Syrien und Jemen, einige Golf-Emirate und anti-israelische Terrorgruppen in Libanon und Palästina stehen in der Schusslinie. Beim saudischen Regime, das zu den autoritärsten der Welt gehört, wird die Missachtung von Menschenrechten und die Unterstützung islamistischer Gruppen noch stillschweigend in Kauf genommen, ebenso die Tatsache, dass 15 der 18 Attentäter des 11. September aus Saudi-Arabien stammten, ganz zu schweigen von Osama bin Laden selbst. Immerhin würden die USA durch die Kontrolle des irakischen Öls etwas unabhängiger von der Willkür der saudischen Dynastie.

Auch wenn es schwerfällt, eine Verbindung zwischen Saddam und Al Quaida zu konstruieren, versucht die US-Regierung, einen Angriff auf den Irak in den Kampf gegen den Terror einzureihen. Ein Modell für die Kopplung von Öl und Terror war der Afghanistan-Feldzug. Manches spricht dafür, dass das Land weniger wegen der Unterstützung des internationalen Terrorismus bombardiert wurde als vielmehr wegen seiner strategischen Lage an der Schnittstelle verschiedener Großmächte und Ölrouten. So hatten Vertreter der US-Erdölfirma Unocal, die zuvor noch eng mit den Taliban kooperierte, für einen Regierungswechsel in Afghanistan plädiert, um so besser das Projekt einer Ölpipeline durch Afghanistan realisieren zu können. Heute bestreitet Unocal dies und lehnt eine Beteiligung an einer Ölpipeline ab.

Ähnliche Verknüpfungen zeichnen sich auch in anderen Regionen ab. Dem Cheney-Report zufolge gilt insbesondere die Region um das kaspische Meer als rasch wachsendes Ölfördergebiet, das wirksam in den Weltölhandel zu integrieren sei. Die nachgewiesenen Ölreserven in Aserbeidschan und Kasachstan umfassen etwa 20 Millionen Barrel, etwas mehr als die Reserven in der Nordsee. Um den Zugriff darauf abzusichern haben die USA nach dem 11. September begonnen, permanente Basen in Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan einzurichten. Sie führen in Georgien militärische Trainingsoperationen durch, an denen mehrere hundert Berater der Spezialkräfte der USA teilnehmen. Es geht darum, die georgischen Streitkräfte für den Kampf gegen Terroristen zu wappnen und dabei dürfte der Schutz der Pipeline, die Öl vom kaspischen Meer zu den Häfen des Schwarzen Meers und das Mittelmeer transportieren soll, im Mittelpunkt stehen. In ähnlicher Weise unterstützen die USA das Militär Kolumbiens beim Schutz einer Ölpipeline, die oft von Rebellen zerstört wurde. Spätestens seit der Geiselnahme in einem Moskauer Theater (Oktober 2002) durch ein tschetschenisches Kommando ist deutlich geworden, dass die Verknüpfung von Terror und Sicherung der Ölressourcen (in der Kaukasus-Region) auch für Russland ein massives Problem darstellt.

Die Machtkämpfe um zahlreiche Ölförderrouten, die Lebensadern der westlichen Welt in dem Dreieck zwischen Nahost, Zentralasien und Balkan, sind allerdings kaum noch zu durchschauen. Als Detail sei hier nur noch erwähnt, dass hierzu auch der Anschluss an eine transbalkanische Ölpipeline durch Bulgarien, Mazedonien und Albanien gehört. Die Machbarkeitsstudie dazu hatte Cheneys Firma Halliburton erstellt, deren Tochter Brown & Root im Kosovo in der Nähe der geplanten Pipeline-Route die größte US-Basis außerhalb der USA, Bondsteel, gebaut hat. Dies mögen alles seltsame Zufälle sein, aber sie stellen das Argument in Frage, der Kosovo habe für die USA nun wirklich keinerlei strategische Bedeutung gehabt.

Der Kreislauf der Gewalt

Eine Verbindung von Öl und Terror ist durchaus gegeben, allerdings mehr auf der Verursacherseite. Die Art und Weise, mit der die USA ihre Interessen durchsetzen, produziert entweder Unterordnung oder Gewaltbereitschaft oder beides zugleich. Die Ausbeutung der Naturschätze dieser Erde, wo immer sie liegen mögen, provoziert Widerstände der davon Betroffenen, im schlimmsten Falle Terrorismus. Zudem befördert das angeblich so freie kapitalistische Wirtschaftssystem eine Konzentration von Reichtum und die Schaffung immer neuer Verwundbarkeiten, die sich Terroristen zunutze machen können. So wie das World Trade Center dafür ein Symbol war, so sind in Zukunft Ölpipelines und -raffinerien, Kernkraftwerke und Flughäfen attraktive Angriffsziele.

Zudem ist mit den Anschlägen vom 11. September 2001 deutlich geworden, dass die von solchen Terrorangriffen ausgehenden Schockwellen auch die internationale Erdölindustrie in Turbulenzen stürzen können, was sich in abrupten Preisbewegungen niederschlägt. So fiel zwischen August und Dezember 2001 der Barrelpreis des so genannten OPEC-Korbs (ein Mischindex für sieben verschiedene Ölsorten) als Folge der Rezessionsfurcht und der verringerten Nachfrage von durchschnittlich 24 Dollar auf rund 17 Dollar. Seit Beginn diesen Jahres stiegen die Preise jedoch abrupt wieder auf 24 Dollar pro Barrel Mitte Mai. Mögliche Gründe sind eine Erholung der US-Wirtschaft, sinkende Vorräte in den Industrieländern sowie die bevorstehende US-Militärintervention im Irak. Es ist anzunehmen, dass im Falle eines Militärschlags gegen den Irak die OPEC-Länder dem Druck der USA nachgeben und ihre Produktion erhöhen werden.

Es ist müßig darüber zu streiten, ob nun Öl der entscheidende oder nur ein Grund unter mehreren ist für eine mögliche Militärintervention der USA in Irak. Ein Angriffskrieg wird nur dann realisiert, wenn es dafür ein relativ breites Bündnis im Herrschaftsestablishment der USA gibt. Im Falle des Irak kommen verschiedene Motive zusammen:

  • Das Streben der USA nach globaler Hegemonie,
  • der Anspruch auf regionale Vorherrschaft in Nahost und den angrenzenden Regionen,
  • die Ausschaltung politischer Gegner, ihrer Rüstungspotentiale, inklusive möglicher Massenvernichtungswaffen,
  • das Interesse der eigenen Rüstungslobby an möglichst vielen Kriegen und dem damit verbunden Waffenabsatz,
  • aber eben auch das Interesse an der Kontrolle der verbleibenden Öl- und Gasvorräte, die für die eigene Wirtschaft von eminenter Bedeutung sind.

Ein Militärschlag gegen Irak wäre in allen Punkten im Sinne dieser Koalition aus Wachstum, Macht und Gewalt. Eine mögliche Destabilisierung in Nahost und die Gefährdung Israel sind dabei kein Hinderungsgrund, im Gegenteil: Je mehr die Gewaltspirale sich dreht, um so leichter wird es für Bush jun. wie auch für Scharon, ihre auf Gewalt gegründete Politik zu forcieren und dabei Gegner wie Konkurrenten auszuschalten.

Das Ende des Ölzeitalters

Die Verbissenheit, mit der die Bush-Administration um die Öl-Hoheit kämpft, erklärt sich daraus, dass der Wohlstand der USA wie der gesamten westlichen Welt eben auf jenem schwarzen Rohstoff gründet, der vor rund 140 Jahren aus amerikanischem Boden sprudelte. Der damit verbundene Lebensstil und sein ungehemmter Ressourcenverbrauch gehen dem Ende entgegen, wenn bereits in diesem Jahrhundert die billigen Öl- und Gasvorräte ihr Ende finden. Selbst wenn die Erde noch manche Energieschätze in sich birgt, nützt dies wenig, wenn die physikalischen Grenzen erreicht werden, es also mehr Energie erfordert, sie zu bergen als sie zu nutzen. Technik kann hier kein Allheilmittel sein.

In den USA löst das ausgehende Ölzeitalter, auf dem der amerikanische Wohlstand und Lebensstil maßgeblich basiert, teilweise massive Bedrohungsängste aus, so als habe es die Debatte über die Grenzen des Wachstums vor 30 Jahren nie gegeben. Dass es vielleicht weniger Terroristen sind, die die Energiesicherheit der USA gefährden, als vielmehr der eigene maßlose Ressourcenverbrauch und das eigene Versagen bei der Suche nach Alternativen, das hat bislang keinen Eingang in das Denken der Führungsriege gefunden. Für Cheney kommen Energiesparen und die Nutzung regenerativer Energien an letzter Stelle. Weit größeres Gewicht haben die Aufrechterhaltung des fossilen Zeitalters und die Privatisierung des Energiesystems, ungeachtet der schlechten Erfahrungen durch den Strom-Blackout in Kalifornien. Dabei liegen die Alternativen klar auf der Hand, und sie wurden in zahlreichen Studien ausführlich erläutert, z.B. in einer Studie des Washingtoner Institute for Energy and Environmental Research (Makhijani 2001), das den Cheney-Energieplan direkt mit einem alternativen Umbau des Energiesystems vergleicht. Es wird deutlich, dass nicht nur der Versorgung, sondern auch der Sicherheit der USA weit mehr gedient wäre, wenn sie jetzt massiv in Energieeinsparung und die Förderung regenerativer Energiepotenziale setzen würde. Zu entsprechenden Erkenntnissen kommt auch der jüngst vorgelegte Bericht der Enquetekommission des Deutschen Bundestages »Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedingungen der Globalisierung und der Liberalisierung«. Solange eine vernünftige Energiepolitik jedoch in Konflikt mit den bestehenden Macht- und Interessenstrukturen gerät und Krieg als Instrument zur Energiesicherung angesehen wird, ist es schwierig, eine starke Koalition für den Energieumbau zu schaffen.

Literaturangaben

F. Alt: Krieg um Öl oder Frieden durch Sonne, München: Riemann, 2002.

Z. Brzezinski: Die einzige Weltmacht, Berlin 1999.

Enquête Kommission des Deutschen Bundestages: »Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedingungen der Globalisierung und der Liberalisierung«, Berlin 2002.

W. Fischer, E. Häckel: Internationale Energieversorgung und politische Zukunftssicherung, München, Oldenbourg, 1987.

M. T. Klare: Resource Wars – The New Landscape of Global Conflict, New York, Metropolitan Books, 2001.

M. T. Klare: Oil Moves the War Machine, The Progressive, June 2002.

M. T. Klare: Schnell, mobil und tödlich – Zeitalter der US-Hegemonie, Le Monde diplomatique, 15.11.2002.

A. Makhijani: The Cheney Energy Plan – Technically Unsound and Unsustainable, Science for Democratic Action, vol. 9, no. 4, August 2001.[Cheney.PDF]

A. Makhijani: Securing the Energy Future of the United States: Oil, Nuclear, and Electricity Vulnerabilities and a post-September 11, 2001 Roadmap for Action, Washington, IEER, November 2001.

National Energy Policy: Report of the National Energy Policy Development Group, May 2001, http://www.whitehouse.gov/energy/.

H. Scheer: Solare Weltwirtschaft. München: Verlag Antje Kunstmann, 1999.

J. Schindler, Werner Zittel: Der Paradigmawechsel vom Öl zur Sonne, Natur und Kultur, Heft 1 Jahrgang 1 (2000), S. 48-69 (5.11.99) www.natur-kultur.at.

F. Schmidt, C. Schuler: Krieg ums Erdöl, Spezial-Nr. 15, München: Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung, Dezember 2001.

J. Scheffran, W. Bender, S. Brückmann, M.B. Kalinowski, W. Liebert: Energiekonflikte – Kann die Menschheit das Energieproblem friedlich lösen?, Dossier 22, in: Wissenschaft und Frieden 14, 2/1996.

R. Zoll et.al. (Hrsg.): Energiekonflikte. Problemübersicht und empirische Analysen zur Akzeptanz von Windkraftanlagen, Münster, LIT, 2001.

Dr. Jürgen Scheffran ist Redakteur von Wissenschaft und Frieden und Mitarbeiter am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.

Öldurst

Öldurst

von Jürgen Nieth

Öldurst 1

„Wir finden ein hochbrisantes, internes Dokument der US-Armee vom März 2001. Also erstellt 6 Monate vor dem 11. September. Szenario eines Irak-Krieges. Mit genauem Aufmarsch- und Angriffsplan. Unter dem Stichwort »regionale Interessen der USA« heißt es an erster Stelle – ungeschminkt: »gesicherter Zugang zum Öl am Golf«.

Das propagierte Kriegsziel: »Verbreitung demokratischer Werte«, ist an vorletzter Stelle der Liste versteckt.“

Sonja Mikisch, Chefredakteurin von Monitor in der ARD am 21.11.02,

www.wdr.de/tv/monitor/sendetermine.html

Öldurst 2

„Wir werden uns aktiv dafür einsetzen, die Hoffnung auf Demokratie, Entwicklung, freie Märkte und freien Handel in jeden Winkel der Erde zu tragen.“ Wir werden „durch freie Märkte und freien Handel eine neue Ära globalen Wirtschaftswachstums auslösen.“

Neue Militärdoktrin der Bush-Regierung vom September 2002 in der auch das Recht zum militärischen Erstschlagals Vorbeugung gegen feindliche Attacken, d. h . zum Präventivkrieg, formuliert wird. Zitiert nach FR vom 28.09.02, S. 14.

Öldurst 3

„Es geht um Ölinteressen. Zurzeit ist der Irak für die amerikanische Öl- und Gasindustrie verschlossen. Mit einem Regimewechsel kommt aber die Aufhebung der Sanktionen – und US-Firmen werden wieder in den Irak zurückkehren können. Ich rede nicht nur von der Öl- und Gasindustrie, sondern auch von der Ausrüstungsindustrie, also Technik, Anlagen, Service. Das Interesse am Wiederaufbau der irakischen Ölfelder ist groß, es geht ja um eine riesige Industrie […] Die Meinungsverschiedenheiten, die Frankreich und Russland mit den USA haben, haben mit der Zukunft der Ölvorkommen in einem Irak nach Saddam zu tun. Die Angst der Russen und der Franzosen ist, ob ihre Verträge, die sie in der Zeit Saddam Husseins unterschrieben haben, bestehen bleiben. Ob sie weiterhin mit diesen Verträgen arbeiten können.“

Fred Mutalibov, Börsenanalyst und einer der bekanntesten Ölmarkt-Experten der USA in der Monitor-Sendung, ARD 21.11.02

Öldurst 4

„Wenn es dazu kommt, dass nur die Vereinigten Staaten und Großbritannien als einzige uns dabei helfen werden, das Land zu befreien und Saddam Hussein und sein Regime loszuwerden, dann wird eine Übergangsregierung gewiss mit großem Wohlwollen auf diese beiden Länder schauen.“

Nabil Nugawi vom Iraqi National Congress, der sich als Dachverband der irakischen Opposition versteht, mit Sitz in London, am 21.11.02 in Monitor.

Öldurst 5

„Die USA haben mit Hamid Karzai einen Mann an die Spitze Afghanistans gesetzt, der früher als Berater des amerikanischen Ölkonzerns Unocal tätig war und noch Mitte der 90er Jahre mit den Taliban über den Bau einer Erdgasleitung durch Afghanistan verhandelt hat.

Einer der ersten Entscheidungen, die Karzai als Übergangspräsident traf, war dann auch der Beschluss mit dem Bau der von der amerikanischen Ölindustrie gewünschten Erdgasleitung so bald wie möglich zu beginnen – wann immer das auch sein mag. Wenn es Georg W. Bush gelänge, jetzt auch noch einen Unocal-Berater an die Spitze des Irak zu hieven, hätte er in der Tat die rohstoffpolitische Verwundbarkeit der USA entscheidend verringert.“

Jürgen Todenhöfer, von 1972 bis 1990 MdB sowie entwicklungs- und rüstungspolitischer Sprecher der CDU/CSU Bundestagsfraktion, am 08. Oktober 2002 in der Frankfurter Rundschau, S.7.

Öldurst 6

„Seit August dieses Jahres eskalieren diese britisch-amerikanischen Luftangriffe ständig, […] die Angriffe richten sich immer häufiger auch gegen Ziele außerhalb der beiden »Flugverbotszonen« in Nord- und Südirak […] Die britisch-amerikanischen Kampfbomber (greifen) auch gezielt Brücken und andere zivile Einrichtungen an. Ende September wurde an zwei Tagen der Zivilflughafen von Basra bombardiert.“

Andreas Zumach in der TAZ vom 12. Oktober 2002, S. 3.

Öldurst 7

„Bevor Irak mit dem Überfall auf Kuwait im Sommer 1990 den Zorn Washingtons auf sich zog, setzte auch die Familie Bush auf gute Beziehungen zu Saddam. In der »Nationalen Sicherheitsdirektive 26« dekreditierte der Vater des heutigen Präsidenten im Oktober 1989 zwar »Menschenrechtserwägungen« sollten »weiter ein wichtiges Element unserer Politik gegenüber Irak« sein. Im langfristigen Interesse der USA lägen aber »normale Beziehungen« zu Saddam.“

Dietmar Ostermann in der Frankfurter Rundschau vom 7.Oktober 2002, S. 2.

Öldurst 8

„Die Regierungen der USA und Großbritanniens wollen den Krieg. Der wohl einzige Weg ihn noch zu verhindern wäre, wenn alle Verbündeten dazu nein sagten. Für einen totalen Alleingang hat die US-Regierung nicht den Mut, weil sie Probleme mit ihrer eigenen Bevölkerung fürchten muss. Wie viele Menschen die USA im Irak töten spielt für diese Geofaschisten keine Rolle. Ich benutze den Ausdruck ganz bewusst: Die USA sind ein geofaschistisches Land. Es ist auf der Weltebene faschistisch, obwohl es zu Hause demokratische Züge hat […] Ich sehe Faschismus als Gewaltfrage: also bereit zu sein, eine beliebige Menge von Leben zu opfern zur Erreichung politischer Ziele […] Die Schätzungen der von den USA weltweit getöteten Menschen seit dem Zweiten Weltkrieg schwanken zwischen 12 und 16 Millionen […] Bei allen US-Interventionen geht es darum, das eigene ökonomische System zu befördern.“

Johan Galtung, Friedens- und Konfliktforscher, in der TAZ vom 28. September 2002, S. 4.

Das Letzte

Schweijk bei der NATO

Leonid Kuchma, der Präsident der Ukraine, war ungeladen zum Gipfel des Euroatlantischen Kooperationsrates in Prag angereist. Protokollarisches Ungemach dräute, hätte ihn doch die normale Sitzordnung der NATO, an den englischen Staatsnamen orientiert, just neben jene beiden Staatsmänner plaziert, die ihn partout nicht treffen wollten – Tony Blair und George W. Bush.

Doch Tschechien erinnerte sich seines »Nationalhelden« und bewies Phantasie: Es bemühte die zweite Amtssprache der Allianz und die Sitzordnung wurde an den französischen Staatsnamen orientiert.

Der nötige Abstand war wiederhergestellt. Ein sichtbarer Beweis für Tschechiens NATO-Tauglichkeit.

Islamismus und Terrorismus

Islamismus und Terrorismus

Entgegnungen zu Claudia Haydt

von Werner Thiede

Seit dem 11. September 2001 erfährt Religion als »Brennstofflieferant« für Prozesse kollektiver Gewalt erhöhte Aufmerksamkeit. Die Berechtigung solcher Aufmerksamkeit hatte der Theologe W. Thiede in W&F 1/02 vor allem mit Blick auf den Islam unterstrichen. In W&F 2/02 kritisierte die Religionswissenschaftlerin C. Haydt entschieden diese Blickführung und forderte mehr Selbstkritik. Dazu merkt Thiede im vorliegenden Beitrag mit Nachdruck einige »Richtigstellungen« an. Aus der Sicht der Redaktion fehlt bisher eine muslimische Stimme; auch könnte vielleicht ein stärker objektivierender Ansatz weiter führen.
Die Redaktion hatte mich seinerzeit nicht nur als Autor eingeladen,1 sondern auch einen kritischen Folgebeitrag angeregt. Den hat nun Claudia Haydt aus dem erweiterten Vorstand von W&F selbst geschrieben.2 Allerdings beinhaltet ihre Kritik über Meinungsverschiedenheiten hinaus etliche Fehlwahrnehmungen und polemische Verzerrungen meiner Position, die nicht unwidersprochen bleiben können. Mit den folgenden knapp gefassten Ausführungen in zehn Punkten möchte ich zugleich weitere Informationen für eine differenziertere Perspektive auf die so ernste Thematik liefern.

  1. 1. Frau Haydt behauptet, ich hätte unterstellt, die Aggression gehe allein von „den anderen“ aus. „Kein Wort“ habe sie gefunden über die Schuld bzw. Schwächen der westlichen Haltung! Tatsache ist indessen, dass ich eigens unterstrichen habe, nicht dahingehend missverstanden werden zu wollen, als wäre „die abendländische Politik gegenüber islamistisch geprägten Ländern stets frei von Fehlern gewesen“ (a.a.O., S. 30). Allerdings war diese schwierige Frage in der Tat nicht mein Thema gewesen; insofern begrüße ich durchaus Haydts diesbezügliche Ausführungen als sinnvolle Ergänzung zu meinem umfangmäßig von vornherein begrenzten Artikel.
  2. 2. Die Unterstellung, ich hätte Interesse an der Konstruktion von Feindbildern, weise ich entschieden zurück. Ausdrücklich habe ich formuliert: Der „Dialog der Religionen ist jedenfalls zu begrüßen, wenn er ihre Vertreter authentisch sein lässt“ (a.a.O., S. 32). Der namhafte Göttinger Politologe und Islamexperte Bassam Tibi allerdings war es, der – mit kritischem Seitenblick auf Hans Küng – zur notwendigen Unterscheidung zwischen möglichen Dialogpartnern auf islami(sti)scher Seite aufgefordert hat. Und hinsichtlich der Moschee in Pforzheim, deren Name auf den Eroberer von Konstantinopel anspielt, hat er unterstrichen: „Als ein liberal orientierter Muslim halte ich es für höchst bedauerlich, wenn die islamische Gemeinde in Pforzheim sich ausgerechnet auf die Tradition der Bedrohung besinnt, indem sie die dortige Großmoschee al-Fatih genannt hat. Ich wundere mich nicht, daß diejenigen, die verstehen, was der Moschee-Name bedeutet, Angst bekommen. Das ist kein Feindbild Islam, sondern nackter Realismus.“3 Analysen dieser Art müssen erlaubt sein, ob sie nun aus muslimischer, christlicher oder sonstiger Feder stammen.
  3. 3. Haydt unterschiebt mir zu Unrecht die abwegige These, es gebe „den Glauben an die Verbalinspiration der Heiligen Schriften nur noch im islamischen Fundamentalismus“. Tatsache ist vielmehr, dass ich ausdrücklich geschrieben habe: „Sofern christliche Fundamentalisten oder christliches Sektierertum die Bibel einflächig lesen, tun sie das sozusagen gegen ihren Strich und gegen alle hermeneutische Vernunft“ (a.a.O., S. 32). Ob nicht „ideologischer Nebel“, wie ihn Frau Haydt mir als christlichem Theologen attestieren zu müssen meint, ihre eigene Wahrnehmung etwas getrübt hat?
  4. 4. Die Religionswissenschaftlerin bestreitet meine Aussage, dass der Islam als Weltreligion „wie keine andere zur Identifizierung von Religion und Politik neigt“. Einen Gegenbeweis bleibt sie schuldig; stattdessen diagnostiziert sie bei mir Blindheit gegenüber zivilreligiösen Vermischungen in der westlichen Kultur. Diese polemische Unterstellung weise ich zurück. Der Tatbestand jener abendländischen Vermischungen ändert nichts daran, dass die Verbindung von Religion und Politik im Bereich des Islam unübertroffen ist. Dementsprechend unterstreicht Bassam Tibi, dass sich unter den Fundamentalismen der Weltreligionen die direkte Verbindung von politischer Religion und Weltpolitik allein im besonderen Fall des Islam beobachten lässt!4
  5. 5. Frau Haydt unterstreicht die Wichtigkeit der Wirkungs- bzw. Überlieferungsgeschichte von Religionen, um mir zugleich »ahistorischen« Pauschalismus vorzuwerfen. Blicken wir also genauer in die Geschichte zurück! Die Interpretation des Dschihad im Sinne eines Heiligen Krieges lässt sich nach Haydt „nur für die expansive islamische Anfangszeit aufrecht erhalten“. Das zunächst darf man allerdings nicht kleinreden: Historisch ist – vielleicht doch etwas überspitzt – die Konstituierung Europas als »christliches Abendland« mitunter geradezu als Reaktion auf die islamische Expansion von Arabien in den Mittelmeerraum verstanden worden.5 Einige Historiker weisen darauf hin, dass der Dschihad über 300 Jahre älter war als die christlich verantworteten Kreuzzüge (welche ganz im Unterschied zum islamischen Dschihad immerhin ein ganzes Jahrtausend von den religiösen Ursprüngen trennt!), und dass deren Ursachen indirekt zum Teil sogar im islamischen Dschihad zu suchen seien!6 (Das vermag ich letztlich nicht zu beurteilen; und entschuldigen lässt sich damit das traurige Faktum der Kreuzzüge natürlich keineswegs.)
  6. 6. Was den islamistischen Dschihad in unserer Zeit angeht, so lehrt C. Haydt diesbezüglich: „Terror ist im Gesamtspektrum des Islamismus ein relativ marginales Phänomen“ (a.a.O., S. 68). Was heißt hier »relativ marginal«? Im Blick auf die Opfer des 11. September, die körperlich und psychisch Betroffenen, und im Blick auf die Opfer islamistischen Terrors in anderen Ländern dieser Welt klingt solche Quantitätsanalyse zynisch. Und weiß die Religionswissenschaftlerin, dass in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine in Ägypten verfasste Dissertation des blinden Studenten Omar Abder Rahman über diesen Begriff ihre Wirkung tat? Jene umfangreiche Studie versucht nachzuweisen, dass sich nur ein einziger Sinn von Dschihad auf den Propheten selbst zurückführen lasse, der militante!7 Noch einmal Bassam Tibi: „Islamisten unserer Gegenwart meinen mit Djihad ‚Kriegsführung gegen Ungläubige’; und wenn sie den Begriff zur Bezeichnung ihrer Gruppen heranziehen (z.B. Djihad Islami in Palästina, Djihad in Ägypten), dann lassen sie keinen Zweifel daran, daß sie Terror im Sinn haben.“8 Es ist also nichts mit der These, Dschihad im Sinne eines Heiligen Krieges lasse sich „nur für die expansive islamische Anfangszeit aufrecht erhalten“.
  7. 7. Wer Haydts Artikel liest, dem sticht als Zwischenüberschrift ins Auge: „Islamismus ist nicht identisch mit Terrorismus“. Sie erweckt damit den falschen (erst später im Textverlauf korrigierten) Eindruck, als hätte ich in meinem Artikel Gegenteiliges behauptet. Dass die Dinge aber tatsächlich auch in umgekehrter Richtung nicht so einfach liegen, lässt sich unter Verweis auf einschlägige Koran-Sätze verdeutlichen. Man meditiere Sure 9,112: „Allah hat von den Gläubigen ihr Leben und ihr Gut für das Paradies erkauft. Sie sollen kämpfen in Allahs Weg und töten und getötet werden.“ Einen womöglich zum Terrorismus ermutigenden Klang hat das Gotteswort: „Wahrlich in die Herzen der Ungläubigen werfe ich Schrecken. So haut ein auf ihre Hälse und haut ihnen jeden Finger ab“ (8,12).9 Wenige Sätze später soll den Kämpfern spirituelle Entlastung verschafft werden durch die Beteuerung: „Nicht ihr habt sie getötet, sondern Gott hat sie getötet.“ Darf und soll man unter Verweis auf den geschichtlichen Kontext10 derartige Sätze in der islamischen Heiligen Schrift relativierend deuten? Jedenfalls leben wir in einer Zeit, in der solche Relativierung mancherorts fundamentalistisch abgelehnt wird!11
  8. 8. Meine differenzierten Ausführungen zum Thema Dschihad ergänzt Frau Haydt um die Gegenthese: „Seine Dynamik erhält der Islamismus nicht aus einem Weltherrschaftsanspruch des Islam, sondern aus erlebten Ungerechtigkeiten und Asymmetrien.“ Hier wird eine unhaltbare Alternative aufgemacht. Tatsächlich lässt sich der von mir benannte Weltherrschaftsanspruch nicht bestreiten. Im Unterschied zum Christentum, das seine politisch-universalistischen Ansprüche erst im Mittelalter formuliert und im Übrigen längst wieder aufgegeben hat, ist der Islam von Beginn an auf Universalismus aus gewesen; ich verweise dazu auf Experten wie Adel Theodor Khoury, Hans Zirker u.a.12
  9. 9. Haydt betont den Koran-Vers „Es gibt keinen Zwang in der Religion“ (Sure 2,256) – und stellt ihn in christentumskritische Nachbarschaft zum neutestamentlichen Missionsbefehl, den sie von seiner teilweise unglücklichen Wirkungsgeschichte her versteht, statt von seinem exegetisch eindeutigen, nämlich gewaltfreien Sinn her. Bezeichnenderweise übergeht sie dabei, dass ich bereits selbst unter Anführung von Suren-Belegen die Bereitschaft des Koran, einen Pluralismus von Religionen hinzunehmen, vermerkt habe. Sie übergeht aber auch islamistische Intoleranz, wie sie z.B. Scheich al-Ghazali als bedeutsamer geistiger Führer des Islamismus mit der Forderung repräsentierte, ein Muslim müsse straffrei ausgehen, wenn er einen vom Glauben Abtrünnigen töte! Im übrigen sollte m.E. dort, wo die islamische Toleranz hervorgehoben wird, der traurige Sachverhalt massiver Beeinträchtigungen und Exzesse beispielsweise gegenüber Christen und Bahá’í in einigen islamisch-nationalistisch geprägten Ländern in neuerer Zeit nicht einfach verschwiegen werden.13 Mit diesen Hinweisen wird kein »Feindbild Islam« heraufbeschworen, wohl aber einem einseitig idealisierenden Bild vom Islam widersprochen.
  10. 10. Frau Haydt kreidet mir einen »essenzialistischen« Religionsbegriff an, während sie einen funktionalen vorzieht. Nun ist gerade der funktionale Religionsbegriff dazu geeignet, die Wahrheitsfrage zu verwischen. Dass ich aber als christlicher Theologe in der Regel einen inhaltlich orientierten Begriff von Religion präferiere, nämlich einen, der sich der Wahrheitsfrage stellt, das verbindet mich mit muslimischen Theologen. Damit soll freilich keineswegs grundsätzlich das Recht eines funktionalen Religionsbegriffs bestritten sein, der sich methodisch zur Erhellung mancher Aspekte eignet, wie Haydts Beitrag durchaus deutlich macht.

Anmerkungen

1) W. Thiede (2002): Religiöse Hintergründe des Terrors. Wissenschaft und Frieden, 1-2002, S. 29-32.

2) C. Haydt (2002): Religion, Islam, Christentum und Terror. Wissenschaft und Frieden, 2-2002, S. 66-68.

3) B. Tibi (2001): Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt. München, S. 149; vgl. S. 203f. zu H. Küng.

4) Vgl. B. Tibi (2000): Fundamentalismus im Islam – Eine Gefahr für den Weltfrieden? Darmstadt; ferner A. Meier (1994): Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Originalstimmen aus der islamischen Welt. Wuppertal.

5) Vgl. Tibi, Kreuzzug, a.a.O., S. 102.

6) Z.B. H.-E. Mayer (19897 ): Geschichte der Kreuzzüge. Stuttgart.

7) Siehe M. Pohly und K. Durán (2001): Osama bin Laden und der internationale Terrorismus. München, S. 21.

8) Tibi, Kreuzzug, a.a.O., S. 52; vgl. jetzt auch U. Ulfkotte (2002): Propheten des Terrors. Das geheime Netzwerk der Islamisten. München.

9) Man höre anbei Martin Luthers Klage über den Gott der Türken: Es sei „das meiste und furnemest werck ynn seinem Alkoran das schwerd“ (Luther: Weimarer Ausgabe Bd. 30/II, S. 107-148, hier S. 129).

10) Zu berücksichtigen ist hierbei: „Die historisierende Sicht des Korans, die europäische Forscher erarbeitet haben, wird von gläubigen Muslimen fast stets als irrtümlich, ja blasphemisch empfunden.“ (H. Vocke (2001): Abu Lahab war ein Bösewicht. Was Muslime wirklich über andere Religionen denken. Rheinischer Merkur 48, S. 26).

11) Vgl. A. Manutscharjan (2001): Der »Heilige Krieg« im Internet. In R. Zewell (Hrsg.), Islam – die missbrauchte Religion… oder Keimzelle des Terrorismus? München, S. 66-69; siehe ferner W. Sofsky (2002): Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg. Frankfurt/M.

12) A. T. Khoury (1991): Fundamentalismus im heutigen Islam. In H. Kochanek (Hrsg.), Die verdrängte Freiheit. Freiburg i. Br., S. 266-276, bes. S. 268; H. Zirker (1993): Islam. Theologische und gesellschaftliche Herausforderungen. Düsseldorf, S. 233f.; Tibi, Kreuzzug, a.a.O., S. 43.

13) „Wo immer jedoch der Islam nationalistisch wurde, wurden Christen auch verfolgt…“, vermerkt F.-W. Kantzenbach (1986): Art. Christenverfolgungen. In Evang. Kirchenlexikon Bd. 1. Göttingen, S. 670-676, hier S. 674.

Dr. Werner Thiede ist Privatdozent im Fach Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Im Visier: Ölquellen und Öltransportrouten

Im Visier: Ölquellen und Öltransportrouten

von Mohssen Massarrat

Der Krieg der Vereinigten Staaten gegen die Taliban in Afghanistan ist das jüngste Glied einer Kette der inzwischen über ein halbes Jahrhundert andauernden Geschichte anglo-amerikanischer Interventionen im Nahen und Mittleren Osten und nun auch in Zentralasien. Ereignisreiche Turbulenzen wie die Niederschlagung der Demokratiebewegung im Iran Anfang der fünfziger Jahre, die Schah-Diktatur als regionale Supermacht, die islamische Revolution im Iran, das Phänomen Saddam Hussein, der islamische Fundamentalismus, die Taliban und Bin Laden – sie alle sind ohne diese Interventionsgeschichte nicht zu verstehen. Dies gilt auch für den Terroranschlag auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September. Die Kette der Interventionen und der im Nahen und Mittleren Osten seit fünf Jahrzehnten andauernden Gewalteskalation schließt sich nun global.
Hatten die Vereinigten Staaten mit dem Luftkrieg gegen die Taliban in Afghanistan es in erster Linie darauf abgesehen, die strategischen Öl- und Gastransportrouten zum Indischen Ozean frei zu bomben? Jedenfalls wurde bisher weder das eigentliche Kriegsziel, die Al-Qaida zu zerschlagen und Bin Laden zu fassen, erreicht. Das bisher einzig vorzeigbare Resultat des amerikanischen Bombenkrieges in Afghanistan ist, dass die Kämpfer der Nordallianz ihre hartnäckigen Widersacher, die Taliban, losgeworden sind. Mit den War Lords, den Bürgerkriegsparteien und der eigenen inneren Zerrissenheit steht Afghanistan wieder dort, wo Anfang der neunziger Jahre die Taliban mit Hilfe Pakistans, Saudi-Arabiens und der USA starteten. Selbst die wenigen positiven Nebeneffekte des Krieges, bezogen auf mehr Freiheit für Frauen und für individuelle Bedürfnisse, stehen damit erneut zur Disposition. Diese offenkundige Blamage hindert die USA jedoch nicht daran, die »Achse des Bösen« ausfindig zu machen, den im letzten Golfkrieg durchaus nicht irrtümlich zurückgelassenen Feind Saddam Hussein erneut ins Visier zu nehmen und gebetsmühlenartig und inzwischen ritualisiert die neue Bedrohung mit Massenvernichtungsmitteln aus Bagdad ins Bild zu setzen.

Welche Ziele verfolgen eigentlich die Vereinigten Staaten mit ihrem Engagement im Mittleren Osten und Zentralasien? Geht es um den Kampf gegen den Terrorismus, um die Befreiung des Iraks von Saddam Hussein, um einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten und um den Kampf für eine demokratische Entwicklung in dieser Region? Oder geht es in erster Linie um die Verfolgung geopolitischer Ziele in einer Region mit den größten fossilen Energieressourcen der Welt und um die Festigung der eigenen Hegemonialpolitik gegenüber Russland, China und den westlichen Verbündeten Japan und Europa?

Die geopolitische Doppelstrategie der USA

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte im Mittleren Osten eine hoffnungsvolle gesellschaftliche Umwälzung und Demokratisierung eingesetzt. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Region hat 1951 im Iran ein frei gewähltes Parlament und mit Mossadegh eine demokratisch gewählte Regierung für die gesamte Region eine neue Ära eingeläutet. Im Anschluss an die Entwicklung im Iran wurden im Irak und in Ägypten die herrschenden Monarchien gestürzt, das postdiktatorische, postkoloniale Zeitalter schien angebrochen zu sein.

Doch es kam alles anders. Die Persische-Golf-Region war zu diesem Zeitpunkt längst in den geostrategischen Würgegriff der alten Supermacht Großbritannien und der neuen Supermacht USA geraten. Hinzu kam die Kalte-Krieg-Ära, die das politische Koordinatensystem für die künftige Entwicklung dieser Region determinierte. Geostrategische Ölinteressen der USA und Eindämmung des sowjetischen Einflusses auf den Mittleren Osten und den Persischen Golf wurden fortan zum einzigen Maßstab für die künftige Beziehung des Westens zu dieser Region und zur Richtschnur der Unterscheidung zwischen Gut und Böse.

Die Welt besitzen

Bereits europäische Kolonialmächte hatten zu Beginn des letzten Jahrhunderts die strategische Bedeutung des Öls erkannt. „Derjenige, der das Erdöl besitzt, wird die Welt besitzen,“ prophezeite um das Jahr 1920 der französische Industrielle und Senator Henri Berenger. Die neue Supermacht Amerika zögerte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht, dieser Erkenntnis zu folgen und sie zur Richtschnur des eigenen außenpolitischen Handelns zu machen. George Forest Kennan, ein einflussreicher US-Außenpolitiker, ordnete in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts der Kontrolle über die Ölquellen des Mittleren Ostens die Rolle einer „Vetomacht über die Alliierten, über Europa und Japan“ zu. So wundert es auch kaum, dass das State Department das Mittelost-Öl als „gewaltige strategische Reserve, als den größten materiellen Preis der Weltgeschichte“ einstufte (Chomsky, 1992: 33). Die Vetooption der USA bestand in einer aus zwei Komponenten – einer energiepolitischen und einer geopolitischen – bestehenden Doppelstrategie.

Die Doppelstrategie

Dabei sollte zum einen alles unternommen werden, um sich selbst und den eigenen Verbündeten eine störungsfreie Ölversorgung zu niedrigen Preisen (Wirtschaftswachstum durch Billigöl) sicherzustellen. Es geht hierbei um beträchtliche Summen, beispielsweise werden bei einem Ölpreisunterschied von lediglich 10 US-Dollar je Barrel Öl von der OECD-Wirtschaft jährlich über 350 Mrd. US-Dollar an Energieausgaben eingespart (Ausführlicher dazu Massarrat, 2000: 134). Zum anderen sollte aus der Not der Abhängigkeit der militärischen Verbündeten (Westeuropa und Japan) vom Öl des Mittleren Ostens eine Tugend gemacht und die militärische Führungsrolle nicht nur durch die Einbindung in die Nato, sondern auch indirekt durch die »Ölwaffe« untermauert werden. Die Blockkonfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion überdeckte jahrzehntelang diese US-Doppelstrategie. US-Geostrategen bedienten sich gern des Szenarios der sowjetischen Bedrohung, die darin bestanden haben soll, durch den Zugriff auf die mittelöstlichen Ölquellen westliche Staaten zu erpressen. Unabhängig davon, ob es sich dabei um eine reale Bedrohung handelte oder nicht, lieferte dieses Szenario den Vereinigten Staaten die Rechtfertigung, sich unter dem Vorwand der Abwendung sowjetischer Bedrohung durch die Einrichtung von Militärstützpunkten und Schaffung von Interventionskapazitäten im Mittleren Osten als Garant westlicher Ölversorgung unabkömmlich zu machen und auch die militärischen Verbündeten und gleichzeitig ökonomischen Rivalen in der Weltwirtschaft, Westeuropa und Japan, im Bedarfsfall zu disziplinieren oder gar zu erpressen (Ausführlicher Massarrat, 1981).

Diese Doppelstrategie der Vereinigten Staaten in ihrer Beziehung zu Japan und Europa hat über Jahrzehnte – so in der Anti-Irak Allianz 1990 und auch jetzt in der Antiterror-Allianz sowie im Krieg gegen Afghanistan – bis heute ihre Gültigkeit beibehalten und sie wirft ein neues Licht auf das peinlich vasallenhafte Verhalten der Europäer in Krisensituationen wie 1990 und jetzt. Alle US-Präsidenten, Präsidentenberater sowie Außen- und Verteidigungsminister haben ganz besonders darauf geachtet, die Grundlagen dieser Doppelstrategie nicht zu gefährden und sie allen revolutionären Umwälzungen im Mittleren Osten zum Trotz räumlich auszubauen und außenpolitisch sowie militärisch weiterzuentwickeln und flexibel anzupassen. Die sogenannte Carter-Doktrin, wonach „der Versuch einer auswärtigen Macht, die Kontrolle des Persischen Golfes zu übernehmen, als Angriff auf die vitalen Interessen der USA betrachtet und mit allen Mitteln einschließlich militärischer Gewalt zurückgewiesen wird“ (Carters Erklärung »State of the Union« vom 23. Januar 1980), die unmissverständliche Feststellung des ehemaligen Energieministers James Schlesinger von 1989 auf der Weltenergiekonferenz in Montreal: „Welche Großmacht auch immer die Kontrolle über die Energieressourcen in der Golfregion erringt, sie wird dadurch in großem Ausmaß auch die Entwicklung der Welt beherrschen. Ein dritter Weltkrieg, sollte er stattfinden, würde wahrscheinlich um die Energiequellen in der Golfregion geführt werden“ (zitiert nach Michael Müller, TAZ, 13.08.1991) und die durch die Klarheit über den Anspruch der USA auf die Ölvorräte der Persischen-Golf-Region unübertroffene Aussage des US-Präsidenten Bush sen. von 1990 „Unsere Wirtschaft, unsere Lebensart, unsere Freiheit und die Freiheit befreundeter Länder auf der ganzen Welt, alles würde leiden, wenn die Kontrolle über die großen Ölreserven der Welt in die Hände Saddam Husseins fielen“ (Yergin, 1991: 950), belegen das nach wie vor überragende geostrategische Interesse der USA an den Ölquellen des Mittleren Ostens. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird die Rolle des potenziellen Aggressors im Bedrohungsszenario der US-Doppelstrategie den »Schurkenstaaten« zugeschrieben. Ursprünglich spielten diese Rolle die fundamentalistischen Ajatollahs im Iran und gegenwärtig hat Saddam Hussein diese Rolle inne, die er in der „unheiligen Allianz“ mit den USA offenbar auch gern spielt, um so die innenpolitische Legitimation für seine Herrschaft zu festigen.

Diversifizierung der Energiequellen und Transportrouten

Die traumatischen Auswirkungen der Ölpreissprünge von 1973/74 und 1979 (ausführlicher Massarrat 1980) veranlassten die Vereinigten Staaten, Rohstoffquellen und Transportrouten zu diversifizieren und Verknappungs-(»Strangulierungs-«)Situationen soweit wie möglich zu vermeiden. Diversifizierung entwickelte sich so zu einem substanziellen Element zur Absicherung und Fortentwicklung der US-energie- und geopolitischen Doppelstrategie. Die massiven Aktivitäten der US-Konzerne und der Regierungen in Ost- und Westafrika zur Erschließung neuer Energiequellen in den letzten zwei Jahrzehnten gehen in diese Richtung (Massarrat, 2000: 122f und Kronenberger, 1999). Eine gewichtigere Alternative zu den insgesamt dürftigen Ölquellen Afrikas bildet allerdings die Kaspische-Meer-Region, in der sich die zweitgrößten Ölquellen nach der Persischen-Golf-Region und die wichtigsten Gasquellen der Welt befinden. Diese neue energie- und geopolitische Option fiel nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Republiken in den neunziger Jahren den Vereinigten Staaten als Geschenk des Himmels quasi in den Schoß. Fortan pilgerten multinationale Ölkonzerne scharenweise in die neue Ölregion und machten in Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan und Aserbaidschan ihre Aufwartung. Die US-Konzerne betreiben dort intensive Lobbyarbeit und rekrutieren einflussreiche Berater, darunter Richard Cheney, ehemaliger Verteidigungsminister unter Bush sen. und der heutige Vizepräsident von Bush jun., sowie Zbigniew Brzezinski, der frühere Sicherheitsberater von Präsident Carter. Mit von der Partie sind auch die Ölkonzerne Amaco, Unocol, Texaco und Exxon Mobil, die alle bereits mehrere Milliarden US-Dollar für die Öl- und Gasproduktionsanlagen bzw. Pipelineprojekte investiert haben. Gleichzeitig unterzeichneten die Vereinigten Staaten unter dem Vorwand eines »humanitären« Einsatzes 1996 mit Usbekistan und danach mit Kasachstan und Kirgisistan das »Central Asia Bataillons-Abkommen« (vgl. Abramovici, 2002) und schufen damit die Grundlage für Militärübungen und darüber hinaus auch langfristig angelegte Militärstützpunkte. In diese Reihe der Einbindung neuer, zentralasiatischer Republiken in die eigene geopolitische Diversifizierungspolitik und Doppelstrategie gehörte es auch, den Kaukasusrepubliken Georgien, Kasachstan, Aserbaidschan und den zentralasiatischen Staaten Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan auf dem Nato-Gipfel von 1999 den Status von »Nato-Partnerschaftsländern« zuzuerkennen (Massarrat, 2000: 172.). Die Einbindung Zentralasiens in „Amerikas Strategie der Weltherrschaft auf dem Eurasischen Schachbrett“, so Brzezinski in seinem Buch »Die einzige Weltmacht«, gewinnt mit Hinblick auf die Volksrepublik China als aufsteigende regionale Supermacht und geopolitischer Rivale der USA in Ostasien eine zusätzliche strategische Bedeutung. Was bisher für Europa und Japan in der energie- und geopolitischen Doppelstrategie der USA galt, gilt in Zukunft auch – angesichts ihrer zu erwartenden Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten – für die Volksrepublik China.

Zu der Diversifizierung von Öl- und Gasquellen kommt auch die Diversifizierung von Transportrouten hinzu: (a) die russische Route von Kasachstan durch Russland zum russischen Schwarzmeerhafen Novorossijsk, (b) die Mittelmeerroute westlich vom Kaspischen Meer durch Aserbaidschan, Armenien, Georgien durch die Türkei oder über den Iran durch die Türkei zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan und schließlich (c) die Afghanistanroute östlich vom Kaspischen Meer über Turkmenistan, Afghanistan und Pakistan zum Persischen Golf und Indischen Ozean. Nahezu alle Kriege und Konflikte der letzten Jahre im Kaukasus-türkischen Raum (armenisch-aserbaidschanische, tschetschenisch-russische, georgische, kurdisch-türkische) und in Zentralasien, vor allem die Kriege innerhalb und gegen Afghanistan, haben direkt oder indirekt mit dem Wettkampf zwischen den USA und Russland zu tun, den Zugriff zu den Energiequellen und Transportrouten in der Region für sich zu entscheiden.

Die Schlüsselrolle des Afghanistan-Pipelineprojektes

Durch die Diversifikation der Energiequellen und -routen soll die Abhängigkeit der USA von einer einzigen Quelle reduziert und der eigene Handlungsspielraum zur Umsetzung der Doppelstrategie maximiert werden. Die Energiequellen im Kaspischen Meer könnten sich allerdings nur dann als eine ernsthafte Alternative zu den Energiequellen der Persischen-Golf-Region etablieren, wenn außer den beiden möglichen, von Russland bzw. Iran abhängigen Routenoptionen eine direkt unter amerikanischer Kontrolle stehende weitere Öl- und Gastransportroute erschlossen würde. So kommt dem Afghanistan-Pipelineprojekt eine Schlüsselrolle zu. Denn nur die Afghanistan-Route ermöglicht es den USA, den Einfluss Russlands oder Irans zurückzudrängen und eine mögliche geopolitische Koalition dieser Staaten, die Amerikas Vorherrschaft beeinträchtigen könnten, von vornherein aussichtslos zu machen. Die Idee einer derart beschaffenen Diversifizierung geht auf den jetzigen Berater des in Zentralasien aktiven US-Ölkonzerns Amaco und einstigen Förderer der afghanischen Volksmudjahedin bei der Vertreibung der sowjetischen Armee aus Afghanistan, Zbigniew Brzezinski, zurück, der mehr als jeder andere US-Geopolitiker die Bedeutung Eurasiens in »Amerikas Strategie der Vorherrschaft« hervorgehoben hat. So plädiert er dafür, „den derzeit herrschenden Pluralismus (!) auf der Landkarte Eurasiens zu festigen und fortzuschreiben. Dies erfordert ein hohes Maß an Taktieren und Manipulieren, damit keine gegnerische Koalition zustande kommt, die schließlich Amerikas Vorrangstellung in Frage stellen könnte, ganz abgesehen davon, dass dies einem einzelnen Staat so schnell nicht gelänge“ (Brzezinski, 2001: 282f).

Folgt man der Feststellung der herausragenden Rolle des Afghanistan-Pipelineprojektes in der US-energie- und geopolitischen Doppelstrategie, so erscheint die Afghanistan-Politik der USA seit 1995 in einem neuen Licht. Es ging dabei in erster Linie um die Realisierung eben dieses Projektes, koste es was es wolle und mit wem auch immer. So wurde im März und Oktober 1995 die turkmenische und pakistanische Zustimmung für das Projekt eingeholt. Die Taliban, „eine Schöpfung des pakistanischen Geheimdienstes“, waren schon zu Beginn des Jahres 1995 aufgetaucht. Sie wurden „vermutlich vom CIA und Saudi-Arabien finanziert“ (Ausführlicher Abramovici, 2002). Im September 1996 eroberten die Taliban Kabul. Michael Bearden (Vertreter des CIA in Afghanistan während des Krieges gegen die Sowjetunion und heute halb-offizieller Sprecher des CIA) gibt die damalige Stimmung der Amerikaner so wieder: „Diese Typen (die Taliban) waren nicht einmal die schlimmsten, etwas hitzige junge Leute, aber das war immer noch besser als der Bürgerkrieg. Sie kontrollierten das gesamte Gebiet zwischen Pakistan und den Erdgasfeldern Turkmenistans. Vielleicht war das doch eine ganz gute Idee, dachten wir, wenn wir eine Erdölpipeline durch Afghanistan bauen und das Gas und die Rohstoffe auf den neuen Markt befördern können. Alle wären zufrieden.“ (Pieces conviction, Fance 3, 18. Oktober 2001, zitiert nach Abramovici 2002)

Die US-Geostrategen und -Außenpolitiker hat also weder der Steinzeit-Fundamentalismus der Taliban noch die Perspektivlosigkeit ihrer Politik für die afghanische Bevölkerung im geringsten interessiert. Ihnen ging es offenbar allein um politische »Stabilität« in Afghanistan und die Sicherheitsgarantie für das Afghanistan-Pipelineprojekt. In Afghanistan wiederholt Bush jun. was Bush sen. 1991 im Irak-Konflikt vormachte. Beide waren und sind, wie keine anderen US-Präsidenten zuvor, sehr eng mit der US-Ölindustrie verbunden und von den Spenden der Ölkonzerne in ihren Wahlkämpfen abhängig. George W. Bush ernannte in sein engstes Beraterteam Leute, die zur Führungsriege der US-Ölkonzerne gehörten, darunter der Vizepräsident Dick Cheney und die Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice. Es war durchaus kein Zufall, dass George W. Bush kurz nach der Amtsübernahme ankündigte, die fossile Energienutzung stärker als bisher in den Vordergrund der Energiepolitik stellen zu wollen, und dass er im März 2001 demzufolge die Klimavereinbarungen im Protokoll von Kioto aufkündigte. Dem Öl und der Geopolitik wurde so ein neuer Auftrieb erteilt. Umso dringlicher wurde für die neue US-Regierung das Afghanistan-Pipelineprojekt. Ganz in diesem Sinne hat sie die laufenden Verhandlungen mit den Taliban, wie inzwischen »Le Monde diplomatique« vom Januar 2002 ausführlich recherchierte, intensiviert und sogar bis Ende Juli 2001 (sechs Wochen vor der Katastrophe in New York und Washington) fortgesetzt. Dabei stand die Auslieferung von Osama Bin Laden keineswegs im Vordergrund. Ganz im Gegenteil waren „die Amerikaner damals so sehr vom Zustandekommen der Verhandlungen (mit den Taliban) überzeugt, dass das FBI seine Untersuchung über eine mögliche Beteiligung Bin Ladens … am Anschlag auf den amerikanischen Zerstörer USS Cole … auf Veranlassung des State Departments einstellen muss.“ (Abramovici, 2002) Nach Berichten der beiden französischen Geheimdienstexperten Brisard und Dasquie trat der für Bin Laden zuständige FBI-Abteilungsleiter, John O‘Neill, im August 2001 aus Protest gegen diese Behinderungen zurück (Bröckers, 2001a).

Tatsächlich hätte Osama Bin Laden, wie der damalige sudanesische Verteidigungsminister, General Erwa, der Washington Post mitteilte, bereits 1996, als er sich im Sudan aufhielt, ausgeliefert werden können. Doch Washington lehnte das Auslieferungsangebot Sudans mit Rücksicht auf mögliche Unruhen in Saudi-Arabien und mögliche Destabilisierung des saudischen Königshauses ab. Laut Washington Post vom 02. Oktober 2001 gab es damals innerhalb der US-Administration eine intensive Diskussion darüber, „ob die Vereinigten Staaten Bin Laden verfolgen und anklagen oder ihn wie einen Mitstreiter in einem Untergrundkrieg behandeln sollten.“ Ganz offensichtlich hat man sich dafür entschieden „to treat him like a combattant in an ,underground war‘.“ (Bröckers, 2001: 4) Diese Behauptung mag unsere Phantasie über die taktischen Spielchen der Geostrategen überschreiten, man kann sie allerdings auch nicht ganz von der Hand weisen, zumal bisher unwidersprochen ist, dass auch Saddam Hussein durch die amerikanische Seite nicht daran gehindert wurde, Kuwait militärisch zu besetzen. Zu diesem Ergebnis kamen Pierre Salinger (Chefkorrespondent der amerikanischen Fernsehanstalt ABC für Europa und den Nahen Osten) und Eric Laurent (freier Journalist) in ihrem 1991 veröffentlichten Buch (Salinger/Laurent, 1991).

Ob diese »unheiligen Allianzen« zwischen Washington und Saddam Hussein bzw. zwischen Washington und Osama Bin Laden durch den CIA geplant und gezielt Schritt für Schritt umgesetzt wurden, bleibt eine Spekulation. Fakt ist allerdings, dass ohne die Besetzung Kuwaits durch Saddam Hussein die direkte militärische Präsenz in Darham und Riad (Saudi-Arabien) und in Kuwait City, d.h. in unmittelbarer Reichweite der größten Erdöl-Lagerstätten der Welt, genauso unwahrscheinlich gewesen wäre wie die Errichtung neuer US-Militärstützpunkte in Zentralasien (Usbekistan, Kirgisistan) und entlang der Öl- und Gastransportrouten der Quellen in der Kaspischen-Meer-Region ohne Osama Bin Laden und den 11. September. Die Kommandos, die das World Trade Center zerstörten, wurden jedenfalls erst Mitte August aktiviert, nachdem sich Ende Juli 2001 ziemlich klar herauskristallisiert hatte, dass die Taliban nicht bereit sind, sich den US-Bedingungen zur Realisierung des Pipelineprojektes zu unterwerfen und nachdem die US-Verhandlungsführer den Taliban nach Aussage des an den Verhandlungen beteiligten ehemaligen pakistanischen Außenministers, Niaz Naik, mit Militäraktionen gedroht hatten (Abramovici 2002 und Bröckers 2001a). Diese Militäraktion hat als Folge des 11. Septembers tatsächlich stattgefunden und die Transportroute für die kaspischen Energiereserven Richtung Indischer Ozean ist nun frei.

Die USA sind nun im Begriff, entlang der neuen Öl- und Gastransportrouten Militärstützpunkte zu errichten, um ihren globalen Anspruch auf die Vorherrschaft mittels Kontrolle der Ölquellen gegenüber Europa, Japan und nunmehr auch der VR China zu untermauern. Dass die hier dargestellte Doppelstrategie der USA mittels Öl- und Geopolitik die strukturelle Abhängigkeit von fossilen Energieimporten voraussetzt, erklärt, weshalb Russland auf Grund seiner eigenen umfangreichen Energieressourcen jenseits der Reichweite dieser energie- und geopolitischen Doppelstrategie liegt und dass es den USA in erster Linie darum geht, Russlands geopolitische Optionen in Zentralasien auf null zu reduzieren.

Zu der Diversifizierungsstrategie der USA gehört außer der Diversifizierung der Ölquellen und Transportrouten auch eine Diversifizierung von Militärstützpunkten und strukturellen Fähigkeiten für den Nachschub von Kriegsmaterial und -personal im gesamten eurasischen Raum. Vor diesem Hintergrund erscheint auch das US-Engagement auf dem Balkan, insbesondere im Kosovokonflikt, und die Errichtung einer Militärbasis, des Camp Bondsteel in der Nähe von Pristina als einem der größten US-Militärstützpunkte außerhalb der Nato, in einem neuen Licht (vgl. Massarrat 2000a).

Diese Ausführungen wären unvollständig, blieben zwei Ironien des Afghanistan-Krieges unerwähnt. Erstens die Tatsache, dass ausgerechnet jemand wie Osama Bin Laden, der die amerikanische Ölpolitik als Grund für seinen antiamerikanischen Hass anführte und damit auch die Terroranschläge gegen die USA rechtfertigte1, selbst zum Verbündeten der USA umfunktioniert wird, um die bisherige US-Öl- und Geopolitik im Mittleren Osten und Zentralasien zu festigen und auszubauen. Und zweitens die bittere Wahrheit, dass ausgerechnet die rot-grüne Bundesregierung, die bei den internationalen Klimaverhandlungen zur Reduzierung des fossilen Energieverbrauchs für sich eine Vorreiterrolle reklamiert, mit ihrer „uneingeschränkten Solidarität“ im Afghanistan-Konflikt dazu beigetragen hat, dass die Vereinigten Staaten ungehindert ihre Politik der forcierten Nutzung fossiler Energien durchsetzen und damit alle Ergebnisse des Klimaprotokolls von Kioto von Grund auf zunichte machen können. So schließt sich wieder der Teufelskreis der US-energie- und geopolitischen Doppelstrategie.

Der Teufelskreis von Rüstungswettlauf, Krieg und Fundamentalismus

Was die politische Klasse Amerikas bei der Verfolgung ökonomischer und geostrategischer Ziele von den Menschen im Orient jenseits aller ideologischen Phrasen über Demokratie, westliche Werte und Menschenrechte wirklich hält, sagte unumwunden der ehemalige US-Energieminister James Schlesinger auf dem 15. Kongress des Weltenergiebeirates 1992 in Madrid: „Das, was das amerikanische Volk aus dem Golfkrieg gelernt hat, ist, dass es wesentlich leichter und wesentlich lustiger ist, den Leuten im Vorderen Orient in den Hintern zu treten, als Opfer zu bringen und die Abhängigkeit Amerikas im Hinblick auf das importierte Öl zu begrenzen.“ (Sarkis 1993) Die US-Politik im Mittleren und Nahen Osten seit der Mitte des letzten Jahrhunderts und nun auch in Zentralasien entspricht auf der ganzen Linie jedenfalls ziemlich genau der »Wertschätzung«, die Schlesinger den Menschen im Vorderen Orient beimisst.

Über ein halbes Jahrhundert erlebten die Menschen im Mittleren und Nahen Osten eine politisch-militärische Kooperation des Westens und der Sowjet Union mit diktatorischen Regimen; sie erlebten Militärinterventionen, Waffenimporte, Kriege, Zerstörungen und menschliches Leid. Es gibt kein einziges Beispiel dafür, dass Ansätze von Demokratie von außen in der Region gefördert wurden, dass die Werte westlicher Industriestaaten, wie Pluralismus, Meinungsfreiheit und Schutz der Menschenrechte, glaubhaft als Richtschnur ihrer Beziehungen zu den Staaten im Mittleren und Nahen Osten gedient hätten. Wie sollten die islamischen Bevölkerungen dieser Region die positiven politischen Errungenschaften des Westens wahrnehmen und sich diese auch zu Eigen machen, wenn sie durch eigene Erfahrungen und Erlebnisse mit den westlichen Staaten nicht mit diesen positiven Werten, sondern mit purer westlicher Interessenpolitik, mit Waffengewalt und geopolitischen Schikanen konfrontiert wurden? Dadurch wurde die Demokratisierung in der Region um Jahrzehnte zurückgeworfen und den Völkern im Nahen und Mittleren Osten beträchtlicher Schaden zugefügt, den kurzfristigen amerikanischen und westlichen Interessen jedoch nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den nationalistisch-fundamentalistischen Regimen, den beiden Golfkriegen, den gigantischen Rüstungsexporten in die Persische-Golf-Region in den letzten 30 Jahren und den sinkenden Ölpreisen. Letztere gelten bekanntlich als wichtigster Stabilitätsfaktor für die florierenden Volkswirtschaften kapitalistischer Industrieländer.

Nun hat sich durch den Terroranschlag auf das World Trade Center und auf das Pentagon das Konzept einer Destabilisierungsstrategie mit »kalkulierbarem Risiko« als Bumerang erwiesen. Die auf eigenen kurzfristigen ökonomischen und geostrategischen Interessen basierende Politik der USA und des Westens wird durch den globalisierten Terrorismus eingeholt. Wie die drohende Klimakatastrophe als Reaktion der Natur auf ein nur kurzsichtig ausgerichtetes ökonomisches Handeln der reichen Eliten in den Industrie- und Entwicklungsländern gesehen werden muss, ist der globalisierte Terrorismus die politische Reaktion auf die Art und Weise der Aufrechterhaltung und Absicherung des Systems. Insofern tragen alle westlichen Staaten, allen voran die USA selbst, eine beträchtliche Mitverantwortung für die Katastrophe in New York und Washington und für Tausende Opfer unter den Trümmern des World Trade Centers.

Literatur

Abramovici, Pierre (2002): Dubiose Kontakte Washington und Taliban, in: Le Monde diplomatique vom Januar 2002.

Altmeyer, Martin (2001): Renaissance zweier Welten. Der Terror und die narzisstische Kränkung, in: Frankfurter Rundschau vom 19.09.01.

Bröckers, Mathias (2001): Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Die Bush – Bin Laden – Connection, in: Telepolis vom 20.11.01 (wysiwyg://http://www.heise.de).

Bröckers, Mathias (2001a): In Memorian John O‘Neill – der kaltgestellte Jäger Bin Ladens starb im World Trade Center, in: Telepolis vom 24.11.01 (wysiwyg://http://www.heise.de).

Brzezinski, Zbigniew (2001): Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt a.M.

Chomsky, Noam/ Beinin, Joel u.a. (1992): Die neue Weltordnung und der Golfkrieg, Grafenau.

Massarrat, Mohssen (1980): Weltenergieproduktion und Neuordnung der Weltwirtschaft, Frankfurt a.M./New York.

Massarrat, Mohssen (1981): Instabilität der Weltlage und Kriegsgefahr, in: Sozialistisches Büro (Hrsg.): Sozialistische Politik und Kriegsgefahr, Offenbach, S. 13-37.

Massarrat, Mohssen (1988): Der Gottesstaat auf dem Kriegsschauplatz, in: Peripherie,.

Massarrat, Mohssen (1991): Der Golfkrieg: Historische, politische, ökonomische und kulturelle Hintergründe, in: Stein, Georg (Hrsg.): Nachgedanken zum Golfkrieg, Heidelberg.

Massarrat, Mohssen (1999): Islamischer Orient und christlicher Okzident: Gegenseitige Feindbilder und Perspektiven einer Kultur des Friedens, in: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft, 6/1999.

Massarrat, Mohssen (1999a): Die unheilige Allianz mit dem irakischen Diktator, in: Wissenschaft und Frieden, Nr. 1/99.

Massarrat, Mohssen (2000): Das Dilemma der ökologischen Steuerreform. Plädoyer für eine nachhaltige Klimapolitik durch Mengenregulierung und neue politische Allianzen, 2., stark erweiterte Auflage, Marburg.

Massarrat, Mohssen (2000a): Der Nato-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Lehren für eine pazifistische Perspektive und eine europäische Friedenspolitik, in: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft VII/2000.

Pitzke, Marc (2001): Die Woche vom 19. Oktober 2001.

Salinger, Pierre/ Laurent, Eric (1991): Krieg am Golf. Das Geheimdossier. Die Katastrophe hätte verhindert werden können, München.

Yergin, Daniel (1991): Der Preis. Die Jagd nach Öl, Geld und Macht, Frankfurt/Main.

Anmerkungen

1) „Amerika stiehlt uns das Öl. Sie behaupten es wäre wichtig für sie. Amerika ist der größte Terrorist aller Zeiten. Nichts wird Amerika davon abhalten so weiterzumachen, außer man zahlt es ihnen mit gleicher Münze heim.“ Notiert aus einem nach dem 11. September über diverse Sender ausgestrahlten Interview ohne Zeitangabe.

Prof. Dr. Mohssen Massarrat lehrt im Fachbereich Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück

Religion, Islam, Christentum und Terror

Religion, Islam, Christentum und Terror

von Claudia Haydt

In Wissenschaft und Frieden 1/2002 befasste sich Dr. Werner Thiede, Privatdozent im Fach Systematische Theologie, mit »Religiösen Hintergründen des Terrors«. Einige seiner Positionen haben in der Leserschaft von W&F zum Teil heftige Gegenreaktionen hervorgerufen. Claudia Haydt, Religionswissenschaftlerin, setzt sich mit den Positionen Thiedes auseinander.
Werner Thiede zitiert Huntingtons »Zusammenprall der Kulturen« und geht sofort noch einen Schritt weiter, indem er die Frage stellt, ob es sich wirklich um einen Zusammenprall handele oder ob der Westen sich nicht vielmehr nur gegen die „wachsende Aggressivität“ des „fundamentalistischen Islamismus“ verteidige. Diese »Verteidigungstheorie« wird dann noch untermauert mit der Formulierung, die „Beteuerungen westlicher Politiker, keinen »Zusammenprall der Kulturen« zu wollen, sind glaubwürdig, weil ihrem freiheitlich demokratischen Grundkonzept entsprechend.“ (W&F 1/2002, S. 30)

Die Aggression geht also von den »anderen« aus. Kein Wort von der wirtschaftlichen und militärischen Dominanz des Westens, von seiner kulturellen Hegemonie; von alledem, das dazu führt, dass sich viel mehr nicht-westliche Länder vom Westen bedroht fühlen müssen als umgekehrt. Kein Wort davon, dass häufiger Christen gegen Christen gekämpft haben und Muslime gegen Muslime als die beiden Gruppierungen gegeneinander. Kein Wort davon, dass ein »Konflikt der Kulturen« nicht zwangsläufig ist; dass sich im Gegenteil Kulturen auch befruchten können, dass sie den Horizont erweitern und gemeinsam zur Lösung von Menschheitsproblemen beitragen können.

Für Thiede spielt die »aggressive Auslegung« im Islam eine aktuelle Rolle, während das Christentum seine Aggressivität längst überwunden hat, für ihn ist der christliche Friedensbegriff Religionen und Kulturen übergreifend, beim Islam nährt er den Eindruck, dass mit dem Friedensbegriff nur ein „Frieden unter den Herrschaftsbedingungen des Islam selbst gemeint“ sein könne (W&F, S. 32). Diese einseitige Schuldzuweisung zieht sich durch den gesamten Artikel und ist in meinen Augen geeignet, die Bildung von Vorurteilen und Feindbildern zu verstärken.

Thiede arbeitet mit einem essenzialistischen Religionsbegriff. Für ein Verständnis der Funktionen und der Funktionalisierbarkeit von Religionen ist jedoch der soziopolitische Kontext meist aufschlussreicher als die Frage nach dem »Charakter« der jeweiligen Religion. Wer Religionen überhaupt vergleichen möchte, der sollte bitte nur tatsächlich Vergleichbares vergleichen. Also: Schrift mit Schrift, Auslegungsgeschichte mit Auslegungsgeschichte, religiöse Praxis mit religiöser Praxis, Mainstream mit Mainstream, Extrempositionen mit Extrempositionen usw. Insgesamt darf niemand aus den Augen verlieren, dass die religiöse und gesellschaftliche Realität bei »den anderen« mindestens so komplex und auch wandelbar ist wie bei »uns«.

Verhältnis von Religion und Gewalt

Werner Thiede hat an einem Punkt Recht: Religion und Terror schließen sich nicht grundsätzlich aus. Genau hier beginnt die spannende Frage des Verhältnisses von Religionen zur Frage von Gewaltanwendung, zur Frage danach, ob es religiöse Begründungen von Gewalt, Krieg und Terror gibt und welchen Stellenwert diese Begründungen haben. Und weil die Träger organisierter Gewalt in der Regel staatliche oder/und politische Akteure sind, geht es schließlich um die Frage des Verhältnisses von Religion und Politik. Leider nehmen sowohl im Christentum als auch im Judentum oder im Islam die VertreterInnen eines völligen Gewaltverzichtes eine Minderheitenposition ein.

Religion ist natürlich nicht gleich Moral. Aber Religionen stellen in der Regel moralische Ansprüche an ihre AnhängerInnen. Sie geben mehr oder weniger explizite Anweisungen dafür, wie das menschliche Miteinander zu regeln sei, z.B. welche Pflichten ein Individuum der Gemeinschaft gegenüber hat, wie mit Fremden umgegangen werden sollte und wie mit Schwachen. Der Schutz der Schwachen und Wehrlosen ist im Islam, Christentum und Judentum sowie in vielen anderen Religionen etwas, das von den Gläubigen eingefordert wird – im Koran mindestens so deutlich wie im Neuen Testament. Wer also die Anschläge des 11. September interpretiert als einen Anschlag von Kriminellen auf wehrlose Zivilisten, der kann daraus folgern, dass es hierfür keinerlei religiöse Begründung gibt.

Leider ist die Realität wohl nicht so einfach. Der Öffentlichkeit liegt zwar bis heute kein Bekennerschreiben vor, aber es gibt doch wohl einige Indizien dafür, dass es sich um politisch motivierte Terroranschläge handelte. Wobei das deutlichste Indiz für mich immer noch die Auswahl der Ziele ist, die sowohl symbolisch als auch konkret für militärische und ökonomische Herrschaftsansprüche der westlichen Welt stehen/standen.

Kann es für einen politisch motivierten Massenmord religiöse Begründungen geben? Ja, wobei eine solche Antwort nicht nur auf arabisch gegeben werden kann, sondern auch auf Englisch, Latein, Hebräisch oder Sanskrit. Und leider ist der 11. September kein Präzedenzfall. Allein die christlichen Kirchen haben eine lange Tradition der Durchführung oder der Beihilfe zum Massenmord: Inquisition, Verfolgungen von Hexen und Häretikern, Kreuzzüge, Judenverfolgung, unsägliche Verquickung von Missions- und Kolonialgeschichte bis hin zur Segnung der Atombomben, die auf Nagasaki und Hiroshima geworfen wurden.

Jenseits von Gut und Böse

Thiede versucht seinen LeserInnen klar zu machen, dass das Christentum aufgrund seiner Botschaft weniger zu Terrorismus oder Unterstützung von Terrorismus einlädt als der Islam. Und als Beweis für muslimische Blockbildung gegen die »Feinde des Islam« nennt er die Proteste gegen die Bombardierung Afghanistans, die in der Türkei, im Iran, in Pakistan, Indonesien und auf den Philippinen stattfanden. Diese Beweisführung ist aus vielen Gründen abzulehnen, erstens handelt es sich bei den Philippinen um ein fast vollständig katholisches Land, zweitens haben auch in anderen Ländern (auch nicht islamischen Ländern) Menschen gegen die Militärschläge demonstriert und drittens ist eine Demonstration gegen die US-Militärpolitik noch längst keine Demonstration für Terrorismus (auch wenn Präsident Bush ein großer Fan dieses dualistischen Weltbildes ist). An der Stelle sei daran erinnert, dass die Unterscheidung zwischen Krieg und Terror ohnehin meist eine Frage der Definitionsmacht ist: „Es ist ein schwerer analytischer Fehler, zu sagen (…), dass Terrorismus eine Waffe der Schwachen sei. Wie andere Formen der Gewalt, ist er vor allem eine Waffe der Starken (…). Er wird deswegen für eine Waffe der Schwachen gehalten, weil die Starken auch das Wertesystem kontrollieren und ihr Terror nicht als Terror gilt.“1

»Der Islam« wird bei Thiede pauschal und ahistorisch beurteilt, ohne Berücksichtigung der unterschiedlichen geographischen, kulturellen und sozioökonomischen Kontexte, in denen er vorkommt. Beim Christentum dagegen wird jedes Indiz für Gewaltbereitschaft – meist korrekterweise – differenzierter betrachtet: Die Kreuzzüge seien ein »Irrglaube« und entstanden aus dem „Ineinander von weltlicher und kirchlicher Macht im damaligen Papstamt“, der „Weltherrschaftsanspruch Gottes“ sei nur eschatologisch zu verstehen, der Konflikt in Nordirland sei nur ein „vergleichsweise lokales“ (!) Phänomen und habe mit dem Christentum nichts zu tun, der gelegentlich vorkommende Bezug des Neuen Testaments auf Krieg und Schwert sei nur spirituell zu verstehen und christlicher Fundamentalismus kann auch „wirklich gefährlich“ sein, er bilde aber „in aller Regel keinen Nährboden für einen sich neutestamentlich legitimierenden Terrorismus“. Alle Gewalt- und Gräueltaten, die mit dem Christentum begründet wurden – nur Fehlinterpretationen? Und diejenigen, die mit Islam begründet wurden, entsprechen dessen Wesen?

Es gibt viele Fakten, die diese Position fraglich machen. Hier nur einige wenige Einwürfe:

Nicht nur das Christentum kennt die Gottesherrschaft als eschatologisches Konzept, auch das Judentum und der schiitische Islam kennen solche Traditionen. Nach schiitischer Überzeugung kann aufgrund der momentanen Unsichtbarkeit des Imam bis zu dessen Wiederkunft kein Dschihad im Sinne einer kriegerischen Ausbreitung der Glaubensordnung stattfinden. Inwieweit (auch sehr eindeutige) Konzepte allerdings die Auslegungsgeschichte und schließlich die politischen Positionen der jeweiligen religiösen Institutionen und der Gläubigen bestimmen, das ist in der Regel weniger eindeutig – bei jeder der genannten Religionen. Nicht nur das Christentum kennt »Kampf« als spirituelles Konzept. Dschihad (sinngemäß »Anstrengung«) wurde und wird im islamischen Kontext ganz überwiegend spirituell als Anstrengung in Richtung auf moralische und religiöse Vollkommenheit interpretiert und das, obwohl im Koran selbst Dschihad häufig im militärischen Kontext genannt wird. Ein klares Beispiel dafür, dass religiöse Texte nie ohne ihre Auslegungsgeschichte betrachtet werden dürfen!

Thiede allerdings argumentiert bezüglich des Christentums meist nur mit der Schrift, interessanterweise verlässt er diese Spur bei der Frage der Toleranz gegenüber Andersgläubigen. Bei der Frage des Missionsauftrages ist das Neue Testament sehr eindeutig. Zum Glück haben sich seit Mitte des letzten Jahrhunderts in der christlichen Auslegung dieses Missionsanspruchs die weniger aggressiven Interpretationen durchgesetzt – aufgegeben wurde der christliche Missionsgedanke damit noch lange nicht; selbst die Frage der so genannten Judenmission ist längst noch nicht überholt. Der Koran enthält klare Toleranzgebote und auch die soziale Praxis war i.d.R. eine des respektvollen Umgangs mit anderen Schriftreligionen. „Es gibt keinen Zwang in der Religion.“ (Sure 2,256)

Um nochmals zur Interpretation des Dschihad als »Heiliger Krieg« zurückzukommen – diese Interpretation lässt sich nur für die expansive islamische Anfangszeit aufrecht erhalten und in der Übersetzung als »Heiliger Krieg« tauchte der Begriff 1857 das erste Mal auf, als sich die englische Kolonialmacht den Mutiny-Aufstand der einheimischen Truppen in Indien besser durch den Dschihad-Gedanken erklären konnte oder wollte als durch das Bemühen nach Dekolonisierung.2

Thiede macht das, was jeder Konstrukteur von Feindbildern macht, er konstruiert einen Mythos der Konfrontation, er erklärt »die anderen« zu einer homogenen Gruppe und identifiziert schließlich die gesamte Gruppe mit der extremistischsten Ausprägung. Auf der anderen Seite sieht er beim Westen nur die hehren Ziele, die großen Ansprüche.

Was nicht in dieses Konzept passt wird weginterpretiert.

Auf diesem Wege wird legitimiert, dass »die eigenen Reihen« geschlossen und kampfbereit sein müssen – »die anderen« sind es ja auch. Der »Kampf gegen den Terror« kann beginnen – wenn nötig überall auf der Welt!

Die unvollkommene Säkularisation

Säkularisation war und ist eine wichtige Kraft, ein wichtiges Ideal in der Entwicklung vieler Staaten. Von einer völligen Realisierung ist sie allerdings noch weit entfernt, ein Blick auf das enge Verhältnis von Staat und Kirchen in Deutschland (Religionsunterricht an staatlichen Schulen, vom Staat eingetriebene Kirchensteuer…) zeigt dies deutlich. Doch laut Thiede neigt der Islam „wie keine andere (Weltreligion) zur Identifizierung von Religion und Politik“(W&F, S. 30). Möglicherweise liegt diese Wahrnehmung u.a. daran, dass hier westlicher Anspruch mit der von Thiede nur mäßig objektiv wahrgenommenen Realität in vielen islamischen Ländern verglichen wird und ihm die »zivilreligiöse« Verquickung von Wirtschaft, Politik und Religion im Westen gar nicht mehr auffällt. Aber wie soll der Rest der Welt wohl den westlichen Anspruch auf religiöse Neutralität und Säkularisation interpretieren, wenn auf jedem Dollarschein überall auf der Welt »In God we trust« zu lesen ist?

Islamismus ist nicht identisch mit Terrorismus

Wer nur nach dem »Wesen« von Religionen sucht, der verspielt die Chance zu verstehen, wie die Lebenslagen von Menschen, der politische Kontext, konkrete Machtverhältnisse usw. ihre Wirkung im Wechselspiel mit religiöser Interpretation, Legitimation oder auch religiöser Kritik entfalten. Dass Islam nicht gleich Terror ist, das gesteht auch Thiede zu; Islamismus, auch politischer Islamismus, ist jedoch ebenfalls nicht pauschal mit Terror gleichzusetzen. Terror ist im Gesamtspektrum des Islamismus ein relativ marginales Phänomen.

Islamismus als einseitige Welle, die auf die westliche Welt zurollt? Wer dies wie Thiede postuliert (W&F, S. 30), der verschließt die Augen vor den realen Machtverhältnissen und verliert so die Möglichkeit die sozialen Dynamiken hinter islamistischen Bewegungen zu verstehen. Der konkret erfahrbare Alltag z.B. für Menschen islamischen Glaubens, die rund um die arabische Halbinsel leben, sieht auch so aus: US-amerikanische Truppen sind seit mehr als einem Jahrzehnt in Saudi-Arabien stationiert (das Land mit den zwei wichtigsten islamischen Heiligtümern Mekka und Medina), seit Jahrzehnten leben Palästinenser unter menschenunwürdigen Bedingungen in Flüchtlingslagern (obwohl doch die USA als Gegenleistung für die Unterstützung gegen den Irak eine Lösung des Nahostkonfliktes in Aussicht gestellt hatten), undemokratische, korrupte und dekadente Herrschereliten werden vom Westen unterstützt (obwohl dieser doch für Demokratie und Freiheit steht) und die Dynamiken der Globalisierung sorgen – nicht nur in den Großstädten – für zunehmendes Elend und soziale Desintegration.

Das westliche Fortschritts- und Entwicklungsmodell hat sozial und ökologisch verheerende Konsequenzen gezeigt. Vielen Menschen im Westen ist dies klar – zu grundlegenden Veränderungen hat dies bis heute nicht geführt. Viele islamische Länder sind von diesen (nennen wir es einmal pauschal) Globalisierungsfolgen besonders hart getroffen. Millionen von Menschen sind von Armut betroffen, Familienverbände, die traditionellerweise soziale Absicherung boten, sind durch Landflucht aufgelöst. Viele Staaten sind nicht in der Lage dies durch öffentliche Einrichtungen zu kompensieren. Um in dieser Situation die eigene Existenz sichern zu können, sind die Betroffenen auf soziale Hilfeleistungen angewiesen. Islamistische Gruppierungen und Einrichtungen erfüllen diese Bedürfnisse, sie bieten medizinische Versorgung, Rechtsberatung, Bildungseinrichtungen (auch für Frauen), Versicherungen, Banken, Wohnungsvermittlung usw. Islamistische Einrichtungen liefern sowohl konkrete Unterstützung als auch Reintegration in eine soziale Gemeinschaft und versprechen gleichzeitig eine politische Alternative – jenseits westlicher Dominanz und jenseits der eigenen oft korrupten und westlich orientierten Eliten.

Diese objektiven Rahmenbedingungen dürfen nicht unberücksichtigt bleiben, es sei denn man möchte das Phänomen »Islamismus« nur durch Irrationalität und Fanatismus erklären. Man wird sonst auch nie verstehen können, warum Frauen trotz der rigiden patriarchalen Moralvorstellungen mancher Islamisten zu den wichtigsten Unterstützerinnen dieser Bewegungen gehören. In einer Welt, in der Frauen – selbst wenn sie berufstätig sind – selten soviel verdienen, dass sie sich und ihre Familie allein davon ernähren könnten, ist eine religiöse Struktur, die Männer dazu verpflichtet ihr Einkommen zuhause abzuliefern und es nicht überwiegend für sich zu verwenden oder ihre Familie ganz zu verlassen, für viele Frauen sehr attraktiv.3

Seine Dynamik erhält der Islamismus nicht aus einem Weltherrschaftsanspruch des Islam, sondern aus erlebten Ungerechtigkeiten und Asymmetrien. Es gibt eine Minderheit, die aus diesen Asymmetrien den Schluss zieht, dass Terror eine »gerechte Waffe« im Kampf dagegen darstellt. Wer den Kampf gegen den Terror aber nur als Kampf gegen eine bestimmte Form der religiösen Legitimierung führt, der wird niemals erfolgreich sein, da er die Ursachen des Terrors ausblendet und gleichzeitig in der Form des »Kampfes gegen den Terror« die Argumentation der Ideologen des Terrors noch bestärkt. Diese Sackgasse kann niemand wollen.

Fundamentalismus ist eine christliche Erfindung

Fundamentalismus ist entstanden als sozial-religöse Strömung in den USA um die vorletzte Jahrhundertwende als Gegenposition zu Liberalismus und Modernismus. In den 20er Jahren wurden so genannte Fundamentals formuliert, zu denen auch der Glaube an die Verbal-Inspiration zählt, der bis heute, besonders in den USA, eine beachtliche Verbreitung hat. Aber laut Thiede gibt es den Glauben an die Verbal-Inspiration der Heiligen Schriften nur noch im islamischen Fundamentalismus. Als rigoroser, revitalisierter christlicher Traditionalismus ist er in den USA aber nach wie vor ein wichtiger politischer Faktor, der das erste Mal eindeutig wahlentscheidend war, als die »Moral Majority« für Ronald Reagan teure Kampagnen führte. Auch George W. Bush und sein Vize Dick Cheney wurden von diesem Lager unterstützt.

Christlicher Fundamentalismus und die konservative, zivil-religiöse Interpretation der USA als »God´s Own Country« sind, auch wenn sie eine Fehlinterpretation »christlicher Botschaft« sein mögen, ausgesprochen wirksam, nach innen wie nach außen. Wer das Christentum pauschal zur besseren Religion erklärt, der untermauert, ob er will oder nicht, westlich-christliche Überlegenheit à la Bush, Blair oder Berlusconi. Deren Sendungsbewusstsein (»infinite justice«) und deren dualistisches Weltbild (»Achse des Bösen«) haben ein erhebliches militantes Potenzial (»Crusade against Terrorism« – Kreuzzug gegen den Terrorismus). Sie verwechseln (bewusst?) ständig Normativität und Faktizität, verteidigen vorgeblich Menschenrechte, Demokratie und Freiheit und tragen doch selbst ständig dazu bei, dass die Errungenschaften der Aufklärung im eigenen Land und in ihren Interventionszonen regelmäßig verletzt und abgebaut werden.

Wer nur nach Religion als Konfliktursache sucht und dabei militärische, politische, geostrategische und ökonomische Interessen ausblendet, der muss sich wie Thiede im ideologischen Nebel verirren.

Welche Religion nun die friedlichere, die humanere, schlicht – die bessere ist? Auf diese alte Frage hat Lessing in seiner Ringparabel m.E. die am wenigsten ideologische Antwort gegeben. Da unklar bleibt, welcher Ring (sprich welche Religion) der eigentlich richtige ist, mögen ihre Besitzer durch ihr Handeln den Wahrheitsbeweis antreten. Und diese Beweislage ist längst nicht so eindeutig zu Gunsten der christlichen Kirchen, wie Thiede dies offenbar meint.

Anmerkungen

1) Noam Chomsky, The new War on Terror, in: War is Peace (The Spokesman/Bertrand Russell Peace Foundation 73/2002, S. 31).

2) Vgl. Rudolph Peters (1979), The Islam and Colonialism – The doctrine of Jihad and modern history.

3) Vgl. Birgit Rommelspacher (2001), Globalisierung und Geschlechterverhältnisse, in: Christine Gruber, Elfriede Fröschl (Hg.), Gender-Aspekte in der Sozialen Arbeit, Wien – Czernin Verlag.

Claudia Haydt ist Religionswissenschaftlerin und Soziologin, Mitglied im Beirat der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. und im erweiterten Vorstand von Wissenschaft und Frieden.

Utopie im ausgehenden 20. Jahrhundert

Utopie im ausgehenden 20. Jahrhundert

von Hans Holzinger

Die Gesellschaften – beziehungs-weise politische Systeme – sind am friedensstabilsten, in denen die Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnung, Kleidung (Umwelt- und Sozialraum) befriedigt werden, in denen zumindest ansatzweise Verteilungsgerechtigkeit herrscht und in denen die individuellen und politischen Grundrechte gewährleistet sind. Die Knappheit an Nahrung, Wasser und Raum (Afrika, teilweise Südasien), die Nicht-Einlösung von Wohlstandserwartungen und daraus resultierende politische Krisen (etwa Russland) sowie der Zugang zu den knapper werdenden Industrie-Ressourcen wie Erdöl (etwa USA) können zu Kriegsgründen im 21. Jahrhundert werden, wenn es nicht gelingt, das Leitbild einer ökologisch und sozial nachhaltigen Entwicklung umzusetzen.

Die Vereinten Nationen erinnern neuerdings mit ganzseitigen Inseraten in grossen Tageszeitungen an die Armut in der Welt: „Alle 3 Sekunden stirbt ein Kind. Weltweit sind 1,3 Milliarden Menschen unmittelbar betroffen. Jedes Jahr kommen weitere 25 Millionen Opfer hinzu“, so heißt es im Anzeigentext. „Extreme Armut hindert ein Fünftel der Weltbevölkerung daran, vorhandene Talente zu nutzen und eigene Fähigkeiten zu entfalten.“ (zit. n. Salzburger Nachrichten, 23.9.99).

In der selben Zeitung beruhigt eine Bank ebenfalls in einem Inserat ihre AnlegerInnen: „Unbegründete Angst vor steigenden Rohstoffpreisen. Unter dem Zwang, mehr Deviseneinnahmen zu generieren, werden die Entwicklungsländer bereits in naher Zukunft damit beginnen, devisenbringende Rohstoffe zu praktisch jedem Preis zu verkaufen. Damit erwarten wir auf mittlere Frist eine markante Korrektur der Rohstoffpreise und, in der Folge, tiefere Kapitalmarktsätze in den Industriestaaten. Diese Korrektur wird für zinssensitive Titel sehr positiv sein.“ Präziser lässt sich die strukturelle Gewalt in der gegenwärtigen Weltgesellschaft wohl nicht fassen.

Doch auch im reichen Teil der Welt zeigen sich Risse. Wachsenden Gewinnen an den Börsen stehen eine sich hartnäckig verfestigende Arbeitslosigkeit und die Rückkehr der »Dritten Welt« in die Metropolen der »Ersten« gegenüber. Volle Regale in den Supermärkten und Einkaufszentren, den neuen Tempeln des säkulären Zeitalters, korrespondieren mit zunehmender Vereinsamung, psychischen Erkrankungen und Suiziden. Eine »Ideologie der Knappheit« suggeriert, wir hätten noch immer zu wenig, wir müssten uns noch mehr anstrengen im weltweiten Konkurrenzkampf um Standortvorteile.

Wer zu spät kommt,
den bestraft der Markt

Ängste vor dem Nicht-Mehr-Mithalten-Können, eine um sich greifende Ellbogen-Mentalität – für Thea Bauriedl (1999) der eigentliche Rechtsruck unserer Gesellschaft –, Sinnverlust im Taumel einer oberflächlichen Waren- und Entertainmentwelt – all das sind moderne Befindlichkeiten in unseren Wohlstandsländern, die kanalisiert werden in Schreckgebilden wie der »Globalisierung« mit den uns »beherrschenden« multinationalen Konzernen, dem »ökologischen Weltuntergang«, dem wir zusteuerten, oder – regressiver und gefährlicher – im Wiederauflammen eines dumpfen Ausländerhasses und Rassismus.

Die Jahrtausendwende beflügelt die modernen Weissager der »Zukunftsbranche«: Technikfaszination und Machbarkeitswahn bestimmt die einen (versprochen werden uns viereckige Gentomaten, Fabriken für menschliche Körperteile oder Fernreisen auf den Mond – es soll schon erste Buchungen geben), eine gefährliche Mischung von religiös-esoterisch, bisweilen auch mythisch verbrämten Weltuntergangsphantasien die anderen.

Wo liegen die utopischen Potenziale heute?

Die Utopie als geschlossener Gesellschaftsentwurf ist gestorben. Dies bestätigt auch der wohl einzige Utopieforscher in Deutschland, Richard Saage (1997). Er spricht von postmaterialistischen und postmodernen Utopien, von Ausformungen eines anderen Lebens, Wirtschaftens, Arbeitens in Nischen. Diese Pluralisierung individueller Lebensentwürfe macht jedoch die Reflexion über das Wohin und Wozu des Ganzen nicht obsolet.

Wo liegen die utopischen Potenziale heute? Ich sehe drei Bereiche: All jene Versuche alternativer Lebens-, Wohn- und Wirtschaftsformen – der Journalist Ulrich Grober (1998) beschreibt Beispiele hierfür in »Ausstieg in die Zukunft« – stellen wichtige Inseln der Differenz dar die zeigen, dass alternative Zukunftsentwürfe nicht nur gedacht, sondern auch gelebt werden können. Denn Christa Wolf (1998) beklagt zu Recht, dass die Verzweiflung vieler von unserem »Fortschritt« abhängiger Menschen daher komme, „dass sie, die ihr materielles Leben nicht aufs Spiel setzen wollen, nicht die Spur einer Alternative sehen.“ Die Ansätze, unabhängiger vom Geld- und Marktsystem zu leben, haben daher mittelbar oder unmittelbar auch politische Kraft, die etwa in der Subsistenzperspektive von Veronika Bennholdt-Thomsen u.a. (1999) als weltweite Widerstandskulturen gegen den globalisierten Markt verstanden werden.

Nachhaltigkeit als Leitbild

Zum Zweiten finden sich in allen Diskussionen, Versammlungen, Runden Tischen und Kampagnen, die mit der Nachhaltigkeitsdebatte einhergehen, Vorstellungen und Leitbilder realutopischen Gehalts. In Büchern wie »Zukunftsfähiges Deutschland« (1996) oder auch »Nachhaltiges Deutschland« (1997), den mittlerweile vielen Ergebnissen von Agenda 21-Prozessen sowie den ersten »Handbüchern« für einen nachhaltigen Lebensstil (Ferenschild u.a., 1998; Jakubowicz, 1999) werden real mögliche Veränderungen auf individueller und politischer Ebene thematisiert. Der Wandel der Arbeitsgesellschaft und sozialen Sicherung (Strasser, 1999), überlegterer Konsum, ein neuer Umgang mit Zeit sowie lokale Verortung (Muschg, 1998; Krippendorff, 1999) spielen dabei eine wichtige Rolle. Über diese Konzepte wird auch der Gerechtigkeits- und Verteilungsaspekt des Nachhaltigkeitsprinzips angesprochen.

Verteilungsgerechtigkeit
in der Weltgesellschaft

Dies führt zum dritten Strang der »Utopien von einer gerechteren Welt«, die im lauten Getöse des Redens von der Weltgesellschaft leider allzu oft untergehen. Dazu zählen die Bemühungen etwa des UNDP mit seinen aufrütteln wollenden jährlichen »Berichten zur menschlichen Entwicklung« (zuletzt 1999) ebenso wie der Vorschlag der Gruppe von Lissabon (1997) für einen »globalen Gesellschaftsvertrag«, dem gemäß der Ausstattung aller Menschen mit den Basisleistungen Priorität eingeräumt werden solle (etwa Wasserleitungen vor Internet-Kabeln). Die theoretische Grundlage hierfür liefert der Ansatz der grundbedürfnisorientierten Ökonomie, wie er etwa von Hermann Daly (1999) entwickelt wurde und der zwischen den begrenzten »needs« und den scheinbar unbegrenzten »wants« unterscheidet.

Auch wenn diese Konzepte voluntaristischen Charakter haben – die prägende Zukunftskraft ist derzeit der Markt, das zentrale Steuerungsmedium Geld beziehungsweise Profit – , so halten sie doch den moralischen Anspruch auf eine gerechtere Welt aufrecht. Ihre Umsetzung bedarf freilich der Materialisierung in Form konkreter Verträge, fairer Handelsabkommen, aber auch gewerkschaftlicher Kämpfe in den Ländern des Südens um fairen Lohn. Die ökologischen Nutzungsrechte und -grenzen (Kontingentierungen) bedürfen konkreter globaler Vereinbarungen. Das Abkommen zum Schutz der Ozonschicht ist hier ein erfolgreiches, jenes zur Begrenzung des Treibhauseffektes ein – zumindest bislang – wenig erfolgreiches Beispiel.

Eine Globalisierung, die die »Grundbedürfnisstrategie« ins Zentrum ihrer Bemühungen rückt, der Aufbau pluraler Ökonomien, in denen sich Weltmarktintegration und lokale Versorgungsstrukturen ergänzen – ebenso wie Lohnarbeit und Subsistenz sowie das Leitbild sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit wären demnach die Grundpfeiler für eine zukunftsfähige Entwicklung im nächsten Jahrtausend.

Literatur

Bauriedl, Thea (1999): Vom Wissen zum Handeln. Wege und Widerstände. In: Nachhaltig – aber wie? Hg. von der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen. Salzburg (im Erscheinen).

Bennholdt-Thomsen, Veronika u.a. (1999, Hg.): Das Subsistenzhandbuch. Widerstandskulturen in Europa, Asien und Lateinamerika. Wien, Promedia.

Daly, Hermann (1999): Wirtschaft jenseits von Wachstum. Die Volkswirtschaftslehre nachhaltiger Entwicklung. Salzburg, Pustet-Verlag.

Ferenschild, Sabine u.a. (1998, Hg.): Weltkursbuch – Globale Auswirkungen eines »Zukunftsfähigen Deutschlands«. Berlin u.a., Birkhäuser.

Grober, Ulrich (1998): Ausstieg in die Zukunft. Eine Reise zu Ökosiedlungen, Energie-Werkstätten und Denkfabriken. Berlin, Chr. Links-Verlag.

Gruppe von Lissabon (1997): Grenzen des Wettbewerbs. Die Globalisierung der Wirtschaft und die Zukunft der Menschheit. München, Luchterhand.

Jakubowizc, Dan (1999): Genuss und Nachhaltigkeit. Handbuch zur Veränderung des persönlichen Lebensstils. Wien, Promedia.

Krippendorff, Ekkehart (1999): Die Kunst, nicht regiert zu werden. Ethische Politik von Sokrates bis Mozart. Frankfurt/M., Suhrkamp.

Muschg, Adolf (1998): Die neue Beliebigkeit – ein unglaublich trübes Medium. In: Was kommt von Links. Hg. v. Jochen Reinert. Wien, Promedia.

Saage, Richard (1997): Utopieforschung. Eine Bilanz. Darmstadt, Primus.

Strasser, Johano (1999): Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Zürich, Pendo.

Wolf, Christa (1999): Hierzulande. Andernorts. München, Luchterhand.

MA Hans Holzinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen, Salzburg, und Mitherausgeber der Zeitschrift »Pro Zukunft«.

Katastrophenkataster Osttimor

Katastrophenkataster Osttimor

von Rainer Werning

Knapp 80 Prozent der Wahlberechtigten stimmten am 30. August in einem Referendum für die Unabhängigkeit Osttimors. Mit diesem Ergebnis hatte der seit Mai 1998 amtierende Suharto-Vertraute und -Nachfolger im Präsidentenpalast zu Jakarta, Dr. Bacharuddin Jusuf Habibie, wohl nicht gerechnet, als er Anfang dieses Jahres mit Verweis auf die erdrückenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf dem Archipel verkündete, Osttimor noch vor der Jahrtausendwende über sein künftiges Schicksal selbst entscheiden zu lassen.
Das Militär opponierte, proindonesische Milizen zerstörten, mordeten und vertrieben Hunderttausende auf Osttimor. Habibie musste abdanken. Doch ob die neue Regierung unter Abdurrahman Wahid die Unabhängigkeit Osttimors tatsächlich respektieren wird und ob dieser sein Versprechen „Indonesien nach einem förderalistischem System mit weitgehender Autonomie der einzelnen Provinzen zu organisieren“ einhalten wird, bleibt abzuwarten.

Ein Dokument der indonesischen Armee von Anfang Mai, da man gerade ein internationales Abkommen über das Referendum erzielt hatte, enthielt laut Sydney Morning Herald (8. u. 26.7.99) und der Australian Financial Review (13.9.99) die unmissverständliche Anordnung, „nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses in allen Dörfern Massaker anzurichten, falls die Verfechter der Unabhängigkeit siegen.“ Die Unabhängigkeitsbewegung sei „von der Führung bis zur Basis auszuschalten.“ (The Observer, 13.9.99) Das angekündigte Grauen, von proindonesischen Milizen inszeniert und von den Militärs gedeckt, nahm seinen Lauf und die »westliche Wertegemeinschaft« schaute zu. Erst am 20. September landete die Vorhut der aus 15 Staaten zusammengesetzten International Force in East Timor (INTERFET) in Osttimors Hauptstadt Dili. Am 14. Oktober schließlich bezogen 80 Bundeswehrsoldaten unter dem Kommando von Oberstleutnant Wolfgang Lange im nordaustralischen Darwin Quartier, um von dort aus Verwundete aus Osttimor auszufliegen und medizinisch zu versorgen.

Die Entfernung zwischen dem Kosovo und Osttimor markiert die Kluft zwischen »humanitären InterventionistInnen« und perfiden ZynikerInnen der Macht. Von „erzwungenem Massenexodus“, „systematischem Völkermord“ –gar „einem neuerlichen Auschwitz“ – war im Frühjahr die Rede, als im Namen von Menschenrechten ein rasches, kompromissloses und kostspieliges Handeln in Jugoslawien propagiert und exekutiert wurde. Im Falle des erneuten indonesischen Staatsterrors gegen Osttimor, der in unterschiedlicher Intensität seit 24 Jahren (!) andauert und sämtliche UN-Verurteilungen ungestraft ignorierte, ist auf einmal alles ganz anders. Hier konnte der Befehlshaber der indonesischen Truppen in Dili, Oberst Tono Suratman, zwei Wochen vor dem Referendum unbehelligt schwadronieren: „Sagen wir es ganz deutlich: Wenn die Pro-Unabhängigkeitskräfte siegen, wird alles zerstört werden. Das wird schlimmer als vor 23 Jahren (als indonesische Streitkräfte die erste Terrorwelle in Osttimor auslösten; R.W.).“ (Australian Financial Review, 14.8.99, unter Bezug auf ein Radiointerview) Die lautstärksten Apologeten des NATO-Krieges gegen Jugoslawien, von Tony Blair und Bill Clinton bis zu Scharping und Fischer, handelten jetzt gemäß der Devise des früheren US-Präsidenten Teddy Roosevelt: „Jemand mag ein Schurke sein, entscheidend ist, er ist unser Schurke.“ Noch am 7. September – der Terror der Milizen war in vollem Gange – hieß es in London, man erwäge keine Sanktionen gegen Jakarta, da diese »ineffektiv« seien. Statt dessen favorisierte man eine »quiet diplomacy« – hinhaltend und überdies mit mickrigem Budget. Dieses Dulden von Staatsterror ist Ausdruck dessen, was Anthony Lewis in der International Herald Tribune (8.9.99) zutreffend „Kissingerschen Realismus“ nannte.

Ein Blick zurück

Henry Kissinger, seinerzeit Außenminister, und US-Präsident Gerald Ford weilten in diesem Dezember 1975 in Jakarta auf Staatsvisite, wo Ex-General und Präsident Suharto sie über die unmittelbar bevorstehende (widerrechtlich mit US-Waffen gestützte) Invasion Osttimors unterrichtete. Zurück in Washington erklärte Kissinger vor seinem Stab im State Department: „Ich weiß, was das Gesetz ist. Doch kann es in unserem nationalen Interesse liegen (…), den Indonesiern die Zähne einzuschlagen?“ (ebd., S. 6) Er hatte Suharto zu einem »quick fix« gedrängt: Wenn schon eine Invasion, dann auf schnellst möglichem Wege.

Mit Jakarta ließen sich vorzüglich Geschäfte machen und mit von der Partie war von Anfang an die Bundesrepublik. „Der nach dem Ausscheiden Sukarnos begonnene Wandel in Staat und Gesellschaft“, hatte bereits das Düsseldorfer Handelsblatt (6.1.70) früh und in Erwartung lukrativer Geschäfte euphemistisch kommentiert, „ist in Indonesien noch nicht abgeschlossen. (…) Immerhin verfügt Suharto neben javanischer Geschmeidigkeit und Geduld auch über taktisches Gespür und notfalls Entschlossenheit, wie er das bei der Ausschaltung seines Vorgängers hinlänglich bewiesen hat.“ Eine nicht unwesentliche Rolle spielte dabei die Zusammenarbeit im Rüstungssektor. Aus der Bundesrepublik fand massenhaft militärisches Gerät den Weg nach Indonesien, von Fregatten aus Beständen der früheren Nationalen Volksarmee bis hin zu Maschinenpistolen der Firma Heckler & Koch. Hubschrauber vom Typ BO-105 der Firma Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB) werden unter deutscher Lizenz im Lande selbst gefertigt. (Kampf-)Uniformen ließ die Bundeswehr in der javanischen Textilfirma Sritex zu Billigstkonditionen nähen. Der an der Technischen Hochschule Aachen ausgebildete germanophile MBB-Fan, langjährige Technologieminister und Suharto-Intimus Habibie ging mit KritikerInnen derartiger Deals nie zimperlich um. Als namhafte Wochenmagazine in Jakarta 1994 beispielsweise den Ankauf von 39 modernisierungsbedürftigen Kriegsschiffen aus Deutschland bemäkelten – Gesamtsumme: 650 Mio. US-Dollar –, ließ Habibie sie kurzerhand durch das Informationsministerium verbieten.

Langjährig und intensiv unterstützte auch der Bundesnachrichtendienst (BND) die indonesischen Militärs. Der frühere BND-Chef, Reinhard Gehlen, hatte bereits Suhartos Militärputsch und blutigen Machtantritt ganz im Jargon des Kalten Krieges kommentiert: „Der Erfolg der indonesischen Armee, die (…) die Ausschaltung der gesamten kommunistischen Partei mit Konsequenz und Härte verfolgte, kann nach meiner Überzeugung in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.“ (zit. nach: Sendemanuskript von Monitor, WDR/Köln, ausgestrahlt am 10.10.96) Laut Recherchen des selben Fernsehmagazins bildete der BND in der Folgezeit indonesische Agenten in Deutschland aus. Die Geheimdienstkontakte gestalteten sich dermaßen freundschaftlich, dass der BND in der Deutschen Botschaft in Jakarta sogar eine sogenannte »legale Residentur« einrichten konnte. Der Zweck dieser BND-intern FB 70 bezeichneten Residentur: Enge Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst der Suharto-Diktatur.

Über die Bundeswehr und den Bundesgrenzschutz gab's für die fernen FreundInnen – unter dem Vorwand der »Drogenmissbrauchsbekämpfung« – Hilfestellung in Form von Ausbildungskursen für Offiziere an der Bundeswehrakademie Hamburg-Blankenese sowie Spezialtrainings bei der Elitetruppe GSG 9 in Hangelar bei Bonn. Unter anderen hatte dort auch der Schwiegersohn Suhartos, General Prabowo Subianto, 1981 eine Sonderausbildung erhalten. In seine Heimat zurückgekehrt, avancierte Subianto zum Chef der indonesischen militärischen Spezialeinheiten und übernahm zudem das Kommando über das wegen seiner Brutalität gefürchtete »Detachment 81«. Als einer der Drahtzieher von Liquidierungskampagnen gegen Oppositionelle inkriminiert, konnte sich Subianto nach dem Suharto-Rückzug im Sommer letzten Jahres unbehelligt ins Exil nach Jordanien absetzen.

1984 wurde gar ein Kooperationsabkommen über Polizeiausbildung und -technologie abgeschlossen, das auf bundesdeutscher Seite die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) in Eschborn unterschrieb. Damit fiel es unter Entwicklungshilfe, immerhin rangierte Indonesien (mit Indien, Ägypten und der VR China) ganz oben in der Rangliste der meistbegünstigten EmpfängerInnen bundesdeutscher Entwicklungshilfe.

Auch politisch-diplomatisch wurden die Bande zwischen Bonn und Jakarta, insbesondere während der Kohl-Ära, innigst gepflegt. Noch vor drei Jahren, als sich der Ex-Bundeskanzler auf seinen letzten Südost- und Ostasien-Swing begab, war Jakarta eine wichtige Zwischenstation. Galt es doch, die »Männerfreundschaft« (so Kohl über seinen Freund Suharto) beim gemeinsamen Segeln und Angeln publicityträchtig heraus zu streichen. Offensichtlich ist die enge indonesisch-deutsche Kooperation auch sehr schnell und tief ins rot-grüne Bewusstsein eingesickert. Wie sonst erklärt sich, dass ein »Alt-Linker« wie Ludger Vollmer, heute Staatssekretär im AA, ein deutsches Intervenieren in Jakarta wegen der Osttimor-Krise mit dem Hinweis abtat, die Politik solle sich aus reinen Wirtschaftsbeziehungen heraushalten? Anders die BMZ-Chefin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Sie mahnte für Osttimor – mit Verweis auf Kosovo – die Unteilbarkeit der Menschenrechten an.

Terror nach
der Volksabstimmung

Als Habibie Anfang des Jahres erstmalig den Plan verkündete, Osttimor binnen weniger Monate in einem Referendum über Autonomie, Unabhängigkeit oder den Verbleib bei Indonesien abstimmen zu lassen, ging es ihm um wirtschaftliche und politische Gründe. Er sah in Osttimor eine zusätzliche ökonomische Belastung und war gleichzeitig gewillt, das wegen der Annexion – zumindest unterschwellige – Negativimage abzustreifen und sich mit Blick auf die bevorstehenden Parlaments- und Präsidenschaftswahlen als demokratischer Erneuerer zu gerieren. Ob das mit den Militärs abgesprochen war bleibt fraglich. Diese wie auch die Tochter des charismatischen Staatsgründers Sukarno, Megawati Sukarnoputri, fühlen sich der jahrelang gültigen »dwi fungsi«-Doktrin verpflichtet. Demnach kommt dem Militär eine Doppelfunktion zu: Im Inneren wirkt es sozialpolitisch im Sinne von Ruhe, Ordnung und Stabilität und garantiert gleichzeitig als Wahrer nationaler Integrität und Souveränität den unbedingten Zusammenhalt des Staatsverbandes. Zwar opponierten die Streitkräfte nicht offen gegen Habibie, unternahmen allerdings hinter den Kulissen alles, um ein eventuelles Unabhängigkeitsvotum durch gezielte Störung und Destabilisierung zu unterlaufen und eine tatsächliche Unabhängigkeit Osttimors auf Dauer zu verunmöglichen. Bereits Monate vor dem – mehrfach verschobenen – Referendum haben die FührerInnen des aus sämtlichen gesellschaftlichen Schichten Osttimors gebildeten Widerstandsrates auf eine angemessene UN-Repräsentanz gedrängt – ein Wunschtraum wie sich fatalerweise herausstellen sollte.

Die Crux: Zwar bezogen internationale BeobachterInnen der UN-Mission in East Timor (UNAMET) in Dili Quartier, doch bereits zehn Monate vor dem Referendum gingen »integrationistische« – sprich: proindonesische – Milizen gegen alle vor, die verdächtigt wurden, gegen die fortgesetzte Herrschaft Jakartas zu votieren. Makaber war überdies, dass ausgerechnet die indonesischen Streiträfte mit der ordnungsgemäßen Überwachung des Referendums betraut wurden! Als diese ihre gedungenen Schergen aufstachelten (von der BBC durch mitgeschnittene Funkgespräche zwischen beiden Parteien einwandfrei belegt), Dili zu entvölkern, Tausende abzuschlachten und über 300.000 Menschen gewaltsam in die Berge oder nach Westtimor zu treiben, stellte sich die »westliche Wertegemeinschaft« taub und sah keinen Handlungsbedarf. Obwohl die UNAMET in ihrem Lagebericht vom 11. September, also zwei Wochen nach dem Referendum, zu folgender Einschätzung gelangt war: „Die direkte Verbindung zwischen Milizen und (indonesischen; R.W.) Militärs steht außer Zweifel und wurde von Unamet während der letzten vier Monate in erdrückender Deutlichkeit dokumentiert. Doch Ausmaß und Intensität der Verheerungen, die Osttimor während der vergangenen Woche erlebt hat, demonstrierten ein neues Niveau der offenen Beteiligung des Militärs an Operationen, die vormals eher verdeckt durchgeführt wurden.“ „Da das Pogrom vorauszusehen war“, schrieb der indonesische Historiker John Roosa am 15. September in der New York Times, „hätte man es leicht verhindern können. Aber in den Wochen vor der Abstimmung weigerte sich die Clinton-Regierung, mit Australien und anderen Ländern über eine internationale Truppe zu diskutieren. Selbst nach dem Ausbruch der Gewalt zögerte die Regierung noch mehrere Tage lang“, während UN-Generalsekretär Kofi Annan Indonesien lediglich empfahl, seinen Pflichten nachzukommen. „Die US-Luftwaffe“, schrieb Noam Chomsky in seinem Essay »Unversöhnliche Erinnerung« für die deutschsprachige Oktober-Ausgabe von Le Monde diplomatique, „die in Jugoslawien zivile Ziele punktgenau vernichten konnte, sah sich außerstande, Nahrungsmittel für hungernde Menschen abzuwerfen, die vom Terror der indonesischen Streitkräfte in die Berge getrieben wurden – von Truppen also, die von den USA und ihren Verbündeten ausgerüstet und ausgebildet werden. (…) In den Monaten vor dem August-Referendum wurden nach glaubwürdigen Kirchenquellen 3.000 bis 5.000 Menschen umgebracht. Das wären doppelt so viele Tote wie im Kosovo in der Periode vor den NATO-Bombenangriffen und sogar viermal so viel, wenn man es in Relation zur Gesamtbevölkerung setzt. Der Terror war umfassend und sadistisch und sollte warnend darauf hinweisen, was jeden erwartete, der den Befehlen der Besatzungsarmee zu trotzen wagte“. (S. 7)

Nachdem die Milizen, aufgestachelt und gedeckt von der indonesischen Soldateska, ihr Unwesen getrieben und dafür Sorge getragen hatten, dass – wenn schon unabhängig – Osttimor auf Dauer politisch ein fragiles Gebilde und ökonomisch ein Schutthaufen bleiben würde, versuchten die Machthaber in Jakarta Zeit zu schinden. Erst nachdem das Militär die Gelegenheit zur Bereinigung seiner gröbsten Blut- und Plünderspuren hatte, stimmten sie der Entsendung von UN-Truppen zu. Als ab dem 20. September die ersten Kontingente der bis zu 7.500 Soldaten umfassenden multinationalen Friedenstruppe (INTERFET) unter dem Kommando des australischen Vietnam-Veteranen Generalmajor Peter Cosgrove anlandeten, mussten sie sich zuvörderst als Vermesser des Grauens betätigen. Das Gros der Schlächter hatte sich derweil ins benachbarte indonesische Westtimor abgesetzt, die dorthin verjagten OsttimoresInnen als Manövriermasse drangsalierend und von dort aus die nächsten Schritte einer gezielten Destabilisierung der Region planend.

Die australische »Schutzmacht«

„Sollten die Osttimoresen sich für die Unabhängigkeit entscheiden, wird die UNO Zug um Zug die Verantwortung für das Gebiet übernehmen und dazu gehört auch irgendein Sicherheitsarrangement“, hatte Australiens Außenminister Alexander Downer vor dem Referendum erklärt. Doch gleichzeitig weigerte sich Canberra, ein solches Sicherheitsarrangement zum Schutz der bereits von den Militärs und ihren Milizen in die Zange genommenen osttimoresischen Zivilbevölkerung zu treffen. Angeblich sollte der Eindruck vermieden werden, man bezöge Position für die FRETILIN – ein fadenscheiniger Vorwand angesichts der Tatsache, dass die FRETILIN nie umworben worden war. Die autralischen KritikerInnen der indonesischen Osttimor-Politik können davon ein Lied singen, ihre Berichte über die Geschehnisse in Osttimor wurden häufig zensiert oder gar nicht erst veröffentlicht. Im letzten Vierteljahrhundert gab es viele Situationen, in denen eine humanitäre Intervention für die Belange notwendig gewesen wäre, doch seit der Annexion Osttimors haben sämtliche australischen Regierungen alles getan, um sich mit Jakarta ins Benehmen zu setzen und aus Rücksicht auf florierende Wirtschaftsbeziehungen keine Verstimmung wegen Osttimor aufkommen zu lassen. Nicht zuletzt mit Blick auf die gemeinsame Erschließung entdeckter Erdölquellen gestaltete sich ein inniges bilaterales Verhältnis. Wenn Canberra heute seine Indonesien-Liebe zugunsten einer Osttimor-Fürsorge preisgibt, so erweckt das sehr den Eindruck von »Fassadenreinigung« mit Blick auf die Olympiade im nächsten Jahr.

Ausgebliebene Krisenprävention – düstere Friedensperspektiven

Kläglich versagt haben in diesem Konflikt sowohl die UN als auch die »westliche Wertegemeinschaft«. Deren jahrelanges Tolerieren der indonesischen Okkupation Osttimors hat Jakarta in seiner Einschätzung bestärkt, dass beide keine Politik durchsetzen die gegen seine Interessen gerichtet ist. Von einem diktatorischen Regime und seiner Soldateska schließlich das Plazet zur Stationierung einer Friedenstruppe zu erbitten – diese Geste hätte im Falle des Kosovo als abstrus gegolten. „Möglicherweise hätten bereits vor dem Referendum stationierte Ordnungskräfte einen Ausbruch der Gewalt in Osttimor verhindern können“, schreibt der Züricher Völker- und Staatsrechtler Daniel Thürer, „Jakarta hatte das zwar stets abgelehnt, völkerrechtlich hätten solche Kräfte wohl aber auch ohne die Zustimmung Indonesiens entsandt werden können. Mit dem dafür benötigten Personal in der Hinterhand hätte Kofi Annan druckvoller gegenüber der indonesischen Regierung argumentieren können, der präventiven Stationierung einer Polizeitruppe zuzustimmen.“ (zit. nach: Entwicklung & Zusammenarbeit 10/99, S. 285, Berlin (Okt.) 1999) Osttimor, so Thürers Fazit, „ist ein weiteres Lehrstück dafür, dass den Menschenrechten, der Demokratie und dem humanitären Völkerrecht nicht erst dann der nötige Respekt gezollt werden darf, wenn es bereits zu spät ist.“

Die demokratisch eindrucksvoll unterstützte FRETILIN bleibt mit einem Sieg konfrontiert, um den sie keiner beneidet. Das Ausmaß der Zerstörung ist riesig. Und selbst wenn ihr Weg nach etwa dreijähriger UN-Treuhandschaft in die Unabhängigkeit führt, bleibt sie in dem Dilemma gefangen, einen eigenen Verwaltungsapparat und ein eigenes (Aus-)Bildungs- und Wirtschaftssystem aufbauen zu müssen. Als langjähriges Objekt externer Kolonialisierung und interner Kolonisierung ist aber nahezu der gesamte Handels- und Wirtschaftssektor Osttimors von Geschäftsleuten aus Sulawesi, Java und anderen Inseln dominiert, die ihre Pfründe nicht kampflos preisgeben werden.

Dr. Rainer Werning ist Vizepräsident des International Forum for Child Welfare (Genf) und Geschäftsführer der schwerpunktmäßig in den Südphilippinen engagierten Stiftung für Kinder (Freiburg i.Br.)