Zum Gewaltpotential moderner Gesellschaften

Zum Gewaltpotential moderner Gesellschaften

Soziokulturelle Gefährdungen des inneren Friedens

von Johannes Esser

Offensichtlich spielen sowohl bei internationalen als auch bei innergesellschaftlichen Gefährdungen des Friedens gewaltträchtige Bedingungen und Interessen eine leitende Rolle. Miliärische Friedensgefährdungen sind dabei mit den nicht-militärischen Friedensgefahren durch Realitäten der Gewaltsamkeit venetzt. Zu Schlüsselfaktoren gehören Rüstung und Militarsierung, Unterentwicklung, Armut, Unterdrückung, soziale Ungerechtigkeit und ökonomische Ausbeutung in der Dritten Welt, Wohlstand, Konsumterror und Luxus in Industriegesellschaften, weltweiter Raubbau von natürlichen Ressourcen, Umweltzerstörung.

Dagegen sind Zieldimensionen eines gewaltüberwindenden Friedens weltweite Abrüstung und Rüstungskontrolle, Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, Beseitigung der Unterentwicklung, Abbau und Überwindung von Feindbildern, Neuordnung der Weltwirtschaft, umweltverträgliche Technologie sowie neue Demokratisierungsprozesse auf vielen internationalen und innergesellschaftlichen Ebenen. Im Hinweis auf diese Zusammenhänge ist der überragende und extreme Stellenwert des Gewaltinstruments verankert. Beim nachfolgenden Problemaufriss sollen dazu einige innergesellschaftliche Faktoren skizziert werden, die auch der Strukturierung von »Gewaltsensibilität« dienen können1.

Gewaltverständnis und Gewaltformen

In der Diskussion über den Gewaltbegriff ist festzustellen, wie widersprüchlich immer wieder das Begriffsverständnis von Gewalt ausfällt. Auf der einen Seite ist eine abstrakte Gewaltdefinition für Analysebedingungen definiert, die generell problematische Ansprüche auf Macht- und Herrschaftsstrukturen kaum aufarbeiten. Auf der anderen Seite sollte unter herrschaftskritischem Interesse berücksichtigt sein: Die Gewaltdefinition ist abhängig von konkreten widersprüchlichen, konfliktträchtigen, politischen und sozialen Bedingungen und Interessen, die vor allem alltagsbezogen subjektive Erfahrungen, Einstellungen und Bewertungen einschließen. Dagegen ist einer abstrakt lebensweltfernen Gewaltdefinition subjektives Erfahrungswissen über Gewalt, Lebenszusammenhang und Orientierungskompetenz nicht zuzuordnen.

Zum Gewaltverständnis der »Gewaltkommission«

Ein interessantes Beispiel zum Gewaltverständnis liefert die »Gewaltkommission« der Bundesregierung. Es heißt hier u.a.: „Gewalt wird in unserem Gutachten auf ausgeübte oder glaubwürdig angedrohte physische Aggressionen eingeschränkt, mit denen einem angezielten Objekt etwas gegen dessen Bedürfnisse, gegen dessen Willen geschieht.“ 2 Auffällig ist an diesem Gewalt-Verständnis die Herausstellung der physischen, also der körperlichen Gewaltform. Der Macht- und der Herrschaftsbegriff ist als unproblematisch zugeordnet.

Zur Macht im hierarchischen Bezug gehören im einzelnen z.B. das Netz von Über- und Unterordnung, ferner die Sanktionsgewalt sowie der Gehorsams- und Führungsanspruch. Macht ist als wesentliche Beeinflussungsmöglichkeit gerade dann eine Spielform der Gewalt, wenn sie Zwang gegen Abhängige und/oder Andersdenkende anwendet.

Konstitutives Moment von Macht ist staatliche Herrschaft, die zum Beispiel im öffentlichen Konfliktfall eine machtvolle Handlungsstrategie gegen Bürgerinteressen ermöglicht.3 Es überrascht in dieser Blickrichtung vielleicht weniger, wenn im Gutachten der Gewaltkommission mit der gleichzeitig angesetzten bedingungslosen Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols (a.a.0.) politisch motivierte Auseinandersetzungen bei Demonstrationen, Hausbesetzungen, Blockaden, Anschlägen grundsätzlich und generell an Kriterien der Kriminalität definiert werden bzw. generell in ihre Nähe rücken4. Auch zeigt sich hier, daß die Gewaltdiskussion in der Bundesrepublik noch einen langen Weg vor sich hat. Die Gewaltkommision lehnt nachdrücklich die Erweiterung ihres Gewaltverständnisses ab. Ungerechte und unfriedliche gesellschaftliche Lebensbedingungen, Not, Unterdrückung, Armut, Zwang und Mißhandlung zum Beispiel aber machen schnell bewußt, daß diese Situationen, Konflikte und Lebenslagen für die Entwicklung und Alltagsbewältigung von betroffenen Menschen natürlich Konfrontationen mit Gewaltverhältnissen sind.

Physische Gewalttätigkeit

Physische Gewalt ist an konkreten Erfahrungen der Unterdrückung, Bevormundung und Ausbeutung festzumachen. Subjektive Intensität der Gewalterlebnisse sowie Versuche und Interessen, diese Gewalterfahrung »objektiv« zu machen, können in Konfliktfall und Analyse weit auseinanderfallen, was eine Konfliktgestaltung erschwert. Trotzdem wird die Gewaltwahrnehmung subjektiv nicht unpräzis sein. Stets hat im Alltag die konkrete Gewalttätigkeit eine Täter-Seite, eine Opfer-Seite und oft auch noch eine Seite des Gewalt-Beobachters, der Gewalttätigkeit gewähren läßt.

Für die Bewertung, für die Einstufung der Folgen von Gewalttätigkeit ist diese Perspektive wirklich erheblich. Zugrunde liegt die Auffassung, daß alle Gewalttätigkeit in einem innergesellschaftlichen und internationalen Normen- und Wertenetz der Macht- und Herrschaftsinteressen, der Abhängigkeitsprozesse und Konfliktstrukturen steht. Den Gewaltbegriff wertneutral zu fassen, ist deshalb unmöglich, zeigen sich hier doch soziale Phänomene, Deformationen und/oder menschenfeindliche Entwicklungen. Für Gewalttäter muß die Gewalthandlung kein Unheil sein, für das Gewaltopfer kann die Gewalttätigkeit gegen sich – je nach Dauer und Intensität – eine existenzielle Bedrohung sein. Der Gewalt-„Beobachter« trägt mittelbar die Gewaltanwednung mit. Ebenso ist die Notwendigkeit unverzichtbar, Anlässe und Beurteilungsmaßstäbe der konkreten Gewalthandlung offenzulegen.

Der Typus der physischen Gewalttätigkeit von Menschen verletzt unmittelbar Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer in ihrer körperlichen Unversehrtheit. Die Merkmale der körperlichen Gewalt sind zu erkennen, zu sehen, zu fühlen. Gewalttäter und Gewaltopfer können bei dieser Gewaltform direkt benannt werden.

Kommunikative Gewalttätigkeit

Auch die kommunikative Gewalttätigkeit ist nicht harmlos. Kommunikative Gewalttätigkeit verzerrt objektive Realität. – Sie entstellt Fakten, verfälscht Ansprüche und Zusammenhänge zugunsten eigener profitabler Vorteile und Prestigezuwächse. Kommunikative Gewalt ist geprägt durch die Leitfrage, wie verbal / nonverbal der Wille des anderen zugunsten eigener Interessen zu brechen ist, ohne daß der eigene Standpunkt geschwächt wird. Es geht also um Indoktrination eines Gegners, der aus gegebenen Anlässen rücksichtslos, martialisch brutal von seinen Absichten abgebracht, der manipuliert oder gar mundtot gemacht werden soll. Kommunikative Gewalttätigkeit produziert Unterdrückung und Unrecht. Die/der Unterdrückte wird von wichtigen sozialen Lebenszusammenhängen abgedrängt. Dieser Gewalttyp entstellt und hebt auf unterschiedlichen Ebenen Verständigung auf. Als asoziales Element der Unerbittlichkeit verletzt dieser Gewalttypus unmittelbar; es wird abgelenkt, beleidigt, psychisch verletzt, entmutigt, erniedrigt. Kommunikative Gewaltätigkeit kann allein schon durch Mißachtung in der zwischenmenschlichen, in der institutionellen, in der innergesellschaftlichen Ebene Aggressivität erzeugen. Einige Alltagsbeispiele beziehen sich auf »Steffi`s Blitzkrieg« auf dem Tennisplatz oder auf die raffinierte Sprachschöpfung „Verklappung von Dünnsäure“; ein Beispiel, das gar nicht mehr erkennen läßt, daß hierbei Schwefelsäure ins Meer gekippt wird, die eine für Lebewesen hochgefährliche anorganische Lösung darstellt. Die »Auseinandersetzung in der Golf-Region« ist die realitätsverzerrende Verharmlosung des grausamen Krieges gewesen, oder die »Modernisierung der konventionellen Waffen« wie das im Rüstungsbereich heißt – soll von nächsten Schritten der fortgesetzten Aufrüstung und von der Produktion neuer Waffen ablenken. Als Zwischenfazit bleibt festzustellen: Die beiden skizzierten Gewaltformen präsentieren keineswegs abstrakte Aspekte, sondern sie sind sehr wohl mit konkreten Verhältnissen verschränkt, die menschenunwürdige Situationen ansprechen. Gewalt hat in atemberaubender Dichte Alltag durchgesetzt. Zerstörung von Lebensräumen, von Alltags- und Lebensplanungen brechen sich durch Gewalt Bahn.

Strukturelle Gewalttätigkeit

An dieser Stelle existieren Querbezüge zu einem anderen, wesentlich folgenreicheren Gewalttypus, den 1971 der norwegische Friedensforscher Galtung als strukturelle Gewaltform in die Fachdiskussion eingebracht hat. Stukturelle Gewalt liegt nach Galtung vor, „wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“. 5

Strukturelle Gewalt gilt als eine äußerst entwicklungsfeindlich ausgerichtete Behinderung von Menschen. Sie ist systemimmanent in Subsystemen historisch »gewachsen« und stabil verankert. Strukturelle Gewalt macht Gewaltakteure nur selten sichtbar. Sie wirkt auf Lebensbedingungen einerseits verdeckt und gleichzeitig verborgen, andererseits äußerst kontinuierlich. Strukturelle Gewalt ist nicht von einzelnen Situationen abhängig. Denn sie bevormundet, kontrolliert, entfremdet, verohnmächtigt, isoliert per Struktur.

Strukturelle Gewalt hat in diesem Zusammenhang eine Wächteraufgabe, die Macht- und Henschaftskonstellationen und Kontrollansprüche hervorragend schützt. Soziale Ungerechtigkeit, die Ausbeutung, die Instrumentalisierung, die Unterdrückung von Verhältnissen und von Menschen sowie die Zerstörung von menschlichen Lebenszukünften – das sind wesentliche Schlüsselaspekte von Bedingungen und Ursachen der strukturellen Gewalttätigkeit. Die Befriedigung materieller und nichtmaterieller Grundbedürfnisse, die für die Sicherstellung menschlicher Existenz so unverzichtbar ist, wird durch Gewaltprozesse in Strukturen ungewiss. Strukturelle Armut, strukturelle Unterdrückung, strukturell bedingte Entfremdungsprozesse geben hier entscheidende Anhaltspunkte.6 Das Elend des strukturbedingten Gewaltalltags bekommt scheinbar die Automatik der unausrottbaren Menschenverachtung, die so unerträglich normal sein kann.

Kulturelle Gewalttätigkeit

Diese Gewaltform, 1990 von Galtung in die Diskussion gebracht, ist entstanden und wirksam über die Jahrhunderte der jeweiligen gesellschaftlichen Kulturprozesse. Kulturelle Gewalt stützt und rechtfertigt sowohl bei internationalen als auch bei innergesellschaftlichen kommunalen Krisen und unbewältigten sozialen Problemen die Anwendung von körperlicher und struktureller Gewalt gegen Menschen und gegen deren Lebensverhälmisse.

Solche Religionen und Weltanschauungen können hier als herausragende Belege angeführt werden, in denen die Ideologie der Ungleichheit verteidigt wird. Hier liegen etwa auch die Wurzeln von Kolonialismus, Nationalismus, Sexismus oder Umweltzerstörung.

In kultureller Gewalt können sich direkte und strukturelle Gewalt »verfestigen«. Die Chance der Gewaltverminderung scheint immer kleiner zu werden.

Aber auch das ist kritisch zu sehen: Kulturelle Gewalt setzt autoritäre Wertvorstellungen über lange Zeiträume absolut und sucht sie radikal zu stabilisieren. Gegen-Entwürfe beziehungsweise Basis-Lebens-Modelle der offenen, der humanen, sozialen, politischen, religiösen, der werteverändernden autonomen Gestaltung der Alltagsbedürfnisse sind nicht erwünscht.7

Dieses ideologisierte, zu kurz greifende Gestaltungs- und Veränderungsverständnis von Lebens- und Zukunftsgrundlagen aber ist eine ungemein gefährliche Basis zu einer immer dichteren und engeren Praxis der strukturellen und der direkten Gewalttätigkeit. Die fragwürdige Diskussion über den »gerechten Krieg« ist hier ebenso ein Beleg-Beispiel wie die martialische Bekämpfung von Minderheiten bei öffentlichen Aktionen und im Verbund mit Massenmedien. Einstellungen und Praxis einer selbstgerechten Gewaltrechtfertigung sind hier dann gar nicht so selten8. Das Elend der Gewalt erhält die Automatik der angeblich unausrottbaren Menschen- und Zukunftsverachtung. Gewalttätigkeit gegen Menschen und gegen gesellschaftliche Zukünfte lassen sich bei nüchterner Analyse aber nicht auf die Normalität von Essen und Trinken entstellen und bagatellisieren.

Gewaltförmige Strukturentwicklungen

Staatliche und gesellschaftliche Gewalttätigkeit ist auch bei noch so unterschiedlichen Konfliktdiskursen in der Summe kein Normalphänomen, das lediglich am Rande unserer Gesellschaft existiert und das daher primär mit radikalen Gruppen zusammenzubringen wäre. Gewalttätigkeit bleibt dagegen vielmehr ein Kernproblem, das im innergesellschaftlichen Zentrum historisch heranwächst, und das dort, ohne etwa in Massenmedien als Skandal aufgeputscht zu werden, fortbesteht. In diesem Zusammenhang kann nicht übersehen werden, daß etwa das Thema der Jugendgewalt von der Diskussion der Gewaltanwendung durch staatliche Apparate und Organe keinesfalls abgetrennt und ausgeblendet werden darf. Nicht selten ist staatliche Repression zum Beispiel als Auslöser von Gegengewalt zu analysieren. Und die Praxis des staatlichen Gewaltmonopols kann schnell bewußtmachen, daß sie kaum in der Lage ist, gesellschaftliche Gewalt konfliktaufarbeitend aufzuheben.

Des weiteren liegen die Tiefendimensionen der Verwurzelung des gesellschaftlichen Zentrums der Gewalttätigkeit natürlich nicht weniger verankert in der permanenten Expansion der Polizeimacht9, ferner in der „Verletzung oder Tötung von Menschen durch die Zerstörung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen mit den Mitteln des »Technischen Fortschritts““ oder in den „immer komplizierter werdenden, knebelnden Lebensräumen einer Gesellschaft, die für viele Menschen eine undurchschaubare und ängstigende Gestalt annehmen.“ 10

Um das breite Spektrum gewaltförmiger Strukturen noch genauer zu erfassen, sollten erkenntnisleitend allein staatliche Hinsichten und Definitionen unbedingt ergänzt werden. Die Gewalttätigkeit in modernen Gesellschaften mit ihrem Machbarkeits- und Unfehlbarkeitswahn sowie mit ihrer risikointensiven organisierten Unverantwortlichkeit nimmt ja eindeutig zu und nicht ab.11

Allerdings dürften eine komplexe Verbesserung gesellschaftlicher Lebensbedingungen sowie die Verbesserung innergesellschaftlicher Lebensqualität offensichtlich entscheidend in der Lage sein, Gewaltsamkeit und Gewaltförmigkeit zumindest erheblich zu mildern.

Innergesellschaftliche Gewaltpotentiale

Geschlechterverhältnis und Dominanzalltag

Im »Kampf der Geschlechter« rückt ein hochintensives Gewaltpotential und Gewaltverhältnis in die Diskussion, der einen umfangreichen Teil von privaten und beruflichen Problemen zwischen Frauen und Männern auch aufgrund sich verändernder sozialer Normen beherrschen kann.

In aller Kürze sind hierzu als durchaus ausbeuterische und gewaltförderliche Faktoren zu nennen:

Geschlechterrollenspezifische Bewußtseinsveränderungen, verschärfte alte und neue Ungleichheiten durch gegenläufige Geschlechterrollenprofile, Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Destruktivität, Machtverhalten und Machtmißbrauch von Männern gegen Frauen, Bindungssucht bzw. Bindungsunfähigkeit zwischen Männer- und Frauenbeziehungen, widersprüchliche und gegensätzliche Einstellungen zur Würdigung der Familienarbeit und des Berufes zwischen Frauen und Männern, verweigerte qualifizierte Erwerbsarbeit für Frauen statt lebenslänglicher Familien- und Hausarbeit, entwürdigende Instrumentalisierung sowie materielle, soziale und sexuelle Vergewaltigung von Frauen durch Männer.

Auch kann die Auseinandersetzung um eigenes Leben und Dasein für andere durch den Wunsch nach neuen Rollenaufteilungen für größere Berufschancen von Frauen bei einem gleichzeitig erforderlichen Karriereverzicht von Männern bei ihnen äußerst gewaltträchtiges Dominanzverhalten hervorrufen.12

Mythen und Hypothesen prägen allerdings den Konfliktalltag. Und es kommt noch hinzu, daß längst nicht die Leiden von Frauen gerade an geschlechtsspezifischen Folgen bei dauerhafter Unterdrückung, Ausbeutung und Perspektivlosigkeit, jedoch auch bei Aufrüstung, Hungerterror und Kriegen offensichtlich nicht hinreichend erforscht und bekannt sind.

Gewalt in der Erziehung

Das Gewaltproblem hat in der Erziehung schon eine sehr lange Wirkungsgeschichte. Zumeist spielen zum Beispiel bei den Übergriffen auf Kinder durch Fehlleistungen der Erziehung durch Erwachsene solche Anlässe und Methoden eine große Rolle, die im Alltag Kindern Gewaltfaktoren der Zurückweisung, Erniedrigung, Venachlässigung, Verwahrlosung, Diskriminierung, Ausgrenzung, sozialen Benachteiligung, des physischen und sexuellen Mißbrauchs und/oder das Zerschlagen von Alltags- und Lebensperspektiven aufzwingen.

Die Verhinderung bzw. Überwindung dieser massiv wirksamen Strukturfaktoren der Gewalttätigkeit kann überzeugend durch ein offenes, lebendiges, frohes Erfahrungs- und Kommunikationsklima gestaltet werden.

Richtungsweisend friedensförderlich ist etwa, Kinder mit ihren eigenen Lebensgefühlen grundsätzlich zu akzeptieren, sie gerade im Konflikt/Krisenfall zu bejahen. Kinder sind nicht abzuweisen, sondern stets anzuhören und wichtig zu nehmen; sie sollten nicht in ihrer Würde und Persönlichkeit verletzt und verurteilt werden. Vieles ist mit ihnen zu diskutieren. Kinder sind vor allem auch nicht zu bevormunden und nicht arrogant auszufragen oder gar kleinzumachen. Vielmehr sollten ihre eigenen einzelnen Alltags- und Lebensbewältigungsschritte äußerst ernstgenommen werden.

Das Ganze sollte eine instruktive Antwort auf Sozialisationsprozesse bei Kindern und bei Erwachsenen sein können.

Dieses Konzept gegen Konkurrenzdenken, Stärkerituale und Gewaltverhalten kann im Zusammenleben mit Kindem ein recht ergiebiges Arbeits- und Kooperationsprogramm der ersten 10-13 Lebensjahre werden.13

Leitende Intention ist hier der langfristige Lernprozeß zu der Grundeinstellung, im qualifizierten und differenzierten Widerspruch und Ungehorsam gegen Unfrieden neue Schritte der innergesellschaftlichen Gewaltüberwindung gestalten zu können.

Ausländerfeindlichkeit und Rassismus

Die gewaltträchtige Ausländerfeindlichkeit ist gerade auch im Kontext des Rassismus eine besondere Gefährdung des inneren Friedens. Sie sind längst nicht simplifizierte und undifferenzierte Deutungsmuster der subjektiven Erfahrungsverarbeitung. In Ausländerfeindlichkeit und Rassismus zeigen sich vielmehr unerbittlicher Haß auf Menschen, auf Fremde aus anderen Kulturen. Das gewalttätig Bedrohliche besteht auch darin, daß in der Ideologie von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus brutalisierte, menschenfeindliche Gefühls- und Denkschubladen gegen das Andere, das Neue, das Kontroverse immer größeren Platz haben. Ausländerfeindlichkeit und Rassismus sind herausragende und dramatische Elemente der kulturellen Gewalt. Durch diese Gewalt werden ausländische Gastarbeiterfamilien, Asylanten und Wirtschaftsflüchtlinge rigoros diffamiert, um sie auszugrenzen und abzustoßen. Zu rassistischen Grundelementen zählen derzeit zum Beispiel „Leugnungsstrategien bei Intellektuellen“ genauso wie Leugnungen der praktischen Politik auf Regierungsebene oder Realitätsverdrängungen „bei Amts- und Mandatsträgern“, aber auch Verdrängungen „als politische Mentalität in der breiten Bevölkerung“.14

Es zeigt sich ein hohes Maß von politischer Unkultur, von autoritärem Lebensgefühl und politischer Unterentwicklung, was sich bei einer massiven Bündelung als absolut demokratieunverträglich erweist.

Diese Fehlentwicklungen greifen die realen Chancen der multikulturellen und fremdenfreundlichen Gesellschaft heftig an. Denn Fremdenfeindlichkeit und Rassismus eint die falsche Wahrnehmung und Darstellung von Fakten sowie die rabiate Pflege der Feindbilder, die durch den allzu oft unerträglichen Transport der Massenmedien sowie durch vielfältige innergesellschaftliche soziale Probleme wie etwa anwachsende Armut und Dauerarbeitslosigkeit eine schnelle Wirkung erhalten.

Gewalt gegen Fremde und Angriffe auf Asylbewerberunterkünfte erfordem keine einzelnen, sondern ständige Aufklärungs- und Gegenaktionen. Dabei sind Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhaß ein Problem in Westdeutschland und in Ostdeutschland. Auch hier ist Deutschland vereint. Hier ist jedoch sehr viel gegen Existenzängste und für Menschen- und Grundrechte auf Zuflucht, Asyl, Wohnung und Arbeit zu tun.

Zivilcourage und Solidarität mit Fremden stützen praktische Schritte und vertrauensbildende Maßnahmen gegen Fremdenhaß und für gleichberechtigtes Zusammenleben. Daten zum Beispiel aus dem BMFJ von 1991, die besagen, daß bei einer Umfrage 61 % der befragten Bundesbürger es in Ordnung finden, wenn viele Ausländer in Deutschland leben, können sicher nicht beruhigen.

Rechtsextremismus

Ausländerfeindlichkeit und Rassismus stehen mit dem sozialen und politischen Problem des Rechtsextremismus in unmittelbarem Zusammenhang, ja sie sind miteinander eng verzahnt.

Um die Größenordnung des Problems näherhin zu begreifen, erscheint eine Nachricht des Bundesamtes für Verfassungsschutz interessant. Nach dieser sollen in Deutschland 69 rechtsextremistische Organisationen und Gruppierungen existieren, ferner 71 rechtsextremistische Publikationsorgane sowie 25 Zeitschriften und Buchverlage.15

Bei derartig unüberschaubaren Fakten ist von Interesse, wie die Sammelbezeichnung Rechtsextremismus in der gegenwärtigen Diskussion definiert wird. Eine grobe Begriffsstrukturierung sieht etwa im Rechtsextremismus in einer Analyse vor allem „antidemokratische Auffassungen und Bestrebungen mit traditionell politisch rechts einzuordnenden Ideologieelementen“. Schlüsselfaktoren der Ideologie sind neben anderen »Nationalismus«, autoritäre Politik, die am Staat, nicht an der Gesellschaft orientiert ist, Ideologie der Ungleichheit mit der Notwendigkeit von Ausgrenzung und Abwendung derjenigen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören.16

Von Rechtsextremismus muß aber auch gesprochen werden, wenn diffuses und aggressives Verhalten zur Praktizierung von Ausgrenzung und Abwendung von Menschen den Alltag und das spezifische Gruppenverhalten bestimmen.

Der Analyseschritt, hier eher doch von einer rechtsextremen, gleichwohl gewaltträchtigen, bedrohlichen Praxis zu sprechen, scheint instruktiver.

Auch mehr unpolitische Gruppierungen, die offensichlich in ihrer Subkultur rechtsextremistische Tendenzen zeigen, sind zu beachten. Hierzu können durchaus Hooligans gehören.

Die identitätsstiftende Funktion der niederschwelligen Gewaltbereitschaft und die brutale, teils unberechenbare und unerbittliche Gewaltpraxis müssen im Konfliktfall genauso ernstgenommen werden wie bei Skinheads.

Das Bedürfnis, gegen Unterlegene vorzugehen, ist groß und macht Spaß. Die Folgen des gewalttätigen Handelns interessieren in beiden Gruppen ebensowenig.

In der einschlägigen jüngsten Forschung werden zum Rechtsextremismus neuerdings biographische Daten kaum mehr als hinreichende Erklärungsdaten zu Gewaltbereitschaften angesehen. Das ist insofern neu, als damit jahrelang gültige Sozialisationstheorien als Ursachenmodell für Gewaltakzeptanz zumindest relativiert werden.17 Skepsis scheint hier jedoch noch angezeigt.

Die Lust auf Provokation, auf Aktion, auf Spannung ist bei rechtsextremistischen Gruppen sehr wichtig. Sie wollen leidenschaftlich erleben, daß sich bei der Gewaltaktion »wirklich etwas bewegt«, denn die Gruppe hat »doch große Macht«. Über die Risikobereitschaft in der Gruppe wird das »Abenteuer der Gewalt« gesucht und gefunden. »Bei uns«, heißt es, »bekommst du, was du brauchst.« Und das sind nach Selbstaussagen von Gruppenmitgliedern in der Übersicht »Sicherheit, Zusammenhalt, Gemeinschaft, Einordnung, Unterordnung, Gehorsam, Klarheit, Stärke, Machtgefühl, deutsch sein können.«

Angesichts solcher wenn auch knapper Aspekte kommen auf die Jugend-, Bildungs- und Ausbildungspolitik recht komplizierte Herausforderungen zu, die anzugehen, Jugendhilfe im Verbund mit der Erwachsenenbildung emsthaft in der Lage sein sollte, um angemessen auf Rechtsextremismus zu reagieren. Ein interessanter Entwurf zur Sache kann weiterführende politische und konzeptionelle Impulse aufzeigen.18

Zur Lebensbewältigung in der Industrie- und Risikogesellschaft wächst offensichtlich immer massiver der Bedarf an Konzepten für Gewaltkonflikte, die ständig unter Druck setzen.

Dieser Beitrag ist entnommen aus: P. Krahulec / H. Kreth (Hrsg.); Deutscher Alltag als Risiko, Münster 1992.

Anmerkungen

1) Zu erweiterten Grundlagen der »Gewaltsensibilität« siehe l. Esser: Mit Kindern Frieden und Zukunft gestalten. Mülheim an der Ruhr 1991, S.58 ff Zurück

2) H. D. Schwind/I. Baumann (Hrsg.): Ursachen, Prävention und KontroUe von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission).4 Bde., Berlin I990; hier: Band 2, S. 10. Zurück

3) Vgl. K. Lenk: Macht, Herrschaft, Gewalt. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 24/13.6.81, S. 15 ff. Zurück

4) Vgl. Schwind, a.a.0., Bd.1, S.52 ff. Zurück

5) Zitiert nach: M. Roth: Strukturelle und personale Gewalt. Forschungsbencht HSFK. Frankfun/Main 1988. Zurück

6) Roth, a.a.0., S.26. Zurück

7) Vgl. J. Esser/Th. Dominikowski: Die Lust an der Gewalttätigkeit. Lüneburg 1992 (i.E.). Zurück

8) Vgl. K.0. Hondrich: Lehrmeister Krieg. Reinbek 1992. Zurück

9) Vgl. Esser/Dominikowski, a.a.0., S.15 ff; ferner P.- A. Albrecht/0. Backes: Verdeckte Gewalt. Plädoyer für eine »Innere Abrüstung«, Frankfunrt/Main 1990; dann: I. Kocka/R. Jessen, S. 33 f. Zurück

10) Albrecht/Backes, a.a.0., S.9. Zurück

11) Vgl. U. Beck: Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt/Main l988, S.9 ff. Zurück

12) Weitere Anregungen siehe bei L.Beck: Risikogesellschaft. Frankfurt/Main 1986, S.161. Zurück

13) Vgl. J.Esser, a.a.0., S.43 ff. Zurück

14) Friedenssicherung in den 90er Jahren. Neue Herausforderungen an die Wissenschaft. Ein Memorandum. Sonderdruck der Infonnationsstelle Wissenschaft & Frieden. Februar 1992.(Bezug: Reuterstr.44, 5300 Bonn 1). Das „Memorandum“ zur Fnedenswissenschaft wurde von 29 Wissenschaftlern konzipiert und am 29.1.92 der Öfentlichkeit vorgestellt. Zur Problematik der Ausländerfeindlichkeit und Rassismus können die Beiträge von KESKIN und BASTERRA, beide in Albrecht/Backes, a.a.0., S. 91 ff. und S. 100 ff. prohlemerweiternd herangezogen werden. Zurück

15) Vgl. BPS – Repon: Derzember/Heft 6/1991, S. 40. Zurück

16) A. Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in den neuen Bundesländem. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. B 3/4-92, S.11 ff. Siehe auch Chr. Butterwegge/H. Isola (Hrsg.): Rechtsextremismus im vereinten Deutschland. Randerscheinung oder Gefahr für die Demokratie? Berlin 1991. Zurück

17) „Warum wird man rechtsextrem?“ In: Jugendhilfe Report. Landschaftsverband Rheinland. Heft 4/1991, S.3 f.; vgl. ferner G. Heim: „Lieber ein Skinhead als sonst nichts?“ In: Neue Praxis. Heft 4/1991, S.300-310; auch: K.Fann/E. Seidel-Pielen: Krieg in den Städten. Jugendgangs in Deutschland. Berlin 1991. Zurück

18) Entwurf einer Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGI) und der Konferenz der Fachbereichsleitung der Fachbereiche Sozialwesen in Deutschland (KSF) zum „Extremismus Jugendlicher als Herausforderung an die Jugendhilfe“, Bonn / Berlin, im Dezember 1991. Zurück

Dr. phil. Johannes Esser ist Professor an der FH Nordostniedersachsens, Lüneburg, Fachbereich Sozialwesen

Wasserkonflikte im Nahen Osten

Wasserkonflikte im Nahen Osten

von Andrea Lueg

Für den Nahen Osten werden Probleme und Konflikte, die aufgrund von Wasserknappheit entstehen, eine der größten Herausforderungen in der nahen Zukunft sein. Die meisten Länder der Region müssen bereits jetzt enorme Anstrengungen unternehmen, um ihre Wasserversorgung sicherzustellen und das Problem ist bestens geeignet, die zwischenstaatlichen Beziehungen in dieser Gegend voller ethnischer, religiöser und politischer Spannungen zu verschlechtern. Allerdings könnte die Wasserknappheit die einzelnen Länder auch zur Zusammenarbeit bewegen, gesetzt den Fall, sie erkennen darin ihre einzige Chance. Ein erster vager Schritt zu regionaler Kooperation könnte bereits vollzogen worden sein. Die Pläne für den Nahost-Friedensprozeß sehen vor, daß die bilateralen Gespräche von Verhandlungen auf multilateraler Ebene ergänzt werden. Eine der auf der ersten multilateralen Konferenz im Januar in Moskau gebildeten Arbeitsgruppen wird sich ab Mitte Mai in Wien mit dem Thema Wasser beschäftigen.

Über 50% der Bevölkerung im Nahen Osten (außer Maghreb) sind entweder abhängig von Flüssen, die mehrere Länder durchqueren, von entsalztem Meerwasser oder von Grundwasserversorgung. Zwei Drittel der arabisch sprechenden Bevölkerung sind abhängig vom Wasser aus Flüssen, die aus nicht-arabischen Ländern kommen. So beziehen etwa Syrien und der Irak den größten Teil ihres Wassers aus dem Euphrat, der in der Türkei entspringt und Ägypten ist nahezu ausschließlich auf das Wasser des Nil angewiesen, dessen wichtigste Zuflüsse in Äthiopien liegen. Vereinbarungen oder Verträge über die Nutzung des Wassers, die von allen Anrainerstaaten akzeptiert werden, gibt es für keinen der wichtigen Flüsse oder Grundwasserreservoire. Auseinandersetzungen sind somit vorprogrammiert.

Der größte Teil der Fläche des Nahen Ostens sind aride (=wüstenhafte) Gebiete, in denen es in den letzten Jahren weniger Regen und häufigere Dürreperioden gab. Gleichzeitig haben das enorme Bevölkerungswachstum (jährlich im Durchschnitt 3 %), wachsende Einwanderungszahlen (z.B. von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel), eine expandierende Industrie und andere Modernisierungsmaßnahmen den Wasserverbrauch enorm in die Höhe getrieben. Einige Wasserquellen werden darüberhinaus durch eine unzureichende Instandhaltung und die unsachgemäße Handhabung von Wassereinrichtungen unbrauchbar gemacht.

Bei der Planung von Wasserbauprojekten wird auf die ökologischen Nebeneffekte häufig nicht geachtet: die Verbreitung von künstlicher Bewässerung in der Landwirtschaft des Nahen Ostens – notwendig, um den Bedürfnissen der rasch wachsenden Bevölkerung gerecht werden zu können – führt nicht nur zu einer Verschlechterung der Wasserqualität durch Versalzung, sondern ist ursächlich an einer Reihe weiterer Umweltprobleme beteiligt. Künstliche Bewässerung ist oft verantwortlich für die Verbreitung von Krankheiten, die in Gewässern übertragen werden und der Bau von Staudämmen bringt die Umsiedlung zahlreicher Menschen mit sich, was häufig nicht nur eine finanzielle sondern auch eine ökologische Belastung bedeutet. Beim Bau des Assuan Staudammes waren davon zum Beispiel mehr als 100.000 Menschen betroffen. Wenn den Problemen der Wasserverunreinigung nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, kann dies nur zu einer weiteren Reduzierung verfügbarer Wasserquellen führen.

Die am schwersten betroffenen Gebiete in der Region sind Israel, die besetzte West-Bank und der Gaza-Streifen, Jordanien, der Irak, Syrien, die Türkei und Ägypten mit den Flüssen Jordan, Euphrat und Nil sowie deren wichtigsten Zuflüsse.

Der Jordan

Der Jordan ist ein komplexes Flußsystem, dessen vier Hauptzuflüsse, der Dan, der Hasbani, der Banias und der Yarmuk in verschiedenen Ländern entspringen. Es ist das am härtesten von Wasserknappheit betroffene Gebiet in der Region. Das Flußbecken enthält sehr wenig Wasser um das vier Staaten (Jordanien, Israel, der Libanon und Syrien) sowie die besetzte Westbank konkurrieren. Mit Ausnahme des Libanon haben alle diese Staaten zuwenig Wasser.

Bereits in den 50er Jahren begann Israel Wasser aus dem See Genezareth am oberen Lauf des Jordan durch Kanäle an die Küste und in den Süden des Landes umzuleiten. Sein wichtigstes Wasserverteilungssystem der National Water Carrier, wurde 1964 fertiggestellt. Nach dem Krieg von 1967 erklärte die israelische Regierung das Wasser in den besetzten Gebieten zur strategischen Resource und stellte es unter seine militärische Kontrolle. Seitdem war es für Palästinenser nicht mehr möglich, ihre Wasserversorgung zu erweitern, während Israelis begannen, tiefe Brunnen zu bohren, um die jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten zu versorgen. Einige davon lagen so nahe an natürlichen Quellen, daß die Brunnen palästinensischer Bauern austrockneten. Dabei ist wichtig anzumerken, daß palästinensisches Land, wenn es mehr als zwei Jahre unbewässert bleibt, nach israelischem Besatzungsrecht enteignet und zu israelischem Staatseigentum erklärt werden kann.

Die Fläche des bewässerten arabischen Landes in der Westbank fiel von 27% vor dem Sechs-Tage-Krieg 1967 auf 3,7% im Jahre 1991. Israelische Siedler dagegen bewässern 70% ihres Landes künstlich.

Mit der Zeit wurde Israel immer abhängiger vom Wasser der besetzten Gebiete und inzwischen kommen mindestens 40% seines Wasserverbrauchs aus der Westbank und Gaza. Mit der Aufnahme von etwa einer Million jüdischer Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion wird der Wasserbedarf weiter wachsen. Die enorme Bedeutung des palästinensischen Wassers für Israel macht eine Aufgabe der israelischen Kontrolle über die besetzten Gebiete bei den ohnehin ins Stocken geratenen Friedensverhandlungen schwer vorstellbar. Selbst eine autonome Verwaltung des Wassers durch die Palästinenser scheint unwahrscheinlich.

Sowohl Jordanien als auch Israel verbrauchen bereits jetzt mehr als 100% ihrer erneuerbaren Wasserreserven und die Qualität von Oberflächen- und Grundwasser verschlechtert sich rapide.

Die Wassersituation im Gaza-Streifen ist dramatisch. Das einzige große Grundwasserreservoir, das das ganze Gebiet mit Wasser versorgt, ist durch übermäßiges Abpumpen von Wasser bereits mit Meerwasser kontaminiert.

Israels National Water Carrier hat auch Jordaniens Wasserversorgung stark beeinträchtigt. Südlich des See Genezareth ist der Jordan nur noch ein verschmutztes Rinnsal und 1991 mußte das Land wegen Wassermangel seine künstlich bewässerten landwirtschaftlichen Flächen um zwei Drittel verkleinern. Hält das Bevölkerungswachstum dort unverändert an, dann wird Jordanien nicht in der Lage sein, eine angemessene Wasserversorgung sicherzustellen. Zumal es in der letzten Zeit außerdem eine große Zahl von Flüchtlingen (z.B. Palästinenser aus den Golf-Staaten) aufnehmen mußte.

Um zukünftigen Engpässen vorzubeugen, plante Jordanien gemeinsam mit Syrien den Bau des Maquarin Staudammes auf dem Yarmuk. 1967 besetzte Israel jedoch die Golanhöhen und damit den ursprünglich geplanten Standort des Projektes. Ein neuer Standort wurde zwar gefunden und Syrer und Jordanier einigten sich 1986 erneut auf ein gemeinsames Staudammprojekt auf dem Yarmuk. Doch mächtige Geldgeber, wie die US Agency for International Development, bestehen darauf, daß alle betroffenen Staaten den Plänen zustimmen, bevor der Bau weitergeht. Israel hat dies bisher nicht getan.

Der Nil

Von den neun Ländern, die der Nil durchquert, brauchen lediglich Ägypten und der Sudan sein Wasser zum Überleben und haben davon extensiven Gebrauch gemacht.

Ägypten hat eine der am schnellsten wachsenden Bevölkerung auf der Erde. Etwa alle neun Monate nimmt sie um eine Million Menschen zu. Das Land braucht das Nilwasser für die Nahrungsmittelproduktion und die Stromerzeugung, die seine Wirtschaft aufrechterhält. Von den 100 Millionen Hektar Fläche Ägyptens sind nur 2,5% kultiviert und das wiederum ist nur möglich mit dem Wasser des Nils. Der Bau des Assuan-Staudammes, fertiggestellt im Jahr 1971, wurde zum Schlüssel für die landwirtschaftliche Expansion. Mit Hilfe des nun verfügbaren Wassers ließen sich statt einer, zwei oder drei Ernten im Jahr einbringen.

Weniger abhängig vom Nil ist der Sudan, denn anders als in Ägypten profitiert die Landwirtschaft dort auch von Regenfällen.

In keinem der Nilanrainerstaaten gibt es derzeit ein großes Wasserversorgungsproblem. Der Grund dafür liegt allerdings allein in der Tatsache, daß stromaufwärts gelegene Staaten wie Äthiopien, Uganda und der Sudan bisher mit innenpolitischen Problemen zu kämpfen hatten. Sobald diese Länder stabile Regierungen erhalten und Entwicklungsprogramme, wie z.B. Bewässerungsprojekte starten, wird die Konkurrenz um die Wasserversorgung aus dem Nil schärfer werden. In dieser Hinsicht bereitet Äthiopien sowohl Ägypten als auch dem Sudan die größten Sorgen, denn die äthiopischen Zuflüsse zum Nil versorgen ihn zu einem Großteil mit Wasser. Davon abgesehen scheint sich die Wassermenge, die sich jährlich im Nilbecken sammelt, insgesamt zu verringern.

Weil Ägypten zunehmend abhängig von ausländischer Nahrungsmittelversorgung wurde, versuchte es seine Wasserversorgung durch den Bau des Jonglei-Kanals aufzustocken, durch den die Sümpfe des südlichen Sudan umgangen werden sollten. Der Kanal sollte so Verdunstung verringern, den Wasserfluß regulieren und Wasservorräte bilden. Der Bürgerkrieg im Sudan machte diesen Plänen 1989 jedoch ein Ende.

Weiterhin verwendet Ägypten viel Geld für die Urbarmachung von Wüstenflächen und künstliche Bewässerungsprojekte, obwohl Agrarexperten bezweifeln, daß für solche Projekte überhaupt ausreichend Wasser zur Verfügung steht.

Die Urbarmachung von Wüsten, ganzjährige Bewässerung und der dramatisch gestiegene Gebrauch von Kunstdünger und Pestiziden hat schon eine Reihe schädlicher Begleiterscheinungen auf die Umwelt gehabt: von etwa 30% des kultivierten Bodens in Ägypten nimmt man an, das er versalzen ist, Kanäle am Weißen Nil sind mit wuchernden Wasserhyazinthen verseucht und die in Gewässern übertragene Schlafkrankheit verbreitet sich rasant.

Der Euphrat

Der Euphrat entspringt in den Bergen der östlichen Türkei und sammelt dort den größten Teil seines Wassers bevor er Syrien und den Irak durchquert und in den Golf mündet. Die drei Staaten konnten sich bisher nicht über eine gerechte Verteilung des Euphratwassers einigen und seit die Türkei 1981 in Südostanatolien ein ehrgeiziges Entwicklungsprojekt startete (die türkische Abkürzung ist GAP) sind ernsthafte Spannungen entstanden.

GAP ist ein multidimensionales Entwicklungsprojekt, das verschiedene Elemente wie Staudämme, Wasserkraftwerke und Bewässerungsanlagen mit Plänen für die Verbesserung der Landwirtschaft, Industrie und Ausbildung in dieser am wenigsten entwickelten Region der Türkei integriert.

Im Rahmen des Projektes sollen mehr als 1,7 Millionen Hektar Land künstlich bewässert, die Energie-Produktion verdoppelt und landwirtschaftliche Überschüsse erwirtschaftet werden, die die Türkei an ihre arabischen Nachbarn verkaufen will.

Ein großer Teil von GAP ist bereits fertiggestellt. Sobald es voll funktionsfähig ist, müssen sich die stromabwärts gelegenen Länder auf einen stark reduzierten Wasserfluß und eine verschlechterte Qualität des Euphrat einstellen. Syrien müßte nach Angaben amerikanischer Experten dann auf bis zu 40% seines Euphratwassers, der Irak sogar auf bis zu 90% verzichten.

In Syrien herrscht bereits jetzt Energiemangel und ein verringerter Wasserfluß würde das Kraftwerk am Thawra-Damm beeinträchtigen. Der Versuch, die Fläche des bewässerten Landes zu vergrößern, um mehr Ernten für die auch hier explosionsartig wachsende Bevölkerung zu ermöglichen, würde erschwert.

Die irakische Regierung hat sich seit langem die landwirtschaftliche Selbstversorgung zum erklärten Ziel gemacht. Übermäßige Bewässerung und fehlende Drainagen haben dort zu einer Versalzung der Böden geführt, die nur noch durch Spülungen mit frischem, sauberen Wasser zu beheben wäre. Als Folge der neuen großen Bewässerungsanlagen in der Türkei und Syrien jedoch ist der Euphrat bereits sehr salzhaltig, wenn er in den Irak fließt und macht dieses Verfahren unmöglich.

Die türkische Regierung verfolgt verschiedene Ziele mit ihrem Südostanatolien-Projekt. Zunächst einmal will sie die vorhandenen Wasserreserven für ihre Zwecke ausbeuten, bevor dies durch die Bedürfnisse der rasch wachsenden Bevölkerung in der Gesamtregion unmöglich wird. Außerdem hofft sie, der kurdischen Minderheit von etwa 8 Millionen Menschen in Südostanatolien durch wirtschafltiche Verbesserungen einen Anreiz zu geben, die Assimilation als Türken zu akzeptieren und somit auch die örtliche Unabhängigkeitsbewegung zu untergraben. Zwischen der Türkei und Syrien gibt es immer wieder unterschwellige Machtspiele, bei denen die Türkei versucht, den Nachbarn zur Aufgabe seiner Unterstützung der kurdischen Arbeiterpartei PKK zu bewegen, indem sie droht, ihm „den Wasserhahn zuzudrehen“. Umgekehrt scheinen die Syrer diese Trumpfkarte keineswegs ablegen zu wollen und behalten sie statt dessen als Druckmittel für einen unverminderten Wasserfluß des Euphrat nach Syrien in der Hinterhand.

Um den irakischen und syrischen Protesten gegen GAP zu begegnen, schlug der türkische Präsident Özal eine »Peace-Pipeline« vor, die Wasser aus den türkischen Flüssen Seyhan und Ceyhan auf die arabische Halbinsel bringen sollte. Für die Saudis hätte die Pipeline beispielsweise Wasser zu einem Drittel der Kosten von Meerwasserentsalzung geboten. Aber weder Saudi-Arabien noch die anderen betroffenen Staaten waren begeistert von der Vorstellung, von der Türkei oder den Staaten, die dieser Pipeline hätte durchqueren müssen, wie z.B. Israel, Jordanien, und dem Irak, abhängig zu sein. Zumal, wenn es um eine so lebensnotwendige Resource wie Wasser geht.

Darüberhinaus hat auch der Iran angeboten, die Wasserversorgung der Golf-Staaten zu übernehmen. Sollte es darüber zu einer endgültigen Einigung kommen, wäre das Projekt »Peace-Pipeline« endgültig gescheitert.

Die arabische Halbinsel

Im wüstenhaften Klima der arabischen Halbinsel wo es keinerlei Flüsse von irgendwelcher Bedeutung und keine nennenswerten Niederschläge gibt, versuchen die Bewohner, den Mangel an Regen durch die Ausbeutung von Grundwasserreserven auszugleichen.

Diese Reservoire enthalten jedoch häufig Brackwasser und sind bereits überpumpt. Mit jeder tieferen Bohrung verschlechtert sich die Qualität des Grundwassers nur noch mehr.

Ein großer Teil des Wassers, das auf der arabischen Halbinsel verbraucht wird, kommt aus nicht erneuerbaren Quellen, dem sogenannten fossilen Wasser, in tief unter der Erde gelegenen Reservoiren, die sich vor tausenden oder Millionen von Jahren füllten. In Saudi-Arabien beispielsweise kommt lediglich ein Zehntel des Wassers aus erneuerbaren Quellen, wie Flüssen, Brunnen oder Meerwasserentsalzungsanlagen.

Der Ölreichtum hat es den Staaten am Golf ermöglicht, kostspielige Lösungen für ihre Wasserprobleme zu suchen. Es gab eine Reihe kurioser Pläne, so z.B. den Import von Wasser in Supertankern, das Abpumpen von Nilwasser nach Saudi-Arabien und sogar die Idee, Eisberge aus der Antarktis heranzuschaffen. Lediglich die Meerwasserentsalzung ist jedoch eine ernsthafte, wenn auch nur begrenzte Alternative und die Golf-Staaten haben in den vergangenen Jahren Milliarden von Dollar in entsprechende Anlagen gesteckt. In Kuwait wird heute bereits der gesamte Wasserverbrauch durch Entsalzungsanlagen gedeckt. Darin kann jedoch kaum eine langfristige Lösung liegen, zumindest nicht für größere Staaten wie Saudi-Arabien, wo die Meerwasserentsalzung die wachsenden Bedürfnisse der privaten Haushalte und der expandierenden Industrie nicht befriedigen kann.

Dennoch verbraucht Saudi-Arabien 90% seines Wassers für die Landwirtschaft und verfolgt weiterhin das Ziel der Selbstversorgung mit Grundnahrungsmitteln. Die mit enormen Summen subventionierte Landwirtschaft produziert Ernten, die zu einem Zehntel der Kosten importiert werden könnten. Ob das kostbare, nicht-erneuerbare fossile Wasser nicht besser für zukünftige industrielle Bedürfnisse aufgespart, statt in der Landwirtschaft verbraucht werden sollte, bleibt dahingestellt.

Viele internationale Wasserexperten halten es für unabdingbar, die Subventionierung von Wasser in der gesamten Region zu stoppen, vor allem für wasserintensiven landwirtschaftlichen Anbau, z.B. von Zitrusfrüchten. Über höhere Wasserpreise oder gar Rationierung ließen sich Anreize schaffen, um Verschmutzung und Verschwendung einzudämmen.

Lösungansätze

Tatsache ist wohl, daß ohne eine gemeinsame Wasserpolitik und ein besseres Wassermanagement das Wasser in der Region nicht für alle Länder ausreichen wird. Zwar könnten sich einzelne Staaten wie Israel oder die Türkei mittels ihrer militärischen Überlegenheit ausreichende Mengen für ihre Wasserprojekte und ihren Bedarf sichern. Doch hochtechnologische Anlagen wie Staudämme, Meerwasserentsalzungsanlagen oder moderne Bewässerungsprojekte wären vor Sabotageakten auf die Dauer niemals sicher.

Die einzige Alternative zum ständigen Konflikt läge also darin, Wasser zu sparen und neue Wasserquellen zu erschließen. Dafür gäbe es eine ganze Reihe möglicher Ansatzpunkte. Modernere Bewässerungstechniken in der Landwirtschaft könnten dazu beitragen, daß nicht so viel Wasser durch Verdunstung verlorengeht. Eine Sanierung undichter Leitungssysteme würde ebenfalls große Mengen einsparen und der Wasserverschmutzung müßte dringend durch Aufklärung der Bevölkerung und Einsatz besserer Technik Einhalt geboten werden. Als eine neue Wasserquelle könnte die Meerwasserentsalzung dienen. Statt jedoch Erdöl oder Kernenergie dafür zu verwenden, böten sich gerade im sonnenreichen Nahen Osten Anlagen an, die mit Solarenergie betrieben werden können.

All diese Verfahren kosten allerdings sehr viel Geld. Die kostspielige Meerwasserentsalzung, bei der der Preis pro Liter bei ca. 3,50 DM liegt, können sich bisher nur die reichen Ölmonarchien am Persischen Golf leisten. Aus eigener Kraft werden die meisten Länder der Region die erforderlichen Mittel auch in Zukunft nicht aufbringen. Dazu bedarf es der Unterstützung der westlichen Industrienationen. Als Teilnehmer an der Nahost-Regionalkonferenz werden sie zeigen müssen, wieweit sie daran interessiert sind, Stabilität in die Region zu bringen.

Andrea Lueg ist freie Journalistin in Köln.

Die Unverträglichkeit militärischer Gewaltanwendung mit der industriellen Zivilisation

Die Unverträglichkeit militärischer Gewaltanwendung mit der industriellen Zivilisation

Interdisziplinäre Arbeitsgruppe gegründet

von Gerhard Knies

Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe hat sich in ihrem Kern im Vorfeld und während der Tübinger Tagung der bundesdeutschen Naturwissenschaftler-Friedensinitiative „Verantwortung für den Frieden“ im Dezember 1988 gebildet.Bisher haben sich 20 Personen an einer Mitarbeit und weitere 30 an Informationen über die laufenden Aktivitäten dieser AG interessiert gezeigt, darunter vier Mitglieder des Bundestages. Diese AG ist – notwendigerweise – interdisziplinär. Jedoch wird die Naturwissenschaftler-Initiative uns als organisatorische Basis zur Verfügung stehen und uns als eine Arbeitsgruppe in dieser Initiative betrachten. In Tübingen wurde beschlossen, etwa im September '89 einen Workshop durchzuführen, auf dem Gelegenheit zu einer ausführlicheren und umfassenderen Diskussion als in Tübingen gegeben sein sollte. Er soll auch der inhaltlichen Vorbereitung für einen späteren öffentlichen Kongress dienen. Die Tübinger Veranstaltung wurde von allen als Einstieg und Anfang empfunden.

In der DDR wird die gleiche Thematik von einer interdisziplinären Gruppe unter der Organisation des Rates für Friedensforschung an der Akademie der Wissenschaften bearbeitet. Es gibt den Vorschlag, daß beide Arbeitsgruppen eng zusammenarbeiten. Die DDR-AG hat Interesse an einer substantiellen Beteiligung und gemeinsamen Planung/Gestaltung des Workshops signalisiert. Gemeinsame Sicherheit sollte gemeinsam konzipiert und organisiert werden.

Auf der Jahrestagung unserer Naturwissenschaftler-Initiative (23. – 25. Juni in Bochum) ist ebenfalls eine Veranstaltung zur zivilen Verwundbarkeit geplant. Ich werde versuchen, Referenten vorzugsweise aus Industrie und Wirtschaft zu gewinnen. Hat jemand Vorschläge?

Zur Zielsetzung der AG: Die gegenwärtigen sicherheitspolitischen Konzepte im Ost-West-Konflikt sind geprägt von der einmütigen Einschätzung, daß ein Atomkrieg von keinem mehr gewonnen werden kann. Diese Einsicht ist zum Ausgangspunkt von zwei sehr verschiedenen Konzepten zur Verhinderung und gegebenenfalls zur möglichst kontrollierten Beendigung von Kriegen geworden: dem der Abschreckung durch Vernichtungsdrohung und dem der Gemeinsamen Sicherheit. Beiden gemeinsam ist, daß sie konventionelle Kriege in Europa noch als führbar ansehen.

Die Bedrohungsempfindungen vor dem atomaren Holocaust haben jedoch den Blick verstellt für die inzwischen entstandene hochgradige zivile Verwundbarkeit industrieller Staaten und Gesellschaften auch gegenüber Kriegen mit konventionellen Waffen. Ein »konventioneller« Krieg in industrialisierten Ländern ist inzwischen ebenfalls zu einer tödlichen Bedrohung für die Zivilbevölkerungen als Ganzes geworden, und darüber hinaus ist eine weitgehende Zerstörung der Umwelt und damit der Lebensgrundlagen künftiger Generationen möglich. Industriegesellschaften können in konventionellen Kriegen gegeneinander nichts mehr gewinnen, noch können sie solche planbar führen oder überleben. Es ist eine neue Qualität, die allgemeine militärische Gewaltunfähigkeit von Industriegesellschaften, entstanden: sie sind unfähig, konventionelle militärische Gewalt gegeneinander in ihren eigenen Ländern einzusetzen, ohne sich dabei selbst in ihrer Existenz zu gefährden. (Siehe auch Berichtsheft über den International Scientists' Peace Congress „Ways out of the Arms Race“, Hamburg 1986, erschienen in der Schriftenreihe „Wissenschaft und Frieden“, Bd. 8, März 1987, S. 205 ff.)

Wir wollen diese neue Qualität in der Arbeitsgruppe im Detail untersuchen und sie zum Ausgangspunkt sicherheitspolitischer Überlegungen und der Forderung nach einem zivilisationsgemäßen Charakter der Sicherheitspolitik machen. Das Ziel dieser AG ist also nicht die Kritik einzelner Waffen, sondern wir wollen das gesamte Konzept, militärische Gewalt überhaupt noch als Mittel für eine Sicherheitspolitik unter Industriegesellschaften zu betrachten, einer kritischen Analyse unterziehen und auf seinen Realitätswert hin untersuchen. Es soll der Widerspruch zwischen unserer modernen industriellen Existenzweise und den traditionellen Kriegsfähigkeitsvorstellungen in einer umfassenden Weise erarbeitet und dargestellt werden, so daß er wirkungsvoll in die friedens- und sicherheitspolitische Diskussion eingebracht werden kann.

Thematische Schwerpunkte der AG

  • Der zerbrechliche zivilisatorische Tropf, an dem wir hängen.

Industriegesellschaften hängen am Tropf ihrer zivilen Produktions- und Versorgungsinfrastruktur, an Versorgungsnetzen für Energie, Lebensmittel, Produktionshilfsmittel und Informationen. Die industrielle Infrastruktur gibt uns zwar einen gesteigerten Lebensstandard, aber sie hat gleichzeitig unsere traditionellen Mittel zum Überleben auf »niedrigem« Niveau weitgehend zerstört: Wer kann noch aus »eigener Kraft« heizen, kochen, sich mit Wasser versorgen…?

Wir sind ganz elementar auf das tägliche Funktionieren der zivilen Infrastruktur angewiesen. Ein Ausfall dieser leistungsfähigen und zugleich äußerst zerbrechlichen zivilen Einrichtungen würde unmittelbar einen ökonomischen und – in unserer urbanisierten Gesellschaft – einen zivilisatorischen Kollaps auslösen. Leistungsfähigkeit und Verwundbarkeit sind untrennbar. Welche Kollapsketten im zivilen Sektor, in den weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen und Versorgungsströmen, können oder werden durch konventionelle Kriegsführung ausgelöst werden?

Es ist also die Mitwirkung von Fachleuten aus dem Bereich der Wirtschaft, Ingenieurwissenschaften, Verkehrswesen und Großindustrie wichtig.

  • Der explosive zivilisatorische Vulkan, auf dem wir leben.

Moderne high-tech-Länder sind voller ziviler Pulverfässer und ökologischer Zeitbomben: Chemie-Industrie-Zentren, Giftmülldeponien, Vorratslager brennbarer Materialien, Öldepots, Kernkraftwerke, radioaktive (Zwischen-)Lager: Mit ausgeklügelten Sicherheitssystemen halten wir diese zivilen Tretminen mehr schlecht als recht unter Kontrolle. Seveso, Bhopal, Sandoz, Tschernobyl,… Radioaktivität, Giftgase, Großbrände, Verseuchung von Luft, Böden und Wasser, Abbau der Ozonschicht… Seveso ist überall. Schon beim Einsatz »konventioneller« militärischer Gewalt kann und wird dieser brodelnde Vulkan außer Kontrolle geraten. Auch ohne A-Waffen können ganze Länder radioaktiv verseucht werden, und ohne C-Waffen können industrielle Ballungsgebiete zu überdimensionalen Giftgaskammern werden. Als wie groß muß man das Ausmaß des zivilen Katastrophenpotentials einschätzen?

Wir brauchen also Mitwirkende oder Gesprächspartner aus den Bereichen betrieblicher Sicherheit in Chemie und Kerntechnik, aus dem zivilen Bevölkerungs- und Katastrophenschutz.

  • Die zivilisationsgefährdende Wirkung konventioneller militärischer Gewalt.

Konventionelle militärische Gewalt ist heute ein Elefant im Porzellanladen der zivilen Infrastruktur und wirkt als Zündfunke des zivilisatorischen Pulverfasses. Welches Potential haben heutige konventionelle Waffen als Auslöser ziviler Katastrophen? Mehrere Entwicklungen seit dem 2. Weltkrieg, wie gesteigerte Zielgenauigkeit, Durchschlagsfähigkeit und Reichweite der Waffen sowie verbesserte Kenntnis der Lage des gegnerischen zivilen Katastrophenpotentials, haben die Möglichkeiten konventioneller Zerstörung sensibler ziviler Einrichtungen erhöht. Welches Ausmaß militärischer Gewalt ist noch möglich, ohne daß die zivile Versorgung und die industrielle Produktion zusammenbrechen?

Ist der Einsatz konventioneller militärischer Gewalt zur Landes“verteidigung« irgendetwas anderes als Selbstvernichtung? Während die A,B,C-Waffen aufgrund ihrer unmittelbaren Wirkungen Massenvernichtungsmittel sind, haben die konventionellen Waffen, durch ihre Kopplung mit den erwähnten zivilen Risikopotentialen in Europa die Rolle von mittelbaren Massenvernichtungswaffen angenommen. Die gegenwärtigen konventionellen Militärpotentiale sind in ihrem unvermeidlichen Zusammenwirken mit den zivilen Risikopotentialen weit jenseits dessen, was wir überleben können.

Bewirken die ständigen Modernisierungen der Waffensysteme, die Steigerungen ihrer Leistungsfähigkeit und Komplexität, zugleich eine Verminderung ihrer zuverlässigen Beherrschbarkeit durch das militärische Personal, ihre Kontrollierbarkeit durch die politischen Entscheidungsträger? Siehe den irrtümlichen Abschuß des zivilen Airbusses durch den US-Kreuzer „Vincennes“, die Abstürze von Militärflugzeugen. Wird die schiere Existenz von modernen Waffen zu einem eigenständigen (Selbst-)Bedrohungs- und Risikopotential auch ohne Krieg?

  • Die industrielle Zivilisation braucht Friedensbedingungen zum Funktionieren.

Zum anderen sind internationaler Status, Stärke und Wohlstand einer Industriegesellschaft heute Ergebnis ihrer wirtschaftlichen und technologischen Leistungs- und Funktionsfähigkeit im internationalen Vergleich. Man kann diese durch den Ausbau und die Weiterentwicklung der industriellen Infrastruktur und der internationalen Handelsbeziehungen steigern, jedoch nicht mehr durch die gewaltsame geographische Ausdehnung nationaler Grenzen, der häufigsten Kriegsmotivation früherer Zeiten. Reibungslose weltweite Warenströme sind im Interesse aller Beteiligten. Der Erwerb von Gütern auf dem Weltmarkt ist sehr viel billiger, schneller, zuverlässiger und risikoärmer geworden als ein militärischer Beutezug. Gibt es noch eine Kriegsbeute?

Sind diese Entwicklungen umkehrbar, oder wird die Kluft zwischen militärischer Gewalt und ziviler Existenzweise immer größer werden?

  • Welche Folgen hat das Ende militärischer Gewaltfähigkeit für die Sicherheitspolitik von Industriegesellschaften?

Die zivile Verwundbarkeit bewirkt eine wechselseitige, bedrohungsfreie Selbstabhaltung der Industrieländer vor konventionellen Kriegen gegeneinander. Ihre zivilen Macht-, Stärke-, Wachstums- und Lebensinteressen stehen im unvereinbaren Gegensatz zur destruktiven militärischen Gewalt. Ist es da noch erforderlich, mit zusätzlichen Gefahrenandrohungen an den »Gegner« durch A, B, oder C-Waffen vor »konventionellen« Kriegen abzuschrecken; ist ihre existenzielle Selbstgefährdung durch konventionelle Waffen noch nicht selbstabschreckend genug? Sind nur besondere Waffenarten – wie A,B,C-Waffen – systemwidrig und existenzgefährdend, oder ist es nicht militärische Kriegsführung jeder Art? Militärische Verteidigungs-, Gleichgewichts- und Über-/Unterlegenheitsvorstellungen sind angesichts dessen fragwürdig geworden.

Gibt es eine Alternative zum Pazifismus, oder ist er zur einzigen rationalen, systemkonformen Lebensform von Industriegesellschaften geworden? Kriegsfähigkeitskonzepte bringen uns im Ernstfall vor die Alternative: Kapitulation oder Katastrophe. Sie sind anachronistisch und zutiefst inhuman geworden! Die Legitimation des Militärischen stimmt nicht mehr. Wir sind zur Friedfertigkeit verdammt. Kriege finden heute in nicht-industrialisierten Ländern statt.

Grundsätze und Konturen für eine zukunftsorientierte und zivilisationskonforme Sicherheitspolitik

Der Bestand und die Lebensfähigkeit aller, jedoch insbesondere der Industrieländer, sind durch militärische und ökologische Selbstgefährdungen bedroht. Die letzteren ergeben sich aus unserer industriellen Lebensweise. Unter der Führung der Industrieländer führen die Menschen gegenwärtig mit äußerster Brutalität einen weltweiten Krieg gegen die Natur. Dieser stellt eine reale Bedrohung für alle Menschen dar. Ob die ökologische Selbstgefährdung noch abgefangen werden kann, wird zunehmend unsicherer. Um so zwingender muß eine neue Sicherheitspolitik an den neuen realen Herausforderungen der zivilen Lebensnotwendigkeiten orientiert werden. Je mehr Sicherheitspolitik am zivilen (Über-)Leben orientiert wird, desto weniger wird sie selbst zur Bedrohung werden.

Da industrielle Existenzweise und militärische Gewalt unvereinbar geworden sind, da militärische Methoden für die Industrieländer Europas nicht mehr zur Lösung von Konflikten brauchbar oder geeignet sind, ist es eine offensichtliche Konsequenz, eine neue Sicherheitspolitik frei von militärischem Ballast zu konzipieren.

Der militärische Ballast kann relativ einfach durch beiderseitigen Abbau der Bedrohungspotentiale beseitigt werden. Dadurch würden Ost und West endlich Kopf und Hände sowie Mittel frei bekommen, um sich gemeinsam den schwierigen und drängenden ökologischen Herausforderungen zuwenden zu können.

Wie weit muß oder kann die Entmilitarisierung einer zivilisationskonformen Sicherheitspolitik gehen und wie kommen wir dahin?

Folgende Konturen sind denkbar:

  1. In dem sicherheitspolitischen Neuansatz muß Sicherheit als gemeinsames Ziel aller Betroffenen von Grund auf gemeinsam organisiert werden.
  2. Der Neuansatz muß auch Antworten auf die globalen, ökologischen Lebensbedrohungen geben.
  3. Die unanwendbar gewordene militärische »Sicherheits“politik soll nicht länger durch Umrüstung auf Akzeptanz getrimmt und geschönt werden.
  4. Neue Konzepte gemeinsamer Sicherheit dürfen Kriegsführung als Denkkategorie nicht mehr zulassen. Die konsequente Beseitigung der Denkkategorie »Kriegsführung« aus den bisherigen Konzepten gemeinsamer Sicherheit ist eine der wichtigsten zu leistenden Entwicklungsarbeiten:
    Denn es ist ein konzeptioneller Widerspruch, Industriegesellschaften in einen mit militärischer Gewalt unverträglichen Zustand zu entwickeln oder sich entwickeln zu lassen, und gleichzeitig ihre Sicherheitspolitik mit der Bereitschaft oder Fähigkeit zum Einsatz militärischer Gewalt zu koppeln.
  5. Die faktische und rechtliche Möglichkeit des Einsatzes militärischer Gewalt muß abgelöst werden durch ein internationales, polizeiartiges Gewaltmonopol. Dazu erforderlich ist eine – allmähliche – Transformation der nationalen oder blockweisen militärischen Gewaltpotentiale in gemeinsam organisierte polizeiliche Ordnungskräfte. Ein solches System bietet mehr inhärente Stabilität.
  6. Ein erster Schritt könnte die Bildung einer Ost-West gemischten gesamteuropäischen Umweltschutzpolizei sein.

Ist die konzeptionelle Abschaffung von Krieg unrealistisch? Ist sie unrealistischer als die Fähigkeit zum Kriege?

Statt Kriegsverhinderung oder Kriegsbegrenzung erfordert unsere Zivilisation konzeptionelle Kriegsüberwindung.

Die AG ist für weitere, ernsthafte InteressentInnen offen.

Dr. Gerhard Knies, c/o DESY, Notkestr. 85, 2000 Hamburg 52, Tel. 040-89983588.

Krisenlösung durch Intervention?

Krisenlösung durch Intervention?

von Lena Jöst, Werner Ruf, Peter Strutynski und Nadine Zollet

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 1/2009
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden

Militärinterventionen: Verheerend und völkerrechtswidrig

Möglichkeiten friedlicher Konfliktlösung

von Werner Ruf und Peter Strutynski

Die AG Friedensforschung an der Universität Kassel hat von der Rosa-Luxemburg-Stiftung den Auftrag erhalten, zwei Politikanalysen zu erstellen, die sich im weitesten Sinne mit dem Problem der Militarisierung der Weltpolitik befassen, im engeren Sinn aber zwei komplementär zueinander stehende Fragestellungen bearbeiten: Bei der ersten ging es darum, ausgewählte als humanitär bezeichnete Militärinterventionen zu evaluieren, in der zweiten sollten – wiederum anhand ausgewählter Fallbeispiele – Möglichkeiten friedlicher Konfliktlösungen diskutiert werden.

Sieben Fallstudien

Die von uns nach langen Diskussionen ausgewählten Fallbeispiele sind nicht repräsentativ für die Vielzahl der vergangenen oder aktuellen Kriege und bewaffneten Konflikte in der Welt. Das kann auch nicht anders sein, da jeder einzelne Konflikt einen höchst individuellen Charakter hat, eine eigene Geschichte, spezifische Ursachen, Verlaufsformen und Dynamiken sowie ganz unterschiedliche Formen ihrer Einbettung in regionale und internationale Kontexte. Schließlich unterscheiden sich auch die Arten des Eingreifens Dritter in den jeweiligen Konflikt.

Hinzu kommt, dass es keine verlässliche Typologie der Kriege gibt, nach denen eine repräsentative Auswahl von Fallstudien möglich wäre. Die alleinige Zuordnung etwa zu den »neuen Kriegen« oder asymmetrischen Konflikten bringt ebenso wenig Erkenntnisgewinn wie die von der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) vorgeschlagene Unterteilung in Antiregime-Kriege, Autonomie- und Sezessionskriege, zwischenstaatliche Kriege und Dekolonisationskriege. Alle diese Versuche, Kriege zu kategorisieren, erscheinen uns entweder als zu abstrakt oder zu schematisch. In der Realität haben wir es in der Regel mit Mischformen zu tun, die dem einzelnen Krieg oder bewaffneten Konflikt wiederum seine Individualität verleihen.

Wir folgen aber AKUF in ihrer Kriegsdefinition. Danach sprechen wir von einem Krieg dann, wenn es sich um einen »gewaltsamen Massenkonflikt« handelt, der folgende Merkmale ausweist:

An den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte (Militär, paramilitärische Verbände, Polizeieinheiten) der Regierung handelt.

Auf beiden Seiten muss ein Mindestmaß an zentralgelenkter Organisation der Kriegführenden und des Kampfes gegeben sein, selbst wenn dies nicht mehr bedeutet als organisierte bewaffnete Verteidigung oder planmäßige Überfälle (Guerillaoperationen, Partisanenkrieg usw.).

Die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuität und nicht nur als gelegentliche, spontane Zusammenstöße, d.h. beide Seiten operieren nach einer planmäßigen Strategie, gleichgültig ob die Kämpfe auf dem Gebiet eines oder mehrerer Gesellschaften stattfinden und wie lange sie dauern.

Unsere Auswahl von Kriegs-Fallbeispielen wurde letztlich relativ pragmatisch vorgenommen.

In vier Fällen handelt es sich um militärische Interventionen Dritter in einen schwelenden Konflikt, die ausdrücklich als »humanitäre Interventionen« bezeichnet werden. Wobei den Interventionen in Somalia, Haiti und in der Elfenbeinküste entsprechende UN-Resolutionen zu Grunde lagen, während es beim Kosovo um eine Selbstmandatierung der NATO ging, die ebenfalls euphemistisch als »humanitäre Intervention« ausgegeben wurde (angeblich um eine »humanitäre Katastrophe« zu verhindern).

Mit den vier »humanitären« und den übrigen drei Fallbeispielen (das sind Niger, Nordirland und Osttimor) wurde dem Wunsch Rechnung getragen, möglichst alle Kontinente zu berücksichtigen. Mit Haiti in Lateinamerika, Kosovo und Nordirland in Europa, Elfenbeinküste, Niger und Somalia in Afrika und Osttimor in Asien ist das auch – von Australien abgesehen, wo es aber auch keinen Krieg gibt – geglückt.

Die folgende Präsentation wird in drei Teilen stattfinden:

Der erste Teil ist überschrieben mit: »Humanitär intervenieren – aber nur mit humanitären Mitteln!« und wurde von Lena Jöst und Peter Strutynski bearbeitet. Für den zweiten Teil zeichnen Werner Ruf und Nadine Zollet verantwortlich: »Transformation bewaffneter Konflikte und die Möglichkeit ziviler Konfliktbearbeitung«. Zusätzlich haben wir das Fallbeispiel Osttimor ausgewählt, da der Osttimor-Einsatz immer wieder als die (einzige) erfolgreiche Intervention bezeichnet wird. Alle drei Teile wurden für die Veröffentlichung in diesem Dossier stark gekürzt.

Werner Ruf / Peter Strutynski

Humanitär intervenieren – aber nur mit humanitären Mitteln!

von Lena Jöst und Peter Strutynski

„Der humanitären Hilfe kommt in den nächsten Jahren zunehmende Bedeutung zu“, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung des »Tages der humanitären Hilfe« am 12. Oktober 2007. Humanitäre Hilfe – das sei „medizinische Notversorgung für Menschen in Afghanistan“, „Nothilfe für die Opfer von Bürgerkriegen und Konflikten“ wie im Libanon oder in Somalia, „Hilfe für die Hurrikan-Opfer in Nicaragua“ und vieles andere mehr. Die Aufzählung der verschiedenen Einsatzregionen deutscher »Menschenfreundlichkeit und Wohltätigkeit« macht genauso hellhörig wie das Motto, unter dem der Tag stand: »Weltweit Verantwortung übernehmen« (AA 2007). Weltweit Verantwortung übernimmt die Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen erst seit dem Ende der Blockkonfrontation – und immer öfter im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Ehe wir uns versehen, sind wir also schon mitten im Thema unseres Projektes, in dem es um die Evaluierung sog. humanitärer Militärinterventionen, mithin um grundlegende Fragen der Legalität bzw. Legitimität von Krieg als Mittel der Politik zum Frieden geht.

Vom Kalten Krieg zum heißen Frieden

Der Kalte Krieg war, wenn man ihn aus der Perspektive der beiden Militärblöcke betrachtet, ein »kalter Frieden«. Das heißt: Unter der gegenseitigen atomaren Bedrohung waren die Großmächte zum Frieden, zur begrenzten Partnerschaft gezwungen. Wir nannten sie »friedliche Koexistenz«. Alles andere als dieser vernunft- und angstgeleitete Modus Vivendi hätte eine Katastrophe für beide Seiten und den Rest des Planeten heraufbeschworen. Der in den 1970er Jahren eingeleitete Helsinki- bzw. KSZE-Prozess trug dieser Situation Rechnung und leistete sowohl einen Beitrag zur Entspannungspolitik – worauf vor allem die Staaten des Warschauer Vertrags drangen – als auch zur ideologischen Delegitimierung des sozialistischen Lagers, worauf es der Westen mit seiner instrumentellen Menschenrechtspolitik abgesehen hatte.

Für Regionen, die sich innerhalb der Macht- und Einflusssphären der Supermächte unbotmäßig verhielten oder die sich ganz außerhalb der festgezurrten Hemisphären befanden, bedeutete der Kalte Krieg dagegen eher einen heißen Krieg. Davon gab es bis zur Epochenwende 1989/90 und natürlich auch danach reichlich. Wir zählen von 1945 bis heute mehr als 230 Kriege, Bürgerkriege und bewaffnete Konflikte, die sich fast ausschließlich in der Peripherie, also in der Dritten Welt zugetragen haben (vgl. AKUF 2007). Die Großmächte waren an ihnen durchaus beteiligt: Am häufigsten die USA, Großbritannien und Frankreich. Die Sowjetunion findet man in der Liste der Krieg führenden Staaten erst auf einem Platz unter »ferner liefen«. Sie hatte es auch am wenigsten nötig, denn sie agierte auf dem internationalen Parkett mit dem historischen Rückenwind des antikolonialen Befreiungskampfes. Solche Stellvertreterkriege anzuzetteln oder mit Waffen, Geld und militärischem Know-how zu unterstützen, war durchaus vereinbar mit dem Bekenntnis zum Weltfrieden. Der war so lange gewahrt, als nicht die beiden großen Militärpakte NATO und Warschauer Vertrag direkt aufeinander prallten.

Es ist kennzeichnend für den heutigen Friedensdiskurs, dass vom Frieden in der Welt nicht mehr in der alten Weise gesprochen wird. Die friedliche Koexistenz zwischen den Systemen existiert nicht mehr, weil es die Systeme nicht mehr gibt oder, um es genauer zu sagen, weil nur noch ein System übrig geblieben ist. Damit rücken die vielen kleinen Kriege, die gleichwohl grausame Dimensionen annehmen können, in den Mittelpunkt des Interesses. Für die NATO, die im Augenblick laut über ihre Globalisierung nachdenkt, und für die EU, die sich mit der Europäischen Sicherheitsstrategie eine »zeitgemäße« Militärdoktrin zugelegt hat, heißt das: Kriege sind wieder führbar geworden.

Was das bedeutet, hat die Welt im ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan und im Irak sehen können. Alle drei Kriege hätten unter den politischen Bedingungen des Kalten Kriegs nie und nimmer geführt werden können, weil sie den Weltfrieden bedroht hätten.

Konnte man, wenn man nur naiv genug war, 1990/91 erwarten, dass die Beendigung des sowjetischen Experiments, die Abwicklung der ehemaligen DDR und die Auflösung des Warschauer Pakts eine gewaltige Friedensdividende freisetzen würde, so wurde man schnell eines besseren belehrt. Die Balkan-Kriege – vom Westen, insbesondere von Deutschland mit geschürt – und die erschreckende Ausbreitung von regionalen Bürgerkriegen in Afrika und Asien, teilweise auch in Territorien der ehemaligen Sowjetunion, waren beredter Ausdruck der veränderten Weltlage, in der nun alle Dämme der militärischen Zurückhaltung zu brechen schienen. Nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte hatte es so viele Kriege gegeben wie Mitte der 1990er Jahre! Und Probleme wie das Verschwinden von Staatlichkeit, in der Politikwissenschaft später unter dem Begriff der »failing states« subsumiert (scheiternde oder gescheiterte Staaten), die Privatisierung von Gewalt oder die Barbarisierung bewaffneter Konflikte bis hin zu Völkermord-Exzessen (Beispiel Ruanda) bestimmten die politischen Diskussionen und bereiteten den entscheidenden Paradigmenwechsel in den internationalen Beziehungen vor.

Das westliche Militärbündnis wollte auf die neuen Herausforderungen mit einer flexiblen Strategie in regionale Konflikte militärisch eingreifen können. »Neue Herausforderungen« bzw. »neue Risiken« tauchen im Sprachgebrauch der NATO nach Ende der Bipolarität auf. Diese »Risiken«, meist sozialer, ökonomischer oder ökologischer Natur werden »versicherheitlicht« und so zum Gegenstand militärischer »Bearbeitung« gemacht (siehe hierzu ausführlicher den Beitrag von Ruf/Zollet). Die Bedrohung durch ein feindliches Weltsystem, wie es das realsozialistische Lager 40 Jahre lang dargestellt hatte, sei einer Palette schwer zu definierender, unsichtbarer Risiken gewichen. In der Römischen Erklärung der NATO vom November 1991 wurden diese Risiken beschrieben: Die illegale Weitergabe von Massenvernichtungswaffen gehörte genauso dazu wie die Gefahr durch terroristische Anschläge, die Ausbreitung von Kriminalität, die Migration oder die Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Rohstoffe sowie die Störung des freien Welthandels. Ein Jahr später hat das deutsche Verteidigungsministerium diese Risikoanalyse zur Grundlage seiner im November 1992 erlassenen »Verteidigungspolitischen Richtlinien« gemacht. Die Fortschreibung der VPR im Mai 2003 hat daran im Kern nichts geändert. Die Bedrohungsanalyse war zuvor bereits in die neue Nato-Strategie von 1999 sowie in die Nationale Sicherheitsstrategie des US-Präsidenten (September 2002, März 2006) und danach in die Europäische Sicherheitsstrategie vom Dezember 2003 aufgenommen worden. Sie ist also offizielle Grundlage der Bundesregierung, der Vereinigten Staaten, der NATO und der EU.

Auch den Vereinten Nationen wurde eine neue Rolle zugeschrieben. Die Hoffnungen des Westens richteten sich vor allem auf die Auflösung von tatsächlichen oder angeblichen Blockaden im UN-Sicherheitsrat, die traditionell der Sowjetunion in die Schuhe geschoben worden waren. Ein Blick in die Statistik der Vetos im Sicherheitsrat zeigt indessen ein anderes Bild: Zwischen 1946 und 1989 wurde insgesamt 232 Mal vom Vetorecht Gebrauch gemacht. 116 Vetos legten die Sowjetunion und die VR China ein, genauso viele Vetos kamen von den Westmächten: 116 Mal verhinderten die USA, Frankreich und Großbritannien sowie Taiwan, das bis 1971 für China im Sicherheitsrat saß, einen Beschluss des UN-Gremiums (Löwe 2000, S.608). Diplomaten haben offenbar ein sehr feines Gespür für Ausgewogenheit – jedenfalls auf dieser formalen Ebene.

Mit dem Ende der gegenseitigen Blockaden (die übrigens nicht durchgehend die UNO lähmten, wie häufig behauptet wird) verband der Westen die Hoffnung auf eine stärkere Rolle der UNO in bewaffneten Konflikten. Schließlich ist der UN-Sicherheitsrat die einzige Institution in der Welt, die im Rahmen des Völkerrechts militärische Maßnahmen gegen Staaten oder bewaffnete Kräfte beschließen kann. Den 192 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen steht ein Recht auf Krieg ausschließlich im Fall der Verteidigung gegen eine Aggression zu (Art. 51 UN-Charta). Das ist für die Staaten die einzige Ausnahme vom generellen Gewaltverbot des modernen Völkerrechts, das in Art. 2, Abs. 4 der UN-Charta unmissverständlich formuliert ist: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Das völkerrechtliche Gewaltverbot bindet auch die Vereinten Nationen selbst. So hat die Charta hohe Hürden errichtet, bis der Sicherheitsrat militärische Maßnahmen anordnen kann: Er darf es nach Art. 39 erst, wenn „eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt“, und auch dann müssen zunächst alle nicht-militärischen Möglichkeiten zur Konfliktschlichtung ausgeschöpft sein.

Von der »humanitären Intervention« zur »transformierenden Diplomatie«

Fallbeispiel Somalia

Das ostafrikanische Land gilt seit rund 20 Jahren als Prototyp eines »failed state«, eines gescheiterten Staates, in dem von den drei wesentlichen Eigenschaften eines Staates – allgemein akzeptierte äußere Grenzen, ein Staatsvolk, ein staatliches Gewaltmonopol – zumindest das zuletzt genannte Charakteristikum weitgehend fehlt. Dies war Anfang der 1990er Jahre so, als Somalia nach dem Zerfall der Regimes von Siad Barre Schauplatz rivalisierender Clans und ihrer Warlords und – zunehmend – zum Spielball auswärtiger Mächte wurde. Somalia war historisch das erste Beispiel für eine vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatierte »humanitäre Intervention« (Resolution 767 [1992]), in deren Folge die USA gedemütigt und die Vereinten Nationen geschwächt wurden und die politisch-gesellschaftlichen Strukturen des Landes selbst sich weiter auflösten. Zehn Jahre später geriet das Land erst recht ins Visier der USA, deren Administration in ihm Brutstätte und Zufluchtsort für terroristische Organisationen à la Al Kaida sah. Darüber hinaus rückte die strategische Lage am Horn von Afrika in den Blick der USA und mit ihnen verbündeter westlicher Staaten. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich USA und UNO gerade dann wieder des gescheiterten Staates annahmen, als mit der faktischen Machtübernahme durch die Union islamischer Gerichte (UIC) ein Mindestmaß an innerer Sicherheit und Zuverlässigkeit der Versorgung gewährleistet werden konnte. Die UNO setzte weiterhin auf die Rechtmäßigkeit einer in Kenia residierenden Übergangsregierung (TFG), die im Land selbst nur geringe Unterstützung fand. Die USA veranlassten und begleiteten logistisch und militärisch die Invasion Äthiopiens im Dezember 2006, in deren Folge das Land resp. die Hauptstadt Mogadischu besetzt, die Situation im Land aber nicht stabilisiert werden konnte. Dies wird sich aller Voraussicht nach solange nicht ändern, als keine Anstrengungen unternommen – und von außen unterstützt – werden, die innenpolitischen Kontrahenten einschließlich der einflussreichen UIC in ein von allen Seiten verantwortetes Arrangement gemeinsamer Sicherheit einzubinden. Die jüngsten Kämpfe um die Besetzung der wichtigsten Staatsämter zeigen, dass dieser Weg noch sehr weit ist.

Fazit: Weder die »humanitäre Intervention« der 1990er Jahre noch die anhaltende militärische Einmischung Dritter haben zu einer Befriedung Somalias beigetragen.

In 45 Jahren, von 1945 bis 1990 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat 683 Resolutionen; in den knapp 18 Jahren seither, von 1991 bis heute, waren es dagegen 1.158 Resolutionen. Doch diese hohe Zahl bürgt nicht unbedingt für Qualität. Der UN-Sicherheitsrat hat sich nämlich in den 1990er Jahren Stück für Stück über die erwähnten klaren völkerrechtlichen Vorgaben hinweggesetzt. Dies darf bei allem Respekt davor, dass der Sicherheitsrat nach der Epochenwende aktiver geworden ist, nicht vergessen werden. Einen Türöffner stellte dabei der Begriff der »humanitären Intervention« dar. Er ist nicht erst beim Nato-Krieg gegen Jugoslawien erfunden worden, sondern spielte schon bei Entscheidungen des Sicherheitsrats im Fall des Irak 1991 – und zwar nach dem Golfkrieg – eine Rolle. Damals wurden die grenzüberschreitenden Flüchtlingsströme als Bedrohung des internationalen Friedens eingestuft. In der Resolution 688 (1991) wird erstmals ein Interventionsrecht aus humanitären Gründen sanktioniert (vgl. hierzu Ruf 1994, S.108ff). Der Irak sollte gezwungen werden, die Unterdrückung der Zivilbevölkerung in den kurdischen Gebieten einzustellen, die Menschenrechte zu achten und den internationalen humanitären Organisationen „Zugang zu allen hilfsbedürftigen Personen“ zu gewähren. Ein Jahr später wurden die UN-Mitgliedstaaten ermächtigt, durch Übernahme des inneren Gewaltmonopols in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich Somalia, „Recht und Ordnung wieder herzustellen“ (Resolution 794 [1992]). Auch andere Interventionsschauplätze wie Haiti, Bosnien, Kosovo (hier gab es kein UN-Mandat) und neuerdings Afghanistan und Irak (beide ohne Mandat, aber mit nachträglicher faktischer Legitimierung durch den UN-Sicherheitsrat) haben gezeigt, dass mit Militärinterventionen kein nachhaltiger Frieden gestiftet werden kann.

Fallbeispiel Haiti

Zwei Mal innerhalb eines Jahrzehnts haben ausländische Streitkräfte im Auftrag der Vereinten Nationen in Haiti interveniert: 1994 zugunsten des zuvor von rechtsgerichteten Militärs gestürzten demokratisch gewählten Präsidenten Aristide, 2004 zugunsten der mit eben jenen ehemaligen Militärs verbündeten Opposition, die den amtierenden Präsidenten Aristide aus seinem Amt und aus dem Land vertrieben hatte. Bis heute kann weder von einer innenpolitischen Stabilisierung noch von nennenswerten sozialen Verbesserungen die Rede sein. Hatte die erste UN-mandatierte Mission noch das Ziel, den gewählten Präsidenten Aristide wieder ins Amt zu bringen, so unterstützte das zweite UN-Mandat die Absetzung Aristides und seine Vertreibung aus dem Land. Treibende Kraft und Nutznießer waren die USA, beschädigt wurde die Legitimität des Sicherheitsrats, der sich den Politikzielen der USA unterwarf. In den Jahresberichten des UN-Generalsekretärs wird regelmäßig auf die „stabile, aber fragile“ Sicherheitslage hingewiesen. Bewaffnete Gangs machten nach wie vor die Slumvorstädte der Hauptstadt Port-au-Prince unsicher. Keine nennenswerten Fortschritte machten die Menschenrechte und die humanitäre Lage. Dennoch sei hinsichtlich der Entwaffnung, Demobilisierung und Integration von Mitgliedern bewaffneter Gangs ein „beträchtlicher Fortschritt“ erzielt worden. Konkrete Zahlen oder Vorgänge werden hierzu bezeichnenderweise aber nicht genannt. Immerhin gibt es eine Nationale Entwaffnungs-Kommission, deren Arbeit von MINUSTAH – so heißt die UN-Mission – unterstützt werde.

Ein anderes Problem, das bei UN-Einsätzen in den letzten Jahren immer wieder auftaucht, wurde auch aus Haiti gemeldet: Wegen eines Skandals um sexuellen Missbrauch hat die UNO mehr als 110 sri-lankische Blauhelmsoldaten von ihrem Einsatz in Haiti abberufen. Die Soldaten der UN-Mission hatten Frauen, darunter Minderjährige, für Sex bezahlt, wie UN-Sprecherin Michèle Montas am 2. November 2007 erklärte.

Fazit: Die Vereinten Nationen haben – unter dem Druck der USA und mit einem humanitären Mäntelchen umgeben – zum ersten Mal eine Militärmission mit dem Ziel des Regimewechsels angeordnet. Zum besseren hat sich nichts verändert. Wie desaströs die soziale und wirtschaftliche Lage für die Bevölkerung heute ist und wie instabil die politischen Verhältnisse nach wie vor sind, haben zuletzt die gewaltsamen Hungerproteste im April 2008 gezeigt.

Zur Argumentationsfigur der »Intervention aus humanitären Gründen« kam seit dem 11. September 2001 der »Krieg gegen den Terror« hinzu. Damit halten sich die USA und ihre wechselnden »Koalitionen der Willigen« an ihre neue Doktrin, in der dem Terrorismus als globale Gefahr eine prominente Rolle zugedacht ist, zumal dann, wenn er verdächtigt wird, sich in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu bringen. Man sollte aber auch in Erinnerung bringen, dass Afghanistan und Irak nicht nur wegen des vermeintlichen Terrorismus und der angeblichen Massenvernichtungswaffen angegriffen wurden, sondern auch wegen der Menschenrechtssituation. Die US-Administration hat keinen Zweifel daran gelassen, dass es ihr um einen »Regimewechsel« ging. Das ist das nächste Schlagwort, das in den letzten Jahren Karriere gemacht hat.

Einen »Regimewechsel«, das heißt das Ersetzen einer wie auch immer legitimierten, in der Regel aber legalen Regierung von außen, ist selbstverständlich mit dem geltenden Völkerrecht genauso wenig vereinbar wie ein Angriffskrieg. Art. 2 der UN-Charta garantiert sowohl die territoriale Integrität jedes Mitgliedstaats als auch seine politische Unabhängigkeit. Nach Art. 2 Ziff. 7 ist die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates verboten. Verstöße dagegen sind dennoch zahlreich und gehören sogar zum Alltag in den Beziehungen zwischen den Staaten. Jede wirtschafts- und handelspolitische Maßnahme, jedes bilaterale Gemeinschaftsprojekt – dabei muss es nicht immer um Pipelines gehen –, jedes Kulturabkommen oder jeder andere Vertrag, der zwischen Staaten abgeschlossen wird, jedes Interview, das ein Botschafter der Zeitung seines Gastlandes gibt, kurz: alles, was Auswirkungen auch auf die innere Situation eines derart bedachten Landes hat, ist eine Art Einmischung in seine inneren Angelegenheiten. Die Frage ist nur, ob diese Einmischung gegen den Willen des betroffenen Landes geschieht oder mit dessen Einwilligung. Die Grenzen sind hier zweifellos fließend.

Das Konzept der Souveränität ist so alt wie das moderne Staatensystem und hat seine Wurzeln im Westfälischen Frieden von 1648. Grund genug für die US-Administration es auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. US-Außenministerin Condoleezza Rice hat das in einer programmatischen Rede an der Georgetown Universität im Januar 2006 getan (Rice 2006). Sie argumentierte, dass man bisher davon ausgegangen sei, „dass jeder Staat die von seinem Inneren ausgehenden Bedrohungen selbst kontrollieren und lenken kann. Es wurde auch angenommen“, sagte sie, „dass schwache und schlecht regierte Staaten lediglich eine Last für ihre eigenen Bürger darstellten, ein internationales humanitäres Problem, aber nie eine wirkliche Bedrohung für die Sicherheit.“ Und sie fährt fort: „Heute sind diese alten Annahmen nicht mehr gültig.“

Sie begründet das mit dem heute so weit verbreiteten und wohlfeilen Hinweis auf die Globalisierung. Neue Technologien würden die Entfernungen schwinden lassen und die meisten Bedrohungen kämen heute nicht mehr aus den Beziehungen zwischen den Staaten, sondern entstehen „eher innerhalb von Staaten“. „In dieser Welt ist es nicht mehr möglich, zwischen unseren Sicherheitsinteressen, unseren Entwicklungsbestrebungen und unseren demokratischen Idealen klare und eindeutige Trennlinien zu ziehen. Die amerikanische Diplomatie muss alle diese Ziele als Ganzes betrachten und zusammen fördern.“ Was dabei heraus kommt, ist in den Worten der US-Chefdiplomaten die »transformational diplomacy«, die umgestaltende Diplomatie. Deren Aufgabe fasst sie folgendermaßen zusammen: „Zusammenarbeit mit unseren zahlreichen internationalen Partnern, um demokratische Staaten mit einer guten Regierungsführung aufzubauen und zu erhalten, die auf die Bedürfnisse ihrer Bürger reagieren und sich innerhalb des internationalen Systems verantwortlich verhalten.“ Es braucht hier nicht erwähnt zu werden, dass natürlich die USA selbst bestimmen, wann sich eine fremde Regierung verantwortlich verhält und wann nicht.

Im Grunde genommen haben sich die USA gegenüber vielen Staaten in ihrem Hinterhof seit über 100 Jahren so verhalten. Sie haben in Chile und Nicaragua so gehandelt, und so machen sie es in Afghanistan, Irak und demnächst vielleicht im Iran und im Sudan. Und dabei ging und geht es ihnen mitnichten um die Beendigung der Tyrannei, sondern um die Beseitigung demokratisch gewählter Regierungen oder einfach unbotmäßiger Regime.

Noch nie aber sind dem diplomatischen Korps so unverhohlen und coram publico exakte Anweisungen gegeben worden, wie sie sich bei ihrer »ehrgeizigen Mission«, der Welt Freiheit und Demokratie zu bringen, zu verhalten haben. Und zwar auch außerhalb ihrer Botschaften. „Wir werden“, sagte Frau Rice, „Kontakte mit Privatpersonen in neu entstehenden regionalen Zentren aufbauen müssen und nicht nur mit Regierungsvertretern in den Hauptstädten.“ Und sie verrät im nächsten Satz sogar, wo dies sein wird: „Wir müssen eine Rekordzahl von Menschen in schwierigen Sprachen wie Arabisch, Chinesisch, Farsi, und Urdu ausbilden.“

Beunruhigend sind solche Konzepte, weil ihnen die reale Politik und reale Truppen folgen. Noch beunruhigender ist, dass solche Konzepte der umgestaltenden Diplomatie oder der Entsouveränisierung von Staaten oder die Möglichkeit von »Präventivkriegen« mittlerweile Resonanz und teilweise Akzeptanz in internationalen Institutionen, nicht zuletzt auch in Kreisen der Vereinten Nationen finden, dort etwa unter dem Begriff der »Responsibility to Protect«. Eine Studie aus dem Think Tank der Europäischen Union geht davon aus, dass die Prämissen und Ziele der »transformational diplomacy« auch nach George W. Bush Richtschnur der US-Außenpolitik sein werden. Darüber hinaus werde das Thema auf der Agenda anderer großer Mächte bleiben, einschließlich der Europäischen Union (vgl. Vaïsse 2007).

Das neue Paradigma: Responsibility to Protect

Auch die Vereinten Nationen selbst beteiligen sich heute an der Aufweichung völkerrechtlicher Standards, die sie mit ihrer Charta 1945 selbst aufgestellt hatten. Der ehemalige Generalsekretär Kofi Annan legte im März 2005 ein UN-Reformpapier vor mit dem Titel »In größerer Freiheit« (Annan 2005), das neben vielen vernünftigen und überfälligen Vorschlägen zur Effektivierung der UN-Institutionen auch höchst problematische Änderungswünsche enthält. Insbesondere eine Passage in dem Reformpapier war alarmierend. Darin zog Kofi Annan die Möglichkeit in Betracht, Präventivkriege im Namen der Vereinten Nationen zu führen. In Ziffer 125 heißt es dazu: Der Sicherheitsrat habe die „volle Autorität für die Anwendung militärischer Gewalt, auch präventiv“. Sollte sich diese Auffassung durchsetzen, fielen die Vereinten Nationen nicht nur hinter die eigene Charta, sondern auch hinter den Briand-Kellogg-Pakt aus dem Jahr 1928 zurück, in dem die Vertragsstaaten erstmals den Krieg »geächtet« hatten. Zu Recht sind die USA weltweit kritisiert worden (auch von Kofi Annan selbst), weil sie sich in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie vom September 2002 den Präventivkrieg als Option vorbehalten haben. Sollten die Vereinten Nationen dieses antiquierte »Recht des Stärkeren« nun auch für sich beanspruchen, gibt es keine Begründung mehr, es einzelnen Staaten vorzuenthalten.

Unter dem Begriff »Responsibility to Protect« (auf der entsprechenden Website unter dem Label »R2P« gehandelt) wird der an sich nicht unsympathische Gedanke propagiert, dass die Weltgemeinschaft eine Verantwortung auch für die Menschen übernehmen muss, deren Staaten zu schwach oder deren Regierungen nicht gewillt sind, einen ausreichenden Menschenrechtsschutz für ihr Staatsvolk zu gewährleisten. Auf kanadische Initiative hin wurde im Jahr 2000 eine 12-köpfige »International Commission on Intervention and State Sovereignty« (ICISS) eingerichtet, der eine Reihe ehemaliger hochrangiger Politiker und Militärs angehörte, aus Deutschland z.B. Vier-Sterne-General Klaus Naumann, der in seinen letzten aktiven Jahren Vorsitzender des Militärkomitees der NATO war. Ein Jahr später veröffentlichte die ICISS ihren Bericht mit dem Titel »The Responsibility To Protect«. Die zentrale These der Autoren ist, dass „souveräne Staaten eine Verantwortung haben, ihre eigenen Bürger vor vermeidbaren Katastrophen – vor Massenmord und Vergewaltigung, vor Hunger – zu schützen, dass aber, wenn sie nicht willens oder nicht fähig dazu sind, die Verantwortung von der größeren Gemeinschaft der Staaten getragen werden muss“ (ICISS 2001, S. VIII, Übersetzung: d. Verf.). In solchem Fall würde der Grundsatz der Nicht-Intervention zugunsten der internationalen Schutzverantwortung aufgegeben.

Der R2P-Bericht selbst ist janusköpfig. Einerseits bindet er den Einsatz von militärischer Gewalt an ein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Andererseits aber plädiert er für die Einschränkung des Vetorechts der fünf ständigen Sicherheitsrats-Mitglieder, falls sich dieser als unfähig erweist, tätig zu werden. Hinzu kommt, dass der Bericht bei der Suche nach möglichen Gründen für Militärinterventionen Anleihen bei der Theorie des gerechten Krieges macht, so wenn etwa eine gerechte Sache (causa iusta) verfolgt werde, oder wenn als primäre Motivation (recta intentio) die Rettung von Menschenleben behauptet wird (siehe hierzu Schorlemer 2007). In solchen Fällen könnten nämlich Staatengruppen oder einzelne Staaten auch ohne Beschluss des Sicherheitsrats intervenieren.

Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass auch der R2P-Bericht sich nicht mit Militärinterventionen begnügt. Seine Verantwortung zu schützen ist dreigeteilt: Sie besteht erstens aus einer Verantwortung zur Prävention (»responsibility to prevent«). Hier geht es um wirtschaftliche oder politische Unterstützungsmaßnahmen, die das Entstehen von Gewaltkonflikten verhindern sollen. Zweitens soll die Verantwortung zu reagieren (»responsibility to react«) greifen, und zwar dann, wenn sich die Präventionsmaßnahmen als unzureichend erwiesen haben und eine akute Bedrohung des Lebens einer großen Anzahl von Menschen vorliegt. Und drittens geht es um den Wiederaufbau (»responsibility to rebuild«) in Nachkriegssituationen. Obwohl die ICISS den Schwerpunkt der Argumentation auf den Präventionsgedanken gelegt hat, wird ihr »Responsibility-to-Protect«-Konzept fast ausschließlich auf die militärische Dimension fokussiert. Das ist aber durchaus bezeichnend für den internationalen Diskurs nach dem 11. September 2001.

Fallbeispiel Kosovo

Der vor zehn Jahren geführte Krieg der NATO gegen das damalige Jugoslawien ist das bis dato eklatanteste Beispiel für eine völkerrechtswidrige Aggression, die aus angeblich »humanitären Gründen« stattgefunden hat. Der zweieinhalb Monate dauernde Luftkrieg verstieß nicht nur gegen das geltende Völkerrecht – hier insbesondere die territoriale Unversehrtheit der Staaten nach Art. 2,2 der UN-Charta sowie das strikte Gewaltverbot (Art. 2,4 UN-Charta) –, sondern verletzte auch den völkerrechtskonform verfassten NATO-Vertrag von 1949 (vgl. Strutynski 2009, S.139f), wonach militärische Gewalt nur als Mittel der kollektiven Selbstverteidigung und nur innerhalb bestimmter geografischer Grenzen eingesetzt werden durfte. Die »humanitären Gründe« waren von Anfang an vorgeschoben: Die humanitäre Katastrophe, von der am wortgewaltigsten und erfindungsreichsten der damalige deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping sprach, hatte es vor dem Krieg nachweislich nicht gegeben, was insbesondere durch die Berichte der OSZE-Mission bestätigt wurde (Loquai 2003). Erst der Krieg sorgte für die massenhafte Flucht und Vertreibung von bis zu 800.000 Kosovo-Albanern ins Ausland; hinzu kamen noch etwa 200.000 Binnenflüchtlinge. Der Krieg, der ausschließlich als Bombenkrieg aus sicherer Höhe geführt wurde, forderte Tausende Todesopfer, die meisten unter der Zivilbevölkerung. Zerstört wurden überwiegend Einrichtungen und Anlagen der zivilen Infrastruktur (Brücken, Straßen, Strom- und Wasserleitungen, Informations- und Kommunikationseinrichtungen, Schulen Krankenhäuser) sowie der privaten oder öffentlichen Wirtschaft (Fabrikanlagen, Lagerhäuser usw.), wodurch die Entwicklung in Serbien auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückgeworfen wurde. War die Flucht/Vertreibung der Kosovo-Albaner während des Kriegs vorübergehender Natur, so wurden bis zu 350.000 Serben, Sinti und Roma und andere Minderheiten dauerhaft aus dem Kosovo vertrieben. Ein weiteres Ergebnis des NATO-Krieges stellt die widerrechtliche Abtrennung der Provinz Kosovo aus dem serbischen Staatsgebiet dar – 2008 einseitig verkündet von der kosovarischen Regierung und von ca. 40 Staaten, darunter den meisten EU-Staaten, völkerrechtlich anerkannt. Zugleich verbleibt das Kosovo unter dem faktischen Protektorat durch UNO und EU (Hofbauer 2008) – eine komplizierte Rechtskonstruktion, unter der die mafiosen Strukturen der Kosovogesellschaft weiter gedeihen können.

Fazit: Der NATO-Krieg 1999 galt nicht der Verhinderung einer »humanitären Katastrophe«, sondern trug erst zu einer solchen bei. Die völkerrechtswidrige Anerkennung der Sezession von Seiten der USA und anderer westlicher Staaten hat wenige Monate später ihre erste Nachahmung gefunden, als Russland die georgischen Regionen Südossetien und Abchasien anerkannte.

Literatur

Hannes Hofbauer (2008): Europas erste EU-Kolonie. Kosovo: Kfor, Unmik, Ico, Eulex, Hashim Thaçi – wer regiert das Land>?; in: Freitag 33, 15. August 2008.

Heinz Loquai (2003): Weichenstellungen für einen Krieg. Internationales Konfliktmanagement und die OSZE im Kosovo-Konflikt, Baden-Baden.

Peter Strutynski (2009): Die NATO – illegitimes Kind des Zweiten Weltkriegs, in: ÖSFK (Hg.): Globale Armutsbekämpfung – ein trojanisches Pferd? Auswege aus der Armutsspirale oder westliche Kriegsstrategien? Münster-Wien, S.134-146.

Eine »humanitäre Intervention«, die den Kriterien des Responsibility-Papiers nahekommt, hat bereits in großem Stil stattgefunden, bevor dieser Begriff überhaupt erfunden war: im sog. Kosovo-Krieg 1999. Das Konzept der »Responsibility to protect« war von der Entstehung her eine Reaktion auf die vorangegangenen Bürgerkriege im zerfallenden Jugoslawien. Den Autoren ging es darum, ähnlich gelagerte Fälle militärischer Interventionen politisch und moralisch zu rechtfertigen, und zwar dann, wenn sechs Kriterien erfüllt sind:

1. Just Cause: Es muss ein gerechter Grund vorliegen. Der kann entweder darin gesehen werden, dass eine große Anzahl von Menschenleben auf dem Spiel stehen, oder dass in einem größeren Umfang ethnische Säuberungen geschehen oder zu befürchten sind (»apprehended«).

2. Right Intention: Einer Militärintervention muss eine »richtige Absicht« zu Grunde liegen. Der Sturz eines Regimes gehöre zwar nicht dazu, sei aber häufig nicht zu vermeiden, um einer Bevölkerung wirksam zu helfen. Ebenso wenig sei die Besetzung eines Landes eine »right intention« – auch sie aber sei manchmal, zumindest vorübergehend, unumgehbar.

3. Last Resort: Eine Militärintervention sei nur als letztes Mittel vorzusehen, nachdem alle vorausgegangen Instrumente der Prävention und der zivilen Hilfe gescheitert sind. Allerdings: Man kann diese Schritte auch überspringen und gleich intervenieren, wenn es »vernünftige Gründe« gibt anzunehmen, dass die nicht-militärischen Maßnahmen keinen Erfolg haben würden.

4. Proportional Means: Ein Kriegseinsatz muss die Verhältnismäßigkeit der Mittel beachten und sich strikt an das humanitäre Kriegsvölkerrecht (Haager Landkriegsordnung, Genfer Konventionen) halten. Wollte man dieses Kriterium wirklich ernst nehmen, dann hätten die Kriege gegen Irak 1991, gegen Jugoslawien, gegen Afghanistan und gegen Irak 2003 nicht stattfinden dürfen.

5. Reasonable Prospects: Eine Militärintervention könne nur verantwortet werden, wenn eine Aussicht auf ihren Erfolg besteht, d.h. es müsse zumindest eine Verbesserung der Lage absehbar sein. Auch wenn die zu erwartenden Kosten der Intervention unakzeptabel hoch sind, müsse von einer Militäraktion Abstand genommen werden. Da letzteres immer der Fall sein dürfte, wenn ein permanentes Mitglied des UN-Sicherheitsrats oder andere »größere Mächte« Objekt einer Intervention würden, verbieten sich nach Meinung des ICSS alle Gedankenspiele, gegen solche Staaten vorzugehen. Dem Argument, hiermit von vornherein doppelte Standards (double standards) gelten zu lassen, entgegnen die Autoren mit dem Hinweis auf die Realität.

6. Right Authority: Schließlich müsse eine Militärintervention von einer anerkannten Autorität angeordnet werden. Dies könnten die Vereinten Nationen (zuerst der Sicherheitsrat, wenn der untätig bleibt oder blockiert ist: die Generalversammlung) oder eine beliebige regionalen Organisation (EU, AU) sein. Im äußersten Fall können dies aber auch Ad-hoc-Koalitionen oder sogar einzelne Staaten übernehmen.

Man sieht: So diplomatisch und völkerrechtlich gewandet die Argumentation des ICSS auch ist, sie mündet immer wieder in die prinzipielle Zulässigkeit militärischer Interventionen zum vermeintlichen oder vorgeblichen Schutz von Menschen. Völkerrechtliche Bindungen sind dann zu umgehen, wenn es sich um Situationen handelt, die das Gewissen der Menschen berühren (»conscience-shocking situation«). Damit ist ein breiter Korridor sowohl für Interpretationen als auch für die mediale Zubereitung solcher Situationen eröffnet. Der zweite Golfkrieg 1991, der Kosovo-Krieg 1999, der Irak-Krieg 2003: Alle begannen mit oder wurden mit Lügen vorbereitet. Und alle größeren Kriege der post-bipolaren Ära wurden vom Westen geführt – zum angeblichen Schutz von Menschen, die im Zuge der neoliberalen Globalisierung und der Entsouveränisierung schwacher Staaten der Dritten Welt schutzlos geworden sind. Diesen Punkt betont Elmar Altvater, wenn er schreibt, „dass die Unterminierung von menschlicher Sicherheit durch jene Mächte verursacht wird, die dann die Schutzverantwortung für Bevölkerungen übernehmen, die die Sekundärfolgen der Untergrabung der menschlichen Sicherheit zu erleiden haben“ (Altvater 2009, S.72.). Der Brandstifter ist gleichzeitig die Feuerwehr und die »löscht«, indem sie Öl ins Feuer gießt.

Dieses Konzept wird seit der Veröffentlichung des Papiers in internationalen Gremien kontrovers diskutiert und fand letztlich Eingang in die Abschlusserklärung des Millennium+5-Gipfels 2005. Allerdings nicht als verbindliche Rechtsnorm, wie Interventionsbefürworter hier zu Lande fälschlicherweise gern behaupten, sondern als Prüfauftrag an die Generalversammlung. In der entscheidenden Ziffer 139 heißt es: „Die internationale Gemeinschaft hat durch die Vereinten Nationen auch die Pflicht, diplomatische, humanitäre und andere friedliche Mittel nach den Kapiteln VI und VIII der Charta einzusetzen, um beim Schutz der Zivilbevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit behilflich zu sein. (…) Wir betonen die Notwendigkeit, dass die Generalversammlung die Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die sich daraus ergebenden Auswirkungen eingedenk der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts weiter prüft.“

Hier werden den friedlichen Maßnahmen nach Kapitel VI und VIII eindeutig Priorität eingeräumt, bevor Zwangsmaßnahmen nach Kap. VII (die bis auf den Art. 42 übrigens auch nicht militärischer Art sind) in Erwägung gezogen werden. Der Hinweis auf Kap. VIII bezieht sich auf die Existenz regionaler Abmachungen oder Einrichtungen, die ebenfalls für die „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Friedens“ aktiv werden können.

Die Afrikanische Union hat mit ihrem Gründungsstatut (AU 2000) das Recht reklamiert, in Mitgliedsländern zu intervenieren, wenn „schwerwiegende Umstände“ vorliegen, namentlich: „Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (Art. 4h). Sollte dieses Interventionsrecht auch militärische Maßnahmen beinhalten, dann allerdings ist es von Kap. VIII der UN-Charta nicht gedeckt. Dort heißt es nämlich unmissverständlich in Art. 52,2: „(2) Mitglieder der Vereinten Nationen, die solche Abmachungen treffen oder solche Einrichtungen schaffen, werden sich nach besten Kräften bemühen, durch Inanspruchnahme dieser Abmachungen oder Einrichtungen örtlich begrenzte Streitigkeiten friedlich beizulegen, bevor sie den Sicherheitsrat damit befassen.“

Ergebnisse und Empfehlungen

Im Friedensgutachten 2007 werden nicht nur Bedenken gegen die schon zur Routine gewordenen Militärinterventionen vorgebracht, sondern die Autoren entwickeln auch sechs Mindestkriterien, die eingehalten werden müssen, bevor zum Mittel des Militäreinsatzes gegriffen wird. Die Nähe zum Konzept »Responsibility to Protect« ist nicht zu übersehen:

Rechtmäßigkeit: Sie müssen mit der UN-Charta und dem Grundgesetz übereinstimmen;

Unterscheidung von friedenspolitischen und funktionalen Gründen: macht-, einfluss- und bündnispolitische Ziele dürfen nicht den Ausschlag geben;

Vorrang ziviler Alternativen: sind alle nichtmilitärischen Alternativen ausgeschöpft oder erkennbar aussichtslos?

Politisches Gesamtkonzept, einschließlich einer Klärung der Erfolgsbedingungen im Zielland;

Evaluierung: Kein Auslandseinsatz ohne begleitende Evaluierung und nachträgliche Bilanzierung seiner Kosten und Nutzen;

Exit-Strategie: Wann und wie ist ein Einsatz zu beenden?

Auch diese Kriterien, gewiss in guter friedenspolitischer Absicht verfasst, dürften sich als wenig praktikabel erweisen. Denn bei fast allen genannten Punkten wird im Zweifelsfall nicht nur ein wissenschaftlicher, sondern auch ein politischer Streit über die Erfüllung bzw. Nichterfüllung der Kriterien entstehen. Ob Militär zur Durchsetzung politischer Ziele eingesetzt wird oder nicht, ist indessen immer eine politische Frage. Unsere Antwort muss demnach über die sechs Kriterien hinausgehen. Daher abschließend unsere Position – einmal hinsichtlich vertretbarer Militäreinsätze und zum anderen in Form von Empfehlungen an die Politik.

UN-Blauhelm-Einsätze: Fälle von vertretbaren Militärinterventionen

Die Nutzlosigkeit bzw. die mageren positiven Effekte robuster Militärinterventionen könnten gewiss auch noch an anderen Beispielen gezeigt werden, als den von uns untersuchten. Irak und Afghanistan haben wir übrigens in unseren Analysen – in beiden Projektteilen – nicht berücksichtigt, weil es zu einfach gewesen wäre, an diesen Großkonflikten die Schädlichkeit militärischer Aggressionen nachzuweisen.

Es gibt daneben aber auch ganz anders gelagerte Fälle, in denen UN-Truppen gute Dienste leisteten und leisten. Seit 1948 operieren in verschiedenen Krisengebieten so genannte Blauhelme, die sich aus Soldaten, unbewaffneten zivilen Beobachtern, Polizeikräften und Militärbeobachtern zusammensetzen können. Solche Missionen finden nur mit Zustimmung der Regierung(en) bzw. der Konfliktparteien statt. Dadurch soll ausgeschlossen werden, dass die UN-Truppen Teil des Konfliktes werden. Blauhelme haben in der Regel keinen Kampfauftrag; sie sind aber (meist leicht) bewaffnet und je nach Mandat in gewissem Umfang berechtigt, von ihrer Waffe Gebrauch zu machen.

Blauhelm-Truppen müssen von »neutralen« und kleineren Staaten gestellt werden. Der Gedanke dabei ist, dass die eingesetzten Soldaten sich ausschließlich dem Auftrag des UN-Sicherheitsrats verpflichtet fühlen und nicht die Interessen ihrer jeweiligen Staaten vertreten. Dies wäre unweigerlich der Fall, wenn die »global players« selbst diese Missionen dominieren würden, was seit den 90er Jahren allerdings immer häufiger vorkommt (UNPROFOR in der jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina oder UNOSOM in Somalia sind zwei eklatante Beispiele dafür ebenso wie die UN-mandatierte EUFOR im Tschad). Der Sicherheitsrat bittet neuerdings ausdrücklich auch die großen Mächte um eine Teilnahme an internationalen Missionen – verfügen doch sie am ehesten über ausreichende militärische Fähigkeiten und logistische Kapazitäten. Angesichts des Kräfteverhältnisses im Sicherheitsrat wird dieser mehr und mehr zu einem faktischen Auftraggeber der westlichen Mächte umfunktioniert, die mit ihm das jeweils gewünschte Mandat aushandeln.

Sechs Empfehlungen

Hieraus ergeben sich folgende Empfehlungen

Blauhelmeinsätze können unter bestimmten Umständen pazifierend sowohl bei zwischenstaatlichen als auch bei innerstaatlichen Konflikten wirken. Voraussetzung hierfür ist das – ohnehin zwingend vorgeschriebene – Einverständnis der Konfliktparteien und die Neutralität der UNO-Truppen. Letzteres schließt die Teilnahme von Truppen der Großmächte aus. Der Praxis, sich beim UN-Sicherheitsrat ein den eigenen Möglichkeiten und politischen Zielen angepasstes »robustes Mandat« zu bestellen (Beispiel Libanon-Einsatz der Bundeswehr, Kongoeinsatz) muss ein Riegel vorgeschoben werden.

Wer es ernst meint mit einer völkerrechtskonformen und auf Deeskalation orientierten Militärpolitik, sollte den Vereinten Nationen Blauhelmkontingente zur Verfügung stellen. Nicht nur von Fall zu Fall, sondern ständig. Dies können Einzelstaaten wie die Bundesrepublik tun, aber auch die Europäische Union, die dann auf einen eigenen »militärischen Arm« im Sinne der Europäischen Sicherheitsstrategie verzichten könnte.

Dies setzt allerdings voraus, den Art. 47 der UN-Charta endlich mit Leben zu füllen. Darin heißt es in den Absätzen 1 und 3: „(1) Es wird ein Generalstabsausschuss eingesetzt (…)“

„(3) Der Generalstabsausschuss ist unter der Autorität des Sicherheitsrats für die strategische Leitung aller dem Sicherheitsrat zur Verfügung gestellten Streitkräfte verantwortlich. (…)“ Dieser Generalstabsausschuss ist in der 63-jährigen Geschichte der Vereinten Nationen nie gebildet worden. Aus diesem Grund meinte auch der letzte Generalsekretär, Kofi Annan, in seinem Reformpapier den Artikel 47 aus der UN-Charta zur Streichung vorschlagen zu müssen (Annan 2005, S.69f). Ein Weg, der auf keinen Fall beschritten werden sollte, weil er die Durchführung von militärischen Aktionen ausschließlich den Einzelstaaten überantwortet.

Sowohl aus der Völkerrechtsperspektive als auch aus den Ergebnissen der empirisch gestützten Fallbeispiele geht u.E. hervor, dass Militärinterventionen kein Mittel der internationalen Politik sein können. Die Fälle, in denen militärische Erzwingungsmaßnahmen zulässig sind, sind außerordentlich selten und in aller Regel ohnehin durch das Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung gedeckt. Und selbst diese Maßnahmen finden ihre Grenzen sowohl im Kriegsvölkerrecht als auch in der Zuständigkeit des UN-Sicherheitsrats für Fragen des Weltfriedens.

Für die politische Praxis ergibt sich daraus zunächst allergrößte Skepsis gegenüber allen Zumutungen der veröffentlichten Meinung und der herrschenden Politik, humanitäre Hilfe, Menschenrechte, insbesondere Rechte von Frauen und Kindern, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mit Waffengewalt in alle Welt zu exportieren. Ein solcher Export ist erstens völkerrechtlich nicht zulässig und zweitens in der Praxis offensichtlich nicht von Erfolg gekrönt (vgl. hierzu Strutynski 2007). Eine Schutzverantwortung der Staaten, wie sie von den Vertretern der »Responsibility-to-Protect«-Doktrin ins Spiel gebracht wurde, macht Sinn vor allem als zivile präventive Politik, nicht aber als Militärinterventionismus.

Kampfeinsätze zur Friedenserzwingung sind grundsätzlich abzulehnen, auch dann, wenn sie auf einem Mandat des UN-Sicherheitsrats nach Art. 42 der UN-Charta beruhen. Solche Einsätze sind immer mit dem unkalkulierbaren Risiko behaftet, den Gewaltkonflikt weiter zu eskalieren. Außerdem besteht die Gefahr, dass die bei den Einsätzen auftretenden »Kollateralschäden« die ursprünglich dem Konflikt geschuldeten Schäden und Opfer noch übersteigen.

Für die Bundesrepublik heißt das, die Transformation der Bundeswehr zu einer weltweit einsetzbaren Interventionsarmee zu stoppen und rückgängig zu machen und auch die Militarisierung der Europäischen Union nicht weiter zu verfolgen.

Beendet werden muss ferner der sog. Krieg gegen den Terror, den die USA nach den Anschlägen des 11. September 2001 proklamiert haben und den die NATO seither u.a. in Afghanistan führt. Terroristen sind als Kriminelle zu behandeln, d.h. sie sind Angelegenheit der nationalen und internationalen Ermittlungs-, Polizei- und Justizbehörden, denen ausreichende rechtsstaatliche Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen und die zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit verpflichtet sind (vgl. Strutynski 2008). Die Art und Weise, wie der »Krieg gegen den Terror« geführt wird, erfüllt seinerseits oft den Tatbestand des Terrorismus, wird hier doch kriegsvölkerrechtswidrige Gewalt ausgeübt mit dem Ziel, die Bevölkerung durch Verbreitung von Schrecken und Willkür zu beeinflussen.

Literatur

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Annan, Kofi (2005): In größerer Freiheit. Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle. Bericht des Generalsekretärs (A/59/2005). Internet: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/UNO/reform2005.pdf.

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Rice, Condoleezza (2006): »Umgestaltende Diplomatie« – »Transformational Diplomacy«. Rede der US-Außenministerin am 18. Januar 2006 in der Georgetown School of Foreign Service. (http://www.uni-kassel.de/fb5/ frieden/themen/Weltordnung/rice.html).

Ruf, Werner (1994): Die neue Welt-UN-Ordnung. Vom Umgang des Sicherheitsrates mit der Souveränität der »Dritten Welt«, Münster.

Ruf, Werner/Strutynski, Peter (2007): Militärinterventionen: Verheerend und völkerrechtswidrig, in: utopie kreativ 205, S.1040-1049.

Schorlemer, Sabine von (2007): Die Schutzverantwortung als Element des Friedens. Empfehlungen zu ihrer Operationalisierung. Policy paper 28, hrsg. von der Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF).

Strutynski, Peter (2007): Exportartikel Menschenrechte? Auf das Wie kommt es an, in: utopie kreativ 196, S.147-155.

Strutynski, Peter (2008): Der Krieg gegen den Terror – Die Grundtorheit des 21. Jahrhunderts, in: R.-M. Luedtke/P. Strutynski (Hg.): Die Neuvermessung der Welt, Herrschafts- und Machtverhältnisse im globalisierten Kapitalismus, Kassel, S.222-234.

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Vaïsse, Justin (2007): Transformational Diplomacy. Institute for Security Studies, Paris (Chaillot Paper ¹ 103).

Lena Jöst ist Studentin der Staats- und Politiwissenschaften an der Universität Passau Dr. Peter Strutynski ist Politikwissenschaftler, Mitglied der Arbeitsgruppe Friedensforschung an der Uni-Kassel, die die jährlichen »Friedenspolitischen Ratschläge« veranstaltet.

Transformation bewaffneter Konflikte
und die Möglichkeit ziviler Konfliktbearbeitung

von Werner Ruf und Nadine Zollet

Es ist verblüffend, welch ungeheures Wissen nicht nur seitens der Friedens- und Konfliktforschung, sondern vor allem auch von internationalen Organisationen – allen voran den UN – zum Thema der Konfliktbearbeitung produziert und angehäuft wurde. Noch verblüffender ist es feststellen zu müssen, dass dieses Wissen völlig ausgeklammert bleibt, wenn der UN-Sicherheitsrat Mandate zur Intervention beschließt oder, wie es zunehmend der Fall ist, an, man möchte sagen »Antragsteller«, vergibt. Deshalb erscheint es uns notwendig, in der hier zu führenden Debatte auf die grundlegenden strukturellen Bedingungen der Konflikthaftigkeit der gegenwärtigen Weltgesellschaft ebenso einzugehen wie auf die Deutung der Konfliktursachen: Letztere, gewissermaßen die Diagnose, ist entscheidend für die Therapie, also die zur Lösung des jeweiligen Konflikts eingesetzten Mittel.

Signifikant erscheint uns, dass der einzige Fall in unserer Auswahl, der trotz vieler aus Interessen der großen Mächte resultierender Wirrungen schließlich in Konformität mit dem Völkerrecht gelöst wurde und in einen aus internationaler Sicht akzeptablen Friedensschluss führte, Osttimor ist. Im Gegensatz zum völkerrechtlichen Parallelfall West-Sahara wurde dieser Konflikt schließlich auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts (vormals) kolonisierter Völker gelöst. Armut und Elend haben jedoch dazu geführt, dass der junge unabhängige Staat sich bisher nicht stabilisieren konnte

Der Wandel im Kriegsgeschehen

Bei der Betrachtung des globalen Kriegsgeschehens wird deutlich, dass die meisten Kriege seit 1945 – und verstärkt seit 1990 – innerhalb von Staaten der so genannten Dritten Welt geführt wurden und werden. Ein Viertel dieser innerstaatlichen Kriege wurde und wird nach wie vor auf dem afrikanischen Kontinent ausgetragen. Diesen Tatbestand begründen Teile der Friedensforschung mit der These vom »Demokratischen Frieden«. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass Demokratien untereinander keine Kriege führen (Schreiber 2001: S.30ff), da sich diese kontraproduktiv auf demokratische Staaten auswirken. Allerdings führen Demokratien sehr wohl Kriege gegen Nicht-Demokratien, so dass der oft voreilig gezogene Schluss von der grundsätzlichen Friedfertigkeit von Demokratien nicht haltbar ist. Problematisch bleibt bei den Vertretern dieser These auch (ex.: Müller 2004) dass sie keine Definition von Demokratie liefern. Dieses Theorem steht in einem inneren Zusammenhang mit der Debatte über die so genannten neuen Kriege.

Der These von den »neuen Kriegen« liegt die Annahme zugrunde, dass sich, ausgelöst durch die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, die das Ende der bipolaren Weltordnung mit sich brachte, ein Gestaltwandel der kriegerischen Gewalt in innerstaatlichen Kriegen vollzogen habe. Nach dem Ende der Blockkonfrontation habe der Wegfall der finanziellen und militärischen Hilfe von Seiten der Supermächte an Verbündete und Vasallen dazu geführt, dass den Staaten die Mittel zur Aufrechterhaltung des Gewaltmonopols entzogen worden seien.

Diese Annahmen enthalten ein auf den ersten Blick hohes Maß an Plausibilität. Dennoch ist es falsch, die Konflikte im Zeitalter der Bipolarität auf reine Stellvertreterkriege zu reduzieren: Auch wenn die Versuche der Großmächte offenkundig waren, die Befreiungsbewegungen und -kriege der Nachkriegszeit zu instrumentalisieren, so handelt es sich hierbei doch um genuine Bestrebungen der kolonisierten Völker, die – vorstaatliche – Gewalt als Mittel ihres Kampfes einsetzten. Auch die Widerstands- und Partisanenkämpfe des 19. und vor allem 20. Jh. waren gewaltförmige Aktionen nichtstaatlicher Akteure. Dasselbe gilt für Widerstands- und Sezessionsbewegungen in Mitteleuropa (Basken, Korsen, Katholiken in Nordirland etc.). »Neu« ist allenfalls die Zahl der Konflikte und ihre Häufung in so genannten jungen Staaten. Ihre rein formale Behandlung, beschränkt auf Phänomene offener Gewalt, blendet die historischen Ursachen ihrer Genese ebenso aus, wie die zugrunde liegenden ökonomischen Interessen der Akteure. Konkret heißt dies: Der Schlüssel zum Verständnis der Konflikte und ihrer Ursachen wird erst gar nicht gesucht.

Wir vertreten die These, dass die aktuellen Konflikte und ihre Häufung verstanden werden müssen als die Kehrseite der Globalisierung, die immer auch Fragmentierung produziert. Staatszerfall ist – und dies belegen bis auf den Fall Nordirland sämtliche Fallstudien1 ebenso wie die einschlägige Literatur – im Kern Folge der weltweiten Durchsetzung des Neo-Liberalismus und seiner gegen staatliche Regulation gerichteten Politik. In vielen Fällen avanciert Gewalt jedweder Art zum Mittel der Ressourcensicherung (vgl. Heupel/Zangl 2004: S.346f), ja, der bewaffnete Konflikt wird zum Selbstzweck, da er sowohl durch ökonomische Einbindung in den Weltmarkt (Lieferung wichtiger Ressourcen wie Erdöl, Diamanten, Kautschuk, Coltan etc.) wie durch die Plünderung letzter Ressourcen im Lande selbst die Reproduktion der Gewalt sichert (Ruf 2003a). Die viel beschworenen »failing« oder »failed states« sind letztlich die Konsequenz der neo-liberalen (Un-)Ordnung, Staatszerfall tritt nicht zufällig bei den schwächsten, i. e. ärmsten Mitgliedern der Staatenwelt in Erscheinung, wie vor sehr unterschiedlichem Hintergrund die Fälle Haiti, Somalia, Elfenbeinküste und Niger zeigen.

Milizen und paramilitärische Gruppen, die sich weitestgehend der Kontrolle des Staates entziehen (vgl. Münkler 2004: S.10f.), führen zu einer Privatisierung von Gewalt in den Händen von Kriegsherren, Söldnerbanden, aber auch von privaten Kriegsführungsfirmen, für die die Regeln des Kriegsvölkerrechts nicht mehr gelten (Ruf 2003b).2 Die Gewaltakteure unterscheiden nicht mehr zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten. Dies ist jedoch keineswegs beschränkt auf die nichtstaatlichen Gewaltakteure. Auch die Kriegführung der Staaten schon in Algerien wie in Vietnam, erst recht aber nach dem Ende der Bipolarität (Kosovo, Irak, Afghanistan) nimmt auf das vor allem in den Genfer Konventionen fixierte Kriegsvölkerrecht immer weniger Rücksicht und verdinglicht die Opfer solcher Kriegführung als »Kollateralschäden«. Münkler nimmt diesen Tatbestand zum Anlass, die Abschaffung des Kriegsvölkerrechts schlechthin zu fordern, da dies ohnehin nur für staatliche Akteure gelte, vor allem aber weil in den »asymmetrischen Konflikten« (zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren) „der asymmetrisch unterlegene Akteur begünstigt wird“ (Münkler 2008 S.35). Der Staat müsse sich von diesen Regeln befreien, da er sonst seine militärische Stärke nicht ausspielen kann (Münkler 2007 S.62). Ein klareres Plädoyer für die Durchsetzung der westlichen Dominanz mit allen Mitteln und für den Rückfall in die Barbarei ist kaum denkbar.

Wie sehr auch immer der Zerfall von Staaten vom Wegfall der strategischen Rente beeinflusst sein mag, muss an einzelnen Fällen (zu denen eindeutig Somalia gehört) genauer untersucht werden. Zugleich aber bedeutet das Ende der Bipolarität und der Aufteilung der Welt in zwei große Einflusszonen eine Zäsur in der bisher bestehenden Weltordnung: Diese eröffnet der einzigen verbliebenen Supermacht und den ihr folgenden europäischen Mächten die Möglichkeit zu unilateralen militärischen Aktionen. Nicht zufällig ernannte sich die NATO 1999 (http://www.nato.int/docu/pr/1999/p99-065d.htm ) zum Weltpolizisten und setzte mit dem Jugoslawienkrieg ein klares Signal: Die Bindung an des Völkerrecht wurde demonstrativ verletzt, die Art der Kriegführung sprach dem Kriegsvölkerrecht Hohn.

Dem Interventionismus wurde wieder Tür und Tor geöffnet, auch wenn er sich der moralischen Unterstützung in den demokratisch (!) verfassten Gesellschaften versichern musste. Dies ist – nicht zufällig – die Geburtsstunde der »humanitären Intervention«, die mit der Resolution 688 (1991) des UN-Sicherheitsrats begann, in Somalia (1992) fortgesetzt wurde und vorläufig in den Kriegen der NATO gegen Jugoslawien und Afghanistan kumulierte (Ruf 1994).

Konfliktursachen

Zivile Konfliktbearbeitung wie die Transformation bewaffneter Konflikte setzen eine genaue Analyse der Konfliktursachen voraus. Die noch unter dem UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali 1992 erarbeitete »Agenda für den Frieden« benennt die strukturellen Ursachen von Konflikten und fordert „(…) im weitesten Sinne zu versuchen, die tiefsten Konfliktursachen auszuräumen: wirtschaftliche Not, soziale Ungerechtigkeit und politische Unterdrückung.“ (Art. 15). Es ist bezeichnend, dass dieser zentrale Grund für die Konfliktgenese in der derzeitigen Interventionsdebatte so gut wie völlig ausgeblendet wird: In der sechsten Dekade der Entwicklungshilfe ist festzustellen, dass offensichtlich nicht nur die Millennium Development Goals (Martens/Debiel 2008) nicht im Entferntesten erreicht werden, sondern dass in den vergangenen Jahren die Armut in der Welt gravierend zugenommen hat und die sozialen Antagonismen zwischen Nord und Süd sich verschärft haben.

Diese Bilanz kontrastiert in erschreckender Weise mit den einschlägigen Forderungen und Grundsätzen der Vereinten Nationen. Zwar stellt die UN-Menschenrechtserklärung von 1948 in ihrem 1. Artikel fest: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“. Allerdings ist diese Gleichheit zum Zeitpunkt der Geburt auch schon zu Ende, denn die Schere zwischen Armut und Reichtum geht immer weiter auseinander. Dieter Klein3, der sich auf eine Erhebung der US-Zeitschrift Forbes vom März 2008 und weitere offizielle Quellen, darunter das United Nations Development Programme (UNDP), bezieht, verweist darauf, dass weltweit 1.125 Milliardäre zusammen rd. 4.400 Mrd. US $ besitzen. Allein 25 amerikanische Milliardäre besitzen ein Vermögen, das dem von fast zwei Mrd. Menschen im Bereich der untersten Einkommensskala entspricht. Zu Recht nennt er den derzeitigen Zustand der Weltwirtschaft eine Ökonomie der Enteignung. Schon Samir Amin wies darauf hin, dass mit Ausnahme Indiens und Ostasiens in der gesamten vormaligen Dritten Welt die Wachstumsraten sinken – am schlimmsten im subsaharischen Afrika,4 wo – nach UN-Definition – 47% der Menschen »in extremer Armut« leben, sprich: täglich weniger als 1 US $ zur Verfügung haben.5

Armut ist aber nicht nur ein Zustand, sie ist auch ein (sich verschlimmernder) Prozess, und, vor allem, sie ist Ausdruck eines Gewaltverhältnisses: Jean Ziegler hat in seinem erschütternden Buch »Das Imperium der Schande« (2005, S.69-101) den Zusammenhang zwischen Verschuldung, Ausbeutung, Verarmung und vorzeitigem Tod überzeugend dargestellt. Dass auf unserem Planeten, der zehn Mrd. Menschen bequem ernähren könnte6, zwischen 37 und 50 Mio. Millionen Menschen jährlich an Hunger und Unterernährung sterben müssen, bezeichnet er als Massaker, als absichtsvolle Handlung in der »kannibalischen Ordnung« des Planeten. Wie ungenau die Zahlen sind, zeigt die Europäische Sicherheitsstrategie, die, gestützt auf Zahlen des Jahres 2001 von 45 Mio. Menschen spricht, die jährlich an Hunger sterben. Ihre Zahl ist, betrachtet man die Statistiken von UNDP und WHO, seither beträchtlich gestiegen. Aber dies ist offensichtlich keine »humanitäre Katastrophe«, sondern ganz normaler Teil der kannibalischen Ordnung unserer Welt, in der Finanzkapital und Profitinteresse die bestimmenden Größen sind und das Ihre zur spekulativen Steigerung der Nahrungsmittelpreise beitragen.

Der Anstieg der Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel wie Mais, Weizen, Reis, Sojabohnen und Speiseöl befindet sich in einem ungebremsten Aufwärtstrend (Magdoff 2008). Allein der Preis für Mais erfuhr zwischen Januar 2005 und Juni 2008 eine Verdreifachung (Fritz 2008). Die Gründe sind vielschichtig. Dazu gehören lt. Magdoff (2008) insbesondere die enorme Steigerung von Bio-Treibstoffen und die damit verbundene Reduzierung der Flächen für Nahrungsmittelanbau, die Steigerung der Nachfrage seitens der lateinamerikanischen und vor allem asiatischen Staaten, wo Indien und China von Selbstversorgern zu Importeuren wurden. Verschärft wird die Knappheit durch den zunehmenden Wegfall von Produktionsflächen in Folge des Klimawandels und der damit einhergehenden Versteppung. Hinzu kommt die Subventionierung der landwirtschaftlichen Produktion in den USA und der EU, deren Produkte auf den Märkten der Dritten Welt billiger sind als heimische.

Auch wenn dem spekulativen Kapital keine intentionalen Handlungen mit dem Ziel der Vermehrung des Elends unterstellt werden können, so besteht doch ein Zusammenhang zwischen Profitsteigerung und der Steigerung von Armut: Allein spekulative Geschäfte haben 2008 weitere 20% bis 40% der Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel bewirkt – mit unmittelbaren Auswirkungen auf die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung.7 Andere Quellen sprechen von einem Viertel des Preisanstiegs, der auf spekulative Geschäfte zurückzuführen ist.8 Auch wenn die Krise der Finanzmärkte die Spekulation vorläufig zum Stillstand gebracht zu haben scheint, ist eine Trendumkehr der Nahrungsmittelpreise weltweit nicht zu erwarten.

Die Steigerung der Nahrungsmittelpreise hat in den vergangenen Jahren geradezu zu einer Explosion der Hungerrevolten geführt. Pedersen (2008) zählt allein für die Jahre 2007/2008 vierzig solcher Revolten. Dabei erfasst er nur jene, die auf nationaler Ebene von erheblicher Bedeutung waren, nicht mitgezählt werden meist kleinere lokale Aufstände (wie z. b. in Algerien), die in der Summe der Getöteten, Verletzten, Verhafteten durchaus den »nationalen« Revolten gleichkommen. Es ist kein Zufall, dass die übergroße Mehrheit dieser Revolten in afrikanischen Ländern stattfand, die im Armutsbericht des UNDP unter den Ärmsten der Welt rangieren. Auch die übrigen von diesen Revolten betroffenen Länder gehören in dieselbe Kategorie absoluter Armut wie Afghanistan, Bangladesh, Haiti. So ergibt sich eine eindeutige Relation auch zwischen Armut und Staatszerfall: Wo der Staat das Überleben seiner Bevölkerung nicht mehr sichern kann, wird die Staatsgewalt zunehmend erodiert. Die so genannten ethnischen Kriege sind also weniger Ausdruck ideologischer Irrationalität als Folge extremer materieller Not, die sich durchaus in ethnischen Dimensionen artikulieren kann. Nicht zufällig finden sich in unserem Sample der untersuchten Konflikte drei dieser Staaten: Elfenbeinküste, Haiti und Somalia. Eines der am schwersten betroffenen Länder, das allerdings nicht in dieser Aufzählung auftaucht, ist Niger: Der dortige Konflikt ist (noch) nicht auf der internationalen Tagesordnung. Der Fall wurde ausgewählt, weil der dortige Konflikt inzwischen eine bürgerkriegsähnliche Dimension angenommen hat, aber auch weil aufgrund der sich verschärfenden Rivalitäten um die Rohstoffe des Landes eine Internationalisierung bevorstehen könnte, die – dann – den Konflikt auf die internationale Agenda bringen dürfte.

Was aber bedeutet Armut? Es mag verblüffen, dass gerade die Weltbank die wohl umfassendste Definition von Armut liefert: „Armut bedeutet Hunger; Armut ist Obdachlosigkeit; Armut bedeutet krank und nicht in der Lage zu sein, einen Arzt zu konsultieren; Armut bedeutet keinen Zugang zu Schulbildung zu haben und nicht lesen zu können; Armut ist Arbeitslosigkeit; Armut bedeutet Furcht vor der Zukunft, Armut bedeutet von der Hand in den Mund zu leben; Armut ist, ein Kind auf Grund des Mangels an sauberem Wasser zu verlieren; Armut ist Machtlosigkeit; Mangel an Repräsentanz und fehlende Freiheit“.9Armut ist stillschweigend und schon fast selbstverständlich hingenommene Grundlage unserer Ordnung, die gekennzeichnet ist durch eine Ökonomie der Enteignung, zu der insbesondere die internationalen Finanzinstitutionen einen entscheidenden Beitrag leisten. Da (wachsende) Armut struktureller Teil der Welt-»Ordnung« ist, kann sie auch nicht Gegenstand einer »humanitären Intervention« sein. Allerdings sind solche Interventionen im Falle von ihr ausgelöster Konflikte dann möglich, wenn »unsere Interessen« betroffen sind – wie die ESS, das deutsche Verteidigungsweißbuch und die Verteidigungspolitischen Richtlinien (schon 1992!) belegen. Der industrialisierte Norden verbraucht mit 12% der Weltbevölkerung 80% der Ressourcen des Planeten und stößt 60% des das Klima verändernden CO² aus. Folge sind: Versteppung, Anwachsen der Wüsten, Verlust von Acker- und Weideland. Hohe Aufmerksamkeit finden diese Prozesse allerdings in der strategischen Planung10, wo sie als Bedrohung der Sicherheit des industrialisierten Nordens wahrgenommen werden. Folgerichtig werden von der herrschende Produktionsweise geschaffene Probleme wie der Klimawandel und seine Folgen, durch Armut und Elend ausgelöste Migration, versicherheitlicht, das heißt: sie werden nicht an ihren Ursachen angegangen, sondern zum Gegenstand von Sicherheitspolitik gemacht. Indem sie zu Bedrohungen »unserer« Sicherheit erklärt werden, wird das Militär zum Instrument der Bearbeitung von Krisen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Ursprungs. Hier liegt das Geheimnis der »ultima ratio« der Konfliktbearbeitung: Die zu Bedrohungen umdefinierten Folgen des Elends mit all ihren schrecklich innerstaatlichen Erscheinungen werden auf Phänomene reduziert, die nur noch mit Gewalt lösbar sind.

Januskopf Europa

Auf dem EU-Gipfel in Laeken, der den Prozess für eine europäische Verfassung initiierte, gab die EU eine Erklärung zu ihrem Selbstverständnis ab, in der es u.a. heißt: „Nun, da der Kalte Krieg vorbei ist und wir in einer globalisierten, aber zugleich auch stark zersplitterten Welt leben, muss sich Europa seiner Verantwortung hinsichtlich der Gestaltung der Globalisierung stellen. Die Rolle, die es spielen muss, ist die einer Macht, die jeder Form von Gewalt, Terror und Fanatismus entschlossen den Kampf ansagt, die aber auch ihre Augen nicht vor dem schreienden Unrecht in der Welt verschließt. Kurz gesagt, einer Macht, die die Verhältnisse in der Welt so ändern will, dass sie nicht nur für die reichen, sondern auch für die ärmsten Länder von Vorteil sind.“11Europa als Zivilmacht – wie könnte das aussehen (Derrid/Habermans 2003)? Corinna Hauswedell hat schon 2004 gefordert (Hauswedell 2004), die Glaubwürdigkeit einer Politik zu erhalten, für die die Wahrnehmung der EU bisher weltweit steht und die ihrer eigenen Geschichte als wirtschaftliche und Verhandlungsmacht entspricht. Als Kernelemente einer solchen Zivilmacht sind zu nennen:

In den VN das politische (und moralische) Gewicht der EU einzubringen. Die EU verfügt über zwei Ständige Sitze im UN-Sicherheitsrat und stellt mit 27 Mitgliedern einen großen und potenten Block in der Vollversammlung.

Statt der Militarisierung der GASP könnte die EU einen entscheidenden Schritt zur Stärkung der Effizienz des UN-Systems vollziehen, indem sie Art. 47 der Charta zu realisieren sucht und auf die Bildung eines Generalstabs beim UN-Sicherheitsrat drängt und diesem (Teile ihrer) Truppen unterstellt.

Auf der Grundlage der von den Generalsekretären der UN entwickelten Agenden für Frieden und Entwicklung könnte gerade die EU andere – zivilmächtige – Strategien entwickeln, die eine friedensorientierte Außenpolitik Realität werden lassen könnten. Diese wäre zugleich eine nachhaltigere Sicherheitspolitik als sie über das Militär als Bedrohungsinstrument erreichbar ist.

Eine im Umfang zu steigernde, als Konfliktprävention im Sinne des Abbaus struktureller Gewaltverhältnisse verstandene Entwicklungspolitik müsste Grundlage einer solchen als Friedenspolitik gedachten Außenpolitik sein.

Eine auf die Durchsetzung auch der materiellen Menschenrechte und der Demokratie orientierte Politik, wie sie z. T. in der Europäischen Initiative für Demokratie und Menschenrechte festgeschrieben ist12, wäre ein effektiveres Mittel im Kampf gegen den immer wieder beschworenen Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln als die willkürliche und völkerrechtswidrige Anwendung von Gewalt dort, wo kurzfristige Interessen dies zu gebieten scheinen.13

Die Umsetzung einer solchen Strategie in konkrete Politik und ihre sichtbaren Erfolge könnten schließlich, wie der Neo-Realist Stanley Hoffmann schreibt, einen zivilisierenden Einfluss auch auf die US-Außenpolitik haben14, da diese wahrscheinlich nach einem Machtverlust der Neo-Konservativen nicht für immer als der internationale Akteur erscheinen wollen, der nur mit brutaler Gewalt seine Politikziele verfolgt.

Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Jenseits ihres Friedensdiskurses baut die EU systematisch ihre militärische Interventionsfähigkeit aus. Dies beweisen die Militarisierungsbestimmungen des Verfassungsentwurfs und des Vertrags von Lissabon. In geradezu grotesker Weise bringt die am 12. Dezember 2003 beschlossene Europäische Sicherheitsstrategie das Dilemma, in dem sich die Welt befindet, in ihrer Lageanalyse auf den Punkt: „Seit 1990 sind fast vier Millionen Menschen – zu 90% Zivilisten – in Kriegen ums Leben gekommen. Weltweit haben über 18 Millionen Menschen wegen eines Konflikts ihr Heim verlassen. In weiten Teilen der dritten Welt rufen Armut und Krankheiten unsägliches Leid wie auch dringende Sicherheitsprobleme hervor. Fast drei Milliarden Menschen und damit die Hälfte der Weltbevölkerung müssen mit weniger als zwei Euro pro Tag auskommen.“ (ESS 2003).15

Was aber folgt daraus? Nach der lapidaren Feststellung, dass „Sicherheit … Vorbedingung für Entwicklung“ sei, kommt die ESS zur Sache: „Die Energieabhängigkeit gibt Europa in besonderem Maße Anlass zur Sorge.“ Und es folgt die all diesen Papieren gemeinsame, gebetsmühlenhafte Aufzählung der Bedrohungen, die da sind: Der Terrorismus, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, das Scheitern von Staaten, die organisierte Kriminalität. Es mag bezweifelt werden, ob die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität Sache des Militärs sein kann, sie gehört zu den polizeilichen Aufgaben eines Staates. Der Versuch zur Wiederherstellung von Staatlichkeit in »gescheiterten Staaten« ist primär Aufgabe der Gesellschaften selbst (s. Somalia) und einer – gerechteren! – Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik, nicht aber des Militärs, wie auch unsere Fallstudien eindeutig zeigen. Was schließlich die Verbreitung der Massenvernichtungswaffen angeht, so fände sie schnell ein Ende, wenn die Atomwaffenstaaten – allen voran die fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats – endlich den Art. VI dieses Vertrages umsetzten und selbst zu „einer allgemeinen und völligen Entwaffnung“ im Bereich dieser fürchterlichen Waffen beitrügen.16

Die ESS ist ein Paradebeispiel für die »Versicherheitlichung« der weltweiten Resultate kapitalistischer Entwicklung: Die Auswirkungen des ökonomischen und ökologischen Raubbaus, seine Folgen wie Unterdrückung, Elend und Armut, die jüngste Debatte über den Klimawandel, Versteppung und Anstieg des Meeresspiegels werden subsumiert unter den Begriff der »neuen Risiken«, die insgesamt zu Sicherheitsproblemen erklärt werden – womit dann automatisch die Zuständigkeit des Militärs beschworen werden kann. Da ergibt sich dann fast zwingend die Feststellung: „Im Zeitalter der Globalisierung können ferne Bedrohungen ebenso ein Grund zur Besorgnis sein wie näher gelegene. … Die erste Verteidigungslinie wird oftmals im Ausland liegen.“

Der offensive Charakter der ESS wird auch an anderer Stelle deutlich: „Wir müssen fähig sein zu handeln, bevor sich die Lage in Nachbarländern verschlechtert. … Durch präventives Engagement können schwierigere Probleme in der Zukunft vermieden werden.“ Deutlicher noch als die amerikanische Nationale Sicherheitsstrategie von 2002 (US Government 2002), in der von „präemptiven Maßnahmen“17 die Rede ist, beansprucht hier die EU ein Recht auf präventive Gewaltanwendung in den internationalen Beziehungen, die in Art. 2 Abs. 4 der Charta der Vereinten Nationen eindeutig verboten ist. Diesem Widerspruch entgeht die ESS durch eine nur scheinbar elegante Formulierung: „Wir sind der Wahrung und Weiterentwicklung des Völkerrechts verpflichtet.“

Wahrung und Weiterentwicklung des Völkerrechts? Von »Wahrung« kann wohl nicht die Rede sein – also geht es um Weiterentwicklung. Diese geht aber genau dort hin, wo die Welt sich vor der Verabschiedung der Charta befand: In die Anarchie der Staatenwelt, wo das ius ad bellum, das Recht auf Kriegführung, das vornehmste Attribut von Staatlichkeit war. Die EU verweist auf die Charta der Vereinten Nationen mit der Formel, dass diese „den grundlegenden Rahmen (bildet)“. Sie vermeidet so eine eindeutige Formulierung, die heißen könnte und müsste »im Einklang mit den Bestimmungen der Charta«. Die EU als »global player« gibt sich nicht damit zufrieden, nur Schrittmacher für globale Unternehmensstandards zu sein und Weltmarktführer zu werden.18 Der Deregulierung der Märkte und der erkämpften sozialen Standards entspricht die Deregulierung des Völkerrechts.19

Als Interventionsgründe bemühte die EU bisher vor allem Menschenrechtsverletzungen und Fragen der Sicherung der Demokratie: Neben dem Balkan agierte sie vor allem in Afrika: Die »Operation Artemis« in Bunia/Kongo war die erste Intervention, die ausschließlich mit eigenen Kräften und erstmals unter einem rein europäischen Oberkommando ohne NATO-Unterstützung stattfand. Dasselbe gilt für die Intervention des Jahres 2005 in diesem Land, die mit der Sicherung demokratischer Wahlen begründet wurde. Die jüngste Intervention (Eufor) begann 2007 im Tschad, an der neben zahlreichen anderen europäischen Ländern auch 200 österreichische Soldaten beteiligt sind.20

Ein grundlegender Zusammenhang zwischen Armut und Krieg bzw. gewaltsamen Konflikten, wie ihn auch die Agenda für Entwicklung benennt, kann kaum geleugnet werden. Eindeutig belegt wird er in den von uns untersuchten Fällen Elfenbeinküste, Haiti, Niger und Somalia. Unterschwellig präsent ist er in den Fällen Kosovo, wo der ökonomische Niedergang Jugoslawiens die ethnischen Konfliktpotenziale anheizte; Ost-Timor, wo der Kolonialismus seine Spuren hinterlassen hat; und in Nordirland, wo die systematische Benachteiligung der katholischen Bevölkerung Konflikt auslösend war. Dieser Konflikt konnte außerhalb des UN-Systems gelöst werden.

Afrika – verlorener Kontinent oder Objekt der Begierde

Es scheint kein Zufall zu sein, dass gerade in den afrikanischen Fällen Elend, Gewalt und »Staatszerfall« signifikant korrelieren. Die schwarzafrikanischen Gesellschaften und die dort bestehenden Großreiche wurden bereits durch den transatlantischen Sklavenhandel nachhaltig zerstört, der diese Gesellschaften zwei Jahrhunderte lang vor allem der arbeitsfähigen jungen Männer beraubte. Der Kolonialismus wütete im belgischen Kongo mit systematischem Massenmord. Auch der deutsche Kolonialismus beging nicht nur den Völkermord an den Herero und Nama in »Deutsch-Südwest«, beim Bau der Eisenbahn von Duala nach Yaunde in Kamerun kamen so viele Menschen ums Leben, dass Arbeitskräfte aus Namibia zum Ersatz herangeschafft werden mussten.

Dieser geplünderte Kontinent besaß nicht die Spur wirtschaftlicher Autonomie, als 1960 die überwältigende Mehrheit der afrikanischen Staaten ihre Unabhängigkeit erhielt. Seitdem fanden im subsaharischen Afrika über 200 Staatsstreiche statt, 191 Staatschefs wurden mit Gewalt vertrieben. Seit 1970 fanden mindestens 35 Kriege statt, im Jahre 2003 befanden sich gleichzeitig 15 afrikanische Länder in einem Krieg (Bouquet 2005, S.6). Jenseits der katastrophalen wirtschaftlichen Lage sind die von den Kolonialmächten gezogenen künstlichen Grenzen ein ständiger Faktor von Konflikten und Destabilisierung, wie auch die drei afrikanischen Fallstudien zeigen.

Nicht zufällig ist es immer wieder die Demokratische Republik Kongo (vormals Zaire), in der sich wie in einem Brennglas das afrikanische Elend gepaart mit vielfältiger und brutaler Gewalt spiegelt: Schon die Unabhängigkeit unter Führung Lumumbas wurde hintertrieben, Lumumba selbst bestialisch ermordet. Der damalige UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld kam bei einem bis heute nicht aufgeklärten Flugzeugabsturz über dem Land ums Leben. Die Kupfer- und Diamantenkonzerne förderten die Sezession der an Rohstoffen reichen Ostprovinzen, im Kongo tummelten sich erstmalig brutale Söldner (Kongo-Müller, Bob Denard), der dann vom Westen unterstützte Diktator Mobutu plünderte das Land auf eigene und der Konzerne Rechnung. Für die EU war das Land Ziel ihrer ersten ohne NATO-assets durchgeführten Operationen: »Artemis« in Bunia (2006) und die Sicherung der Wahlen im Jahre 2006, die dann den vom Westen präferierten Kriegsverbrecher Kabila auf den Präsidentenstuhl brachten, gegen den Kriegsverbrecher Bemba. Die Kämpfe im Osten, getragen von Warlords, die mit Ruanda und den Interessen internationaler Konzerne verwoben sind, ebbten nie ab und fanden jüngst einen neuen Höhepunkt, der den französischen Außenminister Kouchner veranlasste, eine weitere bewaffnete Intervention der EU zu fordern (ausführlich: FAZ 31. Okt. 2008, S.5).

Der Ressourcenreichtum des Kontinents bringt Afrika zunehmend ins öffentliche Interesse: Die USA haben ihn zum Teil der »Greater Middle East« erklärt und ein neues Oberkommando für Afrika, Africom, gegründet (Ruf 2008). Bundespräsident Köhler widmet ihm besondere Aufmerksamkeit, Minister Glos bereist die wichtigsten Länder, Angela Merkel besucht Algier. Frankreich macht den – auch militärischen – Versuch, seine »angestammten« Interessen vor den Akteuren der Globalisierung und in erster Linie vor dem Zugriff der USA zu schützen. Dies zeigen nicht nur die Gründung von Africom, sondern auch die französischen Interventionen in Tschad und Elfenbeinküste wie auch Darfur, nicht zuletzt weil der Sudan einer der wichtigsten Öl-Lieferanten Chinas ist.

Fazit

1. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts entwickelten die NATO und ihre Mitgliedstaaten neue Bedrohungsszenarien, die von so genannten neuen Risiken ausgehen. Diese spiegeln sich nicht nur in der NATO-Sprache wider, sondern auch in den zeitgleich (1994) erschienenen Verteidigungs-Weißbüchern Deutschlands, Frankreichs und Groß-Britanniens. Diese neuen Risiken – Ökologie, Migration, internationale Kriminalität, Terrorismus – sind nichts Anderes als die extremen Reaktionen von Menschen und Natur auf den von Profitinteressen vorangetriebenen rücksichtslosen Raubbau. In dem Maße, in dem die Klimakatastrophe sichtbar und fühlbar wird, wird auch dieses Problem nicht an seinen Ursachen angegangen, nein, es wird versicherheitlicht. Probleme, die ökonomischer und sozialer Natur sind, die militärisch gar nicht bearbeitet werden können, sondern in Teilen allenfalls Aufgaben der Polizei sein können, werden zu einem Aufgabengebiet des Militärs umdefiniert. Dies ist der elegante Schachzug, der – lange vor einer (humanitären) Intervention – unser Denken auf jene »ultima ratio« militärischen Handelns programmiert. Damit wird das Denken in nicht-militärischen Kategorien von vornherein ausgeschlossen, Dieser Kurzschluss im Denken verhindert Fragen nach den Ursachen und vermeidet die unangenehme Suche nach friedlichen und strukturellen Mitteln.

2. Es ist das Elend, das Gewalt produziert. Nichts unterstreicht dies deutlicher als die Verhältnisse in Afrika. Eine unmittelbare Kausalbeziehung zwischen Armut und Elend einerseits und Gewalt und Staatszerfall andererseits ist zwar nicht eindeutig nachweisbar. Dennoch ist die Häufigkeit von Konflikten und Staatszerfall gerade in Afrika und die dortige extreme Armut ebenso wie analoge Verhältnisse in den übrigen extrem armen Ländern ein eindeutiges Indiz: Wo extreme Armut herrscht, zerbrechen staatliche Strukturen, Gesellschaften versinken in Gewaltökonomien. Die dies verursachenden alltäglichen »humanitären Katastrophen«, die kannibalische Ordnung (Ziegler), werden jedoch weder in den Medien noch in der Politik thematisiert. Statt militärischen »State-and Nation-Buildings«, die bisher nirgendwo erfolgreich waren, wären Maßnahmen zur Sicherung von ökonomischen und sozialen Mindeststandards notwendig. Die Fälle Haiti, Somalia, Elfenbeinküste, Osttimor und vor allem Niger unterstreichen das.

3. Wir im industrialisierten Norden zeigen mit moralischer Empörung auf die Gräuel im Süden, die doch Resultat »unserer« Politik sind. Es ist bezeichnend und irritierend zugleich, dass die herrschende Politik im Allgemeinen und der Sicherheitsrat im Besonderen nur die »humanitären Katastrophen« in den Blick nehmen, in denen bewaffnete Gewalt in Erscheinung tritt und in die Interessen der großen Mächte impliziert sind. Die diesen zugrunde liegenden historischen und ökonomischen Ursachen bleiben systematisch ausgeblendet. Nirgendwo finden sich Hinweise auf Erkenntnisse und Resolutionen jenes anderen, wichtigen Organs der UN, des Wirtschafts- und Sozialrats ECOSOC oder auf die Studien des UNDP. So verkommen die von diesen Gremien beschlossenen Maßnahmen meist zu rein politisch-kosmetischen Empfehlungen

4. Nur mediatisierte Konflikte geraten in den Blick der Öffentlichkeit, vor allem wenn sie »unsere« Interessen tangieren und wenn sie mit Scheußlichkeiten garniert werden können. Somalia ist hierfür geradezu ein Paradebeispiel: Die Operation »Restore Hope« machte den Konflikt zum zentralen Medienereignis. Das tägliche Leiden und Sterben Hunderttausender Menschen dort ist seit mehr als 15 Jahren kaum mehr der Erwähnung wert – ganz anders als die Akte der Piraterie vor der Küste des Landes, da diese den »freien Welthandel« und »unsere« Rohstoffzufuhr gefährden könnten. Dass die Piraterie vor Somalias Küsten auch eine Folge der Überfischung durch die internationalen Fangflotten und der Existenznot somalischer Fischer ist, wird bestenfalls am Rande thematisiert. Auch diese Form der Gewalt ist Folge des Zerfalls von Staatlichkeit (Petretto 2008). Der Aktionismus militärischen Eingreifens mit dem Ziel des »Friedensschaffens« und »Friedenserzwingens« erzeugt Publizität, die von den Konfliktursachen ablenkt.

5. Vieles deutet darauf hin, dass Konflikte dann zu massiver Gewaltanwendung eskalieren, wenn ausländische Interessen involviert sind. Auch der Völkermord in Ruanda ist nicht vom Himmel gefallen, sondern gehört zweifelsfrei in diese Kategorie, wie inzwischen nachgewiesen ist (Coquio 2008, Grund 2008). Dies gilt auch für die von uns untersuchten Konflikte in Haiti, Somalia, Elfenbeinküste, Kosovo und Niger. Es kann daher kein Zufall sein, wenn in der neuen Form des Interventionismus gerade die interessierten Mächte sich um ein Mandat zur »Friedensschaffung« bemühen – und dies dann vom UN-Sicherheitsrat erhalten (Elfenbeinküste, Tschad).

6. Richtig ist: Jedes Menschenleben ist wertvoll, und es wäre zynisch, die geringere Zahl von Toten in Gewaltkonflikten gegen die Masse der von der »kannibalischen Ordnung« gemordeten Menschen aufrechnen zu wollen. Deshalb schließen wir – wie Jöst/Strutynski zeigen – Interventionen mit bewaffneten Kräften nicht grundsätzlich aus. Sie sollten sich in akuten Notfällen allerdings am alten Blauhelmkonzept orientieren – oder aber: Der Art. 47 der UN-Charta müsste endlich umgesetzt werden! Hier hätte die EU ein Beispiel setzen können, indem sie ihre »battle groups« unter die Autorität des Sicherheitsrats gestellt hätte. Seit Ende der Bipolarität nehmen jedoch die »robusten« Einsätze von Staaten zu, die über »robuste« Mittel verfügen. Zugleich verweigern diese Staaten beispielsweise der Afrikanischen Union (AU) dringend benötigtes militärisches Gerät für vom UN-Sicherheitsrat mandatierte Aktionen: Zu Recht beklagt der ehemalige Sondergesandte der AU für Darfur, dass kein UN-Mitgliedsstaat bisher bereit war, einen der 18 angeforderten Hubschrauber für die UN-Mission der AU zur Verfügung zu stellen (Salim 2008). Nichts illustriert besser die Diskrepanz zwischen Rhetorik und realen Interessen der großen (und gerade auch der europäischen) Mächte. Die untersuchten Fälle zeigen, dass der Sicherheitsrat (Haiti, Elfenbeinküste, Somalia, aber auch Tschad oder DR Kongo) zunehmend zum Mandatserteiler auf Bestellung wird: Damit legitimiert der Sicherheitsrat unilaterale Interessendurchsetzung, die nichts anderes ist als eine neue Form von Imperialismus und letztlich die UN selbst delegitimiert. Wer vor diesem Hintergrund eine »Responsibility to Protect« einfordert, ist entweder zynisch oder verschleiert seine oft genug imperialistischen Interessen.

7. In keinem Falle bringt die »ultima ratio« des Militärs eine Lösung – bestenfalls kann sie Konflikte unterdrücken. Sie ist auch gar nicht die »ultima ratio«, sondern bestenfalls die »ratio simplissima«, eine Reaktion auf Gewalt mittels noch mehr und besser ausgestatteter Gewalt. Notwendig wäre aber eine »prima actio« auf sozialer und ökonomischer Ebene, die allerdings Eingriffe nicht nur in »zerfallenden Staaten«, sondern vor allem in die Handlungsfreiheit der »global players« erfordern würde: Handlungsbedarf besteht nicht auf der Ebene militärischer Gewalt, sondern auf der Ebene der politischen Steuerung und Kontrolle von Profitinteressen und einer an den Bedürfnissen der Menschen orientierten Entwicklungspolitik! Die Konfliktursachen sind bekannt und sich anbahnende massive gewaltsame Konflikte – nicht nur in Niger – absehbar. Von »codes of conduct« für Firmen bis zum Kap VI der UN-Charta steht ein ganzes Arsenal von Handlungsmöglichkeiten bereit, um präventiv Krisen zu bewältigen, bevor sie in Gewalt umschlagen.

8. Neben langfristigen strukturellen Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und Elend und zur Etablierung eines gerechteren Welthandels und des Abbaus der Exportorientierung der Dritte-Welt-Ökonomien müssten die BRD und die EU sofort handeln und in den UN darauf hinwirken, dass

Vorrangig alle Möglichkeiten der UN nach Kap VI, VIII und X der Charta ausgeschöpft werden, bevor zur so genannten ultima ratio gegriffen wird,

Europäische und internationale Firmen auf die Regeln des »global compact« verpflichtet werden und deren Einhaltung von der EU strikt überwacht werden,

Subventionierte Agrarprodukte nicht weiterhin die einheimische Agrarproduktion zerstören,

Freihandelsabkommen zwischen ungleichen Partnern abgelehnt werden, zumindest aber Schutzklauseln für die einheimischen Kleinen und Mittleren Unternehmen enthalten, besser noch: Schutzzölle auf den Import billiger industrieller Fertigwaren zulassen,

Die Formel von der »Hilfe zur Selbsthilfe« ernst genommen und unter primärer Verantwortung der Regierung in den jeweiligen Staaten umgesetzt wird,

Die Militarisierung der Entwicklungshilfe durch CIMIC beendet wird und Entwicklungshilfe im Sinne des Vorstehenden praktiziert wird,

Blauhelme nur in extremen Fällen und unter strikter Einhaltung der oben genannten Bedingungen zum Einsatz kommen.

Literatur

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Anmerkungen

1) In Osttimor ist zwar die Dekolonisierung endlich gelungen, inwieweit sie in eine dauerhafte Staatlichkeit mündet, ist jedoch offen.

2) Wichtige Vereinbarungen, die einen rechtlichen Rahmen im Bezug auf Kriegseintritt und Kriegsführung darstellen, sind: die Genfer Konventionen (1864), die Haager Friedenskonferenzen (1899 und 1907), der Briand-Kellogg-Pakt (1928), die Völkerbundsatzung und die Charta der Vereinten Nationen (1945).

3) Klein, Dieter: Wo bleibt der Reichtum? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7/2008 S.85-93, hier S.87.

4) Amin, Samir: Das Reich des Chaos, Hamburg 1992, hier S.37f.

5) Population Division of the Department of Economic and Social Affairs of the United Nations Secretariat, World Population Prospects: The 2006 Revision and World Urbanization Prospects: The 2005 Revision, http://esa.un.org/unpp, 05.02.2008; The Millennium Development Goals report 2007 update, United Nations, UN Department of Public Information, New York, June 2007.

6) Diese in der Literatur immer wiederkehrende Zahl problematisiert allerdings nicht, ob eine solche Produktionssteigerung auch ohne den enormem Einsatz von fossiler Energie und chemischer Produkte zu erreichen wäre.

7) Klein, Dieter: Armut ohne Ursachen, Reichtum mit Intimschutz; in: Neues Deutschland 31. Mai/1. Juni 2008, S.22.

8) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,583990,00.html [19-10-08].

9) Understanding poverty http://go.worldbank.org/RQBDCTUXW0 [21-07.2008]. Aus dem Englischen W. R.

10) Dupont, Alan: Climate Catastrophe? In: Survival vol. 50, Nr. 3, Juni-Juli 2008, S.29-54.

11) The Laeken Declaration on the Future of the Euroean Union. In: Institute of Security Studies: Chaillot Paper Nr. 51, From Nice to Laeken. European Defence: Core Documents. Paris 2002, S.113f. Aus dem Englischen W.R.

12) European Initiative for Democracy and Human Rights Programming Document 2002-2004 Commission staff working document. S. auch die Programmierung für 2005-2006: http://ec.europa.eu/europeaid/where/worldwide/eidhr/documents/eidhr-programming-2005 [22-10-08].

13) Ausführlich zu dieser Argumentation s. Ruf, Werner: Amerikanischer Unilateralismus und europäische Unfähigkeit? Grenzen und Chancen einer zivilen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik; in: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg.): Europa Macht Frieden, Münster 2003, S.130-143.

14) Hoffmann, Stanley: Clash of Globalizations; in: Foreign Affairs, Nr. 4 (Juli-August) 2002, S.104-115.

15) Diese Zahlen aus der ESS dürften inzwischen längst überholt sein. Nicht enthalten sind in ihnen jene vielen tausend Menschen, die an den Außengrenzen der EU jährlich zu Tode kommen (vgl. Kiza, Ernesto: Tödliche Grenzen – Die fatalen Auswirkungen europäischer Zuwanderungspolitik. Berlin/Wien 2008).

16) Müller, Harald: Friedensgutachten 2007.

17) Als »präemptiv« gelten militärische Maßnahmen, die dann ergriffen werden, wenn ein Angriff unmittelbar bevor zu stehen scheint. Da dies mit Sicherheit nie zu beweisen ist, stehen solche Maßnahmen im Widerspruch zu Art. 2.4 und Art. 51 der UN-Charta.

18) Altvater/Mahnkopf, a. a. O., insbes. S.180-187.

19) Auf die im Völkerrecht heftig und kontrovers diskutierte neue Doktrin einer »Responsibility to Protect« kann hier nicht eingegangen werden. Sie kann allerdings durchaus verstanden werden als ein weiterer Angriff des Nordens auf den letzten Schutzschild staatlicher Souveränität im Süden.

20) http://www.zeit-fragen.ch/ausgaben/2007/nr48-vom-3122007/beteiligung-an-eu-truppen-im-tschad-eufor-mit-neutralitaet-unvereinbar [30-07-08].

Prof. em. Dr. Werner Ruf lehrte von 1982 bis 2003 Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel. Nadine Zollet, M.A. Politikwissenschaft/Soziologie, ist zur Zeit als pädagogische Mitarbeiterin im Bereich Freiwilligenkoordination beim Sozialen Friedens- dienst Kassel e.V. beschäftigt.

Osttimor/Timor-Leste: Erfolgreiches Beispiel für Konfliktbearbeitung?

von Nadine Zollet

Mit einer Fläche von 14. 604 qkm (einschließlich der Exklave Oecussi-Ambeno und der Inseln Atauro und Jaco) ist die Größe Osttimors vergleichbar mit der Schleswig-Holsteins. Insgesamt leben 925.000 Einwohner in Timor-Leste. Die Hauptstadt des Landes ist Dili. Der westliche Teil Timors gehört zu Indonesien.

Die am häufigsten gesprochenen Sprachen sind Tetum und Atoni. Tetum und Portugiesisch sind Amtssprachen. Die Bevölkerung Osttimors kann als »Mischbevölkerung« bezeichnet werden, da ein großer Teil der Bevölkerung seine Wurzeln in der Verbindung zwischen einheimischen Bevölkerungsgruppen und zugewanderten Portugiesen hat. 98% der Osttimoresen sind katholisch, 1% ist moslemisch und 1% protestantisch. Im Jahr 1970 lebten 98,4% Timoresen in Osttimor, nur 1,6% der Bevölkerung waren nicht-timoresischer Abstammung. Im Jahr 1999 hatte sich dieses Verhältnis stark gewandelt. Durch die fortschreitende Umsiedlung von Indonesiern nach Osttimor lag der Anteil der Nicht-Timoresen nunmehr bei 19%.

Kurzer geschichtlicher Abriss/Konflikthistorie

Nachdem sich Portugal 1974 aus Osttimor zurückzog, wurde das Land nach einer sehr kurzen Phase der Unabhängigkeit in den Jahren 1975/76 von Indonesien annektiert und seitdem als 27. Provinz verwaltet. Obwohl die Infrastruktur schwach ausgebaut war, funktionierte die Subsistenzversorgung der osttimoresischen Bevölkerung relativ gut. Importiert werden mussten allerdings Produkte wie Zucker, Mehl und Milch. Bereits 1975 war Kaffee das Hauptexportgut (80%). Die Erdöl-, Erdgas-, und Kupfervorkommen Osttimors wurden durch Portugal nicht genutzt. Jedoch erfolgten bis zum Jahr 1974 bereits verschiedene Explorationsbohrungen durch Erdölunternehmen. Die Erdölvorkommnisse befinden sich in der Timorsee, dort werden Ressourcen im Wert von 30 Milliarden US-Dollar vermutet (vgl. Seneviratne 2006).

Ab 1974 hatten sich drei wichtige politische Parteien in Osttimor herausgebildet. Die »Frente Revolucionaria do Timor Leste Independente« (FRETILIN) – sie trat für ein unabhängiges Osttimor ein und bediente sich vereinzelt marxistischer Rhetorik; die »Uniao Democratica Timorense« (UDT), die vorerst einen Autonomiestatus innerhalb eines föderativen Systems mit Indonesien, langfristig aber ein unabhängiges Osttimor anstrebte, und die unbedeutendere proindonesische »Associacao Popular Democratica Timorense« (APODETI). Nach der »Nelkenrevolution« 1974 und dem damit einhergehenden Zusammenbruch des portugiesischen Regimes entließen die neuen portugiesischen Machthaber fast alle ihre Kolonien in die Unabhängigkeit. In der Endphase der Kolonialverwaltung Osttimors bildeten UDT und FRETILIN zunächst eine Koalition, die die Bildung einer Regierung und ein unabhängiges Osttimor zum Ziel hatte. Gezielt spielte die indonesische Regierung die Parteien gegeneinander aus. Der durch die indonesische Regierung angetriebene Putsch der UDT gegen die FRETILIN mündete 1975 in einem Bürgerkrieg, aus dem die FRETILIN als Siegerin hervorging.

Die indonesische Regierung stand der bevorstehenden Unabhängigkeit Osttimors nicht positiv gegenüber und auch Australien äußerte diesbezüglich Bedenken. Begründet wurde dieses Verhalten unter anderem mit der Angst vor der Ausbreitung kommunistischer Regime in Südostasien1 (vgl. Münch-Heubner 2000, S.29). Nach dem Bürgerkrieg rief die FRETILIN am 28. November 1975 die Demokratische Republik Osttimor aus. Bereits im Dezember 1975 startete Indonesien eine Großoffensive zur Besetzung Osttimors und erklärte dieses am 17. Juli 1976, entgegen internationaler Proteste, zu seiner 27. Provinz (vgl. Fleschenberg 2006: S.144).

Dieses völkerrechtswidrige Vorgehen wurde von der UN nicht akzeptiert und in den Resolutionen des Sicherheitsrates kritisiert (vgl. S/RES/384 vom 22.12.75; vgl. S/RES/389 vom 22.04.1976). Portugal brach die diplomatischen Beziehungen zu Indonesien ab, andere Staaten hielten sich zurück, um die Beziehungen zu dem wirtschaftlich wichtigen Indonesien nicht zu gefährden (vgl. Forster 2005, S.79). Die indonesische Militärregierung Suhartos verwies zu ihrer Rechtfertigung auf die Aufforderung zur Intervention durch die pro-indonesisch orientierten Parteien Osttimors. Tatsächlich forderte die »Movimento Anti Communista« (MAC), in dem die »Uniao Demcratica de Timor« (UDT) und die eher unbedeutende proindonesische »Associacao Popular Democratica Timorense« (APODETI) zusammengeschlossen waren, am 30. November 1975 Indonesien zum militärischen Eingreifen auf (vgl. Münch-Heubner 2000, S.29).

Durch Berichte aus dem Jahr 2001 wird die Annahme bestätigt, dass die indonesische Invasion in Osttimor von der damaligen US-Regierung unter Präsident Ford und Außenminister Kissinger gebilligt, wenn nicht sogar begrüßt wurde (vgl. AG Friedensforschung). Somit steht die indonesische Invasion im Jahr 1975 in Verbindung mit dem geostrategischen und sicherheitspolitischen Agieren der Akteure im Zeichen der Blockkonfrontation. Jakarta war im Kontext der bipolaren Weltordnung ein verlässlicher, streng antikommunistischer Partner der USA (vgl. Schlicher/Flor 2003, S.254). Die durch die indonesische Invasion ausgelösten Kämpfe zwischen dem indonesischen Militär und der Widerstandsbewegung forderten bereits in den ersten zwei Jahren bis zu 80.000 Opfer. Für den Zeitraum der indonesischen Besatzung finden sich in der Literatur Opferangaben zwischen 200.000 und 250.000 (vgl. Evers 2001, S.8; vgl. Münch-Heubner 2000, S.30).

Das Ende der Ost-West Konfrontation lag bereits einige Jahre zurück und mit der einsetzenden Asienkrise 1997 und dem Ende des Suharto-Regimes im Jahr 1998 bot sich eine neue Möglichkeit, den Konflikt um Osttimor zu lösen. Der neue indonesische Machtinhaber Habibie verkündete bereits im Januar 1999, den Timoresen würde die Chance geboten, im Rahmen eines Referendums zwischen dem Verbleib bei Indonesien mit weitgehender Autonomie oder der Unabhängigkeit zu wählen. Ein Grund hierfür lag in der Finanzkrise Indonesiens. Die Truppenstationierung in Timor-Leste belastete den Staatshaushalt Indonesiens und um finanzielle Unterstützung und ausländische Investitionen zu erlangen, musste das internationale Ansehen Indonesien verbessert werden (vgl. FR 05.02.1999).

Wirtschaftliche, soziale und politische Lage

Seit der Unabhängigkeit wird Timor-Leste nach der Verfassung von 1992 als Präsidialrepublik regiert. Dem Parlament gehören 88 Mitglieder an, gewählt wird alle 5 Jahre.

Das amtierende Staatsoberhaupt ist der Friedensnobelpreisträger Jose Ramos-Horta, Premierminister der Ex-Präsident und Widerstandskämpfer Xanana Gusmao (FRETILIN) (seit 2007). Im September 2002 wurde Timor-Leste Mitglied der UN.

Durch die Ausschreitungen im Jahr 1999 wurden 70-90% der Schulen auf Osttimor zerstört. Darüber hinaus steht einer zahlreichen schulpflichtigen Generation ein Mangel an qualifizierten Fachkräften gegenüber (vgl Gödde 2004, S.21); die Analphabetenrate liegt bei über 50%. Die Wirtschaftsaktivitäten Osttimors gliedern sich wie folgt: 32% Landwirtschaft, 12,8% industrieller Sektor, Dienstleistungssektor mit 55% (2003). Im Jahre 2003 waren 80% der Erwerbstätigen im landwirtschaftlichen Sektor tätig. 50% der Bevölkerung sind schätzungsweise erwerbslos (vgl. CIA 2008). Exportprodukte sind vor allem Kaffee, der hauptsächlich nach Indonesien exportiert wird, und Erdöl. Weitere Exportpartner Osttimors sind die USA, Deutschland, Portugal und Australien. Importiert hingegen werden Nahrungsmittel.

Friedensanstrengungen, Eingreifen Dritter, Konfliktbewältigung

In den Jahren 1975 bis 1982 gab es neben den bereits erwähnten Resolutionen 384 und 389 weitere 8 Resolutionen. Portugal sorgte dafür, dass die Osttimor-Thematik bis 1982 auf der jährlichen Agenda der VN zu finden war. Die Generalversammlung legte in der Resolution 37/30 vom November 1982 fest, dass der Generalsekretär Gespräche mit den betroffenen Akteuren führt, um eine Lösung für das Osttimor Problem zu finden. 1982 wurden Gespräche über Osttimor zwischen Portugal und Indonesien aufgenommen, die aber in den folgenden Jahren ergebnislos blieben. Indonesien hielt daran fest, die Integration Osttimors als von den Timoresen akzeptiert und getragen darzustellen (vgl. Schlicher/Flor 2003, S.5). Im Juni 1995 fand das erste Treffen des »All-inclusive Intra East Timorese Dialogue (AIETD)« in Österreich statt (vgl. UN Press Release vom 20. Oktober 1997). Dieses Gesprächsforum gab neben den Drei-Parteien-Gesprächen Raum, um alle Facetten der politischen Meinungen der Osttimoresen vorzutragen und eine Vision über die Zukunft des Landes zu entwickeln.

Nachdem die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen Ende der 1990er Jahre eine Lösung des Konflikts begünstigten, mündeten die diplomatischen Bemühungen in dem »New Yorker Abkommen« zwischen Portugal und Indonesien vom 5. Mai 1999.

Parallel zu diesen Gesprächen arbeiteten die unmittelbar beteiligten Konfliktparteien, die FALINTIL (militärischer Arm der FRETILIN), das indonesische Militär und Vertreter der pro-indonesischen Milizen, ein Friedensabkommen aus. Dieses wurde international und vor allem von den Osttimoresen selbst sehr kritisch bewertet, da es keine Aussagen über die Entwaffnung der FALINTIL und der pro-indonesischen Milizen machte2 (vgl. FR 22.04.1999).

In dem »New Yorker Abkommen« wurde vereinbart, dass die Bevölkerung Osttimors die Möglichkeit bekommt, sich im Rahmen eines Referendums für einen Autonomiestatus unter Indonesien oder für einen eigenständigen, unabhängigen Staat zu entscheiden. Zur Durchführung des Referendums werde eine UN Mission eingerichtet, die freie und geheime Wahlen organisieren und durchführen sollte. Der indonesischen Regierung wurde im Rahmen des Abkommens die Aufgabe zugesprochen, während des Referendums und der Dauer der UN Mission die Sicherheit und öffentliche Ordnung in Timor-Leste zu garantieren. Für den Fall, dass sich die Bevölkerung Osttimors im Rahmen des Referendums für einen eigenen, unabhängigen Staat entscheidet, wurde festgeschrieben, dass Indonesien, Portugal und die VN einen Prozess in die Wege leiten, in dem die Annexion von 1976 rückgängig gemacht wird und die Hoheitsgewalt über Timor-Leste den VN übertragen wird. Die VN wiederum würde in solch einem Fall die Verwaltung übernehmen und Osttimor auf seine Unabhängigkeit vorbereiten (vgl. UN Agreement, 5. Mai 1999). Letzteres trat ein, die Übergangsverwaltungsmission UNTAET wurde am 25.10.1999 in der Resolution 1272 autorisiert.

Jürgen Dauth beleuchtet in seinem Aufsatz »Jakartas falsches Spiel« die Interessen der indonesischen Regierung, die im Zusammenhang mit der Zustimmung zu der Referendumsdurchführung stehen. Durch die von der indonesischen Regierung und dem Militär betriebene Vertreibung von Osttimoresen und die Ansiedlung indonesischer Bevölkerung bestand die Bevölkerung Osttimors, wie eingangs beschrieben, im Jahr 1999 zu 19% aus indonesisch stämmigen Bürgern. Das Angebot, im Rahmen eines Referendums zwischen einem Autonomiestatuts und der Unabhängigkeit Osttimors zu wählen, sieht Dauth als Strategie der indonesischen Regierung, da mit dieser Wahl eine Spaltung der pro-indonesisch orientierten und der unabhängigkeitsorientierten Bevölkerung einherging (vgl. FR 27.04.1999).

Internationale Dimension des Konflikts/Interessen externer Akteure

Die Betrachtung der Interessen der externen Staaten muss in zwei zeitliche Phasen eingeteilt werden: Die Phase während der Ost-West Konfrontation 1975-1990 und die Phase von 1990-2008. Die Vereinigten Staaten waren in der ersten Phase auf der Suche nach Bündnispartnern in Asien zur »Eindämmung des Kommunismus«. Indonesien war unter dem Antikommunisten Suharto ein solch verlässlicher Partner. Es erhielt entsprechend massive Militärhilfe von der amerikanischen, aber auch von der französischen und britischen Regierung (vgl. Howard 2008, S.269). Die US-Regierung lehnte die Annexion Indonesiens rhetorisch ab, jedoch war sie nicht gewillt, das geostrategisch wichtige Indonesien zu verprellen. Bei der Verabschiedung der Resolutionen aus dem Jahr 1975 und 1976, in denen das Vorgehen Indonesiens scharf kritisiert wurde, wohnten die USA lediglich der Sitzung im Jahr 1975 bei. Die Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates beschlossen keine Sanktionen, das völkerrechtswidrige Vorgehen Indonesiens hatte keine weiteren Konsequenzen.

Auch die 1967 gegründete »Association of Southeast Asian Nations« (ASEAN) war in der Osttimor Frage untätig. Das Bündnis wurde hauptsächlich von Indonesien dominiert. Zudem bestanden enorme Befürchtungen, dass ein unabhängiges Osttimor weitere Autonomie- und Sezessionsbestrebungen mit sich bringen könnte, bis hin zum Zerfall des Vielvölkerstaates.

Ausgelöst durch das Massaker von Santa Cruz, bei dem 1991 mehr als 270 Menschen starben, begann man sich innerhalb der EU mit der Osttimor Frage zu beschäftigen. Doch erst im September 1999 verhängten die Mitgliedsstaaten der EU ein viermonatiges Waffenembargo gegen Indonesien.

Die Unterstützung der FALINTIL-Kämpfer durch das kommunistische China ist nicht belegbar, Chinas Unterstützung für die Unabhängigkeit Osttimors nahm in den 70er Jahren stark ab (vgl. Howard 2008, S.269). Heutzutage sind Chinas Interessen im Bezug auf Timor-Leste hauptsächlich im wirtschaftlichen Bereich angesiedelt. Es wird eine rege Zusammenarbeit im Erdölsektor angestrebt. Insgesamt standen sich das (ehemals) blockfreie Indonesien und China nicht gerade nah. Eine militärische Intervention nicht-asiatischer Staaten in Osttimor war jedoch auch aus der Sicht der chinesischen Regierung nicht hinnehmbar. Das führte dazu, dass China im Bezug auf die Entsendung einer internationalen Eingreiftruppe damit drohte, von seinem Vetorecht im Sicherheitsrat Gebrauch zu machen. Ab September 1999 verhielt sich der chinesische Außenminister gemäßigter, rückte vom Veto ab und machte die Zustimmung der indonesischen Regierung zur Bedingung eines militärischen Einsatzes. Auffällig ist die Tatsache, dass diese Verhaltensänderung parallel zu den chinesisch-amerikanischen Verhandlungen über den WTO Beitritt Chinas stattfand.

Ein Hinweis für die Unterstützung der FRETILIN/FALINTIL durch die Sowjetunion könnte die Tatsache sein, dass die Sowjetunion als einziges Sicherheitsratmitglied kontinuierlich für die Unabhängigkeit Osttimors eintrat. Im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung bildeten sich Fronten zwischen Unabhängigkeitsbefürwortern und Indonesien-Unterstützern. Vor allem die ehemaligen Kolonien Portugals sprachen sich für die Unabhängigkeit Osttimors aus (vgl. Howard 2008, S.269).

Australien hingegen verfolgte eigene Interessen Indonesien und Osttimor betreffend. Es erkannte die völkerrechtswidrige Annexion Osttimors 1976 als einziger Staat an. Der Grund hierfür lag vor allem in seinen energiepolitischen Interessen. Zwischen Australien und Portugal war ein Streit um die Nutzung der Erdölressourcen in der Timorsee entbrannt. Mit Indonesien lief die Kooperation in diesem Bereich positiver, bereits Anfang der 1970er Jahre hatten sich Australien und Indonesien in einem Abkommen über die Erkundung des Meeresbodens durch die beiden Staaten geeinigt (vgl. Münch-Heubner 2000, S.53f.).

Zum Zeitpunkt der Asienkrise und des Regimewechsels in Indonesien Ende der 1990er Jahre war die Ost-West Konfrontation bereits beendet, die Sicherheitsstrategie der USA hatte sich geändert. Die subtile Unterstützung Indonesiens seitens der USA nahm mit dem Einbruch der asiatischen Wirtschaft Ende der 1990er Jahre und dem gewaltsamen Vorgehen pro-indonesischer Gruppierungen gegen die osttimoresische Bevölkerung weiter ab.

Als es im Sicherheitsrat um die Entsendung der multinationalen Schutztruppe INTERFET zur Wiederherstellung der Sicherheit in Osttimor ging, drohte neben China auch Russland mit einem Veto, falls dies ohne Zustimmung Indonesiens geschehen würde. Die US-Regierung hingegen drohte der indonesischen Regierung mit umfassenden Wirtschaftssanktionen, falls diese INTERFET nicht zustimmen würde. Ab diesem Zeitpunkt stellt Lisa Howard bezogen auf das Verhalten der Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates fest, gab es einen Konsens hinsichtlich der wesentlichen Problemlage und die Debatten waren nicht mehr scharf (vgl. Howard 2008, S.271).

In der Literatur lassen sich unterschiedliche Vermutungen über die Gründe Australiens finden, eine internationale Schutztruppe in Osttimor anzuführen. Eine australische NGO, die sich für die Unabhängigkeit Osttimors einsetzt, äußerte Bedenken hinsichtlich des australischen militärischen Engagements (INTERFET Truppen) in Osttimor. Australien verhält sich diesen Aussagen zufolge seit 1999 im Bezug auf die Festlegung der Seenutzungsrechte in der Timorsee nicht kooperativ. Seit 1999 habe Australien Einnahmen in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar aus der Förderung von Erdöl aus der Timorsee kassiert, im selben Zeitraum Hilfsgelder in Höhe von 300.000 Dollar an Osttimor gezahlt.

Portugal brachte den Fall 1991 vor den Internationalen Gerichtshof; dieser erklärte sich schlussendlich jedoch für nicht zuständig. Ein unabhängiges Osttimor würde jedoch die bereits bestehenden Verträge über die Ressourcenausbeutung in der Timorsee ungültig machen. Die Stationierung australischer Truppen könnte ein Kalkül der australischen Regierung sein, um gewissen Einfluss auf die osttimoresische Politik zu gewinnen. Der osttimoresische Premier Alkatiri betrieb in seiner Amtszeit von 2002 bis 2006 eine Politik, die darauf abzielte mit Partnern wie China, Malaysia und Brasilien eine Erdölgesellschaft zu etablieren. Diese Pläne widerstreben der australischen Regierung (vgl. Seneviratne 2006).

Der Streit um das Erdöl in der Timorsee konnte in der jüngeren Zeit partiell gelöst werden. Nach der Unabhängigkeit Osttimors wurden Verhandlungen zwischen UNTAET-Vertretern und Vertretern der australischen Regierung aufgenommen. Australien hat hierbei enorme Einbußen hinnehmen müssen. In dem »Timor Sea Treaty« von 2002 ist in Artikel 4a festgehalten, dass die Einnahmen aus der Ölproduktion zu 90% Osttimor gehören und nur zu 10% Australien. Die für Osttimor günstige Aufteilung der Einnahmen ist vor allem auf die Drohung von UNTAET-Vertretern zurückzuführen, den Fall erneut vor den IGH zu bringen. Die Verhandlungen hatten jedoch nur ein Gebiet zum Gegenstand, das 20% der Erdölvorkommnisse umfasst (vgl. Le Monde de Diplomatique vom 12.11.2004).

UN Aktivitäten in Osttimor

United Nations Assistance Mission to East Timor (UNAMET)

Um den sicheren und fairen Ablauf des Referendums zu gewähren, wurde am 11. Juni 1999 UNAMET mit der Resolution 1246 durch den Sicherheitsrat installiert. Die Resolution wurde einstimmig verabschiedet. UNAMET war keine »peacekeeping«-Mission, sondern eine Wahlbeobachtungsmission. Etwa einen Monat nach der Autorisierung durch den Sicherheitsrat hatte die Mission ihre komplette Aufstellung erreicht. UNAMET profitierte von erfahrenen Mitarbeitern, die bei dieser Mission herangezogen werden konnten. Sie besaßen Kenntnisse über die politischen Strukturen in der Region und verfügten über ausreichende Sprachkenntnisse. Darüber hinaus profitierte die Mission von einem japanischen Finanzierungsfond. An 200 durch die UN eingerichteten Registrierungspunkten konnten 451.792 wahlberechtigte Osttimoresen inner- und außerhalb des Landes registriert werden (vgl. UN: Press Release, 3. September 1999).

Das für den 8. August 1999 geplante Referendum wurde im Juni von der UN verschoben. UN-Generalsekretär Annan begründete den UN Beschluss mit der labilen Sicherheitslage in Osttimor (vgl. FR 24.06.1999). Offiziell bekannte Indonesien sich zwar zu der Verpflichtung zur Sicherheit beizutragen, tatsächlich aber gab es in den Monaten vor dem Referendum immer wieder Angriffe durch pro-indonesische Milizverbände (vgl. FR 18.05. und 06.07.1999). Im Juli wurde das Referendum auf den 30. August des Jahres terminiert. Am Wahltag herrschte eine weitgehend stabile Sicherheitssituation. Bei einer Wahlbeteiligung von 90% entschieden sich 78,5% der Osttimoresen für die Unabhängigkeit von Indonesien (vgl. UN: Press Release, 3. September 1999).

Auf die Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses folgte eine Gewaltwelle der pro-indonesischen Milizen. UN-Personal wurde überfallen, mehrere UN Mitarbeiter verloren ihr Leben. Die Frankfurter Rundschau berichtete, dass circa 55.000 Osttimoresen vor den pro-indonesischen Milizverbänden auf der Flucht seien und dass mindestens 170 Menschen getötet wurden (04.09.1999). Es wurden Vorwürfe laut, nach denen das indonesische Militär an den Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung beteiligt sei. Dies wurde Ende November 1999 von einer unabhängigen indonesischen Menschenrechtskommission bestätigt3 (vgl. FR 22.11.1999).

Die Gründe, die dazu führten, dass Indonesien im Rahmen des »New Yorker Abkommens« mit der Aufrechterhaltung der Sicherheit und öffentlichen Ordnung betraut wurde, sind bisher nicht öffentlich aufgearbeitet und die Frage wird innerhalb der wissenschaftlichen Literatur bisher nicht erörtert. Jedoch spricht alles dafür, dass die VN gegenüber dem neuen indonesischen Präsidenten Habibie ein Zeichen des Vertrauens setzten wollte. Tatsächlich ist auch nicht deutlich auszumachen inwieweit Habibie Einfluss auf das indonesische Militär und somit auch indirekt auf die pro-indonesischen Milizen hatte. Die Gewalt eskalierte, so dass die UN ihre Mitarbeiter abzog. Internationaler Protest und Vorwürfe gegen die indonesische Regierung wurden laut. Die Clinton Regierung warnte Indonesien vor wirtschaftlichen Konsequenzen, wenn Indonesien Timor-Leste nicht den Weg für den Transformationsprozess bereiten würde (vgl. FR 11.09.1999).

International wurden Stimmen laut, die eine internationale Friedenstruppe zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit forderten.4 Gusmao sorgte dafür, dass die FALINTIL der Gewalt durch die pro-indonesischen Milizen nicht mit Gegengewalt begegnete. „Indem sie nicht mit Gewalt antworteten, betonten die Osttimoresen ihre Stellung als Opfer und hofften darauf, dass diese einseitige Schlacht eine internationale Intervention zu ihren Gunsten notwendig erscheinen ließ“ (Howard 2008, S.267). Die indonesische Regierung beugte sich dem internationalen Druck und stimmte schließlich der Entsendung einer internationalen Truppe zu. Jakarta verlangte, dass die Truppe sich aus befreundeten Staaten zusammensetzten müsse. Demnach wäre die Teilnahme Australiens und der USA an INTERFET ausgeschlossen gewesen. Dieses Verhalten wurde durch den Sicherheitsrat stark gerügt. Da die UN die völkerrechtswidrige Annexion Osttimors durch Indonesien nie anerkannt hat, stellt die Entsendung einer internationalen Schutztruppe keineswegs eine Verletzung der territorialen Integrität bzw. Souveränität Indonesiens dar. Demnach habe Indonesien keinerlei Berechtigung bei der Zusammensetzung der Truppe mitzubestimmen.

Die internationale Schnelle Eingreiftruppe INTERFET wurde durch die UN am 15.09.1999 in der Resolution 1264 und unter Anlehnung an das Kapitel VII der UN-Charta sowie unter Achtung der „Souveränität und territorialen Unversehrtheit Indonesiens“ autorisiert. Der Sicherheitsrat äußert sich in der Resolution besorgt über die humanitäre Lage in Osttimor und stellt fest, dass die momentane Lage eine Bedrohung der Sicherheit und des Friedens darstellt (vgl. S/RES/1264, S.2).

Die Aufgaben INTERFETs umfassten die Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit in Osttimor, den Schutz der UNAMET Mission und die Unterstützung von UNAMET im Bereich der humanitären Versorgung. In Bezug auf Kapitel VII UN Charta ist folgender Wortlaut in der Resolution zu finden: „(…)und autorisiert die an der multinationalen Truppe beteiligten Staaten alle notwendigen Maßnahmen zur Erfüllung des Mandats zu ergreifen.“ In der Resolution ist weiterhin festgehalten, dass INTERFET nur übergangsweise autorisiert wird bis diese von einer Friedenstruppe der UN selbst abgelöst werden soll.

Von der Zustimmung Habibies am 12. September bis zur Verabschiedung der Resolution am 15. September und der Ankunft der ersten Truppen am 20. September vergingen gerade einmal 8 Tage. Trotz dieses schnellen Handelns trafen die INTERFET-Truppen auf ein bereits völlig zerstörtes Osttimor, bis zu 90% der Bevölkerung war vertrieben worden, circa 70% der Infrastruktur war zerstört (vgl. Schlicher/Flor 2003, S.252). Australien war die führende Nation der etwa 7.000 Mann umfassenden Truppe, daneben stellten Malaysia, die Philippinen, Südkorea, Brasilien, Frankreich, Deutschland, Norwegen, England, die USA und andere Staaten Soldaten.5 Die INTERFET-Truppen konnten die Sicherheitslage zügig stabilisieren. Ende September hatten sich die indonesischen Militärs weitgehend zurückgezogen und das Kommando über Osttimor an die UN abgegeben. Das Mandat von UNAMET endete am 25.10.1999. Am 19.10.1999 erkannte die indonesische Regierung das Unabhängigkeitsvotum an und die Folgemission UNTAET konnte ihre Arbeit aufnehmen. Am 21. Februar 2000 wurden die INTERFET-Truppen durch UNTAET-Blauhelmsoldaten ersetzt.

United Nations Transitional Administration in East Timor (UNTAET)

UNTAET stützte sich auf das Kapitel VII der UN-Charta und hatte ein sehr umfassendes, robustes Mandat, das bis zum 31. Januar 2001 befristet war. Autorisiert wurde ein maximaler Personaleinsatz von 9.150 Personen militärischen Personals und 1.640 zivilen Polizeikräften. Am 31. März 2002 umfasste UNTAET 6.281 militärisches Personal, 1.288 PolizistInnen, 118 Militärbeobachter, 737 Mann an internationalem zivilen Personal und 1.745 lokale zivile Mitarbeiter. Militärisches Personal entsandten 29 Staaten, unter ihnen Australien, USA, UK, Bangladesh, Philippinen und Japan. Ziviles Personal entsandten 39 Staaten, auch hierunter Australien, USA und UK sowie Staaten wie Österreich und Nepal (vgl. UN: UNTAET). Mit der Resolution 1338 vom 31. Januar 2001 wurde die Mission um ein weiteres Jahr verlängert. Darauf folgte die Resolution 1392, in der sie bis Mai 2002 verlängert wurde.

In Paragraph 2 der UN-Resolution ist festgehalten, dass zu den Aufgaben der UNTAET neben der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und der Entwicklung einer effektiven Verwaltung auch die Koordinierung von humanitären Hilfsleistungen und die Unterstützung von Projekten zum Wiederaufbau gehörte. UNTAETs Mission lag vor allem in der Assistenz zur Schaffung von Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Entwicklung Osttimors.

Der Bericht des Generalsekretärs vom 26.01.2000 macht deutlich, dass sich UNTAET angesichts der Zerstörung des Landes vorerst auf die Leistung von humanitärer Hilfe konzentrieren musste, um eine minimale Versorgung der Bevölkerung sicher zu stellen.

Der Aufbau einer funktionierenden Verwaltung kam dadurch nur stockend voran.

Der zu dieser Zeit noch bestehende und von Gusmao initiierte CNRT hatte nach dem Referendum vom August de facto die politische Kontrolle über das Land übernommen. In der Anfangsphase der Mission war von Seiten der UN keine wesentliche Beteiligung von osttimoresischen Akteuren geplant, was zu Auseinandersetzungen mit dem CNRT führte, bis dieser von den UN-Mitarbeitern als Repräsentant der Bevölkerung anerkannt und als Ansprechpartner für UNTAET akzeptiert wurde (vgl. Forster 2005, S.85ff.). Im Rahmen der Mission wurde der National Consultative Council (NCC) geschaffen. Ihm gehörten 15 Mitglieder an, darunter Vertreter des CNRT, anderer politischer Gruppierungen, der Kirche und UNTAET. Der NCC konnte keinen Einfluss auf Entscheidungen nehmen, seine Funktion war eine rein beratende. Bei den Vertretern politischer Parteien und in der gesamten Bevölkerung entwickelte sich Unmut wegen der geringen Beteiligung von Osttimoresen an der Verwaltung des Landes. Diese fühlten sich erneut »fremdbestimmt« (vgl. FR 09.06.2000). Für die Mission wurde größtenteils Personal aus dem Ausland rekrutiert, das ein Vielfaches von dem verdiente, was osttimoresisches Personal bekam.

Verwaltung

Nachdem der Ruf nach Beteiligung immer lauter wurde, strebte die UN nach schneller Beteiligung der Osttimoresen. Im Juli 2000 wurden das Transitional Cabinet (vgl. UNTAET/REG/2000/23) und der National Council (NC) installiert. Die beiden Institutionen stellten insgesamt eine Co-Regierung dar. Der Nationalrat trat an die Stelle des NCC; dieser verfügte mit seinen 33 ausschließlich osttimoresischen Mitgliedern über mehr Repräsentativität und hatte weitreichendere Kompetenzen als der NCC. Der NC sollte ein Forum für alle legislativen Angelegenheiten darstellen. Ihm wurde das Recht zugestanden, Verordnungen zu initiieren und zu ändern und er übte eine Kontrollfunktion auf die Exekutive aus, da Kabinettsmitglieder von ihm geladen werden konnten, um Rechenschaft vor dem NC abzulegen. Gusmao wurde zum Nationalratsvorsitzenden gewählt.

Im Rahmen der East Timor Transitional Administration (ETTA) wurden neun Ressorts eingerichtet: Wirtschaft, Soziales, Infrastruktur, Interne Verwaltung, auswärtige Angelegenheiten, Polizei, Justiz, Politische Angelegenheiten und Infrastruktur. Die ersten fünf Ressorts wurden mit Osttimoresen besetzt, die letzten vier durch UNTAET Mitarbeiter. ETTA war damit an die Stelle der Regierungs- und Verwaltungskomponente der UNTAET Mission getreten (vgl. Forster 2005, S.88; vgl. Howard 2008, S.277-281).

Polizei und Justiz

Fortschritte gab es beim Aufbau einer osttimoresischen Polizeieinheit. In Dili wurde durch CIVPOL6 eine Polizeischule eingerichtet und am Ende der Mission befanden sich bereits 1.793 Polizisten im Dienst. Auf der Führungsebene gab es jedoch Personalmangel, so dass 1.250 internationale Polizisten nach dem Ende der Mission im Land verblieben und der Aufbau der Polizeikräfte unter UNMISET fortgesetzt wurde. Ein großes Problem, mit dem UNTAET von Anfang an konfrontiert war, bestand in dem Mangel an geeigneten Fachkräften zum Aufbau eines funktionierenden Justizsystems. Da Osttimor über keine Universität verfügte und es nur wenigen Osttimoresen finanziell möglich war an einer ausländischen Universität zu studieren, stand kaum Personal mit juristischen Kenntnissen zur Verfügung. Dieses Problem ließ sich bis zum Ende der Mission nicht lösen (vgl. S/RES/2002/432: Par. 17). In dem Bericht vom 26. Januar 2000 äußert sich der Generalsekretär besorgt über die Probleme im Justizbereich: „Die dürftige Infrastruktur, einschließlich des fast vollständigen Fehlens von juristischer Literatur, Räumlichkeiten und von Basisausstattung sind ein ernsthaftes Hindernis“ (S/2000/53: Par. 44).

Militärische Komponente/Friedenstruppen

Laut Mandat bestanden die Aufgaben der Blauhelmtruppen in Anlehnung an Kapitel VII der UN-Charta darin, die Grenzen Osttimors abzusichern, die Milizen zu entwaffnen und eine neue Armee aufzubauen. Durch die Anwesenheit INTERFETs bis zu diesem Zeitpunkt konnten die UNTAET Truppen auf bereits funktionierende Strukturen zurückgreifen. Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass durch die Anwesenheit der INTERFET Truppen keine Sicherheitslücke entstanden war und circa 70% des INTERFET Personals von UNTAET übernommen werden konnten. Durch militärische Operationen konnten die Milizen ins indonesische West-Timor zurückgedrängt werden. Die Friedenstruppen legten großen Wert auf die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, um einer Unterstützung der Milizen durch diese vorzubeugen. Durch die hohe Beteiligung von regionalem Personal konnte kulturellen Missverständnissen zwischen den Friedenstruppen und der Zivilbevölkerung vorgebeugt werden.

Eine neue Armee »Timore-Leste National Defense Force« (F-FTDL) wurde aufgebaut und alle ehemaligen FALINTIL Kämpfer, die die Zugangsvoraussetzungen erfüllten, in diese Armee aufgenommen. Die Kämpfer, die nicht in die neue Armee aufgenommen werden konnten, wurden entwaffnet und man versuchte sie durch ein Resozialisierungsprogramm in die Gesellschaft zu integrieren.

Wirtschaftliche und soziale Entwicklung

Die Weltbank richtete Fonds zur Entwicklung des ökonomischen und sozialen Sektors ein. Sie unterstützte Projekte in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Agrarwirtschaft, im Sanitärbereich, community development und bei der Mikrofinanzierung. Der Erfolg der Projekte lag vor allem in der starken Partizipation von Osttimoresen bei der Planung und Implementierung der Projekte.

Die Rückführung der Flüchtlinge unter dem UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) stellte eine große Herausforderung dar. Im Rahmen der Mission wurde erreicht, dass von ca. 250.000 Flüchtlingen 200.000 am Ende der Mission zurückgekehrt waren.

Wahlen

Im Jahr 2001 konnte die von der UN vorgenommen Volkszählung abgeschlossen werden. Somit stand der ersten Wahl zur Vollversammlung, die für den 30.08.2001 angesetzt war, nichts mehr im Wege. Mit einer enormen Wahlbeteiligung von 93% (bei mehr als 400.000 Wahlberechtigten) fand die Wahl ohne gewalttätige Zwischenfälle statt. Bei den ersten freien Wahlen erlangte die FRETILIN 57,3% der Stimmen und erhielt somit 55 der 88 Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung (vgl. SZ 07.09.2001). Nach diesen ersten demokratischen Wahlen zog sich UNTAET aus den Regierungs- und Verwaltungsgeschäften zurück und das Kabinett wurde durch einen Ministerrat ersetzt, in dem ausnahmslos Osttimoresen vertreten waren. Darüber hinaus wurde unter UNTAET die Präsidentenwahl im April 2002 durchgeführt, bei der Xanana Gusmao zum Präsidenten des Landes gewählt wurde. Nachdem grundlegende staatliche Strukturen durch UNTAET geschaffen worden waren, endete die Mission am 20.05.2002 mit der Entlassung Timor-Lestes in die Unabhängigkeit.

United Nations Mission of Support in East Timor (UNMISET)und United Nations Office in Timor Leste (UNOTIL)

Nach der Entlassung in die Unabhängigkeit und dem Ende der UNTAET Mission etablierte der Sicherheitsrat im Mai 2002 mit der Resolution 1410 UNMISET. Die Mission startete am 20. Mai 2002 und war für ein Jahr mandatiert. Ihr Mandat umfasste unter anderem die Förderung der politischen Stabilität durch Unterstützung von wichtigen administrativen Strukturen, Unterstützung der Polizei und die Aufrechterhaltung der inneren und äußeren Sicherheit.

Am 19. Mai 2003 wurde UNMISET durch die Resolution 1480 für ein Jahr, bis zum 20. Mai 2004, verlängert. 2004 erfolgte eine erneute Verlängerung um 6 Monate (Resolution 1543) mit dem Hinweis darauf, eine weitere Endphase von 6 Monaten zu autorisieren (was mit Resolution 1573 geschah). Das endgültige Missionsende war damit im Mai 2005. Am Ende der Mission hatte UNMISET folgende Personalstärke: 134 Angehörige der zivilen Polizei, 428 Militärs und 41 Militärbeobachter.

Im Abschlussbericht des Generalsekretärs macht dieser deutlich, dass trotz wichtiger Fortschritte im Bereich des »capacity building« die Notwendigkeit besteht, eine verkleinerte Folgemission durchzuführen. Die Mitglieder des Sicherheitsrates unterstützen dies und beschlossen einstimmig in der Resolution 1599 vom 28. April 2005 UNOTIL. Der Auftrag der Mission, die eine geringe Personalstärke besaß, bestand vor allem darin, die Entwicklung von staatlichen Institutionen zu unterstützen, die bis dato noch nicht über genügend Kapazitäten verfügten, wie z.B. die Polizei (PNTL) und die Border Patrol Unit (BPU).

Die Mission war vorerst bis zum 20. Mai 2006 autorisiert, wurde aber in der Resolution 1677 vom 12. Mai 2006 verlängert bis zum 20. Juni des Jahres.

United Nations Integrated Mission in Timor-Leste (UNMIT)

Im Januar 2006 war eine Gruppe von rund 600 Soldaten wegen Ungleichbehandlung in den Streik getreten. Im Laufe der Auseinandersetzungen wurden die Soldaten entlassen. Es kam zu Gefechten zwischen der regulären Armee und den Rebellen. Die Situation eskalierte, so dass Jose Ramos-Horta, damals Außenminister, die internationale Gemeinschaft darum bat, eine internationale Friedenstruppe zur Unterstützung der lokalen Sicherheitskräfte zu entsenden. Wieder einmal hielten australische Soldaten (International Stabilization Force, ISF) Einzug in Osttimor. Monika Schlicher bezeichnete das Aufflammen der Gewalt als „hausgemachte Krise“, sie sieht die Gründe dafür in der Ignoranz und in dem Verhalten des damaligen Premiers Altakari, der nicht auf die Beschwerden der Soldaten einging (vgl. Schlicher 2006).

In dieser Sicherheitslage nahm UNMIT, die Nachfolgemission von UNOTIL, ihre Arbeit auf. Der Sicherheitsrat beschloss die Mission aufgrund der anhaltenden Gewalt in Osttimor. Sie wurde am 25. August 2006 in der Resolution 1704 für 6 Monate autorisiert. UNMIT verfügte unter anderem über ein 1.608 Mann starkes Polizeikontingent. Das Mandat umfasste vor allem die Unterstützung der politischen Institutionen und die Förderung des politischen Dialoges innerhalb der Institutionen und der Gesellschaft. Eine weitere Aufgabe stellte die umfassende Unterstützung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen dar. Darüber hinaus beinhaltete das Mandat noch weitere Aufgaben wie die Stärkung der nationalen Polizei, Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit sowie Anstrengungen zur Verbesserung der ökonomischen und sozialen Situation in Timor-Leste. UNMIT beschränkte sich auf Polizei- und Zivileinheiten, die militärische Sicherung verblieb in den Händen der ISF unter australischer Führung.

Heutige Situation

Trotz massiver Aufbauhilfe ist Timor-Leste vier Jahre nach dem Ende von UNTAET noch das ärmste Land im asiatischen Raum. Die Sicherheitssituation im Land ist weiterhin sehr prekär. Im Jahr 2008 ist es wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen. Am 11.02.2008 wurden auf den Präsidenten Jose Ramos-Horta und auf Premierminister Xanana Gusmao Attentate verübt. Dabei wurde Ramos-Horta schwer verletzt. Der ehemalige Major und Täter, Alfredo Reinado, der nach den Unruhen 2006 mit einer Gruppe Soldaten in die Berge geflüchtet war, wurde getötet.

Die hohe Arbeitslosigkeit von geschätzten 50% hat zur Folge, dass die Mehrzahl der Osttimoresen noch immer unter der Armutsgrenze lebt (vgl. CIA 2008). Die sozialen Missstände führen dazu, dass die Mehrheit der Bevölkerung für sich wenig Perspektiven sieht. Diese soziale Unzufriedenheit kann zu neuen gewaltsamen Konflikten führen. Dazu kommt die Tatsache, dass Timor-Leste auf keine demokratische Tradition zurückgreifen kann. Der Einsatz von Gewalt zur Erlangung politischer Ziele bzw. zur Lösung von Konflikten hat hingegen eine lange Tradition. Hoffen kann die Regierung Timor-Lestes auf die steigenden Einnahmen im Erdölsektor. Doch Erdölförderung ist kein nachhaltiger Wirtschaftszweig, die Ressource ist endlich. Darüber hinaus verhindern Rentenökonomien die Entstehung einer sich selbst tragenden Ökonomie. Es gilt abzuwarten, ob die Regierung Osttimors einen Weg findet, eine sich selbst tragende Ökonomie zu etablieren. In Anbetracht der Attentate und gewalttätigen Ausschreitungen wurde das UNMIT Mandat bis zum 26. Februar 2009 verlängert (vgl. S/RES/1802/2008: Par.1).

Erfolge/Misserfolge/Evaluation

Das Zustandekommen des »New Yorker Abkommens« vom 5. Mai 1999 ist primär auf die veränderte internationale wirtschaftliche und politische Landschaft zurückzuführen. Daneben stellen die Vermittlungsbemühungen des Generalsekretärs der UNO einen wichtigen Aspekt im Bezug auf die Lösung des Osttimor-Konflikts dar. Ein großer Fehler war die in dem Abkommen verankerte Klausel, die Indonesien mit der Gewährung von Sicherheit in Timor-Leste während des Referendums und danach betraute. Die systematische Gewalt gegen die Zivilbevölkerung nach dem Referendum im August 1999 war, wie gezeigt, durch das indonesische Militär im Vorfeld geplant. Hätte man darauf eingewirkt, dass nicht Indonesien, sondern einer internationalen Friedenstruppe die Hoheit über die Sicherheitslage übertragen worden wäre, hätten die Gewalttaten vielleicht ganz, aber zumindest in diesem Ausmaß verhindert werden können.

Insgesamt gesehen kann UNTAET als eine erfolgreiche Mission betrachtet werden. Im Bezug auf die Mandatierung hat die Mission ihre Aufgaben erfüllen können und die Basisstrukturen für den weiteren Aufbau und die Stärkung von staatlichen Strukturen konnten durch sie geschaffen werden. Gezeigt hat sich jedoch, dass eine solch umfassend angelegte Mission mit vielen Schwierigkeiten konstruktiv umgehen muss. Mehrfach mussten die Mandate der Missionen verlängert werden, um dem Aufbau einer staatlichen Verwaltungs- und Sicherheitsstruktur genügend Zeit zu geben. Neben dem Mangel an qualifiziertem Personal im Bereich Sicherheit und Justiz sahen sich die Mitarbeiter der UNTAET Mission mit weiteren, zum Beispiel mit sprachlichen Problemen konfrontiert. Da die Infrastruktur des Landes völlig zerstört war, benötigte allein der Wiederaufbau enorme Zeit.

Eine Ursache, die maßgeblich zum Erfolg UNTEATs beitrug, war vor allem die völkerrechtskonforme Unterstützung der Unabhängigkeitsbestrebungen durch die meisten Mitglieder des UN-Sicherheitsrates. Insbesondere forderte die ehemalige Kolonialmacht Portugal immer wieder nachdrücklich die Einhaltung des Dekolonisationsprozesses. Durch einen weitgehend bestehenden Konsens im Sicherheitsrat konnten Resolutionen schnell verabschiedet und Finanzmittel akquiriert werden. Nur so war ein derart langes Verbleiben der UNO in Timor-Leste möglich.

Die Stärkung zivilgesellschaftlicher Kräfte, die eine demokratische und friedliche Ordnung für Timor-Leste befürworten, sollte in den nächsten Jahren weiter intensiviert werden. Die Unterstützung solcher Kräfte würde die »Nationwerdung«, die nicht von außen auferlegt werden kann, sondern aus der Gesellschaft selbst entstehen muss, begünstigen. Eine abschließende Gesamtbewertung der Arbeit der UNO, die nunmehr 9 Jahre andauert, kann hier nicht vorgenommen werden, da sich diese bis heute nicht aus dem Land zurückgezogen hat. Dies zeigt, dass die UNO im Fall Osttimor zumindest den erforderlichen »langen Atem« bewiesen hat: zuletzt verlängerte der Sicherheitsrat das Mandat der UNMIT in seiner bis dato jüngsten Resolution 1802 vom 25. Februar 2008 bis zum 26. Februar 2009. UNMIT soll weiterhin insbesondere die Effizienz der Rechtsstaatlichkeit und den Aufbau von Sicherheitskräften unterstützen. Zu den Aufgaben von UNMIT gehört auch, in Zusammenarbeit mit den UN, die Hilfsprogramme zu koordinieren, Armut zu reduzieren und wirtschaftliches Wachstum zu unterstützen.

Zwar ist damit der beabsichtigte »nation-and-state-building-Prozess« nicht abgeschlossen, jedoch kann die endlich zustande gekommene Intervention der UN eindeutig als Erfolg gewertet werden. Dies wurde möglich, weil sich diese Mission – wenn auch spät – konsequent am geltenden Völkerrecht orientierte und weil die Mission mit Erreichung der Unabhängigkeit nicht abgeschlossen wurde, sondern über die formale Erringung der Unabhängigkeit hinaus fortgesetzt wird, mit dem Ziel der inneren Stabilisierung, der Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und der Bekämpfung von Armut.

Literatur

AG Friedensforschung: Osttimor 1975: USA gaben grünes Licht für Invasion, URL: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Osttimor/okkupation.html (Stand: 12.06.2008).

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Evers, Georg: Osttimor – der schwierige Weg zur Staatswerdung (missio 4/2001), Aachen 2001.

Fleschenberg, Andrea: Zwischen Trauma, Post-Konflikt und Staatsaufbau in Osttimor, in: Waibel, Michael/Jordan, Rolf/Schneider, Helmut (Hrsg.): Krisenregion Südostasien. Alte Konflikte und neue Kriege (Arbeitsgemeinschaft für Pazifische Studien, Pazifik Forum, Band 11), Bad Honnef 2006, S.140-162.

Forster, Michael: Nation Building durch die internationale Gemeinschaft. Eine völkerrechtliche Analyse der Verwaltungsmissionen der VN im Kosovo und in Osttimor, Göttingen 2005.

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Howard, Lise Morje: UN Peacekeeping in Civil Wars. (Chapter East Timor: the UN as a state), Cambridge 2008, S.260-298.

Ludwig, Klemens/Horta, Korinna: Osttimor. Das Vergessene Sterben. Indonesischer Völkermord unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit (Gesellschaft für bedrohte Völker), Göttingen 1985.

Münch-Heubner, Peter L.: Osttimor und die Krise des indonesischen Vielvölkerstaates in der Weltpolitik (Hans-Seidel-Stiftung e.V., Bd. 82), München 2000.

Parliament of Australia: East Timor and Australia’s Security Role: Issues and Sceanrios, 21. September 1999, URL: http://www.aph.gov.au/library/pubs/CIB/1999-2000/2000cib03.htm (Stand: 13.08.2008.)

Schlicher, Monika/Flor, Alex: Ost-Timor – Der bittere Sieg (Watch Indonesia), URL: http://home.snafu.de/watchin/ (Stand: 10.08.2008).

Schlicher, Monika: „Hausgemachte politische Führungskrise“. Osttimor-Expertin Monika Schlicher von der Menschenrechtsorganisation „Watch Indonesia!“ über die Gründe der Gewalt (der Standard 29.05.2006), URL: http://home.snafu.de/watchin/Standard_29.5.06.htm (Stand: 15.08.2008).

Seneveriatne, Kalinga: Kampf ums Öl. In Osttimor geht es auch um die energiepolitischen Interessen Australiens, 2006, URL: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Osttimor/oel.html (Stand: 13.08.2008).

Timor Sea Treaty between the Government of East Timor and the Government of Australia, 20. May 2002, URL: http://www.laohamutuk.org/Oil/Boundary/TST%20text.htm Stand: 15.08.2008).

UNDP: Human Development Report 2007/2008, S.231, URL: http://hdr.undp.org/en/media/HDR_20072008_EN_Complete.pdf (Stand: 15.08.2008).

United Nations: Charter of the United Nations and Statute of the International Court of Justice, New York.

Anmerkungen

1) Indonesiens Gründe für die Besetzung Osttimors werden in der Literatur primär mit dem Eindämmen des Kommunismus in Verbindung gebracht. Daneben findet sich jedoch auch der Vorwurf des Expansionismus an Indonesien (vgl. Münch-Heubner 2000, S.38).

2) Die FALINTIL weigerte sich noch im Oktober 1999 ihre Waffen abzugeben. Die proindonesischen Milizen, die sich nach Westtimor zurückgezogen hatten, gaben ihre Waffen erst im September 2000 ab. Dies geschah nur aufgrund der Drohung des indonesischen Präsidenten, sie andernfalls militärisch entwaffnen zu lassen.

3) Für die pro-indonesischen Milizen stellte der Kampf in Osttimor Identifikations- und Einnahmequelle dar, die ihnen nun zu schwinden drohte. Die neuen politischen Entwicklungen, hin zur Lösung des Osttimor Konflikts, waren somit nicht in ihrem Sinne und sie weigerten sich vor dem „Gang in die Bedeutungslosigkeit“ (FR 23.11.1999).

4) Der osttimoresische Bischof und Friedensnobelpreisträger Carlos Belo forderte ein Eingreifen auch gegen die Zustimmung Indonesiens. Australien erklärte sich bereit, die Führung einer solchen Truppe zu übernehmen. Die australische Regierung bot die Entsendung von 7.000 Mann an. Die UN machten deutlich, dass sie eine internationale Friedenstruppe nur mit Zustimmung Indonesiens versenden würde. China zeigte sich zwar besorgt über die Situation in Osttimor, sprach sich jedoch gegen eine Intervention aus (FR 09.09.1999).

5) Die Kosten der Mission wurden von den an INTERFET teilnehmenden Staaten getragen (S/RES/1264, Par. 9).

6) Internationale Polizeieinheit unter UNTAET.

Nadine Zollet

Energiekonflikte

Kann die Menschheit das Energieproblem friedlich lösen?

Energiekonflikte

von IANUS

In Zusammenarbeit mit der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der TH Darmstadt

I. Was sind Energiekonflikte?

I.1 Der Kampf um Gorleben – Momentaufnahme eines Konflikts

Die Presse sprach von Krieg. Im „größten internen Sicherheitseinsatz der deutschen Nachkriegsgeschichte“1 setzten 19.000 Polizisten anfang Mai den Atommülltransport aus Frankreich gewaltsam durch, begleitet von Protesten in der ganzen Bundesrepublik. Besonders in der Region um Gorleben sah sich die Bonner Atompolitik dem massiven Widerstand der Bevölkerung gegen den Castortransport ausgesetzt, die in ihrer Mehrheit auf gewaltfreie Aktionen setzte und auch vor zivilem Ungehorsam nicht zurückschreckte, um ihre Heimat vor dem nuklearen »Teufelszeug« zu verteidigen. Der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Jürgen Trittin, geißelte die „brutalen Methoden des Atomstaats“, und eine Beobachterin des Komitees für Grundrechte und Demokratie stellte fest „Die erste Gewalt ist die, die im Atomstaat steckt.“ Der Kommentator der Frankfurter Rundschau schließlich fragte sich: „Soll das nun also der Anfang eines neuen Abschnitts der friedlichen Nutzung der Atomenergie sein?“2

Das offizielle Bonn zeigte sich erschüttert über den neuerlichen Ausbruch der Gewalt. Die Regierung betonte, sich nicht durch den Druck der Straße vom eingeschlagenen Kurs abbringen zu lassen. Das Gewaltmonopol des Staates dürfe nicht in Frage gestellt werden. Innenminister Kanther: Der Staat könne es nicht zulassen, daß er durch „Chaoten und Kriminelle“ handlungsunfähig gemacht werde. Es könne auch nicht geduldet werden, daß Atomkraftgegner über den Umweg der Behinderung von Transporten die Verwendung dieser Energieform zu stoppen suchten.

Besorgter gab sich die Gewerkschaft der Polizei (GdP). Ihrer Ansicht nach beeinträchtigen die massiven Einsätze langfristig die innere Sicherheit in Deutschland. 50 Mio. DM hatte der Einsatz gekostet, mehr als 100 weitere Castortransporte sind geplant. Dazu wieder das Time Magazine: „Doch der Krieg ist nicht vorbei. Die Demonstranten warnten, daß sie weiterkämpfen werden, um den nächsten Transport im gleichen Jahr zu blockieren, mit gleicher wilder Entschlossenheit. Ihr Ziel: Deutschland zu zwingen, die Atomenergie aufzugeben.“

I.2 Handlungsblockaden in der Energiepolitik

Auch wenn der Vergleich mit Krieg überzogen ist, hat der jüngste Konflikt um den Castor-Transport auf drastische Weise das Dilemma der derzeitigen Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland vor Augen geführt. Der Stillstand der Energiegespräche, die sich ohnehin nur auf die Scheinalternative Kohle oder Kernenergie konzentrierten, ist Ausdruck einer gesellschaftlich-politischen Handlungsblockade, die zukunftsweisende Entscheidungen verhindert.3 Die energiepolitische Situation ist gekennzeichnet durch ein Patt zwischen den Parteien, die den Ausstieg aus der Kernenergie und den Ausbau erneuerbarer Energien befürworten, und jenen, die für einen – die Kernenergie einbeziehenden – Energiemix eintreten. Das Ergebnis ist eine Stagnation, die die Entwicklung und Anwendung erneuerbarer Energietechniken bremst.4

Dabei sind zukunftsweisende Entscheidungen dringend erforderlich. Angesichts der drohenden Verknappung fossiler Energieträger und der Gefahr einer globalen Erwärmung kann die Politik sich nicht länger hinter traditioneller Interessen- und Machtpolitik verstecken. Lösungskonzepte für eine verantwortbare Energieversorgung bis Mitte des nächsten Jahrhunderts sind längst bekannt.5 Die politischen Institutionen scheinen zur Zeit allerdings nicht in der Lage, die nötigen Weichenstellungen einzuleiten. Auch das jüngste Energieprogramm der Bundesregierung hält lieber am Status quo fest. Eine Erklärung ist wohl darin zu suchen, daß eine Änderung im oben beschriebenen Sinne in Konflikt mit bestehenden Macht- und Interessenstrukturen gerät, die vom Status quo profitieren und daran festhalten wollen. Dies wurde schon 1984 in einem Aufsatz formuliert, der die Widerstände und Hindernisse gegen eine veränderte Energiepolitik im kapitalistischen System benennt:

„Die Vertreter von Industrie- und Kapitalinteressen bilden wohl die wichtigsten gesellschaftlichen Kräfte, die einer veränderten Energiepolitik ablehnend gegenüberstehen und sich mit vielfältigen Mitteln einer solchen Veränderung widersetzen. Die Gründe hierfür sind vielschichtiger Natur. So kann das dominierende Kapitalverwertungsinteresse weitaus wirksamer mittels kapitalintensiver Großerzeugungssysteme verwirklicht werden. Auch lassen sich im kapitalistischen System die erwünschten Profite in der Tendenz nur durch eine langfristige Ausweitung des Absatzvolumens erreichen, so daß nur wenig Interesse besteht, Programme zur Energieeinsparung zu unterstützen. Grundsätzlich stehen den Leitvorstellungen dieser Interessengruppen die ökologischen Basisorientierungen mit ihren Ausgangsannahmen entgegen: Dezentralisierung der Erzeugung und des Verbrauchs, Vielfältigkeit der Energieerzeugungs- und -verbrauchsformen, effiziente Energienutzung, Ablehnung eines quantitativen Wachstumsdenkens, usw.“ 6

In heutiger Sprachregelung würde dies etwa wie folgt formuliert: das kurzfristige Partikularinteresse einflußreicher Einzelakteure dominiert gegenüber dem langfristigen Interesse der Gesellschaft. Die Politik, zumal unter dem Druck der Wirtschaftskrise, scheut den offenen Konflikt mit einflußreichen Interessengruppen und nimmt dafür längerfristig andere Konflikte in Kauf, die möglicherweise weit schwerer wiegen. Statt innovativ neue Optionen zu schaffen, wird an »bewährten Leitbildern« festgehalten, ohne zu erkennen, daß es sich dabei um Auslaufmodelle handelt.

Eine Konsequenz der Handlungsblockade ist, daß kurz vor der Jahrtausendwende das Spannungsgefälle zwischen dem, was getan werden müßte und dem, was tatsächlich getan wird, unerträglich wird. Das Streben der etablierten Politik nach Wirtschaftswachstum durch höheren Energieverbrauch gerät zunehmend in Widerspruch zu den beschränkten Optionen und Möglichkeiten dieser Politik. Die Auseinandersetzung um Castor ist Ausdruck dieser sich zuspitzenden Konfliktsituation. Daß die davon betroffenen Menschen sich das Risiko der Kernenergie und damit die Defizite der Energiepolitik nicht aufbürden lassen wollen, ist verständlich.

Das der Energiepolitik innewohnende Konfliktpotential ist von der Friedens- und Konfliktforschung bislang nur sporadisch behandelt worden. So wurde etwa der Krieg um Öl angesprochen oder das Sicherheitsrisiko der Kerntechnik, wenn auch vornehmlich unter dem Aspekt militärischer Angriffe auf kerntechnische Anlagen. Selbst die sehr ernst genommenen Gefahren der nuklearen Proliferation, die aus zivilen Kernenergieprogrammen resultierten, werden in der Regel nicht unter dem Gesichtspunkt nationaler energiepolitischer Entscheidungen diskutiert. Die Geschichte hat gezeigt, daß die Verbindungen zwischen zivilen und militärischen Kernenergieaktivitäten wesentlich enger waren, als unterstellt und gehofft wurde, was eine stärkere Beachtung durch die Friedens- und Konfliktforschung verdient.7

Zunehmend rückt nun auch die Umweltdimension des Sicherheitsbegriffs ins Blickfeld oder wird die Thematik der Umweltkonflikte behandelt.8 Doch wurden Konflikte um und durch verschiedene Energieformen bislang nicht systematisch und vergleichend untersucht. Im folgenden wird der Versuch unternommen, Energiekonflikte im Zusammenhang zu behandeln und an Fallbeispielen zu erläutern. Ziel ist es, durch die Berücksichtigung der Friedens- und Konfliktdimension ein bislang vernachlässigtes Bewertungskriterium hinzuzuziehen, mit dem ein Vergleich verschiedener Energieoptionen ermöglicht werden kann (zur Beschreibung des IANUS-Projekts siehe Kasten 4 am Ende dieses Dossiers).

I.3 Das Konfliktpotential der Energieversorgung

Wie die wissenschaftlich-technische Entwicklung insgesamt, ist auch die Entwicklung und Nutzung von Energiesystemen von widersprüchlichen Tendenzen gekennzeichnet. Zum einen ist die Gewinnung, Nutzung und Verteilung von Energie eine Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung und trägt in vielfacher Hinsicht zur Globalisierung bei. Das Wachstum des Energieverbrauchs – vielfach als Indikator für Wohlstand angesehen – war eine Voraussetzung für die globale Industrialisierung und den internationalen Güteraustausch, der auch den grenzüberschreitenden Technologietransfer im Energiesektor umfaßt. Immer schnellere und weiterreichende Transport- und Kommunikationssysteme erhöhen die Mobilität und ermöglichen einer wachsenden Zahl von Menschen die unmittelbare Kommunikation mit Menschen in anderen Kulturkreisen.

Andererseits verändert jede Form der Energienutzung die soziale und natürliche Umwelt, mit teilweise erheblichen Risiken für Mensch und Natur. Die Frage ist, ob die Energienutzung in einer auf Dauer mit der Umwelt verträglichen (nachhaltigen) Weise geschieht oder ob sie zu tiefgreifenden, irreparablen Schädigungen der natürlichen Umwelt führt, die wiederum negative Rückwirkungen auf die Gesellschaft haben. Sofern Interessen von gesellschaftlichen Akteuren erheblich beeinträchtigt werden, können Konflikte die Folge sein (zum Konfliktbegriff siehe Kasten 1).

Konflikte um Energie sind in der Geschichte nichts Neues, wenn man an die Kriege um fossile Energieressourcen wie Kohle, Erdöl oder Erdgas denkt, bei denen es immer auch um das Streben nach Macht ging.9 Der Golfkrieg, der auch ein Krieg um Öl und ein Krieg durch Öl war, ist hier das jüngste Beispiel. Das Fanal der brennenden Ölquellen ist allen in Erinnerung geblieben. Zunehmend wird offensichtlich, daß auch die »falsche« Nutzung von Energie Folgen mit sich bringen kann, die gewaltsamen Konflikten Vorschub leisten, weil bei den Betroffenen elementare Lebensinteressen berührt werden. Beispiele hierfür sind die sozialen und ökologischen Folgen von Staudammprojekten, die Abholzung von Wäldern zur Brennholzgewinnung, radioaktiver Müll und die grenzüberschreitende Ausbreitung radioaktiver Schadstoffe bei einem Kernreaktorunfall oder die Klimaänderungen als Folge der Verbrennung fossiler Brennstoffe, die zu einer Zuspitzung des »Nord-Süd-Konflikts« und einer Zunahme regionaler Umweltkonflikte führen können. Auch die Verbreitung kernwaffenrelevanter Technologien durch Kernenergie (Proliferation) bleibt ein sicherheitspolitisches Problem der Zukunft. Einige aktuelle Beispiele sollen dies belegen, in Ergänzung zu den folgenden Kapiteln.

Die rücksichtslose Erschließung von Öl- und Gasquellen im Nigerdelta durch ausländische Ölkonzerne, mit Rückendeckung durch die nigerianische Militärregierung, geschieht auf Kosten der dort lebenden Volksgruppen, insbesondere der Ogoni, ohne daß diese dafür entschädigt werden. Die sehr einseitige Risikozuweisung führt zu massiven Protesten der einheimischen Bevölkerung, die gewaltsam unterdrückt werden. Durch die Hinrichtung Ken Saro-Wiwas erhielt der Konflikt internationale Aufmerksamkeit.10

Die neuen Staaten im Transkaukasus und in Zentralasien haben nach dem Zerfall der Sowjetunion große Erdöl- und Gasvorkommen übernommen, die mit Hilfe westlicher und östlicher Geldgeber rasch erschlossen werden sollen. In dieser Schlüsselregion zwischen Europa, Asien und Nahost kämpfen Staaten wie Rußland, USA, Türkei, China, Indien, Pakistan, Iran und Irak um politischen und wirtschaftlichen Einfluß, der sich in einem Wettlauf um die besten Zugriffsmöglichkeiten auf Öl und Gas niederschlägt. Konkrete Konflikte gibt es um die besten Transportwege (insbesondere Pipelinerouten), den rechtlichen Status des Kaspischen Meeres oder die Embargopolitik der USA gegenüber Iran.11

In Indien sind von der Inbetriebnahme des Narmada-Staudammes in den kommenden Jahrzehnten etwa eine Million Menschen betroffen, Hunderttausenden droht die Umsiedlung bei Inbetriebnahme, viele werden indirekt ihrer Überlebensbasis beraubt. Die Entschädigung ist unzureichend, gewachsene Gemeinschaften, familiäre, soziale und kulturelle Zusammenhänge werden auseinandergerissen. Die Folge sind teilweise heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei.12

Die chinesische Regierung plant, zur Befriedigung des wachsenden Strom- und Transportbedarfs den größten hydroelektrischen Staudamm der Erde zu bauen, den Drei-Schluchten-Damm über den wegen seiner landschaftlichen Reize berühmten Jangtsekiang. Was von einigen als Wunder der Modernisierung gepriesen wird, ist für Kritiker eine beispiellose ökologische und soziale Katastrophe. 1,4 Millionen Menschen müssen umgesiedelt werden, Arten würden gefährdet, archäologische Stätten überschwemmt. Zudem könnten bei einem Unfall oder einem Gewaltanschlag Millionen Menschen durch das Bersten des Dammes gefährdet sein.13

Das unter sozialistischer Herrschaft begonnene ungarisch-slowakische Staustufenprojekt Gabcikovo an der Donau hat sich zu einem internationalen Streitfall entwickelt. Umstritten sind nicht nur die ökologische Folgen, da Gabcikovo eine einzigartige Flußlandschaft an der Donau bedroht, sondern auch die sozialen Folgen, da die Verschmutzung und Kanalisierung der Donau eines der größten Trinkwasserreservoire Mitteleuropas gefährdet und damit die Lebensbedingungen der ansässigen ungarischen Minderheit. Daneben sind wirtschafts- und staatspolitische sowie völkerrechtliche Fragen betroffen. Während Ungarn, unter dem Druck von Umweltschützern, 1989 aus dem Projekt ausstieg, weigerte sich die Slovakei, die das Kraftwerk zur Verminderung der Energieabhängigkeit von Tschechien und als nationales Prestigeobjekt braucht, die Bauarbeiten einzustellen, was zu gegenseitigen Drohgebährden führte. Die EG hat sich bemüht, einer weiteren Eskalation durch Vermittlung vorzubeugen.14

Diese konkreten Konflikte sind keine Einzelfälle, sondern Ausdruck einer allgemeinen Problemlage, die – bei aller Unsicherheit hinsichtlich der Aussagekraft der Energieszenarien – vor allem durch vier Faktoren gekennzeichnet ist:15

1) Wachsender Energiebedarf bei sinkenden Reserven: Angesichts eines stetigen Anstiegs des Energieverbrauchs, bedingt durch das explosive Anwachsen der Weltbevölkerung und den Konsum einer immer größer werdenden Anzahl von Innovationen und Produkten, sind die Grenzen der Verfügbarkeit nichterneuerbarer Primärenergieträger wie Erdöl, Erdgas und Uran abzusehen. Die meisten Energieszenarien gehen davon aus, daß sich der weltweite Energieverbrauch langfristig vervielfacht: von derzeit knapp 400 Exajoule jährlich auf 1.500 bis 1.700 Exajoule bis zum Jahre 2100 (Exa=1018=Trillion). Die in den Industrieländern teilweise zu beobachtende Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch würde von der nachholenden Entwicklung der Dritten Welt und ihrem Bevölkerungswachstum deutlich übertroffen. Die heute bekannten Reserven reichen noch etwa 40 bis 60 Jahre. So wird gegen Ende des 21. Jahrhunderts der auf ein Maximum gestiegene Bedarf auf ein Minimum gesicherter Reserven an fossilen Energieträgern treffen. Nur Kohle und erneuerbare Energien sind dann noch verfügbar. Die Begrenztheit herkömmlicher Energievorräte und die begrenzte Aufnahmefähigkeit der Erdatmosphäre für Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energie zwingt zur Umgestaltung der westlichen Produktions- und Lebensweise. Statt die Emissionen zu verdoppeln, müßten sie in den nächsten 50 Jahren mindestens halbiert werden, um folgenschwere Klimaveränderungen zu verhindern.

2) Nord-Süd-Gefälle im Energiesektor: Während in den westlichen Industriestaaten der materielle Lebensstandard bislang mit großem Energieverbrauch und vergleichsweise hoher Energieeffizienz verbunden war, sind die östlichen Industriestaaten gekennzeichnet von niedrigen Lebensstandards, hohen Energieverbräuchen und geringer Energieeffizienz. In den Ländern des Südens ist der Energieverbrauch pro Kopf im Durchschnitt weit niedriger, bei geringer Energieeffizienz. In manchen Ländern liegt er unter dem zur Sicherung der physischen Existenz notwendigen Minimum, in vielen unter dem Minimum zur Befriedigung der Grundbedürfnisse einschließlich Gesundheitsvorsorge und Bildung. Entwicklungsländer, die eine konsequente Industrialisierung forcieren, betreiben eine expansive Energiepolitik, die kaum auf ökologische Erfordernisse Rücksicht nimmt. Dies gilt vor allem für das menschenreichste Land der Erde, China.

3) Geopolitisches Konfliktpotential der Erdölabhängigkeit: Sowohl die Energiereserven als auch der Energiekonsum sind ungleich über die Welt verteilt, woraus sich eine Abhängigkeit von wenigen Akteuren ergibt. Während Kohlevorräte noch in unterschiedlichen Weltregionen zu finden sind, konzentrieren sich die Erdölvorräte zu ca. 67% im Nahen Osten, die Gasvorräte zu 43% in der GUS und zu 29% ebenfalls im Nahen Osten, und die bekannten Uranreserven Australien (28%), Niger (18%) und Südafrika (13%) sowie Brasilien und Kanada (je 10%). Aus der Konzentration und der Verknappung fossiler Energieträger ergibt sich eine wachsende Abhängigkeit der Weltenergieversorgung von wenigen Quellen. Die vom OPEC-Kartell ausgelösten Ölpreiskrisen der siebziger Jahre haben das internationale politische Klima belastet; als Folge wurde damit begonnen, Energie zu sparen und Öl aus verschiedenen Lieferländern zu beziehen. Dies betrifft besonders die Entwicklungsländer, die selbst keine Öl- oder Gasvorräte haben und deren Ökonomien in hohem Maße von Ölimporten abhängen. Die privilegierten Industriestaaten werden versuchen, ihre Interessen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen, um nicht von den Quellen abgeschnitten zu werden. So war ein wesentliches Motiv des Golfkriegs auch die Aufrechterhaltung des freien Zugangs zu den Ölquellen des Nahen und Mittleren Ostens.

4) Ökologische Risiken: Jede Energieform weist ein spezifisches ökologisches Belastungs- und Risikoprofil auf. Das Erdöl verschmutzt die Weltmeere und die Atmosphäre. Die Kohleförderung verursacht erhebliche Schäden an Landschaft und Grundwasser und setzt bei ihrer Verbrennung säurebildende Schadstoffe, photochemische Substanzen und klimarelevante Spurengase frei. Die Kernenergie weist ein katastrophenhaftes Risikoprofil auf und führt zu langanhaltenden radioaktiven Belastungen der natürlichen Kreisläufe. Die Schädigung der Erdatmosphäre, unter anderem durch Treibhausgase, ist so weit fortgeschritten, daß zusätzliche Belastungen zu weiteren Klimaveränderungen – verbunden mit einem Ansteigen der Meeresspiegel und Verschiebungen der Klimazonen – führen werden.

Betrachtet man diese Faktoren für sich wie auch in ihren Wechselzusammenhängen, wird erkennbar, daß die ungelösten Probleme einer ausreichenden, gerechten und umweltorientierten Energieversorgung in der Zukunft zu erheblichen internationalen Konflikten führen können. Eine prospektive konfliktvorbeugende und konfliktregelnde »Weltenergiepolitik« ist noch nicht in Sicht. Die Zuspitzung der globalen Energiesituation kann sich in vier Typen von Energiekonflikten äußern:

1) Knappheitskonflikte: Sofern die Nutzung von Energie mit der Schaffung von Wohlstand verknüpft ist, kann der Mangel an Energie zu Wohlstandseinbußen, Einschränkungen der Lebensqualität, gesamtwirtschaftlicher Stagnation sowie damit verbundenen sozialen Abstufungen und Konflikten führen.

2) Verfügbarkeits-, Verteilungs- und Gerechtigkeitskonflikte: Die Verteilung, Verfügbarkeit und Finanzierung von Energie, im nationalen, regionalen oder globalen Maßstab, ist ein Faktor, der heftig umkämpft sein kann, besonders wenn das Gerechtigkeitsprinzip verletzt ist. Ein Beispiel ist der Zugriff auf Öl, ein anderes der gleichberechtigte Zugang zur Hochtechnologie Kernenergie, die ein Prestige- und Machtymbol darstellt.

3) Konflikte um die Form und das Risiko der Energie: Diese werden ausgetragen, um die unmittelbaren Folgen und Risiken der Energienutzung zu verhindern oder zu begrenzen. Die Gefährdung von Wohlstand, Gesundheit und Leben kann zu heftigen Abwehrmaßnahmen der Betroffenen gegen das verursachende Energiesystem führen (z.B. die Risiken der Kernenergie).

4) Konflikte durch energiebedingte Auswirkungen: Hierbei handelt es sich um Konflikte, die indirekt durch energiebedingte Wirkungen und Folgen hervorgerufen werden, nicht aber das Energiesystem selbst zum Konfliktgegenstand haben (z.B. Sicherheitsrisiken durch Proliferation von Atomwaffen, globale Erwärmung und daraus folgende Konflikte).

In realen Konfliktkonstellationen gibt es Überschneidungen und Querbezüge zwischen den vier Konflikttypen. Um einen Knappheitskonflikt zu vermeiden, kann etwa ein Verteilungskonflikt ausgetragen werden, der wiederum die Bereitschaft erhöht, Risiken und damit verbundene Konflikte einzugehen.

Je nachdem, welche Konfliktakteure beteiligt sind, können verschiedene Ebenen des Konfliktaustrags unterschieden werden:

1) Intrapersonale Konflikte zwischen Werten und Interessen: In der Energiedebatte spielen die unterschiedlichsten Werte und Interessen eine Rolle, von individueller Wohlstandssicherung und Profitstreben bis zu übergeordneten Zielsetzungen wie nachhaltige Entwicklung, Gerechtigkeit oder Gewaltfreiheit, die alle zugleich nicht zu harmonisieren sind. Unterschiedliche Leitbilder, welches Ziel bevorzugt verfolgt werden soll, können zu Konflikten innerhalb von Personen oder sozialen Gruppen führen. Solche Konflikte wurden bislang eher der Psychologie als der Friedens- und Konfliktforschung zugewiesen.

2) Innergesellschaftliche Konflikte: Sind die genannten Ziele mit verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren (Parteien, Firmen, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, usw.) verbunden, können innergesellschaftliche Konflikte die Folge sein, die nicht immer auf nationale Grenzen beschränkt sein müssen.

3) Zwischenstaatliche und interregionale Konflikte: Wenn Staaten oder ganze Staatengruppen jeweils unterschiedliche Ziele verfolgen, sind zwischenstaatliche Konflikte möglich. Ein Beispiel ist die bevorzugte Unterstützung des Umweltziels durch den »Norden« bei starkem Einsatz des »Südens« für das Entwicklungs- und Gerechtigkeitsziel.

4) Intergenerationelle Konflikte: Die heute lebenden Menschen profitieren von der bislang weitgehend unbegrenzten Nutzung von Naturressourcen zur Schaffung von Wohlstand auf Kosten zukünftiger Generationen, deren Lebensbedingungen erheblich beeinträchtigt werden. Spätere Generationen haben auf jetzige Entscheidungen keine Einflußmöglichkeiten, es sei denn indirekt über die ethische Reflexion, die Verantwortungsübernahme und die Solidarität der heutigen Generation. Ein Konfliktaustrag im herkömmlichen Sinne ist nicht möglich, da die Wirkung von Handlungen nur in die Zukunft reichen kann, nicht jedoch umgekehrt.16

Während Knappheits- und Verteilungskonflikte sowie indirekte Konflikte durch energiebedingte Auswirkungen bereits zu zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen geführt haben, bleiben die Mittel und der Verlauf des Austrags von Konflikten über die Form oder das Risiko der Energieversorgung bislang weitgehend im innergesellschaftlichen Rahmen: legitime Demonstrations- und Protestformen, Blockaden und Sabotagemaßnahmen, polizeiliche Gewalt. Im Extremfall ist jedoch auch hier der Einsatz organisierter Gewalt bis zum Krieg zwischen Staaten denkbar. Gewaltkonflikte zeichnen sich besonders dann ab, wenn die Energienutzung einiger Akteure elementare Lebensinteressen anderer Akteure berührt, die über ausreichende Gewaltmittel verfügen. Dabei können auch Teile des Energiesystems selbst (Reaktoren, Stromleitungen, Staudämme, Bauzäune) Ziel des Einsatzes von Konfliktmitteln sein, was wiederum erhebliche Risiken in sich bergen kann.

Durch die vergleichende Behandlung der genannten Konflikttypen, Konfliktebenen und Konfliktmittel im Bereich der Umwelt- und Energiekonflikte ist ein weites Spektrum zukünftiger Konfliktforschung umrissen, wobei nicht nur das komplexe Ursache-Wirkungsgeflecht, sondern auch neuartige Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung, -prävention und -lösung zu untersuchen sind. Im folgenden sollen exemplarisch einige Energiekonflikte behandelt werden, die schon heute international (und intergenerationell) politisch relevant sind (Konfliktebenen 3 und 4).

II. Konflikte um fossile Energien: Handlungs- optionen der Internationalen Energie-Agentur

Mit der Entwicklung des Automobils durch Carl Benz im Jahre 1886 verwandelte sich die übelriechende, schwarze Flüssigkeit Erdöl zur schier unerschöpflichen, bequem zu transportierenden und billigen Energiequelle. Die Firmen konnten ihre Produkte aufgrund des Einsatzes von Lastwagen, Diesellok und später Flugzeug, verbunden mit der mühelosen Überwindung großer Entfernungen, weltweit absetzen und bescherten wegen der enormen Steigerung der Warenproduktion der wachsenden Bevölkerung der nördlichen Hemisphäre einen bis dahin nicht gekannten Wohlstand.17 Der Aufstieg von Erdöl zum bedeutendsten strategischen Rohstoff des 20. Jahrhundert hatte seinen Anfang genommen.18

Gleichzeitig hatte sich damit aber die gesamte industrialisierte Welt in eine zunächst nicht erkannte Abhängigkeit begeben, da die ergiebigsten Quellen spätestens seit Ende des 2. Weltkrieges außerhalb der Grenzen der Industriestaaten lagen. Erst die Ölkrise 1973/74, verbunden mit drastischen Preiserhöhungen und weltweiter Rezession führten zu einer Bewußtseinsänderung der Industriestaaten hinsichtlich der Verletzbarkeit ihrer Volkswirtschaften durch die hohe Importabhängigkeit von Erdöl aus der Golfregion.

Vor diesem Hintergrund wurde eine langfristig angelegte internationale Lösung des Energieproblems thematisiert, und im November 1974 wurde auf Initiative des damaligen US-Außenministers Henry Kissinger die Internationale Energie-Agentur (IEA) gegründet, der inzwischen bis auf Island alle Mitgliedsländer der OECD angehören.

Nicht zuletzt auch aus den Erfahrungen des Golfkrieges 1990/91 ist in jüngster Zeit wieder eine verstärkte Diskussion darüber in Gang gekommen, mit welchen Gefahren für das westliche Wirtschaftswachstum durch die Instabilitäten im arabischen Raum zukünftig zu rechnen sei und welche Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen seien.

II.1 Versorgungssicherheit und Konfliktpotentiale

Wie Erfahrungen in der Vergangenheit gezeigt haben, können bestehende Konfliktpotentiale zu realen Gefährdungen der Versorgungssicherheit mit Erdöl führen:

Innerarabische Verteilungs- und Verfügbarkeitskonflikte wie der Überfall von Irak auf Kuwait am 2. August 1990 oder der iranisch/irakische Krieg in den achtziger Jahren: Ursache für solche Verteilungskonflikte kann dabei neben der Ressource Erdöl auch das aufgrund der steigenden Verstädterung und der zunehmenden Bewässerung in der Landwirtschaft immer knapper werdende Gut Wasser sein.

Arabisch-israelische Konflikte wie etwa der Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973: Da der Westen ein starkes Interesse an der Aufrechterhaltung der Souveränität des Staates Israel hat, wird er auch zukünftig der Gefahr ausgesetzt sein, daß die arabischen Gegner Israels die »Ölwaffe« zücken. Dabei ist zu bedenken, daß im Falle einer erneuten Zuspitzung des hier beschriebenen Konfliktes die erdölreichen Staaten der Golfregion auch aufgrund des innenpolitischen Druckes nur einen sehr engen Handlungsspielraum besitzen und sich gezwungen sehen könnten, die arabischen »Brudervölker« im Kampf gegen den »Erzfeind« Israel und seine westlichen Schutzpatrone zu unterstützen.

Soziale und politische Spannungen innerhalb der OPEC-Staaten könnten zu einer Stärkung des islamischen Fundamentalismus führen, wie seit Ende der achtziger Jahre in Algerien, oder sogar zu politischen Umstürzen wie bei den Revolutionen in Libyen 1969 oder im Iran 1979. Dabei könnte die Strategie der IEA-Staaten zur Verringerung der Ölabhängigkeit diese Entwicklung sogar noch beschleunigen, da dann durch die Einnahmeausfälle aus dem Ölgeschäft die wirtschaftliche Entwicklung vor allem der großen Erdölexporteure wie Algerien oder Nigeria nachhaltig gestört wird.

Die Bedeutung solcher Konflikte in der Golfregion für die westlichen Industrienationen wird dadurch untermauert, daß nach den wichtigsten Energieszenarien Erdöl auch in den nächsten Jahren der wichtigste Energieträger bleiben wird. Die IEA erwartet, daß die Ölimporte der OECD-Länder in den kommenden 10-15 Jahren mit 70% den Stand der siebziger Jahre erreichen.19 Gleichzeitig werden sich die Erdölvorräte zunehmend wieder auf den Nahen Osten konzentrieren, da die Ressourcen außerhalb dieser Region (z.B. Norwegen, ehemalige Sowjetunion …) zur Erschöpfung gelangen.

Angesichts der wieder steigenden Abhängigkeit von Lieferländern aus der Golfregion und der damit verbundenen politischen Unabwägbarkeiten sowie der großen Ungewißheit über die weitere Entwicklung in der GUS als größtem Exporteur des bedeutenden Energieträgers Erdgas stellt sich die Frage nach den Zusammenhängen von Energieversorgung und internationaler Sicherheit.

Im folgenden soll nunmehr der Frage nachgegangen werden, warum die Entwicklung zur Importabhängigkeit von Erdöl ungebrochen ist und welche Folgen sich daraus aus dem Blickwinkel der westlichen Industriestaaten für die zukünftige weltweite politische Stabilität ergeben könnten.

II.2 Handlungsoptionen bei Ölkrisen

Hierzu sollen zunächst einmal die Interaktionen zwischen OPEC und IEA genauer beleuchtet werden. Die IEA besitzt verschiedene Handlungsoptionen, um auf eine Erdölpreissteigerung der OPEC bzw. politische Krisensituationen in der Golfregion reagieren zu können.

Im Golfkrieg zu Beginn 1991 wurde die Fähigkeit der IEA, leistungsstarke Krisenprogramme zu verwirklichen, erstmals an einem der zuvor beschriebenen Konfliktherde umfassend getestet. Angesichts dieser Erfahrungen werden die IEA-Mitgliedsstaaten auch zukünftig ihre Anstrengungen forcieren, um auf alle zuvor beschriebenen potentiellen Konflikte angemessen reagieren zu können bzw. die angestrebte Verringerung der Verletzbarkeit ihrer Länder gegenüber Ölversorgungsstörungen fortzusetzen.

Hierbei wird allerdings hinsichtlich der praktischen Umsetzung der Ziele der IEA bislang zu sehr nur auf kurzfristig erfolgsorientierte Strategien zur Weiterentwicklung des Krisenmechanismus der IEA gesetzt, wie etwa die Erhöhung der öffentlichen Bevorratungsmengen über die Reichweite von 90 Tagen hinaus und die Freigabe von gewissen Lagervorräten schon im Vorfeld physischer Engpässe. Dabei ist zu bedenken, daß das Anlegen von Tanklagern für die Notstandsreserven zum einen mit enormen Kosten verbunden ist und zum anderen sich für länger anhaltende Versorgungsschwierigkeiten als völlig unwirksam erweist. Darüber hinaus scheinen die Substituierbarkeits- und Einspareffekte, welche als Reaktion auf Krisensituationen in der Golfregion kurzfristig erzielt werden können, an ihre Grenzen gelangt zu sein.

So ist die Energieintensität in den OECD-Ländern zwischen 1973 und 1990 um jährlich 1,7% gesunken, so daß die einzelnen OECD-Staaten heute nur noch 74% der Energie benötigen, die sie 1973 brauchten, um eine Einheit des Bruttosozialprodukts zu produzieren. Weitere Fortschritte in diese Richtung sind jedoch nur bei langfristiger Planung zu erzielen.20

Angesichts der Ereignisse in der Vergangenheit scheinen die Aussichten eher gering, mit einer kooperationswilligen OPEC einen Dialog über faire Rahmenbedingungen zu führen, damit Joint Ventures vom „Bohrloch bis zur Tankstelle“ zwischen Verbraucher- und Produzentenländern fortentwickelt werden könnten.21 Bei welcher Institution könnte die IEA im Falle eines »Vertragsbruches« durch die OPEC klagen? Bei der Auswahl und Bewertung der Handlungsoptionen dürfte die IEA daher vielmehr jene bevorzugen, mit welchen es möglich ist, Drohpunkte gegenüber den Aktionen der OPEC zu entwickeln.

II.3. Drohpunkte: Militär oder Substitution?

Als Handlungsoptionen mit »Drohpunktcharakter« der IEA sind hierbei in erster Linie der Einsatz von militärischen Mitteln (siehe Golfkrieg) sowie die Entwicklung von Erdölsubstituten (Backstop-Technologien) zu nennen. Hierbei ist es nunmehr interessant zu untersuchen, welche Hemmnisse einer erfolgreichen Entwicklung einer Backstop-Technologie entgegenstehen und welche Möglichkeiten (auch aus dem Blickwinkel der Erdölexporteure) es geben kann, diese zu beseitigen.

Der IEA stehen bei der Erforschung, Entwicklung und Demonstration neuer fortschrittlicher Energietechnologien eine Reihe von Kooperationsmechanismen zu Verfügung, wodurch Doppelarbeit auf nationaler Ebene vermieden wird. Technologische Entwicklungen können aber nur dann wirklich zügig umgesetzt werden und damit einen wirklichen Drohpunktcharakter gegenüber der OPEC darstellen, wenn sie auf den bestehenden Infrastrukturen des Energiesektors aufbauen. Nur so scheint es für zukünftige Energiequellen möglich zu sein, die Zeitspanne von 50-60 Jahren deutlich zu reduzieren, welche in der Vergangenheit bei der Einführung der Energieträger Kohle, Erdöl und Erdgas verging, ehe diese einen nennenswerten Beitrag zur Energiebereitstellung leisten konnten. Da die Investitionskosten hoch und die Reinvestionszyklen energietechnischer Umwandlungsanlagen sowie die Lern- und Einführungszeiten lang sind, ist eine langfristige Vorausplanung in den Entscheidungsorganen der Energiewirtschaft der OECD-Länder erforderlich.22

Als problematisch könnten sich die Erfahrungen aus der Vergangenheit erweisen, welche zeigen, daß erst durch die Markteinführung die wesentlichen Impulse zur Kostenreduktion, zur Erhöhung der technischen Effizienz und damit auch zur kommerziellen Verbreitung von technischen Innovationen gegeben werden.23 Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß trotz der jüngsten Erfolgsmeldungen hinsichtlich der Entwicklung der Brennstoffzelle bislang kein wirklicher technologischer Durchbruch hin zur vollständigen Substituierbarkeit von Erdöl im Verkehrsbereich absehbar ist.

Angesichts des starken Preisverfalls beim Mineralöl seit Mitte der achtziger Jahre mag die Frage erlaubt sein, ob der rationelleren Energieverwendung bzw. der Entwicklung von neuen Energietechnologien derzeit überhaupt noch eine volkswirtschaftliche Bedeutung zukommt. Hierbei ist nach Gründen zu suchen, um die bisweilen erheblichen finanziellen F&E-Anstrengungen der IEA-Staaten im Energiesektor zu legitimieren. Welche Folgen sind zu erwarten, wenn die IEA-Staaten ihre F&E-Budgets im Energiebereich an die reale Preisentwicklung für Erdöl koppeln? Bei fallenden Erdölpreisen könnte es dann als gesamtwirtschaftlich legitim angesehen werden, die staatlichen F&E-Ausgaben im Energiebereich zu senken und eher für andere Projekte zu verwenden.

Eine genauere Analyse der Ursachen für die Phase der niedrigen Erdölpreise seit Mitte der achtziger Jahre kommt zu dem Ergebnis, daß weniger die gestiegene physische Verfügbarkeit für den Preisverfall verantwortlich ist als vielmehr institutionelle Probleme des OPEC-Kartells. Selbst wenn man von einer sehr langen Reichweite der Erdölressourcen ausginge, müßte eine Konzentration der Lagerstätten in der Golfregion aus der Sichtweise der IEA-Staaten pessimistisch bewertet werden. Für sie wäre es erforderlich, derartige externe Effekte zu internalisieren. Ein Ansatz zur Lösung dieses Problems könnte z.B. in der Besteuerung des Erdölpreises liegen, um trotz der scheinbar grenzlosen Verfügbarkeit von billigem Erdöl aus der Golfregion einen größeren Anreiz für das Suchen nach alternativen Energieträgern zu schaffen.

Es kann also nicht einfach eine Kopplung der F&E-Ausgaben an den empirisch beobachtbaren Erdölpreis erfolgen, ohne eine genauere Analyse der potentiellen (möglicherweise auch wechselnden) Einflußgrößen auf den Ressourcenpreis vorgenommen zu haben.

Sollte die Entwicklung einer Backstop-Technologie nicht in absehbarer Zeit gelingen, könnte die IEA in Handlungszwänge geraten. Aus ihrer Perspektive könnte dann u.U. nur der Einsatz von militärischen Mitteln als einzig wirkliche Handlungsoption verbleiben, was mit unabsehbaren Folgen verbunden wäre. Somit muß die Förderung der Suche nach Backstop-Technologien nicht nur unter dem Aspekt der Versorgungssicherheit, sondern auch hinsichtlich einer globalen Friedenssicherung positiv bewertet werden. Folglich müssen alle Anstrengungen unternommen werden, die Hemmnisse im Staats- und Unternehmenssektor zu beseitigen.

III. Krieg im Treibhaus? Das Konfliktpotential der globalen Erwärmung24

III.1 Neue Bedrohungen durch den Klimawandel

Die Produktion und Nutzung fossiler Energie, die den größten Anteil an der heutigen Energieversorgung ausmacht, ist mit etwa 46% der größte Verursacher des Treibhauseffekts,25 der durch die Emission von Spurengasen (neben Kohlendioxid auch Stickoxide, Kohlenmonoxid, Methan und Ozon) entsteht und für die globale Erwärmung und daraus folgende Klimaveränderungen verantwortlich gemacht wird. Neben dem verschwenderischen Verbrauch fossiler Brennstoffe sind weitere Hauptursachen die Zerstörung von Wäldern und Böden (18%) sowie die Nutzung von FCKW und Halonen vor allem in den Industrieländern (24%). Trotz verbleibender Unsicherheiten rechnet des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) bei einer Verdopplung des CO2-Gehalts in der Atmosphäre mit einer Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur um 1,5-4 Grad Celsius.26

Für das Konfliktverhalten in Öffentlichkeit und Politik ist nicht allein die Sicherheit der wissenschaftlichen Aussage ausschlaggebend, sondern schon die Wahrnehmung der durch den Treibhauseffekt angenommenen Klimaänderungen entfaltet Wirkung. Ein letzter Nachweis ist ohnehin erst möglich, wenn die Klimaveränderungen tatsächlich eingetreten sind und die Folgen für alle spürbar werden. Für die politische Realität bedeutsam ist schon jetzt die in den vergangenen Jahren beobachtete Zunahme ungewöhnlicher Wetterphänomene, die als Vorboten der prophezeiten Klimakatastrophe angesehen werden. Messungen zeigen, daß seit Anfang der achtziger Jahre eine extrem warme Klimaphase begonnen hat, unterbrochen durch den Pinatubo-Effekt, der die globale Erwärmung in den vergangenen zwei Jahren abgebremst hat, nunmehr aber an Kraft zu verlieren scheint. Das Sommerhalbjahr 1994 war nach Erhebungen amerikanischer und britischer Meteorologen das wärmste seit weltweit Messungen angestellt wurden. Das Climate Prediction Center der US-Regierung hat für die Monate März bis Oktober 1994 weltweit eine Durchschnittstemperatur errechnet, die um rund 0,4 Grad Celsius über normal lag.27

Auch die Zahl und Stärke der klimabedingten Naturkatastrophen (Wirbelstürme und Überschwemmungen, Dürreperioden und Waldbrände) in verschiedenen Regionen der Welt war in den achtziger Jahren tendenziell steigend, ebenso die Zahl der damit verbundenen Opfer und Schäden, die von Versicherungen Zahlungen in Milliardenhöhe verlangten. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen:28

Im Januar und Februar 1990 richteten vier aufeinanderfolgende Orkane in Mitteleuropa Schäden in Höhe von 17 Mrd. DM an.

Im Mai 1991 überflutete ein Zyklon weite Teile des tiefliegenden Küstenlandes in Bangladesh. Etwa 139.000 Menschen wurden getötet und mehr als eine Million Häuser beschädigt oder zerstört. Die Sachschäden wurden auf insgesamt etwa drei Milliarden DM geschätzt, was etwa zehn Prozent des Bruttosozialprodukts von Bangladesch entspricht.

Den finanziell größten Schaden richtete der Hurrikan Andrew an, der am 24. August 1992 das südliche Florida traf. Obwohl Andrew nur der drittstärkste in den USA registrierte Hurrikan war, lag der Schaden mit 42 Mrd. DM so hoch wie bei den drei verheerendsten Stürmen zusammen, die die USA zuvor erlebt hatten.

Wenn auch davon ausgegangen werden kann, daß die wachsende Schadenshöhe zum Teil auf den zunehmenden versicherten Besitz zurückgeführt werden kann, ist doch die Häufung und Intensität derartiger Naturkatastrophen ungewöhnlich. Mehr noch als für die Versicherungsindustrie, die ihre auf historischen Meßreihen basierenden Schätzungen hinsichtlich Schadensmaß und Häufigkeit von Naturkatastrophen überdenken muß, um nicht bankrott zu gehen, sind die betroffenen Menschen gefährdet, für die eine Naturkatastrophe ein Schicksalsschlag ist, auch wenn sie von ihnen möglicherweise mitverursacht wurde.

Die bisherigen Beispiele zeigen auch, daß in den Industrieländern Naturkatastrophen vor allem finanzielle Schäden anrichten, da sich die Menschen durch Vorwarnzeiten und sichere Häuser meist schützen können. In Entwicklungsländern sind dagegen oft weit mehr Todesopfer zu beklagen, während die materiellen Schäden aufgrund des niedrigeren Wohlstandsniveaus geringer liegen.

III.2. Risiken der globalen Erwärmung

Auch wenn noch nicht mit letzter Sicherheit erwiesen ist, ob die genannten Wettererscheinungen mehr sind als nur statistische Ausreißer, werden diese auch von Experten als Vorgeschmack für das gedeutet, was bei Eintreten der vorhergesagten Klimaänderungen erwartet wird. Je mehr die noch verbleibenden Unsicherheiten beseitigt werden, desto mehr verlagert sich die Diskussion von klimatologischen Fragen hin zu den Folgen und Risiken der Klimaänderung sowie ihrer Beseitigung bzw. Begrenzung.

Was möglich erscheint, wird in in einer wachsenden wissenschaftliche Literatur über die Konsequenzen der globalen Erwärmung analysiert (siehe Kasten 2).29 Zumeist wird als Standardfall eine Erwärmung bei einer CO2-Verdopplung gegenüber dem vorindustriellen Niveau angenommen, bei dem sich die mittlere globale Temperatur um 1,5-4,5 Grad erhöht, verbunden mit einer Erhöhung des Niederschlages um 10-15% und einem Meeresspiegelanstieg von 50 cm.

Zu den Kosten der Folgen von Klimaänderungen wurden eine Reihe ökonomischer Untersuchungen durchgeführt, die sich auf die Abschätzung der monetären Schadensvermeidungskosten und den Vergleich mit den Verminderungskosten bei einer Verringerung der Treibhausgas-Emissionen konzentrierten.30 Die ökonomischen Studien stimmen weitgehend überein in der Größenordnung der jährlichen Verminderungskosten – 1 bis 3% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – und kommen mit Unterschieden zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der jährlichen Schäden durch globale Erwärmung – etwa 1 bis 2% des BIP.31 Diese aggregierten Zahlen können weiter aufgeschlüsselt werden hinsichtlich verschiedener Länder und der einzelnen Schadensdimensionen. Die Grenzen und Gefahren einer rein monetären Betrachtung dürfen jedoch nicht übersehen werden:

Bestimmte Schadensdimensionen lassen sich nur unzureichend in Geldeinheiten umrechnen, wie etwa der Verlust von Arten oder von Menschenleben. Dies stößt auch auf ethische Grenzen.

Unvorhersehbare Katastrophen und nichtlineare Effekte (Rückkopplungen) können Schadensberechnungen völlig über den Haufen werfen. Dies wäre etwa der Fall, wenn Klimasprünge über das im IPCC-Szenario prognostizierte Maß auftreten oder der Golfstrom nicht mehr Europa erreicht.

Das Argument, eine CO2-Verminderung könne teurer sein als die Schadensbeseitigung beim Treibhauseffekt, übersieht, daß erstere Maßnahmen auch aus anderen Gründen sinnvoll und damit Zukunftsinvestitionen sind, während letztere unproduktive Reparaturkosten sind.

Die sozialen Aspekte und die Konfliktdimension der globalen Erwärmung lassen sich monetär nicht erfassen.

III.3 Alle in einem Boot oder nach mir die Sintflut?

Die Vorstellung, alle Menschen säßen, wie bei der von Überschwemmungen und Stürmen geschüttelten Arche Noah, in einem »gemeinsamen Boot«, war eine Klammer, die die UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro im Juni 1992 zusammenhielt. Das Gefühl gemeinsamen Bedrohtseins von Nord und Süd erleichterte, trotz aller sonstigen Divergenzen, die Unterzeichnung verschiedener Verträge, darunter der Klimakonvention.32

Nachdem im Anschluß an die Rio-Konferenz erst einmal Ruhe an der öffentlichen Klimafront eingekehrt war, ist auf der Weltklimakonferenz in Berlin vom 28. März bis zum 7. April 1995 der ohnehin schwierige Konsens von Rio brüchig geworden; weitergehende Maßnahmen wurden fraglich. Neuere Untersuchungen haben nicht nur ein erschreckendes Bild der möglichen Folgen der Klimaveränderungen erkennen lassen, sondern auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten und die Widerstände gegen die notwendigen Anpassungsprozesse zur Vermeidung des Treibhauseffekts den Entscheidungsträgern vor Augen geführt. Gefürchtet werden bei Politikern, die auf den kurzfristigen Erfolg der Wiederwahl orientiert sind, die mit der Durchsetzung verbundenen Konfliktpotentiale innerhalb der eigenen Gesellschaft. Unter Verweis auf andere schwarze Schafe, scheinen einige Akteure zu glauben, als Trittbrett-Fahrer noch so lange wie möglich der Formel „Ressourcenverbrauch=Wohlstand“ nachhängen zu können, zugleich jedoch von den Emissionsreduzierungen anderer profitieren zu können. Ein solches ungerechtes und nicht-nachhaltiges Vorgehen verlagert jedoch den Konflikt nur auf die internationale Ebene.

Eine Konsequenz der neuen Nach-mir-die-Sintflut-Mentalität ist, daß das Bild vom gemeinsamen Boot Risse zeigt. Ein Indiz dafür ist die kurz vor der Weltklimakonferenz erschienene Zeitschrift „Bild der Wissenschaft“, die unter dem Titel „Kampf ums Klima“ angesichts einer sehr unterschiedlichen Verteilung der Risiken die Alle-in-einem-Boot-Metapher in Zweifel zieht.33 Während nördliche Regionen von der Verschiebung der Klimaänderung profitieren könnten, wird die in wärmeren südlichen Regionen liegende Dritte Welt eindeutig zu den Verlierern gerechnet. Im einzelnen werden Gewinner und Verlierer der Klimaerwärmung aufgelistet.

Grundlage des Zeitschriftenberichts ist ein Aufsatz von Klaus Meyer-Abich, der in differenzierter Weise die naturwissenschaftlich erfaßbaren Auswirkungen der Klimaänderungen in die soziale und politische Realität übersetzt, d.h. in bestehende Macht- und Gesellschaftsverhältnisse einbettet.34 Ausgangspunkt ist die Kernthese, daß die Implikationen der Klimaänderungen verschiedene gesellschaftliche Gruppen (verschiedene Länder, Männer und Frauen, reich und arm, Berufsgruppen, verschiedene Gemeinschaften) in unterschiedlichem Maße treffen. Selbst die scheinbar kleinsten Veränderungen können einigen Akteuren Vorteile und anderen Nachteile bringen. Selbst wenn auf lange Sicht die Nachteile die Vorteile für jedermann übertreffen, würden einige weniger Nachteile als andere haben und damit relative Vorteile.

Dabei werden gewisse Analogien zwischen biologischen und sozialen Systemen nahegelegt. Besonders empfindlich und damit gefährdet gegenüber Klimaänderungen sind Arten an der Grenze ihres optimalen Lebensraums oder ihrer Belastbarkeit (z.B. geographisch eingegrenzte oder genetisch verarmte Arten, spezialisierte Organismen in spezifischen Nischen oder Lebewesen, die sich zu langsam reproduzieren oder fortbewegen). Entsprechend verwundbar gegenüber Klimaänderung sind Länder,

  • die35 in starkem Maße von der Landwirtschaft abhängen, da dieser Sektor besonders vom Klima beeinflußt wird;
  • sich nicht leicht selbst helfen können, wenn die Landwirtschaft geschädigt wird;
  • bereits von Dürren betroffen sind oder anders von der Klimavariabilität beeinträchtigt werden;
  • unter Überflutungen zu leiden haben, wenn der Meeresspiegel ansteigt.

Es stimmt bedenklich, daß diese Kriterien besonders auf arme Länder in südlichen Regionen der Erde zutreffen.

III.4. Die Verschärfung des Nord-Süd-Konflikts

Die bestehenden Asymmetrien zwischen Industrie- und Entwicklungsländern würden durch die globale Erwärmung in dreifacher Weise verstärkt:

Die industrialisierte Welt ist Hauptverursacher des Treibhauseffekts. Die G7-Staaten und die ehemalige Sowjetunion sind für etwa 55 Prozent der energiebedingten CO2-Emissionen verantwortlich, obwohl dort nur ein Sechstel der Menschheit lebt. Ein US-Amerikaner verursacht pro Kopf und Jahr das 25-fache der CO2-Emissionen eines Inders.

Entwicklungsländer sind in der Regel verwundbarer gegenüber den Folgen der globalen Erwärmung (Dürren, Meeresspiegelanstieg, Sturmfluten oder Orkane), die ihre Landwirtschaft und Nahrungsmittelversorgung stärker treffen. Besonders in Regionen, in denen die Ressourcenverfügbarkeit bereits durch das Bevölkerungswachstum unter Druck ist, kann die Klimaänderung Hunger und Flüchtlingskrisen fördern. Für einige Länder kann die mit der globalen Erwärmung verbundene Bedrohung der eines Krieges gleichkommen (etwa für die Malediven, Bangladesch oder Ägypten).

Entwicklungsländer haben weniger Mittel als die Industrieländer, um die Folgen zu begrenzen oder zu beseitigen. Die Möglichkeiten zur institutionalisierten Konfliktregelung sind unterentwickelt. Der Norden wäre dagegen ökonomisch und technologisch in einer besseren Position als der Süden, seine Ressourcen und sein Territorium zu verteidigen, falls sich die Konsequenzen der globalen Erwärmung als katastrophal erweisen sollten (etwa durch die Verstärkung von Schutzdämmen oder auch mit militärischen Mitteln).

Kurz gesagt: der Treibhauseffekt wird besonders vom Norden verursacht, trifft aber den Süden zunächst in weit stärkerem Maße, der zudem verwundbarer ist und weit weniger Mittel hat, um die Folgen zu begrenzen oder zu beseitigen. Ähnliches gilt für den Schwund der Ozonschicht, der bislang vor allem von den Industrieländern verursacht wurde, aber im Süden, nahe der Antarktis, am stärksten ausgeprägt ist.36 Zwar hängen auch Industrieländer vom Klima ab, mögen jedoch bei ausreichender wirtschaftlicher Leistungskraft glauben, sich selbst helfen zu können, wobei auch hier die Folgen die verwundbarsten und schwächsten Bevölkerungsschichten am stärksten treffen würden. Dagegen könnten einige Industriezweige darauf hoffen, von möglichen Vorteilen der Erwärmung (Tourismusbranche, Klimaanlagenhersteller) oder auch von der Schadensbeseitigung im Verlauf der Klimakatastrophe zu profitieren (vergleichbar dem Aufbau nach einem Krieg).

Meyer-Abich zieht den Schluß, daß die Dritte Welt wieder einmal damit rechnen muß, bei den erwarteten Klimaänderungen auf der Verliererseite zu stehen, während die Industrieländer eher zu den Gewinnern gehören dürften, zumindest relativ. Die Dritte Welt wird noch mehr als bisher zur Hochrisikozone der Erde. Das gemeinsame Boot erweist sich als marodes Schiff, bei dem die Rettungsboote bereits der ersten Klasse zugewiesen wurden.

Mit einer Einteilung in Gewinner und Verlierer wird jedoch davon abgelenkt, daß letztlich alle verlieren. Langfristig wird auch der Norden von den Folgen nicht verschont bleiben, die derzeit bestehende räumliche Distanz zu den Krisenherden wird im Verlauf der Zeit schwinden. Eine Nord-Süd-Spaltung darüber, wie auf die Klimänderungen reagiert werden soll, würde die Ursachen und Folgen weiter verschlimmern und wirksame globale Aktionen erschweren. Der Streit wird sich an Themen wie Handel, Einwanderung und Technologietransfer entzünden.

Wenn sich durch die globale Erwärmung die Lücke zwischen Industrie- und Entwicklungsländern vergrößert, sind daher langfristige und tiefgreifende Konflikte im Nord-Süd-Verhältnis zu erwarten, das durch das unterschiedliche Niveau der industriellen Entwicklung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern ohnehin stark belastet ist. Mit nur 20% der Weltbevölkerung verbraucht der Norden derzeit 80% der Weltressourcen und emittiert den größten Teil der industriellen Umweltverschmutzung.

Zwar gibt es einen wachsenden Druck auf alle Länder, ihren Verbrauch an fossilen Brennstoffen einzuschränken, doch werden Länder im Frühstadium ihrer industriellen Entwicklung besonders betroffen und werden sich nicht einschränken wollen. Sie argumentieren, daß vor allem die reichen Industrieländer des Nordens, die das nicht-nachhaltige Niveau des Ressurcenverbrauchs bereits überschritten haben, die Bürde tragen sollten, die globalen Treibhausgasemissionen zu beschneiden. Das im Süden vorhandene Mißtrauen wird weiter genährt, wenn der Norden auf den Süden Druck ausübt, um die Zerstörung der tropischen Wälder und anderer Ökosysteme zu vermeiden, die als Senken für Treibhausgase dienen.

III.5. Die Zunahme von Umweltkonflikten

Wenn der Süden die Hauptlast der Risiken der globalen Erwärmung zu tragen hat, dürften sich dort bereits bestehende Konfliktursachen (Wettstreit um Ressourcen, Unterentwicklung, soziale und wirtschaftliche Unterschiede, ethnische oder religiöse Differenzen) weiter verschärfen. Die Knappheit an erneuerbaren Ressourcen trägt in vielen Entwicklungsländern ohnehin schon zu bewaffneten Konflikten bei, den sogenannten Umweltkonflikten. Betroffen sind auch hier vor allem die ärmeren Länder, in denen die Verknappung von Wasser, Wäldern und vor allem fruchtbarem Land in Verbindung mit einer rapide wachsenden Bevölkerung großes Elend bedeutet.

Umweltkonflikte im weiteren Sinne umfassen Konflikte, die um die Nutzung natürlicher Ressourcen ausgetragen werden oder durch die Schädigung natürlicher Ressourcen ausgelöst bzw. deutlich verschärft werden. Im Unterschied zu Kriegen um erschöpfbare Ressourcen (Mineralien, fossile Brennstoffe, Territorium) geht es bei Umweltkonflikten im engeren Sinne um die Degradation erneuerbarer Ressourcen als Folge einer anthropogenen Störung ihrer Reproduktion.37

Beispiele für erneuerbare Ressourcen sind landwirtschaftliche Produkte, Süßwasser und Fischbestände, günstigere klimatische Bedingungen sowie die Qualität von Wasser, Boden und Luft, die als frei verfügbare Güter gelten. Sie werden in Stoffwechselkreisläufen regelmäßig regeneriert, abhängig von der Funktionsfähigkeit und Stabilität der Ökosysteme. Ihre Schädigung (etwa durch Wüstenbildung und Anstieg des Meeresspiegels infolge des Treibhauseffektes) kann die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen dauerhaft beeinträchtigen. Eine Degradation kann sich auf drei Ebenen erstrecken:

1. die Übernutzung einer erneuerbaren Ressource (Quelle);

2. die Überbeanspruchung der Umwelt als Senke für Abfälle und Verschmutzung;

3. die irreversible Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen.

Die schwindende Ressourcenbasis verschärft den Wettbewerb um die Ressourcennutzung, der in Umweltkonflikte umschlagen kann, wenn Akteure ihre Nutzungsziele als nicht miteinander vereinbar ansehen. Eine wesentliche Ursache für Umweltkonflikte ist die asymmetrische Verteilung von Nutzen und Schaden durch Umweltveränderungen, wenn Verursacher, Nutznießer und Leidtragende des Ressourcenverbrauchs verschieden sind oder die Mittel zur Bedürfnisbefriedigung und Risikovermeidung bei Betroffenen unterschiedlich vorhanden sind. Umweltveränderungen sind insofern nicht »gerecht«.

Oftmals geht die Verknappung erneuerbarer Ressourcen schleichend vor sich, wobei die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen sich aufsummieren und erst langfristig zu Konflikten zwischen ethnischen Gruppen bis hin zu Bürgerkrieg und Aufständen führen können. Bei einer Reihe aktueller Konflikte wird der Faktor Umwelt als konfliktauslösend oder -verschärfend angesehen, so beim Streit um die Wasserversorgung in Nahost, bei Umweltflüchtlingen in Afrika oder Südasien, die ihre Heimat aufgrund von Desertifikation oder Überschwemmungen verlassen müssen, oder auch bei den gewaltförmigen Auseinandersetzungen in Haiti oder Ruanda. Meist bleiben die Folgen auf die Region begrenzt.

Umweltkonflikte haben internationale Bedeutung, wenn die Nutzung erneuerbarer Ressourcen durch ein Land die Landesgrenzen überschreitet und negative Umweltkonsequenzen für ein anderes Land (oder eine Ländergruppe) hat. Dies ist angesichts der globalen Verflechtung natürlicher Ressourcen zunehmend der Fall. Länder und Regionen können heute in wenigen Jahrzehnten entwaldet werden. Der ganze Globus ist von Klimaänderungen und Ozonabbau betroffen. Damit verbundene Umweltänderungen erzeugen immer neue Konfliktherde, besonders in der Dritten Welt, wo die institutionalisierten Konfliktregelungsmechanismen unterentwickelt sind. Umweltkonflikte in der Dritten Welt enthalten daher eine vergleichsweise größere Kriegsgefahr in sich als im industrialisierten Norden oder zwischen Nord und Süd.

Eine Konfrontation zwischen Nord und Süd ist dann wahrscheinlich, wenn der Norden seinen wirtschaftlichen Wachstumspfad ebenso beibehält wie sein militärisches Droh- und Gewaltpotential gegen »widerspenstige« Staaten im Süden, die wiederum glauben, Industrialisierung auf Kosten der Umwelt erreichen und mit militärischen Mitteln eine Intervention abschrecken zu können. Ein daraus folgendes neues Wettrüsten würde auf unheilvolle Weise mit den negativen Entwicklungen in den anderen Bereichen korrelieren.

Bei einer Zunahme entsprechender Konfliktursachen sind herkömmliche Verfahren zur Konfliktbearbeitung und -lösung immer weniger wirksam. Dies betrifft insbesondere den Einsatz von UNO-Blauhelmen zur Befriedung von Krisengebieten. Auch zivile Maßnahmen des Umwelt- und Katastrophenschutzes können nicht mehr, als die Zahl der Opfer regional zu begrenzen. Um mit der Energienutzung verbundene Konflikte zu vermeiden oder in ihrer destruktiven Wirkung abzuschwächen, ist ein Bündel von Maßnahmen erforderlich, das sich nicht auf traditionelle Mittel des Konfliktmanagements, der Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie der Katastrophen- und Flüchtlingshilfe beschränkt. Das Konzept einer nachhaltigen Ressourcennutzung, das sich präventiv darum bemüht, die Konfliktursachen auszuschließen (durch Energieeinsparung, Effektivierung, angepaßte Energieformen, Beseitigung der Asymmetrien, Verbesserung der Kooperation, Änderung der Lebensweise), ist somit ein wesentlicher Beitrag zur Friedenssicherung.

IV. Der Streit um die Kernenergie zwischen Treibhaus, Risiko und Proliferation

IV.1 Atomstaat und Atomkonflikt

Keine Technologie war und ist in so starkem Maße Gegenstand gesellschaftlicher Kontroversen wie die Atomtechnologie. Der Gegensatz zwischen den überzogenen Versprechungen der fünziger Jahre, in denen das friedliche Atom zum Heilsbringer der Welt hochstilisiert wurde, den enttäuschten Erwartungen der siebziger und den Katastrophenerfahrungen der achtziger Jahre hätte kaum größer ausfallen können. Kernenergie wurde zum Synonym für eine komplexe, fehleranfällige und zentralisierte Großtechnologie, ja zum Symbol für das Scheitern der Moderne. Nach Robert Jungk sind die gesellschaftlichen und politischen Implikationen der Atomtechnologie derart folgenschwer, daß vom »Atomstaat« die Rede ist. In seinem Vorwort zum gleichnamigen Buch stellt er einen Zusammenhang zur Gewalt her:38

„Mit der technischen Nutzbarmachung der Kernspaltung wurde der Sprung in eine ganz neue Dimension der Gewalt gewagt. Zuerst richtete sie sich nur gegen militärische Gegner. Heute gefährdet sie die eigenen Bürger. Denn »Atome für den Frieden« unterscheiden sich prinzipiell nicht von »Atomen für den Krieg«. Die erklärte Absicht, sie nur zu konstruktiven Zwecken zu benutzen, ändert nichts am lebensfeindlichen Charakter der neuen Energie.“

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 hat in tragischer Weise deutlich gemacht, daß Versuche zur Kontrolle der enormen Zerstörungskraft des gespaltenen Atoms fehlschlagen können. Weltweit wurden Millionen von Menschen auf unsichtbare Weise einer radioaktiven Strahlung ausgesetzt, die einem Vielfachen der Hiroshima-Bombe entspricht. In den besonders betroffenen Regionen der Ukraine und Belorus ist Tschernobyl eine soziale Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes: hunderttausende mußten ihre Heimat verlassen, zehntausende von Menschen, darunter viele Kinder, müssen sterben, wenn neueren Studien über die Wirkung radioaktiver Niedrigstrahlung Glauben geschenkt werden darf. Schließlich dürften die immensen volkswirtschaftlichen und politischen Schäden dazu beigetragen haben, die Reformpolitik Gorbatschows zu unterminieren.39 Durch die atmosphärische Ausbreitung sind v.a. Nachbarstaaten, letztlich aber auch die ganze Welt betroffen.40

In den Augen der Bevölkerung führt das hohe – und eigentlich unvorstellbare – Schadenspotential im Falle der Havarie eines Reaktors zu erheblichen Akzeptanzproblemen. Mit den Risiken der Kernenergie ist daher zugleich eine Gegenbewegung mit hohem Widerstandspotential entstanden.41 Die Bewegung gegen die Atomenergie hat ein breites Arsenal von Protestformen entwickelt, von der Bürgerinitiative über friedliche Massendemonstration bis zu eher »militanten«, aber gewaltfreien Aktionen wie Blockaden und Bauplatzbesetzungen, die anderen sozialen Bewegungen als Vorbild dienten. Die Entschlossenheit der Auseinandersetzung ist zum einen auf die wahrgenommenen existentiellen Gefahren der Kernenergie zurückzuführen, zum anderen aber auch durch das teilweise harte Vorgehen der Gegenseite zu erklären, der durch starke Polizeikräfte repräsentierten Staatsmacht im Verein mit der interessierten Industrie.

Während die Erfahrungen von Tschernobyl das Kräfteverhältnis deutlich zu Gunsten der Atomenergiegegner verschoben hatten, arbeiten die Befürworter seit Beginn der neunziger Jahre zielstrebig an einer Rennaissance der Kernenergie. Neben der Energieknappheit, die bei Festhalten am derzeitigen Wachstumsmodell und dem Auslaufen fossiler Energieträger für Mitte oder Ende des nächsten Jahrhunderts erwartet wird, spielt zunehmend die globale Erwärmung eine Schlüsselrolle in der Argumentationskette für die Kernenergie.42

Zweifellos birgt die globale Erwärmung ein enormes Risiko- und Konfliktpotential in sich, wie im letzten Kapitel gezeigt wurde. Geflissentlich wird in der Argumentation jedoch übersehen, daß die Kernenergie in den nächsten Jahren gar keinen nennenswerten Beitrag zur Ersetzung fossiler Energieträger leisten kann, um dem befürchteten Treibhauseffekt entgegenzuwirken, und auch langfristig aufgrund begrenzter Uranvorräte nicht in der Lage ist, eine dauerhaft tragfähige Energieversorgung für die Erde bereit zu stellen. Selbst ein drastischer Ausbau der Kernenergiekapazität wäre kein wesentlicher Beitrag zum Schutz der Erdatmosphäre. Eine Verdoppelung des derzeitigen Anteils der Kernenergie am Weltenergieverbrauch würde – bei konstantem Energieverbrauch – nur eine CO2-Minderung von 5% im Weltmaßstab ergeben, die durch den wachsende Energiehunger im Süden alsbald wieder überkompensiert wäre. Erforderlich ist jedoch mindestens die globale Halbierung der CO2-Emissionen bis Mitte des nächsten Jahrhunderts.43

Unter rein ökonomischen Gesichtspunkten ist es zweifelhaft, ob die Kernergie mit regenerativen Energien konkurrieren kann, vorausgesetzt, diese erhalten eine vergleichbare Förderung und alle Folgekosten der Kernenergie werden in die Berechnung einbezogen. Bei einer ökologischen Gesamtrechnung, die versucht, beispielsweise auch Abfallentsorgung, ökologische Kosten für Bergbau, weitere Brennstoffbearbeitung und Normalbetriebsemissionen monetär auszudrücken, würden schon heute einige regenerative Energieträger (wie Wasser und Wind) deutlich besser abschneiden als der Nuklearstrom (und fossile Energieträger). Der nukleare Billigstrom ist Fiktion geblieben. Dies erklärt im Wesentlichen den anscheinend stattfindenden langsamen Rückzug der Stromversorgungsunternehmen aus der Nuklearenergie, der sich zunächst – solange die Altanlagen nicht abgeschrieben sind – in einem erlahmten Interesse an einem weiteren Ausbau der Kernenergie ausdrückt. Das Investitionsrisko ist überdies durch den Protest der Bevölkerung gewachsen und durch die gestiegenen Anforderungen bei der staatlich kontrollierten Genehmigungsprozedur einiger Länder (darunter Deutschland und USA).

Ob Kernenergie einen relevanten Beitrag zu einer klimaverträglichen Energiepolitik leisten kann, war auch einer der wesentlichen Streitpunkte in der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“ des Deutschen Bundestages. Während das Mehrheitsvotum sich für „eine weitere Nutzung einer verantwortbaren, weil risikoarmen und umweltverträglichen Kerntechnik“ aussprach (S. 1056), vertrat das Minderheitsvotum die Ansicht, daß „nicht trotz, sondern wegen eines effektiven Klimaschutzes (…) aus der Atomkernenergie ausgestiegen werden“ müsse, denn diese sei „quasi die »Speerspitze« eines »harten« Energiepfades, der bislang sowohl das atomare als auch das Treibhausrisiko verschärft hat.“44

Eine genauere Betrachtung des Risiko- und Konfliktpotentials der Kernenergie zeigt, daß diese keine attraktive Variante zu den fossilen Energieträgern und den damit verbundenen Risiken darstellt.

IV.2 Militärische Risiken

Ein hohes sicherheitspolitisches Risiko- und Konfliktpotential ist durch die Überschneidung von zivilen und militärischen Nukleartechnologien gegeben. An verschiedenen Stellen der nuklearen Brennstoffspirale sind Übergänge zur Atomwaffentechnologie möglich, die zur Gefahr ihrer weltweiten Verbreitung (Proliferation) beitragen. Besonders problematisch ist die zivil-militärische Ambivalenz bei Technologien und Anlagen, in denen waffengrädiges Material produziert bzw. verarbeitet wird. Hierzu gehören Urananreicherung, Wiederaufarbeitung und Teile der Brennelementfertigung. Etwa 20 Länder haben bereits den Zugriff auf solche Technologien erreicht. Die Tendenz wird steigen bei weiterem weltweiten Ausbau der Kernenergie.

Schon heute liegen mehr als 1.000 Tonnen Plutonium im zivilen Bereich vor – allerdings zum größten Teil noch eingebettet in den radioaktiven Nuklearabfall, der eine radiologische Barriere darstellt, die nur durch Wiederaufarbeitungstechnologie überwunden werden kann. Etwa bis zu 130 Tonnen Plutonium – theoretisch ausreichend für etwa 25.000 atomare Sprengkörper – liegen in abgetrennter Form vor, ohne daß eine baldige Nutzung im zivilen Kreislauf abzusehen wäre. Eine wachsende Tendenz im Bereich der aufgehäuften Plutoniummengen ist auszumachen.

Solange eine Plutoniumnutzung im weltweitem Maßstab betrieben wird, ist ein unumkehrbarer Weg in die atomwaffenfreie Welt nicht möglich. Die offensichtlichen Probleme durch die Gefahr der Atomwaffenproliferation und die fortdauernde Beibehaltung von existierenden Atomwaffenprogrammen und -optionen wären nicht mehr zu lösen bei gleichzeitiger Existenz nationaler Nuklearprogramme, die den Zugriff auf Waffenstoffe willentlich oder unwillentlich zulassen.

Betroffen sind auch Forschungsprogramme wie der geplante neue Garchinger Forschungsreaktor, der mit waffengrädigem hochangereicherten Uran (HEU) arbeiten soll und damit Programme zur Vermeidung von HEU für zivile Zwecke torpediert.

Ein erheblicher internationaler Aufwand an Inspektionen wird durch die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO, Wien) betrieben, um zu vermeiden, daß Nicht-Kernwaffenstaaten, die Mitglied des Nichtverbreitungsvertrages sind, kein Material für Kernwaffen abzweigen. Eine wirkliche Kontrolle, die zivil-militärische Übergänge ausschließt, existiert aber nicht und ist auch nicht als lückenlos vorstellbar.

Der Bestand an Kernwaffen in den USA und Rußland ist zwar reduziert worden, aber in weiteren acht Ländern sind Kernwaffenarsenale aufgebaut worden, existieren noch, werden erweitert und modernisiert oder mit guten Gründen vermutet. In anderen Ländern wie Deutschland sind Kernwaffen immer noch stationiert. Weitere Staaten werden verdächtigt, den Bau von Kernwaffen anzustreben.

Selbst wenn es keine reale Intention gibt, eine Kernwaffe zu bauen, kann technologisch eine Option vorbereitet oder beibehalten werden. Dadurch haben andere Länder sowie Kritiker im eigenen Land immer wieder Anlaß für Spekulationen über aktuelle oder zukünftige Absichten, ein Kernwaffenprogramm zu starten. Das wirkt eher als Same für Konfrontation als für Kooperation und Vertrauen. Die berechtigten Verdächtigungen gegen den Irak wurden neben der Besetzung von Kuwait von den Aliierten als Hauptgrund dafür angegeben, den Krieg zu führen. Regional können undeklarierte Atomwaffenprogramme oder ambivalente Nuklearprogramme als zusätzlicher Risikofaktor in Krisen oder als Krisenverstärkungsfaktor wirken. Befürchtet wird dies zur Zeit insbesondere im südlichen Asien.

Die Konsequenz ist, daß Kernwaffen mit ihrer Verbindung zur Kernenergie eine ständige Quelle für Diskriminierung, Drohung, Mißtrauen und Angst in den internationalen Beziehungen bleiben. Bei ihrer Fortexistenz besteht die Gefahr, daß an Waffen und Strategien zu ihrer militärischen Bekämpfung gearbeitet wird. Dies zeigen insbesondere die US-Strategie der Counterproliferation sowie Programme zur Raketenabwehr, die ein neues Wettrüsten zwischen Nord- und Süd forcieren und zur Destabilisierung der Sicherheitslage beitragen können.45

Meist unterschätzt wird das Risiko der Kernenergie durch Kriegs- und sonstige Gewalteinwirkungen, insbesondere durch Terror- und Sabotageakte in Gebieten mit politischen und sozialen Spannungen. Schon dreimal wurden Nuklearanlagen Ziel militärischer Angriffe (Israel gegen Irak 1981, Irak gegen Iran im ersten Golfkrieg, USA gegen Irak im zweiten Golfkrieg). Würde ein größerer Leistungsreaktor bombardiert, sind Unfallszenarien vorstellbar, die mit der Tschernobyl-Katastrophe vergleichbar sind. Die bewußte Verseuchung durch einen militärisch erzeugten Kernschmelzunfall mit massiver Radioaktivitätsfreisetzung hätte eine Wirkung auf die betroffenenen Menschen und einen ganzen Landstrich, die länger wirksam sein wird als ein Atomwaffenangriff.

IV.3. Radioaktive Strahlung und die Umweltrisiken der nuklearen Spaltstoffspirale

Die gesamte nukleare Spaltstoffspirale enthält eine Vielzahl von Problemen und Risiken,46 die Werte und Interessen von Menschen empfindlich berühren und damit zu Konflikten beitragen können. In allen Phasen der Spaltstoffspirale, vom Uranbergbau, über die Brennelementfertigung, den Reaktorbetrieb und die Wiederaufarbeitung bis zum Transport und zur Lagerung fallen radioaktive Stoffe an, deren Freisetzung eine Gefahr darstellt. Es ist schon im Normalbetrieb kaum zu vermeiden, daß auf jeder Verfahrensstufe radioaktive Stoffe in die Umwelt gelangen, ganz abgesehen von den immer wieder auftretenden Stör- und Unfällen. Gerade im Normalbetrieb stellen radioaktive Belastungen ein Konfliktpotential mit internationalen Dimensionen dar. Die Hauptrisiken erwachsen aus dem Uranbergbau und der Wiederaufarbeitung. Die deutschen Kernenergienutzer haben beide Risikoquellen ins Ausland verlagert. Die Leukämiefälle rund um die irische See sind somit auch durch die Wiederaufarbeitung deutscher Brennelemente in Sellafield zu verantworten.

Bei der Urangewinnung und Erzaufbereitung werden große Mengen schwachaktiver Abfälle produziert, die in Halden gelagert werden und die Umgebung kontaminieren. Reaktoren produzieren hochradioaktive Gase und Flüssigkeiten, die an die Umwelt abgegeben werden, und müssen nach einer Betriebszeit von 25 bis 35 Jahren demontiert und als radioaktiver Abfall behandelt werden. Auch der Umgang mit hochaktiven, strahlenden Materialien bei der Uranbearbeitung und -anreicherung sowie der Brennelementfertigung führt zur Produktion weiterer radiotoxischer Abfälle. Die abgebrannten Brennelemente selbst sind hochaktiver Atommüll, der über Jahrtausende radioaktive Strahlung abgibt.

Im Uranbergbau werden jährlich mehrere Millionen Tonnen von Material bewegt, um die benötigten etwa 100.000 Tonnen Uranerz zu schürfen, die den Uranbrennstoffbedarf von zur Zeit knapp 10.000 Tonnen pro Jahr befriedigen. Die Abraumhalden enthalten bis zu 85% der ursprünglichen Radioaktivität. Neben den radioaktiven Emissionen geben die Abraumhalden auch andere toxische Substanzen ab, darunter Schwermetalle, Nitrate und Phosphate. Die deutsche Wismut-AG produzierte 220.000 Tonnen Uran und hinterließ 48 Halden mit mehr als 300 Millionen Kubikmetern radioaktiv verseuchten Materials. Zwischen 1946 und 1990 erkrankten mehr als 7.000 Menschen an Lungenkrebs. 13 Mrd. DM soll die Sanierung kosten.47

Rund 70% der Uranerzstätten liegen in Gebieten indigener Völker, besonders in den großen Abbaugebieten Australiens, Südafrikas oder der USA.48 Dabei geht es nicht nur um radioökologische Folgen und Eingriffe in die Landschaft. Erstaunlich häufig finden sich Uranminen unter Tabuzonen und Heiligtümern der UreinwohnerInnen, die durch den Abbau zerstört wurden und werden. Die Folgen des Uranabbaus sind somit ein trauriges Beispiel für vernachlässigte Folgen, von denen weit entfernt lebende Menschen betroffen sind, die nicht profitieren von der Nutzung des Urans in Kernreaktoren.

Anlaß zur Sorge bereiten auch Unfallrisiken und Strahlenbelastungen durch Transporte von Nuklearmaterial auf dem Schienen-, Straßen- und Luftweg sowie die dabei gegebene Möglichkeit terroristischer Anschläge. Bei den Transporten abgebrannter Brennelemente in den Castorbehältern wird das Begleitpersonal einer unverantwortbar hohen zusätzlichen Strahlenbelastung ausgesetzt.

Die tatsächliche Wirkung niedriger Strahlendosen auf die belebte Natur, die auch im Normalbetrieb von Nuklearanlagen auftritt, kann nicht sicher angegeben werden, doch gewichten neuere Untersuchungen (z.B. bei Arbeitern in der Atomindustrie und dem größten Teil der Atombombenüberlebenden) die Schadenswirkung radioaktiver Niedrigstrahlung heute höher als früher.

Letztlich kann jede freigesetzte Radioaktivität Schäden in biologischen Kreisläufen anrichten, die über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg wirksam werden können. Auch wenn die Risiken zunächst lokal in Erscheinung treten, wird letztlich die Anzahl der global durch Emissionen betroffenen Menschen noch wesentlich größer sein als die regional Betroffenen, u.a. weil die Emissionen aus den Kernkraftwerken irgendwann aufhören, die global verteilten Radioisotope aber nur langsam zerfallen. Weniger als 2% der für alle Zeit aufsummierten Kollektivdosis als Folge der Kernenergienutzung wird von den Menschen getragen, die in der regionalen und lokalen Umgebung und in der historischen Zeit ihrer Nutzung leben, d.h. von den Menschen, die wahrscheinlich fast 100% des Nutzens haben. Nicht berücksichtigt sind hierbei der Anteil von beruflich strahlenexponierten Personen an der Kollektivdosis (etwa 5%) und die Folgen möglicher unfallbedingter Emissionen. Die über Jahrtausende hinweg weltweit akkumulierte Schadenswirkung an menschlichen Organismen durch Krebs oder genetische Defekte mag somit zu unzähligen Opfern führen, die auf das Konto der heute lebenden Generationen gehen.

Bei der durch Radioaktivität erhöhten Krebswahrscheinlichkeit handelt es sich um ein reales Risiko; dagegen gerichtete Handlungen von potentiell Betroffenen sind keineswegs irrational oder Panikmache, wie von interessierter Seite gerne suggeriert wird. Die Betroffenen werden zu einem Verhalten genötigt, daß zu Konfliktsituationen führen kann.

IV.4 Reaktorunfälle

Im Zentrum der öffentlichen Debatte über die Kernenergie steht die Sorge über das Versagen von Atomkraftwerken und die damit verbundenen Folgen. Im schlimmsten Fall kann der Reaktorkern mit den Brennelementen schmelzen. Bei Durchbrechen des Sicherheitsbehälters kann massiv Radioaktivität freigesetzt werden. Die Reaktorunfälle im englischen Windscale in den fünfziger Jahren, im Kernkraftwerk Three Mile Island in Harrisburg 1978 sowie die Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 haben das öffentliche Mißtrauen gegenüber Kernkraftwerken verstärkt.

Alle Versuche, die Gefahren des Reaktorbetriebs vollständig unter Kontrolle zu bekommen, sind bislang an den enormen technischen Anforderungen an das Sicherheitssystem und am »Unsicherheitsfaktor Mensch« gescheitert. Da es perfekte Sicherheit nicht geben kann, führt das Versagen des hochkomplexen, eng-gekoppelten und zeitkritischen Gesamtsystem zu »normalen Katastrophen«. Entgegen der Vorstellung, alles technisch beherrschen zu können, lassen sich nicht alle Unfallszenarien erfassen, können unvorhergesehen Fehlermöglichkeiten aufreten, die zum GAU mit unabsehbaren Folgen führen können. Die Möglichkeit dazu wurde in Katastrophenplänen immer ins Kalkül gezogen. Nach der ersten deutschen Risikostudie aus dem Jahre 1979 etwa sei, bezogen auf den Referenzreaktor Biblis, im schlimmsten Falle mit bis zu 14.500 Soforttoten und 104.000 Fällen von Spätfolgen zu rechnen; desweitern könnte eine Fläche von bis zu 5.600 Quadratkilometern so stark kontaminiert werden, daß 2.9 Millionen Menschen evakuiert werden müßten.

Auch wenn die Unfallwahrscheinlichkeit klein erscheinen mag, so ist doch im Falle des Eintretens wenig Hoffnung auf Hilfe durch den Katastrophenschutz zu setzen. Auswirkungen über die Region hinaus sind zu erwarten, wie der Tschernobyl-Unfall vor Augen geführt hat. Die Atomtechnologie »bestraft« schwerwiegende Fehler mit Folgen katastophalen Ausmaßes, die soziale Strukturen destabilisieren oder gar zerstören können. Derartige Risiken sind inakzeptabel, zwingen davon Betroffene zu Abwehrhandlungen und können zu Konflikten zwischen Staaten führen.

Von Experten wird die Meinung vertreten, daß zur Zeit kein Reaktortyp verfügbar ist, der nach dem modifizierten deutschen Atomgesetz genehmigungsfähig wäre.49 Ob »inhärent sichere« oder »katastrophenfreie« Reaktoren entwickelt werden können, die folgenschwere Unfälle völlig ausschließen, bleibt abzuwarten. Auch wenn ein Reaktor theoretisch vorstellbar wäre, der viel »sicherer« sein könnte als alle bisher betriebenen, so bleibt doch ein erhebliches »Restrisiko« der Kernenergienutzung, das unabhängig von der Wahl eines speziellen Reaktortyps ist.

IV.5. Das Abfallproblem: ein Konflikt mit zukünftigen Generationen

Offensichtlich ist das langfristige Risiko der Kernenergie am Ende der Brennstoffspirale. Über Jahrzehnte hinweg wurde in Atomreaktoren Atommüll produziert, ohne daß ein schlüssiges Abfallkonzept für den anfallenden radioaktiven Müll realisiert worden wäre. Täglich wächst der Atommüllberg, und das damit verbundene Risiko wird über Hunderttausende von Jahren wirksam sein. Daher wird das Problem der langfristigen Lagerung radioaktiver Abfälle als ein internationales Problem betrachtet, das internationale Lösungsansätze erfordert.

Aufgrund der langen Halbwertszeit einiger Isotope (beispielsweise 24.110 Jahre für Plutonium-239 oder 210.000 Jahre für Technecium-99) sind derart viele zukünftige Generationen von den radioaktiven Abfällen betroffen, daß die menschliche Vorstellungskraft und Prognosefähigkeit überfordert sind. Erst nach 1.000 Generationen ist die Hälfte des Plutonium-239 zerfallen. Dieser Zeitraum ist länger als die Geschichte des modernen Menschen, die nach Ende der letzten Eiszeit vor etwa 10.000 Jahren begann. Die Notwendigkeit, den Atommüll über so lange Zeiträume von der Biosphäre zu isolieren, übertrifft bei weitem die gesellschaftlichen Perspektiven, dies sicherzustellen.

Alle derzeit diskutierten Lösungsvorschläge sind mit großen Problemen behaftet. Bis zum Anfang der siebziger Jahre gab es bei den Kernenergiebetreibern keinen internationalen Konsens, wie hochradioaktive Abfälle sicher auf lange Zeit gelagert werden können. Versenkung im Meer, Lagerung im Eis der Antarktis, die Verschießung ins All, Injizierung flüssiger Abfälle unter grundwasserführende Schichten und verschiedenste Varianten der unterirdischen Lagerung wurden ernsthaft in Erwägung gezogen und teilweise praktiziert. Erst in den siebziger Jahren etablierte sich zunehmend das Konzept der „wartungsfreien, zeitlich unbefristeten und sicheren Beseitigung in tiefen geologischen Formationen“ (kurz: »Endlagerung«), wobei Salz, Granit, Mergel, Ton und einige andere Materialien auf ihre Eignung geprüft wurden. Zunächst setzte sich dieses Konzept der Endlagerung weltweit durch und ermöglichte den Abschluß der Londoner Konvention, die die einzige noch ernsthaft vertretene Alternative, die Meeresversenkung, unter Verbot stellt.50

Bis heute, nach rund vier Jahrzehnten Kernenergienutzung, gibt es auf der Welt jedoch nicht ein einziges Endlager für hochradioaktive Abfälle mit Betriebsgenehmigung, und es ist ungewiß, ob jemals der Nachweis für ein Endlager erbracht werden kann, der die Langzeitsicherheit zufriedenstellend garantiert. Etwa 90.000 Tonnen abgebrannter Brennelemente haben sich in Zwischenlagern angesammelt.

Ob überhaupt eine verantwortbare Lösung für die langfristige sichere Lagerung von radioaktiven Abfällen geschaffen werden kann, und welche Folgen diese für viele Tausende zukünftiger Generationen haben wird, ist ungewiß. Während die meisten Regierungen und internationalen Organisationen heute ein Konzept der Endlagerung in tiefen geologischen Formationen favorisieren, wird vor allem von BürgerInneninitiativen die Forderung entgegengehalten, den Müll rückholbar und kontrolliert zu lagern. Eine gezielte langfristige Überwachung zwecks Kontrolle und Reparatur der Schutzbehälter erscheint nötig, weil jedes Behältermaterial korrodiert und Radioaktivität durch jede Art geologischer Barriere über lange Zeit in nicht genau vorhersagbarer Weise entweicht. Die Lagerung soll auf den jeweils technologisch besten Stand gebracht werden.

Obwohl diese Gegenposition nicht mit einem schlüssigen und technisch weit entwickelten Konzept auftreten kann, muß die dauerhaft bewachte Lagerung als ernsthafte Alternative zur Endlagerung dieser Abfälle in Betracht gezogen werden. Diese Gegenposition bekommt dann mehr Gewicht, wenn man einerseits gelten läßt, daß neben rein technischen Kriterien auch soziale, politische, ethische und psychologische eine Rolle spielen, und wenn man zugesteht, daß andererseits schon bei Beschränkung auf technische Kriterien kein Konsens über die Erreichbarkeit der Schutzziele hergestellt werden kann.

Angesichts fehlender Entscheidungen stellen sich verantwortliche Stellen und die Nuklearindustrie zunehmend darauf ein, daß hochradioaktive Abfälle langfristig zwischengelagert werden müssen, weil ein für hinreichend sicher bewertbares Endlager innerhalb der nächsten Generation nicht und vielleicht nie errichtet werden kann. Dies hat tiefgehende ethische Implikationen, insbesondere hinsichtlich des Verursacherprinzips sowie bezüglich Entscheidungsfreiheit und Selbstschutz zukünftiger Generationen.

Die wesentlichen Konflikte sind dabei:51

1. Vermeidung von Abfällen durch Einstellung des Reaktorbetriebs vs. Bereitstellung eines Entsorgungnachweises zur rechtlichen Sicherung des Reaktorbetriebs

2. Vermeidung irreversibler unerwünschter Folgen (z.B. durch Rückholbarkeit) vs. Wahl einer endgültigen Lösung (Endlager) mit Restrisiko

3. Schutz der weit entfernten Generationen vor potentiellen radiologischen Gefährdungen vs. Schutz der heutigen und nahen Generation vor bekannten Risiken (zeitliche Aufteilung des Risikos)

4. Weitgehende Partizipation der Öffentlichkeit bei Entscheidungen, Informationsvermittlung und Bewachung vs. Effektivierung der Entscheidungsprozesse und Beauftragung von Fachleuten

5. Dauerhafte Bewachung der radioaktiven Abfälle als soziale Aufgabe vs. Endlagerung als technische Aufgabe.

Eine Klärung der verschiedenen Positionen anhand solcher Zielkonflikte könnte vielleicht zur Konfliktbearbeitung und zu einer Lösung des Problems beitragen. Stattdessen wird derzeit versucht, das Problem durch administrative Entscheidungen von oben in den Griff zu bekommen, beispielsweise durch eine Weisung vom Bundesminister an eine Landesregierung, oder es wird versucht, in einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozeß einen Konsens herbeizuführen. Bisher sind in dieser Frage allerdings weder ein »herrschaftsfreier Diskurs« noch eine demokratisch tragfähige Entscheidung erreicht worden. Die verschiedenen Interessenparteien müßten sich stärker von ihren kurzfristigen Partikularinteressen lösen können, wenn sie eine auf die Dauer haltbare Umgangsweise mit den radioaktiven Abfällen finden wollen und damit die Interessen zukünftiger Generationen gleichberechtigt anerkennen wollen. Ohne eine absehbare Lösungsperspektive wäre es unverantwortlich, den Problemberg durch atommüllproduzierende Reaktoren weiter anwachsen zu lassen.

IV.6 Kriterien für eine verantwortbare zukünftige Nutzung der Kernenergie

Durch den bestehenden Betrieb von Kernreaktoren ist bereits eine »nukleare Hinterlassenschaft« entstanden, die weitere – auch wissenschaftliche – Arbeit in diesem Bereich dringend erforderlich macht. Die sichere Lagerung bzw. Beseitigung des nuklearen Abfalls und der aktivierten Anlagenteile muß ein wesentliches Thema bleiben. Ebenso muß die Sicherheit laufender Nuklearanlagen ständig überprüfbar und verbesserbar bleiben – auch wenn diese nur noch im Ausland betrieben werden sollten.

Offen ist die Frage, wie eine Weiterentwicklung nuklearer Energieoptionen bewertet werden soll, die für den längerfristig anstehenden teilweisen Ersatz fossiler Energieträger vorbereitet werden. Vorschläge für eine neue Generation von Kernspaltreaktoren werden dazu in verschiedenen Labors und Firmen erarbeitet. Mit großem finanziellen Aufwand wird die Kernfusion als mögliche neue nukleare Energiequelle erforscht. Weiterhin gibt es Ansätze, mittels beschleunigergestützter unterkritischer Reaktoren eine neuartige Kernspaltenergiequelle zu entwickeln bzw. eine Maschine zur Umwandlung von hochaktivem Nuklearabfall in kurzlebigen radioaktiven Abfall zu erfinden (Transmutation).

Wenn wirklich eine neue überzeugende Generation von Reaktoren entwickelt werden soll, die breite Akzeptanz nicht nur der Reaktorbetreiber, sondern auch der Bevölkerung erreichen will, muß bereits im Entstehungsprozeß von Forschung und Entwicklung darüber nachgedacht werden. Einerseits müssen die neuen Technologien insgesamt akzeptabler erscheinen als die bislang genutzten Technologien auf der Basis fossiler Rohstoffe und andererseits müssen sie den Wettbewerb mit weiterzuentwicklenden regenerativen Energieträgern aufnehmen können – und dies nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Zu den Kriterien für eine verantwortbare Verfolgung von Zukunftsoptionen im Bereich nuklearer Technologien, die die mögliche Entwicklung selbst mitbeeinflussen, sollten gehören:52

1. Es muß nachprüfbar erkennbar sein, daß das Ziel einer wohldefinierten Katastrophenfreiheit erreichbar erscheint, d.h. das Unfallrisiko und das Schadensausmaß müßten drastisch reduziert werden können (vergl. Paragraph 7 des revidierten Atomgesetzes).

2. Die Proliferationsresistenz aller verwendeten und vorgeschlagenen Nukleartechnologien sollte angestrebt werden, d.h. waffengrädiges Nuklearmaterial sollte weder produziert noch genutzt werden.

3. Absehbare Langzeitfolgen aus dem Betrieb entwickelter Anlagen sollten auf ein vertretbares Minimum reduziert werden; dies bedeutet u.a., daß die Notwendigkeit einer Langfristlagerung von großen radioaktiven Abfallmengen ausgeschlossen sein sollte.

4. Die erforderlichen Rohstoffe sollten von vorneherein in die Betrachtung miteinbezogen werden, so daß ein langer Horizont der Technologienutzung möglich erscheint, der weit über den theoretisch nutzbaren Zyklus für fossile Brennstoffe hinausgehen sollte.

5. Der Investitionsbedarf und die erwartbaren Betriebskosten sollten nicht größer sein als diejenigen, die man für die wesentlichen regenerativen Energieträger erwartet.

6. Der tatsächliche Beitrag zur Erreichung von Klimaschutzzielen (beispielsweise Reduktion der CO2-Emissionen) muß in Konkurrenz zu demjenigen Beitrag durch mögliche Installierung erneuerbarer Energiequellen überzeugend sein – auch hinsichtlich der spezifischen Kosten.

Gemäß dieser Kriterien müßte beispielsweise die Weiterentwicklung der Brütertechnologie wohl als zu risikoreich und wenig erfolgversprechend angesehen werden. Die bisherigen negativen Erfahrungen mit dieser Technologie und die Tatsache, daß höchstens eines der genannten Kriterien erfüllbar erscheint, sprechen eine deutliche Sprache.

Es besteht die Hoffnung, durch die Debatte anhand dieser Kriterien eine frühzeitige und vorausgreifende Konfliktminderungsstrategie im erwartbaren Streit um zukünftige Nukleartechnologien herbeiführen zu können. Es wäre wünschenswert, wenn durch die implizite Definition eines Leitbildes die zukünftige Forschung und Entwicklung sinnvoll und transparent gesteuert werden kann.

V. Leitbilder, Zielkonflikte und Handlungsperspektiven – Aspekte einer ethischen Urteilsbildung

Angesichts des erkennbaren Konflikt- und Katastrophenpotentials der bestehenden Energieversorgung stellt sich die Frage, wie eine verantwortbare Energieversorgung für das nächste Jahrhundert aussehen könnte, die gefährlichen Energiekonflikten vorbeugt. Das soll nicht heißen, daß alle Risiken und Konflikte grundsätzlich auszuschließen sind (was kaum möglich und auch nicht immer wünschenswert erscheint), sondern daß es keine Katastrophen und Gewaltkonflikte geben soll, die verheerende Zerstörungen und soziale Deformationen nach sich ziehen können.

Die wesentlichen Lösungskonzepte sind bekannt. Um das gewünschte Ziel einer verantwortbaren Energieversorgung bis Mitte des nächsten Jahrhunderts zu erreichen, bedarf es einer Reihe ordungspolitischer Maßnahmen, von denen einige hier angedeutet werden:

Wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen steuern die Energiepreise, um sowohl erhebliche Einsparungen beim Energieverbrauch zu erzielen wie auch die Wirtschaftlichkeit ressourcen-schonender und risikoärmerer Energien sicherzustellen.

Technologiepolitische Entscheidungen fördern die Entwicklung und Erprobung regenerierbarer Energien.

Verkehrspolitische Entscheidungen entwickeln ein neues Verkehrskonzept, das sich sowohl auf das Verhältnis von öffentlichem und privatem Verkehr als auch auf die Antriebsart der Kraftfahrzeuge bezieht.

Gesellschaftspolitische Entscheidungen fördern die Dezentralisierung und setzen damit kleinere gesellschaftliche Einheiten in die Lage, über Energieversorgungskonzepte selbst zu bestimmen.

Um Handlungsoptionen bewerten, vergleichen und im Rahmen eines Gesamtkonzepts umsetzen zu können, sind Beurteilungskriterien erforderlich, die für eine konkrete Fragestellung zu operationalisieren sind. Dabei ist zu berücksichtigen, daß jeder Beurteilung Leitbilder zugrundeliegen, die den kommunikativen Prozeß der ethischen Urteilsbildung maßgeblich beeinflussen. Im folgenden sollen mit den Begriffen »Erhaltung und Entfaltung« zwei Leitkriterien zur Beurteilung der Energiepolitik herangezogen werden, die Schlüsselbegriffe sowohl für die Friedensdiskussion wie auch für die Debatte über nachhaltige Entwicklung sind.53

V.1 Ethische Urteilsbildung – ein kommunikativer Prozeß

Ethische Urteilsbildung ist als ein kommunikativer Prozeß zu verstehen, in den die Beteiligten ihre Kenntnisse, Reflexionen, Argumentationen, Bewertungen und Betroffenheiten mit dem Ziel der Verständigung einbringen. Dabei bedeutet Verständigung nicht sofort Konsens. Ein erstes wichtiges Ziel ist vielmehr, die unterschiedlichen Interessen, kompetenzbedingten Sichtweisen und moralischen Positionen – also die entscheidenden Punkte des Dissenses – herauszuarbeiten. Erst dann kann die Frage nach einem möglichen Kompromiß aus Gründen dringender Handlungsnotwendigkeit gestellt oder weiter nach einem möglichen Konsens gesucht werden.

Was Kompromisse angeht, so ist zwischen solchen auf der Ebene der strategischen und der praktischen, sprich ethischen Diskurse zu unterschieden. Kompromisse auf der strategischen Ebene sind immer wieder notwendig, um politische, gesellschaftliche und persönliche Handlungsfähigkeiten zu erhalten; sie sind schon schwierig genug. Noch schwieriger sind ethische Kompromisse; angesichts des Pluralismus von kulturellen Traditionen und ethischen Grundüberzeugungen, repräsentiert in einer Vielfalt sozialer Bewegungen, sind sie oft nicht möglich und vor allem dann auch gar nicht wünschenswert, wenn sie das Selbstverständnis von Personen oder Gruppen beschädigen würden.

Wenn auch immer wieder Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen getroffen werden müssen, bleibt der ethische Urteilsbildungsprozeß – selbst bei einem erreichten Konsens – prinzipiell offen. Neue Erkenntnisse und Erfahrungen, in unserem Zusammenhang gerade auch aufgrund wissenschaftlich-technischen Handelns, machen es immer wieder notwendig, in ethische Urteilsbildungsprozesse einzutreten. Ethische Urteilsbildungsprozesse sind iterativ.

Die Offenheit ethischer Urteilsbildungsprozesse darf allerdings nicht so verstanden werden, als ob in ihnen schlechterdings alles zur Disposition gestellt werden sollte. Es gibt notwendige Bedingungen für Urteilsbildungsprozesse, die gleichzeitig normative Ansprüche an die Beteiligten enthalten: die wechselseitige Anerkennung und Achtung als Personen, das Bemühen um sachlich zutreffende Aussagen und um Wahrhaftigkeit, die Bereitschaft zur Revision eigener Auffassungen. Darüber hinaus werden im folgenden Abschnitt Leitwerte eingeführt, an denen Urteilsbildungsprozesse sich orientieren sollten: Erhaltung und Entfaltung. Die nähere Präzisierung dieser Bedingungen bzw. dieser Leitwerte bleibt allerdings wieder Angelegenheit der Urteilsbildungsprozesse.

V.2 Politische und ethische Zielperspektiven

a) Das politische Leitbild der nachhaltigen Entwicklung

In dem Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung „Unsere gemeinsame Zukunft“ wird »sustainable development« als politischer Leitbegriff eingeführt. Damit ist in diesem Dokument eine Entwicklung gemeint, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können. Im Vordergrund stand damals die dauerhafte Überwindung der Armut. Dieser sogenannte Brundtland-Bericht ebnete den Weg zur UNCED, der United Nations Conference on Environment and Development, die 1992 in Rio de Janeiro stattfand.

Bei dem Konzept des »sustainable development« – im Deutschen am häufigsten mit »nachhaltiger Entwicklung« wiedergegeben – handelt es sich um einen politisch-normativen Begriff, der drei Imperative umfaßt: den Imperativ der internationalen Gerechtigkeit, der eine gerechte Verteilung von Gütern (outputs) und Einflußmöglichkeiten (inputs) zwischen allen heute lebenden Menschen verlangt, den Imperativ der intergenerationellen Gerechtigkeit, der auf die Gerechtigkeit zwischen den Generationen zielt, und den Imperativ der Bewahrung der Natur.54

b) Die ethischen Leitkriterien von Erhaltung und Entfaltung

Die ethischen Dimensionen von nachhaltiger Entwicklung lassen sich ausdrücken durch die Leitkriterien der Erhaltung und Entfaltung der Menschheit (siehe auch Kasten 3).55 Erhaltung meint die Fortdauer menschlichen Lebens im Kontext natürlicher und kultureller Lebenszusammenhänge. Entfaltung bezieht sich auf die innere Dynamik menschlicher Personen und Gesellschaften, die ihre Erhaltung nur im Prozeß der Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Anlagen sinnvoll anerkennen können. Beschreibt man Entfaltung bezugnehmend auf die Personalität der Menschen, so sind in diesem Begriff zwei Inhalte von gleicher Wichtigkeit: Autonomie und Partizipation oder Mündigkeit und Partnerschaft.

Autonomie bzw. Mündigkeit betont die Fähigkeit zu eigenständigem Denken und Urteilen und damit zur Selbstentscheidung und Eigenverantwortlichkeit. Die Ausdrücke Partizipation bzw. Partnerschaft bezeichnen einen zur Autonomie komplementären Gesichtspunkt im Begriff der Personalität: die Person als Beziehungswirklichkeit. Personen können sich nur in kommunikativen Prozessen entfalten, die ihrerseits an gesellschaftliche Rahmenbedingungen – nämlich die Autonomie und die personale Integrität zu achten und Kommunikationen zu fördern – geknüpft sind.

c) Die Zielformulierung angesichts des Energieproblems

Als verantwortbare Zielsetzung – unter Berücksichtigung der Kriterien von Erhaltung und Entfaltung sowie des politischen Leitbilds des »sustainable development« – läßt sich formulieren:

Sicherstellung einer human-, sozial- und umweltorientierten Energieversorgung bis zum Jahr 2050 und darüber hinaus.

Der Begriff der Humanorientierung bezieht sich in unserem Zusammenhang besonders auf die Sicherung des Existenzminimums, die Befriedigung der Grundbedürfnisse unter Beachtung regionaler und kultureller Besonderheiten sowie auf die Sicherheit der menschlichen Gesundheit und des menschlichen Lebens vor technikbedingten Bedrohungen. Zum Begriff der Sozialorientierung gehören die Aspekte der gerechten Verteilung der verfügbaren Energie wie auch der Vermeidung von gravierenden Vorgriffen auf die Entscheidungsfreiheit künftiger Generationen. Der Gesichtspunkt der Umweltorientierung verbietet die weitere Belastung des Ökosystems und verlangt eine Minderung oder Beseitigung der eingetretenen Schädigungen.56

V.3 Die Mittel zur Lösung und ihre Beurteilung

Bei der Frage nach den Mitteln zur Erreichung des vorgestellten Ziels ist die weiter oben beschriebene Problemlage im Auge zu behalten: Bevölkerungswachstum und somit erhöhter Energiebedarf in den betroffenen Ländern, Vermeidung einer folgenreichen Klimaveränderung und somit drastische Reduzierung vor allem der Belastung der Atmosphäre mit Kohlendioxid, Verteilungsgerechtigkeit hinsichtlich der Energiemengen und damit verbundener Risiken. Von hier ergeben sich die Themenschwerpunkte dieses Abschnitts. Sie sind allerdings auch mitbestimmt von der Auseinandersetzung mit jenen Autoren, die aus ethischen Gründen die weitere Nutzung und den Ausbau der Kernenergie – zumindest für die nächsten 50 bis 100 Jahre fordern.57

a) Energiesparende Maßnahmen

Unbestritten ist, daß im Hinblick auf eine verantwortbare Energieversorgung für die Zukunft den energiesparenden Maßnahmen hohe Priorität zukommt. Einsparungen können erreicht werden durch effizienzsteigernde Techniken, durch Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen – z.B. im Verkehrsbereich – sowie durch Änderung von Lebensformen – z.B. im Konsum- oder Freizeitbereich.

Die erste Strategie – Effiziensteigerung – betrifft sowohl die Industrie- wie auch die Entwicklungsländer. Sie wird in den ersteren leichter politisch durchsetzbar sein als in den letzteren; allerdings stimmen die Erfahrungen nach der Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklung und bei der Weltklimakonferenz in Berlin nicht optimistisch.

Die zweite Strategie – Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen – wird von den politischen Entscheidungsinstanzen höchst zögerlich behandelt, weil fehlende gesellschaftliche Akzeptanz – wohl zu recht – unterstellt wird.

Änderungen der Lebensformen sind nur über bewußtseinsverändernde Prozesse im Zusammenhang mit sozialen Bewegungen möglich und mit der Bereitschaft, experimentierend neue Lebenserfahrungen zu sammeln. Es ist offen, ob die nachfolgenden Generationen sich diese Optionen zu eigen machen. Zunächst ist eher festzustellen, daß relevante soziale Bewegungen wie die Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung den Anschluß an die jüngere Generation nicht gefunden haben.

b) Kohlendioxidärmere oder kohlendioxidfreie Energieträger

Ein weiterer wichtiger Beitrag zur Entlastung der Erdatmosphäre kann durch die Umstellung auf kohlendioxidärmere Energieträger geleistet werden. Zur Zeit wird der größte Anteil der verbrauchten Energie aus fossilen Energieträgern gewonnen (1990 weltweit 87%). Gerade diese Art der Energieerzeugung ist mit dem hohen Ausstoß von Kohlendioxid verbunden. Aus Gründen der Sozial- und Umweltorientierung muß der Einsatz fossiler Energieträger – dies gilt vor allem für Kohle und Erdöl – drastisch verringert werden. Deshalb dürften auf keinen Fall neue Kohlekraftwerke in Betrieb genommen werden. Dies wäre ein erster notwendiger, aber nicht hinreichender Schritt. Die derzeitige Diskussion um die Zukunft des Steinkohlebergbaus und der Braunkohleförderung in Deutschland zeugt allerdings von erheblichen Denk- und Handlungsblockaden, durch die verhindert wird, längst vorhandene ökologische Einsichten umzusetzen.

Überlegungen, aus wirtschaftlichen Gründen solchen tiefgreifenden und natürlich auch kostenintensiven Umstellungen in der Energieversorgung die Finanzierung von Schutzmaßnahmen (z.B. Deiche und Dämme) vorzuziehen, gewichten zu wenig die Kriterien der Umwelt- und vor allem der Zukunftsorientierung. Sie nehmen in Kauf, daß heute getroffene und mit nicht mehr revidierbaren Folgen verbundene Entscheidungen den Gestaltungsspielraum kommender Generationen erheblich einschränken.

Vor allem aber läßt sich an diesem Beispiel der Unterschied zwischen technizistisch-probabilistischen und ökologisch-tutioristischen Entscheidungsvorgängen verdeutlichen. Als technizistisch wird hier eine Denk- und Verhaltensweise bezeichnet, die durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation bedingte Probleme ausschließlich durch technische Reparaturmaßnahmen zu beheben sucht, ohne deren Ursachen zu beseitigen. Probabilistisch ist ein Entscheidungsverhalten, dem wahrscheinlich gute Gründe für die zu wählende Alternative ausreichen, wenn auch wahrscheinlichere Gründe gegen sie sprechen mögen. Die Entscheidung für Schutzmaßnahmen wie das Eindeichen riesiger überflutungsbedrohter Gebiete wäre eine technizistische Entscheidung, wenn sie nicht auch die Ursachen des Ansteigens der Meeresspiegel angehen würde. Sie ist probabilistisch, weil gute Gründe für das Gelingen dieser Maßnahmen sprechen mögen, da nach Meinung einiger Experten die Klimaveränderung durch Sonnenflecken verursacht sei und deshalb wieder rückläufig werden könne.

Ökologisch wird dagegen ein Entscheidungsverhalten genannt, das den komplexen Wechselwirkungsverhältnissen auf unserem Planeten Rechnung zu tragen versucht und deshalb um eine Beseitigung von Störungen und Zerstörungen dieser Synergismen bemüht ist. Tutioristisch ist eine Entscheidung, die eine deutliche Begrenzung von Risiken anstrebt und deshalb den Nachweis sicherer (tutior=sicherer) Gründe verlangt, um eine Handlung verantworten zu können. Hans Jonas hat den Tutiorismus pointiert ausgelegt, indem er das Prinzip vom Vorrang der schlechten Prognose vor der guten aufgestellt hat, nach welchem „der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu geben ist als der Heilsprophezeiung. … Es ist das Gebot der Bedächtigkeit im Angesicht des revolutionären Stils, den die evolutionäre Entweder-Oder-Mechanik im Zeichen der Technologie, mit dem ihr immanenten und der Evolution fremden »aufs Ganze Gehen«, annimmt.“58 Tutioristisch ist einzig die Entscheidung, den Ausstoß von Kohlendioxid sofort und drastisch zu verringern.

c) Begrenzte Möglichkeiten der erneuerbaren Energien

Der risikoärmste Weg zu diesem Ziel wäre, die fossilen Energieträger durch erneuerbare zu ersetzen. Letztere – vor allem die solare Strahlungsenergie – genügen am besten den Kriterien des »sustainable development«, der Umwelt- und Zukunftsorientierung. Auch wenn erneuerbare Energien und ihre Durchsetzung nicht völlig konfliktfrei sind (wie sich etwa am Streit um Windenergieanlagen ersehen läßt), so muß den dezentralen erneuerbaren Energiekonzepten zugute gehalten werden, daß sie weit besser sozialverträglich sind als zentralisierte Großtechnologien wie Kohle- und Kernkraftwerke oder riesige Staudämme. Die Frage ist, ob und wie schnell vor allem die Solarenergie so genutzt werden kann, daß wesentliche Anteile des Energiebedarfs durch sie gedeckt werden. Zu klären ist auch, in welcher Weise – als Solarthermik, Photovoltaik, solare Wasserstofftechnik – und wo sie eingeführt werden soll.

Das Ob scheint – jedenfalls was Solarthermik und Photovoltaik betrifft – positiv entschieden, da die entsprechenden Techniken zur Verfügung stehen. Wie schnell sie eingeführt werden können, hängt von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen ab, die unverzüglich zu treffen wären. Aber auch im besten Fall wird die Solarenergie bis zum Jahr 2020 nicht in der Lage sein, die fossilen Energieträger, vor allem Kohle und Erdöl, in einem umweltverträglichen Ausmaß zu substituieren.59

d) Die Kernenergienutzung: bedingtes Veto, aber kein kategorisches Verbot

Diese Substitution sei in den zu prognostizierenden Zeiträumen nur durch verstärkte Nutzung der Spaltungsenergien erreichbar, betonen die Befürworter der Kernenergie. Als Argument führen sie die Unterlassungsfolgenregel an. Diese bezieht sich auf das Verhältnis von Handeln und Nichthandeln und bedenkt, daß auch das Unterlassen von Handlungen mit Folgen verbunden sein kann. Wenn die mit dem Nichthandeln verbundenen negativen Folgen bedeutend schwerwiegender sind als die Nebenfolgen des Handelns, dann kann das Unterlassen der Handlung nicht gerechtfertigt werden. Bezogen auf die Frage „Nutzung der Kernenergie: Ja oder Nein?“ wird argumentiert: „Das Ausmaß möglicher Schäden ist … bei globalem Energiemangel um vieles größer als bei den schlimmsten denkbaren Unfällen der Kernenergie. Bei dem Verzicht auf Kernenergie ist außerdem die Wahrscheinlichkeit solcher Schäden erheblich größer als die Wahrscheinlichkeit großer Unfälle durch Kernreaktoren mit hohem Sicherheitsstandard. In beiden Risikokategorien, sowohl im Schadensumfang als auch in der Eintrittswahrscheinlichkeit, ist der Energiemangel bedrohlicher als die Kernenergie.“60

Die Anwendung der Unterlassungsfolgenregel setzt voraus, daß überhaupt eine Güterabwägung zwischen Nutzung oder Nicht-Nutzung der Kernenergie unter den gegenwärtigen Bedingungen vorgenommen werden kann. Dies wäre nicht der Fall, wenn ethische Prinzipien deontologischer Art gegen die zivile Nutzung der Kernenergie sprechen würden. Deontologische Prinzipien verpflichten immer und in jeder Hinsicht. I. Kants kategorischer Imperativ ist ein solches Prinzip; es ist formal, weil es ein verbindliches Verfahren zur Überprüfung von Handlungsabsichten oder -maximen formuliert. Es gibt auch inhaltlich bestimmte deontologische Prinzipien, z.B. kann in keinem Fall sittlich gerechtfertigt werden, einen Menschen zu foltern oder einen unschuldigen Menschen zu töten.

Liegen vergleichbar verbindliche Imperative vor, die die Nutzung der Kernenergie verbieten würden? Drei Imperative dieser Art sind vorgetragen worden: 1. Es ist nicht erlaubt, über die in der Natur schon vorhandenen Gefahrenquellen hinaus weitere in sie einzubauen. 2. Es ist nicht erlaubt, durch irreversible und folgenreiche Entscheidungen in der Gegenwart die Entscheidungsmöglichkeiten kommender Generationen einzuengen. 3. Es ist nicht erlaubt, eine Wette auf das Überleben kommender Generationen einzugehen.61

Zunächst ist festzustellen, daß das kulturtechnische Handeln der Menschen in vielfältiger Weise in Konflikt mit diesen Imperativen gerät – nicht erst im Fall der Kernenergienutzung. Sie sind in dieser Allgemeinheit als kategorisch verpflichtende Imperative nach vielen Seiten hin anwendbar, was zu Widersprüchlichkeiten und auch zu folgenreichen, nicht vertretbaren Handlungsblockaden führen kann. Unter den immer bewußter werdenden Bedingungen der Risikogesellschaft allerdings gewinnen sie ein zunehmendes Gewicht als regulative Prinzipien, die die Richtung von Handlungsoptionen bestimmen. Alle drei Imperative sind im übrigen auch auf die Situationen zu beziehen, die möglicherweise durch den Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie entstehen. Eine deontologische Argumentation führt also zu keiner kategorischen Entscheidung gegen die Kernenergie.

Befürworter eines weiteren Ausbaus der Kernenergie zählen diese zu den kohlendioxidfreien Energieträgern und argumentieren mit der Notwendigkeit, die Nutzung fossiler Energieträger massiv zu reduzieren und dennoch einen bei allem Sparen doch steigenden Energiebedarf zu decken.

Von den Kriterien der Sicherheit, Human-, Sozial- und Umweltorientierung her ergeben sich allerdings aus der oben durchgeführten Risikoanalyse schwerwiegende Gründe gegen die weitere Nutzung und vor allem gegen den Ausbau der Kernenergie. Sie beziehen sich auf die Freisetzung radioaktiver Strahlung durch die nukleare Brennstoffspirale, die Möglichkeit atomarer Unfälle oder Katastrophen, die Gefahr der Weiterverbreitung atomarer Waffen und die ungeklärte Beseitigung atomaren Mülls. Die Gründe sind derart schwerwiegend, daß von einer verantwortbaren Nutzung der Kernergie derzeit keine Rede sein kann.

Allerdings ist der Grundsatz zu berücksichtigen, durch heutige Entscheidungen die Freiheitsspielräume kommender Generationen nicht einzuschränken. Daher kann weitere Kernenergieforschung gerechtfertigt werden, um mit den Belastungen bisheriger militärischer und ziviler Kernenergienutzung sicher umgehen zu können, insbesondere um die sichere Lagerung atomarer Abfälle zu ermöglichen oder um Verfahren zur Beseitigung der großen Mengen von Waffenplutonium zu entwickeln. Auch die Forschung zu inhärent sicheren Spaltungsreaktoren oder zur Nutzung der Fusionsenergie soll nicht ausgeschlossen sein, sofern die Bedingungen für solche Zielperspektiven im Bereich nuklearer Technologien klar formuliert werden (vgl. Kap. IV). Dazu gehören die Katastrophenfreiheit der Reaktoren ebenso wie die Proliferationsresistenz, der nachprüfbar sichere Umgang mit verbleibenden radioaktiven Materialien und die Möglichkeit einer langfristigen Nutzung – weit über den Nutzungshorizont fossiler Energiequellen hinaus. Zudem dürfen die finanziellen Mittel für Kernergieforschung die vordinglichere Entwicklung und Einführung erneuerbarer Energien nicht behindern.

V.4 Plädoyer für regional-partizipative Lösungen

In der gegenwärtigen Energiediskussion werden zwei Strategien zur Lösung des Problems vertreten.

Der global-deduktive Lösungsweg geht von Annahmen über die Entwicklung der Weltbevölkerung bis zur Mitte des nächsten Jahrhunderts, über den damit verbundenen Weltenergiebedarf sowie über die notwendige Senkung der Kohlendioxidemissionen aus. Dann wird errechnet, wieviele Solaranlagen weltweit zu errichten wären, um das Ziel einer ausreichenden Energieversorgung sowie das einer Umweltentlastung zu erreichen. Dabei ergibt sich aus technischen und aus finanziellen Erwägungen die Unmöglichkeit dieser Lösung im vorgesehenen Zeitraum. Nach dieser Argumentationsstrategie bleibt – auf jeden Fall für die nächsten 50 bis 100 Jahre – keine Alternative zur weiteren Nutzung, d.h. zum weiteren Ausbau der Kernenergie. Diese Argumentation hat allerdings drei Schwächen. Sie muß mit Annahmen über künftige Entwicklungen arbeiten, die nicht genügend abgesichert sind, um wichtige Entscheidungen auf sie zu stützen. Sie muß eine Weltinstanz, einen weisungsbefugten Weltenergierat, voraussetzen, der »top-down«-Prozesse einleiten wird. Schließlich bleiben bei dieser Denk- und Argumentationsweise die kulturellen und regionalen Unterschiede unberücksichtigt.

Der regional-partizipative Ansatz dagegen konzentriert sich auf die spezifischen Gegebenheiten und Möglichkeiten einzelner Regionen.62 Er will in einem Prozeß (vermittelt etwa durch einen regionalen runden Tisch), an dem möglichst viele Experten und Betroffene beteiligt sind, zu je spezifischen schrittweisen Lösungen für die jeweiligen Regionen kommen. Der Vorteil dieses Ansatzes besteht darin, daß eine größere Vielfalt von Möglichkeiten genutzt werden und durch die mit dem partizipativen Prozeß verbundene höhere gesellschaftliche Akzeptanz auch größere Effizienz erzielt werden kann. Ein Nachteil dieses Ansatzes ist allerdings, daß ein überzeugender Nachweis nicht zu erbringen ist, wie auf diesem Weg in allen Regionen der Erde eine ausreichende und umweltorientierte Energieversorgung sichergestellt werden kann. Die Tatsache, daß ein dringender Handlungsbedarf hinsichtlich einer verantwortbaren Energieversorgung für die Zukunft besteht, macht es notwendig, an möglichst vielen Orten Initiativen regionaler Art fortzuführen oder zu beginnen.

Es ist von Interesse zu untersuchen, inwieweit derartige regionale Initiativen zur Bewältigung der globalen Energieproblematik beitragen können. Für die interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung ist es eine lohnende Zukunftsaufgabe herauszufinden, welche Instrumente zur Verfügung stehen bzw. zu entwickeln sind, um Energiekonflikte bewältigen und eine nachhaltige Energieversorgung friedlich durchsetzen zu können.

Kasten 1: Zum Konfliktbegriff

Im allgemeinen Sinne ist Voraussetzung für einen Konflikt ein Spannungsgefälle (Konfliktpotential) zwischen Sein (Ist-Zustand) und Wollen/Sollen (Soll-Zustand). Die Überbrückung dieser Differenz ist Anlaß zum Konflikthandeln. Wird trotz wiederholten Handelns das Konfliktpotential nicht abgebaut, kann der Einsatz der Mittel bis zum äußersten eskalieren (einschließlich Gewalt). Die Konfliktspannung kann aber auch dadurch abgebaut werden, daß der Soll-Zustand zurückgenommen, an den Ist-Zustand angepaßt wird: man findet sich ab. Dies ist dann nicht möglich, wenn der Ist-Zustand als unerträglich oder gar lebensbedrohend empfunden wird, es sich also um ein existenzielles Bedürfnis handelt.

In der Konfliktforschung werden vorwiegend die zwischenmenschlichen Konflikte untersucht, in denen mindestens zwei Akteure (Personen, Gruppen, Organisationen, Staaten oder Staatengruppen) beteiligt sind, die Absichten und Ziele (Interessen) verfolgen, sich gegenseitig wahrnehmen, durch ihr Handeln und ihre Kommunikation gegenseitig beeinflussen können. Ist der eine dem anderen im Wege, handelt es sich um einen Gegensatz (Zusammenstoß, Inkompatibilität) von Interessen.

Ob ein oder mehrere Akteure ihre Interessen im Verlauf des Konflikts wahren können, hängt ab von der Art und dem Ausmaß der vorhandenen Mittel des Konfliktaustrags, der Wirksamkeit und dem Geschick bei ihrem Einsatz sowie von der Kompromißbereitschaft der Akteure. Handlungen können darauf gerichtet sein, den geplanten Weg zu gehen und den anderen dabei zu verdrängen oder gar zu vernichten (Konfrontation), oder darauf, diesen zu einem erwünschten Verhalten zu bewegen, durch Überzeugungsarbeit mittels Argumentation und Kommunikation (Kooperation). Eine Konfliktlösung ist dann nicht zu erreichen, wenn die Akteure sich im Verlaufe des Konflikts trotz verstärkter Anstrengungen mehr und mehr von dem Ziel entfernen (Eskalation). Ziel von Konfliktlösungsstrategien ist es, zwischen den Akteuren über die Wahl der Mittel und auch der Ziele zu verhandeln, um diese kompatibel zu machen oder zumindest zu regulieren (z.B. durch internationale Regime). Am ehesten ist eine Konfliktlösung zu erreichen durch eine Strategie beiderseitigen Vorteils, wenn beide ihre gewünschten Ziele annähernd erreichen, bei möglichst geringen Reibungsverlusten (Kompromiß, Konsens).

Da zur Konfliktbewältigung zuvor schlummernde geistige und physische Potentiale freigesetzt werden, sind Konflikte ein wesentliches Moment der sozialen Bewegung, können jedoch bei den Betroffenen erhebliches Leid verursachen. Ausschlaggebend ist letztlich, ob im Konfliktverlauf die destruktiven oder die konstruktiven Mittel überwiegen.

Quelle: J. Scheffran, Frieden und nachhaltige Entwicklung, in: W. Vogt (Hrsg.), Kultur des Friedens, Beiträge zum UNESCO-Programm „Culture of Peace“ (in Vorbereitung)

Kasten 2: Potentielle Gefahren durch die globale Erwärmung (Nach Cline 1992, Bach 1995 a.a.O.)

1. Landwirtschaft und Ernährungssicherung

  • Anfälligkeit gegen extreme Wetterphänomene (Stürme, Dürre, Überschwemmungen)
  • Wassermangel
  • Ausbreitung der Wüsten
  • Kohlenstoff-Düngung und verstärktes Pflanzenwachstum
  • Polwärtige Verlagerung der Anbauzonen
  • Verringerung der Weltgetreide-Produktion
  • Mehr Ungeziefer und Krankheiten
  • Zunahme des Hungers

2. Verluste von Wald und biologischer Vielfalt

  • Destabilisierung von Ökosystemen durch raschen Klimawechsel
  • Verringerung der Artenvielfalt
  • Schrumpfung des Waldbestandes
  • Weitere Streßfaktoren: Schadstoffbelastungen, Radioaktivität, Bodenversauerung, Grundwasserabsenkung, Schädlingsbefall, Änderung des Lokalklimas, vermehrte UV-Bestrahlung durch Ozonabbau

3. Anstieg des Meeresspiegels

  • Einflußfaktoren: Wärmeausdehnung des Ozeanwassers, Abschmelzen der Gebirgsgletscher, Abschmelzen des grönländischen und antarktischen Eisschildes.
  • Historische Beobachtung: bei 2°C höherer Temperatur 6 m höherer Meeresspiegel
  • Vergangene Jahrzehnte: Meeresspiegelanstieg um 25 cm an der deutschen Nordseeküste
  • Berechneter Meeresspiegelanstieg: ca. 20 bis 100 cm zwischen 1990-2100 (Business as Usual); Überflutung von bis zu 3% der Erdoberfläche
  • Folgen eines Meerespiegelanstiegs: verstärkte Küstenerosion, Sturm- und Flutkatastrophen, Eindringen von Salzwasser in Trinkwasser- und Bewässerungsanlagen, Schrumpfen des Lebensraums

4. Änderung der Ozeanzirkulation

  • Mögliche Änderung der atlantischen Ozeanzirkulation und Ablenkung des Golfstroms: Abkühlung in Europa

5. Wasserversorgung

  • Wasserabflüsse schrumpfen durch höhere Verdunstung
  • Höhere Klär-Kosten
  • Wüstenbildung und Dürre

6. Naturkatastrophen, Krankheit, Tod

  • Zunahme von Wirbelstürmen, Überschwemmungen, Dürreperioden, mit hohen Schäden
  • Ausbreitung von Seuchen und Krankheiten nach Norden
  • Verlust menschlichen Lebens

7. Weitere Schäden

  • Elektrizitätsbedarf: höhere Kosten für Klimaanpassung, z.B. Klimaanlagen
  • Luftverschmutzung: wächst mit steigenden Temperaturen
  • Industrie: Abhängigkeit bestimmter Industriezweige (z.B. Landwirtschaft, Ski-Industrie) von klimatischen Bedingungen

Kasten 3: Frieden und nachhaltige Entwicklung:
Begriffliche Verknüpfungen

Die negative Definition des Friedens (Abwesenheit von Krieg bzw. organisierter Gewalt) ist zur Behandlung von Energiekonflikten nicht ausreichend, da sie den Bedürfnissen und positiven Voraussetzungen für Frieden nicht gerecht wird, auf deren Zustandekommen die Energienutzung Einfluß hat. Auch die Bindung an den Gerechtigkeitsbegriff hilft nicht weiter, da dies zum Dilemma vom »gerechten Kriege« führen kann, in dem Gewalt zur Herstellung von Gerechtigkeit eingesetzt wird. Fruchtbarer ist der Ansatz, in Anknüpfung an die Menschenrechte, die die Grundrechte des Individuums zur Existenzerhaltung und Entfaltung sichern sollen, Frieden zu charakterisieren durch:63

„1. Existenzerhaltung des einzelnen aufgrund abnehmender Gewalt,

2. kontinuierliche Existenzentfaltung des einzelnen aufgrund zunehmender Gleichverteilung von Entfaltungschancen.“

Die Begriffe Erhaltung und Entfaltung sind zur Einordnung der Energiekonflikte gut geeignet, da sie zugleich zentrale Kategorien nachhaltiger Entwicklung sind. Während mit der Nachhaltigkeit die Entfaltung des Individuums an die Erhaltung der Umwelt gebunden ist, wird im Frieden die Existenzerhaltung des Individuums zur Grundvoraussetzung für seine Entfaltung. Zugleich ist menschliche Existenz ohne Entfaltung, die zur Selbstverwirklichung des einzelnen gehört, nicht denkbar. Sie schafft rückwirkend auch die Voraussetzungen für die Existenzerhaltung in einer sich ändernden Welt.

So wie nachhaltige Entwicklung eine Voraussetzung für die zukünftige Friedenssicherung ist, so ist auch der Erhalt des Friedens eine wesentliche Rahmenbedingung für die kooperative Durchsetzung von nachhaltiger Entwicklung. In der Negation beider Begriffe wird ein Teufelskreis sichtbar: Bleibt die Welt unfriedlich, besteht die Gefahr des Scheiterns nachhaltiger Entwicklung, was wiederum Ursache neuer gewalttätiger Konflikte wäre. Um die bei der Durchsetzung eines gerechten nachhaltigen Verteilungsniveaus (etwa des Energieverbrauchs oder der CO2-Emissionen pro Kopf der Bevölkerung) auftretenden Konflikte gewaltfrei zu halten, werden geeignete Konfliktregelungsmechanismen und Vermittlungsprozesse benötigt.

Quelle: J. Scheffran, in: W. Vogt, a.a.O.

IANUS-Projekt zu Energiekonflikten

Seit 1994 wird bei IANUS an der TH Darmstadt das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Globale Sicherheit und nachhaltige Entwicklung als Kriterien für Technikbewertung am Beispiel von Energiesystemen“ durchgeführt. Ziel ist die Entwicklung, Operationalisierung und Anwendung von Kriterien für Technikbewertung, besonders der Schlüsselbegriffe globale Sicherheit und nachhaltige Entwicklung, auf den Bereich der globalen Energieversorgung und damit verbundener Konflikte. Damit möchte IANUS einen Beitrag zu einer global orientierten und verantwortlichen Forschungs- und Technologiepolitik in einer Weltgesellschaft leisten.

Das auf mehrere Jahre angelegte fächerübergreifende Rahmenprojekt besteht aus vier Teilprojekten, in denen jeweils sozialethische, ökonomische, physikalische und mathematische Aspekte im Vordergrund stehen. Die verschiedenen Dimensionen werden in einem interdisziplinären Diskurs behandelt, zusammen mit interdisziplinärer Lehre. Die ersten beiden Jahre des Projekts wurden vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst mitfinanziert. Vom 28. Februar bis 3. März 1995 veranstaltete IANUS mit Unterstützung durch die Berghof-Stiftung für Konfliktforschung einen Workshop „Verantwortbare Energieversorgung für die Zukunft“ in Darmstadt; eine Buchpublikation ist in Vorbereitung. Im November dieses Jahres ist IANUS Mitveranstalter eines Fachgesprächs zu „Frieden und nachhaltige Entwicklung“, auf der es u.a. auch um Energiekonflikte geht.

Anmerkungen

1) Time Magazine vom 29.5.1996. Zurück

2) Frankfurter Rundschau, 9.5.1996. Zurück

3) M. Teschner, Klima, Verkehr und Gesellschaft, VDW info, Nr.3, September 1995, S.12-16. Zurück

4) Zur Kritik der Konsensgespräche siehe: „Ein Parteienkonsens nur über Kernenergie und Kohle wäre fatal“, Ein gemeinsames Positionspapier von BUND, Öko-Institut, IPPNW und Peter Hennicke, Frankfurter Rundschau, 29.5.1995. Zurück

5) Für Deutschland sei hier nur genannt G. Altner, H.-P. Dürr, G. Michelsen, J. Nitsch, Zukünftige Energiepolitik, Bonn: Economica Verlag 1995. Zurück

6) Zitat aus: D. Viefhues, Sanfte Energiezukunft – Wege und Widerstände, in: H. Müller, D. Puhl (Hrsg.), Ressourcenpolitik – Konfliktpotentiale und Kooperationschancen bei der westlichen Rohstoffsicherung, Haag + Herchen, 1984, S. 260. Zurück

7) Siehe z.B. R. Kollert, Die Politik der latenten Proliferation. Militärische Nutzung »friedlicher« Kerntechnik in Westeuropa, Dissertation, Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden, 1994. IANUS hat die Themen Ambivalenz und Proliferation zu Arbeitsschwerpunkten gemacht. Siehe J. Scheffran et al., Ambivalenz der Forschung – Dual-use der Technik. Zivil-militärische Wechselbeziehungen, in: U. Kronfeld, W. Baus, B. Ebbesen, M. Jathe (Hg.), Naturwissenschaft und Abrüstung. Forschungsprojekte an deutschen Hochschulen, Münster: Lit-Verlag, 1993, S. 87-119; W. Liebert et al., Proliferation von Massenvernichtungswaffen aus naturwissenschaftlicher Sicht, in: U. Kronfeld et.al., 1993, a.a.O., S. 120-174; W. Liebert, R. Rilling, J. Scheffran (Hrsg.), Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik – Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz, Marburg: BdWi-Verlag, 1994. Zurück

8) Zum Thema Umweltkonflikte siehe Kapitel III. Zur Diskussion über die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs siehe C. Daase, Ökologische Sicherheit: Konzept oder Leerformel?, in: B. Meyer, C. Wellmann (Red.), Umweltzerstörung: Kriegsfolge und Kriegsursache, Edition Suhrkamp, 1993 S. 21-52; L. Brock, Weder für alles Gute noch für alles Schlechte in der Welt zuständig, Frankfurter Rundschau, 9.5.95; Environment and Security Debates: An Introduction, Report of the Environmental Change and Security Project, Washington, DC: The Woodrow Wilson Center, Spring 1995. Zurück

9) Nicht zufällig hat das englische Wort »Power« im deutschen zwei Bedeutungen: Macht und Energie/Leistung. Zurück

10) Zu den Hintergründen siehe P. Bushel Okoh, Environmental Conflicts in the Niger-Delta Region, Aufsatz präsentiert beim ENCOP-Meeting, Zürich/Bern, Schweiz, 29.4.-1.5.1993; eine überarbeitete Kurzfassung ist erschienen in: Frankfurter Rundschau, 5.7.1995; K. Saro-Wiwa, Flammen der Hölle, Reinbek: rororo aktuell 1996. Zurück

11) Siehe hierzu weiter A. Bozdag, Um Öl und Gas. Internationale Konfliktlinien im Kaukasus und in der kaspischen Region, Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/96, S. 587-597; C. Gasteyger, Ölpoker am Kaspischen Meer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.5.96, S. 12. Zurück

12) Siehe hierzu V. Boege, Das Sardar-Sarovar-Projekt an der Narmada in Indien – Gegenstand ökologischen Konflikts, ENCOP-Report No. 8, 1993; G. Sen, National development and local environmental action – the case of the River Narmada, in: V. Bhaskar, A. Glyn (Eds.), The North – the South. Ecological Constraints and the Global Economy, London: Earthscan, 1995 S. 184-200. Zurück

13) A. Waldron, Ecological Roulette: Daming the Yangtze, Foreign Affairs, September/October 1995. Zurück

14) S. Kloetzli, Der slowakisch-ungarische Konflikt um das Staustufenprojekt Gabcíkovo, ENCOP Report, No.7, 1993. Zurück

15) Die folgenden Angaben stützen sich weitgehend auf: I. Hauchler, Globale Trends 1996, Stiftung Entwicklung und Frieden, Fischer, 1995. Zurück

16) Siehe hierzu M. Kalinowski, Zukunfts- und Ganzweltverträglichkeit. Versuche zur Einbeziehung der Interessen zeitlich und räumlich weit entfernt Betroffener in die Technikfolgen-Abschätzung am Beispiel der Kerntechnik, Schriftenreihe der Gesellschaft für Technikfolgen-Abschätzung Nr. 9/1992, Berlin 1992; M. Kalinowski, Über den engen Horizont hinaus. Versuche zur Einbeziehung der Interessen zeitlich und räumlich weit entfernt Betroffener in die Technikfolgen-Abschätzung, Wechselwirkung Nr. 60, April 1993, S. 11-14. Zurück

17) Vgl. E. Müller, Das Ende der Ölzeit. Strategie für eine saubere Wirtschaft in Deutschland, Frankfurt a.M., 1993, S. 20. Zurück

18) Die wechselhafte Geschichte des Kampfes um Öl ist in aller Breite beschrieben in D. Yergin, The Prize – The Epic Quest for Oil, Money and Power, New York et al: Simon & Schuster, 1992. Zurück

19) Vgl. M. Stürmer, Energieversorgung und internationale Sicherheit (Interview), In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen, 1993, S. 376-380 (S. 376). Zurück

20) Vgl. G. Maass, Die Internationale Energieagentur. Lehren aus der Vergangenheit – Herausforderung an die Zukunft, In: Energie-Politik-Geschichte, Wiesbaden, 1993, S. 191-203 (S. 197). Zurück

21) Vgl. H.-J. Schürmann, Golfkrise und Weltölversorgung, In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen, 1990, S. 680-682 (S. 682). Zurück

22) Vgl. U. Widmaier, T. König, Engpaßdiagnosen und Handlungsoptionen im Energiesektor, in: U. Widmaier, T. König (Hrsg.), Technische Perspektiven und gesellschaftliche Entwicklung, Baden-Baden, 1989, S. 259-277 (259). Zurück

23) Vgl. M. Meliß, Trends und Schwerpunkte bei der Entwicklung regenerativer Energieträger, in: Widmaier/König 1989, a.a.O., S. 279-306 (303). Zurück

24) Der folgende Abschnitt ist eine gekürzte und modifizierte Version von: J. Scheffran, Konfliktfolgen energiebedingter Umweltveränderungen am Beispiel des globalen Treibhauseffekts, in: W. Bender (Hrsg.), Verantwortbare Energieversorgung für die Zukunft, Tagungsband zum gleichnamigen IANUS-Workshop, Darmstadt, 28.2.-3.3.1995 (in Vorbereitung). Zurück

25) Davon entfielen 18 % auf die Industrie, 16 % auf den Verkehr und 12 % auf Haushalte und Kleinverbraucher; vgl. W. Bach, Anthropogene Klimaveränderungen – Übersicht zum aktuellen Kenntnisstand, Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/95, S. 67-79. Zurück

26) Intergovernmental Panel on Climate Change, Climate Change: The IPCC Scientific Assessment, Cambridge University Press, 1990. Der zweite IPCC Assessment Report wurde 1995 veröffentlicht. Zurück

27) Treibhaus 1994: Das heißeste Sommerhalbjahr weltweit, Bulletin Klimaforum '95, 9. Dezember 1994, S. 1. Zurück

28) C. Flavin, Keine Ruhe vor dem Sturm, World-Watch, Januar/Februar 1995, S. 11-23. Zurück

29) Siehe insbesondere J.B. Smith, D.A. Tirpak, The Potential Effects of Global Climate Change on the United States, U.S. Environmental Protection Agency, 1989; W. Cline, The Economics of Global Warming, Institute for International Economics, Washington 1992; Preparing for an Uncertain Climate, 2 Volumes, Washington, DC: Office of Technology Assessment, OTA-O-567, October 1993; S. Frankhauser, D.W. Pearce, The Social Costs of Greenhouse Gas Emissions, in: The Economics of Climate Change, Proceedings of an OECD/IEA Conference, Paris: OECD, 1994, S. 71-86; C. Krupp, Klimaänderungen und die Folgen, Berlin: edition sigma, 1995. Zurück

30) Die Kosten der CO2-Verminderung sind hauptsächlich die Verluste an wirtschaftlichem Output, die mit den Beschränkungen von Energie-Inputs einhergehen. Zurück

31) W.R. Cline, Costs and Benefits of Greenhouse Abatement: A Guide to Policy Analyis, in: The Economics of Climate Change, Proceedings of an OECD/IEA Conference, Paris: OECD, 1994, S. 87-105. Zurück

32) Zur Analyse des Nord-Süd-Verhältnisses nach Rio siehe L. Brock, Nord-Süd Kontroversen in der internationalen Umweltpolitik: Von der taktischen Verknüpfung zur Integration von Umwelt und Entwicklung? Frankfurt: HSFK-Report 1/1992. Zurück

33) H.-D. Heck, Die Mär vom gemeinsamen Boot – Gewinner und Verlierer der weltweiten Klimaerwärmung, Bild der Wissenschaft, 3/1995, S. 58-61. Zurück

34) Siehe K.M. Meyer-Abich, Im gemeinsamen Boot? Gewinner und Verlierer beim Klimawandel, in: W. Sachs, Der Planet als Patient, Berlin/Basel/Boston: Birkhäuser, 1994, S. 194-210. Zurück

35) Vgl. Meyer-Abich 1994, a.a.O., S. 190. Zurück

36) Zudem wird ein FCKW-Verzicht die Entwicklungsländer am härtesten treffen; siehe F. Biermann, Nord-Süd-Gerechtigkeit als Schlüssel – Zehn Jahre Ozonpolitik, Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/95, S. 1492-1500. Zurück

37) Zur Einführung in Umweltkonflikte siehe G. Bächler, V. Böge, S. Klötzli, S. Libiszewski, Umweltzerstörung: Krieg oder Kooperation?, Münster: agenda Verlag, 1993; S. Libiszewski, Umweltkonflikte. Die Konfliktform im post-ideologischen Zeitalter? Wissenschaft & Frieden, 2/93; K.R. Spillmann, G. Bächler (Eds.), Environmental Crisis: Regional Conflicts and Ways of Cooperation, ENCOP Occasional Papers No.14, September 1995; T.F. Homer-Dixon, J.H. Boutwell, G.W. Rathjens, Umwelt-Konflikte, Spektrum der Wissenschaft, April 1993, S.36-44; T. Homer-Dixon, On the Threshold – Environmental Changes as Causes of Acute Conflict, International Security, Vol. 16, No.2, Fall 1991, S. 76-116; T. Homer-Dixon, Environmental Scarcity and Violent Conflict: Evidence from Cases, International Security, Vol.19, No.1, Sommer 1994, S. 5-40. Zurück

38) R. Jungk, Der Atomstaat, Reinbek: rororo 1979, S.9. Zurück

39) Zu den ökologischen und sozialen Folgen des Tschernobyl-Unglücks siehe die Schwerpunkthefte von Wissenschaft und Frieden 1/96 und Wechselwirkung Nr. 78, April/Mai 1996 sowie: K.-H. Karisch, J. Wille, Der Tschernobyl-Schock, Frankfurt: Fischer, 1996; E. Lengfelder et al., 10 Jahre nach der Tschernobyl-Katastrophe. Schildrüsenkrebs und andere Folgen für die Gesundheit in der GUS, Münchner Medizinische Wochenschrift, Vol. 138 (1996) 15, S. 259-264. Zurück

40) Das internationale Recht kennt daher eine Reihe von Vereinbarungen, die grenzüberschreitende Atomkonflikte regeln sollen, insbesondere die Nuclear Safety Convention. Zurück

41) Zu den Anfängen siehe L. Mez (Hg.), Der Atomkonflikt, Reinbek: rororo, 1981. Zurück

42) Siehe hierzu G. Rosenkranz, I. Meichsner, M. Kriener, Die neue Offensive der Atomwirtschaft, München: Beck-Verlag, 1992. Zurück

43) Globale Trends 1996, a.a.O., S. 321. Zurück

44) Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“ des Deutschen Bundestages (Hrsg.), Mehr Zukunft für die Erde – Nachhaltige Energiepolitik für dauerhaften Klimaschutz, Bonn: Economica-Verlag, 1995, S. 1137. Zurück

45) Siehe hierzu J. Scheffran, P. Schäfer, M. Kalinowski, Nichtverbreitung mit militärischen Mitteln? Nordkorea und die Strategie der Counter-Proliferation, Blätter für deutsche und internationale Politik, Juli 1994, S. 834-847. Zurück

46) Siehe hierzu ausführlicher W. Liebert, Das Risiko der Kernenergie, Wissenschaft und Frieden 1/1996, S. 18-22. Zurück

47) P. Diehl, Uranium Mining in Europe – The Impact on Man and Environment, WISE News Communique 439/440, Sept. 1995. Zurück

48) Siehe hierzu G. Hensel, »Strahlende« Opfer: Amerikas Uranindustrie, Indianer und weltweiter Überlebenskampf, Ökozid extra, Gießen, 1987; H. Schuhmann et al., Das Uran und die Hüter der Erde. Atomwirtschaft, Umwelt, Menschenrechte, Stuttgart, 1990; P.H. Eichstaedt, If You Poison US – Uranium and Native Americans, Santa Fe: Red Crane Books, 1994. Zurück

49) Vgl. K. Kugeler, Inhärent sichere Reaktoren – Anstoß zur Überprüfung der Ablehnungshaltung zur Kerneenergie, In: W. Bender (Hrsg.), a.a.O. Zurück

50) Beschluß im November 1983 auf dem 16ten Treffen der Vertragsparteien der Londoner Konvention von 1972. Zurück

51) Ausführlich wurde dies dargestellt in: M. Kalinowski, Was sollen wir tun mit radioaktiven Abfällen? Vergleich von Endlagerung in geeigneten geologischen Formationen mit dauerhaft zugänglich bewachter Lagerung, Internationales Endlager-Hearing, 21.-23. September 1993 in Braunschweig. Zurück

52) Vgl. W. Liebert, Aussichten nuklearer Energieversorung für die Zukunft, erscheint in: W. Bender (Hrsg.), a.a.O. Zurück

53) Diese Abschnitt basiert teilweise auf den gemeinsamen Thesen zur IANUS-Tagung „Verantwortbare Energievesorgung für die Zukunft“, Darmstadt, 28.2.-3.3.1995. Zurück

54) BUND/Misereor (Hrsg.), Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung, Studie des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie, Basel u.a.: Birkhäuser 1996, S.11-88. Zurück

55) Vgl. W. Bender, Erhaltung und Entfaltung als Kriterien für die Gestaltung von Wissenschaft und Technik, IANUS-Arbeitsbericht 9/1991. Zur Verknüpfung beider Begriffe mit Frieden und nachhaltiger Entwicklung siehe J. Scheffran, Frieden und nachhaltige Entwicklung, in: W. Vogt (Hrsg.), Kultur des Friedens, Beiträge zum UNESCO-Programm „Culture of Peace“ (in Vorbereitung). Zurück

56) Zu den Leit- und Überprüfungskriterien vgl. W. Bender, Zukunft der Wissenschaft – Prospektive Ethik, Nova Acta Leopoldina, NF 74, 297, 1996, S. 39-51; W. Bender, K. Platzer, K. Sinemus, On the Assessment of Genetic Technology: Reaching Ethical Judgement in the Light of Modern Technology, In: Science and Engineering Ethics (1995), 1, S. 21-32. Zurück

57) Vgl. z.B. H. Henssen, Energie zum Leben. Die Nutzung der Kernenergie als ethische Frage, München u.a.: Bonn Aktuell 1993. Zurück

58) H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M.: Insel 1984, S. 70f. Zurück

59) Vgl. M. Fischedick, Globale und regionale Energieszenarien im Vergleich, In: W. Bender (Hrsg.) a.a.O. Zurück

60) H. Henssen 1993, a.a.O., S. 175. Zurück

61) Vgl. R. Spaemann, Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik, In: D. Birnbacher (Hrsg.), Ökologie und Ethik, Stuttgart: Reclam 1990, S. 180-206; H. Jonas, a.a.O., S. 76-83. Zurück

62) In zahlreichen Untersuchungen wurden die Möglichkeiten alternativer regionaler Energie- und Verkehrskonzepte unter Beweis gestellt; siehe z.B. C.C. Noack, D.v. Ehrenstein, J. Franke (Hrsg.), Energie für die Stadt der Zukunft – Das Beispiel Bremen, Marburg: SP-Verlag Norbert Schüren, 1989; W. Bach, Konkrete kommunale Klimaschutzpolitik am Beispiel Münsters, in: Enquete-Kommission 1995, a.a.O., S.1354-1385. Zurück

63) E.-O. Czempiel, Der Friede – sein Begriff, seine Strategien, in: D. Senghaas (Hrsg.), Den Frieden denken, edition suhrkamp, 1995, S. 165-176, hier S. 170. Zurück

An diesem Dossier haben folgende IANUS-Autoren mitgewirkt:
Wolfgang Bender (Sozialethik); Sven Brückmann (Politische Ökonomie); Martin Kalinowski, Wolfgang Liebert und Jürgen Scheffran (Physik/Mathematik).
Koordination und Endredaktion: Jürgen Scheffran
Kontakt: IANUS, c/o Institut für Kernphysik, Schloßgartenstr. 9, 64289 Darmstadt, Fax: (06151) 166039, email: ianus@hrzpub.th-darmstadt.de

Jugend und Gewalt

Jugend und Gewalt

von Claudia Flesch, Benno Hafeneger, Alexander Klett, Peter Krahulec, Gunter A. Pilz

Einleitung

Die aktuelle Jugenddebatte wird von einem Thema dominiert: der Gewalt von und unter Jugendlichen. Politik, Schule und Jugendarbeit, die sozialwissenschaftliche und pädagogische Jugendforschung befassen s ich mit keinem Thema so intensiv, wie mit diesen »neuen« Verhaltensweisen unter Jugendlichen. Dabei sind zwei Entwicklungen und Diskurse zu unterscheiden: einmal die »Alltagsgewalt« in Schulen, Einrichtungen der Jugendarbeit, im alltäglichen Umgang; dann die politisch stimulierte »rechtsextreme Gewalt« von Jugendcliquen, Skin-Heads, rechtsextremen Gruppen und Hooligans.

Beide Entwicklungen sind Indikatoren und zeigen seismographisch komplexe und komplizierte Gesellschaftliche Umbruch- und Krisenentwicklungen an, von denen insbesondere Jugendliche betroffen sind. Gewaltformen und gewaltförmige Verhaltensweisen verweisen auf die innere Struktur, auf die inneren Verhältnisse einer Gesellschaft, sie sind eine mögliche Interaktionsform von Jugendlichen mit der Gesellschaft, eine mögliche Antwort, Reaktion auf alltägliche, zugemutete, unbegriffene und demütigende Erfahrungen. Die Ursachen und Begründungen für solche Entwicklungen liegen folglich »im Zentrum« der Gesellschaft, in ihrer Verfaßtheit, ihren Strukturen, Prozessen und ungelösten Problemen.

Die folgenden Beiträge befassen sich aus Sicht von Jugendforschung und außerschulischer Jugendarbeit mit einigen Aspekten der beiden Gewaltphänomene in unserer Gesellschaft.

Benno Hafeneger

zum Anfang | Thesen: Gewalt und Gewaltbereitschaft von und unter Jugendlichen

von Benno Hafeneger

Differenzierung tut Not!

Wenn über »Jugend und Gewalt« geredet wird, gilt es zunächst zu fragen, zu klären und zu differenzieren:

1. Über welche Gewalt wir reden? – Über ungerichtete (eher noch unbegriffene) Gewalt von Cliquen (sog. Gangs, Banden), die derzeit in Metropolen durch »Überfälle, Diebstähle, Bedrohungen« auf sich aufmerksam machen; über instrumentelle, zielgerichtete Gewalt von Hooligans und Skin-Heads, rechtsextremen Gruppen, die ihre (diffusen) fremdenfeindlichen und rassistischen Mentalitäten in gewaltförmige Praxis umsetzen; über strukturelle Gewalterfahrungen von Jugendlichen (Armut, Ausgrenzung) und ihren Umgang mit dieser Realität.

2. Über welche Jugendliche wir reden? – Über männliche und/oder weibliche Jugendliche; derzeit konzentriert sich die Auseinandersetzung auf männliche Jugendliche; über deutsche und/oder ausländische Jugendliche, derzeit geht es um deutsche, ethnische und multiethnische männliche Jugendliche; über jüngere oder ältere Jugendliche, derzeit scheinen die 14 bis 18-jährigen zu dominieren.

3. Was wissen wir über die männlichen Jugendlichen? – Wir wissen kaum was Genaues, Gesichertes über die sozialen Erfahrungen und die Lebenssituationen der Jugendlichen; den Ablösungsprozeß der Jugendlichen der zweiten Migrantengeneration; über Einstiegs- und Gruppenbildungsprozesse; über subjektive Motive und Deutungen; über Treffen und Gesellungsformen, Bewegungsformen (Mobilität) und Aufenthaltsorte.

4. Was haben Politik und Öffentlichkeit (Medien) für – unterscheidbare – ordnungs-, sozialpolitische und pädagogische Motive und Interessen, dieses Thema in den Mittelpunkt der »Jugenddiskussion« zu rücken? – Erkennbar sind disparate Hinweise: Beschreibung von bedrohlichen Entwicklungen und die Sicherheitsbedürfnisse der »Normalbevölkerung«; Erfahrungen von Betroffenen, von Eltern, Lehrerlnnen, Mitarbeiterlnnen in der Jugendhilfe; Image von Kommunen, parteipolitisches Kalkül und schnelle Befriedigungs(Kontroll)- interessen; Nachdenken über Lebenssituationen und Perspektiven von Jugendlichen.

Bedeutung von Gewalt für Jugendliche – Hinweise zur Klärung

Zunächst lassen sich aktuell – mit aller Vorläufigkeit – vier Tendenzen erkennen, die die öffentliche Diskussion stimulieren: zahlenmäßige Zunahme von gewaltförmigem Verhalten; Verjüngung im Gewaltverhalten, die Hinweise konzentrieren sich auf Grundschulen und die 14 bis 18-jährigen; neu ist, daß nicht mehr »nur« Randgruppen mit einschätzbaren (politischen) Interessen gewaltförmig agieren, sondern Gewalterfahrungen die »Normalgesellschaft (Normaljugendlichen)« erreichen; Veränderungen von Tabuzonen und Hemmschwellen (brutaler, rücksichtloser, unkontrollierter) bei den unterschiedlichsten Formen von (verbaler, angedrohter, physischer) Gewalt.

Will man sich verstehend und erklärend (nicht akzeptierend und verharmlosend) dem Thema nähern, gilt es historisch und analytisch einige Aspekte zu unterscheiden; dies sind Grundlagen für Überlegungen zu möglichen begrenzten – Handlungsstrategien auch in der Jugendarbeit.

1. Mit einem historischen Verweis und mit Blick auf die Jugend- und Jugendarbeitsgeschichte ist Gewalt kein neues Thema in der Jugendhilfe/arbeit; sie läßt sich rekonstruieren von der wilhelminischen Zeit bis heute, vom ersten preußischen Jugendpflegeerlaß bis zu den aktuellen Jugendschutzdebatten. Die Jugendpflege kann auch als eine Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang »Jugend und Gewalt« rekonstruiert werden. Stichworte in der Etikettierung von Jugendlichen waren bzw. sind u.a.: (Wilde) Cliquen, Halbstarke, Streetgangs, Banden. Immer geht es um »Auffälligkeit, Abweichung, Gefährdung, Kriminalität«, um die Straße und vermeintliche Sicherheit, um Verwahrlosung und Kriminalität – damit zusammenhängend geht es der Jugendpflege um den ezieherisch-integrativen (und auch repressiven) Einfluß von Erwachsenen bzw. der Gesellschaft auf Jugendliche. Immer oszilliert die Diskussion zwischen Pädagogik, Erziehung, Beeinflussung (gute Worte) auf der einen Seite und »law-and-order«, Repression und Ordnungspolitik auf der anderen Seite.

2. Jugendliche reagieren auf gesellschaftliche, ökonomisch-soziale Erfahrungen wie Armut, Ausgrenzung, Desintegration – aus der Opfersituation und Erfahrungen sozialer Kälte – auch mit Gewalt; gesellschaftlich strukturelle Gewalterfahrungen werden – als eine Möglichkeit im Interaktionsprozeß – gewaltförmig zurückgespiegelt. Der Gesellschaft wird der Spiegel (ihre eigenen Verhältnisse) vorgehalten.

3. Gewalt hat mit konkreten Erfahrungen des Scheiterns an gesellschaftlicher Realität (Schule, Familie, Beruf, soziale Bindungen, Orientierung etc.) zu tun. An den komplexen und auch undurchschaubaren Anforderungen an die »Jugendphase heute« – als Individualisierung, Auflösung von Milieus; Mobilität, Flexibilität u.a. vielfach beschrieben – scheitern viele Jugendliche. Diese Erfahrungen müssen aber subjektiv bewältigt werden. Gewaltförmige Befreiung ist dann ein möglicher und gesellschaftlich angebotener Weg, überhaupt wieder Handlungsfähigkeit und Realitätskontrolle herzustellen; er knüpft an individuelle Erfahrungen und gesellschaftliche Leitbilder wie „der Stärkere setzt sich durch“ an.

4. Aus der Rechtsextremismusforschung wissen wir, daß es bei der Frage nach Verarbeitungsweisen von »Aufwachsen/Jugend heute« zentral um drei Erfahrungen geht: um Ohnmachtserfahrungen (übermächtige Konkurrenz – Stärke und Gewalt als Befreiung), um Handlungsunsicherheiten (Erosionen von Normalbiographien, der Chronologisierung von Lebenslaufphasen, Bastelmentalität als biographischer Weg) und um Vereinzelungen (Auflösung von sozialen und kulturellen Milieus, Zugehörigkeiten, Nation, Natur/Kultur, Hautfarbe als letztes Angebot). Diese Erfahrungen von immer mehr Jugendlichen können- ideologisch mit Ungleichheitstheoremen untermauert – Anknüpfungspunkte und Einstiegsschleusen für gewaltförmiges Handeln sein.

5. Es geht in gruppenpädagogischer und mentalitätspsychologischer Perspektive um Abgrenzung »nach außen« und Vergewisserung »nach innen«. Biographische und cliquenbezogene Sozialisationserfahrungen (im Auseinandersetzungs- und Ablösungsprozeß vom Elternhaus, der Erwachsenenwelt) und um Vergewisserungsversuche von Identität, sozialer Zuordnung und rückgemeldetem Selbstwert (als Stärke, Mutproben, Kräftemessen, Spannung, Grenzen und Männlichkeit). Wenn die Jugendlichen von anderen pädagogischen, sportlichen, kulturellen, actionbezogenen Angeboten und Aktivitäten nicht erreicht werden bzw. diese nicht realisierbar sind, ist Gewalt im Gruppenzusammenhang möglicher vorübergehender oder sich auch verfestigender Bestandteil im Prozeß von Identitätsbildung, in dem Peer-Groups, informelle Gruppen und Cliquen einen bedeutsamen Beitrag leisten. Ungeklärt ist derzeit, warum sich aufgrund dieser Prozesse Gewaltphänomene ausbreiten. Vielleicht zeigen sich hier gesellschaftliche soziale Kälte, Desinteresse und Desintegration; Erfahrungen von Langeweile, sozial-räumliche Enge; fehlende (körperliche) Grenzerfahrungs- und Experimentiermöglichkeiten von Jugendlichen besondes deutlich.

6. Gewalt kann als eine Möglichkeit konkreter Aneignung von Realität (Geld, Konsum, Partizipation an werbevermittelten Jugendstandards, an Reichtum) verstanden werden; was eine reiche Gesellschaft armen Jugendlichen vorenthält, wird über diesen Weg (Überfälle, Diebstähle) angeeignet.

zum Anfang | »Neue Jugendgewalt« und gesellschaftliche Vergeßlichkeit

von Alexander Klett

In der öffentlichen Diskussion – oder vielleicht besser: in der öffentlichen Aufregung (was den Charakter des Umgangs einer »Öffentlichkeit«, die über die Medien erzeugt und gestaltet wird, mit dem Phänomen »Jugendgewalt« besser kennzeichnet) – ist das Thema nicht neu.

Erinnert sei an die sog. »Halbstarken«-Zeit in den 50er Jahren (s. hierzu den Artikel im Dossier: »Herumtreibend, halbstark, luxusverwahrlost«), an die Rocker-Cliquen, an die Punks, an die »Streetgangs« in den 80ern und an die Fußballfans der letzten Jahre. Immer wiederkehrend, wie Wellen, die etwas von unten nach oben spülen, sind Jugend-Subkulturen entstanden, in denen Gewalt, körperliche Gewalt, vor allem angewendet von männlichen Jugendlichen, eine Rolle spielt, die die Erwachsenenwelt offensichtlich ungemein provoziert – was diese aber nicht daran hindert, alles innerhalb kürzester Zeit wieder zu vergessen.

Die Tatsache, daß solche periodisch wiederkehrenden jugendkulturellen Muster mit historisch-kulturellen Variationen in der Öffentlichkeit immer wieder als neu und gewissermaßen einzigartig bezeichnet werden, läßt verschiedene Interpretationen zu; entweder handelt es sich:

a) schlichtweg um eine kollektive Vergeßlichkeit oder

b) um eine Form von gesellschaftlicher Hilflosigkeit: es werden keine adäquaten Erklärungen und angemessenen Umgangsweisen für die Konflikte gefunden; möglicherweise, weil die kulturelle Distanz zwischen den Generationen und die soziale Distanz zwischen den Beteiligten so groß sind, daß ein Verstehen nicht mehr möglich ist – oder

c) diese immer wiederkehrende »Neu-Entdeckung« hat eine Funktion für die Öffentlichkeit, die sich da empört. Hinter ihr steckt eine unbewußte Absicht:daß ein Verstehen nicht möglich ist, kann auch anders gedeutet werden – vielleicht ist es gar nicht gewollt?

Möglicherweise stimmt von allen drei Interpretationen etwas, wobei sich dann die Frage stellt: Welchen Sinn, welche Bedeutung hat das öffentliche Vergessen das öffentliche Nicht-Verstehen-Können oder auch NichtVerstehenWollen?

Betrachten wir das Muster, nach dem die öffentliche Diskussion über das Problem »Jugendgewalt« abläuft, auch in ihrer Auflage von 1990/91: es beginnt mit dem Problemaufriß; Empörung und öffentliche Aufregung über die gestörte Ruhe und Ordnung; Aufregung darüber, daß die Sicherheit in der Stadt bedroht ist. In der zweiten Phase werden verstärkt Bewältigungsstrategien diskutiert; es werden Überlegungen angestellt, wie das Ganze in den Griff zu kriegen sei. Dabei stehen die polizeilichen und ordnungspolitischen Lösungen immer ganz vorne. In der dritten Phase erfolgt ein Abgesang. »Erfolge« in Form von Festnahmen, sichergestellten Waffen (die das Ausmaß der Bedrohung demonstrieren sollen, in der mensch sich befand) und in Form von Verurteilungen in Justizverfahren häufen sich. Das öffentliche Interesse läßt nach, ist beruhigt. Mit jeder Meldung über eine durchgeführte Razzia, über eine Festnahme kann die Leserin oder der Fernsehzuschauer sich wieder beruhigt zurücklehnen: das Problem ist gelöst. Die Bedrohung erscheint gebannt. Damit findet auch die Diskussion in der Öffentlichkeit ihr Ende.

Bedrohte Sicherheit

Das dargestellte Muster der »Problemaufarbeitung«, das bei genauerem Hinsehen diese Bezeichnung nicht verdient, und die Tatsache, daß es sich in dieser Weise periodisch wiederholt, läßt stutzig werden. Beim Stichwort »Bedrohung der Sicherheit« taucht die Frage auf, ob die Sicherheit in dieser Stadt, in diesem Land, tatsächlich in erster Linie von gewalttätigen Jugendlichen nicht zur Projektionsfläche von Ängsten gemacht werden, die ganz andere Wurzeln haben und weitaus existentiellere Dimensionen aufweisen.

Lebensperspektiven sind heutzutage massiv in Frage gestellt durch unberechenbar erscheinende wirtschaftliche Entwicklungen (zum Beispiel die Folgen des Anschlusses der ehemaligen DDR), durch eine jederzeit mögliche ökologische Katastrophe (neben der alltäglich schleichenden), durch die Militärarsenale in aller Welt. Die dadurch verursachten Ängste und die damit einhergehenden Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit werden als bedrohlich und unabwendbar empfunden, weil ihre Verursacher ungreifbar und übermächtig erscheinen, eine politische Auseinandersetzung mit ihnen ein aussichtsloses und vergebliches Unterfangen zu sein scheint. Stellvertretend für sie werden Banden von Jugendlichen zum Hauptfaktor ernannt, der die öffentliche Sicherheit stört.

Nach einer kurzen Zeit der medialen »Erzeugung« des Problems kann dann an die Arbeit zu seiner »Lösung« herangegangen werden. Mit der polizeilichen Verfolgung und mit der juristischen Aburteilung von Jugendlichen, das heißt mit ihrer Überwältigung, können die Ängste bewältigt, kann kurzfristig die bedrohte Sicherheit wiederhergestellt werden.

Mit der Ausgrenzung und Vertreibung der Jugendlichen aus dem innerstädtischen Gesichtsfeld können Ängste und Zweifel beiseite geschoben werden. Wenn dies tatsächlich eine derartige psychische Entlastungsfunktion besitzt, ist es auch einleuchtend, daß kein wirkliches Interesse an den Betroffenen solcherart zum Opfer gemachten Jugendlichen und an ihren Problemen besteht; somit auch kein Interesse an einer Lösung, die ihnen gerecht würde. Über die Herstellung der Illusion eines Sicherheitsgefühls geht alles andere verloren.

Seitenwechsel: Die Jugendlichen

Unabhängig von diesen eher ideologiekritischen Überlegungen stellt Gewalt von und unter Jugendlichen tatsächlich ein Problem dar. Diejenigen, die Opfer eines Überfalls geworden sind, tragen nicht nur körperliche Verletzungen davon, sondern es bleiben darüber hinaus massive Angste zurück. Die Angst vor einem tätlichen Angriff ist für viele Jugendliche alltäglicher Begleiter geworden. Die vorbeugende Bewaffnung, die sich manche Jugendliche zum Schutz gegen einen eventuellen Angriff zulegen, kann die Entwicklung noch weiter verstärken.

Die Aspekte, die in den Zeitungen am häufigsten zur Charakterisierung der Jugendgewalt genannt werden, lassen sich in etwa wie folgt zusammenfassen: demnach gehen Bedrohung und Gewalt

  1. vorwiegend von ausländischen Jugendlichen aus, die sich
  2. in Banden zusammenfinden, welche stark flukturieren,
  3. die in jüngerem Alter zunehmend
  4. an Schulen und in der City ihre »Taten« vollbringen.

Die Gewalt der sozialen Verhältnisse

Sicherlich sind unter den auffälligen Jugendlichen viele ausländische Jugendliche zu finden. Nicht oder nur ganz am Rande wird dabei aber erwähnt, daß deren Lebensbedingungen und Lebensperspektiven in aller Regel deutlich schlechter sind als die von deutschen. Deutsche Jugendliche, die unter den gleichen sozialen Umständen, in gleichen sozialen Milieus leben, werden sogar häufiger auffällig. Meist aus kinderreichen und armen Familien stammend, haben sie zu Hause wenig Raum zur Verfügung und auch verhältnismäßig wenig Taschengeld und materielle Ausstattung. Aufgrund sprachlicher Defizite in der Schule benachteiligt, erreichen sie oftmals keinen guten oder überhaupt keinen Abschluß, haben mit diesen Ausgangsbedingungen schon genug Nachteile, bevor wir überhaupt ihre Benachteiligung aufgrund der Tatsache, daß sie nicht Deutsche sind, ins Auge fassen.

Diese nur angedeuteten sozialen Bedingungen bergen ein Konfliktpotential in sich, das sich unter anderem in Form von Gewalt ausdrückt. Ohne aufsehenerregende Ereignisse wie diese oder wie Wahlerfolge rechtsextremer Organisationen interessieren diese sozialen Probleme und die Menschen, die darunter leiden, in der Öffentlichkeit so gut wie nicht.

Probleme mit der Männlichkeit

Was ebenfalls im allgemeinen sehr wenig Beachtung findet, ist die Tatsache, daß es sich bei den Jugendlichen, die da im Rampenlicht stehen, fast ausnahmslos um männliche handelt. Diese Beobachtung würde den Blick auf weitere Hintergründe des Geschehens eröffnen: die Schwierigkeit für junge Männer, eine stabile männliche Identität zu entwickeln. Die damit verbundenen Probleme werden von einem Teil von ihnen auf gewaltsame Weise zu lösen versucht.

»Jackenklau« und »Schwulenklatschen« gehen in diese Richtung. Die gewaltsame Bezwingung und Demütigung des anderen dient der Aufwertung und Selbstbestätigung des Akteurs. Leder- und andere teure Jacken werden wie Skalps gesammelt als Beweis für Stärke, Furchtlosigkeit, Draufgängertum, als Beweis für die männlichen »Tugenden«. Schwule werden in besonderem Maße Opfer dieses Personenkreises, weil sie einen Angriff auf die (ohnehin unsichere) Geschlechtsrollenidentität der Jugendlichen darstellen. Mit der Abwertung und körperlichen Demütigung von Schwulen werden stellvertretend Ängste und Unsicherheiten im Hinblick auf diese Geschlechtsrollenidentität abgewehrt.

Mädchen und junge Frauen werden aus ähnlichen Gründen zu Opfern dieser Jungen/Männer, wenn dies auch in den Medien keine besondere Erwähnung und Empörung findet. Anmache, sei sie verbal oder handgreiflich, ist in Schulen und auf der Straße genauso alltägliche Erfahrung von Mädchen und jungen Frauen, wie respektloser und herrschaftlicher Ton, in dem Jungen/junge Männer mit ihnen reden. Auf der anderen Seite: die hämische oder genüßliche Freude der Männer über die gelungene Demütigung und Unterwerfung der Frau.

Diese Umgangs-, besser Unterwerfungsformen, die von seiten dieser jungen Männer gerade auch unter Einbeziehung von Gewalt ausgeübt werden, spiegeln übrigens weitgehend die gesellschaftlich gepflegten Formen wider; abgesehen davon, daß sie in der Öffentlichkeit praktiziert werden und abgesehen von der besonderen Kultivierung der Gewalt. Kindesmißhandlungen (von Männern und Frauen), Gewalt gegen Frauen, aber auch Gewalt gegenüber Männern (in Betrieb, Kneipe, bei der Bundeswehr, auf dem Sportplatz) gehören zur bundesdeutschen Normalität.

Mangel an gesellschaftlicher Kultur

Zum Stichwort »Kultivierung der Gewalt«: hier soll nicht der ungezügelten Ausübung und Anwendung von Gewalt das Wort geredet werden. Worauf die Kultivierung der körperlichen Gewalt in diesen Jugendkulturen aber hinweist, ist der Mangel an einer Kultur der Ausdrucksformen für Körperlichkeit und Aggression, genauso wie Sexualität, in dieser Gesellschaft. Körperlichkeit wird aus dem Arbeitsprozeß, aus dem Fortbewegungsbereich weitgehend zurückgedrängt und in Freizeitbereiche, in denen vor allem (Höchst-)Leistungen erwartet werden, verdrängt. Erotik und Sexualität, zurechtgeschnitten auf kommerzielle, konsumfördernde Zwecke, dort hochstilisiert, gleichzeitig aber in ganz wenige Bahnen kanalisiert, sind für jede/n einer der problembeladensten, kaum zu bewältigenden Bereiche in dieser Gesellschaft. Auf die Frage, wie Körperlichkeit, wie Aggression, wie Sexualität lustvoll gelebt werden können, ohne daß dies andere verletzt, demütigt und unterdrückt, gibt es derzeit gesellschaftlich keine vernünftige und gefühlvolle Antwort.

Aneignung öffentlicher Plätze

Ein ähnlicher kritischer Fingerzeig ist das Auffälligwerden der Jugendlichen an öffentlichen Plätzen. Auch wenn dort tatsäschlich kaum Gewalttaten vorkommen, fühlt sich ein großer Teil der Passantlnnen und Anwohnerlnnen bedroht. Könnte es nicht sein, daß sie es stört, wenn Jugendliche sich Plätze und Räume aneignen, dort öffentliches Leben herstellen und Räume für Kommunikation schaffen, wie es in den südeuropäischen Kulturen, aber auch in der hiesigen zerstörten proletarischen Kultur üblich ist/war? Die (männlichen) Jugendlichen, viele ausländische Jugendliche, wehren sich gegen die Zurückdrängung in ein privates Familienleben, zumal sie keine Annehmlichkeiten davon zu erwarten haben (keine eigenes Zimmer usw.).

Es ist denkbar, daß die Schulen wegen ihrer kommunikativen Bedeutung zu Schauplätzen von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen geworden sind. Die Schulen gehören zu den wenigen Orten, an denen es noch Kommunikation und Begegnung gibt, an denen dies institutionell garantiert ist. Deswegen drängt es auch immer mehr »Schulfremde« dorhin, was zu Konflikten mit Lehrern und Schulleitung führt, weil diese darauf nicht eingestellt sind, weil die Schule institutionell diese Rolle bisher noch nicht wahrhaben will.

zum Anfang | Gewalt bei Mädchen/ jungen Frauen

von Claudia Flesch

Ich will in diesem Artikel auf die insgesamt sehr kleine Gruppe von Mädchen eingehen, die durch ihr auffälliges, weil gewalttätiges und damit für Mädchen untypisches Verhalten die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machen. Es kommt mir – aus feministischer Sicht – darauf an, folgendes aufzuzeigen: die verschiedenen direkten und indirekten Erscheinungsformen von Gewalt, mit denen Mädchen konfrontiert sind, und darüber hinaus subjektive Verarbeitungsmuster von Mädchen mit Gewalterfahrungen. Aggressives und offen gewalttätig auf andere gerichtetes Verhalten bei Mädchen ist nur eine – wenn auch sehr auffällige – Möglichkeit, um einschränkenende Lebensbedingungen, eigene Gewaltbedürfnisse, um Wut, Ärger und auch Angst zu verarbeiten.

Insbesondere bezogen auf die verschiedenen Erscheinungsformen von Gewalt und deren Ursachen ist eine Differenzierung nach Geschlecht unerläßlich, denn Mädchen und Frauen sind in dieser Gesellschaft ganz anders von Gewalt betroffen und mit Gewalt in offener und subtiler Form konfrontiert als Männer: Jede Frau jeden Alters ist in all ihren täglichen Lebensbereichen verschiedenen und direkten und indirekten Gewaltformen ausgesetzt.

Gründe und Ursachen

Die Lebenserfahrungen von Mädchen und Frauen sind geprägt von einem hierarchischen Geschlechterverhältnis. Jedes Mädchen erlebt alltäglich (sexuelle) Gewalt; nicht nur vom »Mann aufder Straße«, sondern auch von Vätern, Freunden und Bekannten. Trotz allen Wandels und Veränderungen in den Inhalten der Geschlechtsrollen basiert unsere patriarchal geprägte Gesellschaft auf einem Geschlechterverhältnis, das durch die prinzipielle Ungleichwertigkeit der Geschlechter gekennzeichnet ist.

Das gegenwärtig dominante Geschlechterverhältnis ist hierarchisch strukturiert und zeichnet sich durch eine Vor-herr-schaft von Männern, männlichen Bewertungsmaßstäben und Orientierungsmustern aus. Über den geschlechtsspezifisch unterschiedlich möglichen Zugang zu Macht und Ressourcen, die ungleichen Machtverteilungen zwischen Männern und Frauen und den hieraus folgenden, vielfältigen Formen struktureller und personeller Gewalt gegen Frauen ist die im Geschlechterverhältnis angelegte Beziehung zwischen den Geschlechtern als struktureller Unterdrückungszusammenhang festgeschrieben. Auf der Erscheinungsebene äußert sich dies u.a. durch Sexismus, durch sexistische Gewalt, verstanden als Herr-schaftsform, die dazu dient, die Geschlechterhierarchie aufrechtzuerhalten. Offene sexistische Gewalterfahrungen, die alle Frauen machen, sind zum Beispiel Anmache, offene sexuelle Belästigung und Übergriffe (verbaler und körperlicher Art) bis hin zu Einschränkungen im Bewegungsradius durch eine ständige Bedrohung durch potentiell mögliche Vergewaltigung.

Darüber hinaus werden Frauen/Mädchen über diese struktuellen Unterdrückungsmechanismen potentiell in ihrer körperlichen Bewegungsfreiheit und in ihren geistigen und seelischen Entfaltungsmöglichkeiten behindert.

Insofern sind also alle Mädchen und Frauen zunächst einmal vielfältigen Gewalterfahrungen ausgesetzt, sind sie in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen »Opfer« struktureller und persönlicher Gewalt.

Weibliche Sozialisation

Das dominante Geschlechterverhältnis bestimmt auch die Inhalte der Geschlechtsrollen. Von Geburt an lernen Mädchen rollenadäquates Verhalten. In geschlechtsspezifisch verlaufenden Sozialisationsprozessen bestimmt sich die Form der potentiell möglichen Aneignung von Welt. Auch dies ist eine Form struktureller Gewalt gegen Frauen.

Denn solange weibliche Sozialisation bedeutet, Mädchen vor allem dahin zu erziehen, ihre aggressiven Impulse zu unterdrücken, sich nicht wehren zu dürfen, Verständis für andere zu entwickeln, Konflikte auszugleichen und zu harmonisieren (das heißt: »Beziehungsarbeit« zu leisten), sind Mädchen und Frauen potentiell auch weiter als »Opfer« (sexuellen) Gewaltübergriffen ausgeliefert.

Mädchen und Frauen lernen also damit auch einen anderen Umgang mit Konflikten, mit Aggressionen als Jungen, andere Verhaltensweisen werden bei ihnen positiv sankioniert.

Männliche Jugendliche erfahren in ihrer familiären und schulischen Sozialisation hingegen Gewalt als ein übliches Mittel der Selbstbehauptung und als adäquates Mittel zu Konfliktlösung. Sie werden dazu angehalten, sich gegen andere durchzusetzen und sich zu wehren. Demgegenüber erfahren Mädchen, daß es ihre Aufgabe ist, in Konflikten zu harmonisieren und auszugleichen, sich unterzuordnen und auf Männer zu beziehen. Sie lernen damit auch, daß sie Gewalt auszuhalten haben. Während also Jungen lernen, offensiv mit ihren Aggressionen umzugehen, lernen Mädchen, diese zu unterdrücken oder umzulenken.

Lebensentwürfe

Gleichzeitig haben sich in den vergangenen Jahren über Individualisierungsprozesse des weiblichen Lebenszusammenhanges aber auch die Inhalte der weiblichen Rolle verändert. Die Folge ist, daß ambivalente und widersprüchliche Erwartungen an Mädchen gestellt werden, die diese – auf sich selbst zurückverwiesen – weitgehend individuell lösen und in einen eigenen Lebensentwurf integrieren müssen: Lebensziele und -perspektiven sind längst nicht mehr so eindeutig und klar wie noch vor wenigen Jahrzehnten. Die Entwicklung eines stimmigen und eigenen Lebensentwurfes als eine wesentliche Aufgabe der Jugendphase ist harte Identitätsarbeit für alle Jugendlichen, insbesondere aber für Mädchen.

Gerade Mädchen müssen den Balanceakt zwischen dem Wunsch nach Autonomie und Selbstbestimmung einerseits und den real vorhandenen Möglichkeiten andererseits, die durch eine zunehmende Verbauung von Erfahrungsmöglichkeiten sowie unsichere Berufs- und Lebensperspektiven gekennzeichnet sind, allein bewältigen.

Auch dieses sind Ohn-machtserfahrungen in einer männlich dominierten Welt, sind Erfahrungen mit strukturellen Gewalt- und Unterdrückungszusammenhängen, die heranwachsende Mädchen subjektiv verarbeiten müssen.

Umgang mit Gewalt

Welche Möglichkeiten haben nun Mädchen, auf die beschriebenen Gewalterfahrungen, auf Gefühle von Ohnmacht, Fremdbestimmtheit, auf Verunsicherungen und Einschränkungen in Lebensperspektive und Lebensgefühl zu reagieren? Die den Mädchen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur subjektiven Verarbeitung von Aggressionen, Wut, Ärger sind immer vor dem Hintergrund des dominanten Geschlechterverhältnisses einzuordnen.

Eine – zur Zeit noch (?) – kleine Minderheit von Mädchen antwortet auf Einschränkungen und Gewalterfahrungen jedenfalls mit offen nach außen und auf andere gerichtete Aggression. Diese offensiven Formen von Gewalt sind meines Erachtens Ausdruck individueller Widerstandsformen gegen einschränkende Lebensbedingungen in einer patriarchal geprägten Gesellschaftsstruktur und gleichzeitig Anpassung an eine von männlichen Maßstäben dominierte Welt, indem sie als Gegenstrategie, sich durchzusetzen und zu wehren, eine traditionell »männliche« – nämlich Gewalt – wählen. Diese Mädchen leben ihre eigene Macht-, Aggressions- und Gewaltbedürfnisse aus und wehren sich damit auch gegen ihnen gesellschaftlich zugewiesene traditionelle Rollenmuster.

Die meisten Mädchen jedoch, die Mitglied einer gemischtgeschlechtlichen Straßengang oder einer rechtsextremistischen Gruppierung sind, übernehmen dort – entsprechend der dominanten Geschlechterhierarchie – nur eine untergeordnete Rolle und fallen in der Regel auch nicht durch Gewalttätigkeiten auf Sie übernehmen in der Gruppe gemäß der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung die physische und psychische Reproduktion und Stabilisierung der männlichen Mitglieder, erfüllen die an sie gestellten Erwartungen, indem sie unterstützen, helfen, im Zweifelsfall auch mal trösten oder einen Streit schlichten, sich aber ansonsten im Hintergrund halten. Die Mädchen stehen zwar scheinbar nur am Rande der Gruppe und sind in der Regel auch nicht selbst gewaltbereit, sie können jedoch über ihre Zustimmung zu den Gruppenregeln, die sie auf ihren traditionellen Platz verweisen, teilhaben an der »Macht«. Stellvertretend für sie selbst lassen sie sozusagen die Männer kämpfen und sich durchsetzen. Die eigenen Aggressions- und Gewaltbedürfnisse werden durch die männlichen Gruppenmitglieder ausgelebt und gleichzeitig damit die Bedürfnisse der Mädchen nach Schutz und Geborgenheit befriedigt.

Diesem Bedürfnis von Mädchen nach Stabilität und Sicherheit aufgrund ambivalenter und widersprüchlicher Anforderungen kommen rechtsextreme und autoritäre Orientierungen entgegen. Den Individualisierungsprozessen auch des weiblichen Lebenszusammenhangs, den damit verbundenen Verunsicherungen und der Suche nach Vorbildern und Orientierungen setzen rechtsextreme Gruppierungen eine Aufwertung der traditionellen weiblichen Rolle entgegen. Dies ist für Mädchen häufig nicht unattraktiv, da die traditionelle weibliche Rolle scheinbar geordnete und übersichtliche Lebensverhältnisse verspricht, anstatt die Anstrengung der Entwicklung eigener Lebensperspektiven auf sich nehmen zu müssen.

Mädchen sind also, wie häufig noch vermutet wird, nicht gegen rechtsextremistische Orientierungen »immun«, sie sind nicht gefeit gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus oder zeichnen sich durch eine besondere »Friedfertigkeit« aus; in ihren Verarbeitungs- und Ausdrucksformen von Aggressionen, Wut und Ärger sind sie jedoch weitaus weniger auffällig als Jungen.

Die Rede war bis jetzt allerdings von einer kleinen – wenn auch wachsenden – Minderheit von Mädchen, die in gewalttätigen Streetgangs Mitglied sind oder selbst eine solche bilden.

Die überwiegende Mehrzahl aller Mädchen reagiert jedoch entsprechend des gelernten traditionell weiblichen Rollenspektrums. Die tagtäglichen Gewalterfahrungen, die erlebten Einschränkungen in der persönlichen Entfaltung, die einengenden Lebensbedingungen verarbeiten Mädchen subjektiv nicht so, daß sie Wut, Ärger und Aggression auf andere richten, sondern indem sie sie gegen sich selbst richten.

Der häufig unbemerkte völlige Rückzug der Mädchen auf sich selbst in eine selbsterdachte Traumwelt ist nur eine Verarbeitungsform; Magersucht, Bullimie, Depressionen und Migräne, übersteigerter (sportlicher) Aktivismus bis hin zur Selbsttötung sind weitere Beispiele. Gemeinsam ist ihnen, daß die Gewalt auf sich selbst statt auf andere Personen gerichtet wird.

Damit sind sie allerdings gleichzeitig auch Ausdruck individueller Widerstandsformen gegen das erlittene Leid.

zum Anfang | Rechtsextremismus und jugendliche Gewaltbereitschaft

von Gunter A. Pilz

Zur gesellschaftlichen Bedingtheit

Die Gewaltbereitschaft und der Rechtsextremismus Jugendlicher scheinen zu einem ernsten Problem in unserer Gesellschaft geworden zu sein. Da ist allenthalben die Rede von wachsenden Aggressionen bei Schülern, zunehmenden Gewalttätigkeiten im Umfeld von Fußballveranstaltungen und von einem gravierenden Anstieg politisch motivierter Gewalt bei jungen Menschen.

Ohne die Problematik der Gewaltakzeptanz und wachsender autoritär-nationalisierender Orientierungen Jugendlicher in unserer Gesellschaft herunterspielen zu wollen, stellen sich mir bei der Beschäftigung mit dieser Thematik gleich einige kritische Fragen:

Stimmt es überhaupt, daß die Gewalt bei Schülern zunimmt? Können wir von einer Zunahme von Gewalttätigkeiten Jugendlicher im Umfeld von Fußballspielen sprechen? Gibt es eine Zunahme politisch motivierter Gewalt Jugendlicher? Wächst die Ausländerfeindlichkeit besonders bei und unter Jugendlichen? Ist die Häufigkeit der Berichte in den Medien über jugendliche Gewalthandlungen ein Indiz für die zunehmende Gewaltakzeptanz der heutigen Jugend oder ist sie nicht eher ein Beleg für den hohen Unterhaltungs- und Nachrichtenwert, den die Medien und wir als Rezipienten Gewalthandlungen beimessen? Sind wir nicht nur für Gewalthandlungen besonders stark sensibilisiert und nehmen sie nur aufgrund der wachsenden zivilisatorischen Tabuisierung von körperlicher Gewalt (vgl. ELIAS 1977; 1988; PILZ 1991) und der massenmedialen Aufbereitung von Gewalt (vgl. PILZ 1991) durch eine Art Vergrößerungsglas wahr? Überwerten wir die Bedrohlichkeit der Gewalt Jugendlicher deshalb nicht? Und vor allem: weshalb gerät eigentlich überwiegend nur die Gewalt und Ausländerfeindlichkeit Jugendlicher in den Blickpunkt öffentlichen Interesses und öffentlicher Besorgnis? Ist die von politischer wie massenmedialer Seite immer häufiger werdende Thematisierung, ja Hochspielung der Gewalttätigkeiten und Gewaltakzeptanz Jugendlicher oder jugendlicher Subkulturen nichts anderes, als ein probates Mittel, um vor der eigenen, alltäglichen Gewalt in unserer Gesellschaft abzulenken? Wird durch das Hochspielen, die Skandalisierung und Individualisierung der Gewalt und des Rechtsextremismus Jugendlicher nicht – bewußt oder unbewußt – nur von den eigentlichen Ursachen, Bedingungen und Hintergründen der Gewalt und damit auch von den eigentlichen Verantwortlichen nur abgelenkt? Ist es schließlich – und hiermit reize ich vielleicht zum größten Widerspruch – nicht eher so, daß in unserer Gesellschaft weniger das Gewaltpotential, die Gewalttätigkeit und Gewaltakzeptanz Jugendlicher das Verwunderliche sind, als vielmehr die Tatsache, daß so viele junge Menschen, obwohl sie auf so engem Raum und unter zum Teil höchst belastenden Bedingungen in einer Gewalt eher fördernden, Gewalt manchmal sogar erfordernden, zumindest gewaltgeneigt machenden sozialen Umgebung und Atmosphäre leben (müssen).

„Wenn man sich bemüht, das Problem der körperlichen Gewalttätigkeit im Zusammenleben der Menschen zu untersuchen, dann stellt man oft die Frage falsch. Man fragt gewöhnlich, wie ist es möglich, daß Menschen innerhalb einer Gesellschaft andere schlagen oder erschlagen, … Es wäre sachgerechter und so auch fruchtbarer wenn man die Frage anders stellte. Sie sollte lauten: Wie ist es möglich, daß so viele Menschen normalerweise friedlich miteinander leben können, ohne Furcht von Stärkeren ge- oder erschlagen zu werden … Man übersieht heute allzu leicht, daß noch nie in der Entwicklung der Menschheit so viele Menschen, Millionen von Menschen, so relativ friedlich, d. h. unter weitgehender Ausschaltung physischer Attacken, miteinander gelebt haben wie in den großen Staaten und Städten unserer Tage. Man sieht es vielleicht erst, wenn man gewahr wird, wieviel höher das Gewaltniveau im Verkehr von Mensch zu Mensch in früheren Epochen der Menschheitsentwicklung war.“ Mit dieser Aussage macht uns ELIAS zum einen auf den zivilisatorischen Trend der Dämpfung, der Tabuisierung der Gewalt aufmerksam, zum anderen lenkt er den Blick von den Individuen hin zu den gesellschaftlichen, strukturellen Bedingungen der Gewalt. Genau diesen Strang will ich im folgenden aufgreifen und vertiefen. D.h. ich will die Frage nach der Gewalttätigkeit Jugendlicher, nach der Bedeutung und Bedrohlichkeit der Gewalt in unserer Gesellschaft schlechthin, nach rechtsextremistischen Orientierungen Jugendlicher und nach möglichen präventiven Maßnahmen dadurch zu beantworten versuchen, daß ich den gesellschaftlichen Ursachen der Gewalt nachgehe. Zum besseren Verständnis meiner Argumentation sind jedoch zunächst einige Anmerkungen zum Gewaltbegriff und eine Bestimmung dessen, was ich unter Rechtsextremismus verstehe, erforderlich.

Zum Gewaltbegriff

In dem jüngst (SCHWlND/BAUMANN u.a. 1990) veröffentlichten Gewaltgutachten der Bundesregierung wird der Gewaltbegriff inhaltlich wie folgt ausgestaltet und zugleich eingeengt:

„Der Gewaltbegriff soll aus der Sicht des staatlichen Gewaltmonopols bestimmt werden. Dabei soll es primär um Formen physischen Zwanges als nötigender Gewalt sowie Gewalttätigkeiten gegen Personen und/oder Sachen unabhängig von Nötigungssituationen gehen. Ausgeklammert werden sollen die psychisch vermittelte Gewalt im Straßenverkehr und die strukturelle Gewalt“. (SCHWlND/BAUMANN u.a. 1991 I, S.38)

Es verwundert schon ein wenig, daß sich allein die Unterkommission Psychiatrie dieser Eingrenzung des Gewaltbegriffes bewußt widersetzt hat und entgegen der Empfehlung der Gewaltkommission „die strukturelle Aggressionen bzw. Gewalt“ nicht ganz aus ihrer Betrachtung ausgeschlossen hat, da sie „die Gewalt des jeweils Mächtigeren ist, gegen die sich ein großer Teil der Aggressionen richtet“, und die zudem als „psychische Gewalt erlebt werden“ kann (REMSCHElDT u.a. 1990, S. 165). Die Ausgrenzung der psychischen Gewalt ist – so die Unterkommission Psychiatrie – außerdem auch deshalb nicht gerechtfertigt,

„da deren Wirkung oft sehr schwerwiegend und psychische Gewalt häufig mit physischer Gewalt vergesellschaftet ist. Psychische wie körperliche Gewalt haben Folgen im seelischen Bereich, und oft erreicht ein physisch oder rechtlich Überlegener sein Ziel bereits mit der Androhung von Gewalt. Psychischer Gewalt liegt meistens die Drohung mit physischer Gewalt zugrunde; die Drohung, Existenzgrundlagen zu entziehen aufgrund körperlicher Überlegenhert oder Macht. Jedoch kann schon allein die Androhung eines Entzugs von Liebe und Aufmerksamkeit unter Umständen zum gleichen Ziel führen.“

Genau wegen dieses Übergangsbereiches von körperlicher zu psychischer Gewalt hat die Unterkommission zurecht auch die psychische Gewalt in ihren Abhandlungen mitberücksichtigt. Ich möchte noch eine weitere Begründung anfügen. Mit NARR (1973, S.15f) fordere ich einen Gewaltbegriff, der „die Auswahl der Phänomene nicht von vornherein begrenzt, wie der auf physische Gewalt/Vergewaltigung allein abgestellte Begriff“, der andererseits aber natürlich auch nicht so weit ausgedehnt werden darf, daß er zum »Unbegriff« wird. Vor allem die Forderung NARR's, daß der Gewaltbegriff historisch verwendbar, historisch-spezifisch, d.h. inhaltlich umzudefinieren sein müsse, ist bedeutsam. Wie wichtig dabei gerade die Berücksichtigung der historischen Dimension von Gewalt und wie problematisch die Ausblendung von struktureller und psychischer Gewalt ist, macht THEUNERT am Beispiel der historischen Veränderbarkeit der Ausprägungsformen personeller Gewalt eindrucksvoll deutlich:

„Physische Gewalt, die in früheren Gesellschaftsformen in vielen Bereichen, etwa in Erziehungs- und Arbeitsverhältnissen weit verbreitet war, und als »normal« betrachtet wurde, ist heute weitgehend zurückgedrängt. Ihre Funktion wird heute gleichermaßen über die Mittel der psychischen und strukturellen Gewalt erfüllt. Ein Lehrer braucht seinen lernunwilligen Schüler nicht mehr mit Prügel zum Lernen zu bewegen; die Notengebung und die damit verbundene Auslese für die Verwirklichung sozialer Chancen, oder die Lehrstellenknappheit und der einhergehende erhöhte Qualifikationsdruck erfüllen den gleichen Zweck. Die direkte physische Gewalt wird ersetzt durch subtilere Formen der psychischen Gewalt, oder ihre Funktionen werden gewährleistet über die anonymen und indirekten Formen der strukturellen Gewalt. Diese Gewaltmittel besitzen dieselbe – wenn nicht eine höhere – Effektivität!“

In der Tat, es stellt sich hier die Frage, ob nicht die vielfach gesellschaftlich geduldeten, legitimierten, ja manchmal sogar gepriesenen subtilen, verfeinerten Formen der körperlichen und strukturellen Gewalt viel problematischer sind, viel mehr Schaden anrichten, als manche der gesellschaftlich geächteten Formen körperlicher Gewaltanwendung. Eine Ohrfeige mag nach 10 Min. vergessen sein, ein Satz oder der viel praktizierte Liebesentzug hingegen können manchmal bzw. häufig so tief gehen, daß die noch Jahre später weh tun. Die Neigung der Staatsgewalt und vieler Pädagogen nur dort von Gewalt zu sprechen, wo „Blut“ fließt, wie dies BRÜCKNER (1979) überspitzt schreibt, wird hier nochmals in ihrer ganzen Problematik deutlich. Entsprechend diesen Überlegungen kommt THEUNERT (1987, 40) zu folgender Definition von Gewalt: „Gewalt ist … die Manifestation von Macht und/oder Herrschaft, mit der Folge, und/oder dem Ziel der Schädigung von einzelnen oder Gruppen von Menschen.“ (THEUNERT 1987, S.40)

Gewalt liegt nach dieser Definition immer dann vor, wenn als Folge der Ausübung von Macht oder Herrschaft oder von beidem oder als Folge von Macht- und Herrschaftsverhältnissen Menschen geschädigt werden. Erstes Bestimmungskriterium für Gewalt ist demnach für THEUNERT (1987, S.40) die „bei dem oder der Betroffenen feststellbare Folge, die durch Gewalt bewirkte Schädigung … Das Ziel der Gewaltausübung tritt gegenüber der Folge in den Hintergrund, es ist sekundäres Bestimmungskriterium“.

Dies hat auch zur Folge, daß die in den klassischen Theorien zentrale Kategorie der »Intention«, die das Augenmerk auf den »Täter« lenkt, relativiert wird. Die Opfer der Gewalt gelangen stärker in den Blick. Zweites Bestimmungskriterium für Gewalt ist, daß sie an die „Ausübung oder Existenz von Macht und Herrschaft gebunden ist. Macht und Herrschaft gründen auf die Verfügung über Machtmittel, die die Voraussetzungen zur Gewaltanwendung schaffen“.

THEUNERT (1987, S. 41) unterscheidet dabei je nach Art der Machtmittel zwischen situativen und generellen Machtverhältnissen:

„In situativen Machtverhältnissen ist die Ungleichverteilung von Machtmitteln primär situationsspezifisch geprägt, in generellen Machtverhältnissen dagegen langfristig und eindeutig zugunsten eines Parts geregelt und meistgesellschaftlich sanktioniert.“

Mit dieser Unterscheidung zwischen situativen und generellen Machtverhältnissen wird der enge Blick auf Gewalt in interpersonellen Beziehungen überwunden und auf Gewaltverhältnisse erweitert, die in den gesellschaftlichen Strukturen verankert und nicht an konkrete handelnde Individuen gebunden sind. Damit wird aber auch gleich auf die beiden zentralen Dimensionen der Gewalt verwiesen: die personale und die strukturelle Gewalt, wobei personale Gewalt die Dimension bezeichnet, „in der Gewalt von Personen, strukturelle Gewalt, die Dimension in der Gewalt von den Strukturen eines Gesellschaftsystems ausgeht“. (THEUNERT 1987, S. 41)

Bedeutsam an dieser Bestimmung des Gewaltbegriffes ist, daß hierzu die sozialen Bedingungen, die Gewalt fordern und/oder erzeugen, mitberücksichtigt werden, daß wie HORN (1978, S. 40) zurecht gefordert hat, die Wirkungszusammenhänge zwischen Sozialstruktur und Verhalten aufgedeckt werden. Dies gilt auch und gerade für Gewalttätigkeit Jugendlicher, deren personales Gewaltverhalten überwiegend eine Folge gesellschaftlich produzierter, struktureller Gewalt ist.

Aus den bisherigen Ausführungen läßt sich eine zum besseren Verständnis meiner weiteren Abhandlungen wichtige These ableiten: die Menschen müssen nicht, sie können aber sehr wohl gewalttätig sein. Die Annahme eines den Menschen angeborenen Aggressionstriebes, der in seiner Struktur dem Geschlechtstrieb gleicht, so wie ihn LORENZ (1963) postuliert hat, ist wissenschaftlich widerlegt (vgl. PlLZ/MOESCH 1975; PILZ 1988).

Der Schlüssel zur Gewalt liegt somit in der Umwelt, in den strukturellen Bedingungen der Lebenswelt der Menschen begründet. Damit wird unsere Aufmerksamkeit vom individuellen Handeln hin zu dessen sozialen, gesellschaftlichen Bedingungen verlagert. Unter dieser Perspektive können dann gewalttätige Handlungen, die gesellschaftlich betrachtet verwerflich, unsinnig und unsozial erscheinen, durchaus Sinnhaftigkeit und gewisse Normalität bekommen. Wer entsprechend adäquat und präventiv mit gewalttätigen Jugendlichen umgehen will, der muß deren Alltags- und Lebenswelten kennen, berücksichtigen und eben auch ändern, zumindest erträglicher gestalten. Mit anderen Worten: wie jedes menschliche Verhalten ist auch das gewaltförmige Verhalten von Jugendlichen nur sachgerecht zu beurteilen und kann entsprechend auch nur sachgerecht darauf reagiert werden, wenn wir es in den Kontext übergreifender, gesellschaftlicher Probleme und Wertordnungen stellen.

Rechtsextremistische Orientierungen

Wir sind immer sehr schnell dabei, ausländerfeindliche, gewaltbereite Jugendliche in die rechtsradikale Ecke zu drängen. Ohne die Problematik der Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft Jugendlicher herunterzuspielen und als Basis für rechtsextremistische Orientierungen ignorieren zu wollen: rechtsextremistische Orientierungen sind immer von zwei Grundelementen bestimmt: einer ideologischen Rechtfertigung der Ungleichheit und Ungleichbehandlung von Menschen und der breiten Akzeptanz von Gewalt als Mittel politischen Handelns. Wenn wir also von rechtsextremen, rechtsradikalen Jugendlichen sprechen, müssen wir die Kombination der Ideologie der prinzipiellen Ungleichheit von Menschen mit der Gewaltakzeptanz ins Blickfeld unserer Erörterungen stellen.

Rechtsextremistische Orientierungen im Überblick

  1. Der Ungleichheit der Menschen als zentralem, integrierendem Kernstück rechtsextremistischer Ideologie entsprechen folgende Facetten:
    • nationalistische Überhöhungen
    • rassistische Sichtweisen/Ausländerfeindlichkeit
    • Unterscheidung von »lebenswertem« und »unwertem« Leben
    • Behauptung »natürlicher« Hierarchien (über Soziobiologie)
    • Betonung des Rechtes des Stärkeren (Sozialdarwinismus)
    • totalitäres »Norm«-Verständnis (lndustriedarwinismus)
    • Ausgrenzung des »Andersseins«.
  2. Der Gewaltperspektive und -akzeptanz als zentralem, integrierendem Kernstück rechtsextremistischen, politischen Handelns entsprechen etwa folgende Facetten:
    • Ablehnung rationaler Diskurse/Überhöhung von Irrationalismen
    • Betonung des alltäglichen Kampfes ums Dasein
    • Ablehnung demokratischer Regelungsformen von sozialen und politischen Konflikten
    • Betonung autoritärer und militärischer Umgangsformen und Stile. (MÖLLER 1989, S. 2)

Daten zur Gewalt und zu rechtsetremistischen Orientierungen

Daten aus drei Studien (Heitmeyer 1988, eigene Studien zu hannoverschen Hooligans und Leipziger und Eisenhüttenstädter Jugendlichen) zeigen, daß die Gewaltakzeptanz und vor allem auch autoritär-nationalisierende Orientierungen, die Akzeptanz nationaler, gewaltbereiter Gruppen bei Jugendlichen sehr ausgeprägt ist. Dabei zeigt sich im Vergleich auch, daß die Gewaltakzeptanz und autoritär-nationalisierende Orientierungen der Jugendlichen der Heitmeyerschen Untersuchung von den hannoverschen Hooligans und den Jugendlichen der Neuen Bundesländer zum Teil erheblich übertroffen werden.

Ein weiteres interessantes Ergebnis einer Befragung von jugendlichen Arbeitern in Baden-Württemberg sei hier noch angefügt. Die 314 befragten Jugendlichen wurden unterteilt in „benachteiligte Jugendliche“, die trotz erschwerter Bedingungen eine Ausbildung anstrebten und „nicht benachteiligte Jugendliche“ aus prosperierenden Betrieben der Metallindustrie (Hightech-Betriebe), deren Ausbildung und spätere Übernahme gesichert erscheint. Die nicht-benachteiligten Jugendlichen, die sogenannten „Modernisierungsgewinner“ zeichnen sich zusätzlich dadurch aus, daß sie einen höheren Schulabschluß haben, in zufriedenen Wohnsituationen leben (91% dieser 18-22jährigen Jugendlichen leben noch bei Eltern), und in intakten Familien aufwachsen. Die benachteiligten Jugendlichen, die sog. „Modernisierungsverlierer“, die sich im unteren Drittel unserer »Zwei-Drittel-Gesellschaft« bewegen, zeichnen sich zusätzlich durch einen niedrigen Schulabschluß, unzufriedene Wohnsituation, die Bedrohung von Arbeitslosigkeit (58% haben bereits eine Lehre abgebrochen) aus und wachsen meist in nicht-intakten Familien bzw. in Heimen auf. Die Ergebnisse zeigen nun überraschender Weise – und damit die These von HEITMEYER (1988), daß vor allem die Modernisierungsverlierer zu Rechtsextremismus neigen, wenn auch nicht widerlegend, so doch relativierend-, daß die Modernisierungsgewinner häufiger rechtsextreme Orientierungen aufweisen als die Modernisierungsverlierer.

Die Tatsache, daß die Bundesrepublik zu den reichsten und wirtschaftlich stärksten Ländern der Welt gehört, begründen 80 Prozent der Modernisierungsgewinner damit, daß die Deutschen fleißiger und pflichtbewußter seien als andere, bei den Modernisierungsverlierern waren dies erheblich weniger. Schließlich fanden 40 Prozent derjenigen Jugendlichen, die sich gegen eine Gleichberechtigung der Ausländer aussprachen, das Wahlergebnis der Republikaner prima (HELD u.a. 1991, S. 12). Diese Ergebnisse zeigen, daß nicht nur die Modernisierungsverlierer zu rechtsextremen Orientierungen neigen, sondern zum großen Teil, sogar in noch stärkerem Maße, die Modernisierungsgewinner.

HELD u.a. begründen dies damit, daß Jugendliche, die von der Wohlstandsgesellschaft profitieren, die Gewinner der gesellschaftlichen Modernisierung, sich mit der vorherrschenden Lebensweise identifizieren und sich Minderheiten gegenüber solange neutral verhalten, solange ihre eigene privilegierte Stellung nicht gefährdet ist. Das Bedürfnis, das Erworbene gegen äußere Bedrohungen (Asylanten oder Ausländer, die Wohnungen und Arbeitsplätze beanspruchen) abzusichern, also der Wunsch, die Kontrolle über die Lebensumstände zu behalten, führt bei einer Gruppe von sozial abgesicherten Jugendlichen zur Ausbildung rechtsradikaler Haltungen. Diese Jugendlichen überidentifizieren sich mit dem wirtschaftlichen Wohlstand, der deutschen Tüchtigkeit und sie sehen ihre Werte – und damit sich selbst – bedroht, wenn wirtschaftliche Einbrüche sich abzeichnen.

Nun mag man sich darüber streiten, ob die vorliegenden Befunde es erlauben, bereits davon zu sprechen, daß diese Jugendliche rechtsradikale Haltungen ausbilden. In jedem Falle gilt es dringend, unser Augenmerk nicht nur auf die sozial Deprivierten, sondern auch auf die sozial begünstigten Jugendlichen, wie Erwachsenen zu richten. Damit komme ich zur Frage der Ursachen wachsender autoritär-nationalisierender Orientierungen und der Gewaltakzeptanz unter den Jugendlichen.

Zur Lebenswelt Jugendlicher

Das Jugendalter gilt als Lebensphase, in der Heranwachsende eine psychosoziale Identität aufbauen müssen, in der sie sich auf die Erwachsenenrollen der Berufstätigkeit, Familiengründung, der Kindererziehung und des Staatsbürgers vorbereiten und diese Rollen in eigener Weise übernehmen sollen, in der sie sich als Persönlichkeiten mit eigenen Interessen und Fähigkeiten ihre Erfüllung finden können. Diese Verwirklichung von persönlicher Identität, die im Jugendalter geleistet werden muß, ist heute erschwert. Sehr plastisch hat dies der Münchner Sozialpsychologe KEUPP in einem Fernsehinterview beschrieben. Ein Teil der Jugend – so KEUPP „hat keine Chance eine positive ldentität zu entwickeln. Es entstehen Löcher und der Fußballbereich und noch stärker der Rechtsradikalismus liefern sozusagen Plomben für diese Löcher Sie liefern fertige Pakete und es ist entscheidend, zu diesen Paketen Alternativen zu entwickeln, in denen junge Menschen kreativ und produktiv ihre eigene Identität spielerisch und gestalterisch entwickeln können.“

Bevor ich diesen uns hier von KEUPP aufgezeigten Strang der Bedeutung der spielerischen und gestalterischen Entwicklung der Identität weiter verfolge, sei kurz auf die hier angesprochene Erschwernis der Ausbildung und Verwirklichung persönlicher Identität eingegangen.

Für HORNSTEIN (1985) lassen sich drei gravierende Widersprüche, die die Lage der heutigen Jugend kennzeichnen, festmachen:

  • Einer Ausdehnung der Jugendphase durch ein Hinausschieben der Erwerbstätigkeit (= Verlängerung der ökonomischen Abhängigkeit) steht eine Verkürzung durch politische Bedingungsvorgaben gegenüber, die den Heranwachsenden zu einem frühen Zeitpunkt für volljährig erklärt und ihn damit für sein Handeln verantwortlich macht;
  • der Ausdehnung der Jugendphase widerspricht der Bedeutungsverlust von Bildung und der traditionellen Inhalte der Jugendphase angesichts steigender Arbeitslosigkeit und knapper werdender Arbeitsplätze (die Welle der Aus- und Übersiedler verschärft dieses Problem ebenso, wie die langsam auf den Arbeitsmarkt drängenden Jugendlichen, die ihre Lehre abgeschlossen haben);
  • die Verkürzung der Jugendphase mit dem behaupteten Einräumen von Verantwortung widerspricht die von politischer Seite vorenthaltene Möglichkeit der Mitgestaltung ihrer und der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse durch die Jugend. Sie wird vielmehr auf einen Wartezustand verwiesen. Sie ist überflüssig und ausgeschlossen aus der ihr versprochenen (Mit-)Verantwortung (vgl. BAACKE/HElTMEYER 1985; BRUDER et al, 1988, S. 13f; HElTMEYER/PETER 1988).

Dieses Widersprüche verschärfen die negativen Folgen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in die der Alltag von Jugendlichen eingebettet ist:

  • der soziale und persönliche Erfolg um jeden Preis (be-) verhindert ein befriedigendes und friedliches Miteinander;
  • zunehmende Arbeitslosigkeit vor allem auch bei Jugendlichen in den neuen Bundesländern schließt von der Teilnahme an der Gesellschaft frühzeitig aus;
  • entfremdete und sinnentleerte Arbeitsverhältnisse führen bei den Jugendlichen zu hohen psychischen Belastungen;
  • bewegungsfeindliche, erlebnis- und kontaktarme Wohngebiete sowie unattraktive oder fehlende Freizeitangebote (ver-)führen zum Rumhängen oder Zeittotschlagen und potenzieren das Bedürfnis nach »action« Spannung und Abenteuer; produzieren einen immer stärker werdenden, unersättlichen Erlebnishunger (ZlEGENSPECK 1984);
  • eine Krise der ethischen Werte, die soziale Verarmung vieler für die psychische und soziale Stabilisierung unentbehrlicher familiärer und nachbarschaftlicher Bindungen, die Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen (BECK 1986) und die Erhöhung der Gewalttoleranz führen zur Orientierungslosigkeit.

Darüber hinaus befindet sich ein Teil der Jugendlichen in Lebenszusammenhängen, in welchen die Betonung von

  • Männlichkeits- und Mannhaftigkeitsnormen und die Legitimierung körperlicher Gewalt als Mittel der eigenen Interessendurchsetzung, besonders auffällige und aggressive Verhaltensmuster produzieren, fördern und (er)fordern.

Drei Konkretisierungen scheinen mir an dieser Stelle erforderlich.

1. Arbeitsmarktkrise und Gewaltakzeptanz Jugendlicher

Zum einen wird bei der Diskussion der Jugendarbeitslosigkeit immer wieder vergessen, daß diese sich ja nicht nur dadurch negativ auswirkt, daß viele Jugendliche keine Lehrstelle, keinen Arbeitsplatz bekommen, sondern zumindest zwei weitere, das Verhalten, die Lebensbedingungen, die Alltagswelt der Jugendlichen stark beeinflussende, ja beeinträchtigende Folgen der Arbeitsmarktkrise kommen hinzu:

  • die knapp bemessenen Lehrstellen, lassen Jugendliche mit niedrigerer Schulbildung, die eh schon zu den sozial Benachteiligten gehören, noch stärker ins soziale, gesellschaftliche Abseits rutschen; sie verschärfen das Problem des Strebens nach sozialem und persönlichem Erfolg um (fast) jeden Preis, macht aus Schul- und Ausbildungskameraden Konkurrenzkämpfer;
  • die freie Wahl des Berufes nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen wird stark eingeschränkt, so daß sich ebenfalls das Problem sinnentleerter Arbeitsverhältnisse verschärft. Die Sinnkrise in der viele Jugendliche stecken, ist somit auch ein Produkt der Arbeitsmarktkrise.

Es verwundert so besehen jedenfalls kaum, daß laut einer Umfrage fast 80% der befragten Jugendlichen angaben, mit ihrem Arbeitsplatz nicht zufrieden zu sein. So kommt auch HURRELMANN anhand einer repräsentativen Befragung von über 2000 Jugendlichen zwischen 17 und 21 Jahren zu dem Ergebnis, daß nur jeder zweite Auszubildende nach dem Abschluß der Schule den Beruf erlernt, den er vorher auch angestrebt hatte. Nur bald jederZweite würde bei freier Wahl seinen aktuellen Ausbildungsweg wieder einschlagen (vgl. Cellesche Zeitung vom 25.5.1991). Dabei zeigen die jüngsten Ergebnisse einer Längsschnittuntersuchung von HElTMEYER, daß die Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft in ganz enger Beziehung zu einer Berufsauffassung stehen, die nur vom Geldverdienen, Aufstiegs- und Karrieredenken oder Streben nach Sicherheit geprägt ist, einer „instrumentalistischen Arbeitsorientierung“, wie dies HEITMEYER benennt. Die formale Integration in den Arbeitsbereich nach dem Motto, Hauptsache Arbeit, reicht somit keinesfalls aus, um rechtsextremistische Tendenzen zu verhindern oder abzubauen. Dies ist nur dann der Fall, wenn der Jugendliche darüber hinaus auch Spaß an der Arbeit findet und befriedigende soziale Kontakte hat, also aus der Arbeitstätigkeit selbst Befriedigung schöpft. Für die neuen Bundesländer stellt sich HEITMEYER dabei zurecht die Frage, ob nicht die hier steigende Ausländerfeindlichkeit auch damit zusammenhängt, daß eine instrumentalistische Arbeitsorientierung die Jugendlichen zu stark in den Kategorien Geld, »Kohle machen« und Aufstieg denken lasse, gleichgültig, ob sie formal in den Arbeitsbereich integriert (Hauptsache Arbeit) oder sozial desintegriert (arbeitslos, ohne Wohnung, schwierige Beziehungen) sind.

Wenn dies zutrifft, dann läßt der derzeitige Umgang mit den Ausbildungsproblemen in den neuen Bundesländern nicht viel Gutes für die Zukunft erwarten. Hinzu kommt, daß neuere Zahlen der Arbeitslosenstatistik darauf hinweisen, daß die Jugendarbeitslosigkeit in den alten Bundesländern wieder zu steigen beginnt.

So nahm im Bereich des Arbeitsamtes Celle die Jugendarbeitslosigkeit im Monat Juli 20% und im Monat August 25% gegenüber dem Vormonat zu. Begründet wird dies mit der Tatsache, daß nunmehr Jugendliche auf den Arbeitsmarkt drängen, die aufgrund der prekären Lehrstellensituation vor einigen Jahren durch entsprechende finanzielle Anreize für die Betriebe doch noch eine Lehrstelle bekamen, für die heute aber – nach Abschluß der Lehre – der Arbeitsmarkt keine Stellen frei hat.

Die Arbeitsmarktkrise ist somit in der Tat eine wesentliche Ursache der Sinnkrise und Perspektivlosigkeit, die den Alltag vieler Jugendlicher prägt und auch Auswirkungen auf die Einstellung gegenüber Ausländern, Aus- und Übersiedlern hat.

2. Erlebnisarmut und Gewalt

Zum zweiten scheint mir das immer gravierender werdende Problem des zivilisations- und gesellschaftsbedingten, erlebnis-, spannungs- und abenteuerarmen Alltags zu wenig Beachtung zu finden. Da ich hierin momentan die weitreichendsten Möglichkeiten einer Korrektur der aktuellen Lebensbedingungen der Jugendlichen und einer präventiven Sozialarbeit sehe, möchte ich dieses Problem ein wenig vertiefen.

Das stetig wachsende Bedürfnis nach Spannung, Abenteuer, nach »action« und Risiko wird zusätzlich dadurch verstärkt; daß es in unserer verwalteten (ja »zer«-walteten), verrechtlichten und verbürokratisierten Gesellschaft immer weniger Möglichkeiten gibt, affektive Bedürfnisse zu befriedigen. BAACKE, (1979), VASKOVICS (1982), ZINNECKER (1979) und neuerdings vor allem HARMS/ PRElSSING/RlCHTERMElER (1985), FlSCHER/KLAWE/THlESEN (1985), WENZEL (1986), sowie BECKER/SCHlRP (1986) und PILZ (1989; 1990) haben ebenso eindrucksvoll wie beängstigend darauf hingewiesen, daß die Lebens- und Alltagswelten, die Wohngebiete besonders von Kindern und Jugendlichen daran kranken, daß sie ihnen kaum oder gar keine Chancen geben, „ihre Umgebung nach eigenen Phantasien, Entwürfen und Plänen zu be- und ergreifen“ (BECKER/SCHlRP 1986). Es verwundert so besehen auch nicht, wenn von Jugendlichen – wie in dem Gutachten über „Aufenthaltsmöglichkeiten für Jugendliche“ in einer hannoverschen Großwohnsiedlung – „insbesondere fehlende Regel-, Spiel-, Sport-, Bewegungsorte … sowie unmittelbar wohnungsnahe Spiel- und Aufenthaltsmöglichkeiten“ (v SEGGERN/ERLER 1988, S. 70) beklagt werden.

Die Eintönigkeit des Alltags vieler Kinder und Jugendlicher, deren erlebnisarme Wohngebiete, führen zu vermehrten Raten »abweichenden« Verhaltens. In einer verampelten Gesellschaft in der viel zu viele Ampeln auf rot stehen, in der Verbotsschilder jeglichen kindlichen und jugendlichen Bewegungsdrang im Keime ersticken, in der Gerichtsurteile Sportplätze, Bewegungsräume in unmittelbarer Wohnungsnähe schließen, in der die Räume zur freien Entfaltung und Bewegung immer geringer werden, sind Gewalt, abweichende Verhaltensweisen vorprogrammiert, sind die zuweilen irritierenden, gewaltförmigen Verhaltensweisen Jugendlicher als durchaus angemessene Antworten auf ihre widersprüchliche Lage zu verstehen.

Es scheint mir dabei ein wichtiges Unterfangen, daß sich alle Betroffenen, Sozialarbeiter und -pädagogen, Leiter der Amtsstuben, Politiker und Versicherungsfachleute, aber auch betroffene interessierte Eltern Gedanken darüber machen, ob nicht unsere (u.a. durch das Haftungsrecht verursachte) Neigung zur Minimierung, ja Ausschließung jeglichen Risikos, unsere Sicherheitshysterie, langfristig mehr soziale und wirtschaftliche Kosten verursachen, als die Lockerung unserer haftungsrechtlichen Bestimmungen. Gewalthandlungen werden jedenfalls „sachlogisch durchaus vernünftig“, vor allem dann, wenn wie sie in ihren Entstehungszusammenhängen in der „durchrationalisierten Monotonie des Alltags“ der Jugendlichen „lokalisierten“ (BECKER/SCHlRP 1986).

Das auffällige Verhalten von Jugendlichen ist so besehen neben einer normalen Zurschaustellung oft ein Hilferuf an die Gesellschaft, ernstgenommen zu werden, Sinn- und Zukunftsperspektiven eröffnet zu bekommen, es ist eine Überlebensstrategie, um in einer Welt zurecht zu kommen, die kaum Raum zur Selbstbestätigung und Selbstfindung läßt. Es ist ein Ruf nach humaneren Lebensbedingungen, wo emotionale Wärme statt Kälte, Zuneigung statt Ablehnung; wo Toleranz, Mitgefühl, Verständnis und Selbstentfaltungsmöglichkeiten vorherrschen, wo Möglichkeiten des Erlebens von Spannungen, Abenteuer, Risiko, ganz allgemein von Affektivität, gegeben sind. Alles Werte und Normen im übrigen, die die Jugendlichen in den unterschiedlichsten und viel bescholtenen Sub- und Jugendkulturen suchen und auch größtenteils finden.

Hierin liegen gerade die Faszination jugend- und subkultureller Bindungen begründet. Um es mit KEIM (1984, S. 72f) ganz deutlich zu sagen: das auffällige, gewaltförmige Verhalten Jugendlicher, ist ein Scheinwerfer für zugrundeliegende Ungleichheiten, Zwangsverhältnisse und übersteigerte Disziplinierungen deren „positive Funktion“, „Mitteilungscharakter entschlüsselt, beachtet und womöglich (kommunal-politisch umgesetzt werden muß“, ehe man sich vorschnell und noch größere Probleme erst schaffend daran macht, diese Verhaltensweisen (nur) ordnungspolitisch zu behandeln.

Halten wir also fest: neben Bedürfnissen nach Selbstbestätigung, Selbstverwirklichung, soialer Anerkennung, Geborgenheit und Zuneigung sind vor allem auch die Suche nach Erfahrung von Abenteuer, Spannungs- und Risikoerlebnissen, Bedürfnisse des Auslebens von aggressiver Männlichkeit, des Erwerbs von Körperstilen und Körpersymbolen und der Gelegenheit zu deren öffentlicher Demonstration, die jugendliches Gewaltverhalten bestimmen.

Dabei haben die meisten dieser Jugendlichen zumindest zwei Identitäten: eine bürgerliche Alltagsidentität und eben ihre sub- oder besser jugendkulturelle Identität.

3. Männlicbkeitswerte, Gewaltakzeptanz und Ausländerfeindlichkeit

Als Drittes kommt hinzu, daß sich ein Teil der auffälligen Jugendlichen sich in Lebenszusammenhängen befinden, in denen körperliche Gewalt noch oder wieder als legitimes Mittel der Interessendurchsetzung, der Wahrung oder des Erwerbes von sozialem Prestige, als Zeichen von Männlichkeit gilt. So ist kämpfen innerhalb und zwischen Gruppen ein unverzichtbares Mittel zur Erlangung und Aufrechterhaltung von Ansehen im Sinne der aggressiven Männlichkeitsstandards. HElTMEYER/PETER (1988) machen in diesem Kontext auf eine zusätzliche Problematik aufmerksam: die Männlichkeitsnormen werden in einer Situation freigesetzt, wo zwar die sozialen Ungleichheiten gleich geblieben – ich meine im Sinne der »neuen Armut« sogar schlimmer geworden (vgl. PILZ 1989, DUNNING 1983) – sind, aber das Klassenbewußtsein im Rahmen der Individualisierungsschübe weitgehend aufgelöst ist. Sie unterliegen damit weniger sozialen Kontrollmechanismen und geraten deshalb in Gefahr, politisch aufladbar und funktionalisierbar zu sein, mit ganz anderen Zielsetzungen und Inhalten.

Eine Gefahr, die sich im übrigen in den ausländerfeindlichen Parolen und Handlungen eines Teils der Jugendlichen sehr deutlich artikuliert. Ein Sachverhalt, der m.E. bislang – vor allem was die sozialpädagogische Bearbeitung der Ausländerfeindlichkeit und »autoritär-nationalisierenden Orientierungen« Jugendlicher betrifft – sträflich vernachlässigt wurde (vgl. HEITMEIYER 1989; PlLZ/SENGEBUSCH 1990).

Innerhalb relativ kurzer Zeit haben viele Jugendliche erfahren, wie sich gewachsene, traditionelle Lebensräume, Wohngebiete, wo bereits Generationen vom Urgroßvater über den Großvater und Vater aufgewachsen sind, zu einem von überwiegend Ausländern bewohnten Stadtviertel wandelten und mehr und mehr von den kulturellen Werten und Normen der Ausländer geprägt werden. In einigen Stadtvierteln wohnen bis zu 60% Ausländer; in vielen Schulen aller Schultypen, besonders jedoch der Haupt- und Realschulen machen Ausländerkinder bis zu 80% aller Schüler aus. Dies führt zu unvermeindlichen Konflikten denen zu wenig Beachtung geschenkt wird.

Die Klage von deutschen Jugendlichen, daß sie sich gar nicht mehr in Deutschland lebend fühlen, kaum mehr entfalten können, daß sie mit den Werten und Normen der ausländischen Mitbewohner nicht mehr zurechtkommen, daß sie sich unterdrückt, benachteiligt fühlen, müssen ernst genommen werden. „Die haben mir meinen Stadtteil geklaut“, diese Aussage eines Jugendlichen drückt das aus, was viele Jugendliche in solchen Wohnlagen fühlen und empfinden (vgl. auch v. SEGGERN/ERLER 1988).

Gesprächsbereitschaft zeigen

Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, die die Jugendlichen befähigen, mit den gewandelten Wohnbedingungen, mit den kulturellen Eigenheiten ihrer ausländischen Mitschüler zurechtzukommen und ihre eigene kulturelle, ja sagen wir ruhig: nationale Identität zu bewahren, ja überhaupt erst einmal aufzubauen. Wenn deutsche Jugendliche ihr Unbehagen am zu hohen Ausländeranteil in ihrem Wohnviertel und in den Schulen äußern, dürfen Pädagogen nicht von vornherein Äußerungen abwürgen, nur weil sie tatsächliche oder vermeintliche ausländerfeindliche Inhalte nicht ertragen.

Ein solches Unbehagen ist wie jedes Vorurteil nur dann pädagogisch zu bearbeiten, wenn es wenigstens artikuliert werden darf. Durch Unterdrückung ist es nicht verschwunden, sondern nur der pädagogischen Bearbeitung und Auseinandersetzung entzogen. Statt Hilfen von Lehrern oder Sozialarbeitern zu bekommen, werden viele dieser Jugendlichen mit ihren Problemen allein gelassen. Die Folge ist ein oft erschreckender und hilfloser Ausländerhaß und eine wachsende Gewaltbereitschaft. Leider neigen viele Pädagogen eher dazu, Jugendliche die vermeintlich faschistische und rassistische Parolen äußern, auszugrenzen, als geduldig daran zu arbeiten, sie aus jenen Ecken herauszuholen, in die sie sich verrannt haben.

Die Sprachlosigkeit gegenüber diesen Jugendlichen muß überwunden werden. In der Tat, nicht Ausgrenzung und Sprachlosigkeit kann und darf die Antwort sein, sondern Kommunikation und Integration. Mit Isolierung lösen wir dieses Problem nicht. Wir müssen kommunikationsbereit sein. Nur so erfahren wir auch über Ursachen und Bedingungen des offen ausländerfeindlichen und rechtsextremen Verhaltens dieser Jugendlichen, und nur so können wir Korrekturen anbringen. Dabei – und dies haben die bisherigen Ausführungen sehr deutlich offenbart – sind die Ursachen und Bedingungen gewaltförmigen, rechtsextremen, ausländerfeindlichen Verhaltens Jugendlicher eine Antwort auf ihre aktuellen Lebenswelterfahrungen, auf ihre aktuellen Problemlagen und weniger Folge unserer nicht aufgearbeiteten nationalistischen Vergangenheit.

So gut »verkopfte« Aufklärungskampagnen über das 3. Reich, Aktionen wie Spurensuche auch sein mögen, sie gehen an den eigentlichen Ursachen der Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft vorbei, sie stellen für die betroffenen Jugendlichen keine Hilfe dar. Die Bedeutung der Erfahrung von Wärme, Anerkennung, Zuneigung, Verständnis und Selbstentfaltungsmöglichkeiten für die Gewalteinschränkung und -vermeidung kann nicht ernst genug genommen werden. So zeichnet MILLER (1985, S. 175 f) bezogen auf die Sozialisationsinstanz Familie ein erschreckendes Bild, wie die verheerenden Folgen der Traumatisierung des Kindes auf die Gesellschaft zurückschlagen und zur blinden Eskalation der Gewalt führen: „Um sich entfalten zu können, braucht das Kind die Achtung und den Schutz der Erwachsenen, die es ernst nehmen und lieben, und ihm ehrlich helfen, sich zu orientieren. Werden diese lebenswichtrgen Bedürfnisse des Kindes frustriert, wird das Kind ausgebeutet, geschlagen, gestraft, mißbraucht, …. so wird die lntegrität des Kindes nachhalltig verletzt. Die normale Reaktion äuf die Verletzung wären Zorn und Schmerz. Da Zorn aber in einer verletzenden Umwelt dem Kind verboten ist und das Erleben der Schmerzen in der Einsamkeit unerträglich wäre, muß es diese Gefühle unterdrücken: Die nun von ihrem eigentlichen Grund abgespaltenen Gefühle von Zorn, Ohnmacht, Verzweiflung, Sehnsucht, Angst und Schmerz verschaffen sich dennoch Ausdruck in zerstörerischen Akten gegen andere (Kriminalität, Völkermord) oder gegen sich selbst (Drogensucht, Alkoholismus, Prostitution, psychische Krankheiten, Suizid).“

Dabei spielt auch das Problem der wachsenden Pluralisierung der Lebensverhältnisse eine wichtige Rolle, führt es doch zu einer neuen sozialen Differenzierung zwischen Kindern unterschiedlicher sozialer Gruppen. Die Ganzheitlichkeit der kindlichen Lebenswelt geht verloren: der Kinderalltag wird dadurch in sozialer, inhaltlicher und räumlicher Hinsicht ausdifferenziert und zerstückelt. Dieser Prozeß der Vereinzelung (ZEIHER 1983) macht deutlich, daß Kinder zunehmend mehr an ganz unterschiedlichen Aktivitäten teilnehmen, die nicht mehr miteinander in Beziehung stehen. Das kindliche Leben findet auf einzelnen unverbundenen Inseln statt. Oft werden die verschiedenen Lebensbereiche nur dadurch zusammengehalten, daß die Mütter den Transport zu diesen Aktivitäten organisieren – ein gerade bei Mittelschicht-Familien selbstverständlicher werdender Teil des Alltags. Der Rhytmus der jeweiligen Institutionen bestimmt zunehmend den Alltag der Kinder Es besteht immer weniger Möglichkeit, den Nachmittag frei von institutionellen Vorgaben zu gestalten und am Leben der Erwachsenen teilzunehmen, so daß diese Entwicklung auch als ein zunehmender Ausgrenzungsprozeß von Kindern aus der Welt der Erwachsenen und aus generationsübergreifenden Lebenszusammenhängen begriffen werden kann, aber auch aus der Welt der Kinder, deren Eltern nicht über die finanziellen Ressourcen verfügen, daß sie ihren Kindern ein ähnlich ausdifferenziertes, breites sportliches, musisches Angebot unterbreiten können. Dies führt vor allem zu einer weiteren Ausgrenzung der randständigen Jugendlichen und Kindern, der Kinder und Jugendlichen in den sozialen Brennpunkten. (Achter Jugendbericht 1990, S.39)

So zeigt die Längsschnittstudie HEITMEYERS zusätzlich, daß die formale Intaktheit einer Familie nichts darüber aussagt, ob ein Jugendlicher vor rechtsextremistischen Orientierungen gefeit ist oder nicht. Entscheidend sind vielmehr stabile und verläßliche Beziehungen, die ein Gefühl der Geborgenheit aufgrund von Zuwendung und Verständnis vermitteln. Sind die Beziehungen der Eltern zu ihren Kindern dagegen instrumentalistisch, also leistungsorientiert, auf Geld und Karriere drängend, werden die Jugendlichen zu Orientierungen neigen, die Rechtsextremismus, Fremdfeindlichkeit und Gewalt fördern. Dies gilt auch, wenn Eltern versuchen, die Kinder durch zeitabhängige Unterstützung unter Druck zu setzen, vor allem aber sich durch materielle Vergünstigungen und Liebe und emotionaler Zuwendung freikaufen zu können, um letztlich besser über die Kinder verfügen zu können.

In diesem Kontext gewinnt denn auch die Tatsache zunehmend an Bedeutung, daß die Familie, die Schule, die Kirche im besonderen längst als zentrale Sozialisationsinstanzen abgewirtschaftet haben und den informellen Cliquen und mehr noch, den allgegenwärtigen Massenmedien zunehmend den Platz räumen. Gerade die informellen Gruppen (Cliquen) haben als Bezugsgruppen für die Jugendlichen einen ungeheueren Bedeutungswandel erfahren: Gaben 1962 beispielsweise nur 16% der befragten Jugendlichen (Jungen wie Mädchen) an, daß sie einer solchen informellen Gruppen angehören, so waren es 1983 bereits fast 57% und die Zahl ist weiterhin steigend (ALLERBECK/HOAG 1985).

Es sind somit die alltäglichen Gewalterfahrungen der Kinder und Jugendlichen, die unser Augenmerk bedürfen (vgl. THEUNERT 1987; SCHIBILSKY l987) und weniger die Gewalthandlungen der Jugendlichen selbst, es sei denn, wir sähen in der Tat letztere als Scheinwerfer, die die familialen, schulischen, beruflichen und gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten erhellen, wir betrachteten sie als Hilferufe und Überlebensstrategien.

Angesichts der hier nur bruchstückhaft aufgezählten und zunehmend massiver werdender Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft müssen wir uns in der Tat wundern, daß es nicht sehr viel mehr Gewalt von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft zu beklagen gibt. Der Prozeß der Zivilisierung der Gewalt hat Früchte getragen. Dennoch kann uns diese Erkenntnis angesichts der vielen Gewalterfahrungen, die Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft machen (müssen) nicht zufrieden stellen. Um es mit ELIAS (1989, S. 270) zu sagen:

„Es ist eigentlich nicht schwer zu sehen, daß diese Sinnsperre für einen nicht unbeträchtlichen Teil der jüngeren Generation, sei es durch Gesetze, sei es durch Arbeitslosigkeit oder wodurch auch immmer ein weites Rekrutierungsfeld, nicht nur für gegenwärtige Drogenhändler, sondern auch für Stadtguerillas und für zukünftige Radikalbewegungen überhaupt schafft, ob rechts oder Iinks. Niemand weiß, was auf die deutsche Bundesrepublik zukommt, wenn diese Saat einmal aufgeht.“

Bevor ich nun zum Schluß komme, scheinen mir einige zusätzliche Anmerkungen zur Situation der Jugendlichen in den neuen Bundesländern erforderlich.

Zur Situation Jugendlicher in den neuen Bundesländern

Wenn man die jüngste Eskalation der Gewalt Jugendlicher in den neuen Bundesländern sachgerecht einschätzen will, bedarf es einer zusätzlichen Analyse der Lebenssituation der Jugendlichen in den neuen Bundesländern.

Die Jugendlichen sind seit dem Mauerfall und Wiedervereinigung in drei tiefe Löcher gefallen, die es ihnen schwer machen, mit ihrer Lebenswelt zurecht zukommen und ihre Identität zu entwickeln, zu bewahren. Sie sind zum einen in ein politische Loch gefallen in dem Sinne, daß sie mit dem Fall der Mauer ihrer nationalen Identität beraubt wurden. Mag auch das Regime verhaßt gewesen sein, die Identifikation mit der DDR, mit ihren wirtschaftlichen Erfolgen im Vergleich zu den anderen sozialistischen Staaten und sportlichen Erfolgen im internationalen Konzert, war doch weit verbreitet. Mit dem Fall der Mauer wurden sie quasi zu Deutschen zweiter Klasse degradiert, was durch eine verstärkte Identifikation mit Deutschland, durch ein verstärktes nationales, ja oft nationalistisches Denken kompensiert wird. Diese Entwicklung wird dadurch noch verstärkt, daß in der Zeit des SED-Regimes weder die latent ja auch manifest vorhandene Ausländerfeindlichkeit nie thematisiert, geschweige politisch, pädagogisch angegangen wurde und auch eine Aufarbeitung des Nationalismus ausgeblieben ist. Die Folgen sind vor allem eine über alle Schichten, Bildungsniveaus und Altersgruppen hinweg stark ausgeprägte Ausländerfeindlichkeit.

Die Jugendlichen sind zum zweiten in ein tiefes wirtschaftliches Loch gefallen, in dem ihnen die große Glitzerwelt der westlichen Konsumgesellschaft eröffnet wurde, sie aber erheblich geringere Einkommen haben. Ja schlimmer noch, Hunderttausende gekündigter Lehrstellen tragen mit dazu bei, daß sich die Jugendarbeitslosigkeit epidemieartig ausbreitet und die Lebensperspektiven der Jugendlichen in den neuen Bundesländern für die kommenden Jahre mehr als düster sind.

Drittens sind die Jugendlichen – und dies verschärft die beiden ersten Problembereiche – in ein tiefes sozialpolitisches Loch gefallen. Es fehlt an pädagogischen, sozialpädagogischen Programmen, die die Jugendlichen in ihrem tiefen Fall auffangen könnten; es fehlt an einer intakten Freizeitkultur. Die Städte in denen sie leben (müssen), vor allen Trabantenstädte, zeichnen sich durch eine durch nichts mehr zu überbietende Trostlosigkeit und öde aus, in der Langeweile die Normalität und Gewalt vorprogrammiert ist. Es fehlt an Kneipen, Begegnungsstädten, an Bewegungsmöglichkeiten, Spielplätzen, etc., etc. Sehr einfühlsam und kompetent hat diese Situation der Jugendlichen in den neuen Bundesländern der Ostberliner Sozialdiakon HEINISCH in einem Gespräch mit dem Magazin SPORTS (1991) beschrieben: „So beschissen der DDR-Staat auch war, ein paar Dinge waren für die breite Masse gewährleistet: das tägliche Essen, die Arbeit und das Gehalt. Plötzlich aber werden die Leute mit gesellschaftlichen Reatitäten konfrontiert, mit denen die westlichen Kinder alle großgeworden sind, aber unsere nicht. Auf einmal haben sie Angst um den Arbeitsplatz, die Lehrstelle, den Schulabschluß. Die merken doch, daß die westlichen Konzerne im wesentlichen sagen, wir decken den Mehrbedarf locker mit unseren schon bestehenden Produktionsstätten ab. Die merken doch, daß unsere Firmen reihenweise Pleite machen und wir bald ein Volk von Sozialhilfeempfängern sind. Und wir, aber wirklich nur wir merken, daß ein Volk von Sozialhilfeempfängern ohne sozialpädagogisches Programm reinstes Dynamit ist. Das geht irgendwann hoch, und Leipzig war sozusagen der Auftakt.“ (SPORTS 1991, 1, S. 84)

Wie beschreibt Hans-Joachim MAAZ in seinem Psychogramm der DDR doch treffend die Wandlungen mit dem Mauerfall? „Vierzig Jahre lang galt unter der Diktatur der Bann »Sei angepaßt, ordne dich unter und Du wirst versorgt«. Und jetzt heißt die Nötigung: Kümmere dich selbst um deine Belange, sonst mußt du sehen, wo du bleibst.“

Ein letztes muß noch angemerkt werden: Die Jugendlichen haben kaum Erfahrungen im Umgang mit eigener Gewalt, mit staatlicher Gewalt sehr wohl, aber nicht mit ihrer eigenen. Sicher gab es auch früher schon Randale im Umfeld von Fußballspielen, aber diese wurden durch den allgegenwärtigen und allgewaltigen Stasi-Apparat schnell im Keime erstickt. Jetzt, ohne dieses Repressionsinstrument, leben die Jugendlichen, weil ihnen Erfahrungen im Sinne von Selbstbeschränkungen, Selbstregulierungsmechanismen fehlen, ihre Gewalt völlig ungehemmt aus. Bundesdeutsche Hooligans beklagen entsprechend schon seit geraumer Zeit, daß die Ost-Hooligans jeden zusammenschlägen, der ihnen in den Weg kommt, ganz gleich ob jung oder alt, ob Mann oder Frau, und daß sie erheblich brutaler, rücksichtsloser zuschlagen. Die bereits angedeuteten Ergebnisse von Befragungen jugendlicher Fußballfans aus Leipzig und Eisenhüttenstadt zeigen denn auch, daß die Gewaltakzeptanz und vor allem die Ausländerfeindlichkeit in den neuen Bundesländern eine im Vergleich zu den alten Bundesländern neue Dimensionen erreicht haben.

Schluß

Eine Verbesserung der Lebenswelten jugendlicher und eine lebensstil-, lebensweltorientierte Jugend(sozial)arbeit sind das Gebot der Stunde. Wer glaubt, auch weiterhin das Problem der Gewaltbereitschaft Jugendlicher mit nur repressiven Maßnahmen lösen zu können, wer weiterhin nach noch mehr Polizei und schärferen Gesetzen ruft, macht sich mitschuldig an der Eskalation der Gewalt. Wir brauchen Ursachenanalyse und keine Symptomkuriererei.

So besehen ist HEYE (1987, S. 77) zuzustimmen, wenn er schreibt, daß Jugendarbeit verstanden werden muß als eine „kontrafaktische Gegenkultur“, „als Kultur gegen Vereinzelung, Vereinsamung, Polarisierung und Zersplitterung von Lebensformen, Orientierungs- und Sinnverlust. Oberflächlichkeit und Individualisierung des Lebens, als Kultur die »Profil« zeigt, sich dabei bewußt abhebt, sich nicht als bloße Kompensations- bzw. Versorgungskultur vereinnahmen läßt und in diesem Sinne »Anregungsmilieus« für Sinnfindung bietet.“

Literatur

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zum Anfang | »Herumtreibend, halbstark, luxusverwahrlost«

von Benno Hafeneger

Zur Historisierung von Jugend und Gewalt

Die aktuelle Diskussion um »Jugend« (d.h. männliche Jugend) und Gewalt in Großstädten/Ballungsgebieten ist vielschichtig und differenziert, doch sie verweist auf ein zentrales Defizit: die fehlende historische Perspektive und Unwissenheit über die Geschichte des Zusammenhanges. In der sozialwissenschaftlichen und jugendpädagogischen Literatur der letzten Jahre wird vor allem auf die Zusammenhänge der komplexen, hochambivalenten und »brüchigen Jugendphase heute« (Individualisierung und Pluralisierung, zeitliche Verlängerung, Auflösung von Normalbiographien und traditionellen Lebenslaufmustern, normative Verunsicherungen, Erosion von sozialen und kulturellen Milieus, Bastelmentalität und Identitätsarbeit u.a.), auf die strukturellen Gewalterfahrungen und Desintegrationsprozesse (und -ängste) von Jugendlichen verwiesen. Es werden Motivdeutungen aus Ohnmachts-, Konkurrenz- und Vereinzelungserfahrungen von Jugendlichen, Hinweise und Belege zu gewaltförmigen (-bereiten, akzeptierenden) Verarbeitungsprozessen von biographischer und sozialer Realität angeboten sowie auf anomische Tendenzen verwiesen.

Die Diskussion bezieht sich auf Alltagsgewalt (u.a. Kriminalität), Begleitgewalt (u.a. Fußball-Fans) und rechtsextrem, politisch motivierte Gewalt (u.A. Skinheads, neonazistische Gruppen). Dabei werden, vor allem als Folge der Probleme des langen Prozesses der deutschen Einigung, implizit oder explizit wiederholt sich dramatisch zuspitzende Entwicklungen für die nächsten Jahre prognostiziert sowie politisches und auch (sozial)pädagogisches Handeln, Jugendhilfemaßnahmen eingeklagt. In den Diskussionen wird vielfach argumentiert, daß Gewalt als Verhaltensmuster und -strategie von bzw. unter Jugendlichen ein neues und erstmalig auftretendes Phänomen in der Geschichte der (vereinten) Bundesrepublik Deutschland wäre.

Aber das Verhältnis von (männlichen) Jugendlichen zur (Erwachsenen-)Gesellschaft, das sich gerade auch in unterschiedlichen Formen von Gewalt ausdrückt bzw. ausdrücken kann, ist historisch nicht neu. Sie sind – als Ausdruck von »Nöten, Krisen und Konflikten des Jugendalters«, »der Stellung in Beruf und Familie«, den »Unruhen in Kriegs- und Nachkriegszeit«, der »Enge des städtischen Lebens«, der »Wandlung der Werte und der Vergnügungsindustrie«, so die zeitgenössische jugendpädagogische Diktion in den fünfziger Jahren – vergessen und verdrängt. Diese nachweisbare Erkenntnis soll nicht entschuldigen, rechtfertigen oder zur Gewöhnung/Abstumpfung beitragen. Sie kann aber in relativierender, entdramatisierender Perspektive zur Deeskalation und Abwehr von panikmachenden – gegen Jugendliche gerichtetem – durchschaubar repressiven und eindimensionalen Strategien (Polizei, Justiz, starker Staat, law and order) beitragen helfen.

In der Geschichte des gewaltförmigen Verhältnisses von Jugendlichen zur (Erwachsenen)Gesellschaft pendeln die Einschätzungen zwischen Panik und Beschwichtigung: einem damit signalisierten besorgniserregenden »inneren Zustand« der Jugend auf der einen Seite und der beruhigenden Versicherung – so etwas sei nicht neu, habe es schon immer als Ausdruck von entwicklungsbezogenen »Sturm- und Drangperioden« und jugendpsychologischer Entwicklungsphase gegeben auf der anderen Seite. Dem entsprechen Forderungen und Maßnahmen: hartes Vorgehen mit Polizei und Strafrecht, um die Einordnung in die Gesellschaft zu erzwingen auf der einen Seite – Verständnis der Motive und Wünsche (»überschäumende jugendliche Lebenskraft«, »die Gärung, Unfertigkeit der jungen Menschen«, Ausdruck von Enge, Geltungsbedürfnis, Unzufriedenheit und Langeweile) und Entgegenkommen durch (sozial)pädagogische Maßnahmen (Räume/Orte, Erlebnis/Abenteuer, Vertrauen und Zuwendung u.a.) auf der anderen Seite.

Drei Beispiele aus den fünfziger Jahren

Aus der Jugend- und Jugendarbeitsgeschichte soll hier auf drei Beispiele – aus dem Kontext einen jugendgeschichtlichen Forschungsprojektes – zu diesem Thema in phänomenologischer Perspektive eingegangen werden:

  • die sog. »herumtreibenden Heranwachsenden« bzw. »gefährdeten und gestrauchelten Jugendlichen«,
  • die sog. »luxusverwahrlosten Jugendlichen« und
  • die sog. »Halbstarken« bzw. »randalierende Jugend« in den fünfziger Jahren.

Die drei Beispiele verweisen in eine Zeit, in der die Massenarbeitslosigkeit und »soziale Not« unter Jugendlichen ab Mitte der 50er Jahre zurückgeht, sie am »Wirtschaftswunder« teilhaben und sich die politischen und wirtschaftlichen (und auch kulturellen) Strukturen etabliert haben. Die hier skizzierten Gruppen und Typisierungen können jugendgeschichtlich erweitert werden: u.a. auf die sog. »Wilden Cliquen«, auf vielfältige Gesellungsformen unter proletarischen Jugendlichen (u.a. beschrieben als »Halbstarke«, als »verwahrloste, verkommene männliche Großstadtjugend«, als »Strolche«) seit der Jahrhundertwende; in der neueren Zeit auf die »Rowdies«, »kriminellen Jugendbanden«, »Rocker« und die »street-gang- und Jugendpolizeidiskussion« in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre.

Es geht – unterschiedlich akzentuiert und gewichtet – bei den jeweiligen zeittypischen, gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen und Diagnoseversuchen um »Abweichung, Dissozialität, Gefährdung, Verwahrlosung« und bei den pädagogischen, erzieherisch-sozialen und auch kriminalpolitischen Hilfeangeboten im Kontext von Jugendschutz, Erziehung und Vorbeugung um »Kontrolle, Integration oder Repression«. Immer wieder geht es primär – unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnissen – um auffällige Verhaltensweisen von (männlichen) Jugendlichen gegen die »zivilisierten Normen«: beschrieben als »Zusammenrottungen« auf öffentlichen Straßen und Plätzen, vor Kneipen und Kinos; Belästigungen, Wortwechseln mit Erwachsenen; Auflehnung gegen Autoritäten, insb. Polizei; Hang zur Unruhestiftung und Verkehrsbelästigung; Scherze, Flegeleien bis hin zu kriminellen Handlungen.

Es geht weiter um »den Umgang« mit den jeweil typisierten und stigmatisierten aufsässigen Jugendlichen, weniger um gesellschaftliche, politische Strukturen und die sozialen Alltagserfahrungen, die Bewußtseinsformen prägen und aggressive, gewaltförmige Verhaltensweisen begründen. Die Interpretationsangebote sind heterogen, sie beziehen sich insbesondere: auf den durchaus verständnisvollen Hintergrund einer jugendpsychologisch und – pädagogisch interpretierten »krisen- und konflikthaften Entwicklungs- und Reifezeit«, die »Turbulenzen im Adoleszenzalter«, die »noch ungebändigte Triebwelt«, den unspezifischen, »sinn- und nutzlosen« Tätigkeits-, Erlebnis- und Geltungsdrang; auf die Entwicklungsdifferenz biologischer (sexueller) früher Reife auf der einen Seite und nicht gleichzeitiger kultureller Entwiclung auf der anderen Seite; auf Bindungslosigkeit und seelische Unordnung; auf »schadloses bloßes Abreagieren« der starken beruflichen Anspannung in der Freizeit; auf Zivilisationsphänomene (und Eigenleben der »Flegeljahre« der männlichen Jugend) in modernen, dynamischen Massen- bzw. Industriegesellschaften, die sich in »undifferenzierter Unzufriedenheit« mit »Ventilfunktion« ausdrücken.

Leitende sozialpädagogische Perspektive ist die Korrektur »auffälliger Verhaltensweisen«, die erzieherische Beeinflussung »des Seelenlebens«, die normative Anpassung und die Integration der »Problem-Jugendlichen« in das zeitgenössische gesellschaftliche Normalitätskonzept mit den Tugenden »Zucht, Ordnung, Autorität, Disziplin, Arbeit«. Gleichzeitig wird durchaus selbstkritisch auf den begrenzten Erkenntnisstand und die fehlende »intensive Erforschung des jugendlichen Seelenlebens und der Lebenswelt der werktätigen Jugend« verwiesen (vgl. z.B. Hetzer 1956). Zum prägenden Erlebnis- und Erfahrungsgehalt der Kindheit und Jugendphase der »Halbstarken« merkt Dietz an : „Das Leben des um 1938 geborenen jungen Menschen bestand aus einer Kette von Absonderlichem, Ungesundem und Anormalem: Hunger, Zittern um Leben und Gesundheit, Fehlen des Vaters, Überreizbarkeit der Mutter, Leid, Familienentfremdung, Schwarzhandel, Zigarettenprostitution, Willkürherrschaft, Pazifismus, Militarismus“ (1956, S. 768).

»Die Halbstarken«

Ein Beispiel soll gesondert herausgegriffen werden, auch ob seines Bekanntheitsgrades. Vor allem in der zweiten Hälfte in den fünfziger Jahren ist die Gesellschaft von »dem Verhalten« der sog. »Halbstarken“1 (auch »randalierende Jugend« genannt) beunruhigt. Die »halbwüchsigen Rowdies« (»Rüpel«, »Krawallmacher« – so weitere Zuschreibungen) sind in offenen, anarchischen »Cliquen«, in hierarchielosen und oftmals kurzlebigen Gruppen- und Gesellungsformen in erster Linie in vielen Großstädten der Bundesrepublik (in der DDR und vielen anderen westlichen und osteuropäischen Ländern) locker organisiert; zu ihnen zählen jeweils zwischen 10 und 20 (männliche) Jugendliche. Sie geben sich Namen wie: »Die Wilden«, »Totenkopfclique«, »Eidechsen«, »Rote Teufel« oder einfach »Club der Halbstarken«. Viele nennen sich nach der Straße, dem Quartier in dem sie wohnen. Vor allem ihre normwidrigen, »übermütigen, respektlosen, herausfordernden, frechen und aggressiven« Verhaltensweisen, ihr »fehlendes Unrechtsbewußtsein«, ihre Aufsässigkeit, Anstößigkeit und ihr Unfug – wie lärmen, toben, anpöbeln, provozieren, prügeln, randalieren, motorisiert, blockieren von Straßen, nackt baden – stören die angepaßte Wohlanständigkeit, Sitten und Ordnungsvorstellungen der kleinbürgerlichen Gesellschaft. Berichtet wird vor allem über »Rock'n Roll- und Jazz-Krawalle« (Schlägereien, Zerstörungen nach Konzerten und Filmen wie „Rock around the clock“„Außer Rand und Band“, dem Marlon-Brando-Film „Der Wilde“, den James-Dean-Filmen)2 .In Frankfurt/M. z.B. gibt es 1956 zwei sog. »Großkrawalle«; so werden Krawalle – differenziert nach »reinen Krawallen, Veranstaltungs- und Folgekrawallen« – mit mindestens 50 Teilnehmern bezeichnet: am 1.9. in Frankfurt-Höchst mit ca. 60 Teilnehmern und am 5.3. in der Innenstadt mit ca. 500 Teilnehmern. In der Presse gibt es eine martialische Berichterstattung über die »hemmungslosen, antisozialen Halbwüchsigen, Halbstarken«.

Die zeitgenössische jugendsoziologische, pädagogische und kriminologische Diskussion pendelt zwischen durchaus sensiblen ätiologischen Fragestellungn und autoritär-repressiven Forderungen (Methoden der »harten Hand«). Die Berichterstattung in der Tagespresse ist sensationsorientiert, es ist vom Terror, gar von einer »Diktatur und Seuche der Halbstarken« die Rede. Das Verhalten der männlichen Jugendlichen zwischen 15 und 20 Jahren wird mit seinen auffällig-provozierenden Formen u.a. folgendermaßen beschrieben:

Vornehmlich finden die »Halbstarken« Gefallen daran, Fußgänger zu belästigen. Sie rempeln diese an, »um sich Respekt« zu verschaffen, stoßen sie vom Gehweg, gegen Häusermauern oder gegen andere Halbwüchsige und zwingen sie, vom Bürgersteig auf die Fahrbahn zu gehen. Grölend, pfeifend und zum Teil mit Lattenstücken bewaffnet ziehen sie durch die Straßen oder stehen an den Ecken und behindern den Fußgängerverkehr. Sie überschreiten im Gänsemarsch bei großer Zahl die Fahrbahn und blockieren so zeitweilig den Fahrzeugverkehr. Besonders gern versperren sie verkehrsreiche Kreuzungen. Sie empfangen die Omnibusse mit Geheul, stürzen Verkehrsschilder, werfen Mülltonnen um und an Baustellen lagernde Ziegelsteine auf die Straße. Bei alledem schießen sie mit Schreckschußpistolen und lieben es, Knallkörper abzubrennen oder Stinkbomben zu schmeißen. Sie bespritzen Vorübergehende mit wassergefüllten Fahrradpumpen, schlagen ihnen das Speiseeis aus der Hand, versuchen, sie in eine Prügelei zu verwickeln, verdrängen Rentner durch Pöbeleien und Drohungen vom Ruheplatz und fordern sie schließlich zum »Verschwinden« auf. Auf den Rummelplätzen und Straßen pöbeln sie gern Mädchen, aber auch Ehepaare an. In dicht geschlossener Kolonne und laut knatternd fahren sie mit ihren Mopeds oder Motorrädern durch die Hauptstraßen. Auch in Gaststätten benehmen sie sich auffällig, sie verlangen lärmend nach Bier, prosten sich laut zu und werfen Stühle um, reißen die Blüten der Blumentopfstauden ab oder zerschlagen gar die Einrichtungsgegenstände.

„Die Ordnung stört die Jugendlichen“

In der Suche nach Ursachen und Schuld für diese Verhaltensweisen wird auf mehrere Entwicklungen verwiesen: die fehlende familiäre, schulische und religiöse Erziehung (Entwurzelung) und deren Bankrott, die fehlenden Wertbegriffe in der Gesellschaft, die »unglückliche, mißverständliche Rolle des Begriffs der Demokratie« (als angebliche Freiheit von jedem Zwang, als Liberalismus und laissez-faire) und falsch verstandene »Erziehung zur Selbständigkeit«, fehlende Vor- und Leitbilder, Unzufriedenheit mit Beruf und Arbeit (der größte Teil der Jugendlichen sind »ungelernte Hilfsarbeiter und Lehrlinge«) mit der Perspektive des »Unten-Bleiben-müssens«. Entwicklungspsychologisch wird vor allem auf das Zusammentreffen von »Betätigungs- und Geltungsdrang«, Befreiungsversuchen einerseits und »geistig-seelischer sowie sozialer Labilität« andererseits als typisch für die Phase des Übergangs von der Kindheit ins Erwachsensein, auf eine »komplizierte Zwitterstellung« des »Nochnicht- und Schon-Erwachsenseins« verwiesen. Es ist die Rede von »echter Jugendnot«, »sozialer Entfremdung«, der »Verarmung des jugendlichen Seelenlebens« in einer zivilisierten, materiell orientierten Welt, von »geschrumpften Lebensräumen« für Jugendliche, von Ausbruchsversuchen und Wohlstandsdelikten.

Daneben gibt es Einschätzungsversuche, die an einem »scharfen Durchgreifen« interessiert sind und sich in Formulierung wie »verwilderte, anarchisch-destruktive Jugend ohne Ziel, Glauben und Zukunft« ausdrücken. Das beklagte »Wertvakuum« der Jugendlichen aus den unteren sozialen Schichten wird angeblich besetzt mit »Sehnsüchten und Materialien aus Filmen, Schundliteratur, früher Erotik und plattem Materialismus«. Die Folge sei eine »Straßendiktatur der Halbstarken«, die sich in »Rohheit, Unordnung, Zerstörungswut« ausdrücke. In der soziologischen Diskussion entwickelt Schelsky den Typus der »Skeptischen Generation«, die er – als Folge von Kriegs- und Nachkriegserfahrungen – in ihrem Lebensgefühl als „skeptisch, mißtrauisch, glaubens- oder wenigstens illusionslos“ charakterisiert (1957, S. 381). Gleichzeitig diagnostiziert er eine »Veränderung der vitalen Grundbefindlichkeit« und neue Züge vitaler Erlebensformen unter Jugendlichen, die er auch bei den »Halbstarken« sieht. Er sieht in ihnen Eruptions- und Ausbruchsversuche, die Autoritäten und Ordnung (vor allem die Polizei) zu provozieren. „Vor allem scheint mir der emotional und momentan explosive Protestcharakter des Krawallverhaltens als eine ungeplante, aber in vitalen Bedürfnissen verwurzelte Ausbruchsreaktion der Jugendlichen gegen die manipulierte Befriedigung des modernen Lebens und gegen den unangreifbaren Konformitätsdruck der modernen Gesellschaft bemerkenswert… Die Ordnung stört die Jugendlichen“ (1957, S. 387).3

In der pädagogischen Diskussion wird eine Erziehung in Schule und Elternhaus empfohlen, die wieder »Gehorsam einfordert« und »Autorität« achtet«; gefordert werden »echte Autoritätsinstanzen«, die ihre »Straf-, Zwangs- und Zuchtmittel auch einsetzen«. Dies zielt vor allem auf die staatliche Ordnung (Recht des Staates), die als »wahre Demokratie« um des »Gemeinwohl willens dem Einzelnen Beschränkungen ihrer individuellen Freiheit auferlegen muß«.

Auch die Bundeswehr wird als anpassende und harte Sozialisationsagentur angeboten, ihr werden Funktionen zugeschrieben, die in der Weimarer Republik vom Arbeitsdienst wahrgenommen wurden. „Gerade für die sogenannten Haltlosen dürfte die Bundeswehr geeignet sein, zumal dann, wenn sie sich mit ihrem bisherigen Verhalten noch nicht »abgefunden« haben, sondern einen Halt suchen und die Möglichkeit dieses Haltes in der Bundeswehr klar sehen“ (Gerson 1957, S. 40).

Die einfühlsame Perspektive »Erziehen statt Strafen« soll vor allem von der Familie, der Schule und in der Freizeit mit – neuen und der Inpflichtnahme von – jugendpflegerischen Angeboten (Beschäftigungen) der offenen und verbandlichen Jugendarbeit (u.a. in Form von staatsbürgerlicher Erziehung und Bildung, Elternschulung, von Lesestuben mit Impulsen zum »Guten und Schönen«), aber auch mit Jazz-, Film- und Tanzveranstaltungen, Moped- und Motorradrennen, Hindernisfahrten und Wettkämpfen – von »innerlich jung gebliebenen Erwachsenen« – für »Halbstarke«, realisiert werden. Statt Kinobesuch, Radiohören und Fernsehen, Besuch von Sportveranstaltungen sollen die Jugendlichen selbst musizieren, ein gutes Buch lesen, selbst Sport treiben, wandern und basteln. „Die Forderung nach jugendgemäßen Betätigungsstätten für Sport, Spiel, Bildung und Geselligkeit kann nicht oft genug gestellt werden“ (Steyer, 1956, S. 349).

Diskutiert und gefordert werden darüberhinaus, den Jugendlichen in ihrer Freizeit »den nötigen Lebensraum« zu schaffen, eine allgemeine Schulpflichtverlängerung und die Verbesserung der beruflichen Bildung. Vor allem die Lehrer, Erzieher, Eltern sollen den erziehungsbedürftigen und gefährdeten Jugendlichen »Maßstäbe des lebenserfahrenen Erwachsenen« – d.h. Triebverzicht, Selbstbeherrschung und Tugenderziehung aber auch Selbstwertgefühle, gestaltende Teilhabe, Beachtung, Anerkennung, soziale Zufriedenheit und Sinn – vermitteln, ihnen Vorbild sein und den Taten- und Erlebnisdrang der Jugendlichen in die »richtigen Bahnen lenken«. Gegen die verbreitete pädagogische Ratlosigkeit wird auf die Vermittlung von Leitbildern verwiesen. Weinstock begründet dies so: „Aber es heißt doch nun wirklich das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn man der Erziehung das Recht, ja die Pflicht abspricht, nach einem Leitbilde zu verfahren. Denn so nimmt man ihr Würde und Verantwortung sinnvollen Handelns und gibt sie dem Zufall des Augenblicks, seines Einfalls und seiner Stimmung preis. Vor allem aber läßt man das natürliche Bedürfnis des Jugendlichen nach Leitbildern ungestillt und überläßt ihn also ohne Gegenbild den verführerischen, banalen oder gar gemeinen Bildern, wie sie die anonymen »Erziehungsmächte« dieser Zeit (Kino, Illustrierte, Sportbetrieb, Mode) sie auf Schritt und Tritt anpreisen“ (1957, S. 147). Erwachsene werden aufgefordert, endlich ihre »Führungsaufgaben« und das Bedürfnis in der Jugend »nach Führung« mit Geduld und »bescheidenen Zielen« anzunehmen.

Ende der 50er Jahre wird die wiederholte Inpflichtnahme von Jugendarbeit, auf dem Hintergrund von Krisen- und Selbstverständnisdiskussionen, reflektiert. Vor allem die Jugendverbände wehren sich gegen immer wieder neue Anforderungen, die über ihre »ursprünglichen Aufgaben« hinausgehen. „So erklärt sich wohl der Prozeß der Einigelung, der in vielen Verbänden zu beobachten ist. Sie sind müde geworden, immer wieder mit der »Verantwortung für die Nichtorganisierten« betrommelt zu werden. Zu oft haben sie jene Appelle gehört, die insbesondere durch die Halbstarkenkonjunktur aufgelöst wurden, und die ihnen eine entscheidende Aufgabe an den noch Fernstehenden zuwiesen“ (Stammler 1959, S. 4f.).

Anmerkungen

1) Der Begriff »Halbstarke« geht auf den Pastor Clemens Schulz zurück; er veröffentlichte 1912 eine Broschüre über seine Erfahrungen mit Hamburger Jugendlichen unter dem Titel „Die Halbstarken“.

2) R. Fröder, Leiter des Emnid-Institutes für Meinungsforschung in Bielefeld, kommt 1956 in einer repräsentativen Untersuchung zu dem Ergebnis, daß die „drohende und bedrohte Jugend“ einen sehr kleinen Teil der deutschen Jugend zwischen 15 und 24 Jahren ausmacht. C. Bondy u.a. haben die Krawalle von Juni 1955 bis Januar 1957 in einigen Großstädten untersucht. Die Autoren grenzen in ihrer Abhandlung die »Halbstarken« deutlich von Kriminellen und Banden ab. Sie kommen u.a. zu dem Ergebnis, das die Familienverhältnisse dieser Jugendlichen nicht ungewöhnlich schlecht seien, auch gehörten sie keiner bestimmten Klasse an – man finde Arbeiterkinder, Lehrlinge und Oberschüler.

3) Schelsky prognostiziert, anknüpfend an die »Halbstarkenkrawalle«, Ende der 50er Jahre eine »sezessionistische Jugendgeneration«, die durch »sinnlose Ausbruchsversuche« gekennzeichnet sein wird. Er versteht diese Formen von Verhaltensweisen als Reaktion gegen die institutionalisierte, zivilisierte, moderne Welt. Er sieht die Formen der Ausbruchsversuche »aus der Welt in Watte« wechseln und prognostiziert weiter vor allem »moralische und religiöse Rigorositäten«. Er interpretiert die Verhaltensweisen in der Struktur des Generationenkonfliktes: Die Jugend könne das Erbe der modernen Gesellschaft (der Erwachsenen) nicht ohne Protest übernehmen.

Literatur

Bayrisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Denkschrift zur Problematik des Halbwüchsigen, unveröffentlichtes Manuskrift, Oktober 1956

K. Bondy/K. Eyferth: Bindungslose Jugend. Eine empirische Studie über Arbeits- und Heimatlosigkeit, München und Düsseldorf 1952

K. Bondy/J. Braden/R. Cohen/K. Eyferth, „Jugendliche stören die Ordnung“: Bericht und Stellungnahme zu den Halbstarkenkrawallen, München 1957

A. Busemann, Geborgenheit und Entwurzelung, Ratingen 1955

G. Dehn: Großstadtjugend. Beobachtungen und Erfahrungen aus der Welt der großstädtischen Arbeiterjugend, Berlin 1919

Ders.: Proletarische Jugend. Lebensgestaltung und Gedankenwelt der großstädtischen Jugend, Berlin 1930

J. Dietz, „Die Halbstarken“, ein Bankrott der Erziehung?, in: Die Deutsche Berufs- und Fachschule, Wiesbaden, Heft 10/1956, S. 768-770

R. Fröhner, Wie stark sind die Halbstarken?, Bielefeld 1956

W. Gerson, Zur Erscheinung der Halbstarken, in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt, Heft 2/1957

E. Goldbeck, Die Welt des Knaben, Berlin 1926

H. Hetzer, Verstehen wir die werktätige Jugend unserer Zeit?, in: Lebendige Schule, Frankfurt/M., Heft 7/1956, S. 401-414

G. Kaiser: Randalierende Jugend. Eine soziologische und kriminologische Studie über die sogenannten »Halbstarken«, Heidelberg 1959

Ders., Die kriminalpolitische Bedeutung der »Halbstarken-Delikte«, in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt, Heft 3/4 1958

H. Kluth, Die »Halbstarken« – Legende oder Wirklichkeit, in: deutsche jugend, Heft 11/1956

H.H. Muchow: Flegeljahre. Beiträge zur Psychologie und Pädagogik der »Vorpubertät«, Ravensburg 1953

Ders., Jugend im Wandel. Die anthropologische Situation der heutigen Jugend, Schleswig 1953

Nordwestdeutscher Rundfunk: Jugendliche heute. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der Hörerforschung des Nordwestdeutschen Rundfunks, München 1955

H. Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf und Köln 1957

G. Reimann: Verderbt, Verdammt, Verraten? Jugend in Licht und Schatten, Heidelberg 1955

C. Schulz: Die Halbstarken, Leipzig j1912

E. Stammler, Wird die Jugendarbeit der heutigen Situation der Jugend gerecht, in: Sozialpädagogik, Gütersloh, Heft 1/1959, S. 1 – 7

J. Steyer, Die Halbstarken? Gedanken zu einem Zeitproblem unserer Jugend, in: Schule und Psychologie, München/Basel, Heft 11/1956

H. Weinstock, Erziehung ohne Leitbild, in: Der Evangelische Erzieher, Frankfurt/M., Heft 6/1957, S. 147f

H. Zullinger: Jugendliche und Halbstarke. Ihre Psychologie und Führung, Zürich und Stuttgart 1958

zum Anfang | »Schlips« und »Stiefel«: auch Maßverhältnisse des Politischen.

von Peter Krahulec

Ein zorniger Ausblick

Die Dinge sind so schnell im Fluß, daß selbst die renommierten Autoren der Shell-Studie rasch ins Abseits geraten: „Die Jugendforscher haben eine weitgehend friedfertige deutsche Jugend ausgemacht. Nur jeweils zwei Prozent in Ost und West befürworteten im Sommer 1991 die Anwendung von Gewalt oder die Beschädigung fremden Eigentums (vgl.FR vom 4.11.92)- das ich nicht bitter lache!

Dies ist wieder eine Zeit, in der man gar nicht soviel essen kann, wie man »kotzen« möchte – oder dezenter gesagt: in der die Glocken pausenlos läuten müßten, in Fulda und anderswo. Drei Beispiele für viele, wie mit dem Problemfluß die Einschätzungen vergehen. Wer hätte nicht als Linker sein Mütchen gerne gekühlt am Bundesverband der Deutschen Industrie, an der Jungen Union oder gar am unsäglichen Willy Millowitsch. Der Kölner Schauspieler hat öffentlichkeitswirksam dem Aldi-Konzern mit Boykott gedroht, falls der nicht weiterhin Warengutscheine von AsylbewerberInnen annehme (FR vom 27.11.92.) Der Junge-Union-Bundesgeschäftsführer Axel Wallrabenstein äußerte sich zur Ablehnung der Deutschen Postreklame, eine Telefonkarte mit dem Schönhuber-Konterfei aus dem Verkehr zu ziehen (das könne nur zurückgewiesen werden, „wenn Geschlechtsteile oder ähnliches abgebildet sind“): „Gegen Geschlechtsteile auf einer Postkarte oder Telefonkarte hätte ich weniger einzuwenden als gegen das Gesicht von Herrn Schönhuber“ (FR vom 28.11.92). Und Tyll Necker, der Vorsitzende des BDI, hat die Firmen aufgefordert, durch „aktive Aufklärung“ der Belegschaften zum „Kampf gegen Rechtsradikalismus“ beizutragen und Beschäftigte, die gegen Ausländer Stimmung machen, zu entlassen.

Verschiedene Motivationen gewiß, aber sie zeigen die beschämende Breite eines Problems, vor dem es auch anderen Schutz geben muß als Giordanos ehrwürdigen Aufruf zum „bewaffneten Selbstschutz“. Vor der »Libanonisierung« des deutschen Rassismus steht (mit Giordano notabene) das Verantwortlichmachen von Kohl persönlich und seiner Regierung für alles, „was daraus auf Grund der unentschuldbaren staatlichen Schwäche gegenüber den rechten Mördern entstehen könnte“. (G., taz vom 25.11.92).

Und davor stehe die Prüfung der Frage, die Wolfgang Wippermann der eigenen akademischen Zukunft aufgegeben hat: „Pogrom oder Protest?“ (vgl. taz vom 11.11.92); die notwendige Differenzierung, die Benno Hafeneger hier eingangs angemahnt hat. Nur mit dem Unterschied freilich, daß dort, wo die »Opfer-der-Modernisierungs«-These versagt, nicht die Marginalisierten, sondern die alltäglichen Rassisten zum Vorschein kommen müssen!

Es lassen sich weiß Gott, oder wer auch immer, nicht dem modischen Trend folgend, alle politischen Erscheinungen nur als abgeleitete verstehen. Besteht nicht vielmehr seit frühen SINUS-Tagen her „die Wirksamkeit von rassistischen Ideologien und die Kontinuität des rassistischen Einstellungspotentials innerhalb der deutschen Bevölkerung“ (Wippermann, ebenda) sui generis? Und sind die rassistischen Ausbrüche unserer Tage nicht die Folge davon, daß die politischen Hemmschwellen systematisch gesenkt wurden?

„Wenn der »Schlips« vor Scheinwerfern »Ausländerbegrenzung« fordert, löst der »Stiefel« sie in der Dunkelheit ein“, hat Bodo Moorshäuser (Hauptsache Deutsch, 1992) solche Verschiebung des politischen-publizistischen Diskurses nach rechts genannt, gepaart – und damit nicht weniger schlimm – mit dem „Rechtsruck aus Angst vor dem Rechtsruck“ (Spiegel 41/92) Engholmscher Provenienz. Von »Bitburg« über den »Historikerstreit«, von »Hoyerswerda« als Auslöser für Debatten wie: nun müsse aber das Ausländer-Problem endlich gelöst werden (Süssmuth unvergessen!) zu den Versuchen »Peenemünde« zu feiern (Riedle) und den Absagen an einen sogenannten Möllner »Beileidstourismus« schreitet der Verfall veröffentlichter Moral in nunmehr fast täglicher Rasanz dahin, daß vermutet werden muß: Soll hier (perverse) »Normalität« erzeugt werden?

Ein Effekt zählt schon zur anders gemeinten »Erbschaft unserer Zeit«: Der Rechtsstaat verabschiedet sich, wo Staatsorgane den Terror instrumentalisieren und die Täter mit einem »Verständnis« entschuldigen, das jedem Verstehen entgegengesetzt ist.

In solcher grundsätzlichen »Schieflage« werden auch noch so gut gemeinte Ansätze der Jugendhilfe weitgehend hilflos bleiben. Zudem: Gut gemeint ist eben nur so gemeint! Was »Jugendhilfe als Querschnittsaufgabe« leisten müßte, hat etwa der Arbeitskreis der AGJ (Arbeitsgemeinschaft Jugendhilfe) und KFS (Konferenz der Fachbereichsleitungen Sozialwesen) umfänglich klargestellt (z.B. in: AGJ-Mitteilungen 3/92). Eine „Verprojektisierung“ (Norbert Struck), selbst in Form der 20-AgAG-Millionen (Aktionsprogramm der Bundesregierung gegen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit in den neuen Bundesländern) lenkt ab von der eigentlichen Aufgabe und ihrer Größe im deutschen Einigungsprozeß. Eine Maßzahl des Politischen auch hierzu: Damit sich im Frühsommer '92 die Staatschefs der G7-Staaten, also sieben!, in München treffen konnten, wurden sage und schreibe 30 Millionen ausgegeben (AP vom 25.9.92). Für die Jugend eines ganzen immerhin-auch Staates schrumpfen dann die Größenordnungen in Bezug auf die realen Prozesse politischer Sozialisation junger Menschen, die nötig wären, um sie kompetent zu unterstützen und mit ihnen Wege aufzuspüren, auf denen sie demokratisch und solidarisch den ihnen zugemuteten Belastungen entgegentreten können.

Ich fasse mit Norbert Struck zusammen (Jugendhilfe-Informationen 5/92): Ich plädiere dafür, die „Diskussion um Rechtsextremismus und Rassismus nicht allzu schnell mit der Diskussion um die sozialen Belastungen und Modernisierungszumutungen zu verknüpfen“ – aber sie auch nicht, und darin liegt das Problem, zu vergessen. Allerdings kann angesichts der Schere zwischen den Straftaten auf »der Straße« und den Beschwichtigungen auch in wissenschaftlichen Papieren, Haß und Terror gegen ethnische und andere Minderheiten nicht vorschnell aufgelöst werden in Deprivationen und Desorientierungen. Sie müssen primär als das wahrgenommen werden, was sie zunächst auch sind: „Verletzungen grundlegender Menschenrechte“ (Struck). Jugendliche Straftäter im kapitalen Zusammenhang, das sind zuerst Straftäter und dann auch noch Jugendliche!

Viel leichter wird's nicht dadurch …

Anmerkung

Bei den Texten unter II., III. und IV. handelt es sich um überarbeitete Fassungen der Redaktion aus: Hessischer Jugendring: Jugend und Gewalt. Materialien zur aktuellen Diskussion. Materialien aus dem Hessischen Jugendring, Band 4, Wiesbaden 1992

Benno Hafeneger ist Professor am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Fulda.
Alexander Klett hat mehrere Jahre in der Jugendarbeit gearbeitet und ist Lehrbeauftragter am Fachbereich Sozialarbeit der Fachhochschule Frankfurt a.M.
Claudia Flesch war bis September 1991 Jugendbildungsreferentin beim Hessischen Jugendring.
Peter Krahulec ist Professor am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Fulda.
Dr. Gunter Pilz ist akademischer Oberat am Institut für Sportwissenschaften der Universität Hannover

Kurdistan – Irak: Untergehen im »sicheren Hafen«

Eine »humanitäre Intervention« und ihre Folgen

Kurdistan – Irak: Untergehen im »sicheren Hafen«

von Susanne Bötte und Bernhard Winter

Nach dem gescheiterten kurdischen Aufstand in Folge des zweiten Golfkriegs1 erschütterten im Frühjahr 1991 die Bilder Hunderttausender aus dem Irak in die schneebedeckten Berge des Taurusgebirges im türkisch-irakischen Grenzgebiet geflohener Kurdinnen und Kurden die Weltöffentlichkeit. Dies blieb nicht ohne Wirkung. Eine erneute militärische – als humanitär deklarierte – Intervention unter der Bezeichnung »Provide Comfort« und groß angelegte internationale Hilfsaktionen waren die Folge. Inzwischen ist Irakisch-Kurdistan wieder zum Nichtthema geworden. In unserer medialen Welt wurde es zu einem weißen Flecken. Allenfalls finden sich sporadisch in den Zeitungen noch Kurzmeldungen über Kämpfe zwischen rivalisierenden kurdischen Parteien. Das Fernsehen zeigt gelegentlich eine Sequenz mit kurdischen Flüchtlingen auf einem schrottreifen Frachter im Mittelmeer. Damit ist die Berichterstattung zu diesem Thema beendet. Ähnlich verhält es sich mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Irak. Hier vermag allenfalls die Auseinandersetzung um die Aufhebung der UN-Sanktionen kurzzeitig den Schleier der Interesselosigkeit zu lüften.

Im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung um humanitäre Interventionen2 stand bisher das Spannungsfeld zwischen moralischer Integrität einerseits und völkerrechtlicher Legitimität andererseits. In der völkerrechtlichen Diskussion berufen sich die Gegner humanitärer Interventionen darauf, dass dieses Instrument in der UN-Charta, die der territorialen Integrität und Souveränität von Staaten einen hohen Stellenwert beimisst, nicht explizit genannt werde. Befürworter argumentieren, dass der Charakter der UN-Charta sie durchaus impliziere. Selbst wenn man unterstellt, das Völkerrecht biete keine Handhabe für humanitäre Interventionen, ist damit die Frage der Legitimität noch nicht beantwortet. Unser Interesse gilt daher insbesondere den Ergebnissen der Intervention, um auch eine politisch-moralische Beurteilung zu ermöglichen.

Mit der Operation »Provide Comfort« setzten die Alliierten der Flüchtlingstragödie im irakisch-türkischen Grenzgebiet ein Ende. Von beteiligten Militärs wurde sie als »Blaupause« für künftige humanitäre Operationen verstanden. Sie war denn auch das erste Glied einer Kette von Interventionen in den neunziger Jahren, in der die Militärs die »humanitäre Arena« betraten. Während zu Zeiten des Kalten Krieges Notsituationen in der Regel als politisch/militärisch oder humanitär von den politischen Akteuren, beispielsweise im Weltsicherheitsrat, definiert und gegeneinander abgegrenzt worden waren, greift diese Einteilung jetzt nicht mehr. Es sind zunehmend komplexe Notsituationen entstanden. Einen international verbindlichen Konsens, wie diese komplexe Notlagen zu handhaben sind, gibt es nicht.

Es gilt den unmittelbaren und dauerhaften Folgen dieser Intervention nachzuspüren. „Selbst die legitimste Intervention kann humane und finanzielle Kosten verursachen und unerwünschte Ergebnisse zeitigen, die die Intervention als unverhältnismäßig, ineffektiv und kontraproduktiv erscheinen lassen.“3 Diese hier aufgeworfenen Fragen sollen am Beispiel Kurdistan-Irak diskutiert werden.

Weiterhin soll untersucht werden, welchen nicht humanitären Interessen mittels einer auf Intervention ausgerichteten Politik Vorschub geleistet wurde. Schließlich ist zu fragen, ob die der Intervention vorausgegangen wesentlichen Krisenursachen erfasst und angegangen wurden.

Zur Situation der kurdischen Bevölkerung im Irak

Die Niederlage des Osmanischen Reiches im ersten Weltkrieg und sein dadurch hervorgerufener Zerfall erlaubten es Frankreich und Großbritannien, Mesopotamien und Syrien unter sich aufzuteilen. Dabei bekamen die Briten neben Palästina und Transjordanien die drei osmanischen Provinzen (Vilayets) Basra, Bagdad und Mosul als Völkerbundmandat zugesprochen. Aus diesen drei ehemaligen Vilayets wurde der heutige Staat Irak gebildet. Während die Provinzen Basra und Bagdad von AraberInnen bewohnt waren, dominierte in der wegen ihres Erdölreichtums heiß begehrten Provinz Mosul die kurdische Bevölkerung. Aus Sicht der britischen Kolonialpolitik war die kurdische Bevölkerung im Norden dazu geeignet, ein Gegengewicht gegen die schiitische Bevölkerung im Süden zu bilden. Entgegen den im August 1920 im Vertrag von Sèvres gemachten Zusicherungen wurde kein kurdischer Staat geschaffen. Kurdistan wurde unter den sich jetzt bildenden Nationalstaaten aufgeteilt.

Formal wurde der Irak 1932 unabhängig, blieb allerdings ökonomisch und politisch vielfältig an Großbritannien gebunden. Im Juli 1968 kam die Arabische Sozialistische Baath-Partei durch einen Staatsstreich mit Unterstützung von Teilen der Armee an die Macht. Die Baath-Partei war 1944 in Damaskus gegründet worden und baute in den folgenden Jahren Ableger in mehreren arabischen Staaten auf. Sie vertrat eine hauptsächlich von Michel Aflaq formulierte suprastaatliche, elitär-antidemokratische Ideologie, wobei sie sich selbst als panarabische Befreiungsbewegung sah und sich zudem einer verschwommenen sozialistischen Rhetorik bediente. Die Vorstellungen vom Klassenkampf im marxistischen Sinne wurden strikt abgelehnt.

Gegenüber der Gesellschaft demonstrierte das Baath-Regime nach der Machtübernahme seinen absoluten Machtwillen durch Schauprozesse und öffentlich praktizierten Terror gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle.

Die Baath-Partei war sich der zentralen Bedeutung einer »Lösung der kurdischen Frage« bewusst. Ideologisch stand die kurdische Nationalbewegung dem arabischen Nationalismus, wie er von der Baath-Partei vertreten wurde, feindlich gegenüber. Zudem bedrohte sie einen Großteil der Erdölförderstätten und damit die ökonomische Basis des Regimes. Militärisch konnte sie von Anrainerstaaten instrumentalisiert werden, um den Irak zu bedrohen. Zudem bot sich Kurdistan-Irak als Rückzugsgebiet auch für andere oppositionelle Kräfte an. So war hier auch die Irakische Kommunistische Partei (IKP) fest verankert. Eine Autonomieregelung scheiterte 1974 an der willkürlichen Grenzziehung der autonomen Region durch das Baath-Regime. Dadurch wurden Erdölfördergebiete mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit von der autonomen Region abgetrennt.

Daraufhin brach der bereits zuvor schwelende Bürgerkrieg zwischen den kurdischen Verbänden unter Mulla Mustafa Barzani und der irakischen Armee offen aus. Der kurdischen Bewegung wurde die feste Bindung an den Iran zum Verhängnis, als der Schah von Persien 1975 im Abkommen von Algier lange bestehende Grenzstreitigkeiten mit der irakischen Regierung beilegte und den kurdischen Aufständischen jegliche Unterstützung, insbesondere Waffenlieferungen, entzog. Innerhalb weniger Tage brach der militärische Widerstand vollständig zusammen, 100.000 Menschen flohen damals in den Iran.

Der irakisch-iranische Krieg und das Wiedererstarken des kurdischen Widerstandes führten in den achtziger Jahren zu einer Intensivierung bereits zuvor begonnener Deportationsmaßnahmen in den Grenzgebieten und in den Rückzugszonen der Guerilla. Dörfer und Städte wurden zerstört und zu verbotenen Zonen erklärt. Während der Volkszählung 1977 waren in der Provinz Sulaimaniya noch 1.877 Dörfer gezählt worden, zehn Jahre später waren es nur noch 186. Dies bedeutete de facto die Zerstörung der ländlichen kurdischen Kultur. Außerdem betrieb das irakische Regime eine systematische Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus den Erdölfördergebieten.

Die Geiselnahme Familienangehöriger vermeintlicher oder tatsächlicher Oppositioneller gehört im Irak des Baath-Regime zum Alltag. Diese Praxis der Repression erreichte in Irakisch-Kurdistan einen erneuten furchtbaren Höhepunkt, als 1983 Sicherheitskräfte 8.000 männliche Angehörige des Barzani-Stammes im Alter zwischen 12 und 70 Jahren in den Südirak verschleppten. Ihr Schicksal ist bis heute ungeklärt. Dies war offensichtlich eine Vergeltungsaktion für eine Offensive des Iran mit Beteiligung der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) unter Massoud Barzani, der die Parteiführung nach dem Tod seines Vaters übernommen hatte.

Als das irakische Regime 1987 in Folge des Kriegsverlaufes und der zunehmenden Aktivitäten der Peshmerga (kurdische Widerstandskämpfer) immer stärker in Bedrängnis geriet, bereitete es seine Lösung der kurdischen Frage vor. Minutiös geplant und bürokratisch ausgeführt begannen mit einem Giftgasangriff auf das Hauptquartier der PUK, der zweiten großen irakisch-kurdischen Partei, am 23. Februar 1988 die »Anfal-Operationen«. Der Name Anfal ist angelehnt an die Überschrift der achten Koransure und bedeutet soviel wie »legitime Beute«. Unter diesem Namen wurden bis zum 6. September 1988 acht Operationen durchgeführt.

Für alle Anfal-Operationen ergibt sich ein einheitliches Muster. Sie begannen mit der Bombardierung von Peshmerga-Stellungen und zentralen Dörfern, wobei häufig Giftgas verwandt wurde. Für die Jahre 1987 und 1988 sind mindestens vierzig Giftgasangriffe des irakischen Militärs auf kurdische Dörfer dokumentiert. Anschließend marschierten irakische Bodentruppen in das Gebiet, deportierten die Bevölkerung und zerstörten die Dörfer sowie die Infrastruktur. Um diese Zonen unbewohnbar zu machen, wurden die Brunnen gesprengt, die Felder z.T. vermint sowie Obsthaine und Wälder abgebrannt. In Übergangslagern wurden die Männer im Alter von 14 bis 50 Jahren und zahlreiche junge Frauen von ihren Familien getrennt. Diese sind bis heute verschwunden, die übrigen Familienmitglieder wurden in Umsiedlungslagern (sog. mujammaat) angesiedelt.

Sowohl die Anfal-Operationen, bei denen nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 50.000 und 180.000 Kurden »verschwanden«, als auch der Giftgasangriff auf Halabja im März 1988 hatten schon damals der Außenwelt den Charakter des irakischen Regimes offenbart – lange vor der Besetzung Kuwaits im August 1990.

Den verübten Menschenrechtsverletzungen wurde jedoch durch westliche Regierungen wenig Beachtung geschenkt, solange das Regime nicht die geostrategischen Interessen der führenden westlichen Staaten berührte und es im Gegenteil wichtige Funktionen erfüllen konnte. Entsprechend kam es auch auf westlicher Seite zu militärischen Kooperationen auf unterschiedlichen Ebenen, seien es Waffenlieferungen oder die Ausbildung von Militärs. Insbesondere die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen wäre ohne Unterstützung westlicher und insbesondere deutscher Firmen nicht möglich gewesen.

Der zweite Golfkrieg und seine Folgen

Die Besetzung und spätere Annexion Kuwaits, eines autokratisch regierten Staates, stellte eine eklatante Verletzung des Völkerrechts dar, zu dessen Kern die Änderung von Staatsgrenzen mit ausschließlich friedlichen Mitteln gehört. In diesem Punkt war die Meinung der internationalen Staatengemeinschaft einhellig, wie dies auch durch das entsprechende einstimmige Votum des UN-Sicherheitsrates dokumentiert wurde. Diese erneute Missachtung internationaler Prinzipien durch das irakische Regime wurde im Gegensatz zum ersten Golfkrieg, der mit einem Angriff Iraks auf den Iran begann, unverzüglich sanktioniert. Schrittweise wurden durch den UN-Sicherheitsrat die Wirtschaftssanktionen ab August 1991 eskaliert. Schließlich kam es zu der von den USA – bereits zu Beginn des Konfliktes – favorisierten militärischen Auseinandersetzung, die mit der Niederlage des Iraks endete.

Durch diesen Krieg am Golf ist eine neue Epoche der Kriegführung angebrochen. Erstmals wurden im großen Umfang strategische Überlegungen praktisch umgesetzt, die auf ein automatisiertes Schlachtfeld abzielen. Die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verwischten sich. Durch den Einsatz fernlenkbarer Präzisionswaffen konnte das Risiko für Leib und Leben der alliierten Soldaten drastisch minimiert werden. Diese Waffen verführten dazu, sie auch nach dem Kriegsende im Februar 1991 in einem fortgeführten unerklärten Krieg immer wieder einzusetzen, wenn dies im anglo-amerikanischen Interesse lag.

Die Folgen dieser Art Kriegsführung für die irakische Zivilbevölkerung sind fragwürdig. Der Anteil der unmittelbar durch die Kampfhandlungen verursachten zivilen Opfer erschien verglichen mit anderen Kriegen des 20. Jahrhunderts, in denen sich über die Jahrzehnte betrachtet durchgängig der Anteil der Zivilisten an der Gesamtzahl der Verwundeten und Getöteten erhöhte, zunächst vergleichsweise gering. Da allerdings gezielt die Lebensnerven des Landes wie Elektrizitäts- und Wasserwerke zerstört wurden, stieg die Zahl der mittelbar durch den Krieg hervorgerufenen Opfer unter der Zivilbevölkerung in diesem urbanisierten Land – 70% der Bevölkerung lebt in Städten – dramatisch an. Dieser Effekt potenzierte sich durch das anhaltende Wirtschaftsembargo.

Der UN-Sicherheitsrat gab der US-Regierung mit seinem Votum, dass alle Maßnahmen zu ergreifen seien, die den Irak zum Abzug aus Kuwait zwingen, freie Hand in der Gestaltung des Konfliktes. Faktisch diktierte die US-Regierung das Geschehen. Sei es nun in der Festlegung des Kriegsbeginns oder in der Art der Kriegsführung. Die UN wurden, wenn es gelegen kam, allenfalls noch zur Legitimation der eigenen Politik benutzt, wie dies bei der Aufrechterhaltung der Sanktionen deutlich wurde. In anderen Situationen wie beispielsweise der willkürlichen Festlegung der Flugverbotszonen demonstrierte die US-Regierung, dass sie der UN in der Konfliktlösung nur eine untergeordnete Rolle zugestand. Die Autorität der UN als Organ zur Konfliktbewältigung wurde damit gezielt untergraben. Die UN wurde in der Interpretation ihrer eigenen Beschlüsse zum Zuschauer degradiert.

Operation »Provide Comfort«

Nach der Niederlage des Baath-Regimes gegen die Alliierten brach am 5. März, befördert durch die Erfolge der aufständischen Schiiten im Süden, die kurdische Intifatha aus. Der Aufstand weitete sich schnell aus und nach wenigen Tagen waren die meisten kurdischen Städte in der Hand der Aufständischen. Die Peshmerga konnten selbst bis in die Erdölstadt Kirkuk vordringen und kontrollierten die Umgebung der anderen Erdölmetropole Mosul.

Die Erfolge des Aufstandes währten nur kurz. Dem Bagdader Regime gelang es mit seiner Elitetruppe, den Republikanischen Garden, eine Gegenoffensive einzuleiten und den Aufstand brutal niederzuschlagen. Die Republikanischen Garden waren während des Golfkrieges von den Alliierten weit gehend unbehelligt geblieben. Dies deutet daraufhin, dass die Alliierten damit kalkuliert haben, das Baath-Regime selbst oder eine Militärregierung als regionale Ordnungsmacht insbesondere im Hinblick auf das islamisch-schiitische Regime in Iran zu erhalten. Trotz des im Rahmen der Waffenstillstandsverhandlungen verhängten generellen Verbotes von Militärflügen setzte die irakische Armee Hubschrauber und Kleinflugzeuge ein. Diese bombardierten die Aufständischen, aber auch die Zivilbevölkerung, mit Napalm- und Phosphorbomben. Eine Reaktion der Alliierten erfolgte nicht. Der kurdische Widerstand hatte der Gegenoffensive wenig entgegenzusetzen.

Die Aufstände der Kurden und Schiiten entsprachen nicht den Zielvorstellungen der Alliierten. Präsident George Bush, sen. hat zwar die Bevölkerung des Iraks zu einem Aufstand gegen Saddam Hussein ermuntert. Doch dies sollte wohl eher rhetorisch eine Modifizierung der amerikanischen Irak-Politik verdeutlichen, die zu diesem Zeitpunkt einen Militärputsch bei Erhalt der Machtstrukturen des Regimes favorisierte, denn eine tatsächliche Unterstützung der Opposition darstellen. Während der Aufstände ließ er keinen Zweifel daran, dass die USA den Aufständischen nicht zu Hilfe kommen werden. Die US-Regierung betonte immer wieder, dass sie den Irak als Staat in seiner jetzigen Form erhalten wolle. Zwei wichtige Verbündete der Alliierten, die Türkei und Saudi-Arabien, konnten aus innenpolitischen Gründen kein Interesse am Gelingen der Aufstände haben. Die türkische Regierung mußte befürchten, dass durch einen kurdischen Erfolg auch die Position der kurdischen Nationalisten in der Türkei gestärkt würde. Jedenfalls reagierten die Alliierten erst, als die Niederlage der Aufständischen besiegelt war. Dieses Verhalten der Alliierten steht in einem auffälligen Kontrast zu der Entschlossenheit, mit der sie in Kuwait vorgingen.

Die drohende Niederlage und die Erinnerung an die Vernichtungsoperationen in der unmittelbaren Vergangenheit lösten unter der kurdischen Bevölkerung eine Massenpanik aus. Ab dem 28. März flohen innerhalb von zwei Tagen ca. 2 Millionen Menschen in die benachbarte Türkei und in den Iran. Ungezählte harrten an den Hängen von Taurus- und Zagrosgebirge im Irak aus, um das weitere Geschehen abzuwarten. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) konstatierte den größten Massenexodus der vergangenen 40 Jahre.

Die Türkei schloss sofort ihre Grenzen. Dies bedeutete für Hunderttausende von Flüchtlingen, dass sie in den Bergen in Höhen von 1.500-2.000 m, unter z. T. noch schneebedeckten Gipfeln, ohne Trinkwasser und Nahrungsmittel ausharren mussten. Der Weg in die rettende Ebene wurde ihnen durch die türkische Armee auch unter Anwendung von Waffengewalt versperrt. 15- 20.000 Menschen, vor allem Säuglinge und Kleinkinder, starben in den folgenden Tagen an Wassermangel und Durchfallerkrankungen.

Die Aufnahme der Flüchtlinge im Iran war insoweit freundlicher, als ihnen gestattet wurde, die Grenze zu übertreten und zumindest im kurdischen Teil Irans Zuflucht zu suchen. Ein Teil der Flüchtlinge konnte bei Verwandten unterkommen.

Da die Medienpräsenz in der Region wegen des Golfkrieges noch groß war, gingen die Bilder von dem nicht enden wollenden Strom von Flüchtlingen, der die Berghänge an der irakisch-türkischen Grenze hinaufzog, bald um die ganze Welt. Hier trafen sie auf eine durch den Krieg emotional sensibilisierte Öffentlichkeit.

Vor dem Eintreffen der internationalen Hilfsorganisationen hatte die selbst weit gehend verarmte lokale kurdische Bevölkerung in der Türkei erhebliche Anstrengungen unternommen, um den Flüchtlingen das Überleben zu ermöglichen.

Innerhalb von zwei Wochen lief eine große internationale Hilfsaktion an, wobei die katastrophenerprobten Hilfsorganisationen aus Westeuropa und den USA das Management der Hilfe zusammen mit den alliierten Militärs in die Hand nahmen.

Die Folgen der Massenflucht stellten die Alliierten vor neue Probleme. So befürchtete die türkische Regierung durch den Flüchtlingszustrom eine weitere Destabilisierung der grenznahen Provinzen, in denen sie selbst seit Jahren einen Krieg gegen die damals erstarkende PKK führte. Die Lage der kurdischen Bevölkerung in allen Teilungsstaaten erfuhr eine nie dagewesene Publizität.

Für die türkische Politik hatte es daher oberste Priorität, dauerhafte Flüchtlingslager auf türkischen Territorium zu vermeiden. Ein humanitäres Schutzgebiet im Irak selbst barg zwar aus türkischer Sicht auch die Gefahr, neue Freiräume für die türkisch-kurdische Guerilla zu öffnen. Dies schien allerdings für die türkische Machtelite die weitaus geringere Gefahr darzustellen.

Die Alliierten gerieten unter den Druck der Öffentlichkeit in ihren eigenen Ländern, die ein humanitäres Eingreifen forderte. Zunächst blieb unklar wie dies auf der operativen Ebene erfolgen sollte. Die US-Regierung entschied sich nur zögernd für die Intervention und griff erst nach neun Tagen den Vorschlag des britischen Premiers Major auf. Sie befürchtete ein längerfristiges militärisches Engagement im Irak. Schließlich entwickelten die Alliierten Pläne für ein erneutes militärisches Eingreifen, die in die Operation »Provide Comfort« (Trost bringen) mündeten.

Zeitgleich wurden im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Verhandlungen über das weitere Vorgehen in der Flüchtlingskatastrophe geführt. Diese mündeten in der Resolution 688 des UN-Sicherheitsrat vom 5.4.1991. Ihrer Annahme waren sehr kontroverse Diskussionen vorausgegangen. Dabei ging es im Kern der Auseinandersetzungen darum, ob dem Sicherheitsrat die Kompetenz zustehe, sich mit Menschenrechtsverletzungen zu befassen, oder ob er damit in die inneren Angelegenheiten eines Staates eingreife. Bei Gegenstimmen von Kuba, Jemen und Zimbabwe sowie Enthaltungen von China und Indien, war es die Resolution mit der geringsten Mehrheit aller zum Golfkonflikt verabschiedeten Resolutionen. In ihr wird vom Irak verlangt, unverzüglich die Repressionen einzustellen und darüber hinaus Maßnahmen zu ergreifen, die dem Frieden und der Sicherheit in der Region dienen. Zudem wird der Irak aufgefordert, internationalen Hilfsorganisationen in allen Landesteilen Zugang zu den Hilfsbedürftigen zu gewähren.

Bemerkenswert an der Resolution 688 des Weltsicherheitsrates ist, dass als Ursache der Gefährdung des Friedens in der Region nicht die Unterdrückung des kurdischen Volkes an sich, sondern die daraus resultierenden Fluchtbewegungen in die Nachbarstaaten angesehen wurden. Trotz der drohenden Sprache wurde diese Entschließung nicht ausdrücklich gemäß Kapitel VII der UN-Charta gefasst, der den Vereinten Nationen zugesteht, auch Zwangsmaßnahmen zur Erhaltung des internationalen Friedens zu ergreifen. Vielmehr bezog sich der Sicherheitsrat auf Artikel 2 Abs. 7 der UN-Charta, der die Souveränität der Mitgliedsstaaten gegenüber der Weltorganisation herausstellt, wobei dieses Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates von Maßnahmen nach Kapitel VII außer Kraft gesetzt werden kann. Auch wird in der Resolution nicht definiert, wie eine Missachtung sanktioniert werden soll. Sie enthält keinen Hinweis, ob dann ggf. UN-Blauhelme, die Golfkriegsalliierten oder ein anderes Militärbündnis eingreifen sollten. Allerdings wird explizit der Generalsekretär der Vereinten Nationen aufgefordert, alle ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen zu nutzen, um das Flüchtlingselend zu lindern.

Gerade diese Resolution wurde von vielen PolitikerInnen als neue, allgemeinverbindliche Interpretation des Völkerrechts angesehen.

Die Resolution 687 des Weltsicherheitsrates, die am 03.04.1991 zwei Tage vor der Resolution 688 verabschiedet wurde und die Waffenstillstandsbedingungen beinhaltet, befasste sich überhaupt nicht mit der Menschenrechtslage im Irak.

Nachdem der Weltsicherheitsrat die Resolution 688 erlassen hatte, wurde von den Alliierten ein großer Teil der irakischen Provinz Dohuk zum »sicheren Hafen« erklärt. Die irakische Armee wurde von den Alliierten veranlasst, zumindest die Städte in diesem Gebiet zu räumen und von den vorgesehenen Flüchtlingslagern gebührenden Abstand zu halten.

Die US-Regierung erklärte im Juni 1991 zudem die Gebiete nördlich des 36. Breitengrads zu einer Flugverbotszone, in der keinerlei Flugbewegungen durch das irakische Militär gestattet wurden. Dabei umfasste die Flugverbotszonen nur einen Teil des kurdischen Siedlungsgebietes. Im August 1991 wurde auch der Südirak südlich des 32. Breitengrades von den Alliierten unter der Bezeichnung »Southern Watch« zur Flugverbotszone erklärt, nachdem irakische Militärflugzeuge verstärkt in Operationen gegen die schiitische Bevölkerung eingesetzt wurden. Die Festlegung der Flugverbotszonen erfolgte einseitig durch die US-Regierung in Absprache mit Frankreich und Großbritannien. Sie wurde nie durch eine UN-Resolution gedeckt.

Ein bemerkenswertes Beispiel der Neuinterpretation des Völkerrechts gab in diesem Zusammenhang der britische Außenminister Douglas Hurd in einem Radiointerview im August 1991: „ Nicht jede Aktion, die eine britische Regierung oder eine amerikanische Regierung oder eine französische Regierung unternimmt, muss durch eine spezifische Bestimmung in einer UN-Resolution gedeckt sein, vorausgesetzt wir stehen im Einklang mit dem Internationalen Recht. Internationales Recht anerkennt extreme humanitäre Not. (…) Wir stehen auf einer festen legalen als auch humanitären Grundlage, diese Flugverbotszone zu errichten.“4

Kritiker sahen darin einen Bruch des Völkerrechts, der zu einer »partiellen Entsouveränisierung« des Iraks geführt habe. Der Weltsicherheitsrat nahm das Vorgehen seiner drei ständigen westlichen Mitglieder schweigend hin.

Das weitere Vorgehen der Alliierten im Rahmen der Operation »Provide Comfort« folgte einer eigenmächtigen Interpretation der Resolution 688, insbesondere durch die US-Regierung, der sich andere alliierte Staaten anschlossen. Dieses Vorgehen war in keiner Weise vom Sicherheitsrat beschlossen worden. Auch hatte es der UN-Generalsekretär Perez de Cuellar abgelehnt, den alliierten Truppen für diese Operation das offizielle Mandat einer UN-Friedenstruppe zu verleihen. In der Resolution wird als zentrale Forderung der unbeschränkte Zugang für humanitäre Hilfsorganisationen zu der notleidenden Bevölkerung verlangt. Man wird allerdings nur schwerlich die US-Army als humanitäre Hilfsorganisation ansehen. Es erscheint im Falle von „Provide Comfort« fraglich, ob die militärische Intervention durch die UN-Sicherheitsratsresolution 688 gedeckt war.

Weder die Resolution 688 noch eine andere den Irak betreffende UN-Resolution weisen Schutzzonen vergleichbar denen im zerfallenden Jugoslawien aus. Ausdrücklich verwies Perez de Cuellar auf die völkerrechtlichen Probleme, die der Einrichtung von Schutzzonen auf den Boden eines Staates ohne dessen Zustimmung entgegenstünden.

Im »sicheren Hafen« wurden derweil Zeltstädte errichtet, Lebensmittellager angelegt und Frischwasseraufbereitungsanlagen installiert. Dabei arbeiteten NGOs und Militär Hand in Hand. Dies war ein Novum. Hatten doch zahlreiche NGOs erst ihren Skeptizismus gegenüber dem Militär ablegen müssen. Nicht wenige Beobachter waren von der Geschwindigkeit dieses Prozesses überrascht und berichteten über NGOs, die sich geradezu enthusiastisch in die von den Militärs vorgegebenen Strukturen einbinden ließen.

Die Flüchtlinge, die sich vor die Wahl gestellt sahen, entweder in den Lagern ohne Wasser und mit kleinen Lebensmittelrationen zu verharren und dabei die Gewissheit zu haben von der türkischen Regierung nie offiziell als Flüchtlinge anerkannt zu werden oder in den Irak zurückzukehren, verließen allmählich die Berge. Einige hatten zudem die Illusion, dass die Alliierten dauerhafte Garanten ihrer Freiheitsrechte seien. Diese wurde durch die kurzzeitige Anwesenheit von bis zu 20.000 Soldaten in der Schutzzone gefördert. Diese alliierten Bodentruppen wurden zum überwiegenden Teil bis Mitte Juli aus dem Irak abgezogen, wobei lediglich in Zakho (an der Grenze zur Türkei) ein Verbindungsbüro – das Military Coordination Centre (MCC) – mit einer kleinen Truppenpräsenz beibehalten wurde. Seine Aufgabe beschränkte sich vorwiegend darauf, Informationen über relevante Ereignisse in der Region und an der Grenzlinie zum Irak zu sammeln und auszuwerten.

Unter der Bezeichnung »Poised Hammer« (angriffsbereiter Hammer) wurde parallel zum Abzug der Alliierten aus dem Nordirak in den türkischen Orten Silopi und Incirlik eine schnelle Eingreiftruppe mit 5.000 Mann stationiert. Diese Truppengröße wurde innerhalb weniger Monate auf eine Flugzeugstaffel zur Überwachung des nordirakischen Luftraumes reduziert. An den Kontrollflügen beteiligten sich neben US-Amerikanern, Briten und Franzosen auch türkische Beobachter, die die dabei gewonnenen Erkenntnisse auch im Kampf gegen die PKK nutzen.

Die Operation »Provide Comfort« hatte ihr Hauptziel, die Flüchtlinge aus der Türkei zur Rückkehr in den Irak zu bewegen, erreicht. Damit wurde diese Forderung des Bündnisgenossen Türkei erfüllt. Auch konnte die Öffentlichkeit in den USA und in Europa beruhigt werden. Militärstrategisch wurde das Ziel erreicht, eine längerfristige Stationierung von US-amerikanischen Bodentruppen im Irak zu vermeiden und sich lang andauernden Auseinandersetzungen zu entziehen, was seit dem Vietnamkrieg eine zentrale Doktrin für US-amerikanische Militäreinsätze darstellt. Aus amerikanischer Sicht war man daher bestrebt, das humanitäre Programm umgehend in die Hände der UN übergehen zu lassen.

Rasch relativierte sich dabei der oft versprochene internationale Schutz für die kurdische Bevölkerung Nordiraks. Das Schicksal der kurdischen Flüchtlinge im Iran war für das militärische Vorgehen der Alliierten vollkommen nebensächlich. Entsprechend wurden auch keine »safe havens« an der Grenze zum Iran errichtet. Zugleich überstieg der Umfang der von internationalen Organisationen und von Regierungen geleisteten materiellen Hilfe an die Türkei deutlich den Anteil, den der Iran erhielt.

Die UN verfolgten ihrerseits ähnlich wie die Alliierten das Ziel einer möglichst schnellen Rückführung der Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten. Sie versuchten dabei allerdings andere Wege zu gehen. Im Auftrag des UN-Generalsekretärs Perez de Cuellar verhandelte Sadruddin Aga Khan, damaliger UN-Koordinator für Flüchtlingsfragen, als Sonderbevollmächtigter mit der Bagdader Regierung. Vereinbart wurde am 18. April 1991, also unmittelbar nach Beginn der Operation »Provide Comfort«, ein humanitäres Hilfsprogramm für den gesamten Irak, das auch Rückkehrwillige unterstützen sollte. Bestandteil der Vereinbarung war, dass die Umsetzung dieses Programmes mit der Bagdader Regierung abgesprochen werden musste.

Ungeklärt blieben die Perspektiven für die Zurückkehrenden. Die Großstädte Arbil und Sulaimaniya sowie die in ihrer Umgebung liegenden gigantischen Umsiedlungslager wurden bis zum Herbst 1991 noch von den irakischen Militärs kontrolliert. Nach erneuten Aufständen zog sich das irakische Militär auch hier zurück. Zehntausende suchten Zuflucht in den Ruinen von Städten wie Quala Dize und Penjwin. Entlang der großen Überlandstraßen bildeten sich neue Flüchtlingslager.

Sicherlich war die Versorgung der Zurückkehrenden mit Lebensmitteln und Wasser im Binnenland besser gewährleistet als in den Gebirgslagern in der Türkei. Dennoch blieben ihre Gesundheit und ihr Leben ständig gefährdet. Dazu trugen die immer wieder aufflackernden Auseinandersetzungen zwischen Peshmergaeinheiten und der irakischen Armee bei. Zudem bestanden katastrophale hygienische Bedingungen in den Flüchtlingslagern und Notunterkünften. Eine Typhusepidemie forderte in den Sommermonaten 1991 zahlreiche Opfer.

Die größte Gefahr, insbesondere für die Landbevölkerung, ging gewiss von den Verminungen aus. Die Todesstreifen entlang der Staatsgrenzen hatten bereits während der Flucht zahlreiche Menschen schwer verletzt und getötet. Bei dem Versuch in die zerstörten Dörfer und Städte zurückzukehren, wurden deren BewohnerInnen nicht nur in den Ruinen ihrer Häuser, sondern auch auf Weiden und Feldern mit dieser tödlichen Hinterlassenschaft aus den beiden Golfkriegen und den Vernichtungsfeldzügen gegen die kurdische Bevölkerung konfrontiert.

Vollkommen offen blieb die Frage der irakischen Binnenflüchtlinge. Zehntausende, die aus der Provinz Kirkuk und in geringerer Zahl aus der Provinz Mosul stammten, waren während des Aufstandes vor den irakischen Truppen in weiter nördlich gelegene Landesteile bzw. in den Iran und die Türkei geflüchtet. Die meisten von ihnen konnten nicht in ihre angestammten Wohngebiete zurückkehren, da diese Gebiete größtenteils, insbesondere die Erdölstädte Kirkuk und Khanaquin, unter Kontrolle der irakischen Armee blieben. Die Anzahl dieser Binnenflüchtlinge wurde 1991/92 vom UNHCR auf 400-500.000 Menschen geschätzt. Die irakische Regierung nutzt seitdem die Gelegenheit, ihre Arabisierungspolitik in den Erdölzentren fortzusetzen. Vermehrt wurden arabische Familien angesiedelt. Auch setzte sie die Repression gegen die Zivilbevölkerung unverändert fort, ohne dass dies eine offizielle Reaktion von UN oder Alliierten provozierte.

Die von der Genfer Flüchtlingskonvention geforderten sicheren Verhältnisse, in die die Flüchtlinge zurückzuführen seien, waren zu keinem Zeitpunkt gegeben. Vielmehr wurden die Flüchtlinge zur Rückkehr unter teils falschen Versprechungen der Alliierten genötigt.

Letztlich wurde mit der so genannten UN-Schutzzone, als ein Ergebnis des unter vollständig anderen Intentionen geführten Golfkrieges, ein Konstrukt geschaffen, dessen Bezeichnung irreführend war, da es keine verbindlichen militärischen oder politischen Schutzgarantien der »internationalen Gemeinschaft« für deren BewohnerInnen gab. Die Alliierten, aber auch die UN, wurden ihrer besonderen Verantwortung gegenüber der schiitischen und kurdischen Bevölkerung nicht gerecht. Lediglich die anfängliche Präsenz einer großen Anzahl von Hilfsorganisationen stellte insofern einen gewissen fragilen Schutz dar, als sie eine internationale Öffentlichkeit repräsentierten. Am ehesten war die Situation noch vergleichbar mit einem überdimensionierten Flüchtlingslager, das ökonomisch und politisch vollständig von externen Akteuren abhängig war.

Das UN-Embargo gegen den Irak und seine Folgen

Durch die UN-Wirtschaftssanktionen wurde der Irak seiner offiziellen Außenwirtschaftsbeziehungen nahezu vollständig beraubt. Sowohl Erdölproduktion und -export als auch Bruttoinlandsprodukt sanken Anfang der neunziger Jahre dramatisch.

Obwohl Lebensmittel und Medikamente ausdrücklich vom Embargo ausgenommen waren, kam es im gesamten Irak zu einer bedrohlichen Verknappung von Grundnahrungsmitteln wie Milch, Milchprodukten, Reis, Mehl und Speiseöl. Dies führte zu einer Mangelernährung großer Teile der Bevölkerung. Durch die Verknappung von Saatgut und Medikamenten für die Veterinärmedizin wurde die landwirtschaftliche Eigenproduktion anhaltend geschädigt. Der Mangel an medizinischen Bedarfsgütern, aber auch an Ersatzteilen für Wasseraufbereitungsanlagen, führte zu einer prekären Lage in der medizinischen Versorgung der Zivilbevölkerung.

Die Folgen des Embargos waren für die irakische Bevölkerung verheerend. Eine Kommission unter Leitung der FAO konstatierte für den gesamten Irak im Sommer 1995 eine Situation wie unmittelbar vor einer Hungersnot. Es wurde berechnet, dass 29 % der Kinder unter 5 Jahren im Zentral- und Südirak unterernährt waren, in den drei Provinzen unter kurdischer Verwaltung waren es 20%. Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF stellte im August 1999 fest: „Die Kindersterblichkeit im Irak hat sich seit dem Golfkrieg 1991 verdoppelt (…) Danach ist die Sterblichkeit bei Kindern unter fünf Jahren von 56 Todesfällen pro 1.000 Geburten (1984-1989) auf 131 Todesfälle pro 1000 Geburten (1994-1999) gestiegen. Die Sterblichkeit bei Kleinkindern im ersten Lebensjahr erhöhte sich von 47 auf 108 pro 1.000 Geburten.“5 Kein anderes Land der Welt hatte in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts einen vergleichbaren Anstieg der Kindersterblichkeit zu verzeichnen. Der Caritas-Verband schätzte im Dezember 1998, dass das Embargo seit 1991 für den Tod von 500.000 bis 800.000 Kindern verantwortlich sei.6

Befürworter der Sanktionspolitik bezweifeln trotzdem eine Kausalität zwischen den Zwangsmaßnahmen der UN und der prekären Lage der irakischen Bevölkerung. Ihr Elend wird ausschließlich als Kriegsfolge und Ergebnis der verfehlten Politik Saddam Husseins dargestellt, während den »berechtigten Sanktionen« nur eine untergeordnete Rolle zukäme. Dies erscheint in keiner Weise einsichtig, da der Irak bereits vor der Kuwaitkrise neben anderen Verbrauchsgütern im großen Umfang von Lebensmittelimporten und der Einfuhr medizinischer Güter abhängig war. Ein so umfassendes Wirtschaftsembargo musste eine entsprechend strukturierte Ökonomie verheerend treffen.

Das irakische Regime seinerseits weigerte sich dennoch aus Gründen der Staatsräson bis 1996, Öl unter der Kontrolle des Sanktionsausschusses zu verkaufen. Dies war dem Irak im begrenzten Umfang in UN-Sicherheitsratsresolutionen 1991 und nochmals in der Resolution 986 vom April 1995 zugestanden worden, um von dem Gewinn Reparationsleistungen an Kuwait zu zahlen sowie Lebensmittel und Medikamente zu importieren. Auch anderen humanitären Hilfsprogrammen stand das irakische Regime durchaus ablehnend gegenüber. Nachdem bereits in früheren Jahren ähnliche Androhungen erfolgt waren, verkündete der irakische Ministerrat im Juni 1998, dass ausländische humanitäre Hilfe nicht mehr erwünscht sei. Dies erfolgte, obwohl die Lage der Bevölkerung noch nach wie vor prekär war.

Das auf eine absolute Herrschaft im Innern aufbauende Baath-Regime lässt sich vom Leid der eigenen Bevölkerung solange nicht beeindrucken, wie die eigene Herrschaft nicht gefährdet erscheint.

In gewisser Hinsicht stabilisierten die Sanktionen sogar das irakische Regime. Sie ermöglichten ihm, das Embargo als ausschließliche Ursache der ökonomischen Misere darzustellen und die Verantwortung dem Ausland anzulasten. Die Sanktionen führten somit zu „einem Versailles-Effekt, zu einem Gefühl kollektiver und deshalb ungerechter Bestrafung“, den das Regime für sich nutzen konnte.7

Die verheerenden Folgen der beiden Golfkriege, aber auch die Zerstörung landwirtschaftlicher Gebiete, konnten in den Augen der irakischen Öffentlichkeit relativiert werden. Nach dem zweiten Golfkrieg war die bereits zuvor begonnene Privatisierung der irakischen Wirtschaft forciert worden. Davon profitierte eine kleine Schicht. Die sozialen Kosten dieser Transformation, die der Masse der Bevölkerung auferlegt wurden, konnten unter Embargobedingungen verschleiert werden.

Auch außenpolitisch verschafften die Sanktionen dem Regime Spielräume. Das Leid der Zivilbevölkerung konnte als Propagandamittel insbesondere in der arabischen Welt genutzt werden.

Die irakische Regierung ihrerseits scheute nicht davor zurück, selbst Gebiete im Norden und Süden des eigenen Landes mit einem Wirtschaftsembargo zu belegen. So blieb die irakische Bevölkerung weiterhin Spielball der Kontrahenten. Die Waffe des von der irakischen Regierung gegen die eigene Bevölkerung eingesetzten internen Embargos war unter den Bedingungen der UN-Sanktionen besonders verheerend.

Dramatische Auswirkungen hatte das Verbot der irakischen Regierung Erdöl in die unter kurdischer Kontrolle stehenden Provinzen zu exportieren. Brennstoff musste im Rahmen der Hilfsprogramme in großem Umfang importiert werden. Mit einem Bruchteil des dafür verwendeten Geldes hätten kleinere Raffinerien zur Verarbeitung der eigenen Erdölvorkommen aufgebaut werden können. Diese hätten den gesamten Bedarf der autonomen Region decken können. Eine Einfuhr entsprechender Anlagen war aber als Folge des UN-Embargos nicht möglich.

So kam es, dass in einem der erdölreichsten Länder der Welt wegen des Brennstoffmangels Abholzungen im großen Ausmaß durchgeführt werden mussten. Nicht selten waren die Wälder bzw. die Zugänge zu den Wäldern vermint, was zu zahlreichen Opfern bei der Holzgewinnung führte. Vielfach wurden noch erhaltene Obstplantagen gerodet und damit die Existenzgrundlage zahlreicher Familien vernichtet.

Die Kurdistan-Front, ein Bündnis der wichtigsten irakisch-kurdischen Parteien, bemühte sich Verwaltungstrukturen in den befreiten Gebieten aufzubauen. 1992 organisierte sie Parlamentswahlen. Aus ihnen gingen die beiden großen Parteien KDP und PUK mit derselben Anzahl von Parlamentssitzen hervor. Zusätzlich waren die assyrischen Christen aufgrund einer Minderheitenregelung vertreten. Die Wahlen wurden von zahlreichen internationalen BeobachterInnen insbesondere im Vergleich mit dem regionalen Umfeld als relativ fair angesehen. Dennoch blieb der Regierung der »Autonomen Region Kurdistan-Irak« jegliche internationale Anerkennung versagt.

Von den Anrainerstaaten offen bekämpft, zogen westliche Regierungen die Führungen der großen Parteien als Gesprächspartner vor. Eine völkerrechtlich verbindliche Klärung des Status der kurdischen Regionalregierung durch die westlichen Staaten hätte zweifellos zu ihrer Stabilisierung beigetragen. Sie hätte die autonome Region politisch und moralisch gestärkt. Aber genau dies war nicht intendiert. Die Möglichkeiten des außenpolitischen Handelns oder diplomatischer Initiativen blieben eng begrenzt. Auch konnte die Regionalregierung gegenüber dem für Irakisch-Kurdistan so wichtigen Sanktionsausschuss der UN nicht als Verhandlungspartner auftreten. Eine Vertretung natürlicher oder juristischer Personen im Ausland war ihr nicht möglich, was ihre Vertragsfähigkeit erheblich einengte. Dies führte zu einer entscheidenden Schwächung der Regierung und ihrer Handlungsunfähigkeit in vielen überlebenswichtigen Fragen. Die internationale Abwertung der Regierung hatte neben der innenpolitischen Schwächung auch zur Folge, dass sie von Anbeginn als Trägerin der Implementierung von politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen weder bei den Geberländern bzw. -institutionen noch bei den vor Ort tätigen Hilfsorganisationen geschätzt war.

Nothilfe in Kurdistan-Irak unter Bedingungen des zweifachen Embargos

Als unmittelbare Folge des Embargos waren die Hilfsprogramme zunächst ausschließlich darauf ausgerichtet, die Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen wie Lebensmitteln, Medikamenten und Kleidern zu versorgen. Die Einführung von Rohstoffen, Ersatzteilen und anderen Produktionsgütern unterlag der Genehmigung des Sanktionsausschusses und wurde in der Regel nicht genehmigt. Hilfsprogramme zum Wiederaufbau der Infrastruktur oder zur Förderung der landwirtschaftlichen bzw. industriellen Produktion waren unter den Bedingungen der Nothilfe praktisch nicht durchführbar. Diese Politik der Hilfsprogramme in einer mit Sanktionen belegten Region erinnerte an die Hilfe für einen Mann, dem man erst die Beine bricht, um ihm dann Krücken zu geben.

Gerade jene UN-Programme, die noch am ehesten Elemente einer Strukturhilfe beinhalteten, waren Anfang der neunziger Jahre chronisch unterfinanziert. Auch im Bereich der bilateralen Hilfe blieb man einer Konzeption der Soforthilfe verhaftet. Die durch die Bundesregierung geleistete Hilfe wurde über Jahre weit gehend durch das Auswärtige Amt organisiert. Diesem obliegt in seiner Ressortzuständigkeit eigentlich nur die humanitäre Soforthilfe. Auf Projektebene der Hilfsorganisationen bedeutete dies, dass die Projekte kurzfristig geplant, rasch umgesetzt und schnell abgerechnet werden mussten. Für die viel beschworene Nachhaltigkeit war dabei wenig Platz. Unter dem Verweis, dass bei fehlender Zusammenarbeit mit der Zentralregierung in Bagdad langfristige Entwicklungshilfe nicht geleistet werden könne, hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) zunächst ein stärkeres Engagement abgelehnt.

Ein ähnliches Bild zeigte sich auch auf der Ebene der EU. In den Programmen von ECHO (dem für humanitäre Hilfe der EU zuständigen Amt) dominieren die Verteilung von Lebensmitteln, Medikamenten und Brennstoffen sowie eine medizinische Basisversorgung. Zwar wurden Gelder zum Wiederaufbau zerstörter Dörfer zur Verfügung gestellt, Infrastrukturmaßnahmen wurden indes nur im bescheidenen Umfang gefördert.

Bereits 1991/92 forderten vor Ort tätige Hilfsorganisationen die Auflegung langfristiger Entwicklungsprogramme. Angesichts der Tatsache, dass viele Menschen spontan in ihre zerstörten Dörfer zurückgingen, schien es absurd, Millionen für Lebensmittelverteilungen statt für Saatgut auszugeben. Erst 1995/96 begann ein vorsichtiges Umdenken bei Gebern wie der EU oder dem BMZ, die jetzt auch Haushaltsmittel aus dem Bereich der Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellten.

Die ausschließliche Ausrichtung auf Soforthilfe verstärkte zwangsläufig die Importorientierung und damit die Abhängigkeit von außen, statt das Augenmerk auf die Produktivkraftentwicklung der Region zu lenken. Auch waren in diesem Konzept keine Mittel zum Unterhalt bzw. zur Rekonstruktion der öffentlichen Verwaltung vorgesehen.

Diese Orientierung auf die Nothilfe traf eine Region, deren ländliche Infrastruktur durch die Vertreibungs- und Vernichtungsaktionen der achtziger Jahre weit gehend zerstört war. Die langfristigen sozioökonomischen Folgen der Zerstörung der ländlichen Infrastruktur in Südkurdistan sind nicht ausreichend untersucht. Der Rückgang der Schaf- und Ziegenfleischproduktion des Iraks um ca. 50 bzw. 30 % in den Jahren 1979/81-1989 war neben dem ersten Golfkrieg vermutlich durch die Vertreibungspolitik bedingt. Die Getreideproduktion des gesamten Iraks ging in diesem Jahrzehnt um 25 % zurück, dies obwohl der Ertrag pro Hektar um 26 % gesteigert werden konnte. Auch die Milchproduktion stagnierte.8 Die Region litt zudem noch immer unter den Folgen des irakisch-iranischen Krieges wie z. B. den Minenfeldern, die oft den Zugang zu wichtigen landwirtschaftlich genutzten Gebieten versperrten. Auch waren die Schäden, die durch die Kampfhandlungen während und nach dem Golfkrieg entstanden, nicht abzusehen.

Nach Angaben der UN hatte die Anzahl der Binnenflüchtlinge bis 1999 auf 650.000 zugenommen. Das Baath-Regime setzte über die Jahre seine Vertreibungspolitik aus den Erdölgebieten fort und schob kurdische und turkmenische Familien in den Norden ab. Allein im Januar 1998 wurden 1.468 kurdische Familien aus Kirkuk zwangsausgewiesen. Etwa 70% der BewohnerInnen der Region waren nach Angaben der Regionalregierung auf Hilfe von außen angewiesen, um überleben zu können.

Ebenso hinterließ das zweifache Embargo im Dienstleistungsbereich tiefe Spuren. Eine Telekommunikation war weder in der Region selbst noch mit dem Ausland möglich. Gleichermaßen lag das Bankwesen vollständig danieder. Überweisungen aus dem Ausland konnten nicht getätigt werden. Legal konnten Geldmittel nach Kurdistan-Irak nur eingeführt werden, wenn man den überhöhten Umtauschkurs der irakischen Regierung akzeptierte, ansonsten mussten die Gelder, auch die Hilfsgelder, nach Kurdistan-Irak eingeschmuggelt werden.

Erschwerend kam hinzu, dass der Gütertransport durch die Türkei, dem einzigen offiziellen Zugang, zeitweilig unterbrochen und sehr unzuverlässig war. Die Regierung in Ankara schloss und öffnete den Grenzübergang Harbur/Ibrahim Khalil nach eigenem Gutdünken und hatte somit ein außerordentlich effektives Druckmittel gegen die südkurdische Regionalregierung in der Hand. Die Bedeutung dieses Grenzüberganges wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass dort zeitweilig bis zu 3.000 LKW‘s am Tag abgefertigt wurden. In zahlreichen Fällen haben die türkischen Behörden die Importe von Hilfsgütern durch Hilfsorganisationen behindert.

Obwohl das Hilfskonzept der UN an manchen Stellen durchlöchert wurde, blieb die Reduktion der Hilfspolitik auf eine Nothilfe, die nicht einmal den Anspruch erhob, eine über das unmittelbar Lebensnotwendige hinausgehende Perspektive zu vermitteln, kennzeichnend für die nächsten Jahre. Die Embargopolitik führte dazu, dass über Jahre die humanitären Hilfsmaßnahmen den wesentlichen Wirtschaftsfaktor der Region darstellten. Die Abhängigkeit von den Hilfslieferungen verhinderte nicht nur eine eigenständige ökonomische Entwicklung, sondern untergrub auch das Vertrauen in die eigene Kraft, Selbstinitiative wurde blockiert. Die Hilfsprogramme verstärkten somit ungewollt eine passive Haltung, wie sie der irakische Versorgungsstaat in der Vorkriegszeit implizierte. Weit verbreitet war eine Haltung, die auf eine Problemlösung von außen drängte. Die anscheinend unveränderbaren, äußeren makropolitischen Verhältnisse verstärkten wiederum die Passivität.

Die Hilfspolitik verstärkte die ökonomischen Unterschiede innerhalb der kurdischen Region. Die Provinz Dohuk war fast identisch mit dem durch die Operation »Provide Comfort« geschaffenen und über einige Monate mit Bodentruppen geschützten »safe haven«. Nachdem die alliierten Militärs in großem Umfang Hilfsgüter in den »sicheren Hafen« transportiert hatten, begannen viele Hilfsorganisationen unter deren Schutz in diesem Gebiet mit ihren Aktivitäten. Die gesamten materiellen und logistischen Ressourcen konzentrierten sich im Rahmen der Operation »Provide Comfort« denn auch in diesem Gebiet. Die dadurch geschaffenen Strukturen wirkten über Jahre nach. Für einige Hilfsorganisationen blieb Zakho weiterhin die Basis für ihre Aktionen. Die staatliche US-amerikanische Hilfsagentur OFDA beispielsweise entschloss sich erst 1993/94 dazu, den »safe haven« zu verlassen und auch in anderen Gebieten aktiv zu werden. Die Stadt Sulaimaniya und ein großer Teil der gleichnamigen Provinz sowie der nördliche befreite Teil der Provinz Kirkuk (»New Kirkuk«), die außerhalb der Flugverbotszone lagen, waren im besonderen Maße Bedrohungen durch das irakische Militär ausgesetzt.

Begünstigt durch diese Verwerfungen verschärfte sich der Kampf der beiden großen kurdischen Parteien um die Ressourcen. Umstritten waren insbesondere die Zolleinnahmen aus dem Grenzübergang zur Türkei. Dieser lag im Kernland der KDP, dem Badinan, und wurde von ihr kontrolliert, während die PUK ihr Haupteinflussgebiet im Südosten Irakisch-Kurdistans, dem Soran, hatte. 1994 mündeten diese Auseinandersetzung in einen offenen Bürgerkrieg. In dessen Verlauf eroberte im August 1996 die KDP zusammen mit der irakischen Armee die zuvor von der PUK kontrollierte Hauptstadt Arbil.

»Oil for food« oder »only food for oil«

Die ökonomische Situation im gesamten Irak änderte sich, als 1996 nach mehrjährigen Verhandlungen die UN-Wirtschaftssanktionen teilweise gelockert wurden.

Die irakische Regierung ihrerseits stimmte nach langwierigen Verhandlungen einem Verkauf von Erdöl und Erdölprodukten unter der Aufsicht des UN-Sanktionskomitees zu. Mehrere Jahre hatte sie sich geweigert, die Bedingungen des UN-Sicherheitsrates zu akzeptieren. Damit hatte die irakische Regierung ihrerseits humanitäre Hilfsprogramme für die eigene Bevölkerung blockiert. Sie befürchtete, dass eine solche Zusage die vollständige Aufhebung der Wirtschaftssanktionen verzögern würde und war erst bereit einem Abkommen zuzustimmen, als die Aussichten auf eine rasche Aufhebung schwanden. Der UN-Sicherheitsrat versah den Ölverkauf zusätzlich mit Bedingungen – insbesondere Reparationszahlungen an Kuwait –, die dem irakischen Regime unter Verweis auf die Verletzung seiner Souveränitätsrechte eine Ablehnung zunächst leicht machten.

Mit der Resolution 986 genehmigte der Weltsicherheitsrat am 14. April 1995 dem Irak den Kauf von Lebensmitteln, medizinischen Bedarfsgütern und dringend benötigten zivilen Gütern. Sie gestattete dem Irak, ab November 1996 innerhalb von 180 Tagen Erdöl im Gegenwert von 2 Milliarden US-$ zu verkaufen, was einer Fördermenge von 500.000 Barrel pro Tag entsprach. Im Mai 1996 wurde das Memorandum of Understanding (MOU) zwischen den UN und der irakischen Regierung unterzeichnet. Es legte u.a. die Verkaufsmodalitäten für das irakische Erdöl, das Genehmigungsverfahren für den Import der humanitären Güter sowie die Distributionspläne fest.

Die Einnahmen aus dem Erdölverkauf werden nach den Bestimmungen der Resolution 986 wie folgt aufgeteilt: 53% für Lebensmittel, medizinische Güter sowie humanitäre Lieferungen in den Zentral- und Südirak, 13 % für Lebensmittel, medizinische und humanitäre Lieferungen in die drei kurdischen Provinzen Arbil, Dohuk und Sulaimaniya, 30 % in den UN Compensation Fund (vorwiegend um kuwaitische Ansprüche zu befriedigen ), 2,2% für Verwaltungskosten der UN, 0,8% für Verwaltungskosten der UNSCOM und 1 % für die Führung des Treuhandkontos.

In der Umsetzung des Programmes ergaben sich zahlreiche Schwierigkeiten. Der desolate Zustand der irakischen Ölindustrie mit seinen oftmals veralteten und reparaturbedürftigen Ölförderanlagen erlaubte es auf Dauer nicht, die Mengen Öl zu exportieren, die erforderlich gewesen wären, um die angestrebten Einnahmen für den Kauf humanitärer Güter zu erzielen. Auch das komplexe Genehmigungsverfahren der Handelsverträge und dessen schwerfällige Handhabung durch den Sanktionsausschuss führten zu ausgeprägten zeitlichen Verzögerungen.

In den von der irakischen Regierung kontrollierten Gebieten konnte allenfalls eine Stabilisierung der humanitären Lage erzielt werden. So wurde die Kalorienzahl pro Kopf der Bevölkerung deutlich erhöht. Die Anzahl der Unterernährten nahm nicht weiter zu. Ein Ende der humanitären Katastrophe ist dennoch nicht in Sicht.

Das MOU bestimmte in einem eigenen Anhang das Vorgehen in den drei kurdischen Provinzen Dohuk, Arbil und Sulaimaniya. Nachdem die Integrität und Souveränität des irakischen Staates betont wurden, legten die Beteiligten darin fest, dass das Programm auf der Grundlage der Weltsicherheitsratsresolution 986 in diesen kurdischen Provinzen von den UN in enger Absprache mit der irakischen Zentralregierung durchgeführt werden sollte. Dieser Sonderstatus beschränkte sich auf die drei Provinzen, denen die Zentralregierung 1970 einseitig Autonomierechte zugestanden hatte.

Im dem MOU wurde vereinbart, auf annähernd gleiche Lebensbedingungen im gesamten Irak zu achten. Selbstredend war in der Vereinbarung eine Partizipation kurdischer Stellen in der Entwicklung und Durchführung des Programmes nicht vorgesehen. Die UN verpflichteten sich zur regelmäßigen, zumindest wöchentlichen, Berichterstattung an die irakische Regierung. Die irakische Regierung wies desöfteren darauf hin, dass sie keinerlei Absprachen der kurdischen Behörden mit den UN akzeptieren würde, denen sie nicht zugestimmt hätten. Eine besondere Bedeutung legte das irakische Regime dabei auf jegliche Infrastrukturmaßnahmen. Elementare Belange der Infrastruktur von Irakisch-Kurdistan werden somit weiterhin in Bagdad entschieden.

Die kurdischen Behörden wurden in dem Prozess der Programmerstellung und Umsetzung lediglich informell konsultiert. Die beiden Regierungen in der autonomen Region, die sich als Folge des internen Krieges konstituiert hatten, bildeten eine gemeinsame Kommission, die den UN-Organisationen Vorschläge unterbreitet. Eine Diskussion über die abgelehnten Vorschläge erfolgte seitens der UN nicht. Es wurden zwar zwischen den UN-Organisationen und den kurdischen Behörden Absprachen auf der operativen Ebene getroffen, dennoch vermied die UN ihrerseits alles, was die kurdischen Verwaltungen offiziell aufwerten könnte.

Während das Programm im Zentral- und Südirak durch staatliche irakische Stellen unter Aufsicht der UN umgesetzt wurde, wurde es in Kurdistan-Irak von dem United Nations Inter-Agency-Humanitarian Program durchgeführt. Dadurch wurden die UN-Organisationen zu dem zentralen ökonomischen Faktor in der Region.

Entsprechend dem Bevölkerungsanteil werden die bereitgestellten Mittel nach einem Schlüssel von 57:43 zwischen den von der KDP- bzw. PUK-verwalteten Regionen aufgeteilt. Dabei werden die divergierenden Entwicklungen in den kurdischen Provinzen, die eine Ursache des internen Krieges darstellten, nicht berücksichtigt.

Insbesondere das Los der Großstadtbevölkerung konnte durch diese Programme erheblich erleichtert werden. War der Alltag vieler Familien in den Jahren seit 1991 weit gehend durch den Kampf um Lebensmittel und andere lebensnotwendige Güter bestimmt gewesen, so wurden jetzt ausreichend Grundnahrungsmittel zur Verfügung gestellt. Die Lebensmittelpreise auf den Märkten fielen und der finanzielle Spielraum vieler Familien vergrößerte sich erheblich. Die Versorgung mit Medikamenten und die apparative Ausstattung der Gesundheitseinrichtungen verbesserte sich spürbar.

Auch die katastrophale Lage vieler innerirakischer Flüchtlingsfamilien wurde durch den im Rahmen des »oil for food«-Programms ermöglichten Wohnungsbau verbessert. Ein großer Teil der unter dem Titel »Wiederaufbau« verbuchten Gelder musste für die Unterbringung von Binnenflüchtlingen bzw. Rückkehrenden aus dem Iran genutzt werden. Diese lebten bis dahin unter katastrophalen Bedingungen in Notquartieren.

Neben diesen Binnenflüchtlingen wurden vom WFP Lebensmittelprogramme für andere besonders verletzliche Bevölkerungsgruppen wie schwangere Frauen, stillende Mütter, unterernährte Kinder, Langzeitarbeitslose, Behinderte und Rückkehrende aus dem Iran aufgelegt. Die soziale Absicherung durch die Lebensmittelverteilung scheint auch die Rückkehr bisher Zögernder aus den Umsiedlungslagern in die ehemals zerstörten Gebiete begünstigt zu haben.

Einige Sozialindikatoren verbesserten sich Ende der neunziger Jahre in der kurdischen Region erheblich. 1994-1999 konnte die Kindersterblichkeit unter das Niveau von 1989 gesenkt werden. Sie war damit niedriger als im übrigen Irak. Auch verbesserte sich der Ernährungszustand der Kinder wesentlich. Damit schien die humanitäre Lage Ende der neunziger Jahre in Irakisch-Kurdistan weniger prekär zu sein als im Mittel- oder Südirak. Umstritten ist, welcher Stellenwert den »oil for food«-Programmen, die erst zum Jahresende 1996 einsetzten, bei dieser Entwicklung zukommt.

Da das Programm alle sechs Monate vom UN-Sicherheitsrat verlängert und die Bedingungen mit der irakischen Regierung neu ausgehandelt werden müssen, werden die Planungen durch diese Zeitintervalle limitiert. Entsprechend können auch Gehaltszusagen für im Gesundheitswesen Beschäftigte, LehrerInnen und Angestellte in anderen öffentlichen Einrichtungen, sofern sie überhaupt von den Programmen profitierten, nur zeitlich beschränkt erfolgen. Selbst Aus- und Fortbildungsprogramme sind diesen Phasen von 986 unterworfen.

Hatten sich die Hilfsorganisationen bis 1996 zumindest in Ansätzen über Mindeststandards für den Wiederaufbau zu verständigen, so zwingt die Gestaltung der Programme jetzt zu einem raschen Hochziehen von Gebäuden und Asphaltieren von Straßen. Integrierte Programme mit Starthilfen für landwirtschaftliche Produktion und Weiterverarbeitung oder unterstützende Bildungsmaßnahmen sind unter diesen Bedingungen nur bedingt möglich. Mit diesem Programm sind keine Entwicklungsstrategien verbunden, es dient lediglich dazu, den drängendsten Mangelerscheinungen abzuhelfen.

Weitere Mittel wurden für Wiederaufbaumaßnahmen bereitgestellt, auch konnten vermehrt Infrastrukturvorhaben wie Straßen- und Brückenbau angegangen werden. Diese Baumaßnahmen waren nicht eingebunden in ein mittel- oder längerfristiges Verkehrskonzept, sondern richteten sich nach dem aktuellen Bedarf des laufenden Programms. An eine umfassende Raumplanung war nicht zu denken. Zwar konnten dringend benötigte Ersatzteile für Wasseraufbereitungs- und Kläranlagen besorgt werden. Eine Strukturplanung, die es ermöglicht hätte, das Wasser- und Abwassersystem, das Stromnetz und das Gesundheitswesen wieder umfassend herzustellen, war unter dem Diktat von Sechsmonatsplänen ebenfalls nicht möglich. Die weiterhin geltenden Restriktionen des UN-Wirtschaftsembargos verhinderten zudem eine Instandsetzung der unter Ersatzteilmangel leidenden Industrieanlagen. Ein ständiger Streitpunkt zwischen der kurdischen Seite und den UN-Organisationen stellt zudem die mangelnde Qualität der im Rahmen der Programme gelieferten Produkte dar.

Die Personalpolitik der UN-Organisationen trägt zur Erosion der kurdischen Verwaltungen bei. Die UN-Organisationen bezahlen an lokale MitarbeiterInnen Gehälter, die ein Vielfaches der von den kurdischen Behörden gezahlten betragen. Die am besten qualifizierten Kräfte wandern daher kontinuierlich zu den UN-Organisationen ab, was ein Ausbluten der kurdischen Behörden zur Folge hat. Dabei kommt es nicht selten zu einer Deprofessionalisierung, da auch weniger qualifizierte Arbeiten in UN-Organisationen weit besser bezahlt werden als hochqualifizierte in kurdischen Institutionen. Vorschläge der kurdischen Seite, ein Rotationssystem einzuführen, konnten sich bisher nicht durchsetzen.

Besonders problematisch erwiesen sich die Lebensmittelverteilungen im Rahmen des »oil for food«-Programms für die einheimische Landwirtschaft. Da die Lebensmittel nicht in Kurdistan-Irak selbst aufgekauft werden durften und statt dessen importiert wurden, geriet die lokale Agrarproduktion als Folge des Verfalls der Marktpreise zunehmend unter Druck. Während im Sommer 2000 nach kurdischen Angaben eine Tonne Weizen für 400 US-$ importiert wurde, wurde sie auf dem lokalen Markt für 50 US-$ angeboten. Die Produktion von Weizen und Reis ging entsprechend zurück. Die Existenzgrundlage der kurdischen ErzeugerInnen wurde erneut gefährdet.

Die im Rahmen der Resolution 986 bereitgestellten Gelder helfen, die Infrastruktur in Irakisch-Kurdistan notdürftig zu reparieren. Für Modernisierungen reichen sie nicht aus. Natürlich kann mit diesen Programmen keine beständige ökonomische Entwicklung in Gang gesetzt werden. Somit reproduziert das »oil for food«-Programm die bestehenden Abhängigkeiten auf einem höheren Niveau. Dieser Status ist zudem noch sehr störanfällig und von zahlreichen externen Akteuren, die von kurdischer Seite kaum beeinflusst werden können, abhängig. Die Bevölkerung wird mit dem Nötigsten versorgt, in Passivität gezwungen, politische Ansprüche werden verwehrt. Irakisch-Kurdistan bleibt weiterhin ein Provisorium ohne Aussicht auf eine langfristige Perspektive. An dieser Einschätzung ändern auch die gegenüber dem Mittel- und Südirak besseren Lebensbedingungen nichts.

Durch die beschränkte Wiederaufnahme des Handels erhöhte sich nochmals die Bedeutung des an der türkischen Grenze gelegenen Überganges Ibrahim Khalil/Habur. Habur wurde einer der vier offiziellen, für den Import zugelassenen Grenzübergänge. Auch wurde die Pipeline Kirkuk-Yumutalik, die Öl zum türkischen Verladehafen Ceyhan beförderte, wieder eröffnet. Die Zolleinnahmen kamen ausschließlich der KDP-geführten Regierung zugute. Entsprechend vergrößerte sich die Kluft zwischen dem relativ reichen Norden und dem verarmten Süden. Dies verschärfte erneut die Spannungen zwischen den beiden großen Parteien. Ein Vorschlag der PUK, die Zolleinnahmen dem Budget des Gesamtprogrammes zuzuschreiben und nach dessen Schlüssel zwischen den beiden Regierungen zu verteilen, konnte sich bisher nicht durchsetzen.

Auswirkungen des Embargos und der humanitären Intervention

Bevor wir uns einer Bewertung der humanitären Intervention und ihre Folgen widmen, soll an dieser Stelle abschließend auf die Auswirkungen des UN-Wirtschaftsembargos gegen den Irak eingegangen werden.

Das Sanktionsregime, das ursprünglich errichtet worden war um den Irak zu einem Abzug aus Kuwait zu bewegen, wurde nach dem Golfkrieg zur Erzwingung der in der UN-Resolution 687 genannten Abrüstungsmaßnahmen fortgeführt. Es stellt sich die Frage der Sinnhaftigkeit dieser das Leben von Millionen von Menschen bedrohenden Maßnahme, wenn bereits bei Kriegsausbruch erklärt wurde, sie hätten nicht gereicht um den Krieg zu verhindern. Es wird ein grundlegendes Dilemma dieser Sanktionen deutlich – ihr Ziel wurde nicht eindeutig definiert. Es wurden von anglo-amerikanischer Seite immer neue Bedingungen zu ihrer Erfüllung aufgestellt und Interpretationen der entsprechenden UN-Sicherheitsratsresolutionen nachgereicht.

Die durch die Sanktionen hervorgerufene humanitäre Katastrophe ist mit den Auswirkungen eines Krieges vergleichbar. Elementare Rechte der Bevölkerung auf Leben, Nahrung, Wasser, Unterkunft, Kleidung und Bildung wurden dadurch verletzt. In der Tat übertraf ihre Wirkung die unmittelbaren Folgen des zweiten Golfkrieges bei weitem. Sie trafen besonders verletzliche Bevölkerungsgruppen wie Kinder, schwangere Frauen und alte Menschen. Eine ganze Generation ist bereits ihrer Entwicklungsmöglichkeiten beraubt. Diese Art der Sanktionspolitik kann kaum als humane Alternative zu einem Krieg gelten. Die UN sieht sich mit der Frage konfrontiert, wie diese Politik mit den Normen der UN-Charta, die es nach ihrem eigenen Bekunden auch in dieser Situation einzuhalten gilt, vereinbar ist. Die Grenzen des Vertretbaren wurden dann überschritten, als die Sanktionen dazu betrugen, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung unter das Existenzminimum fiel. Nach zehn Jahren zeigt sich, dass die Hauptleidtragende der Sanktionen die Zivilbevölkerung war, während das Baath-Regime seine unmittelbar nach Kriegsende erheblich geschwächte Position wieder festigen konnte. Dabei ist es natürlich keineswegs verwunderlich, dass das Regime versucht, die verknappten Ressourcen vorrangig für den eigenen Machterhalt zu nutzen und erst in zweiter Linie humanitäre Erwägungen anstellt. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass mit der Aufrechterhaltung der Sanktionen eine zunehmende Schwächung des Regimes eintritt, vielmehr scheint dieses gelernt zu haben, sich mit den neuen ökonomischen Gegebenheiten zu arrangieren.

Die langfristigen ökonomischen und sozialen Folgen, die für den Irak aus dem Krieg und den über einem Jahrzehnt währenden Sanktionen resultieren, lassen sich nicht übersehen. Jede zukünftige Regierung wird konfrontiert sein mit den hoch gesteckten Erwartungen der Bevölkerung, die das Embargo ertragen musste. Neben diesem ökonomischen Sprengsatz wird jede Regierung in der Zukunft mit den sozialen Folgen des Embargos zu kämpfen haben. Die Langzeitwirkung der Auflösung sozialer Strukturen und staatlicher Institutionen wie des Bildungswesens sind noch nicht absehbar. Es ist nicht ersichtlich, wie daraus stabile politische Verhältnisse erwachsen sollen. Der Irak wird auf absehbare Zeit ein Herd der Instabilität bleiben.

Als Alternative zur bisherigen Sanktionspolitik wurden so genannte smarte oder intelligente Sanktionen, die sich gezielt gegen die herrschenden Eliten richten und die Zivilbevölkerung schonen sollen, vorgeschlagen. Diese könnten zum Beispiel Reiseverbote für Regierungspersonal, Stornierung von Ausbildungsprogrammen, Einfrieren der Auslandskonten sowie ein Verbot von Auslandsinvestitionen beinhalten. Abgesehen davon, dass diese Maßnahmen z.T. in den UN-Sanktionen gegenüber dem Irak vorgesehen sind, werden solche nur eine begrenzte Wirkung entfalten können und es erscheint zweifelhaft, ob sie ein Regime wie das irakische wirklich beeindrucken können. Dennoch ist es andererseits erstaunlich, dass die Möglichkeiten gezielt gegen das Regime gerichteter Maßnahmen bis heute noch nicht vollständig genutzt wurde. So wurden z.B. im Unterschied zu Bosnien und Ruanda keine Anklagen vor einem internationalen Gerichtshof wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben. Ein solcher Prozess wäre schon mit den Giftgaseinsätzen im iranisch-irakischen Krieg und den Anfal-Operationen zu begründen.

Das humanitäre Desaster gebietet eine Abkoppelung der Wirtschaftssanktionen von der Abrüstung. Dabei ist die Frage noch offen, wie solch ein aggressives Regime gegen seinen Willen abgerüstet werden kann.

Sicherlich wird auch zu prüfen sein, wie Staaten und Firmen, die sich aktiv an der Aufrüstung solcher Regime beteiligten, in die Verantwortung genommen werden können. Es scheint in Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland wenig Interesse zu bestehen, die Firmen, die dem Irak illegal Rüstungsgüter verschafften, konsequent strafrechtlich zu verfolgen Auch wurden keine Schritte unternommen, die eine intensivere Kontrolle des Exports von Anlagen, die sowohl militärische als auch zivile Güter produzieren können, ermöglichen würde. Obendrein erfolgten bislang trotz der irakischen Erfahrungen keine restriktiveren Rüstungsexportkontrollen.

Wie sind nun der Verlauf und die Folgen der humanitären Intervention zu beurteilen? Dabei erscheint die Bestimmung des zeitlichen Rahmens, der zu betrachten ist, bereits problematisch. Der Beginn kann zwanglos mit dem Anlaufen der Operation »Provide Comfort« festgesetzt werden. Schwieriger erscheint es, das Ende festzulegen. Einige Autoren verweisen darauf, dass der Irak durch seine Unterschrift unter dem MOU im April 1991 quasi die Ziele der Intervention akzeptiert habe und folglich ab diesen Zeitpunkt „nicht mehr von einer Intervention, einem Handeln gegen den Willen des Irak, gesprochen werden“ kann.9 Das hieße, die humanitäre Intervention, die ohne aktives Zutun des Weltsicherheitsrates durchgeführt wurde, wäre nach wenigen Tagen in einem Projekt der humanitären Hilfe unter dem Schirm der Vereinten Nationen aufgegangen. Dem ist entgegenzuhalten, dass zu diesem Zeitpunkt die Alliierten noch in einem beträchtlichen Umfang Bodentruppen im Nordirak stationiert hatten, die vollkommen unabhängig von und häufig entgegengesetzt zu den Vorstellungen der irakischen Regierung handelten und erst einige Monate nach dem Abschluss des MOU abzogen. Darüber hinaus werden von anglo-amerikanischer Seite die Flugverbotszonen, mit der Begründung des notwendigen Schutzes der Zivilbevölkerung, bis zum heutigen Tage aufrechterhalten. Die irakische Regierung ihrerseits hat zu keinem Zeitpunkt die Einschränkung ihrer Souveränitätsrechte im Norden des Landes akzeptiert.

Die Folgen der humanitären Intervention

Bei der Einschätzung der Intervention erweist sich als zweckmäßig, zwischen den unmittelbaren Folgen der Operation »Provide Comfort« und langfristigen Folgen zu unterscheiden.

Die als Folge der Niederschlagung der Aufstände entstandene humanitäre Situation erwies sich als untragbar. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Alliierten Mitverantwortung dafür tragen, dass es zu einer solchen humanitären Katastrophe gekommen ist. Ein Eingreifen von außen erschien den Alliierten geboten, zumal sie unter erheblichem Druck der eigenen Bevölkerung standen. Der mit der Operation »Provide Comfort« eingeschlagene Weg stellte eine Option dar, es war aber nicht die einzig denkbare. Den katastrophalen Zuständen in den Bergen hätte zunächst auch Abhilfe geleistet werden können, indem die türkische Regierung den Flüchtlingen gestattet hätte, die Berge zu verlassen und in den Ebenen Schutz zu suchen.

In ihrer unmittelbaren Ausführung war die Intervention insofern effizient, als sie die rasche Rückkehr eines großen Teils der Flüchtlinge aus der Türkei ermöglichte und ihnen aktuell neben Schutz vor erneuter irakischer Repression auch materielle Versorgung und medizinische Hilfe zukommen ließ. Während sich die humanitäre Situation der Flüchtlinge verbesserte, blieb ihr Status weiterhin ungesichert.

Die Anlage und Durchführung der Operation »Provide Comfort« zeigt, dass nicht die humanitären Erwägungen im Vordergrund standen. Die Menschenrechtsverletzungen des irakischen Regimes an der eigenen Bevölkerung wurden vom Weltsicherheitsrat und den Alliierten erst zur Kenntnis genommen, als es zu einer grenzüberschreitenden Massenflucht in die Nachbarstaaten gekommen war. Von Anbeginn sollte nur einem Teil der Betroffenen direkte Unterstützung gewährt werden. Die Intervention orientierte sich ausschließlich an den Erfordernissen der Türkei, während die Flüchtlingsströme in den Iran schlicht ignoriert wurden, obwohl der Iran die Hauptlast der Flüchtlingsbewegungen zu tragen hatte. Das erklärte Ziel – Schutz der kurdischen Bevölkerung – war mit den Motiven der Interventionskräfte nicht deckungsgleich. Politische Erwägungen dominierten die humanitären Erfordernisse.

Wenden wir uns nun den Langzeitwirkungen der humanitären Intervention zu. Gängig ist sowohl in der Tagespresse als auch in der wissenschaftlichen Literatur die Vorstellung, dass es seit den Tagen von »Provide Comfort« im Nordirak eine Schutzzone für die kurdische Bevölkerung gäbe. Manche Autoren sprechen sogar von einem UN-Protektorat. Die Begrifflichkeit »Protektorat« ist für den Nordirak vollkommen unzutreffend. Die UN erhielt nie ein förmliches Mandat zur Vertretung der Region. Auch faktisch übernahm die UN weder die Außenvertretung der Region noch eine militärische Schutzfunktion. Die UN-Guards erfüllten keineswegs Schutzfunktionen für die Zivilbevölkerung, wie gelegentlich behauptet wird. Obendrein übernahm die UN keinerlei direkte Verantwortung für die Verwaltung und Ökonomie der kurdischen Region, wenn sie auch mittels der durch ihre Unterorganisationen durchgeführten Hilfsprogramme einen erheblichen Einfluss gewann. Eine Protektoratslösung – wie immer sie auch zu beurteilen wäre – hätte der Region einen offiziellen völkerrechtlich verbindlichen Status verliehen, aber genau dies ist nicht erfolgt. Die kurdische Seite hat hilflose Versuche unternommen, die UN über das Einklagen eines Protektoratstatus zur Übernahme einer größeren Verantwortung für Irakisch-Kurdistan zu übernehmen. An den undefinierten Status ändert auch die treuhänderische Verwaltung der Gelder nichts, die der autonomen Region aus den »oil for food«-Verkäufen zugedacht sind. Allenfalls könnte man von einem Teilmandat der UN für humanitäre Fragen sprechen. Dies blockiert allerdings längerfristig die Lösung der anstehenden politischen Frage.

Vollkommen unklar bleibt, wie die angebliche Schutzzone definiert sein soll. Wer hat ihre Grenzen festgelegt? Vor welchen Gefahren genau soll diese Zone schützen? Ist die Schutzzone gleichzusetzen mit der Flugverbotszone? Diese umfasst aber nur etwas mehr als die Hälfte des unter kurdischer Kontrolle stehenden Gebietes. Soll die Schutzzone dann explizit für den anderen Teil nicht bestehen? Oder ist mit der Schutzzone der »safe haven« gemeint, der während der Operation »Provide Comfort« in der Provinz Dohuk angelegt wurde? Dieser »sichere Hafen« war spätestens mit dem Abzug der alliierten Bodentruppen aus Irakisch-Kurdistan im Sommer 1991 hinfällig.

So imaginär wie die Schutzzone ist auch der von ihr ausgehende Schutz für die Bevölkerung. Während eines der zentralen Anliegen der Resolution 688 die ungehinderte Durchführung von Hilfsprogrammen darstellte, blieben gerade deren Behinderungen durch das irakische Regime folgenlos.

Zu keinem Zeitpunkt erfolgte eine Reaktion auf die vielfältigen, offenen und verdeckten Übergriffe der irakischen Armee. Am deutlichsten wurde dies beim Einmarsch der irakischen Armee in Arbil im Herbst 1996. Spätestens nach dem Hissen der irakischen Flagge auf dem kurdischen Parlament wurde das Gerede von einer Schutzzone für die kurdische Bevölkerung ad absurdum geführt. Selbstredend kamen die Alliierten auch ihren Schutzversprechungen gegenüber den Hilfsagenturen nur beschränkt nach. Demgegenüber reagierten Großbritannien und die USA sehr sensibel auf von der irakischen Armee provozierte, scheinbare oder tatsächliche Verletzungen des Luftraumes nördlich des 36. Breitengrades.

Die Schutzlosigkeit der Region offenbarte sich auch in den häufig wiederkehrenden türkischen und iranischen Übergriffen in der Region, die die Zivilbevölkerung vielfältig tangierten. Dabei handelte es sich zumindest seitens der Türkei nicht nur um kurzzeitige militärische Maßnahmen zur Aufstandsbekämpfung mit vorübergehend auch in Irakisch-Kurdistan operierenden militärische Einheiten, sondern um groß angelegte militärische Operationen mit bis zu 50.000 Soldaten, deren Dauer über mehrere Monate projektiert war. Sie wurden in keiner Weise von den Schutzmächten der Flugverbotszone oder den UN geahndet. Im Gegenteil war die Vernichtung der PKK doch offizielles Ziel der anglo-amerikanischen Politik, weshalb das Vorgehen des türkischen Militärs geduldet wurde.

Nachdem die Flüchtlinge die Türkei verlassen hatten, spielten auf der internationalen Bühne die Menschenrechte im Irak keine Rolle mehr. Zwar erstellte der Sonderberichterstatter der UN, Max van de Stoel, alarmierende Berichte, insbesondere auch aus dem Süden Iraks. Ein von ihm vorgeschlagenes Monitoring der menschenrechtlichen Situation im Irak – ähnlich den Waffeninspekteuren – wurde aber nie realisiert. Ansonsten wird, wie in den Jahren vor dem Golfkrieg, die menschenrechtliche Situation im Irak von der internationalen Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Wen interessiert schon die unverändert fortgesetzte Vertreibung der turkmenischen und kurdischen Bevölkerung aus den Erdölfördergebieten. Die Diskussion über die Verletzung der Menschenrechte im Irak zu vernachlässigen, entspricht durchaus dem Kalkül, diese Debatte nicht allzu intensiv zu führen, da sie auch Verbündete der USA wie die Türkei, Saudi-Arabien oder Kuwait tangieren könnte.

Graduell hat sich die Situation für die in der autonomen Region lebenden Menschen trotz aller schweren Rückschläge im Vergleich zum übrigen Irak gebessert, da sie zumindest vorübergehend dem unmittelbaren Zugriff des Baath-Regimes entzogen wurden. Dennoch haben die 1991 abgegebenen Schutzversprechen der Alliierten zu keinem Zeitpunkt ein definiertes Mindestmaß an Sicherheit garantiert. Vielmehr war der labile Schutz den ständig wechselnden politischen Gegebenheiten unterworfen.

Man kann also getrost davon ausgehen, dass humanitäre Erwägungen mit wachsendem zeitlichen Abstand von der Flüchtlingskatastrophe 1991 nur noch eine untergeordnete Rolle für die Motivation der US-Politik spielten. Das Schutzversprechen, das sich in Form der Flugverbotszone manifestierte, diente nur noch zur Begründung der eigenen Politik. Sie diente dazu, das Zentrum Iraks zu kontrollieren, während das Randgebiet Kurdistan eigentlich uninteressant wurde, solange es nicht mit der Politik des für die USA wichtigen Bündnispartners Türkei interferierte. Die Instrumentalisierung kurdischer Schutzinteressen steht in einer Tradition US-amerikanischer Politik, die Anfang der siebziger Jahre vorübergehend den kurdischen Widerstand benutzte, um das Regime im eigenen geopolitischen Interesse zu destabilisieren, und ihn dann baldmöglichst fallenließ. „Das kaum etablierte Novum »humanitäres Interventionsrecht« läuft so Gefahr, zur Legitimation eines unilateralen Interventionismus zu verkommen, der in der Folge der Resolution 688 und unter Berufung auf moralische Werte der Sanktionierung durch den Sicherheitsrat nicht mehr bedarf.“10 Es ist fast müßig zu ergänzen, dass sich die USA gegenüber der UN bzw. der Internationalen Gemeinschaft keineswegs verpflichtet fühlten, in irgendeiner Form Rechenschaft abzulegen.

Nach dieser Betrachtung der äußeren Akteure der »humanitären Intervention« wenden wir uns nun den internen Entwicklungen in Kurdistan-Irak zu. Van Gent urteilte rückblickend: „Im Nordirak sind nicht nur die Kurden gescheitert – gescheitert ist dort auch die Vision eines aus humanitären Gründen errichteten Protektorats, wie es unmittelbar nach der Auflösung der alten Weltordnung den westlichen Regierungen vorschwebte. Um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, hatte die Allianz die Schutzzone für die kurdischen Flüchtlinge errichtet. Die internationale Gemeinschaft versagte aber, weil sie gleich danach nicht mehr wusste, was sie mit ihrem eigenen Werk weiter anfangen sollte. Als es darum gegangen wäre, im Nordirak eine funktionierende Gesellschaft aufzubauen, hat die Welt die Kurden völlig ihrem Schicksal überlassen.“11

Abgesehen davon, dass die humanitäre Katastrophe bereits vor der Errichtung der »Schutzzone« eingetreten war, ist diese Sichtweise noch aus einem anderen Grund problematisch. Sie unterstellt eine humanitäre »Vision«, die die Erfordernisse geschundener Volksgruppen, in diesem Fall der kurdischen, in der Vordergrund aller Überlegungen stellt. Davon kann allerdings 1991 im Irak keine Rede sein. Umgekehrt: Die humanitäre Intervention erfolgte, um das Flüchtlingsproblem der Türkei zu lösen. Zu keinem Zeitpunkt beabsichtigten die Interventen sich ernsthaft mit den Ursachen des kurdisch-irakischen Konfliktes zu beschäftigen. Mit der Beschneidung der irakischen Souveränität wurde eben gerade nicht der Versuch unternommen, die Folgen der willkürlichen kolonialen Grenzziehung für die kurdische Bevölkerung bei der Errichtung des irakischen Staat abzumildern. Entsprechend wurde nicht einmal ansatzweise nach Lösungen für die kulturellen, sozioökonomischen und ethnischen Verwerfungen gesucht.

Selbst in weniger grundsätzlichen Fragen flüchtete man sich stattdessen in einen politische Entscheidungen verdrängenden Humanitarismus. Bozarslan fasste die Entwicklung treffend zusammen: „Die Hilfsoperation hat aber zugleich ein System geschaffen, dem die Humanität als Ersatz für Politik diente und politische Entscheidungen – aber auch wirtschaftliche – auf unbestimmte Zeit vertagt wurden. Die neue Ordnung, die im irakischen Kurdistan geschaffen wurde, bestand in der Verwaltung der Tagesgeschäfte.“12 Nur waren angesichts der Hinterlassenschaften von zwei Jahrzehnten Baath-Diktatur die Probleme in Irakisch-Kurdistan so drängend, dass dieser politische Absentismus verheerend wirkte. Der Westen schien dagegen wenig geneigt zu sein, der humanitären Intervention ein Projekt der politischen Selbstbestimmung folgen zu lassen. Der gewählten Regionalregierung wurde eine internationale Anerkennung – in welcher Form auch immer – verweigert und sie somit delegitimiert. Nicht einmal international verbürgte Garantien für eine zukünftige Autonomie Irakisch-Kurdistans in dem irakischen Staatswesen standen auf der Tagesordnung. Diese Frage sollte offen gelassen werden, diesbezügliche Anstrengungen von kurdischer Seite waren vergebens. Selbst nach dem Desaster des internen Krieges war man seitens der USA lediglich darauf bedacht, einen Waffenstillstand zwischen den Parteien zu vermitteln. Die Erfordernis eines umfassenden Konzeptes der Konfliktlösung, das sich auf die relevanten gesellschaftlichen Kräfte in Irakisch-Kurdistan stützte und Gewalt abbauende sowie präventive Momente beinhaltete und letztlich den Aufbau demokratischer Strukturen ermöglichen sollte, wurde nicht gesehen.

Über Jahre hinaus war Irakisch-Kurdistan abhängig von Hilfsprogrammen, die zwar das Überleben sicherten, eine Entfaltung der in der Region vorhandenen ökonomischen Potenziale allerdings nicht zuließen. Langfristige Aufbauprojekte sind in Nothilfeprogramme nicht zu verwirklichen. Unter diesen Bedingungen der anhaltenden politischen und ökonomischen Instabilität wurden vorwiegend solche Geschäfte getätigt, die kurzfristig Gewinn versprachen. Die negative wirtschaftliche Dynamik verstärkte sich noch dadurch, dass der Produktionsanreiz insbesondere in der Landwirtschaft durch Hyperinflation und/oder Importe zunichte gemacht wurde. Die kurdischen Akteure fanden weder Instrumente um wesentlichen Einfluss auf die monetäre Krise zu nehmen, noch konnten sie den Import den Bedürfnissen der regionalen Ökonomie anpassen.

Die Hilfspolitik trug ungewollt zur Reproduktion überkommener gesellschaftlicher Verhältnisse bei. Davon profitierten neben einer schmalen Schicht von Parteifunktionären korrumpierbare Mittelschichten und Aghas.

Unter den Gegebenheiten der Hilfsprogramme konnte keines der drängenden politischen, sozialen oder ökonomischen Kernprobleme durch die Intervention angegangen, geschweige denn gelöst werden. Die politische Handlungsunfähigkeit wurde begleitet von ökonomischer Destablisierung und sozialer Fragmentierung. Regional verstärkten sich die Gegensätze zwischen Badinan und Soran.

Durch das (doppelte) Embargo wurden diese Prozesse noch in verhängnisvoller Weise verschärft. Die herrschenden politischen Gruppen sahen sich gezwungen, die Organisation der Devisenbeschaffung und benötigter industrieller Produkte an die Parallelwirtschaft zu delegieren. Der schwache, in zahlreichen Bereichen nicht existente Staat überlies die Regulierungsfunktionen der informellen Wirtschaft. In diese sind neben Stammesverbänden, ehemaligen mustashar-Führern und Unternehmern insbesondere auch die Parteiführungen eingebunden. Die Parteien versuchten um ihre Macht abzusichern, Teile der Ökonomie zu kontrollieren oder sich mit Segmenten auch der Parallelwirtschaft zu verbünden. Besonders deutlich wird dies in den städtischen Regionen. Die Kontrolle der Großstädte führte zu einem erheblichen politischen und ökonomischen Machtzuwachs für die kurdischen Parteien, die ihren Handlungsspielraum spürbar vergrößern konnten. Nicht zuletzt waren die Großstädte ein wichtiges Rekrutierungsfeld für die Parteimilizen. Um ihr Funktionieren zu sichern, mussten sich die Parteien der Parallelökonomie bedienen.

Das Entstehen der Parallelwirtschaft, die nicht mehr kontrollier- und steuerbar ist, wurde dadurch begünstigt, dass die kurdische Verwaltung den vormals starken irakischen Staat, der Teile der Erdölrente dirigistisch verteilte, nicht ersetzen konnte. Die fehlende Möglichkeit der kurdischen Regierung zur Wirtschaftsregulation begünstigt zudem, dass auch Ressourcen aus den Hilfsprogrammen in der informellen Ökonomie verschwanden. Das Wirtschaftsembargo tat ein Übriges, um undurchsichtige Parallelökonomien und kriminelle Strukturen zu fördern.

Es verwundert wenig, dass alte, nur mühsam kaschierte Widersprüche zwischen den beiden großen kurdischen Parteien bei dem Kampf um die Ressourcen verschärft auftraten und schließlich in den Bürgerkrieg mündeten. Entsprechend sind auch alle Faktoren, die zu dem Bürgerkrieg führten, virulent und werden augenblicklich durch »oil for food«-Programme übertüncht. Dies festzustellen bedeutet auch darauf zu verweisen, dass die Folgen der Operation »Provide Comfort« nicht allein für die Lage in Irakisch-Kurdistan verantwortlich sind. Eine der wesentlichen Determinanten für das Scheitern der Regionalregierung und der sich einstellenden Agonie in Irakisch-Kurdistan war die innere Verfasstheit der kurdischen Politik. Diese erwies sich als unfähig, arbeitsfähige Strukturen einer »civil society« aufzubauen.

Zur Politik der Hilfsorganisationen

Die Hilfspolitik trug wenig dazu bei, diese Defizite zu überwinden. Im Gegenteil schwächte sie in der Tendenz die demokratisch legitimierten Institutionen, indem diese bei der Implementierung der Hilfsprojekte umgangen wurden. Eine gesellschaftliche Kontrolle der Aktivitäten von Hilfsorganisationen fand nicht statt. Diese in Irakisch-Kurdistan verfolgte Politik der Privatisierung der Hilfe scheint ein internationales Phänomen sowohl der Katastrophenhilfe als auch der langfristigen Entwicklungszusammenarbeit nach Ende des Kalten Krieges zu sein.

Die über ein Jahrzehnt währende Abhängigkeit von externer Hilfe verhinderte neben dem Wirtschaftsembargo die Mobilisierung gesellschaftlicher Ressourcen zur Überwindung der anstehenden Probleme. Stattdessen wurden oftmals externe, von Hilfsagenturen oder UN-Organisationen entwickelte Lösungswege den Betroffenen übergestülpt. Möglichkeiten des Empowerments, also Möglichkeiten zum eigenständigen Handeln, wurden dadurch genommen.

Diese Mängel der Hilfspolitik scheinen nicht zufällig zu sein, sondern Ausdruck zweier unterschiedlicher Akzentverschiebungen, von denen in den letzten 15 Jahren insbesondere die NGOs betroffen sind. Zum einen zeichnet sich eine Entwicklung ab, die wegführt von der langfristigen Entwicklungszusammenarbeit hin zur Stärkung der Not- und Katastrophenhilfe und zum anderen von der humanitären Hilfe zur humanitären Intervention. Im Hinblick auf die humanitäre Intervention ergeben sich dabei für NGOs seit der Operation »Provide Comfort« interessante Perspektiven. Die US-Army konnte eindrucksvoll logistische, kommunikations- und transporttechnische Leistungen darstellen, die die Möglichkeiten von UN und Hilfsorganisationen bei weitem übertrafen. Daran wird die grundsätzliche Problematik deutlich, dass die Entscheidung über humanitäre Interventionen in vielen Fällen Großmächten vorbehalten sein wird, da nur sie über die entsprechende militärische Ausrüstung verfügen. Allerdings erwies sich »Provide Comfort« auch als teuerste humanitäre Operation der US-Armee seit dem zweiten Weltkrieg. Dies führte den Militärs vor Augen, dass sie sich besser auf ihre »Kernkompetenz« militärischer Sicherheit konzentrieren und dabei die humanitäre Hilfe den Hilfsorganisationen überlassen sollten. NGOs müssen sich fragen lassen, inwieweit sie sich in entsprechende militärische Planungen einbinden lassen. Dabei wird es für die NGOs wenig Gestaltungsmöglichkeiten geben.

Die, der zunehmenden Dominanz der Nothilfe geschuldete, Politik des schnell umgesetzten Geldes und der kurzfristigen Projekte – und dafür ist Irakisch-Kurdistan ein markantes Beispiel – verstellt den Blick auf soziale Verhältnisse und Konflikte.

Zu hinterfragen bleibt der zunehmende Feuerwehrcharakter der NGO-Arbeit. Dem ist ein Konzept entgegenzusetzen, das wieder verstärkt auf Beseitigung von Armut und sozialer Ungerechtigkeit als Ursache von Gewalt fokussiert.

Es drängt sich weiterhin die Frage auf, ob die drei geschilderten Trends Militarisierung der humanitären Arena, Privatisierung der Hilfe und Verschiebung der Ressourcen zugunsten der Katastrophenhilfe zufällig stattfinden oder ob in Zeiten des Neoliberalismus die Notwendigkeit vermehrter Interventionen besteht, da die Länder am unteren Ende der Pyramide nirgendwo hingehen können, um sich Überschüsse anzueignen oder um die mit dem Marktwachstum einhergehenden Dysfunktionen zu exportieren.

Zusammenfassend bleibt festzustellen, die humanitäre Intervention, die einen schwer wiegenden Eingriff in die Souveränität des Iraks bedeutete, konnte einer akuten Notsituation, an deren Aufkommen die Interventen selbst beteiligt waren, abhelfen. Das Instrument der humanitären Intervention wurde aus reinen tagespolitischen Opportunitätsgründen eingesetzt. Wie der weitere Verlauf zeigte, diente sie nicht dazu, den universellen Anspruch der Menschenrechte in Irakisch-Kurdistan durchzusetzen. Im Rückblick nach 10 Jahren erweist sie sich als vollkommen untauglich, die sozialen Ursachen des Konfliktes zu lösen, und generierte geradezu als Politikersatz. Sie war nicht in der Lage, lokale und regionale Kräfte zu stärken, um die anstehenden Konfliktfelder zu bearbeiten. Zehn Jahre nach Operation »Provide Comfort« ist für die Bevölkerung Irakisch-Kurdistans keine Zukunftsperspektive erkennbar.

Es stellt sich die Frage, welche neuen Formen die internationale Gemeinschaft finden kann, um auf die Verletzung fundamentaler Menschen- und Minderheitenrechte oder eine entsprechende Androhung zu reagieren. Anzustreben wäre primär ein System von präventiven, gewaltlosen Maßnahmen, das möglichst mit der Zustimmung aller Beteiligten wirkt. Ähnlich wie im Bereich der humanitären Hilfe die Stellung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes international kodifiziert ist, wären entsprechende präventiv wirkende neutrale Institutionen völkerrechtlich abzusichern. Falls es im Einzelfall nicht möglich sein sollte, grobe Völkerrechtsverletzungen zu verhindern, wären als ultima ratio militärische Interventionen in die internen Angelegenheiten eines Staates zu rechtfertigen, wenn sie klar umrissenen Regeln und Maßstäben unterworfen wären. Diese Regeln müssten universell sein, sie dürften sich nicht entlang von Machtverhältnissen konstituieren und müssten international von einem neutralen Gremium legitimiert sein. Momentan ist auf der internationalen Bühne keine Kraft zu erkennen, die dies durchsetzen könnte. In der Anlage und Durchführung verweist die Operation »Provide Comfort« in eine entgegengesetzte Richtung.

Anmerkungen

1) Mit »zweiten Golfkrieg bezeichnen wir – wie allgemein üblich – den Krieg, der vom 17.01.1991 bis zum 28.02.1991 zwischen einer militärischen Allianz unter Führung der USA und dem Irak ausgetragen wurde. Der »erste Golfkrieg« ist der iranisch-irakische Krieg von September 1980 bis zum 20.08.1988.

2) Die Anführungszeichen in der Überschrift zu »humanitäre Intervention« sollen die Problematik dieses allseits verwendeten Begriffs verdeutlichen. Im Text selbst wird der Begriff aber ohne Anführungszeichen verwandt.

3) Bley, Helmut: Was ist alt, was neu am Interventionsproblem? in: Peripherie Nr. 55/56, 1994, S. 12

4) Interview mit BBC Radio 4 am 19.08.1991, zit. nach Ramsbotham, Oliver und Woodhouse Tom: Humanitarian Intervention in Contemporary Conflict, Cambridge 1996, S.78

5) UNICEF Pressemitteilung Köln 12.08.1999 S.1

6) FR 23.12.1998

7) Ibrahim, Ferhard: Der Irak vor der regionalen Reintegration? Hoffnungen auf das Ende der Sanktionen, in: Betz, Joachim/Brüne, Stefan/Deutsches Übersee Institut (Hg.): Jahrbuch 3. Welt 1999, München 1998, S. 141

8) Vgl. Statistisches Bundesamt: Länderbericht Golfstaaten 1991, Wiesbaden1991, S. 47 ff., landwirtschaftliche Produktionsziffern 1975- 1985; vgl. Metz, Helen Chapin(Ed..): Iraq: A Country Study, Library of Congress, Washington D.C. 1990

9) Pape, Matthias: Humanitäre Intervention – Zur Bedeutung der Menschenrechte in den Vereinten Nationen, Baden-Baden 1997, S. 177

10) Ruf, Werner: Die neue Welt-UN-Ordnung – Vom Umgang des Sicherheitsrates mit der Souveränität der »Dritten Welt«, Münster 1994, S. 119

11) van Gent, Werner: Der Geruch des Grauens, Zürich 2000, S. 178.

12) Bozarslan, Hamit: Von der Humanität zum Bürgerkrieg; in: der überblick 3/97, S. 42

Wer wir sind

»Haukari e.V.« wurde Anfang der neunziger Jahre mit dem Ziel gegründet, unabhängig von tagespolitischer Aktualität eine kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit zur Situation in Irakisch-Kurdistan zu leisten, die Bemühungen von KurdInnen, nach jahrzehntelanger Diktatur demokratische Strukturen aufzubauen, solidarisch zu begleiten und gleichzeitig vor Ort soziale Initiativen und Projekte zu unterstützen.

In Kurdistan-Irak selbst unterstützt »Haukari e.V.« soziale Projekte, insbesondere im Bereich präventiver Gesundheitsförderung und Frauenförderung. So wurde 1996 das Frauenzentrum KHANZAD in Sulaimaniya eröffnet, das seitdem kontinuierlich unterstützt wird.

In der Öffentlichkeitsarbeit setzt »Haukari e.V.« sich für eine politische Lösung in Kurdistan-Irak ein. Weitere Schwerpunkte sind die Thematisierung der Anfal-Kampagnen der irakischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung 1988 und die heutige Situation der Überlebenden.

Zum Thema Flucht und Fluchthintergründe von KurdInnen hat »Haukari e.V.« Ende 1997 eine Fotoausstellung erstellt, die in mehreren Städten in der BRD gezeigt wurde und auch weiterhin ausgeliehen werden kann.

Kontakt: Haukari e.V., Falkstrasse 34, 60487 Frankfurt, Tel. 069 – 7076 0278, Email: HaukariFfm@aol.com Internet: www.Haukari.de

Dr. Bernhard Winter und Susanne Bötte, HAUKARI e.V., Frankfurt/M.
Der vorliegende Artikel ist eine gekürzte Fassung der Veröffentlichung: Kurdistan-Irak: Untergehen im sicheren Hafen – Studie über eine »humanitäre Intervention«, die im Herbst 2001 im VAS Verlag, Frankfurt erscheint.

Es geht nicht nur um Kashmir

Die Konfliktkonstellation Pakistan – Indien1

Es geht nicht nur um Kashmir

von Diethelm Weidemann

Einleitung

Es sind nicht semantische Gründe, wenn nachfolgend vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichend die Formulierung pakistanisch-indischer Konflikt verwendet wird, sondern historische Erwägungen:

  • Der erste Kashmirkrieg wurde durch eine von der pakistanischen Armee personell und logistisch unterstützte Operation pashtunischer Stammeskrieger aus der Nordwest-Grenz-Provinz ausgelöst, die den letzten Maharaja zum Anschluss an Indien veranlasste, was dann den Einsatz indischer Truppen nach sich zog.
  • Der zweite Kashmirkrieg war die logische Folge der von Ayub Khan abgesegneten Operation Gibraltar, an der auch Zulfikar Ali Bhutto eine erhebliche Aktie hatte, und in deren Ergebnis etwa 8.000 Angehörige der Armee und der Grenztruppen nach Kashmir eingeschleust und dort durch Hinweise der lokalen Bevölkerung vorzeitig entdeckt wurden, bevor sie operativ werden konnten, was im Herbst 1965 zu einem sofortigen und massiven Gegenangriff Indiens führte.
  • Der Krieg von 1971 war das Ergebnis der eklatanten Missachtung des Ergebnisses der pakistanischen Parlamentswahlen von 1970 und des von einem Teil der westpakistanischen Generalität in Ostpakistan, heute Bangladesh, inszenierten Massakers, das übrigens in den letzten Monaten des Jahres 2000 die Beziehungen zwischen Pakistan und Bangladesh erneut ernsthaft belastet hat.
  • Die pakistanische Kargil-Operation von 1999 war ein einseitiger und unprovozierter Krieg Pakistans gegen Indien, dass er ein »begrenzter« Konflikt blieb, ändert nichts an diesem Sachverhalt.

Deshalb ist es aus meiner Sicht historisch-politisch korrekter, diese Auseinandersetzung als pakistanisch-indischen Konflikt zu bezeichnen statt, wie es zumeist geschieht, als indisch-pakistanischen.

1. Der pakistanisch-indische Konfolikt – Ursachen, Charakter und Einzugsbereich

Die Beziehungen zwischen Pakistan und Indien sind eines der kompliziertesten bilateralen und regionalen Probleme in Asien seit dem Ende des zweiten Weltkrieges. Bei der seit 1947 anhaltenden und bisher in drei Kriegen kulminierenden Auseinandersetzung zwischen diesen beiden südasiatischen Staaten 2 handelt es sich um einen vielschichtigen Konflikt, der nicht nur aus einer ganzen Reihe unterschiedlicher konkreter Konfliktlagen besteht, sondern im Verlauf der Jahrzehnte auch eine eigentümliche Konfliktkonstellation mit einer spezifischen Dynamik herausgebildet hat. Dies ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass einflussreiche und teilweise auch dominante Gruppen der politischen und militärischen Eliten auf beiden Seiten die pakistanisch-indische Konfrontation von Anfang an und, präzise gesagt, bereits vor dem 15. August 1947, als machtpolitisches Nullsummenspiel perzipiert und betrieben haben. Dieser Faktor hat zählebige Denkstrukturen geschaffen, die auch heute noch politikgestaltend wirken. Jeder Versuch, die Komplexität des indisch-pakistanischen Verhältnisses und die damit verbundenen mannigfachen Interessengegensätze und Kollisionen auf die Kashmir-Frage zu reduzieren, wie seit langer Zeit von Pakistan offiziell praktiziert, ist entweder ein zutiefst illusionistischer Ansatz oder eine bewusste Verdrängung der großen Zahl realer Probleme zwischen beiden Staaten – z.B. die kontroversen Selbst- und extremen Feindbilder3 , die unterschiedlichen Perzeptionen von Nation mit ihren gravierenden Folgen seit 1947, die direkt kollidierenden Auffassungen von nationaler Sicherheit und die damit gesetzte Sicherheitspolitik sowie die fundamentalen strategischen Gegensätze. Alle diese Widersprüche sind in der Realität vorhanden, d.h. unabhängig von der Existenz oder Nichtexistenz der Kashmir-Frage und sie können daher nicht von der Kashmir-Frage abgeleitet werden. Dass sie sich in der Kashmir-Frage direkt reflektieren, ist dagegen nur folgerichtig. Auf diese Amalgamierung hat die United Nations Commission for India and Pakistan (UNCIP) bereits 1949 in einem Bericht aufmerksam gemacht.4 Wer die pakistanisch-indische Konfliktkonstellation dennoch auf Kashmir reduziert, nimmt eine Position ein, die zwischen politischem Wunschdenken und taktischer Propaganda angesiedelt ist, die keiner historisch-politischen Analyse standhält und im Interesse einer tatsächlichen Normalisierung zwischen Pakistan und Indien nicht akzeptiert werden sollte. Und wenn der Chef des im Oktober 1999 installierten Militärregimes am 23. Oktober 2000 in Sudhnoti erklärte: „Kashmir ist der einzige Streit zwischen Indien und Pakistan, während der Rest zweitrangige Probleme sind“5 , dann ist das ein klassisches Beispiel für die Grenzen des Realitätsbewusstseins in Pakistans militärischer und politischer Führung.

1.1 Zu wesentlichen historischen Wurzeln des Konflikts

Das Jahr 1947 markierte das Ende der Herrschaft Großbritanniens über Südasien, die Wiedergewinnung eigener Staatlichkeit in Indien und die Konstituierung Pakistans aus den Provinzen Britisch-Indiens mit mehrheitlich moslemischer Bevölkerung (Sindh, Baluchistan, North West Frontier Province), jenen Gebieten der großen Provinzen Punjab und Bengalen, in denen eine Mehrheit der Bevölkerung für Pakistan optiert hatte und einer Reihe von Fürstenstaaten. Das war ein tiefer historischer Einschnitt für Südasien, wurde doch Großbritannien gezwungen, seine direkte Herrschaft über den Subkontinent aufzugeben und den Weg für eine souveräne nationale Entwicklung in Südasien freizumachen. Dieses Datum war zugleich der Ausgangspunkt für markante staatliche und politische Prozesse, wirtschaftliche und soziale Umwälzungen, die in den zurückliegenden fünfzig Jahren das Gesicht Südasiens drastisch verändert haben.

Jedoch haben sich die spezifischen Bedingungen, unter denen die neuen Staaten ihre politische Selbständigkeit erlangten, bis auf den heutigen Tag auch als schwerwiegende Hypothek, als Konfliktpotential von gefährlicher politischer Brisanz erwiesen. Ihre Langzeitwirkung hat die Gesamtentwicklung in Südasien seit 1947 überschattet.

Die multiethnische, multikulturelle und polykonfessionelle Struktur Britisch-Indiens erforderte unabweisbar die föderale staatliche Gliederung eines nachkolonialen Indien, um die für eine souveräne Entwicklung essentiellen gesamtstaatlichen Interessen und die legitimen Interessen der zahlreichen großen und kleinen Gemeinschaften möglichst weitgehend zu harmonisieren und einen von allen akzeptierten Rechtsrahmen für ein Zusammenleben in einem Staat, für die Regulierung von Interessendivergenzen und für die Bewältigung von Konflikten mit rechtsstaatlichen Mitteln zu schaffen.

Die Provinzen Britisch-Indiens waren keine historisch gewachsenen Strukturen, sondern das Resultat eines vom 18. Jh. bis zum Beginn des 20. Jh. andauernden und mit unterschiedlichem Tempo verlaufenden Eroberungsprozesses. Ihre Grenzen deckten sich keineswegs mit den ethnischen und linguistischen Trennlinien. Diese Situation wurde zusätzlich durch die ausgesprochene Streulage der Fürstenstaaten kompliziert. Daher hatte die nationale Frage in Indien neben ihrer dominierenden antikolonialen, auf die Befreiung von der Fremdherrschaft zentrierten Stoßrichtung, im 20. Jh. auch eine bedeutsame innere Komponente – das Ringen großer, bereits auf den Wege der nationalen Formierung befindlicher ethnischer Gruppen, sowie religiöser Gemeinschaften und traditioneller tribaler Gruppen um das Recht, sich frei auf der Grundlage ihrer eigenen Kultur, ihrer eigenen Sprache und ihrer eigenen Wertesysteme entwickeln zu können.

Diese starke regionale Triebkraft des nationalen Befreiungskampfes wurde jedoch in den letzten Jahrzehnten der britischen Herrschaft durch das Zusammenspiel eines prononciert antiindischen Flügels im britischen Establishment und in der Kolonialadministration mit kommunalistischen Kräften, Vertretern beschränkter Gruppeninteressen unterschiedlichster Couleur und bigotten religiösen Fanatikern faktisch paralysiert. Alle die Verfassung Britisch-Indiens betreffenden Grundsatzdokumente vom Government of India Act (1935)6 über die Cripps Proposals (1942)7 bis zu den Indien-Erklärungen der Labour-Regierung von 1945 bis 19478 legen Zeugnis davon ab, wie Föderalismus und Schutz der Minderheiten zu Instrumenten für die Schürung innerer Konflikte und zur Waffe gegen ein einheitliches unabhängiges Indien verkamen. Großbritannien wurde in die Lage versetzt, einzelnen Interessengruppen Konzessionen zu machen und diese unter Hinweis auf die indolente Haltung rivalisierender Kräfte zu widerrufen, und somit durch die Begünstigung oder direkte Schürung der inneren Widersprüche und Konflikte seine eigene Herrschaft über den zweiten Weltkrieg hinaus zu verlängern.Die inneren Widersprüche und Konflikte, die Großbritanniens Indienpolitik ungemein erleichterten, waren breit gefächert. Sie umfassten die seit den zwanziger Jahren zunehmenden sozialen Auseinandersetzungen, nationale, ethnisch-kulturelle und konfessionelle Differenzen sowie politische Machtkämpfe innerhalb der Oberschichten der indischen Gesellschaft. Zum Kern dieser Konfliktpotentiale wurde die Rivalität zwischen den beiden größten politischen Parteien, dem Indian National Congress und der All-India Muslim League. Sie wurde faktisch zum Kulminationspunkt der inneren Konfliktsituation in Indien. Die Anfänge dieser bis heute folgenreichen Auseinandersetzung lagen in der von den Briten aus ihren Herrschaftsinteressen heraus künstlich neu belebten Konfrontation zwischen Hindus und Moslems mit ihrer traditionellen Vernetzung sozialer, politischer und religiöser Fragen.9 Der »Hindu-Moslem-Konflikt« war kein religiöser Antagonismus. Selbst in seinen »heißen« Phasen war keine substantielle Bedrohung der Religionsgemeinschaften oder der Freiheit der Religionsausübung gegeben. Es ging für die Arbeitenden primär um mehr soziale Gerechtigkeit, für die noch schwache islamische Mittelklasse um den Zugang zu sozial gehobenen Positionen (z.B. in der Administration) und für die Oberklassen um Machtanteile. Das heißt, dieser Konflikt war ein politischer Kampf, dem handfeste soziale und ökonomische Interessen zu Grunde lagen. Humayun Kabir, selbst der islamischen Aristokratie entstammend, schrieb noch vor dem zweiten Weltkrieg: „Der kommunalistische Konflikt ist letztlich ein Kampf zwischen den Mittelklassen der beiden Gemeinschaften um den Anteil an den guten Dingen des Lebens.“10 Wir haben aber zu berücksichtigen, dass bis 1947 die populistische Hervorhebung der religiösen Komponente die dominante Oberflächenerscheinung dieses Machtkampfes zwischen INC und AIML war. Und es ist eine historische Groteske, dass es in Pakistan und Indien Kräfte gibt, die diese Schimäre auch heute noch als den Kern des pakistanisch-indischen Verhältnisses ansehen.

So wie der Hindu-Moslem-Konflikt war auch die Zweinationentheorie eine markante Ausdrucksform des politischen Machtkampfes zwischen den indischen Oberschichten mit unterschiedlichem kulturell-konfessionellem Hintergrund. Der Nationalkongress war zweifelsfrei eine nationale Sammlungsbewegung, die gebetsmühlenartige Unterstellung der Moslemliga, der INC sei nur eine Repräsentanz der Hindus, war eine später auch von den Briten aus ähnlichen politischen Motiven übernommene politische Propagandathese. Der Kongress war aber zugleich die Partei des aufstrebenden indischen Bürgertums und erheblicher Teile der Intelligenz und damit ein Instrument zur Generierung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Interessen. Er führte einen langjährigen und opferreichen Kampf gegen das Kolonialregime, aber er wollte auch die alleinige Macht im nachkolonialen Indien. Daher kam eine tatsächliche Machtteilung mit der Moslemliga ebenso wenig in Frage wie die Anerkennung der Interessen und Forderungen der indischen Linkskräfte. Für das Verhältnis zur Moslemliga war es ausgesprochen fatal, dass der sich gandhistisch drapierende konservativ-hinduistische Flügel in der INC-Führung seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre erheblichen Einfluss gewann. Die Negierung berechtigter Erwartungen der moslemischen Bevölkerungsgruppe nach den Wahlen von 1937, die Verdrängung Subhas Chandra Boses aus dem Kongress und gravierende politische Fehlentscheidungen während des zweiten Weltkrieges sowie zwischen Juni 1945 und August 1947 ist direkt damit verbunden und fünfundfünfzig Jahre nach der Erlangung der Unabhängigkeit wäre es hohe Zeit, die Politik dieser Babu-Gruppe und ihre Langzeitfolgen einer objektiven historischen Analyse zu unterziehen.

Die Moslemliga erkannte nach den Wahlen von 1937. dass die realen Macht- und Mehrheitsverhältnisse ihr bei einer politisch ausgehandelten Unabhängigkeit Indiens und einer parlamentarischen Staatsordnung keine Chance geben würden, an die Macht zu kommen. Mohammed Ali Jinnah, ein glänzender Rechtsanwalt und Präsident der Moslemliga, erklärte am 22. März 1940 in Lahore: „Wenn Hindus und Moslems in einem den Minderheiten aufgezwungenen demokratischen System zusammengebracht werden, kann dies nur zu Hindu raj (Hinduherrschaft, d. V.) führen.“11 Die Liga erteilte daher einem parlamentarisch-demokratischen Weg zur Unabhängigkeit eine prinzipielle Absage12 , machte die bis dahin relativ bedeutungslose Zweinationentheorie13 zu ihrer ideologischen Kernthese, stellte das Postulat auf, dass Moslems und Hindus grundverschiedene Nationen seien, die nicht auf dem Territorium eines Staates zusammenleben könnten14 .Sie versuchte folgerichtig mit der Pakistan-Resolution von Lahore (1940) einen eigenen Staat für die islamische Bevölkerungsgruppe durchzusetzen15 – d.h. die moslemischen Ober- und Mittelklassen wenigstens in einem Teil Indiens an die Macht zu bringen. 1941 erklärte Mohammad Ali Jinnah, in Madras: „Moslem-Indien wird sich niemals einer gesamtindischen Verfassung und einer Zentralregierung unterwerfen. Die Ideologie basiert auf dem fundamentalen Prinzip, dass die Moslems in Indien eine unabhängige Nationalität sind, und jedem Versuch zur Assimilierung ihrer nationalen und politischen Identität wird Widerstand entgegengesetzt werden.“16 Damit war der Kurs eingeschlagen, der geraden Weges zur Teilung Indiens führte.

Das Inkrafttreten des Indian Independence Act am 15. August 194717 war nur der formelle Vollzug von Entscheidungen, die bereits zwischen 1937 und 1945 gefallen waren. Zugleich haben die Jahrzehnte seit 1947 deutlich gemacht, dass die Teilung Indiens keine Lösung der »indischen Frage« war. Die inneren Grundprobleme blieben in den Nachfolgestaaten Britisch-Indiens auf der Tagesordnung und das Unvermögen der regierenden Eliten, sie zu bewältigen, hat ein ganzes Bündel von Konfliktpotentialen geschaffen und die innere Sicherheit beider Staaten einer enormen und zunehmenden Belastung ausgesetzt. Die Transformation des innenpolitischen Machtkampfes AIML-INC in die Sphäre der zwischenstaatlichen Beziehungen hat Pakistan in drei Kriege mit Indien gestürzt und einen chronischen Spannungszustand in Südasien geschaffen.

Pakistan trat mit dem Vorsatz in die internationale Arena, mit allen Nachbarn in Frieden und guter Nachbarschaft zu leben und brüderliche Beziehungen mit allen islamischen Staaten zu pflegen. Bereits 1940 erklärte Jinnah vor der Jahrestagung der AIML in Lahore: „Wir wünschen als ein freies und unabhängiges Volk mit unseren Nachbarn in Frieden und Harmonie zu leben.“18 Er bekräftigte diese Position 1947 als Generalgouverneur Pakistans: „Unser Ziel sollte Frieden nach innen und nach außen sein. Wir wollen in Frieden leben und freundschaftliche Beziehungen zu unseren unmittelbaren Nachbarn und zur ganzen Welt pflegen.“19

Pakistan wurde 1947 auch mit der Überzeugung gegründet, dass die Teilung Indiens nicht zwangsläufig zu einem feindseligen Verhältnis zwischen den Nachfolgestaaten führen müsse. Jinnah entwickelte 1940 folgende Perzeption: „Es gibt keinen Grund, dass diese Staaten (Indien und Pakistan – D.W.) sich antagonistisch zueinander verhalten sollten. Im Gegenteil, die Rivalität zwischen ihnen, das Streben und die Anstrengungen einer Seite, die soziale Ordnung der anderen Seite zu dominieren und eine politische Suprematie in der Regierung des Landes über sie zu erlangen, wird verschwinden. Das wird zu mehr natürlichem guten Willen führen und sie können durch internationale Abkommen zwischen ihnen in vollständiger Harmonie als Nachbarn leben.“20

Wenn man die Schärfe der Auseinandersetzung um die Pakistan-Forderung der Moslemliga zwischen 1940 und 1947 in Rechnung stellt, erhebt sich natürlich spontan die Frage, mit welchen Realien Jinnah diese Hoffnung verband. Tatsächlich entwickelten sich die pakistanisch-indischen Beziehungen – konträr zur Erwartung Jinnahs – vom ersten Tage an konfliktiv.

Das ist nicht primär den gravierenden Fehlern, der Kurzsichtigkeit und dem strategischen Versagen der Regierungen oder den Pogromen in den Monaten nach dem 15. August 1947 geschuldet, obwohl alle diese Momente eine erhebliche Rolle gespielt haben. Mohammed Ali Jinnah und nach ihm viele andere pakistanische Politiker erkannten nicht, dass der Kampf um einen eigenen Staat einen hohen Preis hatte:

  • Die gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung Britisch-Indiens von der Moslemliga politisch erzwungene Teilung musste einen strategischen Langzeitkonflikt zwischen den beiden Nachfolgestaaten nach sich ziehen, da die bisherigen innenpolitischen Hauptrivalen nunmehr in beiden Ländern an der Macht waren.
  • Das Pakistan-Konzept der Moslemliga hatte in Britisch-Indien über die unmittelbaren Konfliktparteien hinaus zu einer Polarisierung der Gesellschaft mit kontroversen und teilweise extrem überhöhten Selbst- und Feindbildern geführt, die nach 1947 nicht nur dramatisch verstärkt, sondern auch offiziell nationalistisch sanktioniert wurden.
  • Die von der Moslemliga zum ideologischen Fundament der Pakistanforderung erhobene Zweinationentheorie führte nicht nur zu einem tiefgreifenden Dissens in der antikolonialen Bewegung Indiens, sondern hatte prinzipielle Konsequenzen für die Perzeption von Nation in den Nachfolgestaaten.
  • Schließlich übersah die Führung der Moslemliga, dass die Bildung des Staates Pakistan im Kontext und auf der Grundlage dieser Widersprüche zu direkt kollidierenden Auffassungen von nationaler Sicherheit und damit zu einer konfrontativen Sicherheitspolitik Pakistans und Indiens führen musste.

Pakistan trat 1947 in die staatliche Selbständigkeit ohne ein konzises außenpolitisches Konzept, waren doch die All India Muslim League und Mohammad Ali Jinnah persönlich völlig durch den Kampf um die Erlangung der Staatlichkeit Pakistans absorbiert. In der außenpolitischen Konfusion 1947/48 war für nahezu das gesamte politische Spektrum Pakistans eines völlig klar: Angesichts der Schärfe der machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen der Moslemliga und dem Nationalkongress um die Schaffung Pakistans und der Weigerung des Kongresses bis zum Frühjahr 1947, Pakistan zu akzeptieren, stand der Hauptfeind in Indien, das bei der ersten günstigen Gelegenheit versuchen würde, die Teilung zu revidieren.

Diese Ausgangsposition hatte langfristig wirksame Konsequenzen:

  • Sie bestimmt bis heute das pakistanische Selbstbild und Feindbild.
  • Sie führte zu einer Sicherheitsperzeption, die ausschließlich auf eine Bedrohung von außen – und das hieß im Klartext immer Indien – ausgerichtet war. Kernstück dieser Sicherheitsperzeption war das Paritätsparadigma, das auch vor 1947 bereits zum Arsenal der Moslemliga gehörte. Politisch artikulierte sich dieser Anspruch seit dem ersten Tagen in der Forderung nach nicht nur gleicher, sondern auch gleichrangiger Behandlung mit Indien. Militärisch führte das Paritätsparadigma zur jahrzehntelangen forcierten Aufrüstung Pakistans mit allen hinreichend bekannten Folgen für die Wirtschaft, den Staatshaushalt und die politischen Verhältnisse des Landes.
  • Die eigentliche Abkunft der pakistanisch-indischen Konfrontation von der machtpolitischen Auseinandersetzung in Britisch-Indien führte zum eigentümlichen Konstrukt eines Konfliktes, der noch lange Jahre nach 1947 eine auf zwischenstaatlicher Ebene ausgetragene, aber faktisch innere Auseinandersetzung blieb. Daraus erklärt sich auch der überdurchschnittlich hohe Stellenwert der ideologischen Faktoren. Man kann feststellen, dass Pakistan und Indien sich jahrzehntelang, auch in den Perioden ohne bewaffnete Konflikte, in einem offenen ideologischen Krieg befanden.

Das heißt: Selbstbild und Feindbild Pakistans, seine Sicherheitsperzeption und Sicherheitspolitik sowie seine Machtprojektion waren immer eindeutig auf Indien oder präziser gesagt, gegen Indien ausgerichtet.

Gleichzeitig war sich das politische und militärische Establishment – trotz aller gegenteiligen offiziellen Beteuerungen – immer der außerordentlich ungünstigen strategischen Position Pakistans bewusst. Die Konsequenz war nicht nur die Anlehnung an die USA, die einen ersten Höhepunkt während des Frontstaaten-Status Pakistans im Afghanistan-Krieg der 80er Jahre erreichte, sondern auch das ständige Streben nach strategischer Tiefe. Dafür war man sogar bereit, einen Identitätswechsel anzubieten.

  • 1947-1971 legte Pakistan außerordentlichen Wert auf die Anerkennung als mit Indien gleichrangiger südasiatischer Staat.
  • Von 1971 bis hoch in die achtziger Jahre definierte sich das pakistanische Establishment immer stärker als Westasien zugehörig, da Pakistan ein islamischer Staat sei, und die Staaten Westasiens wurden aufgefordert, die islamischen Brüder gegen Indien zu unterstützen. Dieser Ruf verhallte nahezu ungehört, überdies waren weder Iran noch Saudi-Arabien an einem neuen Prätendenten für die regionale Vormacht in Westasien interessiert.
  • Mit dem Zerfall der UdSSR und der Konstituierung der unabhängigen Republiken in Zentralasien entdeckte Islamabad schließlich seine zentralasiatische Identität, da die Vorfahren von 60 Prozent der jetzigen Bevölkerung aus dieser Region stammten.

In diesen Wendungen manifestiert sich eine grundlegende Unsicherheit hinsichtlich des Verständnisses, was Pakistan eigentlich ist. Damit kann man weder nationale Kohäsion schaffen noch eine einigermaßen strukturierte Außenpolitik betreiben.

Das Scheitern der strategischen Offerten an das muslimische Umfeld und der folgenreiche Verlust des Frontstaaten-Bonus warf Pakistan wieder auf die sogenannte One Point Foreign Policy zurück, d.h. auf Indien. Diese Fixierung Pakistans auf Indien ist in hohem Maße konfliktgeladen. Das haben die zurückliegenden fünf Jahrzehnte hinlänglich bewiesen und das ergibt sich aus einem ganzen Bündel spezifischer Wirkungsfaktoren, von denen nachstehend nur einige stichwortartig genannt werden können:

  • Die eingeschränkte Wahrnehmung der Ursachen und der Ergebnisse der pakistanisch-indischen Konflikte von 1947/48, 1965 und 1971 und der damit verbundene Verlust realen Einschätzungsvermögens in den Entscheidungsgremien.
  • Die Zählebigkeit der Selbsttäuschung durch die These von der geringen Kampfmoral der indischen Armee, die auch mitverantwortlich für das Kargil-Desaster war.
  • Die gering ausgebildete Fähigkeit, die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Folgen eigener Entscheidungen hinreichend real zu kalkulieren (Kernwaffentests, Kargil-Operation). Seit Jahrzehnten galt in Pakistan beispielsweise eine Machtübernahme in Indien durch die Hindunationalisten als »worst case scenario« für Pakistan und dann leistete man Vajpayee mit der Kargil-Operation die beste nur denkbare Wahlhilfe.
  • Und schließlich ist auf die erneute Paritätsfalle nach den Kernwaffentests von 1998 zu verweisen.

Zusammengenommen bedeutet dies, dass das pakistanische Indienbild weitgehend auf den konfrontativen Prämissen von 1947 beruht, d.h. auf Annahmen, die sich in den letzten fünfzig Jahren weitgehend als gegenstandslos erwiesen haben.

Das pakistanisch-indische Konfliktverhältnis ist daher weder eine Verkettung unglücklicher Umstände noch ein historischer Betriebsunfall im Gefolge des Kashmir-Problems, sondern eine komplexe und angesichts der Ausgangslage und der Herrschaftsverhältnisse in beiden Staaten zum Zeitpunkt ihrer Konstituierung weitgehend unvermeidbare Interessenkollision.

Drei Kriege und ein Dauerkonflikt mit Indien, ein gestörtes Verhältnis mit dem moslemischen Nachbarn Afghanistan seit den späten vierziger Jahren (Problem der Durand-Linie, Pashtunistan-Frage), keineswegs brüderliche Beziehungen zu anderen Staaten mit islamischer Bevölkerung,21 und eine langjährige schmerzliche Isolierung Pakistans in der Dritten Welt infolge seiner engen militärisch-politischen Bindung an die Vereinigten Staaten – das sind die bitteren Realitäten.

1.2 Der pakistanisch-indische Konflikt als komplexe zwischen staatliche Interessenkollision

Der pakistanisch-indische Konflikt begann, wie bereits dargelegt, historisch in Britisch-Indien als Kampf um die politische Macht zwischen zwei Fraktionen der indischen Mittel- und Oberklassen mit unterschiedlichem soziokulturellen Hintergrund, der auch durch unterschiedliche konfessionelle Bindungen geprägt war, die ihre jeweilige politische Repräsentanz im Indian National Congress und der All India Muslim League fanden. Mit der Teilung Britisch-Indiens in die Dominien Indien und Pakistan am 15. August 194722 verschwand diese Rivalität keineswegs, sondern wurde nahtlos in der postkolonialen Konstellation weitergeführt und auf die Ebene der zwischenstaatlichen Beziehungen gehoben. Im Jahre 1947 und unmittelbar danach ging es zunächst um die Maximierung des jeweiligen territorialen, materiellen und finanziellen Anteils am britisch-indischen Erbe,23 während nach der Herausbildung eines gewissen status quo in den fünfziger Jahren der Konflikt als frontale bilaterale Konfrontation und regionalstrategische Auseinandersetzung fortgesetzt wurde.

Wesentliche individuelle Konfliktlagen in dieser Grundkonstellation waren:

  • Der Konflikt um den Verlauf der Grenze zwischen West- und Ostpunjab im Gefolge der Teilung der großen Provinz Punjab;
  • der Konflikt um die Verteilung des Indus-Wassers angesichts der Disparitäten hinsichtlich der Kontrolle über die entscheidenden Zuflüsse in der Himalaya-Karakorum-Region;
  • der Konflikt um das Fürstentum Jammu & Kashmir;
  • die Auseinandersetzung um die Aufteilung der Ressourcen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Kapazitäten und Finanzen Britisch-Indiens;
  • sowie die Ansprüche Pakistans auf indische Fürstenstaaten mit moslemischen Herrschern (z.B. Junagadh, Manowar, Hyderabad).

Der machtpolitische Aspekt der Konfliktkonstellation wird markant im pakistanischen Paritätssyndrom sichtbar, in dem der politische und konstitutionelle Paritätsanspruch der All India Muslim League vor der Teilung Britisch-Indiens auf nunmehr zwischenstaatlich-politischer, militärischer und international-rechtlicher Ebene weitergeführt wurde.

Es ist keineswegs überraschend, dass diese Konstellation Sicherheitsperzeptionen und Sicherheitspolitik zum Kern des pakistanisch-indischen Konflikts machte. Aus der Teilung Britisch-Indiens resultierende Wirkungsfaktoren dafür waren:

  • Die Teilung hinterließ auf dem Subkontinent ein markantes Ungleichgewicht der Streitkräfte – zahlenmäßig, hinsichtlich der Bewaffnung und Logistik sowie im Bereich der Möglichkeiten einer eigenen Rüstungsproduktion. Dieses Ungleichgewicht hat sich in den letzten mehr als fünfzig Jahren im Bereich der konventionellen Waffen nicht nur nicht verringert, es ist eher noch größer geworden. Selbst wenn wir pakistanische Angaben (aus der Zeit der Nukleartests von 1998), dass sich das konventionelle Kräfteverhältnis auf 5:1 beläuft, als weitgehend der Rechtfertigung der eigenen Nuklearisierung geschuldet betrachten, so steht doch eine eindeutige und massive konventionelle Überlegenheit Indiens außer Frage.
  • Beide Länder befanden sich nach der Teilung in einer grundsätzlich unterschiedlichen strategischen Situation. Von der territorialen Komposition und der strategischen Tiefe (nach damaligen militärischen Kriterien) her war Indien in einer weitaus günstigeren Lage. Es war aus seiner kompakten Landmasse heraus fähig, nach allen Richtungen zu agieren. Dagegen war Pakistan mit seiner Teilung in West- und Ostpakistan, die mehr als 1.500 km Luftlinie durch indisches Territorium getrennt waren, nur begrenzt fähig, seine Grenzen im Konfliktfall zu verteidigen. Selbst heute, nach der 1971 erfolgten Sezession Bangladeshs, könnte eine massiv aus den Ebenen der westlichen indischen Unionsstaaten vorgetragene Offensive gepanzerter Verbände in wenigen Tagen den Indus erreichen und damit für Pakistan elementare Verteidigungsprobleme schaffen.

Diese strategische Konstellation machte ein grundlegendes Sicherheitsarrangement zwischen beiden in die Selbständigkeit entlassenen Staaten auf der Basis einer verbindlichen Nichtangriffserklärung und der gegenseitigen Anerkennung und Respektierung der territorialen Integrität Indiens und Pakistans in ihren nachkolonialen Grenzen geradezu zu einer existentiellen Forderung. Die tatsächliche Entwicklung führte aber zum Gegenteil, sie brachte beide Länder aufs Schlachtfeld und produzierte spezifische Militärdoktrinen.

2. Die Stellung der Kashmir-Frage im pakistanisch-indischen Konflikt

Die seit Jahren andauernde Kashmir-Debatte ist gekennzeichnet durch ein verwirrendes Knäuel von widersprüchlichen Fakten, Halbwahrheiten, bewussten Auslassungen und schlichten Fälschungen, die in ihrer Gesamtheit den Kern eines offenen ideologischen Krieges zwischen Indien und Pakistan ausmachen und auf den eine – zurückhaltend formuliert – mäßig informierte Außenwelt entweder mit emotionaler Entrüstung (gravierende Verletzung der Menschenrechte) oder nach politischer Opportunität reagiert. Wenn man den Rauchvorhang wechselseitiger Unterstellungen und Vorwürfe, wohlfeiler Propagandathesen und unverhüllt chauvinistischer Perzeptionen durchstoßen will, um zum eigentlichen Gegenstand des Konflikts vorzudringen, muss man zunächst auf die oszillierende Verwendung der Begriffe Kashmir-Frage und Kashmir-Konflikt eingehen.

2.1 Der Inhalt der Kashmir-Frage

Als Inhalt der Kashmir-Frage werden hier die Voraussetzungen, Bedingungen und Formen einer verfassungs- und staatsrechtlichen, wirtschaftlichen und sozialpolitischen sowie kulturellen Gestaltung der Verhältnisse im ehemaligen Fürstenstaat Jammu & Kashmir definiert, die sich in Übereinstimmung mit dem legitimen Recht aller Kashmiris (nicht nur der Moslems) auf Selbstbestimmung, mit den historischen und kulturellen Traditionen der Bevölkerung und der hochkomplizierten und spezifischen ethnischen und religiösen Grundkonstellation befindet.

Der Staat Jammu & Kashmir umfasste 1947 vor Beginn des Konflikts insgesamt 222.236 qkm mit etwas mehr als 4 Mio. Einwohnern. Das eigentliche Kashmir – im wesentlichen das Kashmir-Tal, machte lediglich 10 Prozent der Gesamtfläche aus, Jammu etwa 15 Prozent, während drei Viertel des Territoriums auf die nördlichen Gebiete und Ladakh entfielen. Aber nicht weniger als 92 Prozent der Gesamtbevölkerung lebten in Kashmir und Jammu.24 Von diesem Gesamtterritorium befinden sich heute 78.932 qkm unter pakistanischer Verwaltung, 5.180 qkm wurden in einem völkerrechtlich irrelevanten Grenzvertrag, da es sich selbst nach pakistanischem Verständnis um ein »disputed area« handelt, von Pakistan an China abgetreten,25 37.555 qkm sind von China besetzt (Aksai-Chin), die restlichen derzeit 121.667 qkm konstituieren den indischen Unionsstaat Jammu & Kashmir, der sich aber als Rechtsnachfolger auf dem gesamten Territorium des ehemaligen Fürstenstaates betrachtet.26

Nach dem letzten im indischen Unionsstaat Jammu & Kashmir durchgeführten Zensus im Jahre 1981, (bei den nächsten indischen Volkszählungen von 1991 und 2001 konnte wegen des Aufstandes und des verhängten Ausnahmezustandes keine Datenerhebung durchgeführt werden), ergab sich in diesem Gebiet folgende Struktur. Im Kashmir-Tal lebten 52,35 Prozent der Bevölkerung (3.134.904), von denen 94,96 Prozent Moslems, 4,59 Prozent Hindus und 0,05 Prozent Andere waren. In Jammu lebten 45,39 Prozent der Gesamtbevölkerung (2.178.113), von denen 29,60 Prozent Moslems, 66,25 Prozent Hindus und 4,15 Prozent Andere waren. In Ladakh (ohne von China besetzte Gebiete) lebten auf dem größten Teilterritorium nur 2,26 Prozent der Bevölkerung (134.372), von denen 46,04 Prozent Moslems, 2,66 Prozent Hindus und 51,30 Prozent Andere (in der Regel Buddhisten) waren. Für den gesamten Unionsstaat (ohne besetzte Gebiete) ergab das 1981 eine Gesamtbevölkerung von 5.987.389 mit 64,19 Prozent Moslems, 32,24 Prozent Hindus und 3,57 Prozent Anderen.27 Hinzu kommt die unterschiedliche Bevölkerungsdynamik. Der Anteil der Moslems ging von 68,30 (1961) auf 64,19 Prozent zurück (1981), der Anteil der Hindus erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 28,45 auf 32,24 Prozent, die Sikh-Bevölkerung stieg von 1,77 auf 2,24 Prozent. Dagegen geht der Anteil der Buddhisten, der autochthonen Bewohner Ladakhs, seit 1961 geringfügig, aber stetig zurück und liegt heute wahrscheinlich unter ein Prozent der Gesamtbevölkerung des indischen Bundesstaates Jammu und Kashmir. Dieser Trend bedeutet, dass die Ladakhis in ihrem eigenen Land zur Minderheit geworden sind.28 Für 1991 schätzte die Zensus-Kommission die Gesamtbevölkerung auf 7,7 Mio.29 bei einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum der Bevölkerung des Unionsstaates von 2,9 Prozent dürfte die Zahl für 2001 bei etwa 10,6-10,8 Mio. liegen.

Diese wenigen Zahlen machen die Spezifik der Lage in Kashmir sowie die Schwierigkeiten deutlich, die einer Lösung der Kashmir-Frage im weiter oben definierten Sinne entgegenstehen.

Ob und in welchem Maße eine adäquate Lösung, d.h. eine Lösung unter Wahrung der legitimen Interessen und Rechte der kashmirischen Bevölkerung, im Rahmen des indischen Staatsverbandes möglich ist und durchgesetzt werden kann, hängt primär von der Perzeption der Kashmir-Frage durch die beteiligten Seiten ab. Grundsätzlich gilt zunächst einmal, dass eine Regelung nicht a priori mit Eigenstaatlichkeit oder mit dem Beitritt zu einem anderen Staat gleichgesetzt werden kann. Selbstbestimmung ist nicht identisch mit dem Anspruch auf Sezession, sondern auf das Recht und die Möglichkeit, auf der Grundlage der eigenen Werte, Normen und Traditionen selbstbestimmt zu leben. Die von Pakistan und den in seinem Orbit befindlichen militanten Gruppen im Kashmir-Tal vertretene Version von Selbstbestimmungsrecht ist substantiell ausschließlich auf eine als Anschluss an Pakistan verstandene Selbstbestimmung der kashmirischen Moslems orientiert. Es handelt sich dabei um die Forderung nach einem exklusiven Selbstbestimmungsrecht unter Nichtberücksichtigung der Rechte und Interessen großer nichtmoslemischer Bevölkerungsgruppen. Diese Segmente der Bevölkerung in Jammu (vornehmlich Hindus) und in Ladakh (sino-tibetische Gruppen mit buddhistischer Konfession) sind zwar im Maßstab des gesamten strittigen Territoriums Minderheiten, nicht aber in den von ihnen bewohnten Gebieten, wo sie zudem in der Regel zugleich die indigene Bevölkerung sind.

Gleichzeitig kann die formalistisch-legalistische Formel von Kashmir als »integraler Bestandteil Indiens« und die Behandlung Kashmirs als einer von vielen indischen Staaten mit ständiger massiver Einmischung der Zentralregierung trotz der Existenz des speziellen Artikels 370 der indischen Verfassung und die langjährige Negierung der legitimen Rechte der kashmirischen Bevölkerung nicht toleriert und akzeptiert werden. Die Kashmir-Frage würde in der Form des heutigen militanten Konflikts nicht existieren, wenn der in der indischen Verfassung festgeschriebene Föderalismus konsequent durchgesetzt worden wäre. Es war die Ignoranz und Indifferenz der herrschenden Eliten, die zunehmende Zentralisierungstendenz, die negativen Einwirkungen des innenpolitischen Machtkampfes in Indien auf die Kashmir-Politik und auf die Lage in Kashmir selbst sowie die einseitige und sachlich falsche Betrachtung des politischen und ethno-nationalen Dissens in Kashmir als bloßes »law and order«-Problem, die im Laufe der Jahrzehnte zur völligen Entfremdung der Kashmiris und zur späteren Insurrektion führte. Und die seit März 1998 regierende BJP ist wegen ihrer langjährigen Intransigenz nicht weniger verantwortlich für die Malaise in Kashmir wie die Schlampigkeit mehrerer Kongressregierungen. Aber pakistanische Selbstgerechtigkeit in dieser Frage wäre auch völlig unangebracht, haben doch alle pakistanischen Regierungen auf substantiellen Dissens größerer Bevölkerungsgruppen, z.B. in Balochistan und in Sindh, in gleicher Weise reagiert. Die Opfer des pakistanischen Militärs zählen gleichfalls nach Tausenden.30

Eine weitere spezifische Frage ist darin zu sehen, dass die pakistanische Forderung nach dem Recht auf nationale Selbstbestimmung für Kashmir ipso facto überhaupt nicht einen Anspruch Pakistans auf dieses Gebiet stützt. Wenn die Kashmiris ernsthaft als »national entity« gesehen werden, d.h. wenn es das »Kashmiriyat« definitiv gibt, dann muss ihnen grundsätzlich auch das Recht auf eine dritte Option, nämlich die Eigenstaatlichkeit, zugestanden werden. Die emphatische Ablehnung einer solchen Option durch Regierung und veröffentlichte Meinung in Pakistan lässt zumindest die Interpretation zu, dass es Islamabad weniger um die Selbstbestimmung der Kashmiris geht, als vielmehr um die Erweiterung des pakistanischen Staatsgebietes. In diesem Kontext macht auch die Forderung nach dem gesamten Territorium des ehemaligen Fürstenstaates, trotz der nichtmoslemischen Bevölkerungsmehrheiten in Jammu und Ladakh, erst Sinn.

Überschauend betrachtet zeigt sich, dass es zweifelsfrei eine sehr komplizierte und schwer zu lösende Kashmir-Frage gibt, dass ihre Regelung aber keineswegs naturnotwendig mit Militanz, Konflikt und Krieg verbunden sein muss und aus meiner Sicht eine Regelung durch Konflikt sogar auszuschließen ist und auch ausgeschlossen werden muss. Weder die islamistische Irredenta noch Pakistan können Indien mit den bisherigen Kampfmitteln aus Kashmir vertreiben. Eine Entscheidung der regierenden Eliten Pakistans für einen offenen Krieg mit Indien um Kashmir hätte jedoch verheerende Folgen auch für Pakistan selbst, ganz abgesehen davon, dass er Kashmir weitestgehend unbewohnbar machen würde, da die Zeiten der selektiven oder punktuellen Kriegsführung angesichts der heute zur Verfügung stehenden Waffensysteme vorbei sind. Das Desaster der pakistanischen Kargil-Operation von 1999 hat einen drastischen Anschauungsunterricht für die Aussichten und Folgen einer derartigen Option geboten. Wie die Erfahrungen zeigen, wird Indien auch keineswegs vor Druck kapitulieren, weil die Kashmir-Frage nun einmal für Pakistan zu einer Frage der Staatsräson gemacht wurde, und auch nicht vor internationalen Pressionen auf Kosten der indischen Staatsräson zurückweichen. So schwer es in der Praxis auch sein mag, es geht essentiell um die Regelung der Kashmir-Frage. Der gleichzeitig existierende Kashmir-Konflikt ist eine falsche, destruktive und, politisch betrachtet, faktisch degenerierte Form eines Regelungsversuchs. Deshalb sollte man die Begriffe Kashmir-Frage und Kashmir-Konflikt auch nicht synonym verwenden.

2.2 Konflikte in und um Kashmir als ein Komplex unterschiedlicher Konfliktlagen und als spezifische Interaktionskonstellation

Eine historisch-politische Analyse der Konfliktlage in und um den Staat Jammu und Kashmir zeigt, dass es »den« Kashmir-Konflikt, wie er ständig in den Medien und in der politischen Diskussion reflektiert wird, nicht gibt. Was vereinfachend als Kashmir-Konflikt bezeichnet wird, ist vielmehr ein sehr kompliziertes Geflecht von Interessenkollisionen und akuten Konfrontationen, sind mehrere Konfliktlagen mit unterschiedlicher Entstehungszeit, mit durchaus verschiedenen Inhalten, Stoßrichtungen und Austragungsformen.

Es muss unterstrichen werden, dass diese Komplexität der Kashmir-Problematik von den Konfliktseiten nur partiell wahrgenommen, ausgesprochen zögerlich resp. widerwillig reflektiert und von den Hardlinern auf allen Seiten schlicht ignoriert oder bewusst auf die eigene Lesart reduziert wird – das ist auf der pakistanischen Seite nationale Selbstbestimmung plus Menschenrechte und auf der indischen Seite die stereotype Formel vom bewaffneten Terrorismus plus verdeckter Intervention von außen.

Wir haben es in Kashmir erstens mit einem historischen Konflikt zu tun, der einen ständigen Dissens bedeutender ethnischer Gruppen mit der jeweiligen zentralen Macht reflektierte, vornehmlich in der Region Poonch, in Baltistan und Gilgit, und der sich periodisch in Aufständen, z.B. gegen die Dogra-Herrscher bis 1947, entlud. Eine solche Revolte im Sommer 1947 im Distrikt Poonch war die Initialzündung für die Ereignisse, die im Oktober des gleichen Jahres zur Konfrontation zwischen Pakistan und Indien in Kashmir führten. Er ist auch heute noch als historische Unterströmung zu aktuellen Prozessen zu beachten und würde beispielsweise bei einer »pakistanischen Lösung« der Kashmir-Frage sehr schnell wieder an die Oberfläche treten. Die seit Jahren schwelende Unzufriedenheit mit der Politik Islamabads in den Northern Territories, die 1947 selbst für Pakistan optierten, ist dafür ein Indikator.

Zweitens ist die sichtbare Hauptform des Kashmir-Konflikts und die Dimension, die auch seit langem von der Außenwelt wahrgenommen wird, der Territorialkonflikt zwischen Pakistan und Indien um Kashmir. Er brach im Ergebnis der umstrittenen Option des letzten Maharaja Hari Singh für den Anschluss an Indien (26. bzw. 27.10.1947) aus, wurde aber de facto bereits seit August 1947 von der pakistanischen Armee mit Hilfe beutelustiger pashtunischer Stammeskrieger geführt.31

Der Territorialkonflikt um Kashmir hat bisher zu zwei Kriegen geführt (1947/48 und 1965, 1971 war Kashmir nur ein Nebenkriegsschauplatz), in deren Ergebnis Kashmir faktisch entlang der seitdem bestehenden Line of Control geteilt wurde. Dieser Territorialkonflikt ist der materielle Kern der gesamten pakistanischen Kashmir-Strategie, die Akquisition Kashmirs ist das zentrale Ziel, alle anderen offiziellen Argumente fallen in die Rubrik Propaganda.

Beide Konfliktseiten, Indien und Pakistan, haben den Territorialkonflikt über die Jahrzehnte hinweg zu einer nationalen und politischen Existenzfrage aufstilisiert und damit praktisch jeden für eine politische Regulierung notwendigen Manövrierraum sowie die Fähigkeit zu einem akzeptablen Kompromiss verloren.

Drittens gibt es einen strategischen Konflikt um Kashmir im Rahmen der seit 1947 andauernden machtpolitischen Konfrontation zwischen Pakistan und Indien. Kashmir ist dabei nur einer der strategischen Widersprüche zwischen beiden Staaten, dieser Konflikt kann aber zweifelsfrei als Kern der bilateralen Konfliktkonstellation angesehen werden. Seine Dimension ist nicht in territorialen Kategorien erklärbar, es geht um die strategischen Gesamtinteressen beider Länder und im Falle Kashmirs konkret um die Kontrolle über einen bedeutenden Teil der Wasserressourcen Südasiens und um wichtige Zugänge nach Zentralasien. Diese Dimension des Kashmir-Konflikts wird von pakistanischer Seite nicht offiziell reflektiert, da sie mit der Attitüde des selbstlosen Kampfes für das Selbstbestimmungsrecht der Kashmiris kollidiert, während sie in Indien seit Jahren Bestandteil der öffentlichen Diskussion ist.

Es gibt viertens einen Konflikt in Kashmir zwischen Teilen der Bevölkerung und der indischen Zentralregierung, der als innerer Konflikt 1989/90 akute und militante Formen annahm, in eine bürgerkriegsähnliche bewaffnete Insurrektion mit massiver Unterstützung von außen überging und schließlich eine gleitende Umfunktionierung in einen offenen Sezessionskrieg unter der Losung der nationalen Selbstbestimmung (azadi) durchlief. Dieser Sezessionskrieg wurde zur historischen Chance für die pakistanische Kashmir-Politik, die nunmehr zum ersten Mal seit dreißig Jahren eine Möglichkeit sah, das eigene Hauptziel – die Gebietserweiterung Pakistans und die strategische Schwächung des Hauptkontrahenten – unter dem international wirksamen Banner des Rechts auf nationale Selbstbestimmung und der Verteidigung der Menschenrechte durchzusetzen.

Die Immobilität der indischen Innenpolitik, die arrogante Attitüde von Regierung und Parlamentsparteien, ihre Ignoranz gegenüber legitimen Forderungen der kashmirischen Bevölkerung, ihr »Fremde Hand«-Syndrom und die damit verbundene engstirnige »law and order«-Politik; sowie die Unfähigkeit der Zentralregierung, unangemessenes und brutales Vorgehen von paramilitärischen Verbänden und Truppen zu zügeln, Übergriffe und offene Menschenrechtsverletzungen wirksam zu ahnden, hat zu einem Autoritätsdesaster und zu einem eklatanten Legitimitätsverlust Indiens in Kashmir geführt.32 Sie hat zugleich den massiven Propagandakrieg Pakistans gegen Indien in erheblichem Maße erleichtert und ihn zunehmende internationale Resonanz finden lassen.Es gehört zu diesem Bild, dass das brutale und eindeutig terroristische Auftreten militanter Sezessionsgruppen und ihre nur notdürftig verhüllte direkte Unterstützung aus dem Ausland undifferenzierte Reaktionen auf der indischen Seite stark beeinflusst haben. In Kashmir agieren nicht nur unbewaffnete und bewaffnete Ethnonationalisten, nicht nur mit modernen Subversionsmitteln ausgerüstete fanatisierte Islamisten, sondern auch schlichte kriminelle Gangs, die sich wie zuvor in Afghanistan als Freiheitskämpfer bezeichnen und es ist eine bedauerliche Tatsache, dass die große Mehrheit der Bevölkerung, die diesen Konflikt und die Gewalt nicht will, sondern in Frieden leben möchte, keine politische Stimme hat und von einer lautstarken und militanten Minderheit an die Wand gedrückt wird. Trotz der von interessierter pakistanischer Seite seit 1996 geführten abwertenden Kampagne und eines bis ins Irrationale getriebenen Terrors der Militanten gegen die Wahlen, ist es dennoch ein Hoffnungszeichen, dass sich im Herbst des Jahres 2002 prozentual mehr Kashmiris an den Wahlen zum Staatenparlament beteiligten als pakistanische Wähler an den letzten wirklichen, nicht wie 2002 vom Militär manipulierten, Parlamentswahlen am 3. Februar 1997.33

Bei einem weiteren längeren Anhalten der bewaffneten Auseinandersetzungen in Kashmir erhebt sich die Frage, ob wir es fünftens nicht auch mit einer militärischen Intervention islamistisch-terroristischer Gruppen aus dem Ausland (Afghanen, Araber, Tschetschenen) zu tun haben, die derzeit das Rückgrat der Sezessionskräfte bilden und die für die aktuellen Formen des Konfliktaustrags (Massenmorde an Zivilisten) die Hauptverantwortung tragen.

Die vorstehend genannten unterschiedlichen Konfliktlagen sind die Ebenen, die im Zusammenhang mit dem Begriff Kashmir-Konflikt unbedingt zu berücksichtigen sind und die zugleich deutlich machen, dass die Bewertung dieser komplexen Konfliktlage ein differenziertes Herangehen und die exakte Benennung des jeweiligen Konfliktgegenstandes, also der tatsächlichen und durchaus unterschiedlichen Streitmasse, erfordert.

Die als Kashmir-Konflikt bezeichneten Erscheinungen sind darüber hinaus eine charakteristische und zugleich sehr spezifische Interaktionskonstellation, in der folgende zentrale Konfliktpotentiale wirken und miteinander reagieren:

  • Ein traditionelles ethnokulturelles Konfliktpotential, eng mit der historisch gewachsenen kashmirischen Identität (Kashmiryat) verbunden und auf verbindliche Anerkennung dieser Identität durch eine weitgehende Autonomie gerichtet.
  • Ein in den letzten Jahren entstandenes und zunehmend schärfer konturiertes ethnosoziales Konfliktpotential, stimuliert durch die auch Kashmir treffenden Entwicklungsdisparitäten in Indien und das Unvermögen des Staates, der jüngeren Generation in Kashmir die Chance einer eigenen sozialen Existenz zu geben. Eine stetig wachsende Zahl junger Kashmiris erhielt die Chance, Bildung bis hin zum Universitätsabschluss zu erwerben, fand aber nach Abschluss ihrer Ausbildung keine Beschäftigung. Faktisch bildete sich ein ethnisch definiertes bzw. ethnisiertes explosives soziales Krisen- und Konfliktpotential heraus. Zusammen mit den ständigen politischen Eingriffen bewirkte es die fortschreitende Entfremdung eines erheblichen Teils der kashmirischen Bevölkerung von Indien und hat wesentliche Voraussetzungen für die spätere Insurrektion geschaffen. Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass sich die Kader der militanten islamistischen Gruppen und Organisationen aus diesem zutiefst frustierten intellektuellen bzw. halbintellektuellen »Proletariat« rekrutierten und dass die heutige Dominanz der sogenannten Kalaschnikow-Kultur das Resultat einer nicht durchdachten Politik der indischen Zentralregierung ist.
  • Ein aus dem Zusammenwirken des ethnokulturellen und ethnosozialen Dissens entstandenes neues ethnonationales Konfliktpotential, d.h. aus einer traditionellen ethnisch-kulturellen Bewegung ist eine nationale Bewegung geworden, das Kashmiriyat wurde nunmehr als nationale Eigenständigkeit perzipiert und definiert, woraus sich unvermeidlich über den bisherigen Zielhorizont Autonomie hinaus die Forderung nach Sezession ergab. Diese Transformation ethnischer in nationale Bewegungen ist eine jener Erscheinungen, die wir als neue Konfliktphänomene in Asien bezeichnen. Der Umschlag einer traditionellen autonomistischen Bewegung in eine nationale Bewegung ist ein Resultat der Zugehörigkeit Kashmirs zum indischen Staatsverband und der in ihm wirkenden widersprüchlichen Einheit von Zentralisierung und Regionalisierung, aber nicht das Werk Pakistans. Denn eine wirkliche nationale Bewegung der Kashmiris ist auf Selbstbestimmung gerichtet und damit überhaupt nicht im Interesse Pakistans.
  • Die Herausbildung eines spezifischen sozialen Krisen- und Konfliktpotentials in Kashmir und der neue nationale Zielhorizont der ethnischen Bewegung schufen die Voraussetzungen für das Wirken weiterer neuer Konfliktphänomene: Die angesichts der historischen, traditionellen Toleranz der Kashmiris schockierende extreme Gewaltbereitschaft von Teilen der Bevölkerung, vor allem der jüngeren Generation, einschließlich der brutalen Anwendung physischer Gewalt auch gegen Mitglieder der eigenen Volksgruppe aus politischen und ideologischen Gründen;34 die hochgradige Ideologisierung aller Lebensäußerungen durch militante islamistische Gruppen und die sogenannte Allparteienkonferenz. Auch wenn es sehr unpopulär ist, muss festgestellt werden, dass diese Allparteien-Konferenz in keiner Weise eine legitimierte Repräsentanz der kashmirischen Bevölkerung ist. Sie ist nicht durch eine demokratische Willensäußerung zustande gekommen und vertritt nichts und niemand als sich selbst, ausgenommen vielleicht ihre Sponsoren jenseits der Grenze. Die Poussierung dieser selbsternannten Konstruktion nicht nur durch westliche Menschenrechts-Professionals, durch einige islamische Staaten und der Empfang ihrer Abgesandten selbst durch Mächte wie Großbritannien und die USA ist bei Lichte betrachtet, eine politische Groteske, völkerrechtlich irrelevant und dient keineswegs einer Konfliktregelung in Kashmir. Und an dieser Stelle kommt auch der äußere Faktor massiv ins Bild: Die direkte Einwirkung Pakistans, speziell des Geheimdienstes ISI und militanter islamischer Parteien, sowie die Benutzung Kashmirs als neuen Kriegsschauplatz für fanatische islamische Söldner aus Afghanistan, einigen arabischen Ländern und sogar aus dem Kaukasus, die absolut unzutreffend als Mujahieddin bezeichnet werden. D.h. die bewaffnete Insurrektion und ihre Islamisierung hat bereits zu einer partiellen Internationalisierung des Konflikts geführt.
  • Wie dargelegt, spielt im Kashmir-Konflikt ein klassisches traditionelles Konfliktpotential wie der Territorialkonflikt eine zentrale Rolle. Seinen eigentlichen Stellenwert hat er jedoch erlangt, weil er zugleich eine strategische Auseinandersetzung zwischen Pakistan und Indien ist und weil Pakistans Außenpolitik seit Jahren praktisch weitestgehend Kashmir-Politik ist, um die strategische Balance in Südasien – mit einer relativ eindeutigen hegemonialen Position Indiens – zu seinen Gunsten zu verändern.

Soweit zur Frage einer spezifischen Interaktionskonstellation am Beispiel des Kashmir-Konflikts, die nicht nur sehr deutlich das Zusammenwirken oder die Wechselwirkung, die wechselseitige Bedingtheit einer ganzen Reihe von Konfliktpotentialen zeigt, sondern auch die enge Verbindung innerer und äußerer Faktoren sichtbar macht.

3. Der nukleare Faktor im pakistanisch-indischen Konflikt

Für etwa sechs Wochen waren im Frühsommer 1998 die indischen und pakistanischen Kernwaffenversuche das beherrschende Medienthema, und man konnte den Eindruck gewinnen, dass in Südasien aus schierem Übermut die Welt an den Rand eines atomaren Krieges gebracht worden wäre. Der Verurteilungsdrang der etablierten Kernwaffenmächte und der Medien nimmt sich bei insgesamt 11 unterirdischen Versuchen Indiens und Pakistans auf eigenem Territorium doch etwas merkwürdig aus, wenn man die 2.046 Tests der »Großen« mit ihrer Verseuchung weiter und z.T. fremder Gebiete dagegen hält. Wo war das Entsetzen der anderen Großmächte bei der Serie französischer Kernwaffenversuche im Jahre 1995 auf dem Mururoa-Atoll? Und wo war der Moralismus Chinas und seine Sorge um den Weltfrieden, als es selbst am 16. Mai und 28. August 1995 sowie am 6. Juni und 29. Juli 1996 Atomwaffenversuche in seiner westlichsten Provinz durchführte?

3.1 Zur Einordnung der indischen und pakistanischen Kernwaffentests vom Mai 1998

Nun sind Kernwaffenversuche wahrlich nichts, was die Welt begrüßen oder auch nur tolerieren sollte, aber für eine realistische und ausgewogene Einschätzung der Kernwaffentests Indiens und Pakistans ist es notwendig, nach den Hintergründen, Triebkräften und konkreten Auslösern der Versuche zu fragen. Damit verbundene Fragen sind unter anderem:

  • Warum haben beide Staaten die nukleare Option gewählt?
  • Seit wann sind diese Staaten faktisch Atommächte?
  • Warum haben sie sich im Mai 1998 entschlossen, ihre Option offen zu legen?
  • Welche Resultate hat die Erklärung zur Kernwaffenmacht gebracht und was ist bei der Sanktionsfrage zu bedenken?

Die Wahl der nuklearen Option – Ursachen und Argumente

Zunächst ist angesichts der zahlreichen eilfertigen Einschätzungen und Verurteilungen festzuhalten, dass beide Länder ihr Nuklearprogramm nicht mit der Absicht begannen, Kernwaffen zu produzieren. Sie versuchten vielmehr, ihr enormes Energiedefizit mit Hilfe der Kernkraft zu schließen, die bis Tschernobyl weitgehend als die modernste und sauberste Art der Energieerzeugung betrachtet wurde. Es waren erst massive Bedrohungsperzeptionen und selbst prononcierte Bedrohungssyndrome in Indien und Pakistan, die den Auf- und Ausbau von Forschungsreaktoren immer weiter in die Nähe der Waffenoption drängten. Für Indien war der entscheidende Punkt die traumatische Nachwirkung des Himalaya-Krieges mit China (1962), die nur zwei Jahre später erlangte Kernwaffenfähigkeit Chinas und dessen in den sechziger Jahren anlaufende massive rüstungstechnische Unterstützung für Pakistan. Seit 1962 befanden sich die indisch-chinesischen Beziehungen am Rande des Krieges, waren sie hochgradig ideologisiert und in Wahrheit gab es bis zum Beginn der achtziger Jahre nichts, was man als bilaterale zwischenstaatliche Beziehungen bezeichnen könnte. Indien antwortete auf die Ereignisse nach 1962 mit einer vollständigen Reorganisierung seiner Streitkräfte und einem umfassenden Auf- und Umrüstungsprogramm. Chinas Verfügung über Kernwaffen und Trägermittel löste in Indien die systematische Vorbereitung eines eigenen Nuklearprogramms zur Erlangung eines entsprechenden Abschreckungspotentials aus, die in der Folgezeit auch zur Eigenproduktion eines breiten Fächers von Trägersystemen führte.35 Der Erfolg des Nuklearprogramms wurde 1974 mit dem ersten unterirdischen indischen Test in Pokhran (Rajasthan) sichtbar, dessen Hauptziel die Demonstration der indischen nuklearen Kapazität gegenüber den Großmächten und im besonderen in Richtung China war.

Dieser erste indische Nukleartest löste umgehend ein pakistanisches Gegenprogramm aus. Pakistan hatte seit dem Krieg von 1971 keine Chance mehr, in einem künftigen konventionellen Waffengang gegen Indien zu bestehen, selbst pakistanische Militärexperten räumten die Überlegenheit Indiens in allen Teilstreitkräften ein. Nicht nur Militärs, sondern auch Wissenschaftler erklärten seit der Mitte der siebziger Jahre immer wieder, dass Pakistan einen konventionellen Rüstungswettlauf mit Indien nicht bestehen könne, weil er zum wirtschaftlichen Kollaps des Landes führe und dass nur eine nukleare Option die Existenz Pakistans dauerhaft nach außen sichern könne.36 Diese Argumentationslinie war übrigens auch in Indien gegen China angesichts der anhaltenden konventionellen Übermacht Chinas durchaus verbreitet, wenn auch lange Zeit von den jeweiligen Regierungen nicht offiziell akzeptiert.

Die Erlangung der Kernwaffenfähigkeit

Wenn wir die Entwicklungen seit 1974 berücksichtigen, dann war es also keineswegs neu, überraschend oder bestürzend, dass beide Länder ziemlich frühzeitig die Kernwaffenfähigkeit erlangten, wie übrigens Israel auch. Beide Länder wurden jahrzehntelang von internationalen Institutionen, den Geheimdiensten der Großmächte, aber auch von zivilen Experten beobachtet, sie waren seit vielen Jahren als atomare Schwellenmächte klassifiziert und ihre Produktion spaltbaren, waffenfähigen Materials konnte ziemlich exakt hochgerechnet werden. Seit der indischen Explosion von 1974 wussten die Eingeweihten, dass Indien nicht nur über eine größere und angesichts der umfänglichen Erzeugung von Nuklearstrom ständig wachsende Menge von waffenfähigem Plutonium verfügte, sondern auch in der Lage war, die entsprechenden Sprengköpfe zu bauen. Pakistans Führer haben ihrerseits seit dem Ende achtziger Jahre immer wieder öffentlich erklärt, dass sie im Besitz der Bombe sind. Beide Staaten haben sich mit Hinweis auf den diskriminierenden Charakter des Kernwaffensperrvertrages (NPT), der das Kernwaffenmonopol der Etablierten festschreibt, und wegen der arroganten Verweigerung wirklicher nuklearer Abrüstung durch die Großmächte in den letzten drei Jahrzehnten strikt geweigert, diesem Vertrag beizutreten und haben auch seine unbegrenzte Verlängerung (1996) und den anschließenden Teststopvertrag (CTBT) nicht unterschrieben. Daher konnten weder die Geheimdienste noch die militärischen und politischen Führungen der Kernwaffenmächte den geringsten Zweifel haben, dass Indien und Pakistan seit den achtziger Jahren kernwaffenfähig waren. Thomas W. Graham prognostizierte bereits vor 1990, dass Indien und Pakistan spätestens im Jahre 2000 mittlere Kernwaffenmächte sein werden.37 Die unmittelbar nach der Bekanntgabe der pakistanischen Tests vom indischen Präsidenten K.R. Narayanan bei seinem Staatsbesuch in Nepal getroffene Feststellung kann eigentlich nur unterstrichen werden: „All die gutunterrichteten Agenturen in der Welt, einschließlich der amerikanischen Geheimdienste, hatten gesagt, dass Pakistan nur eine Schraubenzieher-Drehung von der Durchführung nuklearer Tests entfernt sei.“38 Die öffentliche »Fassungslosigkeit« Präsident Clintons und des deutschen Außenministers Klaus Kinkel im Mai 1998 war daher in hohem Maße erstaunlich und merkwürdig.

Die Tests vom Mai 1998 – zur Frage des Zeitpunktes

Dass Indien und Pakistan im Mai 1998 Kernsprengsätze zündeten und sich offiziell selbst zu Nuklearmächten erklärten, war weder ein Zufall noch ein Mysterium. Indien hätte sich bereits 1974 zur Kernwaffenmacht erklären können, aber Indira Gandhi ging aus außenpolitischen Gründen diesen Schritt nicht, ihr war das Risiko der möglichen internationalen Sanktionen zu hoch. Auch die vorbereiteten Tests von 1990 und 1995 wurden aus den gleichen Gründen abgebrochen. Aber Indien hat in den zurückliegenden 25 Jahren bei aller Zurückhaltung, diesen Schritt zu gehen, niemals auf die nukleare Option verzichtet und das schloss trotz aller gegenteiligen Erklärungen auch die Weiterentwicklung der militärischen Komponente ohne Tests ein. Die im März 1998 an die Macht gekommene hinduchauvinistische BJP hat andererseits immer offen die Bombe gefordert39 und es war absolut klar, dass sie, einmal an den Schalthebeln der Macht, sofort nach der nuklearen Option greifen würde. Andererseits, und Atal Behari Vajpayee wies in seiner Regierungserklärung vom 27. Mai 1998 vor dem Parlament selbst darauf hin40 , war er nur der Exekutor einer Entscheidung, die bereits Jahre zuvor gefallen, aber noch nicht vollzogen worden war.

Vajpayees Zündungsorder vom 11. Mai hatte drei außenpolitische Hauptziele:

  • Den Anspruch Indiens, als Großmacht respektiert und behandelt zu werden. Entsprechend der Denkmuster der Hinduchauvinisten glaubte man diese seit Jahren auf der politischen Ebene erhobene Forderung am wirkungsvollsten durch eine militärische Machtdemonstration untersetzen zu können.41 Der Präsident der Vishwa Hindu Parishad (VHP), Ashol Singhal, reklamierte, dass die Tests Indien als eine globale Macht etabliert hätten.
  • Eine machtpolitische Geste gegenüber dem nuklear nach wie vor überlegenen China, das zweifellos eine deutliche Aktie am pakistanischen Kernwaffen- und Raketenprogramm hat, was allerdings den antichinesischen Irrationalismus einiger Kräfte in Vajpayees Regenbogen-Koalition keineswegs rechtfertigte.
  • Eine gezielte Warnung an Pakistan, das den ersten Testflug seiner mit ostasiatischer Hilfe gebauten Mittelstreckenrakete »Ghauri« (6.4.1998) mit nassforschen Erklärungen begleitet hatte, dass man nun alle wichtigen indischen Städte mit der Bombe erreichen könnte.

Das heißt, die indischen Tests zielten weder primär auf Pakistan noch auf China ab, sondern hatten eine weit darüber hinausgehende Bedeutung, auch wenn sie vordergründig mit feindseligen Aktivitäten dieser beiden Staaten gerechtfertigt wurden. Die Behauptung Präsident Narayanans, „die Versuche (Pakistans – D.W.) haben deutlich gezeigt, dass es die Vorbereitung dafür begann, lange bevor Indien seine Tests durchführte,42 ist von geradezu rührender Naivität, denn diese Logik schließt ja ein, dass die indischen Testvorbereitungen noch früher angeordnet wurden. Der RSS-Generalsekretär Sudarshan war in seiner Bombeneuphorie unvorsichtig genug, stolz zu erklären, dass „die BJP einen Test in ihrer dreizehntägigen Amtszeit von 1996 plante, obwohl sie offenkundig die Vertrauensabstimmung verlieren würde.“43

Ebenso klar ist, dass die Kernwaffentests auch eine wichtige innenpolitische Funktion hatten. Die von der BJP geführte Koalition hatte in nahezu keiner nationalen Grundfrage eine einheitliche Position, in nicht wenigen wirtschafts-, sozial- und innenpolitischen Fragen existierte ein offener Dissens. Konsens bestand faktisch nur im Übergang zu einer stärker machtpolitisch orientierten Außenpolitik und in der Nuklearoption. Die Explosionen gaben der Regierung zumindest zeitweilig Profil und neues Selbstbewusstsein. Eine für sie höchst erwünschte Nebenwirkung war der nationalistische Taumel der Mittelschichten, unter den Studenten und in den Strukturen des politischen Hinduismus. Die Kritiker der Testentscheidung hatten in der nationalistischen Flutwelle keine Chance, Gehör zu finden.44 Auch in den Streitkräften und der Bürokratie konnte die BJP einen deutlichen Bodengewinn erzielen. Das bedeutet, dass mögliche innenpolitische Wirkungen der Bombe mittelfristig gefährlicher sein können als die Existenz der Bombe selbst, zumal Indien sie militärisch gegen Pakistan nicht benötigt. Und genau hier haben wir die wirklichen innenpolitischen Zielsetzungen der Nuklearpolitik Vajpayees und der hinter ihm stehenden Kreise zu suchen. Natürlich gab es im Mai 1998 und danach deutliche tagespolitische Motive und das Bestreben, die innenpolitische Position der BJP zu stärken. Aber tatsächlich geht es für die Hinduchauvinisten um eine solche Konsolidierung ihrer Machtposition, die es ihnen gestattet, die säkularistischen Prinzipien und Strukturen des politischen Systems Indiens zu eliminieren und das Land bereits im ersten Anlauf so weit wie nur möglich in die Richtung ihres Hindutva-Modells zu drängen.45 Das indische politische Magazin »Frontline« machte unmittelbar nach den Tests auf die Instrumentalisierung der Kernwaffen als Ausdruck von Hindutva und ihre pseudoreligiöse Stilisierung als »Agni ban« aufmerksam.46 Pokhran II, das unter dem Code-Namen »Shakti 98« lief, wurde nicht zufällig mit dem religiösen Feiertag »Buddha Jayanti« verbunden, schon Indira Gandhi hatte am 18. Mai 1974 Pokhran I unter Bezeichnung »Buddha is smiling« am Feiertag »Buddha Purnima« durchgeführt.47 Der religiösen Manipulation setzte die VHP die Krone auf, als sie forderte, auf dem Testgelände einen »Shakti Peeth«, einen Tempel zu Ehren Shivas und Durgas, zu errichten.48 Davor schreckte aber selbst Vajpayee zurück. Dieser Zusammenhang zwischen dem Nuklear-Nationalismus der Parivar-Gruppe und ihrem fundamentalistischen Gesellschaftsmodell ist in der bisherigen Diskussion entschieden zu wenig berücksichtigt worden.

Pakistan hat sich in den 50 Jahren seines Bestehens ein gelegentlich pathologisch anmutendes antiindisches Bedrohungssyndrom aufgebaut und glaubt sich täglich einem indischen Angriff auf seine schiere Existenz ausgesetzt, obwohl es aktenkundig ist, dass Pakistan zwei der drei Kriege selbst ausgelöst hat (Kashmir-Krieg 1947/48 und Operation Gibraltar 1965). Die Eliten des Landes sind so in ihren eigenen Vorstellungen gefangen, dass sie sogar die einfache Tatsache verdrängen, dass Indien nicht das mindeste Interesse daran haben kann, 140 Millionen pakistanische Muslime in die fragile Konstruktion des multiethnischen und polyreligiösen indischen Staates eingliedern zu wollen. Und wenn Indien Pakistan beseitigen wollte, hätte es nicht damit gewartet, bis Pakistan über die Atombombe verfügt. Aber dieses Bedrohungssyndrom ist eine zentrale politische Realität in Pakistan, und es war völlig klar, dass jede andere Reaktion als die Zündung eigener Kernsprengsätze für das Selbstverständnis Pakistans eine Katastrophe gewesen wäre. Klassische Beispiele für diese Denkweise kann man in den Ausgaben des Defence Journal (Karachi) nach den Tests finden.49 Auch der ehemalige Chef des Militärgeheimdienstes Inter-Services Intelligence (ISI), Generalleutnant Hameed Gul, der ohne Übertreibung zum islamistischen Flügel im höheren pakistanischen Offzierskorps gerechnet werden kann, forderte schon am 12. Mai 1998 eine „gleichwertige und machtvolle“ Demonstration der Kernwaffenfähigkeit Pakistans. Selbst die zweimalige Ministerpräsidentin Benazir Bhutto durfte in diesem Chorus nicht fehlen und verlangte von Nawaz Sharif Tests in spätestens einem Monat. Eine andere Strömung war durchaus bereit, für den Augenblick auf eigene Versuche zu verzichten, wenn die Gegenleistung der USA groß genug wäre.50 Wie in Indien, hatten auch in Pakistan gemäßigte Kräfte und Vertreter einer ausgewogeneren Sicht keine Chance.51 Auch darum musste Präsident Clintons Versuch, die zu erwartende pakistanische Reaktion in letzter Minute zu verhindern, trotz aller großzügigen Offerten (Sicherheitsgarantien, Wirtschafts- und Rüstungshilfe) scheitern. Im letzten von fünf dringlichen Telefongesprächen, die Clinton mit dem pakistanischen Premier Nawaz Sharif führte, erklärte dieser, dass er in zwei Tagen nicht mehr Ministerpräsident sei, wenn er nicht den Befehl zur Zündung gebe.52 . Eine Äußerung, die im Lichte des Militärputsches vom Oktober 1999 durchaus plausibel erscheint. Die pakistanischen Tests waren somit eindeutig eine Antwort auf die indischen Versuche und international der atomar gestützte Anspruch auf eine künftige Gleichbehandlung mit Indien. Aber die pakistanische Argumentationslinie, dass man nach der Erklärung Indiens zum Kernwaffenstaat nicht anders handeln konnte und dass Pakistan ausschließlich aus Sicherheitsgründen testete, kann nicht unbesehen akzeptiert werden. Wir müssen die eigenen machtpolitischen Aspirationen des pakistanischen Establishments und den hochgradig wirksamen ideologischen Faktor in eine Bewertung mit einbeziehen.Nur beiläufig soll erwähnt werden, dass einflussreiche Kreise Pakistans die Bombe auch als eine islamische betrachten, selbst wenn Mushahid Hussain und andere Offizielle dies wortreich dementieren,53 für Zulfikar Ali Bhutto war schon 1974 eine pakistanische Atombombe eine Bombe für die islamische Zivilisation.54 Das innenpolitische Kalkül war in Pakistan noch pointierter als in Indien. Die Regierung Nawaz Sharif hatte trotz einer Zweidrittelmehrheit im Parlament und der direkten Kontrolle aller entscheidenden staatlichen Funktionen in 15 Monaten weder die langjährige Staatskrise beenden noch eine Wende in der desolaten wirtschaftlichen und sozialen Situation herbeiführen können. Die indischen Kernwaffentests waren für sie ein Geschenk des Himmels, denn der allgemeine Bombentaumel, den die Medien mit allen Mitteln herbeigeführt hatten55 , drängte die tatsächlichen Probleme Pakistans zunächst weit in den Hintergrund und Nawaz Sharif war endlich, wenigstens für kurze Zeit, der »Premier der Nation«.Die innenpolitischen Reaktionen in beiden Ländern machen aber zugleich nachdrücklich auf die hochgradige Emotionalität und partielle Irrationalität der öffentlichen Meinung in der Nuklearfrage aufmerksam. In Indien traf die BJP unbedrängt, aber mit einer klaren innenpolitischen Zielsetzung, ihre Entscheidung, von Druck kann bis zum 11. Mai 1998 nicht gesprochen werden. Daher kam das überwältigende positive Echo auch für sie selbst unerwartet. In Pakistan war die Regierung infolge der voraufgegangenen indischen Tests tatsächlich einem derartigen innenpolitischen Druck ausgesetzt, dass sie faktisch nicht mehr Herr ihrer Entscheidungen war. Die mentale Überforderung Pakistans selbst noch im Juni 1998 konnte keinen deutlicheren Ausdruck finden als in der Tatsache, dass eine solche Tatarenmeldung wie die angebliche Landung israelischer Kampfflugzeuge in Srinagar, um die pakistanischen Kernwaffenzentren anzugreifen, zu Panikreaktionen in Parlament und Regierung führte.56 Aber in beiden Ländern schlug die Stimmung bereits nach sehr kurzer Zeit wieder um. In Indien, weil die erfolgreichen pakistanischen Tests die nationalistische Hochstimmung merklich dämpften, und zunehmend auch wegen der inkompetenten Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Vajpayee; und in Pakistan, weil die Panikreaktionen der Regierung (Verhängung des Ausnahmezustandes, wirtschaftliche Restriktionen, Sperrung der Valutakonten aller Bürger) die Jubilierenden jäh ernüchterte, sowie weil deutlich wurde, dass mit dem nuklearen »coming out« nicht eines der gravierenden Probleme des Landes gelöst worden war.

Damit stellt sich natürlich grundsätzlich die Frage nach der Bewertung der Wahl des Zeitpunktes für die Nukleartests durch die Führungen Indiens und Pakistans.

Die Kernwaffentests – Erwartungen, Realitäten und die Sanktionsproblematik

Es dürfte Konsens darüber bestehen, dass man diese Tests nicht einfach hinnehmen und zur Geschäftsordnung übergehen konnte. Auch wenn beide Staaten nicht Signatare der betreffenden internationalen Verträge sind und daher deren Bestimmungen nicht gebrochen haben, war ihr Vorgehen eine Gefährdung der internationalen Sicherheit, wirft den ohnehin schwierigen Prozess der nuklearen Abrüstung weit zurück, und macht die Sicherheitslage in Südasien noch instabiler.57 Hinzu kommt die Unbedenklichkeit, wenn nicht sogar Leichtfertigkeit des Handelns der indischen und pakistanischen Entscheidungsträger. Wenn man den Prozess verfolgt, kommt man unweigerlich zu der Schlussfolgerung, dass beide Seiten nach der Devise vorgingen: »Erst zünden, dann nachdenken«. Keine Seite hat die mit den Tests verbundenen Risiken und Konsequenzen vorher ernsthaft kalkuliert, wie auch die mit ihnen verbundenen hochfliegenden Hoffnungen haben sich nicht erfüllt.

  • Beide Seiten haben ihre internationale Position mit den Tests nicht verbessert, sie sahen sich im Gegenteil schlagartig international in empfindlichem Maße isoliert. Beide Staaten sehen sich damit konfrontiert, dass sie bis jetzt nicht als Kernwaffenstaaten anerkannt werden, also trotz des Besitzes von Kernwaffen Staaten zweiter Ordnung bleiben. Indien hat seinem Anspruch, als Großmacht behandelt zu werden, einen denkbar schlechten Dienst erwiesen, die Aussicht auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat scheint für lange Zeit verspielt worden zu sein. Die Regierung Vajpayee hat darüber hinaus die sich seit 1988 hoffnungsvoll entwickelnden Beziehungen zu China zumindest auf Sicht ruiniert. Der Nationalkongress warf der Regierung vor, leichtfertig die über Jahrzehnte hinweg mit großen Anstrengungen verbesserten Beziehungen zerstört zu haben. Natwar Singh erklärte: „Sie haben die Sicherheitsbedrohung durch China erfunden, und unser Sicherheitsumfeld hat sich dadurch verschlechtert.“58 Pakistan hat sich der historisch einmaligen Chance begeben, durch einen Verzicht auf Tests für wirksame internationale Sicherheitsgarantien seinen eigenen Status in der Region signifikant zu erhöhen und ein neues Image zu gewinnen. Die Tests haben im Gegenteil eine weitere Belastung der Beziehungen zu einigen Nachbarstaaten (Iran, zentralasiatische Republiken) nach sich gezogen. Das pakistanische Establishment war außerordentlich enttäuscht, dass, mit Ausnahme Irans, keine freudige Zustimmung zu den Tests aus der islamischen Welt erfolgte, und dass einige arabische Staaten diese sogar verurteilten. Die Islamisten verlangten von den islamischen Ländern mit kritischer Attitüde, Haltung zu beweisen und Agha Hamid Ali Shah Mausavi, der Chef der Tehrik Nifaz Fiqh-i-Jafriya (TNFJ), forderte sie auf, einen Boykott „aller zionistischen und indischen Waren“ auszurufen.59
  • Die Tests haben die tatsächlichen strategischen Kräfteverhältnisse zwischen Indien und China sowie zwischen Pakistan und Indien nicht qualitativ verändert. In einem Konfliktfall kann Indien nach wie vor die Kerngebiete Chinas nicht erreichen, während das gesamte Territorium Indiens seit vielen Jahren im Einzugsbereich chinesischer Nuklearwaffen liegt. Die antichinesischen Drohgebärden des Verteidigungsministers George Fernandes waren daher nicht nur politisch unverantwortlich, sondern zeugen auch von völliger militärischer Inkompetenz. Pakistan ist seinerseits immer noch weit von tatsächlicher Parität mit Indien entfernt. Ohne dass auf diese Frage hier im Detail eingegangen werden kann, bleibt festzustellen, dass einige gezündete Kernsprengsätze noch keine strategische Parität schaffen. Dazu gehört dann doch einiges mehr, denn alle anderen Parameter für die Überlegenheit Indiens bleiben bestehen. Indien wiederum hat sich durch die Tests sogar ohne Not bisheriger strategischer Vorteile gegenüber Pakistan begeben und selbst die Kashmir-Frage kompliziert, indem die BJP-Regierung mit der faktischen Kriegshetze des Innenministers L.K. Advani, er drohte faktisch mit der Atombombe, wenn Pakistan im Kashmir-Konflikt kein Wohlverhalten zeige, es Pakistan erlaubte, dieses Problem propagandistisch mit der Nuklearfrage zu verbinden.60
  • Keine Seite hat die realen Kosten der offenen Kernwaffenoption kalkuliert, nicht die inneren Konsequenzen für Wirtschaft und Finanzen, und auch nicht die externen Folgen, d.h. für Außenwirtschaft und die Akquirierung von Kapital.61 Die regierenden Elitenfraktionen in Indien und Pakistan haben ihre Länder und Völker entweder sehenden Auges oder blind in eine überaus unglückliche Lage gebracht.62

Insgesamt gesehen, bedeuten die vorstehend genannten Momente, dass die Nukleartests beider Staaten trotz aller hochtönenden Erklärungen weder die erwarteten Ergebnisse gebracht haben noch angesichts der »Nebenwirkungen« überhaupt als Erfolg zu bewerten sind.

Doch dieses festzustellen, schließt die Frage nicht aus, wer das Recht auf moralische Entrüstung und Sanktionen hat. Aus meiner Sicht ist die moralische Position der Großmächte sehr zweifelhaft – auf die Fragwürdigkeit chinesischer und französischer Positionen wurde bereits verwiesen und der Sicherheitsrat ist immer noch mehr oder weniger ein „Joystick“ der ständigen Mitglieder. Wo ist also die vielzitierte Weltgemeinschaft, und existiert sie überhaupt? Sanktionen sind überdies ein sehr zweischneidiges Schwert. Sie drohen hr Ziel völlig zu verfehlen und die Situation noch zusätzlich zu verschärfen, wenn sie zur Destabilisierung der betreffenden Staaten führen.63 Das heißt, sie müssen einerseits fühlbar und andererseits angemessen sein. Zweitens wird ein gefährliches Signal gesetzt, wenn man für das gleiche »Vergehen« unterschiedliche Sanktionen verhängt. In den Außenämtern einiger großer Akteure gab es Überlegungen, Pakistan nur abgestuft zu bestrafen, und die offizielle Politik der USA folgte diesem Modell zumindest zeitweise, um, wie erklärt, den wirtschaftlichen Zusammenbruch und damit die völlige Destabilisierung Pakistans zu verhindern. Die realpolitische Irrelevanz dieser Frage in der Haltung der USA zu Pakistan nach dem Beginn des Afghanistan-Krieges zeigt die Priorität tagespolitischer Opportunität in der Nichtweiterverbreitungspolitik der Vereinigten Staaten. Vor einer derartigen Strategie kann nur gewarnt werden. Sie droht die Situation in Südasien auf Jahrzehnte hinaus irreparabel zu vergiften und einen Konflikt eher noch wahrscheinlicher zu machen.

Es muss noch einmal betont werden, dass Indien und Pakistan keinen Vertrag bzw. kein Abkommen verletzt haben, dessen Signatarstaaten sie sind, und dass überdies die geltenden Verträge nicht einmal Sanktionen vorsehen. Es ist daher auch höchst bezeichnend, dass die verhängten Sanktionen einseitige – nicht durch internationales Recht gedeckte oder geforderte – Maßnahmen der USA sind, denen sich einige Gesinnungsfreunde Washingtons anschlossen.

Genau betrachtet, ist der Sanktionseifer vor allem der USA und Großbritanniens nicht auf die Tests an sich zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass mit ihnen das von den Großmächten ausgeklügelte und die anderen Staaten diskriminierende Non-Proliferationssystem faktisch zusammengebrochen ist und ihr Kernwaffenmonopol nicht mehr besteht. Auch deshalb ist die Sanktionsfrage mit Zurückhaltung zu betrachten. Viel wichtiger wäre, beide Länder völkerrechtlich verbindlich darauf zu verpflichten:

  • keine Tests mehr durchzuführen,
  • auf eine Truppeneinführung der Kernwaffen über ein strikt begrenztes Abschreckungspotential hinaus – das alle offiziellen Kernwaffenmächte für sich auch in Anspruch nehmen – zu verzichten,
  • den internationalen Verträgen beizutreten und die übliche internationale Kontrolle ihres Nuklearprogramms zu akzeptieren.

Denn eines ist klar: Der status quo ante, also die Lage vor dem 11.Mai 1998, kann nicht wieder hergestellt werden.64

  • Beide Länder haben sich nach Mehrfachtests offiziell zu Kernwaffenmächten erklärt, ohne dass die Großmächte dies verhindern konnten oder rückgängig machen können. Und die Zeichen mehren sich, dass sie gezwungen sind, diese Tatsache hinzunehmen, auch wenn sie sie nicht offiziell anerkennen. Inoffiziell war an der Jahreswende 1999/2000 bereits davon die Rede, dass die USA als ersten Schritt Indien als Kernwaffenmacht »tolerieren« wollen, also eine Art Wahrung des machtpolitischen Gesichts angesichts eines irreversiblen Sachverhalts.
  • Beiden Ländern sind Sanktionen auferlegt worden, die zwar fühlbar sind, aber keineswegs existenzbedrohend, und die zwischenzeitlich bereits teilweise wieder aufgehoben wurden. Andere Länder, die technisch bereits heute oder in absehbarer Zeit in der Lage wären, eine Kernladung zu zünden, wird das veranlassen, nüchtern die möglichen Folgen eines solchen Schrittes zu kalkulieren und daraus entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen.
  • Seit dem Mai 1998 existiert das über Jahrzehnte hinweg aufgebaute und von den USA mit höchster außenpolitischer Priorität behandelte Non-Proliferationssystem de facto nicht mehr; die mit nicht geringem Druck der Großmächte durchgesetzte unbefristete Verlängerung des Kernwaffensperrvertrages und der noch nicht in Kraft getretene Teststopvertrag sind weitgehend Makulatur, solange Indien und Pakistan nicht beitreten. Das alte System kann auch nicht mit Gewalt wiederhergestellt werden. Damit steht die Schaffung eines gleichermaßen nichtdiskriminierenden und nichtprivilegierenden Systems der Kontrolle und der schrittweise Eliminierung der Kernwaffen sowie aller anderen Massenvernichtungswaffen auf der Tagesordnung.65

Und vor beiden Staaten steht die schwerwiegende Entscheidung, ob sie die beiden Verträge unterzeichnen, auch wenn die diskriminierenden Klauseln des NPT von 1968 nicht geändert werden, oder nicht. Wenn sie die unveränderten Texte unterzeichnen, muss man sich die Frage stellen: Warum dann der Theaterdonner vom Mai 1998? Andererseits muss man ganz nüchtern feststellen, dass nach den indischen und pakistanischen Kernwaffentests von 1998 die Ablehnung des Teststop-Vertrages durch den USA-Senat im Herbst 1999 – mit einer für die übrige Welt kaum nachvollziehbaren Argumentation – das gesamte System erneut ausgehebelt hat und Indien und Pakistan in die Lage versetzte, allen weiteren Beitrittsaufforderungen sehr gelassen entgegenzusehen.

3.2 Die Nuklearisierung und die südasiatische Konfliktkonstellation

Die Rolle der inneren Faktoren und darüber hinaus der inneren Zwänge bei der Entscheidung über die Nukleartests wirft aber auch eine grundsätzliche Frage für die Forschung auf – nämlich die nach dem Stellenwert und der Bedeutung des in Südasien besonders markanten Geflechts zwischen inneren Problemen und der Außenpolitik sowie der spezifischen Rolle innenpolitischer Aspekte in den bilateralen Beziehungen. Die außenpolitische Forschung wird gut beraten sein, wenn sie diesen Fragen künftig wesentlichen größeren Raum bei der Analyse zwischenstaatlicher Prozesse in Südasien einräumt. Wir haben es dabei mit vier Bezugsebenen zu tun:

  • Der allgemeinen, nicht regionalspezifischen Interaktionsweise zwischen inneren wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Determinanten und Außenpolitik.
  • Der Wirkung der innenpolitischen Wurzeln der Außenpolitik.
  • Der Rolle des innenpolitischen Faktors in den bilateralen Beziehungen südasiatischer Staaten.
  • Den sich in grundsätzlicher Weise wandelnden inneren und äußeren Bedingungen für Politik insgesamt und für Außenpolitik im besondern in Südasien.66

Wenn wir die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse in der Region an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert betrachten, gehört keine besondere prognostische Verwegenheit dazu, eine weitere Zunahme der Rolle innerer Faktoren für die außenpolitische Perzeption, für die Entscheidungsfindungsprozesse und für die Hauptrichtungen der Außenpolitik als sehr wahrscheinlich anzunehmen.

Das hat auch eine erhebliche Relevanz für die nukleare Problematik, denn die vorstehend genannten vier Bezugsebenen schlagen auch in der Nuklearpolitik Indiens und Pakistans voll durch. Das kann angesichts der historischen Wurzeln und des Charakters der indisch-pakistanischen Verhältnisses, der konfrontativen Selbst- und Feindbilder sowie der nach wie vor nicht kompatiblen Sicherheits- und Bedrohungsperzeptionen in beiden Staaten gar nicht anders sein.

Das Wort »Kashmir« ist bei der Reflexion der nuklearen Problematik bisher mit voller Absicht nicht gefallen. Das ist keine Unterschätzung der Gefährlichkeit dieses Konfliktes. Es ist im Gegenteil zu unterstreichen, dass die Leiden der Bevölkerung Kashmirs schnellstmöglich durch eine Konfliktregelung unter Wahrung ihrer legitimen Interessen beendet werden müssen, und dass alle beteiligten Seiten, besonders aber Pakistan und Indien, für die heutige Lage in diesem Gebiet die Verantwortung tragen. Aber es muss in aller Eindeutigkeit gesagt werden, dass der Kashmir-Konflikt erstens nur eine, wenn auch sehr wichtige und komplizierte Facette der jahrzehntelangen, komplexen machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen beiden Staaten ist. Zweitens ist festzustellen, dass das von pakistanischen Politikern und in der Medienberichterstattung hergestellte Junktim zwischen den Kernwaffenversuchen und dem Kashmir-Konflikt sachlich keiner Analyse standhält und gleichzeitig eminent gefährlich ist. Es gibt keine kausale Verbindung zwischen der nuklearen Option beider Seiten und der Kashmir-Frage. Niemand hat die Bomben wegen der Kashmiris gezündet.67 Jeder Versuch, dieses Problem zu nuklearisieren, muss nicht nur schärfstens zurückgewiesen werden, er wäre für seine Initiatoren zugleich selbstmörderisch. Die Außenwelt sollte daher nicht auf zielgerichtete Propagandathesen hereinfallen, sondern nüchtern den tatsächlichen Platz der Nuklearfrage im Gefüge der südasiatischen Konfliktkonstellation bestimmen.

Doch welchen Stellenwert hat die nukleare Frage, die heute von interessierter Seite als der pakistanisch-indische Konflikt und die Hauptgefahr für den Frieden in Südasien definiert wird, im Kontext sowohl des pakistanisch-indischen Konflikts als der südasiatischen Konfliktkonstellation? Selbstverständlich hat die Nuklearisierung Südasiens der Konfliktlage in der Region eine neue Dimension hinzugefügt, indem sie nicht nur die Beziehungen zwischen Pakistan und Indien, sondern auch den Konflikt zwischen ihnen nuklearisiert hat. Neues, zusätzliches Konfliktpotential ist entstanden, das mit unabsehbaren Folgen für die ganze Region freigesetzt werden könnte. Natürlich müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um die aus der Kernwaffenfähigkeit beider Staaten resultierenden Gefahren zu minimieren. Aber auch auf die nukleare Konfrontation trifft im Grundsatz das gleiche zu, was hinsichtlich Kashmirs gesagt wurde: ohne die Wahrnehmung der eigentlichen Konfliktlage, ohne die Erkenntnis, dass auch die nukleare Frage nur eine Folgeerscheinung der gesamten Konfliktkonstellation, ein Ausdruck des pakistanisch-indischen Grundverhältnisses ist, ohne Bewegung und Anstrengungen zur Entmilitarisierung und Normalisierung eben dieses Grundverhältnisses werden alle Versuche zur Schaffung einer Friedensordnung in Südasien auch weiterhin scheitern. Es ist daher unproduktiv, wenn nicht sogar kontraproduktiv, die Nuklearfrage in Südasien isoliert von der grundlegenden Konfliktsituation zu betrachten und zu bewerten.

4. Wege zur Normalisierung der indisch-pakistanischen Be- ziehungen und zur Regulierung des Kashmir-Konflikts

Wenn wir versuchen, mögliche Wege aus der Sackgasse des pakistanisch-indischen Konflikts und besonders der Konfrontation um Kashmir und in Kashmir zu finden, dann dürfen wir nicht übersehen, dass es sich nicht eindimensional um einen Konflikt zwischen Pakistan und Indien handelt, sondern, wie bereits ausgeführt, um eine komplexe Konfliktsituation. Daher geht es auch nicht nur um die spezifische Politik jeweils konkreter Regierungen, sondern, um die Frage, in welchem Maße die beiden Staaten und die Gesellschaften, die sie repräsentieren, fähig sind, Konflikte innerhalb der eigenen Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften resp. Staaten ohne Druck, Militanz oder die direkte Anwendung von Gewalt zu lösen. Die gegenwärtige Konfliktkonstellation in Südasien und die nunmehr fünfzigjährige eigene Beschäftigung mit dem Subkontinent geben in dieser Frage keinen Anlass zu übertriebenem Optimismus.

4.1 Voraussetzungen für ein konstruktives Krisenmanagement und Konfliktregulierung in Südasien

Die Konfliktforschung hat hinreichend Evidenz dafür geliefert, dass jeder Konflikt seine eigenen Wurzeln und Ursachen, seinen spezifischen Entfaltungsrahmen hat und daher auch ein spezifisches Regelungskonzept erfordert. Das trifft sowohl auf die pakistanisch-indische Konfliktkonstellation als auch auf den komplexen Kashmir-Konflikt zu, der eben mitnichten in allen seinen Erscheinungsformen zwischen Indien und Pakistan geregelt werden kann, sondern hinsichtlich seines inneren Aspekts eine direkte Übereinkunft zwischen der indischen Zentralregierung und den Kashmiris verlangt. Pakistan hat in dieser Frage überhaupt keinen »locus standi«, da es sich nicht um seine Staatsbürger handelt und Pakistan auch von niemand als internationaler Patron muslimischer Volksgruppen außerhalb der Grenzen Pakistans anerkannt ist.

Gleichzeitig gibt es jedoch eine Reihe von grundsätzlichen Voraussetzungen, die für jeden Versuch einer Konfliktbeilegung und Konfliktregelung gelten68 und die auch eine unmittelbare Relevanz für den Kashmir-Konflikt besitzen.

  • Zunächst und vor allem haben die beteiligten Seiten zu akzeptieren, dass tatsächlich ein Konflikt existiert. In vielen Fällen haben Regierungen, politische Kräfte und die Öffentlichkeit sich geweigert, die Existenz von Konflikten anzuerkennen. Sie haben damit die Chance vergeben, Krisensituationen und Konflikte zu regulieren, bevor sie das Stadium der Militanz oder sogar der bewaffneten Konfrontation erreichten. Die Verdrängung offener innerer Konfliktsituationen und damit auch das Fehlen jedes konstruktiven Krisenmanagements war über Jahrzehnte hinweg eine charakteristische Verhaltensweise der politischen Klasse in Südasien, wie die Ereignisse in Indien, Pakistan, Bangladesh und Sri Lanka nachhaltig belegen. Die langanhaltende Ignoranz der indischen Regierung gegenüber einem sich über Jahre hinweg aufbauenden explosiven Gemenge von Konfliktpotentialen in Kashmir ist dafür ebenso ein klassisches Beispiel wie die Reaktion des pakistanischen Establishments auf die Entwicklung in Karachi.
  • Eine ungemein wichtige Frage in diesem Kontext – und auch hinsichtlich der genannten Beispiele – ist, nicht in politisch wohlfeilen Selbstbetrug zu verfallen und in jedem Konflikt »fremde Hände« zu sehen. Die häufig zitierten »fremden Hände« sind, obwohl sie existieren, in keinem Falle die eigentliche Ursache der Konflikte, und ihre ständige Beschwörung ist daher kaum mehr als die gewollte Verschleierung der in der eigenen Gesellschaft vorhandenen akuten Konfliktpotentiale, sowie ganz offenkundig ein Faktor im anhaltenden ideologischen Medienkrieg mit seinen nachhaltig negativen Auswirkungen auf den Zustand der bilateralen Beziehungen zwischen Pakistan und Indien.
  • Wenn wir auf die nachkolonialen Staaten blicken, dann sind sie durch tiefgreifende Widersprüche und Konflikte charakterisiert, die in drei unterschiedlichen Zeitebenen entstanden sind – in ihrer vorkolonialen Geschichte, während der Kolonialzeit und im Verlauf der eigenen nationalen Entwicklung seit der Erlangung bzw. Wiedererlangung der Unabhängigkeit. Modernisierungskonflikte verschiedenen Typs, konfliktgeladene Defizite des Nation-Building, Interessenkonflikte infolge der Befriedigung der Forderungen verschiedener ethnischer Gruppen, unzureichende politische und soziale Partizipationsmöglichkeiten großer Teile der Bevölkerung, Disparitäten in der Ressourcenverteilung etc. sind nicht vom nachkolonialen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen System zu trennen und die Staaten müssen sie als Krise ihres gegenwärtigen nationalen Systems begreifen und annehmen, denn sie können nur innerhalb dieses Systems und von ihnen selbst bewältigt werden.
  • Die elementare Schwierigkeit, sich darüber zu verständigen, worum es in Kashmir überhaupt geht, resultiert aus der Tatsache, dass dieser Konflikt in die genannte Kategorie der systemimmanenten Konflikte gehört und Konfliktpotentiale aus allen drei Zeitebenen aufweist. Bestenfalls in zweiter Linie ist er auch ein gewöhnlicher zwischenstaatlicher Konflikt. Der Umgang mit innerstaatlichen bzw. innergesellschaftlichen Krisen- und Konfliktsituationen ist aber zugleich auch ein Indikator für das Grundverhalten bei grenzüberschreitenden Interessenkollisionen.
  • Damit sind wir unmittelbar bei einer weiteren Vorbedingung für Konfliktregelung, nämlich dass die Konfliktseiten bereit sind, das Wesen, den Gegenstand, den Einzugsbereich und die Konsequenzen des Konflikts zur Kenntnis zu nehmen. Das ist eine sehr ernste Frage, denn in vielen Fällen deckt sich das äußere Erscheinungsbild eines Konflikts (national, ethnisch, religiös) überhaupt nicht mit der tatsächlichen Streitmasse, die in der Regel viel prosaischer und handfester ist, wie sich beispielsweise in der pakistanischen Perzeption der Territorialfrage zeigt. Das lädt geradezu zur bewussten politischen, ethnischen und/oder ideologischen Manipulation von Konflikten ein, wofür der Kashmir-Konflikt bedauerlicherweise ein geradezu klassisches Beispiel ist. Er ist einerseits nicht nur ein innerindisches »Law and Order«-Problem, wie nicht nur die BJP, sondern auch andere Parteien und ein bedeutender Teil der veröffentlichten Meinung glauben machen wollen, und er kann andererseits auch nur partiell mit den Kriterien der nationalen Selbstbestimmung erfasst werden, denn die eigentliche Anlass des seit 1947 andauernden Konflikts sind die historisch belegten pakistanischen Macht- und Territorialambitionen. Daher sind die offiziellen Perzeptionen aller Konfliktseiten in hohem Maße einseitig und stehen im Widerspruch zu den Realitäten.

Die charakteristischen Fehlperzeptionen in der Kashmir-Frage resultieren ihrerseits aus dem Unvermögen der Akteure, den wirklichen Charakter und den Einzugsbereich des Konflikts zwischen Pakistan und Indien wahrzunehmen und daraus entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen – sowie aus den hochentwickelten Verdrängungskünsten bestimmter politischer und ideologischer Gruppierungen in Indien und Pakistan. Wenn man aber nicht fähig ist, einen bestehenden Konflikt, seine Ausdrucksformen und seine Folgen realitätsnah zu definieren, ist man auch nicht in der Lage, Wege und Mittel zum Abbau der Konfrontation zu bestimmen.

Aber eine Bewegung auf diesem Gebiet setzt zunächst die Erkenntnis voraus, dass die alles überwölbende Konfliktlage der macht- und sicherheitspolitische Konflikt zwischen Pakistan und Indien ist, der seit 1947 eine Art de facto-Kriegszustand mit bislang vier »heißen« Phasen geschaffen hat. Solange weiter Realität verdrängt und in massivem Selbstbetrug postuliert wird, dass »nur Kashmir zwischen Indien und Pakistan steht«, wird es keine substantielle Veränderung des pakistanisch-indischen Verhältnisses geben.

  • Eine sehr praktische Bedingung von Konfliktregelung ist der tatsächliche Wille der Konfliktseiten, den Konflikt beizulegen und zu regeln und ihn nicht als Instrument zur Erreichung bestimmter Ziele zu missbrauchen. Das schließt auch die bindende Verpflichtung ein, ausschließlich friedliche Mittel bei der Konfliktregulierung einzusetzen. In nicht wenigen Ländern sind wir mit der brutalen Realität konfrontiert, dass Regimes und andere innere Akteure ohne existierende oder von ihnen selbst geschaffene Konflikte kaum eine Chance für ein politisches Überleben hätten. Selbst wenn bei derartigen Auseinandersetzungen auch legitime Interessen und Forderungen artikuliert werden, bleibt es eine Tatsache, dass nicht wenige Akteure überhaupt nicht politikfähig sind. Das trifft auf die Mehrheit der in Kashmir agierenden militanten Gruppierungen ebenso zu wie auf sezessionistische Kräfte im Nordosten Indiens. Während bei bestimmten Gruppen die Grenze zwischen Politik und Terrorismus sehr fließend ist, sind andere nichts weiter als terroristische Gangs. Hinsichtlich des Kashmir-Konflikts kann daher wesentlichen beteiligten Akteuren, und zwar nicht nur den bewaffneten islamistischen Gruppen oder der Hurriyat-Konferenz, eben der politische Wille zur Konfliktbeilegung nicht attestiert werden. Was die pakistanisch-indische Konfliktkonstellation als Ganzes betrifft, so dürfen wir nicht übersehen, dass die Konfrontation seit 1947 für erhebliche Teile der pakistanischen Eliten ein Identitätsproblem, für die pakistanische Staatsidee und für die Selbstperzeption Pakistans letztlich sogar ein sinnstiftendes Element war. Es ist nicht aus der Welt zu diskutieren, dass die ursprüngliche pakistanische Identität mit Ausnahme des Bezugs auf den Islam als alle einigendes Band faktisch eine Anti-Identität war – ihre Proponenten wollten nicht mehr Inder sein, und der pakistanische Staat war explizit und offiziell als Gegenmodell zu Indien konzipiert. Darüber hinaus gab es keine positive Aussage, was pakistanische Identität eigentlich ist. An diesem Problem hat Pakistan heute noch zu tragen und die Infragestellung des pakistanischen Zentralstaates durch regionale Interessen, vor allem aber zunehmend durch militant islamistische Strömungen, Gruppierungen und Parteien hat unmittelbar mit der Identitätsfrage zu tun.69 Und obwohl es zynisch klingen mag, es war und ist der alles andere überlagernde Konflikt mit Indien, der Pakistan und seine divergierenden politischen und ideologischen Kräfte bisher zusammengehalten hat.
  • Eine weitere Voraussetzung für eine Regelung von Konflikten ist die Erkenntnis, dass sie nicht ohne Berücksichtigung der Interessen aller Seiten möglich ist und dass sie Verhandlungen auf gleicher Ebene, d.h. mit gleichen Rechten, unabhängig von der Größe der Macht und dem Potential der jeweiligen Seiten erfordert. Das gilt ohne Einschränkung für das pakistanisch-indische Verhältnis im allgemeinen und ganz spezifisch für den Kashmir-Konflikt – hier vor allem für die Respektierung der legitimen Rechte und Interessen der Kashmiris durch beide in den Konflikt involvierten Staaten. Das ist bedauerlicherweise für Südasien noch ein fernes Ziel und, neben dem Versuch, massiv die eigenen Interessen durchzusetzen, auch bedingt durch die sehr geringe Fähigkeit der Konfliktparteien, die Tatsache in Rechnung zustellen, dass solche komplexen und komplizierten Probleme wie die Kashmir-Frage nicht im ersten oder zweiten Anlauf gelöst werden können und dass deshalb auch Augenmaß und Geduld wichtige politische Tugenden sind. Das Festhalten an nicht verhandelbaren und nicht kompromissfähigen Positionen ist ein Ausdruck mangelnder politischer Kompetenz. Konflikte werden niemals gelöst, wenn eine Seite ihren Standpunkt durchsetzen will, es sei denn, sie hat die Macht und die Mittel, die Gegenseite physisch zu eliminieren oder zur Kapitulation zu zwingen. Das aber können nur Zyniker als »Konfliktlösung« bezeichnen. Außerdem hat die Geschichte gezeigt, welche Konsequenzen solche »Lösungen« haben. Diese Feststellung betrifft die jahrzehntelange pakistanische Junktim-Politik ebenso wie die starrsinnige Vorbedingungsstrategie der gegenwärtig in Indien an der Macht befindlichen Hindunationalisten von der BJP.
  • Eine zentrale Bedingung und das gilt sehr direkt für den pakistanisch-indischen Konflikt und die Kashmir-Frage, ist schließlich die Entideologisierung des Konflikts. Die Friedenswilligkeit und Friedensfähigkeit von Regierungen und Gesellschaften ist nicht zuletzt daran zu messen, ob sie bereit sind, nicht nur auf die Kolportierung plakativer, häufig genug bösartiger Feindbilder zu verzichten, sondern auch einen konkreten Beitrag zur Zurückdrängung von Denken und Handeln in Feindbild-Kategorien zu leisten, also auch ihre eigene politische Sprache grundlegend zu verändern. Es muss zugleich mit aller Deutlichkeit gesagt werden, dass im Erziehungsprozess von der Elementarschule bis zur Universität, ganz zu schweigen von der Ausbildung administrativer, politischer und militärischer Eliten, Feindbilder nicht nur gepflegt, sondern ständig auch produziert werden. Ein Blick in die respektiven Textbücher liefert nicht nur eine Fülle von Beweisen, sondern auch einen schockierenden Einblick in Denkstrukturen und ideologiegesteuerte Deformationen des Bildes vom Anderen, aber auch der eigenen Geschichte.

Wir sollten zugleich nicht übersehen, dass Entideologisierung von Widersprüchen und Konflikten, der Abbau von Feindbildern, von politischem oder religiösem Fanatismus und von ethnischer Feindschaft nicht ohne qualitative Wandlungen in der Politik selbst möglich ist. Mit allem notwendigen Realismus muss gesagt werden, dass dies in unserer Zeit für Staaten, die sich primär ideologisch definieren und das ist in Pakistan bis heute der Fall, eine unübersteigbare Hürde zu sein scheint.

4.2 Internationale Rahmenbedingungen für einen Konfliktregulierungsprozess in Südasien

Wenn wir die internationalen Aspekte für eine Regulierung des Kashmir-Konflikts ins Auge fassen, dann ergeben sich aus der Bestimmung von Interessenlagen und Positionen der für diesen Gegenstand wichtigsten internationalen Akteure einige auch durch andere Konfliktregulierungsansätze seit der Mitte der achtziger Jahre (Afghanistan, Somalia, Kambodscha) verifizierte Schlussfolgerungen:

  • Versuche, bilaterale oder andere externe Konflikte durch die direkte Unterstützung außerregionaler Mächte zu lösen, sind in der Regel gescheitert. Dabei zählen auch alte Bindungen, Verpflichtungen oder Bündnisse nicht mehr. In der postbipolaren Welt ist kein Raum für eine derartige Nostalgie. Die USA, Russland und China operieren ausschließlich in ihrem jeweiligen eigenen Interesse – Großbritannien und Frankreich spielen in diesem Kontext keine eigenständige Rolle mehr, sie sind nur in ihrer Selbstperzeption noch Großmächte. Jeder Versuch südasiatischer Staaten, heute unter Hinweis auf traditionelle Freundschaft etc. Großmächte für eigene Interessen mobilisieren zu wollen, ist im Prinzip Verschwendung von Zeit und Energie. Das gilt auch für die in Pakistan und Indien verbreiteten Illusionen, aus ihrer bereitwilligen Kooperation mit den USA in George W. Bushs »Krieg gegen den Terror« messbare Vorteile in ihrer bilateralen Konfliktsituation ziehen zu können.
  • Es ist eine gesicherte Erkenntnis des letzten Jahrzehnts, dass die Internationalisierung der Regelung bilateraler oder regionaler Konflikte eine ausgesprochen zweischneidige Angelegenheit ist, da sie immer ihren Preis für die Konfliktseiten hat. Das zeigte sich bereits in der Frühphase des Kashmir-Konflikts, als Nehru die Vereinten Nationen anrief, in der liberalen Illusion, dass die UNO selbstverständlich Indiens Position unterstützen würde.70 Wäre Indien damals dem westlichen Bündnis in irgendeiner Form beigetreten, hätte es in den letzten 45 Jahren überhaupt keine Kashmir-Frage gegeben. Aber er übersah, dass in jener Phase die UNO direkt durch den Westen dominiert war und dass der Westen gegenüber einer auf Nichteinordnung ausgerichteten Außenpolitik ausgesprochen misstrauisch war. Und es war damals im Interesse des Westens, die Resolutionen so formulieren, wie sie noch heute im Raum stehen. Das war weder eine Frage von Altruismus oder Ethik, Moral oder etwa von Selbstbestimmung für die Kashmiris, sondern von Machtpolitik. Und falls die UNO die Frage im kommenden Jahrzehnt erneut aufwerfen sollte, kann unter vollständig veränderten internationalen Bedingungen niemand das Ergebnis auch nur abschätzen.

Die von Pakistan seit Beginn der neunziger Jahre mit großem Aufwand und unter Vernachlässigung anderer wichtiger Politikfelder betriebene Internationalisierung des Kashmir-Konflikts muss hinsichtlich ihrer Folgen für die pakistanisch-indischen Beziehungen, aber auch für Pakistan selbst, mit großer Zurückhaltung betrachtet werden. Und es gibt hinsichtlich der Lernfähigkeit der pakistanischen Führung und der veröffentlichten Meinung doch sehr zu denken, wenn man geradezu euphorisch die Kernwaffentests als endgültige Internationalisierung des Kashmir-Konflikts feierte. Das wahrscheinlich einzige reale Ergebnis dieser Strategie wird die Eliminierung der letzten noch vorhandenen Chancen für eine politische Lösung der zwischen beiden Staaten bestehenden Konflikte sein.

  • Es ist gleichfalls eine Erfahrung asiatischer Staaten, dass Konfliktseiten zweimal nachdenken sollten, bevor sie außerregionale Mächte oder internationale Organisationen um Vermittlung im Konflikt ersuchen. In den meisten Fällen werden die Vermittler mehr in ihrem eigenen Interesse denn in dem der Konfliktparteien agieren. Internationale Organisationen reflektieren ein spezifisches Geflecht von Macht und Interessen und die in ihnen vorhandenen Widersprüche sind in der Regel nicht allzu hilfreich für den komplizierten Prozess der Konfliktregulierung. Und wir sollten auch nicht vergessen, dass selbst wenn der Vermittler sich mit den besten Vorsätzen und aufrichtig um unparteiische Vermittlung im Konflikt bemüht, das normale Resultat darin besteht, dass keine Seite befriedigt werden kann. Daher war die klare Ablehnung einer deutschen Vermittlung im Kashmir-Konflikt durch Bundespräsident Herzog während seines Staatsbesuchs in Pakistan im Jahre 1995 nicht nur verständlich, sondern auch politisch richtig. Deutschland ist an stabilen freundschaftlichen Beziehungen zu beiden Staaten interessiert. Eine Vermittlung unter den derzeitigen Bedingungen, die durch kontroverse und einander ausschließende Regelungsperzeptionen beider Seiten und ihre evidente Kompromissunfähigkeit determiniert sind, würde daher Deutschlands Verhältnis zu Indien und Pakistan gravierend belasten.
  • Eine Schlussfolgerung, die die Konfliktseiten aus der internationalen Entwicklung seit 1990 mit Sicherheit ziehen müssen, besteht darin, dass asiatische Staaten in ihren bilateralen Konflikten in erster Linie eigene Anstrengungen für ihre Beilegung unternehmen müssen und Regulierungen im wesentlichen auf bilateralen Entscheidungen und Übereinkünften beruhen werden. Keine auswärtige Macht kann eigene Konzepte zur Konfliktbewältigung und eigene Maßnahmen zur Beendigung von Konflikten ersetzen, mögen diese auch noch so diffizil und scheinbar unlösbar sein. Das trifft auch voll auf die zwischenstaatliche Dimension des Kashmir-Konflikts zu und Pakistan sollte dies in seinem ureigensten Interesse begreifen. Wenn man sich nicht erneut in folgenschwerer Weise von äußeren Kräften abhängig machen will, gleichgültig ob dies die Golfstaaten, die OIC oder die USA sind, dann führt kein Weg an einem Kurs auf einen politischen Interessenausgleich mit Indien vorbei.

Damit sind wir wieder beim Grundproblem – der komplexen pakistanisch-indischen Konfliktkonstellation und dem eingangs erwähnten modus vivendi zwischen Pakistan und Indien als elementare Voraussetzung für eine konstruktive Bewegung in den bilateralen Beziehungen und auch im Konflikt um Kashmir.

Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass die Aussichten dafür gegenwärtig nicht besonders günstig sind. Wenn wir den skizzierten Typ von Sicherheitsvorstellungen, die Tiefe des wechselseitigen Misstrauens und die direkte politische Wirkung von Fehlperzeptionen sowie den chronischen »Krieg der Worte« zwischen beiden Ländern in Rechnung stellen, der von Dezember 2001 bis zum Herbst 2002 zu einem beiderseitigen massiven Militäraufmarsch führte, ist es schwer, an eine substantielle Abschwächung der Konfliktfaktoren in den nächsten Jahren zu glauben. Das würde eine umfassende Reorientierung in den bilateralen Beziehungen, einen grundlegenden Wandel in der Politik gegenüber dem Nachbarn erfordern. Dafür sind aber offensichtlich die Eliten in beiden Ländern noch nicht vorbereitet, darum bemühen sich leider noch zu kleine Gruppen in beiden Gesellschaften.

Aber es ist zugleich eine fast als banal zu bezeichnende Grundwahrheit, dass Pakistan und Indien um eine grundlegende Revision ihres Bildes vom Anderen und ihrer bilateralen Beziehungen nicht herumkommen, weil die einzige verbleibende, andere Option ein erneuter Waffengang und zwar möglicherweise unter Einsatz von Massenvernichtungswaffen wäre. Der längst überfällige politische Interessenausgleich ist aber für beide Länder nicht zum Nulltarif zu haben, sondern mit möglicherweise schmerzlichen Kompromissen verbunden.

Ohne die gegenseitige Akzeptanz der existierenden politisch-territorialen Realitäten und der legitimen Interessen der jeweiligen Seite, ohne die Aufgabe jedes Revisionismus – mag er historisch oder religiös-kulturell definiert sein, ohne die definitive Abkehr von Versuchen der Einmischung in die inneren Angelegenheiten, ohne den Verzicht auf regionale Hegemonialkonzepte; d.h. ohne grundsätzlichen Interessenausgleich zwischen Indien und Pakistan ist keine substantielle Bewegung in der pakistanisch-indischen Konfliktkonstellation zu erwarten – und damit auch nicht hinsichtlich einer Beilegung des Kashmir-Konflikts.

Diese Feststellung bedeutet in keiner Weise eine Geringschätzung oder den Verzicht auf die mögliche Regulierung einzelner Konfliktfelder, das ist sogar im Sinne einer Entspannung der Situation am Rand des Krieges und einer schrittweisen Vertrauensbildung eine konstitutive Voraussetzung für eine spätere Überwindung der Konfliktkonstellation. Sie will aber auf dabei zu berücksichtigende Zusammenhänge aufmerksam machen.

Der hier skizzierte allgemeine Rahmen und der Charakter der pakistanisch-indischen Beziehungen ist zugleich die eigentliche Ursache dafür, dass die Kashmir-Frage jene Bedeutung und internationale Aufmerksamkeit gefunden hat, die sie heute charakterisiert. Der Stellenwert, den Kashmir bilateral, regional und international erlangt hat, leitet sich nicht primär aus Selbstbestimmung, Menschenrechten und anderen noblen Prinzipien ab. Er ist Resultat der Tatsache, dass im Kashmir-Konflikt nahezu alle pakistanisch-indischen Interessenkollisionen reflektiert werden, dass Kashmir für beide Seiten ein konkretes machtpolitisches Problem ist und dass Kashmir wirkungsvoll für ganz andere Ziele, innenpolitische und außenpolitische, instrumentalisiert werden kann. Aber, und das muss immer aufs Neue wiederholt werden, die Kashmir-Frage ist nicht der pakistanisch-indische Konflikt per se, sondern nur einer der Hauptwidersprüche zwischen Pakistan und Indien, wenngleich ein sehr wichtiger und der bisher folgenreichste.

Daher sind substantielle Fortschritte in der Kashmir-Frage ohne einen Minimalkonsens zwischen beiden Staaten, ohne eine Vertrauensgrundlage und ohne eine anhaltende Verbesserung der Gesamtbeziehungen zwischen Pakistan und Indien nicht möglich. Die bisherige Strategie aller pakistanischen Regierungen im letzten Jahrzehnt, jegliche Teilschritte zu einer Normalisierung abzulehnen und die Kapitulation Indiens in der Kashmir-Frage zur Vorbedingung einer Verbesserung der bilateralen Beziehungen zu machen, war bedauerlicherweise eine Strategie gegen eine politische Lösung und war, ganz eindeutig durch die schwierigen innenpolitischen Verhältnisse in Pakistan bedingt, der Verzicht auf Politik zugunsten von Ideologie. Und es bleibt zu hoffen, dass das Land für eine solche Strategie nicht einen hohen Preis zahlen muss. Das internationale Echo auf die Kargil-Affäre hat Pakistan dafür bereits einen gewissen Vorgeschmack geboten. Die Tatsache, dass in den künftigen Gesprächsrunden auf der Ebene der Foreign Secretaries beide Seiten nach der zweiten Machtübernahme Nawaz Sharifs im Jahre 1997 wieder über alle anstehenden Fragen diskutieren wollten, war noch kein Wandel, denn Pakistan hat die Kröte nur geschluckt, um seine Perzeption der Kashmir-Frage auf die Tagesordnung zu bringen, während für Indien in der Tat alles verhandelbar ist, aber nicht die Zugehörigkeit Jammu und Kashmirs zum indischen Staatsverband. Solche Verhandlungen ändern daher nichts am status quo der Perzeptionen, der jeweiligen Zielhorizonte und der praktischen Politik der beiden Seiten. Nach Kargil und dem Militärputsch in Pakistan lagen die staatlichen Beziehungen zwischen Pakistan und Indien lange Zeit völlig auf Eis, ein erster Anlauf scheiterte 2001 in Agra am Widerstand der Hardliner in der BJP, und die Entwicklung nach dem Terroranschlag auf das indische Parlament am 13. Dezember 2001 brachte beide Länder erneut unmittelbar an den Rand eines Krieges. Es ist nicht abzusehen, wann es wieder zu Verhandlungen kommen wird, die diese Bezeichnung auch verdienen.

Aber auch die faktische Erfolglosigkeit der indischen Pazifizierungsstrategie in Kashmir, die Blockierung eines erheblichen Teils der indischen Streitkräfte in diesem Gebiet, die steigende Belastung des indischen Staatshaushalts und das Festhalten der entscheidenden Gruppen der politischen Elite an historisch obsolet gewordenen Positionen birgt erhebliche Risiken in sich.

Überschauend betrachtet, bedeuten die insgesamt getroffenen Feststellungen, dass ein substantieller Perzeptions- und Verhaltenswandel auf beiden Seiten, eine Phase tatsächlicher Regulierungsbemühungen weder kurz- noch mittelfristig in Aussicht steht. Es kann daher im Augenblick realistisch nur darum gehen, Schaden zu begrenzen und keine weitere Eskalation des Konflikts zuzulassen.

Anmerkungen

1) Der dem Dossier zu Grunde liegende Text musste leider wesentlich gekürzt werden. Dieser Kürzung sind u.a. zwei Abschnitte über die ideologischen Faktoren im pakistanisch-indischen Konflikt und dessen Ausstrahlung auf die südasiatische Konfliktkonstellation zum Opfer gefallen sowie zahlreiche erläuternde Fußnoten und Literaturhinweise. Auf Wunsch kann die Redaktion das Originalmanusskript nach Abstimmung mit dem Autor zur Verfügung stellen.

2) Nach indischer Auffassung war die Kargil-Operation bereits der vierte Krieg Pakistans gegen Indien. Siehe dazu u.a. Singh, Jasjit, Pakistan’s Fourth War. In: Strategic Analysis, New Delhi, XXIII (1999/2000) 5, August 1999, pp. 685-702 (im folg. Str. A); From Surprise to Reckoning. Kargil Review Committee Report. New Delhi, December 15, 1999. New Delhi Sage Publ. 2000, Chapter XIII Findings.

3) Siehe z.B. Hexamer, Eva-Maria, Images and Counter-Images: The Cultivation of Mutual Threat Perceptions in India and Pakistan. In: Relationen. Internationale Politik in Asien & Afrika. Probleme – Analysen – Berichte, Berlin, 1 (1995) 1, pp. 7-24 (im folg. Relationen)

4) United Nations Nations Commission for India and Pakistan. Third Interim Report (5.12.1949). In: Kashmir Papers. Reports of the United Nations Commission for India and Pakistan (June 1948 to December 1949). New Delhi Government of India, Ministry of External Affairs 1952, pp. 184-185 (im folg. UNCIP ThIR; Papers 1952)

5) India Impeding Kashmir Solution, Says Musharraf. In: The News International, Karachi, 11 (24.10.2000) 293, p. 1 (im folg. News)

6) Wortlaut mit Kommentar in: Anand, C.L., The Government of India: Being a Survey of Constitutional Development during the British Period, including the Reform of 1935. 5th ed. Lahore Univ. Book Agency 1936.

7) Draft Declaration for Discussion with Indian Leaders. 30 March 1942. London His Majesty’s Stationary Office 1942 (Cmd. 6350) (im folg. H.M.S.O.).

8) Für die Zeit seit dem Ende des Krieges in Europa siehe unter anderem Statement of the Policy of His Majesty’s Government made by the Secretary of State for India on July 14, 1945. In: Coupland. Reginald, India: A Restatement. London 1945, pp. 295-298; India: Statement by the Cabinet Mission and His Excellency the Viceroy. 16 May 1946. London H.M.S.O. 1946 (Cmd. 6821); Attlee, Clement R., Statement on the Transfer of Power. 20 February 1947. In: Philips, C.H. / Singh, H.L. / Pandey, B.N. (eds.), Select Documents on the History of India and Pakistan Vol. IV. The Evolution of India and Pakistan, 1857-1947. London 1962, pp. 391-393.

9) Hier wird ausdrücklich von „neu belebt“ gesprochen, denn diese Konfrontation war seit der Errichtung der moslemischen Herrschaft ein Faktum, wenngleich sie über eine lange historische Periode keine akute Form annahm. In Indien verbreitete Auffassungen, der Hindu-Moslem-Konflikt sei von den Briten „geschaffen“ worden, halten erstens keiner ernsthaften Analyse stand und sind zweitens – wie die Umdeutungen des Hindu-Moslem-Konflikts in einen islamischen Befreiungskampf – nur mühsam kaschierte Versuche, die hohe Mitverantwortung der rivalisierenden politischen Kräfte an der Austragungsform des Konflikts und an der Teilung Indiens zu verdrängen

10) Zit. n. Alexander, Harold, India since Cripps. Harmondsworth/ New York 1944, p. 54.

11) Presidential Address of Mr. M.A. Jinnah to the All-India Muslim League at Lahore. 22 March 1940. In: Ahmad, J., Some Recent Speeches and Writings of Mr. Jinnah. Vol. I. Lahore Sheikh Mohammad Ashraf 1952, pp. 159-181. Nachgedruckt in: Hasan, K.Sarwar (ed.), Documents on the Foreign Relations of Pakistan. The Transfer of Power. Karachi Pakistan Institute of International Affairs 1966, pp. 1-18; zit. Stelle p. 17.

12) Ebenda, pp. 15-17.

13) Der eigentliche Vater der Zweinationentheorie war der in Cambridge lebende und sich als Präsident der Pakistan National Movement bezeichnende C. Rahmat Ali, der am 8. Juli 1935 ein Memorandum an Regierungen, Politiker und Medien versandte, das offensichtlich ein Positionspapier gegen den Government of India Act war. Eine Kopie befindet sich in den Handakten des Staatssekretärs z.b.V. im Auswärtigen Amt, Wilhelm Keppler. PA / AA R 27 501 2/1-2, 4 Bl. Wenig später wurde diese Theorie von Mohammad Iqbal, einem bedeutenden Urdu-Poeten und Philosophen übernommen, der kurz vor seinem Tode Mohammed Ali Jinnah überzeugen konnte, die Pakistan-Forderung zur Kampflosung der Moslemliga zu machen.

14) Presidential Address of Mr. M.A. Jinnah…, a.a.O.

15) Resolution Adopted by the All-India Muslim League at Lahore. 23 March 1940. In: Central Office All-India Muslim League. Jinnah-Gandhi Talks (September 1944). Delhi 1944, pp. 83-84.

16) The Indian Year Book 1941/42. Vol. XXVIII. Bombay/Calcutta 1942, p. 921.

17) Text in: Hasan, Documents on the Foreign Relations of Pakistan…, a.a.O., pp. 263-276.

18) Presidential Address of Mr. M.A. Jinnah…, a.a.O., p. 17.

19) Jinnah,M.A., Message to the Nation.on the Occasion of the Inauguration of the Pakistan Broadcasting Service, August 15,1947. In: Quaid-i-Azam Mohammad Ali Jinnah. Speeches and Statements as Governor General of Pakistan, 1947-48. Islamabad Government of Pakistan, Ministry of Information and Broadcasting 1989, pp. 55-56 (im folg. QiA).

20) Presidential Address of Mr. M.A. Jinnah…, a.a.O., p. 15

21) Ägypten, Syrien, Irak, Libanon und andere Staaten mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung standen über Jahrzehnte hinweg Indien weitaus näher als Pakistan.

22) Es gehört zu den elementaren Unsinnigkeiten des pakistanisch-indischen Verhältnisses, dass die Pakistan Constituent Assembly die vom britischen Gesetzgeber im Indian Independence Act auf den 15. August festgelegte Souveränitätsübergabe an beide Staaten auf den 14. August vorzog, um sich auf diese Weise demonstrativ von Indien abzusetzen.

23) Zu einigen Fakten: Weidemann, Diethelm, Die Entstehung des Staates Pakistan. In: Asien. Afrika. Lateinamerika, Berlin, 2(1974)2, S. 241-252 (im folg. AAL).

24) Government of India. Census of India 1941. India Part I Vol. 1. New Delhi, pp. 98-101 (im folg. Census 1941).

25) Dieses Grenzabkommen wurde von Indien niemals anerkannt und Indien betrachtet das betreffende Territorium als „…illegally handed over by Pakistan to China“. In: Government of India. Census of India 1981. Series 1 India Part II-A(I) General Population Tables. New Delhi 1985, p. 72 (im folg. Census 1981).

26) Ebenda, pp. 72-73.

27) Ebenda, pp. 75, 110-113, 576, 604-606; Census 1981, Part XII Census Atlas Jammu and Kashmir. Series 8. New Delhi 1988, pp. 248-250.

28) So betrug bereits 1981 der Anteil der Moslems im Distrikt Kargil 77,40%. Siehe Census Atlas Jammu and Kashmir, a.a.O.

29) Government of India. Census of India 1991. Series 1 India Paper 1 of 1992 Vol. II Final Population Tables. New Delhi 1993, p. 16 (im folg. Census 1991).

30) Siehe u.a. Schied, Michael, Indien – Pakistan – Sindh – Karachi. Wechselnde Machtverhältnisse und Staatsformierung (Zur Entwicklung der Mohajir Qaumi Movement). In: Hexamer, Eva-Maria / Oesterheld, Joachim (Hrsg.), Innere Konflikte in Indien und Pakistan und die ideologische Dimension der Konfliktlage in Südasien. Berlin Humboldt-Universität 1998, S. 355-382 (Schriften IBA, Bd. 8).

31) Im Kontrast zur konstanten Leugnung dieses Sachverhalts durch das offizielle Pakistan gibt es dazu nicht nur einen detaillierten internen Report der Armee, sondern auch eine Art Bekenner-Literatur. Islam, Ziaul, The Revolution in Kashmir. Karachi Pakistan Publ. 1948; Khan, Akbar, Raiders in Kashmir. Story of the Kashmir War (1947-1948). Karachi Pakistan Publ. 1970.

32) Dazu speziell Hexamer, René, Der Kashmir-Konflikt – Fallbeispiel eines Legitimitätskonfilikts. Berlin 1992 (Arbeitspapiere des LFG Internationale Beziehungen in Asien und Afrika. Reihe C: Aktuelle Fragen der internationalen Beziehungen in Asien Nr. 7 (im folg. IBA-Texte C); Ders., Kashmir 1989-1996: Zur Relevanz der inneren Konfliktdimension im Kontext der indischen Staatskrise. In: Hexamer, Eva-Maria / Oesterheld, Joachim (Hrsg.), Innere Konflikte in Indien und Pakistan und die ideologische Dimension der Konfliktlage in Südasien. Berlin Humboldt-Universität zu Berlin 1998, S. 251-321 (Schriften IBA 8, 2. Aufl.).

33) Während die Wahlbeteiligung bei den Staatenwahlen von 2002 in Kashmir bei 46 Prozent lag, betrug sie im Frühjahr 1997 in Pakistan landesweit nur 35,92 Prozent und erreichte ihren markanten Tiefpunkt in Baluchistan mit 22,84 und in der Nordwest-Grenzprovinz mit 29,67 Prozent. Quellen: Husain, Z., Clean Sweep. In: Newsline, Karachi, 8(1996/97)9, February1997, p. 36; Khan, A.A., The Anatomy of a Landslide. In: The Herald, Karachi, 28(1997)3, p. 46ff.

34) Die Zahl der von den Militanten getöteten Moslems ist höher als die der getöteten Hindus. Vor dem Ausbruch der Insurrektion war das Verhältnis etwa 30:1. Zum großangelegten Vertreibungsfeldzug der Islamisten und ihrer militant-terroristischen Ableger gegen die eingesessenen Kashmiri-Hindus siehe u.a. Genocide of Hindus in Kashmir. Jammu Kashmir Sahayata Samiti. New Delhi Suruchi Prakashan 1991.

35) Nolan, Janne N., Trappings of Power: Ballistic Missiles in the Third World. Washington Brookings 1991, zu Südasien besonders pp. 86-91.

36) Die Argumente der nuklearen Lobby sind repräsentativ konzentriert in Pakistan’s Security and the Nuclear Option. Islamabad Institute of Policy Studies 1995 Die Hauptpositionen einiger Opponenten finden sich in Mian, Zia (ed.), Pakistan’s Atomic Bomb & The Search for Security. Lahore Gautam Publ. 1995.

37) Graham, Thomas W., Rethinking Nonproliferation Policy: Increasing Effeciency and Enhancing Stability. In: Aspen Strategy Group. New Threats: Responding to the Proliferation of Nuclear, Chemical and Delivery Capabilities in the Third World. Aspen/Lanham 1990.

38) The Hindu, Madras, 121(29.5.1998) (im folg. Hindu).

39) Ihre direkte Vorgängerin, die Bharatiya Jana Sangh, verabschiedete bereits im Dezember 1962 die erste Resolution mit der Forderung nach dem Bau von Kernwaffen in Indien und startete 1964 die erste antichinesische Kernwaffenkampagne. Zur hindunationalistischen Kernwaffenlobby siehe Mirchandani, a.a.O., pp. 55-65.

40) Vajpayee, A.B., Paper laid on the table of the House on Evolution of India’s Nuclear Policy, May 27, 1998. – http://www.indianembassy.org/pic/nuclearpolicy.htm Siehe auch Prakash, Surya, All Were Party to the Nuclear Gatecrash. In: Pioneer CXXXIV (25.5.1998) 144, p. 8; Subrahmanyam, K., Politics of Shakti. Old Wine in a New Bomb. In: ToI CLXI (26.5.1998) 115.

41) Zu diesem Aspekt siehe Chaska, C. Uday, India’s Security No Longer Depends on Others Goodwill. In: Sunday Times of India, New Delhi, VII(17.5.1998) (im folg. SToI); Vice Adm. (R.) Quadir, Iqbal F., India Opts for World Status. In: Defence Journal, Karachi, 2(1998)6, pp. 25-25 (im folg. DJ); Sharma, L.K., India’s Tests Puts the Nuclear Haves in the Dock. In: ToI CLXI(13.5.1998)104 -http://www.timesofindia.com/130598/13worl3.htm; Varadarajan, Siddharth, Testing the World Order. In: Nuclear (In)Security. Seminar No 468, New Delhi August 1998, pp. 24-32.

42) Hindu (29.5.1998).

43) Bidwai, Praful, India Has Shot Itself in the Head. In: SToI VII(17.5.1998) -http://www.timesofindia.com/170598/17edit4.htm4.

44) Zu kritischen Positionen siehe Aiyar, Swaminathan S.A., Is India Stronger for the Nuclear Tests? In: SToI VII (17.5.1998) http://www.timesofindia.com/170598/17edit5.htm; Bidwai, Praful, Dangerous Descent. In: ToI CLXI(15.5.1998)106 -http://www.timesofindia.com/150598/15edit10.htm; ders., India Has Shot Itself…, a.a.O.; Mishra, Bisheshwar, India Needs Bread, Not Bombs: CPML. In: ToI CLXI(26.5.1998)115, p. 9; Ramachandaran, Shastri, Test of Liberalism. Trapped Between Bomb and Bombast. In: ToI CLXI(21.5.1998)111, p. 9; Varadarajan, Siddharth, Pokhran as Pandora. In: ToI CLXI(16.5.1998)107 -http://www.timesofindia.com/16edit9.htm.

45) Aiyar, Swaminathan S.A., Saffron Storm Rising. In: SToI VII(24.5.1998) -http://www.timesofindia.com/240598/24busi3.htm; Subhan, Taufiq, Artha, Not Dharma Propels the BJP. In: ToI CLXI(23.5.1998)113, p. 10.

46) Siehe Ahmad, Aijaz, The Hindutva Weapon. In: Frontline, Madras, 15(1998)11, May 23-June 5; Karat, Prakash, A Lethal Link. In: Ebenda, 15(1998)12, June 12-19.

47) Thapa, Kamal, Lessons from Pokhran. In: Kathmandu Post, (30.5.1998).

48) The Telegraph, Calcutta, (21.5.1998).

49) Siehe unter anderem Lt. Gen. (R.) Durrani, Mohammad A., Pakistan’s Nuclear Card. In: DJ 2(1998)6, pp. 10-13; Air Marshal (R.) Khan, Ayaz A., The Nuclear Indecision. In: Ibidem, pp. 26-28; Mazari, Shireen M., In the Aftermath of the Indian Tests. In: Ibidem, pp. 4-6; Rahman, S.M., Brandishing the Nuclear Sword. The Shakti Syndrome. In: Ibidem, pp. 20-22; Zehra, Nasim, Nuclear Test the Only Option. In: Ibidem, pp. 2-3. Siehe ferner Babar, Farhatullah, To Test Or Not to Test. In: The Nation, Islamabad/Lahore, X(18.5.1998), p. 9 (im folg. Nation); Koreshi, Samiullah M., Time Is Running Out for Pakistan to Test. In: Ibidem (19.5.1998), p. 9.

50) Beispielsweise Shafi, Kamran, Don’t Go Off Half-cocked. In: Nation X(16.5.1998), p. 9; Qureshi, Yusuf, To Test Or Not to Test, That Is the Question: In: Ibidem (20.5.1998), p. 9.

51) Siehe beispielsweise Hasan, Ahson S., Think Well Before Testing. In: Nation X(20.5.1998), p. 9; Inayatullah, Can We Eat Grass? In: Ibidem, p. 9; Naqvi, Hussain, Dispassionate Dialogue Required. In: Ibidem (19.5.1998), p. 9; Rahman, Asad, A Question of Priorities. In: Ibidem (22.5.1998), p. 9; Sehgal, Ikram, Fail-safe Limits of Dynamic Restraint. In. Ibidem (23.5.1998), p. 8.

52) Widmann, Carlos, Jenseits des Rubikon. In: Der Spiegel, Hamburg, Nr. 24/1998, 8.6., S. 148; Pressures on Pakistan (Editorial). In: Nation X(16.5.1998), p. 8.

53) Widmann, a.a.O., S. 149 Siehe auch Malik, Saeed, Islamic Bomb, Why Not? In: Nation X(26.5.1998), p. 8.

54) Er bestätigte das explizit in seinem politischen Testament. Bhutto, Z.A., „If I am Assassinated…“ New Delhi Vikas Publ. House 1979, pp. 115 ff..

55) Hussain, Fahd, Why Fear Nuclear Frenzy? In: Nation X(17.5.1998), p. 8.

56) Dawn, Karachi, LII(10.6.1998); Ebenda (11.6.1998) Der Anlaß war die Ortung einer nichtidentifizierten F-16 im pakistanischen Luftraum, und die Regierung ersuchte auf einem geheimen Weg Israel um eine Klarstellung, die unverzüglich durch Tel Avivs UNO-Botschafter Ben-Elissar erfolgte, dass keine israelische Maschine sich auch nur in der Nähe Pakistans befinde, und dass Israel unter keinen Umständen in den pakistanisch-indischen Konflikt hineingezogen werden möchte.

57) Zu den geostrategischen resp. geopolitischen Rückwirkungen siehe Cheema, Zafar I., South Asian Security after India-Pakistan Nuclear Tests. In: Pakistan Defence Review, Rawalpindi, 11(1998/99)1, Summer 1998, pp. 9-20 (im folg. PDR); Junaid, Shahwar, The Region and a Nuclear India. In: Nation X(21.5.1998), p. 8; Lt. Gen. (R.) Lodi, Sardar F.S., South Asia Goes Nuclear. In: DJ 2(1998)7, pp. 14-16; Mazari, Shireen M., Nuclearization of South Asia: The Geopolitical Dimension. In: Ibidem 2(1998)10, pp. 28-34; Rahman, Asad, Nuclear Escalation in South Asia. In: Nation X(15.5.1998), p. 9; Shaukat, Sajjad, Balance of Nuclear Terror in South Asia. In: Ibidem (18.5.1998), p. 9; Subrahmanyam, K., A Nuclear Strategy for India. In: Economic Times, New Delhi, 38(28.5.1998)73, p. 10 (im folg. EcT); Ullah, Ikram, Security Hazards in South Asia. In: Nation X(31.5.1998), p. 8.

58) Cooper, Kenneth J., India Revises Prohibition on First Strike – Delhi Government Offers to Negotiate Nuclear Issue with Pakistan, Other Nations. In: WashP (28.5.1998).

59) Dawn LII(5.6.1998) Es ist übrigens interessant, dass indische Medien aus erkennbar propagandistischen Motiven versuchten, ihrer Leserschaft vorzuspiegeln, dass die Moslems weltweit die pakistanische Bombe begrüßt hätten.

60) Advani’s Threat (Editorial). In: Nation X(20.1.1998), p. 8; Response to Advani (Editorial). In: Ibidem (21.5.1998), p. 8; Varadarajan, Siddharth, A Nuclear Lesson from Bhasmasura. In: ToI CLXI(28.5.1998)117, p. 9. Zu den ausgeprägt negativen deutschen Reaktionen auf Advanis Ausfälle vgl. die überregionalen Blätter zwischen dem 20. und dem 24.5.1998.

61) Bhattacharjee, Jay, Show Solidarity to Beat Sanctions. In: ToI CLXI(28.5.1998)117, p. 10; Singh, Ajay, Test Effects May Alter the Budget. In: Pioneer CXXXIV (21.5.1998) 140, p. 5.

62) Naqvi, M.B., Sharif Saves Pakistan’s Honour But At What Price? In: ToI CLXI (29.5.1998) 118, p. 1.

63) Kissinger, Henry, Sanctions Are Not the Answer. In: DJ 2(1998)10, pp. 90-92.

64) Hussain, Fahd, US Non-Proliferation Policy: An Obituary: In: Nation X(31.5.1998), p. 9; Köttler, Wolfgang, Der nukleare Dammbruch. In: Neues Deutschland, Berlin, 53(18.5.1998)114, S. 8 (im folg. ND).

65) Indische und pakistanische Positionen zu dieser Frage siehe bei Mazari, Shireen M., The CTBT Debacle: Need for a Comprehensive Approach. In: DJ 2(1998)8, pp. 20-21; Rahman, S.M., CTBT – A Psychological Profile. In: Ibidem, pp. 22-25; Riding the Storm (Editorial). In: ToI CLXI(15.5.1998)106 -http://www.timesofindia.com/150598/15edit1.htm; Col. Salik, Naeem A.,Future of Non-Proliferation in South Asia. In: PDR 11(1998/99)1, Summer 1998, pp. 45-55; Sharma, L.K., Indian Tests Reopen the Nuclear Question. In. ToI CLXI(15.5.1998)106. Siehe auch Hippler, Jochen, Atomwaffen für alle. In: Freitag, Berlin, Nr. 24/1998, 5.6., S. 1.

66) Zu den grundsätzlichen Aspekten dieser Problematik siehe Weidemann, Diethelm, Domestic Problems and Foreign Policy in South Asia – Changing Interactions in the Post-Bipolar World. Paper to the XVth European Conference on Modern South Asian Studies, Prague, September 8-12, 1998.

67) Niazi, M.A., The BJP’s Next Agenda Item. In: Nation X(29.5.1998), p. 8; Venzky, Gabriele, Kaschmir und die Bombe. In: Die Zeit, Hamburg, Nr. 24/1998, 4.6., S. 5-6.

68) Die folgenden Ausführungen sind eine Fortschreibung eines Positionspapier des Verfassers zur Konfliktregulierungsproblematik. Siehe Weidemann, Diethelm, Krisen- und Konfliktmanagement in der postbipolaren Welt: Möglichkeiten und Grenzen von Konfliktregulierung in Asien, Juni 1995.

69) Ausführlich dazu Weidemann, Diethelm, Gefährliche Identitätssuche. Pakistan zwischen Orientierungslosigkeit und Indien-Fixierung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, 47 (2002) 7, S. 846-854.

70) Siehe Government of India, Ministry of External Affairs. Letter from the Representative of India addressed to the President of the Security Council, dated 1 January 1948 (S/628, 2 January 1948). In: UNCIP First Interim Report (9.11.1948), Annex 28 Para III, Papers 1952, pp. 112-116.

Prof. Dr. Diethelm Weidemann war 1975-1988 Direktor der Sektion Asienwissenschaften, 1989-1992 Direktor des Instituts für Friedens- und Konfliktforschung und 1992-2000 Lehrbeauftragter am Insti- tut für Asien- und Afrikawissenschaften der Berliner Humboldt-Universität

Das Konfliktpotenzial von Großstaudämmen

Mehr als nur Energie:

Das Konfliktpotenzial von Großstaudämmen

von Heike Drillisch und Evelyn Ebert

Wasserkraft gilt als saubere Energie und damit als gute Alternative zu fossilen Energieträgern und Atomkraftwerken. Bei dieser Betrachtungsweise werden jedoch oft die ökologischen, kulturellen und sozialen Auswirkungen von Staudammbauten vernachlässigt, die ein enormes Konfliktpotenzial in sich bergen. In Ghana, Uganda, Chile, China und Sudan – in allen diesen Ländern führten Staudammbauten zu massiven Auseinandersetzungen. Auch das geplante Ilisu-Wasserkraftwerk in der Türkei verdeutlicht die mit Großstaudämmen verbundenen Konflikte auf drastische Weise, wie die Autorinnen im folgenden Artikel aufzeigen.

Der Ilisu-Staudamm ist das derzeit größte Wasserkraftprojekt der Türkei. Er soll den Tigris kurz vor der Grenze zu Syrien und Irak aufstauen und einen 313 km² großen See schaffen. Das geplante Wasserkraftwerk soll eine Kapazität von 1.200 MW haben und eine Leistung von 3.833 Gigawattstunden erbringen. Ein internationales Konsortium wurde von der türkischen Regierung mit dem Bau beauftragt. Mit dabei ist die deutsche Baufirma Ed Züblin1. Staatliche Exportkreditversicherungen wie die deutschen Hermesbürgschaften sollen das Risiko des Projekts absichern. In den Jahren 2001/02 war ein erster Versuch, das Projekt zu realisieren, gescheitert, da der Großteil der damals beteiligten Firmen sich aufgrund der ungelösten ökologischen und sozialen Probleme aus dem Projekt zurückzog.

Durch die Talsperre werden 50-80.000 Menschen ganz oder teilweise ihre Existenzgrundlage verlieren. Profitieren werden etliche Großgrundbesitzer in der von extrem ungleicher Landbesitzverteilung geprägten Region, da sie hohe Entschädigungszahlungen erhalten werden. Des weiteren werden Tausende von Kulturgütern, die nicht einmal ansatzweise erforscht sind, darunter die 10.000 Jahre alte Stadt Hasankeyf mit ihrem hohen Symbolwert für die Bevölkerung, in den Fluten untergehen. Aus ökologischer Sicht wird die Aufstauung des Tigris zu einer dramatischen Verschlechterung der Wasserqualität, zu gravierenden Veränderungen der Flusshydrologie und zur Abnahme der Biodiversität in der Region führen.

Der Ilisu-Staudamm ist Teil des Südostanatolienprojektes GAP (Güneydogu Anadolu Projesi), das 22 Staudämme und 19 Wasserkraftwerke an den grenzüberschreitenden Flüssen Euphrat und Tigris umfasst. Sind alle Dämme und Kraftwerke errichtet, sollen jährlich 27 Mio. kWh Strom erzeugt2 und damit der wachsende Energiebedarf der Türkei gedeckt werden. Das GAP soll nach Aussage der türkischen Regierung einen Beitrag zur gesellschaftlichen Stabilität und zu wirtschaftlichem Wachstum leisten und den Anschluss des rückständigen Südostanatolien an den Rest des Landes unterstützen. Bisher wurden allerdings vor allem die Staudammbauten vorangetrieben, von einer wirklichen Entwicklung der Region ist wenig zu spüren. In einem geostrategisch brisanten Gebiet, in dem die Interessen wasserarmer und wasserreicher Staaten aufeinander treffen, führt dieses Megaprojekt zu inner- und zwischenstaatlichen Konflikten.

Innerstaatliche Konflikte

Das GAP-Projekt liegt in einem Gebiet, dessen kurdischer Bevölkerung seit Jahrzehnten die Anerkennung ihrer eigenen Identität verweigert wird, was zu einem 16jährigen Bürgerkrieg zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei PKK und dem türkischen Militär und Paramilitärs geführt hat. Trotz Waffenstillstand kommt es in der Region, die noch stark vom Krieg gekennzeichnet ist, immer wieder zu Repressionen gegenüber der kurdischen Bevölkerung. Ende März 2006 kam es z. B. im Zusammenhang mit Militäroperationen zu mehreren Todesfällen von Zivilisten, was zu Massendemonstrationen führte, gegen die wiederum Militär eingesetzt wurde. In einem derartigen Klima der Gewalt ist es für die Betroffenen schwer, ihre Meinung zu äußern und ihre Interessen zu vertreten. Vom Projektbetreiber durchgeführte Befragungen der Bevölkerung dienten offensichtlich vor allem dazu, die internationalen Finanziers zufrieden zu stellen; an internationalen Standards gemessen, waren sie so mangelhaft, dass von einer wirklichen Beteiligung der – häufig uninformierten – Bevölkerung nicht die Rede sein kann. Der im Herbst 2005 vorgelegte Umsiedlungsplan lässt erwarten, dass die große Mehrheit der vom Verlust ihrer Lebensgrundlagen Betroffenen keinen ausreichenden finanziellen Ausgleich bekommen wird. Armut und Entwurzelung sind das zu erwartende Schicksal für die meisten Umzusiedelnden. Von einem Teil der Betroffenen werden die im Rahmen des GAP geplanten Dämme, darunter der Ilisu-Staudamm, deshalb auch als ein Mittel empfunden, mit dem der türkische Staat seine Kontrolle über die Region erhöhen will.

Zwischenstaatliche Konflikte

Das Ilisu-Projekt verschärft darüber hinaus die Auseinandersetzungen um die kostbare Ressource Wasser in der Region. Die türkische Regierung setzte die bestehenden GAP-Dämme am Euphrat bereits als Waffe ein. Sie forderte z. B. von Syrien ein Ende der Unterstützung der PKK mit der Drohung, dass die Wasserfließmenge geändert werden könnte. Als der Atatürk-Stausee gefüllt wurde, musste Syrien einen Monat ohne Euphratwasser auskommen. Während des Golfkrieges 1991 reduzierte die Türkei, NATO-Mitglied und jetzt in der »Koalition der Willigen«, kurzzeitig den Wasserabfluss des Euphrats um 40%. Der ehemalige türkische Staatspräsident Demirel begründet die Anwendung dieses Machtmittels wie folgt: „Mit dem Wasser ist es so wie mit dem Öl: wer an der Quelle des Wassers sitzt, hat ein Recht darauf, das ihm niemand streitig machen kann.“3 Mit dem Bau des Ilisu-Staudamms erhielte die türkische Regierung nun die Möglichkeit, auch den Wasserlauf des Tigris zu unterbrechen oder umgekehrt gezielt Überflutungen herbei zu führen.

Auch in spannungsfreien Zeiten wird der Staudamm gravierende Auswirkungen auf die Wasserqualität und –quantiät der Unteranlieger haben und die Nutzungsmöglichkeiten des Tigriswassers erheblich einschränken. Da die Abwässer aus der Landwirtschaft und den umliegenden Städten und Dörfern großenteils ungeklärt in den Tigris fließen, wird das Wasser des Stausees mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr giftig sein, was große Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung mit sich bringt. Diese machen naturgemäß an den Staatsgrenzen nicht halt. Zudem ist unterhalb von Ilisu ein weiterer Staudamm für Bewässerungszwecke geplant, der Cizre-Staudamm, so dass zu befürchten ist, dass in trockenen Sommermonaten kaum noch Tigriswasser die Grenze passieren wird. Die Planungen für den Ilisu-Staudamm lassen keinerlei Bemühungen von türkischer Seite erkennen, einen Interessenausgleich mit den Nachbarstaaten Syrien und Irak herbeizuführen. Weder die irakische noch die syrische Regierung wurden offiziell informiert, noch wurden sie konsultiert, um ihre Anliegen in die Projektplanung einzubeziehen. Beide Staaten haben beim ersten Projektanlauf vor fünf Jahren bereits gegen das Projekt protestiert.

Wie der Fall des Ilisu-Staudamms zeigt, sollen Staudammprojekte zwar häufig nach Aussage der sie planenden Regierungen durch Bewässerung und/oder Stromgewinnung zum Wohlstand der Bevölkerung beitragen, können aber sowohl interne Konflikte als auch – im Falle grenzüberschreitender Flüsse – Spannungen mit den Nachbarländern verschärfen. So führen sie keineswegs immer zu den erhofften Wohlstandszuwächsen. Die mit ihnen verbundenen Konflikte und Probleme stehen aber meist im Schatten der ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Interessen der Projektbetreiber.

Internationale Regulierungsmechanismen

Als Reaktion auf die zunehmende Kritik an Großstaudämmen und zur Vorbeugung von Konflikten rund um Staudämme entstand 1998 die Weltstaudammkommission (WCD), in der Staudammbefürworter und -gegner die reichhaltigen Erfahrungen gemeinsam auswerteten. Die Kommission kam zu dem Schluss, dass zur Lösung und Vermeidung der mit Staudammbauten verbundenen Konflikte ein viel breiterer Rahmen als bisher betrachtet werden muss. Die WCD entwickelte einen Ansatz, der auf der Anerkennung von Rechten und der Bewertung von Risiken beruht. Risiken bedeuten dabei nicht nur das Risiko der Betreiber und Investoren, sondern auch die unfreiwilligen Risiken, die die Bevölkerung des Projekts zu tragen hat und die sich unmittelbar auf ihre Existenzgrundlage und ihr persönliches Wohlbefinden auswirken. Aus diesem Ansatz heraus hat die Kommission sieben strategische Prioritäten für die Entscheidungsfindung entwickelt, deren Anwendung zu einer faireren Regulierung der aus dem Staudammbau resultierenden Konflikte führen würde:

  • die Gewinnung öffentlicher Akzeptanz,
  • die umfassende Prüfung von Optionen,
  • die Verbesserung bestehender Staudämme,
  • der Erhalt von Flüssen und Existenzgrundlagen,
  • die Anerkennung von Ansprüchen,
  • die gerechte Teilung des Nutzens,
  • die Einhaltung von Verpflichtungen und Vereinbarungen.

Als grundlegende Werte, die die Entscheidungsfindung bei Staudammprojekten leiten sollen, werden Gerechtigkeit, Effizienz, partizipative Entscheidungsfindung, Nachhaltigkeit und Rechenschaftspflicht genannt. Dies bedeutet für die Projektplanung:

  • alle Interessengruppen werden in den Entscheidungsprozess einbezogen;
  • soziale und umweltrelevante Aspekte erhalten das gleiche Gewicht wie technische, wirtschaftliche und finanzielle Faktoren;
  • allseitig annehmbare, formale und rechtlich bindende Vereinbarungen werden getroffen;
  • über gemeinsam genutzte Flussbecken werden Abkommen geschlossen, die auf dem Prinzip der gerechten und angemessenen Nutzung, der Vermeidung größerer Schäden, der vorherigen Unterrichtung der Partner und den strategischen Prinzipien basieren.

Kommt es zu unüberwindbaren Streitigkeiten, sollen diese in letzter Distanz dem internationalen Gerichtshof vorgetragen werden. Wenn ein Staat einen Staudamm plant oder baut, ohne Verhandlungen auf der Basis von Treue und Glaube durchzuführen, sollen externe Finanzorganisationen ihre Unterstützung zurückziehen.

Ein Teil der von der WCD vorgeschlagenen Verfahrenspunkte ist bereits in internationalen Konventionen verankert. Zu diesen gehören z. B. die UN-Konvention über die nicht-schiffbare Nutzung internationaler Wasserläufe und die Konvention über den Schutz und die Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen der UN-Wirtschaftkommission für Europa.4 Diese schreiben die frühzeitige Information und Konsultation der Anrainerstaaten bei Projekten an grenzüberschreitenden Flüssen vor. Bezeichnenderweise hat die türkische Regierung die Unterzeichnung dieser Konventionen abgelehnt. Deutschland gehört jedoch zu den Unterzeichnern. Zudem ist das Prinzip der Konsultation von Flussanliegerstaaten als Teil des Völkergewohnheitsrechts anzusehen, so dass auch die Türkei daran gebunden ist.

Auch die Richtlinien der Weltbank spiegeln einige der später etablierten WCD-Kriterien wider. So sollen z. B. sowohl die Nachbarstaaten als auch die im eigenen Land betroffene Bevölkerung konsultiert werden, ihre Positionen sollen in die Projektplanung einfließen. Die Richtlinien der Weltbank sind angesichts der bei großen Infrastrukturprojekten auftretenden Probleme sehr unzureichend, und sie sind auch in den letzten Jahren mehrfach aufgeweicht worden. Aber immerhin lehnt die Weltbank seit 1984 eine Finanzierung der GAP-Staudämme ab. Obwohl die am Ilisu-Staudamm beteiligten Unternehmen angegeben haben, das Projekt nur durchführen zu wollen, wenn internationale Standards eingehalten werden, wurde eine ganze Reihe von Weltbankrichtlinien bereits in der Planung des Dammes verletzt. Andere, darunter diejenige zur Staudammsicherheit, wurden überhaupt nicht berücksichtigt.

Dies alles zeigt, dass es diverse Ansätze gibt, um die beim Bau von Staudämmen entstehenden Konflikte im Vorfeld zu minimieren. Den Ansätzen fehlt jedoch bisher eine einklagbare Verbindlichkeit, um den Betroffen Rechtssicherheit zu bieten. Gleichzeitig mangelt es den Projektbetreibern, beteiligten Unternehmen und Finanzinstituten am Willen, diese zu befolgen. Im Falle des Ilisu-Staudamms bedeutet dies, dass die europäischen Firmen und – sollten die Bürgschaften bewilligt werden – die Regierungen der Schweiz, Österreichs und Deutschlands die Verantwortung für die zu erwartenden friedenspolitischen, sozialen und ökologischen Auswirkungen mit übernehmen müssen. Denn Staudämme sind nicht zwingend umwelt- und sozialverträgliche Energieträger: sie produzieren weit mehr als Energie.

Anmerkungen

1) Die Federführung obliegt dem österreichischen Unternehmen VA Tech Hydro, das kürzlich von dem ebenfalls österreichischen Unternehmen Andritz aufgekauft wurde. Aus der Schweiz sind zudem Alstom, Stucky, Maggia und Colenco dabei.

2) Vgl. Homepage des GAP: http://www.gap.gov.tr/gap_eng.php?sayfa=English/Ggbilgi/gnedir.html (31.05.2006).

3) Zit. nach Dietziker (1998): Wasser als Waffe. Türkische Dämme und Schweizer Helfer. Zürich.

4) UN Convention on the Law of the Non-Navigational Uses of International Watercourses (New York 1997); UN/ECE Convention on the Protection and Use of Transboundary Watercourses and International Lakes (Helsinki 1992).

Heike Drillisch, Ethnologin, und Evelyn Ebert arbeiten bei WEED – Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung e.V. in der Kampagne zur Reform der Hermesbürgschaften. In diesem Rahmen leitet Heike Drillisch in Deutschland die europäische Kampagne gegen den Ilisu-Staudamm. Weitere Informationen: www.weed-online.org/ilisu.

Ursachen und Grundstrukturen politischer Gewalt

Ursachen und Grundstrukturen politischer Gewalt

von Jochen Hippler

Menschen greifen nicht selbstverständlich und leicht zu politischer Gewalt. Dazu bestehen zu viele psychologische Hemmschwellen, politische Restriktionen und persönliche Risiken. Zwar sind die Hindernisse einer Gewaltausübung in verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Kontexten und zu verschiedenen historischen Zeitpunkten unterschiedlich ausgeprägt, aber sie können prinzipiell relativiert oder überwunden werden. In fast allen Fällen gilt allerdings, dass politische Gewalt ein Zeichen sozialer, ökonomischer oder politischer Krisen darstellt, die sich häufig auch in ideologischen oder spirituellen Umbrüchen reflektieren. Das trifft sowohl für die Gewalt von oben – die politischer Machteliten – zu wie auch für die Gewalt von unten – die nichtstaatlicher Akteure.

Wenn Gewalt von politischen Machteliten oder Regierungen und deren bewaffneten Organen angewandt wird, kann dies offensiven oder defensiven Absichten entsprechen: Eine von der Bevölkerung nicht getragene Regierung oder ein staatliches System, die von Machtverlust oder gar Sturz bedroht sind, können versuchen, sich dem gewaltsam entgegen zustemmen. Dann ist wahrscheinlich, dass die direkten Träger der Bedrohung, also die Opposition, zum Ziel der Gewalt wird, aber häufig werden über die aktiven Kader und Politiker, die den Herrschern gefährlich werden könnten, auch mit ihnen identifizierte Gruppen getroffen: etwa politische Organisationen, Parteien oder Bewegungen, religiöse, kulturelle, ethnische oder nationale Gruppen. Der Völkermord in Ruanda 1994 gehörte sicher in diese Kategorie einer umfassenden Anwendung politischer Gewalt, um die Gefahr eines Machtverlustes präventiv und endgültig zu bannen.

Eine offensive Art des Einsatzes politischer Gewalt kann vorliegen, wenn ein Regime entweder nach außen (durch Krieg) die eigene Macht ausdehnen möchte, wie im Fall des Irak 1980 und 1990, als Saddam Hussein den Iran und Kuwait überfallen ließ oder beim US-Angriff auf den Irak 2003. Nicht selten sind solche Aggressionen mit interner Repression verbunden, um zugleich innenpolitische Gegner auszuschalten. Ein offensiver Umgang mit staatlicher Gewalt kann aber auch vorliegen, wenn ein Regime ein Konzept der politischen, ethnischen, nationalen oder rassistischen Umgestaltung der eigenen Gesellschaft betreibt und dazu ganze Bevölkerungsgruppen marginalisieren, vertreiben oder auslöschen möchte. Klassische Beispiele sind natürlich die Vernichtung der europäischen Juden durch den deutschen Faschismus, die Vernichtung der »Kulaken« in der Ukraine durch den Stalinismus, die ethnischen »Säuberungen« und der Völkermord auf dem Balkan, insbesondere durch die großserbischen Nationalisten, oder der jungtürkische Völkermord an den Armeniern.

Zwischen diesen beiden Extremen politischer Gewalt zu defensiven oder offensiven Zwecken liegt die »normale« Gewaltpolitik von Herrschern, die auf Kosten und ohne Zustimmung ihrer Völker regieren. In erfolgreichen Diktaturen kann das Maß der tatsächlich ausgeübten Gewalt erstaunlich gering bleiben, weil die Bevölkerung einerseits bereits von der Drohung gelähmt und diese Strategie meist mit positiven Anreizen des Wohlverhaltens verknüpft wird.

Sehen wir von dieser »routinemäßigen« Gewaltanwendung einer Diktatur oder autoritären Herrschaft ab, dann deutet vieles darauf hin, dass bei der offensiven wie defensiven Variante bereits gesellschaftliche oder gar regionale Ungleichgewichte oder Verwerfungen entstanden sind, zu deren Beseitigung die Gewalt dienen soll. Ein größeres Ausmaß an Gewalt deutet auf eine latente oder akute soziopolitische oder ökonomische Krise hin, die gewaltsam überwunden werden soll.

Eine solche Voraussetzung darf man auch bei massiver und dauerhafter Gewalt durch nichtstaatliche Akteure unterstellen, mag diese von Befreiungsbewegungen, Unabhängigkeitskämpfern, politischen Parteien oder Bewegungen, terroristischen Organisationen, oder ethnischen oder religiösen Gruppen ausgehen.

Armut, soziale Ungleichheit und Entwicklungsprobleme

Häufig wird Armut als eine zentrale Ursache politischer Gewalt allgemein und des Terrorismus insbesondere genannt. Ein solcher Zusammenhang erscheint einleuchtend, ist auch nicht prinzipiell falsch – aber funktioniert doch eher indirekt und über einige Zwischenschritte. Armut an sich ist schrecklich, aber nicht notwendigerweise ein direkter Auslöser oder eine Ursache von Gewalt. Wenn in einer Gesellschaft alle Menschen mehr oder weniger gleich arm sind, gibt es aus Armutsgründen kaum Anreize für Gewaltanwendung. Wenn allerdings krasse Armutsunterschiede vorhanden sind, eine Gesellschaft also tief in Arm und Reich gespalten ist, wächst das Potential latenter Gewalt, auch wenn diese nicht unbedingt zum Ausbruch kommen muss. Heikel wird es aber, wenn solche Armutsdifferenzen in erkennbare Bewegung geraten, sich also etwa vermindern oder verbreitern – dann kann die Gewaltwahrscheinlichkeit beträchtlich steigen. Eine Vergrößerung oder Verkleinerung des Abstandes zwischen Arm und Reich hat immer Gewinner und Verlierer zur Folge, und deren Reaktionen können die Gewaltschwelle senken. Armut kann unter bestimmten Umständen einen Leidensdruck produzieren, der – wenn andere Faktoren hinzutreten – in gewaltsame Reaktionen umschlagen, wie er auch in Apathie, Selbsthass, Kriminalität, Entpolitisierung, individuelle Überlebensstrategie und anderes münden kann, aber nicht muss. Der Faktor Armut ist also mit anderen verknüpft. Paul Brass weist auf den Zusammenhang zwischen Ungleichheit, ungleichen Wettbewerbssituationen und ethnischer Fragmentierung in Situationen von Modernisierung für eine nationalistische Mobilisierung mit dem Potential zu Gewalt hin: „(N)icht Ungleichheit an sich oder relativer Mangel oder Statusunterschiede sind der entscheidende Antrieb für den Nationalismus ethnischer Gruppen, sondern die relative Verteilung ethnischer Gruppen im Wettbewerb um wertvolle Ressourcen und Chancen und in der Arbeitsteilung in Gesellschaften, die soziale Mobilisierung, Industrialisierung und Bürokratisierung erleben.“1

Ungleichheit, Armut und damit verbundene sozioökonomische Probleme müssen mit gesamtgesellschaftlichen Umbruchssituationen, innergesellschaftlicher Konkurrenz und diesen entsprechenden Ideologien zusammentreffen, um politisch explosiv zu werden.

Armut und in Bewegung geratene Armutsdifferenzen sind also ein Rohstoff der Gewaltentwicklung, aber nicht mehr als das. Sie führen nicht automatisch zur Gewalt, und Gewalt kann auch ohne sie zustande kommen. Trotzdem: Gerade Veränderungen in der Armutsstruktur, also beispielsweise die Pauperisierung der Mittelschichten, eine massive Vergrößerung oder Verkleinerung des Armutsgefälles, oder die bloße Gefahr bisher privilegierter Gesellschaftssektoren, abzusinken und gegenüber anderen ins Hintertreffen zu geraten, können wichtige Faktoren einer gesellschaftlichen Gewaltdynamik sein.

Ob die Gewaltschwelle dabei tatsächlich überschritten wird, ob dies punktuell oder systematisch, spontan oder organisiert, durch kleine Gruppen oder auf Grundlage einer breiten sozialen Bewegung, durch den Staat oder nicht-staatliche Akteure, durch Sachbeschädigung, Bürgerkrieg oder Terrorismus geschieht – das wird von dem konkreten Kontext und Konfliktverlauf, der Geschichte, Kultur, den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen eines Landes abhängen.

Repression und der Charakter des Staates

Ähnliches gilt für den Faktor »politische Repression«. Die Verweigerung von Freiheits- und Partizipationsrechten und Unterdrückung können zu mächtigen Faktoren werden, die politischen Widerstand provozieren und schließlich auch zu gewaltsamem Ausdrucksformen führen. Diktatorische Regime haben oft auch weniger Anreize als demokratische Systeme, selbst bei der Konfliktbearbeitung auf Gewaltanwendung zu verzichten.2

Tobias Debiel formuliert: „Zu den strukturellen Gewaltursachen und den essentiellen Konfliktgegenständen zählen insbesondere die fortdauernde Bedrohung kultureller Identität durch staatliche Repression bzw. eine vorherrschende Bevölkerungsgruppe, der Ausschluss von der Machtausübung auf staatlicher Ebene, die hartnäckige Verweigerung regionaler Autonomie und lokaler Selbstbestimmung, schließlich die Beschneidung individueller wie kollektiver Entwicklungschancen: Wenn sich unter solchen Bedingungen das kollektive Gefühl von Diskriminierung bzw. Unterdrückung mit der Organisationsfähigkeit betroffener Gruppen verbindet, so sind gewaltsame Konflikte sozusagen vorprogrammiert.“3

Aber der Zusammenhang zwischen politischer – auch terroristischer – Gewalt und Repression sowie dem Fehlen von Demokratie mag zwar existieren, ist aber kompliziert und indirekt. Es gibt zahlreiche Diktaturen, die mit einem bemerkenswert niedrigen Grad an politischer Gewalt auskommen, während umgekehrt in manchen Demokratien oder Halbdemokratien ein beträchtliches Maß an politischer Gewalt existieren kann – Indien und Pakistan (in den 1990er Jahren) mit ihren internen ethnischen und religiösen Konflikten und der Konkurrenz um Kaschmir sind Beispiele. Auch Kolumbien, die Türkei oder Indonesien sind Länder mit Wahlen und einem gewissen Grad an Demokratie, aber leiden oder litten durchaus unter politischer Gewalt im großen Stil. Demokratische Staaten können Terrorismus hervorbringen, wie die Bundesrepublik Deutschland und Italien in den 1970er Jahren erfahren mussten. Umgekehrt existieren zahlreiche autoritäre Regime oder Diktaturen, die das Gewaltniveau nach innen und außen relativ niedrig halten können. Demokratie und die Geltung demokratischer Freiheitsrechte vermögen tatsächlich gewaltsamer Konfliktaustragung und terroristischer Gewalt vorzubeugen, indem sie bestimmte Widerstandsgründe beseitigen und zugleich politische Mechanismen bereitstellen, die eine friedliche Konfliktregulierung erlauben. Dies gilt allerdings nur prinzipiell und langfristig. Kurzfristig können Demokratisierungsprozesse das Gewaltpotential sogar noch erhöhen, indem die repressiven Instrumente der Gewaltvermeidung geschwächt werden, die konsensualen aber noch nicht ausreichend entwickelt sind oder eine Phase der Instabilität mit massiven Verschiebungen der Machtgleichgewichte eintritt. Trotz dieser Einschränkungen lässt sich feststellen, dass insbesondere in Bezug auf terroristische Gewalt funktionsfähige und entwickelte demokratische Gesellschaften (nicht unbedingt »neue« Demokratien) tendenziell weniger anfällig sind und – falls Terrorismus doch auftritt – dieser gesellschaftlich eher isoliert bleibt. Andererseits werden harte Diktaturen, die zivile Mechanismen der Konfliktregulierung nicht zulassen, auf Dauer eher einen gewaltsamen, ggf. auch terroristischen Widerstand hervorbringen – allerdings fast immer nicht allein wegen ihres diktatorischen Charakters, sondern weil dieser Faktor sich mit anderen, wirtschaftlichen, sozialen, religiösen, politischen verbindet. Deshalb ist der Charakter staatlicher Systeme für die Gewaltfrage zentral. Der Arab Human Development Report 2004 kennzeichnet die arabischen Staatsapparate so: „Die allgemeinen Merkmale dieses arabischen Modells, das einige als den »autoritären Staat« bezeichnen (…) und das in einer Reihe von Studien ausführlich beschrieben wurde (…), sind in den jüngsten Kommentaren eines arabischen Journalisten und Aktivisten zusammengefasst. Er beschreibt die Regierung in seinem Land als ein System ohne freie und transparente Parlamentswahlen, das ein »monochromes« Parlament zur Folge hat. Auch die Pressefreiheit ist in diesem System eingeschränkt, ebenso wie politische und Menschenrechtsarbeit, das Justizsystem wird genutzt, um an Oppositionellen Exempel zu statuieren, und die Verfassung ermöglicht eine Regierung, die »auf unbestimmte Zeit eingesetzt und der Kontrolle durch Parlament und Justiz nicht unterworfen« ist. In einem solchen Regime wird auch die herrschende Partei zu nicht mehr als einem Teil des Verwaltungsapparats, der von »Funktionären ohne jegliche Initiative und Effizienz« geführt wird.“4

Solche Staatsapparate sind so auf die Gewährleistung sozialer und politischer Kontrolle fixiert, dass sie an den grundlegenden staatlichen Aufgaben (z.B. Entwicklung, Rechtssicherheit, Partizipation, Transparenz) scheitern oder sie erst gar nicht zu bewältigen versuchen. Solche Diktaturen oder Halb- und Scheindemokratien vermögen Terrorismus und ähnliche Gewaltformen aufgrund ihrer Spitzelsysteme und Repression oft jahrelang einzudämmen, aber erzeugen dadurch letztlich einen Konfliktstau, der sich später um so gefährlicher entladen kann.

Die Rolle der Wahrnehmung

Neil Kressel hat die psychologischen Bedingungen politischer Gewalt untersucht, insbesondere die Faktoren von Hass, Wut und Frustration. „Wirtschaftliche Entbehrungen, Verfolgung, Epidemien, militärische Niederlagen und andere Probleme können Frustrationen auf gesellschaftlicher Ebene hervorrufen. Doch harte Lebensumstände allein führen nicht direkt oder zwingend zu schwelender Enttäuschung und Wut. In vielen Ländern ertragen Menschen solche Bedingungen mit Gleichmut, und umgekehrt gewährleistet das Fehlen sichtbarer Entbehrungen kaum, dass Menschen keine Enttäuschung empfinden. Am stärksten sind Menschen entmutigt, wenn die Erfolge, die sie im Leben erreichen, hinter ihren Erwartungen zurückbleiben. Folglich tragen steigende oder unrealistisch hohe Erwartungen manchmal ebenso sehr zu Massenfrustration bei wie tatsächlicher Mangel.

So muss auch eine enttäuschte Gesellschaft nicht automatisch zu einer zornigen Gesellschaft werden. Nur wenn Menschen ihre Lebenssituation als inakzeptabel und als Folge von Ungerechtigkeit betrachten, wird Wut um sich greifen. Wenn viele Menschen in einer Gesellschaft beschließen, dass sie unerträglich leiden, weil sie unterdrückt oder schlecht behandelt werden, steigt die Gefahr des Massenhasses erheblich. Erfahrungen tatsächlichen Unrechts sind der tiefere Grund für manche destruktiven Impulse, doch ein Gefühl der Ungerechtigkeit muss weder aus tatsächlicher Verfolgung noch aus den Handlungen derer erwachsen, gegen die sich diese Impulse möglicherweise richten.“5

Ein wichtiges Element des Entstehens eines Gewaltpotentials besteht tatsächlich im Auseinanderklaffen der Erwartungen und Hoffnungen eines Großteils der Bevölkerung und der gesellschaftlichen Realitäten. Nicht die Armut der Bevölkerung oder der Mangel an Demokratie an sich führen direkt und automatisch zu politischer Gewalt – auch extrem arme Gesellschaften können bemerkenswert friedfertig sein. Aber wenn diktatorische Verhältnisse oder Armut von größeren Teilen der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert werden, weil die Menschen mehr Wohlstand und Freiheit für erstrebenswert und möglich halten und beides ihnen verweigert wird, dann entsteht ein Konfliktpotential mit möglicher Gewaltkomponente.

Wenn wir diese allgemeinen Anmerkungen auf die Region des Nahen und Mittleren Ostens anwenden, lässt sich feststellen, dass korrupte und unfähige Regierungen der eigenen Bevölkerung grundlegende politische Rechte verweigern und zugleich nicht in der Lage sind, eine wirtschaftliche Zukunftsperspektive zu bieten. Massive Jugendarbeitslosigkeit, eine schamlose Spaltung der Gesellschaften zwischen Arm und Reich (letztere oft demonstrativ pro-westlich) und ein starkes Auseinanderklaffen der öffentlichen Werte und Normen einer Gesellschaft und der sozialen Realität sind Warnsignale. Gerade Saudi Arabien liefert ein krasses Beispiel, wie die offiziellen – religiösen – Werte und die politischen und persönlichen Realitäten in Konflikt geraten. Umgekehrt wird deutlich, dass die nach innen deutlich friedfertigeren Verhältnisse in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg weniger aus »westlichen Werten« und anderen kulturellen oder religiösen Faktoren, als mit funktionierenden sozialen und politischen Systemen resultieren, die der Mehrheit der Menschen auch eine wirtschaftlich Lebensperspektive boten und dann entsprechenden Einstellungen und Werten erst eine Basis boten. Solche positiven gesellschaftlichen und politischen Bedingungen sind der Herausbildung friedfertiger Mentalitäten und Einstellungen sehr förderlich. In einer ganzen Reihe von Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sind die Bedingungen dem aber genau entgegengesetzt: Es bestehen chronische Krisen der Gesellschaften und eine zunehmende Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit und Wut.

Gesellschaftliche Träger von Gewalt

Als soziale Organisatoren eines resultierenden politischen Radikalismus (und später möglicherweise dessen gewaltsamer Praktiken) kommen häufig Sektoren der Mittelschichten in Betracht, etwa die Söhne ländlicher Familien, die in großen Städten oder sogar im Ausland neue Bildungselemente erwerben (vor allem an Universitäten) – und dann keine oder keine angemessenen Arbeitsplätze finden, zugleich aber nicht zurück in ihre Dörfer können oder wollen. Das politische Konfliktpotential speist sich aus sozialer Not und Verzweiflung, aber seine Organisation wird meist nicht von den Ärmsten, sondern von Vertretern der technischen Intelligenz, Ärzten oder Rechtsanwälten getragen. Die Ärmsten und Marginalisierten sind oft mit ihrem persönlichen Überlebenskampf ausgelastet, der Freiraum für kontinuierliche politische Organisationsarbeit – auch organisierten Terrorismus – ist ein »Luxus«, den sie sich selten leisten können. Zwar können die Ärmsten durchaus zu Trägern politischer Gewalt werden, etwa bei spontanen Aufständen oder als Kanonenfutter bei ethnischen oder ethno-religiösen Ausschreitungen. Als Planer oder Organisatoren kommen aber die wirklich Armen oder das Lumpenproletariat nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht, schon weil bei ihnen die nötigen (oder zumindest sehr nützlichen) politischen Kulturtechniken und Bildungselemente oft fehlen. Analphabeten und Menschen ohne Computerkenntnisse taugen als politische Organisatoren heute nur bedingt. Umgekehrt ist politischer Aktivismus – unter bestimmten Umständen eben auch bis zur politischen und terroristischen Gewalt – für Sektoren der Mittelschichten sowohl realistischer als eine potentielle politische Aufstiegsstrategie. Größere und dauerhafte Gewaltformen setzen darum häufig einerseits einen starken Leidensdruck unter großen Teilen der Bevölkerung, zweitens aber zusätzlich spezifische Probleme von Sektoren der Mittelschichten voraus, um beide in einen wirksamen politischen Zusammenhang zu bringen, bei dem Teile der gebildeteren Mittelschichten ihren Kampf dann mit dem Leid der gesamten Gesellschaft rechtfertigen können. Wenn in einem solchen Kontext politische und gewaltlose Mechanismen der Opposition und des Wandels fehlen, kann Gewalt zu einer breiten und wirksamen Waffe werden.

Der komplizierte Zusammenhang der tiefer liegenden Konfliktursachen einerseits und der Rolle der Kader des politischen Radikalismus und potentieller Gewalt wird also erst dann verständlich, wenn man als dritten Faktor die aufgrund der soziopolitischen Krise primär betroffenen Bevölkerungsteile einbezieht. Die Kader und Organisatoren politischer Gewalt – wie auch die des zivilen Widerstandes – beziehen sich oft ideologisch auf die am meisten leidenden unteren Gesellschaftsschichten, auch wenn sie diesen nicht angehören, und erhalten aus deren Leiden einen wichtigen Teil ihrer Motivation und Legitimität. Zugleich benötigen sie diese als (zumindest Teil ihrer) sozialen Basis. Politische Gewalt zielt ja nicht allein auf ihre eigentlichen Opfer und auf Zerstörung, sondern stellt einen symbolischen, kommunikativen Akt dar, der auf politische Einflussnahme gerichtet ist. Manche Teile der Bevölkerung sollen beeindruckt, ihre Sympathie gewonnen, andere sollen eingeschüchtert werden. Die eigene potentielle Anhängerschaft gilt es zu motivieren und zu mobilisieren, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, die Hilflosigkeit der Regierung soll demonstriert oder diese zur Überreaktion verleitet werden, um sie in der Gesellschaft zu schwächen und ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben. In diesem Sinne sind nicht die Organisatoren der politischen Gewalt das Hauptproblem, sondern die politische Wirkung der Gewaltakte auf benachteiligte, unterdrückte oder marginalisierte Bevölkerungssektoren, die Mittelschichten und allgemeine Öffentlichkeit. Dabei kann eine politische oder ideologische Verbindung bestimmter radikalisierter Elemente der Mittel- und z.T. sogar Oberschichten – mit ihren Bildungs- und Artikulationsmöglichkeiten wie auch finanziellen Ressourcen – mit den breiten Unterschichten entstehen, die oft an den Rand der Gesellschaft gedrängt sind, es aber allein selten zu dauerhafter politischer Wirksamkeit bringen. Deren Beeinflussbarkeit und Mobilisierbarkeit kann durchaus durch kulturelle Faktoren beeinflusst werden, hängt aber sehr stark davon ab, ob ein bestehendes System ihnen eine positive Lebensperspektive und die Hoffnung auf eine Verbesserung der eigenen Lebenslage bietet. Wer also politische Gewalt – und deren widerliche Sonderform, den Terrorismus – bekämpfen möchte, darf natürlich die Gewalttäter nicht ignorieren, aber der langfristige Erfolg einer solchen Strategie hängt davon ab, die Organisatoren und Kader der Gewalt politisch und sozial von der Gesellschaft zu isolieren. Nur der Erfolg bei dieser Aufgabe hat es in Italien und Deutschland erlaubt, den eigenen Terrorismus der siebziger und achtziger Jahre zu überwinden: die Täter wurden isoliert und resignierten oder wurden polizeilich gefasst. Und diese Aufgabe der politischen Isolation der Täter kann nicht durch Polizei, Geheimdienste oder das Militär gelöst werden, sondern durch Schaffung der begründeten Hoffnung auf positive Entwicklung, durch Arbeitsplätze, soziale Sicherheit, den Respekt vor der eigenen Bevölkerung, Aufstiegschancen, erträgliche Lebenshaltungskosten und Partizipationsmöglichkeiten. Wer diese Probleme nicht löst, kann der Hydra des Terrorismus und der Gewalt viele Köpfe abschlagen, ohne auf Dauer einen Schritt weiter zukommen.

Anmerkungen

1) Paul R. Brass: Ethnicity and Nationalism – Theory and Comparison, New Delhi 1991, S.47

2) Zum Stand politischer Freiheiten und Repression in arabischen Ländern siehe: United Nations Development Programme (UNDP): Arab Human Development Report 2004, New York 2005, S.81ff und 125ff

3) Tobias Debiel: Politische Gewalt, gesellschaftliche Konflikte und der »Faktor Kultur«, Manuskript für den Workshop »Politische Gewalt im interkulturellen Vergleich: Der Westen und muslimisch geprägte Gesellschaften«, Institut für Auslandsbeziehungen , Malta, 19. – 20. November 2004, S.6f.

4) United Nations Development Programme (UNDP): Arab Human Development Report 2004, New York 2005, S.126

5) Neil J. Kressel: Mass Hate -The Global Rise of Genocide and Terror, New York, 2nd ed., 2002, S.214

Dr. Jochen Hippler, Politikwissenschaftler und Privatdozent, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Duisburg-Essen. Im Rahmen des Sonderprogramms Europäisch-Islamischer Kulturdialog des Auswärtigen Amtes hat Jochen Hippler eine Studie »Krieg – Repression – Terrorismus. Politische Gewalt und Zivilisation in westlichen und muslimischen Gesellschaften« mit Kommentaren von Nasr Hamid Abu Zaid und Amr Hamzawy verfasst. Der vorliegende Artikel ist ein überarbeiteter Auszug. Die Gesamtstudie ist zu beziehen über das Institut für Auslandsbeziehungen, Charlottenplatz 17, 70173 Stuttgart.