Sicherheitsbedenken

Klimaschutz und Klimaanpassung:

Sicherheitsbedenken

von Christian Webersik

Der menschliche Anteil am Klimawandel ist unumstritten, und erste Anzeichen des Klimawandels lassen sich bereits beobachten. Dazu gehören der Anstieg des Meeresspiegels, der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur und die Zunahme von extremen Wetterereignissen wie Hitzewellen, Überflutungen oder Wirbelstürmen. Solche klimabedingten Katastrophen erhöhen die ohnehin schon vorhandenen Stressfaktoren wie Armut und schlechte Gesundheitsversorgung. Gerade in den Entwicklungsländern drohen durch den Klimawandel verstärkt Lebensmittel- und Wasserknappheit, große Umsiedlungen und extreme Armut. Selbst bewaffnete Konflikte in Folge des Klimawandels sind nicht mehr auszuschließen.

Während Politiker und Experten weiter darum ringen, wie man CO2-Emissionen senken und letztendlich stabilisieren und sich an Klimaveränderungen anpassen kann, gibt es eine neue Debatte, die weniger Aufmerksamkeit von Politik und Wissenschaft bekommt: Es geht hierbei um negative Rückkopplungen von Klimaschutz und Klimaanpassung.

Negative Rückkopplungen von Klimaschutz

In der Klimadebatte nimmt der Klimaschutz einen großen Stellenwert ein. Biotreibstoffe und die friedliche Nutzung von Kernenergie sind zwei Strategien, um fossile Brennstoffe zu ersetzen und die ehrgeizigen Klimaziele, die sich die Industrieländer gesetzt haben, zu erreichen.

Biotreibstoffe

Fossile Brennstoffe, allen voran Mineralöle, ermöglichen uns Mobilität in unserer hoch technisierten Gesellschaft. Braun- und Steinkohle, der zweitwichtigste Energieträger weltweit, kann man möglicherweise durch regenerative Energien wie Windkraftanlagen oder Solarkraftwerke ersetzen. Jedoch machte 2011 der weltweite Anteil von regenerativen Energien nur knapp vier Prozent der gesamten Energieherstellung aus (BP 2012).

Mit Mineralöl ist es schwieriger. Flugzeuge, eine große Anzahl von Personenkraftwagen und der Lastwagenkraftverkehr sind auf das Verbrennen von Kerosin, Benzin und Diesel angewiesen. Nach Angaben der der International Energy Agency (IEA) besteht bis zum Jahr 2050 die Möglichkeit, bis zu einem Viertel der Weltnachfrage nach Mineralöl mit Biotreibstoffen zu stillen. Bereits heute sind Biotreibstoffe der ersten Generation weit verbreitet, vor allem Bioethanol, aber auch Biodiesel. Die Produktion wächst stetig, auch wenn das Jahr 2011 nur einen geringen Anstieg von 0,7% verzeichnete (BP 2012). Biotreibstoffe werden aus Palmöl, Mais, Zuckerrohr oder Raps gewonnen (Webersik 2010, S.88). Die Elektromobilität bietet bei langen Strecken, für Flugreisen oder beim Lastkraftwagenverkehr noch keine Alternative zu fossilen Brennstoffen. Lösungen gibt es jedoch bereits für die Kurzstrecke, beispielsweise durch die Reduzierung von Kurzstreckenflügen durch ein attraktiveres Angebot der Bahn, die Verlagerung von Fracht auf die Schiene oder die Elektrifizierung eines Teils des LKW-Verkehrs durch Oberleitungen auf den Autobahnen.

Die große Nachfrage in Europa hat bis 2010 zu einem exponentiellen Wachstum bei Biotreibstoffen geführt. Ob Biotreibstoffe jedoch dazu beitragen, den Ausstoß von CO2-Emissionen signifikant zu verringern, steht in Frage. Gerade in den Schwellen- und Entwicklungsländern trägt der Anbau von Zuckerrohr oder die Errichtung neuer Palmölplantagen zur Vernichtung tropischen Regenwaldes bei. Tropischer Regenwald zeichnet sich durch eine besonders hohe biologische Vielfalt aus und beheimatet viele geschützte Arten. Dazu kommt, dass durch die Entwaldung große Mengen an CO2 frei gesetzt werden. Tatsache ist, dass die Vernichtung und die Degradierung von Waldgebieten für ein Fünftel der globalen Emissionen verantwortlich ist (Webersik 2010, S.92).

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass der Anbau von Nutzpflanzen, die sich für Biotreibstoffe eignen, immer größere landwirtschaftliche Flächen in Anspruch nimmt. Damit steigt die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Flächen, was einen Anstieg der Lebensmittelpreise zur Folge hat. Fest steht, dass der Lebensmittelpreisindex der Food and Agriculture Organization (FAO) der Vereinten Nationen in den letzten Jahren immer weiter gestiegen ist und 2008 einen Höhepunkt erreichte. Natürlich gibt es noch weitere Faktoren, die zu dem Preisanstieg führten, beispielsweise der steigende Ölpreis und das Bevölkerungswachstum. Jedoch hat solch ein Anstieg für arme Haushalte dramatische Folgen. In Afrika südlich der Sahara geben Haushalte mehr als 60 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus (Webersik and Wilson 2009, S.401). Dennoch sind Preisanstiege in der Landwirtschaft nicht nur negativ zu bewerten. Höhere Preise können sich auch positiv für Landwirte auswirken, die einen Überschuss an Getreide, Weizen oder Reis produzieren (FAO 2010, S.7). Um einen wirtschaftlichen Erfolg von kleinen Landwirten gerade in den Entwicklungsländern zu garantieren, muss jedoch die jeweilige Regierung sicher stellen, dass Dünger, Kraftstoff und Saatgut zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung stehen (Webersik 2010, S.90). Beispielsweise gab es in Malawi im südlichen Afrika in den letzten Jahren immer wieder Benzinengpässe, die die Produktion in der Landwirtschaft, allem voran den Kaffee- und Tabakanbau, gefährden.

Da die Nachfrage nach Biotreibstoffen weltweit stetig steigt, steigt auch die Nachfrage nach Agrarflächen. Daher gibt es immer mehr Unternehmen, die im Ausland Land erwerben. Dies geschieht nicht nur zur Herstellung von Biotreibstoffen, sondern auch zur Versorgung des eigenen Landes mit Lebensmitteln (Matondi et al. 2011). Ein Großteil dieser Agrarflächen wird in Afrika erworben, zum Beispiel in Äthiopien, einem Land, das selbst Schwierigkeiten hat, seine eigene Bevölkerung mit genügend Nahrung zu versorgen. Die Ländereien werden von Firmen gekauft oder geleast, die im Geheimen agieren und dadurch nur schwer zu kontrollieren sind. Gestützt werden solche Landdeals vom wirtschaftlichen Wachstum in Schwellenländern wie China, Brasilien und Indien, den weltweit schwindenden Ölvorkommen (peak oil) und der steigenden Nachfrage nach Biotreibstoffen (Matondi et al. 2011, S.9). Die Gefahr besteht, dass Kleinbauern in Afrika ihr Land an groß angelegte Plantagen verlieren, da sie meist keine schriftlichen und juristisch nachvollziehbaren Landrechte besitzen. Länder wie Äthiopien und Madagaskar sind bereits davon betroffen, und es ist nicht klar, wie sich solche Landdeals gesamtwirtschaftlich auswirken und wie stark sie die Lebensgrundlagen sowohl von Kleinbauern als auch von Nomadenstämmen einschränken.

Lebensmittel lassen sich nur schwer oder gar nicht ersetzen, daher ist es wichtig, nach Alternativen zu herkömmlichen Biotreibstoffen zu suchen. Eine Lösung bieten die so genannten Biotreibstoffe der zweiten Generation, die aus Pflanzen gewonnen werden, die nicht mit Lebensmittelnutzpflanzen in Konkurrenz stehen. Dazu gehören beispielsweise Holzabfälle, die in der Forstwirtschaft entstehen, oder Algen.

Die Algenproduktion bietet mehrere Vorteile. Zum einen benötigen Algen relativ geringe Mengen an Dünger. Auch wachsen Algen im Salz- oder Brackwasser und stehen damit nicht in direkter Konkurrenz mit Lebensmittelnutzpflanzen. Ein weiteres Argument für die Produktion von Algen ist die Möglichkeit, CO2 und andere Abfallprodukte zu recyceln, da Algen diese zum Wachstum benötigen. Der Nachteil ist, dass die Gewinnung von Öl aus Algen derzeit noch relativ hohe Kosten verursacht (IEA 2011b, S.14). Auch müssen große Flächen nährstoffreichen Wassers mit genügend Sonneneinstrahlung gefunden werden. Wird der Algenwuchs nicht gesteuert und begrenzt, kann dies zu unkontrolliertem Algenwuchs führen, der Fischbestände und andere Meeresbewohner gefährden kann. Aus ökologischen wie auch technischen Gründen werden Algen daher in getrennten Becken in sonnenreichen Gegenden kultiviert. Bis heute gibt es nur Pilotprojekte, ausgereifte Großprojekte existieren nicht.

Kernenergie

Wir stehen vor einem Dilemma. Die Herstellung von Biotreibstoffen der ersten Generation verringert die Flächen, auf denen Lebensmittel angebaut werden können, oder trägt zur Entwaldung bei. Von der kommerziellen Nutzung von Biotreibstoffen der zweiten Generation sind wir noch weit entfernt. Dennoch wächst international der politische Druck, saubere Energie zu produzieren, um damit den Ausstoß von Treibhausgasen zu begrenzen. Zudem wächst weltweit die Nachfrage nach Energie. Die Weltbevölkerung nimmt zu, und sie wird im Durchschnitt immer wohlhabender.

Viele betrachten daher die friedliche Nutzung der Kernenergie als Lösung, um den Ausstoß von CO2-Emissionen zu mindern. Sogar Umweltaktivisten wie Patrick Moore, Mitgründer von Greenpeace, unterstützen diese Alternative, da Kernenergie große Mengen an Energie produzieren kann und relativ kostengünstig in der Herstellung ist – solange man Forschung, Inbetriebnahme und Stilllegung nicht mit einbezieht. Tatsächlich lag der Anteil der Kernenergie in den OECD-Ländern im Jahr 2010 bei elf Prozent. Weltweit gesehen ist der Anteil der Kernenergie weit geringer: Sie macht nur knapp sechs Prozent der gesamten Primärenergieleistung aus (für das Jahr 2009) (IEA 2011a).

Spätestens seit dem atomaren Unfall von Fukushima ist klar, dass die zivile Nutzung der Kernenergie erhebliche Sicherheitsbedenken hervorruft. Frühere schwere Vorfälle, wie Three Mile Island (USA, 1979) oder Tschernobyl (UDSSR, 1986), hatten bereits gezeigt, welche großen kurz- und auch langfristigen Schäden durch solche Unfälle entstehen. Der atomare GAU von Fukushima aber hat z.B. zur Entscheidung der deutschen Regierung geführt, alle Atomkraftwerke bis 2021 vom Netz zu nehmen.

Hinzu kommen die enormen Kosten, die bei der Planung, während des Betriebs und bei der Stilllegung anfallen. Obwohl es möglich ist, atomaren Abfall wieder aufzuarbeiten, muss der Großteil des abgebrannten Brennstoffs sicher und auf Dauer gelagert werden. Gemäß der International Atomic Energy Agency (IAEA) werden 35% des Uranbrennstoffs aus sekundären Quellen gewonnen, wie gelagertem Uran, militärischen Vorräten an hoch angereichertem (und damit nuklearwaffentauglichem) Uran und wieder aufgearbeitetem Material (IAEA 2010, S.14). Bis zum heutigen Zeitpunkt wurde weder in Deutschland noch in anderen Ländern eine dauerhaft sichere Endlagerstätte für Atommüll gefunden. In Finnland und Schweden gibt es zwar Endlager, aber nur für schwach radioaktive Abfälle, und in Deutschland existieren nur temporäre Lösungen in Zwischenlagern und unterirdischen Salzbergwerksstollen.

Abgesehen von den enormen Kosten und technischen Risiken ist es wichtig, die öffentliche Meinung zur zivilen Nutzung der Kernkraft zu berücksichtigen. In einer vernetzten Gesellschaft können sich Bürger mühelos und schnell informieren und sehr effizient organisieren. In einer Studie, die in England durchgeführt wurde, wurden die Befragten zu den Risiken der Atomkraft und des Klimawandels befragt. Die Antwort war klar: Die Mehrzahl der Befragten hielt die Atomenergie für gefährlicher, da atomare Unfälle wie Tschernobyl mit Angst, behördlichem Versagen und greifbarer Verseuchung in Verbindung gebracht werden (Bickerstaff et al. 2008).

Solche Ängste sind realistisch, wie der nukleare Unfall von Fukushima wieder gezeigt hat. Obwohl Japan eines der wohlhabendsten Länder ist, das langjährige Erfahrung mit der Kernenergie hat, konnte eine schwerwiegende Umweltverschmutzung nicht vermieden werden. Radioaktives Material wurde in Luft und Wasser freigesetzt und verseuchte die Böden in einem Umkreis von vielen Dutzend Kilometern. Kaum vorzustellen, wenn solch eine Katastrophe in Ländern wie Pakistan oder Indien passieren würde, wo Sicherheitsstandards und der Katastrophenschutz weniger gut entwickelt sind, oder auch in einem dicht besiedelten Land wie Frankreich oder Deutschland. In Fukushima erfolgten die größten radioaktiven Niederschläge über dem Meer und verschonten damit die Millionenmetropolen Tokio und Yokohama.

Politische Instabilität ist eine weitere Gefahrenquelle. Länder wie Pakistan, Iran, Nordkorea oder Weißrussland planen Atomkraftwerke, haben mit dem Bau begonnen oder besitzen funktionierende Anlagen. Beispielsweise ist die politische Zukunft Pakistans schwer vorhersagbar. Sollte die Regierung einen politischen Umsturz erleben, kann dies zu einem Machtvakuum führen, mit der Folge, dass Informationen über nukleare Anlagen oder sogar atomares Material in die Hände internationaler Terroristen fallen könnten.

Schließlich besteht die Gefahr, dass Regierungen, die sich der internationalen Beobachtung entziehen, wie Nordkorea und der Iran, die Atomkraft nicht nur kommerziell oder zu Forschungszwecken nutzen, sondern auch daran arbeiten, nukleare Sprengköpfe zu entwickeln.

Negative Rückkopplungen von Klimaanpassungsstrategien

Es sind aber nicht nur Strategien zur Milderung von Treibhausgasen, die negative Konsequenzen nach sich ziehen. So wird davon ausgegangen, dass zunehmend Menschen aufgrund von Klimaveränderungen umgesiedelt werden müssen, und zwar nicht nur aufgrund direkter klimabedingter Veränderungen wie dem Anstieg des Meeresspiegels oder Naturkatastrophen, sondern auch infolge groß angelegter Klimaanpassungsprojekte. Sollte die globale Durchschnittstemperatur in diesem Jahrhundert um zwei bis vier Grad Celsius ansteigen, wird dies sicher Umsiedlungen hervorrufen, bedingt durch Wasserknappheit, Änderungen in der landwirtschaftlichen Produktion, Naturgefahren und den Anstieg des Meeresspiegels. Bereits heute gibt es klimabedingte Umsiedlungen:

Das Mekong-Flussdelta ist jedes Jahr von Überflutungen betroffen, die traditionell für die Landwirtschaft wichtig sind. Jedoch führt das Bevölkerungswachstum dazu, dass immer mehr Menschen der Flut ausgesetzt und daher gezwungen sind, kurzfristig umzusiedeln. Dazu kommt der Meeresspiegelanstieg. Bei einem Anstieg von einem Meter müssten in Vietnam bis zu sieben Millionen Menschen umsiedeln.

Ähnlich wie im Mekong gibt es in Mosambik periodisch Überflutungen, die sich nun durch den Klimawandel häufen. Menschen, die an den Ufern wohnen, müssen umsiedeln (de Sherbinin et al. 2011).

An der kanadischen Küste müssen Einheimische umsiedeln, da durch das Schmelzen der Eisdecke und den Anstieg des Meeresspiegels stärkere Sturmfluten entstehen, die zur Erodierung von bewohnten Küstenabschnitten führen (Bronen 2008).

Hinzu kommt, dass groß angelegte Klimaanpassungsprojekte ebenfalls zu Umsiedlungen führen können, wie die Schaffung von Großstaudämmen zur Herstellung von Elektrizität oder zur Speicherung von Süßwasser, riesige Biotreibstoffplantagen, Meeresdeiche und -mauern (de Sherbinin et al. 2011). Während die Effektivität und der positive Einfluss solcher Großprojekte auf das Klima umstritten ist, sind die ökologischen und sozialen Folgen oft verheerend.

Ob jedoch klimabedingte Migration zu Konflikten in den Aufnahmegebieten führen wird, ist in der Forschung umstritten (Webersik 2012). Fest steht, dass Umsiedlungen soziale, wirtschaftliche und kulturelle Herausforderungen stellen, die bewältigt werden müssen.

Ausblick

Wie im Klimaschutz sind die Lösungsansätze von Klimaanpassung nicht immer frei von negativen Konsequenzen. Zwei Strategien des Klimaschutzes – die Herstellung von Biotreibstoffen und die friedliche Nutzung der Kernenergie – haben unbeabsichtigte soziale, ökologische und sicherheitsrelevante Folgen. Ähnlich verhält es sich mit manch anderer Klimaanpassungsstrategie. Die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Kosten solcher Projekte sind nur schwer zu kalkulieren.

Welche Lösungsansätze stehen uns zur Verfügung? Am nächsten liegen das Energiesparen und der Ausbau der regenerativen Energieträger. In Bezug auf Biotreibstoffe scheinen Biotreibstoffe der zweiten Generation wie Algen und Agrarabfallprodukte (beispielsweise aus der Forstwirtschaft) eine wichtige Rolle zu spielen. Die Kernenergie ist langfristig sozial und wirtschaftlich nicht vertretbar und wird – wie in Deutschland geschehen – an Bedeutung verlieren. Die politischen und ökologischen Risiken sind einfach zu hoch.

Politik und Wirtschaft müssen den Nutzen und die Risiken von Klimaschutz und Klimaanpassung abwägen und sich für die Strategien entscheiden, die langfristig den Nutzen bringen, der nachhaltiges Wirtschaften ermöglicht.

Literatur

Bickerstaff, Karen, Irene Lorenzoni, Nick F. Pidgeon, Wouter Poortinga and Peter Simmons (2008): Reframing Nuclear Power in the UK Energy Debate: Nuclear Power, Climate Change Mitigation and Radioactive Waste. Public Understanding of Science 17(2):145-169.

BP (2012): BP Statistical Review of World Energy. London, June 2012.

Bronen, Robin (2008): Alaskan communities’ rights and resilience. Forced Migration Review 31(30).

de Sherbinin, A., M. Castro, F. Gemenne, M. M. Cernea, S. Adamo, P. M. Fearnside, G. Krieger, S. Lahmani, A. Oliver-Smith, A. Pankhurst, T. Scudder, B. Singer, Y. Tan, G. Wannier, P. Boncour, C. Ehrhart, G. Hugo, B. Pandey and G. Shi (2011): Preparing for Resettlement Associated with Climate Change. Science 334(6055): 456-457.

de Sherbinin, Alex, Koko Warner and Charles Ehrhart (2011): Casualties of Climate Change. Scientific American 304(1).

Food and Agriculture Organization (FAO) (2010): Bioenergy and Food Security. Rome: FAO.

International Atomic Energy Agency (IAEA) (2010): International Status and Prospects of Nuclear Power. Vienna: IAEA.

International Energy Agency (IEA) (2011a): Key World Energy Statistics. Paris: IEA.

International Energy Agency (IEA) (2011b): Technology Roadmap – Biofuels for Transport. Paris: IEA.

Matondi, Prosper Bvumiranayi, Kjell J. Havnevik and Beyene Atakilte (2011): Biofuels, land grabbing and food security in Africa. London/New York/Uppsala: Zed Books; published in association with Nordic Africa Institute; Palgrave Macmillan [distributor].

Scheffran, Jürgen (2008): Ein Klima der Gewalt? Das Konfliktpotenzial der globalen Erwärmung. Wissenschaft & Frieden (4).

Webersik, Christian (2012): Climate-Induced Migration and Conflict: What are the Links? In: Hastrup, Kirsten and Karen Fog Olwig: Climate Change and Human Mobility: Challenges to the Social Sciences. Cambridge: Cambridge University Press.

Webersik, Christian (2010): Climate change and security: a gathering storm of global challenges. Santa Barbara, Calif.: Praeger.

Webersik, Christian and Clarice Wilson (2009): Achieving environmental sustainability and growth in Africa: the role of science, technology and innovation. Sustainable Development 17(6):400-413.

Dr. Christian Webersik ist Associate Professor am Department for Development Studies, University of Agder, Norwegen.

Klimawandel und Konflikt

Klimawandel und Konflikt

Soziostrukturelle und sozialpsychologische Effekte

von Immo Fritsche, J. Christopher Cohrs und Thomas Kessler

Der globale Klimawandel ist schon längst auch ein sicherheitspolitisches Thema – spätestens seit US-amerikanische Think Tanks den globalen Klimawandel als eine treibende Kraft zukünftiger globaler und lokaler Konflikte identifiziert haben (Nordas und Gleditsch 2007). Obgleich intuitiv plausibel, beschränkt sich die empirische Grundlage dieser Befürchtungen bislang auf vergleichsweise wenige sozialwissenschaftliche Studien zu den soziostrukturellen Folgen des Klimawandels (Ressourcenknappheit, Migration). Im gegenwärtigen Artikel werden diese Studien zunächst kurz zusammengefasst, anschließend wird der soziostrukturellen eine sozialpsychologische Perspektive hinzugefügt.

Nachdem die These zunehmender gewalthaltiger Konflikte als Folge des Klimawandels zu Beginn der vergangenen Dekade durch Prognosen aus Politik, Medien und Think Tanks popularisiert wurde, nahmen die Sozialwissenschaften in den nachfolgenden Jahren systematische Untersuchungen auf (Gleditsch 2012; Nordas und Gleditsch 2007).

Sozial- und politikwissenschaftliche Klimafolgenforschung

Es wird argumentiert, dass lokale Auswirkungen des Klimawandels Gewaltkonflikte auf unterschiedlichen Wegen schüren können (z.B. Schubert et al. 2008). Zum einen sollten verknappte Ressourcen, wie Wasser, fruchtbares Land oder Nahrungsmittel, zu Verteilungskonflikten innerhalb oder auch zwischen Staaten führen. Zweitens könnte die lokale Verknappung natürlicher Ressourcen zur Folge haben, dass die Betroffenen ihre Heimat verlassen (müssen) und in den Zielländern oder -regionen dieser Klimaflüchtlinge Migrationskonflikte entstehen. Drittens könnten durch die wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels hervorgerufene Krisen politische Eliten veranlassen, bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu Sündenböcken zu machen und mithilfe nationalistischer Ideologie und Politik von den wahren Problemen abzulenken. Die Wahrscheinlichkeit gewalthafter inner- und zwischenstaatlicher Konflikte würde dann ansteigen (siehe auch Staub 1999 zu den Auswirkungen »schwieriger Lebensbedingungen«).

Klimatische Effekte auf gewalthaltige Konflikte

Die empirische Evidenz für Effekte des Klimawandels auf Konflikte ist bislang vergleichsweise dünn (Gleditsch 2012). Auf Grundlage historischer Daten und aktueller Klimaprojektionen prognostizieren Burke et al. (2009) für die Länder des südlichen Afrika bis 2030 aufgrund des zu erwartenden Anstiegs der Jahresdurchschnittstemperaturen einen Anstieg bewaffneter Konflikte um 54% und als Folge 393.000 zusätzliche Kriegstote (ähnliche Ergebnisse finden sich auch bei Hendrix und Glaser 2007; für Gegenpositionen siehe Buhaug 2010; Sutton et al. 2010; Burke et al. 2010). Hsiang et al. (2011) untersuchten bürgerkriegsähnliche Konflikte in Staaten, die durch den Wechsel zwischen den Klimaphänomenen El Niño und La Niña beeinflusst sind. Zeiten erhöhter Hitze und Trockenheit (El Niño-Jahre) gingen mit einer erhöhten Zahl von Konflikten einher. Anhand US-amerikanischer Kriminalstatistiken von 1950 bis 2008 zeigten Anderson und DeLisi (2011) überdies auf, dass Gewaltverbrechen in Jahren mit hohen Mitteltemperaturen (sowie in heißen vs. kühleren Sommern) zunahmen. Die Wirkung möglicher weiterer Erklärungsvariablen (z.B. Armut, soziale Ungleichheit, Inhaftierungsquote) wurde statistisch kontrolliert.

Naturräumliche und soziostrukturelle Prozesse

Die Frage, aus welchen Gründen Klimawandel das Auftreten von Konflikten beeinflussen kann, wird in der sozial- und politikwissenschaftlichen Forschung durch die Untersuchung naturräumlicher und soziostruktureller Faktoren beantwortet. So finden sich Hinweise darauf, dass weltweit die Degeneration von Böden und die lokale Verknappung von Trinkwasser mit einer erhöhten Neigung zu bewaffneten innerstaatlichen Konflikten einhergehen (Raleigh und Urdal 2007). Für afrikanische Staaten zeigt sich, dass auch Zeiten extremer Niederschlagsereignisse (extrem geringe oder extrem hohe Niederschlagsmengen) die Konfliktwahrscheinlichkeit erhöhen (Hendrix und Salehyan 2012; Raleigh und Kniveton 2012).

In diesen Forschungsarbeiten wird angenommen, dass naturräumliche Veränderungen wie Bodendegeneration, Wasserknappheit oder Extremwetterereignisse dadurch Konflikte erhöhen, dass sie die soziostrukturellen Rahmenbedingungen (Ressourcenknappheit, Wanderungsbewegungen) von Gesellschaften beeinflussen. Tatsächlich finden Raleigh und Urdal (2007), dass sich eine erhöhte Bevölkerungsdichte, wie sie beispielsweise durch Wanderung aus zunehmend unfruchtbaren Gebieten in andere Regionen (Reuveny 2007) entstehen kann, in einer erhöhten Anzahl innerstaatlicher Konflikte widerspiegelt. Gleichzeitig stieg die Anzahl von Konflikten aufgrund von Wasserknappheit in Regionen mit hohem Bevölkerungswachstum stärker als in jenen mit geringem Bevölkerungswachstum. Insgesamt herrscht in der sozial- und politikwissenschaftlichen Forschung derzeit jedoch noch weitgehende Unklarheit über die spezifischen Prozesse, die Klimawandeleffekte auf Konflikte erklären können (Gleditsch 2012; Sutton et al. 2010).

Sozialpsychologische Einflüsse

Während die Debatte über soziostrukturelle Vermittlervariablen der Klimafolgen noch anhält, lassen sich spezifische sozialpsychologische Prozesse identifizieren, die Effekte des Klimawandels auf individuelle und kollektive Konfliktneigungen erklären können. Wir nehmen an, dass diese Prozesse sowohl eigenständig als auch im Zusammenspiel mit soziostrukturellen Veränderungen die möglichen Effekte des Klimawandels auf Konflikte verschärfen.

Hitze-Effekte

Im ersten Ansatz geht es um die aggressionsfördernde Wirkung von Hitze. Ausgangspunkt sind sozialpsychologische Laborexperimente. Personen, die unangenehm hohen Temperaturen ausgesetzt wurden, neigten – im Gegensatz zu Personen, die unter angenehmen Temperaturen teilnahmen – zu stärkerem Ärger, stärkerer Wahrnehmung von Feindseligkeit sowie einer erhöhten Vergeltungsbereitschaft gegenüber Provokateuren (Anderson et al. 2000). Diese Effekte lassen sich in ein allgemeines Aggressionsmodell (DeWall et al 2011) einordnen, wonach die Neigung, anderen Personen (z.B. in Konfliktsituationen) Schaden zuzufügen, nach jedweder Art aversiver Stimulation ansteigt. Auf diesem Wege erklären Anderson und DeLisi (2011) auch ihren oben erwähnten Befund, dass höhere Jahresdurchschnittstemperaturen unabhängig vom Einfluss soziodemografischer Erklärungsvariablen die Zahl der Gewaltverbrechen erhöhen können. Gleichzeitig ist denkbar, dass die aggressionsfördernde Wirkung von Hitze zu einer schnelleren Eskalation ursprünglich soziostrukturell bedingter Konflikte führen kann. Wettstreit um Ressourcen könnte unter diesen Bedingungen vermehrt in feindseligen Auseinandersetzungen enden.

Autoritäre Reaktionen auf Bedrohung

Ein globaler Klimawandel kann sich nicht nur in unangenehm hohen Temperaturen äußern, sondern bei Menschen auch komplexe Bedrohungswahrnehmungen auslösen. So lassen die Prognosen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC, 2007) befürchten, dass der globale Klimawandel die Lebensgrundlagen und die Lebensumwelt vieler Menschen in hohem Maße verändern wird (z.B. Verknappung natürlicher Ressourcen, vermehrte Naturkatastrophen, Unbewohnbarkeit heutiger Küstenregionen, Aussterben von Tier- und Pflanzenarten, Verbreitung neuer Krankheiten). Allein die Vergegenwärtigung dieser komplexen möglichen Folgen kann Gefühle von Sicherheit und Kontrolle in Menschen erschüttern und daher allgemeine Bedrohungswahrnehmungen hervorrufen.

Eine Möglichkeit, wie Menschen mit einer Bedrohung ihrer Sicherheit oder Kontrolle umgehen, ist kollektives Verhalten und die Identifikation mit einer bestimmten Gruppe. In Laborexperimenten zeigt sich, dass Personen, die an persönlichen Kontrollmangel und Unsicherheit erinnert werden, nachfolgend verstärkt ethnozentrisch urteilen (z.B. werden Mitglieder der eigenen Gruppe positiver bewertet als jene fremder Gruppen, »ingroup bias«) und eine höhere Bereitschaft zeigen, im Sinne ihrer eigenen Gruppe zu handeln (Fritsche et al. 2011). Gleiches gilt für experimentelle Studien zu den Folgen alltagsweltlicher Bedrohungen, wie Terrorismus (Fritsche und Fischer 2009) oder Kriminalitätsfurcht (Duckitt und Fisher 2003), die autoritäre Einstellungen erhöhen. Autoritarismus – also konventionelles Denken, Unterordnung unter Gruppennormen sowie aggressive Reaktionen auf soziale Abweichung – kann hierbei als Einstellungssyndrom verstanden werden, das dem Erhalt sozialer Gruppen dient, da autoritäres Denken und Handeln den Zusammenhalt zwischen Gruppenmitgliedern fördert (Kessler und Cohrs 2008).

Eine Serie von drei experimentellen Studien in Deutschland und Großbritannien demonstriert die Übertragbarkeit dieser Befunde auf die Erklärung klimawandelinduzierter Konflikte (Fritsche et al. 2012). Wir erinnerten die Hälfte der jeweiligen Versuchspersonen an bedrohliche Auswirkungen des Klimawandels in ihrem eigenen Land (z.B. Überflutungen, ausbleibender Schnee, Artensterben, gesundheitliche Risiken durch neue Krankheitsüberträger). Die andere Hälfte wurde an regionale geografische Fakten erinnert, die nicht mit dem Klimawandel in Zusammenhang standen. In der Klimawandel-Variante des Experiments stimmten die Teilnehmenden allgemeinen autoritären Aussagen in stärkerem Maße zu als die Personen in der Geo-Fakten-Variante (z.B. „Um Recht und Ordnung zu bewahren, sollte man härter gegen Außenseiter und Unruhestifter vorgehen“). Der gleiche Effekt zeigte sich bezüglich der Bewertung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen: Personen, die an den Klimawandel erinnert wurden, werteten systembedrohende oder als solche wahrgenommene Gruppen wie Drogenabhängige, Gewaltkriminelle oder Prostituierte ab und systemstützende Gruppen wie Polizisten, Richter oder Lehrer auf.

Die Wahrnehmung eines bedrohlichen Klimawandels hat also das Potenzial, allgemeine wie auch spezifische autoritäre Einstellungen zu erhöhen. Die Ergebnisse der Studien weisen ebenfalls darauf hin, dass diese Effekte automatisch und unbewusst ablaufen: Zum einen steht die Abwertung systembedrohender Gruppen in keinem sachlogischen Zusammenhang mit der Bedrohung durch den Klimawandel. Zum anderen waren die Effekte nur zu beobachten, wenn die Teilnehmenden zwischen der Erinnerung an die Bedrohung durch den Klimawandel und der Erfassung autoritärer Tendenzen zwei längere Ablenkungsaufgaben bearbeitet hatten. Diese Aufgaben sollten bewusstes Nachdenken über den Klimawandel unterbinden.

Das Zusammenspiel psychologischer und soziostruktureller Effekte

Diese unbewussten Effekte auf Intoleranz und Konformismus können Konflikte zwischen und innerhalb von Gruppen hervorrufen oder verstärken. In Kombination mit soziostrukturellen Veränderungen, wie einem Bevölkerungswachstum infolge von Migration, können sie ebenfalls als heimlicher Katalysator von Konflikten wirken. In Ressourcenkonflikten kann nicht tolerierte Andersartigkeit einer »fremden« Bevölkerungsgruppe dazu führen, dass diese als antagonistische Gruppe identifiziert und nachfolgend zum Objekt von Vorurteilen und Diskriminierung wird (Esses et al. 2001). So könnte ein Konflikt zwischen einheimischen Bauern und internationalen Landwirtschaftskonzernen um knapper werdende Anbaugebiete zu Abwertung und Ausgrenzung objektiv unbeteiligter Minderheiten führen. Dabei ist Toleranz zwischen kulturell unterschiedlichen Gruppen eine Grundvoraussetzung für gelungene Migration. Ist die Toleranz durch Bedrohungseffekte hingegen reduziert, könnte dies den Boden für Konflikt und Diskriminierung bereiten.

Es ist wahrscheinlich, dass ein globaler Klimawandel sowohl über soziostrukturelle als auch über sozialpsychologische Prozesse die Zahl und Intensität von Intergruppenkonflikten erhöht.

Was kann getan werden, um diesen Tendenzen entgegenzuwirken? Neben einem effektiven und gerechten Management soziostruktureller Härten wie Ressourcenknappheit oder Migrationsbewegungen sollte insbesondere die Bewusstheit für die subtilen sozialpsychologischen Prozesse und deren Auswirkungen auf die Verschärfung soziostruktureller Konflikte steigen. Interventionen zur Reduktion aggressiven Alltagsverhaltens (z.B. gewaltfreie Erziehung) sind ebenso angezeigt wie die Entwicklung und Förderung gesellschaftlicher Normen von Toleranz und Gewaltfreiheit. Neuere Studien zeigen nämlich, dass Menschen sich unter Bedrohung in verstärktem Maß an den wahrgenommenen Normen und Regeln ihrer eigenen Gruppe orientieren (z.B. Jonas et al. 2008). Beispielsweise führte die Erinnerung an gesellschaftliche Pazifismusnormen bei den Teilnehmenden der hier beschriebenen Studien dazu, dass Bedrohung die Unterstützung militärischer Gewalt gegen antagonistische Gruppen reduzierte.

Literatur

Hinweis: PNAS = Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America

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Buhaug, H. (2010): Climate not to blame for African civil wars. PNAS, 107, 16477-16482.

Burke, M. B., Miguel, E., Satyanath, S., Dykema, J. A. und Lobell, D. B. (2009): Warming increases the risk of civil war in Africa. PNAS, 106, 20670-20674.

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Fritsche, I., Cohrs, J. C., Kessler, T. und Bauer, J. (2012): Global warming is breeding social conflict: The subtle impact of climate change threat on authoritarian tendencies. Journal of Environmental Psychology, 32, 1-10.

Fritsche, I. und Fischer, P. (2009): Terroristische Bedrohung und soziale Intoleranz. In A. Beelmann und K. J. Jonas (Hrsg.), Diskriminierung und Toleranz: Psychologische Grundlagen und Anwendungsperspektiven. Weinheim: Beltz, S.303-318.

Fritsche, I., Jonas, E. und Kessler, T. (2011): Collective reactions to threat: Implications for intergroup conflict and solving societal crises. Social Issues and Policy Review, 5, 101-136.

Gleditsch, N. P. (2012): Wither the weather? Climate change and conflict. Journal of Peace Research, 49, 3-9.

Hendrix, C. S. und Glaser, S. M. (2007): Trends and triggers: Climate, climate change and civil conflict in Sub-Saharan Africa. Political Geography, 26, 695-715.

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Immo Fritsche ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Leipzig. Dr. Christopher Cohrs ist Dozent der Sozialpsychologie an der Queen’s University Belfast und Forscher im dortigen Centre for Research in Political Psychology sowie assoziierter Herausgeber der Fachzeitschrift »Peace und Conflict: Journal of Peace Psychology«. Thomas Kessler ist Professor für Sozialpsychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Massenmigration und Klimakriege?

Massenmigration und Klimakriege?

Klimawandel als Sicherheitsbedrohung

von Michael Brzoska und Angela Oels

In diesem Beitrag legen die AutorInnen dar, welche politische Konstellation dazu beitrug, dass der Klimawandel zwischen 2003 und 2007 zunehmend als Sicherheitsthema problematisiert wurde. Sie zeigen am Beispiel der Migrations-, der Entwicklungs- und der Sicherheitspolitik, dass sich eine Prioritätenverschiebung von der Bekämpfung des Klimawandels (Mitigation) zur Bekämpfung der Klimafolgen (Adaptation und Katastrophenschutz) andeutet. Das Interesse des Militärs an den möglichen Folgen des Klimawandels ist groß. Konkrete Aktivitäten sind, mit einigen Ausnahmen, allerdings bisher kaum zu verzeichnen. In dieser Hinsicht spielen die in der Öffentlichkeit immer wieder vorgetragenen diskursiven Konstruktionen von Massenmigration und Klimakriegen in den sicherheitspolitischen Reaktionen auf den klimabezogenen Sicherheitsdiskurs zumindest aktuell keine Rolle.

Die Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung gab es schon Ende der 1980er Jahre, sie entwickelte sich jedoch erst zwischen 2003 und 2007 zu einem dominanten Diskursstrang in der internationalen klimapolitischen Debatte. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre wurde der Klimawandel von Wissenschaft und Politik vor allem als Emissionsproblem konstruiert, dem mit Emissionsreduktionen (Mitigation) beizukommen sei. In der Klimarahmenkonvention von 1992 wurde daher eine Stabilisierung der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre auf einem Niveau vereinbart, das gefährliche Klimaveränderungen ausschließt (Artikel 2), ohne jedoch zu konkretisieren, was für ein Niveau dies sein könnte.

Im Bericht des Klimarates (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) von 2001 wurde erstmals anerkannt, dass ein gewisses Maß an globaler Erwärmung nicht mehr zu verhindern sei und dass daher Maßnahmen zur Anpassung an den unvermeidbaren Klimawandel in Vorbereitung gebracht werden sollten (Adaptation). Obwohl es den Industrieländern tatsächlich gelungen ist, ihre Emissionen auf dem Niveau von 1990 zu stabilisieren (erstmals in 2008; siehe IEA 2010, S.7), steigen die globalen Treibhausgasemissionen ungebrochen an. Die Selbstverpflichtungen der Industrie- und Schwellenländer werden mit etwa 50%iger Wahrscheinlichkeit zu einem Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur von mehr als drei Grad Celsius bis 2100 führen, mit geringerer Wahrscheinlichkeit kommt es sogar zu einer Erwärmung um fünf bis sieben Grad (Rogelj et al. 2010).

Trotz der zunehmend gesicherten und in IPCC-Berichten festgehaltenen wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Klimawandel wurden (und werden) in einer Reihe von Ländern öffentlichkeitswirksam von Industrievertretern, aber auch von einer Minderheit von Wissenschaftlern, dessen wahrscheinliches Ausmaß und zu erwartende Wirkungen in Frage gestellt. In den USA wurde diese Sicht auf den Klimawandel unter Präsident George W. Bush Regierungspolitik.

Parallel, und teilweise in Reaktion auf diese Diskussion, entwickelten andere Wissenschaftler Szenarien zukünftiger Auswirkungen des Klimawandels, die zum Teil weit über den IPCC-Mainstream hinausgingen. Ein typisches Beispiel dafür sind die »tipping points«: Klimaforscher warnen, dass bei starkem Temperaturanstieg „Umkipppunkte“ erreicht werden können, an denen es zu plötzlichen, drastischen und irreversiblen Veränderungen im Klimasystem kommen könnte, wie z.B. dem Zusammenbruch des Golfstroms oder dem Absterben der Regenwälder. Die potentiell katastrophalen Folgen eines Temperaturanstiegs von mehr als zwei Grad bieten reichlich Stoff für eine Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung.

In dieser Situation eines zunehmenden Auseinanderklaffens zwischen geringer politischer Bereitschaft in einigen Staaten, selbst die eher vorsichtigen Schlussfolgerungen des IPCC ernst zu nehmen, und einer zunehmend dramatischeren Beschreibung der Risiken des Klimawandels durch ausgewiesene Wissenschaftler kam es zu massiven Versuchen der »Versicherheitlichung« des Diskurses über den Klimawandel. Akteure waren neben Wissenschaftlern vor allem Vertreter aus Politik und Sicherheitsapparaten. Klimawandel wurde nun als das größte Sicherheitsproblem des 21. Jahrhunderts angesehen, zu dessen Vermeidung auch außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen seien. Exemplarisch für diese Sicht etwa steht die Rede von US-Vizepräsident Al Gore bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn und das IPCC im Jahre 2007:

„Wir, die menschliche Gattung, sind mit einem planetarischen Notfall konfrontiert – einer Bedrohung des Überlebens unserer Zivilisation, die an unheilvollem und zerstörerischem Potential zunimmt […] Wir müssen rasch unsere Zivilisation mobilisieren, und zwar mit der Dringlichkeit und Entschlossenheit, die wir früher nur bei der Mobilisierung für einen Krieg aufgebracht haben.“

Zwei Elemente waren von besonderer Bedeutung für die Wirkmächtigkeit des »Versicherheitlichungs«-Diskurses. Zum einen beteiligten sich, wiederum insbesondere in den USA, eine größere Zahl hochrangiger ehemaliger und sogar einige aktive Militärs an diesem Diskurs. So wurden etwa in einem Bericht der CNA Corporation, die der US-amerikanischen Marine nahe steht, eine steigende Kriegsgefahr und Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA durch den Klimawandel prognostiziert (CNA 2007). Damit stärkten diese Vertreter aus dem Sicherheitsapparat die Glaubwürdigkeit des Diskurses über Klimawandel als Sicherheitsproblem.

Zum anderen wurde von den Protagonisten der »Versicherheitlichung« das in der Umweltpolitik bewährte Vorsorge-Prinzip in den Vordergrund gerückt: Wenn massive Folgen für Frieden und Sicherheit nicht auszuschließen seien, müsse Politik darauf ausgerichtet sein, dafür Sorge zu tragen, dass diese Folgen gar nicht erst auftreten könnten. Denn auch Militärs sind grundsätzlich Vertreter eines Vorsorgeprinzips, und zwar in der Form des »worst case«-Denkens, nach dem Planung sich an der schlechtesten aller Möglichkeiten auszurichten hat.

Protagonisten des Klima-Sicherheitsdiskurses argumentierten zweigleisig: Zum einen verlangten sie, dass die Politik alles in ihrer Möglichkeit stehende tun solle, um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen. Andererseits argumentierten sie, dass die Politik sich auf eine drei bis vier oder gar fünf bis sieben Grad wärmere Welt einstellen und dafür politisch planen müsse. Beispiele für geforderte Maßnahmen sind ein umfassendes Monitoring möglicher Tipping Points im Klimasystem und Pläne für Geo-Engineering als »crash mitigation« (Mabey et al. 2011).

Beispiel Migration

Eine zentrale Figur des Klima-Sicherheits-Diskurses ist der »Klimaflüchtling« bzw. der »klimawandel-induzierte Migrant«. Im Angesicht des unvermeidbaren Klimawandels drohen angeblich „Millionen von Klimaflüchtlingen“ die Industrieländer zu „überfluten“ (Kolmanskoog 2008). Dies könnte schlimmstenfalls zu Konflikten zwischen den Migranten und der aufnehmenden Gemeinschaft führen oder gar zu »Klimakriegen«. Schon Anfang der 1990er Jahre warnten Autoren wie Thomas Homer-Dixon (1994) vor Millionen von Umweltflüchtlingen, die als Folge der Degradierung und daraus resultierenden Verknappung von natürlichen Ressourcen auftreten könnten.

Eine im politischen Diskurs weit verbreitete Schätzung mit einer Zahl von 250 Millionen Menschen, die bis 2050 allein vom Klimawandel vertrieben werden könnten, stammt von Norman Myers (Myers/Kent 1995; Christian Aid 2007). Die der Schätzung zugrunde liegende Methodik ist jedoch zu Recht in die Kritik geraten. Zum einen wird dabei vor allem die Umweltveränderung selbst als Auslöser der Flucht in den Blick genommen, während die in der komplexen sozialen, politischen und ökonomischen Ausgangssituation liegenden Fluchtursachen nur unzureichend berücksichtigt werden. Zum zweiten beruhen ihre Zahlenschätzungen auf recht kruden Extrapolationen. Inzwischen gelten daher die viel zitierten Zahlen von Myers und Kent als wissenschaftlich nicht haltbar (Jakobeit/Methmann 2012).

Noch gewichtiger: Wurde in früheren wissenschaftlichen Arbeiten klimabedingte Migration als Bedrohung der Sicherheit betrachtet, da sie zu Konflikten zwischen den Migranten und der aufnehmenden Gemeinschaft führen könnte, wird Migration heute in der Forschung auch als Chance für die Betroffenen gesehen. Die Forschung zu Migration betont seit langem, dass Mobilität eine wichtige Anpassungsmaßnahme an veränderte Umweltbedingungen darstellt, dies gilt auch für den Klimawandel (Foresight 2011).

Aber trotz fehlender wissenschaftlicher Grundlagen wird in vielen politischen Dokumenten davon ausgegangen, dass der Klimawandel zu einem Anstieg der Migrationsbewegungen führen wird. So hält der Bericht des UN-Generalsekretärs über »Climate Change and its Possible Security Implications«von 2009 fest: „Es wird erwartet, dass das Ausmaß von Migration und Vertreibung sowohl innerhalb eines Landes als auch grenzüberschreitend durch den Klimawandel ansteigen wird, ebenso wie der Anteil der als »unfreiwillig« anzusehenden Bevölkerungsbewegungen.“ (UNGA 2009, S.15) Im Jahr 2009 – im Vorfeld der Klimakonferenz von Kopenhagen – setzte Bangladesch das Thema Klimaflucht auf die politische Agenda der internationalen Klimaverhandlungen. Das in Cancún 2010 verabschiedete »Adaptation Framework« erkennt erstmals politischen Handlungsbedarf im Feld der klimabedingten Migration, bleibt aber vage und unverbindlich, und der darauf bezogene Paragraph 14(f) der Cancún-Beschlüsse wurde bislang nicht mit Leben gefüllt. Langfristig allerdings könnte er dazu führen, dass für die Anpassung an den Klimawandel vorgesehene Gelder beispielsweise für geplante Umsiedlungen verwendet werden.

Aufwind für die Katastrophenvorsorge

In der Entwicklungszusammenarbeit hat der Klima-Sicherheitsdiskurs dazu geführt, dass der Klimawandel als zentrales Hindernis für menschliche Entwicklung betrachtet wird (Methmann 2011). Sowohl der World Development Report der Weltbank von 2010 als auch der Human Development Report 2007/2008 des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) waren dem Klimawandel gewidmet. Das UNDP argumentiert in seinem Bericht: „Der Klimawandel ist das zentrale Thema unserer Generation in Bezug auf menschliche Entwicklung […] Der Klimawandel droht menschliche Freiheiten zu untergraben und Wahlmöglichkeiten einzuschränken.“ (UNDP 2007, S.1) Die Weltbank beklagt: „Für diese [Entwicklungs-] Länder droht der Klimawandel die Verwundbarkeit zu erhöhen, schwer erkämpften Fortschritt zunichte zu machen und die Aussicht auf Entwicklung in erheblichem Maße zu untergraben.“ (The World Bank 2010, S. iii) Diese »Klimatisierung« des entwicklungspolitischen Diskurses hat eine neue Form des Risikomanagements durch Kontingenz hervorgebracht (Oels 2011). Anstelle von technischen Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel treten nun vermehrt Maßnahmen, die die allgemeine Resilienz gegenüber Klimavariabilität erhöhen. Unter Resilienz wird „die Fähigkeit eines Systems und seiner Bestandteile, die Auswirkungen eines gefährlichen Ereignisses zeitnah und effizient zu antizipieren, zu absorbieren, aufzunehmen oder sich davon wieder zu erholen“ verstanden (IPCC 2012, S.3). Die Betroffenen werden aufgefordert, ihre eigene Vulnerabilität zu reduzieren, indem sie in partizipativen Prozessen „flexible, resiliente Gemeinschaften“ bilden (World Bank 2010, S.88).

Der Klima-Sicherheitsdiskurs hat vor allem dem Feld des Katastrophenschutzes neue Aufmerksamkeit eingebracht. Auf Initiative der norwegischen Regierung und der Internationalen Strategie für Katastrophenfürsorge der Vereinten Nationen (UNISDR) hat der Klimarat im März 2012 das Sondergutachten »Managing the Risks of Extreme Events and Disasters to Advance Climate Change Adaptation« vorgelegt. In der Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger beklagt der Klimarat, dass die „internationale Finanzausstattung für Katastrophenschutz relativ gering ausfällt im Vergleich zur Höhe der Ausgaben für internationale humanitäre Einsätze“ (IPCC 2012, S.15). Der Klimarat empfiehlt so genannte »low regrets options«, die nicht nur dem Katastrophenschutz dienen, sondern zugleich Armut abbauen, eine nachhaltige Entwicklung befördern, und Resilienz gegenüber allen möglichen Arten von Katastrophen herstellen. Allerdings sieht der Klimarat auch Grenzen der Anpassungsfähigkeit, wo Tipping Points erreicht werden (IPCC 2012, S.18). Wegen der großen Unsicherheiten darüber, welcher Art die zukünftigen Katastrophen sein könnten, empfiehlt der Klimarat einen sich wiederholenden Prozess des Risikomanagements (IPCC 2012, S.15). Der Klimarat hebt auch die Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit für Investitionen in den Katastrophenschutz hervor (IPCC 2012, S.8).

Sicherheitsakteure und der Klimasicherheitsdiskurs

In den Jahren 2007 und 2011 war der Klimawandel auch auf der Agenda des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. 2011 wurde auf Drängen Deutschlands eine Erklärung des Sicherheitsrat-Präsidenten verabschiedet, in der der Klimawandel erstmals als Sicherheitsbedrohung anerkannt wird, insbesondere für die Existenz der kleinen Inselstaaten, aber auch was die Ernährungssicherheit angeht (UNSC 2011). Damit war der Klimawandel im Herzen des Sicherheitsestablishments angekommen.

Schon vorher wurde in Sicherheitsapparaten über Klimawandel nachgedacht. An erster Stelle stehen dabei die USA seit dem Wechsel zur Regierung Obama. Größere zweistellige Millionenbeträge sind in den USA in den letzten Jahren für die Forschung über die Folgen des Klimawandels zur Verfügung gestellt werden. Dieser intensiven Forschungstätigkeit steht ein vergleichsweise geringeres Maß an konkreten Aktionen und Planungen gegenüber. Der Bereich, in dem sich in den US-Streitkräften am meisten tut, ist die Einsparung von Treibhausgasen. Alle Teilstreitkräfte haben inzwischen konkrete Pläne für die Reduktion von Treibhausgasen durch Einführung energiesparender und –effizienter Technologien. Biokraftstoffe werden in großem Maßstab getestet, selbst für Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge. Allerdings hat der Klimawandel als Begründungsmuster für diese Aktivitäten an Bedeutung verloren. Wichtiger sind gegenwärtig zwei andere Argumente. Zum einen fallen in Afghanistan in keinem Bereich so viele amerikanische Soldaten wie bei der Treibstofflogistik. Gerade Feldkommandeure drängen deshalb auf die Einführung energieeffizienterer Fahrzeuge. Zum anderen ist Energiesicherheit zu einem großen Thema der US-amerikanischen Streitkräfte geworden. Die Einsparung von Treibstoffen gilt als wichtiger Pfad für eine Verminderung der Abhängigkeit von ausländischen Ressourcen, nicht zuletzt der Streitkräfte selbst (Brzoska 2012a).

Auch in den Sicherheitsapparaten vieler anderer Staaten werden die möglichen Folgen des Klimawandels diskutiert. Das lässt sich etwa daran belegen, dass der Klimawandel in der weit überwiegenden Zahl der in den letzten Jahren veröffentlichten staatlichen Dokumente zu nationalen Sicherheitsstrategien und Verteidigungsplanung Erwähnung findet (Brzoska 2012b).

Dabei wird aber auch deutlich, dass das Verständnis über die Sicherheitsprobleme, die durch den Klimawandel hervorgerufen werden können, sehr unterschiedlich ist. Grob lassen sich drei Konzepte unterscheiden.

Im ersten wird Klimawandel vor allem als Problem »menschlicher Sicherheit« gemessen, als zusätzliche Belastung von Menschen und Gemeinschaften in bereits jetzt sehr schwierigen wirtschaftlichen Situationen. In Staaten, die von diesem Konzept ausgehen, werden in den genannten Dokumenten nur in einem Bereich neue Aufgaben für Streitkräfte gesehen: dem Katastrophenschutz.

Im zweiten Konzept wird davon ausgegangen, dass neben diesem Risiko in Zukunft noch ein zweites von Bedeutung sein wird: eine zunehmende Zahl von bewaffneten Konflikten in vom Klimawandel besonders betroffenen Regionen. Konflikte werden vor allem über knapper werdende Ressourcen wie Wasser und Land erwartet. Für die Streitkräfte der betroffenen Länder ergeben sich daraus unmittelbar gute Begründungen für eine Aufstockung ihrer Fähigkeiten, aber auch in einigen weiter entfernten Ländern werden hier zukünftige Aufgaben etwa im Bereich der militärischen Interventionen gesehen. Die Zahl der Staaten, in denen diese Argumentation auf offizieller Ebene vorgetragen wird, ist allerdings gering, neben den USA ist hier etwa Großbritannien zu nennen.

Schließlich gibt es noch einige Staaten, in denen Klimawandel in offiziellen Dokumenten als tatsächliche oder potentielle Bedrohung der nationalen Sicherheit bezeichnet wird. Dazu gehören vor allem kleine Inselstaaten, aber auch Bangladesh, also Länder, in denen der Verlust großer produktiver Landgebiete bis hin zum Verlust der Existenz droht. Darüber hinaus sind es vor allem die USA, in denen die Verbindung zwischen Klimawandel und nationaler Sicherheit gezogen wird – gegenwärtig, wie bereits beschrieben aber nur als potentielle Risiken, die weiterer genauerer Untersuchung bedürften.

Fazit

Die Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung erfolgte zu einem Zeitpunkt, an dem der klimaskeptische Diskurs die Politik der USA lähmte und damit Fortschritte in der internationalen Klimapolitik verhinderte. Es bildete sich eine ungewöhnliche Allianz aus Umweltschützern und Militärs, die vor den Sicherheitsrisiken des Klimawandels warnten. Insbesondere wurde dabei das Risiko von Millionen von Klimaflüchtlingen und damit einhergehenden bewaffneten Konflikten beschworen.

Wie wir gezeigt haben, sind zumindest die Schätzungen der Zahl möglicher Klimaflüchtlinge wissenschaftlich nicht haltbar. Darüber hinaus sehen neuere Studien Migration als eine Erfolg versprechende Anpassungsstrategie an die Folgen des Klimawandels. In der Entwicklungspolitik sind neben Anpassungsprojekten vor allem Maßnahmen der Katastrophenvorsorge im Aufwind, weil auf diese Weise die Resilienz gefährdeter Regionen gegenüber den Klimafolgen hergestellt werden soll.

Im Sicherheitssektor konnten wir zeigen, dass der Klimawandel sich in die meisten nationalen Sicherheitsstrategien eingenistet hat, jedoch meist als Problem menschlicher oder internationaler Sicherheit, nur in einigen Staaten als Problem nationaler Sicherheit. Selbst in diesen wird der Einsatz traditioneller Instrumente der Sicherheitspolitik, wie militärische Interventionen in Krisengebieten, zwar diskutiert, aber konkrete Planungen sind bisher ausgeblieben.

Wie wir gezeigt haben, hat die Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung die politische Aufmerksamkeit auf die Mitigation der Sicherheitsrisiken verschoben – auf Kosten der Mitigation der Ursachen. Dabei droht aus dem Blick zu geraten, dass jede Investition in Emissionsreduktionen sich vielfach auszahlt und die Sicherheitsrisiken deutlich reduzieren könnte.

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Dr. Angela Oels hat von 2009-2012 im Rahmen des Klimaexzellenzclusters CLISAP der Universität Hamburg ein Forschungsprojekt über die diskursive Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung durchgeführt und vertritt derzeit die Juniorprofessur Global Governance am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg. Michael Brzoska ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und Professor an der Universität Hamburg sowie Principal Investigator am Klimaexzellenzcluster CLISAP, in dessem Rahmen er sich mit der Wahrnehmung des Klimawandels durch Akteure des Sicherheitssektors beschäftigt.

Eine unbequeme Vagheit

Eine unbequeme Vagheit

UN-Studie zu Klimawandel und Migration

von Marie Mualem Sultan

Fragen nach den Sicherheitsimplikationen des anthropogenen Klimawandels bilden ein Querschnittthema der internationalen Umweltpolitik. Im Mittelpunkt stehen mögliche Zusammenhänge von Flucht, Migration und Gewaltkonflikten. Gerade weil diese Debatte ebenso brisant wie berechtigt ist, verbietet sich jede oberflächliche Zuspitzung in quantitativen Szenarien oder monokausalen Argumentationen, die lineare Ursache-Wirkungs-Muster nahe legen. Der nachstehende Beitrag zeigt, dass ausgerechnet das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) für einen solchen Umgang mit dem Problemkomplex kritisiert werden muss.

Die unter Federführung des UNEP durchgeführte und 2011 auf der internationalen Klimakonferenz in Durban präsentierte Studie » Livelihood Security. Climate Change, Migration and Conflict in the Sahel« über die Beziehung zwischen Klimawandel, bedrohten Lebensgrundlagen, Migration und Konflikten in der Sahelzone (UNEP 2011) ist methodisch völlig unzureichend. Als besonders schwerwiegend erweist sich die weitreichende Abstraktion von jeder sozioökonomischen, politischen und kulturellen Heterogenität im Untersuchungsgebiet. Unter dem Primat der Klimavariabilität lenken die politischen Handlungsempfehlungen dadurch von der Problematik globaler Macht-Asymmetrien und neokolonialer Ressourcenallokation ab. Mit anderen Worten: Die Sahel-Studie schüttet das Kind mit dem Bade aus.

Um diese Kritik zu fundieren, gliedert sich der Artikel wie folgt: Der erste Teil stellt Methode und Inhalt der Sahel-Studie vor. Der zweite Teil problematisiert argumentative Schwachstellen und die Rhetorik der Studie im Hinblick auf die darin enthaltenen Weltbilder. Ein Exkurs über den strategischen Einsatz von Mythen leitet über zu den abschließenden Diskussionsthesen hinsichtlich der Leerstellen der UN-Studie.

Inhalt und Methode der Sahel-Studie

Die Untersuchung versteht sich als Beitrag zur Grundlagenforschung über die durch den Klimawandel verursachten Gefährdungen und Bewältigungsstrategien von „auf natürliche Ressourcen angewiesenen“ (UNEP 2011, S.13) Subsistenzgemeinschaften und Kleinbauern in 17 westafrikanischen Subsahara-Staaten. Den regionalen Fokus begründet die Studie mit den Prognosen des Weltklimarats (IPCC). Demnach werden die Staaten der Sahelzone besonders von den negativen Umweltveränderungen durch den Klimawandel betroffen sein (ebd. S.4). Außerdem sei die Region seit Jahrzehnten mit kumulativen Herausforderungen konfrontiert, zuvorderst ein „beträchtliches Bevölkerungswachstum (im Durchschnitt drei Prozent jährlich)“ (ebd. S.5), wobei 80 Prozent der Bevölkerung „für ihre Existenzsicherung direkt auf natürliche Ressourcen angewiesen“ (ebd. S.5) seien. Auf der Grundlage des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf konstatiert die Sahel-Studie außerdem „strukturelle Armut“ (ebd. S.17). Hinzu kommen „Ernährungsunsicherheit und chronische Instabilität“ (ebd. S.7). Die Ergebnisse der Studie sollen probate Handlungsempfehlungen liefern für „gegenüber Konflikt und Migration sensibilisierte Anpassungsprogramme, Investitionen und politische Maßnahmen in der Region“ (ebd. S.13).

Zu diesem Zweck wurde eine historische Trendanalyse (1970-2006/2009) zur Klimavariabilität beim Zentrum für Geoinformatik der Universität Salzburg (Z_GIS) in Auftrag gegeben. In einer digitalen Kartographie wurden hierbei 19 regionale Brennpunkte (hotspots) erhöhter Klimavariabilität identifiziert. Die Z-GIS-Analyse berücksichtigte vier Indikatoren: Niederschlag und Temperatur sowie das Auftreten von Dürren und Überschwemmungen. Zusätzlich wurden Hochrechnungen über den Anstieg des Meeresspiegels berücksichtigt. Um die „Beziehung zwischen Klimawandel, Migration und Konflikt“ (ebd. S.13) zu untersuchen, wurde jede Karte mit zwei „zusätzlichen Ebenen“ (ebd.) versehen, die für denselben Zeitraum analoge Daten und Koordinaten zur Bevölkerungsentwicklung und zum Auftreten von Konflikten liefern sollen.

Die Brennpunkte befinden sich demnach in Mauretanien, Niger, Burkina Faso, Ghana, Togo, Benin, Nigeria und Tschad (ebd. S.52). Hinsichtlich der Daten zu Bevölkerungsentwicklung und Konfliktkonstellationen stellt die Studie fest: „In zahlreichen Gebieten, die als hotspots identifiziert wurden, ist die Bevölkerung gewachsen […]. Die Daten über Konflikte zeigen, dass Regionen mit umfangreichem Konfliktgeschehen, insbesondere Tschad und Niger, von klimatischen Veränderungen betroffen sind“ (ebd. S.53). Auf die quantitative Analyse folgt eine kurze Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand über klimabezogene Konflikte und Migrationsmuster in der Sahelzone, wobei die positiven und negativen Effekte von Migration vor dem Hintergrund ihrer mutmaßlichen Bedeutung für die politische Stabilität und die wirtschaftliche Entwicklung abgewogen werden (ebd. S.54-64).

Die Sahel-Studie betont auf dieser Basis einerseits den weiteren Forschungsbedarf und andererseits die Validität ihrer Ausgangshypothesen. In der »Executive Summary« übernimmt die Studie das Bild von der Sahelzone als „ground zero“ (ebd. S.7) des Klimawandels. Es wird nachdrücklich für Investitionen in die Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung der Region geworben. Es gelte Arbeitsplätze zu schaffen und die Umgestaltung nach dem Vorbild einer „green economy“ (ebd. S.74) voranzutreiben. Unabhängig vom Inhalt stellt sich hier aber die Frage: Genügt der Schlüsselindikator Klimavariabilität überhaupt zur Beurteilung der Handlungserfordernisse in einer geographisch wie kulturell und sozioökonomisch extrem heterogenen Region aus 17 souveränen Staaten mit einer Gesamtfläche von 7,4 Millionen Quadratkilometern? Zum Vergleich: Die Gesamtfläche der 27 Staaten in der Europäischen Union beträgt 4,3 Millionen Quadratkilometer.

Jedenfalls bleibt die Auszeichnung als wissenschaftliche Studie in den Reaktionen auf die Veröffentlichung der Sahel-Studie bis dato unwidersprochen. Erstaunlich sind dabei Beurteilungen wie in dieser Titelzeile einer Meldung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN): „UN-Studie belegt den Zusammenhang von Klimawandel, bedrohten Lebensgrundlagen und Migration“ (Kürschner-Pelkmann 2011). Diese Einschätzung übersteigt selbst die in der Sahel-Studie angegebene Zielsetzung. Solche Diskrepanzen sind unter anderem deshalb möglich, weil die normativen Grundlagen, auf denen die Studie aufbaut, eine große Wirkungsmacht und Eigendynamik zu entfalten vermögen. Sobald diese Denkmaßstäbe umgekehrt kritisch analysiert werden, verschwindet der Neuigkeitswert der Sahel-Studie in einem wahrheitsfunktionalen Zirkelschluss. Prämissen und Konklusion stehen dann nicht in einem Verhältnis zueinander, sondern sind identisch. Anders ausgedrückt: Wer das Weltbild der Studie schlüssig findet, beurteilt auch die Argumentation als schlüssig. Wer aber Nachfragen zur Auswahl der Prämissen hat, findet erst gar keine Argumentation. Eine wichtige Variable zum Verständnis dieses Weltbildes ist eine Auffassung, nach der naturwissenschaftliche Messmethoden objektive Wahrheitsinstanzen darstellen.

Denksysteme und Mythen

Offenbar wird noch immer unterschätzt, wie subjektiv Zahlen sein können. Oder konkret in Bezug auf die Sahel-Studie: Die Erfolgsbedingung einer Manipulation durch Karten ist die Vernachlässigung der Tatsache, dass geographische Repräsentationen immer auch Machtverhältnisse und Deutungshoheiten widerspiegeln. Die »pars pro toto«-Idee von der Verlässlichkeit und Objektivität allgemeiner Gesetzmäßigkeiten unterminiert auch die als Ergänzung zum quantitativen Messverfahren gedachte Auseinandersetzung der Sahel-Studie mit dem Forschungsstand. Nach einer induktiven Wahrscheinlichkeitslogik werden hier Überlegungen zur »push/pull«-Dynamik angestellt. Die Kernfrage lautet: Wie lässt sich der Einfluss physisch-materieller Umweltfaktoren auf das menschliche Verhalten gegenüber soziokulturellen Aspekten vergleichend gewichten? Der Gedankengang ist nachvollziehbar. Dennoch beruht die Untersuchung unverändert auf dem Alleinstellungsmerkmal Klimavariabilität. Soziokulturelle Kontexte bilden entgegen dem Anschein keinen Bestandteil der Argumentation.

Dass die acht sowohl thematisch als auch im Hinblick auf ihren Informationsgehalt heterogenen lokalen „Fallbeispiele“ in kurzen Textboxen stehen, unterstreicht unfreiwillig die Schwierigkeit, sie in einen sinnvollen Bezug zum Fließtext oder zu den GIS-Karten zu stellen. Letztlich bleibt die deterministische Rhetorik das einzige konsequente Motiv der Sahel-Studie. Dessen sind sich die Urheber bewusst. Aus diesem Grund wird der Duktus der Studie hin und wieder wie folgt relativiert: „Es soll in keiner Weise behauptet werden, der Klimawandel wirke als einziger oder isolierter Faktor auf Migration und Konflikt. Ebenso wenig besteht die Absicht darin, einen direkten Kausalzusammenhang zwischen diesen drei Problemen aufzuzeigen. Klimawandel, Migration und Konflikt sind vielmehr über komplexe Einflussfaktoren miteinander verkettet, zum Beispiel ökonomische, soziale und politische Aspekte“ (ebd. S.8). Leider legen solche Versicherungen indirekt nahe, die reduktionistische Herangehensweise sei irgendwo doch legitim. Die Botschaft lautet schließlich überspitzt formuliert: Das Untersuchungsdesign ist nicht so gemeint, wie es wirkt und daher auch nicht so unverhältnismäßig, wie es scheint.

Diese Irritation lenkt die Aufmerksamkeit auf den strategischen Einsatz von Mythen. Wichtig ist die Vorbemerkung, dass der Begriff Mythos in der hier intendierten wissenschaftstheoretischen Verwendung keine Aussage zum Wahrheitswert beinhaltet. Im Mittelpunkt steht die Funktion von Mythen, die zunächst allgemein Sinn stiftende Integrationselemente von Gesellschaften darstellen. Das entscheidende Merkmal des Mythos ist aber in der Tat eine axiomatische Anziehungskraft, die ihn anfällig für ideologischen Missbrauch macht und gleichzeitig zuverlässig gegen rationale Argumente imprägniert. Mythen können Diskurse vollständig und dabei unbemerkt einnehmen – sie werden zu unhinterfragten und wirkungsmächtigen Autoritäten. In diesem Sinne erscheint auch das in der Sahel-Studie transportierte bipolare Weltbild beinahe mythisch: Auf der einen Seite die »modernen Industrienationen« und im krassen Gegensatz dazu ein ebenso einheitlich gedachter Block »vormoderner Entwicklungsländer«. Diese Fiktion trägt erheblich dazu bei, dass der Studie ein Erkenntniswert zugebilligt wird, obwohl die multidimensionalen soziokulturellen, politischen und ökonomischen Kontexte im Untersuchungsgebiet nicht berücksichtigt wurden.

Dieser binäre Unterton, nach dem die westliche Sahelzone weitgehend als geographische Entität erscheint, kann unter den Bedingungen einer staatszentrierten internationalen Politik überdies als Provokation gewertet werden. Das dürfte der Grund sein, warum sich Herausgeber und Trägerorganisationen im Impressum von jeder Lesart distanzieren, die die territoriale Integrität der Einzelstaaten im Untersuchungsgebiet untergräbt – obwohl sie es de facto tut.

Abschließend soll jedoch ein im »klassischen« Sinne anerkannter Mythos aus der Sahel-Studie beleuchtet werden, und zwar die in neo-malthusianischer Manier als apokalyptische Bedrohung für jede staatliche Ordnung modellierte Sorge vor »Überbevölkerung«.

Was ist »Überbevölkerung«?

Es wurde gezeigt, dass die Sahel-Studie schon zur Begründung ihres konzeptionellen Rahmens auf ein problematisches Bevölkerungswachstum verweist. Der „demographische Druck“ (ebd. S.12) gilt als wichtiger nicht klimatischer Stressfaktor neben sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren. Aber was ist demographischer Druck jenseits dieser Kenngrößen? Besitzt der Begriff als absolute Größe überhaupt eine Substanz, die der Analyse zugänglich wäre? Wie viele Menschen sind zuviel? Wer ist in der Lage das zu entscheiden? Und was wären valide Bezugsgrößen eines relativen demographischen Drucks? Geht es um die Gesamtfläche des fruchtbaren Ackerlands, um die Auslastung des Arbeitsmarktes oder vielleicht um eine bestimmte Bevölkerungsstruktur (z.B. »youth bulge« oder Überalterung)? Die Begründungen in der Sahel-Studie sind unzureichend und bleiben es auch unter Zuhilfenahme der zitierten Quellen. Der Wirtschaftswissenschaftler Kiros Abeselom untersuchte 1995 in einem anderen Kontext die strategische Funktion vom »Mythos der Überbevölkerung« in der internationalen Entwicklungspolitik und kommt zu dem Schluss, dass es sich um ein „Mittel zur Wahrung der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen“ handelt (Abeselom 1995). Leider legen die Leerstellen in der Sahel-Studie eine ähnliche Funktion nahe.

Ist der Klimawandel das einzige Problem?

Die Sahel-Studie zeigt, wie wichtig eine Neugewichtung der Debatte ist, die die Gefahr geopolitischer und imperialer Machtstrategien mitdenkt. Nicht nur in der Sahel-Studie bildet der Klimawandel die einzige öffentlichkeitswirksam präsentierte globale Variable. Macht-Asymmetrien in der neoliberalen Globalisierung finden in der hegemonialen Debatte zu wenig Beachtung, obwohl entwicklungspolitische Fragestellungen jenseits von diesem Kontext nicht sinnvoll bearbeitet werden können (Delgado Wise et al. 2010). Simon Dalby verweist zu Recht auf die Pflicht, die selbstverständlichen Kategorien, Prämissen und Kosmologien in Diskursen zu hinterfragen (Dalby 2007). In der hegemonialen Debatte über Klimawandel, Migration und Konflikt besteht diesbezüglich ein immenser Nachholbedarf in Wissenschaft und Politik.

Besonders dringend erscheint die Auseinandersetzung mit neokolonialen Enteignungsprozessen, um hier abschließend lediglich ein Beispiel für die problematische Wirkung imperialer Strategien zu benennen. Dass dieser Punkt in der Sahel-Studie fehlt, ist völlig unverständlich, da offenbar jedes Land im Untersuchungsgebiet von ambivalenten Investitionen in seine Landwirtschaft betroffen ist und zahlreiche Widerstandsbewegungen und Organisationen auf die Problematik von »land grabbing« (Agrar-Kolonialismus) durch transnationale Unternehmen wie auch Staaten aufmerksam machen. „Unsichere Besitzverhältnisse“ (UNEP 2011, S.72) werden in der Sahel-Studie nur angedeutet und dabei als lokale Konflikte zwischen Viehhirten und Kleinbauern konzipiert. Dass ökologische Knappheit auch im Zusammenhang mit Addax Zuckerrohr-Biosprit, Michelins Kautschukplantagen oder für den Export produzierenden Reisplantagen im Niger-Delta entstehen könnte, bleibt ausgeblendet (Hoering 2007; GRAIN 2012). Dabei gehören Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität ebenso zusammen, wie das Recht auf Migration und das Recht auf Heimat.

Literatur

Abeselom, Kiros (1995): Der Mythos der Überbevölkerung als Mittel zur Wahrung der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen. Die theoretischen Grundlagen der UNO-Bevölkerungspolitik: malthusianische und neo-malthusianische Wurzeln. Bonn: Pahl-Rugenstein.

Dalby, Simon (2007): Anthropocene Geopolitics: Globalisation, Empire, Environment and Critique. In: Geography Compass, 1. Jg., Heft 1, S.103-118.

Delgado Wise, Raúl et al. (2010): Reframing the debate on migration, development and human rights: fundamental elements. Red International de Migración y Desarrollo/ International Network on Migration and Development .

GRAIN (Hrsg.) (2012): The Great Food Robbery: How Corporations Control Food, Grab Land and Destroy the Climate. Cape Town: Pambazuka Press.

Hoering, Uwe (2007): Agrar-Kolonialismus in Afrika. Eine andere Landwirtschaft ist möglich. Hamburg: VSA-Verlag.

Kürschner-Pelkmann, Frank: Sahel-Zone: Flucht vor den Folgen des Klimawandels. UN-Studie belegt den Zusammenhang von Klimawandel, bedrohten Lebensgrundlagen und Migration. 2011. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN).

United Nations Environmental Programme (UNEP) (Hrsg.): Livelihood Security. Climate Change, Migration and Conflict in the Sahel. 2011.

Marie Mualem Sultan ist Politikwissenschaftlerin am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen (KWI) im Forschungsbereich Klimakultur. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Philipps-Universität Marburg untersucht sie Dispositive der Umweltmigrationsforschung aus sozial-ökologischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive.

Klimapolitik und Versicherheitlichung

Klimapolitik und Versicherheitlichung

von Jörn Richert

Das Thema Klimasicherheit hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen, besonders in westlichen Industrieländern. Bedeutet dies eine Militarisierung der Klimapolitik? Der Artikel argumentiert, dass sei nicht der Fall, die Versicherheitlichung des Klimawandels müsse stattdessen im Kontext eines breiteren politischen Diskurses verstanden werden.

Vor 20 Jahren, auf dem Weltgipfel 1992 in Rio de Janeiro, wurde die Klimarahmenkonvention ins Leben gerufen. In Artikel 2 dieser Konvention wurde das Ziel definiert, „die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird“. Derselbe Artikel fordert weiter, dass die dafür notwendigen Bemühungen „innerhalb eines Zeitraums erreicht werden, der ausreicht, damit sich die Ökosysteme auf natürliche Weise den Klimaänderungen anpassen können, die Nahrungsmittelerzeugung nicht bedroht wird und die wirtschaftliche Entwicklung auf nachhaltige Weise fortgeführt werden kann“ (UNFCCC 1992, Artikel 2). Der Klimawandel wurde also vorwiegend als Umweltproblem und Entwicklungshemmnis betrachtet.

In den letzten Jahren hat sich die Wahrnehmung des Klimawandels jedoch stark geändert. Immer häufiger ist vom »Sicherheitsrisiko Klimawandel« die Rede. Treibende Kraft bei dieser Versicherheitlichung, das heißt der Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung, war Großbritannien. Dort errechnete der Ökonom Nicholas Stern 2006 für die britische Regierung, dass ein ungebremster Klimawandel in Zukunft einen jährlichen Schaden von 5-20% der globalen Wirtschaftsleistung anrichten würde (Stern 2006). Im Oktober desselben Jahres bezeichnete die damalige britische Außenministerin Margaret Beckett die Klimasicherheit als eine der höchsten europäischen Prioritäten. Anfang 2007 gelang es den Briten, das Thema Klimasicherheit auf die Agenda des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu setzen. Auch außerhalb Großbritanniens erschienen 2007 Studien wie der Bericht »National Security and the Threat of Climate Change« (CNA 2007), in dem eine Reihe ehemaliger US-Generäle den Klimawandel als »Bedrohungsmultiplikator« bezeichneten, und das ausführliche Gutachten »Sicherheitsrisiko Klimawandel« des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU 2007).

Eines ist all diesen Berichten gemein: Sie entstanden in westlichen Industriestaaten. Bedeutet dies, dass sich diese Staaten vom Verständnis des Klimawandels als Entwicklungsthema verabschiedet haben? Setzen sie nun auf die Schließung der Grenzen und militärische Intervention und nicht mehr auf Treibhausgasreduktionen und die Unterstützung für stärker betroffene Entwicklungsländer? Dieser Artikel argumentiert, dass dies nicht der Fall ist. Er zeigt, wie die Versicherheitlichung des Klimawandels eher zu einer Erweiterung des Sicherheitsverständnisses, nicht aber zu einer Militarisierung der Klimapolitik geführt hat. Die Klimasicherheit wurde darüber hinaus zu einem wichtigen Argument für mehr Klimaschutz. Wie sich in der Zwischenzeit gezeigt hat, war dieser Impuls jedoch nicht stark genug, um die internationale Klimapolitik nachhaltig in erfolgreiche Bahnen zu lenken. Die Debatte um den Klimawandel hat sich seit den Jahren 2007 bis 2009 merklich abgekühlt. Der Artikel wirft abschließend einen Blick auf ein Jahr, in dem sich dies wieder ändern könnte: 2014.

Klimasicherheit als Herausforderung für die Sicherheitspolitik

Wie Michael Brzoska (2009) gezeigt hat, teilen viele der seit 2007 erschienenen Studien zur Klimasicherheit die generelle Bedrohungsdiagnose: Extremwetterereignisse werden noch extremer, Wasser und Nahrungsmittel werden knapper, die Weltwirtschaft leidet, und schwache Staaten sind besonders gefährdet. Hieraus könnten sich eine Reihe weiterer Herausforderungen entwickeln: Die Umweltmigration könnte zunehmen, der Terrorismus könnte von einer Ausweitung prekärer Lebensverhältnisse profitieren. Der Klimawandel wird daher als Bedrohungsmultiplikator bezeichnet. Brzoska stellt jedoch auch fest, dass die aus dieser Diagnose abgeleiteten Handlungsleitlinien stark voneinander abweichen. Wo der WBGU zur Energiewende aufruft und internationale Kooperation in den Vordergrund stellt, sorgen sich die erwähnten US-Generäle um das Fortbestehen wassernaher US-Militärstützpunkte. Die Lage ist also diffus, und es ist kein klarer Trend in Richtung einer rein militärpolitischen Behandlung des Themas Klimawandel zu erkennen. Dies spiegelt sich auch in den Initiativen wider, die auf beiden Seiten des Atlantiks auf den anfänglichen Bedrohungsdiskurs folgten.

In den Vereinigten Staaten spielte der Klimawandel in der sicherheitspolitischen Planung der Regierung Bush bis 2007 keine Rolle. Erst nach dem Aufkommen des Klimasicherheitsdiskurses beschloss der US-Kongress 2008, dass sich dies ändern sollte. Bereits in der nationalen Verteidigungsstrategie desselben Jahres wurde der Klimawandel als ein Bestandteil eines komplexen Herausforderungsgeflechts – weiterhin bestehend aus z.B. demographischen Trends, Ressourcenknappheit und wirtschaftlichen Kräfteverschiebungen – behandelt.

Der zwei Jahre später vom US-Verteidigungsministerium erstellte »Quadrennial Defense Review Report« (DoD 2010) ging anschließend konkreter auf das Thema ein. Er beschäftigte sich zuvorderst damit, wie der Klimawandel die Bedingungen zukünftiger Einsätze verändern könnte und weist auf Kooperationsinitiativen mit anderen Streitkräften hin, die das Verteidigungsministerium in Zusammenarbeit mit anderen US-Behörden etabliert habe, um ausländische Partner auf friedlichem Wege auf die Herausforderung Klimawandel einzustellen. Weiterhin wird eine genauere Untersuchung der Gefährdung von Einsatzfähigkeit und Militärbasen des US-Militärs gefordert. Auch hier hebt das Verteidigungsministerium die Bedeutung internationaler Anpassungsmaßnahmen hervor und betont die Möglichkeit von Projekten zur Förderung erneuerbarer Energien und der Energieeffizienz auf eigenen Basen. Hinsichtlich der Arktisfrage fordert es den Beitritt der USA zum Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen. Anstelle der Vorbereitung auf »Klimakriege« ist also eine eher reaktive und politisch differenzierte Position zu beobachten.

Auch die Europäische Union diskutierte das Thema Klimasicherheit ab 2007 verstärkt. Nach Aufforderung des Europäischen Rates legten Javier Solana, zu diesem Zeitpunkt Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, und die damalige Kommissarin für Außenbeziehungen, Benita Ferrero-Waldner, 2008 ein Papier vor, in dem sie die sicherheitspolitische Relevanz des Klimawandels unterstrichen. Auch Solana und Ferrero-Waldner griffen dabei auf den Begriff »Bedrohungsmultiplikator« zurück.

Noch stärker als in den USA wurde betont, dass die Bekämpfung des Klimawandels einen ganzheitlichen und vor allem globalen Politikansatz erfordert: Erstens sollen die Fähigkeiten verbessert werden, Desaster und Konflikte zu vermeiden und auf sie zu reagieren. Gefordert werden ein Ausbau von Forschungs-, Analyse- und Monitoring-Fähigkeiten, eine Verbesserung des Krisenmanagements und weitere regionalspezifische Studien zu den Auswirkungen des Klimawandels. Zweitens solle die EU ihre globale Führungsrolle in der Klimapolitik ausbauen und die internationale Debatte in den Bereichen Klimasicherheit, Umweltmigration sowie Monitoring und Vorbeugung vorantreiben. Drittens solle das Thema Klimasicherheit in den Beziehungen zu Drittstaaten und in Regionalstrategien mehr Bedeutung erlangen. Auch eine europäische Arktispolitik wurde angedacht. Wie schon in den USA wurde in Europa auf die Stärkung des UN-Seerechtsübereinkommens verwiesen.

Der Europäische Rat begrüßte den Bericht, und in der Folgezeit wurde eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen in den genannten Bereichen durchgeführt (Rat 2009). Gemein ist den meisten dieser Maßnahmen, dass sie auf eine Stärkung des Dialogs über Klimasicherheit in bestehenden Kooperationen und auf eine stärkere Vernetzung von relevanten Institutionen und Akteuren, zum Beispiel der Vielzahl von UN-Institutionen, hinwirken.

Sowohl für die USA als auch für die EU gilt folgendes: Statt die Klimapolitik zu militarisieren, wurde das Sicherheitsverständnis ausgedehnt und entwicklungspolitischen Maßnahmen eine bedeutende Rolle zugesprochen. Zwar haben sowohl die USA als auch die EU das Thema ernsthaft als sicherheitspolitische Herausforderung diskutiert. Die daraus entstandenen Initiativen deuten jedoch keineswegs darauf hin, dass die klimapolitische Agenda nun verstärkt von Sicherheitsplanern und Militärs vereinnahmt würde. Eher scheint es diesen um die Sicherstellung der eigenen Handlungsfähigkeit und die diplomatische Unterstützung stärker betroffener Akteure zu gehen. Dabei sind auch kulturelle Unterschiede zu erkennen: In der EU spielen Entwicklungsaspekte eine bedeutende Rolle, in den USA sorgt man sich hingegen stärker um die Einsatzfähigkeit der eigenen Streitkräfte. Andererseits wird besonders in den Vereinigten Staaten erkannt, dass auch die Streitkräfte selbst zum Umwelt- und Klimaschutz beitragen können. Die Versicherheitlichung des Klimawandels – zumindest im traditionellen Sinne – ist also kaum zu belegen. Der nächste Abschnitt wird zeigen, dass Klimasicherheit vielmehr als klimapolitisches Argument anzusehen ist.

Klimasicherheit und Klimapolitik

Eine Großzahl von Studien zur Klimasicherheit erschien in den Jahren 2006 und besonders 2007. Dies bedeutet nicht, dass der Klimawandel in dieser Zeit plötzlich wesentlich gefährlicher geworden wäre. Das Klimasystem ist komplex und verändert sich, zumindest in den meisten Fällen, aus menschlicher Perspektive betrachtet sehr langsam. Was sich zwischen 2005 und 2007 änderte war also nicht so sehr das Klima an sich, sondern vielmehr die Wahrnehmung der potenziellen Folgen des Klimawandels. Die Gründe für diesen Wahrnehmungswandel sind nicht nur in der Natur, sondern vorwiegend im sozialen Raum zu suchen.

Zwei Tatsachen erklären dabei, warum es gerade 2007 zu einer Versicherheitlichung gekommen ist: Erstens war das Erscheinen vieler Studien zum Thema Klimawandel und Sicherheit auf die Veröffentlichung des vierten Sachstandsberichtes des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) abgestimmt. Erst in Kombination mit den aktuellen klimawissenschaftlichen Fakten dieses Berichtes erlangte der Klimasicherheitsdiskurs genügend Glaubwürdigkeit, um weitreichende Aufmerksamkeit zu erlangen. Zweitens war 2007 ein sehr bedeutendes Jahr für die Klimapolitik: Die Parteien der Klimarahmenkonvention trafen sich im Dezember auf Bali, um den Fortgang des internationalen Klimaschutzes nach dem Auslaufen des Kyoto-Protokolls 2012 zu diskutieren.

Besonders vor dem Hintergrund des zweiten Punkts wird die tatsächliche Bedeutung von Klimasicherheit klar: Großbritannien, Deutschland und die EU versuchten, sich 2007 als treibende Kraft in den internationalen Klimaverhandlungen zu etablieren. Die Versicherheitlichung des Klimawandels trug dabei sowohl innerhalb der EU als auch global dazu bei, der Klimapolitik zu neuem Schwung zu verhelfen (Geden 2011). Und auch in den USA spielte der Klimasicherheitsdiskurs eine wichtige Rolle im Klimaschutz (Richert 2011): Die Versicherheitlichung des Klimawandels vermochte es, der Klimapolitik zur bis dahin größten Aufmerksamkeit unter der Bush-Administration zu verhelfen. Bush hatte in den Jahren seit seinem Amtsantritt jegliche effektive Klimapolitik verweigert, und auch in der Gesellschaft und dem Kongress war das Thema nicht sehr beliebt. Erst als sich nun sogar Militärs mit dem Klimawandel auseinandersetzen, stieg das Interesse vieler Senatoren und Repräsentanten. Diese Dynamik setzte sich in den ersten Jahren der Obama-Administration fort. Sowohl in den USA als auch in der EU stellte Klimasicherheit damit ein wichtiges klimapolitisches Argument dar.

Klimasicherheit: Endgültig gescheitert oder Neuauflage?

Trotz des zeitweisen Aufsehens, das die Verbindung von Klimawandel und Sicherheit erregt hat, blieb die politische Bilanz aus der Zeit nach 2007 eher enttäuschend. Zwar gelang es der EU, weitreichende Klimaschutzmaßnahmen zu verabschieden. In den USA und auch in der internationalen Klimapolitik waren die Erfolge jedoch wesentlich geringer. Auf der UN-Klimakonferenz von Bali 2007 einigten sich die Mitglieder der Klimarahmenkonvention lediglich darauf, in den folgenden zwei Jahren ernsthaft an einer Kyoto-Nachfolgeregelung zu arbeiten. Die Klimakonferenz von Kopenhagen 2009, auf der eine entsprechende Regelung verabschiedet werden sollte, konnte jedoch die hohen Erwartungen nicht erfüllen – insbesondere, weil es in den USA trotz Unterstützung durch Präsident Obama und teils dramatischen Verhandlungen im US-Senat nicht gelungen war, bis zum Treffen in Kopenhagen ein Klimagesetz zu verabschieden. Dies wäre für die USA die Grundlage gewesen, um auch auf internationaler Ebene substanzielle und einhaltbare Versprechungen machen zu können.

Die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, sich einer effektiven Klimapolitik zu verschreiben, bleibt weiterhin eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche internationale Klimapolitik. Besonders die großen Schwellenländer wie Indien und China blicken gen Westen und erwarten von den Industrieländern ein Vorangehen in Sachen Klimaschutz.

Ist aber der Versuch, ein solches Vorangehen durch die Versicherheitlichung des Klimawandels zu befördern, endgültig gescheitert? Nicht unbedingt. Aus der obigen Diskussion lässt sich ein Zukunftsszenario spinnen, das zumindest begrenzte Hoffnung für die Klimapolitik macht: Sollten die USA auch nach der Präsidentschaftswahl im November diesen Jahres noch einen demokratischen Präsidenten haben, könnte sich 2014 ein neues Möglichkeitsfenster für die US- und damit auch für die weltweite Klimapolitik öffnen: Ab September 2013 und über das Jahr 2014 verteilt werden sukzessive die Teilberichte des fünften Sachstandsberichtes des IPCC veröffentlicht werden. Gleichzeitig werden im November 2014 bei den »midterm elections« in den USA alle Sitze des Repräsentantenhauses und ein Drittel der Sitze im Senat neu vergeben. Sollte der Klimawandel 2014 im Zusammenhang mit dem neuen IPCC-Bericht eine ähnliche Prominenz erhalten wie bei der Veröffentlichung des Berichts von 2007, so könnte dies das Wahlergebnis der »midterm elections« zugunsten der Demokraten beeinflussen und gemäßigte Republikaner dazu bringen, an der Klimagesetzgebung mitzuwirken. Schon 2007 bis 2009 hatten republikanische Senatoren wie John McCain und später Lindsey Graham die Klimagesetzgebung unterstützt. 2014 ergäbe sich somit unter Umständen die Chance, dass die USA endlich ein ernsthaftes Klimagesetz verabschieden und somit ihrer Verantwortung für den globalen Klimaschutz gerecht werden.

Literatur

Brzoska, Michael: The Securitization of Climate Change and the Power of Conceptions of Security. Sicherheit und Frieden, 2009-3, S.137-145.

Center for Naval Analysis (CNA) (2007): National Security and the Threat of Climate Change. Alexandria: CNA.

Department of Defense (DoD) (2010): Quadrennial Defense Review Report. Washington D.C.: DoD.

Geden, Oliver (2011): Klimasicherheit als Politikansatz der Europäischen Union. In: Angenendt, Steffen; Dröge, Susanne; Richert, Jörn (Hrsg.): Klimawandel und Sicherheit. Herausforderungen, Reaktionen und Handlungsmöglichkeiten. Baden-Baden: Nomos, S.212-221.

Rat der Europäischen Union (2009): Joint progress report and follow-up recommendations on climate change and international security (CCIS) to the Council. Brüssel.

Richert, Jörn (2011): Klimawandel, Bedrohungsdiskurs und Sicherheitspolitik in den USA. In: Angenendt, Steffen; Dröge, Susanne; Richert, Richert (Hrsg.): Klimawandel und Sicherheit. Herausforderungen, Reaktionen und Handlungsmöglichkeiten. Baden-Baden: Nomos, S.222-237.

Solana, Javier und Ferrero-Waldner, Benita (2008): Climate Change and International Security. Paper from the High Representative and the European Commission to the European Council, Brüssel.

Stern, Nicholas (2006): The Economics of Climate Change – The Stern Review. Cambridge: Cambridge University Press.

UNFCCC (1992): United Nations Framework Convention on Climate Change. unfccc.int.

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) (2007): Welt im Wandel: Sicherheitsrisiko Klimawandel. Berlin/Heidelberg: Springer.

Jörn Richert ist Doktorand an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS), Universität Bielefeld.

Südsudan und Sudan – Frieden auf Abwegen?

Südsudan und Sudan – Frieden auf Abwegen?

von Peter Schumann

Mit der Zwei-Staaten-Lösung sollte Frieden geschaffen werden zwischen Nord- und Südsudan, zum Vorteil für beide Nationen. Im Süden sollte ein neuer Staat entstehen, mit einer durch Öleinnahmen abgesicherten Wirtschaft, ein Rechtsstaat, der seine Bevölkerung verantwortungsvoll schützt. Der Staatsaufbau sollte durch eine UN-Mission begleitet werden. Im Norden sollten Reformen zu mehr Rechtsstaatlichkeit, Schutz der Menschenrechte und Anerkennung von kultureller und religiöser Vielfalt führen. Sudans Präsident Omar al Bashir war trotz Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofes zu den Gründungsfeierlichkeiten am 9. Juli 2011in die neue Hauptstadt des Südens, nach Juba, gereist.

Doch das international gelobte Friedensabkommen, gültig für den gesamten Sudan, ließ viele Fragen offen, z.B. bezüglich der Grenzziehung zwischen beiden Staaten, des Status von Grenzregionen wie Abyei, der Staatsbürgerschaft von im Norden lebenden Südsudanesen oder der Nutzung sudanesischer Pipelines zum Transports von Rohöl ans Rote Meer. Diese Punkte sollten durch Verhandlungen nachträglich geregelt werden.

Ein Jahr später ist die Realität gekennzeichnet durch eine Verschärfung der Auseinandersetzung zwischen den politischen Führungen in den Hauptstädten Khartum (Sudan) und Juba (Südsudan) sowie der Anwendung von militärischer Gewalt. Diese Eskalation und das Fehlschlagen der Mediation durch das African Union High-Level Implementation Panel on Sudan (AU-HIP) unter Führung von Thabo Mbekei führte im März 2012 zum Abbruch aller Verhandlungen. Es folgte im April die Bombardierung ziviler Ziele im Süden durch den Norden und im Mai die militärische Besetzung der Ölfelder in Higlig durch die Armee des Südens. Der UN-Sicherheitsrat musste einschreiten, um die Eskalation in einen zwischenstaatlichen Krieg zu unterbinden.

Wesentliche Streitpunkte betreffen die vom Süden zu entrichtenden Gebühren für die Nutzung der Pipeline zum Ölhafen in Port Sudan sowie die Kompensationszahlungen an den Norden für den Verlust der Ölfelder im Südsudan. Der durchschnittliche Preis für sudanesisches Öl beträgt etwa 70-75 US$ pro Barrel. Khartum fordert für die Nutzung der Ölinfrastruktur etwa 35 US$ pro Barrel sowie als einmalige Kompensation sieben Mrd. US$. Juba will aber für die Nutzung der Infrastruktur nur die international übliche Rate von bis zu einem US$ bezahlen, und als einmalige Zahlung drei Mrd. US$. Zu einer Einigung kam es nicht, und im Januar 2012 stellte die Republik Südsudan die Erdölförderung ein. Begründet wurde dies damit, dass der Norden irregulär Öl aus der Pipeline entnimmt, sowie mit der militärischen Bedrohung, vor allem in Abyei, das die sudanesische Armee im May 2011 okkupierte. Die Öleinnahmen brachen damit für beide Staaten weg, den Norden wie den Süden.

Inzwischen befindet sich der Sudan im Ausnahmezustand. Zusätzlich zu den anhaltenden Kämpfen in der Region Darfur ist ein neuer Bürgerkrieg in Kordofan/Nuba-Berge in vollem Gange, Tausende von Zivilisten sind auf der Flucht nach Äthiopien und Südsudan. Steigende Rüstungsausgaben und der Wegfall der Öleinnahmen haben zu einem Haushaltsdefizit von über 50% geführt, die Implementierung des Friedensvertrages in Darfur kann nicht mehr bezahlt werden, Steuern und Abgaben wurden drastisch erhöht und Subventionen gestrichen, was in der Bevölkerung zu anhaltenden Protesten geführt hat.

Auch der Südsudan ist zunehmend von internen bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen, in internationalen Medien vereinfacht als »ethnische Konflikte« dargestellt. Die Lebensgrundlage weiter Teile der Bevölkerung in Jonglei, aber auch in anderen Bundesstaaten, ist unmittelbar bedroht. Die Regierung unternimmt großflächige Entwaffnungskampagnen, um die Gewalt zu kontrollieren. Das ist sicher wichtig, löst aber nicht das Problem zunehmender Armut und Marginalisierung.

Ein Jahr nach der »Zwei-Staaten-Lösung« zur Beendigung des Bürgerkrieges im Süden stellen sich viele Fragen. Z.B. welche Rolle spielen externe Akteure bei der Beendigung des Befreiungskampfes? Kann ein Bürgerkrieg durch Verhandlungen erfolgreich beendet werden? Wurde die Durchführung des Friedensabkommens von der »UN Peacekeeping Operation« ausreichend abgesichert?

Die Grenzen externer Intervention

Trotz der Präsens von 31.000 UN-Blauhelmen, 7.450 Polizisten und etwa 6.600 zivilen Bediensteten mit einem Jahresetat von 2,6 Mrd. US$ – das entspricht etwa 30% der globalen UN-Aktivitäten für Friedenssicherung, sowohl personell als auch finanziell – ist es nicht gelungen, bewaffnete Konflikte einzudämmen oder die Entstehung neuer Konflikte zu verhindern. Eine Ausnahme war die »Frühwarnung« durch die United Nations Mission in the Republic of South Sudan (UNMISS) im Dezember 2011 in Jonglei, als die Zivilbevölkerung vor Angriffen bewaffneter Milizen gewarnt wurde und rechtzeitig flüchten konnte.

Die politische Führung in Khartum entzieht sich weiterhin internationalem politischen Druck, Maßnahmen des UN-Sicherheitsrates werden als Einmischung in die inneren Angelegenheiten betrachtet und erfolgreich blockiert.

Die internationale Gemeinschaft akzeptierte im Gegenzug für die Anerkennung der Unabhängigkeit des Südens die Aussetzung des »Umfassenden Friedensvertrages« durch die Machthaber in Khartum. Damit waren Vereinbarungen zur Reform für die Menschen im Norden hinfällig geworden. Die vereinbarte Beteiligung der Bevölkerung an der Regierungsführung in den Bundesstaaten Süd-Kordofan und Blauer Nil wurde durch militärische Gewalt außer Kraft gesetzt. Das Verbot der politischen Partei SPLM-Nord, zweitstärkste Partei bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2010, und die Absetzung der gewählten Landesregierung Blauer Nil führten zum Bürgerkrieg zwischen Khartum und seinen Staatsbürgern im Süden der Republik Sudan.

Trotz Friedensrhetorik und internationaler Zusicherungen anlässlich der Unabhängigkeit nimmt die politische Führung in Juba den Nachbarn im Norden als Bedrohung wahr. Die bereits 2010 erhobene Forderung der SPLM-Führung, eine robuste UN-Friedenstruppe im Grenzgebiet zum Sudan zu stationieren, wurde von der Abteilung »Peacekeeping Operations« in New York abgelehnt. Bei der Planung einer neuen Operation gingen die UN von einer Sicherheitsgefährdung durch bewaffnete Milizen und SPLA-Verbände innerhalb des Staatsgebietes aus, damit wurde der Schutz von Zivilisten zur zentralen Aufgabenstellung von UNMISS. Die Bedrohung aus dem Norden fiel wider besseres Wissen unter den Tisch – Khartum hatte eine Stationierung von UN-Blauhelmen im Grenzgebiet bereits kategorisch abgelehnt.

Der neue Staat – zentrale politische Prinzipien

Mit Verwunderung hat die internationale Gemeinschaft auf die zunehmende Eigenständigkeit des Südsudan reagiert. Eine veritable Republik meldete sich im Mai 2012 mit der Besetzung der Ölfelder in Higlig zu Wort, und der UN-Generalsekretär musste zur Kenntnis nehmen, dass er ein neues Mitgliedsland mit Sitz und Stimme hat, dem er nicht einfach befehlen kann, seine nationale Armee abzuziehen und das vom beiden Seiten beanspruchte Gebiet Khartum zu überlassen.

Der neue Staat versteht nationale Souveränität vor allem als Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols. Mit der Unabhängigkeit sind die Befreiungskämpfer zur Schutzmacht des Nationalstaates geworden, die Politik ist von den Erfahrungen aus dem Befreiungskampf und dem Prozess der Friedensverhandlungen sowie der Implementierung des Friedensabkommens geprägt. Die Ziele der südsudanesischen Sicherheitspolitik sind vor allem die Wahrung der neu gewonnenen Souveränität und die Konsolidierung der Unabhängigkeit. Die Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen, vor allem die Nutzung der Ölvorkommen und die Anerkennung der Region Abyei als Bestandteil des Südens, sind Bestandteile dieser Sicherheitspolitik. Regelungen, die das Bedrohungspotential der sudanesischen Armee und Milizen stärken, werden kategorisch abgelehnt.

Anders als den internationalen Vermittlern geht es der politischen Führung in Juba nicht darum, zu welchem Preis Öl exportiert werden kann, ob durch eine neue Pipeline zum Indischen Ozean oder durch bestehende Pipelines zum Roten Meer. Ihr geht es vor allem darum, eine mögliche Bedrohung durch Khartum zu unterbinden. Öl ist damit zur Waffe, aber auch zum Mittel der Sicherung nationaler Unabhängigkeit und Souveränität geworden.

Ausblick

Mitte Juli trafen sich während des Gipfels der Afrikanischen Union in Addis Abeba die Präsidenten der beiden sudanesischen Republiken, Omar al Bashir und Salva Kiir. Die Zusicherung, noch ausstehende Probleme bis zu der vom UN-Sicherheitsrat gesetzten Frist, dem 2. August 2012, durch Verhandlungen zu lösen, sind als unrealistisch einzustufen, eine Verhandlungslösung ist mehr als fraglich. Drei Optionen sind denkbar:

Ein umfassender Wandel des politischen Systems in Khartum führt zur Beendigung der innerstaatlichen bewaffneten Konflikte und zu stabilen zwischenstaatlichen Beziehungen der zwei Republiken. Rohöl wird durch völkerrechtlich verbindliche Vereinbarungen zwischen zwei sich freundlich gesonnenen Regierungen unter Benutzung bestehender Pipelines exportiert. (Regime-Change-Option)

Vom UN-Sicherheitsrat autorisierte Maßnahmen garantieren mit allen notwendigen Mitteln, auch der externen Intervention, die Einhaltung von sicherheitspolitischen Abkommen zwischen Sudan und Südsudan, dazu gehört auch der extern kontrollierte Export von Rohöl durch bestehende Pipelines. Interne bewaffnete Konflikte sind von den Maßnahmen nicht betroffen, es gilt das Souveränitätsprinzip. (Externe Interventionsoption zur Regelung des zwischenstaatlichen Konfliktes)

Das politische System in Khartum bleibt bestehen, bekämpft von bewaffneter Opposition in marginalisierten Regionen. Der Südsudan fördert Rohöl zur Verarbeitung in eigenen Raffinerien, vorrangig für den nationalen Bedarf und im Rahmen einer eigenen Entwicklungsstrategie. Ölprodukte werden in die Region Ostafrika exportiert. Die Beziehung zwischen Sudan und Südsudan bleibt instabil. (Intendierte Instabilitätsoption)

Der Ausgang der gewaltsamen Auseinandersetzungen im Sudan wird die zukünftigen Beziehungen der zwei Sudanrepubliken bestimmen. Dies friedlich zu gestalten ist auf Grund der Entstehungsgeschichte der Republik Südsudan zu einer gewaltigen Herausforderung geworden, auch hinsichtlich der sehr begrenzten Möglichkeiten einer UN-Friedensoperation, einen Bürgerkrieg erfolgreich zu beenden.

Peter Schumann ist Soziologe und arbeitete fast dreißig Jahre für die Vereinten Nationen, zuletzt bei Friedenseinsätzen im Kosovo und Sudan. Sein jüngster Besuch im Sudan fand im März 2012 statt.

Rohe Bürgerlichkeit

Rohe Bürgerlichkeit

Bedrohungen des inneren Friedens

von Wilhelm Heitmeyer

Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer hat in Anerkennung seiner jahrzehntelangen Arbeit auf dem Gebiet der ethnisch-kulturellen Gewaltforschung im März den Göttinger Friedenspreis 2012 erhalten (siehe Bericht zur Preisverleihung im Forum dieser Ausgabe). Wir dokumentieren im Folgenden Auszüge aus der Dankesrede des Preisträgers.

[…] 2010 ist ein Sammelband erschienen mit dem Titel »Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir?«. Darin wird u.a. darüber nachgedacht, worin die Differenz zwischen Bürgerlichkeit und Bürgertum besteht. Der Titel signalisiert, dass man unterscheiden muss. Hier wird Bürgerlichkeit nicht als Stand oder Klasse verstanden, sondern als eine Attitüde und eine Haltung, die zivilisierte, tolerante und differenzierte Einstellungen vorgibt. Ich betone: vorgibt. Aber stimmt das, wenn man sich empirisch vergewissert?

Und damit bin ich bereits beim Kern meiner knappen, ungemütlichen Erörterungen, die ich empirisch belegen möchte, u. a. mit Daten der von der Volkswagen Stiftung geförderten und gerade abgeschlossenen Langzeitstudie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. […]

In dieser zehnjährigen Untersuchung mit jährlichen repräsentativen Bevölkerungsbefragungen von 2002 bis 2011 sind unterschiedliche soziale Gruppen bzw. Bevölkerungsteile auffällig im Zusammenhang mit Abwertungen und Diskriminierungsintentionen gegenüber schwachen Gruppen.

Gemeinhin werden solche Abwertungen und Diskriminierungen vor allem den unteren Soziallagen, also Menschen in prekären Lebenssituationen und mit niedrigem Bildungsniveau und Einkommen zugeschrieben. Indem Menschen aus unteren Soziallagen andere abwerten, werten sie sich selber auf und praktizieren das, was wir die Ideologie der Ungleichwertigkeit nennen.

Aber welche Rolle spielen solche Gruppen, die die Attitude der Bürgerlichkeit vorgeben und z.B. von elitären Stichwortgebern wie Herrn Sarrazin mit seiner Renaturalisierung von Ungleichheit angefeuert werden? Diese Blickrichtung auf die Einflussreichen ist eher selten.

Damit bin ich bei einer spezifischen Kennzeichnung, also dem, was ich »rohe Bürgerlichkeit« nenne, die den inneren sozialen Frieden bedroht. Rohe Bürgerlichkeit ergibt sich aus dem Zusammenspiel von glatter Stilfassade, vornehm rabiater Rhetorik sowie autoritären, aggressiven Einstellungen und Haltungen. Sie findet ihren Ausdruck in einem Jargon der Verachtung gegenüber schwachen Gruppen und der rigorosen Verteidigung bzw. Einforderung eigener Etabliertenvorrechte im Duktus der Überlegenheit. Sie artikuliert sich über eine Ideologie der Ungleichwertigkeit.

Rohheit gibt es zweifellos vielfach auch in anderen Sozialgruppen – und zwar offen, vielfach brutal. Der Unterschied besteht darin, dass die rohe Bürgerlichkeit verdeckt daherkommt und viel öffentlichen Einfluss hat in Institutionen, Clubs und Medien, also auf das öffentliche Klima.

Der rohen Bürgerlichkeit entgeht vielfach das Gefühl für verschiedene Formen von Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness, die nicht an Effizienz, Nützlichkeit und Verwertbarkeit gekoppelt ist. Rohe Bürgerlichkeit setzt auf Konkurrenz und Eigenverantwortung in jeder Hinsicht. Wer dem nicht gewachsen ist, dem ist nicht zu helfen und dem soll auch nicht geholfen werden. Das ist eine zentrale Maxime zahlreicher Personen, die sich subjektiv oben auf der Statusleiter einordnen oder objektiv über Einkommen zu den Besserverdienenden zählen. Lässt sich das empirisch belegen?

Dazu ist ein Blick auf »Deutsche Zustände«, also auf diese Gesellschaft zu werfen. Sie ist in dieser krisengetriebenen Zeit besonders stark durch soziale Spaltung und Desintegration gekennzeichnet. Dieser Entwicklung ist lange Zeit wenig Aufmerksamkeit zugekommen. Sie ist nun aber nicht mehr zu ignorieren.

Als ich 2001, also zu Beginn des neuen Jahrhunderts, den Artikel »Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus« veröffentlicht hatte, wurde keine der drei Problemzonen ernst genommen. Wie wir heute sehen, sind sie aktueller denn je – insbesondere im Zusammenwirken.

Es wurde verdrängt oder gezielt übersehen, dass ein massiver Kontrollverlust der nationalstaatlichen Politik verbunden war mit einem ebenso großen Kontrollgewinn des Kapitals, d.h. dass ein autoritärer Kapitalismus schon damals – bei genauem Hinsehen – seine Interessen weitgehend ungehindert durchsetzen konnte. Das Ergebnis: Im vergangenen Jahrzehnt hat sich die soziale Ungleichheit und damit Desintegration immer weiter verschärft. Das zeigt sich an unterschiedlichen Methoden und Datenquellen. Ganz gleich ob man den Gini-Index, die OECD-Berichte oder die Auswertung der SOEP-Haushaltsbefragungen durch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung verwertet: Alle weisen in diese Richtung. Dabei bleibt weitgehend unthematisiert, was die britischen Wissenschaftler Richard Wilkinson und Kate Pickett anhand zahlreicher Ländervergleiche bereits dokumentierten. Sie haben herausgefunden, dass eine Gesellschaft mit zunehmender Ungleichheit zersetzt wird. Das wiederum bringt nach ihrer Analyse steigende soziale wie gesundheitliche Probleme und Gewalt mit sich.

In sozial gleicheren Gesellschaften, so Wilkinson/Pickett weiter, gibt es ein Vielfaches weniger an Gewalt. Zur Herstellung gleicherer Verhältnisse bedarf es aber Voraussetzungen wie die Realisierung von Kernnormen der Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness, die soziale Integration und sozialen Zusammenhalt sichern. Dabei ist auffällig, dass der Begriff »sozialer Zusammenhalt« in jüngster Zeit Gefahr läuft, zu einer der meistgebrauchten Floskeln im politischen Diskurs zu werden, obwohl schon in den 1990er Jahren Studien zu den Fragen »Was treibt eine Gesellschaft auseinander?« oder »Was hält eine Gesellschaft zusammen?« vorlagen.

Ein Blick auf die Wahrnehmungen in der Bevölkerung zeigt nun, dass 2010 in unserer Studie 58% der Auffassung sind, dass die Realisierung von Gerechtigkeit nicht mehr gegeben ist, und 76% sagen, dass die Bedrohung des Lebensstandards die Solidarität mit sozial Schwachen verringert. 61% sind der Ansicht, dass in Deutschland zu viele schwache Gruppen mit versorgt werden müssen. Und 33% vertreten die Auffassung, dass wir es uns in Zeiten der Wirtschaftskrise, damals 2009, nicht leisten können, allen Menschen die gleichen Rechte zu garantieren. Wer nun nicht der Behauptung anhängt, dass die soziale Spaltung das Ergebnis von natürlichen Prozessen sei, die nach alternativlosen Gesetzen von kapitalistischer Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz abläuft und deshalb auch kein Widerspruch gegen eine Politik der Umverteilung von unten nach oben und ihre gesellschaftliche Zerstörungskraft erhoben zu werden brauche, muss sich fragen: Wer sind die Spaltungsakteure?

Direkte wie indirekte Spaltungsakteure sind politische und wirtschaftliche Entscheider ebenso wie intellektuelle Diskursagenten von wissenschaftlichen, insbesondere wirtschaftswissenschaftlichen, medialen und politischen Eliten. Man findet die Sprache der Verachtung etwa 2005 selbst in regierungsamtlichen Dokumenten des Wirtschaftsministeriums, etwa in der Broschüre »Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, »Abzocke« und Selbstbedienung im Sozialstaat«. Dort heißt es in offen biologistischem Duktus: „Biologen verwenden für »Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben«, übereinstimmend die Bezeichnung Parasiten“. Ich möchte nicht wissen, durch wie viel Hände hoch gebildeter und hoch bezahlter Beamter dieser Passus unbeanstandet gegangen ist.

Elitäre Akteure eines Jargons der Verachtung suchen einen Resonanzboden in der Bürgerlichkeit. Sie finden ihn und werden ihrerseits von ihm beeinflusst. Diese zirkulären Prozesse verschärfen sich durch immer stärkere Abweichung vom Ideal anzustrebender Gleichheit und vor allem Gleichwertigkeit. Die objektive soziale Ungleichheit wird in abwertende Ungleichwertigkeit umgeformt. Die Missachtung für die »da unten« wächst. Eine rohe Bürgerlichkeit bildet sich heraus, und so geraten wir auf den Weg zu einer eskalierenden Spaltung.

Rohe Bürgerlichkeit wird befeuert durch einen semantischen Klassenkampf von oben. Man muss dazu nur das Beispiel des Philosophen Peter Sloterdijk nehmen, der seinen Kampf gegen den angeblich kleptomanischen Staat inszeniert und stattdessen einen generösen feudalistischen Rückfall zur Gnade der gebenden Hand proklamiert. Damit wird den sozial Schwachen ihre Würde genommen. Trotzdem fanden Sloterdijks Thesen und Forderungen in zahlreichen prominenten Medien unterstützenden Widerhall. Doch selbst wenn solche Positionen nicht direkt umgesetzt werden, hinterlassen sie Verarbeitungsspuren beim informierten Publikum. Ergebnisse aus unterschiedlichen Datenquellen lassen diese »Spuren« aufscheinen. Bürgerlichkeit in Form von sozialer Verantwortung derer »da oben« muss ernsthaft in Frage gestellt werden.

Auf der Basis unterschiedlicher Untersuchungsmethoden soll dies betrachtet werden. Haushaltsbefragungen in den USA zeigten, dass Haushalte mit einem Jahreseinkommen von weniger als 25.000 Dollar ca. 4,2% ihrer Einnahmen spenden, also soziale Verantwortung zeigten. Haushalte mit mehr als 100.000 gaben nur 2,7% weiter. Gemäß Daten von Steuererklärungen von unter 35-jährigen mit einem Jahreseinkommen unter 200.000 Dollar waren es 1,9% Spenden. Wer mehr verdiente, gab nur noch ein halbes Prozent.

Der amerikanische Psychologe Dacher Keltner kommt zu dem Schluss: „Dass die Reichen etwas zurückgeben, ist psychologisch unwahrscheinlich. […] Was Reichtum und Bildung und Prestige und eine gute Position im Leben einem geben, ist die Freiheit, sich auf sich selbst zu konzentrieren.“ […]

Kehrt man nun zur deutschen Situation zurück mit einer weiteren Methode, also unserer Bevölkerungsbefragung zu Einstellungen, dann gibt es empirische Belege in unserer erwähnten Studie, die in eine vergleichbare Richtung weisen. Zunächst nehmen ausgerechnet diejenigen, die sich selbst zum oberen Teil der Gesellschaft zugehörig fühlen, die soziale Spaltung in der Gesellschaft signifikant weniger wahr, was als Subtext heißt: Es besteht kein Veränderungsbedarf der wachsenden Ungleichheit. Dabei lässt sich diese objektiv belegen, etwa über das Netto-Geldvermögen. Trotzdem beklagen die Besserverdienenden mittlerweile zunehmend, dass sie nicht in einem gerechten Maße vom allgemeinen Wachstum profitieren würden. Sie bekämen also nicht, was ihnen aus ihrer Sicht zustände.

Die geringere Wahrnehmung der sozialen Spaltung durch die oberen Einkommensgruppen hat viele Folgen. Empirisch zeigt sich beispielsweise, dass die Hilfe für Schwache und die Solidarität mit schwachen Gruppen eher aufgekündigt wird. Weniger Unterstützung wird vor allem in der höheren Einkommensgruppe gegenüber Langzeitarbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern gefordert. Im Sinne des Kapitals werden durch ökonomistisches Denken in der Bevölkerung diese Menschen als nutzlos und nicht effizient etikettiert. Sie sollten entgegen dem Grundgedanken einer Solidargemeinschaft endlich Selbstverantwortung übernehmen, im Sinne eines allgegenwärtigen gesellschaftlichen Leitbildes, dem »unternehmerischen Selbst« – ein Kernstück neoliberaler politischer Ideologie zur Legitimation der Aufkündigung von Solidarität gegenüber den sozial Schwachen. Bei einigen Elite-Protagonisten kommen inzwischen Zweifel auf, ob das politische System vornehmlich für die Reichen funktioniert. Aber das Denken scheint in verschiedenen Bevölkerungsteilen angekommen und nicht mehr »rückholbar«.

Und so gibt es eindeutige Zusammenhänge zwischen der Forderung an die sozial Schwachen, ihre kritische Lebenssituation selbst zu bewältigen, und der Abwertung von Langzeitarbeitslosen, niedrig qualifizierten Zuwanderern, Obdachlosen und Behinderten. In Gruppen mit höheren Einkommen wird immer stärker abgewertet. Dabei muss ausdrücklich betont werden, dass selbstverständlich auch diese Gruppen nicht homogen sind. Es geht also nicht um die Gruppe, sondern um Analysen, was in diesen Gruppen an Einstellungen und Haltungen zu finden ist. Insgesamt ist eine ökonomistische Durchdringung sozialer Verhältnisse empirisch belegbar. Sie geht Hand in Hand mit einem Anstieg von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in höheren Einkommensklassen – zumindest in Krisenzeiten. Wie immer der Blickwinkel in den herangezogenen amerikanischen Studien und unserer Untersuchung methodisch variiert wird: Sowohl in der »Higher Social Class« im Sprachgebrauch der amerikanischen Kollegen als auch bei hiesigen Besserverdienenden mit ihrer subjektiven Einordnung oben auf der Statusleiter wird rohe Bürgerlichkeit in den Einstellungen sichtbar.

Damit wird deutlich, dass der autoritäre Kapitalismus, dessen Zähmung in den ersten Jahrzehnten der alten Bundesrepublik noch gelungen schien, außer Kontrolle geraten ist. Mit seiner spezifischen Gewalt des Desinteresses an sozialer Integration aus den Sphären von Wirtschaft und Politik ist er tief in die sich aufspaltende Gesellschaft eingedrungen. Die rohe Bürgerlichkeit wird zum Mittel der gesellschaftlichen Spaltung, die initiierenden machtvollen Eliten bleiben zumeist unangreifbar oder agieren verdeckt.

Und ein weiterer gravierender Punkt darf nach unseren empirischen Ergebnissen im Zusammenhang mit dem, was wir »Demokratieentleerung« nennen, nicht übersehen werden. Das Gefühl der Desintegration und politischen Machtlosigkeit ist insbesondere in der unteren Statusgruppe sehr viel verbreiteter als in der oberen Statusgruppe. Sie gehen der demokratischen politischen Partizipation immer mehr verloren, sie verabschieden sich – gewissermaßen sprach- und wortlos – aus der demokratischen Willensbildung. Aber wer sich in der oberen Statusgruppe machtlos fühlt, legt erkennbare autoritäre Aggression an den Tag und neigt dann auch eher zu rechtspopulistischen Einstellungen.

Eine Perspektive für eine sozial gerechte Zukunft dieser Gesellschaft sieht anders aus, denn – zurück zum Ausgangspunkt – in der rohen Bürgerlichkeit zeigen sich unzivilisierte, intolerante und entdifferenzierende Züge. […]

Unzweifelhaft hat Wissenschaft viele Facetten. Erkenntnisgewinn gehört zu ihren vornehmsten Aufgaben. Niemand bezweifelt das. Dennoch muss man fragen: Erkenntnisgewinn für wen? Lediglich für die relativ geschlossenen Zirkel der eigenen Disziplin? Hat die Wissenschaft insgesamt, haben die Sozialwissenschaften nicht gerade in diesen Zeiten eine eminent wichtige soziale Verantwortung, damit Erkenntniswissen zu Handlungswissen wird? Und wenn ja: In welcher Form? Die Antworten auf diese Fragen gehen weit auseinander. In den 1970er Jahren wurde vielfach eine gesellschaftskritische Wissenschaft mit politischem Anspruch gefordert, eine Haltung, die später – auch unter dem Einfluss der Systemtheorie – zurückgewiesen und zugunsten der Konzentration auf den fachwissenschaftlichen Kreislauf in den Hintergrund geriet. Diese Verschiebung betraf auch die sozialwissenschaftliche Verwendungsforschung der 1980er Jahre, die ebenfalls in Bedrängnis und schließlich in Vergessenheit geriet.

In der letzten Zeit häufen sich nun die Indizien dafür, dass sich der Wind drehen könnte. So wies beispielsweise Altbundeskanzler Helmut Schmidt aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Max-Planck-Gesellschaft am 11. Januar 2011 darauf hin, dass die Wissenschaft auch eine gesellschaftliche Bringschuld habe. Matthias Kleiner, der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hielt am 7. Juli 2010 ebenfalls eine Rede zur gesellschaftlichen Verantwortung, und die DFG kündigte 2010 ein neues Programm zur Förderung des Erkenntnistransfers an. Die Volkswagen-Stiftung schließlich hat bereits vor einigen Jahren das Programm »Wissenschaft – Öffentlichkeit – Gesellschaft« aufgelegt, das untersuchen soll, auf welchen Wegen und in welchem Umfang wissenschaftliche Erkenntnisse in die allgemeine Öffentlichkeit gelangen.

Es geht also mehr denn je darum, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich nicht der innerwissenschaftlichen Perpetuierungen bedienen, sondern sich den unkalkulierbaren, rabiaten und z.T. aggressiven öffentlichen Debatten aussetzen bzw. sie anzustoßen versuchen mit der Leitformel »In welcher Gesellschaft wollen wir leben?«. Die dargestellten Ausschnitte aus der Langzeituntersuchung machen es notwendiger denn je. Ich hoffe auf Veränderungen und sehe auch Anzeichen dafür. […]

Wilhelm Heitmeyer ist Professor an der Universität Bielefeld und Direktor des dort angesiedelten Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung.

Welche Art der Piraterie?

Welche Art der Piraterie?

von Anke Schwarzer

In Hamburg stehen zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik mutmaßliche Piraten vor Gericht. Die Angeklagten aus Somalia sollen am 5. April 2010 auf Hoher See das deutsche Containerschiff »Taipan« überfallen haben. Der Prozess wirft zahlreiche rechtspolitische Fragen auf und mutet angesichts der ungleichen globalen Macht- und Eigentumsverhältnisse wohlfeil an.

Der Prozess vor dem Hamburger Landgericht gegen zehn Angeklagte aus Somalia bringt eine entfernte Welt und ein großes Thema in einen deutschen Gerichtssaal. Er polarisiert das Publikum, denn hier geht es um weit mehr als um den konkreten Tatvorwurf. Der Prozess gegen zehn Menschen, die aus einer der ärmsten Regionen der Erde kommen, in einer der reichsten Städte der Erde, ist auch aufgeladen mit Fragen rund um die Themen Gerechtigkeit, europäische Dominanz, Menschenrechte, globale Macht- und Wirtschaftsverhältnisse sowie Sicherheit der Schifffahrtswege und körperliche Unversehrtheit auf den Meeren.

Was war geschehen? Im April 2010 hatte eine Kommandoeinheit der niederländischen Streitkräfte mehrere Seeleute der »MV Taipan« befreit, die am Horn von Afrika gekapert worden war. Die 15 Seeleute aus Deutschland, der Ukraine und Sri Lanka hatten sich in einem Schutzraum verschanzt und einen Notruf abgegeben. Seit Herbst 2010 stehen die zehn mutmaßlichen Piraten wegen des Vorwurfs des erpresserischen Menschenraubs und Angriffs auf den Seeverkehr vor dem Hamburger Landgericht. Ihnen drohen bis zu 15 Jahre Haft. Die Staatsanwaltschaft fordert zwischen vier und elfeinhalb Jahren Freiheitsstrafe.

Die Angeklagten, darunter auch Jugendliche und ein nach eigenen Angaben und Dokumenten zur Tatzeit strafunmündiger 13-Jähriger, sitzen bereits fast zwei Jahre in Untersuchungshaft. Das Urteil soll im Mai gesprochen werden.

Fischraub und der Tsunami

Im sich lange hinziehenden Prozess haben die meisten Angeklagten eine Tatbeteiligung gestanden und sich beim Kapitän der »Taipan« entschuldigt; andere machten von ihrem Schweigerecht Gebrauch. Viele haben ihre Lebensverhältnisse in Somalia geschildert. Sie waren als Fischer tätig, berichteten von den großen Fangflotten, die das Meer leer räumen, und vom Tsunami, der 2004 viele Boote, Generatoren und Kühlcontainer zerstört hat. Fast alle gaben an, aus finanzieller Not oder aus Angst um ihr eigenes Leben oder das ihrer Familie gehandelt zu haben. Einer der Angeklagten belastete vor kurzem die anderen schwer, informierte das Gericht über den Ablauf des Überfalls und bezichtigte diejenigen Mitangeklagten der Lüge, die ausgesagt hatten, sie seien zur Piraterie gezwungen worden. Soweit bekannt, sind alle Angeklagten völlig mittellos oder gar verschuldet. Viele haben keine Schule besucht, können weder lesen noch schreiben. Einige waren bei ihrer Festnahme unterernährt.

Strafverfolgung zur Abschreckung

Der Gerichtsprozess ist in zweierlei Hinsicht zu kritisieren: Zum einen lässt sich fragen, inwieweit er nach ethisch-politischen und rechtsstaatlichen Aspekten legitim ist. Und zum anderen – da er nun geführt wird – muss die Art und Weise, wie er vonstattengeht, unter die Lupe genommen werden.

Recht und Rechtsetzung folgen meist dem Interesse derjenigen, die über die Mittel verfügen, die als Recht gesetzten Standpunkte gegenüber den schwächeren Interessen und Rechtsauffassungen durchzusetzen: So gibt es weder somalische Kriegsschiffe im Einsatz gegen die Fischtrawler aus Frankreich, Spanien, Pakistan, Japan, Taiwan, Korea oder anderen Ländern1 noch gegen die europäischen Giftmüllverklapper vor Somalias Küste.2 Und die dort kreuzenden Marinen Russlands, Chinas, der USA, des Iran und der EU interessieren sich lediglich für die Bekämpfung der einen Form der Seeräuberei – der Schiffspiraterie.

In Somalia könne man kaum überleben, sagte die Anwältin Gabriele Heinecke zu Beginn des Prozesses. Möglicherweise gebe es einen „völkerrechtlichen Notstand“: „Was mache ich, wenn mir niemand hilft und gleichzeitig die Fischkonserven an mir vorbeifahren?“ Die Anklage der Staatsanwaltschaft sei nüchtern gehalten, so die Anwältin, aber sie erfasse nicht den Vorgang. „Was maßen wir uns an? Das ist nicht in einem deutschen Gerichtssaal zu verhandeln“, sagt Heinecke. „Wo ist der Sinn dieses Prozesses und wen will man eigentlich beeindrucken?“

Eine Antwort findet sich auf der Webseite des Auswärtigen Amtes: Die Strafverfolgung mutmaßlicher Piraten sei ein „wichtiger, abschreckender Bestandteil des Vorgehens gegen Piraterie“, so das Auswärtige Amt mit Blick auf »Atalanta«, der ersten gemeinsamen Marinemission in der Geschichte der Europäischen Union (EU).3

Kurzer Prozess?

Verteidigungsminister Thomas de Maizière ließ es sich nicht nehmen, den Umgang der deutschen Justiz mit Piraterie in der Presse zu kritisieren und auch das laufende Verfahren zu kommentieren: „Es wäre ja schon mal schön, wenn das Gericht in Hamburg nicht 14 Monate braucht bis zum Plädoyer des Staatsanwalts.“ 4

Inwieweit eine Abschreckung oder gar Prävention durch das Militär und die Justiz überhaupt möglich ist, lässt sich bezweifeln. Heinecke etwa sagte, es könne angesichts der Existenz bedrohenden Situation in Somalia kein Zweifel daran bestehen, dass „dieses Strafverfahren – und seien die Strafen noch so drakonisch – nicht geeignet ist, Piraterie zu bekämpfen“.

Letzten Endes bleibt es die individuelle Entscheidung eines jeden Menschen, wie er oder sie in großer Not handelt und sich dafür verantwortet. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Piraten Seeleute – meist aus armen Ländern wie Sri Lanka, Georgien und Bangladesh – mit Waffen angreifen, wochen- und monatelang festhalten, manche sogar verletzten und töten. Die Sorge der Seeleute um die eigene körperliche Unversehrtheit ist groß. Noch gewichtiger scheint allerdings die Sorge der Reeder um ihren Profit zu sein.

Nichtsdestotrotz lassen die imperialen Machtverhältnisse die strafrechtliche Verfolgung der Männer aus Somalia wohlfeil erscheinen. Sie sitzen auf der Anklagebank in einer der reichsten Städte der Welt wegen Piraterie, die für sie eine Strategie des Überlebens gewesen sei oder zu der sie mit Gewalt gezwungen worden seien. Derweil werden die Verantwortlichen für Raubfischerei und Verklappung von Giftmüll vor Somalias Küste nicht einmal angeklagt. Nach der UN-Seerechtskonvention sind alle drei Aktivitäten verboten – verfolgt wird aber nur die Schiffspiraterie.

Resozialisierung – nur in welche Gesellschaft hinein?

Neben dieser grundlegenden Schieflage, was die strafrechtliche und auch militärische Ahndung von Straftaten auf See anbelangt, führten mehrere Pflichtverteidiger auch weitere strukturelle Verfahrenshindernisse und rechtspolitische Probleme an: Ralf Ritter wies darauf hin, dass die Legitimität einer Strafe auf einem Gegenseitigkeitsverhältnis beruhe: „Bestraft werden darf, wer die Rechtsordnung verletzt, auf deren Schutz er selber Anspruch gehabt hat.“ Dieses Gegenseitigkeitsverhältnis fehle aber bei den somalischen Angeklagten. „Nichts hat sie mit Deutschland und seinem Recht verbunden. Sie hatten keinen Anspruch auf Schutz durch unser Recht, unsere Gerichte, keinen Anspruch auf Daseinssicherung“, so Ritter weiter.

Ein Antrag seines Kollegen Tim Burkert verweist zudem auf die Unzumutbarkeit des Prozesses für seinen Angeklagten angesichts der existenziellen Not in Somalia. „Es gehört zur Menschenwürde, dass nicht nur die materielle Existenz, sondern auch die moralische und emotionale Existenz bei jeder staatlichen Handlung berücksichtigt wird.“ Die Angeklagten müssten aus der Haft hilflos mit ansehen, wie ihre Angehörigen in Somalia mit dem Tode ringen. Nur weil Solidaritätsgruppen Geld für Telefonate spendeten, könnten sie immerhin versuchen, Verwandte zu erreichen.5

Eine existenzielle Notlage kenne das deutsche Strafrecht aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht. Burkert betont jedoch, dass es Verfahren gegeben habe, in denen die Verurteilungen auf übergesetzliche Rechtsprinzipien gestützt worden seien, etwa im Mauerschützenprozess oder in Verfahren gegen NS-Täter, die sich auf nationalsozialistisches Recht bezogen haben. Es finde sich aber keine Rechtssprechung zum umgekehrten Fall, „nämlich der Frage, wann gesetzliches Unrecht aus übergesetzlichen Gesichtpunkten heraus nicht gesühnt werden darf“, so Burkert. Sein Antrag wurde allerdings abgelehnt. Diese Aspekte könnten allenfalls beim Strafmaß berücksichtigt werden, so das Gericht.

Die Anwälte brachten noch verschiedene weitere Verfahrenshindernisse vor. Bereits am ersten Verhandlungstag fragte Claus-Philipp Napp in einer gemeinsamen Erklärung der 20 Pflichtverteidiger, ob es angesichts der wichtigsten Strafziele der deutschen Justiz überhaupt angebracht sei, dass sich die Hamburger Justiz mit Vorgängen im Indischen Ozean befasse. „Eine Resozialisierung der Angeklagten in der Bundesrepublik dürfte nicht gewünscht sein; eine Resozialisierung der Angeklagten für ihr Heimatland ist nicht möglich“, so Napp.

Der Anwalt Oliver Wallasch forderte die Kammer auf, das Verfahren einzustellen, weil die Angeklagten nicht innerhalb von 48 Stunden einem Ermittlungsrichter vorgeführt worden seien, nachdem sie von niederländischen Marinesoldaten der »Tromp« festgenommen worden waren – das verstoße nicht nur gegen nationales niederländisches und deutsches Recht, sondern auch gegen das Völkerrecht. Es gelte der Grundsatz der Unverzüglichkeit. Außerdem müsse der Gefangene sofort einen Rechtsbeistand hinzuziehen können, Vertraute müssten informiert werden. Auch der Grund der Festnahme müsse unverzüglich genannt werden. Würden diese Grundsätze wie im Falle seines Mandanten nicht eingehalten, dann handele es sich um Freiheitsberaubung im Amt, so Wallasch.

Wallasch ging nicht nur auf die Strafprozessordnung und das Grundgesetz ein, sondern zog auch völkerrechtliche Abkommen heran, etwa das Seerechtsübereinkommen und die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats zur Bekämpfung der Piraterie. Hier seien stets zwischenstaatliche Belange berührt, die Souveränitätsrechte seien zu beachten. Eine Einschränkung von individuellen Grundrechten, wie sie die Angeklagten erlitten hätten, sei aber nicht vorgesehen, so der Anwalt. Auch der EU-Ratsbeschluss zur Operation »Atalanta« schweige zu den Individualrechten, auch hier seien insbesondere zwischenstaatliche Belange betroffen. „Eine Ermächtigungsgrundlage für Festnahmen ergibt sich auch hier nicht“, sagte Wallasch.

»Wie ein Stück Fleisch«

Trotz dieser angeführten Grundproblematiken hält das Gericht am Verfahren fest. Aber auch in der Art und Weise, wie der Prozess geführt wird, zeigt sich, dass sich an verschiedenen Punkten imperiale Verhältnisse in einer Benachteiligung und Herabwürdigung der somalischen Angeklagten durchpausen. Insbesondere den Jugendlichen, die aus Somalia nach Hamburg verfrachtet wurden, gereicht ihre Herkunft immer wieder zum Nachteil. Laut der Jugendgerichtshilfe ist eine Straffälligkeit der Angeklagten in Hamburg, unter weniger lebensbedrohenden Umständen als in Somalia, sehr unwahrscheinlich. Dennoch hat es das Gericht mehrmals abgelehnt, sie aus der unverhältnismäßig langen Untersuchungshaft zu entlassen, mit der pauschalen Begründung, sie hätten hier keine Familie und könnten mit Hilfe der somalischen Diaspora in Europa untertauchen. Ein Vorwurf, der einem deutschen Jugendlichen, der sich ja nach dieser Lesart des Gerichts im eigenen Land unter zahlreichen potentiellen »Fluchthelfern« befände, nicht gemacht werden würde.

In einer Begründung war gar die Rede davon, dass es dem Jugendlichen im Vergleich zu seinem Leben in Freiheit in Somalia nicht wesentlich schlechter gehe. In Somalia habe er nicht immer zwei Mahlzeiten am Tag einnehmen können, während er in der Jugenduntersuchungshaftanstalt durchgehend verpflegt und ärztlich betreut werde. Auch hier wirkt sich die bloße Herkunft zum Nachteil aus, zumal es bei diesem Antrag lediglich darum ging, die im Vergleich zu anderen Jugendlichen lange Untersuchungshaft zu beenden, eine Jugendwohnung zu beziehen und weiter an dem Prozess teilzunehmen – und eben nicht darum, nach Somalia zu reisen.

Ein weiteres Beispiel ist die Begründung der Staatsanwältin, warum die Jugendlichen nach Jugendrecht besonders lange Freiheitsstrafen, zwischen vier und fünfeinhalb Jahren, erhalten sollen: Bei ihnen seien noch „Entwicklungskräfte“ wirksam und eine „Nachreife“ möglich, es gebe aber ein „erhebliches Erziehungsdefizit“ der jungen Männer wegen des Mangels an Bildung und ihrer schweren Kindheit in Somalia. Um „erzieherische Wirkung“ entfalten zu können, müsse die Strafe daher erheblich sein, so die Staatsanwältin.

Wie geht man mit der Tatsache um, dass mögliche Entlastungszeugen aus Somalia und Indien keinen Pass haben, keine Adresse im deutschen Sinne mit Straßenname und Hausnummer – und dann laut Gericht „unauffindbar“ seien? Wie ist dann zu bewerten, dass den Zeugen der niederländischen Marine bei der Vernehmung gestattet wurde, einen juristischen Berater neben sich sitzen zu haben? Was macht man, wenn sich die Deutsche Botschaft in Nairobi nach Angaben des Gerichts nicht in der Lage sieht, eine Vernehmung von Zeugen per Video in den Gerichtssaal nach Hamburg zu übertragen? Und wie kann ein Gericht pauschal Dokumente aus Somalia nicht anerkennen? Letzteres führte etwa dazu, dass die Jugendlichen zweifelhaften Altersschätzungen unterzogen wurden.6 Dabei seien sie „wie ein Stück Fleisch“ behandelt worden, so der Verteidiger Thomas Jung.

Welche Wissensbestände, welche Beweise werden anerkannt und welche nicht? Ist eine Adresse mit Straße und Hausnummer mehr wert und glaubwürdiger als eine anschauliche Orts- und Wegbeschreibung? Es geht darum, inwieweit eine Wahrheitsfindung über verschiedene Kontinente, Sprachen, Rechtskulturen und Staatsformen hinweg und angesichts von zerrütteten gewaltförmigen Verhältnissen in Somalia überhaupt möglich ist – und inwieweit sie vom Gericht gewissenhaft betrieben wird. Die Kammer hat bislang fast alle Anträge der Verteidigung, darunter auf Einstellung des Verfahrens, auf Haftverschonung oder -entlassung für die Jugendlichen und zur Ladung von Zeugen, abgelehnt.

So mancher Verteidiger sieht den Prozess zur Posse verkommen, mehrere Befangenheitsanträge blieben aber erfolglos. „Unsere Anträge werden alle mit vielen Worten abgebügelt. Es entsteht der Eindruck, dass kein Bemühen des Gerichts vorhanden ist und dass es bei belastenden Dingen einen größeren Eifer an den Tag legt als bei entlastenden“, so der Rechtsanwalt Rainer Pohlen im Dezember letzten Jahres. Auch für Wallasch stellte sich zu diesem Zeitpunkt die Frage, ob die Kammer „ergebnisoffen“ vorgehe. Der Verteidiger Ritter sieht die Verteidigung behindert, „da die Justiz sich aufgrund der fehlenden staatlichen Strukturen in Somalia nicht in der Lage sieht, dort Zeugen zu laden, die Entlastendes über die Angeklagten aussagen könnten.“

Prozessuale und grundlegende Legitimitätslücken

Immer stärker steht in Frage, ob der Prozess der komplexen Gemengelage gerecht werden kann. Dahingehende Befürchtungen von Kritikern und einigen Verteidigern zu Beginn des Prozesses bestätigen sich immer mehr. Auch wächst die Sorge, der Prozess solle in der Stadt der Reeder und angesichts des teuren Bundeswehreinsatzes an der Küste Somalias sowie der Diskussion, ob weitere derartige Prozesse in Deutschland geführt werden sollen, ein Exempel statuieren. Nach dem bisherigen Verlauf hat dieser Prozess sicherlich auch den Effekt, die rechtlich umstrittenen Militäreinsätze jenseits der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland in fernen Weltregionen, etwa um Schiffsrouten für Deutschlands große Handelsflotte zu sichern, weiter zu legitimieren und zu normalisieren.

Sollte es weitere Prozesse gegen mutmaßliche Piraten in Deutschland geben, dürfte so mancher nach den gemachten Erfahrungen schneller ablaufen und damit auch de Maizières Wunsch nach kurzen Prozessen entgegen kommen. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Hamburg sind seit 2009 über 120 Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Piraten eröffnet worden. Ob es zur Anklage kommt, sei aber noch offen, so der Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers. Die prozessualen wie auch die grundlegende Probleme, so Verteidiger Ritter, stellten aber nicht nur die Legitimität des laufenden »Piratenverfahrens« in Frage, sondern auch die aller zukünftigen.

Anmerkungen

1) Die High Seas Task Force (HSTF) schätzt den Wert der Fänge aus illegaler, unregulierter und undokumentierter (IUU) Fischerei auf jährlich weltweit 4-9 Milliarden US-Dollar, wobei ein erheblicher Teil auf Somalia entfalle. Laut der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO handelt es sich jährlich um Fische in einem Wert von etwa 94 Millionen US-Dollar, gefangen von 700 Schiffen aus aller Welt. Eine 2009 veröffentlichte Studie der singapurischen »Rajaratnam School of International Studies« besagt, dass vor der Küste Somalias jedes Jahr Fisch für 90 bis 300 Millionen Dollar illegal gefangen wird. Die wenigen somalische Stellen, die in internationalen Gremien gegen die IUU-Fischerei vorgingen, stießen allerorten auf taube Ohren. Vgl. Schofield, Clive (2008): Plundered Waters. Somalia’s Maritime Resource Insecurity. In: Timothy Doyle & Melissa Risely (Hrsg.) (2008): Crucible for survival: environmental security and justice in the Indian Ocean region. Piscataway/New Jersey: Rutgers University Press.

2) Vgl. Greenpeace (2010): The toxic ships. The Italian hub, the Mediterranean area and Africa.

3) An dem Krieg gegen Piraten vor Somalias Küste beteiligt sich Deutschland seit 2008 mit mehreren hundert Soldaten, Scharfschützen der Marineschutzkräfte, dem Versorgungsschiff »Rhön«, Fregatten sowie Hubschraubern und Überwachungsflugzeugen.

4) De Maizière besorgt über Entwicklung in Iran. Spiegel Online, 30.1.2012.

5) Blog »Reclaim the Sea«; reclaim-the-seas.blogspot.com.

6) Medizinische Untersuchungen zur Altersfeststellung sind unter Ärzten und Wissenschaftlern mehr als umstritten – auch, ob eine »wissenschaftliche Altersfeststellung« mit technischen oder klinischen Methoden aufgrund erheblicher Standardabweichungen und für Jugendliche aus allen Weltregionen überhaupt ausreichend exakt möglich ist. Der 110. Deutsche Ärztetag 2007 in Münster hatte sogar jegliche Beteiligung von Ärzten an der Feststellung des Alters mit aller Entschiedenheit abgelehnt, da es sich dabei weder um eine Maßnahme zur Verhinderung noch um die Therapie einer Erkrankung handele. In einem Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom Juni 2007 heißt es: „Bei Ungewissheit über den Tag der Geburt gebietet es aber das gesetzliche Prinzip eines umfassenden Schutzes Minderjähriger, von dem späteren Zeitpunkt auszugehen.“

Anke Schwarzer ist Diplom-Soziologin und arbeitet als Journalistin. Sie besucht und beobachtet regelmäßig den Prozess gegen die zehn Angeklagten aus Somalia, der seit November 2010 vor dem Landgericht Hamburg geführt wird.

Territorialkonflikte unter Palmen

Territorialkonflikte unter Palmen

Der Konflikt um die Spratly-und Paracel-Inseln

von Andreas Seifert

Die Diskussion um die Spratly- und Paracel-Inseln taucht seit den 1970er Jahren mit der gleichen Regelmäßigkeit auf der politischen Agenda auf, wie die Wirbelstürme über diese Inseln im Südchinesischen Meer ziehen – mit gefährlicher Tendenz zu einem bewaffneten Konfliktaustrag. Das Streben Beijings nach der Vormachtstellung im Südchinesischen Meer erhöht die Gefahr regionaler Konflikte und beschleunigt die Aufrüstungsspiralen in Ost- und Südostasien. Der folgende Beitrag beleuchtet den Konflikt in seinem jetzigen Stand und untersucht die Auswirkungen auf die Rüstung in den Staaten Südostasiens. Ebenso werden die Implikationen des Konfliktes auf das Verhältnis der Region zu den weiter entfernt liegenden Staaten Indien und Japan angesprochen, um die Bedeutung des Konfliktes für das militärische Gleichgewicht in der Region und darüber hinaus zu verdeutlichen.

Von den knapp 200 Inseln, Sandbänken und Riffen der Spratly- und Paracel-Gruppen sind nur sehr wenige für die dauerhafte Besiedelung geeignet. Die große Mehrheit der Inseln besteht nur aus kleineren Felsspitzen, die sich die meiste Zeit des Jahres unter der Wasseroberfläche befinden. Lediglich auf einigen Inseln sind zumindest temporär Menschen anzutreffen. Gelegen im Südchinesischen Meer zwischen der Volksrepublik China, der Republik China auf Taiwan, den Philippinen, Malaysia, Brunei und Vietnam sind die Inseln Gegenstand von erbitterten Streitereien zwischen den Parteien geworden. Jeder der genannten Staaten erhebt Ansprüche auf die Inseln oder auf Teile der Archipele. Sie liegen strategisch günstig zu den Schifffahrtsrouten der chinesischen, japanischen und koreanischen Häfen auf dem Weg in den Mittleren Osten und Europa. Überdies wird vermutet, dass der sie umgebende Meeresboden Bodenschätze aller Art beherbergt. Die Kontrolle der Inseln geht zudem mit dem Zugriff auf ein gigantisches Areal von Fischgründen einher.

Erstmals eskalierte der Streit um die Inseln in den 1970er Jahren, als sich chinesische Schiffe und Soldaten mit der vietnamesischen Marine Scharmützel lieferten. Dies löste eine ganze Welle von »Besetzungen« aus, die von der Befestigung kleinerer Inseln bis zur Etablierung von Armeestützpunkten reichten. Ende der 1980er Jahre wiederholte sich diese Zuspitzung erneut und führte zu den ersten Toten in dem Konflikt.1 1995 reagierten die Philippinen auf die Einrichtung und Befestigung eines chinesischen Stützpunkts mit einer diplomatischen Offensive und Machtdemonstrationen zur See. Hohe Kosten und geringer ökonomischer Nutzen solcher Besetzungen haben umgekehrt auch immer wieder dafür gesorgt, dass Inseln zeitweise oder komplett wieder geräumt wurden. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts ändert sich dies jedoch dramatisch. Neue technische Möglichkeiten und die verstärkte internationale Konkurrenz um Ressourcen lassen die gezielte Suche nach Rohstoffen im Südchinesischen Meer inzwischen als potentiell lukratives Geschäft erscheinen. Gesteigerte militärische Möglichkeiten vermitteln überdies die Illusion, einmal Erobertes auch behalten zu können. Daher ist die Zahl der auf den Inseln stationierten Soldaten aller Parteien kontinuierlich angewachsen. 2002 einigten sich die Parteien in einem Memorandum darauf, keine weiteren Aktionen zur »Destabilisierung« der Situation zu unternehmen – allerdings mit begrenztem Erfolg.

Chinas territoriale Ansprüche …

Auch die Volksrepublik China hat das Memorandum 2002 unterzeichnet, erhebt gleichzeitig aber die wohl weitreichendsten Ansprüche in der Region. Die VR China reklamiert nicht nur fast alle Inseln beider Inselgruppen für sich, sondern auch noch den Raum dazwischen als eigenes Hoheitsgebiet. Ein Gebiet so groß wie das Mittelmeer. Auf Landkarten, die in der VR China gedruckt werden, wird das Gebiet als Staatsgebiet gekennzeichnet. Einzelne Inseln (Riffe) wurden zu regelrechten Festungen ausgebaut und sind von rotierenden Einheiten der Volksbefreiungsarmee »bewohnt«. Dieses Muster der Okkupation wird von fast allen Anrainern betrieben – doch von niemanden so konsequent wie von China.

Begleitet werden die Besetzungen von einer geradezu grotesken Propaganda in den chinesischen Medien. Regelmäßige Berichte über den Zustand der Inseln und der »aufopfernden Hingabe« ihrer militärischer Bewohner werden im Fernsehen und in Hochglanzmagazinen verbreitet. Zur Untermauerung der Ansprüche wurden Delegationen von Archäologen auf die Inseln entsandt, um anhand von Porzellanscherben eine frühe Besiedelung durch Chinesen nachzuweisen. Dies verweist auf die innenpolitische Dimension, die der Konflikt hat. Seit den erste »Okkupationen« in den 1970er Jahren wird darüber aus einer Militärperspektive berichtet, die den »Kampf« um die Inseln zur nationalen Ehrensache erhebt.

In Taiwan, sonst von Beijing als abtrünnige Provinz bezeichnet, findet die VR China einen gleich gesinnten Verbündeten. Anders als die VR China verfügt Taiwan auf einer der Inseln über eine Landebahn und kann die von ihr beanspruchten Inseln ganzjährig schnell erreichen. Aber auch dort ist man inzwischen besorgt über den Ton, der auf dem Festland angeschlagen wird.

In einem Artikel für die in Beijing auf Englisch erscheinende Zeitung »Global Times« Ende September 2011 kam der Analyst Long Tao zu dem Schluss, es sei Zeit, den Anrainern eine militärische Lektion zu erteilen.2 Die Global Times gilt als ein wichtiges Sprachrohr der Kommunistischen Partei Chinas in Fragen der Außenpolitik. Long Tao schlug in dem Artikel vor, dass ein begrenzter Krieg gegen Vietnam und die Philippinen die Möglichkeit böte, dem »aggressiven Verhalten« dieser Staaten ein Ende zu bereiten. In einem Online-Kommentar zwei Tage später wiederholte er seine Kernaussagen und behauptete mit Verweis auf das russische Eingreifen in Georgien 2008, dass die internationale Gemeinschaft ein solches Verhalten hinnehmen würde.3 Auch wenn in Beijing kein Politiker sich öffentlich hinter eine solche Aussage stellen wollte, verfehlte sie ihre Wirkung nicht. In Vietnam und auf den Philippinen war die Aufregung groß, und Taiwan, selbst um seine Inseln besorgt, beeilte sich zu betonen, dass die Lösung des Konfliktes nur friedlich und einvernehmlich erfolgen sollte.4 Longs Ausbruch an Nationalismus unmittelbar vor dem chinesischen Nationalfeiertag am 1. Oktober ist nicht ungewöhnlich für einen Kommentar in der chinesischen Presse, doch in seinem drastischen Ruf nach Krieg und Eskalation einzigartig.

Das Jahr 2011 sah eine stufenweise Eskalation, die vorläufig in Longs Aufruf gipfelte, aber sicher nicht ihr Ende gefunden haben dürfte. Im Februar 2011 bedrohten chinesische Kriegsschiffe vietnamesische Fischer. Im März 2011 attackierten chinesische Schiffe ein philippinisches Explorationsschiff, das in dem Gebiet nach Öl suchen sollte. Im Mai eskalierte der Streit mit Vietnam, das Konzessionen für Explorationen in strittigem Gebiet an eine amerikanische Ölfirma vergeben hatte: Chinesische Schiffe kappten ein Kabel eines Forschungsschiffes. Im gleichen Monat riefen vietnamesische Fischer dazu auf, die Gewässer stärker vor der Überfischung durch chinesische Fabrikboote zu schützen – was Beijing mit der Entsendung eines der größten Fischereischutzboote beantwortete, um seinerseits für die »Pflege« des Bestandes an Fischen zu sorgen. Vietnam reagierte mit einem Seemanöver gemeinsam mit der US Navy vor der Küste als Machtdemonstration. Der Verteidigungsminister der VR China, General Liang Guanlie, stellte im Juni bei einem Treffen der ASEAN in Singapur die Lage im Südchinesischen Meer als stabil und sicher dar – eine Einschätzung, die von keinem der anwesenden Diplomaten geteilt, sondern als Ignoranz gegenüber der tatsächlichen Situation gewertet wurde. Die Reaktionen, insbesondere der Anrainer ans Südchinesische Meer, reichten von Unverständnis bis Protest.

2012-2-Seifert_Spratly-Paracel

… und wachsende Rüstung zur See

Die chinesische Marine wird seit Jahren systematisch aus- und umgebaut. Wie im Bereich des Heeres und der Luftwaffe verfolgt die VR China einen Umbau von der Masse zur Klasse, d.h. eine Reduktion der Mannstärke bei gleichzeitiger technischer Aufrüstung. Dabei erscheint die Ankündigung eines Flugzeugträgers besonders hervorzustechen, ist aber nur ein kleiner Teil der eigentlichen Aufrüstung.5 Neue Fregattenklassen und Verbesserungen bei den U-Booten sind hier letztlich ausschlaggebendere Faktoren. Die Marine baut zudem ihre Kapazitäten bei Landungsbooten aus und erwirbt damit die Fähigkeit, größere Truppenmengen anzulanden – ein wichtiger Faktor sowohl für mögliche Taiwan-Szenarien wie auch für Szenarien im Südchinesischen Meer. Der Ausbau der Basis Sanya zu einem nicht einsehbaren U-Boot-Hafen an der Südspitze von Hainan, dem südlichsten Zipfel des chinesischen Festlandes, erregte viel Aufmerksamkeit.

Mit der Weiterentwicklung der DF-21 Mittelstreckenrakete verfügen die Chinesen erstmals über eine ballistische Rakete, die in der Lage sein soll, fahrende Ziele zur See zu treffen. Diese Waffe, auch als Carrier-Killer bezeichnet, ändert die Spielregeln zur See deutlich und gleicht Defizite, die die chinesische Marine in einer direkten Auseinandersetzung z.B. mit den USA hätte, aus.

Ebenfalls von Bedeutung ist, dass China die Struktur seiner Landesverteidigung ändert. Die Fischereiaufsichtsbehörde, früher eher ein vernachlässigtes Anhängsel der Armee, hat eine höhere Autonomie und neues Material erhalten. Die größten Boote der Behörde kommen in Größe und Geschwindigkeit an ältere Fregatten heran, sind aber nicht in gleicher Weise bewaffnet. Die unmittelbare Küstenverteidigung ist neu organisiert und wird teilweise der Bewaffneten Polizei (People’s Armed Police) überlassen. Auch hier bilden Neuanschaffungen wie die Boote der Houbei-Klasse/Type 22 (schnelle Katamaranboote mit Raketenbewaffnung) einen Zugewinn an Einsatzfähigkeit. Die Marine versucht sich in ihren Einsatz- und Trainingsszenarien zusehends auf Aufgaben zur hohen See zu konzentrieren.

Als Begründung für die Aufrüstung zur See werden die gestiegene Bedeutung Chinas in der Welt und seine Exportabhängigkeit angeführt, die – in Analogie zur Argumentation in Europa – sichere Handelswege erfordere.6 Eines der expliziten Ziele der chinesischen Aufrüstung ist es, in begrenzten, lokalen und hoch technisierten Konflikten bestehen zu können.7

Behält das Land das Tempo und den Fokus seiner Aufrüstungsbemühungen bei, wie es sich mit dem jüngst bekannt gegebenen Zuwachs der Militärausgaben um 11,2% für 2012 andeutet, werden die Nachbarn wohl versuchen, hier mitzuhalten. China verlässt mit dieser Haushaltssteigerung auch die Kopplung an die Steigerungsraten des Brutto-Inlandprodukts (BIP), die in der Region üblich ist. Um der stärker werdenden chinesischen Marine etwas entgegen zu setzen, versuchen jetzt schon fast alle Anrainer, ihre maritimen Fähigkeiten auszubauen.8

Aufrüstung der Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres

Land 2004
in Mio US$
2004
% BIP
2010
in Mio US$
2010
% BIP
Importe 2006-2010*
in Mio US$
Rang*
China** 52.954 2,1 119.400 2,2 7.724 2
Taiwan 7.864 2,2 9.078 2,4 947 32
Malaysia 3.640 2,3 3.626 2,0 3.500 11
Philippinen 1.310 0,9 1.626 0,8 57 91
Singapur 6.382 4,6 8.399 4,3 4.402 7
Vietnam 1.369 2,0 2.385 2,5 793 37
Indien 26.679 2,8 41.284 2,8 11.139 1
Australien 14.705 1,8 23.972 1,9 4.054 9
zum Vergleich
EU 282.000   285.000      
Deutschland 46.183 1,4 45.152 1,4 813 36
USA 527.799 4,0 698.281 4,7 3.995 10
* Volumen der Waffenimporte nach SIPRI-Berechnungen (Trend Indicator Values) 
** Berechnungen von SIPRI
Quelle: SIPRI Yearbook 2011

Rüstungstrends in Asien

Der Konflikt um die Inseln hat nicht zuletzt durch seine Implikationen für die Aufrüstungsbemühungen der Anrainerstaaten eine weit über die Region hinaus gehende Bedeutung erreicht. Dies gilt für zwei große Mächte in der unmittelbaren Nachbarschaft besonders: Japan und Indien.

Mit Japan ist die VR China durch den Streit um die Diaoyu/Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer durch einen ähnlichen Konflikt entzweit. Auch hier geht es nicht um die weitestgehend unbewohnbaren Inseln (die seit neuestem alle sowohl einen chinesischen wie ein japanischen Namen tragen), sondern um die Nutzung des Meeresbodens. Das Vorhaben einer gemeinsamen Erkundung der Ressourcen am Meeresgrund durch China und Japan wird immer wieder durch Provokationen der einen wie der anderen Seite unterbrochen. Das Drohgespenst eines hoch gerüsteten China hat in Japan die Diskussion um die Aufrechterhaltung des Artikels 9 der Verfassung befeuert, der Japan eine reguläre Armee untersagt und in der Praxis bisher die Größe und Ausrüstung der japanischen Streitkräfte auf »Selbstverteidigungskräfte« limitiert. Konservative Kräfte in Japan haben bereits die Anschaffung von Hubschrauberträgern der Hyuga-Klasse durchgesetzt, die aufgrund ihrer Größe und Fähigkeiten in China als (gemäß japanischer Verfassung) verbotene, offensive Flugzeugträger gewertet werden. Japans Interesse an sicheren Handelswegen und die Angst, von den Energieströmen aus dem Mittleren Osten abgeschnitten zu werden, spiegeln die Argumente der chinesischen Strategiepapiere wider. Auf beiden Seiten heizt Nationalismus die Debatte an und droht immer wieder gemeinsame Interessen zu verdecken.

Indien perzipiert die Aufrüstung in China und das chinesische Bündnis mit Pakistan als direkte Bedrohung. Die Präsenz der VR China im Indischen Ozean aufgrund seiner Beteiligung an der UN-Flotte vor der somalischen Küste und der Ausbau verschiedener Häfen in Myanmar und Pakistan mit chinesischer Beteiligung9 haben diesen Eindruck verstärkt und zu einer nahezu beispiellosen Aufrüstungsoffensive in Indien geführt. Die angenommene »Einkreisung« durch chinesische Kräfte hat den bisherigen Fokus der Aufrüstung vom Heer – eine Folge der gestörten Beziehungen zum nördlichen Nachbarn Pakistan – auf die Marine verschoben. Der betagte, ehemals britische Flugzeugträger INS Viraat soll 2013 durch ein russisches Modell ersetzt werden, bis die Eigenentwicklung Vikrant in Dienst gestellt werden kann. Angestrebt wird der parallele Betrieb von zwei Flugzeugträgern. Auch bei Atom-U-Booten verfährt Indien in dieser Form. Ein Boot der russischen Akula II-Klasse sollte im Frühjahr 2012 an die indische Marine übergeben werden, während Indien gleichzeitig an einer entsprechenden Eigenentwicklung arbeitet. Die Entwicklung von Lenkwaffen zur Unterstützung des Küstenschutzes wie auch die Verbesserung der Mittelstreckenrakete Agni-IV mit einer Reichweite bis 3.000 Kilometer sind ebenfalls vorgesehen. Die Verstärkung des Militärpostens auf den Nicobaren, direkt vor der Einfahrt in die Straße von Malakka, und auch die Einrichtung einer Basis auf Madagaskar deuten den Einflussrahmen an, den Indien sich für seine Streitkräfte wünscht: Das Land versucht, sich im Indischen Ozean als dominante Militärmacht zu etablieren.

Ohne an dieser Stelle auf die spezifische Rolle und die Motive des US-amerikanischen Engagements in den Seegewässern Ost- und Südostasiens genau eingehen zu können, sei zumindest erwähnt, dass eine stärkere Rolle der USA in der Region nur bedingt als stabilisierender Faktor angesehen werden kann. Der offensive Charakter exklusiver Manöver, die z.B. nur Teile der im Südchinesischen Meer auftretenden Parteien einbinden, wirkt nachhaltig gegen vertrauensbildende Maßnahmen an anderer Stelle. So üben US-Marineverbände zusammen mit südkoreanischen oder vietnamesischen Verbänden in der Reichweite chinesischer Gewässer.

Von einer Lösung weit entfernt

Mit vielen beteiligten Parteien und der Vermischung territorialer Ansprüche und ökonomischer Interessen im Südchinesischen Meer wurde eine prekäre Situation geschaffen, die im Gefüge des militärischen Gleichgewichts in Asien insgesamt die Tendenz zur Eskalation aufweist. Gegenseitige Provokationen und direkte Auseinandersetzungen nehmen an Zahl und Intensität zu. Vorhandene Möglichkeiten, den Konflikt einer friedlichen Regelung zuzuführen, z.B. über die ASEAN, werden nicht genutzt. Grund dafür sind einerseits Vorbehalte gegenüber multilateralen Verträgen (so bei der VR China), andererseits wurden historische Erfahrungen nicht in adäquater Weise aufgearbeitet. Dies betrifft auch die Vermittlung der Ansprüche der jeweiligen Länder auf die einzelnen Inseln. Am Beispiel Chinas wurde mit Verweis auf den Kommentator Long Tao gezeigt, welche autistische und arrogante Weltsicht die Konzentration auf nationalistische Interessen in dem Konflikt hervorbringen kann. Für Vietnam und die anderen Anrainer ließen sich ähnliche, wenngleich weniger gravierende Beispiele aufführen. Die unglückliche chinesische Darstellung des Konflikts gibt Dritten (wie Japan, Indien, den USA oder den europäischen Mächten) die Rechtfertigung, sich ihrerseits in Position zu bringen.

Deutlich wird dabei erkennbar, dass der Konflikt um die Inseln einen Vorwand bietet, Kapazitäten für größer angelegte strategische Programme zu schaffen, um Seeräume (nicht nur in Asien) in Einflusszonen aufzuteilen. »Kontrolle« über Ozeane bestimmten Mächten zuzuschreiben wird jedoch weit mehr Konflikte heraufbeschwören als Sicherheit z.B. für die Handelsschifffahrt schaffen. Letztlich ist es diese Perspektive, die es notwendig macht, den Konflikt um die Spratly- und Paracel-Inseln einer friedlichen und kooperativen Lösung zuzuführen.

Anmerkungen

1) Zentraler Bedeutung kommt dabei der »Schlacht« vom März 1988 zwischen chinesischen und vietnamesischen Kriegsschiffen zu, bei denen neun Tote, 32 Verletzte und über 60 Vermisste gezählt wurden. Der chinesischen Darstellung nach haben die Vietnamesen versucht, auf einem der Riffe die Nationalflagge zu hissen; laut vietnamesischer Darstellung wurden Versorgungseinheiten der Inseln ohne Vorwarnung angegriffen.

2) Long Tao: The Time to Use Force Has Arrived in the South China Sea. Global Times, 27.9.2011.

3) Long Tao: Time to teach those around South China Sea a lesson. Global Times, 29.9.2011.

4) J. Michael Cole: Chinese analyst calls for war in South China Sea. Taipei Times, 30.9.2011.

5) Siehe hierzu genauer: Andreas Seifert und Shi Lang: Chinas erster Flugzeugträger. In: Ausdruck, Ausgabe 3/2011, S.27-29.

6) Information Office of the State Council of the People’s Republic of China: China’s National Defense in 2010. 31. März 2011.

7) Ibid.

8) Beispielsweise baut Taiwan seine Flotte von raketenbestückten Patroullienbooten des Typs Kuang Hua VI aus, und Vietnam schafft umfänglich russische Gepard-Fregatten, Svetlyak-Kanonenboote und Molinya-Raketenboote an.

9) Der Hafen Gwadar in Pakistan wurde mit Hilfe chinesischer Konstrukteure und Mittel gebaut. Äußerungen der pakistanischen Führung, Beijing möge den Hafen doch als Basis nutzen, haben den Eindruck einer Versorgungskette chinesischer Militäreinrichtungen auf dem Weg vom Südchinesischen Meer Richtung Mittleren Osten entstehen lassen, der als »String of Pearls« Eingang in verschiedene europäische Bedrohungsszenarien gefunden hat (z.B. James Rogers: From Suez to Shanghai. European Union Institute for Security Studies/ISS, Occasional Paper 77, März 2009).

Andreas Seifert ist freier Wissenschaftler und im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung e.V. in Tübingen.

Weltpolitische Umbrüche – Chance oder Gefahr?

Weltpolitische Umbrüche – Chance oder Gefahr?

14. Kongress der Informationsstelle Militarisierung, 5./6. November 2011 in Tübingen

von Jonna Schürkes

Im Mittelpunkt des Kongresses standen die zahlreichen gravierenden Umbrüche der letzten Jahre und die Frage, inwieweit sich durch sie Chancen für eine friedlichere und sozialere Welt eröffnen oder ob sie nicht auch die Gefahr einer weiteren Militarisierung und sich verschärfender Konflikte aufweisen. Es wurde deutlich, dass westlicherseits versucht wird, dem spürbaren Machtverlust durch einen verstärkten Rückgriff auf Gewalt und Militärinterventionen Einhalt zu gebieten. Deshalb wurden abschließend Perspektiven und Möglichkeiten der Friedens- und Antikriegsbewegung erörtert, und es wurde überlegt, wo die wichtigsten Ansätze liegen, um dieser Entwicklung Widerstand entgegenzusetzen.

Neue Großmachtkonflikte?

Die Folgen der Finanz- und Schuldenkrise der vergangenen Jahre und dem daraus resultierenden möglichen Machtverlust der westlichen Staaten wurden von den Diskutanten des ersten Vortrags »Abstieg des Westens, NATO gegen BRIC(S)? Neue Konfrontationslinien oder neue Allianzen« unterschiedlich bewertet. Jürgen Wagner sah durchaus Anzeichen einer neuen Blockbildung und sich verschärfender Großmachtkonflikte zwischen dem »Westen« und den BRIC(S)-Ländern Brasilien, Russland, Indien, China (und Südafrika). Allerdings könnten innereuropäische Rivalitäten, befeuert durch den deutschen Anspruch auf die alleinige Führungsrolle in der Europäischen Union, dafür sorgen, dass die EU nicht in der Lage ist, sich gegen die BRIC(S) in Stellung zu bringen. Uli Cremer hingegen sah einen »Nordpakt« – also eine Allianz aus NATO und Russland – aufziehen, woraus sich eine Konstellation »Großmächte des Nordens« gegen die Länder des globalen Südens ergeben würde.

In einem zweiten Vortrag arbeitete Andreas Seifert Großmachtkonflikte und Rivalitäten anhand der Aufrüstung der Marine aus. Dies gelte vor allem für Staaten, die aufgrund ihrer exportorientierten Wirtschaft besonders auf einen freien Seehandel setzten. In diesem Bereich sei eine regelrechte Aufrüstungsspirale zu beobachten, womit die Gefahr von Konflikten deutlich erhöht werde. Zudem sei mit der Zunahme der Piraterie ein Phänomen entstanden, welches vor allem dort auftrete, wo Länder und Menschen von den globalen Waren- und Handelsströmen abgehängt würden. Armut und Perspektivlosigkeit seien wesentliche Triebfedern hinter dem Anwachsen der Piraterie. Doch anstatt sich diesen Ursachen zu widmen, werde mehr und mehr der Versuch unternommen, militärisch für den Schutz von Handelsrouten zu sorgen.

Das Korrektiv der Straße

Claudia Haydt und Christoph Marischka diskutierten anschließend, ob die »Umbrüche in Nordafrika und auf der Arabischen Halbinsel« Chancen der »Emanzipation oder ein neues imperialistisches Einfallstor« eröffneten. Marischka zeigte auf, dass unter anderem der Westen mit der bedingungslosen Unterstützung für den Militärputsch in Ägypten und die NATO-Intervention in Libyen verhindert hätte, dass sich in den nordafrikanischen Staaten Kräfte durchsetzen konnten, die die Bedürfnisse der Bevölkerung über internationale Gepflogenheiten, Abhängigkeiten und Verpflichtungen stellen können. Vor allem die EU nutze derzeit alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel – vom Finanztransfer bis zu den so genannten Sicherheitssektorreformen –, um die Entwicklungen in Nordafrika wieder unter Kontrolle zu bringen.

Claudia Haydt hingegen stellte heraus, dass in Tunesien, aber auch in Ägypten, die politische Macht weiterhin bei der Bevölkerung liege, die ihre Angst verloren habe. Dieses „Korrektiv der Straße“ könne von den jeweiligen Machthabern nicht ungestraft ignoriert werden. Dies zeige sich beispielsweise daran, dass auch in Ägypten die Machthaber aus Furcht vor den »Freitagsdemonstrationen« immer wieder Zugeständnisse machen mussten. Die Aufgabe der linken Bewegungen in Europa sei es nun, dafür zu sorgen, dass die Möglichkeiten zur Gestaltung der Politik durch die Bevölkerung der Länder nicht erneut durch die Politik des Westens eingeschränkt würden.

Blinder Interventionismus

Abgesehen von dem ungeheuren menschlichen Leid, das die westlichen Interventionen in Afghanistan und Irak verursacht haben, seien beide Interventionen selbst unter geostrategischen und ökonomischen Gesichtspunkten, die die wesentliche Motivation für die Kriege waren, gescheitert. Dies machten Joachim Guilliard und Jürgen Wagner im Abendvortrag deutlich. Guilliard zeigte auf, dass wesentliche Gründe der USA für den Einmarsch in den Irak darin lagen, ihre Militärpräsenz am Persischen Golf auszubauen sowie die riesigen irakischen Ölvorkommen zu privatisieren. Es sei dem US-Militär allerdings weder gelungen, den Widerstand niederzuschlagen, noch sich den Rohstoffreichtum des Landes anzueignen. Um diese Niederlage zu kompensieren, würde die Militärpräsenz in einigen Anrainerstaaten ausgebaut und eine private Söldnerarmee mit 5.000 Mann unter dem Kommando des US-Außenministeriums im Irak belassen.

Jürgen Wagner beschäftigte sich vor allem mit der Frage, wie es zu erklären sei, dass sich die NATO trotz des offensichtlichen Scheiterns der Intervention in Afghanistan nicht zurückziehe. Die NATO habe das Ziel, in Afghanistan ein pro-westliches Regime zu etablieren, das auch in der Lage sei, sich dauerhaft an der Macht zu halten. Sollte sie dieses Ziel verfehlen, so stehe die Fähigkeit der NATO, die Interessen ihrer Mitglieder in anderen Ländern gewaltsam durchsetzen zu können, ernsthaft in Frage. Wagner warnte in diesem Zusammenhang vor der „Nebelkerze Truppenabzug“. Es gehe lediglich darum, Teile der westlichen Truppen abzuziehen, keineswegs um die vollständige Beendigung der Besatzung, auch wenn gegenwärtig stets etwas anderes suggeriert werde.

Militarisierung der UN

Der zweite Kongresstag widmete sich vor allem der Militarisierung der Vereinten Nationen. Thomas Mickan beschäftigte sich zunächst mit dem, was er die „Illusion Peacekeeping“ nannte. Er zeigte auf, wie sich das Bild des UN-Blauhelms zu einem Symbol des Friedens entwickelt habe und damit der Legitimation militärischer Interventionen diene. Mit Hilfe dieses Bildes sei es den Vereinten Nationen möglich, Kriege unter anderem der NATO und der EU zu legitimieren, indem sie diese mandatieren. Die UN seien allerdings nicht ausschließlich die Institution, die Mandate für (Militär-) Bündnisse vergebe, es sei auch innerhalb der UN-Struktur eine Aufwertung des Militärischen zu beobachten, was sich vor allem an der Umgestaltung der Hauptabteilung Friedenssicherung (Department of Peacekeeping Operations, DPKO) zeige.

Anschließend stellten Martin Hantke und Christoph Marischka die Rolle der UN in Libyen und der Elfenbeinküste dar. Mit den UN-Resolutionen 1973 (Mandatierung der Interventionen) und 2016 (Aufhebung der Mandatierung) hätten die UN erstmals offen das Intervenieren in einen Bürgerkrieg mandatiert und als Erfolg dargestellt, so Hantke. Es bestehe damit die Gefahr, dass der Regime Change als Gewohnheitsrecht etabliert werde und das Gewaltverbot zu einem Gewaltgebot verkomme.

Von einem „Epochenbruch“ sprach Christoph Marischka hinsichtlich der taktischen Rolle der UN-Blauhelme und auch der aktiven Rolle des UN-Generalsekretärs beim Regime Change in Côte d’Ivoire. Bereits im Vorfeld der Wahlen hätten es die UN unterlassen, die Rebellen im Norden zu entwaffnen und ihrerseits in Erwartung eines durch die Wahlen ausgelösten Bürgerkrieges aufgerüstet. Die offensichtlichen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl seien von dem Leiter der UN-Mission UNOCI negiert worden, und auf dieser Grundlage wurde Alassane Ouattara im Widerspruch zur ivorischen Verfassung als Präsident anerkannt. Der Vormarsch der für ihn kämpfenden Truppen und Milizen, während dessen es zu grausamen Verbrechen gekommen sei, wäre von der UNOCI nicht behindert, sondern insbesondere in seiner Endphase aktiv durch Luftangriffe der UN-Hubschrauber und einer französischen Eingreiftruppe unterstützt worden.

Perspektiven des antimilitaristischen Widerstands

Tobias Pflüger machte im Abschlussvortrag klar, dass Deutschland und die führenden Weltmächte auf die gegenwärtigen Umbrüche und Unsicherheiten offensichtlich mit weiterer Aufrüstung und verstärkter Interventionsbereitschaft reagierten. Der derzeitige Umbau der Bundeswehr diene dabei dazu, die Bundeswehr weiter zu einer Interventionsarmee umzubauen. Alle Maßnahmen deuteten darauf hin, dass es sich bei der Reform um eine qualitative Aufrüstung handele, auch wenn in manchen Bereichen – wie bei der Reduzierung der Bundeswehrstandorte – eine quantitative Abrüstung zu beobachten sei. Aus dieser Situation ergäben sich zahlreiche Notwendigkeiten und Möglichkeiten des antimilitaristischen Widerstands. Die Aussetzung der Wehrpflicht beispielsweise hätte zur Folge, dass die Bundeswehr noch mehr als bisher in Schulen, Arbeitsagenturen und im öffentlichen Raum rekrutiere. Hier sei verstärkter Widerstand geboten. Bei der Konversion der Standorte, die jetzt geschlossen würden, sei es notwendig, dass auch die Friedensbewegung diese vorantreibe und mitgestalte.

Jonna Schürkes