Konflikte durch Rohstoffausbeutung?

Konflikte durch Rohstoffausbeutung?

Interne und externe Auslöser des »Ressourcenfluchs«

von Matthias Basedau

Die Frage, ob ein ressourcenreicher Staat besonders anfällig ist für interne Konflikte, ist bislang nicht eindeutig geklärt. Der Autor beleuchtet interne wie externe Faktoren, die Gewalt in solchen Staaten eher befördern, ebenso wie solche, die eher befriedend wirken. Und er fordert, dass sich die Forschung mehr mit diesem Thema befasst.

Ressourcen scheinen für viele Staaten einen »Fluch« zu bedeuten. Länder, die über große Mengen an nicht-erneuerbaren natürlichen Ressourcen verfügen, wie an Erdöl, seltenen Metallen oder Diamanten, leiden häufig unter wirtschaftlichen und sozialen Problemen sowie unter gewaltsamen Konflikten, die z.B. durch Umweltschäden oder Streit um die Verteilung der Erlöse ausgelöst werden. Klassische Beispiele dafür sind die anhaltenden blutigen Auseinandersetzungen in der Demokratischen Republik Kongo oder die früheren »Diamond Wars« in Sierra Leone und Liberia. Die internen Konflikte im Sudan oder im unabhängig gewordenen Südsudan werden häufig mit dem Vorhandensein von Erdölreserven erklärt.

Natürliche Ressourcen führen aber nicht über Nacht zu Bürgerkriegen oder anderen internen Konflikten. Grundsätzlich gibt es zwei Kausalmechanismen, die natürliche Ressourcen und kollektives Gewalthandeln miteinander verbinden (Le Billon 2012; Ross 2012):

  • Verschiedene Merkmale des Ressourcenbereichs können zur Gewalt motivieren bzw. die Ressourcen selbst werden zum Konfliktgegenstand. So ist häufig die Verteilung der Einkünfte aus dem Ressourcenverkauf zwischen verschiedenen Gruppen umstritten. Ressourcenreiche Erdölregionen, wie in Nigeria oder Angola, streben in manchen Fällen die Unabhängigkeit vom Zentralstaat an. Motive zur Gewaltanwendung und Rebellion können sich auch aus den Begleitfolgen der Ressourcenextraktion ergeben. Umweltverschmutzung oder ausbleibende Kompensationszahlungen führen zu Unmut und Groll. Diese Motive können verstärkt werden, wenn die Region, in der die Ressourcen vorkommen, sich kulturell bzw. ethnisch vom Rest des Landes unterscheidet und/oder von der Regierung politisch und ökonomisch benachteiligt wird.
  • Ressourcen können Ermöglicher interner Konflikten sein. Mittels des Handels mit Ressourcen können Rebellengruppen oder Regierungen ihre kostspieligen gewaltsamen Auseinandersetzungen finanzieren. Oft werden illegal Diamanten aus Flussbetten geschürft oder Erdölpipelines angezapft. In Kolumbien, Nigeria oder Aceh (Indonesien) beispielsweise wurde Personal entführt und Lösegeld gefordert, andernorts wurden »Revolutionssteuern« erpresst. Manche Rebellenführer, wie der spätere Präsident der Demokratischen Republik Kongo, Laurent Kabila, verkaufen Schürfrechte schon vor einem möglichen Sieg an ausländische Interessenten – und bisweilen dieselben Schürfrechte gleich an mehrere Interessenten. Neben der finanziellen Möglichkeit bieten Ressourcen (potentiellen) Rebellen häufig auch lohnende Ziele ihrer militärischen Aktivität, dazu zählen Ressourcenförderanlagen, Transportwege oder das Personal. So haben Tuareg-Rebellen im Niger immer wieder die Einrichtungen zur Urangewinnung im Norden des Landes angegriffen.

Neben diesen direkten Kausalmechanismen können Ressourcen indirekt zu Gewaltkonflikten beitragen. Häufig sind Regierungen in Afrika und anderen Regionen des »Globalen Südens« besonders abhängig vom Ressourcensektor. Exportabhängigkeiten von über 90% sind keine Seltenheit. Solche Volkswirtschaften werden von plötzlichen Preisschocks auf dem Weltmarkt schwer getroffen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten werden dann zum Nährboden für gewaltsame Auseinandersetzungen. Ein anderer Faktor ist der Inflationseffekt, der aus hohen Einnahmen aus Ressourcenhandel entsteht und andere Exportsektoren teurer und damit weniger wettbewerbsfähig macht. Als Resultat dieser »Holländischen Krankheit«, wie der Effekt nach den Krisensymptomen der niederländischen Volkswirtschaft nach den Erdgasfunden der 1950er Jahre genannt wird, steigt die Konfliktanfälligkeit. Hohe Ressourceneinnahmen können außerdem die Qualität der Institutionen schädigen, wenn der Aufbau einer leistungsfähigen Verwaltung nicht für nötig gehalten wird oder eine Regierung sich unabhängig von ihrer Bevölkerung glaubt und meint, keine Rechenschaft ablegen zu müssen. Schwache Institutionen erhöhen die Unzufriedenheit der Bevölkerung und bereiten den Boden für gewaltsame Erhebungen.

Kontextbedingungen sind wichtig

Die oben skizzierten Zusammenhänge klingen auf theoretischer Ebene überzeugend, und es gibt zahlreiche praktische Beispiele, die diese belegen. Allerdings ist die empirische Untermauerung des konfliktbezogenen »Ressourcenfluchs« insgesamt wesentlich schwächer, als das in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Die »Mutter aller Ressourcenkonfliktstudien« von Paul Collier und Anke Hoeffler (zuerst 1998, aktualisiert 2004) hatte erbracht, dass Primärgüter allgemein das Konfliktrisiko erhöhen. Spätere Arbeiten konnten dies nur zum Teil bestätigen. Ross zeigte 2004, dass sich nur die Ressource Erdöl robust mit einem erhöhten Bürgerkriegsrisiko verbinden lässt. Weitere Arbeiten erbrachten deutliche Hinweise, dass es bestimmte Kontextbedingungen sind, die darüber entscheiden, ob es zu Gewalt kommt oder nicht (siehe auch Ross 2012). Lujala (2008, 2009) zeigt auf, dass Erdöl nur dann ein erhöhtes Konfliktrisiko bedeutet, wenn es auf dem Festland abgebaut wird, nicht aber offshore, d.h. aus dem Meer.

Andere Arbeiten zeigen auf, dass Ressourcen auch friedensfördernd und stabilisierend wirken können: Länder, die über sehr hohe Einnahmen aus dem Erdölgeschäft verfügen, sind in der Lage, durch eine großzügige Verteilungspolitik gewaltsames Aufbegehren erst gar nicht entstehen zu lassen (Basedau/Lay 2009). Friedenspolitisch wenig wünschenswerte Praktiken zur Stabilisierung zumeist autoritärer Regime sind die ressourcenfinanzierte Korruption und Repression. Korruption kann das Konfliktrisiko mindern, indem potentielle Oppositionelle in klientelistische Netzwerke eingebunden werden (Fjelde 2009). Nicht selten wird die Stabilität autoritärer Regime durch massiv ausgebaute Sicherheitsapparate aufrechterhalten, die aus Ressourcengeldern finanziert werden.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die griffige Formel »reich an Ressourcen, aber dennoch von Gewalt geplagt« nur bedingt stimmt. Länder mit sehr hohen Einnahmen pro Kopf aus Ölexporten – wie viele reiche Erdölemirate im Persischen Golf, aber auch Brunei oder Äquatorial-Guinea – haben selten Gewaltprobleme, weil sie sich die teuren Verteilungs- und Repressionspolitiken leisten können. Länder wie Nigeria oder neuerdings der Südsudan hingegen haben bezogen auf die Bevölkerungsgröße oft wenig zur Verfügung. So erwirtschaftet Äquatorial-Guinea aus seinem Erdöl pro Jahr und Kopf geschätzte 15.000 US$. Das ist mehr als 30 mal so viel wie man für den Südsudan oder Nigeria schätzt, wo es jeweils nur wenige Hundert Dollar sind.

Neben Faktoren wie dem Grad der Abhängigkeit und des Reichtums oder dem Ort und der Art des Ressourcenabbaus kommen viele weitere Kontextbedingungen infrage, insbesondere aus dem Bereich des Ressourcenmanagements. Naheliegenderweise ist eine zufriedenstellende Verteilung der Einnahmen wichtig. Jüngere Studien gehen noch weiter und haben Hinweise gefunden, dass der »Ressourcenfluch« überhaupt nicht existiert und es sich lediglich um Scheinzusammenhänge handelt, die verschwinden, wenn Variablen wie der Umfang der Ressourcenvorkommen oder politische Entwicklungen berücksichtigt werden (z.B. Cotet/Tsui 2013).

Vor allem aber gibt es konzeptionelle bzw. theoretische Gründe, eine allzu simple Auffassung vom »Ressourcenfluch« im Sinne eines »Ressourcendeterminismus« nicht zu teilen. Dabei handelt es sich um die fehlende Berücksichtigung wichtiger Bedingungen, die entweder im Ressourcenbereich selbst (Ort und Art der Ausbeutung, Umfang des Reichtums und Grad der Abhängigkeit, Verteilung und Verwendung der Erlöse etc.) oder in den umgebenden Faktoren zu finden sind. Zu letzteren gehören praktisch alle nicht-ressourcenspezifischen Faktoren, die als mögliche Ursachen für Gewalt infrage kommen können, u.a. die grundsätzlichen Merkmale der Ökonomie, das Verhältnis zwischen ethnischen oder anderen Identitätsgruppen, die Gestaltung politischer und anderer Institutionen sowie das Verhalten von Eliten.

Externe Kontextbedingungen bisher wenig beachtet

Ein weiteres Bündel an Einflussfaktoren hat in der empirischen Forschung relativ wenig Widerhall gefunden, nämlich externe Bedingungen. Das überrascht, wenn man bedenkt, dass Ressourcen letztlich erst durch den internationalen Handel wertvoll und damit zu möglichen Konfliktgegenständen werden. So werden die ökologischen Schäden, die zum Unmut der lokalen Bevölkerung beitragen, oft von großen transnationalen Konzernen verursacht, die sich wie Shell im Niger-Delta erst nach langen Jahren zu Kompensationszahlungen bewegen lassen. Es kommt auch deshalb wenig von den Ressourceneinnahmen bei der einheimischen Bevölkerung an, weil die Anteile, die den Regierungen verbleiben, oft auf beschämend niedrigem Niveau liegen, z. B. im Falle des Tschad zu Beginn der Erdölförderung 2003 bei nur etwa 13% (obgleich hier auch die Kosten für die Errichtung der Infrastruktur mitbedacht werden müssen).

Die Finanzierung von Rebellengruppen durch den internationalen Diamanten- oder Coltanhandel, wie wir das aus der Demokratischen Republik Kongo kennen, heizt vorhandene Konflikte an und verlängert sie häufig. Diese Verstetigung von Konflikten wird auch mit dem Begriff der »Kriegsökonomie« beschrieben. Schlimme Auswirkungen kann die rivalisierende Parteinahme in internen Konflikten haben. Amerikanische und französische Ölfirmen konkurrierten um das Öl der Republik Kongo (nicht zu verwechseln mit der Demokratischen Republik Kongo). Dank französischer und angolanischer Unterstützung konnte Denis Sassou-Nguesso, der bereits 1979-1992 Präsident des Landes gewesen war, 1997 den ersten demokratisch gewählten Präsidenten aus dem Amt jagen und den Posten wieder selbst übernehmen. Ressourcen können Konflikte besonders dann anheizen, wenn externe Akteure deren Kontrolle anstreben und dafür militärische Mittel einsetzen. Dies scheint etwa im Irakkrieg zumindest teilweise der Fall gewesen zu sein. Allerdings ist die externe Einmischung meist indirekter und weniger sichtbar, deshalb aber nicht weniger problematisch.

Externe und interne Bedingungen zählen

Die Aufzählungen solcher Beispiele darf gleichwohl nicht mit einer generellen empirischen Bestätigung verwechselt werden. Ob hauptsächlich externe Faktoren den »Ressourcenfluch« auslösen, muss angesichts fehlender verallgemeinerungsfähiger Studien vorläufig als offen angesehen werden. Zudem gibt es Hinweise, dass externe Faktoren nicht notwendigerweise negativ auf den internen Frieden in den betreffenden Ländern wirken. Eine Studie (Wegenast 2013) zeigt, dass negative Effekte des »Ressourcenfluchs« vor allem in Ländern auftreten, die ihre Ressourcenvorkommen verstaatlicht haben. Mächtige und undurchsichtige Staatsfirmen dienen oft dem Machterhalt der Regierung und nicht der nachhaltigen Entwicklung. Offenbar sind Bürgerkriege dort wahrscheinlicher, wo die Ressourcenvorkommen nicht privat ausgebeutet werden. Im Gegensatz zu Regierungen sind international bekannte Konzerne viel anfälliger für internationale zivilgesellschaftliche Kampagnen und deshalb eher auf ihren guten Ruf bedacht.

Selbst die direkte politische Einmischung muss nicht notwendigerweise Stabilität und Frieden bedrohen: In vielen Fällen genießen ressourcenreiche Regierungen gerade aufgrund des Besitzes strategischer Ressourcen externe Unterstützung (vgl. Basedau/Lay 2009; Le Billon 2012). Diese wiederum führt zu einer geringeren Wahrscheinlichkeit einer Rebellion. Viele Staaten im Persischen Golf, insbesondere Saudi Arabien, genießen den besonderen Schutz der USA. Frankreich hat in der Vergangenheit das Regime im zentralafrikanischen Gabun geschützt. Dabei gibt es ohne Zweifel auch unerwünschte Effekte. Die externe Unterstützung mag den Frieden sichern, stabilisiert aber allzu oft autoritäre Regime, deren Mangel an Achtung von Menschenrechten und Allgemeinwohl orientierter Regierungsweise achselzuckend als »Kollateralschäden« hingenommen werden.

In Zukunft könnten die Karten zumindest im Erdölbereich komplett neu gemischt werden. Mit der »Ölsand- und Schiefergasrevolution« könnten sich wesentliche Parameter ändern. Neue Technologien, wie das Fracking – in Deutschland vor allem wegen möglicher Umweltschäden in der Diskussion –, ermöglichen den Abbau bisher schlecht zugänglicher Energierohstoffe. Manche Schätzungen gehen davon aus, dass die USA, bislang massiv abhängig vom Import von Energieressourcen, im Jahre 2040 zu den Energieexporteuren gehören könnten (EIA 2013). Diese Entwicklungen mögen externe Interventionen weniger wahrscheinlich machen. Sie könnten aber erdölreiche Staaten auch um jene Mittel bringen, die sie zur internen Befriedung benötigen. Insgesamt sollte man daher mit Prognosen im Erdölbereich und den politischen Konsequenzen vorsichtig sein (Basedau 2007).

Die Frage, ob hauptsächlich externe oder interne Faktoren einen »Ressourcenfluch« herbeiführen, ist vorerst offen. Wahrscheinlich sind unterschiedliche Faktoren beteiligt. Die Forschung bleibt aufgerufen, diesbezüglich neue und belastungsfähige Erkenntnisse zu erzielen. Die Resultate solcher Forschung sind überdies keine Angelegenheit für den Elfenbeinturm der Gelehrten. Vielmehr ist die Identifizierung der problematischen oder positiven ressourcenspezifischen und anderen Kontextbedingungen Voraussetzung für die Entwicklung wirksamer Vermittlungs- und Lösungsstrategien.

Literatur

Matthias Basedau (2007): Erdölkriege – Kriege der Zukunft? Hamburg: GIGA, GIGA Focus Global, 06/2007.

Matthias Basedau and Jann Lay (2009): Resource curse or rentier peace? The ambiguous effect of oil wealth and oil dependence on violent conflict. Journal of Peace Research, Vol. 46, S.757-776.

Paul Collier and Anke Hoeffler (2004): Greed and grievance in civil war. Oxford Economic Papers, Vol. 56, S.563-595.

Anca M. Cotet and Kevin A. Tsui (2013): Oil and conflict: What does the cross country evidence really show? American Economic Journal: Macroeconomics, Vol 5, S.49-80.

U.S. Energy Information Administration (2013): Annual Energy Outlook 2013 – Natural Gas, from Executive Summary. Release Dates: April 15-May 2, 2013.

Hanne Fjelde (2009): Buying peace? Oil wealth, corruption and civil war, 1985-99. Journal of Peace Research, Vol. 46, S.199-218.

Philippe Le Billon, (2012): Wars of Plunder. Conflicts, Profits and The Politics of Resources. New York: Columbia University Press.

Paivi Lujala (2010): The spoils of nature: Armed conflict and rebel access to natural resources. Journal of Peace Research, Vol. 47, S.15-28.

Michael L. Ross (2004): What do we know about natural resources and civil war? Journal of Peace Research, Vol. 41, S.337-356.

Michael L. Ross (2012): The Oil Curse. How Petroleum Wealth Shapes the Development of Nations. Princeton: Princeton University.

Tim Wegenast (2013): The Impact of Fuel Ownership on Intrastate Violence. Hamburg: GIGA, GIGA Working Paper No. 225, May 2013.

Prof. Dr. Matthias Basedau arbeitet seit 2002 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Afrika-Studien und ist seit 2005 Forschungsschwerpunktleiter »Gewalt, Macht und Sicherheit« am GIGA German Institut of Global and Area Studies.

Entwicklungspolitik und Rohstoffsicherung

Entwicklungspolitik und Rohstoffsicherung

Im Dienste von Wirtschaft und Machtpolitik

von Lukas Renz

Über ein Jahr feilten 50 Mitglieder des deutschen außen- und sicherheitspolitischen Establishments an dem Papier »Neue Macht – Neue Verantwortung«, das im September 2013 veröffentlicht wurde. Anschließend, im Februar 2014, brachte Bundespräsident Joachim Gauck dem breiten Publikum die Kernaussage des Dokumentes näher: Aufgrund seiner wirtschaftlichen Macht müsse Deutschland künftig bereit sein, mehr außenpolitische Verantwortung zu übernehmen. Dies erfordere einmal, der angeblich bisher praktizierten »Kultur der (militärischen) Zurückhaltung« den Rücken zuzukehren; zum anderen sei es nötig, sich künftig entschlossener der Durchsetzung deutscher Interessen zu widmen. Des Weiteren hebt das Papier das Konzept der »Vernetzten Sicherheit« hervor, demzufolge zur Umsetzung außenpolitischer Ziele sämtliche zur Verfügung stehenden Instrumente zu nutzen seien: „Deutsche Außenpolitik wird sich weiterhin der gesamten Palette der außenpolitischen Instrumente bedienen, von der Diplomatie über die Entwicklungs- und Kulturpolitik bis hin zum Einsatz militärischer Gewalt.“ 1 Der nachfolgende Artikel beschreibt, wie der deutschen Entwicklungspolitik eine zunehmend größere Rolle bei der Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen zukommt.

Entgegen ihrer hehren Ziele war die Entwicklungspolitik nie unabhängig von den Interessen der gebenden Staaten, sondern schon immer ein Instrument zu deren Durchsetzung. Spielte sie einst eine wichtige Rolle bei der Diplomatie des Kalten-Krieges, dient sie heute den Geberländern etwa zur Erschließung von Absatzmärkten oder zur politischen Einflussnahme über konditionierte Hilfsleistungen, insbesondere aber dem Zugang zu Rohstoffen, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Es lohnt ein Blick auf die deutschen (und europäischen) Rohstoffstrategien, die in den letzten Jahren vereinbart wurden.

Deutsche und europäische Rohstoffstrategien

Die wirtschaftliche Produktivitätssteigerung der letzten zwei Jahrhunderte basierte auf der Verfügbarkeit günstiger Rohstoffe. Heute hingegen rechnen Industrielle sowie Politikerinnen und Politiker mit der Verknappung wichtiger Bodenschätze. Somit steht zu befürchten, dass sich der Wettlauf der wirtschaftlich stärksten Staaten um solche Rohstoffe – aber auch um Handelsrouten, Transportinfrastruktur und Absatzmärkte –verschärfen wird, ungeachtet der Kollateralschäden, die dies mit sich bringt. Vor diesem Hintergrund wächst das Interesse an einem privilegierten Zugang zu Bodenschätzen der Entwicklungsländer, insbesondere an nicht-energetischen industrierelevanten Rohstoffen. Dies gilt besonders für Deutschland, aber auch für die EU als Ganzes, da dort ebenfalls vergleichsweise wenige fossile und metallische Rohstoffe zu finden sind.2

Dementsprechend sieht der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD von Ende November 2013 den Staat in der Pflicht, erheblich zur Rohstoffsicherung beizutragen: „Es ist zuallererst Aufgabe der Unternehmen selbst, ihren Bedarf an Rohstoffen am Markt zu decken und sich vorausschauend auf künftige Entwicklungen einzustellen. Wir werden diese Anstrengungen mit politischen Initiativen flankieren, um verlässliche rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen für einen fairen Wettbewerb auf den internationalen Rohstoffmärkten zu gewährleisten.“ 3

Hierfür begannen Wirtschaft und Bundesregierung schon vor Jahren einen intensiven »Dialog«, auf dessen Grundlage im Jahr 2010 die deutsche Rohstoffstrategie verabschiedet wurde. Sie benennt als „Kernziele“ unter anderem die „Unterstützung der deutschen Wirtschaft bei der Diversifizierung ihrer Rohstoffbezugsquellen“, den „Abbau von Handelshemmnissen und Wettbewerbsverzerrungen“ sowie den „Aufbau bilateraler Rohstoffpartnerschaften mit ausgewählten Ländern“.4 Seither hat Deutschland bereits einige bilaterale Rohstoffabkommen abgeschlossen, unter anderem mit Kasachstan im Jahre 2011 und mit der Mongolei im Jahre 2012. Eine deutsch-chilenische Rohstoffpartnerschaft wurde Anfang 2013 vereinbart.

Die Bundesregierung möchte ferner den Wiedereinstieg in die direkte Rohstoffexploration durch deutsche Unternehmen voranbringen: „Seit Mitte der 1980er Jahre wurde die starke Position der deutschen Rohstoffindustrie im Auslandsbergbau aufgrund unternehmerischer Entscheidungen nach und nach aufgegeben.“ 5 Deshalb sollen nun „Anreize für Explorationsvorhaben“ geschaffen und somit eine „Rückwärtsintegration“ deutscher Unternehmen in den globalen Bergbausektor gefördert werden.6

Die Rohstoffpartnerschaften, die insbesondere eine vollständige Öffnung der Partnerländer für Investitionen im Rohstoffsektor vorsehen, sind eine wichtige Komponente der Außenwirtschaftsförderung, um die oben genannten Ziele zu erreichen. Die grundsätzliche Forderung der kapitalstarken EU und Deutschlands nach Freihandel ist dabei in Anbetracht ihrer rohstoffintensiven Wirtschaftsweise und der enormen Importabhängigkeit von Rohstoffen wenig überraschend. Es soll – so die Bundesregierung – „das Ziel einer möglichst weit reichenden Liberalisierung der Weltmärkte gerade auch bei Rohstoffen weiter mit Nachdruck verfolgt werden“.7

Aufgrund der ähnlichen Versorgungssituation decken sich die von der EU-Kommission erlassenen Papiere mit jenen der Bundesregierung inhaltlich in ihren wesentlichen Zielen und Maßnahmen. Unter Verweis auf die Nachfragesteigerung kritisiert die EU „die Maßnahmen bestimmter Länder, die der Inlandsindustrie, u. a. durch Exportbeschränkungen, einen privilegierten Zugang zu Rohstoffen sichern“.8 Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) beklagt: „Hier wie dort sehen sich die Unternehmen gegenwärtig beträchtlichen Beschränkungen des Rohstoffzugangs gegenüber, die politischen Ursprungs sind.“ 9

Zu diesen „handelsverzerrenden“ Maßnahmen gehörten insbesondere Exportzölle, Exportquoten und Importvergünstigungen. Die EU-Kommission spricht von über „450 Exportbeschränkungen für mehr als 400 verschiedene Rohstoffe“.10 Die Bundesregierung kündigt an, dass den „Verzerrungen im internationalen Rohstoffhandel noch konsequenter als bisher begegnet wird. Dazu werden sämtliche Möglichkeiten auf multilateraler (v.a. WTO-Beitrittsverhandlungen, Streitschlichtungsverfahren) als auch auf bilateraler EU-Ebene (Freihandelsabkommen, bilateraler Dialog) umfassend genutzt und ausgeschöpft.“ 11

Rohstoffreichtum und Unterentwicklung

Wie die EU-Kommission anmerkt, befinden sich in Ländern mit einem Bruttonationaleinkommen unter zehn US-Dollar pro Kopf und Tag über 50 Prozent der für die EU wichtigen Mineralienvorkommen.12 Geht es nach der EU und Deutschland, sollten Ausfuhrsteuern je nach Land und Gut nur noch begrenzt oder gar nicht mehr erhoben werden. Mark Curtis, Direktor von Curtis Research, weist allerdings darauf hin, es sei zu befürchten, dass Entwicklungsländern so ein wichtiges wirtschaftspolitisches Instrument genommen werde, ihre Rohstoffe im Sinne der eigenen Entwicklung zu verwenden, und dass sich ökologische und soziale Probleme in den Entwicklungsländern verschärfen könnten. Dies werde vorangetrieben, obwohl die EU-Kommission anerkenne, dass Ausfuhrbeschränkungen ein wichtiger Bestandteil von Entwicklungsstrategien armer Länder seien. Einen kritischen Blick wirft Curtis auch auf die Erhöhung ausländischer Direktinvestitionen. So seien viele Entwicklungsländer zwar aufgrund von geringem eigenem Kapital auf ausländische Direktinvestitionen angewiesen. In der Regel brächten sie aber geringe Einkünfte für den Staat – insbesondere bei Sondersteuerabkommen –, würden wenige Arbeitsplätze schaffen, kaum Technologietransfer gewährleisten und teilweise mit der Verdrängung der jeweiligen lokalen Bevölkerung sowie Umweltbelastungen einhergehen.13

Noch kritischer merkt Christian Zeller von der Universität Salzburg an: „Über den Kanal der Direktinvestitionen organisieren die ausländischen Unternehmen direkt die Ausbeutung der lokalen Energieressourcen und Rohstoffe sowie die Produktion von Zwischenprodukten und Konsumgütern in den »Empfängerländern«. Die über Direktinvestitionen finanzierte Übernahme privatisierter Dienstleistungsunternehmen oder lokaler Banken erlaubt es, lukrative Einkommensflüsse auf lokalen Märkten zu erschließen. […] Die transnationalen Konzerne zentralisieren in der Regel zwischen 50 und 70 Prozent der Erträge aus Direktinvestitionen in ihren Ursprungsländern.“ 14

Ein Blick auf die wirtschaftliche Verfassung der unterentwickeltsten Länder verdeutlicht zusätzlich die Korrelation von Armut und der Orientierung auf den Rohstoffexport, wie Curtis erläutert: „Entwicklungsländer […] exportieren hauptsächlich Rohstoffe. Über 100 von ihnen hängen zu 50 oder mehr Prozent von ihren Rohstoffexporten ab – 46 von ihnen, hauptsächlich in Afrika, von nur einem einzigen Gut. Die Exporte von Ländern in Afrika, dem Nahen Osten und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten bestehen durchschnittlich zu mehr als 70 Prozent aus Rohstoffen.“ 15 Damit verbleiben die meisten Entwicklungsländer in der unvorteilhaften Rolle als Rohstoffexporteure, die ihnen schon im Kolonialismus und Imperialismus zukam. Und ausgerechnet dieser Status wird durch die zunehmende Vereinnahmung der Entwicklungspolitik im Dienste der Rohstoffsicherung weiter zementiert.

Entwicklungspolitik und Rohstoffsicherung

Wie BDI-Chef Ulrich Grillo verdeutlicht, soll der Zugang zu Rohstoffen von einer ganzen Reihe von Akteuren gewährleistet werden: „Eine erfolgreiche Rohstoffstrategie erfordert einen ganzheitlichen Ansatz mit entsprechend flankierenden Maßnahmen auf den verschiedenen Ebenen und Politikfeldern. Die Versorgung mit Rohstoffen ist nicht lediglich eine Aufgabe der Wirtschaftspolitik, sondern gleichermaßen der Außen- und Sicherheitspolitik, der Energie- und Umweltpolitik, der Technologie- und Innovationspolitik, der Wettbewerbspolitik, der Mittelstandspolitik, der Entwicklungspolitik sowie der Europapolitik.“ 16 Ganz ähnlich schreibt der Afrikabeauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke: „Auch die wirtschaftlichen, entwicklungspolitischen und geostrategischen Interessen der unterschiedlichen Ressorts der Bundesregierung passen im beschriebenen Feld – Afrika und Rohstoffe – exzellent zusammen. […] Um hier erfolgreiche deutsche Interessenpolitik umzusetzen, braucht es die volle Arbeitskraft der Ressorts, ein Miteinander auf allen Ebenen und kein Gegeneinander.“ 17

Die Bündelung der Kräfte soll sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene erfolgen. So fordert das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi), die Rohstoffstrategie der Bundesregierung mit der EU-Rohstoffinitiative zu verzahnen.18 Gleichzeitig erfolgt eine Verquickung der jeweiligen nationalen beziehungsweise europäischen Politikbereiche . Auf deutscher Ebene geschieht dies insbesondere im Interministeriellen Ausschuss Rohstoffe, der dem BMWi untersteht. In diesem sind die Ministerien, die Deutsche Rohstoffagentur, die in der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) angesiedelt ist, sowie Vertreterinnen und Vertreter der Industrie als Sachverständige vertreten.19

Wie groß die Erwartungen an die Entwicklungspolitik seitens der Wirtschaft sind, verdeutlich erneut BDI-Chef Grillo: „[D]ie Entwicklungspolitik bietet viel mehr Möglichkeiten, zur Sicherheit unserer Rohstoffversorgung beizutragen, als gemeinhin angenommen wird. Sie kann in Entwicklungsländern hinwirken auf Rechtssicherheit, Investitionsschutz, Abbau von Exportbeschränkungen oder auch Unterbindung illegalen Exports von Rohstoffen. Das trägt zu privatwirtschaftlichem Engagement dort bei und kann auch uns helfen, unsere Rohstoffimporte sicherer zu machen.“ 20

Der Entwicklungspolitik soll dabei neben etwa dem Liefern von Expertenwissen auch die Aufgabe zufallen, Akzeptanz für westliche Präsenz zu schaffen, wie Lutz Hartmann, Vorstand der Pearl Gold AG, offenherzig ausspricht: „Jedes Minenvorhaben wird im unmittelbaren Umfeld durch die Schaffung einer lokalen Wirtschaft und Infrastruktur Akzeptanz gewinnen müssen. Hier könnte insbesondere eine bessere Zusammenarbeit zwischen europäischen Investoren und europäischer Entwicklungszusammenarbeit allen Parteien zugute kommen.“ 21 Zur Unterstützung der Privatwirtschaft besteht im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mittlerweile eine Servicestelle für die Wirtschaft. Zu lesen ist auf der Homepage des Ministeriums: „Sie wollen sich neue Märkte erschließen oder Ihre Zulieferketten ressourcenschonend gestalten? […] Das BMZ unterstützt Sie nicht nur durch die entwicklungspolitische Arbeit, die das Investitionsklima vor Ort verbessert, sondern wir bieten Ihnen auch unsere regionale und fachliche Expertise und konkrete Förderprogramme an.“ 22 Beratend und praktisch unterstützend möchte das BMZ Kapital gen Entwicklungsländer mobilisieren – insbesondere in Richtung „Chancenkontinent Afrika“. Im Konkreten führen die Deutsche Rohstoffagentur und die BGR schon Projekte im Namen der Entwicklungszusammenarbeit durch. „Maßnahmen der GIZ und der BGR greifen dabei in sämtlichen Stufen – von der Erkundung und Rohstoffgewinnung über den Handel bis zur Weiterverarbeitung und der Wiedergewinnung von Sekundärrohstoffen.“ 23

Auch eine eigene Rohstoffinitiative hat das BMZ in Gang gebracht: »GeRI: Die Globale entwicklungspolitische Rohstoffinitiative. Flexibilität, Sichtbarkeit, Kohärenz der Entwicklungspolitik im Rohstoffsektor.« Heidi Feldt, entwicklungspolitische Beraterin, merkt diesbezüglich kritisch an, dass auch diese Rohstoffinitiative primär von den Interessen der deutschen Wirtschaft ausgehe.24 Ein Blick in die einschlägigen Dokumente macht dies deutlich: „Die Zielsetzung ist eine stärkere Verknüpfung von Außenwirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Eine aktive Kooperation mit der Privatwirtschaft im Rohstoffsektor durch Vermittlung (matchmaking) zwischen deutschen und lokalen Unternehmen.“ 25 Die Privilegierung der nationalen Wirtschaftsinteressen ist wenig verwunderlich, ist die GeRI doch „das entwicklungspolitische Instrument zur Begleitung der Rohstoffstrategie der Bundesregierung“. 26 Und Letztere zielt – ebenso wie die europäische Rohstoffinitiative – vorrangig auf die vollständige Öffnung der (vor allem afrikanischen) Wirtschaften des Globalen Südens für ausländisches Kapital ab.

So besehen verwundert es nicht, dass der Afrikabeauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke, die Neuausrichtung der Entwicklungspolitik aus seiner Sicht positiv bewertet: „Deutschland wird als Wirtschaftsmacht wahrgenommen, man traut uns technologisch und politisch viel zu. Wir sollten diese Erwartungen nicht relativieren, sondern zu erfüllen versuchen. Einige Voraussetzungen sind bereits geschaffen: Unsere Entwicklungszusammenarbeit widmet sich stärker als früher der Umfeldgestaltung für Privatinvestitionen; in mehreren Ländern sind Berater im Rohstoffbereich tätig. Rohstoffsicherheit und Rohstoffgovernance sind bereits oben auf der politischen Agenda.“ 27

Fazit

Bei der Indienstnahme der Entwicklungspolitik für die staatlich geförderte Rohstoffsicherung ist der vorgebliche Zweck, die Armutsbekämpfung, für die sich die Entwicklungspolitik rühmt, bestenfalls das Anhängsel. Hinzu kommt noch, dass von Deutschland und der EU unter dem Banner der Entwicklungspolitik die wirtschaftliche Liberalisierung, insbesondere der afrikanischen Länder, vorangetrieben wird. Dies geschieht, obwohl hinreichende Argumente für die kontraproduktive Wirkung solcher wirtschaftsliberaler Maßnahmen bekannt sind. Zu diesen zählen etwa der Mangel an Schutz vor externen Wirtschaftsschocks, die Volatilität des ausländischen Kapitals, die Verschlechterung der Terms of Trade zuungunsten der Rohstoffexporteure und der in der Regel niedrige Technologietransfer – vor allem im extraktiven Sektor, der sich zu alledem meist auf wenige Exportprodukte beschränkt. Die oben angesprochenen Rohstoffpartnerschaften werden nicht zuletzt dazu führen, die Abhängigkeit der Entwicklungsländer vom unterprivilegierten Rohstoffextraktivismus zu befördern, und damit die nachteilige Position der weitestgehend kapitalfreien Rohstofflieferanten in der internationalen Arbeitsteilung zu festigen. Die Rohstoffpartnerschaften sind jedoch durchaus eine attraktive Anlagemöglichkeit für deutsches und europäisches Kapital und sichern darüber hinaus den Zugang zu außereuropäischen Rohstoffen.

Anmerkungen

1) Stiftung Wissenschaft und Politik und German Marshall Fund (2013): Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch. S.7.

2) Friends of the Earth Europe, Friends of the Earth Austria, GLOBAL 2000, Sustainable Europe Research Institute/SERI (2009): Ohne Maß und Ziel? Über unseren Umgang mit den natürlichen Ressourcen der Erde. S.27.

3) CDU, CSU, SPD (2013): Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 18. Legislaturperiode. S.17.

4) Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie/BMWI (2010): Rohstoffstrategie der Bundesregierung. Sicherung einer nachhaltigen Rohstoffversorgung Deutschlands mit nicht-energetischen mineralischen Rohstoffen. S.7.

5) Die Bundesregierung (2007): Elemente einer Rohstoffstrategie der Bundesregierung. S.6.

6) BMWI, op.cit., S.11.

7) Die Bundesregierung, op.cit., S.2.

8) Europäische Kommission (2011): Grundstoffmärkte und Rohstoffe: Herausforderungen und Lösungsansätze. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. KOM(2011) 25 endgültig, 2.2.2011, S.6.

9) Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (2010): Für eine strategische und ganzheitliche Rohstoffpolitik. BDI-Strategiepapier zur Rohstoffsicherheit, S.3.

10) Europäische Kommission (2010): Die Rohstoffinitiative ¯ Sicherung der Versorgung Europas mit den für Wachstum und Beschäftigung notwendigen Gütern. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat. Corrigendum. KOM(2008) 699 endgültig/2, 6.5.2010, S.5.

11) BMWI, op.cit., S.9.

12) Europäische Kommission (2010), S.5.

13) Mark Curtis (2010): Die neue Jagd nach Ressourcen: Wie die EU-Handels- und Rohstoffpolitik Entwicklung bedroht. Herausgegeben von Oxfam Deutschland e.V., WEED e.V., Traidcraft Exchange, AITEC und Comhlámh, November 2010, S.6.

14) Christian Zeller (2007): Direktinvestitionen und ungleiche Entwicklung. In: Joachim Becker u.a. (Hrsg.): Kapitalistische Entwicklung in Nord und Süd. Handel, Geld, Arbeit, Staat. Wien: Mandelbaum Verlag, S.126.

15) Mark Curtis, op.cit., S.12.

16) Ulrich Grillo (2007): Die Ewartungen [sic] der Industrie an eine strategische Rohstoffpolitik. In: Bundesverband der Deutschen Industrie e.V.: Rohstoffsicherheit – Anforderungen an Industrie und Politik. 2. BDI-Rohstoffkongress am 20. März 2007 in Berlin. Ergebnisbericht der BDI-Präsidialgruppe »Internationale Rohstofffragen«. BDI-Drucksache Nr. 395. Berlin: Industrie Förderung GmbH, S.28.

17) Günter Nooke (2013): Welche Rohstoffpolitik wollen wir? Deutsche Wirtschaftsinteressen und afrikanische Rohstoffe. In: Gerhard Wahlers (Hrsg.): Deutsche Wirtschaftsinteressen und afrikanische Rohstoffe. Nachhaltigkeit und Transparenz in der globalisierten Welt. Sankt Augustin/Berlin: Konrad Adenauer Stiftung e.V., S.14.

18) BMWI, op.cit., S.7.

19) Heidi Feldt (2012): Die deutsche Rohstoffstrategie. Eine Bestandsaufnahme. Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung, S.4.

20) Ulrich Grillo, op.cit., S.30.

21) Lutz Hartmann (2013): Rohstoffinvestitionen und Rohstoffsicherung. In: Gerhard Wahlers (Hrsg.): Deutsche Wirtschaftsinteressen und afrikanische Rohstoffe. Nachhaltigkeit und Transparenz in der globalisierten Welt. Sankt Augustin/Berlin: KonradAdenauerStiftung e.V., S.35.

22) Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2013): Mitmachen! Unser Angebot für die Wirtschaft.

23) Sebastian Paust (2013): Deutsche Rohstoffpartnerschaften für Afrika. In: Gerhard Wahlers (Hrsg.): Deutsche Wirtschaftsinteressen und afrikanische Rohstoffe. Nachhaltigkeit und Transparenz in der globalisierten Welt. Sankt Augustin/Berlin: KonradAdenauerStiftung e.V., S.39.

24) Heidi Feldt, op.cit., S.9.

25) Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2013): GeRI: Die Globale entwicklungspolitische Rohstoffinitiative. Flexibilität, Sichtbarkeit, Kohärenz der Entwicklungspolitik im Rohstoffsektor.

26) Ebd.

27) Günter Nooke, op.cit., S.12.

Lukas Renz studiert Internationale Entwicklung in Wien. Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine stark gekürzte Fassung der Studie »Rohstoffimperialismus: Deutsche und europäische Entwicklungspolitik im Dienste von Wirtschaft und Machtpolitik«, die bei der Informationsstelle Militarisierung erschienen ist und dort abgerufen werden kann (imi-online.de).

Unter Anpassungsdruck

Unter Anpassungsdruck

IWF und Weltbank in der multipolaren Welt

von Peter Wahl

IWF und Weltbank gaben jahrzehntelang ökonomischen Flankenschutz für die US-Hegemonie. Mit dem Umbruch des internationalen Systems hin zu einer multipolaren Ordnung könnte der IWF seine Rolle allerdings verlieren, da die BRICS-Staaten u.a. vom IWF unabhängige Strukturen schaffen. Was allerdings gebraucht wird, ist eine globale, demokratische Finanzinstitution, die an die neuen Entwicklungen angepasst ist.

Einer Studie der Columbia University und der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge war der Internationale Währungsfond (IWF) in den Jahren 2006-2013 weltweit das Ziel von 20% aller größeren Protestbewegungen und Aufstände. Das ist der Spitzenplatz, und damit liegt der IWF deutlich vor der World Trade Organization oder gar der IWF-Zwillingsinstitution, der Weltbank, die mit zwei Prozent weit »abgeschlagen« ist.1 Allerdings war es nicht immer so, dass vor allem der IWF so umstritten ist (die Weltbank stand ohnehin von Anfang an in seinem Schatten).

Ursprünglich eine gute Idee

Die Bretton-Woods-Institutionen IWF und Weltbank wurden 1944 unter dem maßgeblichen Einfluss der USA und Großbritanniens gegründet. Unausgesprochenes Motto der Bretton-Woods-Institutionen war »Nie wieder Weltwirtschaftskrise!«. Schließlich herrschte damals Konsens darüber, dass die Weltwirtschaftskrise von 1929 nicht nur eine ökonomische und soziale Katastrophe gewesen war, sondern auch den Aufstieg des Faschismus in Europa begünstigt hatte.

Die Weltbank und der IWF bildeten den institutionellen Kern der globalen Finanzordnung nach dem Zweiten Weltkrieg mit festen Wechselkursen und dem US-Dollar als Leit- und Reservewährung. Der IWF hatte die Funktion, bei Zahlungsbilanzschwierigkeiten eines Landes mit Krediten einzuspringen, um eine globale Kettenreaktion wie nach dem Schwarzen Freitag 1929 zu verhindern. Die Weltbank war ursprünglich dazu da, den Wiederaufbau in Europa zu finanzieren. Dies waren durchaus sinnvolle Aufgaben, zumal beiden Institutionen die Logik politischer Kooperation in ökonomischen Grundfragen eingeschrieben war.

Teil der geopolitischen Ordnung

Damit waren die Bretton-Woods-Institutionen von Anfang an integraler Bestandteil der neuen Weltordnung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, zu der außerdem die Vereinten Nationen und eine noch zu gründende Welthandelsorganisation gehörten. Der Kalte Krieg führte jedoch dazu, dass die Vereinten Nationen die Erwartungen nicht erfüllen konnten und die Welthandelsorganisation gar nicht erst zustande kam (bzw. erst 1995 in Form der World Trade Organization/WTO). Die Bretton-Woods-Institutionen hingegen konnten durchaus eine bedeutende Rolle spielen.

Allerdings: Auch wenn Weltbank und IWF sinnvolle Funktionen erfüllten, waren sie von Anfang an untrennbar mit herrschaftsförmigen Momenten des internationalen Systems verwoben. Dies zeigte sich schon bei der Gründung der Institutionen in Bretton Woods (New Hampshire, USA) im Juli 1944: Der britische Finanzminister Keynes – der bedeutendste Ökonom seiner Epoche – konnte seinen recht progressiven Vorschlag einer neutralen internationalen Leitwährung nicht durchsetzen. Vor allem die Etablierung des Dollars als Leitwährung wurde eine der Säulen der US-Dominanz nach dem Zweiten Weltkrieg. Seither sind nicht nur die USA das einzige Land, das sich im Ausland in der eigenen Währung und damit ohne Wechselkursrisiko verschulden kann, auch die gesamte Weltwirtschaft wird durch die Zins- und Wechselkurspolitik der USA stark beeinflusst. Die Durchsetzung der Dollarhegemonie reflektierte die Verschiebungen der Kräftekonfiguration im Zweiten Weltkrieg, d.h. den Niedergang des britischen Empire und den Aufstieg der USA zur Supermacht.

US-Hegemonie in den Spielregeln verankert

Auch in den formalen Strukturen wurde die Hegemonie der USA festgeschrieben: Anders als bei den Vereinten Nationen gilt nicht das Prinzip »Ein Land – eine Stimme«, sondern »One Dollar – one vote«, d.h. das Stimmgewicht richtet sich nach der Kapitaleinlage. Und diese wiederum richtet sich nach einem komplizierten Schlüssel, in den die Wirtschaftskraft eines Landes, aber auch die Offenheit einer Volkswirtschaft für Handel und Investitionen eingehen. Diese Regeln gelten bis heute. So hat z.B. China 3,8% der Stimmrechte, Frankreich aber 4,3% und Deutschland 5,8%. Die USA verfügen über 16,75%.

Letzteres ist relevant, da Satzungsänderungen nur mit mindestens 85% der Stimmen beschlossen werden können – daraus ergibt sich de facto ein Vetorecht für die USA. Zbigniew Brzezinski brachte es auf den Begriff: „Offiziell vertreten der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank globale Interessen und tragen weltweit Verantwortung. In Wirklichkeit werden sie jedoch von den USA dominiert.“ 2

Speerspitze der neoliberalen Wende

1972 fiel mit der Aufkündigung der festen Wechselkurse durch die USA eine tragende Säule der Nachkriegsfinanzordnung. Das war der Urknall dessen, was die Mainstream-Ökonomie später Finanzialisierung nannte und was in kritischer Theorietradition gern als Kasino-Kapitalismus oder finanzmarktgetriebener Kapitalismus bezeichnet wird – eine Variante von Kapitalismus also, in dem der Finanzsektor quantitativ und qualitativ die übrige Ökonomie dominiert. Da in dem neuen System der Markt die Kurse bestimmt und politische Zusammenarbeit als marktfremder Staatsinterventionismus in Misskredit fiel, schien es zu einem Bedeutungsverlust des IWF zu kommen. Die Weltbank hatte sich demgegenüber mit dem Wandel zur Institution multilateraler Entwicklungspolitik bereits in den 1960er Jahren neu erfunden.

1982 brach mit der Insolvenz Mexikos eine Schuldenkrise aus, die viele Länder der »Dritten Welt« erfasste. Die Krise war vor allem durch externe Schockwellen herbeigeführt worden, deren Epizentrum in den USA lag, namentlich drastische Zinserhöhungen und ein Anstieg des Dollarkurses. Über Nacht und ohne sein Zutun waren die Schulden des Südens in die Höhe geschossen und hatten viele Länder in die Zahlungsunfähigkeit getrieben.

Jetzt schlug die Stunde des IWF. Mit seinen Krediten verhinderte er zwar den Zusammenbruch der Schuldnerländer, aber dies hatte seinen Preis: Kredit gab es nur gegen Reformen. Eckpfeiler dieser Reformen waren Fiskaldisziplin, Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung. Hinter dieser Strukturanpassung stand konzeptionell die neoliberale Theorie, Markt und Wettbewerb seien die beste Form der Regulierung der Wirtschaft und politische Eingriffe in die Märkte seien schädlich. Die als »Washington-Konsens« bekannt gewordenen Reformen wurden mit einigen Modifikationen auch für die Weltbank verbindlich.

Die Bretton-Woods-Institutionen spiegelten damit den neoliberalen Paradigmenwechsel wider, der mit der Präsidentschaft von Ronald Reagan zur offiziellen Doktrin der USA wurde. Ihnen kam die Mission zu, das neue Leitbild in den Entwicklungsländern zu implementieren.

Die sozialen Konsequenzen der Strukturanpassung trafen vor allem die ökonomisch verwundbaren Sektoren der Bevölkerung. Eine Bestandsaufnahme, die 2002 von Weltbank und zivilgesellschaftlichen Organisationen gemeinsam vorgenommen worden war, kam zu einem vernichtenden Urteil.3 Zahlreiche weitere Studien kommen zu dem Schluss, dass sich in den 1990er Jahren der Trend zur Polarisierung von Einkommen und Vermögen weltweit durchgesetzt hat. Auch eine neue Studie der Forschungsabteilung des IWF kommt zum Schluss, dass weniger Ungleichheit „robust mit schnellerem und dauerhafterem Wachstum korreliert“ und dass daher „Umverteilung generell gut ist hinsichtlich ihrer Wirkung auf Wachstum“.4

Allerdings führen solche Einsichten keineswegs automatisch zu praktischen Konsequenzen. Ein Bericht der Unabhängigen Evaluierungskommission von 2011, die die Arbeit des IWF im Vorfeld der Finanzkrise untersuchte, wirft ein vielsagendes Licht auf die Arbeitsweise des Fonds: „Schwächen in den internen Strukturen, ein Mangel an Anreizen, ressortübergreifend zu arbeiten und abweichende Meinungen zur Kenntnis zu nehmen, sowie ein Überprüfungsprozess, der die »Mosaiksteine« nicht zusammenfügte oder ein Follow-up sicherte, spielten eine wichtige Rolle, ebenso wie politischer Druck einige Wirkung gehabt haben dürfte.“ 5 Mit anderen Worten: Stimmen, die nicht in die politische Richtung passen, perlen an den Mechanismen formeller und informeller Macht ab.

Bedeutungsverlust und erneute Renaissance

Der Aufstieg der Schwellenländer und der Rohstoffboom in vielen Entwicklungsländern in der ersten Hälfte der 2000er Jahre erlaubte es vielen Ländern, sich durch vorfristige Tilgung ihrer Schulden aus der Abhängigkeit des IWF zu lösen. In dem Maße, wie ihm die »Kunden« wegliefen, drohte dem IWF ein dramatischer Bedeutungsverlust.

Aber dann kam 2008 erneut eine Renaissance, dieses Mal als Resultat des Finanzcrashs. Die G20 beauftragte den IWF mit der praktischen Umsetzung der Rettungsmaßnahmen. Das Kreditvolumen wurde massiv ausgeweitet und auch die Konditionalität an die Krisenerfordernisse angepasst. Wieder einmal nahm der IWF seine ursprüngliche Aufgabe als Krisenfeuerwehr durchaus erfolgreich wahr und trug dazu bei, dass die Weltwirtschaft nicht völlig kollabierte.

Verunsicherung

Der Crash führte allerdings intern zu einiger Verunsicherung. So schreibt die oben erwähnte Evaluierungskommission: „Die Fähigkeit des IWF, die steigenden Risiken richtig zu erkennen, wurde durch ein hohes Maß an Konformismus, intellektueller Einseitigkeit […] sowie durch unangemessene theoretische Ansätze eingeschränkt.“ 6

Wenige Wochen vor seinem Rücktritt erklärte der damalige IWF-Chef Strauss-Kahn den Washington-Konsens für überholt und zitierte zustimmend Keynes: „Der dekadente internationale, aber individualistische Kapitalismus, in dessen Händen wir uns nach dem [Zweiten Welt-] Krieg wiederfanden, ist kein Erfolg. Er ist nicht intelligent. Er ist nicht schön. Er ist nicht gerecht. Er ist nicht rechtschaffen. Und er liefert keine Ergebnisse. Kurzum, wir mögen ihn nicht, und wir beginnen ihn zu verachten.“ 7

Allerdings fanden solche Überlegungen keinen Eingang in die Praxis.

IWF und Troika

Die Etablierung der Troika aus IWF, Europäischer Zentralbank und EU-Kommission bescherte den europäischen Schuldnerländern die selbe harte Austeritätspolitik, wie sie zuvor die Entwicklungsländer erfahren hatten. Das demokratisch nicht legitimierte Regime der Troika hat nicht nur zu enormen humanitären Kosten geführt, sondern hat auch sein Kernziel, den Abbau der Verschuldung, nicht erreicht.8

Angesichts dessen sind inzwischen interne Widersprüche in dem Gremium aufgebrochen, und der IWF verhält sich zunehmend zurückhaltender. Hintergrund ist dabei weniger ein grundsätzlicher Kurswechsel; vielmehr sind die meisten IWF-Mitglieder – darunter auch die USA – der Meinung, die EU sei stark genug, ihre Probleme selbst zu lösen.

Hinzu kommen Differenzen über die Ursachen der Euro-Krise und die Ausrichtung des Krisenmanagements. So sind die USA und viele andere IWF-Mitglieder der Auffassung, dass die Handels- und Zahlungsbilanzungleichgewichte in der Euro-Zone – und hier als Hauptfaktor die deutschen Exportüberschüsse – eine wichtige Krisenursache sind. Berlin, Brüssel und die Europäische Zentralbank glauben aber immer noch, die Schuldnerländer häten »über ihre Verhältnisse gelebt«. In seinem Bericht über internationale Finanzentwicklungen vom Oktober 2013 kritisiert der US-Finanzminister in aller Deutlichkeit die deutsche Exportweltmeisterschaft: „Das Ergebnis ist eine deflationäre Tendenz sowohl in der Euro-Zone wie in der Weltwirtschaft.“ 9 Darüber hinaus hat der IWF schon früh die Reduzierung des Krisenmanagements auf Austeritätspolitik kritisiert und gefordert, den Krisenländern kräftige Finanzspritzen zur Ankurbelung ihrer Wirtschaft zu geben.10

Als Konsequenz aus den Differenzen steuerte der IWF bereits zum Rettungspaket für Zypern nur eine von zehn Milliarden Euro bei. An der Hilfe für Spanien ist er überhaupt nicht mehr beteiligt.

Der IWF in einer multipolaren Weltordnung

Das internationale System befindet sich im Umbruch. Die Phase einer unipolaren Weltordnung, in der die USA als einzige Supermacht agieren konnten, geht zu Ende. Das Scheitern der USA in Afghanistan, im Irak und in Libyen, die Probleme in Syrien, im Iran und im Israel-/Palästina-Konflikt, aber auch der Aufstieg Chinas zur Supermacht und das Comeback Russlands sind Indizien einer historischen Tendenz. Hinzu kommen die Schwächung durch den Crash des Finanzkapitalismus und die Aufdeckung der totalitären Indienstnahme des Internet durch den US-Auslandsgeheimdienst NSA. Zwar sind die USA militärisch und ökonomisch nach wie vor die Nummer eins – und das wird auch noch einige Zeit so bleiben –, aber der Trend zu einer multipolaren Weltordnung ist unaufhaltsam.

Dabei wird die Instrumentalisierung des IWF zum ökonomischen Flankenschutz der US-Hegemonie auf Dauer dysfunktional. Im Lager der Schwellenländer häufen sich die Versuche, sich jenseits der etablierten Institutionen zu organisieren, so zum Beispiel durch die BRICS-Staaten,11 die inzwischen eigene Gipfel veranstalten und eine eigene Entwicklungsbank etabliert haben. Auch in Lateinamerika wurde mit der Banco del Sur eine Parallelstruktur zu den Bretton-Woods-Institutionen geschaffen. Die Chiang-Mai-Initiative zur währungspolitischen Kooperation zwischen China, Südkorea, Japan und den im ASEAN zusammengeschlossenen südostasiatischen Staaten läuft auf einen regionalen Ersatz für den IWF hinaus. Zwar sind diese Versuche alle noch im Anfangsstadium und ihre Tragfähigkeit muss sich erst noch erweisen, sie stehen aber für eine neue Grundtendenz.

Eine globale Institution für die internationale Kooperation in Finanzfragen wird unter Bedingungen einer globalisierten Weltwirtschaft dringender gebraucht als je zuvor. Daher ist die Forderung nach Abschaffung des IWF keine Lösung. Notwendig wäre jedoch ein Wandel, bei dem der IWF der Instrumentalisierung durch die USA entzogen, dem Trend zur multipolaren Welt angepasst und insgesamt demokratisiert wird. Allerdings wird dies nicht isoliert von einer demokratischen Umgestaltung des internationalen Systems funktionieren. Insofern sind für emanzipatorische Politik noch viel Geduld und zähes Bohren dicker Bretter vonnöten.

Anmerkungen

1) Sara Burke et al. (2013): World Protests 2006-2013. Working Paper der Initiative for Policy Dialogue, Columbia University New York and Friedrich-Ebert-Stiftung New York.

2) Zbigniew Brzezinski (1999): Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Frankfurt am Main: Fischer, S.49.

3) Structural Adjustment Participatory Review International Network – SAPRIN (2002): The Policy Roots of Economic Crisis and Poverty. A Multi-Country Participatory Assessment of Structural Adjustment, Based on Results of the Joint World Bank/Civil Society Structural Adjustment Participatory Review Initiative (SAPRI) and the Citizens’ Assessment of Structural Adjustment (CASA). Washington D.C.

4) Jonathan D. Ostry, Andrew G. Berg, Charalambos Tsangarides (2014): Redistribution, Inequality, and Growth. Washington D.C.: International Monetary Fund Research Department, S.4.

5) IEO – Independent Evaluation Office of the International Monetary Fund (2001): IMF Performance in the Run-Up to the Financial and Economic Crisis: IMF Surveillance in 2004-07. Washington D.C., S. v.

6) Ibid.

7) Dominique Strauss-Kahn: Global Challenges, Global Solutions – an address at George Washington University. Washington, April 4, 2011. S.4.

8) International Monetary Fund: World Economic Outlook Database. October 2013.

9) U.S. Department of the Treasury Office of International Affairs: Report to Congress on International Economic and Exchange Rate Policies. Washington, October 2013, S.3.

10) Financial Times Deutschland, 5.9.2011. S.9.

11) Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika.

Peter Wahl ist Vorsitzender der Nichtregierungsorganisation »WEED – Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung« und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von Attac.

Neoliberalismus mit südlichem Antlitz

Neoliberalismus mit südlichem Antlitz

Der Aufstieg des BRICS-Blocks

von Vijay Prashad

Im September 2006 kamen die Außenminister von Brasilien, Russland, Indien und China in New York zusammen, um über eine verstärkte Zusammenarbeit zu beraten. Am 16. Mai 2008 gründeten die vier Staaten im russischen Jekaterinenburg offiziell den BRIC-Block. Im Dezember 2010 wurde Südafrika in die Gruppe aufgenommen, die damit zum BRICS-Block wurde. Die jährlichen Gipfeltreffen befassten sich u.a. mit der Reform des internationalen Finanzsystems, dem Klimawandel, der technologischen Zusammenarbeit und der Betonung des Dialogs anstelle der Anwendung von Gewalt. Die fünf BRICS-Staaten erfreuen sich hoher Wachstumsraten, verfügen über extensive Naturressourcen und haben große, junge und gebildete Bevölkerungen. Vijay Prashad geht der Frage nach, ob die »Lokomotiven des Südens« damit zu einem Gegenpol gegen den alles dominierenden nordatlantischen Neoliberalismus werden oder ob sie lediglich am bestehenden System der globalen Ordnung teilhaben wollen.

Im Bericht des IWF [Internationalen Währungsfonds] von 2011 wird angedeutet, dass die Vereinigten Staaten 2016 nicht länger die größte Wirtschaftsmacht der Welt sein werden. […] Signale des Niedergangs sind in den fragilen wirtschaftlichen Grundlagen der atlantischen Staaten erkennbar, wo die rote Warnlampe angesichts der Vorherrschaft des Finanzsektors in der Wirtschaft und des Anstiegs der Militärausgaben hell leuchtet. Seit 2001 haben allein die Vereinigten Staaten 7,6 Billionen US$ für ihre Kriege und ihren nationalen Sicherheitsapparat ausgegeben. Hinzu kommen massive Kürzungen der Sozialausgaben und Steuervergünstigungen für Reiche. […] Prognosen des IWF zufolge wird China im Jahr 2016 die größte Volkswirtschaft sein, doch scheint das Land es nicht darauf anzulegen, sich allein an die Spitze zu stellen. China scheint damit zufrieden zu sein, sich die Bühne mit den anderen BRICS-Staaten zu teilen und auf Multipolarität und ökonomische Vielfalt zu drängen. Tatsächlich betont China bei jeder Gelegenheit, dass es weder an einer Ära der Pekinger Vorherrschaft interessiert sei noch die verschiedenen multilateralen Plattformen nutzen wolle, um einen BRICS- oder einen Pekinger Konsens durchzusetzen. Es weist darauf hin, dass es ein Ungleichgewicht der Macht zum Vorteil des Nordens gebe und dieses Ungleichgewicht korrigiert werden müsse – mehr nicht.

Die umfassendste Erklärung der BRICS-Prinzipien war die »Deklaration von Neu-Delhi« (2012). Viele der bereits 2009 bestehenden Elemente haben dort ihren vollständigsten Ausdruck gefunden.

Finanzreform

Die Finanzkrise seit 2007 wirft weiterhin ihre Schatten auf die BRICS-Staaten. Ihr Wachstumsmodell, das auf Exporte in den Norden sowie Handel untereinander basierte, hat unter dem Rückgang der Nachfrage aus dem Norden gelitten. Deshalb obliegt es den BRICS-Staaten, entweder ein Programm zu erarbeiten, um sich aus der Abhängigkeit von der Nachfrage des Nordens zu befreien, oder dazu beizutragen, einen Weg zu finden, die Nachfrage im Norden wieder zu beleben. Bis jetzt haben die BRICS beides getan, vorwiegend mit einem kurzzeitigen Fokus auf die Neubelebung der Nachfrage des Nordens.

Insgesamt hat sich die Unterstützung für den vom IWF vorangetriebenen Neoliberalismus langsam abgenutzt. In der »Deklaration von Neu-Delhi« drängen die BRICS-Staaten den Norden, eine „verantwortliche makroökonomische und finanzielle Politik“ zu verfolgen und entschlossenere Reformen ihres Finanzsystems vorzunehmen. Die Ansicht, dass der Norden nicht länger das Monopol auf gute Ideen zur Finanzpolitik innehat, führte zum Ruf nach einer institutionellen Verschiebung von der Kontrolle des Nordens hin zu einer Nord-Süd-Partnerschaft. Die G20 sollte das vorrangige Forum zum Schmieden eines globalen Aktionsplans werden, die Führung in IWF und Weltbank (inklusive der höchsten Führungsebene) auf eine breitere Basis gestellt und die UNCTAD [United Nations Conference on Trade and Development]– ein globales Organ, dessen politische Perspektive dem neoliberalen Konsens häufig kritisch gegenüberstand – gestärkt werden.

Im UNCTAD-Bericht von 2011 findet sich eine sorgsam erarbeitete Analyse über Macht und Einfluss des Finanzkapitals. Im Kapitel über Rohstoffmärkte wird argumentiert, dass der Rohstoffboom nicht mit einer wachsenden Nachfrage der BRICS-Staaten erklärt werden kann. Schuld daran seien hingegen Index-Investoren, Spekulanten, deren Rohstoffgeschäfte motiviert sind durch „Faktoren, die überhaupt keinen Bezug zu den Grundlagen der Rohstoffpreise haben“. Im Bericht erklärt sich der Anstieg der Rohstoffpreise, einschließlich derer für Nahrungsmittel und Öl, mit der größeren Präsenz von Finanzinvestoren, welche Warentermingeschäfte als eine Alternative zu Finanzanlagen in den Management-Entscheidungen ihres Portfolios ansehen. Da diese Marktteilnehmer jedoch kein Interesse am physischen Rohstoff haben und nicht auf der grundlegenden Basis von Angebot und Nachfrage handeln, können sie – einzeln oder als Gruppe – sehr große Anteile an den Rohstoffmärkten halten und dadurch einen beachtlichen Einfluss auf die Funktionsweise dieser Märkte ausüben. Es kann keine Entwicklungsagenda geben ohne ernsthafte Überlegungen zu einer Finanzreform.

Entwicklungsagenda

Seit der faktischen Paralyse der Entwicklungsagenda [der World Trade Organization, WTO] von Cancún (2003) – oder vielleicht bereits seit Seattle (2000) – hat es wenig Bewegung bezüglich der Kernfragen sozialer Entwicklung gegeben. Das Gerede über die Millennium-Entwicklungsziele ([Millenium Development Goals,] MDGs) hat sich als Vernebelungstaktik für unzureichende Maßnahmen auf globaler Ebene herausgestellt.

Bei den MDGs handelt es sich um Ziele, deren Erreichung von den einzelnen Staaten verlangt wird. Es handelt sich nicht um einen möglichen Ersatz für eine umfassende Vereinbarung zu Rohstoffpreisen, Subventionen, Entwicklungsfinanzierung und Technologietransfers. Seit den 1970er Jahren, als die UNCTAD der zentrale Ort für derartige Debatten war, hat es keine substanzielle Diskussion dieser Angelegenheiten mehr gegeben. Seit die Rolle der UNCTAD marginalisiert wurde, hat der Süden seinen Platz am Verhandlungstisch verloren. Folglich hat es weniger einen Entwicklungsdialog, sondern vielmehr einen Entwicklungsmonolog mit dem IWF und der Strukturanpassungsagenda der Weltbank gegeben, die in der Maskerade einer Entwicklungsagenda daherkamen.

Die BRICS-Staaten rufen nun zu einer Neubelebung der Debatten über Entwicklung auf, inklusive der Schaffung einer neuen Entwicklungsbank (einer BRICS-Bank), der Wiederbelebung der Doha-Runde in multilateralem Gewand, dem Einimpfen eines Geistes des Technologietransfers jenseits des rigorosen Regimes intellektueller Eigentumsrechte des TRIPS-Abkommens und inklusive der Kooperation bei wichtigen Angelegenheiten, wie etwa Gesundheitsfürsorge, landwirtschaftlicher Produktion und Produktivität.

Weil er sich außerstande sieht, eigene Vorstellungen innerhalb der Weltbank durchzusetzen, wird der BRICS-Block nun eine BRICS-Entwicklungsbank mit einem Startkapital von ungefähr 50 Mrd. US-Dollar einrichten. Die Bank soll von China als Recycling-Mechanismus genutzt werden, um chinesische Überschüsse in Infrastruktur nicht nur in den anderen BRICS-Staaten (wo Indien und Südafrika die wichtigsten Beispiele sind), sondern auch im Rest des Südens zu investieren. Es wird geschätzt, dass die Kosten für die Infrastrukturentwicklung innerhalb der BRICS-Staaten sich auf rund 15 Billionen US-Dollar belaufen. Die Weltbank ist nicht nur wenig begeistert von einem derartigen Kostenaufwand, sondern zudem auch nicht einverstanden mit der Art der von den BRICS-Staaten für ihre Binnenmärkte und für die internationale Ebene erarbeiteten Entwicklungsvision.

Multipolarer Regionalismus

Letztlich haben die BRICS-Staaten begonnen darauf hinzuweisen, dass sie dem Norden, mit den Vereinigten Staaten an der Spitze, nicht länger erlauben wollen, die internationalen Angelegenheiten zu dominieren. Seit den späten 1980er Jahren hat der Norden die Kontrolle bei der Entscheidungsfindung in den Vereinten Nationen (mittels des Sicherheitsrates) übernommen und versucht, den meisten multinationalen Organen seine eigene Agenda überzustülpen. Das »Nabe-und-Speichen«-Modell für die Handhabung internationaler Beziehungen kam Ende der 1990er Jahre auf. US-Militärbasen und extraterritoriale Rechtsprechung, begründet mit einem Menschenrechtsinterventionismus, bildeten die neue Architektur der globalen Weltordnung (der »Neuen Weltordnung« des George H. W. Bush). Mit der US-Macht am Rande ihrer Möglichkeiten und regionalen Instanzen, die nun begannen, in die Bearbeitung regionaler Konflikte einzugreifen, beginnt sich das System aufzulösen. Die BRICS-Staaten unterstützen jetzt die Idee einer UN-Reform, die auch eine Begrenzung der Befugnisse der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates vorsieht. Sie unterstützen zudem das Konzept einer »multilateralen Diplomatie« anstatt der US-Vorherrschaft. Darin besteht eine signifikante Abkehr von der allgemeinen Zurückhaltung der BRICS-Staaten – vor allem Chinas –, die sich mit dem Eingreifen in Konflikte außerhalb ihrer Grenzen sehr schwer tun.

Diese drei Punkte – Finanzreform, eine Entwicklungsagenda und multipolarer Regionalismus – bilden die Kernelemente der BRICS-Agenda.

Gipfel-Politik

Der 5. BRICS-Gipfel 2013 endete im südafrikanischen Durban mit minimalen Ergebnissen. […] Sogar die lang erwartete BRICS-Entwicklungsbank (Punkt 9 der »eThekwini-Deklaration« von Durban) wurde in einer kühlen Art und Weise angekündigt: „Wir sind übereingekommen, die neue Entwicklungsbank zu gründen.“ Dies scheint der Stil des BRICS-Blocks zu sein: eine Art scheues Betreten der Weltbühne ohne das Ausbreiten bedeutender politischer Alternativen und ohne größere PR-Kampagne. Einer der Gründe für diese Schüchternheit besteht darin, dass die BRICS-Staaten keinen substanziell neuen Ansatz für die Themen der Welt haben. Das liegt einerseits daran, dass sie durch die umfassende Übernahme neoliberaler Politik in ihren eigenen Ländern eingeschränkt sind, und andererseits, dass sie in einem Teufelskreis der Billigproduktion für die kreditgestützten Enklaven des Globalen Nordens gefangen sind.

Die schwülstigen Worte von „nachhaltiger Entwicklung“ und „Armutsreduzierung“ tauchen gemeinsam mit den altbekannten Plattitüden von der Notwendigkeit der Erhöhung ausländischer Direktinvestitionen und „der Unterstützung von Wachstum und dem Fördern finanzieller Stabilität“ auf. Angesichts eines zunehmenden Konsenses darüber, dass die in diesen Staaten verfolgten Wachstumsstrategien eher die Ungleichheit vergrößern als Armut zu verringern, werden die guten Vorsätze, die Armut auszumerzen, vom Mantra des Wachstums unterminiert.

Der BRICS-Block möchte seine neuen wirtschaftlichen Stärken in politische Macht ummünzen, besonders indem er sich selbst als führende Kraft für einen neuen Entwicklungsdialog positioniert. Indikatoren für einen alternativen Ansatz zum Fundamentalismus des freien Marktes des Nordens sind auf den BRICS-Foren und in der »eThekwini-Deklaration« deutlich geworden. So stellt der BRICS-Block etwa nicht zwangsweise den privaten Sektor über den öffentlichen, verbunden mit der Anerkennung „der bedeutenden Rolle, die öffentliche Unternehmen in der Wirtschaft spielen“.

Es ist natürlich bereits länger nicht mehr der Fall, dass der öffentliche Sektor allein zum Wohl der Menschen arbeitet – mit staatlichen Unternehmen, die oft als Steckenpferde der reichen Eliten fungieren. Dennoch ist der öffentliche Sektor ein entscheidender Wegbereiter für soziale Entwicklung in Bereichen wie Bildung, Gesundheitswesen und bei der Schaffung von Arbeitsplätzen. Ebenso ist der Staat notwendig als Bollwerk gegen Spekulanten in Rohstoff- und Finanzmärkten, wo die natürlichen Schwankungen häufig zugunsten kurzzeitiger finanzieller Gewinne manipuliert werden, statt für die Sicherheit der Produzenten zu sorgen. Der BRICS-Block hat mit dem Contingency Reserve Arrangement (CRA) einen Fonds im Wert von 100 Mrd. US-Dollar geschaffen, der die Staaten des Südens vor kurzzeitigen Liquiditätsproblemen schützen soll – eine Bedingung, die oft vom IWF dazu genutzt wurde, Ländern mit knappen Finanzen die Übernahme neoliberaler Politik (Konditionalitäten) zu diktieren. Dies ist auch der Grund, weshalb der BRICS-Block seine eigene Entwicklungsbank eingerichtet hat, obwohl diese erst einmal ruht, da Indien und Russland zunächst die möglichen Wirkungen der Bank untersuchen wollen. Teil der Debatten um die Bank und die Sicherheitsreserve war auch die Möglichkeit, eine Ratingagentur des Südens zu gründen, um sie den Ratingagenturen des Nordens, wie etwa Moody’s und Standard & Poor’s, an die Seite zu stellen.

Die Schaffung ihrer eigenen Institutionen – des Contingency Reserve Arrangements und der BRICS-Bank – ersetzen nicht die Ambitionen der einzelnen BRICS-Staaten, in den älteren Institutionen das Heft in die Hand zu nehmen.

Unter Reformen des IWF oder der WTO wird jetzt ein größeres Stimmgewicht der Staaten des Südens verstanden. Im Falle der WTO hat der BRICS-Block zudem zu verstehen gegeben, dass er eine Koalition des Südens anführen möchte, um einen Vertreter des Südens zum nächsten Generalsekretär zu machen. Im letzten Jahr versuchte der Norden in Doha, angeführt von der Schweiz, das Mandat der UNCTAD zu torpedieren, indem er darauf drängte, die eigenen Sichtweisen auf die Reform des Finanzsektors zurückzustellen. Die BRICS unterstützten in der »Deklaration von Neu-Delhi« und der »eThekwini-Deklaration« erneut die Arbeit der UNCTAD zu „miteinander zusammenhängenden Fragen des Handels, der Investitionen, Finanzen und Technologie aus einer Entwicklungsperspektive“. Entscheidend sind hier die Worte „miteinander zusammenhängend“ und „Finanzen“ als Hinweise auf das Urteil des UNCTAD-Berichts zu Handel und Entwicklung aus dem Jahr 2011. Dort wird betont, dass die spekulative Macht des globalen Finanzsystems nicht nur wirtschaftliche Einöden in den Ländern des Nordens schuf, sondern auch jegliche Entwicklungsprojekte im Süden behinderte.

Grenzen der BRICS-Plattform

Die BRICS-Plattform hat verschiedenartige Begrenzungen. Zuerst einmal folgt die Innenpolitik der BRICS-Staaten dem allgemeinen Tenor dessen, was man als »Neoliberalismus mit südlichem Antlitz« bezeichnen kann – mit dem Verkauf von Rohstoffen und niedrigen Arbeitslöhnen neben dem recycelten Überschuss, der als Kredit an den Norden geht, während die Lebensqualität des Großteils der eigenen Bevölkerung niedrig bleibt. Die indische Bevölkerung ist beispielsweise mit hohen Armutsraten und Hunger konfrontiert, obwohl die Wachstumsraten stetig weiter steigen. Statt den sozialen Reichtum in Transferzahlungen und in die Schaffung stabilerer sozialer Löhne umzuwandeln, scheint das Land dem Rat des Weltbankpräsidenten Robert Zoellick zu folgen und seinen Überschuss dafür zu verwenden, „der Weltwirtschaft zu helfen, sich von der Krise zu erholen“. Es hat etwas Obszönes, die »Lokomotiven des Südens« vor die Wagen des Nordens spannen zu wollen (vor allem angesichts des Unwillens des Nordens, die eigenen Überschüsse in den 1980er Jahren dafür zu nutzen, die damalige Schuldenkrise zu bekämpfen).

Zweitens war das BRICS-Bündnis bisher nicht in der Lage, eine neue institutionelle Grundlage zu schaffen, die seiner wachsenden Macht gerecht würde. Es plädiert weiterhin für demokratischere Vereinte Nationen und mehr Demokratie in IWF und Weltbank. Diese Appelle haben wenig bewirkt. Als die Finanzkrise ihren Höhepunkt hatte, versprach die G8, sich aufzulösen und die G20 für ihre Zwecke zu nutzen – dies ist nun vergessen. Eine blutleere Zunahme von Stimmübertragungen im IWF hat den Süden nicht in die Lage versetzt, im Sommer 2011 einen gemeinsamen Kandidaten als Direktor zu ernennen.

Drittens hat die BRICS-Formation keine ideologische Alternative zum Neoliberalismus vorgebracht. Es gibt viele Vorschläge zur Schaffung einer nachhaltigeren Wirtschaftsordnung, doch diese wurden an den Rand gedrängt. Die Rio-Formel eines „separaten und differenzierten Umgangs“ erlaubt es dem Süden, Zugeständnisse zu fordern, die der Norden verweigert (nicht zuletzt beim Klimawandel). Dies ist eine defensive Haltung. Bislang wurde keinerlei positive Alternative vorangetrieben. Möglicherweise wird sie den Erschütterungen von unten entspringen, wo man keine Lust verspürt, an einem System herumzudoktern, dass viele, wenn nicht die meisten Menschen, als grundsätzlich gescheitert ansehen.

Und schließlich fehlt dem BRICS-Projekt die Fähigkeit, die militärische Vorherrschaft der Vereinigten Staaten und der NATO zu brechen. Wenn die Vereinten Nationen dafür stimmen, „den Mitgliedstaaten alle notwendigen Maßnahmen“ zu erlauben, wie es bei der Resolution 1973 zu Libyen der Fall war, ist dies im Grunde ein Blankoscheck für die NATO, militärische Mittel einzusetzen. Regionale Alternativen, die funktionieren würden, gibt es nicht. Die Fähigkeit der Vereinigten Staaten zur Machtprojektion bleibt weltweit bestehen – mit Militärbasen auf allen Kontinenten und der Fähigkeit, fast überall zuzuschlagen. Diese globale Präsenz von NATO und USA schwächt die Kapazität regionaler Mechanismen für Friedensmaßnahmen und Konfliktlösungen.

Überbordende Militärmacht übersetzt sich in politische Macht. Regionalismus und Multipolarität stehen im Mittelpunkt der jüngsten Debatten. Nebenabsprachen verbesserten die regionale wirtschaftliche Entwicklung und schufen die Basis für Regionalpolitik ohne US-Vorherrschaft. So leiteten Afghanistan, Indien und Iran am Rande des 16. Gipfels der NAM [Non-Aligned Movement] im Jahr 2012 einen Prozess ein, um ihre gegenseitigen Verbindungen mittels des im Südosten Irans gelegenen Hafens von Tschabahar zu intensivieren. Das von den USA besetzte Afghanistan importiert, ungeachtet der US-amerikanischen und europäischen Sanktionen, 50 Prozent seines Erdöls aus Iran. Die US-Bestrebungen, Teheran zu isolieren, sind in einer multipolaren Welt schlichtweg nicht durchsetzbar.

Die aufstrebende und von den BRICS-Staaten unterstützte Politik der NAM zielt nicht länger auf Blockfreiheit, sondern auf Regionalismus und Multipolarität ab. Schuldenkrisen und Sparmaßnahmen im Norden werden gleichermaßen Druck auf dessen Fähigkeit ausüben, die eigene militärische Macht auf dem ganzen Planeten auszuüben. China, das die weltgrößte Wirtschaft haben wird, hat sich der Multipolarität verschrieben. Deshalb ist auch eine neue geistige Orientierung (Regionalismus und Multipolarität) des BRICS-Blocks viel realistischer als die erneute Durchsetzung der Vorherrschaft des Nordens. Es wird kein weiteres amerikanisches Jahrhundert geben. Wir stehen am Beginn eines neuen multipolaren Experiments.

Das BRICS-Projekt bedeutet keine Freiheit für den Süden. Dennoch: Das politische System erhält frischen Sauerstoff. Das IBSA-Dialogforum [Indien, Brasilien und Südafrika] und die BRICS-Plattform verleihen älteren Ideen der Süd-Süd-Kooperation neues Gewicht – Konzepte, die sich in den 1990er und 2000er Jahren in Gefahr befanden, zu Anachronismen zu werden. […]

Perspektiven des BRICS-Blocks

Die gegenwärtigen Führungen der einzelnen BRICS-Staaten lassen nicht erkennen, dass die BRICS-Agenda einen stärker progressiven Kurs einschlagen würde. Seit den 1990er Jahren lag ein Ungleichgewicht vor, weil der Norden den Kurs von Politik und Macht strikt gemäß den eigenen Interessen und denen seiner Unternehmen ausrichtete. Die BRICS-Staaten versuchen nun schlicht, die Kompassnadel nach ihren eigenen Interessen auszurichten, damit ihre eigenen Entwicklungsprogramme aus dem Schatten der Schuldenkrise und des Regimes der geistigen Eigentumsrechte ausbrechen können. Ihre eigenen Unternehmen sollen dadurch mit im Norden angesiedelten transnationalen Firmen in den Wettbewerb treten, und das Konzept der Süd-Süd-Kooperation soll als Argument für eine bevorzugte Behandlung angewandt werden können. Brasiliens Versuch, die progressive Agenda der Lateinamerikanischen Entwicklungsbank, der Bank des Südens (Banco del Sur), zu bremsen, ist ein Indikator für die engen Grenzen der Politik der BRICS-Staaten. Wenn die gegenwärtigen Regierungen in den BRICS-Staaten an der Macht bleiben, ist nicht zu erwarten, dass die Dynamik des BRICS-Blocks sich von dem unterscheiden wird, was wir bisher gesehen haben.

Sollten jedoch progressive Regierungen in den BRICS-Ländern an die Macht gelangen, so wie es in Lateinamerika in den letzten 15 Jahren der Fall war, ist eine andere Politik des BRICS-Blocks denkbar. Ein aggressives Umschwenken, bei dem Überschüsse des Südens in die eigenen Bevölkerungen transferiert werden, begleitet von Änderungen am Wachstumsmodell der einzelnen Staaten, hätte eine unmittelbare Auswirkung auf die Verwendung von Institutionen wie der BRICS-Bank. Eine neue Stiftung für Wirtschaftsabkommen im Binnenhandel, bei denen Mechanismen der Preisgestaltung sowohl Produzenten als auch Konsumenten begünstigen, ohne dass das private Kapital die Gelegenheit erhält, den Löwenanteil des Handels abzuschöpfen, könnte ebenso auf Grundlage des eigenen Süd-Süd-Handels eingerichtet werden. Eine derart progressive Agenda könnte die Länder des Südens, und vor allem die BRICS-Staaten, befähigen, wirtschaftlich nicht länger vom Norden abhängig zu sein (beispielsweise in Sachen Märkte und Technologien) und auf diese Weise auch die politische Abhängigkeit von Washington zu brechen.

Dies wäre eine mögliche Aussicht für den Süden. Sie ist jedoch, angesichts der gegenwärtigen Klassenzusammensetzung in der Führung der BRICS-Staaten, nicht die wahrscheinlichste Variante für den BRICS-Block. Gegenwärtig geht es nur um eine Neujustierung der Machtbeziehungen, nicht um deren Transformation. Dies ist bis auf Weiteres das Programm des BRICS-Blocks und im Kern auch sein Versprechen.

Anmerkung

Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus der gleichnamigen Studie von Vijay Prashad, die auf der Website des New Yorker Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht wurde. Dort steht auch eine umfassende Literaturliste zum Thema.

Vijay Prashad ist Professor für Südasiatische Geschichte am Trinity College in Connecticut, USA.

Gewaltig oder gewalttätig?

Gewaltig oder gewalttätig?

Entwicklung mit kolonialem Antlitz

von María Cárdenas

Noch immer herrschen koloniale Machtverhältnisse vor allem in den politischen und Wirtschaftsbeziehungen vor. Grund dafür ist nicht zuletzt die fehlende Dekolonisierung im Denken. Als Folge werden ungleiche Machtverhältnisse perpetuiert oder durch vorgeblich faire Regeln erst neu geschaffen. Damit fördern sie Armut, Ungleichheit und Konfliktdynamiken mit fatalen Folgen für die Zivilbevölkerung.

Guido Speckmann weist am Beispiel der Beziehungen mit den AKP-Staaten darauf hin, dass die EU dieses Ungleichgewicht keineswegs aufheben will. Unter dem Mantel der »liberalen Marktwirtschaft« werden Länder mit hoher Exportabhängigkeit neokolonialisiert. Michael Basedau beschreibt, wie ressourcenreiche Länder vom Export und damit von den instabilen internationalen Rohstoffmärkten abhängig werden. Der Ressourcenabbau kann innerstaatliche Konflikte verschärfen oder verlängern bzw. selbst zum Konfliktgegenstand werden. Hierbei spielt das Interesse externer Staaten und ausländischer Kapitalgeber, die den Ressourcenabbau oft erst möglich machen, eine zentrale Rolle. Ähnlich beschreibt es auch Lukas Renz am Beispiel der deutschen Entwicklungspolitik, die stark an der Rohstoffsicherung orientiert ist. Die deutsche Entwicklungspolitik ist somit, ungeachtet ihrer Verlautbarung, viel mehr nach innen als nach außen gerichtet und schafft in den Ländern, die sie bei ihrer Entwicklung »unterstützen« will, damit neue Abhängigkeiten. In der Summe führt dies allzu häufig dazu, dass die Rechte der Bevölkerung und Umweltbelange ignoriert oder mit Gewalt unterdrückt werden..

Post- und neokoloniale Dynamiken lassen sich auch auf der internationalen Tribüne erkennen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass eine Abkopplung von herrschaftsförmigen Momenten des internationalen Systems lange Zeit nicht stattgefunden hat, wie Peter Wahl am Beispiel der Bretton-Woods-Institutionen aufzeigt. Diese Institutionen, die finanzschwachen Ländern polit-ökonomische und soziale Reformen über die Kreditvergabe aufzwingen, verlieren zwar in jüngster Zeit an Bedeutung. Maßnahmen wie die Gründung alternativer Institutionen, beispielsweise der Entwicklungsbank der BRICS-Staaten, dienen allerdings eher der Neujustierung der Machtverhältnisse als deren Transformation oder einer inhaltlichen Neugestaltung der internationalen Beziehungen, wie Vijay Prashad erläutert. Damit wirken sie sich nicht positiv auf die Lebensqualität der eigenen Bevölkerung aus. Ein Prozess der Dekolonialisierung zeichnet sich jedoch mit dem integrativen und komplementär zu anderen Mechanismen ausgelegten ALBA-Abkommen am lateinamerikanischen Horizont ab, wie Harri Grünberg veranschaulicht. ALBA fördert nicht nur ökonomische und finanzielle, sondern u.a. auch wissenschaftliche und strukturelle Kooperation und versteht den Begriff Entwicklung allumfassend und mit dem Ziel zunehmender Unabhängigkeit.

Statt einer Dekolonisierung im Denken, so auch Conrad Schetter, wurden Begriffe wie »Entwicklung«, »Treuhand« und jüngst auch »Sicherheit« ihrer eigentlichen Bedeutung enthoben und von der Gebergemeinschaft gewinnorientiert umgedeutet, sodass sie zur Rechtfertigung militärischer und wirtschaftlicher Interventionen taugen. »Bilateral Immunity Agreements« schützen diese Staaten, allen voran die USA, so Norman Paech, wiederum vor der juristischen Sanktionierung von Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag: Dies führt dazu, dass zwar bereits 122 Staaten das Römische Statut unterzeichnet haben, bislang jedoch nur Staatsbürger afrikanischer Staaten angeklagt und verurteilt wurden. Kein einziger »westlicher« Staat steht auch nur unter Beobachtung des IStGH.

Eine ähnliche Problematik zeigt sich bei den Rüstungsexporten aus dem »Norden« in den »Süden«, die mit Verweis auf Arbeitsplätze im Norden gerechtfertigt werden, den Verlauf inner- und zwischenstaatlicher Konflikten im Süden aber auf erschütternde Weise mitprägen. Hier ist das zentrale Problem der Lobbyismus in den Hersteller- wie den Importländern und ein hohes Maß an Korruption auf Seiten der Rüstungsfirmen wie der Rüstungskäufer, so Michael Brzoska.

Die Beiträge in diesem Heft zeigen, wie wichtig der Druck zivilgesellschaftlicher Bewegungen für einheitliche, internationale (moralische) Standards und für einen gleichberechtigten Handel ist, um einen Wandel im internationalen Machtgefüge herbeizuführen und neokoloniale Tendenzen (auch der »Lokomotiven des Südens«) zu beenden. Das bedeutet aber auch, dass wir Gesellschaften aus dem Norden uns kritisch mit unseren Privilegien und ihren Konsequenzen auseinandersetzen müssen. Erst dann wird eine friedliche innerstaatliche und internationale Entwicklung möglich werden.

Ihre María Cárdenas

Kolonialismus auf Samtpfoten

Kolonialismus auf Samtpfoten

Die Handelspolitik der Europäischen Union

von Guido Speckmann

Die Verhandlungen über die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zwischen den USA und der EU geraten derzeit immer stärker in die Kritik – zu Recht. Allerdings besteht die Gefahr, dass die europäischen Bestrebungen, mit anderen Ländern vergleichbare Übereinkünfte abzuschließen, nicht genügend kritische Öffentlichkeit erhalten. Denn derzeit versucht die EU, ihre Handelsbeziehungen nicht nur mit den USA und aufstrebenden Schwellenländern, wie Indien, sondern auch mit ökonomisch deutlich schwächeren Ländern aus Afrika, der Karibik und dem Pazifik – den AKP-Staaten – neu zu verhandeln. Dies soll in Gestalt von »Wirtschaftspartnerschaftsabkommen« (Economic Partnership Agreement, EPA) geschehen. Im Kern läuft dies auf die Ausweitung des Freihandels hinaus – und damit auf die Ausübung von struktureller Gewalt in Gestalt einer Perpetuierung von Unterentwicklung.

Bis zum Jahr 2000 regelte das Lomé-Abkommen die Handelsbeziehungen zwischen Europa und den AKP-Staaten. Dieses hatte zum Ziel, die ehemaligen, zumeist britischen und französischen, Kolonien wirtschaftlich zu fördern, und gewährte ihnen daher einseitige Handelsvorteile. Die Welthandelsorganisation (WTO) sah darin jedoch einen Widerspruch zu ihren Freihandelsprinzipien und strengte neue Verhandlungen zur Liberalisierung des Handels an. Die »Doha-Runde« der WTO musste jedoch im Jahr 2008 ohne Ergebnis abgebrochen werden: Die »Entwicklungsländer«, vor allem das Schwellenland Indien, weigerten sich, ihre Schutzzölle auf Agrargüter abzubauen, da sie befürchteten, ihre einheimische Agrarproduktion würde durch die Importe aus den hoch industrialisierten Staaten zerstört – angesichts zahlreicher Beispiele, etwa in Ghana und Kamerun, eine sehr berechtigte Furcht.1 Ob die Einigung auf der 9. WTO-Ministerkonferenz im Dezember 2013 in Bali der Doha-Runde neuen Schwung einhaucht, bleibt abzuwarten.2 Die EU wie auch die Vereinigten Staaten sind ohnehin schon längst dazu übergegangen, bilateral mit Staatengruppen und einzelnen Ländern Handelsabkommen zu verhandeln und abzuschließen. Das Besondere an dieser Strategie ist, dass die Ziele noch viel weitreichender sind als die innerhalb der WTO. Nicht nur beim Handel mit Gütern, sondern auch bei Dienstleistungen, Investitionsbedingungen und geistigen Eigentumsrechten, beim öffentlichen Auftragswesen und der Wettbewerbspolitik fordert die EU Liberalisierungsschritte von den Ländern des globalen Südens.3

Die wirtschaftlichen Folgen solcher Wirtschaftspartnerschaftsabkommen dürften für die betroffenen Staaten negativ ausfallen: Ein Ausschuss der Französischen Nationalversammlung prognostizierte in einem Bericht vom Juli 2006, eine Marktöffnung führe bei den AKP-Staaten erstens zu einem Haushaltsschock wegen der zu erwartenden Einnahmeverluste aufgrund der entfallenden Importzölle, zweitens zu einem Außenhandelsschock durch sinkende Wechselkurse, drittens zu einem Schock für die im Aufbau befindlichen Industriesektoren und viertens zu einem landwirtschaftlichen Schock, da lokale Produzenten mit den Billigimporten aus der EU nicht konkurrieren könnten.4

Der Gewerkschafter und Koordinator des Programms »Alternativen zum Neoliberalismus in Südafrika«, Timothy Kondo, befürchtet sogar, die betroffenen Staaten würden zum „Teil eines Plans der EU zur Rekolonisierung“.5 Auch aufgrund der Proteste sozialer Bewegungen pochen die betroffenen AKP-Staaten darauf, die Hoheit über ihre wirtschaftspolitischen Räume und damit die Chance zur »Entwicklung« behalten zu können. Die meisten AKP-Staaten willigten daher bislang nur in so genannte Interimsabkommen ein, die ausschließlich die Handelsliberalisierung von Handelsgütern betreffen. Lediglich die karibischen Staaten haben bisher EPA-Abkommen unterzeichnet. Die ausstehenden Abschlüsse beabsichtigt die EU bis zum Oktober 2014 auszuhandeln.6 Die Zustimmung zu den Abkommen will sie im Notfall mit der Streichung von Entwicklungshilfegeldern durchsetzen. Zudem überlegt sie, jenen Staaten, die zwar über die EPAs verhandeln, allerdings noch keines abgeschlossen haben, den Zugang zum EU-Markt zu verwehren. Zuletzt gab es Meldungen über einen Kompromiss zwischen der EU und den westafrikanischen Staaten, während sich eine Einigung mit den ostafrikanischen Staaten noch nicht abzeichnet. Das Economic Justice Network kritisierte diesen Kompromiss als „unbegreiflich“, weil seine Umsetzung enorme Steuerausfälle und den Verlust von Jobs zur Folge hätte.7 Überdies dürfte der Umstand, dass die EU mit einzelnen Staaten anstatt mit Staatengruppen in Afrika und den pazifischen Staaten verhandelt, diese mächtig unter Druck setzen. Denn die EU ist so in der Lage, ihre weit höhere Ausstattung mit Geld, Kompetenz und Personal voll auszuspielen – und damit regionale Integrationsprozesse zu torpedieren.

Ablassé Ouédraogo, der ehemalige stellvertretende Generaldirektor der WTO, fasst den Stand und die Problematik der EPA-Verhandlungen wie folgt zusammen: „Nach sieben Jahren vergeblicher Diskussionen versucht Europa nun, die EPAs mit Zwang statt Dialog durchzusetzen. Wenn die Abkommen in ihrer derzeitigen Form endgültig in Kraft treten würden, würden sie den AKP-Staaten die wichtigsten politischen Instrumente, die sie für ihre Entwicklung benötigten, verwehren.“ 8

Knackpunkt Ausfuhrsteuern

Insbesondere die Ausfuhrsteuern sind ein Knackpunkt bei den Verhandlungen zwischen der EU und den AKP-Staaten. Für viele Staaten des globalen Südens sind Ausfuhrsteuern ein wichtiges wirtschafts- und entwicklungspolitisches Instrument. Die Erhebung von Steuern beim Export von Rohstoffen stellt zum einen eine wichtige Einnahmequelle für den Staatshaushalt dar; des Weiteren trägt sie dazu bei, dass im eigenen Land weiterverarbeitende Industriezweige entstehen können, und nicht zuletzt können Ausfuhrsteuern auch dem Ressourcen- und Umweltschutz dienen. Sie sind sicher kein Allheilmittel, aber Beispiele belegen, dass sie zur Förderung von Weiterverarbeitung und Fertigung sowie damit verbundener Dienstleistungen beitragen können – eine Voraussetzung für »Entwicklungsländer«, sich aus ihrer Rolle als Rohstofflieferant zu befreien. Mit einem EPA indes müsste die Ausfuhrsteuer drastisch gesenkt werden.9 In dem bisher einzigen unterzeichneten umfassenden EPA – das mit den karibischen Staaten – sind Ausfuhrsteuern bis auf wenige Sonderfälle verboten (ebenso in dem im Dezember 2012 unterzeichneten und im Mai 2013 in Deutschland ratifizierten Freihandelsabkommen der EU mit Kolumbien und Peru). Auch das Interim-EPA beispielsweise mit Kamerun erlaubt Exportsteuern nur im Falle massiver Störungen der Staatsfinanzen und zum Zweck des Umweltschutzes, nicht jedoch zum Schutz von lokaler Produktion oder zur Erhöhung von Staatseinnahmen.10

Dabei verstoßen Ausfuhrsteuern keineswegs gegen WTO-Regeln, und auch völkerrechtlich ist es der so genannten Prinzipienerklärung der Vereinten Nationen von 1970 zufolge zulässig, dass Staaten ihren Wirtschaftsraum durch protektionistische Maßnahmen schützen, dass sie Export- und Importbeschränkungen, Schutzzölle und Warenkontingentierungen einführen, sich ihre Handelspartner frei auswählen oder mitunter auf Handel ganz verzichten.11

Droht eine neokoloniale Weltordnung?

Angesichts der zu befürchtenden negativen Auswirkungen der EPAs für die Ökonomien der Länder des globalen Südens sprechen einige Autoren daher bereits von einer neokolonialen Weltordnung. Der nigerianische Ökonom Soludo etwa vergleicht die von Brüssel vorangetriebenen EPA-Verhandlungen mit der Berliner Konferenz von 1884-85, auf der die europäischen Großmächte Afrika unter sich aufteilten12 – im Nachhinein vielleicht das Symbol des historischen Kolonialismus schlechthin.

Doch sind es nicht vielmehr die normalen Funktionsprinzipien des kapitalistischen Weltsystems, die im Süden der Wahrnehmung einer neokolonialistischen Weltordnung Vorschub leisten? Zu diesem Schluss kommt der Politikwissenschaftler Aram Ziai: „Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die betreffenden Phänomene oft nichts weiter sind als die »ganz normalen« Auswüchse der aus einem globalisierten Kapitalismus und Staatensystem bestehenden Weltordnung.“ Die legitime marktwirtschaftliche und liberaldemokratische Normalität der einen sei somit der Neokolonialismus der anderen.13 Demzufolge handelt es sich um eine Wahl der Perspektive: Der privilegierte Norden nennt es – affirmativ – »liberale Marktwirtschaft« oder kritisch einen »Auswuchs des globalisierten Kapitalismus«, der unterprivilegierte Süden »Neokolonialismus«.

In letzterem Fall würde der Begriff Kolonialismus dann freilich sehr weit angewandt, nämlich auf beinahe alle Formen asymmetrischer Beziehungen. Die Spezifik des Begriffs – gerade in Abgrenzung zur historischen Epoche des Kolonialismus – ginge verloren, weil zentrale Merkmale des klassischen Kolonialismus, wie die direkte staatliche Beherrschung eines anderen Landes und das Überlegenheitsgefühl gegenüber »Andersartigen«, gegenwärtig fehlen. Vielleicht wäre daher heute besser von einem »Kolonialismus auf Samtpfoten« zu sprechen. Eines jedoch steht fest: Eine Jahrhunderte überdauernde Kontinuität lässt sich unbestritten ausmachen: der Versuch der Europäer (und anderer industrialisierter Staaten), sich die Ressourcen und Reichtümer fremder Länder und Meere14 anzueignen.

Der europäische Rohstoffraub

Vor dem Hintergrund der knapper und damit teurer werdenden Rohstoffe und der aufstrebenden Konkurrenz aus Indien, China, Brasilien und Russland, die ebenfalls Anspruch auf begehrte Bodenschätze erheben, bemüht sich die EU darum, den in ihnen beheimateten Großkonzernen eine gute Geschäftsgrundlage, sprich: unbegrenzten und billigen Zugang zu Rohstoffen, zu sichern. Viele der Ressourcen befinden sich in Afrika – aufgrund des europäischen Imperialismus einer der wirtschaftlich am wenigsten entwickelten Kontinente der Welt. Die Handelspolitik der EU ist dabei eingebettet in die so genannte Global-Europe- und Lissabon-Strategie der EU-Kommission. Diese verfolgt das Ziel, aus Europa den „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt“ 15 zu machen. Im Jahr 2010 wurde diese Strategie in das Konzept Europa 2010 überführt.

Im Kontext der Global-Europe-Strategie ist auch die 2008 vorgestellte »Rohstoffinitiative« der EU zu verorten, deren vorrangiges Ziel die „faire und nachhaltige Versorgung mit Rohstoffen aus globalen Märkten“ 16 ist. Das Wörtchen »fair« kann dabei unter postkolonialer Rhetorik verbucht werden, entscheidend ist der Anspruch der EU auf Befriedigung des kapitalistischen Wachstumszwangs, der ohne den permanenten Nachschub an Rohstoffen nicht möglich ist. Ungeachtet der kolonialen Vergangenheit Europas wird hier gleichsam die Ausübung neokolonialer Praktiken eingefordert. Neokolonial deshalb, weil die Rohstofflieferanten im Unterschied zur klassischen Epoche des Kolonialismus formal souverän sind und die neokolonialen Praktiken in der Regel in einem rechtlichen Rahmen, sei es innerhalb der WTO oder besagter Freihandelsabkommen, erfolgen – und das mit Unterstützung moderner bürgerlicher Klassen in den Ländern des globalen Südens.

Die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) medico international und Attac kritisieren die EU-Rohstoffinitiative daher auch als »Rohstoffraub«. Der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen verpflichtet, so die Kritik, nehme die Rohstoffinitiative der EU billigend in Kauf, dass den armen Ländern ihr natürlicher Reichtum entwendet werde. Zwar handelt es sich in Abgrenzung zum klassischen Kolonialismus nicht primär um gewaltsam erzwungenen Raub bzw. um die Öffnung von Märkten mit Kanonen. Die Anwendung von kriegerischen Mitteln ist jedoch auch nicht ausgeschlossen. Ein Blick in die verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundesrepublik vom Mai 2011 zeigt, dass kriegerische Gewalt zur Aufrechterhaltung des Zugangs Deutschlands und Europas zu Rohstoffen erneut als Aufgabe definiert wird.

Doch gegenwärtig üben die Staaten des globalen Nordens in erster Linie strukturelle Macht aus – etwa über die Wirtschaftspartnerschafts- oder Freihandelsabkommen. Was das aber für die Lohnabhängigen, Kleinbauern und informell Beschäftigten der betroffenen Länder bedeutet, zeigt ein Blick in die jüngste Vergangenheit: Eine Studie der britischen NGO »War on Want« zufolge haben Millionen Menschen in Afrika und Lateinamerika im Zuge der vom Internationalen Währungsfond und der Weltbank durchgesetzten Liberalisierungen mittels der berüchtigten Strukturanpassungsprogramme ihren Job verloren und sind in (extreme) Armut abgerutscht.17 Ähnliche Konsequenzen befürchten die NGOs Oxfam und WEED auch für die Zukunft. Die EU-Strategie führe im schlimmsten Fall zu einem Ressourcenraub, „der Teil eines neuen Kampfes um Afrika und andere Regionen ist und der Entwicklungsländer in eine neue Spirale der Armut treiben wird“.18

Was sind die Alternativen?

Was aber sind die Alternativen? Aus Sicht der »Entwicklungsländer« ist ein wesentliches Element die Beibehaltung bzw. Einführung einer so genannten protektionistischen Politik. So plädiert Timothy Kondo mit Blick auf Südafrika für eine solche, „bis die technische, institutionelle und wissensbasierte Kluft zwischen den Entwicklungsländern und den industrialisierten Ländern geschlossen ist“.19

Protektionismus ist nämlich mitnichten Teufelszeug, wie die gegenwärtigen Verfechter des Freihandels immer wieder behaupten. Im Gegenteil: Heute führende kapitalistische Länder wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder die USA und jüngst auch südostasiatische Staaten haben ihre im Entstehen befindlichen Industriezweige einst selbst mit Importkontrollen und Schutzzöllen vor der Weltmarktkonkurrenz geschützt. Protektionismus war oftmals sogar die Voraussetzung für Industrialisierung und wirtschaftliche »Entwicklung«, wie der südkoreanische Wirtschaftswissenschaftler Ha-Joon Chang in seinem Buch »Bad Samaritans«20 zeigt. England etwa habe 150 Jahre lang auf Protektionismus gesetzt, bevor es zum Freihandel überging. Chang fasst dieses Phänomen mit dem auf Friedrich List zurückgehenden Ausdruck „kicking away the ladder“ zusammen: Das Mittel Protektionismus, mit dem die »Erste Welt« ihren ökonomischen Aufstieg geschafft hat, wird den anderen vorenthalten und stattdessen ein freier Markt, Deregulierung und Liberalisierung gepredigt und durchgesetzt.

Auch heute noch betreiben führende kapitalistische Staaten, wie die USA oder die Mitglieder der EU, still und heimlich in bestimmten Sektoren eine subventionsprotektionistische Politik. Das Musterbeispiel dafür ist der Agrarbereich, den sie durch milliardenschwere Hilfen vor der Konkurrenz aus anderen Staaten schützen.

Wann protektionistische Maßnahmen eingesetzt werden, um bestimmte Wirtschaftsbereiche zu schützen, und wann nicht, hängt dabei von der Stärke der einzelnen wirtschaftlichen Sektoren ab. Solange bestimmte Konzerne und Industriezweige nicht reif für den rauen Weltmarkt sind, werden sie geschützt. Sobald sie indes den globalen Wettbewerbsbedingungen standhalten und Konkurrenten ausschalten können, wird Freihandel gepredigt und praktiziert. Das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie spricht daher von einer im real existierenden Freihandel allenthalben waltenden Doppelmoral:21 Der globale Norden verordne dem globalen Süden offene Märkte, sei aber selbst noch weit davon entfernt, seine eigenen Märkte zu öffnen. Der Politikwissenschaftler Jeremy Leaman hält die Forderung nach Freihandel für einen Ausdruck der Stärke der »Ersten Welt«. „Rhetorisch wirbt man für die Akzeptanz des Freihandels, indem man nach Ricardo den eigenen Vorteil als einen Gewinn für alle Beteiligten verabsolutiert – wohl wissend, dass die Vorteile bestenfalls asymmetrisch verteilt sein werden.“ 22

Kurz: Beim Freihandel geht es im Kern um die Absicherung von Macht und Herrschaft und um ein Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnis, das den entwickelten kapitalistischen Staaten und ihren global operierenden Konzernen weiterhin Absatzmärkte und Profite sichern soll. Hinter der Verteufelung des Protektionismus verbirgt sich letztendlich vor allem die Furcht der herrschenden Klasse, in ihrer ökonomischen und politischen Machtstellung angegriffen zu werden. Dass für die Repräsentanten der Nordhalbkugel die sozialen Folgen ihrer Politik auf der Südhalbkugel zweitrangig sind, zeigt ein Zitat Vital Moreiras, des Vorsitzenden des EU-Ausschusses für internationalen Handel. Auf die Kritik von »Dritte-Welt-Gruppen«, die ihn auf die Gefahren des Freihandels für indische Kleinbauern aufmerksam machten, erwiderte er: „Ich repräsentiere die Interessen der Europäischen Union, der Wirtschaft, der Konsumenten, der Beschäftigten. […] Die wirtschaftlichen und sozialen Interessen Indiens sollten von Ihrer Regierung wahrgenommen werden.“ 23

Dennoch: Bei der Suche nach Alternativen zum Freihandel allein auf Protektionismus zu setzen, würde der komplexen Realität des globalen Marktes nicht gerecht; die Diskussion um Freihandel versus Protektionismus ist zu grob und zu eng gesteckt. Vielmehr müssten protektionistische Maßnahmen mit einer Importsubstitution verbunden werden, denn tatsächlich, so betont etwa der Professor für politische Ökonomie an der London School of Economics, Robert Hunter Wade, liege „die zentrale Herausforderung für die nationale Entwicklungspolitik nämlich darin, durch die entsprechende Kombination des Prinzips des komparativen Vorteils mit dem Prinzip der Importsubstitution eine Höherentwicklung und Erweiterung der nationalen Produktion zu erreichen“.24 Das müsse nicht unbedingt mit Protektion einhergehen. Strategisches Wirtschaften verlange Freihandel oder Protektion oder Subventionen oder eine Kombination von alledem, je nach den Umständen und dem Industrialisierungsniveau eines Landes.

Darüber hinaus sollte sich die Diskussion um Alternativen noch mit einer weiteren Frage auseinandersetzen, nämlich der, wie die Nord-Süd-Beziehungen zukünftig insgesamt gerechter gestaltet werden könnten, wie etwa ein „alternatives de-globalisiertes System der Global Governance“ (Walden Bello) aufzubauen wäre.25 Folgende Prinzipien und Fragen wären hier zu nennen: fairer Handel, Binnen- statt Exportorientierung, Re-Regulierung der internationalen Finanz- und Warenmärkte, Demokratisierung von Investitionsentscheidungen, Subsidiaritätsprinzip in der Ökonomie und Streichung der Schulden für die Länder des globalen Südens. Schließlich muss auch die Frage aufgeworfen werden, wie insbesondere (aber nicht nur) die schlimmsten, an die Ära des Kolonialismus erinnernden Auswüchse des globalisierten Kapitalismus überwunden werden können – das indes wäre ein Kapitel für sich.

Anmerkungen

1) Structural Adjustment Participatory Review International Network (SAPRIN) (2002): The Policy Roots of Economic Crisis and Poverty. A Multi-Country Participatory Assessment of Structural Adjustment. Washington D.C.

2) Tobias Reichert: Die WTO übt sich in neuer Balance. Überraschungspaket aus Bali. Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, 11-12/2013. Francisco Mari: Die WTO der Konzerne ist zurück. Brot für die Welt online, 9.12.2013.

3) Mark Curtis (2010): Die neue Jagd nach Ressourcen: Wie die EU-Handels- und Rohstoffpolitik Entwicklung bedroht. Berlin: Oxfam e.V. und WEED e.V..

4) Annette Groth und Theo Kneifel (2007): Europa plündert Afrika. Der EU-Freihandel und die EPAs. Hamburg. VSA, AttacBasisText 24, S.62.

5) Timothy Kondo (2012): Alternatives to the EU’s EPAs in Southern Africa. The case against EPAs and thoughts on an alternative trade mandate for EU policy. Hrsg. von Comlámh, AITEC and WEED, Dublin: Comhlámh.

6) Patrick Jaramogi: EU sets deadline for October. New Vision, 3.3.2014.

7) EE seals free trade deal with West Africa. euractiv.com, 5.2.2014. EJN cautions ECOWAS over EPA. SpyGhana. com, 6.2.2014.

8) Zit. nach Curtis, a.a.O., S.13.

9) Ebd., S.5.

10) Ebd., S.25.

11) Vgl. Norman Paech und Gerhard Stuby (2013): Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen. Hamburg: VSA, aktualisierte Ausgabe, S.731.

12) Chukwuma Charles Soludo: From Berlin to Brussels. Will Europe Underdevelop Africa Again? ThisDayLive, 19.3.2012.

13) Aram Ziai: Neokoloniale Weltordnung? Brüche und Kontinuitäten seit der Dekolonisation. Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 44-45/2012, S.23-30.

14) Jean-Sébastien Mora: Europas Raubzüge zur See. Le Monde diplomatique, 11.1.2013, S.1.

15) Europäischer Rat: Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 23. und 24. März 2000, Lissabon.

16) Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Umsetzung der Rohstoffinitiative. Brüssel 2013, S.6.

17) War on Want (ed.) (2009): Trading Away Our Jobs. How free trade threatens employment around the world. London.

18) Curtis, a.a.O., S.4.

19) Kondo, a.a.O., S.9.

20) Ha-Joon Chang (2008): Bad Samaritans. The guilty secrets of rich nations & the threat to global prosperity. London: Cornerstone Digital.

21) Wuppertal Institut (Hrsg.) (2005): Fair Future. Begrenzte Ressourcen und globale Gerechtigkeit, Lizenzausgabe, Bonn, S.207 (Original erschienen in München: C.H. Beck).

22) Jeremy Leaman: Hegemonialer Merkantilismus. Die ökonomische Doppelmoral der Europäischen Union. Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2/2008, S.76-90, hier S.77.

23) Zit. nach Dominik Müller: Die Handelsinvasoren kommen, Eine Geschichte aus Indien von Gewinnern und Verlierern. Deutschlandradio, 19.3.2013, S.21.

24) Robert Hunter Wade: Welche Strategien bleiben den Entwicklungsländern heute? Die Welthandelsorganisation und der schrumpfende »Entwicklungsraum«, In: Ahalini Randeria und Andreas Eckert (2009): Vom Imperialismus zum Empire. Nicht-westliche Perspektiven auf Globalisierung. Frankfurt a.M.:, Suhrkamp, S.260.

25) Walden Bello (2005): De-Globalisierung. Widerstand gegen die neue Weltordnung. Hamburg: VSA Verlag. Vgl.: Alternativen zur Tyrannei der neoliberalen Globalisierung. Manifest von Porto Alegre vom 29.1.2005 (Wortlaut). Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 5/2005, S.382-384.

Der vorliegende Artikel ist eine leicht gekürzte und aktualisierte Fassung aus:
Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2013, S. 59-66.

Guido Speckmann ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er lebt in Hamburg und Berlin.

„Wer betrügt, der fliegt“

„Wer betrügt, der fliegt“

von Jürgen Nieth

Seit Franz-Josef Strauß ist das Dreikönigstreffen der CSU in Wildbad Kreuth bekannt für markige, oft nationalistische, die Stammtischdebatten befeuernde Sprüche. So auch in diesem Jahr: Es geht gegen die »uneingeschränkte Freizügigkeit« bei der Arbeitsplatzwahl für Bulgaren und Rumänen seit dem 1. Januar. „Wer betrügt, der fliegt“, heißt es schon vor dem Kreuther Treffen, von einem drohenden fortgesetzten „Missbrauch der europäischen Freizügigkeit durch Armutseinwanderung“ wird gesprochen (Zeit, 02.01.14). In der Bild-Zeitung (03.01.14) ergänzt der Chef des Auswärtigen Ausschusses des EU-Parlaments, der CDU-Abgeordnete Elmar Brock: „Zuwanderer, die nur wegen Hartz IV, Kindergeld und Krankenversicherung nach Deutschland kommen, müssen schnell zurück in ihre Heimatländer geschickt werden. Um Mehrfacheinreisen zu verhindern, sollte man darüber nachdenken, Fingerabdrücke zu nehmen.“ Und FDP-Chef Lindner sekundiert, man müsse „ergänzend zur Integration diejenigen abschieben, die weder integrationswillig noch -fähig“ seien (Die Welt 12.0114).

Begleitet wird die Kampagne durch eine Berichterstattung über Städte, wie Duisburg, Dortmund und Berlin, in denen sich »unqualifizierte« Zuwanderer konzentrieren. Dazu Heinz Buschkowsky, SPD-Bürgermeister in Berlin-Neukölln in der Bild-Zeitung (07.01.14): „Bei uns leben inzwischen rund 10.000 Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien – überwiegend Menschen aus der Volksgruppe der Roma. Leider sind sie oft ohne berufliche Qualifikation und bildungsfern bis zum Analphabetismus. Sie haben so gut wie keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Deswegen ist eine Hartz-IV-Quote von knapp unter 40 Prozent bei den offiziell Gemeldeten nicht verwunderlich.“

Angst vor »Armutsflüchtlingen«

Die Angstkampagne vor so genannten Armutsflüchtlingen zeigt Wirkung. Bild am Sonntag berichtet über eine von ihr in Auftrag gegebene Umfrage des Kölner Meinungsforschungsinstituts YouGov. Danach „sprechen sich 80 Prozent der Befragten dagegen aus, dass Zuwanderer bei sozialen und familienpolitischen Leistungen sofort mit Deutschen gleichgestellt werden […] 71 Prozent unterstützen die Forderung, dass Leistungen wie das Kindergeld an Zuwanderer erst nach einer Wartezeit von mindestens einem halben Jahr gezahlt werden […] jeder zweite Deutsche [ist] besorgt über Zuwanderer aus Osteuropa.“ (BAMS 05.01.14)

Gegenwind

Angesichts solcher Umfragen mag es überraschen, dass alle (durchgesehenen) Tageszeitungen die CSU-Kampagne kritisieren. Einige der Überschriften: „Wider den Populismus“ (Handelsblatt 06.01.14), „Armutszuwanderung klingt pervers“ (BAMS 05.01.14), „Einwanderer? Ein Segen“ (Welt am Sonntag 05.01.14), „Unwürdiger Debattenstil“ (Stuttgarter Zeitung 04.01.14).

Weniger überraschend ist die Argumentation. Einerseits wird registriert, dass die ganz große Mehrheit zu uns kommt, um zu arbeiten, dementsprechend niedrig sind die Arbeitslosenzahlen. „Im November waren in Deutschland 15.000 Rumänen und Bulgaren arbeitslos […] Für die beiden Nationalitäten beträgt die Quote nur 7,4 Prozent, […] niedriger als jene der Gesamtbevölkerung (7,7 Prozent).“ (Süddeutsche Zeitung 04.01.14)

Häufig wird darauf hingewiesen, dass wir Fachkräfte brauchen. „Viele deutsche Krankenhäuser und Altersheime […] wären ohne Ärzte und Pfleger aus Osteuropa und dem Rest der Welt schon jetzt längst zusammengebrochen.“ (taz 03.01.14) Es geht „uns erstaunlich gut, nicht zuletzt dank Hunderttausender qualifizierter Einwanderer aus EU-Mitgliedsländern, die mehr als manch eingeborene Bundesbürger täglich damit befasst sind, das Bruttosozialprodukt zu steigern“ (Welt am Sonntag 12.01.14). Der Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Rainer Lindner, im Handelsblatt (06.01.14): „[…] ein Zugang von qualifizierten Fachkräften in allen Bereichen des Wirtschaftslebens, nicht zuletzt in der Bauwirtschaft oder im Dienstleistungsgewerbe, [wird] Vorteile mit sich bringen“.

Die Zuwanderer „finanzieren unter anderem das teure deutsche Rentensystem mit, haben aber selbst […] wenig von der Alterssicherung zu erwarten […] Gesamtwirtschaftlich sind die Zuwanderer so ein Zugewinn. Auch weil ihre Ausbildung – 65 Prozent von ihnen haben mindestens eine Berufsausbildung absolviert – nicht von den deutschen, sondern rumänischen und bulgarischen Steuerzahlern finanziert wurde.“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 05.01.14)

Feindbild Roma

Der alltägliche Rassismus, den die CSU mit dieser Kampagne befördert, wird dagegen seltener aufgegriffen. Wer „prophezeit, mit der vollen Freizügigkeit […] drohe ‚fortgesetzter Missbrauch […] durch Armutseinwanderung’, will in Wirklichkeit sagen: Roma wollen wir hier nicht. Das ist der in unsichtbarer Tinte geschriebene Untertitel der Debatte.“ (Die Zeit 02.01.14) Der Freitag (09.01.14) zitiert den Ex-Vorsitzenden des Sachverständigenrates der Stiftung für Integration und Migration, Klaus Bade: Mit der „Schmähformel […] ‚Wer betrügt, fliegt’ […] versucht die CSU die NPD rechts zu überholen, die mit Wahlslogans wie ‚Geld für die Oma, nicht für Sinti und Roma’ wirbt. Beides ist Kulturrassismus pur […] und ]stellt] die denunziativen ‚Ausländerdiskussionen’ zu Wahlkampfzeiten in früheren Jahrzehnten in den Schatten.“

Die FAZ (03.01.14) stellt den Zusammenhang zwischen den Wahlen zum EU-Parlament sowie den Kommunalwahlen in Bayern und der Kampagne her. Angesichts der AfD gehöre es zum Selbstverständnis der CSU, „rechts von sich keine Konkurrenz entstehen lassen“ zu wollen.

Wie weiter?

„Deutschland […] ist angewiesen auf den Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte, soll seine Wirtschaft weiterhin eine führende Rolle in der Welt spielen […] Deshalb birgt die Debatte über ‚Armutszuwanderung’ erhebliche Gefahr“, warnt die FAZ (04.01.14) Doch die Debatte ist nicht vom Tisch. Die große Koalition hat einen Staatssekretärsausschuss eingesetzt, der sich des Themas annehmen soll. Dazu der Vorsitzende des Innenausschusses, Wolfgang Bosbach (CDU): „Die Arbeitsgruppe sollte praxistaugliche Vorschläge erarbeiten, die sicherstellen, dass aus der Freizügigkeit für Arbeitnehmer der EU keine Freizügigkeit bei der Zuwanderung in unsere Sozialsysteme wird.“ (Freitag 09.01.14)

Das erinnert an die Debatte um die Maut: Ja zum EU-Recht – aber nur so lange, wie es uns nutzt. Die CSU wird’s freuen.

Jürgen Nieth

Griechenland: Krise und Streik

Griechenland: Krise und Streik

von Mario Becksteiner

Seit 2008 ist Griechenland ein gesellschaftliches Laboratorium für die Herausbildung von Protesten unter den Bedingungen eines krisenhaften Neoliberalismus. Zugleich ist das Land auch Versuchsanstalt eines zunehmend autoritärer agierenden Regimes neoliberaler Krisenpolitik, wie im folgenden Artikel beschrieben wird.

Die Situation in Griechenland ist nicht zu dechiffrieren als eine entweder ökonomische oder politische Krise, sie nähert sich vielmehr dem an, was der marxistische Philosoph Nicos Poulantzas als eine „dysfunktionale Krise“ beschreibt. Im Gegensatz zu rein ökonomischen Krisen, die für die kapitalistische Akkumulationsdynamik oft funktional sind, da sie zyklisch deren Widersprüche bereinigen, weist in Griechenland vieles in eine andere Richtung. Für Poulantzas können ökonomische Krisen zu systemischen Krisen werden, wenn sie sich ausbreiten und die Krisendynamiken sowohl die politische als auch die staatliche Ebene im engeren Sinne umfassen.1 Für das Krisenverständnis von Poulantzas ist ausschlaggebend, dass eine Krise stark an die Entwicklung der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen gekoppelt ist. Dysfunktionale Krisen zeichnen sich durch das Entstehen neuer Akteurskonstellationen aus, die eine veränderte Strukturierung der Kampfzonen mit sich bringen.

Das, was wir in Griechenland erleben, ist nicht nur ein griechisches Phänomen. In Europa sind mehrere Länder in einen Zyklus sozialer Kämpfe geraten, die grundlegende und sinnstiftende Institutionen unserer Gesellschaft, wie Ökonomie, Ideologie oder Politik, in den Sog der Auseinandersetzungen ziehen. Griechenland ist ein Extremfall, dementsprechend entstehen in den sozialen Auseinandersetzungen am deutlichsten neue Praxen und Akteurskonstellationen.

Diese Veränderungen spiegeln sich auch in der Konfliktzone Arbeit wider. So richtig die Feststellung ist, dass Gewerkschaften in diesem neuen Zyklus mit ihren bisherigen Kampfformen offensichtlich an eine Grenze stoßen, so falsch wäre es, diese Feststellung einfach so im Raum stehen zu lassen. In den sozialen Kämpfen findet vielmehr eine Wiederaneignung und Transformation der Bedeutung und der Praxis gewerkschaftlicher Kämpfe und des Streiks statt, die für die kommenden sozialen Auseinandersetzungen des frühen 21. Jahrhunderts prägend sein könnten.

Im Folgenden werde ich diese Transformation am Beispiel der Industriellen Beziehungen in Griechenland darstellen.

»Metapolifesti«

Griechenland hat auch für südeuropäische Verhältnisse mit 38 Generalstreiks seit 1980 eine enorm hohe Streikdichte. Diese Streiks mit stark politischem Charakter sind Teil der Industriellen Beziehungen Griechenlands. Sie haben ihren historischen Ursprung in der Strukturiertheit der Verhältnisse zwischen Kapital, Arbeit und Staat.

Der Übergang von einem diktatorischen System zu einer bürgerlichen Demokratie ab 1974 war in Griechenland geprägt von einem Elitenkonsens, der die Übergabe der politischen Macht an ein bürgerlich-demokratisches System beinhaltete, ohne an der kapitalistischen Grundausrichtung etwas zu ändern. Politisch dominierten zwei große »Volksparteien«: die sozialdemokratisch ausgerichtete PASOK und die konservative ND.2 Sie waren die bestimmenden Parteien und entwickelten eine starke Verzahnung mit den Gewerkschaften. Diese Konstellation, »Metapolifesti« genannt, zeichnete sich aus Sicht der Industriellen Beziehungen durch drei herausragende Komponenten aus:

1. Es entstand eine ausgeprägte parteistaatliche Kultur des Klientelismus, vermittelt über Steuerpolitik, Versorgung der Parteiangehörigen im Staatsdienst und die enge Verzahnung der Parteien mit der Ökonomie.

2. In den beiden großen gewerkschaftlichen Dachverbänden GSEE (Privatsektor) und ADEDY (Öffentlicher Sektor) sind die beiden PASOK- und ND-nahen Fraktionen tonangebend. Noch 2010 erreichten sie bei Gewerkschaftswahlen 48,2% (PASOK) bzw. 24,7% (ND).

3. Die griechische Ökonomie zeichnet sich durch eine relativ geringe Kapitalkonzentration aus und ist demgemäß geprägt durch eine kleinräumige Strukturierung.

Diese drei Umstände können erklären, warum die griechischen Gewerkschaften sehr stark am Parteienstaat orientiert waren. Durch die kleinräumige Strukturierung der Ökonomie schien der Arbeitsplatz kein geeigneter Ort zu sein, um ArbeiterInnenmacht aufzubauen. Die Durchdringung der Gesellschaft durch den Parteienstaat sowie die klientelistische Politik beförderten eine starke Konzentration auf die Regulationsebene. Arbeitskämpfe, auch im Bereich der Lohnfindung, nahmen in Griechenland sehr schnell einen politischen Charakter an und konzentrierten sich auf die Aktivierung des Institutionellen Machtpotentials.3

Gewerkschaften und Staat in der Post-»Metapolifesti«

Anfang der 1990er Jahre setzte in Griechenland ein neoliberaler Transformationsprozess der Gesellschaft ein. Zudem zeigte sich, dass der klientelistische Parteienstaat anfällig war für Korruption. Alle im Parlament vertretenen Parteien, inklusive der kleinen linken Gruppierungen, unterstützten einen »Modernisierungskurs« unter dem Slogan „Ende der Metapolifesti“.4

Im Rückblick muss heute von einer Erneuerung der »Metapolifesti« auf neoliberaler ökonomischer Basis ausgegangen werden. Allerdings hält Lefteris Krestos für diese Periode fest: „Etliche politische Restrukturierungsinitiativen des letzten Jahrzehnts, wie die Reform der Sozialversicherungen und des Rentensystems sowie die Neuorganisation des Hochschulwesens, wurden durch den Widerstand einer starken sozialen Bewegung effektiv blockiert.“ 5

Die hier erwähnten sozialen Bewegungen hatten sehr unterschiedlichen Charakter. Während die Gewerkschaften – mit ihrer Konzentration auf die politische Regulationsebene – einige Verschlechterungen für ihre Klientel verhindern konnten, verliefen die Kämpfe im Bildungs- und Hochschulsystem anders: Hier etablierte sich eine andere politische Kraft, nämlich ein anarchistisch/antiautoritäres Spektrum.6

Wie Giovanopolous und Dalakoglou7 festhalten, entwickelten sich diese Kämpfe in drei Wellen: 1990-1991, 1998-2000 und 2006-2007. Hierbei war ein Trend in Richtung einer Autonomisierung zu beobachten. Zum einen entledigten sich die rebellierenden HochschülerInnen und SchülerInnen ihrer parteigebundenen Vertretungsorgane und stellen damit seither den organisatorischen Kern des anarchistisch/antiautoritären Spektrums (A/A-Spektrum). Zum anderen kristallisierten sich an den Hochschulen auch politische Aktionsformen heraus, die im Sinne der »Direkten Aktion« eine Autonomie gegenüber dem Staat entwickelten.

Trotz dieser zum Teil erfolgreichen Abwehrkämpfe kam es in Griechenland seit den 1990er Jahren zu einer Ausweitung von Zonen prekärer Arbeit, die insbesondere junge, migrantische ArbeiterInnen und solche in kleinen Unternehmen betrafen.8

Als Ergebnis konnte in der ersten Welle neoliberaler Reformen somit die Ausdehnung der prekären Zone beobachtet werden. Seit 2004 versuchten einige Arbeitgeberverbände zudem verstärkt, die branchen- und flächenorientierten Tariffindungsprozesse unter Beschuss zu nehmen.

Die Krise als Rammbock und eine neue Staatlichkeit

Neben den fiskalpolitischen Strategien steht seit dem Durchschlagen der Krise 2009 insbesondere die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Ökonomie im Fokus. Und es ist kein Wunder, dass dabei die lang gehegten Wünsche des griechischen Kapitals nach einer Zerschlagung der Tariffindungsprozesse auf nationaler und Branchenebene ganz oben rangieren.

Diese Angriffe auf Gewerkschafts- und ArbeiterInnenrechte verliefen seit 2010 in drei Phasen.9

1. Die Phase von Mai bis Dezember 2010 konzentrierte sich vornehmlich auf die Veränderung des individuellen Arbeitsrechtes. Dies war eine Vorbereitung für die Restrukturierung des institutionellen Settings. Neben der Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen wurde vonseiten der Regierung auch Druck auf die Lohnentwicklung ausgeübt.

2. Mit dem Gesetz 3899/2010 wurde ab Dezember 2010 die zweite Phase eingeleitet. Im Zentrum standen die Veränderung der Prozesse kollektiver Lohnverhandlungen, insbesondere die Aushebelung der branchenweiten Verhandlungen und der Schlichtungsprozesse. In dieser Phase kamen die Angriffe ins Stocken, da sie geprägt war vom Auftauchen einer neuen Konstellation in den sozialen Kämpfen.

3. Mit dem Gesetz 4024/2011 im Oktober 2011 begann die dritte Phase, die eine weitere Dezentralisierung der Lohnverhandlungen auf der Agenda hatte und endgültig die Aushebelung der tariflichen Fläche mit sich brachte.

Gewerkschaften und der Staat

Seit dem Beginn der Troika-Politik10 gibt es für ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften einen Schub an Verschlechterungen. Es drängt sich natürlich die Frage auf, weshalb diese trotz der oft spektakulären Streiks durchgesetzt werden konnten.

In Bezug auf die Abwehrkämpfe der Gewerkschaften kann festgestellt werden, dass ihr Institutionelles Machtpotential erodiert.

Der griechische Staat wurde durch die Europäisierung und Internationalisierung seiner Krise transformiert. Er wurde eingebettet in ein transnationales Krisenregime, das sich durch Multiskalarität auszeichnet. Dies macht es für subalterne Klassen in Griechenland schwieriger, ihre „Klassenpraxis“ (Poulantzas) in den Staat einzuschreiben.

Wenn man der Definition von Poulantzas folgt und den Staat als ein „verdichtetes Kräfteverhältnis“ begreift, so kann man11 festhalten, dass Staatlichkeit heute nicht mehr nur im Rahmen des Nationalstaates gedacht werden kann, sondern dass es mehrere Verdichtungsebenen der Kräfteverhältnisse gibt. Brand/Görg benennen dies als „Verdichtungsebenen zweiter Ordnung“, welche neue transnationale Arenen eröffnen.

Dies ist meines Erachtens der wichtigste Moment, um die Schwäche der noch immer stark am Staat ausgerichteten Gewerkschaften zu verstehen. Diese Aushebelung durch die Reskalierung des griechischen Staates wird besonders deutlich seit der zweiten Phase der Restrukturierungen ab 2009.

Im Vorfeld dieser Phase entwickelten die Klassenkämpfe in Griechenland eine neue Dynamik; es kam zu Streiks, die beinahe ausschließlich von der KKE, der SYRIZA12 und den linksradikalen und anarchosyndikalistischen Basisgewerkschaften getragen wurden. Obwohl oft nur symbolisch, waren diese stärker geprägt durch Formen der »Direkten Aktion« und die Mobilisierung ohne die großen Gewerkschaftsdachverbände, was auf einen zumindest partiellen Bruch relevanter Teile der ArbeiterInnenschaft mit den traditionellen Gewerkschaften und deren Staatsorientierung schließen lässt.

Am 25. Mai 2011 entstand eine neue Konstellation in den Protesten, die den Bruch mit dem politischen System noch einmal vertiefte. Hunderttausende strömten auf die Plätze der Städte und besetzten diese unter dem Slogan: „Wie spät ist es? Höchste Zeit, dass sie [die politischen Eliten; Anm. d. Verf.] alle verschwinden!“ Damit verbreiterte sich nicht nur der Bruch mit dem politischen System, es kam überdies zu einem weit verbreiteten Experiment: die Besetzungen basisdemokratisch zu organisieren. Dies ist ein Strukturmerkmal von vielen Protesten der letzten Jahre, ein Legitimationsproblem der politischen Systeme und das Experiment einer demokratischen Selbstorganisation.

Die Reaktion des Staates zeigte, dass diese Form des Protests eine ernsthafte Bedrohung der politischen Ordnung darstellte. Das, was Poulantzas für eine dysfunktionale Krise als charakteristisch bezeichnet, nämlich das Entstehen neuer politischer Konstellationen, die offen zu Tage treten, paralysierte die Handlungsfähigkeit des politischen Systems für einige Zeit.

Dies führte zu einer tiefen Krise der Regierung Papandreou, zu Turbulenzen und schließlich zu einer provisorischen Regierung, bestehend aus PASOK, ND und der rechtsextremen LAOS-Partei.13 Die Schwäche des innenpolitischen Systems gegenüber den Protesten konnte nur aufgefangen werden, indem der Ball, einem Doppelpass gleich, auf die europäische Ebene gespielt wurde. Schwächelt der nationale Rahmen, wird die „Verdichtungsebene zweiter Ordnung“, im konkreten Fall hier die Troika, aktiv. Die seit Oktober 2011 zur Umsetzung kommenden Angriffe im Bereich des Arbeitsgesetzes und all die anderen Maßnahmen wären lediglich über die nationale Politik vermittelt nicht durchsetzbar gewesen.

Meines Erachtens ist dies der Beginn einer neuen politischen und staatlichen Konstellation, die sich dauerhaft durch ihre Krisenhaftigkeit auszeichnen wird. Der Grund hierfür liegt darin, dass in den Protesten die »Metapolifesti« von unten aufgekündigt wird, denn, wie es ein Artikel auf der Internetplattform Indymedia auf den Punkt brachte, viele Menschen haben „aufgehört, in den Kategorien des Systems zu denken“.14

Perspektiven

Die Praxis und Bedeutung des Streiks verändern sich zusehends. Der Bruch breiter Teile der Bevölkerung mit dem Staat öffnet die Streikbewegungen für autonome Taktiken und Strategien. Gleichzeitig erodiert das Institutionelle Machtpotential der großen Gewerkschaften aufgrund des Transformationsprozesses des Staates. Eine These wäre demnach: Die Auseinandersetzungen werden zusehends härter werden. Das kann auch für andere Länder gelten, die sich im transnationalen Krisenregime befinden.

Gleichzeitig dehnen sich in Griechenland Zonen prekärer Beschäftigung aus, was auch in anderen Krisenländern vermehrt zu beobachten ist. In diesen Zonen entstanden in den letzten Jahren 25 neue Basisgewerkschaften, die dem A/A-Spektrum nahe stehen und stark auf die Organisierung der prekären ArbeiterInnen setzen. Dies ist noch kein mehrheitsfähiger Trend in den Klassenkämpfen Griechenlands, doch zeichnet sich darin eine Tendenz ab, die in Europa schulbildend werden könnte, nämlich die primäre Konzentration auf die Organisierung der ArbeiterInnen sowie deren Konfliktfähigkeit und erst danach die Organisierung der Arbeit auf regulatorischer Ebene. Mit der Zerschlagung der Flächentarifstrukturen und der Verbetrieblichung der Lohnpolitik muss stärker auf die Organisationskraft in den Betrieben gesetzt werden. Auch dies ist ein Umstand, der europaweit in unterschiedlicher Intensität zu beobachten ist.

Gerade weil Griechenland eine zugespitzte Situation erlebt, treten hier die Widersprüche eines krisenhaften Neoliberalismus offen zu Tage. Das Land öffnet damit trotz seiner Besonderheiten einen Blick auf das, was europaweit an Entwicklungen in Sachen Streik anstehen könnte: „Wir sind ein Bild eurer Zukunft.“ (Spruch der Revoltierenden Prekären in Athen 2008)

Anmerkungen

1) Vgl. Thomas Sablowski (2006): Krise und Staatlichkeit bei Poulantzas. In: Lars Bretthauser et al.: Poulantzas lesen. Zur Aktualität marxistischer Staatstheorie. Hamburg: VSA.

2) PASOK = Panellinio Sosialistiko Kinima (Panhellenische Sozialistische Bewegung); ND = Nea Dimokratia (Neue Demokratie)

3) Vgl. dazu: Ulrich Brinkmann et al. (2008): Strategic Unionism. Aus der Krise zur Erneuerung – Umrisse eine Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

4) Vgl. dazu Christos Giovanopoulos and Dimitirs Dalakoglou (2010): From rupture to eruption: A genealogy of post-dictatorial revolts in Greece. In: Antonis Vradis and Dimitirs Dalakoglou (eds.):Revolt and Crisis in Greece. Between a present yet to pass and a future still to come. Oakland/Edinburgh/London/Athens: AK Press/Occupied London.

5) Krestsos, Lefteris (2011): Union responses to the rise of precarious youth employment in Greece. In. Industrial Relations Journal 42:5.

6) Vgl. dazu John Malamatinas (2011): Die Krisenproteste in Griechenland. In: Detlef Hartmann und John Malamatinas: Krisenlabor Griechenland. Finanzmärkte, Kämpfe und die Neuordnung Europas. Berlin: Assoziation A, Materialien für einen neuen Antiimperialismus Heft 9.

7) Giovanopoulos and Dimitirs Dalakoglou, op. cit.

8) Lefteris Krestos/ Markaki M. (2008): Learn to Play Judo. Union Revitalization Strategies in Southern Europe and the 700 Euro Movement. Paper presented at IWPLMS Confernce in Porto, Portugal.

9) Horen Voskeritsianand Andreas Kornelakis (2011): Institutional Change in Greek Industrial Relations in an Era of Fiscal Crisis. London School of Econimics and Political Science (LSE), GreeSE Paper No.52 – Hellenic Observatory Papers on Greece and Southeast Europe.

10) Der Troika gehören Vertreter der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission an. Das Gremium führt Verhandlungen für Reformprogramme mit Mitgliedern der Euro-Gruppe, deren Staatshaushalt das vereinbarte Defizitlimit überschreitet.

11) Vgl. Ulrich Brand und Christoph Görg (2003): Postfordistische Naturverhältnisse. Konflikte um genetische Ressourcen und die Internationalisierung des Staates. Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot.

12) KKE = Kommounistikó Kómma Elládas (Kommunistische Partei Griechenlands); SYRIZA = SYRIZA – Enotiko Kinoniko Metopo (SYRIZA – Vereinte Soziale Front).

13) LAOS = Laikós Orthódoxos Synagermós (Völkischer Orthodoxer Alarm).

14) RaGeo: Viele Menschen haben aufgehört in den Kategorien des Systems zu denken – Griechenland: Ein Interview. Indymedia, 24.9.2013.

Mario Becksteiner ist Stipendiat der Hans Böckler Stiftung und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Arbeitssubjektivität, Soziale Bewegungen und Streik.

Konflikt um Homoehe

Konflikt um Homoehe

Eine reaktionäre Massenbewegung in Frankreich

von Bernard Schmid

Im Frühjahr 2013 kam es in Frankreich zu einer Welle von Demonstrationen gegen ein Gesetz für gleichgeschlechtliche Ehen. Wochenlang hielt diese Auseinandersetzung die französische Gesellschaft in Atem.

Als der Sommer des Jahres 2013 kam, hätte man zunächst glauben können, dieses Kapitel sei nun wirklich abgeschlossen: Am 17. Mai des Jahres hatte das französische Verfassungsgericht das zuvor vom Parlament verabschiedete Gesetz zur Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare für verfassungskonform erklärt. Am 18. Mai wurde es durch die Unterschrift von Staatspräsident François Hollande in Kraft gesetzt. Die letzte große Protestdemonstration gegen das Gesetz wurde unter Beteiligung von Hunderttausenden am 26. Mai in Paris abgehalten. Am 29. Mai 2013 fand die erste Eheschließung zwischen zwei Männern im südfranzösischen Montpellier statt, wo das Rathaus durch fast 300 Beamte der Polizei und Gendarmerie gegen eventuelle Störungen abgeschirmt wurde. Am 27. August 2013 meldete »Radio France Inter« die Zahl von 596 Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Partner, weitere 1.000 Hochzeitstermine waren angemeldet worden. Und was kommen musste, kam dann auch: Am 29. Oktober wurde die erste gleichgeschlechtliche Scheidung von zwei Frauen angekündigt, die vier Monate zuvor in Toulouse eine Ehe eingegangen waren.

Die Annahme, nunmehr sei in dieser Frage in jeglicher Hinsicht »Normalität« eingetreten, erwies sich allerdings als verfrüht. Der seit November 2012 anhaltende, von religiösen, konservativen und faschistischen Kräften getragene Protest setzte sich fort. Die Führung der stärksten Oppositionspartei in Frankreich, der »Union pour un mouvement populaire« (UMP), die bereits vor dem letzten breiten Protest vom 26. Mai über ihre Teilnahme an der Demonstration gespalten war, zog sich nach diesem Termin aus den Massenprotesten ganz zurück – mit dem Argument, dass ein einmal in Kraft getretenes »Gesetz der Republik« respektiert werden müsse, da sonst die Untergrabung der Staatsautorität drohe. Doch nicht alle ihre AnhängerInnen hörten darauf und schon gar nicht die ganze Palette aus religiösen Fanatikern, das Vergnügen der (Pseudo-) Revolte frisch entdeckenden Jungrechten und jungen Bourgeois aus den »besseren Vierteln« sowie den faschistischen Aktivisten.

Ein »Märtyrer«

Ihr Protest erhielt neue Nahrung, als im Juni 2013 der damals 23-jährige Student Nicolas Bernard-Busse zu zwei Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt wurde, um ein Exempel zu statuieren. Er war zum zweiten Mal in Folge bei einer illegalen Demonstration gegen die Homo-Ehe aufgegriffen worden, hatte bei der Polizei eine Fantasieidentität angegeben und die Abgabe einer Speichelprobe für einen DNA-Test verweigert.

Dass überhaupt aufgrund solcher Delikte »wider die öffentliche Ordnung« Haft- und nicht nur Geldstrafen verhängt werden können, liegt an der »Sicherheits«gesetzgebung, die durch die damals regierende Rechte – zunächst mit Nicolas Sarkozy als Innenminister, später als Präsident – in den Jahren 2002 bis 2012 eingeführt und ausgebaut wurde. Dieselbe konservative Rechte gab sich jetzt auf heuchlerische, aber öffentlichkeitswirksame Weise empört. Der auf dem rechten Flügel der UMP angesiedelte Abgeordnete Hervé Mariton besuchte Bernard-Busse in den letzten Junitagen zusammen mit weiteren Mandatsträgern in der Haftanstalt. Mariton hatte bereits vor mehreren Jahren offen mit der extremen Rechten zusammengearbeitet und amtierte 1998/99 als Vize des mit den Stimmen der Konservativen und des Front National gewählten damaligen Regionalpräsidenten von Lyon, Charles Millon.

Die Affäre um den inhaftierten Studenten goss Benzin ins Feuer des rechten Protests. Am 30. Juni 2013 etwa zogen dessen Unterstützer in einem Autokorso mit mindestens 200 Fahrzeugen hupend und Fahnen schwenkend durch die Pariser Innenstadt. Bernard-Busse wurde einige Tage später in zweiter Instanz zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und nach knapp drei Wochen vorzeitig aus der Haft entlassen. In der am 8. August 2013 erschienenen Ausgabe des rechtskonservativen bis rechtsextremen Wochenmagazins »Valeurs actuelles« schilderte er ausgiebig, wie er als ordentlicher Bürgersohn die Wochen in Haft mit gar schrecklichen Gestalten habe zubringen müssen.

Sinnfälliges Symbol des auch danach noch anhaltenden rechten Protests war die »Tour de France« im Juli 2013, bei der das Fernsehen Etappe um Etappe die GegnerInnen der Homo-Ehe mit ihren rosaroten und blauen Fahnen zeigte.

Die extreme Rechte

Auf politischer Ebene kündigte am 26. August 2013 eine Bürgermeisterin öffentlich ihre Absicht an, sich dem neuen Gesetz zu widersetzen und die Eheschließung zwischen zwei Frauen in »ihrem« Rathaus standhaft zu verweigern. Es handelte sich um Marie-Claude Bompard, Rathauschefin im südfranzösischen Bollène, die bei der letzten Kommunalwahl im März 2008 über eine vermeintlich unpolitisch-konservative Einheitsliste gewählt wurde. Ihre politische Zuordnung zur extremen Rechten fällt jedoch nicht schwer: Ihr Ehemann Jacques Bompard ist seit 1995 Bürgermeister der Nachbarstadt Orange und gehörte von Anfang der 1970er Jahre bis zum Herbst 2005 dem Front National an; danach war er Mitglied mehrerer rechten Kleinparteien und steht heute der (zusammen mit den »Identitären« betriebenen) rechtsextremen Regionalpartei »Ligue du Sud« vor.

Als Madame Bompard für ihren offenen Gesetzesbruch ein Strafverfahren angedroht wurden, knickte sie wenige Tage später jedoch ein und ließ ihre Beisitzerin die Eheschließung vornehmen. Selbst der Vizepräsident des Front National, Florian Philippot – in Fragen der Homo-Ehe vertritt er den vergleichsweise moderaten Flügel innerhalb seiner Partei –, hatte ihr Verhalten kritisiert. Er postulierte, wenn das Gesetz nun einmal beschlossen sei, müsse man sich als Stadtoberhaupt auch daran halten. Das sehen aber beileibe nicht alle Anhänger und Parteifunktionäre des Front National so.

Tatsächlich war die mit Abstand stärkste Partei der extremen Rechten in Frankreich, der Front National, über die Demonstrationen gespalten. Die 44-jährige Parteichefin Marine Le Pen war persönlich reserviert, was eine Teilnahme betraf: Zum einen war sie überzeugt, dass es in Wirklichkeit eher „die wirtschaftlichen und sozialen Themen“ seien, die die französische Gesellschaft im Allgemeinen und die Wählerschaft ihrer Partei im Besonderen berührten. Mit so genannte weichen oder postmateriellen Themen wie der Debatte um die Homo-Ehe lenkten die etablierten Parteien die Aufmerksamkeit lediglich von der wirtschaftlichen Misere weg. Zum anderen wollte Marine Le Pen anfänglich aber auch vermeiden, dass ihre Partei in der öffentlichen Wahrnehmung in der erzreaktionären Miefecke steht. Da sie sich seit ihrem Antritt als Parteivorsitzende im Januar 2011 verstärkt um neue WählerInnenschichten – Frauen, jüngere Generationen, Personen mit höherem Bildungsgrad – bemüht, die bislang dem Front National eher fern standen, und zunächst nicht vom Erfolg der Demonstrationen überzeugt war, blieb sie auf Abstand.

Diese Haltung war in ihrer Partei allerdings stark umstritten. Ihr Vater, Jean-Marie Le Pen, erklärte seine Unterstützung für die Proteste, ohne freilich selbst teilzunehmen, was mit seinem hohen Alter (85) zusammenhängen könnte. Und ihre Nichte, Marion-Maréchal Le Pen, 23 Jahre junge Abgeordnete in der Nationalversammlung, sowie deren parteiloser, aber für den Fronat National gewählter Parlamentskollege Gilbert Collard nahmen persönlich an den Demonstrationen teil.

Neben dem Front National und der UMP, die um Einfluss in der rechten Protestbewegung konkurrierten und dabei jeweils in den eigenen Reihen auf Widersprüche stießen, gingen auch zahlreiche kleinere rechtsextreme Organisationen gestärkt aus dem monatelangen konservativ-reaktionären Massenprotest hervor. Dies gilt etwa für die katholisch-nationalistische, militante Gruppierung »Renouveau français«, die Reste der monarchistisch-nationalistischen »Action française«, aber auch den eher neuheidnisch als christlich orientierten »Bloc identitaire«. Sie alle hatten versucht, sich an die Spitze des Protests zu setzen und sich im April und Mai im Anschluss an die regelmäßig stattfindenden Demonstrationen fast allabendlich gewaltförmige Auseinandersetzungen mit der Polizei geliefert. Auf politischer Ebene versuchte ferner das katholisch-fundamentalistische »Institut Civitas«, angeführt vom ehemaligen Vorsitzenden des belgischen »Front national belge« (FNB), Alain Escada, die Proteste zu radikalisieren. Das »Institut Civitas«, das gegen die »freimaurerische Republik« wettert, demonstrierte bei den größeren Protestzügen, so am 13. Januar und am 26. Mai 13, auf getrennter Route mit eigenen Parolen.

Gesellschaftlicher Hintergrund

Warum aber konnte die Bewegung über organisierte Rechtsextreme einerseits und in ihrer Weltanschauung gefestigte Kirchenkreise andererseits hinausgehen und eine derartige Dynamik auslösen? Dafür gibt es unterschiedliche Gründe, die sowohl aktueller wie struktureller Natur sind.

Auf der ersten Ebene ist die schmähliche Bilanz der Regierungskoalition aus Sozialdemokraten und Grünen angesiedelt: Außer dem tatsächlich eingelösten Versprechen, die Homo-Ehe einzuführen, hat sie keine sonstigen Erfolge vorzuweisen. Insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik zeigt sie keinerlei Gestaltungswillen, sondern beruft sich auf kapitalistische »Sach-« und europäische »Sparzwänge«, exekutiert den Willen »der Wirtschaft« und verfolgt kaum eine andere Politik als ihrer Vorgängerregierung. Die Unterschiede zwischen den großen politischen Lagern haben sich infolgedessen sehr weitgehend verwischt – bis auf die symbolpolitischen Themen, bei denen von beiden Seiten Wertvorstellungen mobilisiert werden, ohne an den Fragen der Verteilung zwischen Kapital und Arbeit rühren zu müssen.

Hinzu kommt als strukturelles Element das historische Erbe aus der französischen Geschichte, das in einem Teil der Gesellschaft weiter wirkt. In einem Milieu, das sich durch die Bindungswirkung »katholischer Werte« und konservativer Einstellungen auszeichnet, würde in anderen Ländern vielleicht eher eine unpolitische Haltung oder die Einrichtung im Bestehenden vorherrschen. In Frankreich aber ist ein Teil gerade dieses Milieus durch die Erinnerung an den Epochenbruch von 1789 geprägt: Modernisierung und Abkehr vom Überkommenen wird hier dauerhaft mit einem vermeintlich traumatischen Erlebnis – dem Zusammenbruch einer als »natürlich« vorgestellten Ordnung – assoziiert. Deswegen besteht in einem Teil des konservativen bis reaktionären gesellschaftlichen Milieus stets eine auf den ersten Blick erstaunlich wirkende Bereitschaft, sich »notfalls« auch aktiv der Politik der Regierenden zu widersetzen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Regierenden einem als »feindlich« wahrgenommenen politischen Lager angehören, dem seit der Enthauptung des Königs im Januar 1793 und der Trennung von Kirche und Staat im Dezember 1905 alle möglichen »Schandtaten« zugetraut werden. Ein solcher aktivistischer Konservativismus ist etwa in Deutschland eher unbekannt.

Die meiste Zeit bleibt diese Mobilisierungsbereitschaft konservativer Kreise im Latenzzustand. Wenn aber ein Thema, wie die als bedrohlich wahrgenommene Reform der staatlichen Finanzierung für die katholischen Privatschulen im Frühjahr 19841 oder aktuell die Homo-Ehe, als besonderer Stachel wahrgenommen wird, dann schlägt die Situation um. Dies gilt insbesondere, wenn die Straße dem rechten Protest überlassen bleibt, weil die Basis der Linksparteien und ein Gutteil der Gewerkschaften desorientiert, frustriert und perspektivlos vor sich hin starren.

Ausblick

Die GegnerInnen der Homo-Ehe meldeten sich auch im Laufe des Herbstes 2013 ungebrochen zu Wort, etwa mit den Störaktionen und Pfiffen gegen einen Auftritt von Präsident François Hollande auf den Pariser Champs-Elysées am 11. November, einem gesetzlichen Feiertag in Frankreich, der auf das Datum des Kriegsendes im November 1918 verweist. Es kam dabei zu insgesamt 73 vorübergehenden Festnahmen. Zwei Tage zuvor wurden drei bekannte Aktivisten der Bewegung gegen die Homo-Ehe erwischt, als sie auf der Pariser Ringautobahn eine Mautstelle für LKWs zerstörten. Diese sollte der Erhebung der zunächst zum 1. Januar 2014 geplanten und infolge eines aus diffusen Motiven gespeisten Protests inzwischen auf frühestens 2015 verschobenen Ökosteuer dienen. Dabei versuchten die GegnerInnen der Homo-Ehe, aktiv an den gegen die Maut-Einführung gerichteten, überwiegend steuerfeindlich-mittelständisch geprägten und ressentimentbehafteten („gegen Ökokram“) Protest anzudocken.

Einige Ausdrücke ihres Protests glitten zur selben Zeit in offenen Rassismus ab. Dies gilt insbesondere für mehrere Aktionen und »Empfänge« gegen Auftritte der Justizministerin Christiane Taubira, die bei der Ausarbeitung des Gesetzentwurfs zur Homo-Ehe und seiner Vorstellung im Parlament eine wichtige Rolle spielte und den Homophoben deswegen besonders verhasst ist. Die schwarze Karibikfranzösin wurde wiederholt explizit aufgrund ihrer Hautfarbe ins Visier genommen. Am 25. Oktober wurde Taubira im westfranzösischen Angers erstmals von GegnerInnen der Homo-Ehe in aller Öffentlichkeit mit Bananen »begrüßt«. Kinder, die offensichtlich von ihren Eltern gesteuert wurden, bezeichneten sie gleichzeitig als „Affenweibchen“. Hinter dieser Inszenierung wurde zunächst die extreme Rechte vermutet. Eine Studierendengruppe des Front National konterte den gegen sie gerichteten Verdacht, indem sie eine sehr aktive Lokalpolitikerin der UMP als Teilnehmerin der rassistischen Aktion outete. Ein Video, das die rechtsextremen Studenten der Tageszeitung »Le Figaro« zuspielten und das dort am 6. November publiziert wurde, ließ wenig Zweifel an der Rolle der fanatisiert auftretenden Konservativen.

Zu den Kommunalwahlen, die in ganz Frankreich am 23. und 30. März 2014 stattfinden, werden prominente Mitglieder der Bewegung gegen die Homo-Ehe auf Listen der Parteien der politischen Rechten – sowohl der UMP als auch der extremen Rechten sowie zwischen ihnen stehenden, rechtsbürgerlichen Kräften – kandidieren. Im südwestfranzösischen Rodez bildeten lokale Aktivisten der Bewegung mit dem örtlichen Front National eine gemeinsame Bündnisliste. Zur Europaparlamentswahl am 25. Mai 2014 will die rechtskatholische Politikerin und Ex-Ministerin Christine Boutin eine eigene Liste von Abtreibungs- und Homo-Ehen-GegnerInnen antreten lassen. Diese stellte sie im Oktober 2013 u.a. unter Mitwirkung des früheren führenden Front-National-Politikers Jean-Claude Martinez bei einer Pressekonferenz vor. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass diese Liste ein zu schmales politisches Segment anspricht, denn es wird auch auf der sonstigen Rechten an Konkurrenz mit ähnlichen thematischen Positionen nicht mangeln.

Die Demonstrationen rissen unterdessen nicht ab. Am 15. Dezember 2013 konnte die rechte Protestbewegung zwischen 6.000 (Polizeiangaben) und 30.000 (Angabe der Veranstaltenden) TeilnehmerInnen nach Versailles mobilisieren. Gleichzeitig demonstrierten zwischen 1.600 und 3.000 Personen im zentralfranzösischen Blois sowie mehrere Hundert in Montpellier. Offizielles Thema war die „Familienphobie der Regierung“, eine soeben durch die Gegner der Homo-Ehe erfundene Wortschöpfung, mit der der Vorwurf der Homophobie gekontert werden soll. Für den 2. Februar 2014 sind weitere Protestzüge in Paris geplant, zu denen landesweit mobilisiert wird.

Anmerkung

1) Die damaligen Millionenproteste fielen zeitlich mit dem Durchbruch des Front National als Wahlpartei mit Massenanhang zusammen.

Dr. Bernard Schmid lebt seit zwanzig Jahren in Paris, wo er als Jurist für eine Nichtregierungsorganisation zur Rassismus- und Diskriminierungsbekämpfung arbeitet. Er hat zahlreiche Bücher zur extremen Rechten geschrieben.

Zwangsräumungen in Spanien

Gerechtigkeit und Partizipation

Zwangsräumungen in Spanien

von Elena Vazquez Nuñez und César Amaya

Der Grad der Komplizenschaft zwischen politischer Elite und Finanzinstituten zeigt sich in Spanien am Elan, mit dem die Politik auf Kosten der Lebensqualität eines Großteils der spanischen Bevölkerung die bedrohten Finanzinstitute gerettet und vor den Konsequenzen ihres eigenen Tuns geschützt hat. Den Millionen unmittelbar betroffener Bürger wurden hingegen keine Alternativen zu ihrer Wohnsituation geboten. Sie wurden kurzerhand und wortwörtlich auf die Straße gesetzt. Viele betroffene Familien mussten sich mit anderen zu Wohngemeinschaften zusammenschließen oder bei Bekannten und Verwandten unterkommen. Am schlimmsten betroffen waren aber Familien oder Personen, die über kein Auffangnetz verfügen. Sie sahen sich gezwungen, illegal Wohnhäuser und andere Gebäude zu besetzen, und wurden damit unfreiwillig in einen dauerhaften Zustand der Gesetzlosigkeit gedrängt. Dagegen formierte sich Widerstand.

Das aggressive Hypotheken- und Bankensystem Spaniens hat seit der Verschärfung der Finanzkrise 2008 sein schlimmstes Gesicht gezeigt. Das durch die Immobilienblase verursachte Desaster an den Finanzmärkten führte seither zu einer Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, dem millionenfachen Verlust von Arbeitsplätzen1 und der massenhaften Insolvenz kleiner und mittelständischer Unternehmen. Dadurch ist die spanische Mittelschicht stark geschrumpft und die finanzschwache bzw. arme Bevölkerungsgruppe rasant gewachsen. Letztlich hat eine Verarmung großer Teile der spanischen Gesellschaft stattgefunden. Die Anzahl der Zwangsräumungen als Resultat davon, dass Hypothekenverbindlichkeiten nicht mehr bedient werden konnten, ist rasant und unkontrolliert angestiegen und betrifft bis heute ca. 400.000 Familien.2

Seit dem 15. Mai 2011 (in Spanien kurz »15-M« genannt), als im ganzen Land 25.000 Menschen für die »Echte Demokratie Jetzt!«-Bewegung demonstrierten, fällt die Bilanz wenigstens etwas positiver aus: Zahlreiche Zwangsräumungen konnten seither verhindert werden. Diese Reaktion der spanischen Gesellschaft auf die Welle von Zwangsräumungen zulasten bedürftiger Bevölkerungsgruppen, die über keine alternativen Wohnmöglichkeiten verfügen, war und ist bis heute täglich gelebte Realität. Im Austausch zwischen den »asambleas populares« (den basisdemokratischen Versammlungen), die aus dem »15-M« hervorgingen, und den Plattformen für Betroffene der Hypothekenschulden ist es gelungen, die Gnadenlosigkeit des Finanzsektors gegenüber den von der Krise am meisten betroffenen Bevölkerungsgruppen dauerhaft sichtbar zu machen. Dabei wird insbesondere angeprangert, dass die von Zwangsräumung betroffene Bevölkerungsgruppe von Obdachlosigkeit bedroht ist und dass die hohen Verbindlichkeiten gegenüber den Banken auch nach den Zwangsversteigerungsverfahren unbefristet fortbestehen.

Das Recht auf ein würdevolles Wohnen

Dieser alarmierende soziale Missstand ruft nach weitreichenden Reformen im spanischen Finanzsystem sowie in der Rechtssprechung. So hat es im August 2012 auch Raquel Rolnik als Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für das Recht auf ein der Würde des Menschen angemessenes Wohnen in ihrem Bericht formuliert. Dort problematisierte sie das politische Paradigma in Spanien, dass die Finanzierung von Wohnraum primär über den Erwerb einer Immobilie für die Eigennutzung erfolgt und nur selten über Vermietung. Dies zwingt die Käufer aber nahezu zwangsläufig zur Aufnahme von Krediten und ist folglich mit einer Risikoverlagerung auf Privathaushalte verbunden.

Der Bericht beschäftigte sich auch mit den Auswirkungen, die diese Finanzierungspolitik auf das Recht auf Wohnen für Menschen in Armut hat. Die Sonderberichterstatterin kam zum Schluss, dass die volle Wahrnehmung des Rechts auf angemessenes Wohnen „nicht ausschließlich durch finanzielle Mechanismen herbeigeführt werden darf, sondern ganzheitlichen politischen Ansätzen und einer Ausweitung des Wohnungswesens bedarf. Die Sonderberichterstatterin bittet darum, das Paradigma der auf käuflichen Erwerb von Wohnungen ausgerichteten Politik aufzugeben und vielmehr eine Perspektive einzunehmen, die auf den Menschenrechten beruht.“ 3

Die »Plattform Betroffene von den Hypotheken« (PAH)4 geht davon aus, dass in wenigstens 70% der zwangsgeräumten Familien auch mindestens ein minderjähriges Kind obdachlos wurde. Die aktive Verletzung der Grundrechte der Kinder verleiht dieser ohnehin schon problematischen Situation eine zusätzliche Dramatik. Die PAH wurde im Februar 2009 in Selbstorganisation und durch Solidaritätsbewegungen ins Leben gerufen, um den zahlreichen Zwangsversteigerungsverfahren entgegenzutreten. Mehr als 350.000 Fälle waren zu dieser Zeit bereits bei den Gerichten des spanischen Königreichs aufgelaufen – jeder einzelne davon eine Katastrophe für die betroffenen, in Arbeitslosigkeit und unerträgliches Prekariat gerutschten Menschen.

Schutz der Finanzinstitute und Widerstand

Während über die Privatpersonen der Sturm der kompromisslosen Zwangsräumungen fegte, griff die spanische Regierung den Finanzinstituten mit Abermillionen Euro in Form von direkten Hilfen, Bürgschaften, Darlehen etc. unter die Arme, obwohl diese doch die Finanzkrise federführend mit verursacht hatten. Als wäre das nicht genug, fiel auch der Europäischen Zentralbank keine andere Strategie ein, als den Zusammenbruch der Krisenverursacher durch Freigabe von zig Millionen Euro zu verhindern.

Die Reaktion aus der Zivilgesellschaft ließ nicht lange auf sich warten, waren doch viele Tausend Familien direkt betroffen. Das Pochen auf politische und partizipative Prozesse durch die mobilisierte Gesellschaft scheint dabei unverzichtbar, damit die Legislative ihrer Aufgabe wieder nachkommt und Antworten auf die Not gibt, in der wir uns befinden. So spricht sich die ILP (Iniciativa Legislative Popular, Plebiszitäre Gesetzesinitiative)5 für ein Recht auf rückwirkende Überlassung an Zahlung statt,6 außerdem auch gegen Zwangsräumungen aus. Die ILP wird von der PAH, dem Observatorium DESC, den Nachbarschaftsvereinigungen, den Verbraucherorganisationen, den Vereinigungen und Vertretern des Dienstleistungssektors und den Gewerkschaften unterstützt, die wiederum alle den Rückhalt der allgemeinen gesellschaftlichen Initiativen und insbesondere der »asambleas populares del 15-M« genießen. Dieses breite Bündnis, das sich über das ganze Land ausbreitet, könnte künftig gleichermaßen als vereinendes wie als mobilisierendes Element wirken, um der Vorherrschaft des Finanzkapitals einen gesellschaftlichen Widerstand entgegenzusetzen.

EuGH: Zwangsräumungen sind unrechtmäßig

Die Zwangsräumungen in Spanien im Jahr 2010 – so stellte Guillem Soler i Sole, Richter am Europäischen Gerichtshof (EuGH), am 14.3.2013 mit Blick auf einen effektiven Rechtsschutz für die Betroffenen fest – widersprächen dem Grundsatz auf ein würdevolles und angemessenes Wohnen und seien als mängelbehaftet einzustufen. Das Gericht stützte diese Feststellung insbesondere darauf, dass bei den Zwangsräumungen nicht die Vorgaben der EU-Richtlinie 93/13/CEE des Rates vom 5.4.1993 angewandt worden seien. So biete das spanische Zivilprozessrecht (einschlägig war Art. 698 der spanischen Zivilprozessordnung) den betroffenen Verbrauchern keinen der EU-Richtlinie entsprechenden Rechtsschutz.

Für Verbraucher gibt es generell viele juristische Gründe, der Zwangsversteigerung ihrer Immobilie durch die Hypothekenbesitzer zu widersprechen und eine Überprüfung der Hypothek zu veranlassen (Art. 695 LEC [Zivilprozessordung]). Einer Vollstreckung aus der Hypothek kann etwa entgegenstehen, dass die durch die Hypothek besicherte Verbindlichkeit bereits erloschen ist, dass der zu besichernde Betrag fehlerhaft festgesetzt wurde oder dass ein vorrangiges Pfandrecht, eine vorrangige Hypothek oder eine vorrangige Grundschuld besteht. Zur Geltendmachung der genannten Widerspruchsgründe fehlt in den strittigen Hypothekenverträgen jedoch die Möglichkeit einer Missbrauchseinrede (681ff. LEC). Die Verbraucher müssen daher nach der gültigen Gesetzeslage bei Gericht einen Antrag auf Rechtswidrigkeit der Zwangsvollstreckung stellen, dieser Antrag unterbricht aber nicht den Prozess der Zwangsvollstreckung.

Im Verlauf der Zwangsvollstreckungsverfahren kommt es regelmäßig zur Zwangsversteigerung der Immobilie und damit zur Eigentumsübertragung an den Gläubiger oder gar an einen Dritten. Diese Eigentumsübertragung ist jedoch selbst dann kaum mehr rückgängig zu machen, sollte nachträglich die Rechtswidrigkeit der Zwangvollstreckung festgestellt werden. In diesen Fällen muss der dem Verbraucher entstandene Schaden durch Ersatzzahlungen kompensiert werden. Die dabei errechnete Schadensersatzhöhe erreicht aber typischerweise nicht den tatsächlichen Wert der Immobilie, sodass die Zwangsgeräumten einen erheblichen finanziellen Verlust erleiden. Das spanische Schadensersatzverfahren bietet bislang also keinen adäquaten Rechtsschutz zur vorläufigen Einstellung der Zwangsvollstreckung.7

Weitere Konflikte vorprogrammiert

Die Zwangsräumungen in Spanien beruhen auf einer juristischen Figur: der Aufnahme einer Hypothek. Eine Hypothek ist ein Finanzprodukt, welches den Zugang zu einem Gut – einer Immobilie – ermöglicht, das ein zentrales Gut und ein Grundrecht – das Recht auf Wohnraum – darstellt, da es für ein Leben in Würde unverzichtbar ist. Jeder Mensch braucht ein Zuhause. Der Markt für dieses Gut stellt sich in Spanien so dar, dass es lediglich über den Eigentumserwerb erfüllt werden kann. Die Preise für Häuser wurden dabei künstlich aufgeblasen, sodass der Hauskauf mit Erspartem unmöglich wurde und lediglich unter Zugriff auf die Angebote der Finanzinstitute realisiert werden kann. Dabei wird die Hypothek zu einem Beitrittsvertrag, bei dem der stärkere Part (das Finanzinstitut) dem schwächeren und abhängigen Vertragsteilnehmer (dem Verbraucher) seine Konditionen aufzwingen kann.

Die Ungleichheit in diesen und verschiedenen anderen (Vertrags-) Beziehungen ist in jüngster Zeit stärker in das Bewusstsein gerückt und hat zu einer Ausweitung von Regelungen zum Schutz vor dieser Ungleichheit geführt, im Arbeitsrecht und nun auch im Verbraucherschutzrecht. Der Verweis auf das Prinzip der Gleichheit macht auf eine unzweideutige Wahrheit aufmerksam: Freiheit ohne Gleichheit ist die Tyrannei der Mächtigen.

Das Urteil des EuGH vom 14. März 2013 hat das Fehlen effizienter Schutzmechanismen für die spanischen Schuldner offenbart und hat es erneut in die Hände der europäischen Gesetzgebung gelegt, die Menschenrechte im Falle des Verbraucherschutzes bei Zwangsversteigerungsverfahren eindeutig zu bewahren. Die Fehlbarkeit des spanischen Verfassungsgerichts wurde offenbar, als es dieselbe Klausel selbst dann noch als verfassungskonform erklärte, als der EuGH sie bereits für ungültig erklärt hatte.

Die »Plebiszitäre Gesetzesinitiative«, die sich für die rückwirkende Überlassung an Zahlung statt für soziale Mieten und für ein Moratorium bzw. die Aussetzung der Zwangsversteigerungsverfahren stark macht und von der PAH und anderen Kollektiven vorangetrieben wird, konnte bereits beinahe eineinhalb Million Unterschriften sammeln.

Der soziale Druck sowie der Rüffel durch das Urteil des EuGH haben die Regierung dazu bewegt, das Gesetz zu Zwangsräumungen zu ändern. Leider hat die Regierung dabei die Möglichkeit versäumt, das Urteil des EuGH tatsächlich umzusetzen; stattdessen hat sie die Umsetzung der »Populären Gesetzesinitiative« im parlamentarischen Prozedere verhindert. Der Senat beschloss am 8. Mai 2013 stattdessen ein Gesetz, welches dem Urteil des EuGH widerspricht und, damit noch nicht genug, den Internationalen Pakt für Zivile und Politische Rechte, den Internationalen Pakt für Wirtschaftliche und Soziale Rechte und die Konvention für die Rechte des Kindes verletzt. Da das neue Gesetz weder die Verletzung des Rechtsverfahrensschutzs behebt noch Maßnahmen zur Wiedergutmachung enthält, bestehen weiterhin außergewöhnliche Einschränkungen für den Anspruch auf einen wirksamen Rechtsschutz sowie für das Recht auf Verteidigung. Unbefristete Schuldinstrumente, Zwangsräumungen ohne Lebens- und Wohnalternative und die Zwangsvertreibung von Minderjährigen bestehen fort und verstetigen sich.

Die politische Macht hat sich über das Recht, das Gesetz und die Menschlichkeit erhoben und die Interessen der Finanzinstitute entgegen den Interessen der großen Mehrheit der Gesellschaft verteidigt. Der weitere Konflikt ist vorprogrammiert: Auf der Straße, in den Gerichten und vor internationalen Instanzen wird dafür gekämpft werden, dass die systematische Verletzung der Menschenrechte im Kontext der Zwangsräumungen in unserem Land aufhört.

Aber das Wichtigste ist: Das Eis ist gebrochen. Alles, was gestern noch für unmöglich gehalten wurde, ist aufgrund der kontinuierlichen Mobilisierung der Mehrheit der Gesellschaft nun möglich.

Anmerkungen

1) Jeder zweite junge Erwachsene in Spanien ist heute arbeitslos.

2) Ada Colau y Adrià Alemany (2013): 2007-2012: Restrospectiva sobre desahucios y ejucuciones hipotecarias en España, estacísticas oficiales e indicadores. Platforma de afectados por la hipoeca (PAH).

3) Naciones Unidas Asamblea General: El derecho a una vivienda adecuada. Dokument A/67/286 vom 10. August 2012.

4) afectadosporlahipoteca.com.

5) Anabel Díez: El PP prepara sus enmiendas a la iniciativa popular sobre desahucios. El País, 26.3.2013.

6) Das heißt, Betroffene können das Haus zurückgeben, anstatt die Schulden zu bezahlen.

7) Die hier erwähnte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes von 2010 führt noch etliche weitere Punkte zur Stärkung des Verbraucherschutzes in Bezug auf Hypothekenkredite auf; diese auszuführen, würde an dieser Stelle zu weit führen.

Elena Vazques Nuñez ist praktizierende Strafverteidigerin in Sozialrecht und Mitglied der Asociación Libre de Abogados (Vereinigung der freien Anwälte).
César Amaya Sandino ist Diplom-Politologe und absolviert gerade an der Universidad Complutense de Madrid den Master in Social Dynamics and Territorial Development.
Aus dem Spanischen übersetzt von María Cárdenas Alfonso und Simon Schäfer-Stradowsky.