117 Mio. Hungernde durch Konflikte

117 Mio. Hungernde durch Konflikte

Grafik Krieg und Hunger am Beispiel Sudan

Zusammenhang von Krieg und Hunger am Beispiel Sudan; Quelle: IPC 2024

Worum geht es?

  • Nach Angaben des World Food Programme (WFP) litten 2022 über 117 Mio. Menschen in 19 konfliktbetroffenen Gebieten aufgrund der Gewalt vor Ort unter Hunger (IPC Phase 3).
  • Die SDGs der Vereinten Nationen sehen eine Abschaffung des Hungerleidens bis 2030 vor (Ziel 2). Die Vereinten Nationen betonen den engen Zusammenhang von kriegerischer Gewalt, Instabilität und mangelhafter Nahrungsversorgung. Eine enge Verbindung zu Ziel 16: Frieden, Gerechtigkeit und stabile Institutionen ist überdeutlich.
  • Der Tatbestand des Aushungerns ist seit dem Ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen von 1977 völkerrechtlich als Kriegsverbrechen kodifiziert. Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch sieht eine Strafverfolgung auch bei innerstaatlichen Konflikten vor.
  • In vielen Konflikten lässt sich nicht klar nachweisen, ob Hunger absichtsvoll oder unabsichtlich herbeigeführt wird. Auch die Komplexität der Verbindung von Faktoren, die zu Nahrungsmittelknappheit beitragen, erschwert diesen Nachweis.

Was sagen die Daten?

  • Insgesamt hungern nach Angaben des WFP 2024 über 309 Mio. Menschen weltweit. Diese Zahl umfasst nur diejenigen, die von krisenhafter Lebensmittelknappheit betroffen sind. Das WFP geht grundsätzlich von über 780 Mio. Menschen weltweit aus, die zu wenig zu Essen haben. Kritische Stimmen aus der Forschung hinterfragen die hierfür verwendeten Indikatoren und die Absichten hinter deren Auswahl, und gehen von ca. 1,5-2,5 Mrd. Menschen aus, die hungern (vgl. Hickel 2016).
  • Die Klassifikation von Hunger ist global nicht einheitlich, allerdings gibt es Versuche der Standardisierung. Zwei wesentliche Ansätze können unterschieden werden – einer mit Fokus auf Nahrungsmittelversorgung (Angebot und Nachfrage) und einer mit Fokus auf Unterernährung (medizinische Indikatoren). Die »Integrated Food Security Phase Classification« (IPC) kennt für akute Lebensmittelunsicherheit fünf Kategorien: Minimaler Mangel, Stress, Krise, Notfall, Katastrophe/Hungersnot.
  • Von den Hungerbetroffenen ist die größte Gruppe diejenige, die durch kriegerische oder anderweitig gewalttätige Konflikthandlungen von Hunger betroffen ist. Weitere maßgebliche Faktoren für Hunger sind: Effekte des Klimawandels auf die Landwirtschaft, Umweltkatastrophen, ökonomische Ungleichheit und Lebensmittelverluste (bzw. -verschwendung).
  • Fälle von besonderer Dramatik sind derzeit die Situationen in Gaza, in Sudan, Süd-Sudan, der Zentralafrikanischen Republik und Mali sowie in Jemen, Afghanistan und Myanmar. Für einige Staaten liegen nicht ausreichend Daten vor (u.a. Syrien, Ukraine).

Friedenspolitische Konsequenzen?

  • Jeder hungernde Mensch ist einer zu viel – die Abschaffung des Hungers muss daher auch eine dringliche friedenspolitische Zielsetzung sein. Die Nachhaltigkeitsziele 2 (Ende des Hungers) und 16 (Frieden, Gerechtigkeit und stabile Institutionen) müssen zusammengedacht werden.
  • Da sich in kriegerischen Auseinandersetzungen auch ohne eine (völkerrechtswidrige) Absicht konkrete Hungersnöte entwickeln können, ist ein strikter Schutz von Zivilist*innen in bewaffneten Konflikten eine hilflose Forderung. Vielmehr ist Gewalt- und Kriegsprävention auch Schutz vor Hunger.
  • Eine unmittelbare Strafbarkeit von Aushungern und die (straf- und zivilrechtliche) Verantwortung für Hunger und Nahrungsmittelknappheit (nicht nur in Gewaltkonflikten) müsste mit Nachdruck verfolgt werden.

Literatur

Hickel, J. (2016): The true extent of global poverty and hunger: questioning the good news narrative of the Millennium Development Goals. Third World Quarterly 37(5), S. 749-767.

Integrated Food Security Phase Classification« (IPC) (o.J.): IPC Mapping Tool. Interaktive Web-Kartierung der akuten Nahrungsmittelknappheit. URL: ipcinfo.org/ipc-country-analysis/ipc-mapping-tool.

World Food Programme (WFP) (o.J.): Conflict and Hunger. Themenseite. URL: wfp.org/conflict-and-hunger.

Was kommt nach dem Krieg?

Was kommt nach dem Krieg?

Gaza und der Israel-Palästina-Konflikt

von René Wildangel

Eine Zwischenbilanz der Zerstörungen im Gazastreifen sowie der israelischen Planungen für die Nachkriegsrealität fällt ernüchternd aus. Durch die Intensivierung der regionalen Eskalationsdynamik zwischen Israel und Iran haben sich die Aussichten für eine Entspannung zusätzlich verschlechtert. Noch ist nicht absehbar, ob und wann überhaupt nochmal ein normales ziviles Leben im Gazastreifen möglich sein wird, doch unterschiedliche politische Szenarien werden schon länger diskutiert und teils schon praktisch umgesetzt. Was wäre notwendig, um wenigstens die Grundlagen für einen Wiederaufbau und einen politischen Horizont zu schaffen und was könnte die internationale Gemeinschaft dazu beitragen?

Bei ihrem verheerenden terroristischen Angriff ermordete die Hamas am 7. Oktober 2023 fast 1.200 Menschen im Süden Israels, darunter 695 israelische Zivilist*innen. Ca. 250 Menschen wurden entführt, der Schock im Land war enorm. Die Reaktion der israelischen Regierung kam schnell und war nachvollziehbar: Eine Militäraktion, die zukünftige Angriffe verhindern und die Geiseln befreien sollte.

Doch schon in den ersten Tagen deuteten Aussagen aus Israels rechtsgerichteter Koalition an, dass die militärische Reaktion weit darüber hinausgehen könnte. Verteidigungsminister Gallant verkündete eine Totalblockade des Gazastreifens, da man gegen „menschliche Tiere“ kämpfe. Premierminister Netanjahu sprach von der „Vernichtung“ der Hamas, andere Politiker machten die gesamte Zivilbevölkerung im Gazastreifen für die Verbrechen der Hamas mitverantwortlich (Bartov 2023). Und weitere rechtsgerichtete Politiker brachten immer radikalere Ideen vor über die Wiederbesiedlung und die dauerhafte Besatzung des Gazastreifens oder die vollständige Zerstörung bis hin zum Abwurf einer Atombombe.

Abgesehen von einer verhandelten Feuerpause Ende November 2023, in der 50 israelische Geiseln und 150 palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen freikamen, wurde pausenlos bombardiert. Die israelischen Angriffe auf den Gazastreifen führten zu einer Zerstörung nie dagewesenen Ausmaßes.

Das betraf von Anfang an einen Großteil der zivilen Gebäude und Infrastruktur, darunter Wohngebäude, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Wirtschaftsbetriebe und Agrarflächen. Ein Großteil der Bevölkerung wurde bereits in den ersten Kriegswochen von der israelischen Armee aufgefordert, in Richtung Süden zu fliehen, so dass sich bald ein Großteil der 2,3 Millionen Einwohner*innen des Gazastreifens in Rafah und Umgebung drängte. Einige von ihnen konnten Anfang April 2024 in die nahegelegene südliche Stadt Khan Younis zurückkehren, die allerdings zu großen Teilen zerstört wurde. Die Rückkehr in den Norden wird von Israel verweigert und ist aufgrund der Schaffung regelrechter »Todeszonen« durch israelische Scharfschützen lebensgefährlich (Kubovich 2024).

Zwar gelangen Hilfsgüter im Gegensatz zu der Ankündigung von Gallant am 9. Oktober mittlerweile in den Gazastreifen, allerdings in viel zu geringem Ausmaß. Israel behindert systematisch die humanitäre Hilfe, was spätestens seit März 2024 zu einer äußerst prekären Lage führte. Nach Einschätzung der Vereinten Nationen (VN) herrscht in Gaza die schlimmste Hungerkrise, seit dies weltweit gemessen wird. Hunderttausende Menschen in Gaza sind akut von einer Hungersnot und damit dem Hungertod bedroht (Vereinte Nationen 2024).

Monatelang mahnten Israels Verbündete zwar die Beachtung des humanitären Völkerrechts an, darunter die USA und die meisten EU-Staaten. Sie unternahmen aber keine konkreten Schritte, um Israel zu einer Beendigung des Militäreinsatzes oder zu einer weiteren Feuerpause zu bewegen. Auch nicht, nachdem sich die israelische Regierung weigerte, die am 25. März beschlossene Waffenstillstandsresolution im Sicherheitsrat umzusetzen, bei der erstmals die USA auf die Anwendung ihres Vetos verzichteten. Infolge des groß angelegten Angriffs des Irans auf Israel mit Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern vom 13. April, der als »Vergeltung« für den israelischen Angriff auf das iranische Konsulargebäude in Damaskus angekündigt wurde, ließ der internationale Druck auf die israelische Regierung zusätzlich nach.

Die Bilanz von sechs Monaten Krieg in Gaza ist verheerend: Die Eskalationsgefahr in der gesamten Region bleibt hoch. Die Geiseln konnten nicht befreit werden, viele von ihnen starben wahrscheinlich bei israelischen Angriffen. Die militärischen Fähigkeiten der Hamas konnten nicht ausgeschaltet werden. Beobachter*innen hatten bereits zu Beginn des Einsatzes darauf hingewiesen, dass die „Vernichtung“ der Hamas schon deshalb unrealistisch sei, weil sie als politische und soziale Bewegung tief verwurzelt in der Gesellschaft ist, sowie über zahlreiche Anhänger und Strukturen außerhalb Gazas verfügt. Knapp 34.000 Tote1, über 75.000 Verletzte, aber auch Hunderttausende von schwerwiegenden langfristigen Gesundheitsschäden bedrohte Menschen in Gaza hinterlassen eine tief verwundete Gesellschaft, die bereits durch 17 Jahre Isolation und Blockade traumatisiert und geschwächt war.

Angesichts der hohen zivilen Opferzahlen, gezielten Vertreibungen und Entziehung der Lebensgrundlagen wird vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag eine von Südafrika vorgebrachte Genozid-Klage verhandelt. Im Januar erließ das Gericht vorläufige Maßnahmen, die Israel unter anderem aufforderten, jegliche Verstöße im Rahmen der Genozid-Konvention zu verhindern, die humanitäre Versorgung sicherzustellen und genozidale Hetze zu bestrafen (IGH 2024).

Wichtigste Akteure und grund­legende Zukunftsszenarien

Der wichtigste Akteur mit Blick auf Gaza ist zweifelsohne auch weiterhin der israelische Staat, der seit 1967 die Verhältnisse dort maßgeblich bestimmt. Das galt aufgrund der Kontrolle aller Grenzen sowie des Luft- und Seewegs auch nach dem israelischen Rückzug von 2005. Und Ende Februar 2024 machte Premierminister Netanjahu deutlich, dass das auch in Zukunft so bleiben soll: Demnach will Israel die langfristige Kontrolle in Sicherheitsfragen übernehmen und sich auf unbestimmte Zeit vorbehalten, militärisch zu intervenieren (Ravid 2024).

Dem entspricht die Realität, die zuletzt bereits vor Ort etabliert wurde: Die israelische Armee hat eine 1km breite Sperrzone entlang der gesamten israelischen Grenze zu Gaza eingerichtet, die weit über die vor dem 7. Oktober bestehende »Todeszone« hinausgeht. Das entspricht mit 16 % einem großen Anteil der Landfläche des kleinen Küstenstreifens, der das zukünftige Leben von über zwei Millionen Menschen weiter einengt. Zudem hat die Armee Recherchen der Tageszeitung Haaretz zufolge einen zentral gelegenen West-Ost Korridor (»Netzarim-Korridor« nach einer früher dort gelegenen israelischen Siedlung) eingerichtet, der wohl auch dauerhaft der israelischen Armee Zutritt verschaffen, eine unmittelbare Überwachung ermöglichen soll und den Gazastreifen effektiv in zwei Teile teilt (Michaeli et al. 2024). Bereits jetzt kontrolliert Israel alle Grenzübergänge nach Gaza und verzögert immer wieder die Einfuhr von Produkten. Wegen „Sicherheitsbedenken“ wird nach Recherchen von CNN aber auch willkürlich die Einfuhr von Produkten wie Schlafsäcken, Nagelklippern oder Krücken zurückgehalten, ein Hauptgrund für die langsame und unzureichende Einfuhr von Hilfsgütern (Qiblawi et al. 2024).

Dieses derzeit offensichtlich von Israel bereits vorangetriebene und favorisierte Szenario – dauerhafte Besatzung und Kontrolle sowie eine anhaltende Blockade – wäre ein Desaster, denn Wiederaufbau und Erholung wären unter diesen Bedingungen nicht möglich. Zudem widerspräche es diametral den Vorstellungen der internationalen Gemeinschaft: Von Anfang an wurde hier eine Rückkehr der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) debattiert.

Die PA, 1993 im Rahmen der Oslo-Verträge als Nukleus eines palästinensischen Staates geschaffen, hat den Großteil ihres Ansehens längst eingebüßt. Ihre Schwäche zeigte sich auch in der Reaktion auf den 7. Oktober: Den Angriff der populäreren Hamas, die im Gegensatz zur institutionell verkrusteten, mit Israel kooperierenden PA für sich in Anspruch nimmt, den »Widerstand« gegen die israelische Besatzung anzuführen, wollte die PA nicht verurteilen. Die Debatte über eine mögliche Übernahme der politischen Verantwortung durch die PA in Gaza fand weitgehend ohne ihre Repräsentanten in der Westbank statt. Auch die im März 2024 neu gebildete palästinensische Regierung unter Premierminister Mohammed Mustafa ist wenig inklusiv und ohne Neuwahlen fehlt ihr die notwendige Legitimität.

Wenig deutet derzeit auch auf die Stationierung einer internationalen Militär- oder Beobachterpräsenz hin, die ebenfalls als Übergangsszenario ins Spiel gebracht wurde. Zwar hat sich die israelische Regierung in Gesprächen mit den USA für die Stationierung von Truppen aus „freundlich gesinnten“ arabischen Staaten ausgesprochen. Allerdings hätte die Entsendung von Soldaten in einen von den USA und Israel diktierten Übergangsprozess eine andere Qualität als die viel beachtete arabische Beteiligung an Abschüssen der gegen Israel gerichteten iranischen Drohnen und Raketen – sie könnten dann als Handlanger einer israelischen Besatzung des Gazastreifens wahrgenommen werden. Zudem hat die Hamas bereits angekündigt, dass sie solche Truppen als „feindselig“ ansehen würde (Bar’el 2024). Wenn die Hamas aber nicht „vernichtet“ werden kann, bleibt ein Dilemma, dem sich die internationale Gemeinschaft irgendwann stellen muss: Die zukünftigen Verhältnisse im Gazastreifen können dann nicht ohne ein wie auch immer geartetes Übereinkommen mit den Islamisten gestaltet werden, bevor die PA die Macht übernimmt.

Es sind vor allem drei arabische Staaten, die aufgrund ihrer langjährigen Verflechtung mit dem Konflikt im Mittelpunkt stehen und eine positive Rolle bei Verhandlungen für die Übergangszeit spielen können:

  • Katar, als langjähriger Unterstützer der Hamas mit gleichzeitig guten Beziehungen zum Westen;
  • Ägypten, unter Präsident Al-Sisi innenpolitisch wieder zur autoritären Diktatur geworden, das mit Sorge auf die eigene Grenze mit dem Gazastreifen blickt;
  • und schließlich Jordanien: das zweite Land, das einen Friedensvertrag mit Israel geschlossen hat, innenpolitisch allerdings unter Druck steht und sich als Anwalt der palästinensischen Interessen positioniert.

Diese drei Staaten sind für die Zukunft des Gazastreifens zentral und könnten eine führende Rolle in einem regional unterstützten Verhandlungsprozess übernehmen, der auch das Ziel eines palästinensischen Staates wieder in den Blick nimmt.

Denn die USA, die EU, aber auch weitere Länder sehen den 7. Oktober auch als Weckruf, die Suche nach einer Regelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes nicht weiter zu ignorieren. Das gilt insbesondere auch für die EU, die seit vielen Jahren die Zweistaatenlösung proklamiert, aber die Lage vor Ort auch aufgrund anderer internationaler Krisen und Konflikte über viele Jahre weitgehend ignorierte. Dabei führte sie zwar ihre Unterstützung der palästinensischen Autonomiebehörde und Verwaltung fort, aber ohne das entsprechend politisch zu begleiten.

Der israelische Premierminister hat das Ansinnen, die Schaffung eines palästinensischen Staates wieder auf die Tagesordnung zu setzen, bereits vehement abgelehnt. Das deckt sich aktuell mit der Stimmung nicht nur in der israelischen, sondern auch der palästinensischen Bevölkerung: Die Unterstützung für die Zweistaatenlösung ist dort jeweils auf dem Tiefpunkt.

Friedensperspektiven stärken, aber wie?

Kurzfristig müssen Bundesregierung und EU endlich ihren Teil dazu beitragen, den in den VN beschlossenen Waffenstillstand dauerhaft umzusetzen und – wie in der Sicherheitsrats-Resolution festgeschrieben – die Befreiung der israelischen Geiseln voranzubringen. Ein dauerhafter Waffenstillstand ist auch der beste Weg, um die regionale Eskalationsdynamik einzudämmen. Die monatelang fortgesetzten Angriffe haben zudem nicht nur überproportional Gazas Zivilbevölkerung betroffen, sondern auch die Gesundheit und das Leben der Geiseln aufs Spiel gesetzt. Auch daher protestieren seit Monaten viele Angehörige gegen den Kurs von Premierminister Netanjahu.

Eine Waffenruhe ist auch Voraussetzung für die dringend notwendige, sichere Verteilung von Hilfsgütern im gesamten Gazastreifen. Statt mit ineffektiven Abwürfen von Hilfsgütern aus der Luft zu agieren, müssen Deutschland und die EU politischen Druck ausüben, um Lieferungen über die Landgrenzen zu ermöglichen. Sonst könnten nach Schätzungen von Expert*innen über 100.000 Menschen an den Folgen von Hunger und Krankheiten sterben (Ahituv 2024). Druck wird auch benötigt, um die von Netanjahu angekündigte Rafah-Offensive zu verhindern, die katastrophale Folgen für die Zivilbevölkerung hätte. Solange das Vorgehen der israelischen Armee derart fatale Folgen für die Zivilist*innen in Gaza hat und Vorwürfe von massiven Kriegsverbrechen im Raum stehen, dürfen EU-Staaten – so sieht es der internationale Vertrag über den Waffenhandel vor – keine Waffen mehr für die Fortführung der Kriegsführung in Gaza an Israel liefern.

Nach Kriegsende geht es zunächst um eine tragfähige Lösung für Gaza. Deutschland und die EU sollten sich in Zusammenarbeit mit den USA und den VN dafür einsetzen, dass es keine Rückkehr zum Status quo vor dem 7. Oktober gibt. Denn bei einer neuerlichen Blockade droht ein neuer Kreislauf aus Waffenschmuggel und radikalen Organisationen, denen es im endgültig verelendeten Gazastreifen nicht an neuen Rekrut*innen mangeln wird.

Dabei gibt es ein positiveres Szenario für den Gazastreifen, das mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft umzusetzen wäre: Nämlich eine echte und nachhaltige Öffnung, die den Küstenstreifen wieder mit der Welt verbindet. Nur mit einer Öffnung der Grenzen wird ein Wiederaufbau überhaupt denkbar sein.

Fast alle jungen Menschen (über 50 %, also über eine Million Menschen sind jünger als 18) haben das kleine Küstengebiet noch nie in ihrem Leben verlassen. Die Isolation war bei Besuchen vor Ort seit 2007 mit Händen zu greifen und hat vielfältige negative Auswirkungen. Die Ausreise zur Behandlung schwerwiegender physischer und psychologischer Kriegsfolgen muss ermöglicht werden, da im Gazastreifen kein funktionierendes Gesundheitswesen mehr existiert und die wenigen verbliebenen Krankenhäuser keine verfügbaren Kapazitäten mehr haben.

Deutschland und die EU könnten dazu beitragen und im Rahmen einer verhandelten Übergangslösung die Kontrolle der Grenzen inklusive des Seewegs übernehmen. Die EU war bereits mit der EUBAM-Mission an der Grenze bei Rafah beteiligt und stellt Soldat*innen für die UNIFIL-Mission im Libanon. Auch der Seeweg könnte mit einer effektiven Kontrolle für den Wiederaufbau genutzt werden; dafür gilt es, Gazas Seehafen wieder aufzubauen und Gaza dauerhaft über den Seeweg an die Region des östlichen Mittelmeers anzubinden, und die vor der Küste liegenden Gasreserven für Palästina nutzbar zu machen.

Wenn die Sicherheit von der internationalen Gemeinschaft überwacht wird, darf Israel kein Vetorecht über Importe und Exporte haben. Daran scheiterte bereits der »Gaza Reconstruction Mechanism«, der nach dem Krieg 2014 unter Aufsicht der VN die Einfuhr notwendiger Materialien sichern sollte. Doch der Zugang wurde von Israel beschränkt, so dass international zugesagte Hilfsgelder nicht fließen konnten. Die Herausforderung nach dem aktuellen Krieg wird ungleich größer sein, erste Berechnungen gehen von fast 18,5 Mrd. US$ für den Wiederaufbau aus, was ungefähr dem jährlichen palästinensischen Bruttoinlandsprodukt entspricht (Weltbank 2024).

Schließlich geht es um langfristige Perspektiven für eine Konfliktlösung, auch wenn die Voraussetzungen dafür schlechter denn je erscheinen. Mit der Regierung Netanjahu, die offen für Siedlerinteressen und militärische Besatzung im Gazastreifen steht, wird es kaum einen glaubhaften Verhandlungsprozess, geschweige denn »Friedensprozess«, geben. Allerdings ist der Protest gegen die Regierung jüngst wieder enorm angewachsen und Neuwahlen sind wohl nur eine Frage der Zeit. Eine Neuorientierung in Israel könnte die Chancen für diplomatische Prozesse verbessern. Inwiefern allerdings eine neue Regierung zu Zugeständnissen bereit ist, wird von der konkreten Regierungskoalition abhängen. Denn auch wenn eine Mehrheit der Israelis Netanjahu mittlerweile ablehnt und für das Desaster des 7. Oktober mitverantwortlich macht, wird doch die derzeitige Kriegsführung von einer großen Mehrheit befürwortet. Ein kleiner Hoffnungsschimmer ist da, dass sich immerhin Oppositionspolitiker*innen wie Yair Lapid für eine Rückkehr der PA ausgesprochen haben.

Deutschland und die EU gehören seit dem Oslo-Prozess zu den wichtigsten Unterstützern der palästinensischen Autonomiebehörde. Die Bundesregierung sollte neben dem Wiederaufbau in Gaza auch wieder konkrete Schritte unternehmen, um die Legitimität und Kapazität der PA zu stärken. Dazu gehört auch die diplomatische Anerkennung eines palästinensischen Staates. Die regionale Konfliktverschärfung mit dem Iran ist sogar noch ein zusätzliches Argument dafür, denn nur die Umsetzung der Zweistaatenlösung bietet Aussicht auf eine dauerhafte Normalisierung der Beziehungen aller arabischen Staaten mit Israel.

Darüber hinaus sollten die verbliebenen Friedenskräfte in Israel und Palästina und alle jene, die zur Stärkung von Demokratie und Menschenrechten beitragen, jetzt uneingeschränkt unterstützt werden. Der Impuls nach dem 7. Oktober, die Unterstützung für Palästina einzufrieren, war katastrophal, denn dies traf genau diese zivilgesellschaftlichen Akteure – und spielt letztlich dem »Widerstands«-Narrativ der Hamas in die Hände. Ähnliches gilt für das Palästinenserhilfswerk UNRWA, das für die Versorgung der Palästinenser*innen in der Region und besonders auch in Gaza eine zentrale Rolle spielt. Hier wurden nach bisher unbelegten Vorwürfen gegen einzelne Angestellte Gelder eingefroren, die für die Versorgung Hunderttausender notwendig sind.

Schließlich sollten die derzeit auf verschiedenen Ebenen laufenden rechtlichen Bemühungen um Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorangetrieben werden. Die Bundesregierung betont einerseits ihre Unterstützung für den Internationalen Gerichtshof (IGH) und den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), greift aber andererseits immer wieder deren Urteilen vor, wenn es um den engen Verbündeten Israel geht.2 Nur wenn verantwortliche Akteure auf beiden Seiten für begangene Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden und der Zustand der Straflosigkeit endet, besteht die Hoffnung, dass sich die jetzige Katastrophe nicht wiederholt.

Anmerkungen

1) In deutschen Medien werden diese oft nur mit dem Zusatz verwendet, die Zahlen könnten nicht „unabhängig überprüft werden“; die VN und viele Expert*innen weisen aber darauf hin, dass diese Angaben des Gesundheitsministeriums, das von der Hamas geführt wird, in der Vergangenheit zuverlässig waren; wahrscheinlich sind sie angesichts der zahlreichen Vermissten eher zu niedrig.

2) „Dieser Vorwurf entbehrt jeder Grundlage“, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit zum Beispiel nach Beginn der Verhandlungen zur südafrikanischen Genozid-Klage vor dem IGH im Januar 2024.

Literatur

Ahituv, N. (2024): Epidemics, Famine, Untreated Wounds: Things Are About to Get Much Worse in Gaza. Haaretz, 6.4.2024.

Bar’el, Z. (2024): Israel‘s ‚Multinational Force‘ Pitch for Postwar Gaza Is Little More Than Wishful Thinking. Haaretz, 1.4.2024.

Bartov, O. (2024): Der Angriff der Hamas und Israels Krieg in Gaza. Heinrich-Böll-Stiftung, 18. Dezember 2023.

IGH (2024): Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide in the Gaza Strip (South Africa v. Israel). Request for the indication of provisional measures. Unofficial Summary 2024/1, 26.1.2024.

Kubovich, Y. (2024): Israel Created ‚Kill Zones‘ in Gaza. Anyone Who Crosses Into Them Is Shot. Haaretz 31.3.2024.

Michaeli, Y. et al. (2024): Buffer Zone and Control Corridor: What the Israeli Army‘s Entrenchment in Gaza Looks Like. Haaretz, 28.3.2024.

Qiblawi, T. et al. (2024): Anesthetics, crutches, dates. Inside Israel’s ghost list of items arbitrarily denied entry into Gaza. CNN, 1.3.2024.

Ravid, B. (2024): Bibi‘s post-war plan: No reconstruction in Gaza without demilitarization. Axios, 22.2.2024.

Vereinte Nationen (2024): Imminent famine in northern Gaza is ‘entirely man-made disaster’: Guterres. UN News, 18.3.2024.

Weltbank (2024): Joint World Bank, UN Report Assesses Damage to Gaza’s Infrastructure. Pressemitteilung, 2.4.2024.

René Wildangel ist Historiker und Publizist. Er lehrt derzeit an der International Hellenic University in Thessaloniki. Er studierte in Jerusalem und Damaskus und publiziert regelmäßig zu Nahost-Themen.

Mehr als 27.000 Tote in Gaza


Mehr als 27.000 Tote in Gaza

Grafik getötete Palästinenser*innen 25.10.23 bis 07.02.24

Worum geht es?

  • Zivile Tote in Kriegen und gewaltsamen Konflikten sind völkerrechtlich zu vermeiden, gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind Kriegsverbrechen. Im Zuge des Angriffs der Hamas auf Israel sind über 1.000 zivile Israelis ermordet worden, ein klares Kriegsverbrechen.
  • Die Zahl der infolge des Kriegs Israels gegen die Hamas im Gazastreifen getöteten Palästinenser*innen ist immer wieder umstritten – da die Daten vom Hamas-kontrollierten Gesundheitsministerium stammen.
  • Die Zahlen des Gesundheitsministeriums unterscheiden nicht zwischen Zivilist*innen und Kombattant*innen – es ist die Gesamtzahl der Getöteten. Es kursieren unterschiedliche, oft nach geschlechterspezifischen Kriterien ausdifferenzierte, Einschätzungen zum Verhältnis von Kämpfern (meist ausschließlich junge »kampffähige« Männer) und zivilen Opfern (meist Kinder (alle), Frauen und ältere Menschen).
  • Die Frage nach den »richtigen« Zahlen ist in mehrerer Hinsicht relevant: für entsprechende Fragen nach der Verhältnismäßigkeit eines Angriffs und der Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen eines im Krieg befindlichen Staates; für konkrete Entschädigungsforderungen bzw. juristische Ansprüche von Familien; der emotionale Eindruck der Zahlen darf nicht unterschätzt werden.

Was sagen die Daten?

  • Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza sind bis 8. Februar 2024 mehr als 27.000 Personen den israelischen Angriffen zum Opfer gefallen (vgl. Abb).
  • In einem Kurzbeitrag im englischen Medizinjournal »The Lancet« im Dezember 2023 berichteten Forscher*innen von einem statistischen Abgleich der Daten des Gesundheitsministeriums und den Meldungen der UN Relief and Works Agency (UNRWA) zu getöteten Mitarbeiter*innen. Die Zahlen des Gesundheitsministeriums lagen dabei zumindest bis zum 10. November unter den UN-Zahlen. Hier schlossen die Forscher*innen darauf, dass keine künstlich aufgeblasenen Zahlen vorlagen (Huynh et al. 2023).
  • In Abgleichen der Berichte des Gesundheitsministeriums mit Zahlen der UN und auch israelischer Behörden über die Opferzahlen in Kriegen der vergangenen zwanzig Jahre ist die weitgehende Verlässlichkeit der Daten der Gesundheitsbehörden in Gaza immer wieder bestätigt worden.

Friedenspolitische Konsequenzen?

  • Debatten über einen Krieg sollten sich nicht alleine an Opferstatistiken orientieren. Diese sind ein unvollständiges, inhärent fehleranfälliges Maß für das Ausmaß der durch einen Krieg verursachten Zerstörung. Sie sind schwer genau zu erstellen, unterliegen Verzerrungen und werden ständig politisiert (Lynch und Parkinson 2023).
  • Zu problematisieren sind alle pauschalen Annahmen, wonach alle männlichen Todesopfer im Gazastreifen Kämpfer und alle erwachsenen Frauen, Kinder und älteren Menschen Zivilist*innen sind. Sie tragen zu einem Narrativ bei, das palästinensischen Männern allein aufgrund ihrer demografischen Merkmale Schuld zuweist, ihre Verwundbarkeit verstärkt und wahllose Gewalt begünstigt. Diese geschlechtsspezifischen Annahmen im Krieg sind zu kritisieren.
  • Opferzahlen können schnell zu einem politischen Instrument werden, das Distanz zu den Schrecken und Tragödien von Kriegen schafft. Advocacy-Projekte in Palästina, Israel und im Libanon gibt es, weil Mortalitätsstatistiken wie Opferzahlen fast zwangsläufig die Nuancen in den Leben der Menschen ausblenden (vgl. Lynch und Parkinson 2023).

Literatur

Huynh, B.Q.; Chin, E.T.; Spiegel, P.B. (2023): No evidence of inflated mortality reporting from the Gaza Ministry of Health. The Lancet 403(10421), S. 23-24.

UNOCHA (o.J.): October 2023 escalation. Daily flash updates und reports on hostilities in the Gaza Strip and Israel. Homepage, ochaopt.org/crisis.

Lynch, M.; Parkinson, S. (2023): A closer look at the Gaza casualty data. Casualty counts can be a political tool – and how we report the data has real consequences. Good Authority, 14.12.2023.

Über 100 Mio. Menschen zwangsvertrieben


Über 100 Mio. Menschen zwangsvertrieben

Worum geht es?

  • Nach Angaben von UNHCR und IDMC waren noch nie so viele Menschen zwangsvertrieben wie 2022. Die Fluchtbewegungen sind erneut dramatisch angewachsen. Mittlerweile ist weltweit eine*r von ca. 74 Menschen auf der Flucht oder zwangsvertrieben.
  • Es gibt eine Vielzahl an miteinander verschränkten Ursachen, die diesen Bewegungen zugrunde liegen: kriegerische Handlungen, Gewalterlebnisse, politische Verfolgung und Vertreibung, nicht gesicherte Ernährungsgrundlagen, direkte Auswirkungen des Klimawandels, dramatische Naturereignisse. In vielen Ländern überschneiden sich Katastrophen und Konflikte, wodurch sich die Situation der Binnenvertriebenen verlängert und einige mehrfach hintereinander vertrieben werden.

Was sagen die Daten?

  • Den Angaben der UNHCR und IDMC zufolge gelten zum ersten Mal über 100 Mio. Menschen als zwangsvertrieben (vgl. Graphik 1). Noch 2021 gab UNHCR ca. 89,3 Mio. auf der Flucht befindliche Menschen an.
  • 71,1 Mio. Menschen lebten als Binnenvertriebene (62,5 Mio. aufgrund von Gewalt; 8,7 Mio. aufgrund von Katastrophen, vgl. Graphik 2), ein Anstieg von 20 % innerhalb eines Jahres und die höchste jemals verzeichnete Zahl. Im Laufe des Jahres wurden 60,9 Mio. Binnenvertreibungen oder bewegungen registriert, 60 % mehr als 2021 und ebenfalls der höchste jemals verzeichnete Wert.
  • Die Zahl der Vertreibungen im Zusammenhang mit Konflikten und Gewalt hat sich mit 28,3 Mio. fast verdoppelt (vgl. Graphik 2). Der Krieg in der Ukraine löste die höchste Zahl an Vertreibungen aus, die je für ein Land verzeichnet wurde.
  • Das Wetterphänomen La Niña führte sowohl zu einer Rekordzahl von Flutvertriebenen als auch auf der anderen Seite des Planeten zur schlimmsten Dürre seit Beginn der Aufzeichnungen – und führte zu 2,1 Mio. Vertreibungen.
  • Binnenvertreibung ist ein globales Phänomen, aber fast drei Viertel der Binnenvertriebenen weltweit leben in nur zehn Ländern: Syrien, Afghanistan, D.R. Kongo, Ukraine, Kolumbien, Äthiopien, Jemen, Nigeria, Somalia und Sudan.

Friedenspolitische Konsequenzen?

  • In einer Welt, die mittlerweile von Migrationsbewegungen geprägt ist, darf Zwangsvertreibung nicht als scheinbar »normal« akzeptiert werden. Wenn die Verkoppelung der Fluchtursachen verstanden wird, können krisenhafte Ereignisse, Fluchtbewegungen und Interventionsentscheidungen in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden.
  • Der unbedingte Einsatz für zivile und diplomatische Konflikttransformation und die Bereitschaft zu humanitärer Unterstützung für Geflüchtete, sowie eine globale Fairness in Bezug auf die Aufnahme, scheinen angemessene friedenspolitische Forderungen mit unmittelbaren Folgen für Zwangsmigration.

Literatur

IDMC (2023): Global Report on Internal Displacement (GRID) 2023 – Internal displacement and food security. IDMC und Norwegian Refugee Council.

UNHCR (2022): Refugee Data Finder – More than 100 Million people are forcibly displaced. Webpage, unhcr.org/refugee-statistics.

Hohes Maß an Gewalt

Hohes Maß an Gewalt

Eine Zusammenfassung des Konfliktbarometers 2022

von Hagen Berning und Tatiana Valyaeva

Gewalt, Kriege und Krisen sind in Konflikten weltweit zu beobachten – doch schnell verlieren Menschen den Überblick. Gerade in Zeiten akuter Kriege und Krisen in Europa kann der Fokus auf die globale Perspektive schnell zurückstehen. Das Konfliktbarometer bietet auch in diesem Jahr wieder einen qualitativen und quantitativen Überblick über die Dynamiken politischer Konflikte, sowohl gewaltsamer als auch gewaltloser Natur. Mit der 31. Ausgabe über den Beobachtungszeitraum des Jahres 2022 setzt das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) seine jährlich erscheinende Studie zum weltweiten Konfliktgeschehen fort.

Das Jahr 2022 war durch einen Anstieg der Zahl der Konflikte gekennzeichnet. Das HIIK beobachtete 363 Konflikte weltweit, im Vorjahr waren es noch 355. Sowohl die Anzahl der Kriege als auch die der begrenzten Kriege stieg jeweils von 20 auf 21 an. Auch die Zahl der gewaltsamen Krisen stieg von 164 auf 174, von denen knapp ein Drittel in Asien und Ozeanien beobachtet wurde. Gewaltsame innerstaatliche Konflikte waren mit 136 oder rund 30 Prozent aller beobachteten Konflikte weiterhin die häufigste Konfliktart (vgl. Graphik 1, Karte 2). Im Vergleich zum Jahr 2017 beobachtete das HIIK 2022 sechs gewaltsame Konflikte weniger, 216 statt 222. Die Anzahl hochgewaltsamer Kriege ist hingegen von 36 auf 42 gestiegen.

Graphik 1: Globale Konfliktintensitäten 2022

Karte 1: Regionalbetrachtung Ukraine

Krieg in der Ukraine

In Europa ist der Krieg zwischen Russland und der Ukraine aus einer gewaltlosen Krise in den ukrainischen Regionen Donezk (DNR) und Luhansk (LNR) des vergangenen Jahres eskaliert (vgl. Karte 1). Wie an dieser Karte erkenntlich, brachen zu Beginn der Invasion intensive Kämpfe besonders in den Grenzregionen zu Russland und Belarus aus. In der zweiten Jahreshälfte ab August konzentrierten sich hochintensive Auseinandersetzungen vor allem auf den Süden und Osten des Landes.

Am 24. Februar drang Russland in das ukrainische Hoheitsgebiet ein, vermeintlich mit dem Ziel, die Unabhängigkeit der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine zu unterstützen. Im ersten Kriegsjahr forderten die Auseinandersetzungen viele zivile und nicht-zivile Opfer. Im Jahr 2022 wurden nach Angaben der Vereinten Nationen mindestens 6.913 Zivilist*innen getötet und mindestens 11.044 verletzt. Außerdem wurden mindestens 18.000 Angehörige der ukrainischen Streitkräfte getötet und 54.000 verletzt, wobei die tatsächliche Zahl der Todesopfer auf etwa 46.500 geschätzt wird. Gleichzeitig wurden mindestens 30.000 Angehörige der russischen Streitkräfte, Kämpfer aus der DNR und der LNR sowie Söldner (wie die Wagner-Gruppe) getötet und 75.000 verletzt, wobei die tatsächliche Zahl der Todesopfer allein bei den russischen Truppen auf etwa 60.000 geschätzt wird. Der Krieg löste außerdem die größte Flüchtlingswelle in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Geschätzt 7,9 Millionen Menschen mussten aus dem Land fliehen und etwa 5,9 Millionen Ukrainer*innen wurden binnenvertrieben.

Besonders erbittert wurde um die Stadt Mariupol, DNR, von März bis Mai gekämpft. Bei den Kämpfen wurde ein Großteil der Stadt zerstört und mindestens 1.348 Zivilist*innen getötet, obwohl laut UN OHCHR die tatsächliche Zahl der Todesopfer um Tausende höher liegt. Russische Streitkräfte führten mehrere Luftangriffe gegen zivile Infrastruktur durch. So forderte beispielsweise ein russischer Angriff auf ein Entbindungskrankenhaus am 9. März mindestens drei Tote und mindestens 17 Verletzte. Bis zum 30. April erlangten die russischen Streitkräfte die vollständige Kontrolle über die Stadt, mit Ausnahme des Stahlwerks »Azovstal«, das sie am 20. Mai nach einer zweiwöchigen Belagerung einnahmen.

Nachdem die russische Offensive im Juli und August größtenteils ins Stocken geraten war, starteten die ukrainischen Streitkräfte am 6. September eine unerwartete Gegenoffensive in der Oblast Charkiw und gewannen die Kontrolle über 500 Siedlungen zurück. Im Oktober rückten die ukrainischen Streitkräfte nach Süden vor und eroberten mehrere Siedlungen im Norden der Oblast Cherson zurück. Diese Vorstöße wurden von Angriffen auf Brücken über den Fluss Dnipro begleitet, wodurch die russischen Streitkräfte letztlich daran gehindert wurden, ihre Truppen neu zu versorgen. Am 11. November gewann die Ukraine die Kontrolle über die Oblast Mykolaiv und Teile der Oblast Cherson, einschließlich der Stadt Cherson, zurück.

Seit Ausbruch des Krieges haben die russischen Streitkräfte und ihre Hilfstruppen zahlreiche bestätigte Kriegsverbrechen begangen. Der massive Einsatz von Artillerie, Raketen, Bomben und Streumunition gegen dicht besiedelte Gebiete ist für einen Großteil der zivilen Todesopfer verantwortlich. Der intensive Beschuss führte zu 400 gemeldeten Angriffen auf medizinische und schulische Einrichtungen. Die russischen Streitkräfte griffen wiederholt Zivilist*innen an. So wurden beispielsweise nach ihrem Rückzug aus der Oblast Kiew im April in der Stadt Bucha 458 Zivilist*innen tot aufgefunden, die Anzeichen von Folter aufwiesen. Ähnliche Fälle wurden aus Hostomel und Motyschin in der Oblast Kiew sowie aus Andriiwka in der Oblast Charkiw gemeldet, wobei in diesen drei Orten 900 Tote zu beklagen waren. Nachdem die ukrainischen Streitkräfte die vollständige Kontrolle über die Oblast Charkiw wiedererlangt hatten, wurden 414 Zivilist*innen tot aufgefunden, die meisten von ihnen mit gefesselten Händen, gebrochenen Gliedmaßen und mit gemeldeten Fällen von Genitalamputationen. Russische Beamte erklärten, dass sich über eine Million Ukrainer*innen freiwillig in Russland niedergelassen hätten, während ukrainische Beamte behaupten, dass es sich um Deportationen handelte, die gegen das Völkerrecht verstießen. Zu Jahresende kamen die ukrainischen Herbstoffensiven zu einem Stillstand und auch russische Gegeninitiativen brachten keinen Durchbruch. Stattdessen war das Kampfgeschehen weitgehend festgefahren, während sich russische Angriffe auf ukrainische Infrastruktur weiter häuften.

Regionale Konfliktübersicht

Europa

Im Jahr 2022 wurden 49 aktive Konflikte in Europa beobachtet, davon ein Krieg und ein begrenzter Krieg. Zusätzlich zum Krieg in der Ukraine eskalierte der gewaltsame Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um umstrittene Grenzgebiete, insbesondere die Region Bergkarabach, im vergangenen Jahr zu einem begrenzten Krieg. Die selbsterklärte »Republik Arzach« in Bergkarabach wird von Armenien und Russland unterstützt, ist aber international als Territorium von Aserbaidschan anerkannt. Im September kam es zu den schwersten Kämpfen seit dem Krieg von 2020. Nach monatelangen gegenseitigen Beschuldigungen der Verletzung des Waffenstillstands entlang der Grenze, eskalierten die Kämpfe Mitte September, als Aserbaidschan mit Artillerie, Mörsern und Drohnen mehrere Orte entlang der Grenze angriff und strategische Grenzgebiete eroberte. Die aserbaidschanische Regierung konnte die geschwächte Position Armeniens ausnutzen, da deren stärkster Verbündeter Russland seine Ressourcen auf den Krieg in der Ukraine konzentrierte.

Subsahara-Afrika

Das HIIK beobachtete im Jahr 2022 90 aktive Konflikte in Subsahara-Afrika. Wie im Vorjahr gab es in dieser Region die häufigsten Konflikte auf Kriegsniveau – 16 Kriege und fünf begrenzte Kriege, jedoch ein leichter Rückgang um einen begrenzten Krieg im Vorjahresvergleich.

Die Sicherheitslage in Nigeria war weiterhin unbeständig, und die Zahl der beobachteten Kriege blieb bei drei. Im Nordosten Nigerias dauerte der Krieg zwischen den mit »Boko Haram« verbundenen Gruppierungen und der von ihr abgespaltenen »Westafrikanischen Provinz des Islamischen Staates« (ISWAP) gegen die Regierungen von Nigeria, Kamerun, Tschad und Niger bereits das siebte Jahr in Folge an. In diesem Jahr kam es zu noch nie dagewesenen Angriffen der ISWAP außerhalb des Nordostens, die auf die Bundesstaaten Taraba, Kogi, Edo, Ondo, Niger und das Bundeshauptstadtgebiet Abuja abzielten, was auf eine Zunahme der logistischen und operativen Fähigkeiten der Gruppierungen hindeutete.

In der Demokratischen Republik Kongo beobachtete das HIIK ebenfalls drei Kriege. Insbesondere der Disput um die »M23«-Fraktionen (aus mehrheitlich ethnischen Tutsi bestehenden Rebellengruppen im Osten des Landes) eskalierte 2022 zu einem Krieg. Die M23, die angeblich von Ruanda unterstützt werden, wurden seit 2013 erstmals Ende 2021 wieder aktiv und wandten sich 2022 erneut gegen die Regierung, die zugleich von der UN-Mission MONUSCO und von 17 lokalen Milizen unterstützt wird. In diesem Jahr forderte der Konflikt mindestens 409 Tote und zwang ca. 390.000 Grenz- und Binnenvertriebene zur Flucht.

Ebenso war Äthiopien wieder Schauplatz dreier Kriege. Der Krieg zwischen der »Volksbefreiungsfront von Tigray« (TPLF) mit ihrem bewaffneten Flügel, den Verteidigungskräften Tigrays, auf der einen Seite und den äthiopischen sowie der eritreischen Regierungen auf der anderen Seite wurde fortgeführt. Verschiedene ethnische »Amhara-Milizen« und regionale Spezialkräfte unterstützten jeweils eine der beiden Regierungen. Vor allem in der Region Afar vertrieben die Angriffe der TPLF zu Beginn des Jahres über 300.000 Menschen. Im Krieg um die Vorherrschaft in den Regionen Oromia und Amhara zwischen der »Oromo-Befreiungsarmee« und der äthiopischen Regierung wurden vermehrt Zivilist*innen angegriffen. Darüber hinaus kam es im Krieg zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen um die Vorherrschaft auf subnationaler Ebene und um Agrarland insbesondere in Oromia und der Region Somali zu gewaltsamen Zusammenstößen. Am 2. November einigten sich die äthiopische Regierung und die TPLF auf eine dauerhafte Waffenruhe sowie Schritte hin zu einer Entwaffnung der TPLF und Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in der Region Tigray. Eine für die Entwaffnung der TPLF vorgesehene Frist wurde jedoch am 3. Dezember nicht eingehalten, da die TPLF aufgrund der anhaltenden militärischen Präsenz äthiopischer und eritreischer staatlicher Truppen in Tigray Sicherheitsbedenken anmeldete. Am 29. Dezember begann die Beobachtungs-, Verifizierungs- und Einhaltungsmission der Afrikanischen Union in Mekelle, Tigray.

Amerikas

In den Amerikas beobachtete das HIIK 44 gewaltsam ausgetragene Konflikte. Das ist ein Anstieg um vier im Vergleich zu 2021. Dazu zählen ein Krieg und drei begrenzte Kriege.

In Haiti eskalierte die gewaltsame Krise um subnationale Vorherrschaft und Ressourcen zwischen ca. 200 rivalisierenden Banden zu einem Krieg. Zwar existierten Banden in Haiti schon seit Anfang der 2000er Jahre, doch nach der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse am 07.07.21 nutzten sie das Machtvakuum, um ihre eigene Macht auszubauen. Die vermehrten Zusammenstöße zwischen den Banden »G9« und »G-Pèp« führten zum Tod von mindestens 1.576 Menschen und zur Vertreibung von mindestens 150.000 Zivilist*innen. Entführungen und Gewalt waren im Beobachtungszeitraum auch weit verbreitet: Bis November wurden insgesamt 1.200 Entführungen gemeldet, fast doppelt so viele wie beim vormaligen Rekordhoch im Vorjahr. Eine Treibstoffknappheit brachte zugleich jegliche wirtschaftliche Aktivität zum Erliegen und löste, gefolgt von einem Ausbruch der Cholera, eine humanitäre Krise aus.

In Mexiko setzte sich der begrenzte Krieg zwischen den Drogenkartellen fort. Die meiste Gewalt gab es in den Bundesstaaten Guanajuato und Zacatecas. Laut Schätzungen der Regierung sind die meisten der 30.968 Tötungsdelikte auf Rivalitäten zwischen den Kartellen zurückzuführen. Auch in Kolumbien setzte sich der begrenzte Krieg zwischen mehreren neo-paramilitärischen Gruppen, Drogenkartellen sowie der »Nationalen Befreiungsarmee«, Dissident*innen der »Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens« (FARC) und der »Volksbefreiungsarmee« fort. Das ganze Jahr über stießen bewaffnete Gruppen aufeinander, da sie versuchten, profitable Regionen für illegale Aktivitäten wie Drogenhandel, Ressourcenausbeutung und Erpressung zu kontrollieren sowie ihre Macht über Gebiete zu stärken, die sie zuvor eingenommen hatten.

Asien und Ozeanien

Mit 105 aktiven Konflikten, die das HIIK im Jahr 2022 beobachtete, war Asien und Ozeanien weiterhin die Region mit der höchsten Anzahl von Konflikten. Im Beobachtungsjahr wurden 62 Konflikte gewaltsam ausgetragen, sechs mehr als im Jahr 2021. Das HIIK beobachtete einen Krieg und acht begrenzte Kriege in der Region, wobei fünf der begrenzten Kriege aus gewaltsamen Krisen eskalierten.

Der Krieg in Myanmar zwischen der Opposition, bestehend aus der Nationalen Liga für Demokratie, den Volksverteidigungskräften und der Regierung der Nationalen Einheit, und der Armee von Myanmar nach ihrem Militärputsch im Februar 2021 forderte mindestens 1.300 zivile Opfer. In Myanmar beobachtete das HIIK auch drei weitere begrenzte Kriege. Im Bundesstaat Rakhine setzte die »Arakan Army« ihren Kampf um Autonomie gegen die myanmarische Armee fort. Der Konflikt führte im Laufe des Jahres zu mindestens zehntausenden Binnenvertriebenen. Im Kachin-Staat herrschte weiterhin ein begrenzter Krieg zwischen der »Kachin Independence Organisation« und der myanmarischen Armee. Schließlich eskalierte auch der gewaltsame Autonomiekonflikt in den Karen- und Kayah-Staaten zwischen der »Karen National Union«, ihrem bewaffneten Flügel, der »Karen National Liberation Army«, der »Democratic Karen Buddhist Army« (DKBA) sowie einer DKBA-Splittergruppe auf der einen Seite und der myanmarischen Armee auf der anderen Seite zu einem begrenzten Krieg.

In Zentralasien forderte der begrenzte Krieg um Territorium und internationale Macht in der Grenzregion des Fergana-Tals zwischen kirgisischen, tadschikischen und usbekischen Grenzgemeinden, die von ihren jeweiligen Regierungen unterstützt wurden, mindestens 117 Tote und 21.500 Vertriebene. In Kasachstan eskalierte die gewaltlose Krise um die nationale Macht und die Ausrichtung des politischen Systems zwischen verschiedenen Oppositionsgruppen und einzelnen Aktivist*innen gegen die Regierung zu einem begrenzten Krieg. Zunächst brachen am 2. Januar in der ölproduzierenden Stadt Zhanaozen Proteste aufgrund eines drastischen Anstiegs der Treibstoffpreise aus. Diese weiteten sich in den folgenden Tagen schnell auf andere Städte aus, insbesondere auf die größte Stadt Almaty, in der sie gewaltsam eskalierten, angefacht von wachsender Unzufriedenheit mit der Regierung und sozioökonomischen Problemen wie Korruption, Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen. Als die Proteste in Gewalt umschlugen, kündigte Präsident Qassym-Schomart Tokajew am 5. Januar den landesweiten Ausnahmezustand an und forderte Truppen des von Russland angeführten Militärbündnisses »Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit« (OVKS) zur Unterstützung an, um die Unruhen zu beenden. Am 7. Januar, nach anhaltenden Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstrant*innen, übernahmen die Regierungs- und über 3.000 OVKS-Soldaten wieder die Kontrolle über die meisten Städte. Diese Entscheidung hatte weitreichende Folgen für Kasachstans Beziehungen zu Russland, denn Moskau dürfte sich nunmehr in seiner Rolle als Bündnispartner Kasachstans und Garant für dessen Sicherheit gestärkt sehen.

Westasien, Nordafrika und Afghanistan

In der Region beobachtete das HIIK im Jahr 2022 insgesamt 58 aktive Konflikte, darunter zwei Kriege und vier begrenzte Kriege.

Der »Islamische Staat« blieb eine große Sicherheitsbedrohung für Syrien, Irak und andere Länder in der Region. In diesem Jahr forderte der Krieg um die Ausrichtung des internationalen Systems und die Kontrolle von Ressourcen wie Öl mindestens 1.871 Tote. Auch der Ableger »Islamischer Staat in der Provinz Khorasan« setzte seine Angriffe in Afghanistan fort, die sich vor allem gegen schiitische und andere religiöse Minderheiten sowie gegen die Sicherheitskräfte des »Islamischen Emirats« richteten. Darüber hinaus brach in Afghanistan ein Krieg um die Ausrichtung des politischen Systems zwischen verschiedenen bewaffneten Oppositionsgruppen und der von der Taliban geführten Regierung aus, nachdem die Taliban im August 2021 die Macht in Afghanistan übernommen hatten.

Im Iran erregte der begrenzte Krieg um die Ausrichtung des politischen Systems zwischen Oppositionsgruppen und großen Volksbewegungen auf der einen und der Regierung auf der anderen Seite große internationale Aufmerksamkeit. In der ersten Jahreshälfte kam es zu groß angelegten friedlichen Protesten gegen die anhaltende Wirtschaftskrise, die Sanktionen der USA und die wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie. Die Proteste verschärften sich am 16. September nach dem Tod von Mahsa Amini, die im Krankenhaus verstarb, nachdem sie von der Sittenpolizei in der Hauptstadt Teheran festgenommen worden war. Mit dem Vorwurf der Brutalität und Willkür der Sittenpolizei kam es für den Rest des Jahres zu landesweiten Protesten gegen gewaltsame Repressionen und die Kleidervorschriften, vor allem für Frauen. Bis zum 31. Dezember starben mindestens 491 Zivilist*innen während der Auseinandersetzungen, und etwa 18.000 Zivilist*innen wurden verhaftet.

Karte 2: Konflikte im Jahr 2022 global

Insgesamt muss das diesjährige Konfliktbarometer festhalten, dass auch außerhalb einer medialen Ukraine-Fokussierung ein Anstieg in der Intensität gewaltsamer Konflikte zu beobachten war. Nicht nur stieg im Vergleich zum Vorjahr die Anzahl gewaltsamer Konflikte insgesamt, auch die Zahl hochgewaltsamer Konflikte – sowohl der Kriege als auch begrenzter Kriege – stieg um zwei an. Dem gegenüber stehen jedoch zwölf hochgewaltsame Konflikte, die 2022 in ihrer Intensität deeskalierten. Gleichzeitig blieben rund drei Viertel (72,73 %) aller Konflikte in ihrer Intensität unverändert, was eine leichte Verbesserung im Vorjahresvergleich darstellt.

Das jährliche Heidelberger Konfliktbarometer kann auf der Homepage des HIIK kostenlos heruntergeladen werden. Der Bericht erscheint in englischer Sprache.

Hagen Berning studiert Internationale Beziehungen im Master an der Technischen Universität Dresden und war Ko-Chefredakteur des Konfliktbarometers 2022.
Tatiana Valyaeva ist Beraterin für politische Risiken bei der Strategieberatung »Control Risks« und war Ko-Chefredakteurin des Konfliktbarometers 2022. Sie studierte Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an Universitäten in Schottland, Deutschland, Südkorea, Russland und Italien.

Definitionen – Der Heidelberger Ansatz

Politischer Konflikt: Ein politischer Konflikt ist eine Positionsdifferenz hinsichtlich gesamtgesellschaftlich relevanter, immaterieller oder materieller Güter – den Konfliktgegenständen – zwischen mindestens zwei als durchsetzungsfähig wahrgenommenen direkt beteiligten Akteuren, die mittels beobachtbarer und aufeinander bezogener Konfliktmaßnahmen ausgetragen wird.

Intensitätsstufen: Es werden insgesamt fünf Intensitätsstufen unterschieden: Disput, gewaltlose Krise, gewaltsame Krise, begrenzter Krieg und Krieg. Die gewaltsame Krise, der begrenzte Krieg und der Krieg bilden zusammen die Kategorie der Gewaltkonflikte, im Unterschied zu den gewaltfreien Konflikten.

Indikatoren: Zur Ausdifferenzierung des Gewaltkonflikts werden als weitere Kriterien die eingesetzten Mittel (Waffen- und Personaleinsatz) und die Folgen des Gewalteinsatzes (Indikatoren Todesopfer, Zerstörung und Geflüchtete) herangezogen.

Eine ausführliche Darstellung der Methodik findet sich unter https://hiik.de/hiik/methodik auf der Website des HIIK.

Women Beyond Passive Victimhood


Women Beyond Passive Victimhood

2. Tagung des Netzwerks Friedensforscherinnen, Magdeburg, 7.-8. Oktober 2019

von Christine Buchwald und Lena Merkle

Nach einer ersten Tagung zum Thema »Feministische Perspektiven der Friedens- und Konfliktforschung« im Frühjahr 2019 veranstalteten die Frauensprecherinnen der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) am 7. und 8. Oktober 2019 eine zweite Tagung mit dem Beisatz »Women beyond passive victimhood« in Kooperation mit dem Studiengang Peace and Conflict Studies der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Das bereits bewährte Format einer Work-in-progress-Veranstaltung wurde ins Zentrum der Tagung gerückt und stieß erneut auf positiven Zuspruch der aktiven wie passiven Teilnehmenden. Dies äußerte sich primär in verlängerten Vortrags- und Diskussionszeiten gegenüber klassischen Formaten sowie im beratenden Charakter der Diskussionen, die durch mitgebrachte Fragen der Präsentierenden strukturiert wurde. Ziel des eingeschränkten Fokus war es, Frauen jenseits der oftmals wissenschaftlich wie im alltäglichen Umgang sehr präsenten weiblichen Opferrolle zu thematisieren. Von gut 30 Teilnehmenden präsentierten elf eigene Projekte in insgesamt fünf Panels. Ergänzt wurde das Programm um eine Filmvorführung am ersten Veranstaltungstag.

Ann-Kathrin Rothermel präsentierte im ersten Panel zu »Local and International Agency« einen Teil ihres Promotionsprojektes unter dem Titel »Victims, mothers and activists – Discourses of gendered agency in the UN’s global counterterrorism agenda«. Anhand von Dokumenten des Global Counter-Terrorism Coordination Compact betrachtet sie die Einbindung von Frauen als Opfer sowie in aktiven Rollen. In der Diskussion wurde in den Dokumenten insbesondere die Rolle der Konzepte von Männlichkeit aufgegriffen. Anschließend diskutierte Antje Busch unter dem Titel »Women as Local-Level Politicians in Post-Conflict Bougainville (Papua New Guinea)« überraschende Ergebnisse ihrer Feldforschung. Trotz einer 50-prozentigen Frauenquote in Gemeinderäten verwiesen einige Frauen in den Interviews lediglich auf die Fortführung der matrilinearen Kultur statt auf ein aktives Empowerment. Für diese Abweichungen von ihren Annahmen kristallisierte Antje Busch sieben verschiedene Erklärungsansätze heraus, die sie zur Diskussion stellte.

Im Panel »Women in the Media« stellte Evelyn Pauls in ihrem Vortrag »Female Fighters Shooting Back« erste Ergebnisse ihres Postdoc-Projektes vor. Sie legt den Fokus ihres Projektes auf ehemalige Kämpferinnen in Indonesien, Burundi, Nepal und den Philippinen, die die Möglichkeit erhielten, sich in Workshops zum Umgang mit Kamera und Schnitt fortbilden zu lassen, um dann die Frauen in ihrem Umfeld zu interviewen. Dabei entstand ein Korpus an Narrationen der Konflikte sowie seiner Folgen, der insbesondere spannende Einblicke in die Fragen nach dem Selbst und dem Anderen zulässt. Jana Schneider sprach danach über »Female War Reporters – Limitations and Possibilities of Gender«. Durch semi-strukturierte Interviews will sie die Dynamiken evaluieren, denen Kriegsreporterinnen in einem Umfeld begegnen, das von männlichen Aggressions- und weiblichen Opfernarrativen geprägt ist. Ihr Geschlecht kann dabei zum Vorteil werden, etwa in Bezug auf Zugänge und Perspektiven, jedoch auch zum Nachteil, insbesondere dann, wenn sie als verletzlicher wahrgenommen werden.

Das Panel »Masculinity and Femininity« war das Forum für Maria Hartmann und Bahar Oghalai, um ihr Konzept einer anti-toxischen Männlichkeitskultur von Bewegungen vorzustellen, auf das sie in ihrem Vortrag »Don’t stabilize what oppresses us! Of Masculine Revolution, Makers-of-Peace and Apolitical Practice« eingingen. Ausgehend von einer als gewaltvoll erlebten Situation entwickelten sie auf einer theoretischen Ebene ein Konzept, sich von der toxischen Männlichkeit zu lösen und so einem feministischen Zugang und einem Lösen von den genderbinären Rollenkonzepten in Bezug auf Krieg und Frieden näher zu kommen. Maximilian Kiefer ging anschließend in seinem Vortrag »Creating the New Man and the New Woman? Guerilla Masculin­ities and Femininity in the Salvadoran FMLN« auf die Konstruktion von Männlichkeit innerhalb der salvadorischen Guerilla ein. Im Rahmen seiner Masterarbeit arbeitete er Gender-Praktiken sowie -Konstruktionen auf der Diskursebene heraus. Anhand eines Modells bildete er die Ergebnisse auf der Makro-, Meso- und Mikroebene ab.

Beim Panel »Power and Empowerment« eröffnete Flora Hallmann mit ihrem Beitrag über ihre anstehende Masterarbeit »Because it’s never just sexism – how ethnicity and ideology influence the construction of narratives about politically violent women« die Diskussion über Narrative von verschiedenen politisch radikalen Frauen. Für ihre Analyse nutzt sie Laura Sjobergs Gerüst zu »Mothers, Monsters, Whores«. Mit dieser Einteilung analysiert sie sechs Fallbeispiele, die sich unter anderem durch die leitende Ideologie (rechts-/linksradikal, islamistisch) unterscheiden. Im folgenden Vortrag »More than dichotomous – Analyzing female perpetrators of the Rwandan genocide through Timothy Williams’ typ­ology of action« ging Marie-Therese Meye auf eine Analyse von 25 Interviews ein, die sie anhand verschiedener statistischer Daten auswertete und in der Logik von Timothy Williams Typologie zu Genoziden einordnete.

Im Panel »Sex and Sexuality« berichtete zunächst Laura Hartmann aus ihrem Projekt »(Nasty) Women talk back«. Aus einem Blickwinkel der Intersektionalität betrachtet sie Frauenbewegungen in Südafrika und den USA. Die Bewegungen stehen im Spannungsfeld von Race und Gender als Diskriminierungskategorien und sind international verbreitet und vernetzt. Solidarität und Sisterhood stehen dabei im Fokus der Forschung. Nora Lehner stellt in ihrem Projekt »A reflection on the concept of agency when researching sexual relations, prostitution and sexual barter during the Allied Occupation of Vienna« die Frage, wie Genderrollen sich in Krisensituationen verändern können. In diesem Projekt analysierte sie Formen sexuellen Handels im besetzten Wien der Nachkriegszeit. Die noch nie betrachteten Autobiographien sowie eine Anzahl biographischer Portraits von als Prostituierte registrierten Frauen zeigt das Spannungsfeld von Zwang, Agency, Gewalt und Wahlfreiheit, in welchem die Frauen ihre Entscheidungen trafen.

Die Rückmeldungen zum Veranstaltungsformat sowie zu den einzelnen Beiträgen waren überaus positiv, sodass eine Fortsetzung der Tagungsreihe im kommenden Sommer bereits in Planung ist. Ein ausführlicherer Tagungsbericht findet sich auf der Homepage des Netzwerks Friedenforscherinnen (afk-web.de/cms/netzwerk-­friedensforscherinnen).

Christine Buchwald und Lena Merkle

Der Fall Kundus

Der Fall Kundus

Plädoyer für eine kritische Bestandsaufnahme

von Katja Mielke und Conrad Schetter

Die AutorInnen fordern in ihrem Kommentar vom 6. Oktober 2015, den sie anlässlich der Rückkehr der Taliban nach Kundus schrieben, eine kritische Aufarbeitung des Bundeswehreinsatzes dort: „Die Frage ist nicht, ob man mehr Militär nach Afghanistan schicken sollte oder nicht, sondern vielmehr, was bislang versäumt wurde.“ Eine solche Bestandsaufnahme, die die AutorInnen exemplarisch anhand einiger Beispiele anreißen, hat insbesondere nach der Entscheidung der USA, den Truppenabzug aus Afghanistan zu stoppen, und den Überlegungen, in der Folge solle auch Deutschland den Einsatz der Bundeswehr dort fortsetzen, höchste Dringlichkeit. W&F dankt für die Nachdruckrechte.

Kundus stand ein Jahrzehnt lang wie kein anderer Ort für den deutschen Sonderweg einer Interventionspolitik, in der Wiederaufbau mit einem Bundeswehreinsatz gepaart wurde. Hier wurde der so genannte Vernetzte Ansatz erprobt, hier versuchten die Deutschen, es besser zu machen als ihre angelsächsischen Kollegen, was die Einbindung der Afghanen und den Aufbau von Staatlichkeit anging. Kundus sollte das Musterländle am Hindukusch werden. Nun ist es das Symbol, das – wenige Monate nach dem massiven Truppenabzug aus Afghanistan – für die Zäsur im Wiederaufbau, für das Wiederaufflackern des Bürgerkrieges und für die Rückkehr der Taliban steht. Schonungslos führt die Weise, in der die Taliban Kundus in wenigen Stunden überrannten und einnahmen, vor Augen, wie oberflächlich zehn Jahre deutscher Präsenz und Entwicklungsanstrengungen den Nordosten des Landes nur verändert hatten. Nun dürfte auch der letzte deutsche Politiker und Beamte verstanden haben, dass die Schönfärberei des Einsatzes in Afghanistan nichts mehr bringt.

Allenthalben wird nun gefragt, was denn die internationale Gemeinschaft als nächstes tun müsste, um die Konsolidierung und eine erneute großflächige Herrschaft der Taliban zu verhindern; wieder einmal scheint eine neue Runde des blinden Aktionismus auszubrechen, die kaschieren soll, was in der Vergangenheit alles falsch gelaufen ist. Daher bedarf es eher einer kritischen Aufarbeitung des Kundus-Einsatzes, bevor man erneuten aktionistischen Impulsen nachgibt. Die Frage ist nicht, ob man mehr Militär nach Afghanistan schicken sollte oder nicht, sondern vielmehr, was bislang versäumt wurde. Heute gibt es viele bittere Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Hier einige Beispiele:

Die Bundeswehr war in Kundus zu keinem Zeitpunkt in der Lage, ihren Auftrag, ein sicheres Umfeld für den Wiederaufbau zu schaffen, umzusetzen. Dazu mangelte es ihr an Kapazitäten und an Fähigkeiten. So hoffte man, dass die technisch-militärische Überlegenheit der Bundeswehr ausreichen würde, um Gewaltakteure abzuschrecken. Eigene Soldaten in Gefahr zu bringen, um ein sicheres Umfeld zu schaffen, war unausgesprochenes Tabu. Diese Strategie ging dem Anschein nach viele Jahre lang gut; mit sehr viel Glück hielten sich die Verluste in Kampfeinsätzen gering. Eher schleichend verschlechterte sich die Sicherheitslage; zunächst wurde der Distrikt Chardarah, direkt vor den Toren des Bundeswehrlagers, zu einer Problemregion, dann kamen Distrikte wie Archi, Khanabad und Imam Sahib dazu. Mit der Zeit traten die schon immer vorhandenen Rivalitäten und Netzwerke der Kriegsfürsten wieder mehr und mehr zu Tage. Die Bundeswehr war nur noch oberflächlich in der Provinz präsent: Kaum noch fuhr sie Patrouillen; sie igelte sich immer mehr in ihrem Lager ein. Entgegen einer konsequenten Entwaffnung lokaler Gewaltakteure fand in Kundus das genaue Gegenteil statt. So wurden – vor allem mit US-amerikanischem Geld – lokale Bürgerwehren als Privatmilizen finanziert, bewaffnet und aufgebaut. Beim Abzug der Bundeswehr war nahezu die gesamte Provinz unter rivalisierenden, bis an die Zähne bewaffneten Kommandeuren aufgeteilt. Die Sicherheit in Kundus – wohlgemerkt die der Bevölkerung, nicht ihre eigene – hatte die Bundeswehr bereits vor Jahren aufgegeben.

Aber gegen wen will man eigentlich kämpfen? Früh, zu früh operierten die deutschen Analysten mit einem zu simplen Feindbild. Zu schnell wurde alle unzufriedenen oder aufmüpfigen Paschtunen als Taliban kategorisiert; blind ließ man sich in die lokale Politik hineinziehen – ohne zu merken, dass die Bundeswehr, aber auch Organisationen der Entwicklungshilfe, in ihrer alltäglichen Praxis politisch Partei ergriffen. Beispielsweise wurden sowohl in Kundus-Stadt als auch in Taloqan, der Hauptstadt der Nachbarprovinz Takhar, Grundstücke und Gebäude angemietet, ohne Bedenken, wessen Taschen damit gefüllt würden und welchen Eindruck diese Art der Parteinahme in der dortigen Bevölkerung hervorrufen würde. Die blauäugige Rekrutierung von Personal – ob Logistiker, Ingenieure, Dolmetscher – verfestigte den Einfluss und das Machtgewicht bestimmter Familien und Netzwerke. Dass diese Personalpolitik die lokalen Zielgruppen der Entwicklungsmaßnahmen und Projekte sowie den Informationsfluss zwischen Interventen und der breiten Bevölkerung maßgeblich beeinflusste, überrascht nicht. Die Deutungshoheit über die lokalen politischen Verhältnisse hat man entweder nie erlangt oder Wissen zu leichtfertig anderen Erwägungen – wie Mittelabflussdruck, Karriereplanungen und Kurzzeitinteressen der ministerialen Politik in Berlin und Bonn – geopfert. Auch der von Oberst Klein befehligte, verhängnisvolle Beschuss eines Tankzugs, bei dem etwa 90 Zivilisten ums Leben kamen, verdeutlichte, wie weit man von den Realitäten vor den Toren des Lagers entfernt war.

Auch wurden die vermeintlichen Bedürfnisse der Afghaninnen und Afghanen zum einen niemals richtig erfasst und zum anderen wurde die Frage, ob die Partnerwahl vor Ort immer die richtige war, niemals gestellt. Die Bevölkerung selbst wurde viel zu selten gefragt, in was für einer Gesellschaft sie eigentlich leben will. Die Definition der Bedürfnisse und Strategien zu deren Realisierung wurde in kolonialer Manier durch die Interventen vorgenommen. In den Gemeinden im Nordosten mit dieser Art Vorgehen auf der Alltagsebene Vertrauen aufzubauen und die Zuversicht in den Staatsaufbauprozess zu stärken, war daher illusorisch. In einer Reihe von Dörfern wussten sich Männer aller Altersklassen in den letzten Jahren aufgrund von Denunzierung durch ihre Rivalen und der Angst, lokalen Ordnungskräften ans Messer geliefert zu werden, nicht anders zu helfen, als »in die Berge« zu gehen und sich vor dem Zugriff des »Rechtsstaates« in Sicherheit (!) zu bringen. Sie galten dann als Taliban oder al-Kaida-Anhänger. Die Taliban in Kundus waren daher zum großen Teil ein Monster, das sich die Intervention selbst geschaffen hat.

Die afghanischen Partner und insbesondere lokale Eliten tragen eine klare Mitverantwortung für die Geschehnisse: Auch für sie bildeten Kurzzeitinteressen die Priorität; die verfügbaren Gelder – letztendlich Gelder deutscher Steuerzahler – waren immens und weckten Begehrlichkeiten. Letztlich formten diese Anreize die Grundlage dafür, dass die Akteure der staatlichen und nichtstaatlichen Entwicklungszusammenarbeit zunehmend selbst Konfliktparteien wurden. Auch wenn dies ungewollt geschah – der Mangel an Selbstkritik, organisatorische Selbsterhaltungslogiken und die bewusste, bis heute anhaltende Täuschung der deutschen Öffentlichkeit sind konkrete Punkte, die die gegenwärtige allseitige Bestürzung über die aktuellen Ereignisse in Kundus heuchlerisch erscheinen lassen.

Vor diesem Hintergrund wäre es fatal, über die Ereignisse in Kundus nun einfach hinwegzugehen oder mal wieder nur nach dem Militär zu rufen. Vielmehr zeigt gerade der Fall Kundus, wie schwierig, langwierig und steinig der Weg des Wiederaufbaus in einem zerrütten Bürgerkriegsland ist. Eine externe Analyse dessen, was eigentlich in gut zehn Jahren deutschem Engagement in Kundus gelaufen ist, ist daher unbedingt von Nöten, um aus den gemachten Fehlern für zukünftiges Handeln zu lernen. Dabei geht es dann auch darum, schonungslos Probleme, Ignoranz, Versagen und Fehleinschätzungen aufzuarbeiten. Dies hat die deutsche Politik bislang bewusst nicht gewollt. Kundus musste unbedingt ein Erfolg sein. Wer sich jedoch nach den Ereignissen der letzten Tage dieser kritischen Auseinandersetzung immer noch verschließt, muss entweder Zyniker oder verblendet sein.

Katja Mielke (Senior Researcher) und Conrad Schetter (Forschungsdirektor) arbeiten am BICC (Internationales Konversionszentrum Bonn). Zwischen 2003 und 2013 bereisten sie immer wieder Kundus und führten dort Feldforschung zu lokaler Politikgestaltung durch.

Kollateralschaden des Koreakriegs

Kollateralschaden des Koreakriegs

60 Jahre ohne Friedensvertrag

von Christine Ahn

Der Koreakrieg endete laut der üblichen Geschichtsschreibung vor 60 Jahren, wenn auch nur mit einem Waffenstillstand, nicht mit einem Friedensvertrag. Unsere Autorin sieht dies anders: Dieser Krieg sei bis heute nicht beendet, mit fatalen Folgen für die Koreaner nördlich wie südlich der Demarkationslinie. Auch gigantische Aufrüstungsmaßnahmen seien Folge des nie beendeten Krieges, und mitschuldig an der Misere seien die USA.

Die Insel Jeju wurde 2011 für ihre außerordentliche landschaftliche Schönheit zu einem der sieben neuen Weltwunder gewählt. Gut 100 Kilometer südlich der koreanischen Halbinsel gelegen, weist Jeju Island die weltweit höchste Zahl an UNESCO-Geoparks sowie mehrere Biosphärenreservate und als UNESCO-Weltkulturerbe ausgewiesene Stätten auf.

An der Südküste der Insel, weniger als zwei Kilometer vom UNESCO-Biosphärenreservat Beom Islet entfernt, liegt das 450 Jahre alte Dorf Gangjeong. Die Straßen dieser landwirtschaftlich geprägten Ortsgemeinde sind von Mauern aus Lavagestein gesäumt; Mandarinen-, Aprikosen- und Feigenbäume wachsen in Hülle und Fülle. Entlang Ganjeongs Küste, wo frisches Quellwasser auf Meerwasser trifft, zieht sich ein großes Lavamassiv, von den Dorfbewohnern liebevoll »Gureombi« genannt. Dieses seltene marine Ökosystem – das einzige felsige Feuchtgebiet auf der Insel Jeju – beheimatet verschiedene bedrohte Arten und Weichkorallenriffe. Von den 132 in Korea vorkommenden Korallenarten finden sich 92 an der Küste von Jeju und davon wiederum 66 in diesem Gebiet. Seit Generationen bieten diese Gewässer den Fischern und den »haenyo«, Jejus berühmten Meerestaucherinnen, eine stabile Existenzgrundlage. Seit einigen Jahren sind sie allerdings auch Schauplatz einer hartnäckigen Widerstandsbewegung von DorfbewohnerInnen, die sich erbittert gegen den Bau eines südkoreanischen Marinestützpunktes wehren. Die Jeju Naval Base soll u.a. Stützpunkt für das amerikanische Raketenabwehrsystem werden, das der Eindämmung Chinas dienen soll.

Jeju liegt in der Koreastraße, ziemlich genau im Schnittpunkt zwischen Beijing, Hongkong, Shanghai, Tokio, Taipeh und Wladiwostok. Viele Kommentatoren sagen, Jeju sei ein Opfer des »Asia Pacific Pivot«, der politisch-strategischen Umorientierung der USA auf den asiatisch-pazifischen Raum, die die Regierung Obama im Jahr 2011 angekündigt hat. Diese neue außenpolitische Doktrin sieht vor, dass die USA mittels aggressiver ökonomischer Expansion und dem Einsatz militärischer Mittel ihre Vorherrschaft über diese Region sichern. Dazu sollen erhebliche militärische Kontingente nach Asien und in die Pazifikregion verlegt werden; Bestandteil der Planung sind zusätzliche bzw. erweiterte Militärbasen, Überwachung und moderne Kriegsführung. Das Pentagon hat entschieden, 60% seiner Luft- und Seestreitkräfte in Asien und dem Pazifik zu stationieren, u.a. in Vietnam, den Philippinen und Australien. Zweifellos verschärft der «Pivot« die Spannungen in einer Region, die ohnehin noch von Konflikten aus dem letzten Jahrhunderts geprägt ist.

Korea als Rechtfertigung für US-»Pivot«

Der nie formell beendete Koreakrieg ist einer dieser ungelösten Konfliktea und liefert die Begründung für die weitere Militarisierung des Landes und für den Bau der Marinebasis auf Jeju.

Es wird oft übersehen, dass vor allem ein Land den USA als Rechtfertigung für ihre militärische Expansion in der asiatisch-pazifischen Region dient: Korea. Bruce Cumings, der führende Historiker zur koreanischen Geschichte, schreibt dazu: „Weder […] der Vietnamkrieg noch der Marshall-Plan waren Ursache für den hohen Verteidigungshaushalt und den nationalen Sicherheitsstaat, sondern der Koreakrieg. Er bedingte die Transformation von einer begrenzten Eindämmungsdoktrin zu einem globalen Kreuzzug. Letzterer wiederum entfachte den McCarthyismus just dann neu, als dieser zu verebben schien, und verlieh damit auch dem Kalten Krieg seinen langen Atem.“

Wie vor 60 Jahren dient auch heute Korea als Rechtfertigung für die amerikanische Aggression im asiatisch-pazifischen Raum. Als Nordkorea im Dezember 2012 erfolgreich einen Satelliten startete und wenige Monate später erneut eine Atomwaffen testete, drängten die USA den UN-Sicherheitsrat zu weiteren Sanktionen, dieses Mal unter Beteiligung Chinas. Nordkorea verschärfte daraufhin den Ton: Das Land erklärte das Waffenstillstandsabkommen für ungültig und drohte mit Schlägen auf US-amerikanische und südkoreanische Ziele, falls ein Angriff auf nordkoreanisches Territorium erfolgen sollte. Das entscheidende Wort hierbei wurde in den US-Medien unterschlagen: „falls“. Dies setzte einen Feuersturm militärischer Reaktionen in Gang, darunter eine beispiellose Machtdemonstration der USA während eines gemeinsam mit Südkorea durchgeführten Gefechtsübung. Im Rahmen dieses Militärmanövers schickten die USA nuklearwaffenfähige Tarnkappenbomber des Typs B-2 nach Südkorea. Diese Bomber können 30.000-Pfund-Bomben abwerfen, die speziell für die Zerstörung von Nordkoreas unterirdischen Militäranlagen entwickelt wurden. Auch das mit Tomahawk-Raketen ausgerüstete Atom-U-Boot U.S.S. Cheyenne nahm an dem Manöver teil. Der ehemalige US-Verteidigungsminister Leon Panetta sagte, die Vereinigten Staaten stünden „jeden Tag wenige Zentimeter vor einem Krieg mit Nordkorea“.

Das Wissen um die Geschichte

In Wahrheit sind die USA immer noch im Krieg mit Nordkorea. Nach dem Tod von vier Millionen Koreanern, die meisten davon Zivilisten, blieb der Koreakrieg trotz Unterzeichnung des vorläufigen Waffenstillstandabkommens zwischen den USA, Nordkorea und China am 27. Juli 1953 ungelöst. Der Waffenstillstand enthielt drei zentrale Klauseln:

1. Innerhalb von drei Monaten sollen die Unterzeichnerstaaten eine dauerhafte Friedensregelung ausarbeiten. Diese Vereinbarung wurde nie erfüllt.

2. Alle ausländischen Truppen sollen sich aus Korea zurückziehen. China rief daraufhin sämtliche Truppen zurück, die USA hingegen stationieren immer noch 28.500 Soldaten auf 80 Militärbasen und in anderen Einrichtungen in ganz Südkorea.

3. Es sollen keine neuen Waffen in Korea eingeführt werden. Auch diese Klausel verletzten die USA mit der Stationierung von Nuklearwaffen in Südkorea, die erst 1991 von der Regierung Bush sen. abgezogen wurden.

Dieses Jahr jährte sich das Waffenstillstandsabkommens zum 60. Mal – und die gesamte Ära seither ist durch Krieg, die Teilung des Landes und die anhaltende Militarisierung Koreas gekennzeichnet, im Norden wie im Süden.

Das Wissen um diese Geschichte ist Voraussetzung zum Verständnis der gegenwärtigen Situation. Der nie beendete Koreakrieg ist ursächlich für die gegenwärtige Krise auf der koreanischen Halbinsel und für Maßnahmen wie den Bau der Militärbasis auf Jeju. Es ist einfach, Nordkorea als kriegslüstern zu verurteilen. In Wirklichkeit wird Nordkorea provoziert, und zwar durch den »Pivot« und die amerikanisch-koreanischen Kriegsspiele, bei denen Zehntausende amerikanische und südkoreanische Soldaten eine Invasion in und Besetzung von Nordkorea simulieren. Nordkorea ist der perfekte Schwarze Peter für Washington, um den »Pivot« zu begründen, ohne die wahre Absicht – die Eindämmung Chinas – zuzugeben. Seitdem die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton diesen »Pivot« im Jahr 2011 ankündigte, verzeichnete die Rüstungsindustrie der USA ungeachtet der globalen Rezession eine Umsatzsteigerung um fünf Prozent. Und seitdem Washingtons im Dezember 2012 dem Verkauf von Drohnen an Seoul zustimmte, wächst auch der Waffenhandel der USA mit Japan, Taiwan, Singapur, Australien und anderen US-Alliierten.

Unterdessen treibt die südkoreanische Regierung die Sprengung und Ausbaggerung der Korallenriffe von Gangjeong für die Marinebasis mit Hochdruck voran. Südkoreas Wirtschaft hängt fast ausschließlich vom Seehandel ab – ein Resultat der Teilung der Halbinsel entlang des 38. Breitengrades. Gemäß der südkoreanischen Marineplanung sollen an der Basis 20 Kriegsschiffe andocken können, einschließlich der Aegis-Boote mit der Raketenabwehr der USA.

Gegen den Bau der Basis gibt es täglich Proteste von Dorfbewohnern und sympathisierenden Aktivisten, darunter den großen Glaubensgemeinschaften des Landes; US-Stars wie Filmemacher Oliver Stone und Schriftstellerin Gloria Steinem unterstützen die Bewegung mit Solidaritätsbesuchen.1 Dennoch arbeiten die Firmen Samsung und Daelim im Auftrag der Regierung rund um die Uhr, um die Basis bis 2015 fertig zu stellen.

Die Kosten des Krieges

Es gibt noch mehr Kollateralschäden des nie beendeten Koreakrieges. Kürzlich fand an der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA) eine Konferenz statt, die vom Korea Policy Institute, dem UCLA Center for Korean Studies und den United Methodist Women on Ending the Korean War veranstaltet wurde. Eine junge koreanisch-amerikanische Frau warf die Frage auf, warum ihre Generation Interesse an der Wiedervereinigung Koreas haben sollte, wo die Kosten für die Unterstützung des verarmten Nordens für Südkorea doch absolut unerschwinglich seien.

Ich forderte sie auf, das Problem anders zu betrachten, und fragte meinerseits: „Wie hoch sind die Kosten für die Aufrechterhaltung der Teilung und den permanenten Kriegszustand?“ Dabei geht es nicht nur um die Verschwendung knapper öffentlicher Gelder für die Kriegsvorbereitung, die die öffentlichen Kassen überall belastet. Den meisten Amerikanern ist nicht bewusst, dass die US-Regierung mehr als die Hälfte des Staatshaushalts für den militärisch-industriellen Komplex ausgibt, während gleichzeitig jedes vierte Kind hungrig zu Bett geht und fast 50 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung dastehen.

Zu den Kosten dieses Krieges gehören auch Repressionen im Namen der nationalen Sicherheit auf beiden Seiten der demilitarisierten Zone. Im so genannten demokratischen Südkorea definiert das vom Kalten Krieg geprägte »National Security Law« Gewerkschafter, Umwelt-, Friedens- und andere im Bereich sozialer Gerechtigkeit tätige Aktivisten als »Kommunisten«; infolgedessen unterwerfen sich die meisten Menschen einer Art Selbstzensur und sagen lieber nicht, was sie denken.

Gegenwärtig führen die Konservativen unter Führung der südkoreanischen Präsidentin Park Geun-hye, Tochter des früheren Diktators Park Chung-hee, der Korea 18 Jahre lang mit eiserner Faust regierte, eine regelrechte Hexenjagd durch. Während der Präsidentschaftswahlen 2012 griff der Inlandsgeheimdienst »National Intelligence Service« (NIS) in den demokratischen Prozess ein: Er organisierte eine Hetzkampagne gegen liberale und linke Kandidaten, die er in einer Rufmordkampagne in mehreren Online-Foren als Kommunisten und Sympathisanten des Nordens verleumdete. Als landesweit Rufe nach Auflösung des NIS aufkamen, konterte der Geheimdienst mit Razzien in den Büros der Unified Progressive Party, verhaftete mehrere Mitglieder der Partei, darunter den Abgeordneten Lee Seok-ki, und stellte sie unter Anklage. Er behauptet, Lee sei Anführer der »Revolutionary Organization«, die angeblich gemeinsam mit Nordkorea einen bewaffneten Aufstand plane. Die Situation ist inzwischen so eskaliert, dass aus allen Bereichen der südkoreanischen Zivilgesellschaft die Forderungen erhoben wird, diese Hexenjagd zu beenden und das Augenmerk wieder auf die wahren Kriminellen zu richten, namentlich den NIS.

Nördlich der demilitarisierten Zone gibt es einen weiteren Kollateralschaden des unbeendeten Koreakrieges: die Menschenrechtskrise in Nordkorea, geschürt von 60 Jahren Sanktionen, die vor allem von den USA betrieben werden und die Wirtschaft des Nordens lahm legten sowie die Menschen in das Elend zwangen.

Es ist allgemein bekannt, dass im Krieg oder unter der Drohung des Krieges bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte oft eingeschränkt oder bedroht sind. Auch die USA begründen Menschenrechtsverletzungen mit der nationalen Sicherheit. Unter diesem Vorwand rechtfertigte die Regierung Bush jr. die systematische Folter von Gefangenen, und sogar Präsident Obama führte die nationale Sicherheit ins Feld, um zu erklären, warum Guantanamo nicht geschlossen werden kann.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will auf keinen Fall die Praxis Nordkoreas rechtfertigen, Flüchtlinge zwangsweise nach Nordkorea zurückzuführen und dort in Umerziehungslager zu stecken. Der Gedanke an diese Vorgehensweise ist nur schwer zu ertragen. Aber die Suche nach einer Lösung dieser Menschenrechtskrise verlangt einen holistischen Ansatz und eine kontextbezogene Wahrnehmung, warum Nordkorea sich so verhält. Man muss zur Wurzel des Konflikts vordringen: den nie beendeten Koreakrieg, der auf beiden Seiten der demilitarisierten Zone die Militarisierung und die Verletzung der Menschenrechte im Namen der nationalen Sicherheit vorangetrieben hat. In den Vereinigten Staaten und den anderen Ländern des Westens mangelt es an jeglicher Historisierung des Koreakriegs und seine Folgen und damit auch an einem tieferen Verständnis, warum so viele Menschen aus Nordkorea fliehen.

Elend und getrennte Familien

Die Teilung hat unmittelbare Folgen vor allem für die nordkoreanischen Frauen, die auf der Suche nach einem besseren Leben den Großteil der Nordkoreaflüchtlinge stellen, sind Frauen auf der Flucht doch besonders vielfältigen Gefahren ausgesetzt, u.a. dem Menschenhandel und der sexuellen Ausbeutung. Sogar die Washington Post stellte fest, dass „nordkoreanische Überläufer vor allem Frauen aus der Arbeiterschicht und aus ländlichen Gebieten sind, die vor Hunger und Armut fliehen, nicht vor politischer Repression.“

An dem Elend der Menschen in Nordkorea sind die Vereinigten Staaten federführend mitschuldig, und dies in mehrerer Hinsicht: Zum einen wirkten sich die Sanktionen in den vergangenen 60 Jahren massiv auf das Alltagsleben der Nordkoreaner aus. Auf seiner letzten Reise nach Nordkorea, die er gemeinsam mit anderen Friedensnobelpreisträgern unternahm, sagte der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter: „Werden Sanktionen über ein ganzes Volk verhängt, dann leiden die Menschen am stärksten und die Führer am wenigsten.“ Und weiter: „Aufgrund der Sanktionen blieb den Nordkoreanern ein angemessener Zugang zu Handel und Gewerbe verwehrt, mit verheerenden Folgen für die nordkoreanische Wirtschaft.“ Zum anderen zwingt der unbeendete Krieg Nordkorea dazu, seine begrenzten Ressourcen in das Militär zu stecken. Als Nordkorea im Frühjahr 2013 das Waffenstillstandsabkommen aufkündigte, erklärte das Regime, der unbeendete Krieg habe das Land dazu gezwungen, „große personelle und materielle Ressourcen auf die Verstärkung der Streitkräfte zu verwenden, obwohl diese für die ökonomische Entwicklung und die Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung dringend benötigt würden“. Dies ist wahrlich ein Eingeständnis, das wir in ähnlicher Form bislang weder von den USA noch von Südkorea gehört haben.

Und schließlich leiden Millionen getrennter Familien in Korea und in der gesamten Diaspora unter den Kriegsfolgen. Schätzungen zufolge sind immer noch zehn Millionen Familien auseinander gerissen aufgrund der Teilung entlang der entmilitarisierten Zone. Wir sollten auf der ganzen Welt unsere kollektive Energie darauf verwenden, die 1,2 Millionen Landminen in der demilitarisierten Zone zu entschärfen, so dass Koreaner aus dem Norden und dem Süden diese unbehindert überqueren können. Voraussetzung dafür ist aber, dass der Koreakrieg endlich mit einem endgültigen Friedensvertrag beendet wird.

Anmerkung

1) Die Proteste gegen die Marinebasis auf Jeju und ihre historische Vorgeschichte (entsetzliche Massaker der unter US-Befehl stehenden südkoreanischen Sicherheitskräfte an 60.000 BewohnerInnen von Jeju während des Koreakrieges) schildert Regis Tremblay in seinem Film »The Ghosts of Jeju« (2013, 90 Min.); www.theghostsofjeju.net.

Christine Ahn ist Gründungsmitglied des Korea Policy Institute, der National Campaign to End the Korean War und der Global Campaign to Save Jeju Island.
Übersetzt von Bentje Woitschach

Die Schatten des Zweiten Weltkrieges

Die Schatten des Zweiten Weltkrieges

Folgen der traumatischen Erfahrungen in der älteren deutschen Bevölkerung

von Heide Glaesmer

Traumatische Erfahrungen führen bei vielen Menschen zu unterschiedlichen psychischen und körperlichen Beschwerden, und dies auch häufig noch lange Zeit nach Kriegsende, manchmal bis ins Alter. Die psychosoziale und medizinische Versorgung der »Kriegskinder« des Zweiten Weltkrieges ist darauf nicht ausreichend abgestimmt. Die Autorin fasst die Forschung zu diesem Thema zusammen und zeigt auf, dass die langfristigen Auswirkungen traumatischer Erfahrungen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges ein weiterer Grund sind, Kriege bereits im Vorfeld zu verhindern.

Der Zweite Weltkrieg war das wohl erschütterndste und schwerwiegendste zeitgeschichtliche Ereignis des letzten Jahrhunderts, welches gemeinsam mit weiteren Verbrechen des Dritten Reiches, wie dem Holocaust, 55 Millionen Opfer forderte. Er ging mit einem erheblichen Ausmaß traumatischer Erfahrungen einher und stellt eine wesentliche generationentypische Entwicklungsbedingung der heutigen älteren Bevölkerung in Deutschland wie in den anderen an diesem Krieg beteiligten Ländern dar.

Die Forschung zu den Holocaustüberlebenden und deren Kindern hat relativ früh begonnen. Die öffentliche Auseinandersetzung mit den psychosozialen Folgen des Krieges in Deutschland war dagegen lange Zeit tabuisiert. Die wenigen Studien aus der Nachkriegszeit vermittelten der Öffentlichkeit, dass sich die so genannten »Kriegskinder« weitgehend unauffällig weiterentwickelten (Brähler, Decker & Radebold, 2003). Die häufig sehr ausgeprägte Identifizierung mit der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen trug dazu bei, die eigenen Beeinträchtigungen und Belastungen zu verdrängen oder zu bagatellisieren. Jahrzehntelang wurde ein Bild »anormaler Normalität« aufrechterhalten. In Deutschland hat vermutlich das lange anhaltende kollektive Schweigen über den Krieg und die Fragen von Schuld, Scham und Verantwortung eine Auseinandersetzung mit den Belastungen der Kriegsgeneration verhindert. Zudem standen die unvorstellbare Dimension des Holocausts und die Folgen für die Überlebenden im Mittelpunkt der Betrachtung. Erst seit einigen Jahren scheint es möglich, sich unter Anerkennung der Unvergleichlichkeit des Holocausts den Folgen für andere Gruppen von Traumatisierten zu widmen, ohne in den Verdacht der Bagatellisierung des Holocausts zu kommen. Mit der Gründung der Forschergruppe »Weltkrieg2Kindheiten« in Jahr 2002 wurde die Erforschung der Folgen des Zweiten Weltkrieges deutlich vorangetrieben. Inzwischen liegen empirische Befunde aus Betroffenengruppen, aber auch aus Bevölkerungsstudien vor.

Die Folgen kriegsbezogener Traumatisierungen

Im Rahmen klinischer Erfahrungen und in der Psychotherapie wurde in den letzten Jahren deutlich, dass die im Krieg erlittenen traumatischen Erfahrungen bei vielen Betroffenen nicht ohne Folgen blieben. Die meisten der heute noch Lebenden erfuhren diese Traumata in Kindheit und Jugend und damit in einer Entwicklungsphase mit erhöhter Vulnerabilität und noch nicht voll ausgereiften Bewältigungs- und Anpassungsfähigkeiten (Maercker, 2002a). Die Folgen des Aufwachsens im Krieg für die Persönlichkeitsentwicklung, die Gestaltung sozialer Beziehungen oder die Ausdifferenzierung von Bewältigungsfähigkeiten spielen dabei eine große Rolle für die Ressourcen, die später bei der Bewältigung des Alternsprozesses mobilisiert werden müssen (Schneider, Driesch, Kruse, Nehen & Heuft, 2006). Klinische Beobachtungen zeigten, dass die Folgen der traumatischen Erfahrungen häufig erst im höheren Alter artikuliert und im Zusammenhang mit aktuellen psychischen Belastungen gesehen werden (Radebold, 2005; Radebold, 2006). Darüber hinaus wird diskutiert, dass im höheren Alter die Bewältigungskräfte und damit die Fähigkeit, traumabezogene Erinnerungen und Gefühle abzuwehren, nachlassen. Kommen weitere altersbedingte Stressoren dazu (z. B. Pensionierung, chronische Erkrankungen, Verlust von Freunden und Angehörigen) kommt es insgesamt zu einer Kumulation von Verlusten, die nicht mehr gut bewältigt werden können. Heuft (2004) führte in Abgrenzung zur »Retraumatisierung« den Begriff der »Trauma-Reaktivierung« im Alter ein. Folgende Umstände werden für die späten Auswirkungen der Traumata ins Feld geführt (Heuft, 2004):

  • Ältere Menschen haben mehr Zeit, um bisher Unbewältigtes wahrzunehmen, da sie vom Druck anderer Lebensanforderungen befreit sind.
  • Ältere Menschen spüren einen unbewussten Druck, sich einer noch unerledigten Aufgabe stellen zu wollen oder zu müssen.
  • Der Alternsprozess selbst kann als narzisstische Kränkung erlebt werden und so traumatische Inhalte reaktivieren (z.B. Beängstigung durch drohende Abhängigkeit und Hilflosigkeit).

Befunde aus verschiedenen Betroffenengruppen

Zunächst wurden Studien in verschiedenen Betroffenengruppen durchgeführt, wie zum Beispiel an Opfern von Flucht und Vertreibung (Beutel, Decker & Brähler, 2007; Fischer, Struwe & Lemke, 2006; Kuwert, Brähler, Glaesmer, Freyberger & Decker, 2009; Teegen & Meister, 2000), an ehemaligen Kindersoldaten (Kuwert, Spitzer, Rosenthal & Freyberger, 2008), bei ehemaligen Frontkrankenschwestern (Teegen & Handwerk, 2006), bei Opfern von Vergewaltigungen während des Krieges (Kuwert & Freyberger, 2007) oder von Bombenangriffen (Heuft, Schneider, Klaiber & Brähler, 2007; Lamparter et al., 2010; Maercker, Herrle & Grimm, 1999). Fasst man die Befunde zusammen, so zeigen sich in den verschiedenen Betroffenengruppen hohe Prävalenzen posttraumatischer Belastungsstörungen und anderer psychopathologischer Symptome. Insbesondere aufgrund von mehrfachen Traumatisierungen kam es zu kumulativen Effekten; die Lebensbedingungen während des Krieges und in der direkten Nachkriegszeit spielten bei der Bewältigung der Belastungen eine große Rolle. Gerade für die Betroffenen, die während des Krieges noch Kinder waren, stellten die Lebensbedingungen oft eine weitere Belastung dar, weil die Mütter der Kriegskinder als verlässliche Bezugspersonen nicht uneingeschränkt zur Verfügung standen, da sie durch Abwesenheit oder Tod des Vaters vielfältige Aufgaben zu bewältigen hatten und durch eigenen Traumatisierungen belastet waren. Studien zu vaterlos aufgewachsenen Kriegskindern belegen deren Belastetheit (Decker, Brähler & Radebold, 2004; Franz, Lieberz, Schmitz & Schepank, 1999; Franz, Hardt & Brähler, 2007). Die aufgeführten Befunde belegten eindrucksvoll die Langzeitfolgen des Zweiten Weltkrieges, ließen aber dennoch Fragen offen, weil es an bevölkerungsrepräsentativen Aussagen zu den verschiedenen Traumata und insbesondere zum Auftreten posttraumatischer Symptome lange fehlte.

Psychosoziale Folgen in der älteren Bevölkerung

In bevölkerungsbasierten Studien berichten 40% bis 50% der älteren Deutschen mindestens ein traumatisches Ereignis (Glaesmer, Gunzelmann, Brähler, Forstmeier & Maercker, 2010; Hauffa et al., 2011; Maercker, Forstmeier, Wagner, Glaesmer & Brähler, 2008b), in der SHIP-Studie in Mecklenburg-Vorpommern berichten sogar 76,5% der ab 65-Jährigen mindestens ein traumatische Ereignis (Spitzer et al., 2008). Die Kriegsgeneration ist damit deutlich stärker belastet als die nachfolgenden Generationen. Kriegsbezogene Traumatisierungen machen dabei den weitaus größten Teil aus (Glaesmer et al., 2010; Maercker et al., 2008b). In einer Studie aus dem Jahr 2005 gaben in der Gruppe der ab 60-Jährigen 23,7% an, direkte Kriegshandlungen erlebt zu haben, 20,6% hatten Ausbombung erlebt, 17,9% waren vertrieben worden und 4,4% waren in Gefangenschaft gewesen (Maercker et al., 2008b). Innerhalb der Kriegsgeneration nehmen die Häufigkeiten kriegsbezogener traumatischer Erfahrungen deutlich zu: Während in der jüngsten Altersgruppe 19,2% mindestens ein kriegsbezogenes Trauma berichten, steigt dieser Anteil auf fast 60% in der höchsten Altersgruppe an (Glaesmer et al., 2010). Vergleicht man diese Befunde mit einer Studie an älteren Schweizern und damit mit einem Land, welches nicht direkt am Zweiten Weltkrieg beteiligt war, wird deutlich, dass diese mit einer Lebenszeitprävalenz von 36,3% in der gleichen Altersgruppe deutlich weniger belastet sind (Maercker et al., 2008a). Dies unterstreicht die Bedeutung des Zweiten Weltkrieges als generationstypische Erfahrung für die Kriegsgeneration in Deutschland. Interessanterweise finden sich kaum Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der berichteten Kriegstraumata, nur für Gefangenschaft sind die Prävalenzen bei den Männern höher, was sich aus dem historischen Kontext gut erklären lässt.

In Anbetracht des Ausmaßes der traumatischen Erfahrungen in der deutschen Kriegsgeneration stellt sich zwangsläufig die Frage, wie häufig diese Erfahrungen auch zu Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) führen. Zwischen 3% und 4% der Älteren erfüllen heute die Kriterien eines Vollbildes einer PTBS (Glaesmer, Kaiser, Brähler & Kuwert, 2012; Glaesmer et al., 2010; Spitzer et al., 2008). Posttraumatische Belastungsstörungen treten damit in der Kriegsgeneration auch Jahrzehnte später häufiger auf als in den nachfolgenden Generationen (Maercker et al., 2008b).

Da die Forschung zu den Kriegsfolgen so spät begonnen hat, liegen praktisch keine Studien zu den Langzeitverläufen der posttraumatischen Symptomatik vor. Dies ist auch damit zu begründen, dass die PTBS als Diagnose erst seit 1980 beschrieben ist. Die Älteren berichten aus ihrer Selbstbeobachtung häufig, dass die Symptome nach Jahrzehnten der Störungsfreiheit auftreten. In einigen retrospektiven Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass die Symptome im Rahmen des Alternsprozesses vermehrt auftraten (Kruse & Schmitt, 1999; Solomon & Ginzburg, 1999). Das Konzept der Traumareaktivierung (Heuft, 2004) spricht ebenfalls für eine Verschlechterung des psychischen Befindens im Alter. Eine amerikanische Arbeitsgruppe hat ein breiter angelegtes Konzept für einen derartigen Verlauf vorgestellt, in dem normative Faktoren des Alterns sowie individuelle Risiko- und Schutzfaktoren die Symptomatik lang zurückliegender Traumatisierungen modulieren (late onset stress symptomatology, LOSS) (Davison et al., 2006).

Mit Blick auf die Befunde zu den Langzeitverläufen in anderen Altersgruppen kann angenommen werden, dass es chronisch-persistierende bzw. fluktuierende Verläufe gibt, dass es aber ebenso Ältere gibt, die in früheren Lebensphasen eine posttraumatische Symptomatik hatten, aktuell aber nicht mehr betroffen sind. Wie groß die einzelnen Untergruppen sind, lässt sich nicht präzise sagen, weil eine Erfassung vorangegangener Verläufe nur noch retrospektiv möglich ist und damit zwangläufig mit Validitätsproblemen einhergeht. Zieht man die vermehrte Traumareaktivierung im Alter in Betracht, leitet sich ein relevanter Behandlungs- und Hilfsbedarf ab, dem derzeit nicht ausreichend begegnet wird. Neben posttraumatischen Symptomen spielen auch weitere psychische Beschwerden als Traumafolgestörungen eine Rolle. Aus den bereits erwähnten bevölkerungsrepräsentativen Studien in der deutschen Altenbevölkerung ist bekannt, dass eine aktuelle PTBS mit erhöhten Raten an depressiven und somatoformen Beschwerden einhergeht (Glaesmer et al., 2012).

Körperliche Erkrankungen als Folge traumatischer Erfahrungen

In den letzten Jahren rückte die Bedeutung traumatischer Erfahrungen für das Auftreten körperlicher Erkrankungen in den Blickpunkt des Interesses. Den Beginn nahm die Erforschung in den Arbeiten zu den körperlichen Folgen frühkindlicher Traumatisierungen, für die sich Zusammenhänge mit dem Auftreten verschiedener körperlicher Erkrankungen nachweisen ließen (Dong, Dube, Felitti, Giles & Anda, 2003; Dong et al., 2003; Goodwin & Stein, 2004). Erst in letzter Zeit wurden diese Forschungsansätze auf die Bedeutung von traumatischen Erfahrungen und PTBS im Erwachsenenalter übertragen. Die meisten der bisherigen Studien wurden an Betroffenengruppen (z. B. Kriegsveteranen, Opfer sexueller Gewalt) durchgeführt. Für die deutsche Kriegsgeneration wurde inzwischen gezeigt, dass sowohl traumatische Erfahrungen als auch eine aktuelle PTBS mit erhöhten Raten körperlicher Erkrankungen (z.B. kardiovaskuläre Erkrankungen und Risikofaktoren, Asthma, Schilddrüsenerkrankungen) einhergehen (Glaesmer, Brähler, Gündel & Riedel-Heller, 2011). Dieser Befund unterstreicht, dass die Kriegstraumatisierungen nicht nur psychische Folgen nach sich ziehen, sondern sich auch negativ auf die körperliche Gesundheit auswirken und die Folgen damit wesentlich komplexer als üblicherweise angenommen sind.

Schlussbemerkungen

Die im Zweiten Weltkrieg und der direkten Nachkriegszeit erfahrenen Traumatisierungen stellen für die Kriegsgeneration und damit die heutige ältere Generation eine wichtige historisch-biographische Bedingung dar, die auch über 60 Jahre nach Kriegsende mit psychischen und körperlichen Folgen assoziiert sind. Neben den typischen posttraumatischen Symptomen spielen die Traumatisierungen auch für andere psychische Erkrankungen wie depressive und somatoforme Beschwerden eine große Rolle. Häufig werden heutige Symptome oder Erkrankungen nicht mit den lange zurückliegenden Ereignissen in Verbindung gebracht. In der medizinisch-pflegerischen Versorgung sollte den Erfahrungen während des Krieges mehr Bedeutung in Anamnese und Behandlung zukommen.

Die Befunde unterstreichen aber auch, wie langfristig und vielfältig die gesundheitlichen Folgen traumatischer Erfahrungen sind. Es ist davon auszugehen, dass vergleichbare Folgen auch in anderen Bevölkerungsgruppen, die sich in aktuellen Konflikt- und Krisenregionen befinden, auftreten. Hier wird deutlich, wie wichtig die Vermeidung von bewaffneten Konflikten und Kriegen ist. Darüber hinaus muss auch die Prävention und Vermeidung von gesundheitlichen Folgen durch frühere Interventionen mehr Aufmerksamkeit bekommen.

Literatur

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PD Dr. Heide Glaesmer erhielt für Ihre Habilitation »Traumatische Erfahrungen und posttraumatische Belastungsstörungen in der Altenbevölkerung – Zusammenhänge mit psychischen und körperlichen Erkrankungen sowie mit medizinischer Inanspruchnahme« den Gert-Sommer-Preis 2011. Sie ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig.

Libya hurra?

Libya hurra?

Das »freie« Libyen im Jahre drei

von Almut Besold

In der Debatte über den Bürgerkrieg in Syrien wird immer wieder das Beispiel Libyen genannt: Regimewechsel mit Hilfe der NATO. Während die eine Seite – vor allem britische und französische Politiker – ein stärkeres militärisches Engagement in Syrien befürworten, zumindest Waffenlieferungen an die Aufständischen, sind von der anderen Seite – dem deutschen Außenministerium, den Regierungen der Niederlande und Österreichs – warnende Stimmen zu vernehmen. Die syrische Armee sei besser gerüstet als die Gaddafis, und ein Flächenbrand sei nicht auszuschließen, heißt es. Festzustehen scheint dabei für beide Seiten, dass das militärische Eingreifen in Libyen als Erfolg zu werten ist. Doch ein Erfolg für wen? Almut Besold zur Situation in Libyen im Jahre drei nach dem herbeigebombten Regimewechsel.

Seit der Revolution vom 1. September 1969 wurde Libyens politisches System vom »Führer der Revolution«, Mu’ammar al-Qaddafi, dominiert. Damit verbunden waren Kontinuität und Stabilität für das Land, trotz vieler innenpolitischer Transformationsprozesse und Spannungen sowie etlicher außenpolitischer Konflikte. Zu Letzteren zählten der Grenzkrieg mit Tschad in den 1970er und 1980er Jahren, der über Jahrzehnte währende Konflikt mit den USA sowie die UN-Sanktionen (1992-1999).1 Dem standen aber auch Reformperioden gegenüber, z.B.

  • von 1987-1992,
  • ab 1993, nach der Verhängung von UN-Sanktionen,
  • ab 1999, nach der Lockerung der UN-Sanktionen,
  • ab 2003, nach der Aufhebung der UN-Sanktionen.

Die Reformen waren jeweils darauf ausgelegt, Libyens außenpolitischen Handlungsspielraum wiederherzustellen. Sie zielten nie auf eine Demokratisierung nach westlichem Maßstab, da die Revolutionsführung das libysche basisdemokratische System der Volkskongresse und Volkskomitees für weitaus demokratischer hielt als jede westliche Demokratie („al-lidschân fi kull makân“ – „die Ausschüsse sind überall“ ist hier das Schlagwort aus dem »Grünen Buch« Qaddafis). Immerhin wurde seit 1999 den Bürgern zunehmend zugestanden, ihre Interessen zu äußern, und ebenfalls Ende der 1990er Jahre erwies sich die Entwicklung hin zu einer international eingebundenen Marktwirtschaft als unumkehrbar, bedingt durch das Interesse an ausländischen Investitionen.

Die Herbeiführung eines Regimewechsels

Sowohl die demokratische als auch die marktwirtschaftliche Entwicklung wurde durch den so genannten Arabischen Frühling stark beschleunigt. Die Ereignisse in Tunesien und in Ägypten bewirkten eine »Revolution« in Libyen, die am 15. Februar 2011 ihren Anfang nahm, aber heute den 17. Februar zum Namen hat (thaurat sab’ata’aschar fabrayir – Revolution vom 17. Februar). Zunächst handelte es sich um Unzufriedenheitsbekundungen von Bürgern gegenüber der Führung von al-Qaddafi. Rasch eskalierte jedoch die Lage und wandelte sich von einem politischen zu einem militärischen Konflikt, der das gesamte Land inklusive seiner Machtelite spaltete. Bereits am 27. Februar 2011 wurde in Benghasi der oppositionelle Nationale Übergangsrat (National Transitional Council, NTC) gegründet, der Libyen offiziell ab dem 16. September 2011 repräsentierte. In der Nacht vom 8. auf den 9. August 2012 übergab der Nationale Übergangsrat die Macht an den Allgemeinen Nationalkongress (General National Congress/GNC), der am 7. Juli 2012 vom Volk gewählt worden war.

Dieser »Regime Change« war Folge des Eingreifens der NATO nach Verabschiedung der Resolution 1973 (2011) des UN-Sicherheitrats.2 Die Passage „alle notwendigen Maßnahmen“ der UN-Resolution wurde von der NATO als Freibrief für einen Luftkrieg interpretiert; damit wurden die Prinzipien des Völkerrechts weiter ausgehebelt.3 Wäre es nur um eine Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung gegangen, hätte man nach einigen Tagen die Bombardements einstellen müssen, als die libysche Luftwaffe zerstört war. Das Ziel der Militäraktion war aber von Beginn an ein Regimewechsel. Die NATO-Staaten flogen 20.262 Einsätze, die eine unbekannte Zahl ziviler Verletzter und Toter forderten und mit denen die Zerstörung ziviler Infrastruktur einher ging. Im August 2011 wurde Tripolis von oppositionellen bewaffneten Kräften eingenommen, und am 20. Oktober wurde Qaddafi in Sirt gefangen und verlor unter ungeklärten Umständen sein Leben. Da der Regimewechsel durch die Unterstützung der NATO erzwungen wurde, kann es kaum verwundern, dass der Machtkampf zwischen den unterschiedlichen »Revolutionsbrigaden« und dem NTC bzw. der seit dem 14.11.2012 im Amt befindlichen Zeidan-Regierung auch nach dem offiziellen Ende des Bürgerkrieges weitergeht.

Anders als beispielsweise beim Irakkrieg gab es gegen den NATO-Luftkrieg keine nennenswerten Proteste seitens der Bevölkerung der westlichen Länder. Die systematische, über Jahrzehnte währende Verteufelung von Qaddafi hatte offensichtlich dauerhaft Früchte getragen. Diskussionen, ob der NATO-Einsatz gerechtfertigt sei, wurden vom Tisch gewischt, da Qaddafi »böse sei« und den Krieg schon »irgendwie verdient habe«.

Nachkriegssituation: Libyen zwei Jahre danach

Wie stellt sich heute, zwei Jahre nach Beginn der »thaura« (Revolution) in Libyen, die Lage dar? Zugespitzt formuliert hat sich für die Bevölkerung nichts verbessert, dafür fast alles verschlechtert. Demokratie wird als Freibrief für Freiheit verstanden, Freiheit wiederum in der Weise interpretiert, dass ausnahmslos alles erlaubt ist, da nur die eigene Freiheit zählt, nicht aber die des anderen. Insofern fand ein Tausch von diktatorischer Willkür im Singular gegen individuelle Willkür im Plural statt.

Das mag erklären, warum es heute keinerlei Sicherheit mehr gibt – um so mehr angesichts der Ubiquität von Waffen. Keinerlei Sicherheit bedeutet: Keiner weiß beim Verlassen des Hauses, ob er unbeschadet zurückkehrt. Da ist die Tatsache, dass Libyen seit dem Umsturz von 2011 die Unfallstatistik für Verkehrsopfer weltweit anführt, das geringste Übel.4 Weitaus einschneidender sind politisch motivierte Übergriffe sowie monetär motivierte Entführungen und Raubüberfälle.

Keinerlei Sicherheit bedeutet auch, dass Frauen fast ungestört und ungestraft belästigt, vergewaltigt und getötet werden können – die Polizei hütet sich im Regelfall, ihre ohnehin kaum vorhandene Autorität auszuspielen. Autorität wird ihr von der Bevölkerung auch nicht zugestanden, da in ihr viele bei der Revolution aus den Gefängnissen frei gekommene Kriminelle Dienst tun. Verschlechtert hat sich die Situation der Frauen aber nicht nur aufgrund von Belästigungen, sondern insbesondere durch die nach dem Ende des Bürgerkrieges im Oktober 2011 erfolgte Änderung des libyschen Ehegesetzes. Die Heirat einer Zweit-, Dritt- oder Viertfrau ist nun nicht mehr von der Zustimmung der Erstfrau abhängig. Aufgrund dessen stieg die Zahl der mit mehr als einer Frau verheirateten Libyer signifikant an. Die betroffenen Erstfrauen wagen vielfach nicht, sich zu beklagen, da so gut wie jeder eine Waffe im Hause verwahrt und deren Anwendung gefürchtet wird.

Folter wird im »freien Libyen« nach wie vor angewendet, auch wenn Regierungskreise verlauten lassen, dass das meistens nur in Gefängnissen geschehe, die nicht unter staatlicher Kontrolle stünden, sondern von Milizen geführt würden. Widerrechtliche Gefangennahmen sind gang und gäbe, und gegen Lösegeldzahlung kann durchaus eine Freilassung erreicht werden.

Von Demokratie …

Von außen heißt es trotzdem, dass in Hinblick auf Demokratie und freie Marktwirtschaft in Libyen große Fortschritte zu verzeichnen seien. Die Parlamentswahlen vom 7. Juli 2012 wurden von der westlichen Presse gelobt. Libyen kann seit dem 14. November 2012 eine Regierung aufweisen, mit Ali Zeidan als Ministerpräsidenten. Vorangegangen war am 12. September 2012 Mustafa Abu Shagur, dem es allerdings nicht gelungen war, ein Kabinett zusammenzustellen, das beim Parlament auf Akzeptanz stieß. Daher musste er am 7. Oktober 2012 seinen Posten als designierter Premierminister wieder räumen. Eine Integritätskommission achtet bei allem auf die politische Integrität sämtlicher politischer Führungsfiguren im »freien Libyen«. Bei für ungerecht befundener Klassifizierung kann ein Gericht angerufen werden. Es kam immer wieder vor, dass die Integritätskommission ihre Klassifizierung aufgrund von öffentlicher Aufmerksamkeit revidieren musste.

Sobald diese öffentliche Anteilnahme fehlt, gerät die Umsetzung von Gerichtsurteilen ins Stocken. Als Beispiel mag hier gelten, dass Universitätsprofessoren ihr Gehalt nicht mehr bekommen, wenn ihnen eine zu enge Bindung zum vorherigen Regime nachgesagt wird. Auch wenn Gerichtsurteile vorliegen, die dieser Praxis widersprechen, folgen den Urteilen keine Taten, und die Leidtragenden sind die Professoren. Das sind sie auch in anderer Hinsicht, denn die Universitäten hängen am Gängelband der »Revolutionäre«. Diese überwachen z.B. die Einhaltung islamischer Kleidervorschriften für Frauen, und sie schützen studierende »Revolutionäre« vor schlechter Notengebung bei schlechter Leistung. Die Professoren können sich gegen den Druck nicht wehren und nehmen – manchmal um ihr Leben bangend – ein Absinken des Niveaus in Kauf.

… und Marktwirtschaft

Aber die »demokratische« Seite ist nur eine Seite des neuen Libyens. Die andere ist die »marktwirtschaftliche«, die im Jahre 2012 eine Inflationsrate von knapp 20% mit sich brachte und zudem das Misstrauen in der Bevölkerung förderte, weil keinerlei Verlässlichkeit für den Verbraucher mehr vorhanden ist. Staatliche Kontrollen existieren entweder nicht, sind ungenügend oder werden mittels Korruption beeinflusst. Das gilt für alle Bereiche, insbesondere für Lebensmittel. Es kommt z.B. immer wieder vor, dass verdorbene Ware neu verpackt weiterverkauft wird.

Positiv wahrgenommen wird hingegen, dass für Wasser und Elektrizität neuerdings wieder nur ein geringes Entgelt zu bezahlen ist, dass Kraftstoff je Liter mit 150 Dirham (etwa neun Eurocent) beispiellos günstig ist, dass Bildung und Gesundheitsversorgung kostenlos sind und dass Grundnahrungsmittel wie Reis, Mehl, Zucker, Tee, Nudeln und Tomatenmark (noch) subventioniert werden. Darüber hinaus kann fast jeder seine Geschäfte tätigen, ohne dafür Steuern zu zahlen und Behördengänge erledigen zu müssen. Libyen ist dank seiner hohen Öleinnahmen unabhängig von der Wirtschaftsleistung seiner Bürger – diese sind aber genau deswegen nicht unabhängig vom Staat.

Aufgrund der hohen Arbeitslosenrate (geschätzte 40%) versucht jeder auf seine Weise, sein »business« zu machen oder sein staatliches Gehalt aufzubessern. Der Möglichkeiten gibt es viele – eine ist, den derzeit noch geltenden Höchsttauschbetrag für Dinar in Euro oder Dollar zu umgehen. Um Kontrolle darüber zu haben, wer seinen Geldtausch bereits getätigt hat, wird dieser im Reisepass vermerkt. Wer über ein gutes Kontaktnetz verfügt, hat aber die Möglichkeit, gegen ein geringes Entgelt sich Reisepässe auszuborgen, diese bei der Bank vorzulegen und größere Beträge als die erlaubten 2.000 Euro pro Person zu tauschen.

Viel Geld lässt sich ebenfalls mit Alkohol und Drogen verdienen. Beides war in Libyen als islamischem Land strikt verboten und ist es offiziell auch heute noch. Trotzdem hat der Konsum von beidem aufgrund der schlechten Sicherheitslage und der damit verbundenen erleichterten Schmuggelbedingungen stark zugenommen. Zwar können staatliche Stellen immer wieder Erfolge vorweisen, wenn größere Quantitäten bei Kontrollen beschlagnahmt werden, doch betrifft das nur Bruchteile dessen, was ins Land kommt.

Religiöse Konflikte und ethnische Benachteiligung

Ebenfalls verschärft haben sich religiöse Konflikte – seien sie sunnitsch-innerreligiös, sunnitisch-schiitisch oder islamisch-christlich. Waren zu Qaddafis Zeiten Islamisten wenig gelitten, änderte sich das mit der Revolution von 2011. Es kam nicht nur zur Freilassung von Islamisten, sondern Libyen wurde zu einem Hort nicht-libyscher, strenggläubiger Muslime, die den Menschen ihre Glaubensauslegung aufzwingen möchten, was die meisten Libyer aber ablehnen. Diese Islamisten sind es auch, die schiitische Muslime – Mitarbeiter des iranischen Roten-Halbmond – entführten und ihnen Bekehrungsversuche vorwarfen.5 Den koptischen Ägyptern unterstellen sie, in Libyen Christianisierungsversuche zu unternehmen.6 Solche religiöse Auseinandersetzungen sind für Libyen neu, da das Zusammenleben ungeachtet der religiösen Zugehörigkeit in den letzten Jahrzehnten reibungslos verlief – insbesondere in Tripolis, wo etliche Tausend meist nicht-libysche Christen ihren Glauben praktizieren. Die Situation ist heute derart angespannt, dass der libysche Außenminister in Österreich weilend Anfang März 2013 sagte, dass die Zeit noch nicht gekommen sei, über Glaubens- und Religionsfreiheit sprechen zu können.7

Problematisch ist die Situation darüber hinaus besonders für Schwarzafrikaner. Zum einen sind sie Anfeindungen ausgesetzt, da ihnen kollektiv zum Vorwurf gemacht wird, als Söldner für Qaddafi gekämpft zu haben. Zum anderen gelten die Anfeindungen denjenigen, die sich als Migranten in Libyen aufhalten, um nach Europa zu gelangen oder um in Libyen den Lebensunterhalt für ihre in den wirtschaftlich perspektivlosen Herkunftsländern verbliebenen Familien zu verdienen. Da es jedoch auch Libyer dunkelhäutigen Typs gibt, treffen die Anfeindungen nicht nur Ausländer, sondern auch diese Libyer. Unter diesen wiederum besonders jene aus der libyschen Stadt Tawargha, die seit dem Bürgerkrieg stark zerstört wurde, um ihren nahezu ausschließlich dunkelhäutigen Bewohnern die Rückkehr unmöglich zu machen. Von einer generell schlechten Behandlung aller Dunkelhäutigen kann trotzdem nicht gesprochen werden, wohl aber von einer sehr willkürlichen und überwiegend schlechten Behandlung. Dunkelhäutige Gastarbeiter werden in der Regel nicht abgeschoben, wenn ein Libyer sich für sie einsetzt, was meist dann der Fall ist, wenn einem Arbeitgeber eine Arbeitskraft dadurch verloren gehen würde und er keinen Ersatz finden kann.

Ausblick

Viele Libyer, die der veränderten politischen Lage in ihrem Land zunächst sehr optimistisch gegenüberstanden, sehen die Entwicklung inzwischen mit großer Skepsis. Für die meisten haben sich in den vergangenen zwei Jahren die Lebensbedingungen stark verschlechtert, und es besteht keine Aussicht auf eine baldige Besserung. Im Gegenteil: Die Sicherheitslage verschlechtert sich kontinuierlich, und die bewaffnete Kriminalität nimmt rapide zu. Seines Lebens kann man sich nie sicher sein aufgrund der Entführungsgefahr und immer wieder ausbrechender Gefechte, die nicht zwangsläufig zwischen Qaddafi-Anhängern und deren Gegnern ausgetragen werden, sondern vielfach auch unter rivalisierenden Milizen.

Die sich verschlechternde Sicherheitslage war absehbar. Dennoch ist in der westlichen Presse erst seit kurzem etwas davon zu hören, und immer noch überwiegen in den westlichen Medien die Stimmen derer, die sagen, dass Libyen nun demokratisch sei und sich eben noch in einer Übergangsphase befände.

Bei den Betroffenen in Libyen klingt dies anders: „Das nennen Sie Freiheit: Kein System, niemand kümmert sich um irgendwas. Das ist Freiheit: Ich tue, was ich will, ich erschieße diesen, nehme mir jenes Auto. Ich brenne das Haus dort nieder. Wissen Sie: Ich scheiße auf Freiheit. Aber das Leben geht weiter. […] Ich schwöre Ihnen, ich hasse Qaddafi. […] Ich hatte in Libyen vor der Revolution ein gutes Leben.“ 8

Viele Libyer sehnen sich nach einer starken Führungspersönlichkeit, der es gelingt, Recht und Ordnung wieder herzustellen. Für viele Libyer ist klar, dass eine »dritte Revolution« kommen wird – nach der Revolution von 1969, mit der Qaddafi an die Macht kam, und nach der von 2011. Eine Revolution, die an die Qaddafi-Zeit angelehnte Verhältnisse zum Ziel hat. Es besteht die Gefahr, dass diese sehr blutig sein wird, da sich in den vergangen zwei Jahren die Menschen – weitaus mehr als in den 42 Jahren unter Qaddafi – gegenseitig viel Unrecht zugefügt haben.

Wenn sich diese Regierung trotzdem hält, dann nur aufgrund der Unterstützung der westlichen Staaten, die zunehmend versuchen, in Libyen militärisch Fuß zu fassen.9 Aber auch diese Entwicklung beinhaltet die Gefahr, dass die innere Zerrissenheit und Instabilität mit all ihren Folgen weitere ein oder zwei Jahrzehnte anhält.

Anmerkungen

1) Almut Hinz (2005): Die Sanktionen gegen Libyen. Sanktionen im modernen Völkerrecht und in der Staatenpraxis sowie ihre Anwendung am Beispiel Libyen. Frankfurt: Peter Lang.

2) Resolution 1973 (2011) des UN-Sicherheitsrates zu Libyen vom 17. März 2011 ermächtigte die Mitgliedstaaten zu allen für den Schutz von Zivilisten erforderlichen Maßnahmen, verhängte eine Flugverbotszone, rief zur Durchsetzung des Waffenembargos auf, erließ ein Start-, Lande- und Überflugverbot für libysche Flugzeuge und präzisierte die Maßnahmen zum Einfrieren libyscher Vermögenswerte und Konten. [d. Red]

3) Reinhard Merkel: Die Militärintervention gegen Gaddafi ist illegitim. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.03.2011.

4) New statistics show Libya’s roads as world’s most dangerous. Libya Herald, 7.1.2013.

5) Iran steps up pressure over kidnapped Red Crescent workers. Libya Herald, 28.8.2012.

6) Tom Little: Head of Libya’s Copts speaks out on Misrata killing. Libya Herald, 31.12.2012. Siehe auch: Salafisten ätzen Christen offenbar Kreuze aus Haut. 1.3.2013.

7) Manuel Escher: Libyen – Revolutionäre üben eine positive Rolle aus. der standard (Österreich), 05.03.2013.

8) Gespräch mit einem Taxifahrer in Tripolis im Mai 2012.

9) Al-quds al-arabi (U.K.): Französischer Stützpunkt in Libyen?. 27.02.2013 (arabisch).

Dr. phil. Almut Besold ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Orientalischen Institut der Universität Leipzig. Sie arbeitet seit 1998 zu Libyen und hält sich in regelmäßigen Abständen dort auf, zuletzt im Februar 2013.