Women Beyond Passive Victimhood


Women Beyond Passive Victimhood

2. Tagung des Netzwerks Friedensforscherinnen, Magdeburg, 7.-8. Oktober 2019

von Christine Buchwald und Lena Merkle

Nach einer ersten Tagung zum Thema »Feministische Perspektiven der Friedens- und Konfliktforschung« im Frühjahr 2019 veranstalteten die Frauensprecherinnen der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) am 7. und 8. Oktober 2019 eine zweite Tagung mit dem Beisatz »Women beyond passive victimhood« in Kooperation mit dem Studiengang Peace and Conflict Studies der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Das bereits bewährte Format einer Work-in-progress-Veranstaltung wurde ins Zentrum der Tagung gerückt und stieß erneut auf positiven Zuspruch der aktiven wie passiven Teilnehmenden. Dies äußerte sich primär in verlängerten Vortrags- und Diskussionszeiten gegenüber klassischen Formaten sowie im beratenden Charakter der Diskussionen, die durch mitgebrachte Fragen der Präsentierenden strukturiert wurde. Ziel des eingeschränkten Fokus war es, Frauen jenseits der oftmals wissenschaftlich wie im alltäglichen Umgang sehr präsenten weiblichen Opferrolle zu thematisieren. Von gut 30 Teilnehmenden präsentierten elf eigene Projekte in insgesamt fünf Panels. Ergänzt wurde das Programm um eine Filmvorführung am ersten Veranstaltungstag.

Ann-Kathrin Rothermel präsentierte im ersten Panel zu »Local and International Agency« einen Teil ihres Promotionsprojektes unter dem Titel »Victims, mothers and activists – Discourses of gendered agency in the UN’s global counterterrorism agenda«. Anhand von Dokumenten des Global Counter-Terrorism Coordination Compact betrachtet sie die Einbindung von Frauen als Opfer sowie in aktiven Rollen. In der Diskussion wurde in den Dokumenten insbesondere die Rolle der Konzepte von Männlichkeit aufgegriffen. Anschließend diskutierte Antje Busch unter dem Titel »Women as Local-Level Politicians in Post-Conflict Bougainville (Papua New Guinea)« überraschende Ergebnisse ihrer Feldforschung. Trotz einer 50-prozentigen Frauenquote in Gemeinderäten verwiesen einige Frauen in den Interviews lediglich auf die Fortführung der matrilinearen Kultur statt auf ein aktives Empowerment. Für diese Abweichungen von ihren Annahmen kristallisierte Antje Busch sieben verschiedene Erklärungsansätze heraus, die sie zur Diskussion stellte.

Im Panel »Women in the Media« stellte Evelyn Pauls in ihrem Vortrag »Female Fighters Shooting Back« erste Ergebnisse ihres Postdoc-Projektes vor. Sie legt den Fokus ihres Projektes auf ehemalige Kämpferinnen in Indonesien, Burundi, Nepal und den Philippinen, die die Möglichkeit erhielten, sich in Workshops zum Umgang mit Kamera und Schnitt fortbilden zu lassen, um dann die Frauen in ihrem Umfeld zu interviewen. Dabei entstand ein Korpus an Narrationen der Konflikte sowie seiner Folgen, der insbesondere spannende Einblicke in die Fragen nach dem Selbst und dem Anderen zulässt. Jana Schneider sprach danach über »Female War Reporters – Limitations and Possibilities of Gender«. Durch semi-strukturierte Interviews will sie die Dynamiken evaluieren, denen Kriegsreporterinnen in einem Umfeld begegnen, das von männlichen Aggressions- und weiblichen Opfernarrativen geprägt ist. Ihr Geschlecht kann dabei zum Vorteil werden, etwa in Bezug auf Zugänge und Perspektiven, jedoch auch zum Nachteil, insbesondere dann, wenn sie als verletzlicher wahrgenommen werden.

Das Panel »Masculinity and Femininity« war das Forum für Maria Hartmann und Bahar Oghalai, um ihr Konzept einer anti-toxischen Männlichkeitskultur von Bewegungen vorzustellen, auf das sie in ihrem Vortrag »Don’t stabilize what oppresses us! Of Masculine Revolution, Makers-of-Peace and Apolitical Practice« eingingen. Ausgehend von einer als gewaltvoll erlebten Situation entwickelten sie auf einer theoretischen Ebene ein Konzept, sich von der toxischen Männlichkeit zu lösen und so einem feministischen Zugang und einem Lösen von den genderbinären Rollenkonzepten in Bezug auf Krieg und Frieden näher zu kommen. Maximilian Kiefer ging anschließend in seinem Vortrag »Creating the New Man and the New Woman? Guerilla Masculin­ities and Femininity in the Salvadoran FMLN« auf die Konstruktion von Männlichkeit innerhalb der salvadorischen Guerilla ein. Im Rahmen seiner Masterarbeit arbeitete er Gender-Praktiken sowie -Konstruktionen auf der Diskursebene heraus. Anhand eines Modells bildete er die Ergebnisse auf der Makro-, Meso- und Mikroebene ab.

Beim Panel »Power and Empowerment« eröffnete Flora Hallmann mit ihrem Beitrag über ihre anstehende Masterarbeit »Because it’s never just sexism – how ethnicity and ideology influence the construction of narratives about politically violent women« die Diskussion über Narrative von verschiedenen politisch radikalen Frauen. Für ihre Analyse nutzt sie Laura Sjobergs Gerüst zu »Mothers, Monsters, Whores«. Mit dieser Einteilung analysiert sie sechs Fallbeispiele, die sich unter anderem durch die leitende Ideologie (rechts-/linksradikal, islamistisch) unterscheiden. Im folgenden Vortrag »More than dichotomous – Analyzing female perpetrators of the Rwandan genocide through Timothy Williams’ typ­ology of action« ging Marie-Therese Meye auf eine Analyse von 25 Interviews ein, die sie anhand verschiedener statistischer Daten auswertete und in der Logik von Timothy Williams Typologie zu Genoziden einordnete.

Im Panel »Sex and Sexuality« berichtete zunächst Laura Hartmann aus ihrem Projekt »(Nasty) Women talk back«. Aus einem Blickwinkel der Intersektionalität betrachtet sie Frauenbewegungen in Südafrika und den USA. Die Bewegungen stehen im Spannungsfeld von Race und Gender als Diskriminierungskategorien und sind international verbreitet und vernetzt. Solidarität und Sisterhood stehen dabei im Fokus der Forschung. Nora Lehner stellt in ihrem Projekt »A reflection on the concept of agency when researching sexual relations, prostitution and sexual barter during the Allied Occupation of Vienna« die Frage, wie Genderrollen sich in Krisensituationen verändern können. In diesem Projekt analysierte sie Formen sexuellen Handels im besetzten Wien der Nachkriegszeit. Die noch nie betrachteten Autobiographien sowie eine Anzahl biographischer Portraits von als Prostituierte registrierten Frauen zeigt das Spannungsfeld von Zwang, Agency, Gewalt und Wahlfreiheit, in welchem die Frauen ihre Entscheidungen trafen.

Die Rückmeldungen zum Veranstaltungsformat sowie zu den einzelnen Beiträgen waren überaus positiv, sodass eine Fortsetzung der Tagungsreihe im kommenden Sommer bereits in Planung ist. Ein ausführlicherer Tagungsbericht findet sich auf der Homepage des Netzwerks Friedenforscherinnen (afk-web.de/cms/netzwerk-­friedensforscherinnen).

Christine Buchwald und Lena Merkle

Der Fall Kundus

Der Fall Kundus

Plädoyer für eine kritische Bestandsaufnahme

von Katja Mielke und Conrad Schetter

Die AutorInnen fordern in ihrem Kommentar vom 6. Oktober 2015, den sie anlässlich der Rückkehr der Taliban nach Kundus schrieben, eine kritische Aufarbeitung des Bundeswehreinsatzes dort: „Die Frage ist nicht, ob man mehr Militär nach Afghanistan schicken sollte oder nicht, sondern vielmehr, was bislang versäumt wurde.“ Eine solche Bestandsaufnahme, die die AutorInnen exemplarisch anhand einiger Beispiele anreißen, hat insbesondere nach der Entscheidung der USA, den Truppenabzug aus Afghanistan zu stoppen, und den Überlegungen, in der Folge solle auch Deutschland den Einsatz der Bundeswehr dort fortsetzen, höchste Dringlichkeit. W&F dankt für die Nachdruckrechte.

Kundus stand ein Jahrzehnt lang wie kein anderer Ort für den deutschen Sonderweg einer Interventionspolitik, in der Wiederaufbau mit einem Bundeswehreinsatz gepaart wurde. Hier wurde der so genannte Vernetzte Ansatz erprobt, hier versuchten die Deutschen, es besser zu machen als ihre angelsächsischen Kollegen, was die Einbindung der Afghanen und den Aufbau von Staatlichkeit anging. Kundus sollte das Musterländle am Hindukusch werden. Nun ist es das Symbol, das – wenige Monate nach dem massiven Truppenabzug aus Afghanistan – für die Zäsur im Wiederaufbau, für das Wiederaufflackern des Bürgerkrieges und für die Rückkehr der Taliban steht. Schonungslos führt die Weise, in der die Taliban Kundus in wenigen Stunden überrannten und einnahmen, vor Augen, wie oberflächlich zehn Jahre deutscher Präsenz und Entwicklungsanstrengungen den Nordosten des Landes nur verändert hatten. Nun dürfte auch der letzte deutsche Politiker und Beamte verstanden haben, dass die Schönfärberei des Einsatzes in Afghanistan nichts mehr bringt.

Allenthalben wird nun gefragt, was denn die internationale Gemeinschaft als nächstes tun müsste, um die Konsolidierung und eine erneute großflächige Herrschaft der Taliban zu verhindern; wieder einmal scheint eine neue Runde des blinden Aktionismus auszubrechen, die kaschieren soll, was in der Vergangenheit alles falsch gelaufen ist. Daher bedarf es eher einer kritischen Aufarbeitung des Kundus-Einsatzes, bevor man erneuten aktionistischen Impulsen nachgibt. Die Frage ist nicht, ob man mehr Militär nach Afghanistan schicken sollte oder nicht, sondern vielmehr, was bislang versäumt wurde. Heute gibt es viele bittere Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Hier einige Beispiele:

Die Bundeswehr war in Kundus zu keinem Zeitpunkt in der Lage, ihren Auftrag, ein sicheres Umfeld für den Wiederaufbau zu schaffen, umzusetzen. Dazu mangelte es ihr an Kapazitäten und an Fähigkeiten. So hoffte man, dass die technisch-militärische Überlegenheit der Bundeswehr ausreichen würde, um Gewaltakteure abzuschrecken. Eigene Soldaten in Gefahr zu bringen, um ein sicheres Umfeld zu schaffen, war unausgesprochenes Tabu. Diese Strategie ging dem Anschein nach viele Jahre lang gut; mit sehr viel Glück hielten sich die Verluste in Kampfeinsätzen gering. Eher schleichend verschlechterte sich die Sicherheitslage; zunächst wurde der Distrikt Chardarah, direkt vor den Toren des Bundeswehrlagers, zu einer Problemregion, dann kamen Distrikte wie Archi, Khanabad und Imam Sahib dazu. Mit der Zeit traten die schon immer vorhandenen Rivalitäten und Netzwerke der Kriegsfürsten wieder mehr und mehr zu Tage. Die Bundeswehr war nur noch oberflächlich in der Provinz präsent: Kaum noch fuhr sie Patrouillen; sie igelte sich immer mehr in ihrem Lager ein. Entgegen einer konsequenten Entwaffnung lokaler Gewaltakteure fand in Kundus das genaue Gegenteil statt. So wurden – vor allem mit US-amerikanischem Geld – lokale Bürgerwehren als Privatmilizen finanziert, bewaffnet und aufgebaut. Beim Abzug der Bundeswehr war nahezu die gesamte Provinz unter rivalisierenden, bis an die Zähne bewaffneten Kommandeuren aufgeteilt. Die Sicherheit in Kundus – wohlgemerkt die der Bevölkerung, nicht ihre eigene – hatte die Bundeswehr bereits vor Jahren aufgegeben.

Aber gegen wen will man eigentlich kämpfen? Früh, zu früh operierten die deutschen Analysten mit einem zu simplen Feindbild. Zu schnell wurde alle unzufriedenen oder aufmüpfigen Paschtunen als Taliban kategorisiert; blind ließ man sich in die lokale Politik hineinziehen – ohne zu merken, dass die Bundeswehr, aber auch Organisationen der Entwicklungshilfe, in ihrer alltäglichen Praxis politisch Partei ergriffen. Beispielsweise wurden sowohl in Kundus-Stadt als auch in Taloqan, der Hauptstadt der Nachbarprovinz Takhar, Grundstücke und Gebäude angemietet, ohne Bedenken, wessen Taschen damit gefüllt würden und welchen Eindruck diese Art der Parteinahme in der dortigen Bevölkerung hervorrufen würde. Die blauäugige Rekrutierung von Personal – ob Logistiker, Ingenieure, Dolmetscher – verfestigte den Einfluss und das Machtgewicht bestimmter Familien und Netzwerke. Dass diese Personalpolitik die lokalen Zielgruppen der Entwicklungsmaßnahmen und Projekte sowie den Informationsfluss zwischen Interventen und der breiten Bevölkerung maßgeblich beeinflusste, überrascht nicht. Die Deutungshoheit über die lokalen politischen Verhältnisse hat man entweder nie erlangt oder Wissen zu leichtfertig anderen Erwägungen – wie Mittelabflussdruck, Karriereplanungen und Kurzzeitinteressen der ministerialen Politik in Berlin und Bonn – geopfert. Auch der von Oberst Klein befehligte, verhängnisvolle Beschuss eines Tankzugs, bei dem etwa 90 Zivilisten ums Leben kamen, verdeutlichte, wie weit man von den Realitäten vor den Toren des Lagers entfernt war.

Auch wurden die vermeintlichen Bedürfnisse der Afghaninnen und Afghanen zum einen niemals richtig erfasst und zum anderen wurde die Frage, ob die Partnerwahl vor Ort immer die richtige war, niemals gestellt. Die Bevölkerung selbst wurde viel zu selten gefragt, in was für einer Gesellschaft sie eigentlich leben will. Die Definition der Bedürfnisse und Strategien zu deren Realisierung wurde in kolonialer Manier durch die Interventen vorgenommen. In den Gemeinden im Nordosten mit dieser Art Vorgehen auf der Alltagsebene Vertrauen aufzubauen und die Zuversicht in den Staatsaufbauprozess zu stärken, war daher illusorisch. In einer Reihe von Dörfern wussten sich Männer aller Altersklassen in den letzten Jahren aufgrund von Denunzierung durch ihre Rivalen und der Angst, lokalen Ordnungskräften ans Messer geliefert zu werden, nicht anders zu helfen, als »in die Berge« zu gehen und sich vor dem Zugriff des »Rechtsstaates« in Sicherheit (!) zu bringen. Sie galten dann als Taliban oder al-Kaida-Anhänger. Die Taliban in Kundus waren daher zum großen Teil ein Monster, das sich die Intervention selbst geschaffen hat.

Die afghanischen Partner und insbesondere lokale Eliten tragen eine klare Mitverantwortung für die Geschehnisse: Auch für sie bildeten Kurzzeitinteressen die Priorität; die verfügbaren Gelder – letztendlich Gelder deutscher Steuerzahler – waren immens und weckten Begehrlichkeiten. Letztlich formten diese Anreize die Grundlage dafür, dass die Akteure der staatlichen und nichtstaatlichen Entwicklungszusammenarbeit zunehmend selbst Konfliktparteien wurden. Auch wenn dies ungewollt geschah – der Mangel an Selbstkritik, organisatorische Selbsterhaltungslogiken und die bewusste, bis heute anhaltende Täuschung der deutschen Öffentlichkeit sind konkrete Punkte, die die gegenwärtige allseitige Bestürzung über die aktuellen Ereignisse in Kundus heuchlerisch erscheinen lassen.

Vor diesem Hintergrund wäre es fatal, über die Ereignisse in Kundus nun einfach hinwegzugehen oder mal wieder nur nach dem Militär zu rufen. Vielmehr zeigt gerade der Fall Kundus, wie schwierig, langwierig und steinig der Weg des Wiederaufbaus in einem zerrütten Bürgerkriegsland ist. Eine externe Analyse dessen, was eigentlich in gut zehn Jahren deutschem Engagement in Kundus gelaufen ist, ist daher unbedingt von Nöten, um aus den gemachten Fehlern für zukünftiges Handeln zu lernen. Dabei geht es dann auch darum, schonungslos Probleme, Ignoranz, Versagen und Fehleinschätzungen aufzuarbeiten. Dies hat die deutsche Politik bislang bewusst nicht gewollt. Kundus musste unbedingt ein Erfolg sein. Wer sich jedoch nach den Ereignissen der letzten Tage dieser kritischen Auseinandersetzung immer noch verschließt, muss entweder Zyniker oder verblendet sein.

Katja Mielke (Senior Researcher) und Conrad Schetter (Forschungsdirektor) arbeiten am BICC (Internationales Konversionszentrum Bonn). Zwischen 2003 und 2013 bereisten sie immer wieder Kundus und führten dort Feldforschung zu lokaler Politikgestaltung durch.

Kollateralschaden des Koreakriegs

Kollateralschaden des Koreakriegs

60 Jahre ohne Friedensvertrag

von Christine Ahn

Der Koreakrieg endete laut der üblichen Geschichtsschreibung vor 60 Jahren, wenn auch nur mit einem Waffenstillstand, nicht mit einem Friedensvertrag. Unsere Autorin sieht dies anders: Dieser Krieg sei bis heute nicht beendet, mit fatalen Folgen für die Koreaner nördlich wie südlich der Demarkationslinie. Auch gigantische Aufrüstungsmaßnahmen seien Folge des nie beendeten Krieges, und mitschuldig an der Misere seien die USA.

Die Insel Jeju wurde 2011 für ihre außerordentliche landschaftliche Schönheit zu einem der sieben neuen Weltwunder gewählt. Gut 100 Kilometer südlich der koreanischen Halbinsel gelegen, weist Jeju Island die weltweit höchste Zahl an UNESCO-Geoparks sowie mehrere Biosphärenreservate und als UNESCO-Weltkulturerbe ausgewiesene Stätten auf.

An der Südküste der Insel, weniger als zwei Kilometer vom UNESCO-Biosphärenreservat Beom Islet entfernt, liegt das 450 Jahre alte Dorf Gangjeong. Die Straßen dieser landwirtschaftlich geprägten Ortsgemeinde sind von Mauern aus Lavagestein gesäumt; Mandarinen-, Aprikosen- und Feigenbäume wachsen in Hülle und Fülle. Entlang Ganjeongs Küste, wo frisches Quellwasser auf Meerwasser trifft, zieht sich ein großes Lavamassiv, von den Dorfbewohnern liebevoll »Gureombi« genannt. Dieses seltene marine Ökosystem – das einzige felsige Feuchtgebiet auf der Insel Jeju – beheimatet verschiedene bedrohte Arten und Weichkorallenriffe. Von den 132 in Korea vorkommenden Korallenarten finden sich 92 an der Küste von Jeju und davon wiederum 66 in diesem Gebiet. Seit Generationen bieten diese Gewässer den Fischern und den »haenyo«, Jejus berühmten Meerestaucherinnen, eine stabile Existenzgrundlage. Seit einigen Jahren sind sie allerdings auch Schauplatz einer hartnäckigen Widerstandsbewegung von DorfbewohnerInnen, die sich erbittert gegen den Bau eines südkoreanischen Marinestützpunktes wehren. Die Jeju Naval Base soll u.a. Stützpunkt für das amerikanische Raketenabwehrsystem werden, das der Eindämmung Chinas dienen soll.

Jeju liegt in der Koreastraße, ziemlich genau im Schnittpunkt zwischen Beijing, Hongkong, Shanghai, Tokio, Taipeh und Wladiwostok. Viele Kommentatoren sagen, Jeju sei ein Opfer des »Asia Pacific Pivot«, der politisch-strategischen Umorientierung der USA auf den asiatisch-pazifischen Raum, die die Regierung Obama im Jahr 2011 angekündigt hat. Diese neue außenpolitische Doktrin sieht vor, dass die USA mittels aggressiver ökonomischer Expansion und dem Einsatz militärischer Mittel ihre Vorherrschaft über diese Region sichern. Dazu sollen erhebliche militärische Kontingente nach Asien und in die Pazifikregion verlegt werden; Bestandteil der Planung sind zusätzliche bzw. erweiterte Militärbasen, Überwachung und moderne Kriegsführung. Das Pentagon hat entschieden, 60% seiner Luft- und Seestreitkräfte in Asien und dem Pazifik zu stationieren, u.a. in Vietnam, den Philippinen und Australien. Zweifellos verschärft der «Pivot« die Spannungen in einer Region, die ohnehin noch von Konflikten aus dem letzten Jahrhunderts geprägt ist.

Korea als Rechtfertigung für US-»Pivot«

Der nie formell beendete Koreakrieg ist einer dieser ungelösten Konfliktea und liefert die Begründung für die weitere Militarisierung des Landes und für den Bau der Marinebasis auf Jeju.

Es wird oft übersehen, dass vor allem ein Land den USA als Rechtfertigung für ihre militärische Expansion in der asiatisch-pazifischen Region dient: Korea. Bruce Cumings, der führende Historiker zur koreanischen Geschichte, schreibt dazu: „Weder […] der Vietnamkrieg noch der Marshall-Plan waren Ursache für den hohen Verteidigungshaushalt und den nationalen Sicherheitsstaat, sondern der Koreakrieg. Er bedingte die Transformation von einer begrenzten Eindämmungsdoktrin zu einem globalen Kreuzzug. Letzterer wiederum entfachte den McCarthyismus just dann neu, als dieser zu verebben schien, und verlieh damit auch dem Kalten Krieg seinen langen Atem.“

Wie vor 60 Jahren dient auch heute Korea als Rechtfertigung für die amerikanische Aggression im asiatisch-pazifischen Raum. Als Nordkorea im Dezember 2012 erfolgreich einen Satelliten startete und wenige Monate später erneut eine Atomwaffen testete, drängten die USA den UN-Sicherheitsrat zu weiteren Sanktionen, dieses Mal unter Beteiligung Chinas. Nordkorea verschärfte daraufhin den Ton: Das Land erklärte das Waffenstillstandsabkommen für ungültig und drohte mit Schlägen auf US-amerikanische und südkoreanische Ziele, falls ein Angriff auf nordkoreanisches Territorium erfolgen sollte. Das entscheidende Wort hierbei wurde in den US-Medien unterschlagen: „falls“. Dies setzte einen Feuersturm militärischer Reaktionen in Gang, darunter eine beispiellose Machtdemonstration der USA während eines gemeinsam mit Südkorea durchgeführten Gefechtsübung. Im Rahmen dieses Militärmanövers schickten die USA nuklearwaffenfähige Tarnkappenbomber des Typs B-2 nach Südkorea. Diese Bomber können 30.000-Pfund-Bomben abwerfen, die speziell für die Zerstörung von Nordkoreas unterirdischen Militäranlagen entwickelt wurden. Auch das mit Tomahawk-Raketen ausgerüstete Atom-U-Boot U.S.S. Cheyenne nahm an dem Manöver teil. Der ehemalige US-Verteidigungsminister Leon Panetta sagte, die Vereinigten Staaten stünden „jeden Tag wenige Zentimeter vor einem Krieg mit Nordkorea“.

Das Wissen um die Geschichte

In Wahrheit sind die USA immer noch im Krieg mit Nordkorea. Nach dem Tod von vier Millionen Koreanern, die meisten davon Zivilisten, blieb der Koreakrieg trotz Unterzeichnung des vorläufigen Waffenstillstandabkommens zwischen den USA, Nordkorea und China am 27. Juli 1953 ungelöst. Der Waffenstillstand enthielt drei zentrale Klauseln:

1. Innerhalb von drei Monaten sollen die Unterzeichnerstaaten eine dauerhafte Friedensregelung ausarbeiten. Diese Vereinbarung wurde nie erfüllt.

2. Alle ausländischen Truppen sollen sich aus Korea zurückziehen. China rief daraufhin sämtliche Truppen zurück, die USA hingegen stationieren immer noch 28.500 Soldaten auf 80 Militärbasen und in anderen Einrichtungen in ganz Südkorea.

3. Es sollen keine neuen Waffen in Korea eingeführt werden. Auch diese Klausel verletzten die USA mit der Stationierung von Nuklearwaffen in Südkorea, die erst 1991 von der Regierung Bush sen. abgezogen wurden.

Dieses Jahr jährte sich das Waffenstillstandsabkommens zum 60. Mal – und die gesamte Ära seither ist durch Krieg, die Teilung des Landes und die anhaltende Militarisierung Koreas gekennzeichnet, im Norden wie im Süden.

Das Wissen um diese Geschichte ist Voraussetzung zum Verständnis der gegenwärtigen Situation. Der nie beendete Koreakrieg ist ursächlich für die gegenwärtige Krise auf der koreanischen Halbinsel und für Maßnahmen wie den Bau der Militärbasis auf Jeju. Es ist einfach, Nordkorea als kriegslüstern zu verurteilen. In Wirklichkeit wird Nordkorea provoziert, und zwar durch den »Pivot« und die amerikanisch-koreanischen Kriegsspiele, bei denen Zehntausende amerikanische und südkoreanische Soldaten eine Invasion in und Besetzung von Nordkorea simulieren. Nordkorea ist der perfekte Schwarze Peter für Washington, um den »Pivot« zu begründen, ohne die wahre Absicht – die Eindämmung Chinas – zuzugeben. Seitdem die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton diesen »Pivot« im Jahr 2011 ankündigte, verzeichnete die Rüstungsindustrie der USA ungeachtet der globalen Rezession eine Umsatzsteigerung um fünf Prozent. Und seitdem Washingtons im Dezember 2012 dem Verkauf von Drohnen an Seoul zustimmte, wächst auch der Waffenhandel der USA mit Japan, Taiwan, Singapur, Australien und anderen US-Alliierten.

Unterdessen treibt die südkoreanische Regierung die Sprengung und Ausbaggerung der Korallenriffe von Gangjeong für die Marinebasis mit Hochdruck voran. Südkoreas Wirtschaft hängt fast ausschließlich vom Seehandel ab – ein Resultat der Teilung der Halbinsel entlang des 38. Breitengrades. Gemäß der südkoreanischen Marineplanung sollen an der Basis 20 Kriegsschiffe andocken können, einschließlich der Aegis-Boote mit der Raketenabwehr der USA.

Gegen den Bau der Basis gibt es täglich Proteste von Dorfbewohnern und sympathisierenden Aktivisten, darunter den großen Glaubensgemeinschaften des Landes; US-Stars wie Filmemacher Oliver Stone und Schriftstellerin Gloria Steinem unterstützen die Bewegung mit Solidaritätsbesuchen.1 Dennoch arbeiten die Firmen Samsung und Daelim im Auftrag der Regierung rund um die Uhr, um die Basis bis 2015 fertig zu stellen.

Die Kosten des Krieges

Es gibt noch mehr Kollateralschäden des nie beendeten Koreakrieges. Kürzlich fand an der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA) eine Konferenz statt, die vom Korea Policy Institute, dem UCLA Center for Korean Studies und den United Methodist Women on Ending the Korean War veranstaltet wurde. Eine junge koreanisch-amerikanische Frau warf die Frage auf, warum ihre Generation Interesse an der Wiedervereinigung Koreas haben sollte, wo die Kosten für die Unterstützung des verarmten Nordens für Südkorea doch absolut unerschwinglich seien.

Ich forderte sie auf, das Problem anders zu betrachten, und fragte meinerseits: „Wie hoch sind die Kosten für die Aufrechterhaltung der Teilung und den permanenten Kriegszustand?“ Dabei geht es nicht nur um die Verschwendung knapper öffentlicher Gelder für die Kriegsvorbereitung, die die öffentlichen Kassen überall belastet. Den meisten Amerikanern ist nicht bewusst, dass die US-Regierung mehr als die Hälfte des Staatshaushalts für den militärisch-industriellen Komplex ausgibt, während gleichzeitig jedes vierte Kind hungrig zu Bett geht und fast 50 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung dastehen.

Zu den Kosten dieses Krieges gehören auch Repressionen im Namen der nationalen Sicherheit auf beiden Seiten der demilitarisierten Zone. Im so genannten demokratischen Südkorea definiert das vom Kalten Krieg geprägte »National Security Law« Gewerkschafter, Umwelt-, Friedens- und andere im Bereich sozialer Gerechtigkeit tätige Aktivisten als »Kommunisten«; infolgedessen unterwerfen sich die meisten Menschen einer Art Selbstzensur und sagen lieber nicht, was sie denken.

Gegenwärtig führen die Konservativen unter Führung der südkoreanischen Präsidentin Park Geun-hye, Tochter des früheren Diktators Park Chung-hee, der Korea 18 Jahre lang mit eiserner Faust regierte, eine regelrechte Hexenjagd durch. Während der Präsidentschaftswahlen 2012 griff der Inlandsgeheimdienst »National Intelligence Service« (NIS) in den demokratischen Prozess ein: Er organisierte eine Hetzkampagne gegen liberale und linke Kandidaten, die er in einer Rufmordkampagne in mehreren Online-Foren als Kommunisten und Sympathisanten des Nordens verleumdete. Als landesweit Rufe nach Auflösung des NIS aufkamen, konterte der Geheimdienst mit Razzien in den Büros der Unified Progressive Party, verhaftete mehrere Mitglieder der Partei, darunter den Abgeordneten Lee Seok-ki, und stellte sie unter Anklage. Er behauptet, Lee sei Anführer der »Revolutionary Organization«, die angeblich gemeinsam mit Nordkorea einen bewaffneten Aufstand plane. Die Situation ist inzwischen so eskaliert, dass aus allen Bereichen der südkoreanischen Zivilgesellschaft die Forderungen erhoben wird, diese Hexenjagd zu beenden und das Augenmerk wieder auf die wahren Kriminellen zu richten, namentlich den NIS.

Nördlich der demilitarisierten Zone gibt es einen weiteren Kollateralschaden des unbeendeten Koreakrieges: die Menschenrechtskrise in Nordkorea, geschürt von 60 Jahren Sanktionen, die vor allem von den USA betrieben werden und die Wirtschaft des Nordens lahm legten sowie die Menschen in das Elend zwangen.

Es ist allgemein bekannt, dass im Krieg oder unter der Drohung des Krieges bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte oft eingeschränkt oder bedroht sind. Auch die USA begründen Menschenrechtsverletzungen mit der nationalen Sicherheit. Unter diesem Vorwand rechtfertigte die Regierung Bush jr. die systematische Folter von Gefangenen, und sogar Präsident Obama führte die nationale Sicherheit ins Feld, um zu erklären, warum Guantanamo nicht geschlossen werden kann.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will auf keinen Fall die Praxis Nordkoreas rechtfertigen, Flüchtlinge zwangsweise nach Nordkorea zurückzuführen und dort in Umerziehungslager zu stecken. Der Gedanke an diese Vorgehensweise ist nur schwer zu ertragen. Aber die Suche nach einer Lösung dieser Menschenrechtskrise verlangt einen holistischen Ansatz und eine kontextbezogene Wahrnehmung, warum Nordkorea sich so verhält. Man muss zur Wurzel des Konflikts vordringen: den nie beendeten Koreakrieg, der auf beiden Seiten der demilitarisierten Zone die Militarisierung und die Verletzung der Menschenrechte im Namen der nationalen Sicherheit vorangetrieben hat. In den Vereinigten Staaten und den anderen Ländern des Westens mangelt es an jeglicher Historisierung des Koreakriegs und seine Folgen und damit auch an einem tieferen Verständnis, warum so viele Menschen aus Nordkorea fliehen.

Elend und getrennte Familien

Die Teilung hat unmittelbare Folgen vor allem für die nordkoreanischen Frauen, die auf der Suche nach einem besseren Leben den Großteil der Nordkoreaflüchtlinge stellen, sind Frauen auf der Flucht doch besonders vielfältigen Gefahren ausgesetzt, u.a. dem Menschenhandel und der sexuellen Ausbeutung. Sogar die Washington Post stellte fest, dass „nordkoreanische Überläufer vor allem Frauen aus der Arbeiterschicht und aus ländlichen Gebieten sind, die vor Hunger und Armut fliehen, nicht vor politischer Repression.“

An dem Elend der Menschen in Nordkorea sind die Vereinigten Staaten federführend mitschuldig, und dies in mehrerer Hinsicht: Zum einen wirkten sich die Sanktionen in den vergangenen 60 Jahren massiv auf das Alltagsleben der Nordkoreaner aus. Auf seiner letzten Reise nach Nordkorea, die er gemeinsam mit anderen Friedensnobelpreisträgern unternahm, sagte der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter: „Werden Sanktionen über ein ganzes Volk verhängt, dann leiden die Menschen am stärksten und die Führer am wenigsten.“ Und weiter: „Aufgrund der Sanktionen blieb den Nordkoreanern ein angemessener Zugang zu Handel und Gewerbe verwehrt, mit verheerenden Folgen für die nordkoreanische Wirtschaft.“ Zum anderen zwingt der unbeendete Krieg Nordkorea dazu, seine begrenzten Ressourcen in das Militär zu stecken. Als Nordkorea im Frühjahr 2013 das Waffenstillstandsabkommen aufkündigte, erklärte das Regime, der unbeendete Krieg habe das Land dazu gezwungen, „große personelle und materielle Ressourcen auf die Verstärkung der Streitkräfte zu verwenden, obwohl diese für die ökonomische Entwicklung und die Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung dringend benötigt würden“. Dies ist wahrlich ein Eingeständnis, das wir in ähnlicher Form bislang weder von den USA noch von Südkorea gehört haben.

Und schließlich leiden Millionen getrennter Familien in Korea und in der gesamten Diaspora unter den Kriegsfolgen. Schätzungen zufolge sind immer noch zehn Millionen Familien auseinander gerissen aufgrund der Teilung entlang der entmilitarisierten Zone. Wir sollten auf der ganzen Welt unsere kollektive Energie darauf verwenden, die 1,2 Millionen Landminen in der demilitarisierten Zone zu entschärfen, so dass Koreaner aus dem Norden und dem Süden diese unbehindert überqueren können. Voraussetzung dafür ist aber, dass der Koreakrieg endlich mit einem endgültigen Friedensvertrag beendet wird.

Anmerkung

1) Die Proteste gegen die Marinebasis auf Jeju und ihre historische Vorgeschichte (entsetzliche Massaker der unter US-Befehl stehenden südkoreanischen Sicherheitskräfte an 60.000 BewohnerInnen von Jeju während des Koreakrieges) schildert Regis Tremblay in seinem Film »The Ghosts of Jeju« (2013, 90 Min.); www.theghostsofjeju.net.

Christine Ahn ist Gründungsmitglied des Korea Policy Institute, der National Campaign to End the Korean War und der Global Campaign to Save Jeju Island.
Übersetzt von Bentje Woitschach

Die Schatten des Zweiten Weltkrieges

Die Schatten des Zweiten Weltkrieges

Folgen der traumatischen Erfahrungen in der älteren deutschen Bevölkerung

von Heide Glaesmer

Traumatische Erfahrungen führen bei vielen Menschen zu unterschiedlichen psychischen und körperlichen Beschwerden, und dies auch häufig noch lange Zeit nach Kriegsende, manchmal bis ins Alter. Die psychosoziale und medizinische Versorgung der »Kriegskinder« des Zweiten Weltkrieges ist darauf nicht ausreichend abgestimmt. Die Autorin fasst die Forschung zu diesem Thema zusammen und zeigt auf, dass die langfristigen Auswirkungen traumatischer Erfahrungen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges ein weiterer Grund sind, Kriege bereits im Vorfeld zu verhindern.

Der Zweite Weltkrieg war das wohl erschütterndste und schwerwiegendste zeitgeschichtliche Ereignis des letzten Jahrhunderts, welches gemeinsam mit weiteren Verbrechen des Dritten Reiches, wie dem Holocaust, 55 Millionen Opfer forderte. Er ging mit einem erheblichen Ausmaß traumatischer Erfahrungen einher und stellt eine wesentliche generationentypische Entwicklungsbedingung der heutigen älteren Bevölkerung in Deutschland wie in den anderen an diesem Krieg beteiligten Ländern dar.

Die Forschung zu den Holocaustüberlebenden und deren Kindern hat relativ früh begonnen. Die öffentliche Auseinandersetzung mit den psychosozialen Folgen des Krieges in Deutschland war dagegen lange Zeit tabuisiert. Die wenigen Studien aus der Nachkriegszeit vermittelten der Öffentlichkeit, dass sich die so genannten »Kriegskinder« weitgehend unauffällig weiterentwickelten (Brähler, Decker & Radebold, 2003). Die häufig sehr ausgeprägte Identifizierung mit der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen trug dazu bei, die eigenen Beeinträchtigungen und Belastungen zu verdrängen oder zu bagatellisieren. Jahrzehntelang wurde ein Bild »anormaler Normalität« aufrechterhalten. In Deutschland hat vermutlich das lange anhaltende kollektive Schweigen über den Krieg und die Fragen von Schuld, Scham und Verantwortung eine Auseinandersetzung mit den Belastungen der Kriegsgeneration verhindert. Zudem standen die unvorstellbare Dimension des Holocausts und die Folgen für die Überlebenden im Mittelpunkt der Betrachtung. Erst seit einigen Jahren scheint es möglich, sich unter Anerkennung der Unvergleichlichkeit des Holocausts den Folgen für andere Gruppen von Traumatisierten zu widmen, ohne in den Verdacht der Bagatellisierung des Holocausts zu kommen. Mit der Gründung der Forschergruppe »Weltkrieg2Kindheiten« in Jahr 2002 wurde die Erforschung der Folgen des Zweiten Weltkrieges deutlich vorangetrieben. Inzwischen liegen empirische Befunde aus Betroffenengruppen, aber auch aus Bevölkerungsstudien vor.

Die Folgen kriegsbezogener Traumatisierungen

Im Rahmen klinischer Erfahrungen und in der Psychotherapie wurde in den letzten Jahren deutlich, dass die im Krieg erlittenen traumatischen Erfahrungen bei vielen Betroffenen nicht ohne Folgen blieben. Die meisten der heute noch Lebenden erfuhren diese Traumata in Kindheit und Jugend und damit in einer Entwicklungsphase mit erhöhter Vulnerabilität und noch nicht voll ausgereiften Bewältigungs- und Anpassungsfähigkeiten (Maercker, 2002a). Die Folgen des Aufwachsens im Krieg für die Persönlichkeitsentwicklung, die Gestaltung sozialer Beziehungen oder die Ausdifferenzierung von Bewältigungsfähigkeiten spielen dabei eine große Rolle für die Ressourcen, die später bei der Bewältigung des Alternsprozesses mobilisiert werden müssen (Schneider, Driesch, Kruse, Nehen & Heuft, 2006). Klinische Beobachtungen zeigten, dass die Folgen der traumatischen Erfahrungen häufig erst im höheren Alter artikuliert und im Zusammenhang mit aktuellen psychischen Belastungen gesehen werden (Radebold, 2005; Radebold, 2006). Darüber hinaus wird diskutiert, dass im höheren Alter die Bewältigungskräfte und damit die Fähigkeit, traumabezogene Erinnerungen und Gefühle abzuwehren, nachlassen. Kommen weitere altersbedingte Stressoren dazu (z. B. Pensionierung, chronische Erkrankungen, Verlust von Freunden und Angehörigen) kommt es insgesamt zu einer Kumulation von Verlusten, die nicht mehr gut bewältigt werden können. Heuft (2004) führte in Abgrenzung zur »Retraumatisierung« den Begriff der »Trauma-Reaktivierung« im Alter ein. Folgende Umstände werden für die späten Auswirkungen der Traumata ins Feld geführt (Heuft, 2004):

  • Ältere Menschen haben mehr Zeit, um bisher Unbewältigtes wahrzunehmen, da sie vom Druck anderer Lebensanforderungen befreit sind.
  • Ältere Menschen spüren einen unbewussten Druck, sich einer noch unerledigten Aufgabe stellen zu wollen oder zu müssen.
  • Der Alternsprozess selbst kann als narzisstische Kränkung erlebt werden und so traumatische Inhalte reaktivieren (z.B. Beängstigung durch drohende Abhängigkeit und Hilflosigkeit).

Befunde aus verschiedenen Betroffenengruppen

Zunächst wurden Studien in verschiedenen Betroffenengruppen durchgeführt, wie zum Beispiel an Opfern von Flucht und Vertreibung (Beutel, Decker & Brähler, 2007; Fischer, Struwe & Lemke, 2006; Kuwert, Brähler, Glaesmer, Freyberger & Decker, 2009; Teegen & Meister, 2000), an ehemaligen Kindersoldaten (Kuwert, Spitzer, Rosenthal & Freyberger, 2008), bei ehemaligen Frontkrankenschwestern (Teegen & Handwerk, 2006), bei Opfern von Vergewaltigungen während des Krieges (Kuwert & Freyberger, 2007) oder von Bombenangriffen (Heuft, Schneider, Klaiber & Brähler, 2007; Lamparter et al., 2010; Maercker, Herrle & Grimm, 1999). Fasst man die Befunde zusammen, so zeigen sich in den verschiedenen Betroffenengruppen hohe Prävalenzen posttraumatischer Belastungsstörungen und anderer psychopathologischer Symptome. Insbesondere aufgrund von mehrfachen Traumatisierungen kam es zu kumulativen Effekten; die Lebensbedingungen während des Krieges und in der direkten Nachkriegszeit spielten bei der Bewältigung der Belastungen eine große Rolle. Gerade für die Betroffenen, die während des Krieges noch Kinder waren, stellten die Lebensbedingungen oft eine weitere Belastung dar, weil die Mütter der Kriegskinder als verlässliche Bezugspersonen nicht uneingeschränkt zur Verfügung standen, da sie durch Abwesenheit oder Tod des Vaters vielfältige Aufgaben zu bewältigen hatten und durch eigenen Traumatisierungen belastet waren. Studien zu vaterlos aufgewachsenen Kriegskindern belegen deren Belastetheit (Decker, Brähler & Radebold, 2004; Franz, Lieberz, Schmitz & Schepank, 1999; Franz, Hardt & Brähler, 2007). Die aufgeführten Befunde belegten eindrucksvoll die Langzeitfolgen des Zweiten Weltkrieges, ließen aber dennoch Fragen offen, weil es an bevölkerungsrepräsentativen Aussagen zu den verschiedenen Traumata und insbesondere zum Auftreten posttraumatischer Symptome lange fehlte.

Psychosoziale Folgen in der älteren Bevölkerung

In bevölkerungsbasierten Studien berichten 40% bis 50% der älteren Deutschen mindestens ein traumatisches Ereignis (Glaesmer, Gunzelmann, Brähler, Forstmeier & Maercker, 2010; Hauffa et al., 2011; Maercker, Forstmeier, Wagner, Glaesmer & Brähler, 2008b), in der SHIP-Studie in Mecklenburg-Vorpommern berichten sogar 76,5% der ab 65-Jährigen mindestens ein traumatische Ereignis (Spitzer et al., 2008). Die Kriegsgeneration ist damit deutlich stärker belastet als die nachfolgenden Generationen. Kriegsbezogene Traumatisierungen machen dabei den weitaus größten Teil aus (Glaesmer et al., 2010; Maercker et al., 2008b). In einer Studie aus dem Jahr 2005 gaben in der Gruppe der ab 60-Jährigen 23,7% an, direkte Kriegshandlungen erlebt zu haben, 20,6% hatten Ausbombung erlebt, 17,9% waren vertrieben worden und 4,4% waren in Gefangenschaft gewesen (Maercker et al., 2008b). Innerhalb der Kriegsgeneration nehmen die Häufigkeiten kriegsbezogener traumatischer Erfahrungen deutlich zu: Während in der jüngsten Altersgruppe 19,2% mindestens ein kriegsbezogenes Trauma berichten, steigt dieser Anteil auf fast 60% in der höchsten Altersgruppe an (Glaesmer et al., 2010). Vergleicht man diese Befunde mit einer Studie an älteren Schweizern und damit mit einem Land, welches nicht direkt am Zweiten Weltkrieg beteiligt war, wird deutlich, dass diese mit einer Lebenszeitprävalenz von 36,3% in der gleichen Altersgruppe deutlich weniger belastet sind (Maercker et al., 2008a). Dies unterstreicht die Bedeutung des Zweiten Weltkrieges als generationstypische Erfahrung für die Kriegsgeneration in Deutschland. Interessanterweise finden sich kaum Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der berichteten Kriegstraumata, nur für Gefangenschaft sind die Prävalenzen bei den Männern höher, was sich aus dem historischen Kontext gut erklären lässt.

In Anbetracht des Ausmaßes der traumatischen Erfahrungen in der deutschen Kriegsgeneration stellt sich zwangsläufig die Frage, wie häufig diese Erfahrungen auch zu Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) führen. Zwischen 3% und 4% der Älteren erfüllen heute die Kriterien eines Vollbildes einer PTBS (Glaesmer, Kaiser, Brähler & Kuwert, 2012; Glaesmer et al., 2010; Spitzer et al., 2008). Posttraumatische Belastungsstörungen treten damit in der Kriegsgeneration auch Jahrzehnte später häufiger auf als in den nachfolgenden Generationen (Maercker et al., 2008b).

Da die Forschung zu den Kriegsfolgen so spät begonnen hat, liegen praktisch keine Studien zu den Langzeitverläufen der posttraumatischen Symptomatik vor. Dies ist auch damit zu begründen, dass die PTBS als Diagnose erst seit 1980 beschrieben ist. Die Älteren berichten aus ihrer Selbstbeobachtung häufig, dass die Symptome nach Jahrzehnten der Störungsfreiheit auftreten. In einigen retrospektiven Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass die Symptome im Rahmen des Alternsprozesses vermehrt auftraten (Kruse & Schmitt, 1999; Solomon & Ginzburg, 1999). Das Konzept der Traumareaktivierung (Heuft, 2004) spricht ebenfalls für eine Verschlechterung des psychischen Befindens im Alter. Eine amerikanische Arbeitsgruppe hat ein breiter angelegtes Konzept für einen derartigen Verlauf vorgestellt, in dem normative Faktoren des Alterns sowie individuelle Risiko- und Schutzfaktoren die Symptomatik lang zurückliegender Traumatisierungen modulieren (late onset stress symptomatology, LOSS) (Davison et al., 2006).

Mit Blick auf die Befunde zu den Langzeitverläufen in anderen Altersgruppen kann angenommen werden, dass es chronisch-persistierende bzw. fluktuierende Verläufe gibt, dass es aber ebenso Ältere gibt, die in früheren Lebensphasen eine posttraumatische Symptomatik hatten, aktuell aber nicht mehr betroffen sind. Wie groß die einzelnen Untergruppen sind, lässt sich nicht präzise sagen, weil eine Erfassung vorangegangener Verläufe nur noch retrospektiv möglich ist und damit zwangläufig mit Validitätsproblemen einhergeht. Zieht man die vermehrte Traumareaktivierung im Alter in Betracht, leitet sich ein relevanter Behandlungs- und Hilfsbedarf ab, dem derzeit nicht ausreichend begegnet wird. Neben posttraumatischen Symptomen spielen auch weitere psychische Beschwerden als Traumafolgestörungen eine Rolle. Aus den bereits erwähnten bevölkerungsrepräsentativen Studien in der deutschen Altenbevölkerung ist bekannt, dass eine aktuelle PTBS mit erhöhten Raten an depressiven und somatoformen Beschwerden einhergeht (Glaesmer et al., 2012).

Körperliche Erkrankungen als Folge traumatischer Erfahrungen

In den letzten Jahren rückte die Bedeutung traumatischer Erfahrungen für das Auftreten körperlicher Erkrankungen in den Blickpunkt des Interesses. Den Beginn nahm die Erforschung in den Arbeiten zu den körperlichen Folgen frühkindlicher Traumatisierungen, für die sich Zusammenhänge mit dem Auftreten verschiedener körperlicher Erkrankungen nachweisen ließen (Dong, Dube, Felitti, Giles & Anda, 2003; Dong et al., 2003; Goodwin & Stein, 2004). Erst in letzter Zeit wurden diese Forschungsansätze auf die Bedeutung von traumatischen Erfahrungen und PTBS im Erwachsenenalter übertragen. Die meisten der bisherigen Studien wurden an Betroffenengruppen (z. B. Kriegsveteranen, Opfer sexueller Gewalt) durchgeführt. Für die deutsche Kriegsgeneration wurde inzwischen gezeigt, dass sowohl traumatische Erfahrungen als auch eine aktuelle PTBS mit erhöhten Raten körperlicher Erkrankungen (z.B. kardiovaskuläre Erkrankungen und Risikofaktoren, Asthma, Schilddrüsenerkrankungen) einhergehen (Glaesmer, Brähler, Gündel & Riedel-Heller, 2011). Dieser Befund unterstreicht, dass die Kriegstraumatisierungen nicht nur psychische Folgen nach sich ziehen, sondern sich auch negativ auf die körperliche Gesundheit auswirken und die Folgen damit wesentlich komplexer als üblicherweise angenommen sind.

Schlussbemerkungen

Die im Zweiten Weltkrieg und der direkten Nachkriegszeit erfahrenen Traumatisierungen stellen für die Kriegsgeneration und damit die heutige ältere Generation eine wichtige historisch-biographische Bedingung dar, die auch über 60 Jahre nach Kriegsende mit psychischen und körperlichen Folgen assoziiert sind. Neben den typischen posttraumatischen Symptomen spielen die Traumatisierungen auch für andere psychische Erkrankungen wie depressive und somatoforme Beschwerden eine große Rolle. Häufig werden heutige Symptome oder Erkrankungen nicht mit den lange zurückliegenden Ereignissen in Verbindung gebracht. In der medizinisch-pflegerischen Versorgung sollte den Erfahrungen während des Krieges mehr Bedeutung in Anamnese und Behandlung zukommen.

Die Befunde unterstreichen aber auch, wie langfristig und vielfältig die gesundheitlichen Folgen traumatischer Erfahrungen sind. Es ist davon auszugehen, dass vergleichbare Folgen auch in anderen Bevölkerungsgruppen, die sich in aktuellen Konflikt- und Krisenregionen befinden, auftreten. Hier wird deutlich, wie wichtig die Vermeidung von bewaffneten Konflikten und Kriegen ist. Darüber hinaus muss auch die Prävention und Vermeidung von gesundheitlichen Folgen durch frühere Interventionen mehr Aufmerksamkeit bekommen.

Literatur

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PD Dr. Heide Glaesmer erhielt für Ihre Habilitation »Traumatische Erfahrungen und posttraumatische Belastungsstörungen in der Altenbevölkerung – Zusammenhänge mit psychischen und körperlichen Erkrankungen sowie mit medizinischer Inanspruchnahme« den Gert-Sommer-Preis 2011. Sie ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig.

Libya hurra?

Libya hurra?

Das »freie« Libyen im Jahre drei

von Almut Besold

In der Debatte über den Bürgerkrieg in Syrien wird immer wieder das Beispiel Libyen genannt: Regimewechsel mit Hilfe der NATO. Während die eine Seite – vor allem britische und französische Politiker – ein stärkeres militärisches Engagement in Syrien befürworten, zumindest Waffenlieferungen an die Aufständischen, sind von der anderen Seite – dem deutschen Außenministerium, den Regierungen der Niederlande und Österreichs – warnende Stimmen zu vernehmen. Die syrische Armee sei besser gerüstet als die Gaddafis, und ein Flächenbrand sei nicht auszuschließen, heißt es. Festzustehen scheint dabei für beide Seiten, dass das militärische Eingreifen in Libyen als Erfolg zu werten ist. Doch ein Erfolg für wen? Almut Besold zur Situation in Libyen im Jahre drei nach dem herbeigebombten Regimewechsel.

Seit der Revolution vom 1. September 1969 wurde Libyens politisches System vom »Führer der Revolution«, Mu’ammar al-Qaddafi, dominiert. Damit verbunden waren Kontinuität und Stabilität für das Land, trotz vieler innenpolitischer Transformationsprozesse und Spannungen sowie etlicher außenpolitischer Konflikte. Zu Letzteren zählten der Grenzkrieg mit Tschad in den 1970er und 1980er Jahren, der über Jahrzehnte währende Konflikt mit den USA sowie die UN-Sanktionen (1992-1999).1 Dem standen aber auch Reformperioden gegenüber, z.B.

  • von 1987-1992,
  • ab 1993, nach der Verhängung von UN-Sanktionen,
  • ab 1999, nach der Lockerung der UN-Sanktionen,
  • ab 2003, nach der Aufhebung der UN-Sanktionen.

Die Reformen waren jeweils darauf ausgelegt, Libyens außenpolitischen Handlungsspielraum wiederherzustellen. Sie zielten nie auf eine Demokratisierung nach westlichem Maßstab, da die Revolutionsführung das libysche basisdemokratische System der Volkskongresse und Volkskomitees für weitaus demokratischer hielt als jede westliche Demokratie („al-lidschân fi kull makân“ – „die Ausschüsse sind überall“ ist hier das Schlagwort aus dem »Grünen Buch« Qaddafis). Immerhin wurde seit 1999 den Bürgern zunehmend zugestanden, ihre Interessen zu äußern, und ebenfalls Ende der 1990er Jahre erwies sich die Entwicklung hin zu einer international eingebundenen Marktwirtschaft als unumkehrbar, bedingt durch das Interesse an ausländischen Investitionen.

Die Herbeiführung eines Regimewechsels

Sowohl die demokratische als auch die marktwirtschaftliche Entwicklung wurde durch den so genannten Arabischen Frühling stark beschleunigt. Die Ereignisse in Tunesien und in Ägypten bewirkten eine »Revolution« in Libyen, die am 15. Februar 2011 ihren Anfang nahm, aber heute den 17. Februar zum Namen hat (thaurat sab’ata’aschar fabrayir – Revolution vom 17. Februar). Zunächst handelte es sich um Unzufriedenheitsbekundungen von Bürgern gegenüber der Führung von al-Qaddafi. Rasch eskalierte jedoch die Lage und wandelte sich von einem politischen zu einem militärischen Konflikt, der das gesamte Land inklusive seiner Machtelite spaltete. Bereits am 27. Februar 2011 wurde in Benghasi der oppositionelle Nationale Übergangsrat (National Transitional Council, NTC) gegründet, der Libyen offiziell ab dem 16. September 2011 repräsentierte. In der Nacht vom 8. auf den 9. August 2012 übergab der Nationale Übergangsrat die Macht an den Allgemeinen Nationalkongress (General National Congress/GNC), der am 7. Juli 2012 vom Volk gewählt worden war.

Dieser »Regime Change« war Folge des Eingreifens der NATO nach Verabschiedung der Resolution 1973 (2011) des UN-Sicherheitrats.2 Die Passage „alle notwendigen Maßnahmen“ der UN-Resolution wurde von der NATO als Freibrief für einen Luftkrieg interpretiert; damit wurden die Prinzipien des Völkerrechts weiter ausgehebelt.3 Wäre es nur um eine Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung gegangen, hätte man nach einigen Tagen die Bombardements einstellen müssen, als die libysche Luftwaffe zerstört war. Das Ziel der Militäraktion war aber von Beginn an ein Regimewechsel. Die NATO-Staaten flogen 20.262 Einsätze, die eine unbekannte Zahl ziviler Verletzter und Toter forderten und mit denen die Zerstörung ziviler Infrastruktur einher ging. Im August 2011 wurde Tripolis von oppositionellen bewaffneten Kräften eingenommen, und am 20. Oktober wurde Qaddafi in Sirt gefangen und verlor unter ungeklärten Umständen sein Leben. Da der Regimewechsel durch die Unterstützung der NATO erzwungen wurde, kann es kaum verwundern, dass der Machtkampf zwischen den unterschiedlichen »Revolutionsbrigaden« und dem NTC bzw. der seit dem 14.11.2012 im Amt befindlichen Zeidan-Regierung auch nach dem offiziellen Ende des Bürgerkrieges weitergeht.

Anders als beispielsweise beim Irakkrieg gab es gegen den NATO-Luftkrieg keine nennenswerten Proteste seitens der Bevölkerung der westlichen Länder. Die systematische, über Jahrzehnte währende Verteufelung von Qaddafi hatte offensichtlich dauerhaft Früchte getragen. Diskussionen, ob der NATO-Einsatz gerechtfertigt sei, wurden vom Tisch gewischt, da Qaddafi »böse sei« und den Krieg schon »irgendwie verdient habe«.

Nachkriegssituation: Libyen zwei Jahre danach

Wie stellt sich heute, zwei Jahre nach Beginn der »thaura« (Revolution) in Libyen, die Lage dar? Zugespitzt formuliert hat sich für die Bevölkerung nichts verbessert, dafür fast alles verschlechtert. Demokratie wird als Freibrief für Freiheit verstanden, Freiheit wiederum in der Weise interpretiert, dass ausnahmslos alles erlaubt ist, da nur die eigene Freiheit zählt, nicht aber die des anderen. Insofern fand ein Tausch von diktatorischer Willkür im Singular gegen individuelle Willkür im Plural statt.

Das mag erklären, warum es heute keinerlei Sicherheit mehr gibt – um so mehr angesichts der Ubiquität von Waffen. Keinerlei Sicherheit bedeutet: Keiner weiß beim Verlassen des Hauses, ob er unbeschadet zurückkehrt. Da ist die Tatsache, dass Libyen seit dem Umsturz von 2011 die Unfallstatistik für Verkehrsopfer weltweit anführt, das geringste Übel.4 Weitaus einschneidender sind politisch motivierte Übergriffe sowie monetär motivierte Entführungen und Raubüberfälle.

Keinerlei Sicherheit bedeutet auch, dass Frauen fast ungestört und ungestraft belästigt, vergewaltigt und getötet werden können – die Polizei hütet sich im Regelfall, ihre ohnehin kaum vorhandene Autorität auszuspielen. Autorität wird ihr von der Bevölkerung auch nicht zugestanden, da in ihr viele bei der Revolution aus den Gefängnissen frei gekommene Kriminelle Dienst tun. Verschlechtert hat sich die Situation der Frauen aber nicht nur aufgrund von Belästigungen, sondern insbesondere durch die nach dem Ende des Bürgerkrieges im Oktober 2011 erfolgte Änderung des libyschen Ehegesetzes. Die Heirat einer Zweit-, Dritt- oder Viertfrau ist nun nicht mehr von der Zustimmung der Erstfrau abhängig. Aufgrund dessen stieg die Zahl der mit mehr als einer Frau verheirateten Libyer signifikant an. Die betroffenen Erstfrauen wagen vielfach nicht, sich zu beklagen, da so gut wie jeder eine Waffe im Hause verwahrt und deren Anwendung gefürchtet wird.

Folter wird im »freien Libyen« nach wie vor angewendet, auch wenn Regierungskreise verlauten lassen, dass das meistens nur in Gefängnissen geschehe, die nicht unter staatlicher Kontrolle stünden, sondern von Milizen geführt würden. Widerrechtliche Gefangennahmen sind gang und gäbe, und gegen Lösegeldzahlung kann durchaus eine Freilassung erreicht werden.

Von Demokratie …

Von außen heißt es trotzdem, dass in Hinblick auf Demokratie und freie Marktwirtschaft in Libyen große Fortschritte zu verzeichnen seien. Die Parlamentswahlen vom 7. Juli 2012 wurden von der westlichen Presse gelobt. Libyen kann seit dem 14. November 2012 eine Regierung aufweisen, mit Ali Zeidan als Ministerpräsidenten. Vorangegangen war am 12. September 2012 Mustafa Abu Shagur, dem es allerdings nicht gelungen war, ein Kabinett zusammenzustellen, das beim Parlament auf Akzeptanz stieß. Daher musste er am 7. Oktober 2012 seinen Posten als designierter Premierminister wieder räumen. Eine Integritätskommission achtet bei allem auf die politische Integrität sämtlicher politischer Führungsfiguren im »freien Libyen«. Bei für ungerecht befundener Klassifizierung kann ein Gericht angerufen werden. Es kam immer wieder vor, dass die Integritätskommission ihre Klassifizierung aufgrund von öffentlicher Aufmerksamkeit revidieren musste.

Sobald diese öffentliche Anteilnahme fehlt, gerät die Umsetzung von Gerichtsurteilen ins Stocken. Als Beispiel mag hier gelten, dass Universitätsprofessoren ihr Gehalt nicht mehr bekommen, wenn ihnen eine zu enge Bindung zum vorherigen Regime nachgesagt wird. Auch wenn Gerichtsurteile vorliegen, die dieser Praxis widersprechen, folgen den Urteilen keine Taten, und die Leidtragenden sind die Professoren. Das sind sie auch in anderer Hinsicht, denn die Universitäten hängen am Gängelband der »Revolutionäre«. Diese überwachen z.B. die Einhaltung islamischer Kleidervorschriften für Frauen, und sie schützen studierende »Revolutionäre« vor schlechter Notengebung bei schlechter Leistung. Die Professoren können sich gegen den Druck nicht wehren und nehmen – manchmal um ihr Leben bangend – ein Absinken des Niveaus in Kauf.

… und Marktwirtschaft

Aber die »demokratische« Seite ist nur eine Seite des neuen Libyens. Die andere ist die »marktwirtschaftliche«, die im Jahre 2012 eine Inflationsrate von knapp 20% mit sich brachte und zudem das Misstrauen in der Bevölkerung förderte, weil keinerlei Verlässlichkeit für den Verbraucher mehr vorhanden ist. Staatliche Kontrollen existieren entweder nicht, sind ungenügend oder werden mittels Korruption beeinflusst. Das gilt für alle Bereiche, insbesondere für Lebensmittel. Es kommt z.B. immer wieder vor, dass verdorbene Ware neu verpackt weiterverkauft wird.

Positiv wahrgenommen wird hingegen, dass für Wasser und Elektrizität neuerdings wieder nur ein geringes Entgelt zu bezahlen ist, dass Kraftstoff je Liter mit 150 Dirham (etwa neun Eurocent) beispiellos günstig ist, dass Bildung und Gesundheitsversorgung kostenlos sind und dass Grundnahrungsmittel wie Reis, Mehl, Zucker, Tee, Nudeln und Tomatenmark (noch) subventioniert werden. Darüber hinaus kann fast jeder seine Geschäfte tätigen, ohne dafür Steuern zu zahlen und Behördengänge erledigen zu müssen. Libyen ist dank seiner hohen Öleinnahmen unabhängig von der Wirtschaftsleistung seiner Bürger – diese sind aber genau deswegen nicht unabhängig vom Staat.

Aufgrund der hohen Arbeitslosenrate (geschätzte 40%) versucht jeder auf seine Weise, sein »business« zu machen oder sein staatliches Gehalt aufzubessern. Der Möglichkeiten gibt es viele – eine ist, den derzeit noch geltenden Höchsttauschbetrag für Dinar in Euro oder Dollar zu umgehen. Um Kontrolle darüber zu haben, wer seinen Geldtausch bereits getätigt hat, wird dieser im Reisepass vermerkt. Wer über ein gutes Kontaktnetz verfügt, hat aber die Möglichkeit, gegen ein geringes Entgelt sich Reisepässe auszuborgen, diese bei der Bank vorzulegen und größere Beträge als die erlaubten 2.000 Euro pro Person zu tauschen.

Viel Geld lässt sich ebenfalls mit Alkohol und Drogen verdienen. Beides war in Libyen als islamischem Land strikt verboten und ist es offiziell auch heute noch. Trotzdem hat der Konsum von beidem aufgrund der schlechten Sicherheitslage und der damit verbundenen erleichterten Schmuggelbedingungen stark zugenommen. Zwar können staatliche Stellen immer wieder Erfolge vorweisen, wenn größere Quantitäten bei Kontrollen beschlagnahmt werden, doch betrifft das nur Bruchteile dessen, was ins Land kommt.

Religiöse Konflikte und ethnische Benachteiligung

Ebenfalls verschärft haben sich religiöse Konflikte – seien sie sunnitsch-innerreligiös, sunnitisch-schiitisch oder islamisch-christlich. Waren zu Qaddafis Zeiten Islamisten wenig gelitten, änderte sich das mit der Revolution von 2011. Es kam nicht nur zur Freilassung von Islamisten, sondern Libyen wurde zu einem Hort nicht-libyscher, strenggläubiger Muslime, die den Menschen ihre Glaubensauslegung aufzwingen möchten, was die meisten Libyer aber ablehnen. Diese Islamisten sind es auch, die schiitische Muslime – Mitarbeiter des iranischen Roten-Halbmond – entführten und ihnen Bekehrungsversuche vorwarfen.5 Den koptischen Ägyptern unterstellen sie, in Libyen Christianisierungsversuche zu unternehmen.6 Solche religiöse Auseinandersetzungen sind für Libyen neu, da das Zusammenleben ungeachtet der religiösen Zugehörigkeit in den letzten Jahrzehnten reibungslos verlief – insbesondere in Tripolis, wo etliche Tausend meist nicht-libysche Christen ihren Glauben praktizieren. Die Situation ist heute derart angespannt, dass der libysche Außenminister in Österreich weilend Anfang März 2013 sagte, dass die Zeit noch nicht gekommen sei, über Glaubens- und Religionsfreiheit sprechen zu können.7

Problematisch ist die Situation darüber hinaus besonders für Schwarzafrikaner. Zum einen sind sie Anfeindungen ausgesetzt, da ihnen kollektiv zum Vorwurf gemacht wird, als Söldner für Qaddafi gekämpft zu haben. Zum anderen gelten die Anfeindungen denjenigen, die sich als Migranten in Libyen aufhalten, um nach Europa zu gelangen oder um in Libyen den Lebensunterhalt für ihre in den wirtschaftlich perspektivlosen Herkunftsländern verbliebenen Familien zu verdienen. Da es jedoch auch Libyer dunkelhäutigen Typs gibt, treffen die Anfeindungen nicht nur Ausländer, sondern auch diese Libyer. Unter diesen wiederum besonders jene aus der libyschen Stadt Tawargha, die seit dem Bürgerkrieg stark zerstört wurde, um ihren nahezu ausschließlich dunkelhäutigen Bewohnern die Rückkehr unmöglich zu machen. Von einer generell schlechten Behandlung aller Dunkelhäutigen kann trotzdem nicht gesprochen werden, wohl aber von einer sehr willkürlichen und überwiegend schlechten Behandlung. Dunkelhäutige Gastarbeiter werden in der Regel nicht abgeschoben, wenn ein Libyer sich für sie einsetzt, was meist dann der Fall ist, wenn einem Arbeitgeber eine Arbeitskraft dadurch verloren gehen würde und er keinen Ersatz finden kann.

Ausblick

Viele Libyer, die der veränderten politischen Lage in ihrem Land zunächst sehr optimistisch gegenüberstanden, sehen die Entwicklung inzwischen mit großer Skepsis. Für die meisten haben sich in den vergangenen zwei Jahren die Lebensbedingungen stark verschlechtert, und es besteht keine Aussicht auf eine baldige Besserung. Im Gegenteil: Die Sicherheitslage verschlechtert sich kontinuierlich, und die bewaffnete Kriminalität nimmt rapide zu. Seines Lebens kann man sich nie sicher sein aufgrund der Entführungsgefahr und immer wieder ausbrechender Gefechte, die nicht zwangsläufig zwischen Qaddafi-Anhängern und deren Gegnern ausgetragen werden, sondern vielfach auch unter rivalisierenden Milizen.

Die sich verschlechternde Sicherheitslage war absehbar. Dennoch ist in der westlichen Presse erst seit kurzem etwas davon zu hören, und immer noch überwiegen in den westlichen Medien die Stimmen derer, die sagen, dass Libyen nun demokratisch sei und sich eben noch in einer Übergangsphase befände.

Bei den Betroffenen in Libyen klingt dies anders: „Das nennen Sie Freiheit: Kein System, niemand kümmert sich um irgendwas. Das ist Freiheit: Ich tue, was ich will, ich erschieße diesen, nehme mir jenes Auto. Ich brenne das Haus dort nieder. Wissen Sie: Ich scheiße auf Freiheit. Aber das Leben geht weiter. […] Ich schwöre Ihnen, ich hasse Qaddafi. […] Ich hatte in Libyen vor der Revolution ein gutes Leben.“ 8

Viele Libyer sehnen sich nach einer starken Führungspersönlichkeit, der es gelingt, Recht und Ordnung wieder herzustellen. Für viele Libyer ist klar, dass eine »dritte Revolution« kommen wird – nach der Revolution von 1969, mit der Qaddafi an die Macht kam, und nach der von 2011. Eine Revolution, die an die Qaddafi-Zeit angelehnte Verhältnisse zum Ziel hat. Es besteht die Gefahr, dass diese sehr blutig sein wird, da sich in den vergangen zwei Jahren die Menschen – weitaus mehr als in den 42 Jahren unter Qaddafi – gegenseitig viel Unrecht zugefügt haben.

Wenn sich diese Regierung trotzdem hält, dann nur aufgrund der Unterstützung der westlichen Staaten, die zunehmend versuchen, in Libyen militärisch Fuß zu fassen.9 Aber auch diese Entwicklung beinhaltet die Gefahr, dass die innere Zerrissenheit und Instabilität mit all ihren Folgen weitere ein oder zwei Jahrzehnte anhält.

Anmerkungen

1) Almut Hinz (2005): Die Sanktionen gegen Libyen. Sanktionen im modernen Völkerrecht und in der Staatenpraxis sowie ihre Anwendung am Beispiel Libyen. Frankfurt: Peter Lang.

2) Resolution 1973 (2011) des UN-Sicherheitsrates zu Libyen vom 17. März 2011 ermächtigte die Mitgliedstaaten zu allen für den Schutz von Zivilisten erforderlichen Maßnahmen, verhängte eine Flugverbotszone, rief zur Durchsetzung des Waffenembargos auf, erließ ein Start-, Lande- und Überflugverbot für libysche Flugzeuge und präzisierte die Maßnahmen zum Einfrieren libyscher Vermögenswerte und Konten. [d. Red]

3) Reinhard Merkel: Die Militärintervention gegen Gaddafi ist illegitim. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.03.2011.

4) New statistics show Libya’s roads as world’s most dangerous. Libya Herald, 7.1.2013.

5) Iran steps up pressure over kidnapped Red Crescent workers. Libya Herald, 28.8.2012.

6) Tom Little: Head of Libya’s Copts speaks out on Misrata killing. Libya Herald, 31.12.2012. Siehe auch: Salafisten ätzen Christen offenbar Kreuze aus Haut. 1.3.2013.

7) Manuel Escher: Libyen – Revolutionäre üben eine positive Rolle aus. der standard (Österreich), 05.03.2013.

8) Gespräch mit einem Taxifahrer in Tripolis im Mai 2012.

9) Al-quds al-arabi (U.K.): Französischer Stützpunkt in Libyen?. 27.02.2013 (arabisch).

Dr. phil. Almut Besold ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Orientalischen Institut der Universität Leipzig. Sie arbeitet seit 1998 zu Libyen und hält sich in regelmäßigen Abständen dort auf, zuletzt im Februar 2013.

Grenzen: Konfliktlöser oder Konfliktursache?

Grenzen: Konfliktlöser oder Konfliktursache?

Südsudan und Sudan

von Julia Kramer

Am 9. Juli 2011 wurde der aktuell jüngste Staat der Welt geboren: die Republik Südsudan. Voraus gingen zwei jahrzehntelange Bürgerkriege, ein »Umfassendes Friedensabkommen« 2005, Wahlen 2010 und das Unabhängigkeitsreferendum des Südsudan am 9. Januar 2011. Mit überwältigender Mehrheit von 98,83% entschieden sich die Südsudanes_innen für die Unabhängigkeit. Eine neue Grenze sollte einen Schlussstrich unter die blutige Geschichte setzen. Dieser Artikel untersucht, ob die Ziehung neuer Grenzen zwischen Sudan und Südsudan wirklich zur Lösung von Konflikten verhilft oder vielmehr diese nur verschiebt bzw. Anlass zu weiteren Konflikten ist.

Bei Abschluss des »Umfassenden Friedensabkommens«1 zwischen der Regierung in Khartum und der damaligen Rebellengruppe und jetzigen südsudanesischen Regierungspartei SPLM/A2 im Jahr 2005 war keineswegs klar, dass der Süden die Unabhängigkeit wählen würde. Zwar gab es innerhalb der SPLM/A spätestens seit 1991 mit dem zeitweilig abtrünnigen Dr. Riek Machar, einem Nuer, einen starken Vertreter für die Unabhängigkeit. Der Führer der SPLM/A, Dr. John Garang, der ethnischen Gruppe der Dinka angehörend, hingegen war ein Verfechter der Vision eines »neuen Sudan«, der Befreiung aller Marginalisierten im Süden wie im Norden. Er wurde mit Inkrafttreten des »Umfassenden Friedensabkommens« Vizepräsident des Sudan. Das Abkommen sah vor, dass beide Konfliktparteien die Einheit des Landes attraktiv machen sollten („Making Unity Attractive“), und nur im Fall, dass dies nicht gelänge, sollten die Südsudanes_innen sechs Jahre später die Unabhängigkeitsoption haben.

Neue Grenze: Historisches Korrektiv, Teilbefreiung oder machtpolitisches Kalkül?

Dass am 9.1.2011 die Unabhängigkeit gewählt wurde, liegt hauptsächlich in drei Faktoren begründet: Zum einen starb Dr. John Garang, der charismatische Visionär des »New Sudan«, wenige Monate nach Inkrafttreten des »Umfassenden Friedensabkommens« bei einem ungeklärten Hubschrauberabsturz. Trotz Ausschreitungen in Khartum hielt das Friedensabkommen, doch mit Garang, so sagen viele, starb auch die Einheit des Sudan, und in der SPLM/A wurde von nun an auf Unabhängigkeit Kurs gehalten. Dennoch spielt das Mausoleum von Dr. John Garang im »nation building« des neuen Staates Südsudan eine wichtige identitätsstiftende Rolle.

Der zweite und wahrscheinlich wichtigere Faktor ist die mangelnde Aufarbeitung historischer Entwicklungen und tief sitzender Traumata, die teils sogar weit vor den Bürgerkriegen gegen die Zentralregierung in Khartum begründet liegen.

Tausende von Jahren war das subsaharische »Hinterland« eine Quelle für Sklaven, zunächst für die ägyptischen Pharaonen, dann für den arabischen Markt. Die nilotischen Ethnien der Dinka, Nuer und anderer wurden immer weiter Richtung Süden verdrängt. Auch während der Kolonialzeit wurde der Südsudan vom britisch-ägyptischen Kondominium vernachlässigt: Der heutige Südsudan wurde geographisch zwischen vier Kirchen zur Mission aufgeteilt, mehr geschah kaum. Die etwa zwei Millionen Todesopfer und mehrere Millionen Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge während der beiden Bürgerkriege seit 1955 gingen ebenfalls hauptsächlich zu Lasten der Südsudanes_innen. Auch heute noch sind dort die akuten Auswirkungen des Krieges drastisch spürbar, z.B. anhand der fehlenden Infrastruktur oder der Verbreitung von Landminen.

Die sechs Jahre des Friedensabkommens wurde jedoch kaum genutzt, um die tiefen Wunden zu heilen; erst im Kontext des Referendums schienen viele Nordsudanes_innen »aufzuwachen« und die Diskrepanz zwischen ihrer oftmals paternalistisch-rassistischen Haltung und der Realität der Südsudanes_innen zu erkennen. Die »Jihad«-Propaganda während des Krieges und die mangelnde Interaktion zwischen Süd- und Nordsudanes_innen haben eine frühere Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen und Identitätsfragen sicherlich mit verhindert, zumal nicht wenige Angehörige arabischer Ethnien im Nordsudan zwar ihrerseits von Seiten hellhäutigerer Araber Rassismen erfahren, selbst aber noch oft das Wort »Sklave« in Bezug auf »afrikanische«, sprich dunkelhäutigere, Südsudanes_innen in den Mund nehmen.

Angesichts der unmittelbaren Kriegserfahrung, der historischen Diskrepanz und der anhaltenden Rassismuserfahrung ist das fehlende Vertrauen der Südsudanes_innen in eine gemeinsame Lösung unter einer nordsudanesisch geprägten Regierung nicht überraschend.

Hinzu kommt als dritter Faktor, dass sich der Nordsudan faktisch kaum am »Aufbau Süd« beteiligte und damit die Einheit wenig attraktiv machte. Ob es bereits ein Kalkül war, dass man nicht in einen Landesteil investieren wollte, der ohnehin unabhängig würde, bleibt dahingestellt. Aufbauarbeiten im Süden wurde jedenfalls hauptsächlich von internationalen Akteuren vorangebracht.

Die Südsudanes_innen konnten ihr Schicksal im Referendum selbst entscheiden, es gab aber sowohl von Seiten des Westens wie von Seiten der sudanesischen Regierung unter Omar Al Bashir ein eigenes Interesse an einer Unabhängigkeit des Südsudan. Bashir bekam vom Westen für den Fall einer friedlichen Ablösung des Südsudan in Aussicht gestellt, dass das Land seinen Status als »Schurkenstaat« verlieren würde. Außerdem dürfte angesichts der Einsicht, dass er den Süden wohl nicht halten könne, der arabisch-muslimischen Regierung ein vordergründig monolithischer Staat zur Machtkonsolidierung eher dienlich erschienen sein.

Interessen des Westens

Immer wieder3 wird die Rolle der US-Regierung und bestimmter Think-Tanks als Wegbereiter der Unabhängigkeit betont, die vordergründig den Konflikt im Sudan als einen hauptsächlich religiösen Konflikt zwischen Christen und Muslimen dargestellt hätten.

Der Westen hoffte mit einem unabhängigen Südsudan Zugriff auf das dort geförderte Öl zu erhalten, denn Bashir verkaufte das Öl vorwiegend an malaysische und chinesische Firmen. Südsudan, so die Hoffnung, würde dem Westen zugewandter sein und eine geostrategische Bastion sowohl im »Kampf gegen den Terror« als auch im Wettlauf um die afrikanischen Ressourcen zwischen China und den USA sein. So gab es bereits 2010 Gerüchte, dass die USA die bislang in Stuttgart beheimatete militärische Kommandozentrale AFRICOM ggf. nach Südsudan übersiedeln wollten. Auch Israel unterstützte die Neugründung des Südsudan und flog z.T. heimliche Angriffe auf Strukturen im Sudan, die der Unterstützung der Hamas verdächtigt wurden.4

Entsprechend der Eigeninteressen war und ist die Sudanpolitik westlicher Staaten wenig konsistent. Während Bashir aufgrund des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Genozids in Darfur geächtet ist und nicht als Gesprächspartner in Frage kommt, wird mit ihm als vermeintlichem »Stabilitätsfaktor« im »Kampf gegen den Terror« gleichwohl eng kooperiert oder im Falle von Deutschland wirtschaftlich angebandelt, zuletzt beim »Germany Sudan and South Sudan Business Day« im Januar 2013 im Auswärtigen Amt in Berlin.

Die durch die UN-Missionen auf eine beträchtliche Zahl angewachsene »international crowd« ist, je mehr sie verdient, i.d.R. umso weiter von der sudanesischen bzw. südsudanesischen Realität entfernt und wird somit auch von der jeweiligen Bevölkerung eher als Problem denn als Lösungsfaktor angesehen. Preissteigerungen z.B. im Immobilienbereich, ein Brain-drain hin zu internationalen Akteuren wie den Vereinten Nationen usw. verstärken diese Dynamik noch.

Die Hoffnung auf die uneingeschränkte West-Nähe Südsudans bekam einen Dämpfer, als der frisch gebackene Staat ebenfalls einen Öl-deal mit China abschloss. Weiterhin wird jedoch über den möglichen Bau einer Ölpipeline zur kenianischen Küste spekuliert. Diese »Lamu-Pipeline« würde ggf. mit Beteiligung der deutsch-österreichischen Firma ILF Consulting Engineers Ltd. gebaut und ist, da sie durch ein Naturschutzgebiet führen würde, u.a. wegen ihrer ökologischen Auswirkungen umstritten. Auch weitere Bodenschätze wie Uran und Kupfer könnten u.U. im Südsudan abgebaut werden. Wie ein Großteil Afrikas ist Südsudan ebenfalls massiv von »Landgrabbing« – nicht nur durch westliche Akteure – betroffen, wobei die Instabilität und die ungeklärten Landrechte auf verschiedenen Ebenen den »Grabbern« zugute kommen.

Grenzziehung und Ressourcen: Stolpersteine für den Frieden zwischen den Nachbarn

Ist durch die neue Grenze nun Frieden zwischen Süd und Nord? Bei weitem nicht. Zwischenstaatliche Konflikte entzünden sich genau an den Themen, die im »Umfassenden Friedensabkommen« nicht abschließend geklärt wurden:

  • der Verbleib des Bundesstaats Abyei,
  • die genaue Grenzziehung,
  • die Kosten für den Transport südsudanesischen Erdöls durch die nordsudanesische Pipeline.

Für den Bundesstaat Abyei, ein erdölreicher und fruchtbarer Landstrich zwischen Nord und Süd, war im »Umfassenden Friedensabkommen« ein separates Referendum vorgesehen, in dem dessen Bewohner_innen entscheiden sollten, ob sie zu Sudan oder zu Südsudan gehören wollen. Dieses Referendum fand nie statt, weil sich die beiden Seiten nicht darauf einigen konnten, wer als Bewohner_in Abyeis wahlberechtigt wäre. Sowohl südsudanesisch zugeordnete Dinka als auch nordsudanesisch zugeordnete Messeriya leben dort – über weite Strecken durchaus friedlich –, oftmals nomadisch oder halbnomadisch. Am Zankapfel Abyei entzündete sich folglich auch bereits im Mai 2011, zwei Monate vor der Unabhängigkeit Südsudans, ein weiterer bewaffneter Konflikt zwischen der sudanesischen Armee und der Sudanese People’s Liberation Army (SPLA).5 Die sudanesische Armee marschierte damals für ca. zwölf Monate in Abyei ein und vertrieb zeitweilig zehntausende Menschen.

Die Grenzziehung ist an verschiedenen Stellen darüber hinaus umstritten. An mehreren Hotspots kam es seit der Unabhängigkeit zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, so zum Beispiel in Süddarfur oder um das Ölfeld »Heglig«, das bei den Südsudanes_innen die Bezeichnung »Pan Thau« trägt. Im April 2012 besetzte die SPLA das Ölfeld für zehn Tage. Der Konflikt um Heglig/Pan Thau war einer der bisherigen Höhepunkte der Eskalation zwischen den beiden Staaten.

Zuvor war der Streit um den Transport des von Südsudan geförderten Erdöls durch die Pipelines, die durch den Nordsudan verlaufen, soweit eskaliert, dass Südsudan die Ölförderung fast vollkommen einstellte und damit den nördlichen Nachbarn Sudan wie sich selbst in eine schwere ökonomische Krise stürzte. Mangels Einigung über den Preis, den Südsudan für die Nutzung der Pipelines durch den Sudan zahlen sollte, hatte Sudan kurzerhand Schiffsladungen mit Öl im Wert von bis zu 815 Millionen Dollar im Hafen von Port Sudan konfisziert. Der Konflikt zeigt, wie interdependent die beiden Regierungen nach wie vor sind.

Während der Westen rasch auf eine Lösung pochte, spekulierte Südsudan wohl auf eine raschere Destabilisierung des Regimes in Khartum. Letzteres wiederum geriet durch den Akt Südsudans aufgrund des Verlusts der Öleinnahmen und des Wegfalls von Einkommen durch die Pipeline bei gleichbleibend immensen Militär- und Sicherheitsausgaben tatsächlich in eine Wirtschaftskrise und versuchte, diese für kriegstreiberische Propaganda zu nutzen. Dank der Bewusstseinsbildung und Mobilisierungskampagnen sozialer Bewegungen wie der Jugendbewegung Girifna (»Wir haben es satt«, girifna.com) kam es im Sommer 2012 zu massiven Protesten, den so genannten »Sudan Revolts«, in allen großen Städten Sudans. Diese hatten zwar die wirtschaftliche Krise mit als Auslöser und Thema, legten diese aber nicht dem Südsudan, sondern der eigenen Regierung zur Last –und verhinderten damit vielleicht einen neuen vollen Krieg, wenn sie auch ihr Ziel eines Regimewechsels bislang nicht erreichten.

Die zähen Verhandlungen zwischen den Regierungen beider Staaten in Addis Abeba führten im September 2012 zur Unterzeichnung von Abkommen u.a. zum Thema Sicherheit, die am 12. März 2013 mit der »Addis Implementation Matrix« konkretisiert wurden. Diese regelt u.a. den Abzug beider Armeen aus einer 14 Meilen breiten demilitarisierten Zone an der gemeinsamen Grenze sowie die Wiederaufnahme der Ölförderung und der Ölbeförderung durch die sudanesischen Pipelines.

Am 26. März 2013 bestätigte die U.N. Interim Security Force for Abyei (UNISFA), dass beide Seiten als ersten Schritt ihre Streitkräfte aus Abyei zurückgezogen hätten; der Rückzug entlang der gesamten Grenze soll bis 5.April folgen.

Grenze als Spiegelachse: Verschiebung der Probleme in zwei Entitäten?

Inwieweit diese Abkommen nachhaltig sind, ist fraglich, auch wenn es gute Gründe für beide Seiten gäbe, Stabilität anzustreben. Doch die neue Grenze rückt gleichermaßen innenpolitische Konfliktfelder in den Fokus, die nicht nur die Regierungen der beiden Länder belasten, sondern auch mit dem jeweiligen Nachbarland zumindest potentiell verwoben sind:

So beschuldigen sich die Regierungen beider Länder, im jeweils eigenen Land bewaffnete oppositionelle Gruppen zu unterstützen: Von Südsudan wird die Regierung in Khartum verdächtigt, u.a. abtrünnige SPLM/A-Generäle zu unterstützen, wohingegen der Norden dem Südsudan vorwirft, Rebellen der SPLM/A-Nord zu unterstützen.

Die SPLM/A-Nord ist ein wichtiger Faktor, um die Bedeutung der neuen Grenze zu ermessen: Große Landstriche im heutigen Sudan kämpften während des Krieges auf Seiten der SPLA, insbesondere im heutigen südlichen Sudan, in den Nuba-Bergen Südkordofans und in Blue Nile State. Im Rahmen des »Umfassenden Friedensabkommens« fand in diesen beiden Bundesstaaten daher eine »Volkskonsultation« statt, die als Umfrage aber ohne jegliche Umsetzungsverbindlichkeit verblieb. Als die sudanesische Regierung im Juni 2011 kurz vor der südsudanesischen Unabhängigkeit die Entwaffnung der SPLA im Nordsudan befahl, entschloss sich die Führung der inzwischen unter dem Namen SPLM/A-Nord bekannten Restmenge, wieder zu den Waffen zu greifen.

Bis heute sind Teile von Südkordofan und Blue Nile State unter Kontrolle der SPLM/A-Nord, und die sudanesische Luftwaffe geht u.a. mit Bombern massiv gegen die Rebellen sowie gegen die Zivilgesellschaft in der Region vor. Hunderttausende verstecken sich daher weitab von jeglicher humanitärer Hilfe in Berghöhlen oder sind in den benachbarten Südsudan geflohen. Da die Flüchtlingscamps sich z.T. in unmittelbarer Grenznähe befinden,6 wo die sudanesische Armee Rebellen vermutet, fliegt die Armee auch Angriffe gegen südsudanesisches Territorium. Der frühere Krieg gegen die eigenen Bürger_innen geht nun also im heutigen südlichen Sudan weiter; der Hauptauslöser für die Konflikte, die Marginalisierung weiter Teile der Bevölkerung, bleibt bestehen, und die Art des Konfliktaustrags zieht die Zivilgesellschaft weiterhin massiv in Mitleidenschaft.

Während sich der jahrzehntelange Konflikt zwischen der fundamentalistisch-diktatorischen Militärregierung einerseits und der marginalisierten Peripherie andererseits im aktuellen Konflikt in Südkordofan und Blue Nile State widerspiegelt und fortsetzt, lassen sich im Südsudan Spiegelungen des autoritären Systems im Norden wiederfinden: So hat der junge Staat mit Korruption, Menschenrechtsverletzungen und inter-ethnischen, oft machtpolitisch gefärbten Konflikten zu kämpfen. Sowohl zwischen einzelnen Ethnien, wie den Nuer und Murle, in deren Konflikt es im Januar 2012 zu einem Massaker mit ca. 3.000 Toten kam, als auch zwischen den nilotischen Dinka, Nuer und Shilluk, die im Norden des Südsudan beheimatet sind und viele Machtpositionen innehaben, einerseits und den ethnischen Gruppen im »Greater Equatoria«, dem südlichen Südsudan, andererseits. Menschenrechtsorganisationen beobachten mit Sorge u.a. die Entwicklungen bezüglich Presse- und Meinungsfreiheit und im Rechts- und Vollzugssystem. Wie so oft, ist die Transformation einer autoritär geführten Rebellengruppe hin zu einer demokratischen Regierungspartei ein steiniger Weg. Die Herausforderungen in einem verarmten Nachkriegsland wie Südsudan sind immens, und eine politische Opposition gegen eine als »Befreiungsbewegung« legitimierte Regierung ist nur schwer aufzubauen. Bereits vor dem Unabhängigkeitsreferendum des Südsudan, im Herbst 2010, drückte ein Bewohner des ländlichen Südsudan die Stimmungslage so aus: „Wir hoffen darauf, Menschenrechte, Sicherheit vor Krieg und Hunger und Demokratie verwirklichen zu können. Aber wir haben auch Angst, dass diese Hoffnung enttäuscht wird.“

Die Vergessenen: Pastoralisten, Binnenflüchtlinge und die Zivilgesellschaft des Sudan

Drei Gruppen sind besonders von der Grenzziehung betroffen: Die nomadischen und halbnomadischen Pastoralisten, die oft seit Jahrzehnten im Nordsudan lebenden Binnenflüchtlinge und die um die Chance auf einen »neuen Sudan« gebrachten Bürger_innen des (Nord-) Sudan.

Im pastoral geprägten Afrika sind Grenzen traditionell weniger durch einen Strich auf einer Landkarte oder in der Landschaft geprägt, sondern durch Nutzungsrechte verschiedener sozialer Gruppen im Jahreslauf. Neben den saisonalen Routen der Rinderhirten kann dies so weit gehen, dass die einzelnen ethnischen Gruppen nur unterschiedliche Wildpflanzen ernten und nutzen dürfen. Traditionell wandern »nordsudanesisch« identifizierte Rinderhirten, z.B. Gruppen der arabisch konnotierten Baggara, zu bestimmten Zeiten ihrer jährlichen Wanderrouten in heute »südsudanesische« Gebiete, z.B. der Dinka, und umgekehrt. Sofern die vereinbarten Zollzahlungen geleistet wurden, gab es hier bislang keine außergewöhnlichen Probleme. Zeugen berichten, dass vor der Unabhängigkeit sogar christlich-animistische Dinka-Älteste als Konfliktvermittler in darfurische Binnenflüchtlingscamps geholt wurden. Wird die Grenze zwischen Sudan und Südsudan undurchlässig, untergräbt das den Lebensunterhalt dieser Hirtengruppen. Dieses Problem wird noch durch die fortschreitende Desertifikation in der Sahel-Zone und den dadurch wachsenden Bevölkerungsdruck verstärkt.

Eine weitere Gruppe, deren Belange im »Umfassenden Friedensabkommen« nicht ausreichend geklärt wurde, ist die der Personen im jeweils »anderen« Teil des Landes. Die größte Gruppe von ihnen, die ehemaligen südsudanesischen Binnenflüchtlinge im Nordsudan, waren teilweise schon vor Jahrzehnten vor dem anhaltenden Bürgerkrieg in den Norden geflohen und hatten sich dort meist in den Außengebieten der Städte bzw. ausgeschriebenen Binnenflüchtlingscamps angesiedelt. Ihre Kinder sprechen nordsudanesisches Arabisch und kaum Englisch. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum verschärfte sich die Rhetorik rapide, und Anfeindungen im öffentlichen Leben nahmen zu. Das Recht auf einen sudanesischen Pass war für Angehörige südsudanesischer Ethnien nicht vorgesehen, und von hochrangigen Politikern wurde gedroht, dass sie keine öffentlichen Einrichtungen wie Krankenhäuser etc. mehr nützen dürften, sondern in »ihr eigenes Land« gehen sollen – selbst wenn sie im Nordsudan geboren wurden; maßgeblich gilt hier die ethnische Zugehörigkeit. Hunderttausende kehrten daraufhin in eine ungewisse Zukunft im Südsudan »zurück«, wo sie oft ebenfalls Diskriminierung erfahren. Sie werden teils als Verräter angesehen, da sie im Norden gelebt haben, und haben große Schwierigkeiten, im verarmten Südsudan Land oder Arbeit zu finden.

Als »Bauernopfer« der Unabhängigkeit des Südsudan kann auch die nordsudanesische Zivilgesellschaft bezeichnet werden. Bereits bei den Wahlen im April 2010 wurde deutlich, dass die internationale Gemeinschaft bereit ist, über die Unregelmäßigkeiten durch das Bashir-Regime hinwegzusehen und Bashir im Amt zu bestätigen, um den Unabhängigkeitsprozess des Südsudan nicht zu gefährden. Besonders für die gerade erwachende Demokratiebewegung, die begonnen hatte, die Angststarre der Gesellschaft zu brechen, war dies ein herber Schlag. Durch die Unabhängigkeit des Südens fühlte man sich mit einem diktatorischen Regime, welches auch unmittelbar wieder an Schärfe zulegte, »allein gelassen«.

2013 wurde beispielsweise die Hand- und Fußamputation als Strafe für Diebe zum ersten Mal seit 2001 wieder durchgeführt. Im Juni und Juli 2012 verhafteten die berüchtigten NISS (National Intelligence and Security Services) bis zu 2.000 Menschen im Zusammenhang mit den erwähnten »Sudan Revolts« und hielt sie meist ohne Anklage unter extremen Bedingungen wochenlang gefangen, bis die Proteste zunächst abebbten. Die Repression zivilgesellschaftlicher Aktivist_innen, insbesondere von Nicht-Arabern mit Herkunft aus den Konfliktgebieten, ist weiterhin massiv. Die internationale Gemeinschaft nimmt diese zivilen, unbewaffneten Proteste – trotz der anzunehmenden Wachsamkeit durch den »Arabischen Frühling« und der Exponiertheit Bashirs durch den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof – bis heute kaum zur Kenntnis. Aktuelle Medienberichte, Bashir würde alle politischen Häftlinge freilassen, dürfen als vordergründiges Kalkül gewertet werden; bislang (4.4.2013) jedenfalls sind nur wenige Freilassungen zu verzeichnen.

Die internationale Ignoranz mag gepaart mit der Verzweiflung auch ausschlaggebend gewesen sein, dass Vertreter_innen von sozialen Bewegungen sich in Kampala, Uganda, mit bewaffneten Akteuren wie der SPLM/A-Nord und darfurischen, teils fundamentalistischen Rebellengruppen und Oppositionsparteien zusammen auf eine »New Dawn Charta« (Charta der neuen Morgendämmerung) geeinigt haben. Die Charta fordert den Sturz des Regimes von Bashirs Nationaler Kongresspartei7 – jeweils mit den Durchsetzungsmitteln der einzelnen Gruppen, also entweder durch den gewaltfreien oder eben den bewaffneten Kampf.

Eine tief greifende Versöhnung wird unter dem Regime der Bashir-Partei weder mit dem Südsudan noch mit der eigenen Bevölkerung zu machen sein. Es ist zu hoffen, dass ein Wandel auch ohne eine langfristige, gewaltsame Auseinandersetzung wie in Syrien möglich sein wird, hat doch die sudanesische Bevölkerung bereits zwei Mal, 1964 und 1985, Militärdiktaturen gewaltfrei gestürzt. Eine massive Militärintervention wie in Libyen ist aufgrund des geringen internationalen Interesses unwahrscheinlich, aber auch nicht wünschenswert. Die nächsten Anwärter auf Unabhängigkeit und eine neue Grenze warten ansonsten schon in Darfur.

Konfliktlöser oder Konfliktursache?

Der »Nationalstaat« ist ein Konstrukt, das in Afrika meist koloniales Relikt ist und insbesondere in multiethnischen Staaten mit teilweise nomadischer Lebensweise nur bedingt funktioniert, wenn nicht gar eine eigenständige Konfliktursache ist. Weder die lokalen und regionalen politischen Eliten noch die involvierten internationalen Akteure suchen aktuell jedoch aktiv nach dem Kontext angemesseneren systemischen Lösungen. Wenn Grenzen zum Schutz von Menschengruppen notwendig erscheinen, so wären m.E. konsequente rechtliche Grenzen in Form von Menschenrechten den physischen Grenzen vorzuziehen. Die neue Grenze zwischen Sudan und Südsudan ist durch die Entscheidung der Südsudanes_innen jedoch ein historischer Fakt, auf dessen Grundlage nun ein gerechter Friede innerhalb und zwischen den beiden Ländern gefunden werden muss. Nach einem möglichen politischen Wandel in der Republik Sudan könnte eine neue Situation geschaffen sein, die eine intensive und nachhaltige Versöhnungsarbeit und Aufarbeitung der Vergangenheit zwischen beiden Ländern ermöglicht.

Geschichte des Sudan und Südsudan

Seit ca. 8000 v.Chr. Nomadische und halb-nomadische Lebensformen, Siedlungen am Nil
800 v.Chr. –
400 n.Chr.
Nubisches Königreich Kusch, Nordsudan/Ägypten. Beginn des Sklavenhandels von Süd nach Nord, lebendig für Jahrtausende.
11.-18. Jhd. Nach einer kurzen Ära der Christianisierung langsame Verbreitung des und Koexistenz mit dem Islam im Nordsudan.
1821-1885 Türkisch-ägyptische Besatzung, hauptsächlich im Norden. Beginn der britischen Mission im Süden.
1899-1955 Anglo-ägyptische Kolonialherrschaft. Südsudan wird vernachlässigt und christlich missioniert.
1955 Beginn des ersten Bürgerkriegs »Anya Nya 1 + 2« im Südsudan gegen Khartum.
1.1.1956 Unabhängigkeit von der Kolonialmacht. Präsidentschaft von Al Azhari.
1958 Putsch von General Abboud.
1964 Gewaltfreie »Oktoberrevolution« führt zu demokratischen, aber instabilen Regierungen.
25.5. 1969 Putsch von Oberst Nimeiri. Zunächst sozialistische, später islamistische Ausrichtung und Allianz mit verschiedenen Seiten des »Kalten Krieges«.
1972 Addis-Ababa-Abkommen beendet den Bürgerkrieg zwischen Nord und Süd für zehn Jahre.
1978 Öl wird entdeckt in Bentiu, heutiger Südsudan. Größere Exporte seit 1999.
1983 Bürgerkrieg zwischen SPLA (Sudanese People’s Liberation Army) und Regierung in Khartum entzündet sich an Nimeiris Islamisierungspolitik. Im Krieg und damit verbundenen Hungersnöten sterben ca. zwei Millionen Menschen.
März-Mai 1985 Absetzung Nimeiris durch gewaltfreien Volksaufstand; freie Wahl von Saddig El Mahdi.
30.6.1989 Putsch von Oberst Al Bashir, der mit der NCP (National Congress Party) eine militärisch-religiöse Diktatur führt.
2003 Beginn des Darfur-Konfliktes um Machtbeteiligung/Autonomie, zwischen SLA (Sudanese Liberation Army) und JEM (Justice and Equality Movement) u.a. gegen die sudanesische Armee und Janjaweed-Milizen.
9.1.2005 Abschluss des »Umfassenden Friedensabkommens« zwischen der SPLM/A und der NCP-Regierung.
2005 Unruhen nach Tod von Vizepräsident John Garang (SPLM/A) bei Hubschrauberabsturz. Beginn der UN-Mission im Sudan (UNMIS) und 2007 von UNAMID (Mission der UN und der Afrikanischen Union in Darfur).
4.3.2009 Internationaler Strafgerichtshof erlässt Haftbefehl gegen Präsident Al Bashir u.a. wegen Kriegsverbrechen in Darfur.
April 2010 Allgemeine Wahlen: Nach Rückzug der meisten Oppositionskandidaten und Berichten von Unregelmäßigkeiten gewinnt Al Bashir mit über 68% der Stimmen. Im Süden erlangt die SPLM 93%.
9.1.2011 Die Südsudanes_innen wählen in dem im »Umfassenden Friedensabkommen« festgelegten Referendum zu über 98% die Unabhängigkeit.
30.1.2011 Parallel zum Beginn der ägyptischen Revolution organisieren sudanesische Jugendbewegungen eine erste Demonstration für einen Regimewechsel, für Menschenrechte und gegen Preissteigerungen.
Mai/Juni 2011 Gewaltsamer Konflikt bricht aus im ölreichen Abyei wegen ungeklärter Zugehörigkeit zu Nord oder Süd. Im Juni nimmt die SPLM/A-Nord den gewaltsamen Kampf in den Nuba-Bergen auf gegen die Abrüstung ihrer Kämpfer und weitere Marginalisierung. Hunderttausende fliehen in den kommenden Monaten vor der Bombardierung durch die Armee.
9.7.2011 Unabhängigkeit Südsudans. Viele Südsudanes_innen verlassen Nordsudan, auch im Kontext von verstärkter Diskriminierung.
Sept. 2011 SPLM/A-Nord und Regierungstruppen beginnen Kämpfe in Blue Nile State. Allmählich wird die ganze Grenzregion zum Südsudan Konfliktgebiet. Im November gründet SPLM/A-Nord mit JEM, SLA und anderen bewaffneten Gruppen die »Sudanesische Revolutionäre Front«. Im Dezember wird JEM-Führer Khalil mit internationaler Hilfe ermordet.
ab Dez. 2011 Eskalation des Öl- und Grenzkonflikts zwischen Nord- und Südsudan: Norden konfisziert Öl als Bezahlung für die Pipeline-Nutzung zum Roten Meer. Süden stellt Ölförderung ein. Kriegsdrohungen, Mobilisierung, Besetzung von Land und Ölfeldern von beiden Seiten folgen. Entgegen der Warnung vor einem Krieg durch 700 Offiziere seiner Armee und internationalen Warnungen an beide Seiten spricht Al Bashir am 20.4.2012 bei einer Rede von Krieg gegen den Südsudan.
Juni-August 2012 »Sudan Revolts«: Nachdem Student_innen der Khartum-Universität gegen Preissteigerungen in der Mensa protestieren, folgen in allen größeren Städten des Landes Demonstrationen, die durch massive Polizeigewalt, Massenverhaftungen und zuletzt in Darfur auch scharfe Munition eingedämmt werden. Teile der Bewegung müssen unter massivem Sicherheitsdruck das Land verlassen, dennoch gibt es weiterhin immer wieder Proteste und Aktionen.
September 2012 Sudan und Südsudan unterzeichnen in Addis Abeba Abkommen zu Sicherheit, Grenzfragen, Ölexport u.a., die am 12.3.2013 in der »Addis Implementation Matrix« konkretisiert werden.
26.3.2013 Die Vereinten Nationen bestätigen den Abzug der Truppen beider Staaten aus Abyei. Die Zugehörigkeit von Abyei bleibt ungeklärt.

Anmerkungen

1) Comprehensive Peace Agreement, CPA.

2) Sudanese People’s Liberation Movement/Army.

3) Siehe z.B. Rebecca Hamilton: Special Report: The wonks who sold Washington on South Sudan. Reuters, 11. Juli 2012.

4) Siehe z.B. Ian Black: »Israeli attack« on Sudanese arms factory offers glimpse of secret war. The Guardian, 25. Oktober 2012.

5) SPLA (Sudanese People’s Liberation Army) ist der militärische Flügel des Sudanese People’s Liberation Movement und heute die offizielle Armee des Südsudan. SPLM (Sudanese People’s Liberation Movement), der politische Flügel bzw. die Partei der Befreiungsbewegung, ist heute Regierungspartei des Südsudans. SPLM/A bezeichnet die beiden als Einheit (i.d.R vor dem Friedensabkommen). Die SPLM/A-Nord umfasst die Reste der SPLM bzw. der SPLA im Nordsudan, die auch nach der Teilung des Landes teilweise militärisch gegen die Regierung in Khartum weiterkämpft.

6) Siehe Girifna: A Photo Essay–Yida Camp: to be or not to be. 1. März 2013; girifna.com/8039.

7) National Congress Party, NCP.

Julia Kramer, Conflict Resolution M.A. der Universität Bradford, arbeitete von 2008 bis 2010 mit dem Zivilen Friedensdienst (ZFD) im Sudan. Sie ist Ko-Autorin der Bildungsbroschüre »Gesichter der Gewaltfreiheit im Sudan« (2012), erschienen bei »act for transformation gG«, und arbeitet aktuell als Projektberaterin der ZFD-Projekte von »KURVE Wustrow, Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion«.

Zerstörtes Jugoslawien

Zerstörtes Jugoslawien

Kriegsfolgen auf dem Balkan

von Hannes Hofbauer

Engagement und persönliche Tragödie des Autors und Unternehmers Kurt Köpruner im bosnischen Travnik mögen paradigmatisch für die Langzeitfolgen der südslawischen Kriege stehen. Auch fast 15 Jahre nach dem Schweigen der Waffen sind sie allgegenwärtig, wie im folgenden Artikel beschrieben wird.

Der kürzlich verstorbene Kurt Köpruner kannte die jugoslawischen Republiken aus seiner jahrzehntelangen beruflichen Tätigkeit als Vertreter deutscher Metallfirmen. Seine persönlichen Erfahrungen mit dem Bürgerkrieg in Kroatien schrieb er in einem viel beachteten Roman nieder.1 Im Jahr 2004 entschloss er sich gemeinsam mit seiner Frau, eine zerstörte Metallfabrik im bosnisch-muslimischen Travnik zu übernehmen und wieder aufzubauen. Bereits kurz nach der Übersiedlung holte ihn der beendet geglaubte Krieg ein. Zwei Minensucher der Stadt Travnik kamen bei der Entschärfung einer Landmine, die direkt auf dem Gelände des LKW-Parkplatzes vor den Fabrikhallen deponiert gewesen war, ums Leben. Ein Gedenkstein erinnert an die Toten, die wie viele andere erst Jahre nach den Friedensschlüssen dem Krieg zum Opfer fallen.

Die Zerstörungen und Kriegsfolgen sind zahlreich. Sie reichen von direkten Schäden an Menschen, Siedlungen und Landschaft über psychologische und gesellschaftliche Deformationen bis zu strukturellen demographischen Veränderungen und Auswirkungen auf Völker- und Menschenrecht im Weltmaßstab. Im Folgenden soll eine Durchsicht versucht werden. Weitgehend unbehandelt bleiben dabei die andernorts2 ausführlich beschriebene territoriale Zersplitterung und sozioökonomische Verwerfung, die von den unterschiedlichen Kriegsgängen zwischen 1991 und 1999 verursacht wurden.

Uranmunition, Minen und posttraumatische Störungen

Die wohl schlimmste direkte Langzeitfolge kam zigtausendfach vom Himmel: Großteils US-amerikanische Bomber verstreuten weit über zehn Tonnen kleinkalibrige Uranmunition.3 Betroffen davon sind Bosnien, Kosovo, Serbien, Kroatien und – zu einem geringen Teil – Montenegro. Eine UN-Studie aus dem Jahr 20034 spricht allein für den Krieg der NATO gegen Jugoslawien von März bis Juni 1999 von 30.000 entsprechenden Geschossen auf Kosovo, während die jugoslawische Seite 50.000 ausgemacht haben will.5

Exkurs: DU-Munition

In dieser so genannten DU-Munition findet abgereichertes Uran (depleted uranium) Verwendung. Dieses ist ein Abfallprodukt der Atomindustrie und enthält das nicht spaltbare Uranisotop 238. Militärisch in großem Umfang verschossen wird DU-Munition seit dem Golfkrieg 1991, hauptsächlich durch US-Streitkräfte. Sie ist billig und hat wegen ihrer hohen physikalischen Dichte eine enorme Durchschlagskraft bei Metall, dient also als panzerbrechende Waffe.6 Beim Durchbohren des Ziels wird heißer Uranstaub frei, der sich selbst entzündet und damit von innen her das entsprechende Fahrzeug, Gerät oder Gebäude zur Explosion bringt. Auf Flugzeugen oder Hubschraubern montierte Bordwaffen können pro Minute zwischen 600 und 4.000 Schuss mit dieser Munition abfeuern.7 Die Perfidie der Waffe ist – von Laie zu Laie – schnell erklärt: Anstatt die relativ schwach radioaktiven Substanzen, die tonnenweise bei der Produktion von Atombrennstoff oder Atomwaffen anfallen, zu entsorgen, ummanteln US-Militärs das abgereicherte Uran mit Patronenhülsen und verschießen es in fernen Ländern.

In Ex-Jugoslawien kam abgereicherte Uranmunition erstmals im Sommer 1995 über serbischen Siedlungsgebieten in Bosnien zum Einsatz.8 In der Folge wurden weite Teile Bosnien-Herzegowinas, mehr oder minder der gesamte Kosovo, viele Regionen Serbiens und auch kroatische Landstriche mit radioaktiv strahlender Munition überzogen.

Die Aufdeckung des Einsatzes dieser schmutzigen Waffe ist übrigens dem deutschen Arzt Siegwart-Horst Günther zu verdanken.9 Günther lehrte in den Jahren 1990/91 an der Universität Bagdad, als er erstmals im Oktober 1991 mit Geschosshülsen von DU-Munition in Berührung kam. Nachdem er Proben in drei Berliner Labors untersuchen ließ, die eindeutig Radioaktivität nachweisen konnten, kam er in die Mühlen der deutschen Justiz und Psychiatrie. Sein Lebensweg hätte fast wie jener der Physiker in Dürrenmatts gleichnamigem Theaterstück geendet. Im Juli 1992 wurde Günther wegen illegalen Imports von radioaktivem Abfall angeklagt, im Januar 1999 drohte ihm wegen des Verdachts einer angeblich »paranoiden Entwicklung« die Einweisung in eine geschlossene Anstalt.10 Nur eine zwischenzeitlich breite Solidarität aus den Reihen der Friedensbewegung und letztlich das – viel später erfolgte – Eingeständnis der NATO, DU-Munition verwendet zu haben, bewahrten Günther davor, behördlicherseits zum Schweigen gebracht zu werden.

Abgereichertes Uran bringt multiple gesundheitliche Schäden mit sich. Diese reichen von schweren Funktionsstörungen insbesondere der Niere über Auslöser von Blut-, Haut- und Lungenkrebs bis zur Schädigung des Erbgutes. Aufgenommen werden in der Regel radioaktive Nanopartikel, die nach dem Einschlag der Munition frei werden und sich über Atemwege oder den Blutkreislauf, freilich auch über das Grundwasser, im menschlichen Körper verbreiten.11 Schätzungen über die Anzahl der infolge von abgereichertem Uran zu Tode gekommenen Menschen gehen weit auseinander. Nachdem die USA erst im März 2000, also fünf Jahre nach dem ersten Einsatz, überhaupt eingestanden, DU-Munition im Balkankrieg verschossen zu haben, betonten US-Vertreter gleichzeitig, dass davon keine Gefahr ausgehe. Diesem Befund schlossen sich im Wesentlichen die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) an. Letzteres meinte in einer Stellungnahme im März 2003, dass zweifelsfrei festgestellte erhöhte Krebsraten in Bosnien-Herzegowina „nur sehr unwahrscheinlich mit dem Gebrauch der DU-Munition […] in Zusammenhang gebracht werden können“.12 Die deutsche Bundesregierung antwortete im Jahr 2008 auf eine parlamentarische Anfrage der »Linken« über den Einsatz von DU-Munition in Afghanistan lapidar, ihr würden „keine eigenen Erkenntnisse zu möglichen Einsatzorten und -zeiten […] vorliegen“.13 Schweigen im Wald also, wenn es um die Folgen radioaktiver Verstrahlung von Kriegsgegnern geht.

Gesundheitsdesaster durch DU-Munition

Von serbischer Seite wurde die Aufarbeitung der Folgen von abgereichertem Uran nach dem Regimewechsel im Oktober 2000 systematisch boykottiert. Schon allein die Tatsache, dass die dafür zuständigen Stellen im Umweltministerium geschlossen wurden,14 zeigt, dass sich Belgrad nach Slobodan Milosevic mit der unangenehmen Vergangenheit nicht mehr beschäftigen wollte, um die von den neuen Eliten angestrebte Westintegration nicht zu gefährden.

Einer der wenigen Anhaltspunkte, wieviele Todesopfer DU-Munition fordert, findet sich in einem internen Bericht der britischen Atomenergiebehörde aus dem Jahr 1999. Dort wird – den Einsatz der radioaktiven Waffe im Irak betreffend – von zusätzlich 500.000 Krebstoten ausgegangen.15 Bezogen auf die Quantität der abgeschossenen Munition für das Gebiet Ex-Jugoslawiens würde das ein Mehr an 125.000 Krebstoten bedeuten.

Der jugoslawienweit mutmaßlich am stärksten von abgereicherter Uranmunition betroffene Ort ist die kleine, von Serben bewohnte Stadt Hadzici am Rande von Sarajewo. Nach den Angriffen 1995 stellten serbische Behörden eine Erhöhung von Radioaktivität um das 3.000-fache fest und evakuierten die gesamte Bevölkerung von 3.500 Personen ins Gebirgsstädtchen Bratunac.16 Zu spät, denn in den kommenden Jahren starb nach Recherchen des Filmemachers Frieder Wagner vom WDR ein knappes Drittel davon an Krebserkrankungen.17

Landminen – die gefährliche Erbschaft

Minentote können – anders als radioaktiv Verstrahlte – statistisch nicht versteckt werden. Zwischen 1996 und 2010 wurden allein in Bosnien-Herzegowina durch explodierende Landminen 498 Menschen getötet und 1.209 verstümmelt.18 Wer durch das Land fährt, bemerkt auch heute noch die zahlreichen gelb-roten Warnbänder an den Straßenrändern, auf denen Totenköpfe davor warnen, die Asphaltflächen nicht zu verlassen.

Bosnien ist das am stärksten verminte Land. Geschätzte 200.000 Minen blieben bis heute unentdeckt. Das in Sarajewo beheimatete »Mine Action Center« geht davon aus, dass insgesamt 1.270 Quadratkilometer bzw. 2,5% der Fläche des Landes vermint sind. Ausgelegt wurden die Landminen von allen Bürgerkriegsparteien. Sie finden sich vornehmlich in Bosnien und Kroatien. Die serbischen Kämpfer in der kroatischen Krajina waren besonders eifrig bei der Verminung von Landstrichen, was auch mit der geographischen und topographischen Lage der zu verteidigenden Gebiete zu tun gehabt haben dürfte. Denn das Siedlungsgebiet der kroatischen Serben, mittlerweile von dort vollständig vertrieben, war seit dem 16. Jahrhundert von den Habsburgern als »Militärgrenze« wie ein Band rund um osmanisches Gebiet gelegt worden und an manchen Stellen nur 40 Kilometer breit.19 Sowohl Kroatien als auch Bosnien-Herzegowina gehen davon aus, dass es mindestens bis ins Jahr 2019 dauern wird, die Entminung abzuschließen.

Posttraumatische Störungen

Auf ähnliche Schwierigkeiten wie bei der Quantifizierung der Strahlenopfer stößt man bei den posttraumatischen Störungen, die in weiten Teilen des Kriegsgebietes sowohl am Ort verbliebene als auch aus ihrer Heimat geflohene Menschen belasten. Eine von serbischen und amerikanischen Wissenschaftlern gemeinsam durchgeführte regionale Studie mag die Dimension andeuten, die monatelange Bombardements und gegenseitige Vertreibungen an psychischen Störungen verursacht haben: Während zweier Monate im Juli und August 2002 wurden Patienten in serbischen und kosovarischen Notfallstationen untersucht, die keine akut lebensbedrohliche Krankheit aufwiesen. Fazit: Bei der Hälfte von ihnen stellten die Ärzte posttraumatische Symptome wie z.B. Depressionen fest.20

Identität: Veteran

Eine weit verbreitete Art kompensatorischer Überhöhung erlebter Schrecklichkeiten findet mit der Definition von Kriegern – nach dem Kriegsgang – als »Veteranen« statt, also als Männer, die dem griechischen Wortstamm gemäß »aus dem Kampf« kommen. Die Gesellschaft perpetuiert damit ihre kriegerische Identität und stellt sie als wesentlich dar. Sämtliche Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien sind mit diesem Phänomen konfrontiert. Die Implikationen reichen von der Sozialpolitik bis zur Denkmalkultur: Veteran zu sein bedeutet, Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung zu haben.

Landauf, landab wurden steinerne Monumente errichtet, um der Krieger zu gedenken. Diese haben sowohl abstrakten wie auch konkreten Inhalt, heroisieren die (Un-) Taten der eigenen Gemeinschaft und erinnern an bestimmte Gefallene. Diese post-kriegerische Denkmalkultur ist weit verbreitet, besonders auffällig und zahlreich ist sie allerdings in Kroatien und im Kosovo vertreten. So etwa auf dem Zagreber Friedhof Mirogoj, der um mehrere Hektar erweitert wurde, um »für die Heimat« gestorbene Kämpfer Seite an Seite zu betten. Alle Gräber werden regelmäßig mit großen Kerzen des Verteidigungsministeriums bestückt, auf denen unübersehbar das symbolische Zeichen für den – angeblichen – Sinn des Todes prangt: die kroatische Schachbrettfahne. Auch antifaschistische Denkmäler aus der Zeit des Widerstandes gegen die Diktatur der Ustascha fanden im »Heimatkrieg« der frühen 1990er Jahre weitere Verwendung. Der Betrachter steht z.B. staunend vor einer Marmorplatte am Eingang der Schiffswerft von Rijeka, auf der die Namen der von den Ustaschi getöteten Arbeiter durch die Namen derjenigen ergänzt wurden, die „für die kroatische Unabhängigkeit im Kampf gestorben“ sind.

Kein Dorf und kaum eine Überland-Straßenkreuzung existiert im Kosovo, wo nicht der schwarze Adler auf rotem Grund eine Fahne ziert, die an Heldentode gegen Serbien erinnert. Als Ende 2012 ein großes albanisch-kosovarisches Kriegerdenkmal im nicht zum Kosovo gehörenden Presevo-Tal errichtet wurde, also auf kernserbischem, wiewohl mehrheitlich von Albanern besiedeltem Gebiet, drohte man in Belgrad mit dem Einsatz einer Sondereinheit. Ende Januar 2013, nach Gesprächen zwischen Belgrad und Prishtine, wurde die »Gedenkstele der albanischen Märtyrer« wieder abgetragen.

Auf andere Art erinnern Ruinen mitten in Belgrad an den Krieg der 1990er Jahre: Zwei völlig zerstörte Gebäude des serbischen Verteidigungsministeriums wurden 1999 von Cruise Missiles der NATO getroffen. Bis heute werden sie als Mahnmal gegen die Zerstörung so belassen.

Kriegsveteranen bestimmen nicht nur nationale Symbolik und zeithistorisches Gedenken, sondern sie mischen auch kräftig in der Politik mit. Pensionisten-Parteien werden vielfach von Veteranen betrieben. Entschädigungszahlungen und Kriegspensionen stehen im Mittelpunkt ihres politischen Interesses. Damit stoßen sie auch bei IWF und Weltbank auf Kritik, fordern doch die Weltfinanzorganisationen die Regierungen zum harten Sparen auf. Ausgaben für Veteranen stören dabei die Austeritätsmaßnahmen.

Strukturelle Schäden und soziale Verwerfungen

Die Balkankriege der 1990er Jahre haben freilich auch tiefe strukturelle Folgen gezeitigt. Eine wesentliche ist die Änderung der demographischen Verhältnisse sowohl in jenen Regionen, in denen gekämpft wurde, als auch in den benachbarten Ländern.

Die größten »ethnischen Säuberungen« betreffen die kroatische und die bosnische Krajina, die Republika Srpska und Kosovo. Serben (in der Krajina und im Kosovo) sowie Moslems (in der Republika Srpska) sind am meisten von Vertreibungen durch die jeweilige Gegenseite betroffen. Über die ethnische Komponente hinaus gab es auch Einschnitte von siedlungshistorischer Bedeutung. So sind weite Teile der früher von serbischen Bauern bewohnten Krajina heute menschenleer. Die Missgunst des – kroatischen – Kriegsgegners, ergänzt durch die Kargheit des Bodens, hat weite Landesteile veröden lassen und eine Wiederbesiedlung verhindert.

Vor allem der Krieg in Bosnien-Herzegowina führte letztlich auch zu einer Zwangsmobilisierung Hunderttausender Menschen, die das Land verließen und sich in Westeuropa, Nordamerika oder Australien ein neues Leben aufbauen müssen. Dies betrifft, anders als bei der Gastarbeitergenerationen seit Ende der 1960er Jahre, auch gesellschaftliche Eliten wie die technische Intelligenz, die der zerstörten Heimat beim Wiederaufbau besonders fehlen.

Wer nicht durch ethnische Vertreibung oder unmittelbare existenzielle Bedrohung zwangsmobilisiert wurde, der muss mit den Folgen des Krieges zu Hause leben. Soziale Differenz und regionale Disparität bestimmen den Alltag in vielfacher Weise. Ironischerweise waren es diese beiden Faktoren – die Verarmung weiter Teile der Bevölkerung und das zunehmende Auseinanderklaffen reicher und armen Republiken –, die in den 1980er Jahren zu gesellschaftlicher Unzufriedenheit und zunächst zu sozialen, dann zunehmend zu national gefärbten Protesten geführt hatten. Diese inneren Krisenerscheinungen wurden in der Folge von außen, vermittelt über die Schuldenpolitik des Internationalen Währungsfonds und später die geopolitischen Ambitionen des vergrößerten Deutschlands, dynamisiert. Mehr als 20 Jahre nach dem kriegerischen Auseinanderbrechen der multi-ethnischen südslawischen Föderation haben die regionalen Unterschiede sich in nationalen Grenzziehungen manifestiert und die sozialen Verwerfungen verstärkt. Die sozioökonomische Desintegration äußert sich symbolhaft im Umstand, dass in dem einstmals einheitlichen Wirtschaftsraum heute sechs Staaten (plus Kosovo) mit fünf verschiedenen Währungen existieren: In Slowenien, Montenegro und Kosovo gilt der Euro als Zahlungsmittel, in Bosnien-Herzegowina die Konvertible Mark, in Kroatien die Kuna, in Serbien der Dinar und in Makedonien der makedonische Denar.

Die Kleinstaaterei führte nicht zu einem regionalen Ausgleich. Vielmehr spiegelt sich im aktuellen Pro-Kopf-Einkommen die ungleiche Verteilung der späten 1980er Jahre wider, die mit zur Implosion der Föderation beigetragen hatte. Slowenien steht – wie vor 30 Jahren – mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von (nicht kaufkraftbereinigten) 17.000 Euro pro Jahr am besten da, Kosovo bildet wie gehabt mit 3.500 Euro das Schlusslicht.21 Die Differenz von 6:1 hat nicht nur regionale, sondern auch soziale Sprengkraft.

Mit Ausnahme Sloweniens haben die südslawischen Kriege zu einem ökonomischen Desaster geführt, das bis heute bei weitem nicht behoben ist. Anders als in ehemaligen Ländern des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe haben sich in den ex-jugoslawischen Republiken auch keine ausländischen Investoren im großen Stil eingefunden, die in die industrielle Produktion investiert hätten. Ausnahmen wie U.S. Steel im serbischen Smederevo haben ihre Fabrikstore oft nach kurzen Gastspielen wieder geschlossen.

Die Deindustrialisierung ließ alte Standorte in Serbien und Bosnien verwaisen. In Kroatien wiederum wird gerade die letzte industrielle Bastion des Landes ausgelöscht. Seitdem die Europäische Union anlässlich der Aufnahmegespräche mit Zagreb befunden hat, dass die kroatischen Werften auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig seien,22 ist ihre Schließung voll im Gange. Von den ursprünglich sechs Werften soll nur die ehemalige habsburgische Kriegsmarinewerft in Pula, »Uljanik«, bestehen bleiben.

Die Arbeitsplatzverluste schlagen sich auch statistisch nieder. Der Rückgang der Beschäftigten ist seit Kriegsausbruch dramatisch. Oftmals wurden bei Kampfhandlungen zerstörte Kombinate nicht wieder aufgebaut, wie z.B. im ehemals mustergültigen Single-Factory-Ort Borovo nahe Vukovar, der heute einer Ruinenlandschaft gleicht. Allein in Serbien haben seit 1990 17% der Beschäftigten ihre Arbeit verloren.23 Entsprechend katastrophal lesen sich auch die offiziellen Arbeitslosenstatistiken. Kosovo lag 2012 mit 44% Arbeitslosen an der Spitze, gefolgt von Makedonien mit 31%, Bosnien-Herzegowina mit 28%, Serbien mit 24% und Montenegro mit 20%. Auch Kroatiens 16,5%ige Arbeitslosenrate deutet nicht auf stabile soziale Verhältnisse hin, und die 9% in Slowenien müssen vor dem Hintergrund einer schweren Rezession interpretiert werden, die dem kleinen Adria-Anrainerstaat für 2013 ein negatives Bruttoinlandsprodukt von 1,5% voraussagt.24

Das Ende der europäischen Nachkriegsordnung

Mit den Bürgerkriegen in Ex-Jugoslawien und insbesondere mit dem völkerrechtswidrigen Eingriff der NATO im März 1999 ging auch die Epoche der europäische Ordnung nach 1945 zu Ende, die freilich schon mit dem Zusammenbruch des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe und des Warschauer Pakts einen wesentlichen Eckpfeiler verloren hatte. Die Auswirkungen der schleichenden Transformation vom – kodifizierten – Völkerrecht zum – schwammigen – Menschenrecht als zivilisatorische Grundlage sind unabsehbar. Dazu gehört, dass Krieg als Mittel der Politik wieder neue Legitimität erhalten hat. »Bomben für Menschenrechte« ist zur zynischen Losung des beginnenden 21. Jahrhunderts geworden, wobei dieser vorgeblich liberal-menschenrechtliche Bellizismus philosophisch von Denkern wie Jürgen Habermas und Bernard-Henry Levy25 begleitet wird. Die Intervention von außen in die jugoslawischen Bürgerkriege kann als Auftakt für diese Entwicklung gesehen werden.

Anmerkungen

1) Kurt Köpruner (2010):, Reisen ins Land der Kriege. Erlebnisse eines Fremden in Jugoslawien. Wien.

2) Vgl. Hannes Hofbauer (2013/2001): Balkankrieg – 10 Jahre Zerstörung Jugoslawiens. 4. Auflage, Wien.

3) Roug Rokke (2000): Einsatz von abgereichertem Uran: ein Verbrechen gegen die Menschheit; ag-friedensforschung.de.

4) UN Environment Programme (2003): Depleted Uranium in Bosnia and Herzegovina. Nairobi.

5) Bericht der Bundesrepublik Jugoslawien auf pregled-rs.rs/article.php?pid=176&id=17200; zitiert auf politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=853.

6) Wikipediaeintrag »Uranmunition«.

7) Ebenda.

8) »Oslobodjenje« vom 14. März 1996; vgl. auch: »Telegraf« vom 3. April 1996.

9) Siegwart-Horst Günther (1996): Uran-Geschosse: Schwergeschädigte Soldaten, mißgebildete Neugeborene, sterbende Kinder. Freiburg.

10) Interview mit Siegwart-Horst Günther, geführt von Brigitte Queck (Mütter gegen den Krieg) am 17. Februar 2012; tlaxcala-int.org.

11) Vgl. Frieder Wagner: Uranwaffen: Das größte Kriegsverbrechen unserer Zeit; hintergrund.de, 17.10.2008.

12) International Atomic Energy Agency: Depleted Uranium in Bosnia-Herzegovina. IAEA Staff Report, 27.3.2003.

13) Bundestagsdrucksache 16/8992 vom 25. April 2008.

14) Auskunft von Gordana Brun, Umweltberaterin der serbischen Regierung am 23. Mai 2001 in Belgrad.

15) »Independent« vom 22. November 1999.

16) Wikipediaeintrag »Hadžiæi«.

17) WDR-Bericht »Der Arzt und die verstrahlten Kinder von Basra« vom 28. April 2004.

18) Wikipediaeintrag »Bosnien und Herzegowina«, Abschnitt Minenlage«.

19) Vgl. Hannes Hofbauer (2004): Jugoslawische Zerfallslinien. Aktuelle Grenzen in historischer Perspektive. In: Joachim Becker/Andrea Komlosy (Hrsg.): Grenzen weltweit. Zonen, Linien, Mauern im historischen Vergleich. Wien, S.185ff.

20) Brett Nelson u.a. (2004): War-related psychological sequels among emergency department patients in the former Republic of Yugoslavia. BMC Medicine, Ausgabe 2,23. Zit. nach Christine Amrhein: Psychische Kriegsfolgen in Serbien auch heute noch zu spüren. Bild der Wissenschaft online, 1.6.2004.

21) Vasily Astrov u.a.: Double-dip Recession over, yet no Boom in Sight. Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, Current Analyses and Forecasts Nr. 11, März 2013.

22) Gespräch mit dem ortsansässigen Ökonomen der EU, David Hudson, in Zagreb am 2. August 2007.

23) Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (Hrsg.): Countries in Transition. Wien 1995, 2005, 2012; sowie eigene Berechnungen.

24) Vasily Astrov u.a., op.cit., S. vi.

25) Vgl. Hannes Hofbauer: Balkankrieg. op.cit., S.261 ff.

Hannes Hofbauer ist österreichischer Historiker und Verleger.

»Agent Orange«-Opfer

»Agent Orange«-Opfer

Ethnopsychoanalytische Betrachtung der Nachkriegsfolgen in Vietnam

von Natalie Wagner

Vietnam erzählt bei der Betrachtung von Kriegsfolgen eine ganz eigene Geschichte. Was den Vietnamkrieg (1964-1975) von anderen Kriegen unterscheidet, ist der gezielt massive Einsatz von Chemiewaffen. »Agent Orange« – eine neue Kriegswaffe, eingesetzt zur Zerstörung des Dschungels und der Ernte sowie zur Schwächung des Feindes – ist bis heute ein politisches, medizinisches und öffentliches Thema; noch immer führt sein Einsatz bei der Bevölkerung zu Behinderungen in erheblichem Ausmaß.

Vietnam gilt mit einer Gesamtbevölkerung von ca. 87 Millionen Menschen, einem BIP von 104,6 Milliarden US-Dollar (Stand 2010) und einem Wirtschaftswachstum von 6,78% heute als stabiles »Middle Income Country«. Das Land ist jedoch noch immer auf die internationale Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit angewiesen. Der Krieg verursachte nicht nur wirtschaftliche Rückständigkeit und Armut, besonders dauerhaft sind die individuellen, gesundheitlichen und ökologischen Folgen aufgrund des Einsatzes von Agent Orange.

»Agent Orange«, ein künstlich hergestelltes Herbizid, beschreibt die Zusammensetzung aus 2,4–Dichlorphenoxyessigsäure und 2,4,5-Trichlorphenoxyessigsäure. Bei der Synthese dieses Chemikals entsteht das giftige Nebenprodukt Dioxin in Form von 2,3,7,8-Tetrachlord[i]benzoparadioxin, kurz TCDD. TCDD gilt als ein Ultragift, das sowohl zu sichtbaren als auch zu weniger sichtbaren Folgen führen kann. Durch die fettlösliche Eigenschaft und eine Halbwertszeit von durchschnittlich zehn Jahren wird Dioxin langfristig in Zellen angelagert. TCDD hat speziell in Bezug auf den menschlichen Organismus die Wirkung eines Krebspromoters und eine eigenständige humankanzerogene Wirkung. Weiterhin kann es durch seine neurotoxische Wirkung Schäden im zentralen Nervensystem und durch eine mutagene Wirkung jegliche Art von Chromosomenveränderung – von körperlicher Fehlbildung bis hin zu geistiger Behinderung – hervorrufen. Die mutagene Wirkung kann x-chromosomal vererbt werden, sodass die Folgegenerationen ebenfalls von einer Dioxinvergiftung betroffen sein können. Zusätzlich stellt die Anlagerung von TCDD in der Muttermilch eine weitere Kontaminationsgefahr für Folgegenerationen dar.

Der Einfluss der Chemikalie auf Organismen ist von der Höhe, Dauer und Häufigkeit der Exposition, vom Alter und Zustand der körpereigenen Enzyme und der individuellen Krankheitsgeschichte abhängig. Laut WHO liegt ein tolerierbarer Dioxinwert bei 0,1-0,4 mg Aufnahme pro Tag (Berendt 2009, S.28). Eine erhöhte Aufnahme kann zu erheblichen gesundheitlichen Folgen führen:

  • Krebserkrankungen: (Non-) Hodgins-Lymphome, Melanome, Leukämie, Lymphdrüsen-, Lungen-, Prostata-, Darm- und Knochenmarkkrebs;
  • neurotoxische Auswirkungen: Schwächung des Immunsystems, Lähmungen, spastische Erscheinungen, Hirnschäden;
  • Auswirkungen auf das endokrine System und den Insulinhaushalt: Wachstumsstörungen, Enzymfehlfunktionen, Hauterkrankungen, Diabetes, Unfruchtbarkeit, Frühgeburten;
  • Chromosomenveränderungen: u.a. Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, Strukturasymmetrie des Gesichts, fehlende Organe oder Glieder, Fehlstellungen der Glieder, Polydaktylie, Kleinwüchsigkeit, Deformationen des Hirns und Rückenmarks, Anencephalie, Spina Bifida, Grebbes-Syndrom, Hydrocephalie;
  • Auswirkungen während einer Schwangerschaft: Fehlgeburten, Frühgeburten, intrauterine Wachstumsrückbildungen;
  • mittelfristige psychische Erscheinungen: Schockzustände, psychonervale Beeinträchtigungen, Schwindelanfälle, Reizbarkeit, Vergesslichkeit, Niedergeschlagenheit, posttraumatische Belastungsstörung in Verbindung mit toxischer Enzephalopathie, Schlaflosigkeit, vermehrte Erregbarkeit, sexuelle Störungen, Befindlichkeitsstörungen, Ängste und Selbstmordgedanken;
  • langfristige psychische Erscheinungen: Neurasthenie;
  • Letalität (Fabig 2007, S.52; Fabig/Otte 2007, S.194 f.; Gallo 2007, S.235 f.; Kühner 2009, S.2 f.).

Es existieren über 300 veröffentlichte Studien, die einen Zusammenhang von Dioxin und Erkrankung bestätigen. Auch wenn sich die Studien uneinig darüber sind, von welchem Dioxinwert eine bestimmte Krankheitsgefahr ausgeht, ist dennoch festzuhalten, dass jeder erhöhte Dioxinwert auch ein erhöhtes Risiko darstellt (Nguyen Van Tuan 2006, S.80 f./114).

Operation »Ranch Hand«

»Agent Orange« wurde während des Zweiten Weltkrieges erstmals an der University of Chicago hergestellt und diente als Unkrautvernichtungsmittel. Der erste Einsatz von Pflanzenvernichtungsmitteln als Kriegswaffe (1948 in Malaysia) galt als Grundlage für die Verwendung von »Agent Orange« und anderen Herbiziden im Vietnamkrieg. Der »Agent Orange«-Einsatz begann 1961. Vietnam war zu dieser Zeit am 17. Breitengrad in einen kommunistisch geführten Norden und einen antikommunistisch geführten Süden aufgeteilt. In amerikanischer und südvietnamesischer Kooperation wurde ein militärisches Entwicklungs- und Testzentrum zur Verhinderung eines kommunistischen Aufstandes durch die Guerillagruppen der »Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams« (Viet Cong) errichtet. Für die ersten Testreihen von Herbizideinsätzen trafen bereits Ende 1961 die ersten Fässer mit Chemikalien per Schiff in Südvietnam ein. Kurz darauf kam es in südvietnamesischer und amerikanischer Übereinstimmung Anfang 1962 zur Genehmigung der so genannten Operation »Ranch Hand«. Mithilfe von Transportflugzeugen wurden verschiedene Herbizide auf jenen Landesflächen gleichmäßig verteilt, in denen man die kommunistischen Gruppen vermutete. Im Laufe der Operation stieg die Zahl der Sprühungen an (Griffiths 2003, S.64 f.).1 Einige Landflächen wurden mehrmals pro Tag besprüht, sodass es zu gravierender Kontamination einzelner Landflächen, den »Hot Spots«, kam.

Trotz erster Studien im Jahre 1966, die genetische Fehlbildungen aufgrund einer Dioxinkontamination feststellten, fand die Operation »Ranch Hand« Ende der 1960er Jahre ihren Höhepunkt. Erst im Mai 1970 wurde das Versprühen von »Agent Orange« eingestellt, und 1971 erfolgte der Abbruch der Operation »Ranch Hand«. Insgesamt wurden 14 verschiedene Herbizide verwendet, »Agent Orange« machte allerdings aufgrund seines schnellen und hohen Wirkungsgrades 65% der gesamten Operationseinsätze aus. Daher wird der Begriff »Agent Orange« oftmals stellvertretend für die Gesamtheit der eingesetzten Herbizide verwendet (Stellman u.a. 2003, S.682).

Nach Auswertung und Korrektur US-amerikanischer Aufzeichnungen zur Operation »Ranch Hand« ergibt sich folgendes Bild:

  • 4,8 Millionen Menschen kamen während der Operation »Ranch Hand« direkt mit »Agent Orange« in Kontakt.
  • 17 Millionen SüdvietnamesInnen und eine Millionen NordvietnamesInnen waren insgesamt den Herbiziden ausgesetzt.
  • Die Durchschnittskonzentration des Dioxins der einzelnen Substanzen lag bei 13 mg.
  • Im Rahmen von über 19.900 Flugeinsätzen wurden 44 Mio. Liter »Agent Orange«, 20 Mio. Liter »Agent White«, 8 Mio. Liter »Agent Blue«, 1,9 Mio. Liter »Agent Purple«, 464.164 Liter »Agent Pink« und 31.026 Liter »Agent Green« versprüht.
  • 2.631.297 Hektar wurden mit Herbiziden besprüht (bis zu 27 Kilogramm Dioxin/Hektar).
  • Von 60% bewaldetem Land wurden 44% zerstört: 3,3 Millionen Hektar Land, 50% Oberfläche der nordöstlichen Mekongregion, zwei Millionen Hektar tropischer Wald, 40% der Mangrovenwälder und 43% der Ackerfläche.
  • Es kam zur Störung des Nährstoffgleichgewichts und der Bewässerungssysteme, zur Verminderung von Biodisponibilität, zu Veränderungen von Mikro- und Makroklimata und zur Begünstigung unerwünschter Arteninvasionen.
  • Im Jahr 2003 lag der Dioxingehalt in tierischen Nahrungsmitteln (Hot-Spot-Gebiet Bien Hoa) bei 0,03-331 mg (Fabig 2007, S.47; Stellman u.a. 2003, S.682 f.; Vo Quy 2007, S.218 f./212 f.).

»Agent Orange«-Opfer heute – der vietnamesische Blick auf Mensch und Gesellschaft

Die Dramatik des »Agent Orange«-Einsatzes liegt nicht nur in den direkt verursachten Folgen, sondern in den lang anhaltenden, weder kontrollierbaren noch unmittelbar nachweisbaren Folgen für die Nachkommen der zweiten und dritten Generation. Diese bezeichnen sich selbst als »Agent Orange«-Opfer.

Man geht von 800.000 bis drei Millionen »Agent Orange«-Opfern in ganz Vietnam aus. Diese hohe Differenz liegt in der fehlenden einheitlichen Definition von »Agent Orange«-Opfern, der hohen Dunkelziffer und fehlender Zahlen zu den Menschen, die bereits (unwissend) aufgrund von »Agent Orange« verstorben sind. Durchschnittlich ist jede achte Familie von »Agent Orange« betroffen. 70% der »Agent Orange«-Opfer leben unterhalb der Armutsgrenze und 40% in extremer Armut. 90% der Betroffenen sind arbeitslos und 85% der Familien haben mehr als ein beeinträchtigtes Kind (Beckmann/Giesler 2000, S.102; Kühner 2009, S.1 f.; Le Thi Nham Tuyet/Johansson 2001, S.156; Ninh Do Thi Hai 2002, S.199).

In Anlehnung an Friedmanns Aufteilung in Primär-, Sekundär- und Tertiäropfer (2004, S.13) gehören die ehemaligen Soldaten, die Zivilbevölkerung und die Nachfolgegenerationen zu den Betroffenen des »Agent Orange«-Einsatzes. Für diese drei Gruppen sind die sozialen Folgen sehr unterschiedlich und hängen von dem Zusammenspiel der Mikro-, Meso- und Makroebene ab. »Agent Orange«-Opfer werden in der vietnamesischen Kultur in erster Linie einer von zwei Gruppen zugeordnet: Kriegsveteranen oder Menschen mit Behinderung. Die Bewertungsstrukturen beruhen auf diachronisch-kulturellen und gesellschaftlichen Glaubens- und Verhaltenslehren und führen zu unterschiedlichen Reaktionsmöglichkeiten mit einer soziokulturellen Logik. Die Logik, geprägt von Konfuzianismus, Buddhismus, Ahnenkult, Daoismus, Kommunismus und Synkretismus, bedingt also die individuelle Bewertung und den tatsächlichen Umgang mit den Themen Krieg, Krankheit und Behinderung.

Im konfuzianischen Sinne sind (Fehl-) Entwicklungen der Persönlichkeit Probleme der Ethik und Moral. Dabei wird die Moral als Selbstkultivierung und Sittenorientierung verstanden. So verurteilt der Konfuzianismus verhaltensauffällige Kinder als »fehlorientiert« oder »noch nicht entfaltet« (Hee-Tae Chae 2004, S.218). Trotz der hohen Stellung innerer Werte werden körperliche Behinderungen mit Ambivalenz betrachtet, was mit dem Wunsch nach Konformität, dem Schamprinzip und dem Wahren des äußeren Gesichtes erklärt werden kann. Weiterhin existiert die Vorstellung, dass Moral, Begabung und Leistungsbereitschaft eine Behinderung ausgleichen können. Diese Idee der ausgleichenden Balance steigert den sozialen Druck auf Menschen mit Behinderung (Linck 1995, S.98 f./181). Daneben sind es oft die Mütter, die eine große psychische und physische Belastung empfinden. Nach einer Studie von Le Thi Nham Tuyet/Johansson (2001) fühlen sie sich oft minderwertig, da sie der Familie keine gesunden Nachkommen schenken können.

Die buddhistische Vorstellung von Karma und Wiedergeburt sieht eine Behinderung entweder als selbstverschuldete Strafe oder Rache für eine vorherige Existenz oder als Herausforderung für die jetzige Existenz. Karma impliziert stets eine Ursache-Wirkung-Relation und soll den Menschen zu guten Taten bewegen. Im Buddhismus ist der Mensch einerseits autonom, zeitgleich aber auch, aufgrund des Glaubens an ein Kollektiv-Karma, von der Gemeinschaft abhängig. Verknüpft mit dem Glauben an Geisterwesen und dem Ahnenkult ist der Mensch gewillt, seine eigene aktuelle Situation und die der eigenen Familie unmittelbar und positiv zu beeinflussen.

Im Sinne des Daoismus wird eine geistige oder körperliche Auffälligkeit als Unausgeglichenheit der dynamischen Wechselbeziehung von Yin und Yang beurteilt. Behinderungen, Krankheiten oder Auffälligkeiten gelten als mangelnde Harmonie mit sich und der Umwelt. Um einen harmonischen Ausgleich zu erzeugen, sollte die Umwelt nicht abwarten, bis sich die Abweichung anpasst, sondern muss sich im Sinne des Dao, d.h. der Wandelbarkeit des Universums, gemeinsam mit der Abweichung zu einem fließenden, gleichgesinnten Ganzen entwickeln. Leid und Krankheit sind im Daoismus frei von Bewertung und stehen in einem komplementär-harmonischen Verhältnis mit Gesundheit.

Die politischen Strukturen des Kommunismus können ebenfalls die Sicht auf Menschen mit Behinderung beeinflussen. Im kommunistischen Menschenbild, geprägt von der Idee der Gemeinschaft und der Arbeit als Beitrag für das Zusammenleben, wird die psychische Dimension des Menschen vernachlässigt. Von jedem Mitglied der Gesellschaft wird dieselbe Leistung erwartet. Zusätzlich passt das Bild von Menschen mit Behinderung oder der »Agent Orange«-Opfer nicht in die von der damaligen Wirtschaftsreform (Doi Moi) ausgehende positive Darstellung Vietnams.

Vereinfacht lassen sich vor diesem Hintergrund zwei Wege erkennen, eine Behinderung zu sehen. Einer gründet auf Mitleid bzw. Ehrerbietung, der andere beruht auf Emotionen wie Angst oder Scham. Mitleid und das Streben nach Barmherzigkeit stellen für die »Agent Orange«-Opfer eine wichtige Attitüde dar und ermöglichen soziale Reaktionen der Akzeptanz und Integration. Angst hingegen, gepaart mit Scham, Schicksalsglaube, Armut und Unkenntnis, führen zu Rückzug und Isolation. Der unbewusste gesellschaftlicheDruck zu Konformität und die fehlende Trennung zwischen Person und Behinderung können dazu führen, dass »Agent Orange«-Opfer entweder weggegeben oder versteckt werden.

Kriegsveteranen leben heutzutage oft in Isolation, Armut und einer Zweiklassengesellschaft. Gesellschaftliches Ansehen bekommt nur der Veteran, bei dem die Spuren des Krieges deutlich zu sehen sind und der für die kommunistische Regierung im Norden gekämpft hat. Südvietnamesische Veteranen werden verächtlich »Marionetten-Soldaten« genannt und haben gesellschaftlich eine schwere Stellung. Viele der »Agent Orange«-Opfer sind auf Almosen angewiesen. Je sichtbarer die Behinderung, desto mehr Almosen bekommt man, was oftmals gezielt zur weiteren körperlichen Verstümmlung führt.

1998 entstanden erstmals auf politischer Ebene gesetzliche Richtlinien, die langfristige Hilfen für »Agent Orange«-Opfer (u.a. medizinische Behandlung, berufliche Ausbildungsmöglichkeiten) gewährleisten sollen. Im Grundrechtskatalog von 1992 und im »National Plan of Action for the Vietnamese Children« werden Sozialhilfe und berufliche Eingliederung für Kriegsveteranen, Dioxin-betroffene Kinder und Menschen mit Behinderung gesichert (Ninh Do Thi Hai 2002, S.196). So gibt es beispielsweise seit dem Jahr 2000 eine monatliche Rente für Kriegsveteranen (ca. 10-20 US-Dollar) und eine Verminderung oder Befreiung der Schulgebühren für Kinder mit Behinderung. Weiter wurden – entsprechend des von der Weltgesundheitsorganisation entwickelten Konzeptes der »Community-Based Rehabilitation« – nach und nach in jeder Provinz Rehabilitationszentren für »Agent Orange«-Opfer aufgebaut sowie Nichtregierungs- und zwischenstaatliche Organistionen etabliert. Zu den wichtigsten dort tätigen Organisationen gehören MOLISA, VAVA, die GIZ, OGCDC und die ILO.2 Sie befassen sich u.a. mit juristischem Vorgehen gegen involvierte Chemieunternehmen und aktivieren die (Weiter-) Bildungs- und Gesundheitsebene.

Fazit

Die Auswirkungen und Folgen des Vietnamkrieges auf Umwelt und Mensch wurden 1970 mit dem Begriff des »Ecocide« beschrieben. »Ecocide« beschreibt in bewusster Anlehnung an den Begriff des Genozids die gezielte und permanente Zerstörung der menschlichen Umwelt. Explosive Munitionen, der Einsatz von Napalm und Minen, die mechanische Zerstörung der Felder und der gezielte Einsatz von Herbiziden gelten entsprechend als Akte gegen die Menschlichkeit.3 Das geschädigte Ökosystem ist nicht mehr in der Lage, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Auch wenn im Juli 2010 US-Außenministerin Hillary Clinton Hilfe bei der Beseitigung der giftigen Hinterlassenschaften des US-Militärs im Vietnamkrieg zusicherte, stehen die ökologischen Aufbauprogramme aufgrund der hohen Kosten in ständiger Gefahr, gestoppt zu werden.

Es ist zu betonen, dass die Vernichtung des Ökosystems zwar in vielen Kriegen eine eingesetzte Strategie war, dennoch hat der Einsatz von Herbiziden im Vietnamkrieg eine unvergleichliche Zerstörung hervorgerufen. Der Krieg, der Einsatz von Herbiziden und besonders der Einsatz von „»Agent Orange« haben im enormen Ausmaß der Umwelt, aber in noch gravierenderer Weise der Zivilbevölkerung geschadet. Sensibilität, die Schaffung eines Bewusstseins und Aufklärung sind sowohl nationale als auch internationale Ziele für eine angemessene Betrachtung und einen angemessenen Umgang mit den Folgen des »Agent Orange«-Einsatzes.

Literatur

Beckmann, Tho/Giesler, Renate (2000): Das Beispiel Vietnam: Agent-Orange und die Folgen. Zeitschrift »Behinderung und Dritte Welt« 11 (3), S.102-104.

Berendt, Isabell Franziska (2009): Der Einsatz von Agent Orange während des Vietnamkriegs in den 1960er Jahren. Die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Hamburg.

Fabig, Karl-Rainer (2007): Agent Orange vor Gericht. In: Fabig, Anita/Otte, Kathrin (Hrsg.): Umwelt, Macht und Medizin. Zur Würdigung des Lebenswerks von Karl-Rainer Fabig. Kassel, S.46-57.

Fabig, Anita/Otte, Kathrin (Hrsg.) (2007): Umwelt, Macht und Medizin. Zur Würdigung des Lebenswerks von Karl-Rainer Fabig. Kassel.

Gallo, Werner (2007): Die unmittelbaren Wirkungen des Giftgaskrieges in Vietnam auf Menschen (und Umwelt) und ihre Folgen als Altlast. In: Fabig , Anita/Otte, Kathrin (Hrsg.), op.cit., S.232-241.

Griffiths, Philip Jones (2003): Agent Orange. »Collateral Damage« in Vietnam. London.

Hee-Tae Chae (2004): ER-ZIEHEN DURCH BE-ZIEHEN. Entwurf eines ganzheitlichen Erziehungsmodells auf der Grundlage der Individualpsychologie und der ostasiatischen Philosophie. Dissertation am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg/Lahn.

Kühner, Stefan (2009): Lange nach dem Krieg … – Agent Orange und die späten Leiden der Opfer. In: Zeitschrift »Behinderung und Dritte Welt« 20 (2), S.16-23.

Le Thi Nham Tuyet/Johansson, Annika (2001): Impact of Chemical Warfare with Agent Orange on Women’s Reproductive Lives in Vietnam. A Pilot Study. In: Reproductive Health Matters 18, S.156-164.

Linck, Gudula (1995): Befähigung anderer Art? Zur Lebenswelt körperlich Behinderter in China. Pfaffenweiler.

Nguyen Van Tuan (2006): Agent Orange, Dioxine et leurs consequences. Ho-Chi-Minh-City.

Ninh Do Thi Hai (2002): Vietnam. Die Sozialpolitik für Behinderte in Vietnam. In: Pitschas, Rainer/Baron von Maydell, Bernd/ Schulte, Bernd (Hrsg.): Teilhabe behinderter Menschen an der Bürgergesellschaft in Asien und Europa. Speyer, S.195-204.

Stellman, Jeane Mager/Stellman, Steven D./Christians, Richard/Weber, Tracy/Tomasallo, Carry (2003): The extent and patterns of usage of Agent Orange and other herbicides in Vietnam. In: Nature 442, S.681-687.

Vo Quy (2007): Ökozid in Vietnam – Erforschung und Wiederherstellung der Umwelt. In: Fabig, Anita/Otte, Kathrin (Hrsg.), op.cit., S.218-231.

Anmerkungen

1) 15.000 Gallonen (1962), 59.000 Gallonen (1963), 175.000 Gallonen (1964), 621.000 Gallonen (1965) und 2,28 Millionen Gallonen (1966). 1 US-Gallone = 3,7 Liter.

2) MOLISA = Ministry of Labour, Invalids and Social Affairs; VAVA = Vietnamese Association of Victims of Agent Orange; GIZ = Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit; OGCDC = Office of Genetic Counseling and Disabled Children; ILO = International Labor Organization.

3) Die Operation »Ranch Hand« verstieß zum damaligen Zeitpunkt gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907 und das Genfer Giftgasprotokoll von 1925; aufgrund fehlender Ratifizierung sind weder die USA noch die ehemalige südvietnamesische Regierung völkerrechtlich anklagbar (Berendt 2009, S.16 f.).

Natalie Wagner ist Diplom-Pädagogin mit den Schwerpunkten Sonderpädagogik, Psychologie und Soziologie, und sie beendete ihr Studium im September 2012 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Momentan leistet sie einen Freiwilligendienst im Auftrag der Deutschen UNESCO-Kommission in China.

Das zerrissene Geflecht der Seele

Das zerrissene Geflecht der Seele

Langzeitfolgen des Konflikts in Guatemala

von María Cárdenas und Philipp Schultheiss

Mit der Anklage gegen den ehemaligen Diktator und Ex-General Ríos Montt ist Guatemala das erste Land weltweit, in dem einem ehemaligen Staatsoberhaupt vor einem nationalen Gericht wegen Völkermordes der Prozess gemacht wird. Doch die Gesellschaft ist hinsichtlich der Frage gespalten, ob die Vergangenheit ruhen soll oder ob erst ihre Aufarbeitung einen Neuanfang des Landes ermöglichen kann. Um zu verstehen, weshalb der öffentliche Diskurs diesbezüglich noch immer so polarisiert ist, müssen die strukturellen, sozial- wie individualpsychologischen Langzeitfolgen des internen Konflikts ins Auge gefasst werden, die bis heute in die guatemaltekische Gesellschaft hineinwirken. Die beiden Autor_innen sind dieser Frage vor Ort nachgegangen und führten hierzu Interviews und Gruppendiskussionen mit Betroffenen.

Die Geschichte Guatemalas lässt sich anhand zweier zentraler Konfliktlinien bzw. Konfliktmuster charakterisieren: Zum einen verläuft die Ungleichverteilung von Zugangschancen, Besitz und politischer Teilhabe entlang der Ethnien. Zum anderen werden die politischen Machtkämpfe und ökonomischen Interessen autoritär und gewaltsam ausgetragen. Die europäischstämmige Oligarchie, die traditionell enge Beziehungen zum Militär hält, konnte seit der Kolonialisierung ihre Vormachtstellung durch die ethnische Einteilung der Bevölkerung in Mestizen und Indigene und deren auf Rassismus basierende Abgrenzung voneinander aufrecht erhalten.

Die sozioökonomischen Schichten entsprechen also seit jeher den ethnischen Gruppen: Indigene stellen die größte Bevölkerungsgruppe (60%; FIDH 2006) und die arme, landlose Unterschicht dar. Dem gegenüber besteht die europäischstämmige Oligarchie aus einem Nukleus von rund 20 Familien, die ihre Politikinhalte „mehr als in jedem anderen zentralamerikanischen Land über oligarchische Interessengruppen“ durchsetzt und so bis heute die Ungleichheit zementieren konnte (Zinecker 2006, S.23). Die Mestizen bilden die Mittelschicht, die sich bis heute nur durch die ethnische Diskriminierung der indigenen Bevölkerung von letzterer abgrenzen und ihren Status zwischen beiden Gruppen stabilisieren konnte. Diese gesellschaftliche Einteilung wird bereits seit der Kolonialisierung durch Terror, Zwangsumsiedlungen der indigenen Bevölkerung und die politökonomische Marginalisierung der Indigenen aufrechterhalten (vgl. Taussig, zitiert in Lovell 1988, S.36f.).

Die drastischen Unterschiede innerhalb der Gesellschaft zeigen sich auch im Bildungswesen und weisen auf eine intersektionale Dimension der Diskriminierung hin: Der Zugang zu Bildung hängt von der Verknüpfung von Herkunft, Geschlecht und Ethnie ab. So liegt die Dauer des durchschnittlichen Schulbesuchs einer weiblichen Indigenen bei lediglich zwei Jahren, gefolgt von männlichen Indigenen und anschließend Stadtbewohnerinnen, während Stadtbewohner mit 7,61 Jahren Schulbesuch den Höchstdurchschnitt darstellen (FIDH 2006, S.30). Aktuell plant die Regierung zudem, die Lehrerausbildung zu reformieren und in ein Universitätsstudium umzuwandeln, was der armen indigenen Bevölkerung, für die ein solches Studium kaum finanzierbar ist, den Zugang zum Lehrerberuf weiter erschwert. Bislang war der Lehrerberuf für viele Indigene einer der wenigen Wege in ein gesichertes und angesehenes Arbeitsverhältnis. Am eindeutigsten spiegelt sich jedoch starke Ungleichheit zwischen den Ethnien in den aktuellen Armutszahlen wieder: So folgern Rosada und Bruni, dass 75,6% der in Armut lebenden Bevölkerung Indigene sind und dass wiederum in den Regionen mit der höchsten indigenen Bevölkerung mehr als 75% in Armut oder extremer Armut leben (Rosada & Bruni 2009, S.8).

Rückblick: Der interne bewaffnete Konflikt 1960-1996

Zu Beginn der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hatte es durchaus Hoffnung auf eine gerechtere guatemaltekische Gesellschaft gegeben. Mit dem Aufkommen der katholischen Befreiungstheologie im Zuge der Emanzipationsbewegungen Lateinamerikas ab den 1950er Jahren sowie durch Reformen der Präsidenten Arévalo (1945-1949) und Jacobo Árbenz (1950-1954) zugunsten der armen und landlosen Bevölkerung hatte eine Refokussierung großer Teile der indigenen Bevölkerung auf ihre korporativen Strukturen, kulturellen Traditionen und Sprache eingesetzt (Lovell 1988, S.43). Árbenz hatte durch eine Landreform den Verkauf von 1,4 Millionen Hektar ungenutzten Landes aus privater und staatlicher Hand an 500.000 bis dato landlose Guatemalteken ermöglicht und so eine Umverteilung in Gang gesetzt, die Großgrundbesitzer, internationale Agrarkonzerne wie die United Fruit Company und die US-Regierung als Bedrohung wahrnahmen. Sie stürzten Árbenz am 17.06.1954 mit Hilfe der CIA und des rechten Flügels des guatemaltekischen Militärs.

Der Putsch und die darauf folgende erste Militärregierung legten den Grundstein für den bewaffneten Konflikt zwischen rechtem Militär, Paramilitärs und Oligarchie einerseits und linken Guerillas andererseits. Die Guerillas zogen sich vorrangig in die dicht bewaldete Region Ixcan im Nordwesten Guatemalas zurück, weshalb das Militär und später die paramilitärischen »Patrullas de Autodefensa Civil« (PAC) ihren Terror hauptsächlich gegen die dort ansässige ländliche und größtenteils indigene Zivilbevölkerung richteten (Taylor 2007, S.186ff). Das von evangelikalen Kirchen stark beeinflusste Militär legitimierte die gewaltsame Bekämpfung der korporativen indigenen Strukturen, welche durch die katholische Befreiungstheologie beeinflusst waren, indem sie sie als »kommunistisch« stigmatisierte. 1981 begann die Kampagne der »tierra arrasada«, der verbrannten Erde: Das Militär verbrannte die Dörfer und siedelte die ländlichen Bewohner zur besseren Kontrolle in neuen, hierfür extra gerodeten Flächen, sog. »Modelldörfern«, an (ebd). Das Militär bediente sich bei der Ausübung von Gewalt auch bei traditionellen und religiösen Deutungsmustern der Maya-Kosmovision und evangelikaler Pfingstkirchen, mit Hilfe derer die Verantwortung bzw. Schuld für widerfahrene Gewalt beim Opfer lokalisiert werden konnte. Gewalt wurde hierdurch zu einem legitimen Mittel der Normdurchsetzung bzw. -wiederherstellung umgedeutet. Viele Zivilisten wechselten aus Angst zu evangelikalen Kirchen über, da diese den Schutz des Militärs genossen.

Das Militär verknüpfte mit der Repression gegen diesen Teil der Bevölkerung also ökonomische, politische, rassistische und religiöse Motive. Der bewaffnete Konflikt und der vom Militär gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Terror forderte 200.000 Todesopfer bzw. »desaparecidos« und eine Million Binnenflüchtlinge (Carey 2004, S.71). Die Landreform von Árbenz wurde rückgängig gemacht, was im Zusammenspiel mit Vertreibung, Zwangsumsiedlungen und Landraub während des Bürgerkriegs die heutige Ungleichverteilung des Landes zementiert hat: Zwei Prozent der Bevölkerung besitzen heute 70% des kultivierbaren Landes (Held 2010, S.3).

Erst 1983 fand durch einen weiteren Putsch eine Befriedung des Landes statt, die 1996 mit der Demobilisierung der Guerillas und der Unterzeichnung von vier Friedensverträgen, die allerdings bis heute nur unzureichend erfüllt sind, abgerundet wurde. Wenngleich das Land bereits seit knapp zwanzig Jahren offiziell befriedet ist, wirken jedoch die spezifischen Formen der Gewalt weiterhin auf die Gesellschaft ein und haben sie bis heute geprägt.

Die Stille als Überlebensstrategie

Im Nordwesten nutzten die indigenen Gemeinden das schwer zugängliche Gebiet und die Grenze zu Mexiko, um Widerstand zu leisten oder um ein »Leben im Schatten« zu führen: Sie versteckten sich als Gemeinde bis zu zwanzig Jahre im bewaldeten Hochland (zur Gemeinde Primavera de Ixcan vgl. Taylor 2007). Aus dieser Erfahrung entwickelten sie trotz hoher Verluste an Familienangehörigen und Freunden eine starke soziale Kohäsion, die aus der gegenseitigen Abhängigkeit und Solidarität herrührt. Dies gab ihnen Kraft, die Gewalterfahrungen besser zu verarbeiten und einen Neubeginn zu schaffen: Sie konnten sich nicht nur als Opfer, sondern auch als Überlebende oder Widerstandskämpfer sehen. Nach dem Konflikt waren es diese Gemeinden, die die höchste Aufmerksamkeit von internationalen Organisationen erhielten. Ihnen wird allerdings auch bis heute eine große Organisationsfähigkeit attestiert.

Die Gemeinden, in denen der Widerstand geringer war, die aber an strategisch relevanteren Punkten lagen und keine Fluchtmöglichkeiten hatten, wie die Gemeinden an der Peripherie um Guatemala-Stadt, erhalten bis heute weniger internationale Aufmerksamkeit. Sie waren den verschiedenen Strategien der »Aufstandsbekämpfung«, wenn auch in geringerem Masse, jedoch schutzlos ausgesetzt. Die Gemeinden waren oftmals infiltriert, und das Militär nahm im Schutz der Nacht »Verdächtige« mit: Viele »desaparecidos«, Verschwundene, konnten bis heute nicht gefunden werden. Das Unwissen über das, was passierte, und wer in der Gemeinde welche Funktionen erfüllt hatte, führte zu einer Omnipräsenz der Angst und einer Gewaltpräsenz ohne Autor oder Adressat, die ein allgegenwärtiges Schweigen mit sich zog: „Wir waren alle im Ungewissen, niemand redete darüber, und niemand traute sich zu sagen, was er wusste“, die Wände bekamen Ohren, die Stille wurde zur einzigen Hoffnung auf Sicherheit (Interview 1).

Viele Eltern isolierten ihre Kinder, lehrten sie, mit Fremden, Bekannten und auch der Familie nur das Nötigste zu sprechen und kein Aufsehen zu erregen. „Sie wuchsen auf mit einer ständigen Angst vor einem unbekannten Ungeheuer, von dem niemand weiß, was es will, welche Waffen es hat, wo es sich befindet und wann es angreift.“ (Interview 3a) Dieses Gefühl der Unsicherheit und der Ungewissheit hielt auch nach der Hochphase der Gewalt 1981-1983 an. Es gab keine Aufklärung über die vielen Verschwundenen, sondern einen sanften Übergang zu »negativem Frieden«, so dass die Menschen keinen Bruch mit der gewaltsamen Vergangenheit erkennen konnten. Vielmehr bestand die Gemeinde weiterhin aus den selben Mitgliedern: Unter ihnen lebten Spitzel, Paramilitärs und Militärs neben Opfern von Tod, Folter, Vergewaltigung – als wäre nie etwas passiert und doch in ständiger Angst. So wurden auch die paramilitärischen PAC nie offiziell aufgelöst, sondern bestehen vielerorts als »seguridad comunitaria las 24h«, als Bürgerwehren, fort. In diesem Sinne ist für viele Opfer auch die Persistenz des Militärs im Inneren des Landes ein Zeichen, dass die Repression nicht vorbei ist, sondern vielmehr weiter existiert.

Meist wird bis heute weder in den Gemeinden noch im inneren Kreis über die Geschichte und die Gewalterfahrungen gesprochen, zu hoch ist die Angst, das Aufbrechen alter Wunden könnte neue Gewalt hervorbringen. Das fehlende Vertrauen hat viele Menschen paralysiert und eine »Kultur der Stille« geschaffen. Dies verhindert nicht nur einen Heilungs- und Versöhnungprozess innerhalb der Gemeinden, es manifestiert sich auch in einer Kriminalisierung bürgerschaftlichen Engagements: „Die Polarisierung wird forciert und wir (sozialen Akteure) werden als Störenfriede stigmatisiert. Die Menschen haben Angst vor Störenfrieden, weil sie das Militär anlocken.“ (Interview 1) Deutlich wird dies an 402 Angriffen oder Einschüchterungsversuchen gegen Menschenrechtsaktivisten allein im Jahr 2011 (Amnesty International 2012).

Wie die Gewalt in die Gemeinden floss

Die fehlende Möglichkeit der Artikulation von Problemen und Konflikten hat dabei oft gewaltsame Konsequenzen auf individueller und kollektiver Ebene und wirkt sich auch auf andere Bereiche des Privatlebens sowie auf die generelle Diskurs- und Konfliktlösungskompetenz aus. Mit der Kultur der Stille geht insofern auch eine Akkumulation von ungelösten Problemen einher. Die beinahe allumfassende Straflosigkeit, die bei einer der höchsten Mordraten weltweit (40 Morde pro 100.000 Einwohner)1 rund 98,6% dieser Morde unaufgeklärt lässt (Briscoe 2012, S.12), sowie die Ohnmacht angesichts dieser hohen Gewaltintensität verstärken die Frustration auf individueller und kollektiver Ebene. »Justicia a mano propia«, Selbstjustiz, sowie die in Guatemala im Vergleich zu den Nachbarländern stark verbreitete Lynchjustiz stellen deshalb oft die einzig zugänglichen Sanktionierungsmöglichkeiten und auch das einzige Ventil für die allgegenwärtige Bedrohung und die angesammelte Frustration dar.2 Ohnmacht bzw. das Wissen um die Straflosigkeit von Verbrechen gehen mit einer Resignation bzw. Legitimation von physischer, materieller und immaterieller Gewalt einher.

Am Phänomen der »Femicidios«, der Frauenmorde,3 wird auch eine weitere Funktion von Gewalt deutlich, die ihren Ursprung im staatlichen Terror hat: Die gesellschaftliche Zurechtweisung von Individuen mit Hilfe von Gewalt, denen die Täter ein nichtkonformes Verhalten gegenüber Regeln und Normen attestieren, wird oft von weiten Teilen der Gesellschaft wenn nicht unterstützt, so doch als gegeben akzeptiert (FIDH 2006, S.33). Aber auch der Diebstahl, der häufig mit unverhältnismäßiger Gewalt einhergeht, oder die zur Dienstleistung aufgewerteten Auftragsmorde, die für nur 400 US$ erhältlich sind, sind Indizien für die Verrohung und Veralltäglichung von Gewalt, die in großen Teilen aufgrund der (Zwangs-) Rekrutierung durch die Armee und die PAC in die Gesellschaft floss. So hatte das Militär zahlreiche Männer im Zuge der Indoktrination für den Einsatz in den PAC konkret in der Verwendung von sexueller Gewalt als Mittel der Aufstandsbekämpfung geschult und durch Mutproben abgehärtet (Weber 2013, S.11-14). Die teilweise noch Minderjährigen erlernten die strategische Anwendung von Vergewaltigungen, Folter und Mord und damit den gering zu schätzenden Wert eines Menschenlebens: „Mein Bruder, der bei der Armee war, sagte zu mir: Das Militär selbst zerstört jede friedliche Kultur, denn es lehrt dich, den anderen zu hassen und ihm zu misstrauen. Es gibt immer einen Feind. Auch wenn du ihn nicht siehst.“ (Interview 1)

»El sujeto social internalizado« – die Früchte der Gesellschaft

Neben den beschriebenen sozialpsychologischen Langzeitfolgen finden sich auch auf individueller Ebene physische und psychologische Auffälligkeiten, die ihre Wurzel im internen Konflikt haben und/oder mit den genannten gesellschaftlichen Phänomenen korrelieren. Während das Militär die Soldaten und Paramilitärs in Brutalität und Gewaltverherrlichung schulte, so leiden auf der anderen Seite ihre Opfer bis heute unter den Folgen von psychischer und physischer Folter und Gewaltanwendung. Vor allem bei Männern äußere sich dies unseren Interviewpartner_innen zufolge in einem hohen Maß an Alkoholismus. Auch waren sich die Therapeut_innen in den von uns geführten Interviews einig, dass die in Guatemala sehr häufig vorkommenden Krankheiten Gastritis und Diabetes oftmals psychosomatische Krankheitsbilder seien, deren Wurzeln in den traumatischen Erlebnissen des Konflikts zu finden sind. Dafür spricht, dass Gastritis im Distrikt Rabinal, in dem es zahlreiche Massaker gab, besonders häufig auftritt.4

Ein weiteres Phänomen, an dem sich beispielhaft das Zusammenwirken von sozialer und individueller Ebene zeigt, ist die sexuelle bzw. häusliche Gewalt gegenüber Frauen. Ihre Ursachen sind sowohl in der Verrohung wie der Traumatisierung vieler Männer zu finden, die während des Krieges als Kombattanten beider Seiten, aber auch als entführte und gefolterte Zivilisten nachhaltig durch Gewalt geprägt wurden. Gleichzeitig hatten Frauen in Abwesenheit der Männer klassisch maskulin belegte Aufgaben übernommen und so tradierte Geschlechterrollen in Frage gestellt, was zu zusätzlichen Spannungen führte. Auf der anderen Seite wurde die Rolle der Witwen von unseren Interviewpartner_innen als zentral für einen positiven Wandel der Geschlechterbeziehungen und der Anerkennung und Emanzipation der Frauen genannt. Viele Frauen, die Opfer der sexuellen Gewalt durch das Militär wurden, leiden bis heute unter verschiedensten psychischen Erkrankungen, wie etwa Depressionen, Schlafstörungen, Nervosität, Essstörungen oder Teilnahmslosigkeit.

Erschwerend wirkt hier, dass durch den von den Frauen erlittenen sexuellen Missbrauch die strengen kulturellen Konzeptionen einer »unbefleckten Ehefrau« zerstört wurden. Sexueller Missbrauch und Vergewaltigung wurden von den Gemeinden auch aufgrund ihrer Hilflosigkeit als kollektive Schande wahrgenommen, sodass oft versucht wurde, die Schuld für die Vergewaltigung auf die Frauen selbst oder ihre Ehemänner zu schieben (Weber 2013, S.11). Dies führte häufig zu einer noch stärkeren Stigmatisierung der Frauen und zu ihrem Ausschluss aus dem sozialen Leben der Gemeinde. In der Isolation können diese Frauen leicht Opfer neuer Übergriffe aus Familie oder Gemeinde werden. So weist Guatemala auch eine vergleichsweise hohe Rate häuslicher Gewalt auf.5 Viele Frauen versuchen daher aus Selbstschutz, das an ihnen verübte Verbrechen zu verheimlichen, und hüllen sich in vollkommenes Schweigen, was die oftmals ohnehin vorhandenen Leiden noch verstärkt (ebd., S.12).

Fazit

Die guatemaltekische Gesellschaft leidet noch immer in großen Teilen unter den Folgen des Terrors, der sich vor dreißig Jahren vor allem von Seiten des Militärs und der Oligarchie gegen die indigene und ländliche Bevölkerung gerichtet hatte. Weiterhin herrschen bei großen Teilen der mestizischen und weißen Bevölkerung ethnische Ressentiments gegenüber der indigenen Bevölkerung vor, die in deren Marginalisierung und strukturellen Armut resultieren. Umgekehrt herrscht bei großen Teilen der Indigenen ein starkes Misstrauen gegenüber Fremden. Auch ist die Gesellschaft gespalten, wie mit der Vergangenheit umgegangen werden soll. Hier ist es vor allem die Angst, die die Menschen hemmt, ihre Gedanken, Gefühle und Erfahrungen mit ihrer Gemeinschaft zu teilen. Darunter leiden oft sowohl diejenigen, die Menschenrechtsverbrechen erfahren haben, als auch diejenigen, die sie – teilweise gegen ihren Willen – verübt haben.

Der fehlende Diskurs über die Vergangenheit und ihre Folgen für die guatemaltekische Gegenwart blockiert Veränderungen auf makrostruktureller Ebene, die einen Ausweg aus dem Teufelskreis der Gewalt erlauben würden. Die Allgegenwärtigkeit der Angst und der Gewalt auf individueller sowie kollektiver Ebene kann sich auch aufgrund fehlender Ventile in Lynchjustiz und Selbstjustiz entladen. Die hohe Straflosigkeit und Veralltäglichung von Gewalt stehen in engem Zusammenspiel mit strukturellen, sozial- wie individualpsychologischen Langzeitfolgen des internen Konfliktes, welche bis heute in die guatemaltekische Gesellschaft hineinwirken. Hierbei leben die Menschen in einem sich selbst reproduzierenden Widerspruch, in dem die Gewalt sie einerseits paralysiert und sie selbst andererseits keine andere Möglichkeit als die Anwendung von Gewalt sehen, um sich zu schützen. Nichtsdestotrotz gibt es Menschen wie unsere Interviewpartner_innen, die im Kleinen Veränderungen im »teijido social«, dem sozialen Geflecht, schaffen. Die durch soziale und entwicklungsorientierte Projekte aus den Gemeinden heraus und mit ihnen neues Vertrauen und Solidarität untereinander schaffen. Die sich entgegen der repressiven Verhaltensnormen als »Störenfriede« engagieren und das zerrissene Geflecht der guatemaltekischen Seele zu flicken versuchen.

Literatur

Amnesty International (2012): Guatemala – Submission to the UN Human Rights Committee for the 104th Session of the Human Rights Committee. London.

Briscoe, Ivan (2009): El Estado y la seguridad en Guatemala. Madrid: Fundación para las Relaciones Internacionales y el Diálogo Exterior (FRIDE).

Carey Jr, David (2004): Maya Perspectives on the 1999 Referendum in Guatemala: Ethnic Equality Rejected? In: Latin American Perspectives: The Struggle Continues: Consciousness, Social Movement, and Class Action, H. 31, Nr. 6 (Nov. 2004), S.69-95.

Casaús Arzú, Marta Elena (2002): La metamorfosis del racismo en Guatemala. Cholsamaj. Ciudad de Guatemala.

Federación Internacional de los derechos humanos (FIDH)(2006): Informe. Misión Internacional de Investigación. El feminicidio en México y Guatemala.

Held, Susanne (2010): Der Kampf um Land in Guatemala am Beispiel des »Comité de Unidad«. München: GRIN Verlag.

Lovell, George W. (1988): Surviving Conquest: The Maya of Guatemala in Historical Perspective. In: Latin American Studies Association, H. 23, Nr. 2 (1988), S.25-57.

Rosada, Romás; Bruni, Lucilla (2009): Crisis y pobreza rural en América Latina: el caso de Guatemala. Documento de Trabajo N°45 Programa Dinámicas Territoriales Rurales. Rimisp – Centro Latinoamericano para el Desarrollo Rural. Santiago, Chile.

Taylor, Matthew John (2007): Militarism and the environment in Guatemala. In: GeoJournal H. 69 (2007), S.181-198.

Weber, Sanne (2013): Giving a voice to victims. Towards gender-sensitive processes of Truth, Justice, Reparations and Non- Recurrence (TJRNR) in Guatemala. Ciudad de Guatemala: Impunitywatch.

Zinecker, Heidrun (2006): Gewalt im Frieden. Formen und Ursachen der Nachkriegsgewalt in Guatemala. HSFK-Report 8/2006. Frankfurt/Main.

Anmerkungen

1) CERIGUA 2012; bit.ly/X4uT6Y.

2) Mindestens ein Familienmitglied jedes zweiten Guatemalteken war im letzten Jahr bereits Opfer von Gewalt, 77,9% fürchten sich, das Haus zu verlassen (nach Briscoe 2009, S.12).

3) Als »Feminicidio« wird ein Mord bezeichnet, der mit der Zugehörigkeit der Person zum (biologischen) weiblichen Geschlecht und ihrer gesellschaftlichen Rolle in Verbindung steht.

4) Studie der Regionalverwaltung Rabinal; bit.ly/10FudoM.

5) So weist die UNAIDS-Erhebung für 2011 zur Gewalt an Frauen durch ihren Partner in den letzten zwölf Monaten für Guatemala mit 27,6% den höchsten Prozentsatz aller zentralamerikanischer Länder aus; bit.ly/ZJWXew.

María Cárdenas Alfonso ist Staats- und Kommunikationswissenschaftlerin (B.A.). Zurzeit studiert sie Friedens- und Konfliktforschung (M.A.) an der Philipps-Universität Marburg und ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F. Philipp Schultheiß studiert Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Marburg. Dieser Artikel beruht auf den vorläufigen Ergebnissen des Forschungsprojekts der beiden Autor_innen »Wechselwirkungen von kulturellen Dispositionen und Traumatisierung in Guatemala«. Während ihrer zweimonatigen Feldforschung führten die beiden Autor_innen Interviews sowie Gruppendiskussionen in unterschiedlichen Regionen des Landes.

Instabilität im Nahen und Mittleren Osten

Instabilität im Nahen und Mittleren Osten

Der Irak und sein regionales Umfeld nach dem Zweiten Golfkrieg

von Jochen Hippler

Der Nahe und Mittlere Osten ist heute von vielfältigen Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt. Eine wichtige Rolle in der Region spielte Jahrzehnte lang der Irak. Zunächst geprägt von historisch bedingter Schwäche, entwickelte sich das Land unter Saddam Hussein und der Baath-Partei zu einem regionalen Kraftprotz. Damit war es nach dem Dritten Golfkrieg vorbei – seit 2003 an trug die innere Schwäche des Irak auch regional zu Instabilitäten bei. Inzwischen verschob sich der Motor der Instabilität nach Libyen und Syrien. Der Autor beleuchtet das komplexe Geflecht.

Vor zwei oder drei Generationen – also vor und zu Beginn der Herrschaft Saddam Husseins – galt der Irak zu Recht als schwach und instabil. Diese historische Erfahrung bildet einen wichtigen Hintergrund für die Politik der späteren irakischen Regierungen, insbesondere ab 1968.1

Schwäche des Irak vor 1968

Ein Faktor für die damalige Schwäche war die Vernachlässigung des Landes durch die es kontrollierenden externen Mächte (Osmanisches Reich, Großbritannien). Daraus und aus den inneren Bedingungen des Landes resultierte das zweite Problem: Der Irak verfügte lange über einen ausgesprochen schwachen Staatsapparat und war gekennzeichnet von Defiziten und Instabilität im politisch-administrativen Bereich und einer unzureichenden Nutzung seines Entwicklungspotentials, bei weiterhin quasi-feudalem Charakter seiner Machteliten.

Eine dritte Quelle gesellschaftlicher und staatlicher Schwäche lag in dem Fehlen eines einigermaßen homogenen »Staatsvolkes«. Neben der den schiitischen Arabern, die die Bevölkerungsmehrheit stellen (ca. 55%), gibt es eine sunnitisch-arabische (ca. 20%), eine kurdische sowie eine Reihe kleinerer Minderheiten. Geführt wurde das Land unter dem König, dem Militär und der Baath-Diktatur vorwiegend von einer sunnitisch-arabischen Elite. Das Autonomiestreben der Kurden hatte der irakischen Regierung lange zu schaffen gemacht, die Konflikte nahmen oftmals militärische Formen an. Diese Konstellation erschwerte dem künstlich und von außen gegründeten Irak die Identitätsfindung und Staatsbildung und damit die Stabilisierung. Eine arabisch-nationalistische Staatsideologie (wie von der Baath-Partei offeriert) musste dem Viertel der Bevölkerung als Zumutung erscheinen, das nicht arabisch war. Eine islamische Identität wiederum war aufgrund des unterschiedlichen sozialen und religiösen Status von Sunniten, Schiiten und säkularen Kräften ebenfalls kaum gegeben.

Die Stärke des Baath-Regimes

Die Machtübernahme der Baath-Partei 1968 erfolgte vor diesen innen- sowie diversen außenpolitischen Hintergründen (Gegnerschaft zu Iran, Israel, Saudi-Arabien und den Golfstaaten sowie ein ambivalentes Verhältnis zu den USA). Zur Stabilisierung des Landes bediente sich die baathistische Regierung sofort nach ihrem Machtantritt vier Hauptinstrumentarien: der Repression ihrer Gegner; der taktischen Kooptierung bzw. später ebenfalls Repression derjenigen politischen Kräfte, die noch zu stark erschienen; der politischen und ideologischen Gleichschaltung aller staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen (Militär, Verwaltung, ideologische Apparate); und der Anstrengungen zur Entwicklung des Landes und seiner Infrastruktur sowie der Sozialpolitik und eines gewissen sozialen Transfers.

Dieser letzte Aspekt der Herrschaftssicherung, der eher integrativ und unter Nutzung ökonomischer Anreize funktionierte, wurde erst dadurch zu einem wirksamen Instrument, dass dem Staat ab 1973 durch die plötzliche Steigerung des Ölpreises und die kurz zuvor erfolgte Verstaatlichung des Ölsektors umfangreiche zusätzliche Finanzmittel zuflossen. Dies erhöhte das Verteilungs- und Investitionspotential des Staates erheblich. Bis zum Ende der 1970er Jahre gelang dem Irak auf diese Weise eine repressive Stabilisierung, die von Ölgeldern abgestützt wurde.

Außenpolitisch verfolgte das Regime Saddam Husseins eine offensive Politik, sobald es die innenpolitische Stabilisierung für erreicht hielt, die militärische Aufrüstung (einschließlich der Produktion von Chemiewaffen) weit genug fortgeschritten war und sich in der Nachbarschaft entsprechende Gelegenheiten boten. Die »Islamische Revolution« im Iran schien eine solche Gelegenheit zu bieten, als das Land nach dem Sturz des Schah innenpolitisch und militärisch geschwächt war. Nach acht Kriegsjahren (1980-1988) konnte der Irak seinen Angriffskrieg militärisch zwar für sich entscheiden, war aber wirtschaftlich und infrastrukturell massiv geschwächt. Auch aus diesem Grund erfolgte bereits 1990 die nächste militärische Aggression gegen das benachbarte Ölland Kuwait.

In dieser historischen Phase stellte der Irak durch seine von militärischer Stärke gekennzeichnete offensive Machtpolitik eine Bedrohung der regionalen Stabilität dar. 1992 erklärte ein hochrangiger irakischer Diplomat dem Verfasser gegenüber: „Wir sind bereit, eine oder zwei Generationen Iraker zu opfern, um den Irak zu einem starken Land zu machen.“ Zu diesem Zeitpunkt war dieser Anspruch allerdings im Kern schon gescheitert, da der Irak gerade den Zweiten Golfkrieg (gegen die USA und zahlreiche Verbündete) verloren hatte und unter den internationalen Sanktionen litt, die das Land dauerhaft ausbluten ließen.

Faktor für regionale Instabilität nach 2003

Auch danach war der Irak eine Bedrohung für die regionale Stabilität – diesmal allerdings nicht aufgrund seiner Stärke, sondern aufgrund seiner inneren Schwäche. Der völkerrechtswidrige Krieg der USA unter George W. Bush hatte das Land 2003 einer amerikanischen Besatzungsbehörde unterworfen, die ursprünglich die Macht sofort an eine neue, US-dominierte irakische Regierung übertragen sollte. Allerdings existierte im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins keine politische Elite, der man die Regierungsgewalt hätte übertragen können. Der US-Krieg hatte aus einem überwältigend »starken« und repressiven Staat innerhalb kurzer Zeit einen »failed state« gemacht. Die staatlichen Strukturen des Landes brachen nach der Niederlage innerhalb weniger Tage zusammen und lösten sich auf, die Reste wurden von Washington im Zuge der »Entbaathifizierung« zügig liquidiert.

Da im Irak unter Saddam Hussein jeder Ansatz zur Bildung zivilgesellschaftlicher Organisationen oder Parteien brutal verhindert worden war, konnten sich solche lediglich im Exil (insbesondere schiitische Parteien in Iran), im Untergrund oder in der seit dem Zweiten Golfkrieg bestehenden kurdischen Autonomiezone im Norden des Landes entwickeln, und auch das nur ansatzweise. Mangels in der Gesellschaft verankerter politischer Organisationen war eine schnelle Machtübergabe durch die US-Besatzungsbehörden also gar nicht möglich. Als diese sich bald darum bemühten, andere Repräsentanten der irakischen Gesellschaft zu finden, um mittelfristig Partner bei der Verwaltung des Landes aufzubauen, setzten sie auf Vertreter »der« Schiiten, Sunniten, Kurden und anderer Gruppen, da die Gesellschaft ja aus diesen Gruppen bestehe. Dies führte dazu, dass es für Personen und Gruppen höchst vorteilhaft wurde, sich besonders »schiitisch«, »sunnitisch«, »kurdisch« oder »christlich« zu geben, da sie nur so direkten oder indirekten Zugang zu politischer Macht erhalten konnten.2 War früher die Zugehörigkeit zu konfessionellen Gruppen häufig eher sozial und kulturell als religiös bedeutsam (so war die Kommunistische Partei die politische Heimat der Schiiten, aber sicher nicht aus religiösen Gründen), kam es nun zu einer Art Wettrennen, wer denn »sunnitischer« oder »schiitischer sei – wobei die religiösen schiitischen Parteien, die im Exil und Untergrund am ehesten überlebt hatten, beträchtliche Positionsvorteile besaßen. So wurde eine Welle der Konfessionalisierung und Ethnisierung der irakischen Gesellschaft in Gang gesetzt, die bald wesentlich zur Eskalation des Bürgerkrieges (bis zu 3.500 Tote pro Monat zur Jahreswende 2006/2007) und zur dauerhaften Destabilisierung des Irak beitrug.

Dieser Bürgerkrieg war durch unterschiedliche Faktoren gekennzeichnet, u.a. die folgenden:

  • die Vertiefung sunnitisch-schiitischer Konflikte durch Terroranschläge extremistischer Gruppen auf Zivilisten der jeweils anderen Seite sowie durch einen weitgehenden Ausschluss sunnitischer Politiker von der Macht durch eine arabisch-schiitisch/kurdische Allianz,
  • der Kampf gegen die US-amerikanischen Besatzungstruppen und
  • ein regionaler Jihad, der Kämpfer aus anderen arabischen Ländern (z.B. Jordanien, Jemen, Syrien, Libyen) in den Irak zog.

Diese drei Faktoren hatten Folgen für die gesamte Region.

Der Wettbewerb um regionale Dominanz zwischen Saudi-Arabien und dem Iran führt nach dem Ausscheiden der irakischen Konkurrenz unter Saddam Hussein, die sich arabisch-nationalistisch gegeben hatte, häufig zu sunnitisch-schiitischen Spannungen, zu denen der konfessionalisierte Bürgerkrieg im Irak deutlich beitrug. Der jihadistische Kampf gegen die USA verkomplizierte die Situation weiter: Einerseits wurde er vor allem von salafistischen Kräften betrieben, die ideologisch dem saudi-arabischen Wahabitentum nahe standen und die Schiiten entweder als Ketzer oder ihnen gar die Zugehörigkeit zum Islam absprach. Zugleich richtete sich der Jihadismus auf der politischen Ebene gegen das saudische Königshaus und seine Verbündeten.

Sunnitisch-schiitische Konkurrenzsituation

Dies und die anti-amerikanische Stoßrichtung sunnitischer Extremisten kam dem Regime im Iran eigentlich entgegen. Grundsätzlich aber sieht der Iran den Salafismus als theologische und politische Bedrohung, nicht nur weil er seit längerem im belutschischen Südosten seines Landes einer Terrorkampagne sunnitischer Extremisten ausgesetzt ist. Der Iran hatte daher wie die säkulare syrische Diktatur das Interesse, den sunnitischen Extremismus zurückzudrängen. Gleichzeitig wollten beide, der Iran und Syrien, die Lage im Irak nutzen, um die USA dort unter Druck zu halten und sich selbst zu schützen: In den USA diskutierten neokonservative Kräfte unter George W. Bush offen, ob das US-Militär nach dem Sturz Saddam Husseins nicht auch gegen Syrien oder den Iran vorgehen solle. Eine dauerhaft instabile Situation und die Bindung beträchtlicher US-amerikanischer Kräfte und Ressourcen im Irak war daher für Syrien und den Iran ein nahe liegendes Ziel politischen Handelns.

In dieser Hinsicht war insbesondere der Iran ausgesprochen erfolgreich: Der US-Krieg gegen Saddam Hussein schaltete nicht nur einen traditionellen Gegner des Iran aus und eröffnete Teheran beträchtliche Einflussmöglichkeiten im Irak3 – insbesondere über die nun dominierenden schiitischen Parteien, die seit ihrer Exilzeit über gute Beziehungen zum Iran verfügen –, sondern er fügte den USA auch hohe Verluste, letztlich sogar eine politische Niederlage zu, die die westliche Position in der Region deutlich schwächte. Als Ende 2011 schließlich die letzten US-Soldaten aus dem Irak abzogen und der politische US-Einfluss dort schnell und dramatisch abnahm, war dieser Prozess weitgehend abgeschlossen.4 Die Reduzierung des Personals der umfangreichen US-Botschaft in Bagdad um Zweidrittel im Laufe dieses Jahres ist Ausdruck des schwindenden Einflusses, ebenso wie die Bitte des US-Außenministers bei seinem Besuch in Bagdad, der Irak möge über sein Staatsgebiet keine iranischen Waffenlieferungen an Syrien mehr zulassen. Noch wenige Jahre zuvor wäre eine solche Bitte nicht nötig gewesen.5

Heute ist der Irak kein aktiver Exporteur von Instabilität mehr, auch wenn er eine Zeit lang die Funktion eines »Durchlauferhitzers« für jihadistische Gruppen gespielt hatte, vergleichbar mit Afghanistan in den 1980er Jahren. Der Irak ist auch zehn Jahre nach dem Krieg und sechs Jahre nach dem langsamen Abflauen des Bürgerkrieges instabil und fragil. Das Gewaltniveau nimmt in den letzten Monaten erneut zu. Mit ein Grund dafür sind die diktatorischen Allüren von Ministerpräsident Maliki und seine neue anti-sunnitische Wende, was von jihadistischen Gruppen gleich ausgenutzt wird. Auch das Verhältnis zwischen der kurdischen Autonomieregierung und der Regierung Maliki ist schwieriger geworden.

Der Irak ist schon lange nicht mehr in der Lage, die regionale Stabilität durch seine Stärke und seinen Expansionsdrang zu bedrohen, aber er ist inzwischen auch nicht mehr so schwach, dass er dies durch seine Schwäche täte. Die interne und regionale Instabilität stellt heute vor allem ein Problem für die irakische Bevölkerung dar, und der Irak leidet darunter, dass er in die regionale sunnitisch-schiitische und die saudisch-iranische Konkurrenz verwickelt ist.

Neue Instabilität durch syrischen Bürgerkrieg

Dabei spielt eine erhebliche Rolle, dass der Irak Anrainerstaat zu Syrien ist. Aufgrund seiner zunehmenden Konfessionalisierung wird der syrische Bürgerkrieg im Irak vor allem aus der Perspektive der jeweils eigenen konfessionellen Zugehörigkeiten betrachtet. Die an den Rand gedrängte sunnitische Gemeinschaft sympathisiert mit den sunnitischen Aufständischen in Syrien, und insbesondere die irakischen (und verbliebenen ausländischen) Jihadisten im Irak bemühen sich, die salafistischen Elemente des dortigen Aufstandes zu unterstützen. Dabei geh es nicht nur um das Einsickern von Kämpfern und die Lieferung von materieller Unterstützung und Waffen nach Syrien. Inzwischen kam es sogar zu einem punktuellen Übergreifen des syrischen Bürgerkrieges auf den Irak, etwa als 40 syrische Soldaten, die bei schweren Gefechten über die Grenze geflohen waren, und ca. sieben sie zurückeskortierende irakische Soldaten Anfang März 2013 in einen Hinterhalt von al Kaida gerieten und getötet wurden.

Die Regierung in Bagdad und die kurdischen Parteien hingegen verfolgen eine Politik der wohlwollenden Neutralität gegenüber der Assad-Diktatur. Dies ist offensichtlich nicht aus politischer Sympathie der Fall – nachdem das eigene baathistische Regime überwunden wurde, besteht wenig Anlass, dem syrischen Baathismus gegenüber freundlich zu sein. Allerdings wird befürchtet, ein erfolgreicher Aufstand in Syrien wäre sunnitisch dominiert und jihadistische Gruppen könnten an Einfluss gewinnen, was destabilisierend auf den Irak zurückwirken würde. Daher leistet der Irak eine gewisse, diskrete Unterstützung der syrischen Regierung, verbirgt diese aber hinter offizieller Neutralität.

Gegenwärtig ist in der Region also weniger der Irak die Quelle von Instabilität, sondern Syrien, dessen Bürgerkrieg sich stark auf alle Nachbarländer auswirkt: In der libanesischen Innenpolitik ist dies besonders greifbar; aufgrund von Flüchtlingsströmen und politischen Erwägungen gilt dies auch für Jordanien und die Türkei. Dazu kommen erste militärische Auseinandersetzungen mit Israel, das von syrischer Seite mit Kleinwaffen und vermutlich mit Artillerie beschossen wurde und in mindestens einem Fall darauf mit gleichen Mitteln reagierte. Darüber hinaus kam es bereits zu zumindest einem israelischen Luftangriff auf Syrien.

Libyenkrieg und Waffenschmuggel

Eine Betrachtung der regionalen Stabilitäts- bzw. Instabilitätsfaktoren muss zumindest knapp auch die Folgen der internationalen Libyenintervention einbeziehen.6 Der neu aufzubauende libysche Staat zeichnet sich durch extreme Schwäche aus; zahlreiche Milizen, Stämme und Regionen hingegen agieren aus einer Position der Stärke. Dies führte dazu, dass nach der Plünderung zahlreicher Waffenlager des Gaddafi-Regimes vielfältig verfügbares militärisches Gerät und Waffen in erheblichem Umfang Richtung Süden und Südwester gelangte, insbesondere nach Mali und dessen Nachbarländer, bis hin zu Boko Haram in Nigeria. Somalische Piraten sind über Umwege ebenfalls beliefert worden. Libysche Waffen gelangen auch nach Ägypten und insbesondere auf den Sinai, von wo sie auch in den Gaza-Streifen und nach Syrien weitergereicht werden – sicher kein Zeichen regionaler Stabilität. Wenn manche der »offiziellen« Waffenlieferanten der syrischen Aufständischen (Saudi-Arabien, Katar) und Regierungen, die dabei logistische Hilfe leisten (Jordanien, Türkei) unter westlichem Druck nun stärker darauf achten wollen, dass ihre Unterstützung nicht jihadistischen Gruppen in Syrien zugute kommt, können solche Bemühungen leicht unterlaufen werden: Libysche Extremisten könnten Waffen aus den alten Beständen Gaddafis an ihre syrischen Gesinnungsgenossen liefern. Das könnte dann wieder auf den Irak zurückwirken.

Mehr regionale Instabilität

Insgesamt ist die regionale Instabilität im Nahen und Mittleren Osten in den letzten Jahren deutlich gewachsen. Der weiterhin fragile Irak ist dabei inzwischen nur in geringem Maße der Exporteur von Instabilität, eher ein Importeur. Seine Widerstandskraft gegenüber weiterer Gewalt, Fragmentierung und Instabilität ist aufgrund der seit dem Krieg nie überwundenen internen Dauerkrise eher gering einzuschätzen. Im Zentrum der Instabilität steht gegenwärtig Syrien, um das sich die anderen akuten und potentiellen Regionalkonflikte – im Libanon, der Nahostkonflikt, die offene, grenzüberschreitende Kurdenfrage, die Instabilität des Irak, die Spannungen an der syrisch-türkischen und z.T. syrisch-israelischen und syrisch-jordanischen Grenze und die saudi-arabisch-iranische Konkurrenz – gruppieren.

Anmerkungen

1) Zur Geschichte des Irak bis zum Ersten Golfkrieg siehe: Marion Farouk-Sluglett und Peter Sluglett (1987): Iraq Since 1958: From Revolution to Dictatorship, London.

2) Jochen Hippler, Von der Diktatur zum Bürgerkrieg – Der Irak seit dem Sturz Saddam Husseins. In: Jochen Hippler (Hrsg.) (2008): Von Marokko bis Afghanistan – Krieg und Frieden im Nahen und Mittleren Osten. Hamburg, S.92-109; online unter jochenhippler.de.

3) Mohsen M. Milani (2011): Iran’s Strategies and Objectives in Post-Saddam Iraq. In: Henri J. Barkey, Scott B. Lasensky, and Phebe Marr (eds.): Iraq, Its Neighbors, and the United States. Washington S.73-87.

4) Für eine intelligente politikorientierte Diskussion der US-Politik kurz vor dem Abzug siehe: Kenneth M. Pollack et al. (2011): Unfinished Business — An American Strategy for Iraq Moving Forward. Washington.

5) Jochen Hippler: Zum Zustand des Irak beim Abzug des US-amerikanischen Militärs. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Band 5, Heft 1 (2012), S.61-71.

6) Siehe dazu ausführlicher Jochen Hippler: Change in the Middle East – Between Democratization and Civil War: A Short Introduction; im Erscheinen.

PD Dr. Jochen Hippler ist Politikwissenschaftler und Friedensforscher und arbeitet seit 2000 am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen.