Wir können nichts mehr für euch tun

Wir können nichts mehr für euch tun

Medizinische Auswirkungen der amerikanischen Atombomben-Einsätze in Hiroshima und Nagasaki

von Wolfgang Köhnlein

Das Jahr 1995 ist ein denkwürdiges Jahr, wir erinnern uns an die Entdeckung der Röntgenstrahlung vor 100 Jahren und an die Atombomben-Explosionen vor 50 Jahren. In diesen Wochen jährte sich darüber hinaus der bisher größte Reaktorunfall des Atomzeitalters zum neunten Mal. Dabei denkt man natürlich sofort an die Unfälle in Windscale 1957, Harrisburg 1979 und die nie ganz aufgeklärten Nuklearkatastrophen in der Sowjetunion in den späten fünfziger Jahren. Es ist nur wenige Wochen her, da erlebten wir den ersten Transport eines Kastorbehälters von Philippsburg nach Gorleben.

Wenn ich heute über die Auswirkungen atomarer Explosionen auf die Gesundheit des Menschen und seine Umwelt sprechen soll, so wird das kein schöner und erbaulicher Vortrag. Ich muß über schlimme und schreckliche Dinge berichten, und ich habe mich bei der Vorbereitung auf diesen Nachmittag oft gefragt, ob es richtig ist, dies alles wieder hervorzukramen, all das Elend und Leid, das durch die Atombombenexplosionen ausgelöst wurde und das bis heute noch nicht beendet und abgeschlossen ist. Noch heute erkranken Menschen an Krebs und sterben daran, die vor 50 Jahren der Atombombenstrahlung ausgesetzt waren. An all die menschenverachtenden Handlungen der siegreichen Amerikaner in Japan, mit ihren Untersuchungen an den Atombombenüberlebenden, an die sich anschließende Eskalation in der Atomwaffenproduktion.

Ist es denn sinnvoll, über die Folgen eines Nuklearkrieges zu referieren? Die Ost-West-Konfrontation ist überwunden – ist sie es wirklich? Einen nuklearen Holocaust wird es nicht geben! Warum also darüber sprechen? Sind nicht andere Probleme viel dringlicher? Etwa die ethnischen Kriege in Afrika oder der Völkermord vor unserer Haustür in Jugoslawien? Doch ist mit der Beendigung der Ost-West-Konfrontation auch das Problem der Atombombenarsenale gelöst? Droht wirklich keine Gefahr? In den zurückliegenden Jahrzehnten sind diese Arsenale geradezu paranoid angefüllt worden. Das Zerstörungspotential hat unfaßbare Dimensionen angenommen. Ein ganz geringer Teil davon ist bis heute »entschärft« worden.

Angesichts dieser Perspektiven ist es vielleicht doch sinnvoll, daran zu erinnern, was zwei kleine reichlich primitive Atombomben vor 50 Jahren bereits für Unheil und Elend über eine zivile Bevölkerung gebracht haben. Darüber hinaus sollte daran erinnert werden, mit welcher Bedrohung wir gelebt haben und leben.

Eigentlich blieben in allen kriegerischen Auseinandersetzungen der früheren Jahrhunderte die Kampfhandlungen nicht auf die Truppen beschränkt. Schon immer wurden von der zivilen Bevölkerung hohe Opfer verlangt. Diese Tendenz hat sich in den Kriegen dieses zu Neige gehenden Jahrhunderts zunehmend verstärkt. Die immer schlimmere Brutalisierung und Automatisierung der Kampfhandlungen mit dem Ziel der physischen Vernichtung des Gegners wird durch die modernen Kriegstechnologien und Strategien begünstigt. Die Achtung vor dem Leben und Ehrfurcht vor der Schöpfung werden nur noch sehr partiell in das Kalkül der strategischen Überlegungen einbezogen. Ich denke an den zweiten Weltkrieg, an Uganda oder Jugoslawien.

Seit den Schrecken und Leiden, die die Bomben über Hiroshima und Nagasaki ausgelöst haben, ist das nukleare Zerstörungspotential ins geradezu Groteske gesteigert worden und hat Elend, Not und Hunger über viele Länder gebracht, weil finanzielle, intellektuelle und natürliche Ressourcen divertiert wurden. Die Menschheit ist in der Lage, die Grundlagen ihrer Existenz und damit sich selbst zu vernichten.

Ich glaube, daß Naturwissenschaftler und Ärzte in dieser Situation sich ihrer großen Verantwortung bewußt werden müssen. Wir müssen unsere Intelligenz, unser Wissen und unsere Weisheit einsetzen, um die Massenvernichtungswaffen zu ächten und das spaltbare Material von dieser Erde zu verbannen. Die dabei anstehenden Probleme sind offensichtlich von Politikern alleine nicht zu bewältigen, sie brauchen unsere Hilfe.

Ich persönlich sehe eine Möglichkeit dazu, indem ich mein Wissen über die Auswirkungen von Kernexplosionen nicht für mich behalte, sondern weitergebe und damit Aufklärung betreibe. Ich habe selbst erfahren, daß das Ausmaß einer Nuklearkatastrophe für den Menschen nicht faßbar ist. Unser Vorstellungsvermögen reicht dafür nicht aus. Aufgewachsen in einer Periode des 50-jährigen Friedens und Wohlstands sträubt sich unser Intellekt vor einer solchen Realität, und wir begegnen einer Nuklearkatastrophe mit Verdrängung.

Vielleicht ist das ja auch die einzige Möglichkeit, in einer Situation mit mehr Sprengstoff pro Mensch als Nahrungsmittel – und das weltweit – nicht den Verstand zu verlieren.

Ich will durch meine Ausführungen Ihnen heute darlegen, welche schlimmen Auswirkungen die Atombomben auf die Bevölkerung von Hiroshima und Nagasaki hatten, welche Konsequenzen für die medizinische Forschung daraus folgten, wie bereits von 1945 an das wahre Ausmaß der Katastrophe durch die offiziellen politischen und militärischen Stellen verschleiert wurde und wie das Schicksal der Atombombenüberlebenden zur Grundlage der internationalen Richtlinien für den Strahlenschutz wurde.

Eine gewisse Strukturierung meines Vortrags ist bereits durch das Thema gegeben. Ich möchte dennoch eine kurze Gliederung vorstellen. Ich werde zunächst etwas über die Energie, die bei einer Atombombenexplosion freigesetzt wird, sagen und dann auf die akuten medizinischen Folgen eingehen, die an der japanischen Bevölkerung beobachtet wurden. In einem weiteren Abschnitt möchte ich die medizinischen Langzeitfolgen beschreiben.

Unmittelbare medizinische Folgen der Kernexplosionen

Vergegenwärtigen wir uns zunächst, daß die Bomben in Japan nach heutiger Vorstellung kleine Atombomben waren. Sie hatten eine Sprengkraft von 15 kt bzw. 22 kt TNT. Moderne Atombomben besitzen eine Zerstörungsgewalt im Megatonnenbereich.

Will man eine Megatonne TNT mit der Eisenbahn transportieren, so benötigt man einen Güterzug von ca. 400 km Länge. (Bochum bis Mannheim). Mit dem Energieinhalt einer Megatonne kann man eine Million Tonnen Eis in überhitzten Dampf verwandeln.

Wenn eine Kernwaffe explodiert, wird eine gewaltige Menge Energie freigesetzt. Wo kommt diese Energie her? In welcher Zeit wird sie freigesetzt? In welcher Form tritt sie in Erscheinung? Was bewirkt diese Energie? Wo kommt die Energie her?

In schweren Atomkernen sind die Kernbausteine (Protonen und Neutronen) weniger stark gebunden als in Kernen mittleren Atomgewichts. Wird ein Urankern gespalten, so ist die Bindungsenergie in den Spaltkernen größer als im Ausgangskern. Jedes Nukleon hat kinetische Energie verloren, die nun in der kinetischen Energie der Spaltkerne nach außen in Erscheinung tritt.

Wird ein Uran235-Kern gespalten, so werden im Durchschnitt 200 MeV Energie und zusätzlich zwei bis drei Neutronen freigesetzt, die ihrerseits Uran235 oder Plutonium239 spalten können (Kettenreaktion). Bei jeder Spaltung verdoppelt sich die Anzahl der Neutronen. In Uran235 sind 6×1023 Kerne. Will man alle spalten, so braucht man 6×1023 Neutronen.

Wie viel Zeit braucht man, um so viele Neutronen durch eine Kettenreaktion herzustellen? Wenn wir mit einem Neutron starten, dann benötigen wir 79 Verdopplungsschritte. Die Neutronen haben fast Lichtgeschwindigkeit. Sie gelangen von einem Urankern zum anderen in 10-11 sec. Die Zeit zur Spaltung aller Urankerne ist etwa 80 mal so lang, also 8×10-10 sec.

In welcher Form wird die Energie freigesetzt?

Dies hängt sehr vom Bombentyp ab. Wir müssen also verschiedene Bombentypen betrachten. Eine einfache Spaltbombe (Nagasaki-Typ) besteht aus etwa 10 kg Plutonium239 (Kugel mit Radius 10 cm). Das sind rund 2,5×1025 Plutoniumkerne. Wenn alle gespalten werden, wird eine Energie von 6×1027 MeV oder 6×1014 Joule freigesetzt. In Wirklichkeit werden nur ca. 10% der Kerne gespalten, also rund 6×1013 Joule freigesetzt.

Wenn so viel Energie in einem so kleinen Volumen frei wird, dann erhitzt sich das Volumen auf 108C und es entsteht ein Überdruck von 100 Millionen Atmosphären.

Neben den reinen Spaltbomben gibt es die thermonuklearen Bomben, die auch Wasserstoffbomben genannt werden. Es sind Fusionsbomben mit einem Spaltbombenzünder. Bei der Fusion wird ebenfalls viel Energie frei und außerdem sehr schnelle Neutronen, die sogar Uran238 spalten können. Das führt zur Spaltungs-Fusions-Spaltungsbombe.

Eine thermonukleare Waffe ohne den äußeren Uran238-Mantel ist eine Bombe mit besonders hoher Neutronenstrahlung (Neutronenbombe). Der Spaltungsprozess führt zu einer extrem heißen, sich rasend schnell ausbreitenden Masse von radioaktiven Kernfragmenten.

Dieser Feuerball dehnt sich schnell aus. Zwei Mechanismen sind dafür verantwortlich.

1. Der Feuerball emittiert Gamma- und Röntgenstrahlung, die die umgebende Luft so stark erhitzen, daß sie für Röntgenstrahlung transparent wird. Weitere Schichten werden dadurch exponiert, die dann UV- und sichtbares Licht emit tieren.

2. Der unwahrscheinlich hohe Druck innerhalb des Feuerballs komprimiert die umgebende Luft plötzlich, dadurch wird die Luft extrem erhitzt, so daß sie leuchtet.

In der ersten Sekunde nach der Explosion breitet sich ein glühender überhitzter Luftwall und ein gigantischer Strahlenpuls, dessen Strahlung sich von Röntgenlicht über UV- und sichtbares Licht zu thermischer Infrarot-Strahlung ändert, vom Detonationspunkt her aus und verschlingt alles, was in seinem Weg steht.

Bei Testexplosionen in der Wüste von Nevada hat man an Häusern, die mit dem in Japan üblichen Baumaterial erstellt wurden, die Wirkung von Hitze- und Druckwelle untersucht. Bei einer 15 kt Explosion entzündet sich ein rund 1200 m vom Explosionsort entferntes Haus fast augenblicklich und wird bereits 2,3 sec später durch die Druckwelle völlig zerstört.

Was bewirkt die plötzlich freigesetzte Energie?

Der sich ausdehnende Feuerball erzeugt eine Reihe physikalischer Phänomene:.

1. Hitzestrahlung

2. unmittelbare radioaktive Strahlung (Gamma, Neutronen)

3. Schockwellen mit Überdruck

4. Explosionskrater

5. Erdbeben

6. Elektromagnetische Pulse

7. Radioaktivität (»Fall-out«)

8. Zerstörung der Ozonschicht

Während Hitzestrahlung, unmittelbare radioaktive Strahlung und Fallouteffekte von meteorologischen Bedingungen abhängig sind, ist das bei der Überdruck-Schockwelle weniger der Fall.

Die akuten, durch Atombombenexplosionen hervorgerufenen Verletzungen kann man einteilen in Verbrennungen, mechanische Verletzungen (Knochenbrüche, innere Verletzungen, große Wunden, durch umherfliegende Trümmer verursacht) und Strahlenschäden. Am häufigsten kamen in Hiroshima und Nagasaki Kombinationen dieser Verletzungen vor. Viele Menschen starben sofort an dem unmittelbaren Druck und an den Hitzewirkungen. Andere erlagen den Verbrennungen und Wundtraumata, bevor sich ein akutes Strahlensyndrom ausbilden konnte.

Sehr viele Menschen wären an den Strahlendosen gestorben, wenn sie die Verbrennungen und Verwundungen überlebt hätten. Fast alle Menschen, die innerhalb der ersten zehn Wochen nach der Bombe starben, zeigten die Symptome der akuten Strahlenkrankheit. Die strahleninduzierte Zerstörung des Knochenmarks war hier der kritische Strahlenschaden, der zum Tode führte. In diesen Fällen ist die verminderte Anzahl der Leukozyten und Plättchenzellen im Blut Grund für erhöhte Infektionsgefahr und innere Blutungen, die dann die Haupttodesursachen waren.

Verletzungen durch die Hitzewelle

Die Hitzestrahlung breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus und erreicht ihr Ziel noch vor der Druckwelle. Die durch die Explosion erzeugte Hitze hatte in der Nähe des Hypozentrums eine Temperatur von 3000 – 4000C. Die Hitzewelle war kurz, etwa eine sec. lang. In etwa zwei km Entfernung betrug die Temperatur »nur noch« 500 – 600C. Diese intensive Wärmestrahlung erzeugte direkte Verbrennungen, aber auch indirekt durch entzündete Feuer. Alle Menschen, die sich im Freien innerhalb 4 km vom Hypozentrum aufgehalten hatten, erlitten Verbrennungen, zum Teil schwere Verbrennungen.

Menschen innerhalb eines Kilometers verdampften oder verkohlten. Auch Menschen, die sich in Gebäuden aufhielten, erlitten teilweise schwerste Verbrennungen durch die heißen Gase und glühenden Staubmassen, obwohl sie der direkten thermischen Strahlung nicht ausgesetzt waren.

Während die direkten Verbrennungen nur auf der dem Explosionsball zugewendeten Körperseite zu finden sind, treten die indirekten Verbrennungen an allen Körperseiten auf. Sie dringen tiefer ein als die Blitzverbrennungen. Unterschiede im Heilungsprozess dieser Verbrennungsarten wurden offenbar nicht beobachtet. In Hiroshima und Nagasaki waren die Verbrennungen extrem häufig, denn viele Menschen befanden sich zum Zeitpunkt der Explosion auf dem Weg zur Arbeit. Verbrennungen waren die Haupttodesursache am Tag der Bombenexplosion. Viele, die durch die Druckwelle verletzt wurden, waren unfähig, der Feuerwelle und dem Feuersturm, der noch viele Stunden nach der Explosion wütete, zu entfliehen. Verbrennungen wurden selbst unter der Kleidung noch 2,5 km von Hypozentrum entfernt hervorgerufen.

Bei Menschen, die sich im Augenblick der Explosion vier km vom Zentrum im Freien aufhielten, wurden noch leichte Verbrennungen festgestellt. Die Befunde von Hiroschima und Nagasaki über die Verbrennungen sind recht ähnlich. Blitzverbrennungen 1. Grades wurden noch bei Personen, die fünf km vom Epizentrum in Nagasaki entfernt waren, festgestellt.

Bei einer Energiedichte von:

12 Joule/cm² Verbrennungen 1. Grades

35 Joule/cm² Verbrennungen 2. Grades

20 Joule/cm² Blätter und Papier entzünden sich

60 Joule/cm² Möbel, Kleider, Gardinen brennen

Viele Menschen, die in den Feuerball blickten, erblindeten, teilweise vorübergehend. Nach dem Verheilen der schweren Verbrennungen wurde häufig eine Wucherung des Narbengewebes beobachtet, besonders bei Überlebenden aus der 2,5 km Zone. Diese Keloide genannten Wucherungen entstellten die Opfer und führten unter anderem zu einer sozialen Ausgrenzung der Hibakusha (Überlebende der Atombombenabwürfe).

Aus der 1,5 km Zone gab es fast keine Überlebenden mit Verbrennungen. Die Überlebenden, die es aus dieser Zone gab, waren offensichtlich vor der direkten Wärmestrahlung und der Atomstrahlung geschützt, denn sie hielten sich in Kellern oder Schutzräumen auf.

Verletzungen durch die Druckwelle

Im allgemeinen wird jedes Gebäude, das nicht speziell für eine besondere Druckresistenz gebaut ist, zerstört, wenn es einem Überdruck von fünf oder mehr p.s.i. (entsp. 35 kPa) ausgesetzt ist. Gebäude, die bei diesem Druck nicht zusammenstürzen, werden jedoch so geschädigt, daß eine Reparatur nicht mehr möglich ist.

Drucke werden in verschiedenen Dimensionen angegeben. Zur Umrechnung dient die folgende Gleichung: 1 p.s.i.=70 g/cm2=700 kg/m² ; 5 p.s.i.=3,5 t/m2=35 kPa

Der durch die Bombe erzeugte Explosionsdruck lag in Japan bei 35 bis 55 kPa am Hypozentrum.

Die Explosion besteht aus zwei Phasen: Kompression und Unterdruck. Die Kompressionsphase dauerte 1 bis 2 sec. Die mechanischen Verletzungen, hervorgerufen durch die Druckwelle, sind direkt aber häufiger indirekt. Hauptsächlich werden sie durch einstürzende Gebäude und durch mit hoher Geschwindigkeit umherfliegende Trümmer verursacht. Da der menschliche Körper höhere Drucke aushalten kann als die meisten Gebäude, wurden die meisten Opfer der Druckwelle durch indirekte Effekte bedingt, aber auch dadurch, daß Menschen von der Druckwelle erfaßt, zu Boden geschleudert oder auf feste Strukturen geworfen wurden. Dagegen gab es weniger Opfer in den japanischen Holzhäusern. Menschen, die sich im Freien aufhielten, hatten am wenigsten unter der Druckwelle zu leiden. Wir beobachten also hier genau die entgegengesetzte Reihenfolge als bei den Verbrennungen. Feste Gebäude und Wände bedeuteten also das größere Risiko, besonders in dem dem Hypozentrum nahen Bereich. Bei den Überlebenden waren alle Arten von Verletzungen zu finden. Angefangen von kleineren Verwundungen bis hin zu schweren Quetschungen und Knochenverletzungen. Am häufigsten waren die Verletzungen durch Glassplitter und herabfallende Trümmer.

Die Schwerverletzten hatten keine Chance zu überleben. Da fast keine ärztliche Hilfe unmittelbar nach der Explosion zur Verfügung stand – die meisten Krankenhäuser und Sanitätsstationen waren der Explosion zum Opfer gefallen, genauso wie die meisten im Gesundheitswesen tätigen Personen – und wegen der bald einsetzenden Leukopenie als Folge der Strahlenwirkung, führten bereits geringfügige Verletzungen und Wunden, die normalerweise schnell verheilt wären, zu schweren Infektionen. Die Druckwelle führte auch zu großen Schäden am Gehörorgan. Teilweise waren es Dauerschäden.

Aus den Erfahrungen der Explosionen in Hiroshima und Nagasaki hat die Atom-Energie-Kommission (AEC) das Konzept der Todeszone entwickelt. Dabei wird angenommen, daß auf der Fläche, die mindestens einen Überdruck von 35 kPa erhalten hat, die Anzahl der Überlebenden gleich der Anzahl der Opfer außerhalb dieser Fläche ist, die dann weniger Überdruck abbekommen hat. Diese Annahme ergibt dann die Sofort-Toten aus der Fläche und der Bevölkerungsdichte.

Die Wirkung der radioaktiven Strahlung

Obwohl die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki die erste Gelegenheit waren, um die Wirkung massiver Strahlendosen auf den Menschen zu beobachten, ist doch wenig über die schweren Strahlenverletzungen, die unmittelbar zum Tode führten, bekannt, weil die Fälle nicht autopsiert wurden. Weiterhin verhinderte die sehr hohe Zahl der Todesfälle und der schweren Verletzungen in den ersten Tagen nach der Bombe jede genaue statistische Auswertung der Strahlenwirkung. Außerdem war den überlebenden Ärzten unbekannt, daß es sich um radioaktive Strahlung handelte.

Bei einer 20 kt Atombombe ist die unmittelbare Strahlung in 1.000 m Entfernung in 2 sec. auf rund 80% des Gesamtwerts angestiegen (100%=50 Gray (Gy)). Bei 5 Mt in 2,3 km Entfernung dauert es rund 8 sec. (100%=400 Gy). Selbst wenn man zum Zeitpunkt der Explosion in einen tiefen Schützengraben springen könnte, hätte man bereits 40 Gy im ersten Fall und 90 Gy im zweiten Fall abgekriegt. Beide Dosen sind absolut tödlich.

Die Symptome der Strahlenkrankheit bei Opfern, die drei Wochen nach der Bombe noch am Leben waren, sind etwas genauer erfaßt worden. Man muß aber beachten, daß die Kriterien für die Diagnose der Strahlenschädigung nur sehr schwierig festzulegen sind, da die Schädigungen sich in vielen Fällen nicht unmittelbar manifestieren und bestimmte Symptome auch anderen Ursachen zugeschrieben werden können und damit das Bild weiter verkomplizieren. So waren die Menschen, die einer hohen Dosis ausgesetzt waren, natürlich auch im Bereich der Hitzewelle und der Druckwelle. Die psychische Belastung blieb ebenfalls nicht ohne Folgen.

Die klinischen Symptome

Die Überlebenden innerhalb eines Kreises von 1.000 m waren großen Dosen ausgesetzt. Nur die Menschen, die sich in geschützten Kellern aufhielten, waren weniger exponiert. Bei 1.000 m betrug die Dosis in der Luft noch ca. 4,5 Gy. Bei der Explosion einer 1 Mt Bombe führte die radioaktive Strahlung im Zentrum zu einer Dosis von 110 Gy und in 3 km noch 100 Gy. In Hiroshima führten die Dosen bis 4,5 Gy zu Haarausfall, Blutungen in das Hautgewebe und in die inneren Organe, zu Ulcerationen im Rachen, zur Zerstörung der Kryptzellen im Darm, zur Zerstörung des roten Knochenmarks und zum Verlust der Immunabwehr.

Chronologisch können die Symptome und Anzeichen folgendermaßen zusammengefaßt werden:

Die Phasen des Strahlensyndroms

Phase I Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit für einige Tage

Phase II Vorübergehende Besserung. Die Dauer ist der Dosis umgekehrt proportional.

Phase III Fieberanfälle mehrere Wochen lang, Haarausfall, Ulceration der Schleimhäute, Infektionen, innere Blutungen, Durchfälle

Phase IV Entweder Verschlechterung des Zustandes und Tod oder langsame Rekonvaleszenz mit möglicher Gesundung

In vielen Fällen wurde die zweite Phase der vorübergehenden Besserung nicht beobachtet. Bei Schwerverletzten begann die Fieberphase oft schon am 3. Tag mit schweren Durchfällen, bis der Tod eintrat. Bei leichter Verletzten wurde der Haarausfall etwa 10 bis 14 Tage nach der Bombe beobachtet, gleichzeitig begann die Fieberphase und bald darauf traten die inneren Blutungen und Schleimhautschäden auf. Die Schwere der jeweiligen Schäden war dosisproportional. Wer mit Dosen um 4,5 Gy und mehr bestrahlt wurde, verstarb innerhalb zwei Wochen. Weniger hoch, aber immer noch mit letalen Dosen bestrahlte Menschen starben unter entsetzlichen Qualen und im Delirium in der 6. bis 8. Woche nach der Bombe.

Klinischer Verlauf und Prognose

Grobe Abschätzungen sagen, daß rund 200.000 bis 250.000 Menschen innerhalb der ersten 8 Wochen nach der Bombe umkamen. Davon sind rund 50% in den ersten 6 Tagen gestorben und 96% in den ersten 3 Wochen. Man kann sich denken, welche Probleme allein die Beseitigung der Leichen aufgab. Da Vielfach-Verletzungen (Hitze, Druck, Strahlung) besonders häufig vorkamen, war die Todesursache in vielen Fällen unbekannt, dies gilt vor allem für die Opfer, die innerhalb der ersten 3 Wochen starben.

Doch zeigten gerade diese fast durchweg die Symptome der Strahlenkrankheit. Natürlich trugen auch die Verbrennungen und Verletzungen dazu bei, daß viele nicht überleben konnten. Die meisten Menschen, die innerhalb der ersten 2 bis 3 Wochen starben, hatten auch abnorm veränderte Blutbilder. Der klinische Verlauf und die Prognosen waren sehr unterschiedlich wegen der unterschiedlichen Verletzungsursachen (Hitze, Druck, Strahlung). Genaue Dosis-Wirkungsbeziehungen beim Menschen sind nicht bekannt, selbst bei homogener Ganzkörperbestrahlung. So kann man nur eine Einteilung in verschiedene Gruppen machen:

Gruppe 1: Dosisbereich bis 6 Gy, bereits nach 2 Wochen keine Überlebenden, Gruppe 2: 3 bis 4 Gy, nach 3 bis 6 Wochen nur noch 50% Über lebende, Gruppe 3: 2 bis 3 Gy, nach 6 Wochen rund 90 % Überlebende, Gruppe 4: 1 bis 2 Gy, keine Todesfälle.

Anzahl der Opfer

Es gibt auch heute noch keine genauen Angaben über die Anzahl der Opfer. Das kommt zum einen daher, weil die Opfer nicht alle geborgen werden konnten, weil die Unterlagen über die damalige Bevölkerung mit zerstört wurden, und weil es keine Angaben mehr über die Soldaten und die koreanischen Zwangsarbeiter gibt, die im August 1945 in Hiroshima und Nagasaki stationiert bzw. dort gearbeitet haben. Die genaue Größe dieser beiden Gruppen ist unbekannt. Man weiß nur, daß es sehr viele waren.

Die Atomic Bomb Casuality Commission (ABCC), der in den Wochen und Monaten nach der japanischen Kapitulation vor allem daran gelegen war, daß keine Informationen über die verheerende Wirkung der Atombomben an die Weltöffentlichkeit drangen, die sogar verbot, das Wort »Atombombe« zu benutzen, gibt in ihren zunächst geheimen Berichten folgende geschätzte Zahlen an:

Hiroshima Nagasaki
60.000 41.000
Verbrennungsverletzte Verbrennungverletzte
78.000 45.000
Druckverletzte Druckverletzte
35.000 22.000
Strahlenverletzte Strahlenverletzte

Hämatologische Befunde

Verlust der Knochenmarkszellen als Bestrahlungsfolge ist eine sehr kritische Schädigung, die zum Tod führt. Ebenso wurde eine Abnahme der roten und weißen Blutzellen beobachtet. Es wurden aber in den ersten Tagen nach der Bombe nur wenig Knochenmarksuntersuchungen und Blutanalysen durchgeführt, da die überlebenden Ärzte mit anderen Aufgaben überlastet waren.

Auswirkung der Bestrahlung auf die Spermatogenese

Die Anzahl der Spermien ist stark reduziert in den Überlebenden. Diese Reduktion hält lange an und ist teilweise permanent. Ganz ähnliche Befunde wurden später auch bei den Überlebenden der Strahlenunfälle auf dem Bikini-Atoll beobachtet.

Hygienische Folgen

Die Erfahrungen in Hiroshima und Nagasaki zeigen, daß neben den mittelbaren und unmittelbaren Folgen der Kernexplosion auch die Zerstörung der sozialen Strukturen einhergeht. Neben den bereits beschriebenen Auswirkungen, die die Psyche der Überlebenden weit über die Grenzen des Erträglichen belastet, kommt die Aufgabe, die Opfer zu beerdigen, sanitäre Einrichtungen zu erstellen und den Ausbruch von Seuchen zu verhindern, die bei den ebenfalls geschwächten Überlebenden katastrophale Auswirkungen hatten. In Japan war diese Aufgabe teilweise zu lösen, weil noch eine partiell intakte Umwelt bestand, aus der Hilfe gebracht werden konnte. Diese Hilfe war natürlich gering, da Japan militärisch wie wirtschaftlich bereits durch die konventionelle Bombardierung der Städte am Ende war. Trotz dieser bald von außen eintreffenden Hilfe war in den Tagen und Wochen nach der Bombe in Hiroshima und Nagasaki eine enorme Insektenplage zu beobachten. Unzählige Fliegen quälten die Leidenden und Sterbenden, die zu schwach waren, sich zu wehren.

In den Wunden vieler Opfer fand man Maden. Die Kadaver der Haustiere, die überall herumlagen, boten den Insekten einen hervorragenden Boden zur Vermehrung. Die nur mit unzureichenden sanitären Mitteln versorgten Menschen bekamen Läuse, Infektionskrankheiten breiteten sich aus. Die Beerdigung der Toten wurde zu einem großen Problem. Überall verwesten Leichen und Tierkadaver in der Sommerhitze. Haustiere und Vögel litten unter dem Strahlensyndrom und verendeten. Die Versorgung der Kranken und Verwundeten überforderte die Möglichkeiten des Gesundheitssystems. Der Geruch von Tod und Verwesung lag über den Trümmern der Städte.

Medizinische Langzeitfolgen

Die katastrophalen Folgen hoher Bestrahlungsdosen haben wir kennengelernt. Was sind die Folgen kleinerer Dosen? Hier spielen die sogenannten stochastischen Strahlenwirkungen eine große Rolle. Damit sind die Veränderungen im Erbmaterial, also die Mutationen in den Zellen, gemeint. Finden diese in den Oozyten oder in den Spermien statt, so kann das zu veränderten, d.h. mutierten Individuen in der nächsten Generation führen. Sind dagegen die Körperzellen der Bestrahlten verändert, so kann es zu einer Krebserkrankung kommen, die erst viele Jahre später klinisch manifest wird.

Die Organisationen, die mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der medizinischen Folgen der Atombombenexplosion beauftragt waren, die ABCC und später die RERF, haben in langjährigen Studien zunächst etwa 135.000 Überlebende, deren Aufenthalt und Position zum Zeitpunkt der Bombe angebbar war, in eine Lebenszeitstudie aufgenommen, sie in verschiedene Dosiskohorten eingeteilt und immer wieder Teilergebnisse ihrer Analysen publiziert.

Dabei haben sie sich besonders der Frage der Kanzerogenität gewidmet. Genetische Folgeschäden und allgemeine Schwächung des Gesundheitszustandes waren nicht ihr Untersuchungsziel.

Das hatte zur Folge, daß solche Strahlenwirkungen, wenn sie bei den Fallout-Geschädigten oder anderen strahlenbelasteten Populationen beobachtet wurden, von den offiziellen Stellen nicht mit der Strahlung in Verbindung gebracht wurden, weil eben allgemeine Gesundheitschwächungen und genetische Folgeschäden in Hiroshima und Nagasaki nicht berichtet wurden.

So wurde in den Jahren 1950 bis 1965 fast nur in den höher exponierten Teilkohorten eine mit der Dosis zunehmende Krebsrate beobachtet. Da weitaus der größte Teil der in die Studie aufgenommenen Personen, nur mit Dosen unter 100 cGy belastet wurde und bei ihnen keine statistisch gesicherte Zunahme der Krebsrate zu beobachten war, glaubte man bis in die Mitte der siebziger Jahre, daß Bestrahlungen mit niedrigen Dosen, wie sie in der Nuklearindustrie oder bei medizinisch-diagnostischer Anwendung von Röntgenstrahlung auftreten, kein zusätzliches Risiko für die menschliche Gesundheit bewirken.

Inzwischen häuften sich aber die Berichte, daß auch kleine Dosen kanzerogene Wirkung haben. Aber die Autorität der RERF-Wissenschaftler und die politischen Kräfte hinter ihnen waren so mächtig, daß wissenschaftliche Ergebnisse über die Mutagenität und Kanzerogenität kleiner Dosen, die nicht mit den Japandaten übereinstimmten, als fehlerhaft und unglaubwürdig abgetan wurden.

Die Kritik an den Ergebnissen der RERF wurde immer lauter und wissenschaftlich immer fundierter. Dann zeigte sich, daß mit längerer Beobachtungsdauer auch in den niedrig belasteten Kohorten die Krebshäufigkeit signifikant erhöht war. Außerdem ergaben neuere Berechnungen und Messungen über die Strahlungsstärke der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki, daß man bisher die Dosen überschätzt hatte. Es wurde auch langsam klar, daß die Neutronendosen wegen der relativ hohen Luftfeuchtigkeit damals im August 1945 kleiner waren als angenommen.

Schließlich zeigte sich, daß die als unbestrahlt betrachtete Kohorte teilweise erhebliche Fallout-Dosen abbekommen hatte.

Nimmt man dies alles zusammen, so ergibt sich ein erheblich höheres Strahlenkrebsrisiko als bisher angenommen wurde. Die alten Vorstellungen sind aber immer noch die Grundlage für unserer Strahlenschutzverordung.

Mit Hilfe der publizierten Rohdaten der RERF haben verschiedene Wissenschaftlergruppen ebenfalls Risikoanalysen durchgeführt und sind zu wesentlich höheren Strahlenrisiken gekommen (siehe Tabelle).

Teilweise liegen diese Werte um den Faktor 10-20 über den Werten der RERF und sind vergleichbar mit den so lange geächteten Ergebnissen von Untersuchungen an anderen exponierten Personengruppen (Nukleararbeiter, Patienten, in utero exponierte Feten etc.) Diese Diskrepanz in einer eminent wichtigen Frage, in der die offiziellen Strahlenschützer so sehr auf Übereinstimmung bedacht waren, hat zu einer sehr heftigen Auseinandersetzung geführt, die noch lange nicht beendet ist. Doch zeichnet sich immer mehr ab, daß mit den Hiroshima/Nagasaki-Daten zu viel herum manipuliert wurde, nachdem die ersten Teilergebnisse vorhanden waren und damit eine der Grundregeln der epidemiologischen Forschung nicht beachtet wurde (keine Änderung der Ausgangsdaten, nachdem erste Ergebnisse vorliegen).

Ich persönlich habe große Bedenken, diese Daten auch weiterhin als die wesentlichen Grundlagen unserer Strahlenschutzgesetzgebung zu akzeptieren. (Die Bestrahlungsbedingungen in Japan sind nicht vergleichbar mit Expositionen am Arbeitsplatz. Die Strahlenqualität unterscheidet sich erheblich von diagnostischer Röntgenexposition.) Ich stehe damit nicht ganz alleine da, aber die Mehrheit der Strahlenbiologen, Radiologen und Anwender von Strahlung ist da anderer Auffassung.

Was kann man tun?

Gestatten Sie mir nach all den schrecklichen Tatsachen und Perspektiven, die ein ausgedehnter Einsatz von Atomwaffen mit sich bringt, einige Worte darüber, was wir aus dem Gehörten und Gesehenen eigentlich folgern müßten:

Was kann man tun, Herr Doktor? Wie oft haben Ärzte diese Frage gestellt bekommen, sei es von schwerkranken Patienten selbst oder von den Angehörigen angesichts unheilbarer Krankheit oder unerträglicher Schmerzen. Niemals ist es gerechtfertigt, eine solche Frage negativ zu beantworten. Niemals, denn selbst wenn nichts mehr getan werden kann, so können doch Schmerzen gelindert und Zuspruch erteilt und Trost gespendet werden. Können Ärzte auch keine Heilung mehr anbieten, so können sie doch immer noch den Kranken versorgen. Auch aus diesem Grunde genießen Ärzte Vertrauen. Die Menschen würden also sehr wohl aufmerken und zuhören, wenn Ärzte wie etwa die IPPNW einmütig und eindeutig aussprechen, daß nichts, aber auch gar nichts getan werden kann, um die physikalischen und psychologischen Wirkungen von Atombomben zu mildern oder erträglich zu machen. Eine thermonukleare Katastrophe ist ganz einfach nicht zu ertragen. Wer davon noch nicht überzeugt ist, sollte nur einmal die Berichte der wenigen überlebenden Ärzte aus Hiroshima und Nagasaki lesen. Die medizinischen Perspektiven müssen auch den Politikern klargemacht werden und wer könnte das besser als die Ärzte? Ich frage mich oft, woran die Physiker und Ingenieure denken, die diese Waffen entwickelt und ihren Einsatz logistisch vorgeplant haben! Die Zahlen der zu erwartenden Todesopfer bei verschiedenen nuklearen Szenarien können für den Militärstrategen durchaus unterschiedliche Bedeutung haben. Sie haben aber nur eine Bedeutung für den Arzt.

Was ist das für eine Sprache!: Da ist die Rede von nur 2 Millionen oder 20 Millionen Toten nach einem »chirurgischen« Angriff auf gewisse Ziele! Der Militärstratege sagt dann nach Substraktion der Toten, es wird immer noch soviel Millionen Überlebende geben. Ein Arzt weiß, welcher Aufwand erforderlich ist, um nur einen schwer brandverletzten oder einen Strahlenpatienten zu versorgen und kann leicht mit der Anzahl der Verwundeten und Hilfebedürftigen multiplizieren. Dieses sind die Perspektiven, die die Ärzte den Strategen vermitteln müssen. Noch vor 10 bis 15 Jahren machte das Wort vom begrenzten und führbaren und gewinnbaren Atomkrieg die Runde, was auch immer die strategischen Implikationen sein mögen, das ist aber absolut sinnlos in medizinischer Betrachtungsweise. Die heute von mir angesprochenen Perspektiven sind schon lange bekannt. Sie geraten aber zunehmends in Vergessenheit, besonders in einer Zeit des Friedens und der Entspannung.

Trotzdem müssen alle Anstrengungen darauf gerichtet sein, die noch vorhandenen nuklearen Zerstörungspotentiale zu vernichten. Nur durch den totalen Abbau der Kernwaffen werden die Führer der nuklearen Supermächte die Wahrscheinlichkeit verringern, daß nämlich eines Tages die überlebenden Ärzte zu den Opfern sagen müssen: Wir können nichts mehr für euch tun.

Anmerkung

Der Artikel basiert auf einem Manuskript eines Vortrages, den der Autor in der Vorlesungsreihe »50 Jahre Hiroshima« an der Ruhr-Universität Bochum am 30. Mai 1995 hielt.

Literatur

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300.000 deutsche Ärzte fordern Abschaffung aller Atomwaffen

Der 98. Deutsche Ärztetag 1995, der letzte Woche in Stuttgart tagte, forderte einstimmig die verantwortlichen Politiker auf, weltweit alle Atomwaffen abzuschaffen (Drucksache IV-25). Der Deutsche Ärztetag ist die Vertretung der 300.000 Ärztinnen und Ärzte in der Bundesrepublik Deutschland.

50 Jahre nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, an denen mindestens 100.000 Menschen sofort und 400.000 Menschen an den Folgen der radioaktiven Strahlung starben, tritt die deutsche Ärzteschaft mit dieser Forderung gegen die atomare Bedrohung von Leben und Gesundheit ein. Dabei läßt sie sich von der Erkenntnis leiten, daß es bei radioaktiver Verstrahlung keine effektive medizinische Hilfe mehr geben kann.

Die deutschen Ärzte stehen damit an der Seite der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die den Weltgerichtshof in Den Haag beauftragten, die Rechtmäßigkeit des Einsatzes von Atomwaffen zu prüfen.

Heute gibt es immer noch über 48.000 atomare Sprengköpfe auf der Welt. Diese haben eine Sprengkraft von 50.000 Hiroshima-Atombomben. Die Atombombe, die am 6. August 1945 über Hiroshima zur Explosion gebracht wurde, hatte eine Sprengkraft von 13 Tonnen. Mehr als 360 Tonnen atomwaffenfähiges Plutonium lagern auf der Welt. Die Gefahr einer Atombombenexplosion, sei es durch Unfall, Terrorismus oder Krieg ist noch lange nicht gebannt.

Mit ihrer Forderung, weltweit alle Atomwaffen abzuschaffen, setzen die deutschen Ärzte für ihre Kolleginnen und Kollegen in der ganzen Welt ein Zeichen, sich dieser Forderung anzuschließen und sich für eine Welt frei von atomarer Bedrohung einzusetzen.

Berlin, 1. Juni 1995

Dr. Wolfgang Köhnlein ist Biologe und arbeitet am Institut für Strahlenbiologie der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.

Ein amerikanischer »hibakusha«

Ein amerikanischer »hibakusha«

Zu der Debatte um die »Enola-Gay-Ausstellung« in den USA

von Thomas Smith

Ich heiße Thomas Smith und bin Überlebender der Atomversuche, also ein amerikanischer hibakusha. Während meiner Dienstzeit bei der amerikanischen Marine wurde ich 17mal Zeuge von Atombombendetonationen im Pazifik. Das war im Jahre 1958. Ich war damals aufder USS-Hooper-Island stationiert, die beim Eniwetok-Atoll, im Archipel der Marshall-Inseln lag.

Als Zeuge habe ich die Sprengungen aus verschiedenen Entfernungen erlebt (…). So nah, daß man die Hitzewelle spüren konnte; so heiß, daß man dachte, die Kleider am Leib könnten in Flammen aufgehen. (…)

Viele Jahre danach habe ich mit gesundheitlichen Beschwerden zu schaffen gehabt;Beschwerden, die niemand vorher in meiner Familie gehabt hat; Beschwerden, die kein Arzt erklären konnte, und schließlich gesundheitliche Beschwerden, die nun auch meine Kinder hinnehmen müssen. Sowohl meine Tochter als auch mein Sohn zeigen genetische Auffälligkeiten, die durch meine Verstrahlung verursacht wurden. Und jetzt bange ich um die Gesundheit meiner Enkel.

<>Jene Detonationen und damit verbunden die gesundheitlichen Schäden bei meinen Kindern und bei mir selbst gehören zu dem dauernden Vermächtnis der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki; und das National Air & Space Museum hat sich entschlossen, die Spuren dieses Vermächtnisses aus seiner »Enola-Gay«-Ausstellung zu entfernen.

Erst Jahre nach jenen Tests habe ich andere Menschen mit ähnlichen Beschwerden gefunden. Menschen aus allen Teilen der Welt und mit den unterschiedlichsten Lebensläufen– Veteranen, »downwinders«, Menschen, die in Uranbergwerken gearbeitet haben, und natürlich die japanischen hibakusha. Eines hatten wir gemeinsam, wir waren radioaktiven Strahlungen ausgesetzt gewesen, entweder durch Berührung bei der Arbeit oder durch die Strahlung nach der Detonation einer nuklearen Bombe.

Ich habe 25 Operationen über mich ergehen lassen (…). Allein sechs Eingriffe an der Wirbelsäule einschließlich zahlreicher Knochentransplantationen aus dem Beckenbereich habe ich hinnehmen müssen, außerdem Eingriffe zur Wiederherstellung von Gelenken und zur Entfernung von Tumoren. (…) Heute muß ich mit einem geschwächten Immunsystem, Diabetes und chronischer Leberentzündung leben, und trotz-alledem rechne ich mich zu den Glücklichen. Heute bin ich noch am Leben und rede zu Ihnen, viele meiner Gefährten sind es nicht. Sie sind vor ihrer Zeit gestorben.

Die Ausstellung soll die Amerikaner ehren

Zu der Debatte über die »Enola-Gay-Ausstellung« in den USA

Als B 29-Kampfflieger des Zweiten Weltkrieges und Mitglied des Enola Gay-Komitees möchte ich meine Unzufriedenheit über die geplante Ausstellung des B 29-Bombers, der am 6. August 1945 die Atombombe auf Hiroshima abwarf, durch das Nationale Luft- und Raumfahrt-Museum zum Ausdruck bringen. Trotz der angekündigten Ergänzungen läuft das ganze auf eine »Anti-Bomben«-Ausstellung hinaus.

Die ein Jahr dauernden Verhandlungen mit Martin Harwit, dem Museums-Direktor, haben gezeigt, daß sämtliche Korrekturen rein kosmetischer Natur sind und nichts am Grundkonzept der Ausstellung ändern.

Die Ausstellung sollte eine Feier zum 50. Jahrestag des Kriegsendes sein. Sie sollte die Amerikaner ehren, die so lange auf so vieles verzichteten, und das sind fast alle amerikanischen Bürger, die zwischen 1941 und 1945 lebten.

Sie sollte unsere Führung für ihre großartige Leistung ehren, den Krieg so schnell zu beenden. Sie sollte die arbeitende Bevölkerung ehren, die oft erhebliche persönliche Opfer brachte, um ihre Arbeitskraft den kriegswichtigen Betrieben zur Verfügung zu stellen. Und sie sollte die siebeneinhalb Millionen Mitbürger ehren, die in dieser Zeit für ihr Land kämpften.

Für all dies ist die »Enola Gay« ein einzigartiges Symbol. Sie ist der berühmteste von allen B 29-Bombern. Mit dem Luftbombardement Japans konnte zum ersten Mal ein Krieg ohne Invasion beendet werden.

Uns allen sind die schrecklichen Ereignisse von »D-Day« bekannt. Und bei dieser Invasion ging es lediglich um den Transport über den Ärmelkanal. Dagegen hätten die Schrecken einer Invasion auf der Insel Honschu »D-Day« als Kinderspiel erscheinen lassen.

Wenn wir die Schrecken Hiroshimas zeigen, dann müssen wir auch Dresden, Tokio, London und all die anderen Städte zeigen, auf die Bomben fielen.

Wir sollten den Schwerpunkt der Ausstellung völlig verändern. Wir sollten mit dieser Ausstellung das Ende des Zweiten Weltkrieges gebührend feiern. Es leben schließlich noch viele von uns, die an diesem Krieg auf die eine oder andere Weise teilgenommen haben.

Leserzuschrift, New York Times, 10.9.1994. (Übersetzung: Helga Wagner.)

Presseerklärung von Thomas Smith. Veteran von Atomversuchen und Erster Vorsitzender der Vereinigung überlebender Strahlenopfer in Amerika. (Übersetzung Bill Hadfield)

Ihre Tränen verwandelten sich in Blut

Ihre Tränen verwandelten sich in Blut

Zur Wirkung radioaktiver niedrigdosierter Strahlung

von Shuntaro Hida

In diesem Jahr jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 50. Mal. In Europa besteht der Sinn der 50. Wiederkehr dieses Jahrestages wohl darin, daß mit dem Kriegsende die Herrschaft des Nationalsozialismus zerschlagen wurde und Freiheit und Demokratie wiederhergestellt wurden.

In Japan ist die 50. Wiederkehr jenes Jahres das Jahr, in dem auf die beiden japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte Atombomben abgeworfen und Menschen Opfer eben dieser Atombomben wurden. Die Bedeutung dieses Jahrestages sehe ich darin, sich der weiteren Verstärkung der Friedens- und Antiatom-Bewegung zur weltweiten Beseitigung der Kernwaffen zu verschreiben und den 50. Jahrestag zum Anlaß für einen erneuten Wiederbeginn dieser Bewegungen zu machen.

Eine einzige Atombombe hat damals eine ganze Stadt mit 300.000 Einwohnern in einem einzigen Augenblick ausgelöscht. Durch die Hitzewelle, die Explosionswucht und die radioaktive Strahlung sind nicht nur innerhalb von vier Monaten etwa 200.000 Menschen umgebracht worden. Bis heute, also 50 Jahre danach, sind 200.000 der damals Überlebenden an den Spätfolgen des Atombombenabwurfes gestorben. Und noch heute sterben Atombombenopfer an solchen Krankheiten wie Karzinomen, chronischen Leberschäden, Knochenmarksentzündungen, Blutkrankheiten. Die Ursachen dieser Krankheiten sind auf radioaktive Strahlungsschäden zurückzuführen.

Aus diesem Grunde betrachten wir Japaner die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki nicht etwa als ein einmaliges unglückliches Drama auf japanischem Boden in der Endphase des Krieges vor 50 Jahren. Vielmehr begreifen wir dieses Ereignis als wertvolle Lehre und Warnung, daß die Menschheit von diesen teuflischen Waffen, den Kernwaffen – die die ganze Menschheit zu vernichten vermögen – eher noch heute als morgen für immer die Hände lassen sollte.

Mein Erlebnis in Hiroshima

Vor 50 Jahren war ich ein junger Armeearzt im Offiziersrang und arbeitete im Militärkrankenhaus in Hiroshima. Am Vorabend des 6. August, gegen Mitternacht, kam ein Notruf aus der nahe gelegenen Gemeinde Hesaka, drei Meilen vom Krankenhaus entfernt, da Patienten in diesem Dorf dringend meiner Hilfe bedurften, und ich verließ das Hospital. Ohne diesen Notruf und meine Übernachtung außerhalb Hiroshimas könnte ich heute nicht unter Ihnen sein. Am nächsten Morgen um Viertel nach acht explodierte plötzlich die Bombe. Mit einem Schlag leuchteten millionenfache Blitze auf und blendeten mich. Es folgte eine ungeheure Hitze, die meine unbedeckte Haut verbrannte.

Dann, einige Sekunden später, kam der ungeheure Druck, der einem Orkan gleich den Hügel heraufraste und die Häuser in diesem Dorf erfaßte. Er riß das Dach des Hauses, in dem ich mich befand, ab und schleuderte mich etwa zehn Meter weit. Als ich aus den Trümmern des Hauses hervorkroch, sah ich auf den riesigen Atompilz, der höher und höher wuchs, in fünf verschiedenen Farben leuchtete und sich über ganz Hiroshima ausbreitete.

Da ich mich als Militärarzt zum Helfen verpflichtet fühlte, nahm ich sofort mein Fahrrad und fuhr in Richtung Hiroshima. Als ich etwa die Hälfte des Weges hinter mir hatte, sah ich den ersten Menschen, der aus dem Flammenmeer entflohen war. Und wie er aussah! Er war kein Mensch mehr. Vom Leib, von allen Teilen des Körpers, hingen zerfetzte Lappen herunter. Von den Spitzen der Finger, die er sich vor die Brust hielt, fiehlen schwarze Tropfen herab. Und das Haupt, der ungeheuer große Kopf, an dem kein einziges Haar zu sehen war, geschwollene Augen, die beiden Lippen, die bis zur Hälfte des Gesichtes aufgedunsen waren! Erschrocken trat ich einige Schritte zurück. Die hängenden Lappen waren nichts anderes als abgeschabte Haut des lebenden Menschen. Die schwarzen Tropfen waren sein Blut. Ob Mann, ob Frau? Ob Soldat, ob Zivilist? An nichts konnte man das ablesen. Von seiner Sehkraft war vielleicht noch etwas übrig. Er trottete mit vorgestreckten Händen einige Schritte auf mich zu und fiel auf den Bauch. Ich lief hin und wollte den Puls fühlen. Aber an diesem Fleischklumpen war nirgendwo eine Stelle mit trockener Haut. Bestürzt und hilflos stand ich da und schon überfielen den liegenden Menschen starke Krämpfe, aber bald gingen diese auch vorbei.

Ich eilte weiter zur Stadt, als ich an das Flußufer gelangte, das die Stadt nach Norden hin umgrenzte. Das Flußbett war voll von ausgebrannten Fleischklumpen. Drüben auf dem anderen Ufer loderten die Flammen zum Himmel und, diese umkreisend, stießen Rauchpfeiler wie lebende Wesen hoch. Vom Feuer gejagt, sprangen die Menschen ins Wasser. Im Wasser waren auch viele Kinder. Wie sehr auch meine Gedanken zu meinem Krankenhaus eilten, es war gar nicht möglich, durch die Feuerwand in die Stadt zu kommen. Eine Weile dachte ich hin und her, dann aber entschloß ich mich, zu dem Dorf zurückzukehren, das ich soeben verlassen hatte, um dort eine Nothilfeklinik für die Verwundeten zu errichten.

Eine unerklärliche Krankheit

Es war am vierten und fünften Tag nach dem Atombombenabwurf, als unter den Patienten merkwürdige Krankheiten auftauchten. Bisher war das im Dorf eingerichtete provisorische und immer überfüllte Lazarett meist mit Brandwunden und äußeren Verletzungen konfrontiert gewesen. Nun aber kamen Patienten mit Symptomen wie hohem Fieber, Blutungen der Nasen und Augenschleimhäute, Purpura und Ausfall des Kopfhaars. Sie starben entweder bereits nach einigen Stunden oder spätestens nach einigen Tagen. Im Nachhinein habe ich erfahren, daß es sich um Strahlungsschäden handelte, die man als akute Strahlenkrankheit bezeichnet. Für mich, der damals nichts dergleichen gelehrt bekommen und der keinerlei Erfahrungen damit hatte, war es eine unerklärliche Krankheit.

Ein Beispiel: Viele Tage bevor die Atombombe detonierte, heiratete ein Freund von mir in Hiroshima. Am 6. August wurden beide schwer verbrannt, der eine auf dem Weg zum Hauptquartier der Division und die andere in ihrer Küche. Glücklicherweise überlebten sie und entkamen mit knapper Not nach Hesaka, in mein Dorf. Keiner von beiden wußte vom Schicksal des anderen, obwohl beide auf dem gleichen Boden dieser Grundschule lagen. Die Opfer um sie herum starben, und jene, die zwischen den beiden jungen Menschen gelegen hatten, raffte der Tod hinweg. Schließlich lagen sie nebeneinander, ohne daß sie von einander etwas ahnten. Ihre Gesichter waren allzu verändert, sie waren füchterlich verbrannt. Aber schließlich erkannten sie sich am Klang ihrer Stimme. Was für eine glückliche Fügung!

Diese herzergreifende Episode sprach sich unter den Patienten schnell herum. Es schien den beiden nach und nach besser zu gehen, und nach zwei Wochen sollten sie in ein Krankenhaus in einem anderen Ort verlegt werden. Das glückliche Paar verabschiedete sich von den anderen Patienten und kam auch zu mir, um mir für die Behandlung zu danken. Doch kaum waren die Worte verklungen, da sprudelte plötzlich eine große Menge Blut aus dem Mund des Mannes. Und in beiden Händen, die er schmerzerfüllt an den Kopf legte, hielt er plötzlich ein Büschel von Haaren, als wären sie abrasiert. Er brach zusammen und bekam hohes Fieber. Innerhalb von 24 Stunden war er tot. Seine Frau war außer sich; sie schrie und hielt den Leichnam ihres Mannes. Doch auch ihre Tränen verwandelten sich in Blut, ihr Haar hatte das gleiche Schicksal und wenig später folgte sie ihrem Mann in den Tod.

Weitere schreckliche Ereignisse stellten sich ein. Auch unter den Leuten, die nach dem Bombenabwurf in die Stadt gegangen waren, um dort zu helfen, und unter den Leuten, die aus anderen Orten gekommen waren, um in der Stadt nach Verwandten und Bekannten zu suchen, tauchten Menschen mit merkwürdigen Krankenheitsbildern auf. Viele von ihnen starben.

Zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht wissen, daß diese Menschen in der Luft, auf Lebensmitteln und im Wasser befindliche Strahlungspartikel aufgenommen hatten, die wiederum schreckliche Wirkungen zeitigten: Die über längere Zeit wirkende niedrigdosierte radioaktive Strahlung rief plötzlich eine verstärkte Tumorbildung hervor oder die körperlichen Abwehrfunktionen wurden zerstört.

Ein weiteres Beispiel: Ein junger Stadtbeamter war im Keller des Rathauses unweit vom Explosionszentrum. Ihm wurden bei der Detonation die Beine zugeschüttet. Mit Hilfe eines Kollegen konnte er glücklich entkommen. Noch am selben Tag kam er im sechs Kilometer entfernt liegenden Vorort von Hiroshima, wo ich war, an.

Seine Frau, die kurz davor ein Kind gebar, war am 6. August bei ihren Eltern in der etwa 200 km entfernten Stadt Matsue. Sie ging, nachdem Sie das Baby den Eltern anvertraut hatte, in die zerstörte Stadt, um ihren Mann zu suchen. Nachdem sie 8 Tage lang durch die Ruinen gegangen war, konnte sie ihn endlich finden. Obwohl ihm ein Bein gebrochen war, war er noch verglichen mit anderen, die dort im Ort zu Hunderten untergebracht waren und von Minute zu Minute starben, in einem besseren Zustand. Angesichts dieses höllischen Bildes setzte die Frau ihre Kräfte gänzlich dafür ein, die Schwerverwundeten zu betreuen. Einige Tage arbeitete sie ganz selbstlos daran. Und es war entsetzlich für mich mit anzusehen, wie diese Frau nach wenigen Tagen erkrankte. Sie bekam plötzlich hohes Fieber und ihr blutete die Nase, es traten Blutflecken auf der Haut an allen Gliedern auf, und am Ende fiel ihr das ganze Kopfhaar aus. 14 Tage hat sie gelitten und mußte im äußersten Elend sterben. Die Symptome, die bei ihr auftraten, waren dieselben wie bei den Schwerverwundeten.

Das wirkliche Ausmaß der Opfer, der Schäden, des Leidens der vom Atombombenabwurf betroffenen Menschen, insbesondere die von der radioaktiven Strahlung hervorgerufenen Leiden, sind den Menschen in aller Welt bisher nicht korrekt mitgeteilt worden. Zum einen haben die Regierung der USA und die der US-Atompolitik gefolgschaftleistende japanische Regierung das wirkliche Ausmaß des Leidens und die Unmenschlichkeit der Strahlungskrankheit konsequent zu vertuschen und zu verstecken versucht. Zum anderen war die medizinische Forschung über die Wirkung radioaktiver Strahlung auf den menschlichen Organismus noch nicht ausreichend fortgeschritten.

Schäden durch niedrigdosierte radioaktive Strahlung

Es gab einen Bericht von dem 1977 – also 32 Jahre nach dem Atombombenabwurf – in Japan veranstalteten »Symposium der UN-NGO zu Problemen der Atombombenopfer« von Hiroshima und Nagasaki. Auf diesem Symposium wurden zwar die externen Wirkungen auf den menschlichen Körper nach erfolgter hochdosierter radioaktiver Strahlung deutlich gemacht; die Wirkung niedrigdosierter Strahlung, die von den in den menschlichen Körper gelangten Strahlungspartikel ausgeht, blieb jedoch völlig unerwähnt.

Was den Einfluß von radioaktiver Strahlung auf den menschlichen Organismus angeht, wurde damals lediglich die Menge der Strahlung problematisiert. Ohne zwischen extern und intern erfolgter Bestrahlung zu unterscheiden, war die Position sogenannter Erfahrungswerte in der Diskussion beherrschend, wonach die Wirkung radioaktiver Strahlung unterhalb eines bestimmten Schwellenwertes zu vernachlässigen sei.

1972 legte der kanadische Arzt Abram Petkau seine Petkau-Theorie öffentlich vor. Danach „zerstört aus dem menschlichen Organismus heraus langzeitlich erfolgende niedrigdosierte Strahlung Zellen nach einem völlig anderen Wirkungsprinzip, als dies bei der kurzfristigen Schädigung durch extern erfolgte hochdosierte Strahlung der Fall ist. Erfolgt die radioaktive Strahlung im Wasser, wird das unschädliche Sauerstoff-Element in schädlichen Aktiv-Sauerstoff umgewandelt. Diese Reaktion fällt bei niedrigdosierter Strahlung heftiger aus als bei hochdosierter Strahlung“. Im selben Jahr veröffentlichte der Amerikaner Ernest J. Sternglass ein Buch mit dem Titel „Low Level Radiation“ (übrigens veröffentlichte er es in London, da es in den USA nicht möglich war), in dem er die Schäden niedrigdosierter Strahlung epidemiologisch aufzeigte. Dieses Faktum ist übrigens bis heute kaum wahrgenommen worden.

Jedoch machte die Kernreaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 die Gefährlichkeit niedrigdosierter Kernstrahlung durch in den menschlichen Körper aufgenommene radioaktive Partikel mit einem Schlag deutlich. Im Gefolge dieser Katastrophe wurden die bis dato verheimlichte Existenz von zahlreichen Opfern niedrigdosierter Kernstrahlung im Zusammenhang mit den Großkatastrophen beispielsweise im Kernkraftwerk Three-Mile-Island oder der Atombombenfabrik Savannah-River in den USA sowie Schädigungen von mehreren der 250.000 US-Soldaten, die für Kernwaffenexperimente eingesetzt worden waren, bekannt. Ferner wurden u.a. 1992 von Donnell W. Boardman „Radiation Impact“, 1993 von Jay M. Gould et al. „Deadly Deceit“ gehäuft Untersuchungs- und Forschungsberichte über Schädigungen durch niedrigdosierte Kernstrahlung veröffentlicht.

Darüber hinaus berichtete die Untersuchung des Japanischen Verbandes der Atombombenopfer von 1985, daß es „unter den Atombombenopfern, die zum Zeitpunkt des Abwurfes über zwei Kilometer vom Epizentrum entfernt waren oder später in das Stadtgebiet gelangten, Menschen gibt, die Krankheitsbilder aufweisen, deren Ursache auf intern erfolgte niedrigdosierte Strahlung zurückgeführt werden kann“. Im Zusammenhang mit der Anwendung des Gesetzes zur Unterstützung von Atombombenopfern betrachtet die Stadt jedoch die Entfernung von zwei Kilometern ab dem Epizentrum als jene Grenze, von der ab keine Wirkung der Kernstrahlung angenommen wird. Ferner ist festzustellen, daß es auf internationalen Konferenzen zu entsprechenden Berichten von japanischen Wissenschaftlern zu dem Thema »Schäden niedrigdosierter Kernstrahlung« gekommen ist. So beginnt entgegen der bisher vorherrschenden Lehrmeinung der sogenannten Erfahrungswerte, bei deren Unterschreitung keine Schädigungen zu erwarten seien, die Auffassung derzeit zunehmend an Unterstützung zu gewinnen, derzufolge interne Abstrahlung niedrigdosierter Kernstrahlung schwerwiegende Folgen hervorruft.

Die Schäden von Kernwaffen sind nicht zu begrenzen

Die Wahrnehmung der Realität der Strahlenopfer infolge des erstmaligen Einsatzes von Kernwaffen in der Menschheitsgeschichte war wesentlich bestimmt durch das strategische Kräfteverhältnis bei den Kernwaffen. Die Realität selbst ist entsprechend verheimlicht worden. Des weiteren kann die medizinische Wissenschaft die konkrete Lage von Strahlenopfern derzeit nicht detailliert beleuchten und gänzlich deuten. Wäre dies möglich, würde ein allgemeines Bewußtsein darüber entstehen, daß „die eigentliche Bedrohung der Kernwaffen in der radioaktiven Strahlung liegt und bei intern ausgehender Bestrahlung auch bei kleinsten Mengen gefährlich ist“. So ist aber jene Kernwaffenbegrenzungstheorie immer noch weit verbreitet, wonach es keine „Ideallösung“ gibt, und „man zwar gegen den Einsatz von Atomwaffen ist, aber deren Besitz als notwendig für die Verhinderung von Krieg ansehen muß“.

Die Schäden von Kernwaffen sind räumlich und zeitlich nicht zu begrenzen. Werden Kernwaffen eingesetzt, gelangt radioaktive Substanz in die Atmosphäre und fällt über einen langen Zeitraum wieder zurück auf die Erdoberfläche, wo über Jahre hinweg die Menschheit langsam umgebracht wird und noch mehrere Generationen danach Schäden zu beklagen sein werden. Zudem hat der Besitz von Kernwaffen zur Voraussetzung, daß Uran gefördert, für militärische Zwecke aufbereitet wird, Sprengköpfe (Bomben) produziert und gelagert werden und deren Funktionsfähigkeit getestet wird. Auf all diesen Stufen werden unzählige Strahlenopfer zu verzeichnen sein.

Ich denke, daß es die Grundlage für die schnellstmögliche Realisierung der Abschaffung von Kernwaffen ist, die Menschen in aller Welt darüber zu informieren, worin die Besonderheit dieser menschenvernichtenden Waffen im Unterschied zu allen bisher dagewesenen Waffen besteht. Zu diesem Zweck fordern wir in Japan den Abschluß eines internationalen Abkommens zur vollständigen Beseitigung der Atomwaffen und rufen dafür zu einer weltweiten Hiroshima-Nagasaki Unterschriftenkampagne auf. Derzeit können wir bereits auf 40 Millionen Unterschriften in Japan und weltweit auf 100 Millionen verweisen.

Lassen Sie mich meine Rede mit der Bitte beenden, daß Sie als Deutsche in vorderster Position des Verbundes aller europäischen Bürger uns ihre Kraft und ihr Engagement für die Abschaffung der Atomwaffen zur Verfügung stellen mögen.

Über Shuntaro Hida

Dr. med. Shuntaro Hida, 1917 in Hiroshima geboren, ist in mehrfacher Hinsicht ein außergewöhnlicher »hibakusha«. Er gehört zu den wenigen Ärzten, die den Atombombenabwurf überlebt haben; den Grund hierfür nennt er in seinem Referat. Mit großem Einsatz ist er seit 1945 in (inter)nationalen Gremien für die Belange der »hibakusha« und für seine Vision einer atomwaffenfreien Welt tätig. Guido Grünewald hat ihn den »Botschafter« der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki genannt. Ferner hat Dr. Hida seine auch auf deutsch erschienenen Memoiren verfaßt (Der Tag, an dem Hiroshima verschwand. Erinnerungen eines japanischen Militärarztes, Bremen 1989, Donat Verlag). Es ist bemerkenswert, daß das nukleare Inferno nicht am Anfang seiner Erinnerungen steht, sondern deren Schlußpunkt bildet. Dr. Hida, der heute noch zweimal in der Woche strahlengeschädigte Patienten in Tokio fachlich betreut, gibt in seinem Buch mit der präzisen Sprache des Arztes authentische Einblicke in den japanischen Militarismus und in die damalige expansive Außenpolitik seines Landes.
Dr. Hidas Referat, welches hier abgedruckt wird, bildete den Auftakt seiner neunten Vortragsreise durch Deutschland, diesmal in Begleitung seiner Enkelin Rika Nogutschi. Dr. Guido Grünewald von der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte KriegsgegnerInnen verdanken wir es, daß Herr Hida sein Referat im Rahmen des Frankfurter Vortragszyklus' halten konnte. Frau Mokoto Uchida, Frankfurt, hat dankenswerterweise sowohl den Vortrag als auch die sich anschließenden Fragen aus dem Publikum und das folgende Interview übersetzt.

(B.W.K.)

Shuntaro Hida

Opfer und Täter von Hiroshima

Opfer und Täter von Hiroshima

Was ist 50 Jahre danach aus ihnen geworden?

von Sven Sohr

Der 6. August 1945 war der Tag Null. Dieser Tag, an dem bewiesen wurde, daß die Weltgeschichte vielleicht nicht mehr weitergeht, daß wir jedenfalls fähig sind, den Faden der Weltgeschichte durchzuschneiden, der hat ein neues Zeitalter der Weltgeschichte eingeleitet. Ein neues Zeitalter, auch wenn dessen Wesen darin besteht, vielleicht keinen Bestand zu haben. (Anders, 1982, S.66)

Gib die Menschen wieder.
Gib meinen Vater wieder und meine Mutter.
Gib meine Geschwister zurück.
Gib mir meine Söhne und Töchter.
Gib mir mich selbst zurück. Gib die Menschheit wieder.
Solange dieses Leben dauert, dieses Leben,
gib den Frieden wieder, der nie mehr endet.

Sankichi Toge

So leben wir also im Jahr 50! Runde Geburtstage pflegt man gewöhnlich zu feiern. Was werden wir tun? Werden wir uns erinnern? Kurz nachdem der Autor dieses Artikels angefragt wurde, ob er einen Überblicksbeitrag psycholgischer Forschung zu den Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki schreiben könne, fand er eine kleine Randnotiz in seiner Tageszeitung, überschrieben mit den Worten: „Japan gegen US-Atombomben-Briefmarke“ (Tagesspiegel, 4.12.1994, S. 32). Berichtet wird von einer dem US-Außenministerium übergebenen Note der japanischen Botschaft, in der Japan die USA auffordert, die Einführung einer Briefmarke mit einem Atombombenpilz zu überdenken. Das Bild des Atombombenpilzes ist unterschrieben mit „Atombomben beschleunigen Beendigung des Krieges, August 1945“. Dieser Vorfall, der an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten ist, verletzt nicht nur die tiefen Gefühle der japanischen Bevölkerung, er ist auch sachlich zumindest zu bezweifeln. – Aber wie so oft im Leben gerade dann am meisten in Bewegung gerät, wenn Menschen sich »betroffen« fühlen, wurde diese kleine Zeitungsnotiz zum emotionalen Anlaß des vorliegenden Versuchs, der Frage nach den Folgen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki wissenschaftlich nachzugehen.

Im Zentrum des ersten Teils der folgenden »Erinnerung« stehen die Opfer, unter anderem die Untersuchungen des Psychiaters Robert Lifton über das Phänomen der »psychischen Taubheit« bei den Überlebenden. Psychologisch ebenso interessant, wenn es auch zynisch klingen mag, ist das »Schicksal« der Täter, um die es im zweiten Teil des Aufsatzes geht. Exemplarisch werden dabei ganz unterschiedliche Wege der »Verarbeitung« anhand zweier Hiroshima-Piloten beschrieben: Zum einen Paul Tibbets, der auch heute noch »absolut nichts« bedauert, zum anderen Claude Eatherly, der in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wurde, um seine »Gewissensbisse« zu kurieren. Es ist das Verdienst des Philosophen Günther Anders, durch einen jahrelangen Briefwechsel mit Claude Eatherly auf dessen »Problem« aufmerksam gemacht zu haben. Da Günther Anders einer der ersten war, die sich wissenschaftlich mit den Folgen von Hiroshima auseinandersetzten und darauf reagierten, wird seinen Überlegungen zu den Konsequenzen der Katastrophe besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Der letzte Abschnitt des Artikels mündet schließlich in der Frage, ob und inwiefern uns das Thema heute betrifft.

„Alles planmäßig und in jeder Hinsicht geglückt.“

In der Nacht zum 6. August 1945 starteten auf Tinian im Beisein von 100 Reportern sieben B 29-Bomber. Die ersten drei sollten eine Stunde vor der Hauptgruppe Japan erreichen und das Wetter über Hiroshima, Kokura und Nagasaki erkunden. Die fünf Tonnen wiegende Atombombe, von den Militärs »Little Boy« genannt, wurde in der von Oberst Tibbets befehligten und zu diesem Zweck extra umgerüsteten Maschine »Enola Gay« befördert. Zwei Bomber sollten diese Maschine begleiten; einer hatte den Auftrag, über dem »Objekt« Apparate zur Feststellung der Explosionsstärke abzuwerfen, und der andere sollte Foto- und Filmaufnahmen machen. Der siebente Bomber sollte nach Iwoshima fliegen, einer Insel auf dem halben Weg nach Japan, um einzuspringen, falls die Maschine Tibbets eine Panne haben sollte. Um 7.09 Uhr meldeten die Aufklärungsflüge, daß der Himmel über Hiroshima und Nagasaki wolkenlos sei. Von dem Flugzeug, das Kokura überflogen hatte, war die gleiche Meldung gekommen. Oberst Tibbets in der »Enola Gay« erhielt das chiffrierte Telegramm: „Empfehlung: erstes Objekt“. Um 8.13 Uhr erschienen über dem Himmel von Hiroshima die drei Flugzeuge. Um 8.14 Uhr öffnete sich die Bombenluke. Am wolkenlosen Himmel zeigte sich ein Fallschirm, an dem die fünf Tonnen schwere Atombombe rasch abwärts glitt. Um 8.15 Uhr, als die Bombe 580 Meter von der Erde entfernt war, schaltete der Zündmechanismus. Über Hiroshima blitzte eine zweite Sonne auf: eine Todessonne. Diejenigen, die Hiroshima überlebt haben, sprechen von einem tödlichen Licht, grell, stark, sich ständig verändernd. In Sekunden wurden ungefähr 80.000 Menschen vernichtet, von denen Überreste auffindbar waren. Weitere 14.000 Menschen verschwanden spurlos. Über 100.000 Menschen starben in den folgenden Tagen, Wochen und Jahren.

Ein Mitglied der Besatzung der »Enola Gay« schreibt in seinen Erinnerungen: „Erst blitzte grell die Detonation, dann ein blendendes Licht, in dem die anrollende Explosionswelle zu sehen war, dann eine pilzförmige Wolke. Es sah aus, als ob über der Stadt ein Meer siedenden Teers brodelte.“ (vgl. Greune & Mannhardt 1982, S. 17f.). Die erste auf eine Stadt abgeworfene Atombombe war um ein Vielfaches vernichtender, als ihre Väter es vorausgesagt hatten. Eine Viertelstunde nach der Explosion ging von der »Enola Gay« ein Funkspruch zur Insel Tinian ab: „Alles planmäßig und in jeder Hinsicht geglückt. Empfehle sofort Vorbereitung der nächsten Aktion. Nach Bombenabwurf an Bord alles normal. Kehren zum Stützpunkt zurück.“ Kurze Zeit später ging die Nachricht von der Vernichtung Hiroshimas an den Panzerkreuzer »Augusta« weiter, auf dem der US-Präsident Truman von der Potsdamer Konferenz heimreiste. In seinen Erinnerungen schildert Truman diesen Moment so: „Am 6. August (…) kam die Nachricht, die die Welt erschütterte. Ich saß (…) beim Lunch, da brachte mir Hauptmann Frank Graham folgende Nachricht: 'An den Präsidenten vom Kriegsminister. Große Bombe abgeworfen (…) Erste Meldungen besagen: voller Erfolg, sogar noch größer als bei früherem Test`.“ Truman ließ Sekt bringen, hob sein Glas und sagte: „Gentlemen, wir haben soeben auf Japan eine Bombe abgeworfen, die die Sprengkraft von 20|000 Tonnen TNT hatte. Sie heißt Atombombe.“ Drei Tage später, am 9. August 1945, sollte sich in Nagasaki alles noch einmal wiederholen.

Medizinische Akut- und Spätfolgen der Atombombenopfer

Die medizinischen Akut- und Spätfolgen beschreibt Ohkita (1985). Die von den Atomwaffen hervorgerufenen akuten Verletzungen werden in thermische, mechanische und Strahlenverletzungen unterteilt. Am häufigsten waren allerdings Kombinationsverletzungen. Viele Menschen starben praktisch sofort an den Auswirkungen der Druckwelle und der Hitze, aber häufig erlagen die Menschen auch ihren Verletzungen, bevor sich die Strahlenkrankheit entwickeln konnte. Fast alle Menschen, die innerhalb von 10 Wochen starben, ließen Strahlenschäden erkennen.

Thermische Verletzungen (Verbrennungen): Auf dem Erdboden wurden bei den Atombombenexplosionen in Japan nach Schätzungen 3000-4000 Grad Celsius erreicht. Diese Hitze dauerte zwar nur ungefähr eine Sekunde an, dennoch betrug die Temperatur in jeweils über 1 km Entfernung der beiden Städte noch mehr als 573 Grad Celsius. So erlitten auch Menschen, die mehrere Kilometer vom Zentrum entfernt waren, tödliche Verbrennungen.

Strahlenwirkungen: Obwohl die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki zum ersten Mal dazu Gelegenheit gaben, die Auswirkungen einer massiven Bestrahlung bei Menschen zu beobachten, ist nur wenig über schwere Strahlenverletzungen bekannt, die sofort zum Tode führten, da diese Fälle nicht obduziert wurden. Zusätzlich verhinderte die große Zahl der Todesfälle und der Verletzungen in den ersten Tagen nach den Explosionen eine genaue statistische Auswertung der Strahlenwirkungen. Als ein verläßliches Zeichen einer Strahlenverletzung wird Haarausfall angesehen. Das Haar fiel beim Kämmen in dichten Büscheln aus.

Bis heute konnte die genaue Anzahl der Opfer, die durch die Bomben getötet wurden, nicht ganz geklärt werden. Die Anzahl der Personen unter den Überlebenden, die durch Verbrennung, mechanische Traumen, Strahlen oder durch eine Kombination dieser Schädigungen verletzt wurden, sind ebenfalls geschätzt worden. In Hiroshima geht man von 60.000 Menschen mit Verbrennungen, 78.000 mit mechanischen Verletzungen und 35.000 mit Strahlenschäden aus. In Nagasaki belaufen sich die Zahlen auf 41.000 Verbrennungen, 45.000 mechanische Verletzungen und 22.000 Strahlenschädigungen. Alle diese Verletzungen können kombiniert vorgelegen haben.

Psychologische und soziale Folgen für die Atombombenopfer

Um eine Vorstellung von der gesamten Situation nach dem Atombombenangriff zu erhalten, muß man nicht nur die ungeheure Zahl von getöteten Menschen berücksichtigen, sondern auch die Familien, die zerrissen wurden, Alte und Kranke, Frauen und Kinder, die oft hilflos zurückblieben. Einige tausend Kinder wurden zu Waisen, die durchschnittliche Zahl der Todesfälle je Familie wird mit 2/3 angenommen (Greune & Mannhardt 1982, S.65).

Die Atombombe zerstörte nicht nur Familien, sondern auch andere Formen der Gesellschaft, sie riß benachbarte Menschen auseinander und führte zum Untergang traditioneller Nachbarschaftshilfe. Jene, die mit dem nackten Leben davongekommen waren, hatten nicht nur ihre Angehörigen verloren, sondern darüber hinaus auch Nachbarn und Freunde; das Zusammenleben in seiner Gesamtheit war gestört. Sie hatten in vielen Fällen schwer verletzte Menschen zurücklassen müssen, als sie in panischer Angst flohen, sie schüttelten Freunde ab und konnten Nachbarn im Feuersturm nicht helfen. Tiefe Schuldgefühle erfaßte die Überlebenden, die oft über Monate und Jahre in apathischer Resignation verharrten.

Die besondere Lage, in der sich die Atomüberlebenden befanden und heute noch befinden, hat dazu geführt, daß eine besondere Bezeichnung für sie entstanden ist: Man nennt sie »Hibakusha« (die direkte japanische Übersetzung lautet »explosionsgeschädigte Personen«). In Japan lebten 1981 rund 400.000 Hibakusha, von denen knapp 60% krank und körperbehindert sind. Jährlich werden den Totenlisten von Hiroshima und Nagasaki mehr als 2500 Opfer hinzugefügt, gestorben an den Folgen der Atombombenabwürfe. Zur besonderen Behandlung der Hibakusha sind spezielle Atombomben-Hospitäler eingerichtet worden.

Es war vor allem der amerikanische Psychiater Robert Lifton, der sich der Tragödie der Hibakushas annahm und Untersuchungen über die psychischen Auswirkungen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki vorlegte. Lifton berichtet in seinem 1966 erschienenen Buch „Death in Life: Survivors of Hiroshima“ von einem Effekt der psychischen Taubheit (»psychic numbing«). Viele Menschen konnten sich nicht mehr an ihre Wahrnehmung erinnern: Was sie wahrnahmen, hielten sie für einen Blitz oder ein plötzliches Gefühl der Hitze, gefolgt von Bewußtlosigkeit.

Ein Lehrer mittleren Alters, der sich etwa 5000 Meter vom Zentrum entfernt befand, beschreibt seine Gefühle angesichts der Zerstörung. Es wird deutlich, wie Schuldgefühle gegenüber den Toten die psychischen Abwehrmechanismen durchdringen und sich schmerzhaft bemerkbar machen: „Ich ging in die Stadt, um meine Familie zu suchen. Irgendwie wurde ich mitleidlos, weil ich sonst nicht durch die Stadt hätte gehen und über die vielen Leichen steigen können. Am beeindruckendsten war der Ausdruck in den Augen der Menschen – ihre Körper waren schwarzverfärbt – ihre Augen blickten suchend umher, nach jemandem, der kommen und ihnen helfen würde.(…) Ich suchte nach meiner Familie und schaute jeden an, den ich traf, um zu sehen, ob sie oder er ein Familienmitglied war. Doch die Augen – die Leere – der hilflose Ausdruck – dies alles werde ich nie vergessen können (…) Ich nahm die Enttäuschung in ihren Augen wahr. Sie schauten mich erwartungsvoll an und blickten durch mich hindurch. Ich konnte es kaum ertragen von ihren Augen angestarrt zu werden (…).“ Der Lehrer nahm durch die Augen der anonymen Toten und Sterbenden eine Anklage seiner Unterlassung und seiner Schuld wahr, daß er ihnen nicht half, daß er sie sterben ließ, daß er »egoistischerweise« am Leben blieb.

Die Überlebenden litten nicht nur daran, daß die Menschen, die sie umgaben, starben, sondern auch an deren Todesart: eine brutale Art schnellen körperlichen Verfalls, die mit den normalen und »würdigen« Formen des Todes nichts mehr zu tun hatte – eine Tatsache, die im übrigen auch für jüdische KZ-Opfer von großer Bedeutung war. Darüber hinaus sind die Überlebenden von Hiroshima über die allgemeine Besorgnis und die Kontroverse über die negativen genetischen Auswirkungen der Atombombenexplosion informiert, die meisten von ihnen befürchten in der Tat negative Folgen für die nachfolgenden Generationen. Dies wiegt umso schwerer gerade in der ostasiatischen Kultur, die die Ahnenreihe und die Kontinuität der Generationen als den Hauptzweck des menschlichen Lebens und – zumindest symbolisch – als Weg zur Unsterblichkeit betont.

Aus dem bisher Gesagten dürfte klar geworden sein, daß die Atombombe das Dasein der Überlebenden sowohl in ihren eigenen Augen als auch in der Wahrnehmung anderer Menschen völlig verändert hat. Durch die unmittelbare Erfahrung und durch die späteren Erlebnisse wurden die Überlebenden Mitglied einer neuen psychosozialen Gruppe. Auf die Frage an die Überlebenden, was sie mit dem Wort »hibakusha« assoziierten, und was sie dabei fühlten, drückten sie in Liftons Untersuchungen ohne Ausnahme das Gefühl aus, daß sie zur Übernahme dieser neuen Existenzform gezwungen seien und diese trotz aller Bemühungen nicht mehr ablegen könnten.

Die Überlebenden scheinen nicht nur das Ereignis erlebt zu haben, sondern es auch einschließlich seiner Schrecken, seiner Folgen und besonders seines tödlichen Charakters in ihre Existenz aufgenommen zu haben. Sie fühlen sich gezwungen, sich mit den Toten zu vereinigen. Die Identität der Hibakusha wird symbolisch zu einer Identität der Toten, die sich durch die besonders starke japanische Fähigkeit zur Identifizierung und durch die besondere Form der Schuldgefühle für das Überleben noch verstärkt. Dieses vorherrschende Gefühl wird außerdem noch durch die Wahrnehmung der Überlebenden geprägt, als Versuchskaninchen benutzt worden zu sein, da sie die Opfer des ersten »Experiments« mit Atomwaffen geworden sind. Sie leiden unter der Wahrnehmung, daß sie die schlimmste der von Menschen erzeugten Katastrophen erlebt haben, und darunter, daß zur gleichen Zeit ihre persönlichen Erfahrungen durch die fortschreitende weitere Entwicklung und Erprobung schrecklichster Waffen sinnlos erscheinen.

Was für die Opfer (nicht) getan wurde…

Unmittelbar nach den beiden Atombombenangriffen kapitulierte die japanische Regierung. Nun sprach die offizielle Propaganda von „Opfern für den Frieden“ und unterdrückte zugleich alle Nachrichten über die Lage der Hibakusha. Nach der Kapitulation Japans im September 1945 machten sich sogleich die ersten amerikanischen Untersuchungskommissionen auf den Weg nach Hiroshima. Die Siegermacht USA wollte möglichst schnell die Auswirkungen der neuen Bombe in den beiden betroffenen Städten kennenlernen. Was die Fachleute dem Oberkommando zu berichten hatten, veranlaßte die amerikanischen Militärs unverzüglich zum Handeln. Über Hiroshima und Nagasaki wurde eine Nachrichtensperre verhängt. Nicht einmal Gedichte und Zeichnungen, die in den ersten Jahren nach der Explosion entstanden, passierten den amerikanischen Zensor, geschweige denn solche Erfahrungen, wie sie die »Kinder von Hiroshima« später aufgeschrieben haben. Erst als die USA und Japan 1951 den Friedensvertrag von San Francisco unterzeichnet hatten, wurde die Nachrichtensperre aufgehoben.

So makaber es klingt, aber die Leiden der Opfer, ihre Krankheiten und Schmerzen stellten für die amerikanische Atomwissenschaft ein unerschöpfliches Reservoir für Forschungen dar. Um die Untersuchungen möglichst systematisch zu betreiben, richteten die Amerikaner 1949 in Hiroshima eine Kommission für Atombombenopfer ein (»Atomic Bomb Casualty Commission«, kurz ABCC), ein Institut, das die wichtigsten Daten über die in Hiroshima in Verbindung mit der Atombombe auftretenden Krankheiten gesammelt hat. Seit Anfang der fünfziger Jahre sind japanische Ärzte und Wissenschaftler ebenfalls daran beteiligt; die gewonnenen Forschungsergebnisse werden zweisprachig veröffentlicht.

Weitgehend unerforscht bis auf den heutigen Tag sind allerdings die möglichen Folgen der Bestrahlung für die menschliche Erbmasse. Beschädigungen der Chromosomen können noch in der zweiten oder dritten Generation zu Mißbildungen führen. Mit dieser Angst müssen die 367.000 anerkannten Atombombenopfer in Japan leben, diese Angst bestimmt ihr Leben. Zu den möglichen Veränderungen der Erbmasse heißt es bei Hoffmann (1980): „Die Genetiker sind sich darüber einig, daß eine Verdoppelung der genetischen Effekte ernsthafte Folgen für die Bevölkerung eines Landes haben wird. Bereits eine addierte Strahlenzufuhr von 30 bis 80 Röntgen über die 30 Jahre einer Generation könnte diesen verheerenden Effekt hervorrufen. Hierzu ist nur eine vergleichsweise beschränkte Anzahl an Atomexplosionen in einem Nuklearkrieg nötig. Schon 750 Sprengungen von je 20 MT (Megatonnen) reichen aus, um die gesamte Menschheit genetisch zu entstellen.“

Die ABCC hatte nicht die primäre Funktion, den Überlebenden zu helfen. Auch von Seiten der japanischen Regierung aus waren die gesetzlichen Maßnahmen zur Unterstützung der Hibakusha völlig ungenügend. Die meisten von ihnen sind in einen Teufelskreis aus Armut und Krankheit geraten, aus dem sie sich selbst nicht befreien können. Infolge ihres schlechten Gesundheitszustandes sind sie nur begrenzt arbeitsfähig. Im Jahre 1952 trat zwar in Japan ein Gesetz über Entschädigungen von Kriegsschäden in Kraft, schloß Hibakusha jedoch mit der Begründung aus, es handele sich hierbei um Zivilisten, die nicht unter den Verordnungen dieses Gesetzes erfaßt würden. So gründeten im gleichen Jahr die beiden Schriftsteller Toge und Tamashiro in Hiroshima eine Organisation, die 1953 zu der Entstehung eines „Hiroshima City Council“ führte.

Mit Hilfe einer landesweiten Spendenaktion und Geldern der Regierung in Tokio konnte drei Jahre später endlich ein Hospital für die Überlebenden des nuklearen Holocaust eingerichtet werden. Viele tausend Patienten erhielten seitdem von Spezialisten von Strahlenkrankheiten und anderen Fachärzten eine medizinische Behandlung. Noch mehr warteten allerdings vergeblich auf einen Platz im Atombombenkrankenhaus; die einen weil das Hospital ausgelastet war, die anderen, weil sie die Kosten für die Behandlung nicht aufbringen konnten. Im Jahre 1982 waren 150 Atombombenkranke im Hospital untergebracht. Das Durchschnittsalter der Dauerpatienten betrug 71 Jahre, der jüngste Patient war 36 Jahre alt – er wurde bereits im Mutterleib bestrahlt (Vinke 1986, S. 97).

Ein Gesetz über die Behandlung der Atombombenopfer wurde erst im Jahre 1957 beschlossen. Zwölf Jahre vergingen also, bis erste Versorgungsregelungen für die Hibakusha durchgesetzt werden konnten. Bis 1968 mußten die Überlebenden warten, um eine unentgeltliche ärztliche Betreuung zu bekommen. Trotz allem ist auch heute noch die materielle Situation der Hibakusha mehr als unbefriedigend. Alljährlich sterben viele, denen es bis heute nicht gelang, eine bescheidene Rente zu erhalten.

Um so erstaunlicher ist es, daß zahlreiche Atombombenüberlebende den Mut und die Kraft fanden, auf zahlreichen internationalen Konferenzen, u.a. schon 1955 auf der ersten Weltkonferenz gegen Atom- und Wasserstoffbomben, Zeugnis von ihren Leiden abzulegen. Das Engagement der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki ist bis heute beispielhaft für die weltweite Mobilisierung gegen die Atomrüstung. Im Jahre 1978 reisten z.B. 500 von ihnen zur ersten Sondertagung der Vereinten Nationen zur Abrüstung nach New York und übergaben 32 Millionen Unterschriften zur Ächtung der Atombombe. Sofern es ihre Gesundheit erlaubt, bereisen sie andere Länder, um von ihrem Schicksal zu berichten und die Öffentlichkeit für atomare Abrüstung zu mobilisieren.

Über die Hiroshimapiloten Paul Tibbets und Claude Eatherly

Das vorangehende und mit „Hiroshima“ betitelte Gedicht trifft zumindest auf Oberst Tibbets zu, der sich als der Atombombenpilot, der die Bombe letztendlich »ausklicken« ließ, mehrere Male zu seinem Einsatz am 6. August 1945 geäußert hat. Zeichen von Reue, Scham oder Mitgefühl ließ Tibbets dabei nicht erkennen. Dafür ließ er sich mit Überlebenden fotographieren, als Beleg einer makaberen »Versöhnung«. Die folgenden Gesprächsauszüge sind der Zeitschrift „Metall“ vom 26. August 1981 entnommen (Vinke 1986, S. 110ff.):

“Frage: Wie denken Sie heute über die Bombardierung von Hiroshima und über Ihren Auftrag – bedauern Sie es?

Tibbets: Ich bedaure überhaupt nichts. Zum Zeitpunkt des Bombenabwurfs war ich von seiner Notwendigkeit überzeugt, und daran hat sich bis heute nichts geändert. (…)

Frage: Hätten Sie nicht 'nein` sagen können?

Tibbets: Das hat man mich schon oft gefragt. Aber nun frage ich Sie: Was wäre wohl geschehen, wenn jemand in der deutschen Wehrmacht zu Hitler 'nein` gesagt hätte? Ich bin als Soldat aufgewachsen, bin dazu erzogen worden, Befehle von kompetenter Autorität zu befolgen. Und damals bekam ich meine Instruktionen von allerhöchster Stelle. (…)

Frage: Seit Jahren wird am 6. August auf der ganzen Welt der Hiroshimaopfer gedacht. Haben Sie ein schlechtes Gewissen an diesem Tag?

Tibbets: Nein. Damit halte ich mich nicht auf. Darüber denke ich nicht nach. All das ist Vergangenheit. Hiroshima ist Geschichte. Es war eine Lektion, gewisse Dinge konnte man daraus lernen. Aber es gibt zu viele neue und interessante Dinge in meinem Leben. Jeden Tag muß ich eher darüber nachdenken als über so etwas wie Hiroshima. Ich lebe nicht in der Vergangenheit.“

Diese Worte sprechen für sich. Sie bedürfen eigentlich kaum noch einer Kommentierung – oder vielleicht doch? Wie ist das Ausbleiben jeglicher Humanität und Moral zu erklären? Oder ist sein Gehorsam nicht völlig »normal« gewesen? Diese Fragen wären einen eigenständigen Aufsatz wert<0> <>! Psychologisch sei an dieser Stelle nur an das zigfach replizierte Milgram-Experiment (1974) erinnert, bei dem weit über die Hälfte aller (männlichen<0> <>!) Versuchspersonen von der Möglichkeit Gebrauch machten, ihre (simulierten) Opfer mit einer tödlichen Stromstärke von 450 Volt zu bestrafen. Bei interkulturellen Vergleichsstudien war die Quote derjenigen, die bis zur vollen Bestrafung tendierten, in Deutschland übrigens am höchsten (Mantell 1971). Insofern macht die rhetorische Gegenfrage Tibbets bezüglich Nazi-Deutschland bei aller Absurdität sogar noch Sinn.

Auch Major Claude Eatherly saß im Flugzeug, das am 6. August 1945 die Bombe abwarf. Jungk schreibt zum Anblick eines Photos von Eatherly (Anders 1982, S. 196ff.): „Wer das Photo des jungen Claude Robert Eatherly betrachtet, des Kriegsfreiwilligen, der sich zur amerikanischen Luftwaffe meldete, sieht in das Gesicht des typischen amerikanischen »clean cut boy«. Es steht noch nicht viel darin geschrieben, aber das Wenige scheint alle Lesebuchtugenden wiederzugeben: Gradheit, Mut, Sauberkeit und Unschuld. Tausende und Tausende solcher Milchbärte sind damals zu den Waffen geeilt, um für »decency and democracy« gegen die Barberei des Nationalsozialismus zu kämpfen. Der Student Eatherly durfte, als er von der Lehrerbildungsanstalt in die Kaserne hinüberwechselte, noch daran glauben, daß Freiheit und Menschlichkeit sich mit Waffengewalt verteidigen ließen.“

Es wird erzählt, daß Major Eatherly nach dem erschütternden Erlebnis Hiroshima tagelang mit niemandem mehr gesprochen habe. Man nahm das jedoch auf dem Inselstützpunkt Tinian, wo der Flieger mit seiner Bombertruppe auf die Demobilisierung wartete, nicht besonders ernst. »Battle fatigue« – »Schlachtenmüdigkeit« hieß dieser Zustand. Von ihm wurde mancher befallen, und Eatherly selbst hatte schon einmal im Jahre 1943, nach 13 Monate langem, ununterbrochenem Partouilliendienst im südlichen Stillen Ozean an solcher nervlichen Erschlaffung gelitten. Damals hatte er sich schon nach vierzehntägiger Behandlung in einer New Yorker Klinik wieder erholt, und auch diesmal schien er ziemlich bald wieder zu dem Geisteszustand zurückzukehren, den man unter den Veteranen des Pazifiks als »normales Benehmen« in Ruhezeiten betrachtete: stundenlanges Pokern, unterbrochen von Flüchen, Witzen und Reminiszenzen.

Bald nach der Abmusterung, nach Hause zurückgekehrt, versuchte Eatherly – wie alle um ihn herum – zu vergessen, Geld zu verdienen, sich seinem Privatleben zu widmen. Er arbeitete als Angestellter eines Petroleumkonzerns in Houston, wo er es bis zum Verkaufsdirektor brachte. Tagsüber ging er ins Büro, abends besuchte er eine weiterbildende Schule, um Rechtswissenschaft (!) zu studieren. Seit 1943 war Eatherly verheiratet mit einer jungen Schauspielerin, die er während seiner Ausbildungszeit in Kalifornien kennengelernt hatte. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatten sich die beiden stets nur ein paar Tage, höchstens ein paar Wochen lang sehen können. Nun führten sie endlich ein etwas normaleres Leben mit Haus, Garten, Kindern und bescheidener sozialer Aufstiegschance.

Doch das war nur die eine Seite seines Lebens; in den Nächten quälten den Kampfflieger zunehmend Ängste und die Schatten von Gesichtern. Noch konnten ein paar Drinks die Depressionen und ein paar Pillen die Schlaflosigkeit verscheuchen. Doch schon bald genügten so einfache Beruhigungsmittel nicht mehr. Eatherly meinte in seinen Träumen die verzerrten Gesichter der im Höllenfeuer von Hiroshima Verbrennenden zu sehen. Im Gegensatz zu Paul Tibbet litt Claude Eatherly unter der Schuld, als Mitglied der Flugzeugbesatzung mitverantwortlich einen Befehl ausgeführt zu haben, der zur Auslöschung einer Stadt und eines Großteils ihrer Bewohner führte. Sein Schuldbekenntnis mußte in einer Zeit, als man die Kriegsheimkehrer in Amerika als Helden feierte, verhindert werden. Eatherly begann an Depressionen zu leiden und versuchte 1950, sich das Leben zu nehmen, nachdem er von der Planung der Wasserstoffbombe erfahren hatte, die den Effekt der Hiroshima-Bombe noch um ein Vielfaches übertreffen sollte. Nach einem sechswöchigen Aufenthalt in einem Militärhospital, der keine Veränderung seines depressiven Zustands bewirkte, beschloß er, das nationale Leitbild des Kriegshelden an Hand seiner eigenen Person zu dementieren. Er beging geringfügige Delikte, schickte gefälschte Schecks an Anti-Atom-Organisationen in Hiroshima und unternahm einen bewaffneten Raubüberfall, bei dem er das erbeutete Geld unangetastet liegenließ. Klinikaufenthalte und Gerichtsverhandlungen wechselten sich ab, bis er 1959 auf Veranlassung seines Bruders für längere Zeit eingewiesen wurde. Jungk (1961, S. 13) kommentierte den »Fall Eatherly« wie folgt: „Immerhin hat Major Eatherly etwas erreicht, das er sich vornahm. Es ist ihm schließlich doch gelungen, die Öffentlichkeit auf seinen »Fall« aufmerksam zu machen. Allerdings reagierte sie zunächst auf die Nachrichten über den »verrückten Piloten von Hiroshima« ganz anders, als Eatherly gehofft hatte. Er wollte die Menschen aufrühren, aber er rührte sie nur.“

In diese Zeit fiel der berühmt gewordene 70 Briefe umfassende Schriftwechsel mit dem Philosophen Günther Anders, der sich zu einer wahren Brieffreundschaft entwickelte, die für beide Seiten sehr wertvoll wurde. Als Eatherly die Nervenklinik verlassen hatte, verstärkte sich seine Korrespondenz mit zahlreichen Persönlichkeiten und Gruppen, die ein Ende des Rüstungswettlaufs forderten. Sein Engagement wurde von den Behörden als psychischer Defekt interpretiert und führte abermals zu einer Einweisung ins Hospital, diesmal auf eine geschlossene Abteilung. In dieser Situation durfte Eatherly auch keine Briefe mehr nach draußen schicken. Im Herbst 1960 floh er aus dem Hospital, versteckte sich bei Freunden und beschloß, nach Mexico auszuwandern. Im Dezember 1960 wurde Eatherly jedoch von einer Polizeistreife aufgegriffen, nachdem kurz zuvor eine Großfahndung ausgelöst worden war, und erneut in das Militärhospital eingewiesen. Eatherly gelang 1962 noch einmal die Flucht aus dem Hospital. Obwohl die zuständigen Behörden Kenntnis von seinem Aufenthaltsort hatten, reagierten sie nicht mehr. Der Briefwechsel zwischen Eatherly und Anders wurde in siebzehn Sprachen übersetzt – er erschien in politisch so unterschiedlichen Ländern wie dem francistischen Spanien und der Sowjetunion.

Unter allen Teilnehmern an den beiden Atombombardements war Claude Eatherly wohl der einzige, der der Versuchung widerstand, sich als Held feiern zu lassen. Für Anders (1982, S. 359) war er „der erste, der das Kennzeichen unserer Epoche in die Sprache persönlichen Lebens übersetzt hat – der erste, dessen persönliches Leben ausschließlich von den Gegebenheiten und Ängsten des Atomzeitalters bestimmt worden ist –, der erste, der es abgelehnt hat, mit dem Verhalten konform zu gehen, das eine konformistische Gesellschaft fordert –, der sich selbst darauf beschränkt hat, zu warnen statt sich darauf zu verlegen, die Gefahr zu verharmlosen, zu übertreiben oder Nutzen aus ihr zu ziehen, wie man es von uns erwartet. (…) Der Fall Eatherly ist nicht überholt, er ist vielmehr Inbegriff und Verkörperung des Gewissens in einer Welt, deren Millionen damit eingelullt werden, daß man ihnen weismacht und sie auch selber glauben, die Folgen ihrer Handlungen seien nicht ihre Sache.“

Zur Gefahr eines Atomkrieges in den 90er Jahren

Auf längere Sicht muß man (…) erwarten, daß die Zahl der atomar bewaffneten Mächte – jetzt sind es die USA, die UdSSR, Frankreich, Großbritannien und China – zunimmt. Die Gefahr eines Atomkriegs und die Wahrscheinlichkeit ernsthafter Folgen für Klima und globale Ökologie würden sich dann enorm vergrößern.

Crutzen/Hahn 1985, S. 233

Am Ende dieses Artikels steht die Frage, was diese Gefahr eigentlich qualitativ für Konsequenzen nach sich zieht. Nach 1945 mußte die Welt begreifen lernen, daß tatsächlich eine neue Epoche angebrochen war. Der Physiker Albert Einstein, selbst an der Entwicklung der Bombe beteiligt, sprach bald darauf den bemerkenswerten Satz aus (vgl. Gottstein 1986, S. 51): „Im Zeitalter der Nuklearwaffen braucht die Menschheit ein substantiell neues Denken, wenn sie überleben will.“ Das neue Denken ließ jedoch auf sich warten. Seit Hiroshima und Nagasaki wurden weit mehr als 1000 Atomtestexplosionen durchgeführt, Hiroshima und Nagasaki sind millionenfach reproduzierbar und potenzierbar geworden. Wie bereits in der Einleitung angedeutet, war der Philosoph Günther Anders einer der ersten, der die Bedeutung von Hiroshima und Nagasaki in ihrer ganzen Dimension erkannte. Anders begriff dieses Ereignis als »Tag Null einer neuen Zeitrechnung«, als das Ereignis, von dem aus alles anders sein würde. Denn diese Taten bewiesen, daß die Menschheit die Fähigkeit besitzt, sich selbst – und noch mehr – auszulöschen. Dieses ungeheure Vorkommnis, dessen Dimensionen erst allmählich sichtbar wurden, stellten den Auftakt der globalen Bedrohung der Menschheit dar. Dieses neue Zeitalter wurde nicht nur von Anders als »Endzeit« bezeichnet. Denn selbst wenn es gelingen sollte, diese Erde eines Tages wieder atomwaffenfrei abzurüsten, kann das Wissen, was einmal erdacht wurde, nicht wieder aus dem Gedächtnis der Menschheit verbannt werden.

An Szenarien über die Bedeutung eines Atomkrieges heutzutage mangelt es nicht. Die direkten Auswirkungen auf uns Menschen, d.h. die physischen und psychischen Folgen, sind wiederum auf erschütternde Art und Weise bei Lifton (1985, S. 283ff.) beschrieben: „Versuchen Sie sich einmal 100 Millionen oder mehr Tote und ein riesiges mit tödlicher Radioaktivität verseuchtes Gebiet vorzustellen (…).“ Die Szenen würden an das erinnern, was wir aus Science-Fiction-Filmen kennen. Das Zielgebiet, karg und verlassen, würde einer Mondlandschaft gleichen, und die wenigen Überlebenden hätten die Fähigkeit verloren, sich gegenseitig zu helfen oder zu trösten. Es gäbe niemand, um die Verwundeten zu pflegen oder sie in Krankenhäuser zu bringen, es gäbe gar keine Krankenhäuser, kein Morphium und keine Antibiotika mehr. Auch könnte niemand die Überlebenden mit dem Vertrauen in die Kontinuität des Lebens erfüllen, die gerade Katastrophenopfer so dringend benötigen. Sie würden erkennen, daß alle Menschen und alle Dinge, die ihnen jemals etwas bedeutet haben, zerstört worden sind. Und niemand der Überlebenden würde in der Lage sein, dem grundlegendsten aller menschlichen Rituale zu folgen, nämlich die eigenen Toten zu bestatten. Lifton schließt (1985, S. 288): „Die so oft gestellte Frage, ob die Überlebenden die Toten beneideten, hätte eine einfache Antwort: Nein, die Überlebenden wären solcher Gefühle gar nicht mehr fähig. Sie würden die Toten nicht so sehr beneiden als ihnen, innerlich und äußerlich, sehr ähnlich.“

Sozialwissenschaftliche Forschungsbefunde (vgl. Boehnke et al. 1988, Sohr 1993) belegen, daß Ängste vor einem Atomkrieg in den 80er Jahren auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges insbesondere bei Kindern und Jugendlichen sehr verbreitet waren und daß diese Bedrohungsgefühle auch in den 90er Jahren nicht aus den Köpfen völlig verschwunden sind. So hält fast jeder zweite der befragten Jugendlichen einen Atomkrieg „in der Zukunft“ für „ziemlich wahrscheinlich“. Umso erstaunlicher ist es, wie wenig Widerstand sich in den letzten Jahren gegen diese negativen Zukunftsaussichten regte, insbesondere auch gegenüber den auf Jahrtausende bestehenden Gefahren, die von Atomkraftwerken ausgehen. Anders (1987, S. 13f.) vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, daß wir Heutigen „im Zeitalter der Unfähigkeit zur Angst“ leben. Angesichts der Größe der uns umgebenden Gefahren gelänge es uns nicht, adäquat zu reagieren, wir seien geradezu »Analphabeten der Angst« und »apokalypseblind«. Aus diesem Grund postuliert Anders, unsere Mitmenschen „zur Angst zu erziehen“.

Als psychologisch bedeutsam scheint sich zu erweisen, was Lifton als »psychische Abstumpfung« bezeichnete (vgl. oben). Obwohl das Phänomen dem psychologischen Mechanismus der Verdrängung und im Verhalten der Apathie ähnelt, stellt diese Abstumpfung dennoch eine spezielle Reaktionsform auf eine überwältigende äußere Bedrohung dar. Die psychische Abstumpfung, die durch die Katastrophe von Hiroshima erzeugt wurde, beschränkt sich nicht nur auf die Opfer selbst, sie erstreckt sich auch auf die Menschen, die sich mit dem Ereignis beschäftigen. Unsere Unfähigkeit, uns den Tod vorzustellen, der ausgefeilte Mechanismus der Verdrängung und das tiefe innere Bedürfnis des Menschen, für sich den Anschein der Unsterblichkeit zu erwecken, sind allgegenwärtige Hindernisse beim Nachdenken über den Tod.

Dieser Artikel wurde mit der Intention geschrieben, an der Überwindung dieser Abwehrmechanismen zu arbeiten. Falls wir der Gefahr, in der wir heute schweben, überhaupt begegnen können, dann wohl nur, wenn wir bereit sind, uns die Folgen eines atomaren (und ökologischen) Infernos auch nur ansatzweise vorzustellen. Von dieser Fähigkeit, die Voraussetzung jeglichen Widerstandes ist, hängt möglicherweise das Überleben der Menschheit ab. Wenn wir dagegen weiterhin der Verdrängung Vorschub leisten, waren alle Worte umsonst, wie Jungk mahnt (1982, S. 195): „Millionen Worte sind seit 1945 von westlichen Fachleuten über die »Effekte der Kernwaffen« geschrieben worden. Dennoch klafft in dieser umfangreichen Literatur eine ganz wesentliche Lücke. Wohl haben Sachverständige Tausende von Trümmern, Zehntausende von Überlebenden der großen Katastrophe genauestens untersucht, aber sie schlossen etwas sehr Wichtiges von ihren so gründlichen Studien aus: sich selbst.“

Literatur

Anders, G. (1982), Hiroshima ist überall. München: Beck.

Anders, G. (1987), Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: Beck.

Boehnke, K., Meador, M., Macpherson, M.J., Petri, H. (1988), Leben unter atomarer Bedrohung – Zur Bedeutung existentieller Ängste im Jugendalter. Gruppendynamik 19 (4), 429-452.

Crutzen, P.J. & Hahn , J. (1985), Schwarzer Himmel. Auswirkungen eines Atomkrieges auf Klima und globale Umwelt. Frankfurt: Fischer.

Gottstein, U. (1986), 40 Jahre nach Hiroshima: Teststop – unser aller Chance. In T. Bastian, Wir warnen vor dem Atomkrieg. Dokumentation zum 5. Medizinischen Kongreß zur Verhinderung des Atomkriegs in Mainz. Neckarsulm: Jungjohann.

Greune, G. & Mannhardt, K. (1982), Hiroshima und Nagasaki. Köln: Pahl-Rugenstein.

Hoffmann, H. (1980), Atomkrieg – Atomfrieden. München.

IPPNW (1985), Last Aid. Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges. Neckarsulm: Jungjohann.

Jungk, R. (1961), Off limits für das Gewissen. Der Briefwechsel zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders. Reinbek: Rowohlt.

Komitee zur Dokumentation der Schäden der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki (1988), Leben nach der Atombombe. Hiroshima und Nagasaki 1945-1985. Frankfurt/Main: Campus.

Lifton, R.J. (1966), Death in Life: Survivors of Hiroshima. New York: Basic Books.

Lifton, R.J. (1985), Psychologische Auswirkungen der Atombombenabwürfe. In IPPNW, Last Aid, Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges (S. 48-68). Neckarsulm: Jungjohann.

Lifton, R.J. & Erikson, K. (1985), Überlebende eines Atomkrieges: Psychologischer und sozialer Zusammenbruch. In IPPNW, Last Aid, Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges (S. 283-288). Neckarsulm: Jungjohann.

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Sven Sohr ist Diplom-Psychologe und arbeitet zur Zeit an einer von buntstift/Regenbogen e.V. geförderten Dissertation über ökopolitisches Engagement von Kindern und Jugendlichen. Dienstanschrift: TU Chemnitz-Zwickau, Sozialisationsforschung und Empirische Sozialforschung, 09107 Chemnitz (Fax: 0371-5613925).

Kriegsverbrechen Vergewaltigung

Kriegsverbrechen Vergewaltigung

Beispiel: Bosnien-Herzegowina

von Helga Wullweber

Im Krieg in Bosnien-Herzegowina sind von allen Konfliktparteien Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen an Frauen, Männern und Kindern, begangen worden. Die Frauen des Kriegsgegners wurden von allen kriegführenden Parteien vergewaltigt. Am umfangreichsten aber und systematisch wurden bosnische Frauen, das sind muslimische, kroatische und infolge Eheschließung mit Muslimen »unreine« serbische Frauen, von den Truppen der bosnischen Serben vergewaltigt. Die Vergewaltigungen bezweckten die psychische Zerstörung der bosnischen Frauen und Männer und ihrer Familien. Sie dienten der ethnischen Säuberung in von den Serben beanspruchten Gebiete, waren Kriegstaktik, um Terrain zu erobern. Das unterscheidet die von den Serben in den von ihnen besetzten Gebieten begangenen Vergewaltigungen von anderen Kriegsvergewaltigungen.

Obgleich viele Lager, in denen Frauen vergewaltigt wurden, bekannt waren, blieben das UN-Flüchtlingskommissariat und das Internationale Rote Kreuz lange Zeit untätig. Bei der Anhörung des Bundestagsausschusses für Frauen und Jugend zu den systematischen Vergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina beklagte Roman Wieruszewski, persönlicher Referent des jetzigen UN-Menschenrechtsbeauftragten für Jugoslawien Tadeus Mazowiecki, die Hilflosigkeit der UN und die Gleichgültigkeit Europas: „Wir haben keine Mittel, mit dieser Situation fertig zu werden.“ Selbst Lager, zu denen die Vertreter internationaler Organisationen Zutritt haben, könnten nicht aufgelöst werden, weil es nicht genug Angebote aus den europäischen Staaten gibt, die Kriegsopfer unterzubringen (FR v. 9.12.92). Erst die internationale Einmischung von Frauen hat ein Ende der Untätigkeit bewirkt.

Aus der Feststellung, daß die Serben besonders grausam und zielgerichtet mordeten, folterten und vergewaltigten, folgt nicht, daß damit die Serben als für den Bürgerkrieg verantwortlich dingfest gemacht wären. Die Verurteilung der Kriegführung ist von der Beurteilung der Kriegsursachen zu unterscheiden. Das Anprangern der Kriegsverbrechen, das Beharren auf der Einhaltung der für die Zivilbevölkerung existentiellen Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts darf nicht den Blick auf das vielschichtige Konfliktfeld trüben, das dem Bürgerkrieg zugrunde liegt. Handlungsräume, die sich durch das öffentliche Anprangern der Kriegsvergewaltigungen als Kriegsverbrechen eröffnen, könnten durch die Ineinssetzung von Kriegsführung und Kriegsursachen verschüttet werden.

Vergewaltigung – Vergessenes Kriegsverbrechen

Von Frauen, Bürgerinnen und Politikerinnen wurde, um die internationale Staatengemeinschaft aufzurütteln und zum Eingreifen zu veranlassen, gefordert, die Kriegsvergewaltigung völkerrechtlich als Kriegsverbrechen zu ächten. Das ist aber längst geschehen. Seit 1949 ist es geltendes Völkerrecht, daß Vergewaltigungen im Krieg Kriegsverbrechen sind. Es ist bemerkenswert und bezeichnend, daß die Ächtung von Vergewaltigungen im Krieg als Kriegsverbrechen öffentlich nicht bekannt war, obgleich mit dieser Ächtung nach 1945 die Konsequenz aus den den Frauen im Zweiten Weltkrieg angetanen Vergewaltigungen gezogen wurde. Die von den Deutschen und den Japanern begangenen Kriegsvergewaltigungen waren als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des den, den Kriegsverbrecherprozessen zugrundeliegenden Londoner Abkommens vom 8. August 1945 in den alliierten Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg und in Tokio angeklagt und Grundlage der Verurteilungen. Doch handelten die Kriegsverbrecherprozesse von solchen unsäglichen millionenfachen Greueltaten, daß sich viele sperrten, die Einzelheiten zur Kenntnis zu nehmen. Auch wurden die Kriegsverbrecherprozesse in Deutschland von vielen, erleichtert mit dem Leben davon gekommen zu sein, mit schuldbewußter Apathie als bloße Siegerjustiz wahrgenommen. So wie die tausendfachen Vergewaltigungen, die die deutschen Soldaten den Frauen ihrer Kriegsgegner antaten, und die massenhaften Vergewaltigungen deutscher Frauen insbesondere durch die russischen Soldaten nach Kriegsende öffentlich kein Thema waren, sondern verschwiegen wurden – erst Helke Sander durchbrach 1992 mit ihrem Film »BeFreier und Befreite« das Schweigen –, so war in Vergessenheit geraten, daß die Vereinten Nationen, die in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das humanitäre Völkerrecht mit Elan fortentwickelten, an das den Frauen angetane besondere Leid gedacht und mit der Ächtung von Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen reagierten und künftig zu verhindern hofften. Zwar wurden die amerikanischen GI`s, die nach dem Vietnamkrieg wegen des Massakers in My Lai vor amerikanischen Militärgerichten angeklagt waren, auch wegen ihrer Beteiligung an unzähligen Vergewaltigungen verurteilt. Jedoch beförderte die nur vereinzelte Verfolgung von im Vietnamkrieg durch amerikanische GI's begangenen Kriegsverbrechen durch nationale amerikanische Militärgerichte nicht die Erkenntnis,daß die angeklagten Vergewaltigungen und Massaker als Kriegsverbrechen international geächtet sind. Während des 1971/72 neun Monate währenden Bürgerkrieges in Bangladesch, das seine Unabhängigkeit von Pakistan erklärt hatte, verloren Millionen Menschen ihr Leben und wurden Hunderttausende, überwiegend moslemische Frauen von den Pakistanis vergewaltigt. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde von Frauen weltweit gegen die Vergewaltigungen im Krieg protestiert und Hilfen für die vergewaltigten und schwangeren Frauen organisiert. Aber Bangladesh zählte zum sozialistischen Lager, auch war der Vietnamkrieg noch nicht zuende – die Anprangerung der Vergewaltigungen als international geächtete Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen hatte keine FürsprecherInnen. Erst 1992 wagte eine Gruppe koreanischer Frauen von der japanischen Regierung Wiedergutmachung zu fordern für 100.000 Frauen, die während des Krieges zwischen Korea und Japan 1930-1940 auf die Pazifischen Inseln in eine lange sexuelle Sklaverei verschleppt wurden. Die Mehrheit der Frauen war zu dem Zeitpunkt zwischen 16 und 18 Jahren alt, sie wurden von ihren Familien gerissen, zu denen sie niemals zurückkehren konnten (zit. nach Lepa Mladjenovic, Universal Soldier, in Scheherezade, Newsletter No.4, Januar 1993). Die Koreanerinnen fordern damit mit Jahrzehnten Verspätung von Japan die Wiedergutmachung ein, zu der jede Kriegspartei verpflichtet ist, deren Soldaten Kriegsverbrechen begangen haben.

Da die Kriegsvergewaltigungen Kriegsverbrechen sind, befaßt sich die vom Weltsicherheitsrat eingesetzte Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien auch mit den Vergewaltigungen. Außerdem hat die diesjährige UN-Generalversammlung dem Völkerrechtsausschuß der Vereinten Nationen (erneut) das Mandat erteilt, die Statuten eines internationalen Strafgerichtshofes auszuarbeiten, damit gegen die Kriegsverbrecher Anklage erhoben werden kann. Keine Delegation wagte gegen den Resolutionsentwurf offen aufzutreten, obgleich es genügend Gewaltherrscher gibt, die damit rechnen müßten, selbst vor einem internationalen Tribunal zu enden (FR v. 15.12.92).

Der völkerrechtlich garantierte humanitäre Standard

Die Ächtung der den Frauen in Bosnien-Herzegowina angetanen Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen resultiert aus nachfolgenden, von allen bosnischen Konfliktparteien in einer Vereinbarung vom 22.5.1992 anerkannten Regeln des humanitären Völkerrechts.

„In der Erwägung, daß bei allem Bemühen, Mittel zu suchen, um den Frieden zu sichern und bewaffnete Streitigkeiten zwischen den Völkern zu verhüten, es doch von Wichtigkeit ist, auch den Fall ins Auge zu fassen, wo ein Ruf zu den Waffen durch Ereignisse herbeigeführt wird, die ihre Fürsorge nicht hat abwenden können, von dem Wunsche beseelt, selbst in diesem äußersten Falle den Interessen der Menschlichkeit und den sich immer steigernden Forderungen der Zivilisation zu dienen“, war im IV. Haager Abkommen vom 18.10.1907, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, die „meuchlerische Tötung oder Verwundung von Angehörigen des feindlichen Volkes oder Heeres“ verboten (Art.23 Abs.1 b der Anlage zum Abkommen) und der „militärischen Gewalt auf besetztem feindlichen Gebiet“ aufgegeben worden, „die Ehre und die Rechte der Familie, das Leben der Bürger und das Privateigentum sowie die religiösen Überzeugungen zu achten“ (Art.46 der Anlage zum Abkommen). Ein papierenes Versprechen, das in beiden Weltkriegen unbeachtet blieb.

Trotzdem wurde nach dem Zweiten Weltkrieg das völkerrechtliche Kriegsrecht mit den vier »Genfer-Rotkreuzabkommen« vom 12.8.1949 durch humanitäre Regelungen zum Schutz der Verwundeten, Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung im Falle eines bewaffneten Konflikts aktualisiert, bestimmter gefaßt und die Geltung auch auf Bürgerkriege erstreckt. Die Abkommen betreffen zwar in erster Linie bewaffnete internationale Konflikte. Jedoch wird durch den in allen vier Abkommen gleichlautenden Art.3 der Zivilbevölkerung auch im Falle von nicht-internationalen, d.h. Bürgerkriegen, der Kernbestand des humanitären Völkerrechts garantiert. Art.3 verlangt von den Konfliktparteien u.a., daß sie „die nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmenden Personen menschlich behandeln, ohne jede auf Rasse, Farbe, Religion oder Glauben, Geschlecht, Geburt oder Vermögen oder auf irgendeinem anderen ähnlichen Unterscheidungsmerkmal beruhende Benachteiligung“. Dies bedeutet insbesondere das Verbot von grausamer Behandlung, Folterung, Beeinträchtigung der persönlichen Würde und namentlich von erniedrigender und entwürdigender Behandlung. Im 4. Genfer-Rotkreuzabkommen zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten heißt es im Unterschied zum IV. Haager Abkommen zum Schutz der Frauen explizit: „Die Frauen werden besonders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich vor Vergewaltigungen, Nötigung zur gewerbsmäßigen Unzucht und jeder unzüchtigen Handlung geschützt.“ (Art.27 4. Rotkreuzabkommen)

Mittels zweier Zusatzprotokolle vom 10.6.1977 wurde sodann das humanitäre Völkerrecht an die veränderte Kriegstechnik und an die veränderten Formen der Kriegführung im Guerillakrieg angepaßt und der humanitäre Mindeststandard, wie er in dem Art.3 der vier Genfer-Rotkreuzabkommen normiert ist, sowohl für internationale als auch für nicht-internationale Konflikte (d.h. für „interne Feindseligkeiten kollektiven Charakters, an denen organisierte und unter verantwortlichem Kommando stehende bewaffnete Einheiten beteiligt sind, die einen Teil des Staatsgebietes kontrollieren und fortlaufend militärische Operationen durchführen“, Art.1 Ziff.2 des 2. Zusatzprotokolls) fortentwickelt.

Für den Krieg im ehemaligen Jugoslawien sind beide Zusatzprotokolle von Belang, denn dieser Krieg ist beides: Krieg zwischen Staaten, soweit die jugoslawische Bundesarmee unter serbischem Oberkommando in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina kämpft, und Bürgerkrieg, soweit Milizen in Kroatien oder in Bosnien-Herzegowina ansässige Serben gegen bosnische oder kroatische Kampftruppen kämpfen.

In beiden Zusatzprotokollen wird zum Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte »grundlegend« garantiert, daß folgende Handlungen jederzeit überall verboten sind und bleiben, gleichviel ob sie durch zivile Bedienstete oder durch Militärpersonen begangen werden, gleichviel ob den geschützten Personen die Freiheit entzogen ist oder nicht: Folter jeder Art, gleichviel ob körperlich oder seelisch, Beeinträchtigungen der persönlichen Würde, insbesondere entwürdigende und erniedrigende Behandlung, Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und unzüchtige Handlungen jeder Art (Art.75, 76 des 1. Zusatzprotokolls, Art.4 des 2. Zusatzprotokolls).

Die den bosnischen Frauen angetanen Vergewaltigungen sind zugleich Foltermaßnahmen, denn unter Folter ist „jede Handlung zu verstehen, durch die jemand vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen zugefügt werden, sofern dies u.a. in der Absicht, von ihm oder einem Dritten eine Auskunft oder ein Geständnis zu erzwingen, ihn für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihm oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, ihn oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder in irgendeiner auf Diskriminierung beruhenden Absicht geschieht und sofern solche Schmerzen oder Leiden von einem öffentlich Bediensteten oder von einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person bzw. auf deren Veranlassung mit deren Zustimmung oder mit deren stillschweigendem Einverständnis verursacht werden“ (Art.1 der „Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ vom 10.12.1984). Wenn auch diese „Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ noch nicht in Kraft getreten ist, weil noch nicht zwanzig Staaten die Konvention, die Folter auch außerhalb kriegerischer Konflikte verbietet, ratifizierten, so gibt doch diese Definition nur den allgemeingültigen Begriff von Folter wieder und bestätigt die internationale Gültigkeit des Folterbegriffs. Die Vergewaltigungen, die die serbischen Truppen und Milizen im ehemaligen Jugoslawien begingen, sind Foltermaßnahmen im Sinne dieser Definition. Frauen wurden sowohl vergewaltigt, um sie einzuschüchtern und zu diskriminieren, als auch um von ihnen Auskunft über bosnisch-muslimisch-kroatische Gefechtsstellungen zu erhalten.

Ächtung von Menschen als Kriegsverbrechen

Insbesondere die systematischen, gezielt als Kriegstaktik eingesetzten Vergewaltigungen sind Kriegsverbrechen. Kriegsverbrechen sind die schweren Verstöße gegen die Genfer Rotkreuz- und Zusatzabkommen. Als schwere Verletzung der Rotkreuzabkommen und der Zusatzabkommen gelten u.a.: die vorsätzliche Tötung, die Folterung oder unmenschliche Behandlung, die vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schwerer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit, die rechtswidrige Verschleppung oder Verschickung und die rechtswidrige Gefangenhaltung von Zivilpersonen (Art.147 des 4. Rotkreuzabkommens, Art.85 Ziff.3 und 5 und Art. 11 Ziff.4 des 1. Zusatzabkommens). Schwere Verstöße und folglich Kriegsverbrechen sind auch die durch Art.75 des 1. Zusatzprotokolls und Art.4 des 2. Zusatzprotokolls „jederzeit und überall verbotenen“ Vergewaltigungen und die Nötigung zur Prostitution.

Die systematischen Vergewaltigungen der bosnischen Frauen durch die serbischen Truppen sind strafbare Kriegsverbrechen auch aufgrund der »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords« vom 9.12.1948. In dieser Konvention wird „Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen“, als „Verbrechen gegen das internationale Recht“ qualifiziert, zu dessen Verhütung und Bestrafung sich die Vertragsstaaten verpflichten. Als Völkermord werden u.a. definiert die Tötung von Mitgliedern der Gruppe oder die Verursachung von schweren körperlichen oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe, wenn diese Handlungen in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Die zum Zwecke der ethnischen Säuberung begangenen massenhaften Vergewaltigungen zielten auf die psychische Vernichtung und Demoralisierung der bosnischen Frauen und Männer und Kinder. Die Vergewaltigungen wurden also begangen, um sie als Gruppe zu zerstören.

Strafbarkeit von Kriegsverbrechen

Ein völkerrechtliches Strafrecht, d.h. einen Verbrechenskodex, der Sanktionen für Straftaten normiert, gibt es allerdings noch nicht. Zur Bestrafung der Kriegsverbrecher des 2. Weltkrieges hatten die Siegermächte zwar das Londoner Abkommen vom 8. August 1945 geschlossen, das die wichtigsten Tatbestände des völkerrechtlichen Strafrechts aufzeichnete: 1. Verbrechen gegen den Frieden, 2. Kriegsverbrechen, 3. Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Kriegsverbrechen im engeren Sinn sind alle schweren Verletzungen des Kriegsrechts, z.B. Mißhandlungen oder Deportation von Zivilpersonen in besetzten Gebieten, Mord oder Mißhandlung von Kriegsgefangenen, mutwillige Zerstörungen nichtmilitärischer Anlagen, Plünderung usw.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind schwere Verletzungen der Menschenrechte aus Motiven, die mit der Zugehörigkeit des Opfers zu einem bestimmten Staat, einer Volksgruppe, einer Rasse, Religion oder politischen Überzeugung zusammenhängen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen bestätigte in einer Resolution vom 11.12.1946 die »Nürnberger Prinzipien« und erteilte der Völkerrechtskommission den Auftrag, diese Prinzipien zu formulieren. Der Entwurf für einen Verbrechenskodex, den die Völkerrechtkommission 1954 vorlegte, fand jedoch nicht die Billigung der Generalversammlung.

Inzwischen wird die Notwendigkeit eines internationalen Verbrechenskodex in Frage gestellt und die Nürnberger Prinzipien als ausreichende völkergewohnheitsrechtliche Grundlage für die Aburteilung von Kriegsverbrechen angesehen, zumal in den Rotkreuzabkommen und in der Völkermordkonvention Verbrechenstatbestände normiert wurden, die die Nürnberger Prinzipien bekräftigten.

Auch die »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords« vom 9.12.1948, die zu verabschieden der UNO gelungen war, enthält keine eigene Strafnorm, sondern verpflichtet lediglich die Signatarstaaten, Handlungen, die als Völkermord definiert sind, unter Strafe zu stellen (Art.VI der Konvention). Die Bundesrepublik ist 1954 ihrer Verpflichtung aus der Konvention durch die Einfügung des § 220a in das Strafgesetzbuch nachgekommen.

So wie in der »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes« werden in allen vier Genfer Rotkreuzabkommen die „Maßnahmen gegen Verletzungen des Abkommens“ gleichlautend geregelt. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, „alle notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Festsetzung von angemessenen Strafbestimmungen für solche Personen zu treffen, die eine schwere Verletzung des Abkommens begehen oder zu solch einer Verletzung den Befehl erteilen“ (so z.B.: Art.146 Abs.1 des 4.<|>Rotkreuzabkommens). Dabei ist zu berücksichtigen, daß Art. 87 des 1.<|>Zusatzprotokolls die militärischen Kommandanten dafür verantwortlich macht, daß die ihrem Befehl unterstellten Soldaten oder sonstige Personen keine Verletzungen der Abkommen begehen.

Von der Option der Genfer Abkommen, Kriegsverbrechen unabhängig vom Tatort und der Nationalität des Täters nach nationalem Strafrecht zu ahnden, indem die dafür notwendigen Strafnormen in das nationale Recht aufgenommen werden, hat die Staatengemeinschaft nur vereinzelt und lückenhaft Gebrauch gemacht. Die Bundesrepublik ist auch dieser Verpflichtung nachgekommen. Gemäß § 6 Ziff.9 Strafgesetzbuch, der 1974 nach der Aufnahme der Bundesrepublik in die UNO in das Strafgesetzbuch eingefügt wurde, gilt das deutsche Strafrecht ohne Rücksicht auf den Tatort und unabhängig vom Recht des Tatortes und der Staatsangehörigkeit des Täters und des Opfers (Weltrechtsprinzip) für Taten, die aufgrund eines für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen zwischenstaatlichen Abkommens auch dann zu verfolgen sind, wenn sie im Ausland begangen werden. Durch diese Generalklausel wird der Bundesrepublik im Interesse internationaler Solidarität bei der Verbrechensbekämpfung eine umfassende Verfolgungszuständigkeit eröffnet. Die vier Genfer Rotkreuzabkommen und die beiden Zusatzabkommen sind zwischenstaatliche Abkommen im Sinne von § 6 Ziff.9 Strafgesetzbuch.

Verpflichtung zur Ermittlung, Verfolgung und Ahndung der Kriegsverbrechen durch nationale Gerichte

Die Völkermordkonvention sieht vor, daß Personen, denen Völkermord zur Last gelegt wird, entweder vor ein zuständiges Gericht des Staates, in dessen Gebiet die Handlung begangen worden ist, oder vor das internationale Strafgericht gestellt werden (Art.VI der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes).

Die vier Genfer Rotkreuzabkommen dagegen verpflichten gleichlautend jede Vertragspartei „zur Ermittlung der Personen, die der Begehung oder der Erteilung eines Befehls zur Begehung einer schweren Verletzung beschuldigt sind; sie stellt sie ungeachtet ihrer Nationalität vor ihre eigenen Gerichte; wenn sie es vorzieht, kann sie sie auch gemäß den in ihrem eigenen Recht vorgesehenen Bedingungen, einer anderen an der gerichtlichen Verfolgung interessierten Vertragspartei zur Aburteilung übergeben, sofern diese gegen die erwähnten Personen ein ausreichendes Belastungsmaterial vorbringt.“ (Art.146 des 4. Rotkreuzabkommens)

Das heißt: Jeder Vertragsstaat, auch die Bundesrepublik, ist zur Verfolgung der Personen verpflichtet, die wegen schwerer Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen als Kriegsverbrecher beschuldigt werden.

Das Problem, das sich bei dieser Möglichkeit, vor den nationalen Strafgerichten der Vertragsstaaten die Kriegsverbrechen nach den Rotkreuzabkommen anzuklagen, stellt, ist, ob der einzelne Staat über die erforderliche moralische und politische Reputation verfügt, um die Kriegsverbrechen anzuklagen und zu ahnden. Ein Staat, der stellvertretend für die Völkergemeinschaft Kriegsverbrechen verfolgt, sollte nicht wegen eigener Verstöße gegen elementare Menschenrechte angreifbar oder durch seine Geschichte desavouiert sein.

Voraussetzung dafür, daß die des Kriegsverbrechens beschuldigte Person vor ein nationales (deutsches, französisches, schwedisches etc.) Strafgericht gestellt werden kann, ist zwar, daß sie sich in der Gewalt des betreffenden Staates befindet, entweder weil die beschuldigte Person auf dessen Hoheitsgebiet gestellt oder weil sie ihm ausgeliefert wurde. Jedoch haben sich die Vertragsstaaten bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen zur Zusammenarbeit und zur Rechtshilfe und zur Auslieferung beschuldigter Personen an einen Vertragsstaat, der willens ist, diese vor sein nationales Strafgericht zustellen, verpflichtet (Art.88, 89 des 1. Zusatzprotokolls).

Verfolgung und Ahndung durch ein internationales Strafgericht

Einen Internationalen Strafgerichtshof gibt es noch nicht. Obwohl dem Londoner Abkommen 19 Staaten beitraten, waren doch die aufgrund dieses Abkommens gebildeten »Internationalen Militärtribunale« interalliierte und nicht internationale Gerichte. 1949 hatte das Sekretariat der Vereinten Nationen den Entwurf für ein Statut für einen Internationalen Strafgerichtshof entworfen, mit dem sich 1951 und 1953 ein Sonderausschuß der Vereinten Nationen befaßte. Die Völkerrechtskommission aber, die den Auftrag erhalten hatte, die Nürnberger Prinzipien zu kodifizieren, erklärte, daß die Zeit für die Errichtung eines solchen Gerichtshofes noch nicht reif sei. Es müßte erst einmal ein Verbrechenskodex erarbeitet werden. Dieser Plan wurde 1978 aufgegriffen und beschäftigt seitdem die Generalversammlung und die Völkerrechtskommission – bis heute ohne Ergebnis. 1992 ist nun erneut der Auftrag erteilt worden, die Statuten eines Internationalen Strafgerichtshofes auszuarbeiten.

Wenn auch der Auftrag zur Erarbeitung eines Statuts für ein internationales Strafgericht ohne Gegenstimmen erteilt wurde, so ist die baldige Verabschiedung des Statuts keineswegs gesichert. Nach Auskunft des deutschen Vertreters in der International Law Commission, der Völkerrechtskommission der UNO, Prof. Tomuschat, liegt der Entwurf für das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs bereits vor. Jedoch wird wegen des großen Kreises der erforderlichen Signatarstaaten und der Vorbehalte vieler Staaten gegen einen internationalen Strafgerichtshof, weil sie Anklagen gegen sich befürchten, mit einer schnellen Verabschiedung nicht gerechnet. Weil die Meinung in der Weltöffentlichkeit zu solchen Gerichtsverfahren gespalten ist, bezweifelt auch der Vorsitzende der UN-Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, der niederländische Jurist Frits Kalshoven, daß die dort begangenen Morde und Vergewaltigungen jemals vor ein internationales Gericht kommen können (FR v. 28.1.93). Ähnlich skeptisch, so wird (a.a.O.) berichtet, äußerte sich der Sonderbeauftragte der UN-Menschenrechtskommission für das ehemalige Jugoslawien, Tadeusz Mazowiecki, zu dem Vorschlag, Kriegsverbrechertribunale einzurichten. Er sei zwar vom moralischen Nutzen eines Tribunals überzeugt. Es werde jedoch äußerst schwierig sein, den Gedanken einer gerichtlichen Ahndung auch wirklich umzusetzen: „Es ist sicher wünschenswert, daß die Täter bestraft und Gerechtigkeit geübt wird, aber wir leben im 20. und noch nicht im 21. Jahrhundert.“ Zwar hat inzwischen die amerikanische Regierung versprochen, sich für die Schaffung eines internationalen Strafgerichts der Vereinten Nationen einzusetzen. Jedoch ist damit keineswegs sichergestellt, daß die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Statut für das internationale Strafgericht billigt und den Beschluß über dessen Errichtung mehrheitlich verabschiedet.

Den Vorbehalten vieler Staaten gegen ein internationales Strafgericht wird nur durch den Druck der internationalen Öffentlichkeit abzuhelfen sein, die darüber aufklärt, welche Staaten solche Gerichtsverfahren ablehnen. Ein Forum für die nachdrückliche Forderung nach einem internationalen Strafgericht sollte auch die Menschenrechtskonferenz der UNO im Juli 1993 in Wien sein.

Der kodifizierte Menschenrechtsstandard ist inzwischen beträchtlich. Jedoch mangelt es an Handhaben zu dessen Verwirklichung und Durchsetzung. Der Internationale Strafgerichtshof wird deshalb gebraucht. Er ist erforderlich, um Völkermord zu ahnden. Er ist außerdem als international anerkannte Instanz von fragloser Reputation erforderlich, der für die Ahndung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zuständig ist.

Wo KlägerInnen sind, werden auch RichterInnen sein

Es besteht noch keine Veranlassung, sich mit einem europäischen Tribunal in der Art des Russell-Tribunals zu bescheiden.

Einen Ausweg versucht zur Zeit die aus 52 Staaten bestehende KSZE-Staatengemeinschaft zu gehen. Sie hat aus Anlaß der Ereignisse in Bosnien eine Kommission eingesetzt, um einen »ad-hoc-Strafgerichtshof« zur Verfolgung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien einzurichten. Vor diesem Strafgerichtshof, auf den die KSZE-Staaten ihre Befugnisse aus den Rotkreuzabkommen delegieren, könnten die Kriegsverbrechen darstellenden Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen angeklagt werden.

Mehrere regionale und internationale Kommissionen, u.a. eine vom Sicherheitsrat eingesetzte Expertenkommission in Genf, leisten bereits Ermittlungsarbeit und sichern – auch für nationale Gerichte – Beweise für Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien. Die Sorge, daß es die Ermittler schwer haben werden, da Ex-Jugoslawien im Gegensatz zu Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht von internationalen Streitkräften besetzt ist, erscheint unbegründet.

Es besteht die Möglichkeit, Druck zur Errichtung eines »ad hoc-Strafgerichtshof« zur Verfolgung und Ahndung der Kriegsverbrechen dadurch auszuüben, daß in der Bundesrepublik Anzeige wegen der im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien begangenen Kriegsverbrechen und Kriegsvergewaltigungen erstattet und die Staatsanwaltschaft zur Einleitung von Ermittlungsverfahren gezwungen wird. Als Beweismaterialien können z.B. der Untersuchungsbericht von Amnesty International oder Berichte anderer Kommissionen, die Menschenrechtsverletzungen ermittelt haben, vorgelegt werden. Die Berliner Kriminalpolizei ermittelt bereits gegen neun serbische Tschetniks, die von Opfern während einer Sat.1-Sendung »Einspruch« im Publikum erkannt wurden (TAZ vom 25.1.93). In dem am 12.2.1993 von Mazowiecki in seiner Eigenschaft als Sonderberichterstatter für die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen veröffentlichten Bericht über die Lage im ehemaligen Jugoslawien wird festgestellt, daß sich die aus den Konfliktgebieten in Kroatien und Bosnien-Herzegowina gemeldeten Kriegsverbrechen als wahr herausgestellt haben.

Außerdem kontrollieren nach Ansicht von Mazowiecki die Führer aller Konfliktparteien wirksam ihre zivilen und militärischen Strukturen. Sie könnten daher nicht ihre Hände in Unschuld waschen, was die von ihren Streitkräften begangenen Greueltaten betrifft, sondern seien mitverantwortlich für die Vergewaltigungen und die anderen Kriegsverbrechen (FR vom 13.2.93). Richtet sich der Anfangsverdacht noch nicht gegen eine bestimmte Person, so würde das Ermittlungsverfahren zunächst gegen Unbekannt geführt werden.

Zwar kann die Staatsanwaltschaft gemäß § 153 c Abs.1 Ziff.1 Strafprozeßordnung aus Gründen der politischen Opportunität von der Verfolgung von Taten, die im Ausland begangen worden sind, absehen. Die Genfer Rotkreuzabkommen zählen jedoch zu den wenigen völkerrechtlichen Verträgen, in denen das sogenannte »Weltrechtsprinzip« statuiert ist, das die Vertragsstaaten ohne Rücksicht auf den Ort des Verbrechens und auf das Recht am Tatort, unabhängig auch von der Nationalität des Opfers und des Täters berechtigt und verpflichtet, Personen, denen Verstöße gegen ein solches Abkommen vorgeworfen werden, zu verfolgen. Es ist daher davon auszugehen, daß der § 153 c Abs.1 Ziff.1 Strafprozeßordnung nicht gilt, weil die Rotkreuzabkommen völkerrechtliche Vereinbarungen im Sinne von Ziff.94 Abs.2 der »Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren« sind, die die Verpflichtung begründen, Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen wie Inlandstaten zu behandeln und gemäß dem in § 152 Abs.2 Strafprozeßordnung verankerten Legalitätsprinzip dann zu verfolgen, wenn „zureichende Anhaltspunkte vorliegen“. Auch dann aber, wenn aus Gründen der politischen Opportunität von der Strafverfolgung abgesehen werden könnte, dürfte die Staatsanwaltschaft nicht untätig bleiben, sondern müßte prüfen, ob sie z.B. aus politischen Gründen von einer Verfolgung der Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen absieht. Bliebe die Staatsanwaltschaft dennoch untätig, so würden deren BeamtInnen eine strafbare Strafvereitelung (§§ 258, 258 a Strafgesetzbuch) durch Unterlassen von Amtshandlungen begehen, zu deren Vornahme sie wegen des Legalitätsprinzips (§§ 152, 163 Strafprozeßordnung) verpflichtet sind. Innen- oder außenpolitische Gründe, die eine Verneinung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien durch die Bundesrepublik begründen könnten, sind nicht ersichtlich. Es dürfte deshalb schwer fallen, eine Ablehnung der Strafverfolgung zu rechtfertigen.

Da andererseits die Bundesrepublik aus historischen Gründen nicht daran interessiert sein kann, die Kriegsverbrecherprozesse durchzuführen, dürfte sie durch solche Ermittlungsverfahren veranlaßt werden, sich intensiv um die Errichtung eines »ad-hoc-Strafgerichts« der KSZE-Staatengemeinschaft zu bemühen. Ebenso könnte in anderen Vertragsstaaten, die wie die Bundesrepublik die rechtlichen Voraussetzungen für die Verfolgung der Kriegsverbrechen nach den Rotkreuzabkommen geschaffen haben, Anzeige erstattet und die Staatsanwaltschaften zur Einleitung von Ermittlungsverfahren veranlaßt werden. Es müßte hierdurch zumindest erreicht werden können, daß die KSZE-Staatengemeinschaft sich darüber verständigt, in welchem Staat die Kriegsverbrecherprozesse stattfinden sollten, um sodann diesen Staat, z.B. Schweden, mit der Durchführung der Prozesse zu beauftragen und die Verfahren gemäß Art.146 des 4. Rotkreuzabkommens an diesen abzugeben. Das beauftragte Strafgericht wäre zwar nach wie vor ein nationales, jedoch international mandatiertes Strafgericht.

<>Beendigung des Schweigens über die Kriegsvergewaltigungen

So manche, die sich über die Forderung mokieren, die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien vor einem internationalen Strafgericht anzuklagen und zu ahnden, und eine militärische Intervention fordern, um den verbrecherisch kämpfenden Serben das Handwerk zu legen, sind ignorant gegenüber den Erfahrungen, die gerade die Zeitgeschichte bietet, und gegenüber der Konfliktlage. Z.B. handelt die Geschichte des Niedergangs der DDR nicht zuletzt vom Nutzen, den es hat, die Dinge beim Namen zu nennen, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und nicht durch Schweigen zu tolerieren. Die Teilnahme der DDR an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), in deren Schlußakte sich die Teilnehmerstaaten zur Achtung der Menschenrechte ihrer BürgerInnen verpflichteten, hatte den oppositionellen BürgerInnen der DDR Sprachräume und, aus diesen resultierend, Handlungsräume eröffnet. Mit der KSZE-Schlußakte unter dem Arm klagten DDRlerInnen Menschenrechte ein, waren sie imstande, sich für Frieden und Menschenrechte einzusetzen und nicht mehr um des Friedens willen über Menschenrechtsverletzungen zu schweigen. Die DDR hat deshalb immer versucht, die innenpolitische Bedeutung der KSZE-Schlußakte herunterzuspielen. Zugleich markierte die KSZE-Schlußakte einen Einbruch in das von den sozialistischen Staaten propagierte Verständnis des in Art.2 Ziff.7 der Charta der Vereinten Nationen normierten Interventionsverbotes als Sprechverbot. Gemäß Art.7 Ziff.2 UN-Charta sind die Vereinten Nationen nicht befugt, in Angelegenheiten einzugreifen, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören. Die sozialistischen Staaten haben dieses Einmischungsverbot stets so interpretiert, daß schon Diskussionen über Menschenrechtsverletzungen eine unzulässige Einmischung darstellen.

Wenn auch diese Interpretation von den westlichen Staaten abgelehnt wurde, so folgte aus dem Dissens doch, daß über zahllose Menschenrechtsverletzungen nur verhalten öffentlich gesprochen wurde und schon gar nicht die Rede davon war, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die internationale Anprangerung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, die nicht länger ohnmachtsgläubige Hinnahme der Kriegsverbrechen und die Forderungen nach Sanktionen für die Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen, für die Ausführenden wie auch vor allem für die Befehlsgeber und Anführer, sind von neuer Qualität.

Das Anprangern und das Verantwortlichmachen wird von den Verantwortlichen als störende Einmischung in das Kriegsgeschehen erlebt. Sie fürchten die Wirkung, die von der Benennung der Schandtaten als Kriegsverbrechen und der Androhung ausgeht, daß die Täter und ihre Anführer, die sich bei ihrem verbrecherischen Tun im Kollektiv sicher wähnten, namhaft gemacht und individuell zur Rechenschaft gezogen werden. In Serbien darf über die Kriegsverbrechen nicht gesprochen werden. Auch Karadzic weiß aber, daß das Schweigen über die Kriegsverbrechen bei den Verhandlungen in Genf mit den Führern der Bürgerkriegsparteien über Waffenstillstände und Grenzverläufe, nicht die Tolerierung der Kriegsverbrechen bedeutet, für die er mitverantwortlich ist.

Die öffentliche Brandmarkung der schrecklichen Kriegsvergewaltigungen als Kriegsverbrechen hat Wirkungen gezeitigt. Seit die Verfolgung der Vergewaltiger und derjenigen, die die Vergewaltigungen anordneten oder zuließen, vehement gefordert wird, werden Hilfen finanziert und die Serben durch die Ermittlungsergebnisse der zur Untersuchung der Vorwürfe eingesetzten internationalen Kommissionen unter Druck gesetzt, die Unterkünfte, in denen Frauen vergewaltigt werden, aufzulösen. Vielleicht wenden die Serben inzwischen deshalb bei den von ihnen fortgesetzten Vertreibungen zum Zwecke der ethnischen Säuberung im Süden von Bosnien-Herzegowina »verfeinerte« Methoden an. Es gebe keine Berichte mehr über Gewalttaten, Todesfälle oder Verletzte, teilte der Sprecher des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) mit (Fr v. 3.2.1993). Die serbischen Militärs teilten mit, daß sie im Tal der Drina »humanitäre Korridore« für die moslemische Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete offenhalten, die es dieser ermöglicht über die Frontlinien in die von Moslems gehaltenen Gebiete Bosnien zu gelangen (a.a.O.).

Für die Opfer von Verbrechen kommt die Ahndung der Verbrechen zwar immer zu spät. Die genannten Auswirkungen bedeuten jedoch, daß die nachdrückliche Ankündigung, die Kriegsverbrecher vor einem internationalen Strafgericht zur Rechenschaft zu ziehen, durchaus von präventivem Nutzen und geeignet sein kann, die Frauen in den serbisch besetzten Gebieten Bosnien-Herzegowinas vor weiteren Vergewaltigungen zu bewahren.

Unterscheidung von verbrecherischer Kriegführung und Kriegsursachen

Die dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien zugrunde liegenden Probleme werden auf absehbare Zeit nicht gelöst werden können. Um zu verhindern, daß im ehemaligen Jugoslawien weiterhin Kinder, Frauen und Männer gefoltert und gemordet und vergewaltigt werden, ist deshalb die »Zivilisierung« der fortdauernden Auseinandersetzungen zum Schutz der Zivilbevölkerung unerläßlich.

Wer aus humanitären Gründen für eine militärische Intervention plädiert, verfehlt die Realität der verworrenen Konfliktlage im ehemaligen Jugoslawien und übersieht, daß die bisherige nicht-militärische Einmischung der Europäischen Gemeinschaft und der KSZE-Staatengemeinschaft der Illusion verhaftet war, die internationale Anerkennung der bestehenden innerjugoslawischen Grenzen als Staatsgrenzen könne Jugoslawien stabilisieren. Nach der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens war jedoch der status quo in Restjugoslawien nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Strikte Unparteilichkeit

Um die Sinnhaftigkeit und die Chancen von nicht-militärischer Einmischung, zu der das fact-finding zu Menschenrechtsverletzungen und die Vorbereitung von Prozessen gegen die für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen ebenso zählen wie weitere Verhandlungen, Embargos, aber auch die Inaussichtstellung von Wiederaufbaugeldern, einschätzen zu können, bedarf es der Vergegenwärtigung der dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien zugrunde liegenden Konfliktlage. Vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges in Jugoslawien wird die Bedeutung der fundamentalen Regel des humanitären Kriegsvölkerrechts, der strikten Unparteilichkeit, erhellt. Gleichlautend enthalten alle vier Genfer Rotkreuzabkommen die Berechtigung der Schutzmächte (das sind die von den am Konflikt beteiligten Parteien mit der Wahrnehmung ihrer Interessen betrauten Staaten und bzw. oder die UNO) und der Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes oder irgendeiner anderen unparteiischen humanitären Organisation, sich an alle Orte zu begeben, wo sich Kriegsgefangene oder hilfsbedürftige Zivilpersonen aufhalten, namentlich an alle Internierungs-, Gefangenhaltungs- und Arbeitsorte. Sie haben das Recht, Hilfssendungen zu verteilen und sich mit den Gefangenen und geschützten Personen ohne Zeugen zu unterhalten. Solche Besuche dürfen nur aus zwingenden militärischen Gründen und nur ausnahmsweise untersagt, Häufigkeit und Dauer der Besuche dürfen nicht begrenzt werden (z.B. Art.4, 8 bis 11 des 1. Rotkreuzabkommens; Art. 9 folgende, Art.142, 143 des 4.<|>Rotkreuzabkommens).

Der Berechtigung der Schutzmächte und humanitären Organisationen entspricht umgekehrt die Verpflichtung der am Konflikt beteiligten Parteien, die Schutz- und Hilfeleistungen zu ermöglichen. Diese (intensiver als bisher zu nutzenden) Möglichkeiten, helfend einzugreifen, etwa durch die Inspektion und Auflösung der Internierungslager oder zumindest deren Unterstellung unter internationale Kontrolle, werden durch militärische Interventionen aufs Spiel gesetzt, die das Konfliktknäuel, das in der Regel Bürgerkriegen zugrunde liegt, nur weiter verwirren.

Von den Vereinten Nationen ist unparteiisch darauf zu insistieren, daß alle Konfliktparteien den völkerrechtlichen Minderheitenschutz beachten und garantieren. Gemäß Art.27 des Internationalen Paktes der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte von 1966, durch den die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 rechtsverbindlich kodifiziert wurde, darf „in Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten… Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben und sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen.

Als Mittel zur Förderung der Identität wird in der Ziff.35 des KSZE-Konferenzdokuments die Einrichtung autonomer Verwaltungen erwähnt, die im Falle kompakter Siedlungsgebiete lokal autonom sind oder andernfalls über Personalautonomie verfügen, z.B. Selbstverwaltungsrechte für die Angehörigen der Minderheit haben. Dieser Minderheitenschutz muß von allen jugoslawischen Nachfolgerepubliken verlangt werden, um weiterer Verfeindung entgegenzuwirken.

Deeskalation

Dann besteht für die Verfolgung und Ahndung der Kriegsverbrechen auch die Chance, von den BürgerInnen im ehemaligen Jugoslawien unterstützt zu werden, indem sie sich von den, der Kriegsverbrechen beschuldigten Personen distanzieren und ihnen keinen Schutz zuteil werden lassen.

Zum Schutz der Frauen und Männer und Kinder in Bosnien-Herzegowina vor weiteren Vergewaltigungen, Folter und Mord kommt es darauf an, zu deeskalieren, indem von allen gleichermaßen der Schutz der Menschen- und Minderheitenrechte eingefordert wird; ferner indem Vertreibungen und Enteignungen nicht anerkannt, sondern Ansprüche auf Rückgabe oder Entschädigung vereinbart werden – um der Zukunftssicherung der Flüchtlinge willen und um der apokalytischen Stimmung, dem Nährboden für Nationalismus, entgegenzuwirken; und schließlich indem die Entpersönlichung der Soldaten und Milizionäre als Teil des militärischen Apparates nicht akzeptiert und Kriegsverbrechen nicht toleriert, sondern die einzelnen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Helga Wullweber, Rechtsanwältin in Hamburg, Vorstandsmitglied des Republikanischen RechtsanwältInnenvereins.

Weltmenschenrechtskonferenz

Mit der Resolution 45/155 beschloß die UN-Vollversammlung die Einberufung einer Weltkonferenz über Menschenrechte (WCHR), die vom 14.-25 Juni 1993 in Wien abgehalten werden soll. Diese Konferenz findet in einem entscheidenden historischen Moment statt: Das Ende des Kalten Krieges führte zu bedeutenden Veränderungen; die UN übernimmt eine aktivere Rolle bei internationalen Beziehungen. Die UN-Generalversammlung hat entschieden, daß 25 Jahre nach der ersten WCHR (Teheran 1968) das UN-Menschenrechtsprogramm überarbeitet werden muß, damit eine größere Wirkung und Effektivität bei der Förderung und dem Schutz der Menschenrechte erzielt werden kann. Die Konferenz wird über die Ausrichtung der Menschenrechtsprogramms für das nächste Jahrhundet beschließen.

Parallel zur WCHR findet in Wien ein Forum der NGOs (Nichtregierungsorganisationen) statt, an dem sich möglichst viele Menschenrechtsgruppen beteiligen sollten.

Weitere Informationen und Anmeldung beim Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte, Möllwaldplatz 4, A – 1040 Wien, Tel.: 43-1-5044677, Fax:43-1-50446789

Risiko Tiefflug

Risiko Tiefflug

Die strukturelle Überforderung des Piloten

von Winfried Mohr

Übungstiefflüge sind eine besondere Art des militärischen Flugbetriebs. Sie machten z.B. im Jahr 1987 etwa 10% der insgesamt ca. 890.000 Starts von Militärflugzeugen in der Bundesrepublik aus. Unter Tiefflug wird im allgemeinen Sprachgebrauch der Tiefflug von schnellen Kampfflugzeugen verstanden. Im Prinzip gehört auch der Tiefflugbetrieb von Hubschraubern dazu, der aber Besonderheiten aufweist, die von den hier behandelten Fragen nicht abgedeckt werden. Er wird deshalb hier ausgeklammert. Der zeitliche Umfang des Tiefflugbetriebs von schnellen Kampfflugzeugen in der Bundesrepublik umfaßt etwa 70.000 Flugstunden an 110 bis 140 Tagen im Jahr. Beim Übungstiefflug wird auf Sicht geflogen, d.h. er findet nur bei schönem Wetter statt.

Der militärische Zweck von Tiefflug besteht darin, daß mit Flügen in Baumwipfelhöhe (unter 30 m Höhe) das gegnerische Radar unterflogen werden soll, um unerkannt und schnell Ziele im gegnerischen Hinterland anzugreifen oder aufzuklären. Übungstiefflüge finden in der Bundesrepublik im Luftraum zwischen 450 und 150 m Höhe über Grund statt, und zwar in der gesamten Bundesrepublik. Ausgenommen sind Grenzgebiete zur DDR und zur CSSR sowie zu Österreich und der Schweiz, ferner Städte über 100.000 Einwohner sowie neuerdings Kernkraftwerke, zu denen ein Sicherheitsabstand von 1,5 km eingehalten werden muß. In sieben ausgewählten Tiefstfluggebieten dürfen die Kampfflugzeuge bis auf 75 m über Grund heruntergehen. Neuerdings werden diese Tiefstfluggebiete von Regierungsseite gerne als »Tieffluggebiete« bezeichnet, vermutlich auch in verharmlosender Absicht, denn es ist geplant, ihre Zahl auf 49 zu erhöhen und sie auf die ganze Bundesrepublik auszuweiten. Im Turnus sollen jeweils sieben Gebiete für einen bestimmten Zeitraum im Jahr zum Übungsbetrieb genutzt werden. Die Probleme der Tiefflüge werden dadurch nicht gemindert, sie werden nur gleichmäßig verteilt. Übungstiefflüge insbesondere der Bundesluftwaffe in für den »Ernstfall« vorgesehenen Flughöhen von 30 m und tiefer finden in Neufundland/Kanada (Goose Bay) statt, einem Gebiet, das zwar dünn besiedelt ist, in dem aber die Lebensbedingungen der Einheimischen, vor allem Indianer, in extremem Maße beeinträchtigt werden. Vereinzelt finden solche Flüge entgegen den Luftverkehrsvorschriften allerdings auch in der Bundesrepublik statt, wie die Bundesregierung kürzlich eingestehen mußte.

Die Bevölkerung der Bundesrepublik ist in hohem Maße durch die Übungstiefflüge belastet. Tiefflüge verursachen

  • extremen Lärm mit Spitzenbelastungen von 130 dBA, d.h. im Bereich der Schmerzschwelle;
  • Umweltschäden, z.B. Gebäudeschäden bis hin zum Einsturz von Gebäuden, Luft- und Bodenverschmutzung durch Treibstoff, Treibstoffbeimischungen (etwa Hydrazin) und Verbrennungsrückstände;
  • Unfälle mit akuten Schäden und getöteten Menschen wie in Remscheid oder Wiesmoor.

Die Sicherheit der Bevölkerung der Bundesrepublik, die durch die Tiefflüge angeblich erhöht werden soll, ist durch die Tiefflüge akut gefährdet. Einige Zahlen:

  • Seit 1980 sind auf dem Gebiet der Bundesrepublik 204 Militärflugzeuge abgestürzt, im Jahr 1988 allein 33, bei denen 39 Menschen getötet wurden (ohne die Opfer von Ramstein).
  • Die Bundesluftwaffe hat seit ihrem Bestehen 545 Flugzeuge durch Absturz verloren, davon 453 über der Bundesrepublik. Seit 1973 sind zusätzlich 234 Militärjets der NATO-Verbündeten über der Bundesrepublik abgestürzt. Zum Vergleich: Die Bundesluftwaffe verfügt zur Zeit über ca. 770 Kampfflugzeuge (nach Mechtersheimer & Barth 1988). Seit 1973 ist durchschnittlich alle zwei Wochen ein Kampfflugzeug abgestürzt, 23 davon in der Umgebung von Kernkraftwerken. 81 Wohnhäuser wurden dabei zerstört1.

Das Unfallrisiko »menschliches Versagen«

Ich möchte mich im folgenden auf den letztgenannten Punkt konzentrieren, nämlich das akute Risiko des Übungstiefflugbetriebes für die Bevölkerung der Bundesrepublik. Dies ist nur ein Gesichtspunkt der Tiefflugdiskussion, vermutlich nicht einmal der wichtigste. Aber er steht für ein anderes Problem militärisch-technischer Systeme, das allerdings auch in anderen Kontexten von Bedeutung ist, nämlich der Gefahr des sogenannten »menschlichen Versagens« bei der Handhabung von komplexer Technik.

Nach Ansicht von Flugunfallforschern sind 70% bis 90% aller Abstürze von Militärflugzeugen auf »menschliches Versagen« zurückzuführen, d.h. es lassen sich keine technischen Fehler im System als Unfallursachen erkennen (Leitfaden der militärischen Flugpsychologie 1987, S. 399; Gerbert 1981, S.552). Zentrales Problem bei der Untersuchung der Gefährlichkeit von Tiefflügen ist folglich, den Ursachen für dieses »menschliche Versagen« auf den Grund zu gehen. Überlegungen können dabei in mehrere Richtungen angestellt werden.

  • Das »menschliche Versagen« könnte darin bestehen, daß die Piloten sich nicht an die Vorschriften halten, daß sie gewissermaßen »Luftrowdies« sind.
  • Denkbar ist auch, daß die Piloten ungenügend ausgebildet sind – das »menschliche Versagen« also in der mangelhaften Anpassung des Menschen an die Technik »Kampfflugzeug« begründet ist.

Obwohl Pilotenvereinigungen den Vorwurf des Rowdytums strikt zurückweisen und obwohl die Ausbildung von Kampfflugzeugpiloten außerordentlich aufwendig und teuer ist, mögen beide Aspekte eine gewisse Rolle spielen. Etwa bei der Katastrophe von Remscheid scheint der beteiligte Pilot bewußt von der vorgeschriebenen Flugroute abgewichen zu sein. Es ist aber zu bezweifeln, daß diese Faktoren »menschliches Versagen« hinlänglich zu erklären vermögen. Selbst bei optimaler Ausbildung und vorschriftsmäßigem Verhalten ist Tiefflug außerordentlich riskant, stellt das technische System »Kampfflugzeuge« extreme Anforderungen an die Piloten.

  • Kann es nicht auch sein, daß die Piloten durch die Technik »Kampfflugzeug«, besonders beim Tiefflug, prinzipiell überfordert sind?

Diese Vermutung wird durch eine Reihe von Befunden aus der flieger- und flugpsychologischen Forschung sowie durch Ergebnisse der Psychologie zu den psychischen Funktionen der Wahrnehmung, der Handlungssteuerung und der Aufmerksamkeit gestützt. Diese Funktionen sind für das Fliegen sehr wichtig. Die Quellen, auf die ich mich beziehe, stammen aus der militärischen Flieger- und Flugpsychologie und sind daher kaum der kritischen Voreingenommenheit gegenüber dem militärischen Flugbetrieb zu bezichtigen.

Zum Begriff »menschliches Versagen« ist noch anzumerken, daß er als Ursachenerklärung ausgesprochen fragwürdig wird, wenn das Problem tatsächlich in der Überforderung der Piloten durch die Technik liegt. Wenn der Pilot von seiner Aufgabe strukturell überfordert ist, wenn die Aufgabe die Grenzen seines Leistungsvermögens übersteigt, wie kann er dann »versagen«? Von Versagen zu sprechen ist doch nur dann angemessen, wenn in der überwiegenden Zahl der Fälle der Mensch die Aufgabe löst, dies in einer bestimmten Situation jedoch aufgrund von Unachtsamkeit oder gar Fahrlässigkeit nicht fertigbringt. Wenn in der Technik die Möglichkeit der Überforderung strukturell enthalten und wahrscheinlich ist, dann ist das »menschliche Versagen« geradezu programmiert. Dies ist besonders schwerwiegend, wenn, wie beim Tiefflug, ein solches Versagen hohe Kosten verursacht.

Belastung/Beanspruchung des Piloten beim Fliegen

Das Fliegen von schnellen Kampfflugzeugen ist für die Piloten mit starken physischen und psychischen Belastungen verbunden. Es ist bekannt, daß hohe Belastung zu physiologischer Erregung führt, die im allgemeinen wiederum mit Einbußen im mentalen Leistungsvermögen einhergeht.

Karl Gerbert, der frühere Leiter der Abteilung Flugpsychologie des Flugmedizinischen Instituts der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck, bezeichnet die Tätigkeit eines Kampfflugzeugpiloten als „Musterbeispiel für eine komplexe, multidimensional belastende und psychophysisch stark beanspruchende Arbeit“ (Gerbert 1981, S.542). Der Pilot wird während seines Flugeinsatzes einer ganzen Reihe „potentiell pathogener Umwelteinflüsse ausgesetzt“. Als Beispiele nennt er Belastungen durch hohe Beschleunigungen, verminderten Luftdruck, mechanische Schwingungen und Stöße, Lärm, Strahlung, äußerst eingeschränkte Sicht-, Greif- und Sitzverhältnisse im Cockpit, Schutzhelm, Druckanzug, Überlebensausrüstung.

Extreme Beanspruchungen entstehen zum Beispiel aus den hohen Beschleunigungen. Haber (1986) zufolge sind beim militärischen Fliegen in Kurven, beim Abfangen aus dem Sturzflug oder beim schnellen Anstieg Beschleunigungen vom sechs- bis neunfachen der Erdbeschleunigung (6g bis 9g) durchaus üblich und können bis zu 11g erreichen. Zum Vergleich: Der Start einer Passagiermaschine vom Typ Boeing 727 erzeugt rund 1,5g (Haber 1986, S.63). In einer Kurve, in der 6g erreicht werden, heißt dies, daß der Pilot mit dem Sechsfachen seines Körpergewichts in den Sitz gepresst wird oder daß der Helm von 2 kg Gewicht mit 12 kg auf den Körper drückt. Die körperlichen Belastungen, die der Pilot auszuhalten hat, können von Orientierungsverlust, Übelkeit bis zur Bewußtlosigkeit, der Einschränkung des Gesichtsfeldes, der Beeinträchtigung des zentralen Sehens bis einige Sekunden nach dem Ende der Beschleunigung begleitet sein (Leitfaden der militärischen Flugpsychologie 1987, S.40; Haber 1987, S.524). Selbst wenn beim Tiefflug nicht ganz so extreme g-Kräfte wirksam sein sollten, kommen dabei heftige Luftturbulenzen hinzu, die den Piloten einer beständigen starken Stoßbelastung aussetzen2.

In höchstem Maße beanspruchend wirkt auch die große Zahl von Handlungen und Operationen, die der Einsatz des komplexen Systems Kampfflugzeug dem Piloten im Tiefflug oder in Kampfsituationen abverlangt. Bei Flügen in geringer Höhe, bei denen Bodenziele im schnellen Überflug identifiziert und aufgeklärt oder angegriffen werden sollen, bei Starts und Landungen auf einem Flugzeugträger sowie beim Luftkampf in großer Höhe werden 60 und mehr Handlungen pro Minute gezählt. Als Handlungen zählen dabei das Ablesen von Instrumenten, Ausführen von Steuerbewegungen, Empfangen und Senden von Signalen usw. Zum Vergleich: Beim Fliegen einer Platzrunde mit einem Flugzeug vom Typ Pi-149D (Ausbildungsflugzeug der Bundeswehr) wurden 10 Handlungen pro Minute gezählt, mit einem Starfighter F-104 bereits 28 (Gerbert 1981, S.544).

Das Ausmaß an Beanspruchung zeigt sich in physiologischen Streß-Indikatoren. Beispielsweise ergaben Untersuchungen an (erfahrenen) Starfighter-Piloten bei Tiefstflügen in ca. 30 m Höhe bei 450 Knoten (ca. 830 km/h) Fluggeschwindigkeit eine durchschnittliche Pulsfrequenz von 150 Schlägen pro Minute mit Spitzenwerten von 170 Schlägen pro Minute. Der Puls normalisierte sich erst eine halbe Stunde nach der Landung. Auch weitere Streß-Indikatoren (Anstieg des Blutdrucks, der 17-Hydroxycorticoidwerte, der Katecholamine u.a.) werden berichtet. Der »Emergency-State«, die Reaktionsbereitschaft des Organismus in Notsituationen, der durch diese Indikatoren angezeigt wird, besteht noch Stunden nach der Landung fort (Gerbert 1981, S.544).

Der Pilot muß diese Belastungen aber nicht nur einfach aushalten wie Jahrmarktsbesucher, die sich mit mehr oder weniger Vergnügen auf eine Achterbahnfahrt einlassen. Vielmehr muß er unter solchen Bedingungen zuverlässig ein schnelles Flugzeug steuern und einen militärischen Auftrag erfüllen, eine Aufgabe, die höchste Anforderungen an sein kognitives Leistungsvermögen stellt.

Probleme bei der Steuerung eines tieffliegenden Flugzeuges

Wie extrem die Anforderungen sind, die die Steuerung eines tieffliegenden Flugzeuges dem Piloten abverlangt, möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen.

Ein Flugzeug fliegt horizontal in 150 m Höhe mit einer Geschwindigkeit von 900 km/h (oder 250 m/s) auf leicht, z.B. mit fünf Grad, ansteigendes Gelände zu. Sofern der Pilot seinen horizontalen Flug fortsetzt, bleiben ihm ab Beginn des Anstiegs ca. 7,2 Sekunden Flugzeit (oder ca. 1,8 km Flugstrecke), bis er am Hügel aufprallt.

Diese Zeit ist jedoch keineswegs der effektive Spielraum, den der Pilot hat, um die Gefahr eines Absturzes abzuwenden. Denn von den 7,2 Sekunden Flugzeit sind noch die Zeiten abzuziehen, die benötigt werden, um die Gefahr zu erkennen und zu analysieren, zu entscheiden, was zu tun ist, die erforderlichen Bewegungen auszuführen usw. Zusätzlich geht die Zeit für die Ausführung der Steuerungskommandos durch das Flugzeug ab. Der tatsächliche Handlungsspielraum, d.h. die Zeit, in der der Pilot tatsächlich frei entscheiden kann, ist der Rest an Zeit, der nach Abzug der Zeit für die Summe aller genannten Vorgänge noch verbleibt.

Die Zeiten für psychische Prozesse

Psychische Vorgänge erfordern Zeit. Bei der hohen Geschwindigkeit von Kampfflugzeugen und der dadurch bedingten geringen Entscheidungsspielräume insbesondere beim Tiefflug ist selbst der Zeitbedarf von relativ einfachen Wahrnehmungs-, Unterscheidungs-, Entscheidungs- und Reaktionsvorgängen bedeutsam. Die Flugpsychologen der Bundeswehr rechnen für das Ablesen eines Instruments durchschnittlich eine Sekunde Zeitbedarf, für die Augenbewegung von einem Instrument zum anderen durchschnittlich 0,4 Sekunden. Die Zeit, die der Pilot braucht, um zu erfassen, daß seine Fluglage seitlich um 30 Grad gerollt ist, und um die kompensierende Bewegungsreaktion auszuführen, wird mit 1,5 Sekunden veranschlagt. Hinzu kommt die Zeit, bis das Flugzeug diese Steuerbewegung ausgeführt hat–eine weitere Sekunde (Leitfaden der militärischen Flugpsychologie 1987, S.55f.). Unser fiktiver Tiefflieger legt in der Gesamtzeit von 2,5 Sekunden ca. 625 m zurück. Für die „Kognition eines integrierten Anzeigenkomplexes (Mischdarstellung symbolischer, analoger und digitaler Daten zur Fluglage-, Kurs- und Geschwindigkeitsbestimmung)“ sind nach Gerbert (1981, S.543) fünf Sekunden und mehr zu veranschlagen, wobei der Zeitbedarf für die motorischen Aktionen beim Führen und Bedienen des Gesamtsystems noch nicht berücksichtigt ist.

Die kritische Größe für den Zeitbedarf des Piloten, mit der in der militärischen Flugpsychologie operiert wird, ist die Gesamtreaktionszeit des Mensch-Maschine-Systems Flugzeug, die Summe aller Zeiten für psychische und maschinelle Vorgänge, wie sie oben angesprochen wurden. Sie liegt zwischen 2 und 12 Sekunden bei einem Mittelwert von 7 Sekunden (Leitfaden… S.55f.). Nehmen wir für unser obiges Beispiel als für die Vermeidung eines Absturzes notwendigen Zeitbedarf für die Vorgänge bei der Steuerung des Flugzeuges die mittlere Gesamtreaktionszeit von 7 Sekunden an, bleiben dem Piloten praktisch 0,2 Sekunden effektiver Spielraum für seine Entscheidung. Um zu überleben, muß er also den Anstieg frühzeitig erkennen und frühzeitig seine Steuerungsentscheidung treffen. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, daß er natürlich auch eine falsche Steuerungsentscheidung treffen kann oder daß sich unter den erschwerenden Bedingungen eines drohenden Unfalls beim Piloten Zeitverzögerungen oder Panikreaktionen ergeben können.

Die Annahme, daß ein Pilot einen leichten Geländeanstieg nicht oder zu spät bemerkt, ist nicht aus der Luft gegriffen. Außer dem Problem des immensen Handlungs- und Entscheidungsdrucks treten beim Tiefflug spezifische Wahrnehmungsprobleme auf. Dies gilt vor allem für die Wahrnehmung von Entfernung, etwa der Höhe über Grund, und die Orientierung im Raum, d.h. ob und wie der Pilot merkt, daß er horizontal fliegt oder sinkt oder steigt oder seitlich gerollt fliegt, wo Unten und wo Oben ist usw.

Wahrnehmung von Entfernung

Wie Menschen Entfernung wahrnehmen, ist ein komplexer Vorgang, der in allen Aspekten auch noch nicht erklärt werden kann (vgl. Gibson 1982). In unserem Zusammenhang ist vor allem wichtig, daß die Information, die unserem Wahrnehmungssystem für die Wahrnehmung von Entfernung zur Verfügung steht, zunächst nur die Beurteilung relativer Entfernungen zuläßt, also was näher und was weiter entfernt ist. Wie nah bzw. wie weit weg ein Gegenstand ist, kann erst dann einigermaßen zuverlässig beurteilt werden, wenn »bekannte« Größen, z.B. bekannte Entfernungen oder Gegenstände bekannter Ausmaße, dazu in Beziehung gesetzt werden können. Beispielsweise hilft uns bei der Wahrnehmung der Entfernung eines Hauses unser Wissen über die Größe von Häusern. Diese Entfernungsschätzungen sind natürlich ungenau, und es können auch systematische Verschätzungen auftreten, insbesondere dann, wenn die verfügbaren Informationen in unserer visuellen Welt hinsichtlich ihrer Dimensionierung mehrdeutig sind. Beispielsweise kann eine Landschaft mit gleichmäßigem Bewuchs von Gebüsch dazu führen, daß die Flughöhe überschätzt wird, wenn die Größe des Gebüschs überschätzt wird. Die Größe von Gebüsch ist variabel und die Form von Gebüsch hängt nur wenig von der Größe ab. Die Form läßt also kaum Rückschlüsse auf die Größe zu, anders als etwa Bäume oder Häuser oder Autos. Systematische Fehler in der Größenschätzung sind also durchaus plausibel (vgl. Haber 1987).

Eine weitere wichtige Information für die Wahrnehmung von Entfernung ist die sog. »Bewegungsparallaxe«. Die Flugpsychologen sprechen auch vom »ground-rush«. Das ist das Phänomen, daß sich beim Fliegen das Gelände mit unterschiedlicher Geschwindigkeit unter dem Flugzeug oder am Flugzeug vorbei bewegt, je nachdem, wie weit es entfernt ist. Je geringer die Entfernung, umso größer ist die phänomenale Geschwindigkeit des sich vorbeibewegenden Geländes, und umgekehrt, je größer die Entfernung, umso geringer ist diese Geschwindigkeit. Aus den relativen Geschwindigkeiten kann unser Wahrnehmungssystem in der Regel ganz gut Entfernungen quasi »zurückrechnen«, allerdings zunächst auch nur relative Entfernungen. Die Abschätzung absoluter Entfernungen erfordert Informationen über die eigene Position, die eigene Geschwindigkeit oder die Größe vorbeiziehender Objekte. Auch diese Art der Entfernungsschätzung durch unser Wahrnehmungssystem ist natürlich ungenau oder mit systematischen Fehlern behaftet. Wenn kein weiterer Bezugspunkt (etwa die Größe von Objekten oder die eigene Geschwindigkeit) gegeben ist, kann der Pilot sich in der tatsächlichen Entfernung beträchtlich verschätzen. Beispielsweise kann der Pilot Entfernungen vollkommen überschätzen, wenn er nicht bemerken sollte, daß seine eigene Geschwindigkeit geringer geworden ist. Ein Geschwindigkeitsverlust tritt etwa beim Kurvenflug auf, und es ist wahrscheinlich, daß in solchen Situationen der Verlust korrekter Entfernungswahrnehmung maßgeblicher Faktor beim Absturz von tieffliegenden Flugzeugen ist (vgl. Haber 1987).

Ein weiteres Problem tritt aufgrund der hohen Geschwindigkeiten beim Tiefflug auf. Die visuelle Information bewegt sich so schnell am Rand des Gesichtsfeldes vorbei, daß sie kaum mehr verwertet werden kann. Beim Piloten entsteht der Eindruck, die Welt vor sich wie durch eine Röhre zu sehen, als ob er aus einem Tunnel blicken würde (»Tunnelsehen«). Die Auswirkungen des damit verbunden Verlustes des peripheren Sehens auf die Wahrnehmung von Entfernung sind noch nicht geklärt.

Orientierung im Raum

Außer durch das Sehen gewinnen wir Informationen über unsere Orientierung im Raum über das Vestibularsystem, unseren Gleichgewichts- und Schweresinn. Was mit diesem Sinnessystem beim Fliegen geschieht, kann man sich vielleicht aufgrund von eigenen Erfahrungen in einer Achterbahn ausmalen. Die Wahrnehmung, was unten und was oben ist, kann gestört werden, Schwindelgefühl tritt auf, Übelkeit kann die Folge sein.

Das kann auch Piloten passieren. Man spricht dann von Vertigo oder auch Flugkrankheit. Sie ist verbunden mit Schwindelgefühl, Desorientierung, Übelkeit, Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit.

Selbst wenn kein Vertigo auftritt, können Störungen des Vestibularsystems beim Fliegen zu Problemen führen. Beim Kurvenflug etwa, wenn der Pilot durch die Fliehkraft in den Sitz gedrückt wird, signalisiert ihm das Vestibularsystem, daß »Unten« in Richtung Sitz ist, in der Richtung nämlich, in der die stärkste Kraft wirkt. Normalerweise ist dies die Schwerkraft, »unten« also dort, wohin die Schwerkraft wirkt. Während des Kurvenflugs verliert der Pilot also sein auf die Erde gerichtetes übliches Bezugssystem für die Orientierung, und es dauert nach der Kurve einige Zeit, bis es sich wieder stabilisiert hat. Das Problem ist, daß das Flugzeug in der Kurve an Höhe verliert. Der Höhenverlust muß durch zusätzlichen Triebwerksschub ausgeglichen werden. Bemerkt der Pilot den Höhenverlust nicht oder nicht rechtzeitig, kann es beim Tiefflug leicht zum Absturz kommen.

Zusammenfassend muß man also feststellen, daß das Fliegen Bedingungen für das Wahrnehmungssystem schafft, die die Leistungen dieses Wahrnehmungssystems erheblich beeinträchtigen können. Beim Tiefflug ist dies besonders kritisch, eben weil die geringe Entfernung zum Grund kaum Spielraum für Flugmanöver bietet, mit denen mögliche Fehler korrigiert werden können.

Problembereich Aufmerksamkeit

Wie wir gesehen haben, erfordert die Steuerung des Flugzeuges vom Piloten in hohem Maße Aufmerksamkeit. Er muß beachten, wie hoch er fliegt, ob er steigt oder sinkt, wie schnell oder langsam er fliegt, wie das Gelände unter ihm beschaffen ist, wie das Wetter sich entwickelt usw.

Viele der Informationen, die er für ein zuverlässiges Urteil über seine Flugsituation braucht, sind nur über Instrumente zu gewinnen, manche erhält er durch den Blick nach draußen, etliche Informationen sind uneindeutig. Hinzu kommen mögliche Warnsignale, die auf Betriebsstörungen des Flugzeuges oder äußere Ereignisse hinweisen können und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Welche Anforderungen dies an die Aufmerksamkeit des Piloten stellt, wird vielleicht deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daß das Cockpit eines Kampfflugzeuges rund 80 Anzeige- und Bedienelemente enthält (Gerbert 1981, S.543).

Die Aufmerksamkeit beim Menschen ist – selbst unter Alltagsbedingungen – begrenzt: Ohne Leistungs- oder Informationseinbußen kann aller Erfahrung nach zu einem Zeitpunkt nur ein Sachverhalt beachtet werden. Aufmerksamkeit kann zwar gewissermaßen auf einen Sachverhalt konzentriert werden, sie ist aber ihrem Charakter nach flexibel, verschiebbar. Andere gleichzeitige Ereignisse können die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und vom zu beobachtenden Sachverhalt ablenken. Ferner bewirken Wiederholungen gleicher Ereignisse Monotonie und Ermüdung und damit ein Abfallen der Aufmerksamkeit. Schnelle Abfolgen von sehr unterschiedlichen Ereignissen führen durch Überforderung gleichfalls zu Ermüdung und zum Abfallen der Aufmerksamkeit.

Diese unter entwicklungsgeschichtlicher Perspektive höchst sinnvollen Eigenschaften der Aufmerksamkeit sind im Zusammenhang mit der Bedienung von Maschinen problematisch, weil sie beständige Quelle von »Fehlern« sind. Es besteht permanent die Gefahr, daß die Aufmerksamkeitskapazität des bedienenden Menschen überfordert wird, daß er durch Nebensächlichkeiten abgelenkt wird, daß sich durch Wiederholungen gleicher Ereignisse Monotonie und Ermüdung einstellt usw. und daß es dadurch zu Fehlbedienungen kommt. Dies ist ein grundsätzliches Problem der Beherrschbarkeit von Technik, im Zusammenhang mit den extremen Anforderungen der Technik an den Menschen beim Tiefflug wird die Problematik nur besonders augenfällig.

Ich habe vorher auf die hohe Handlungsdichte beim Tiefflug verwiesen (mehr als 60 Handlungen pro Minute). Die Wahrscheinlichkeit einer Fehlhandlung oder eines Handlungsfehlers ist bei dieser Häufigkeit von Operationen aufgrund der begrenzten Aufmerksamkeitsressourcen sehr groß: ein Instrument wird falsch abgelesen, ein Warnsignal überhört oder falsch interpretiert, eine Bedienhandlung vergessen o.ä. Selbst wenn der einzelne Fehler noch unkritisch sein sollte, weil die Technik ihn ausgleicht oder weil noch genügend Spielraum für eine Korrektur besteht, ist aufgrund der hohen Anzahl von Fehlermöglichkeiten pro Zeiteinheit die Wahrscheinlichkeit eines unfallkritischen Fehlers vermutlich ziemlich groß–wie groß, darüber stehen leider keine Daten zur Verfügung.

Hinzu kommt, daß der Pilot ja nicht nur das Flugzeug steuern muß. Schließlich

  • hat er einen militärischen Auftrag, den er bei seinem Flug ausführen soll und der Aufmerksamkeit erfordert;
  • muß er dauernd mit unvorhergesehenen Ereignissen rechnen, auf die er reagieren muß;
  • muß er Flugregeln und Vorschriften beachten, z.B. Überflugverbote und Mindestabstände.

Dies alles erfordert Aufmerksamkeit und führt dazu, daß der zeitliche Spielraum für die Steuerung des Flugzeuges weiter eingeschränkt wird.

Berücksichtigt werden muß außerdem, daß der Pilot aufgrund der Belastungen und Wahrnehmungsprobleme beim Fliegen ohnehin Schwierigkeiten hat, seine Aufmerksamkeit auf Sachverhalte zu richten oder zwischen Sachverhalten zu wechseln:

  • Das »Tunnelsehen« bei hohen Geschwindigkeiten engt den Bereich scharf konturierter und damit willkürlich zu beachtender Information stark ein,
  • die Information von der Peripherie ist schlechter verwertbar,
  • die starken g-Kräfte z.B. beim Kurvenflug vermindern das Aufmerksamkeitsniveau,
  • Kopfbewegungen beim Kurvenflug machen Vertigo (Übelkeit) wahrscheinlicher (Leitfaden… 1987; Haber 1987).

Ein letzter Punkt: Sollten dem Piloten zwischendurch seine persönlichen Probleme in den Sinn kommen und ihn von seinen Aufgaben ablenken – und wer kann das ausschließen -, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines kritischen Fehlers weiter. Oft sind es ja kleine momentane Unachtsamkeiten, die zu einer ganzen Kette von Fehlern führen können. Auch das unglückliche Zusammenspiel mehrerer, für sich genommen unbedeutender Fehler kann bekanntermaßen verheerende Folgen haben (vgl. Perrow 1987).

Die Validität der theoretischen Analyse

Bisher wurden eine Reihe von möglichen Problembereichen beim Tiefflug bzw. beim extremen Fliegen aufgezeigt. Zu fragen ist nun, inwieweit solche Probleme tatsächlich auftreten und für Unfälle verantwortlich sind. Beantworten läßt sich diese Frage z.B. über Flugunfallanalysen. Da Abstürze von Kampfflugzeugen aber häufig keine eindeutige Ursachenanalyse mehr zulassen, behilft man sich mit der Analyse von Beinah-Unfällen, kritischen Flugzwischenfällen, bei denen die Gefahr eines Absturzes bestand.

Anfang der 80er-Jahre wurde eine solche Analyse von Flugpsychologen der Bundeswehr durchgeführt (Gerbert & Kemmler 1986). Im Zeitraum von drei Jahren wurden 1448 Piloten mit einem ausführlichen Fragebogen über ihren letzten, am kürzesten zurückliegenden kritischen Zwischenfall befragt. Erfaßt wurden z.B. die äußeren Bedingungen, die Befindlichkeit der Piloten, Fehler, die sie begangen hatten usw. Die Studie bezieht sich nicht speziell auf den Tiefflug. In Tabelle 1 sind die häufigsten Verhaltensfehler zusammengestellt.

Tabelle 1: Die häufigsten Verhaltensfehler,
die zu kritischen Flugzwischenfällen geführt haben (N=1448; Summe über 100%, da
Mehrfachnennungen möglich), nach Gerbert & Kemmler (1986):
Verspätete oder nicht durchgeführte Reaktionen/Handlungen * 57,5%
Verlust der Flughöhe * 41,5%
Fehlbeurteilungen der Wetterbedingungen 30,2%
Nicht eingehaltene Fluggeschwindigkeit * 23,2%
Fehlbeurteilungen der Reichweite 21,3%
Räumliche Desorientierung * 20,2%
Ungenügende Cross-Checks 19,8%
Ungenügende Beobachtung der äußeren Bedingungen 16,1%
Nichtbeachtung der Vorschriften 15,9%
Fehler beim Übergang Sichtflug/Instrumentenflug 11,6%
Mangelhafte Flugvorbereitungen 11,1%
Inadäquates Steuerungsverhalten 10,4%
Die mit (*) markierten Verhaltensfehler hängen mit den Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsproblemen zusammen, die oben diskutiert wurden. Sie
gehören zu den häufigsten Verhaltensfehlern und dürften daher in nicht unerheblichem Maße auch am Zustandekommen von Unfällen beteiligt sein.

In diesem Zusammenhang ist noch ein weiteres Ergebnis der Studie von Gerbert & Kemmler interessant, das sich auf die Möglichkeit der Piloten bezieht, mit kritischen Flugsituationen fertig zu werden, d.h. aktiv zur Unfallvermeidung beizutragen. Die Piloten wurden nämlich auch gefragt, wie sie aus der kritischen Situation wieder herausgekommen sind. 49,8% der Piloten gaben an, daß sie nur aus Zufall, mit viel Glück einem Unfall entgangen seien, und nur 30,1% der Piloten führten dies auf die Anwendung von Verhaltensmaßregeln zurück.

Zwei Punkte an diesem Ergebnis erscheinen mir besonders bedenklich: Zum einen sind kritische Situationen von den Piloten offensichtlich nur begrenzt beherrschbar. Zum anderen ist festzustellen, daß im Verlauf von drei Jahren mindestens 721 kritische Flugzwischenfälle (49,8% von 1448) stattgefunden haben, die nur aufgrund von Glück nicht zu Unfällen geführt haben. Vermutlich ist die Zahl solcher Fälle im Flugbetrieb über der Bundesrepublik noch größer, denn in der Studie wurde von jedem Piloten nur ein Fall beschrieben (alle wußten offensichtlich von einem solchen Fall zu berichten!) und keineswegs alle kritischen Vorkommnisse, und außerdem wurden die Piloten der anderen Luftstreitkräfte, die über der Bundesrepublik fliegen, nicht miteinbezogen. Dieser Befund muß in einer Risikoanalyse des militärischen Flugbetriebs zusätzlich berücksichtigt werden.

Folgen für die Piloten: klinische Probleme

Offensichtlich sind Piloten von Kampfflugzeugen extremen Belastungen ausgesetzt, und es stellt sich nun die Frage, ob und wie die Piloten dies alles aushalten. Geht alles spurlos an ihnen vorüber, wie es das Klischee von den Piloten als »harten Burschen«, eben »richtigen Männern«, erwarten läßt?

Ich fand es – im Sinne der Flugsicherheit vielleicht problematisch – aber insgesamt doch wieder beruhigend, als ich unter dem Stichwort Klinische Flugpsychologie Daten gefunden habe, die zeigen, daß auch die Piloten wie normale Menschen auf Belastungen reagieren. Hier einige, allerdings ältere, Zahlen:

  • Von 1963 bis 1970 gab es in der Bundesluftwaffe 396 auffällig gewordene Piloten (allerdings nicht nur von Kampfflugzeugen), die einer psychologischen Untersuchung, z.T. Behandlung unterzogen wurden (Leitfaden… S.381f.).
  • Der gleichen Quelle zufolge leiden 10% der Flugschüler vorübergehend oder permanent an Flugkrankheit (Kinetose), davon 70% aus eher psychischen und nicht primär somatischen Gründen.

Jeder Übungsflug – so ist daraus zu schließen – ist also nicht nur mit einem Gewinn an Übung für den Piloten verbunden, sondern stellt gleichermaßen eine neue Belastungssituation für den Piloten dar, die jeweils neu psychisch zu bewältigen ist.

Schlußfolgerungen

Zusammenfassend ist festzustellen:

Tiefflug ist mit hohem Risiko verbunden; sowohl die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls als auch die möglichen Kosten eines Unfalls sind hoch. Tiefflug ist ein großes Problem für die Sicherheit der Bevölkerung der Bundesrepublik.

Das Risiko des Tiefflugs liegt in der Natur des Tiefflugs und den Leistungen, die den Menschen im Cockpit dabei abverlangt werden. Beim Tiefflug liegen die Anforderungen an die Piloten im Grenzbereich ihres Leistungsvermögens oder überschreiten ihr Leistungsvermögen. Dabei von »menschlichem Versagen« zu sprechen, ist unangemessen, das »menschliche Versagen« beim Tiefflug ist strukturell vorgegeben, quasi programmiert.

Die einzige Möglichkeit, das Risiko des Tiefflugs zu mindern, besteht darin, die Anzahl der Tiefflüge drastisch zu reduzieren, möglichst abzuschaffen. Dies auch – und das sollte man nicht vergessen – im wohlverstandenen Interesse der betroffenen Piloten, denen Unzumutbares zugemutet wird.

Literatur

Gerbert, Karl (1981). Flugpsychologie. In: H. Haase & W. Molt (Hg.). Handbuch der Angewandten Psychologie, Band 3. Markt und Umwelt. Landsberg: Verlag Moderne Industrie. 542-556.
Gerbert, Karl & Kemmler, Reiner (1986). The causes of causes: determinants and background variables of human factor incidents and accidents. Ergonomics 29(11), 1439-1453.
Gibson, James J. (1982). Wahrnehmung und Umwelt. München: Urban & Schwarzenberg.
Haber, Ralph N. (1986). Flugsimulatoren. Spektrum der Wissenschaft 9/1986. 56-64.
Haber, Ralph N. (1987). Why low-flying fighter planes crash: Perceptual and attentional factors in collisions with the ground. Human Factors 29(5), 519-532.
Leitfaden der militärischen Flugpsychologie (1987). München: Verlag für Wehrwissenschaften.
Mechtersheimer, Alfred & Barth, Peter (Hg.) (1988). Militarisierungsatlas der Bundesrepublik. Darmstadt: Luchterhand.
Perrow, Charles (1987). Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik. Frankfurt/M.: Campus.

Anmerkungen

1 Angaben der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Bundestagsfraktion der »Grünen«; vgl. Volkszeitung/Die Tat 3/1989 (vom 13.1.1989), S.8. Zurück

2 Hinweis von U. Albrecht. Zurück

Dr. Winfried Mohr ist Psychologe an der Technischen Hochschule Darmstadt

Vom militärischen Dienst an Mensch und Natur. Verbleiter Schießlärm

Vom militärischen Dienst an Mensch und Natur. Verbleiter Schießlärm

von Knut Krusewitz

I. Am Anfang (…) (…) war der Verdacht.

Am Anfang, das war im Frühjahr 1983. Damals wollte eine real fundamental existierende Partei sowohl von der Bundesregierung als auch von der Hessischen Landesregierung über Militärökologisches informiert werden. Sie begab sich deshalb auf den parlamentarischen Dienstweg, stellte im Bundes- und im Landtag Kleine Anfragen. Die Grünen wollten wissen, ob ihre Befürchtung über „Belastungen durch munitionsbedingte Schadstoffe in Böden von Schießplätzen“, zumal durch Blei, regierungsamtlich bestätigt werden konnten.

Natürlich konnten weder das konservative Regierungskartell in Bonn noch die sozialdemokratische Minderheitsregierung in Wiesbaden. Gewiß, so wurde beschieden, von Bleitetraäthyl in Benzin habe man gelegentlich gehört. Aber Blei in Böden von Schieß- und Truppenübungsplätzen? Wir bedauern von höchster Stelle, Ihnen mitteilen lassen zu müssen…

Und der Verdacht? Das nun wiederum war die Vermutung eines Sozialdemokraten, im Zweifelsfalle meine eigene, die NATO-Militärs könnten das im selben Jahr verabschiedete Bodenschutzprogramm der Bundesregierung nur nach Hausmacherart, also militärökologisch, verwirklichen. Dieser Verdacht sollte am Beispiel der Praktiken auf dem Truppenübungsplatz Wildflecken, einem Schießflecken in der wilden Rhön, erhärtet werden.

Zwischen Anfang und Verdacht, wir sind noch im Stationierungsherbst des Jahres 1983, schob sich eine drohende Schießlärmkatastrophe. In den Anrainergemeinden des Truppenübungsplatzes war die Prognose des Standortkommandeurs durchgesickert, wonach in Kürze auf zusätzlichen Schießbahnen zum Schießbetrieb rund um die Uhr übergegangen würde. Monatlicher Schießlärm in 26 von 30 Nächten, jährlicher Schießbetrieb zwischen 260 und 280 Tagen und Nächten.

Im Oktober organisierten osthessische Bürger- und Friedensinitiativen in Gersfeld die erste große Protestveranstaltung gegen die Inbetriebnahme und den Bau neuer Schießbahnen. Diese Widerstandszeit brauchte Akustiker, nicht Bodenkundler. Die Bleidimension des Schießlärms geriet vorübergehend aus dem Blickfeld.

Doch was bleiern währt, währt endlich. Ob gut, würden Meßergebnisse erweisen müssen.

Im November 1986 jedenfalls pilgern der grüne Friedenspädagoge Peter Krahulec und der sozialdemokratische Friedensökologe (siehe oben) nach „Maria Ehrenberg“, einem Wallfahrtsort, mitten im idyllischen Truppenübungsplatz gelegen. Höhe über NN: 674 Meter.

Friedensgläubig, wie wir sind, lassen wir uns durch Peter Zieglers „Briefe über die Rhön“ (rück-) versichern, „daß die Mutter Gottes oft in schweren Anliegen hilft“. Auch in bleischweren?

Höheren Orts tragen wir unser Anliegen vor und erhielten prompt hilfreiche Wegweisung:

Macht Euch auf nach Neuglashütten, auf daß Ihr Bodenproben nehmt, zu messen den teuflischen Bleigehalt.

Für die Andersgläubigen unter uns: teuflisch meint in diesem Zusammenhang „toxisch“, was immer der Bischof von Fulda sonst über die Theologie der Revolution an begrifflicher Verwirrung verbreitet.

Nun also nach Neuglashütten. Hier täuscht die Vorsilbe. Dieser Ort existiert seit Mitte der dreißiger Jahre nicht mehr. Seine Bewohner wurden „angesiedelt“ von den Nazis. Die Wehrmacht brauchte die Rhön als Testgelände für ihre Blitzkriege. Und heute, oberhalb des Geisterdorfs, ein NATO Schießplatz, Abschußstelle.

Zwischen der Heiligen Maria und der unheiligen Panzerabschußstelle dann die aufregende Frage, die Bodenökologen bei passender Gelegenheit umtreibt: Blei oder Nichtblei?

Beweissicherung also, wer bohrt, der findet möglicherweise, acht Bodenproben gezogen.

Die letzten beiden unmittelbar neben der Abschußstelle. Während wir Probebohren spielen, spielen mehrere Bradley-Schützenpanzer Krieg. Leuchtspurgeschosse über unseren Köpfen signalisieren, daß auch der nächste Krieg über unsere Köpfe hinweg entschieden werden könnte.

Von der Abschußstelle aus können wir das Zielfeld erkennen, längst nacktes Gestein, wo Jahrhunderte lang ein Buchenmischwald fröhlich vor sich hinwuchs, weil ahnungslos von saurem Regen und Geschoßsplittern. Auf der zerschossenen Zielfeldfläche hat sogar der bayerische Umweltminister sein Recht verloren. „Es ist höchste Zeit, daß dem Boden als Lebensgut des Menschen, von dem wir abhängen, größte Aufmerksamkeit gewidmet wird.“ Für die Zielfelder im Truppenübungsplatz Wildflecken kommt diese Bodeneinsicht zu spät. Dort ist die militärische Postmoderne zu bestaunen: wüste, leere, öde Naturstücke.

Der anschließende bayerische Freistaatsappell kam allerdings noch zur rechten Zeit. Gerade so eben. „Im bisherigen Stil kann es nicht weitergehen. Es ist Zeit, endlich einzugreifen.“

Auf dem Zielfeld der Bradley-Panzer können wir leider nicht mehr eingreifen, will sagen, Gesteinsproben sicherstellen, obwohl wir gerade die leise Aufforderung zum Widerstand des CSU-Staatsministers Alfred Dick nicht ungehört verhallen lassen wollen. Wenn es irgendwo im bisherigen Stil nicht weitergehen kann, dann auf Truppenübungsplätzen. Aber, wie erwähnt, es ist November, und da macht die natürliche Natur im Unterschied zur Labornatur eben früher Feierabend.

Für die topographisch ausnehmend stark Interessierten unter unseren Leserinnen und Lesern, also beispielhaft die Damen und Herren vom Militärgeographischen Amt der Bundeswehr, folgt jetzt ein unübersehbarer Hinweis auf den Ort des Geschehens.

Am Ende (…)

(…) war die Gewißheit.

Am Ende, das ist im Oktober 198Z Und die Gewißheit? Der Schießlärm ist verbleit. Und wie!

Den Positivisten tun wir hiermit die Bleikonzentrationen in Mütterchen Rhönerde kund, die sie beherbergt dort, wo wir Proben nahmen für den Frieden.

Blei: mg/kg
1. Maria Ehrenberg (südöstl. Kapelle) 137
2. Ehem. Steinbruch (nordwestl. Hang) 373
3. Südöstl. ehem. Steinbruch 311
4. Schonung 161
5. Landwirtschaftsfläche 323
6. Forellenteiche (Uferbereich) 157
7. Abschußstelle (oberh. Neuglashütten: westl.) 468
8. Abschußstelle. (oberh. Neuglashütten: östl.) 493
Summe 2423
Durchschnitt 303
(Blei-Extraktion nach der Königswassermethode gemäß Klärschlamm-Verordnung: AbfKlärV)

Bleiwerte im Lebensgut des Menschen

Fangen wir an mit dem Spitzenwert. An der Abschußstelle der Panzer finden sich knapp 500 mg Blei im Kilogramm Boden. Der gesetzlich tolerierte Bleigehalt in Kulturböden beträgt 100 mg/kg.

Bevor wir uns friedfertig mit dem absehbaren militärischen Einwand auseinandersetzen, demzufolge ein Truppenübungsplatz nichts mit Kultur-Böden zu tun hat, seien andere Vergleiche zitiert.

Im Untermain-Gebiet wurden zuletzt folgende Durchschnitts-Blei-Werte gemessen:

Grünland 80 mg/kg, Ackerland 50 mg/kg, Wald 70 mg/kg.

Fazit: Das untersuchte Areal auf dem Truppenübungsplatz weist durchschnittlich eine vier- bis sechsfach höhere Bleikonzentration auf als die untersuchten Flächen im Ballungsgebiet Untermain.

Schließlich: Die Klärschlammverordnung erlaubt die Ausbringung von 100 mg/kg Blei im Klärschlamm; ist der Boden bereits mit diesem Wert vorbelastet, darf kein bleihaltiger Klärschlamm auf diese Fläche ausgebracht werden.

Ein Truppenübungsplatz ist kein Kulturboden

Stimmt, aber nur zur Hälfte. Richtig ist zunächst, daß das, was sich in Wildflecken seit fünfzig Jahren abspielt, mit Kultur nichts zu tun hat. Unrichtig ist hingegen die Annahme, daß dort überhaupt kein Kulturboden existiert. Teile des Truppenübungsplatzes werden nämlich auch forst-, wasser- und landwirtschaftlich genutzt.

Deshalb stellt sich die Bleiverseuchung dort nicht nur als Zynismusproblem dar. Ökologisch geredet, deshalb nicht, weil Blei in terrestrisch-biologischen Ketten angereichert wird, folglich von Pflanzen aufgenommen werden muß. Daraus resultiert unser Verdacht, daß wegen der starken Bodenverseuchung auch mit überdurchschnittlichen Pb-Konzentrationen in landwirtschaftlich genutzten Pflanzen (z.B. Gras) zu rechnen ist.

Bei hohen Gehalten in Futterpflanzen, die vom Truppenübungsplatz stammen, wiederum könnte eine Bleikrankheit auftreten, besonders bei Wiederkäuern wie Rindern und Schafen.

Zu beantworten wäre überdies die Frage nach den Bleikonzentrationen in den Böden der Anrainergemeinden des Truppenübungsplatzes. Es ist kaum anzunehmen, daß die Bleiverseuchung genau vor den Schildern haltmacht, auf denen in deutscher und englischer Sprache höflich gebeten wird: Betreten verboten! Nach unserer Kenntnis sind die nachgewiesenen Bleikonzentrationen auf dem Kriegsübungsplatz Wildflecken die höchsten, die in hessischen Grünland-, Acker- und Waldböden gemessen wurden. Deshalb spricht einiges für die Vermutung, den Anliegergemeinden dürfte nach der Schießlärm nun noch die Bleiproblematik ins Haus stehen. Verbleiter Schießlärm, wie gesagt.

Und wie geht´s nun weiter?

Spielte sich der Bleiskandal in den Niederlanden ab, dann könnte die Antwort ungefähr so lauten:

Weil dort 200 mg/Pb/kg den „Sanierungsfall“ auslösen, müßte der Truppenübungsplatz stillgelegt werden, die belasteten Böden wären auszutauschen, und anschließend dürften die betroffenen Anrainergemeinden darüber abstimmen, ob sie das militarisierte Naturstück in einen Friedens-Naturpark umwidmen wollen.

Unvorstellbar bei uns, BR Deutschland, kein schöner Land in dieser Zeit, als hier das unsre, weit und breit.

Wir haben keine holländischen Verhältnisse, und deshalb muß Strafe (noch immer) sein, was hier soviel heißen soll wie – nur bundesdeutsche Sanierungsvorschläge sind amtlich zugelassen.

Erster Vorschlag: Alles bleibt, wie es ist. Die Bleikonzentrationen wachsen, wegen des sauren Bodens auf dem Truppenübungsplatz (pH-Wert: 3,7) wird das giftige Schwermetall Blei an die Quell- und Flußsysteme dort rascher weitergegeben, doch fürchtet Euch nicht, denn die Klärwerkstechnik macht bekanntlich rasante Fortschritte, weshalb wir uns über bleiverseuchtes Trinkwasser keine Gedanken zu machen brauchen. Den Pb-Grenzwert von läppischen 42 Mikrogramm pro Liter Trinkwasser unterbieten unsere Wasseraufbereitungsakrobaten im Schlaf.

Zweiter Vorschlag: Wir wenden unser Interesse vom Kriegsübungsplatz ab und wenden dasselbe der Bundesregierung zu. Dort erwartet uns nämlich bereits Tröstliches. Der „Boden ist für uns genau so wichtig wie Wasser und Luft und ist ja auch die Grundlage unserer gesunden Ernährung und Lebensraum für uns“.

Tja, Freunde des gesunden Lebensraums, auf solche Einsichten muß mensch erst mal kommen. Gratulation, Herr Dick. In Wildflecken sehen wir uns wieder. Aber vorher weiter im Text: „Der Schutz des kaum ersetzbaren, leicht zerstörbaren und heute zunehmend belasteten Kulturgutes Boden muß daher als neuer Schwerpunkt der Umweltpolitik verstanden werden.“ Warten auf Bonn? Da sei die versteinerte Maria vor.

Dritter Vorschlag: Nichts bleibt, wie es war. Die osthessischen Friedens- und Umweltinitiativen kümmern sich um den verbleiten Schießlärm. Programmformel: „Wir werden Frieden schaffen ohne Bleilärmwaffen.“ Einsteigen könnten wir in dies Programm mit der Forderung an Kommunen, Land und Bund, die verschiedenen Dimensionen der Bleiverseuchung sorgfältig zu ermitteln. Zusätzlich zum bereits installierten Schießlärm-Meßprogramm muß ein Blei-Meßprogramm eingerichtet werden.

Dessen Themen könnten sein:

  • Bodenproben auf verschiedenen Nutzungsflächen innerhalb und außerhalb des Truppenübungsplatzes,
  • Pflanzenuntersuchungen auf den entsprechenden Standorten,
  • Gesundheitsuntersuchungen (Kleinkinder)
  • Luft- und Wasseranalysen.

Liegen die Werte erst einmal vor, sehen wir weiter. So weit wie Militärbodenfreund Alfred Dick allemal: „Denn wir sind Teil der Natur.“ Deren friedlicher Teil. Meistens.

II. Kritik der Kritik

1. Reaktionen auf die Bleianalyse

Nach der Pressekonferenz des „Fuldaer Stadtanzeigers“ am 29. Okt. 1987 in Gersfeld zum Thema „Blei in den Böden des Truppenübungsplatzes Wildflecken“ kam es, wie es kommen sollte. Verantwortliche und Betroffene reagierten.

Die wichtigsten kritischen Kommentare zu unseren Meßbefunden lauteten:

  • Der gesamte Truppenübungsplatz sei „amerikanisches Hoheitsgebiet“, das nur in Ausnahmefällen betreten werden dürfe. Die entsprechende Genehmigung zum Betreten sei uns nicht erteilt worden, weshalb wir „ja wohl illegal eingedrungen“ seien.
  • Die gelieferten Informationen seien „zu ungenau“, zu „diffus“.
  • Man wisse zu wenig über den „Hintergrund der Untersuchungen“.
  • Die Ergebnisse der Bodenanalyse und ihre Bewertung erscheinen „eher wie Propaganda“.

Diese Reaktionen nahm die BI „Rettet unsere Rhön“ zum Anlaß, von den zuständigen Behörden zu fordern, den tatsächlichen Grad der Gefährdung durch Bleiverseuchung auf dem Truppenübungsplatz Wildflecken und in den Anliegergemeinden festzustellen.

2. Vermutungen und Tatsachen

Ich nehme die veröffentlichten kritischen Kommentare zum Anlaß, mich genauer mit ihnen auseinanderzusetzen.

a. Truppenübungsplatz – amerikanisches Hoheitsgebiet?

Die Behauptung von US-Oberst Jarold Lemoine, wonach der Truppenübungsplatz amerikanisches Hoheitsgebiet sei (FZ, 2.11.1987), ist falsch. Richtig hingegen ist, daß dieser „training ground for war“, wie es in einer Publikation über den „Truppenübungsplatz“ Wildflecken heißt, bundesdeutsches Hoheitsgebiet ist. Die USA haben völkerrechtlich vereinbarte Nutzungs-, aber eben keine Eigentumsrechte dort. Sie haben die Personalhoheit, aber nicht die Gebietshoheit. Diese Richtigstellung basiert auf der genaueren Kenntnis der einschlägigen Gesetze. Dies sind: NATO-Truppenstatut: Artikel II sowie Artikel IX Abs. 3 Satz 3, Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut: Artikel 48 sowie Artikel 53.

Diese rechtlichen Bestimmungen regeln, zusammengefaßt, folgende Sachverhalte. Die US-Streitkräfte müssen das Recht der Bundesrepublik Deutschland „achten“, also befolgen. Für die Rechte und Pflichten aus der Nutzung des Truppenübungsplatzes sind bundesdeutsche Gesetze „maßgebend“. Inhalt und Grenzen der militärischen Nutzung des Truppenübungsplatzes Wildflecken werden einmal durch den „Gestattungsvertrag“ festgelegt und zum anderen durch die zuständige deutschamerikanische Kommission. Über die Bundesvermögensverwaltung, also Oberfinanzdirektionen und Bundesforstamt, die ihre Vertreter in diese Kommission entsendet, setzt die BRD ihre Gebietshoheit gegenüber den USA durch.

Im „Unterzeichungsprotokoll“ zum Zusatzabkommen ist detailliert bestimmt, auf welchen Bereichen der Truppenübungsplatzangelegenheiten bundesdeutsche Vorschriften – zur Wahrung der Gebietshoheit anzuwenden sind.

Im Falle der Bleibelastungen geht es um folgende Bereiche:

  • Nachbarrecht, Landesplanung, Naturschutz,
  • Substanzerhaltung von Grundstücken (Bodenökologie),
  • Nutzung des Truppenübungsplatzes für land- und forstwirtschaftliche Bewirtschaftung.

Der Standortkommandant wäre gut beraten, wenn er, statt zu Unrecht auf der Gebietshoheit über den „training ground for war“ zu bestehen, zukünftig gewährleistet, daß bundesdeutsches Nachbar-, Planungs- und Naturschutzrecht dort angewandt wird. Dies materiell-rechtlich durchzusetzen und zu kontrollieren ist dann Aufgabe der deutschen Behörden, nicht zuletzt des Bundesforstamtes Wildflecken.

b. Hintergrund der Untersuchung – unklar?

Erinnern wir uns. Vor über vier Jahren wollten die Grünen sowohl von der Bundesregierung als auch von der Hessischen Landesregierung wissen, ob der Verdacht bestätigt oder widerlegt werden könne, wonach in den Böden von Schießplätzen mit hohen Blei-Konzentrationen gerechnet werden müsse.

Dieser Verdacht wurde bis heute nicht bestätigt oder widerlegt. Deshalb wird die Bundestagsabgeordnete Gertrud Schilling erneut tätig (s. Kasten: Kleine Anfrage).

Vor dem Hintergrund regierungsamtlicher Untätigkeit sahen wir uns gezwungen, Eigeninitiative zu entwickeln. Ziel unserer Eigeninitiative war das, was der bayerische Staatsminister Alfred Dick formuliert hatte: „Es ist Zeit, endlich einzugreifen.“(WELT, 24.10.1987)

Wir waren freilich schon etwas früher der Ansicht, daß es auf den Böden des Truppenübungsplatzes Wildflecken so nicht weitergehen könne, weshalb wir im November 1986 endlich eingriffen.

c. Meßergebnisse – zu ungenau und diffus?

Die Methode der Probenentnahme und der Bodenanalyse entsprechen den Kriterien, die im zuständigen Abfallbeseitigungsgesetz sowie der Klärschlammverordnung normiert sind.

Durch die „Königswasser“-Methode wurde der Gesamtgehalt an Blei in den Bodenproben ermittelt. Gleichzeitig wurde der pH-Gehalt des Bodens gemessen. Der pH-Wert steht für den Säurewert: ist der pH-Wert kleiner als 7, dann Hinweis auf saure, größer als 7, dann Hinweis auf basische Bodenreaktionen.

Die Beziehung zwischen Bleikonzentrationen und pH-Wert ist deshalb sehr wichtig, weil Blei in Böden mit niedrigem pH-Wert stark „mobilisiert“ wird, also z.B. von Pflanzen stärker aufgenommen wird und rascher ins Grundwasser dringt.

Der durchschnittliche pH-Wert unserer Bodenproben betrug 3,7 – signalisiert also extrem saure Bodenreaktionen!

Auf die Beziehung zwischen Gehalt, Richtwert und phototoxischem (pflanzenschädigendem) Schwellenwert von Blei in Böden verweisen diese Daten (mg/kg/Trockenmasse):

Schwermetall häufiges Vorkommen Richtwert Schwelle phytotoxische Schwelle
Blei (Pb) 0,1 – 20 100 500
(nach Klärschlamm-Verordnung: 1983)
d. Unsere Bewertung – Propaganda?

Die von uns ermittelten Blei-Konzentrationen in Böden des „training ground for war“ haben wir selbstverständlich interpretiert, bewertet. Die wichtigsten Aussagen lauteten: Die Bleibelastungen durch den Schießbetrieb geben Anlaß zur Sanierungsuntersuchung. Diese Untersuchung muß die geoökologische Mobilität des Bleis feststellen, die Luftverfrachtung des Bleis in den Anliegergemeinden untersuchen und gegebenenfalls die Exposition der Menschen durch Blei ermitteln.

Inzwischen sind weitere Überlegungen nötig, die mit Propagandaeffekten absolut nichts zu tun haben.

  • Wir haben zwar Bodenproben an der Abschußstelle der Schießbahn 12 gezogen, nicht aber auf deren Zielfeld. Dort müssen weitaus höhere Blei-Konzentrationswerte vorherrschen.
  • Im Labor wurde aus den Bodenproben nur Blei extrahiert, nicht aber auf Bleiazid analysiert. Diese Bleiverbindung ist um Größenordnungen giftiger als Blei, und sie kommt mit großer Wahrscheinlichkeit in den Böden des Truppenübungsplatzes vor.
  • Es besteht der Verdacht, daß die hohen Blei-Konzentrationen als Verstoß gegen die Bestimmungen des Gestattungsvertrages beurteilt werden müssen. Und zwar deshalb, weil gegen die Norm, die ,;Substanz“ von Grundstücken (hier: Bodenqualität) zu „erhalten“, verstoßen wird.

Dr. Knut Krusewitz, Hochschullehrer am Institut für Landschafts- u. Freiraumplanung der Technischen Universität Berlin.

Nuklearkriegsfolgen MIT-Studie

Nuklearkriegsfolgen MIT-Studie

Friedens- und KonfliktforscherInnen

M. A. Sastry, J. J. Romm, K. Tsipis, Nuclear Crash – The US-economy after small nuclear attacks, MIT-report Nr. 171, Cambridge (USA), Juni 1987, 136 Seiten

Im folgenden gekürzt eine Übersetzung der Zusammenfassung der Studie, in der sich die Autoren mit einem Modell der US-Notstandsbehörde zu begrenzten Nuklearschlägen auseinandersetzen.

Diese Analyse des Modells der Bundesnotstandsbebörde FEMA erweist, daß die amerikanische Wirtschaft bereits durch kleine, gezielte Angriffe schwerstens geschädigt werden kann, wobei hierzu etwa ein Prozent des vorhandenen sowjetischen strategischen Nuklearpotentials zur Verwendung käme. Da wir innerhalb unserer Untersuchung häufig optimistische Schätzungen zugrunde gelegt haben, sind wir überzeugt, daß der wirtschaftliche Zusammenbruch wahrscheinlich bereits auf einem noch geringeren Niveau der Attacke auftreten würde. Wir haben eine Anzahl von Schlußfolgerungen anzubieten:

  1. In kleinsten, äußerst optimistischen Fällen, die hier berücksichtigt wurden, würde die Wirtschaft auf einem Niveau von etwa einem Drittel des vorherigen Zustands überleben. (…) Es ist sehr unwahrscheinlich, daß sich die Wirtschaft auf das vorherige Niveau wieder entwickeln kann, bevor Jahrzehnte vergangen sind.
  2. Die Sowjetunion ist in keiner besseren Lage als die Vereinigten Staaten. Auch wenn wir nicht über das FEMA-Modell, mit welchem die zentralisierte sowjetische Wirtschaft simuliert werden kann, verfügen, so ist doch zu erwarten, daß in jeder wichtigen Kategorie die UdSSR verwundbarer ist als die Vereinigten Staaten: die städtische Bevölkerung ist dort doppelt so hoch wie bei uns; ihre Fähigkeit zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in Friedenszeiten bereits weit unter unserer, die sowjetische Industrie ist stärker konzentriert und enger verbunden mit den urbanen Agglomerationen. (Anhäufung, Zusammenballung) (…).
  3. Seit dem Gipfel von Reykjavik erscheinen drastische Reduzierungen der Anzahl von Waffen auf beiden Seiten möglich. Wenn sich beide Seiten darüber verständigen würden, lediglich eine Streitkraft, die die Fähigkeit, der Gegenseite „unakzeptable Schäden“ zuzufügen, behalten würden, so unsere Schlußfolgerung, dann könnten beide Seiten ihre Arsenale um mehr als 95 Prozent reduzieren.
  4. Schließlich schlußfolgern wir, daß die strategische Verteidigungsinitiative (SDI) eine wertlose Geldausgabe darstellt, wenn sie als Schatzschild intendiert sein sollte, um das Land davor zu schützen, unter einer sowjetischen Attacke zusammenzubrechen. Dazu ist die Anzahl von Sprengköpfen, die diese Zerstörung des Landes bewirken würden, einfach zu klein. Eine neunundneunzigprozentige SDI-Verteidigung würde diese Aufgabe nicht erfüllen. Selbst wenn das vorgeschlagene Raketenabwehrsystem in der Lage sein sollte, hundert Prozent effektiv zu sein, was unmöglich ist, so könnte die Sowjetunion immer noch die amerikanische Wirtschaft zerstören durch die Einsatzfähigkeit von Cruise Missiles und strategischen Bombern etwa. (…).

Diese Studie ist in der Gefahr, durch ihre Betonung der Analyse zahlenmäßiger ökonomischer Effekte die menschliche Seite einer Welt nach der Nuklearattacke zu verschleiern. Und doch gilt, was das OTA (office of technology assessmeny festgehalten hat: „Die Auswirkungen eines Atomkrieges, die nicht kalkuliert und durchgerechnet werden können, sind mindestens so wichtig wie diejenigen, für die wir Berechnungen versucht haben.“ Dies gilt auch für unsere Simulationen. Es existiert einfach kein objektiver Ansatz, durch den wir zuverlässig in das FEMA-Modell die Auswirkungen des ersten psychologischen Schocks angesichts von Tod und Zerstörung auf die Menschen einbeziehen könnten, die anhaltende Furcht vor weiteren Atomangriffen; die Erkenntnis, daß eine Lebensform ihr Ende erreicht hat; die ständige Angst, daß jegliche Nahrung, jegliches Wasser tödlich verseucht sein könnten, entweder durch Verstrahlung, durch bodennahe Explosionen oder durch chemische Katastrophen, die durch die nukleare Attacke verursacht wurden. Ebensowenig können wir die nachteiligen Effekte auf Kinder und künftige Generationen bewerten, die durch Verstrahlung, Nahrungsmangel, den Verlust von Erziehungsmöglichkeiten und die psychologischen Narben der Heimsuchung ausgelöst würden. (…)

Da die Folgen von Angriffen, die mehr als 10 Prozent des sowjetischen strategischen Arsenals umfassen, evident erscheinen, und sei es durch einfache Extrapolation, haben wir unsere Analyse auf kleinere Attacken begrenzt, für die bislang keine zuverlässigen Schätzungen der Folgewirkungen vorhanden waren. Wir möchten nochmals betonen, daß wir nicht der Meinung sind, daß die Sowjetunion real derartige „winzige“ Attacken auf die Vereinigten Staaten plant, wir möchten auf diese Weise lediglich zeigen, wie verwundbar die US-Wirtschaft angesichts von Nuklearangriffen generell ist.

Einer der ursprünglichen Zwecke des FEMA-Modells war es, die Nützlichkeit von Zivilschutz zu untersuchen. Unsere Analyse kommt zu dem Schluß, daß hier zahlreiche schwerwiegende Probleme existieren, unabhängig von den logistischen Problemen, die sich ergeben würden. (…). Gegenwärtige Untersuchungen haben gezeigt, daß es eine weitgehend unterschätzte Auswirkung von nuklearen Explosionen auf Gebäude und Menschen gegeben hat. Diese Studie versucht, die Neubewertung der Auswirkungen von Atomwaffen zu ergänzen, indem sie die gleichfalls vorhandenen Unterschätzungen der Auswirkungen von zehn bis einigen hundert Sprengköpfen auf die nationale Wirtschaft aufzeigt. An der Wurzel so mancher der miserabelsten Vorstellungen und falsch verstandenen Nuklearstrategien findet sich die Vorstellung, daß die Effekte einiger Dutzend Sprengköpfe „tolerierbar“ seien könnten – eine Vorstellung, die auf einer Unterschätzung des Ausmaßes und der Fortdauer der zerstörerischen Effekte dieser Waffen auf eine integrierte Wirtschaft basieren würde. Wir hoffen, daß unsere Darstellung der realistischeren Voraussagen hinsichtlich dessen, was bereits einige wenige Nuklearwaffen einer Nation antun können, die Basis für politische Entscheidungen bilden wird, wenn es um die künftige Zusammensetzung der nuklearen Arsenale der USA und der UdSSR geht.

Zu militärpolitischen Aspekten des Bundeshaushaltes 1985

Zu militärpolitischen Aspekten des Bundeshaushaltes 1985

von Forum Naturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung

I. Stationierungskosten von Pershing II Raketen und Cruise Missile

Für alle in Westeuropa zu stationierende Systeme wird der Posten von der Bundesregierung mit 540 Millionen DM veranschlagt. Die Gelder sind von allen NATO Staaten entsprechend ihrer Beteiligung am Infrastrukturprogramm aufzubringen. Der Anteil der Bundesrepublik beträgt 26,5 Prozent.

Den Steuerzahler wird die Stationierung von Pershing II Raketen und Marschflugkörpern also 143,1 Millionen DM kosten. Der Betrag wird im nächsten und in den kommenden Haushaltsjahren fällig sein. Der Anteil für 1985 findet sich in der Titelgruppe 01 (NATO-Infrastruktur), Kapitel 22 (Bewilligung im Rahmen der Mitgliedschaft zur NATO und zu anderen internationalen Organisationen), Einzelplan 14 (Bundesminister der Verteidigung).

Empfehlung: Rücknahme des Beschlusses zur Stationierung von Pershing II und Cruise Missile; Streichung der Gelder.

II. Entwicklung von Marschflugkörpern

Die Bundesrepublik entwickelt gemeinsam mit den USA und Großbritannien einen Marschflugkörper, der von Flugzeugen wie dem Tornado oder der F 111 abzuschießen sein wird. Der Flugkörper soll mit konventioneller Munition ausgerüstet werden und eine Reichweite zwischen 100 und 600 Kilometern haben. Die Stationierung auf Flugzeugen würde die Reichweite bis in strategische Größenordnungen erhöhen. Im augenblicklichen Entwicklungsstadium trägt der Flugkörper den Namen Long-Range-Stand-Off-Missile (LRSOM). Politisch ordnet sich das Forschungsvorhaben in das Air Land Battle Konzept (Luft-Land-Schlacht) ein. Die neuen Waffensysteme der NATO sollen danach bis tief in die Länder des Warschauer Pakts hineinreichen, um im Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung Versorgungs- und Nachschubstaffeln zu zerstören.

Die Vereinigten Staaten und Großbritannien sind Atommächte, und es würde bei einer Stationierung der Flugkörper technisch nicht möglich sein zu entscheiden, ob sie einen konventionellen oder atomaren Sprengkopf tragen. Diese Waffe würde ohnehin schon schwierige Verhandlungen über atomare Abrüstung in Europa noch komplizierter, wenn nicht gar unmöglich machen (am Problem der Überprüfbarkeit hat sich auch eine Kontroverse zwischen Kongreß und Senat um die Stationierung konventioneller Cruise Missile für die US Marine entzündet).

Die im nächsten Jahr fälligen Kosten für Forschung und Entwicklung finden sich im Kapitel 20 (Wehrforschung…) des Einzelplan 14 (Bundesminister der Verteidigung). Eine Fachzeitschrift gibt für die Gesamtentwicklung eine Summe von 400 Millionen und für die spätere Anschaffung von 500 Flugkörpern 1,5 Milliarden DM an.

Empfehlung: Entwicklung einstellen; Streichung der Gelder.

III. Atomtaugliche Panzerhaubitzen

Gemeinsam mit italienischen und britischen Partnern hat die Bundesrepublik eine NATO-einheitliche Panzerhaubitze vom Kaliber 155 Millimeter entwickelt. Mit der Produktion der Panzerhaubitze 155-1 soll im Haushaltsjahr 1985 begonnen werden.

Die Haubitze ist ein neues Atomwaffenträgersystem. Sie eignet sich selbstverständlich auch zum Verschießen konventioneller Munition, entscheidend ist jedoch ihre atomare Kapazität. In der Bundesrepublik lagern nach Angaben US amerikanischer Kongreßkreise ca. 1000 Atomgranaten des entsprechenden Kalibers.

Die Reichweite der Panzerhaubitze 155-1 wird nur 24 bis 30 Kilometer betragen, so daß die mit ihr verschossenen Atomgranaten über die Landesgrenzen kaum hinaus kämen.

Im Lehrbuch der US Armee 100-30 „Konventionell-atomare Operationen“ ist nachzulesen, daß kurzreichweitige (taktische) Atomwaffen grundsätzlich nicht einzeln, sondern als „Pakete“ eingesetzt werden sollen. Es findet sich dort das Planspiel der Operation „Zebra“, bei der zur Zurückschlagung eines drohenden Durchbruchs von Warschauer Pakt Truppen innerhalb von 90 Minuten 141 Atombomben gezündet werden, von denen 14 über dem Territorium der DDR und 127 über dem der Bundesrepublik Deutschland explodieren. Neben anderen Systemen, wie z. B. „Lance“ Raketen, wären Haubitzen vom Kaliber 155 Millimeter an solchen Einsätzen beteiligt.

Diese Planungen haben mit Verteidigung nichts mehr gemeinsam, eher schon mit einer Strategie der verbrannten Erde. Allein durch das bei den Atombombenexplosionen freiwerdende nicht gespaltene Plutonium wird der „verteidigte“ Landstrich völlig verseucht und unbewohnbar werden, und die massenhafte Explosion der Atomwaffen wird die zu schützende Zivilbevölkerung zum größten Teil töten. Mit solchen Waffen würde alles zerstört, was verteidigt werden sollte.

Zu ergänzen ist, daß in den USA bereits 1000 produzierte Neutronenbomben des Kalibers 155 Millimeter lagern, und daß ein Großteil der chemischen Waffen der USA in Depots auf bundesdeutschem Boden Munition dieses Kalibers ist. Auch diese hätten keine höhere Reichweite als 30 Kilometer und würden vor allem unserer Zivilbevölkerung großen Schaden zufügen.

Der Einsatz atomarer und chemischer Waffen durch die NATO in der Bundesrepublik verstieße auch gegen ein völkerrechtliches Abkommen, das im Deutschen Bundestag gerade zur Ratifikation ansteht: das Zusatzprotokoll 1 von 1977 zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949. Artikel 51 schützt die Zivilbevölkerung und verbietet „unterschiedslose Angriffe“, also den Einsatz von Waffen, die nicht zwischen angreifenden Soldaten und der Zivilbevölkerung unterscheiden. Atomare und chemische Massenvernichtungsmittel wären nur in „unterschiedslosen Angriffen“ verwendbar und verstießen gegen diesen Völkerrechtsvertrag, der 1977 von der Bundesregierung unterzeichnet wurde.

Empfehlung: „Sofortiges Einfrieren der atomaren Rüstung in Ost und West“ heißt konkret, die Produktion der Panzerhaubitze 155-1 nicht aufzunehmen Streichung der Gelder.

Einfrieren des Militärhaushaltes

Einfrieren des Militärhaushaltes

von Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik

Der Etat des Bundesverteidigungsministeriums im Entwurf der Bundesregierung für den Haushalt 1985 ist ein Übergangshaushalt: Zum einen soll das schon in den letzten Jahren zu beobachtende – weit überdurchschnittliche Wachstum der Militärausgaben zu Lasten der Ausgaben für Soziales, Bildung und Gesundheit trotz gewisser finanzieller Entlastungen auf seiten der Beschaffungsausgaben für Waffensysteme der zweiten Generation fortgesetzt werden. Zum anderen will die Bundesregierung mit der drastischen Anhebung der Entwicklungsausgaben für die 90er Jahre schon jetzt die Weichen für eine neue Aufrüstungswelle stellen, deren Dimension alle bisherigen Rüstungsschübe weit übertreffen würden. Wenn diese neue Rüstungsrunde verhindert werden soll, ist es schon heute erforderlich, diesen politischen Weichenstellungen entgegenzutreten.

I. Der Haushaltsentwurf für 1985 steht – wie schon in den letzten fünf Jahren – im Zeichen des Vorrangs für die Militärausgaben. Bei einer konjunktur- und beschäftigungspolitisch unverantwortlich niedrigen – Steigerungsrate der Gesamtausgaben von nur 1,2 % sollen die Mittel des Bundesverteidigungsministeriums mehr als dreimal so schnell, nämlich um 3,7 %, steigen. Für die Gesamtheit aller übrigen Bundesausgaben ergibt sich damit ein nominales Wachstum von nur 0,5 %, oder – bei einer erwarteten Preissteigerungsrate von 2,5 % – ein realer Rückgang von 2 %. In absoluten Zahlen: Von den 3,1 Mrd. DM Ausgabenzuwachs entfallen 1,8 Mrd. DM auf die Ausgaben des Verteidigungsministeriums. Rechnet man die Militärausgaben nach den üblichen NATO-Kriterien, sind es sogar 1,9 Mrd. DM oder 62,6 % der gesamten Ausgabenzunahmen.

An diesen Größenordnungen und Proportionen haben auch die Beratungen des Haushaltsausschusses nichts wesentliches geändert: Er schlägt vor, die Gesamtausgaben um 2,2 Mrd. DM oder 0,9 % und die Ausgaben des Verteidigungsministeriums um 1,5 Mrd. DM oder 3,1 % anzuheben. Für alle übrigen Ausgaben zusammen bedeutet dies eine Zunahme um 0,7 Mrd. DM oder 0,3 %.

II. Die Politik beschleunigter militärischer Aufrüstung geht nach wie vor einher mit einer Einschränkung von Sozial- und Bildungsausgaben: So werden die Mittel des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung um den gleichen Betrag (nämlich 1,9 Mrd. DM) gekürzt, um den die Militärausgaben ansteigen sollen. Das Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit erhält 600 Mio. DM oder 3,6 % weniger. Der Etat des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft, der bereits im laufenden Jahr um 13 % gekürzt worden ist, wird erneut um 0,7 % gesenkt.

Zur Begründung für die Kürzung der Bundesausgaben für Sozialleistungen, Gesundheit und Bildung verweist die Bundesregierung immer wieder auf die prekäre Finanzlage des Bundes. Diese Behauptung ist offensichtlich unwahr. Die Enge der staatlichen Finanzen hindert die Bundesregierung nicht, den Militäretat Jahr für Jahr aufzustocken. Die Regierung spricht propagandistisch von „Sozialstaat auf Pump“ oder von „Kostenexplosion im Gesundheitswesen“. Statt dessen sollte sie lieber den „Rüstungsstaat auf Pump“ und die „Kostenexplosion im militärischen Beschaffungswesen“ kritisieren und verhindern; dies gäbe den erforderlichen fiskalischen Spielraum für die Aufrechterhaltung und den Ausbau des Systems der sozialen Sicherheit in der Bundesrepublik. Daß dies nicht geschieht ist nicht Ergebnis finanzpolitischer Sachzwänge, sondern Ausdruck politischer Prioritätensetzung durch die Bundesregierung.

III. Die unverminderte Eskalation der Militärausgaben wiegt umso schwerer, als sich gerade im kommenden Jahr eine hervorragende Möglichkeit ihrer Eindämmung bieten würde. 1985 nehmen nämlich die Ausgaben für die Beschaffung der großen Waffensysteme der zweiten Generation wegen des beginnenden Abschlusses der Ausstattung erheblich ab: Die Ansätze für die drei großen Waffensysteme Tornado, Leopard 2 und AWACS liegen 1985 insgesamt um fast 1,1 Mrd. DM unter denen des laufenden Jahres. Hierin läge eine Chance, durch ein Absenken der Beschaffungsmittel den Anstieg der Militärausgaben zu stoppen oder zumindest deutlich zu bremsen.

Die Bundesregierung zieht es jedoch vor, die finanzielle Entlastung von seiten der Großwaffensysteme durch eine drastische Steigerung der Beschaffung von Munition (+14,3 %) und Peripheriegerät wie Fahrzeugen (+30,1 %), Fernmelde- (+21,2 %) und Feldzeugmaterial (+40 %) zu nutzen. Sie will – offensichtlich auch unter dem Druck der amerikanischen Regierung – das Niveau der Beschaffungsausgaben um jeden Preis aufrechterhalten.

Das Ergebnis ist: Während in allen anderen Bereichen Sach- und Beschaffungsausgaben gekürzt werden, wird es der Bundeswehr geradezu auferlegt, in großem Umfang Munition zu horten und ihr Ausgabenniveau aufrechtzuerhalten. Ähnliches gilt für die Personalausgaben: Die Bundeswehr ist der einzige Bereich im öffentlichen Dienst, in dem für das kommende Jahr über tausend neue Stellen geplant sind und über zweitausend vorhandene Stellen neu besetzt werden.

IV. Besonders eklatant ist die militärische Priorität im Bereich von Wissenschaft, Forschung und Bildung. Die ruckartige Ausweitung der Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung um 29,2 % im kommenden Jahr wird von der Bundesregierung mit der Notwendigkeit begründet, jetzt die Entwicklung der Waffensysteme der dritten Generation zügig voranzutreiben, mit denen die Bundeswehr in den 90er Jahren ausgerüstet werden soll.

Dies sowie der Auslauf der Beschaffung der zweiten Waffengeneration – kennzeichnen den Haushalt 1985 im militärischen Bereich als Übergangshaushalt. In ihm sollen entscheidende Weichen für die Rüstungsentwicklung bis über das Ende dieses Jahrhunderts hinaus gestellt werden.

Die dritte Waffengeneration enthält zum größten Teil die Systeme, die zur Verwirklichung der modifizierten NATO Doktrin der Follow-on-Forces-Attack (FOFA) erforderlich sind: Waffen für den Angriff in die Tiefe des gegnerischen Hinterlandes. Im Zusammenhang mit der Air Land Battle Konzeption müssen diese Waffen als für die militärische Aggression geeignet angesehen und von der Gegenseite so empfunden werden. Ihre Beschaffung würde dazu beitragen, eine neue Runde der Destabilisierung, des Mißtrauens und der Konfrontation auch in den europäischen Beziehungen einzuleiten und anzuheizen.

V. Die Finanzierung der geplanten Ausrüstungswelle ist hingegen noch weitgehend ungeklärt. Die Bundesregierung wird aller Voraussicht nach versuchen, sie im wesentlichen auf zwei Wegen sicherzustellen: Zum einen werden erneut in zunehmendem Maße Staatsschulden aufgenommen werden, die anschließend mit dem Argument der Haushaltssanierung einen erneuten „Zwang“ zu Einsparungen an anderen Stellen schaffen. Zum anderen wird sie aber auch versuchen, umittelbar Kürzungen in den Bereichen vorzunehmen, die schon in der Vergangenheit zur Finanzierung der Rüstung herangezogen worden sind: Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsausgaben sowie Ausgaben im Infrastrukturbereich.

Die Dimension dieser erneuten Streichungen würde das, was in den letzten fünf Jahren an Sozialabbau durchgesetzt Wurde und die Lebenslage von Millionen Menschen spürbar beeinträchtigt hat, weitgehend in den Schatten stellen.

Auch wenn das mit der Bundeswehrplanung 1985 bis 1997 verbundene Aufrüstungsprogramm sich im Haushalt 1985 noch nicht in steigenden Beschaffungsausgaben, sondern nur in vergleichsweise „harmlosen“ Ansätzen im Entwicklungsetat niederschlägt, bedeutet dieser Haushalt eine entscheidende Weichenstellung auf dem Weg zu einem erneuten Aufrüstungsschub, der auf einem historisch einmalig hohen Niveau ansetzen würde. Die jetzt vorgesehenen Entwicklungsausgaben haben den Charakter einer Einstiegsdroge; von der es später wie die Erfahrungen der letzten 25 Jahre zeigen – kaum noch ein Zurück gibt. Daher ist es außerordentlich wichtig diese anlaufende Entwicklung möglichst früh zu stoppen.

VI. Aus dieser Beurteilung der geplanten Militärausgaben im Haushaltsentwurf 1985 ergibt sich folgende Hauptforderung: Die Mittel für den Einzelplan 14 sollen auf dem Stande von 1984 (das sind 48,141 Mrd. DM) eingefroren werden. Gegenüber dem Entwurf der Bundesregierung bedeutet das Minderausgaben in Höhe von 1,785 Mrd. DM (Gegenüber dem Vorschlag des Haushaltsausschusses beläuft sich die Einsparung auf 1,499 Mrd. DM). Diese Einsparung könnte durch folgende vier Maßnahmenbündel erreicht werden:

a) Bei den militärischen Beschaffungen werden die Entlastungen bei den Ausgaben für die Großwaffensysteme voll zur Senkung der Beschaffungsausgaben insgesamt genutzt und nicht durch Erhöhungen in anderen Bereichen kompensiert.

Einsparung (allein bei AWACS, TORNADO und Kampfpanzern) 1,088 Mrd. DM. Die eingesparten Mittel sollten für beschäftigungswirksame Programme im Bereich des Umweltschutzes und der Energieeinsparung verwendet werden.

b) Bei den Ausgaben für militärische Infrastruktur werden die Mittel für das Wartime Host Nation Support Programme auf dem Stand von 1984 eingefroren.

Einsparung: 61,03 Mio. DM. Die eingesparten Mittel sollten als Zuschüsse an Länder und Gemeinden für den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und des sozialen Wohnungsbaus gegeben werden.

c) Bei den Personalausgaben wird die Stellenbesetzungssperre aufrechterhalten (45 Mio. DM). Die vorhandenden 1022 Stellen für längerdienende Soldaten werden gestrichen (13 Mio. DM). Einsparung: 58 Mio. DM. Die eingesparten Mittel sollten zur Aufstockung des Personals bei den Arbeits- und Sozialämtern verwendet werden.

d) Die Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung werden auf dem Stand von 1984 eingefroren.

Einsparung: 562 Mio. DM. Die eingesparten Mittel sollten zur Verstärkung der Forschung im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes eingesetzt werden.

Damit ergibt sich eine Gesamteinsparung von 1.769 Mrd. DM.