Besuch beim »Feind«

Besuch beim »Feind«

Während des Krieges in Jugoslawien

von Horst Bethge

Während des NATO-Krieges gegen Jugoslawien besuchte eine Gruppe von GewerkschaftskollegInnen aus der IG Metall, der IG Medien, der GEW und dem Chemiekreis vom 24.- 28. Mai auf eigene Kosten Novi Sad, Belgrad, Kragujevac, Nis und Aleksinac. Sie wollten sich vor Ort ein Bild von der Situation machen, von dem Leben der Bevölkerung, vor allem der GewerkschaftskollegInnen, von den Schäden durch Bombardements und den Opfern. »Dialog von unten statt Bomben von oben« hieß das Motto der Reise, in deren Mittelpunkt das Gespräch mit ArbeiterInnen und Angestellten zerstörter Betriebe, mit GewerkschafterInnen, LehrerInnen, WissenschaftlerInnen, ÄrztInnen und JournalistInnen, mit VertreterInnen von Menschenrechts- und Friedensgruppen, der Grünen und anderer Parteien und natürlich auch mit ganz normalen PassantInnen stand.

Umstritten war diese Reise. „Du willst wirklich zum Feind fahren?“… „Du kannst dich doch dort nicht frei bewegen und keine offenen Gespräche führen!“… „Du wirst dort nur missbraucht!“ So oder ähnlich reagierten viele KollegInnen wenn sie von unserer Reiseabsicht hörten. Der GEW-Landesvorstand Hamburg gab per Beschluss der Erwartung Ausdruck, dass „den serbischen Gesprächspartnern die Haltung der GEW gegenüber der offiziellen serbischen Vertreibungspolitik im Kosovo nachdrücklich deutlich gemacht wird.“ Einige von uns hatten schon in den Zeiten des Kalten Krieges das Gespräch über die Grenzen hinaus gesucht und wir wollten uns auch diesmal selbst ein Bild von der Situation vor Ort machen, erfahren, was die KollegInnen auf der anderen Seite im Krieg erleben und denken.

Und dann saßen wir bei diesen KollegInnen. Wir führten unsere Gespräche bei Kerzenschein, wenn gerade ein Kraftwerk getroffen worden war, verabschiedeten hastig den ehemaligen Bildungsminister, weil er zu seinem Enkel heim eilte, der bei Luftalarm allein zu Hause geblieben war, schliefen nachts nicht, weil wir beim Heulen der NATO-Flugzeuge und dem Krachen der Missiles Angst hatten, zuckten mitten im Gespräch zusammen, wenn wieder eine Rakete in der Nähe einschlug, verließen bei Luftalarm mit den ArbeiterInnen der Zastava-Autofabrik eilig das Werk, sahen die hell erleuchtete AWACS am Himmel, konnten Fabrikgelände nicht betreten, weil sie voller Kassetten-Splitter-Bombenblindgängern steckten und tappten mit Taschenlampen durchs völlig dunkle Hotel. Sirenengeheul erhielt für uns eine neue Bedeutung: Jisella und Mirella nennen es die Kinder in Kragujevac (Jisell = Anfang vom Wahnsinn = Luftalarm, Mir = Frieden = Entwarnung).

In Nis hörten wir von der Bergarbeiterstadt Aleksinac, in der NATO-Rakten 36 Häuser ganz zerstört und 17 EinwohnerInnen getötet hatten. Spontan entschlossen wir uns, den Umweg in Kauf zu nehmen. Allein in der Dujan-Trivunac-Straße waren 120 Wohnungen nicht mehr bewohnbar. Zögerlich und stockend erzählten uns die AnwohnerInnen von dem Angriff, zeigten uns die an die Laternenpfähle geklebten Todesanzeigen. Wie im Süden üblich, mit Foto, Alter und Nachruf. Immer wieder dasselbe Todesdatum. Ganze Familien sind darunter. Hinzutretende Jugendliche sagten nur kurz: „NATO, NATO, NATO!“

Die Kinder von Aleksinac

Trotz Zeitdrucks sahen wir uns noch das Kellertheater an. Vor acht Jahren war Oliveira Osmanovic nach Deutschland geflohen und drei Tage vor dem Angriff wegen des Osterfestes zurückgekehrt, um mit ihrer Familie Ostern zu feiern. Jetzt erklärte sie uns: „Jugendliche und örtliche Künstler spielen jeden Dienstag und Donnerstag in diesem Luftschutzkeller für die Kinder, um sie mit improvisierten und clownesken Szenen wenigstens stundenweise zum Lachen zu bringen. Das Theater heißt »Smeschko« = Lächeln.“

Später erfuhren wir vom Vorsitzenden der Lehrergewerkschaft, Jagow Bulatovic, dass bis zum 18.05.99 rund 200 Grund- und 60 Mittelschulen, 40 Kindertagesstätten, 15 Fakultäten und 60 Studierenden- und Schülerheime zerstört wurden. Die Gewerkschaft dränge deshalb SchulpsychologInnen und SozialarbeiterInnen, damit sie mit den Kindern die Folgen des Krieges aufarbeiten, auch mit künstlerischen Mitteln.

Überall in diesem eilig hergerichteten Luftschutzkeller, ein ganz normaler, etwas feuchter Hochhauskeller, lagen Luftmatratzen, Decken und Kinderschlafsäcke auf der Erde. Denn bei Fliegeralarm sind alle Kinder in den Kellern. Die Initiative ging hier vom örtlichen Roten Kreuz aus und so erfuhren wir fast nebenbei, dass seit Beginn des Krieges alle Kontakte zum _eutschen Roten Kreuz abgerissen sind. Nur GriechInnen und ÖsterreicherInnen haben nach dem Bombardements Geld und Hilfsgüter geschickt. Spontan spendeten wir dem Kellertheater 1000 Mark.

Als wir einige Tage später abends auf dem Flughafen wieder in Hamburg eintreffen, sagte ein uns abholender Kollege: „Eben habe ich aus dem Internet erfahren, dass sie Aleksinac wieder bombardiert haben. Wieder ein Wohnviertel. Es hat Tote gegeben.“ Uns fallen Namen ein: Jana, Miodrag, Oliveira. Sind sie noch einmal davongekommen?

Vom Leben im Sandwich

Im heutigen Jugowlawien gibt es rund 200 politische Gruppen und Parteien und 30 Ethnien. Die parteipolitische Vielfalt ist breiter als bei uns: Von Neokommunisten über Neue Grüne, der sich jetzt spaltenden Liberalen Partei Djindic' bis hin zu den Royalisten des Vuc Drascovic und den faschistischen Nationalisten der Radikalen Partei Vojslav Seseljs. Milosevic' Partei hat im Lande nicht die absolute Mehrheit (einige sprachen von etwa 27 %). Er regiert mit einem Allparteienkabinett. Die Städte Novi Sad, Belgrad, Nis, Kragujevac, die wir besuchten, werden seit den letzten Kommunalwahlen von Oppositionsbündnissen regiert. Dazu kommen viele soziale, Friedens- und Menschenrechtsgruppen, die den Menschenrechts- und Friedensgruppen in der BRD vergleichbar sind.

Mit VertreterInnen vieler dieser Parteien, Gruppen und verschiedener Gewerkschaften haben wir gesprochen. Ausnahmslos alle unsere GesprächspartnerInnen verurteilten das NATO-Bombardement und bezeichneten es als absolut kontraproduktiv für eine demokratische Entwicklung. Stichworte aus meinen Aufzeichnungen dazu: „Konflikte müssen mit einem Dialog enden, warum hat man ihn nicht gleich nach 1991 begonnen?“ …“ Die Seminare und Begegnungen, die wir seitdem gemacht haben, auch in Kroatien, im Kosovo, auch gemeinsam mit Albanern und Kroaten, zeigen, dass es lange dauert, um zu einem wirklichen Dialog zu kommen. Die verschiedenen Nationalismen schaukeln sich gegenseitig hoch. Aber das Bombardement bringt auf keinen Fall die Demokratie, jetzt sind alle Leute zusammengeschweißt“ … „Wirtschaftsembargo und Krieg fördern den Schwarzmarkt und die Korruption. Kriegsrecht fördert die bei uns herrschende sanfte Diktatur“ … „Der Krieg stärkt autokratische Strukturen, wie sie Milosevic förderte.“ … „Das NATO-Bombardement hat keinem einzigen Albaner geholfen. Aus Bosnien wissen wir, wie schwer es ist, Flüchtlinge in zerstörten Gebieten wieder anzusiedeln.“ … „Wir wollen eine von uns selbst entwickelte Demokratie und keine amerikanische Erzwingungsdemokratie.“ … „Der Westen hat nie ernsthaft unsere demokratische Opposition unterstützt. Weder als vor zwei Jahren Tausende auf den Straßen demonstrierten, noch den gewaltfreien Widerstand der Kosovaren unter Rugova, der immerhin 8 Jahre andauerte.“ … „Wir verstehen vor allem die Deutschen nicht. Ihr wisst doch, dass wir zu Europa gehören. Ihr kennt uns und unser Land.“ ï „Unsere Kultur ist viel älter als die amerikanische. Hier gab es schon Klöster als Amerika erst entdeckt wurde.“

Vertreter von Menschenrechtsgruppen sprachen von der »soften Diktatur« im alten Jugoslawien, in der die Lage der Menschenrechte nie besonders gut war, aber auch nicht so schlecht wie in anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks. Sie berichten von Vertreibungen durch serbische Tschetniks und albanische UCK und sie weisen daraufhin, dass bei derselben Verfassungs- und Gesetzeslage das multiethnische Zusammenleben in der Vojvodina u.a. deshalb besser klappte, weil dieser Landesteil wirtschaftlich florierend und ohne große Arbeitslosigkeit war.

Immer wieder das Fazit: Der Westen hat die Opposition sich selbst überlassen. Der Elektronikprofessor, der in Bochum studiert hat, und der Belgrader Soziologe fragten denn auch: „Warum werden wir seit einigen Jahren nicht mehr zu wissenschaftlichen Kongressen eingeladen? Warum kommt kein Fachkollege zu uns? Warum behandelt Ihr uns wie Aussätzige, nur weil wir in Serbien leben?“ Wir konnten es ihnen nicht beantworten aber wir verstanden etwas besser, was damit gemeint war, wenn man uns sagte: „Wir leben im Sandwich – zwischen zwei arroganten Mächten. Der NATO am Himmel und Milosevic am Boden.“ Wir verstanden den Professor, der formulierte:„To cut connections with people, it is absolut stupid.“ und den Kollegen der forderte, „das Bombardement muss schnell aufhören, damit wir wieder eine öffentliche Debatte hin bekommen.“

Bei serbischen Gewerkschaften

Wir sprachen mit GewerkschafterInnen der verschiedenen Ebenen und Gewerkschaften (Jugoslawische Gewerkschaftskonföderation, Serbischer Gewerkschaftsbund, Gewerkschaften der Vojvodina, der Ortskartelle von Novi Sad, Nis und Kragujevac, Betriebs- und Abteilungsgewerkschaften sowie verschiedener unabhängiger Gewerkschaften, z.B. Nezavistnos und der Bildungsarbeitergewerkschaft). Alle Gespräche waren sehr offen und freimütig, teilweise spontan von uns verabredet. Sie wurden auf Deutsch, Englisch und Serbokroatisch geführt, übersetzt von unserem eigenen Dolmetscher oder den BegleiterInnen des Jugoslawischen Gewerkschaftsbundes (von denen einer bis zu seinem Vorruhestand bei der Zentralstelle für ausländische ArbeitnehmerInnen beim DGB-Bundesvorstand in Düsseldorf beschäftigt war).

Zu den jugoslawischen Gewerkschaften ist allgemein zu sagen, dass sie erhebliche Rechte, vor allem auf betrieblicher Ebene, haben und wahrnehmen (Mitentscheidung über Investitionen und Gewinnausschüttung, Tradition des spezifischen jugoslawischen Betriebssyndikalismus). Wer irgendeine, auch betriebliche Funktion in der Gewerkschaft hat, muss seine evtl. Mitgliedschaft in einer politischen Partei ruhen lassen bzw. darf während seiner Amtszeit nicht in eine Partei eintreten. Seit Oktober 1998 gibt es zugespitzte Auseinandersetzungen um Sozial- und Lohnfragen zwischen Gewerkschaften und Regierung. Für den 02. Mai war ein Generalstreik vorbereitet, der auf Grund der NATO-Bombardements zurückgestellt wurde.

Alle GesprächspartnerInnen betonten, dass das NATO-Bombardement die ArbeitnehmerInnen in eine hoffnungslose Lage gebracht habe: Es wurden nahezu 600.000 Arbeitsplätze vernichtet. Die Metallarbeitergewerkschaft legte uns eine Liste mit 30 bis zum 14.04 schwer beschädigten oder zerstörten Betrieben vor. Unter den Betrieben sind Batteriefabriken, das Wasserpumpenwerk, eine Kühlschrankfabrik und ein Heizlüfterwerk. Alleine in den Metallbetrieben wurden 75.470 Arbeitsplätze zerstört, davon direkt betroffen sind 301.700 Familienangehörige. Wer wegen Ausbombung seines Werkes arbeitslos wurde, erhielt DM 10.- monatlich als staatliche Arbeitslosenunterstützung. Staatliche Großbetriebe gaben aus den Betriebssozialkassen pro Beschäftigten DM 3o.- dazu. Damit ist eine große Massenarmut vorprogrammiert. Am bedrückendsten aber war, dass die Kolleginnen und Kollegen für sich keine Zukunft sehen. Immer wieder die Frage: „Wer soll denn den Aufbau der Betriebe finanzieren?“

Dazu kam das Bedauern, dass die Kontakte zu ausländischen KollegInnen abgerissen sind, dass die internationalen Gewerkschaftsbünde die Mitgliedschaft der serbischen Gewerkschaften suspendiert haben oder ruhen lassen, dass in Briefwechseln der westeuropäischen Gewerkschaften fast Wort getreu NATO-Positionen übernommen und für den NATO-Angriff argumentiert wurde. Die KollegInnen erinnerten an die interessanten Diskussionen in der Vergangenheit, als es um den jugoslawischen »Dritten Weg« und ihre direkte Betriebsdemokratie ging und sie kritisierten, dass die westeuropäischen Gerwerkschaften heute nicht stärker differenzieren, wenn es um die verschiedenen politischen Kräfte in Jugoslawien geht.

Eine Differenzierung, die aber dringend erforderlich ist, wie unsere Gespräche gezeigt haben. Wir konnten selbst unsere Route und GesprächspartnerInnen bestimmen, ungehindert diskutieren und alle KollegInnen waren offen für alle gewerkschaftlichen und politischen Fragen und Diskussionen. Niemand leugnete große ethnische Probleme, alle sahen große Probleme auf Grund der Flüchtlingsströme. Verständlich, dass sie dabei aber auch auf die großen Flüchtlingsströme nach Serbien hinwiesen, immerhin rund 600 000 Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien. Bei einigen GesprächspartnerInnen ging die Bereitschaft über ethnische Säuberungen und Vertreibungen zu diskutieren allerdings sofort zurück, wenn wir pauschalisierten und z. B. von »serbischen Vertreibungen« redeten. Nicht selten hörten wir dann: „Entschuldige, ich bin auch Serbe und vertreibe niemanden!“

In allen Betrieben und Einrichtungen, die wir besuchten, arbeiteten KollegInnen verschiedener Ethnien bis heute zusammen. Vielleicht lag es auch daran, dass wir viele Beispielen für gelungene und misslungene Integration verschiedener Ethnien erfuhren. Durchweg erlebten wir eine kritische Position zu den »Radikalen«, den fanatischen NationalistInnen auf albanischer, serbischer und kroatischer Seite, die mögliche Lösungen torpedierten und immer wieder für neue Zuspitzungen sorgten.

Auffallend auch die kritische Distanz zur Parteipolitik. Begriffe, wie »Politiker« oder »politisch« standen immer wieder synonym für korrupt, machtbesessen, zuerst die eigene Seilschaft, Familie, Region fördernd.

Fazit

Wir waren ZeugInnen eines hochmodernen Krieges und haben die Folgen für den »Normalbürger« im Lager des Gegners gesehen. Folgen, wie in anderen Kriegen auch: Tod, Verwundungen, Wohnungs- und Arbeitslosigkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.

Wir haben erlebt, wie Sprache verharmlosen und technische Lösungen suggerieren kann. Ein Krankenhaus, das viermal bombardiert wurde, eine Schule auf die dreimal Bomben fielen – »Kollateralschäden«. DialysepatientInnen, deren Geräte wegen Stromausfall nicht mehr funktionierten, Frischoperierte, die nach Bombardierungen in Privatwohungen verlegt werden mussten – »Kollateralschäden«. Splitterbomben auf einem Marktplatz und zerstörte Fabriken, die wegen Blingängern nicht mehr betreten werden konnten – »Kollateralschäden«.

Wir haben erfahren, wie Nachrichten gefiltert wurden und die NATO ihren Monopolanspruch zur Nachrichtenübermittlung durchzusetzen versuchte. Deshalb das Unterbinden der Verbreitung serbischer Positionen durch die systematische Zerstörung des serbischen Fernsehens, deshalb der Ausschluss dieses Fernsehens aus der Europa-Satelliten-Kette und der Versuch die Serben aus dem Internet auszuschalten. Und wir erlebten Zensur direkt. Ein deutscher Korrespondent auf unserer Pressekonferenz in Belgrad: „Ich mache natürlich einen Bericht über Sie. Aber ob er gebracht wird, weiß ich nicht. In 4o Jahren Berufserfahrung – und ich war Korrespondent auf mehreren Kriegsschauplätzen – hab ich noch nie eine so große Zensur der Heimatredaktionen erlebt wie jetzt.“

Wir wollten auch Pristina besuchen. Wir haben auf Grund der verstärkten NATO-Bombardements dann doch darauf verzichtet. Doch auch so erfuhren wir von der wachsenden Entvölkerung des Kosovo, einer Entvölkerung durch Vertreibung und Flucht (vor serbischen und albanischen Milizen und den Bomben der NATO). Ein ungeheures Anwachsen der Flüchtlingsbewegung, zu deren Verhinderung angeblich der Krieg begonnen wurde. Hätte es noch eines zusätzlichen Beweises bedurft, dass Krieg keine Probleme löst, hier wurde er geliefert.

Was in der Propaganda als »humanitäre Intervention« verkauft wurde – für uns stellte es sich in allen Bereichen als eine humanitäre Katastrophe für die Betroffenen dar – für SerbInnen und KosovarInnen. Die Bomben haben nicht Milosevic getroffen, sondern SerbInnen, UngarInnen, MazedonierInnen, AlbanerInnen, Roma und Sinti usw. – eben die ganz normale Bevölkerung Jugoslawiens. Jetzt geht es um den Wiederaufbau und da darf Jugoslawien nicht ausgeklammert werden – wie es allen voran die Bundesregierung fordert. Die Ausklammerung Jugoslawiens aus Wiederaufbauprogrammen würde erneut in erster Linie die einfachen Menschen treffen. Diese werden hungern und frieren, wenn es keine Hilfe gibt, nicht die Regierung Milosevic.

Die Herrschenden haben versucht die Begriffe von Solidarität, Humanität und Internationalismus im Interesse einer Kriegspolitik umzuwerten, sie für ihren Interventionismus zu instrumentalisieren. Jetzt wird sich zeigen, was wirkliche Solidarität ist, in der humanitären Hilfe für alle Opfer dieses Krieges, ungeachtet ihrer Nationalität.

Horst Bethge ist Mitglied im geschäftsführenden Ausschuss der GEW Hamburg und aktiv in der Koordination der Internationalen PädagogInnen-Friedensgruppen sowie Bildungspolitischer Sprecher der PDS

Zerbombte Hoffnungen

Zerbombte Hoffnungen

Kriegseindrücke einer Belgrader Grünen

von Branka Jovanovic

Wie erlebte die politische Opposition in Jugoslawien den Krieg? Was ging in den Menschen vor, die zum Teil seit Jahren gegen das Regime Milosevic politisch aktiv waren und deren Heimat jetzt von der NATO zerbombt wurde? Branka Jovanovic, Mitbegründerin der jugoslawischen Grünen schildert ihre ganz persönlichen Eindrücke – als Grüne mit besonderem Bezug auf die Umweltschäden, sie schildert ihre Initiativen und Gesprächsversuche in Richtung alter politischer FreundInnen im »Westen« und ihre tiefe Enttäuschung.

Seit Jahren hören die BürgerInnen Jugoslawiens den Vorwurf, sie hätten durch ihre Wahl eine Politik hingenommen und gefördert, die das ehemalige Jugoslawien zerschlagen und das neue zu Recht isoliert habe. Auch während der brutalen Zerstörung Jugoslawiens durch die NATO hieß es, die BürgerInnen hätten den Genozid gegen AlbanerInnen unterstützt, indem sie die Regierung nicht abgesetzt hätten, die den Genozid verübte.

Eine solche Deutung perpetuiert zunächst alle Irrtümer in der Rezeption der Jahrzehnte dauernden Krise unseres Landes. Dadurch schafft sie die Voraussetzungen für alle möglichen Fehleinschätzungen bezüglich der Tragfähigkeit von Lösungsmodellen für die Krise auf dem Balkan; sie idealisiert die politischen Kreise anderer Teile des ehemaligen Jugoslawiens sowie jener Länder, die die Rolle der Friedensvermittler übernommen haben und sie entledigt sich jeder Verantwortung für die fortdauernde Tragödie.

Man stellt nie die Frage warum gerade die SerbInnen, die 50 Jahre in dem gleichen System mit anderen jugoslawischen Völkern gelebt haben, von diesen so verschieden sein sollen. Sind die Wünsche, Visionen, Interessen der anderen so unterschiedlich gewesen, dass nur sie sich gegen den Hauptstrom der Entwicklung im Osten stellten, um eine eigene Rolle in der Geschichte zu gestalten? Woran liegt das Missverständnis zwischen den SerbInnen und der Welt? Wer trägt zu dieser erschreckenden Distanz bei? Nur die »isolationsbedürftigen« SerbInnen?

Das Nicht-Hinterfragen machte es möglich, alle BürgerInnen der BR Jugoslawien kollektiv so schwer zu strafen, dass sie auf Jahrzehnte hinaus keine Chance mehr auf eine moderne wirtschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung haben. Der bosnische Politiker Haris Silajdzic fasste dies neulich in einem Interview für den Sender B92 so zusammen: „Haben die Bürger Jugoslawiens denn gehofft, dass sie unbestraft bleiben, nachdem sie das Regime gewählt haben, das uns so viel Zerstörung gebracht hat?“ Seit wann ist Rache eigentlich ein Bestandteil des internationalen Rechts?

Ich spüre oft maßlose Verbitterung und noch tiefere Lustlosigkeit, irgend etwas zu erklären, mich auszuweisen, zu rechtfertigen, beim kleinsten Treffen den Vorwürfen vorauszueilen: »Ich bin doch nicht regierungstreu! Ich bin doch die Opposition! Selbstverständlich verurteile ich die Verbrechen der politischen Führung unseres Landes! Ich bin für das Haager Tribunal! Natürlich bin ich keine Anhängerin der Verschwörungstheorie, wenn ich Sie frage, ob Sie auch zu unserem Unglück heftig beigetragen haben!«

Erschüttert

Als die erste Sirene über Belgrad heulte, wollte ich es zunächst nicht glauben. Als ich endlich verstand, dass die Sirene tatsächlich einen Angriff ankündigte, fühlte ich mich völlig vernichtet. Alles was ich gelernt habe – ich habe Philosophie studiert – oder was ich mir von der Welt erträumt habe und ich war bei den Belgrader Grünen seit der Gründung der Grünen Partei war auf einmal wertlos.

Ich dachte an meine Winterreisen mit Münchner FriedensfreundInnen in die Berge, bei denen MuslimInnen und SerbInnen zusammenlebten. Ich dachte an das zehnjährige Wettrennen mit der Zeit, als jede Zelle in mir vor Angst bebte, dass unsere Idee des gemeinsamen Lebens doch nicht siegen werde. Jetzt fühlte ich mich nicht nur als Mensch, sondern auch als politisches Wesen, als Weltbürgerin erniedrigt. Wir waren gnadenlos der Vernichtung ausgesetzt. Anders als der Tod ist die Vernichtung eine Tat, ein Verhältnis, die Weise, wie jemand mit uns kommuniziert. Wir lebten doch bisher schon sehr schwer mit dem Abbruch vieler Kommunikationsarten die einfach zur Würde des Menschen gehören. Mit der ersten Explosion waren auch die letzten Kommunikationsstränge abgebrochen. Deshalb werde ich gerade diese erste dumpfe Explosion nie vergessen und nie verzeihen. Sie beendete meinem politischen Optimismus, meine positiven Motive, meine Hoffnung auf grüne Utopie.

»Kollateralschaden« Umwelt

Verblüffend war, dass bereits am ersten Tag der Angriffe drei Gemeinden in der Nähe Belgrads bombardiert wurden, in denen sich Chemiewerke und ein Nuklearreaktor mit einem Atommülllager befinden: Pancevo, Baric und Vinca. Schon am 24.3.1999 um 8.40 Uhr traf man die Flugzeugfabrik Lola Utva in Pancevo. Es wurden Container mit chemischen Substanzen getroffen und in den Fluss Tamis flossen Natriumdioxid, Chromsäure, Salpetersäure, Fluorsäure, Chrom. Was, wenn die NATO die Petrochemie trifft? Das wäre das sichere Ende Pancevos und mehrerer Belgrader Viertel. Ich habe sofort alle Grünen die ich kannte benachrichtigt. Auch an Joseph Fischer sandte ich eine entsprechende e-mail. Die Hauptanklägerin des Haager Tribunals, Frau Luise Arbour, bat ich, die NATO präventiv zu warnen, weil solche Ziele das Leben Hunderttausender BürgerInnen bedrohen.

Doch die Bombardements gingen weiter. Es wurden am 12.4.1999 die Ölraffinerie, am 15.4.1999 die Düngemittelfabrik und am 18.4.1999 die Petrochemie in Pancevo getroffen sowie die Chemiewerke in Baric. Der Direktor der Petrochemie informierte sogar die NATO darüber, welche gefährliche Substanzen auf dem Werksgelände lagerten und dass man es nicht schaffe, alle abzutransportieren oder in die Donau zu leiten. Am darauffolgenden Tag bombardierte die NATO erneut alle drei Werke, obwohl sie bereits nach dem ersten Bombardement außer Betrieb gesetzt wurden und nicht mehr produktionsfähig waren.

In einem Bericht der Gemeinde Pancevo sind die chemischen Stoffe angegeben, die Tag für Tag in die Luft freigesetzt wurden oder den Boden und das Wasser verschmutzten: Man stößt auf verheerende Daten: „18.04.1999.At 01.10 am the second bombardment of DP »HIP Petrochemichals« occurred. Again the installations for VCM production were hit, also the installation for OVC-production. On that occasion the spheric reservoir with 1.200 tons of VMC was destroyed, and 6 train cisterns of 30 tons of VMC each. All VCM contents in the reservoir burned until 8 am, but the train cisterns burned until 3.30 pm…

According to the information of The Pancevo Institut for Health Protection dispatched at 12.63 hrs, the excessive VCM contentration between 6 am and 8 am was 0,53 mg/m3, which is 530.000 nanograms/m3, and the limit is 50,0 nanograms/m3, which is an excess of 10.600 times more than the values allowed.“

In einer anderen Publikation finde ich eine Liste der zerstörten Erdölraffinerien und Treibstofflager: Tausende Tonnen Erdöl wurden verbrannt oder sind ausgeflossen. Auf einem Photo sehe ich einen Bauern auf dem Feld unmittelbar hinter der brennenden Ölraffinerie in Pancevo arbeiten. Es ist eben die Frühlingszeit, Pflanzen keimen und blühen.

Genaue Daten zur Umweltzerstörung in Jugoslawien sind aber ein großes Problem. Die Behörden verschweigen exakte Daten und sie haben auch viele nicht, weil sie keine Messgeräte haben, die einem solchen Desaster gewachsen wären. Die Beschreibungen in den Veröffentlichungen wirken eher zufällig: Vinylchloridmonomer, Phosgen, Polychlorbiphenyle, Ethilendichloride, Chlor, Säuren aller Arten, Ammoniak, Blei, Cadmium, Dioxin, Quecksilber. Die häufigsten Atribute: hochgiftig, karzinogen.

Auch deutsche WissenschaftlerInnen, wie z.B. Prof. Knut Krusewitz, haben festgestellt, dass ein solcher »Umweltkrieg« gegen die Zusatzprotokolle der Genfer Konventionen aus dem Jahre 1977 verstößt und dass schwere Verletzungen dieser Konventionen ein Kriegsverbrechen darstellen.

Obwohl ich seit 1995 eng mit dem Haager Tribunal zusammen gearbeitet habe und in diesem Zusammenhang Frau Arbour mehrmals persönlich getroffen habe, erhielt ich von ihr auf meine Schreiben keine Antwort.

Die Wirkung
»moderner« Waffen

Mehrere Zehntausende Tonnen Explosivstoffe, die giftig und karzinogen sind, explodierten. Man vergleicht die Destruktionskraft gerne mit jener der Hiroshimabombe. Zunächst wurde von der dreifachen Zerstörungskraft gesprochen, dann von der fünffachen, Greenpeace spricht von der zwölffachen. Man spricht von der Destruktionskraft, aber nicht von der Chemie.

Hier nur zwei Beispiele: In den ersten vier Wochen des Krieges wurden ca. 600 Tomahawk-Raketen auf Ziele in der Bundesrepublik Jugoslawien abgefeuert. Die Reichweite der Tomahawks beträgt 1.600 km und eine Rakete trägt 500-950 kg Explosivstoff von großer Zerstörungskraft mit sich. Ein Kilogramm setzt bei der Explosion frei: 51-148 l Kohlendioxid (CO2), 160-288 l Kohlenmonoxid (CO), 60-200 g Kohlenstoff (C), 160-350 l Stickstoff (N2), 37-90 l Stickstoffmonoxid (NO), 47 l Schwefeldioxid (SO2), 83 l HCN-Säure, 62 l HCL-Säure, 56-224 l Wasserstoff (H2), 20 g Bleioxid (PbO).

Multipliziert man diese Mengen (500 kg x 600 Stück), gewinnt man Tausende Tonnen schädlicher Stoffe, die nicht nur Jugoslawien bedrohen. Außerdem entstehen große Schäden durch Brände, weil dabei organische Stoffe, Plastikmasse, Erdöl und Erdölprodukte verbrennen. Dadurch entstehen Kohlendioxide, Russ, Stickstoff, Schwefel, Oxide schwerer Metalle und krebsverursachende Radikale. Man spricht wenig von dem Inhalt des Staubes. Bedenkt man nur die Tatsache, wieviel Asbest im Bauwesen verwendet wurde, wird klar, was die Explosionen mit sich gebracht haben.

Sasa Kovacevic, ein junger Wirtschaftsexperte, informierte mich, als mehrere Umspannwerke in Belgrad getroffen wurden. 100 Tonnen Pyralen flossen in einen kleinen Fluss, der in die Sava mündet. In einem Belgrader Viertel brannte die ganze Umspanneinrichtung aus und ich sah eine riesige Wolke. In Kragujevac wurde eine kleinere Anlage getroffen und eine kleinere Pyralenmenge freigesetzt. Die UNEP-Kommission stellte schlimme Folgen fest. InsiderInnen, die die Arbeit verfolgten, sagten mir in einer verschwörerischen Art, dass manche Mitglieder der Kommission nicht die ganze Wahrheit veröffentlichen wollten. Von jugoslawischer Seite gab es parallele Untersuchungen, aber auch hier sind die Ergebnisse noch nicht veröffentlicht und ich befürchte dass sie auch nie veröffentlicht werden. Nehmen wir also einen allgemeinen Text über die Wirkung Polychlorierter Biphenyle: „PCBs are toxic, and have been linked to a number of toxic responces, including the impairment of the immune responses in biota: human carcinogens and tumorigens, neurotoxicity and reproductive toxicity.“

Ein besonderes Kapitel ist in diesem Zusammenhang der Einsatz von Urangeschossen (Über die Folgen des Einsatzes von Urangeschossen siehe auch den Artikel von G. Mertens in dieser Ausgabe von W&F, S. 45, d. R.). Als die NATO den Einsatz von A10- Flugzeugen ankündigte, zu deren Standardausstattung die Munition mit dem abgereicherten Uran gehört, sandte ich verzweifelte Briefe an mir bekannte Adressen im Westen, eingeschlossen Joseph Fischer und Luise Arbour. Es kamen manche aufgebrachte Antworten: Ob ich denn wüsste, was mit den albanischen Flüchtlingen aus dem Kosovo passiere. Ich wusste es zum Teil aus den Berichten der CNN, BBC, Sky News. Und gleichzeitig war es war für mich sehr schwer festzustellen, was Wahrheit war und was zur Kriegspropaganda zählte, denn natürlich werden viele Berichte über Flüchtlinge auch unverschämt missbraucht. So antwortete ich, dass ich alle Verbrechen verurteile, dass das Haager Tribunal sofort reagieren sollte, dass alle Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Trotzdem wagte ich einige Fragen: Ob man glaubt den AlbanerInnen mit Urangeschossen zu helfen, wenn diese als feiner Todesstaub, je nach dem Willen der Winde, auch sie erreichen? Was wird aus der Umwelt, in die sie zurückkehren werden? Wer wird den krebskranken Kindern helfen – unter ihnen können auch albanische Kinder sein?

Es gab eine Diskussion im Internet und die Meinungen darüber, ob das abgereicherte Uran gefährlich ist oder nicht gingen weit auseinander. Die RussInnen sagten, ein halber Nuklearreaktor sei über Jugoslawien ausgeleert worden. Das Ministerium von Joseph Fischer beteuerte, es sei trotzdem nicht gefährlich. Jugoslawische WissenschaftlerInnen beruhigten uns mit der Behauptung, es gäbe keine erhöhte radioaktive Strahlung. Andere WissenschaftlerInnen wiederum beunruhigten uns mit den damit, dass das Uran verbrennen und in Form eines einzigen nicht messbaren, radioaktiven und hochgiftigen Staubkörnchens in unseren gestressten Zellen karzinogene Folgen verursachen könne. Ich selbst kenne einige Menschen, die nach der Bombardierung Bosniens mit solchen Geschossen an Krebs erkrankten. Ein Zufall?

Übrigens bekam ich auch auf diesen Brief weder von Joseph Fischer noch von Louise Arbour eine Antwort.

Bilder der Zerstörung

Nachdem mich ein Kollege aus Deutschland bat, einen kurzen Film über Belgrad zu drehen, besuchte ich zum ersten Mal die zerbombten Orte. Die Zerstörungen der großen Häuser sind erschreckend, auch architektonisch sehr wertvolle Bauten wurden gnadenlos in Asche verwandelt. Da war z.B. das Fernsehen. Siebzehn Techniker kamen hier ums Leben, als das Gebäude mitten in der Stadt getroffen wurde. Der NATO Sprecher sprach damals von einer Aktion gegen die Leute, die sich am Genozid durch ihre Arbeit beteiligten. Zählte er dazu auch die Gelähmten in dem Krankenhaus, das vernichtet wurde? Hat er je darüber nach gedacht, dass auch das Haager Tribunal die Todesstrafe nicht kennt?

Mehrere Tausend Betriebe in Jugoslawien wurden zerstört, beschädigt oder stillgelegt. Nur in der Stadt Nis sind es 23, in Novi Sad fünfzehn, darunter die bekanntesten Industriezentren.

Fast alle Brücken in Jugoslawien wurden zerstört, vier über die Donau, 49 insgesamt. Ich weiss nicht warum die Zerstörung einer Brücke so wehtut. Liegt es an ihren Symbolwerten, daran, dass Verbindendes zerstört wird?

In einem Krankenhaus filmte ich einen Jungen, dem eine Kassettenbombe beide Beine zerfetzt hat. Er ist 10 Jahre alt und kommt aus dem Kosovo. Sein Gesicht ist voll Wunden, auch der Körper. „Ich bin zu meinem Vater gegangen, der im Feld arbeitete. Ich weiss nicht, was ich getan habe. Sie ist explodiert.“ „Tut es weh?“, fragte die Krankenschwester. „Nur das Auge! Ich kann mit einem Auge nichts mehr sehen, weil es verletzt ist“, war die Antwort und er lächelte, kindlich unbesorgt um seine Beine. In einem anderen Zimmer lag eine ältere Frau. Auch sie das Opfer einer Kassettenbombe, die auf dem Markt in Nis explodierte. Unentwegt fragte sie nach ihrer schwangeren Schwiegertochter, die mit ihr zum Markt gegangen war: „Sie muss tot sein und niemand will mir das sagen. Sie lag unbeweglich neben mir. Sie ist gewiss tot.“ Wie viele ZivilistInnen wurden Opfer der Bomben? Man schätzt 5.000, doch die genaue Zahl ist bis heute nicht veröffentlicht.

Es ist sehr schwer die Zerstörungen meines Landes anzuschauen. Fabriken, Wohnblöcke, Brücken, Eisenbahnlinien, Kirchen, Denkmäler, Flughäfen, TV-Übertragungsanlagen, Krankenhäuser, Flüchtlingsheime, Kindergärten, Schulen, Bibliotheken, Naturschutzgebiete, Wasserwerke, Stromanlagen. Mich verfolgen die Bilder: Da hängen vom Wipfel eines Baumes Kleider, aus einem Paar alter Schuhe ist der Mensch einfach heraus katapultiert worden, sie liegen auf der Straße neben gerade gekauften Radieschen; da sitzt ein Mensch verloren in einem rieseigen Bombenkrater und hält sich am Kopf; da erzählt eine Mutter über ihre Tochter, eine der besten jungen Mathematikerinnen Jugoslawiens, die auf einer Brücke an einem Sonntag ums Leben kam; da hinkt ein Hund mit einem Bein; da sind die Leichen, Kinder deren tote Augen offen starren; da ist die Tigerin aus unserem Zoo, die während eines schweren Angriffes gegen Belgrad ihre Kleinen gefressen hat.

Und dann sind da die Texte und Karikaturen über die SerbInnen. In einer Karikatur der Chicago Tribune sind wir als Schweine in einer Klogrube dargestellt. In einer anderen als Monster. Von einem »Wissenschaftler« lese ich: „Serben sind militant und primitiv, sie sind eine Nation des Todes und der Nekrophilie, sie sind wilde Barbaren, Nachfolger der türkischen Bastarde. Unglücklich und tragisch ist die Nation, die sie zu Nachbarn hat“.

Ich denke an die Generation meiner Eltern. Sie haben sehr ehrlich gearbeitet und vieles aufgebaut. Jetzt wurde ihr Leben zunichte gemacht.

Ohne Perspektive

Durch die Bombardements wurden rund 500.000 Arbeitsplätze direkt vernichtet (wir hatten aber vorher schon mehr als 1 Million Arbeitslose und 1,2 Millionen RentnerInnen). Michel Chossudovsky, der außenpolitische Kommentator der Zeitschrift Le Monde Diplomatique schätzte den Schaden für die jugoslawische Wirtschaft auf 100 Milliarden Dollar.

Den Verlust an Lebenssubstanz, an Glück, an positiven Lebensplänen, ja, die Perspektivlosigkeit für Generationen kann man nicht berechnen. Was kostet es mich, wenn ich nicht mehr im Stande bin, ein Buch zu kaufen oder ins Theater zu gehen? Wer kann das berechnen? Die Jugend Jugoslawiens hat keine Perspektive. Es wird befürchtet, dass viele der gut ausgebildeten Menschen, der HochschulabsolventInnen versuchen werden, Jugoslawien zu verlassen, mit den entsprechend schlimmen Folgen für die Wirtschaft. Es droht der Kreislauf: Verarmung der Gesellschaft – langfristige politische Instabilität – weitere Verarmung. Schließlich will niemand in solchen Ländern investieren.

VerliererInnen

Zwei Monate nach Ende des Nato-Bombardements, am 12.8. 1999, sitze ich mit Amsterdamer Grünen und dem Bürgermeister der Stadt Pancevo zusammen. Wir besprechen Hilfsaktionen für die Bürger, deren Gesundheit schweren Schaden genommen hat. Doch wir finden keine Form der Hilfe. Hilfe darf nur den oppositionellen Gemeinden gegeben werden, Pancevo gehört dazu; die Betriebe aber, die die Sanierung vornehmen müssten, die wissenschaftlichen Institute, die die Vergiftung messen müssten und die Krankenhäuser, in denen es an vielen medizinischen Einrichtungen fehlt, sind staatlich und sie erfüllen dieses Kriterium nicht. Prinzipien! Die VerliererInnen sind wieder einmal die normalen BürgerInnen.

Branka Jovanovic lebt in Belgrad. Sie ist Mitbegründerin der Grünen Partei Serbiens.

Die Kosten und Folgekosten des Kosovo-Krieges

Die Kosten und Folgekosten des Kosovo-Krieges

von Matthias Z. Karádi

Krieg kostet seit alters her viel Geld. Für die modernen Kriege gilt dies in besonderem Maße. Der Einsatz modernster Waffen und Technologie schlägt sich in entsprechenden Kriegskosten nieder. Während die NATO gegen Jugoslawien aus der Luft den High-Tech-Krieg des 21. Jahrhunderts führt, finden gleichzeitig auf dem Boden Metzeleien und Vertreibungen statt. Gegenwärtig ist noch nicht abzusehen, wie lange der Luftkrieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien dauern wird. Mit Fortdauer des Krieges steigen nicht nur die sogenannten »Kollateralschäden«, sondern auch die Opfer. Je länger der Krieg dauert, umso deutlicher wird, dass es den – von der NATO propagierten – sauberen, chirurgischen Krieg nicht gibt. Gleichzeitig schwindet die Zustimmung innerhalb der NATO-Staaten. Nicht erst seit der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad, ist die Zielplanung der NATO in die Kritik geraten. Sollte bis zum Spätsommer des Jahres 1999 keine politische Lösung erzielt werden, dürfte die NATO den Einsatz von Bodentruppen in Erwägung ziehen.1 Mit anderen Worten: Die Kosten des Krieges sind stark von der weiteren Entwicklung abhängig, die veranschlagten Summen können deshalb nur ungenaue und vorläufige Schätzungen sein.

Bei der Schätzung der Kosten und Folgekosten des Krieges ist zu unterscheiden zwischen 1. den militärischen Kosten der kriegführenden NATO-Länder2; 2. den Kosten, die den Nachbar- und Anrainerstaaten als Folge des Krieges entstehen; 3. den Zerstörungen, die die NATO-Bomben in der Bundesrepublik Jugoslawien anrichten und 4. den zu erwartenden Kosten für Wiederaufbau- und Unterstützungsmaßnahmen für die Region, die derzeit unter den Begriffen »Stabilitätspakt für Südosteuropa« und »Marshallplan für den Balkan« diskutiert werden. Fest steht, dass die sozialen und wirtschaftlichen Lasten für das Kriegsgebiet und die direkt betroffenen Anrainerstaaten am höchsten sind.

Die Kriegskosten der NATO

Die unmittelbaren Kriegskosten für die beteiligten NATO-Staaten können nur ungefähr geschätzt werden. Mit der Intensivierung der Luftangriffe und der Verlegung von zusätzlichen Flugzeugen, Kampfhubschraubern und Soldaten in die Region steigen auch die Kosten. Sollte sich die NATO doch noch für den Einsatz von Bodentruppen entscheiden, würde dies nicht nur eine neue Qualität des Krieges, sondern eine weitere Kostenexplosion mit sich bringen. So würde ein Einsatz von Bodentruppen nach Schätzungen des Institute for Strategic Studiesin New York die Kriegskosten vervierfachen.3

Die bislang detaillierteste Auflistung der Kriegskosten findet sich in einer Studie der Universität der Bundeswehr München.4 Die entstehenden Kosten für die NATO-Staaten summieren sich aus folgenden vier Faktoren: 1. Munitionseinsatz, 2. Einsatz von Luftfahrzeugen, 3. Entstandene Verluste an Luftfahrzeugen und 4. Sonstige Zusatzkosten. Demnach setzten sich die täglichen Mindestkosten des NATO-Einsatzes wie folgt zusammen:

  • Munitionseinsatz: ca. 67 Millionen DM – davon 27 Millionen DM für Lenkflugkörper (Tomahawks und Cruise Missiles), 30 Millionen DM für Bomben5 sowie zehn Millionen DM »sonstiger Munitionseinsatz«.
  • Einsatz von Kampfflugzeugen und Drohnen: ca. 31 Millionen DM – davon 26 Millionen für Treibstoff, Wartung und Reparaturen sowie fünf Millionen DM für Verluste an Luftfahrzeugen. (Zu den zwei Drohnen und dem F-117 A Nighthawk ist mittlerweile noch ein Apache-Kampfhubschrauber dazugekommen.)
  • Sonstige Zusatzkosten: ca. 15 Millionen DM. Diese Zusatzkosten entstehen im Wesentlichen durch die Bereitstellung von Truppen in Mazedonien, Albanien und Italien, aber auch in Deutschland und England.

Damit summieren sich die täglichen Kosten der NATO-Einsätze auf ca. 120 Millionen DM pro Tag, d.h. 840 Millionen DM pro Woche. Zugleich räumt die Studie ein, dass die tatsächlichen Kosten wesentlich über diesen vorsichtigen Schätzungen liegen dürften.6 So sind beispielsweise die Kosten für die Satellitenaufklärung und die Kriegsschiffe in der Adria ebensowenig mit eingerechnet wie die Ausgaben für die humanitäre Nothilfe. Grob geschätzt kann deshalb für die ersten Kriegswochen von etwa einer Milliarde DM pro Wocheausgegangen werden. Die Erhöhung der Zahl der Kampfflugzeuge sowie die Verlegung von Apache-Kampfhubschraubern und zusätzlichen NATO-Truppen nach Mazedonien und Albanien wird die Kosten entsprechend steigen lassen. Auch das von EU und NATO beschlossene Ölembargo und dessen Überwachung durch Kriegsschiffe in der Adria werden mit weiteren Summen zu Buche schlagen.

Noch geht man innerhalb der NATO davon aus, dass jedes Land den jeweils eigenen Anteil der Kriegskosten bestreitet. Falls dem so wäre, käme Deutschland mit weniger als fünf Prozent der Kriegskosten davon, während die Vereinigten Staaten von Amerika mit ca. 75 Prozent den Hauptteil der Kriegskosten tragen müssten. Von den bislang 680 eingesetzten NATO-Flugzeugen stellen die USA 500, darunter insbesondere die teuren Systeme wie die F-117 A Nighthawk und die B-2-Tarnkappenbomber. Auch die meisten Bomben und Marschflugkörper stammen aus US-amerikanischen Arsenalen. Damit stehen zwei Kriegsgewinner jedenfalls schon fest: die beiden US-Rüstungskonzerne General Dynamics und Raytheon. Beide melden Kursgewinne von über 20 Prozent. Nach Berechnungen des Center for Strategic and Budgetary Assessment in Washington zahlen allein die USA für den Luftkrieg gegen Jugoslawien jeden Tag 20 bis 40 Millionen Dollar. Sollte der Krieg drei Monate dauern, würden die Kosten nach amerikanischen Berechnungen auf mindestens 20 Milliarden Dollar (36 Milliarden DM) steigen. Diese Zahl halten jedoch die meisten Experten für zu hoch gegriffen.

Je länger der Krieg dauert und je teurer er damit wird, um so wahrscheinlicher ist es, dass die USA bestrebt sein werden, den Anteil der Kriegskosten auf die NATO-Mitglieder umzulegen, womöglich nach dem jeweiligen Anteil eines jeden NATO-Landes am Gesamt-Bruttosozialprodukt der NATO-Länder. Dies wären im Falle Deutschlands zwölf Prozent. Ferner ist davon auszugehen, dass für das Kosovo und den gesamten Balkan das Prinzip gelten wird, dass auch schon bei Bosnien Anwendung fand: Die USA zahlen den Krieg, Europa den Wiederaufbau.

Die Kosten für die humanitäre Hilfe

Kaum abzuschätzen sind die Kosten für Versorgung und Unterbringung der Kosovo-Flüchtlinge. Die humanitären Hilfen stellen bislang lediglich einen Bruchteil der Kriegskosten dar. So rechnet das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) mit 430 Millionen DM, um 650.000 Vertriebene fürs erste in der Region zu versorgen. „Ein Zelt des Technischen Hilfswerks für eine Flüchtlingsfamilie kostet 2.500 DM.“7 Bislang hat die Europäische Union 800 Millionen Euro für die Flüchtlingshilfe zur Verfügung gestellt, davon finanziert Bonn rund 30 Prozent. Darüber hinaus haben das deutsche Entwicklungshilfeministerium 15 Millionen, das Außenministerium 23 Millionen und die privaten Hilfswerke über 30 Millionen DM für humanitäre Hilfslieferungen angesetzt.8

Das Bestreben europäischer PolitikerInnen, die Flüchtlinge nach Möglichkeit vor Ort zu belassen und »Hilfe zur Selbsthilfe« für Mazedonien und Albanien zu leisten, liegt vor allem in den hohen Kosten für die Unterbringung von Balkan-Flüchtlingen in Westeuropa begründet. So haben während des Bosnien-Krieges in Deutschland die Kommunen und Länder allein für die Versorgung und Unterbringung von 350.000 bosnischen Kriegsflüchtlingen zweistellige Milliardenbeträge ausgegeben, die Bundesregierung spricht von 20 Milliarden DM. Die unzureichende Aufnahmebereitschaft der EU-Länder für kosovo-albanische Flüchtlinge lässt jedenfalls den Schluss zu, dass der Westen die humanitäre Katastrophe zwar verhindern möchte, wenn möglich jedoch auf Kosten der Nachbarländer der Bundesrepublik Jugoslawien.

Die Folgekosten

Die eigentlichen Kriegskosten werden jedoch neben den Kosten für den Wiederaufbau der Region verblassen. Denn: Die Folgekosten des Kosovo-Krieges betreffen nicht nur die Bundesrepublik Jugoslawien, das in den Worten eines Militärs „in die Steinzeit zurückgebombt wurde“, sondern auch die Nachbarländer. Zerstörte Donaubrücken und Infrastruktur haben den Handel nahezu zum Erliegen gebracht. Nach Schätzungen der NATO betragen die Schäden in Jugoslawien durch die Luftangriffe allein an Gebäuden, Straßen und Brücken an die 20 Milliarden DM. Belgrad hingegen beziffert den Schaden auf mindestens 181 Milliarden DM.9

Neben der Bundesrepublik Jugoslawien sind auch die Anrainer durch den Krieg betroffen. Nach Schätzungen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds belaufen sich die Kriegskosten für die Nachbarstaaten Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien und Rumänien auf mindestens zweieinhalb Milliarden Dollar für dieses Jahr. Darunter fallen vor allem die Lasten für die Aufnahme von Flüchtlingen und die Ausfälle bei Handel und Tourismus.10

Der dickste Brocken kommt jedoch noch: Es ist der von EU und NATO angekündigte »Marshall-Plan für den Balkan«. Damit soll die gesamte Region nach Ende des Krieges stabilisiert und ihr eine Perspektive gegeben werden. Mit anderen Worten: Der Westen wird den Wiederaufbau des von ihm zerbombten Landes bezahlen müssen. Von Experten geschätzte Kosten: Über 100 Milliarden DM.11 Doch auch hier variieren die Zahlen: Während EU-Kommissar Yves Thilbaut de Silgui mit 60 Milliarden DM für den Wiederaufbau der Region rechnet, gehen andere Kalkulationen von 600 Milliarden DM für die Beseitigung aller Folgeschäden des Krieges aus.12 Darin enthalten wären auch die Kosten für NATO- und OSZE-Missionen, die nach Ende des Krieges vermutlich nicht nur im Kosovo, sondern auch in Albanien und Mazedonien über Jahre, vermutlich Jahrzehnte stationiert werden müssen. Zusammen mit Bosnien und Ostslawonien würde die internationale Gemeinschaft – d.h. in erster Linie der Westen – somit fünf Quasi-Protektorate auf dem Balkan unterhalten und finanzieren müssen. Bosnien-Herzegowina kann hier als Modell dienen. So kostet die internationale Präsenz in Bosnien pro Jahr etwa 15 Milliarden DM (SFOR, OSZE, EU, UNHCR, UNO etc). Darüber hinaus sind auf den Geberkonferenzen bislang fünf Milliarden Dollar für den wirtschaftlichen Wiederaufbau aufgebracht worden.

Die Gesamtrechnung wird also so oder so riesig werden, auch wenn die bereits vollmundig angekündigten Milliarden für einen Balkan-Marshallplan in der Realität um einiges niedriger ausfallen dürften. Angesichts der instabilen Verhältnisse ist davon auszugehen, dass eine friedliche Neuordnung des Balkans Jahrzehnte dauert, große Summen kostet und nur über die langfristige Aussicht auf Integration in die euro-atlantischen Strukturen Erfolg verspricht. Doch auch hier gilt: Abgerechnet wird zum Schluss.

Anmerkungen

1) Vgl. zu den Hintergründen und den aktuellen Entwicklungen des Kosovo-Krieges: Hans-Georg Ehrhart/Matthias Z. Karádi, Brennt der Balkan? Plädoyer für eine komplexe Präventionspolitik im Kosovo-Konflikt, Hamburger Informationen zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Ausgabe 23/1998, Hamburg, März 1998; sowie dies., Krieg auf dem Balkan. Lage, Interessen, Optionen, Lehren und Perspektiven, Hamburger Informationen zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Ausgabe 27/1998, Hamburg, Mai 1999.

2) Folgende zehn NATO-Staaten sind am Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien beteiligt: Die USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada, Belgien, die Niederlande, Portugal und Spanien.

3) Vgl. International Herald Tribune, 25.4.1999.

4) J. Schnell/G.A. Straub, Kurzstudie der Universität der Bundeswehr »Abschätzung der militärischen Kosten des Kosovo-Einsatzes der NATO«. München 1999 (Stand: 15.04.1999).

5) Dabei geht die Studie von täglich 80 Bomben à 360.000 DM aus. Ebda, S. 5/6.

6) Ebda, S. 9.

7) Wolfgang Hoffmann, Offene Rechnungen. Wie die NATO-Partner die Kosten des Krieges kalkulieren, in: DIE ZEIT, 22.4.1999.

8) Vgl. Frankfurter Rundschau, 15.4.1999.

9) Vgl. Welt am Sonntag, 18.4.1999.

10) Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.4.1999.

11) Ludwig Greven, Rechnung folgt, in: DIE WOCHE, 16.4.1999.

12) Vgl. Alois Berger, Kassen-Sturz, in: DIE WOCHE 14.5.1999.

Matthias Z. Karádi ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

Ferien vom Krieg – Kinderfreizeiten als Friedensarbeit

Ferien vom Krieg – Kinderfreizeiten als Friedensarbeit

von Helga Dieter

Seit Beginn des Krieges im ehemaligen Jugoslawien haben Hanne und Klaus Vack, unterstützt durch Freundinnen und Freunde sowie weitere Mitglieder des Komitees für Grundrechte und Demokratie, auf insgesamt 97 Reisen in umkämpfte und zerstörte Gebiete für ca. 13,9 Millionen DM humanitäre und friedenspolitische Hilfe geleistet. Diese gewaltige Summe wurde ausschließlich von privaten Spenderinnen und Spendern gesammelt. Die Hilfe ging anfangs unter dem Titel »Helfen statt Schießen« überwiegend an Flüchtlinge in den verschiedensten Lagern in allen jugoslawischen Nachfolgerepubliken. Kriegs- und Flüchtlingskinder wurden bei diesen Hilfsaktionen besonders bedacht. Es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit mit vielen Friedensgruppen in verschiedenen Teilen Ex-Jugoslawiens. Angesichts der erbärmlichen Lebensumstände bildete aber die humanitäre Unterstützung den Schwerpunkt bei fast allen Reisen. Begleitend zu den Hilfslieferungen wurden dann 1994 erstmals Ferienfreizeiten für Waisen- und Flüchtlingskinder durchgeführt.

200 Kinder aus Slavonski Brod, einer kroatischen Stadt an der Grenze zu Nordbosnien, wo zu dieser Zeit Tausende von Flüchtlingen aus Bosnien z.T. in Eisenbahnwaggons und Zeltlagern in größtem Elend lebten, nahmen 1994 an der ersten Aktion »Ferien vom Krieg« teil. Die Mitglieder des Komiteevorstandes waren von der Lebensfreude und der aufkeimenden Hoffnung der Kinder so beeindruckt, daß für 1995 die Zahl der Ferienkinder auf 400 verdoppelt werden sollte. Der Erfolg war im wahrsten Sinne des Wortes überwältigend, denn 1.650 Kinder konnten nach einem organisatorischen Kraftakt in drei Orten an der Adria die Ferien genießen. Die scheuen, depressiven und einsilbigen Kinder strahlten schon nach wenigen Tagen Lebensfreude aus und zeigten Interesse an der Umgebung und den Fremden. 1996 konnten fast 3.000 Kinder „Einen Sonnenstrahl im lange abgedunkelten Keller“ erleben und 1997 schrieb ein Kind – stellvertretend für die anderen – an seine Ferienpatin: „Daß Frieden so schön sein kann, habe ich nicht gewußt.“

Bisher haben etwa 7.500 Kinder mit ca. 500 einheimischen Betreuerinnen und Betreuern »Ferien vom Krieg« erleben dürfen. Da die effektiven Kosten pro TeilnehmerIn (Fahrt, Versicherung, Visagebühren, Bootsfahrt usw.) höher sind als der Betrag einer »Patenschaft«, die nur Unterkunft und Verpflegung abdeckt, gab es fast 10.000 »Patenschaften«, d.h. fast 2,5 Millionen Mark Spendenaufkommen für diese Aktion.

Eindrücke von den Lebensumständen und in die Schicksale der Kinder

Auf den ersten Blick unterschieden sich die traumatisierten Kriegskinder eigentlich kaum von einer x-beliebigen Kindergruppe am Meer: Sie planschten im Wasser, lagen plaudernd am Strand, spielten Ball usw. Auf den zweiten Blick fiel die Armut auf: Keines von 200 Kindern hatte eine Matte oder Badeschuhe auf dem steinigen Boden, geschweige denn Luftmatratzen, Schnorchel oder ähnliches. Kein Walkman, kein Gameboy, nichts! Zehn Prozent der Kinder kamen ohne Gepäck, d.h. sie besaßen nur, was sie am Leibe trugen. Einige badeten in der Unterwäsche, die dann durchsichtig wird und »alles« abbildet. Niemand lachte oder verspottete sie.

Fast alle waren spindeldürr. Es gab aber auch einige auffällig dicke Kinder. Auf Nachfragen stellte sich bei all diesen heraus, daß es Waisenkinder waren, die bei der Großmutter oder in Heimen lebten. Die Lebensmittelzuteilungen für Flüchtlinge bestehen aus Mehl, Öl und Zucker, das ergibt einen süßen Pamp, mit dem die Kinder ihr Leid herunter würgen.

Statistisch müßten mindestens 30 von 200 Kindern eine Brille tragen, tatsächlich war es eines. Viele dieser Kinder sehen also die Welt nicht klar, mit allen Folgen, die das in der Schule und im Alltag hat. Bei der Versorgung der Zähne sah es nicht besser aus. Mangels Füllmaterial wurden kariöse Zähne gleich gezogen. So gab es niedliche Teenager, die das erste Make-up auftrugen, doch zu lächeln wagten sie nicht, weil ein Frontzahn fehlte. Mehrere Kinder durften nicht baden, weil sie infolge von Mangelernährung eiternde Furunkel hatten usw.

Die meisten dieser Flüchtlingskinder leben »zu Hause« zusammengepfercht, häufig ohne eigenes Bett und viele ohne sanitäre Einrichtungen. In dem Hotel teilten sie sich ein Zimmer mit Dusche, der eigene Schlüssel war ein sakraler Gegenstand – keiner ging verloren.

Die Kinder wurden vom Personal als Hotelgäste behandelt – und sie benahmen sich auch so. Daß bei ca. 1.600 Kindern, die einen Sommer lang in einem Hotel wohnen, kein Glas, kein Stuhl, keine Scheibe kaputt geht, darüber staunten besonders die deutschen BegleiterInnen, während die BetreuerInnen dies für selbstverständlich hielten, denn solche Dinge seien für die Kinder sehr kostbar.

Am Ende der Freizeit waren einige Kinder bereit, über ihre Kriegsbiografien zu sprechen. Wenn sie dabei von Gefühlen überwältigt wurden, wollten die BetreuerInnen das Gespräch meist abbrechen, doch alle Kinder bestanden darauf, ihre Geschichte für die Spenderinnen und Spender zu erzählen. Sie wollten ihr Leid ausdrücken, es öffentlich machen:

Da war Edina, die mit ihrer Familie auf der Flucht bei einer Hilfsorganisation um Essen anstand als eine Granate einschlug. Sie wachte im Krankenhaus auf und erfuhr später in einem Heim, daß die Eltern und der Bruder tot sind. Sie lebt jetzt bei der Großmutter. Nach vielen Operationen mit Narben überall, hat sie noch immer 7 Granatsplitter im Körper.

Fikreta ist die älteste von 5 Kindern. Die Mutter wurde von einem Scharfschützen erschossen, der Vater starb an der Front. Sie flüchtete mit den kleinen Geschwistern. Sie wurden in einer Fabrikhalle, dann in einer Schule und schließlich im Waisenhaus untergebracht.

Alma erzählte, wie sie auf der Flucht im Wald zu schreien begann, „weil überall die Körperteile abgeschlachteter Menschen“ lagen.

Wie ähnlich sich die grauenhaften Erlebnisse der Kinder aus den verfeindeten Lagern der Kriegsparteien sind, zeigen die folgenden Schicksale von einem serbischen und einem muslimischen Geschwisterpaar aus Bosnien:

Sanja und Milan sind sieben bzw. zehn Jahre alt. Sie mußten 1992 mit ansehen, wie ihr Vater erschlagen wurde und wie ihn dann ihre Mutter mit eigenen Händen hinter dem Haus begrub. Das war in einer Kleinstadt in der Herzegowina, heute Teil der kroatisch-muslimischen Föderation. Die beiden Kinder bewohnen jetzt mit ihrer Mutter ein Zimmer in einer Flüchtlingsunterkunft in Visegrad, serbische Republik. Das Haus gehörte früher einer muslimischen Familie, die geflüchtet ist.

Indira und ihre Schwester sind neun bzw. zwölf Jahre alt. Auf der Flucht mußten sie mit ansehen, wie ihre Mutter von einer Granate zerfetzt wurde. Sie suchten ihre Körperteile zusammen und beerdigten sie im Wald. Das war in der Kleinstadt Srebrenica, heute Teil der serbischen Republik. Die beiden Schwestern wohnen jetzt mit der Großmutter in einem Zimmer in einer Flüchtlingsunterkunft in Jasenica, kroatisch-muslimische Föderation. Das Haus gehörte früher einer serbischen Familie, die geflüchtet ist.

Die Wirkung der Freizeiten auf die Kinder

Indira ist eines der wenigen dicken Kinder. Sie war scheu, traurig, unbeweglich und klettete an ihrer Betreuerin, bis sie sich ins Wasser traute und dank eines sensiblen Helfers in wenigen Tagen schwimmen lernte. Sie war wie umgewandelt: strahlte, spritzte, jauchzte.

So ging es vielen Kindern; etwa 150 von 200 Kindern lernten in den zwei Wochen schwimmen.

Ich erkläre dieses Phänomen sowohl mit der erstmals im Leben zugleich erfahrenen Geborgenheit und Freiheit als auch mit dem neuen Körpergefühl, vom warmen Wasser umspült und getragen zu werden.

In den Gruppen aus geteilten Städten spielte es in solchen Situationen keine Rolle, wer woher kam, die gemeinsame Lebensfreude wurde von allen geteilt.

Wie die Freizeiten auf die Kinder wirken, können diese am besten selbst ausdrücken. Mit ihrem Einverständnis haben wir einige Zitate aus den Briefen an die Ferienpatinnen und Ferienpaten notiert und übersetzt:

„Jetzt lebe ich mit Bruder, Schwester und Mutter bei zwei Onkeln in einem Zimmer. Das ist sehr eng. Hier habe ich ein Zimmer mit einem Freund und einen eigenen Schlüssel. (Junge, 13 Jahre)

„Zu Hause haben wir keine guten Bedingungen fürs Leben. Aber wir sind froh, daß wir nicht gestorben sind.“ (Junge, 13 Jahre)

„Du bist der erste Mann in meinem Leben, der meine Träume erfüllt hat. Es tut mir leid, daß ich Dich nicht sehen kann, aber ich weiß, daß Du ein guter und schöner Mann bist.“ (Mädchen, 13 Jahre)

„Ich hoffe, daß Sie sich auch noch einen schönen Urlaub leisten können.“ (Junge, 14 Jahre)

„Ich habe schreckliche Männer erlebt, aber ich weiß, daß Du ein guter Mann bist.“ (Mädchen, 14 Jahre)

„Ich bin im Krieg verletzt worden und habe oft Schmerzen – aber hier spüre ich die kaum.“ (Junge, 13 Jahre)

„Mein Ort ist ausgebrannt und hier ist ein Paradies.“ (Mädchen, 12 Jahre)

Die friedenspolitische Wirkung der Aktion »Ferien vom Krieg«

Das Erleben von Geborgenheit, Fürsorge und Anerkennung hat subjektiv ganz sicher heilsame Wirkung. Ob darüber hinaus Verständigung, Zusammenarbeit und gemeinschaftliche Glücksgefühle die indoktrinierten Feindbilder nachhaltig revidieren können, ist natürlich eine offene Frage, die alle Beteiligten aber aus tiefer Überzeugung mit »Ja« beantworten. Und dies ist nicht nur einfach Wunschdenken, sondern Ergebnis der Erfahrungen. Klaus Vack faßt dies so zusammen:

„Das Ambiente der Kinderfreizeiten ist besonders dazu angetan, daß Kinder gut miteinander auskommen, auch wenn es offizielle Politik, und meist auch der Wille der Erwachsenengesellschaft ist, die geschaffenen Feindbilder aufrecht zu erhalten. Trotzdem gehen wir davon aus, daß wenigstens etwas von dem, was wir an friedlichem Beisammensein und an Denkimpulsen in Richtung Gewaltfreiheit den Kindern vermitteln konnten, nicht wieder vollends verloren geht. Wenn die Kinder wieder nach Hause kommen, werden Freundschaften über ethnische Grenzen hinweg in der Tat das Thema Nr. 1 in der Familie, Nachbarschaft und den Schulen sein. In der moslemisch-kroatisch geteilten Stadt z.B. sind von den Kinderfreizeiten so starke Impulse ausgegangen, daß die Hauptstraße, die bislang die Stadt Gornji Vakuf trennte, von immer mehr Menschen von beiden Seiten, also nicht nur von Kindern, kaum mehr respektiert wird.“

Vilim Mergl, gebürtiger Kroate und ehrenamtlicher Koordinator der Gornji Vakuf-Freizeit resümiert:

„Im letzten Jahr weigerten sich die kroatischen Lehrer noch, mit den Muslimen gemeinsam ans Meer zu fahren. In diesem Jahr sind sie jedoch dabei. Zwar reisten die Gruppen wieder in getrennten Bussen an und wohnten in verschiedenen Pavillons, doch merkten die Jungen beim Fußballspielen schnell, daß es nicht darauf ankommt, wer Kroate oder Moslem ist, sondern wer wie gut zusammenspielt. Ähnlich erging es den Lehrern beim Kartenspiel. In den letzten Tagen gab es sogar gemeinsame Tisch-runden bei Spiel und Gespräch. Diese Situation ist zu Hause in Gornji Vakuf noch nicht vorstellbar.“

Gornji Vakuf wird wegen seiner politischen Verhältnisse oft auch »Klein Mostar« genannt. In diesem Jahr waren jedoch sogar der Sohn des muslimischen und die Tochter des kroatischen Ortsvorstehers in der gemeinsamen Freizeit. Werden sich nicht hundertfache Gespräche in den Familien über die Unsinnigkeit der Trennung und Feindschaft der Volksgruppen ergeben?

Hubertus Janssen und Wilfried Kerntke schreiben über die Zusammenarbeit mit der serbischen Friedensgruppe »zdravo da ste« (»Es soll euch gut gehen«):

Die Freizeit steht in einer Kontinuität mit der Arbeit, die sie das ganze Jahr über zur Stärkung dieser Kinder und ihrer Eltern, sofern sie die noch haben, leisten. Sehr engagiert arbeitet in dieser BetreuerInnengruppe auch Pero…. „ In dieser Hilfsgruppe »Zdravo da ste« habe ich dann entdeckt, wie man völlig anders miteinander und mit den Menschen und Konflikten umgehen kann. Und die Arbeit mit den Kindern hat mir geholfen, auch viel von mir zu verstehen. Ich arbeite mit den Kindern, aber die arbeiten auch mit mir.“

Uns, die wir einer doch ganz anderen Welt und vor allem auch aus ganz anderen Lebensbedingungen dazu gekommen sind, geht es ähnlich.

Im Friedenszentrum Osiek gibt es seit vielen Jahren eine Gruppe von Lehrerinnen, die sich in Konzepten der Friedenserziehung weiterbildet und dabei die internationale Diskussion ebenso rezipiert wie Supervisions- und Mediationstechniken praktiziert. In Ostslawonien, wo das Gemetzel begann und in langen Stellungskämpfen viele Opfer forderte, bis das Gebiet (außer der eingekesselten Stadt Osiek) serbisch besetzt wurde, dann unter internationaler Verwaltung stand und inzwischen zu Kroatien gehört, geht es dem Friedensbüro nun um die Wahrung der Minderheitenrechte des serbischen Bevölkerungsteils sowie die Akzeptanz bzw. einvernehmliche Rückkehr der dort unter serbischer Besatzung angesiedelten serbischen (Krajina-)Flüchtlinge.

In den von dieser Gruppe betreuten Freizeiten wurde in den Workshops das Thema »Krieg und Frieden« direkter thematisiert als bei den meisten anderen Gruppen. Die Aussagen der Kinderzeichnungen gleichen im Grunde den Äußerungen in den Briefen an die Ferienpaten der Gruppe aus Tuzla. Mit »Frieden« wird eindeutig die Ferienfreizeit assoziiert, während die Bilder zum Krieg einen Bruch zwischen häuslicher Idylle (Garten, Blumen, Kinder) und Zerstörung zeigen (ein Stacheldraht um den Blumengarten, Flugzeuge über dem Haus u.ä.).

In Tuzla stellen sich die Probleme wieder anders, denn in dieser Stadt gab es keine Pogrome, sondern ein multiethnisches kommunalpolitisches Konzept des friedlichen Zusammenlebens. Viele Serben aus Tuzla haben gemeinsam mit den mehrheitlich muslimischen Bewohnern Tuzlas gegen die serbische Belagerung gekämpft. Der Teil der serbischen Bevölkerung, der die Stadt unter dem Druck der Propaganda verlassen hat, wird nun zur Rückkehr aufgefordert, obwohl in der Stadt über 40.000 Flüchtlinge aus Ostbosnien leben, vor allem die Frauen und Kinder aus Srebrenica. Das Dilemma der standhaften Friedenspolitik in Tuzla ist, daß dadurch nun den Ärmsten der Armen erneut die Vertreibung droht.

Bürgermeister Beslagic sieht in den Kinderfreizeiten, die letzten Sommer auch vom Gesundheitsminister besucht wurden, eine demonstrative Unterstützung seiner Friedenspolitik und erhofft sich auch in Deutschland größeres Verständnis dafür, daß eine Rückkehr der Auslandsflüchtlinge und eine Integration der Vertriebenen aus Ostbosnien gleichzeitig nicht machbar ist, weil die Stadt Tuzla und das Umland jetzt und auf nicht absehbare Zeit und schon über viele Jahre mit Binnenflüchtlingen total überlastet ist. Daß die Frauen aus Srebrenica in den letzten Monaten in Tuzla verstärkt öffentlich demonstrieren und Aufklärung über das Schicksal ihrer Männer fordern, hat mittelbar auch etwas mit den Kinderfreizeiten zu tun. Nicht nur die wunden Kinderseelen begannen bei den »Ferien vom Krieg« zu heilen, auch für viele Mütter sind sie ein Trost und eine Stabilisierung. Ihre ohnmächtigen Rachephantasien, die von nationalistischen Politikern geschürt werden, weichen mehr und mehr dem Bedürfnis nach Wahrheitssuche und der Bereitschaft zur Versöhnung.

Während einige der Frauen vor zwei Jahren noch äußerten, es sei ihnen unvorstellbar, daß ihre Kinder bei der Freizeit zusammen mit den serbischen Kindern spielen, so drücken sie für diesen Sommer die Hoffnung aus, daß sich Freundschaften entwickeln mögen, die zur Versöhnung beitragen.

Das ursprüngliche Ziel der Aktion »Ferien vom Krieg«, nämlich gemeinsame Freizeiten von Kindern aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens, läßt sich bisher leider nicht realisieren, die Einreise aus der Föderation nach Serbien und umgekehrt ist nicht möglich. Doch innerhalb der Entitäten sind die Freizeiten einer der seltenen Versuche ziviler Konfliktbearbeitung durch gemeinsame Aktivitäten. Die buchstäbliche Ausstrahlung der Kinder nach ihrer Rückkehr ist in den Familien sinnlich erfahrbar und die zarten Bande zu den neuen Freunden der angeblich alten Feinde strahlen auch in vielen Gesprächen auf Familie, Schule, Nachbarschaft und Kommunalpolitik aus.

Nähere Informationen über die Aktion »Ferien vom Krieg 1998« erhalten Sie vom Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., Bismarckstr. 40, 50672 Köln, Tel. 0221-523056, Fax. 0221-520559

Helga Dieter ist Koordinatorin des Komitees für Grundrechte und Demokratie für die Aktion Ferien vom Krieg 1998.

Zivile Kriegsfolgenbearbeitung in Bosnien

Zivile Kriegsfolgenbearbeitung in Bosnien

von Christine Schweitzer

Die Zahlen sind niederschmetternd: Mehr als die Hälfte der Vorkriegsbevölkerung von Bosnien-Herzegowina sind Vertriebene oder Flüchtlinge (2,5 Mio insgesamt, von denen sich 1,2 Mio als Flüchtlinge außerhalb der Landesgrenzen aufhalten.). Im Bereich der bosnischen Föderation waren zumindest im letzten Winter noch 80<0> <>% der Menschen abhängig von Lebensmittelhilfe. Die Industrieproduktion war 1994 auf 5<0> <>% des Standes von 1990 abgesackt. 30<0> <>% der Straßen und 40<0> <>% der Brücken waren zerstört.1 Die Arbeitslosigkeit liegt bei 90<0> <>%. 300.000 Soldaten werden demobilisiert und müssen ins Privatleben zurückgeführt werden.2 Die Weltbank schätzt, daß sich die Kosten für den Wiederaufbau auf 7,15 Milliarden DM belaufen werden, 5,18 Mrd für die kroatisch-muslimische Föderation und 2,16 Mrd für die Serbische Republik.3

Das Daytoner Abkommen regelt in umfassender Weise verschiedene Aspekte des Wiederaufbaus.4 Am besten in der internationalen Öffentlichkeit bekannt und auch am weitesten fortgeschritten in ihrer Durchführung ist die militärische Seite des Abkommens (Rückzug der Kriegsparteien hinter eine 4 km Grenze, Demobilisierung und Rüstungsbeschränkungen, Aufstellung der IFOR-Truppe zur Implementierung und Überwachung des Waffenstillstandes).

Weniger bekannt und auch in der Umsetzung viel problematischer sind die ebenfalls im Daytoner Vertrag geregelten zivilen Wiederaufbaumaßnahmen.5 Mit ihrer Koordinierung wurde der schwedische Konservative Carl Bildt beauftragt, dem – gemessen an der Aufgabe – ein lächerlich kleiner Stab zur Seite steht.

Der in Bosnien-Herzegowina notwendige zivile Wiederaufbau steht vor großen Problemen bei der Beschaffung von Wohnraum und Arbeit, beim Aufbau der Verwaltung kann nur beschränkt auf die Vorkriegsstrukturen zurückgegriffen werden und ein demokratisches, ziviles Leben muß völlig neu entwickelt werden. Bosnien-Herzegowina war vor dem Krieg eine ethnisch extrem gemischte Republik – die »jugoslawischste« Republik Jugoslawiens, wurde sie von manchen genannt, weil in den meisten Ortschaften zumindest zwei der Volksgruppen friedlich zusammenlebten. Eine zivile Gesellschaft existierte dort genauso wenig wie in den anderen Teilen Jugoslawien. Heute ist Bosnien-Herzegowina in drei mehr oder weniger ethnisch homogene Teile zerfallen und die meisten Ortschaften und Städte erlebten einen Austausch eines nennenswerten Prozentsatzes der Bevölkerung.

Die Situation in Bosnien-Herzegowina

Die Verfassung Bosnien-Herzegowinas, die Teil des Daytoner Abkommens ist, definiert Bosnien-Herzegowina als einen zweigeteilten Staat mit drei verfassungsmäßigen Völkern: Kroaten und Bosniaken (Muslime) in der »Föderation Bosnien-Herzegowina« und Serben in der »Serbischen Republik«, alle mit einer doppelten Staatsbürgerschaft des Staates und des jeweiligen Teiles (Föderation oder Serbische Republik).

Schon hier zeigt sich deutlich eines der Hauptprobleme. Die Schreiber der Verfassung versuchten zwei eigentlich unvereinbare Prinzipien unter einen Hut zu bringen: Das Prinzip des bürgerlichen Staates, in dem jede/r BürgerIn unabhängig von der Volkszugehörigkeit Freizügigkeit genießt und das Prinzip des »ein Volk – ein Staat«. Letzteres war bekanntlich eines der Leitmotive des Krieges.

So wird zwar im Daytoner Abkommen Freizügigkeit der Bewegung, Verbot jeglicher interner Grenzkontrollen und Recht auf Rückkehr aller Flüchtlinge in ihre Heimatgebiete festgeschrieben. Aber die politische Repräsentanz basiert im wesentlichen auf ethnischer Zugehörigkeit. Das Parlament besteht aus zwei Kammern. Das »Haus der Völker« setzt sich aus serbischen Vertretern aus der Serbischen Republik und kroatisch/bosniakischen (muslimischen) Vertretern aus der Föderation zusammen. Kein serbischer Abgeordneter aus dem Gebiet der »Föderation« kann in das »Haus der Völker« gewählt werden – obgleich weiterhin etliche Zehntausende Serben vor allem in Sarajevo leben. Das gleiche gilt umgekehrt für Muslime und Kroaten in der »Serbischen Republik«. Genauso bildet sich das aus drei Personen gebildete Staatspräsidium. Nur bei der zweiten Kammer, dem »Repräsentantenhaus«, das 42 Mitglieder haben soll, wäre eine Repräsentanz der jeweiligen ethnischen Minderheiten zumindest theoretisch möglich.

Eine der wichtigsten Maßnahmen im zivilen Bereich ist die Vorbereitung der Wahlen, die dem Daytoner Abkommen gemäß bis spätestens September 1996 stattgefunden haben müssen. Doch gehen die Wahlvorbereitungen nur schleppend voran, und ohne die MitarbeiterInnen der OSZE, die eigentlich die Vorbereitungen und die Wahl nur beobachten sollen, kämen die Wahlen wohl gar nicht zustande.

Die meisten Politiker/innen in Bosnien sehen diese Wahlen ohnehin als verfrüht an. In vielen Landstrichen ist das zivile Leben noch nicht so weit wiederhergestellt, daß eine Basis auch nur für die Erstellung eines Wählerverzeichnis geschaffen wäre. Fast die Hälfte der Wählerschaft fristet ihr Dasein noch als Flüchtlinge oder Vertriebene irgendwo zwischen Lagern in Bosnien, Kroatien, Serbien oder Schweden, Deutschland und den Niederlanden. Für den Beginn eines breiten politischen Diskurses bleibt keine Zeit.

Die starke Betonung, die die »internationale Gemeinschaft« auf das Thema Wahlen legt, erinnert an die Politik gegenüber vielen Ländern des Südens, wo ebenfalls die erfolgreiche Abhaltung von formal demokratischen Wahlen zur Bedingung von Wirtschaftshilfe gemacht wird. Hierzu kommt in Bosnien-Herzegowina noch das Motiv, die IFOR/NATO-Truppen wie geplant nach einem Jahr zurückziehen zu können.

Dennoch gibt es ein recht breites Spektrum an Parteien. Neben den national ausgerichteten Vorkriegsparteien – HDZ (kroatisch), SDA (bosniakisch-muslimisch) und SDS (serbisch) – besteht eine Reihe kleiner, oppositioneller Parteien. Einige von ihnen sind nur noch extremere Nationalisten. Andere aber treten für ein geeinigtes, multinationales Bosnien ein. Zwischen ihnen gibt es sogar über die Grenzen hinweg Kontakte.6 Sie haben sich nach mehreren im Ausland abgehaltenen Treffen zu einer »Demokratischen Alternative« zusammengeschlossen und einen Forderungskatalog veröffentlicht, in dem u.a. die Verfolgung aller Kriegsverbrecher und internationale Garantie für die sichere Rückkehr aller Flüchtlinge in ihre Ausgangsgebiete gefordert wird.

Ein Thema, das auch hier in Deutschland die Medien beschäftigt, ist die Frage der Rückkehr der Flüchtlinge. Dem Daytoner Abkommen gemäß haben alle Flüchtlinge und Vertriebene (Vertriebene sind Flüchtlinge, die innerhalb der Staatsgrenzen verblieben) das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat oder ersatzweise auf finanzielle Entschädigung. Die Bundesregierung nahm das als Signal, sofort die euphemistisch »Rückführung« genannte Abschiebung der bosnischen Kriegsflüchtlinge zu planen. Mit der Ausnahme Schwedens, das all seinen Flüchtlingen das Bleiben gestattet, reagierten die anderen Gastländer ähnlich. Sie ignorieren dabei, daß in Bosnien-Herzegowina die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Reintegration der Rückkehrenden noch nicht geschaffen worden.

Die mit der Flüchtlingsrückkehr verbundenen Probleme sind gut bekannt. Eine unter den in Deutschland lebenden FLüchtlingen durchgeführte Umfrage7 ergab, daß derzeit nur ein Viertel bereit ist, zurückzukehren. Zu groß sind die Zweifel an der Dauerhaftigkeit des Friedens, den zwei von drei Flüchtlingen als Bedingung für ihre Rückkehr bezeichneten. Bei 35<0> <>% der Nicht-Rückkehrwilligen ist der Grund der, daß der Heimatort in der „falschen“ ethnischen Zone liegt. Allgemein, auch für das Gebiet der Föderation gilt, daß eine Rückkehr von Menschen der »falschen« Volkszugehörigkeit unerwünscht ist. In jetzt kroatische Gemeinden werden Kroaten zurückgesiedelt, in bosniakische Muslime, in serbische Serben. Den Übersichten der UNHCR zufolge, die sich um eine Dokumentation der Lage in allen größeren Gemeinden bemüht, um Flüchtlingen eine Entscheidungshilfe an die Hand zu geben, sind bislang nur kleine Zahlen der jeweils anderen Nationen in ihre Heimat zurückgegangen8.

Arbeit und Wohnung – dies sind die beiden anderen großen Fragezeichen für die rückkehrenden Flüchtlinge, wenngleich in der erwähnten Umfrage nur 4<0> <>% bzw 8<0> <>% diese beiden Punkte als Entscheidungskriterium benannten. Wenn hier nicht eine behutsame Politik betrieben wird, entsteht ein ungeheures Pulverfaß. Denn in den von den Flüchtlingen aufgegebenen Häusern und Wohnungen leben heute oftmals andere, die ihrerseits als Vertriebene eine Unterkunft brauchten. Ohne Ersatzwohnraum können sie nicht einfach vor die Tür gesetzt werden, selbst wenn die Behörden bereit zu einem solchen Vorgehen wären. Was bleibt, ist die Drohung von Selbsthilfe, gewaltsamem Widerstand gegen die Vertreibung aus der Wohnung und späteren Racheakten. Die Methoden, die kroatische Soldaten in Kroatien anwenden, um sich mit Unterstützung der Behörden eine Wohnung zu beschaffen,9 geben hier nur ein schwaches Abbild von dem, was in Bosnien-Herzegowina zu befürchten wäre.

Die Schaffung von genügend neuem Wohnraum könnte hier zur Entspannung der Lage beitragen. Dies steht auch auf dem Programm der UN an oberster Stelle, nur getan wird anscheinend sehr wenig, was mit unklaren Eigentumsverhältnissen begründet wird.10

Im Bereich der Arbeitsplatzschaffung könnten neben der Überwindung der oben skizzierten Probleme Programme der Berufsbildung und Weiterbildung von Nutzen sein. Z.B. gibt es in mehreren Städten Einrichtungen, wo Menschen kostenlos bestimmte Berufe erlernen, Computerfähigkeiten erwerben oder Fremdsprachen studieren können. Initiativen dieser Art, die gewöhnlich auf internationales Engament durch NROs zurückgehen, könnten wesentlich ausgebaut werden.

Notwendig: ein Klima der Toleranz

Ein Wohnbauprogramm und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen allein lösen aber die Probleme nicht, wenngleich sie durchaus als Maßnahmen der Konfliktprävention betrachtet werden dürfen. Ergänzend wäre die Schaffung eines öffentlichen Klimas der Toleranz gegenüber den jeweils anderen beiden Volksgruppen und der Aufbau von Demokratie erforderlich. Ein solches Klima ist allein noch in Tuzla und – mit Einschränkungen – in Sarajevo zu finden. Hierzu könnten verschiedene Gruppierungen beitragen: die öffentlichen Medien durch eine ausgleichende Berichterstattung; die internationale Gemeinschaft und die Regierungen in Bosnien durch finanzielle Unterstützung und Schaffung der gesetzlichen Bedingungen für eine unabhängige Presse; die Religionsgemeinschaften, denen von ihrem Charakter her moralische Argumentationen am leichtesten fallen sollte sowie unabhängige Vereine und Assoziationen durch Versöhnungsarbeit, Entwicklung von friedenspädagogischen Programmen etc.

Ein Beispiel könnten die Nachbarländer liefern: In Kroatien und Serbien haben sich verschiedene Nichtregierungsoganisationen11 pädagogischen Fragen angenommen und z.B. Arbeitskreise für die Weiterbildung von LehrerInnen eingerichtet. Solche Maßnahmen sind notwendig, weil die Schulen in der Nachkriegszeit mit bislang unbekannten Problemen konfrontiert sind: Kinder, die u.a. mehrere Jahre als Flüchtlinge lebten, interethnische Konflikte; Trauer und Traumata; stark gestiegene Gewaltbereitschaft etc.

Aufbau von Demokratie ist ein Bereich, in dem Nichtregierungsorganisationen eine Schlüsselrolle spielen (müssen). Vorbilder aus Serbien und Kroatien demonstrieren, welche Aufgaben sie wahrnehmen können: Menschenrechtsarbeit; unabhängige Medien (Zeitungen, Rundfunk); Unterstützung bei Kommunikation und Austausch über Grenzen hinweg (durch E-mail, Austausch von Briefen, Austausch von Zeitungen; Organisation internationaler Treffen; Einrichtung von für alle zugängliche Begegnungszentren wie in Mohacz/Ungarn; Förderung von Begegnungen und Runden Tischen; interreligiöser Dialog; Netzwerke Oppositioneller Parteien).

Menschenrechte und Gerechtigkeit

Im Daytoner Abkommen wird dem Thema der Menschenrechte ein großes Gewicht eingeräumt. Die Verfassung Bosnien-Herzegowinas erkennt alle einschlägigen Menschenrechtskonventionen an, und diese werden durch einen eigenen Annex zum Thema nochmals bestärkt. Außerdem wurde eine Menschenrechtskommission mit der Institution eines Ombudsmanns, der für Beschwerden der Bevölkerung zur Verfügung steht und eine Menschenrechtskammer aus sechs bosnischen und acht internationalen (aus Ländern des Europarats zu bestimmenden) Mitgliedern geschaffen. Was bislang fehlt, ist ein Amnestiegesetz für Deserteure – wie Kroatien es erlassen hat – und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Solange es beides nicht gibt, müssen zurückkehrende Männer im wehrpflichtigen Alter damit rechnen, umgehend zur Armee eingezogen zu weden.

Es gibt in Bosnien-Herzegowina eine Reihe von Menschenrechtsorganisationen. Sie befassen sich allerdings in erster Linie mit der Frage von Kriegsverbrechen, und dieses ist wiederum immer hauptsächlich die Frage, was die andere Seite der eigenen angetan hat. Es hat auch während des Krieges mehrere Nichtregierungsorganisationen gegeben (z.B. das International Peace Center in Sarajevo), die Kriegsverbrechen dokumentiert und publiziert haben. Allerdings sind sie alle sehr zurückhaltend, wenn es um nicht-kriegsbedingte Menschenrechts-Fragen geht.

Die Erfahrungen aus anderen Krisen- und Kriegsgebieten lehren, welch wichtige Rolle die Verfolgung von Kriegsverbrechern, Folterern und der politisch Verantwortlichen für die Bewältigung der Vergangenheit spielt. Die Entschädigung der Opfer, die in Bosnien-Herzegowina noch überhaupt nicht angegangen wurde, wäre eine ergänzende Maßnahme, die vielleicht da Gerechtigkeit wiederherstellen könnte, wo eine Verfolgung von Schuldigen unmöglich ist.

Wie könnte der deutsche Beitrag aussehen?

Eine der Hauptsorgen der Bundesregierung war von Anfang an die Zuwanderung von Flüchtlingen aus der Region nach Deutschland und das Problem, wie man diese wieder los wird. Entgegen dem allgemeinen Eindruck in der Öffentlichkeit ist auch gegenwärtig noch ungeklärt, ob es ab 1. Juli 1996 zur Abschiebung von bosnischen Kriegsflüchtlingen kommen wird oder nicht. Von den Ausländerbehörden erhalten inzwischen immer mehr Flüchtlinge den Bescheid, daß sie zum 1.7. das Land zu verlassen hätten.

Unter Berufung auf die für Flüchtlinge ausgegebene Summe (rund 17 Mrd. DM) weigert sich die Bundesregierung auch, über die der EU zur Verfügung gestellten Gelder für den Wiederaufbau (1,8 Mrd DM) hinaus weitere, eigene Gelder zum Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen.

Die Unwilligkeit, im zivilen Bereich Initiative zu ergreifen, zeigte sich auch beim Umgang der Bundesregierung mit der von einem breiten Spektrum von Kirchen und Friedensorganisationen getragenen Initiative, einen Zivilen Friedensdienst für Bosnien ins Leben zu rufen. Das Konzept sah vor, internationale Fachkräfte zu finanzieren, die mit lokalen Organisationen in den Aufgabenfeldern der Konfliktbearbeitung und Versöhnungsarbeit zusammenarbeiten sollten. Die Erfahrung in Kroatien und der Republik Jugoslawien hatte gelehrt, daß bei bestimmten Aufgaben, etwa aktivem Eingreifen bei Menschenrechtsverletzungen oder bei der Abhaltung von Seminaren in gewaltfreier Konfliktaustragung Ausländer/innen eine wesentliche Rolle spielen können, weil sie eine unabhängere Position bekleiden. Die Gespräche mit der Bundesregierung sind noch nicht beendet, doch deutet alles darauf hin, daß bestenfalls ein sehr stark reduziertes Programm Chancen auf Realisierung finden wird12.

Initiativen in der Bundesrepublik sind unterstützend in verschiedenen Bereichen des Wiederaufbaus in Bosnien tätig. Sie finanzieren und fördern bosnische NROs; organisieren humanitäre Hilfe; helfen FLüchtlingen in Deutschland und arbeiten politisch gegen deren zwangsweise Rückführung; leisten Solidaritätsarbeit mit Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren; haben verschiedene psychosoziale Betreuungsprojekte für Kriegsopfer aufgebaut und vieles mehr.

Eine zivile Kriegsfolgenbearbeitung ruht im wesentlichen auf den Schultern von Bürgerinnen und Bürgern und ihrer Zusammenschlüsse (Nichtregierungsorganisationen). Aber sie allein werden es nicht schaffen, eine tragfähige und zukunftsfähige Entwicklung in Gang zu setzen. Staatliche und internationale Programme sind notwendig und geben vielfach wohl erst den Rahmen, in dem solches ziviles Engagement Aussichten auf Erfolg hat. Bosnien-Herzegowina hat aber nur dann eine Chance den Krieg zu überwinden, wenn wesentlich mehr in die zivile Konfliktfolgenbearbeitung investiert wird. Andernfalls muß gefürchtet werden, daß der Vertrag von Dayton nicht das Ende der Segmentierung Bosnien-Herzegowinas bedeutet. Auch ein neuer Krieg nach Abzug der NATO wäre dann nicht ausgeschlossen.

Viele der hier für Bosnien-Herzegowina skizzierten Maßnahmen und Probleme sind nicht nur auch anwendbar auf andere Regionen Ex-Jugoslawiens (wie z.B. die ehemals unter serbischer Kontrolle stehenden Teile Kroatiens sowie Serbien und Montenegro incl. des Kosovo), sondern es besteht geradezu eine Notwendigkeit, sie auf diese Regionen auszuweiten. Nur so kann die Eskalation neuer Konflikte verhindert werden, zumal sich in den beiden Nachbarländern Bosniens, in Kroatien und der Republik Jugoslawien, eine Tendenz zur weiteren Entdemokratisierung bzw. Neuverfestigung totalitärer Strukturen verstärkt. Tudjman und Milosevic sind beide während des Krieges weniger gegen ihre politischen Gegner vorgegangen als heute, was sich in der Übernahme unabhängiger Medien und der Unterdrückung oppositioneller Parteien äußert, selbst wenn diese, wie in der Stadt Zagreb geschehen, die regierende Partei bei den Kommunalwahlen schlagen.

Anmerkungen

1) Alle zahlen nach: Wochenpost, 30.11.1995. Zurück

2) Die Zeit 10.Mai 1996. Zurück

3) FR 13.4.1996. Zurück

4) Daytoner Vertrag, Wright Patterson Air Force Base, Dayton, Ohio Nov 1-21, 1995. Zurück

5) Als Anhänge enthält der Daytoner Vertrag folgende Abkommen: Grenzziehung zwischen den Völkern Bosniens, Verfassung Bosnien-Herzegowinas, Bereitschaft zu Schiedsgerichtbarkeit bei Konflikten, Menschenrechte, Flüchtlinge und Vertriebene, Schutz von Kulturdenkmälern, Öffentliche Einrichtungen, zivile Implementierung und internationale Polizei. Zurück

6) Zoran Arbutina in Friedensforum 5/95. Zurück

7) Untersuchung des Saarbrücker Instituts für Entwicklungsforschung, durchgeführt im Auftrag der UNHCR. Nach: Handelsblatt vom 9.4.1996. Zurück

8) Diese Berichte sind bei den UNHCR-Büros zu beziehen. Zurück

9) Siehe Berichte von Otvorene Oci, dem kroatischen Team des Balkan Peace Teams. Zu beziehen bei: BPT, Marienwall 9, 32423 Minden. Zurück

10) Die Zeit 11.Mai 1996. Zurück

11) Eine Adressenliste von Friedens-, Frauen- und Menschenrechtsgruppen im ehemaligen Jugoslawien kann bezogen werden beim Bund für Soziale Verteidigung, Marienwall 9, 32423 Minden. Zurück

12) Rundbrief des Forums Ziviler Friedensdienst. Zurück

Christine Schweitzer, Ethnologin, Vorsitzende des Bundes für Soziale Verteidigung

Wir können nichts mehr für euch tun

Wir können nichts mehr für euch tun

Medizinische Auswirkungen der amerikanischen Atombomben-Einsätze in Hiroshima und Nagasaki

von Wolfgang Köhnlein

Das Jahr 1995 ist ein denkwürdiges Jahr, wir erinnern uns an die Entdeckung der Röntgenstrahlung vor 100 Jahren und an die Atombomben-Explosionen vor 50 Jahren. In diesen Wochen jährte sich darüber hinaus der bisher größte Reaktorunfall des Atomzeitalters zum neunten Mal. Dabei denkt man natürlich sofort an die Unfälle in Windscale 1957, Harrisburg 1979 und die nie ganz aufgeklärten Nuklearkatastrophen in der Sowjetunion in den späten fünfziger Jahren. Es ist nur wenige Wochen her, da erlebten wir den ersten Transport eines Kastorbehälters von Philippsburg nach Gorleben.

Wenn ich heute über die Auswirkungen atomarer Explosionen auf die Gesundheit des Menschen und seine Umwelt sprechen soll, so wird das kein schöner und erbaulicher Vortrag. Ich muß über schlimme und schreckliche Dinge berichten, und ich habe mich bei der Vorbereitung auf diesen Nachmittag oft gefragt, ob es richtig ist, dies alles wieder hervorzukramen, all das Elend und Leid, das durch die Atombombenexplosionen ausgelöst wurde und das bis heute noch nicht beendet und abgeschlossen ist. Noch heute erkranken Menschen an Krebs und sterben daran, die vor 50 Jahren der Atombombenstrahlung ausgesetzt waren. An all die menschenverachtenden Handlungen der siegreichen Amerikaner in Japan, mit ihren Untersuchungen an den Atombombenüberlebenden, an die sich anschließende Eskalation in der Atomwaffenproduktion.

Ist es denn sinnvoll, über die Folgen eines Nuklearkrieges zu referieren? Die Ost-West-Konfrontation ist überwunden – ist sie es wirklich? Einen nuklearen Holocaust wird es nicht geben! Warum also darüber sprechen? Sind nicht andere Probleme viel dringlicher? Etwa die ethnischen Kriege in Afrika oder der Völkermord vor unserer Haustür in Jugoslawien? Doch ist mit der Beendigung der Ost-West-Konfrontation auch das Problem der Atombombenarsenale gelöst? Droht wirklich keine Gefahr? In den zurückliegenden Jahrzehnten sind diese Arsenale geradezu paranoid angefüllt worden. Das Zerstörungspotential hat unfaßbare Dimensionen angenommen. Ein ganz geringer Teil davon ist bis heute »entschärft« worden.

Angesichts dieser Perspektiven ist es vielleicht doch sinnvoll, daran zu erinnern, was zwei kleine reichlich primitive Atombomben vor 50 Jahren bereits für Unheil und Elend über eine zivile Bevölkerung gebracht haben. Darüber hinaus sollte daran erinnert werden, mit welcher Bedrohung wir gelebt haben und leben.

Eigentlich blieben in allen kriegerischen Auseinandersetzungen der früheren Jahrhunderte die Kampfhandlungen nicht auf die Truppen beschränkt. Schon immer wurden von der zivilen Bevölkerung hohe Opfer verlangt. Diese Tendenz hat sich in den Kriegen dieses zu Neige gehenden Jahrhunderts zunehmend verstärkt. Die immer schlimmere Brutalisierung und Automatisierung der Kampfhandlungen mit dem Ziel der physischen Vernichtung des Gegners wird durch die modernen Kriegstechnologien und Strategien begünstigt. Die Achtung vor dem Leben und Ehrfurcht vor der Schöpfung werden nur noch sehr partiell in das Kalkül der strategischen Überlegungen einbezogen. Ich denke an den zweiten Weltkrieg, an Uganda oder Jugoslawien.

Seit den Schrecken und Leiden, die die Bomben über Hiroshima und Nagasaki ausgelöst haben, ist das nukleare Zerstörungspotential ins geradezu Groteske gesteigert worden und hat Elend, Not und Hunger über viele Länder gebracht, weil finanzielle, intellektuelle und natürliche Ressourcen divertiert wurden. Die Menschheit ist in der Lage, die Grundlagen ihrer Existenz und damit sich selbst zu vernichten.

Ich glaube, daß Naturwissenschaftler und Ärzte in dieser Situation sich ihrer großen Verantwortung bewußt werden müssen. Wir müssen unsere Intelligenz, unser Wissen und unsere Weisheit einsetzen, um die Massenvernichtungswaffen zu ächten und das spaltbare Material von dieser Erde zu verbannen. Die dabei anstehenden Probleme sind offensichtlich von Politikern alleine nicht zu bewältigen, sie brauchen unsere Hilfe.

Ich persönlich sehe eine Möglichkeit dazu, indem ich mein Wissen über die Auswirkungen von Kernexplosionen nicht für mich behalte, sondern weitergebe und damit Aufklärung betreibe. Ich habe selbst erfahren, daß das Ausmaß einer Nuklearkatastrophe für den Menschen nicht faßbar ist. Unser Vorstellungsvermögen reicht dafür nicht aus. Aufgewachsen in einer Periode des 50-jährigen Friedens und Wohlstands sträubt sich unser Intellekt vor einer solchen Realität, und wir begegnen einer Nuklearkatastrophe mit Verdrängung.

Vielleicht ist das ja auch die einzige Möglichkeit, in einer Situation mit mehr Sprengstoff pro Mensch als Nahrungsmittel – und das weltweit – nicht den Verstand zu verlieren.

Ich will durch meine Ausführungen Ihnen heute darlegen, welche schlimmen Auswirkungen die Atombomben auf die Bevölkerung von Hiroshima und Nagasaki hatten, welche Konsequenzen für die medizinische Forschung daraus folgten, wie bereits von 1945 an das wahre Ausmaß der Katastrophe durch die offiziellen politischen und militärischen Stellen verschleiert wurde und wie das Schicksal der Atombombenüberlebenden zur Grundlage der internationalen Richtlinien für den Strahlenschutz wurde.

Eine gewisse Strukturierung meines Vortrags ist bereits durch das Thema gegeben. Ich möchte dennoch eine kurze Gliederung vorstellen. Ich werde zunächst etwas über die Energie, die bei einer Atombombenexplosion freigesetzt wird, sagen und dann auf die akuten medizinischen Folgen eingehen, die an der japanischen Bevölkerung beobachtet wurden. In einem weiteren Abschnitt möchte ich die medizinischen Langzeitfolgen beschreiben.

Unmittelbare medizinische Folgen der Kernexplosionen

Vergegenwärtigen wir uns zunächst, daß die Bomben in Japan nach heutiger Vorstellung kleine Atombomben waren. Sie hatten eine Sprengkraft von 15 kt bzw. 22 kt TNT. Moderne Atombomben besitzen eine Zerstörungsgewalt im Megatonnenbereich.

Will man eine Megatonne TNT mit der Eisenbahn transportieren, so benötigt man einen Güterzug von ca. 400 km Länge. (Bochum bis Mannheim). Mit dem Energieinhalt einer Megatonne kann man eine Million Tonnen Eis in überhitzten Dampf verwandeln.

Wenn eine Kernwaffe explodiert, wird eine gewaltige Menge Energie freigesetzt. Wo kommt diese Energie her? In welcher Zeit wird sie freigesetzt? In welcher Form tritt sie in Erscheinung? Was bewirkt diese Energie? Wo kommt die Energie her?

In schweren Atomkernen sind die Kernbausteine (Protonen und Neutronen) weniger stark gebunden als in Kernen mittleren Atomgewichts. Wird ein Urankern gespalten, so ist die Bindungsenergie in den Spaltkernen größer als im Ausgangskern. Jedes Nukleon hat kinetische Energie verloren, die nun in der kinetischen Energie der Spaltkerne nach außen in Erscheinung tritt.

Wird ein Uran235-Kern gespalten, so werden im Durchschnitt 200 MeV Energie und zusätzlich zwei bis drei Neutronen freigesetzt, die ihrerseits Uran235 oder Plutonium239 spalten können (Kettenreaktion). Bei jeder Spaltung verdoppelt sich die Anzahl der Neutronen. In Uran235 sind 6×1023 Kerne. Will man alle spalten, so braucht man 6×1023 Neutronen.

Wie viel Zeit braucht man, um so viele Neutronen durch eine Kettenreaktion herzustellen? Wenn wir mit einem Neutron starten, dann benötigen wir 79 Verdopplungsschritte. Die Neutronen haben fast Lichtgeschwindigkeit. Sie gelangen von einem Urankern zum anderen in 10-11 sec. Die Zeit zur Spaltung aller Urankerne ist etwa 80 mal so lang, also 8×10-10 sec.

In welcher Form wird die Energie freigesetzt?

Dies hängt sehr vom Bombentyp ab. Wir müssen also verschiedene Bombentypen betrachten. Eine einfache Spaltbombe (Nagasaki-Typ) besteht aus etwa 10 kg Plutonium239 (Kugel mit Radius 10 cm). Das sind rund 2,5×1025 Plutoniumkerne. Wenn alle gespalten werden, wird eine Energie von 6×1027 MeV oder 6×1014 Joule freigesetzt. In Wirklichkeit werden nur ca. 10% der Kerne gespalten, also rund 6×1013 Joule freigesetzt.

Wenn so viel Energie in einem so kleinen Volumen frei wird, dann erhitzt sich das Volumen auf 108C und es entsteht ein Überdruck von 100 Millionen Atmosphären.

Neben den reinen Spaltbomben gibt es die thermonuklearen Bomben, die auch Wasserstoffbomben genannt werden. Es sind Fusionsbomben mit einem Spaltbombenzünder. Bei der Fusion wird ebenfalls viel Energie frei und außerdem sehr schnelle Neutronen, die sogar Uran238 spalten können. Das führt zur Spaltungs-Fusions-Spaltungsbombe.

Eine thermonukleare Waffe ohne den äußeren Uran238-Mantel ist eine Bombe mit besonders hoher Neutronenstrahlung (Neutronenbombe). Der Spaltungsprozess führt zu einer extrem heißen, sich rasend schnell ausbreitenden Masse von radioaktiven Kernfragmenten.

Dieser Feuerball dehnt sich schnell aus. Zwei Mechanismen sind dafür verantwortlich.

1. Der Feuerball emittiert Gamma- und Röntgenstrahlung, die die umgebende Luft so stark erhitzen, daß sie für Röntgenstrahlung transparent wird. Weitere Schichten werden dadurch exponiert, die dann UV- und sichtbares Licht emit tieren.

2. Der unwahrscheinlich hohe Druck innerhalb des Feuerballs komprimiert die umgebende Luft plötzlich, dadurch wird die Luft extrem erhitzt, so daß sie leuchtet.

In der ersten Sekunde nach der Explosion breitet sich ein glühender überhitzter Luftwall und ein gigantischer Strahlenpuls, dessen Strahlung sich von Röntgenlicht über UV- und sichtbares Licht zu thermischer Infrarot-Strahlung ändert, vom Detonationspunkt her aus und verschlingt alles, was in seinem Weg steht.

Bei Testexplosionen in der Wüste von Nevada hat man an Häusern, die mit dem in Japan üblichen Baumaterial erstellt wurden, die Wirkung von Hitze- und Druckwelle untersucht. Bei einer 15 kt Explosion entzündet sich ein rund 1200 m vom Explosionsort entferntes Haus fast augenblicklich und wird bereits 2,3 sec später durch die Druckwelle völlig zerstört.

Was bewirkt die plötzlich freigesetzte Energie?

Der sich ausdehnende Feuerball erzeugt eine Reihe physikalischer Phänomene:.

1. Hitzestrahlung

2. unmittelbare radioaktive Strahlung (Gamma, Neutronen)

3. Schockwellen mit Überdruck

4. Explosionskrater

5. Erdbeben

6. Elektromagnetische Pulse

7. Radioaktivität (»Fall-out«)

8. Zerstörung der Ozonschicht

Während Hitzestrahlung, unmittelbare radioaktive Strahlung und Fallouteffekte von meteorologischen Bedingungen abhängig sind, ist das bei der Überdruck-Schockwelle weniger der Fall.

Die akuten, durch Atombombenexplosionen hervorgerufenen Verletzungen kann man einteilen in Verbrennungen, mechanische Verletzungen (Knochenbrüche, innere Verletzungen, große Wunden, durch umherfliegende Trümmer verursacht) und Strahlenschäden. Am häufigsten kamen in Hiroshima und Nagasaki Kombinationen dieser Verletzungen vor. Viele Menschen starben sofort an dem unmittelbaren Druck und an den Hitzewirkungen. Andere erlagen den Verbrennungen und Wundtraumata, bevor sich ein akutes Strahlensyndrom ausbilden konnte.

Sehr viele Menschen wären an den Strahlendosen gestorben, wenn sie die Verbrennungen und Verwundungen überlebt hätten. Fast alle Menschen, die innerhalb der ersten zehn Wochen nach der Bombe starben, zeigten die Symptome der akuten Strahlenkrankheit. Die strahleninduzierte Zerstörung des Knochenmarks war hier der kritische Strahlenschaden, der zum Tode führte. In diesen Fällen ist die verminderte Anzahl der Leukozyten und Plättchenzellen im Blut Grund für erhöhte Infektionsgefahr und innere Blutungen, die dann die Haupttodesursachen waren.

Verletzungen durch die Hitzewelle

Die Hitzestrahlung breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus und erreicht ihr Ziel noch vor der Druckwelle. Die durch die Explosion erzeugte Hitze hatte in der Nähe des Hypozentrums eine Temperatur von 3000 – 4000C. Die Hitzewelle war kurz, etwa eine sec. lang. In etwa zwei km Entfernung betrug die Temperatur »nur noch« 500 – 600C. Diese intensive Wärmestrahlung erzeugte direkte Verbrennungen, aber auch indirekt durch entzündete Feuer. Alle Menschen, die sich im Freien innerhalb 4 km vom Hypozentrum aufgehalten hatten, erlitten Verbrennungen, zum Teil schwere Verbrennungen.

Menschen innerhalb eines Kilometers verdampften oder verkohlten. Auch Menschen, die sich in Gebäuden aufhielten, erlitten teilweise schwerste Verbrennungen durch die heißen Gase und glühenden Staubmassen, obwohl sie der direkten thermischen Strahlung nicht ausgesetzt waren.

Während die direkten Verbrennungen nur auf der dem Explosionsball zugewendeten Körperseite zu finden sind, treten die indirekten Verbrennungen an allen Körperseiten auf. Sie dringen tiefer ein als die Blitzverbrennungen. Unterschiede im Heilungsprozess dieser Verbrennungsarten wurden offenbar nicht beobachtet. In Hiroshima und Nagasaki waren die Verbrennungen extrem häufig, denn viele Menschen befanden sich zum Zeitpunkt der Explosion auf dem Weg zur Arbeit. Verbrennungen waren die Haupttodesursache am Tag der Bombenexplosion. Viele, die durch die Druckwelle verletzt wurden, waren unfähig, der Feuerwelle und dem Feuersturm, der noch viele Stunden nach der Explosion wütete, zu entfliehen. Verbrennungen wurden selbst unter der Kleidung noch 2,5 km von Hypozentrum entfernt hervorgerufen.

Bei Menschen, die sich im Augenblick der Explosion vier km vom Zentrum im Freien aufhielten, wurden noch leichte Verbrennungen festgestellt. Die Befunde von Hiroschima und Nagasaki über die Verbrennungen sind recht ähnlich. Blitzverbrennungen 1. Grades wurden noch bei Personen, die fünf km vom Epizentrum in Nagasaki entfernt waren, festgestellt.

Bei einer Energiedichte von:

12 Joule/cm² Verbrennungen 1. Grades

35 Joule/cm² Verbrennungen 2. Grades

20 Joule/cm² Blätter und Papier entzünden sich

60 Joule/cm² Möbel, Kleider, Gardinen brennen

Viele Menschen, die in den Feuerball blickten, erblindeten, teilweise vorübergehend. Nach dem Verheilen der schweren Verbrennungen wurde häufig eine Wucherung des Narbengewebes beobachtet, besonders bei Überlebenden aus der 2,5 km Zone. Diese Keloide genannten Wucherungen entstellten die Opfer und führten unter anderem zu einer sozialen Ausgrenzung der Hibakusha (Überlebende der Atombombenabwürfe).

Aus der 1,5 km Zone gab es fast keine Überlebenden mit Verbrennungen. Die Überlebenden, die es aus dieser Zone gab, waren offensichtlich vor der direkten Wärmestrahlung und der Atomstrahlung geschützt, denn sie hielten sich in Kellern oder Schutzräumen auf.

Verletzungen durch die Druckwelle

Im allgemeinen wird jedes Gebäude, das nicht speziell für eine besondere Druckresistenz gebaut ist, zerstört, wenn es einem Überdruck von fünf oder mehr p.s.i. (entsp. 35 kPa) ausgesetzt ist. Gebäude, die bei diesem Druck nicht zusammenstürzen, werden jedoch so geschädigt, daß eine Reparatur nicht mehr möglich ist.

Drucke werden in verschiedenen Dimensionen angegeben. Zur Umrechnung dient die folgende Gleichung: 1 p.s.i.=70 g/cm2=700 kg/m² ; 5 p.s.i.=3,5 t/m2=35 kPa

Der durch die Bombe erzeugte Explosionsdruck lag in Japan bei 35 bis 55 kPa am Hypozentrum.

Die Explosion besteht aus zwei Phasen: Kompression und Unterdruck. Die Kompressionsphase dauerte 1 bis 2 sec. Die mechanischen Verletzungen, hervorgerufen durch die Druckwelle, sind direkt aber häufiger indirekt. Hauptsächlich werden sie durch einstürzende Gebäude und durch mit hoher Geschwindigkeit umherfliegende Trümmer verursacht. Da der menschliche Körper höhere Drucke aushalten kann als die meisten Gebäude, wurden die meisten Opfer der Druckwelle durch indirekte Effekte bedingt, aber auch dadurch, daß Menschen von der Druckwelle erfaßt, zu Boden geschleudert oder auf feste Strukturen geworfen wurden. Dagegen gab es weniger Opfer in den japanischen Holzhäusern. Menschen, die sich im Freien aufhielten, hatten am wenigsten unter der Druckwelle zu leiden. Wir beobachten also hier genau die entgegengesetzte Reihenfolge als bei den Verbrennungen. Feste Gebäude und Wände bedeuteten also das größere Risiko, besonders in dem dem Hypozentrum nahen Bereich. Bei den Überlebenden waren alle Arten von Verletzungen zu finden. Angefangen von kleineren Verwundungen bis hin zu schweren Quetschungen und Knochenverletzungen. Am häufigsten waren die Verletzungen durch Glassplitter und herabfallende Trümmer.

Die Schwerverletzten hatten keine Chance zu überleben. Da fast keine ärztliche Hilfe unmittelbar nach der Explosion zur Verfügung stand – die meisten Krankenhäuser und Sanitätsstationen waren der Explosion zum Opfer gefallen, genauso wie die meisten im Gesundheitswesen tätigen Personen – und wegen der bald einsetzenden Leukopenie als Folge der Strahlenwirkung, führten bereits geringfügige Verletzungen und Wunden, die normalerweise schnell verheilt wären, zu schweren Infektionen. Die Druckwelle führte auch zu großen Schäden am Gehörorgan. Teilweise waren es Dauerschäden.

Aus den Erfahrungen der Explosionen in Hiroshima und Nagasaki hat die Atom-Energie-Kommission (AEC) das Konzept der Todeszone entwickelt. Dabei wird angenommen, daß auf der Fläche, die mindestens einen Überdruck von 35 kPa erhalten hat, die Anzahl der Überlebenden gleich der Anzahl der Opfer außerhalb dieser Fläche ist, die dann weniger Überdruck abbekommen hat. Diese Annahme ergibt dann die Sofort-Toten aus der Fläche und der Bevölkerungsdichte.

Die Wirkung der radioaktiven Strahlung

Obwohl die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki die erste Gelegenheit waren, um die Wirkung massiver Strahlendosen auf den Menschen zu beobachten, ist doch wenig über die schweren Strahlenverletzungen, die unmittelbar zum Tode führten, bekannt, weil die Fälle nicht autopsiert wurden. Weiterhin verhinderte die sehr hohe Zahl der Todesfälle und der schweren Verletzungen in den ersten Tagen nach der Bombe jede genaue statistische Auswertung der Strahlenwirkung. Außerdem war den überlebenden Ärzten unbekannt, daß es sich um radioaktive Strahlung handelte.

Bei einer 20 kt Atombombe ist die unmittelbare Strahlung in 1.000 m Entfernung in 2 sec. auf rund 80% des Gesamtwerts angestiegen (100%=50 Gray (Gy)). Bei 5 Mt in 2,3 km Entfernung dauert es rund 8 sec. (100%=400 Gy). Selbst wenn man zum Zeitpunkt der Explosion in einen tiefen Schützengraben springen könnte, hätte man bereits 40 Gy im ersten Fall und 90 Gy im zweiten Fall abgekriegt. Beide Dosen sind absolut tödlich.

Die Symptome der Strahlenkrankheit bei Opfern, die drei Wochen nach der Bombe noch am Leben waren, sind etwas genauer erfaßt worden. Man muß aber beachten, daß die Kriterien für die Diagnose der Strahlenschädigung nur sehr schwierig festzulegen sind, da die Schädigungen sich in vielen Fällen nicht unmittelbar manifestieren und bestimmte Symptome auch anderen Ursachen zugeschrieben werden können und damit das Bild weiter verkomplizieren. So waren die Menschen, die einer hohen Dosis ausgesetzt waren, natürlich auch im Bereich der Hitzewelle und der Druckwelle. Die psychische Belastung blieb ebenfalls nicht ohne Folgen.

Die klinischen Symptome

Die Überlebenden innerhalb eines Kreises von 1.000 m waren großen Dosen ausgesetzt. Nur die Menschen, die sich in geschützten Kellern aufhielten, waren weniger exponiert. Bei 1.000 m betrug die Dosis in der Luft noch ca. 4,5 Gy. Bei der Explosion einer 1 Mt Bombe führte die radioaktive Strahlung im Zentrum zu einer Dosis von 110 Gy und in 3 km noch 100 Gy. In Hiroshima führten die Dosen bis 4,5 Gy zu Haarausfall, Blutungen in das Hautgewebe und in die inneren Organe, zu Ulcerationen im Rachen, zur Zerstörung der Kryptzellen im Darm, zur Zerstörung des roten Knochenmarks und zum Verlust der Immunabwehr.

Chronologisch können die Symptome und Anzeichen folgendermaßen zusammengefaßt werden:

Die Phasen des Strahlensyndroms

Phase I Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit für einige Tage

Phase II Vorübergehende Besserung. Die Dauer ist der Dosis umgekehrt proportional.

Phase III Fieberanfälle mehrere Wochen lang, Haarausfall, Ulceration der Schleimhäute, Infektionen, innere Blutungen, Durchfälle

Phase IV Entweder Verschlechterung des Zustandes und Tod oder langsame Rekonvaleszenz mit möglicher Gesundung

In vielen Fällen wurde die zweite Phase der vorübergehenden Besserung nicht beobachtet. Bei Schwerverletzten begann die Fieberphase oft schon am 3. Tag mit schweren Durchfällen, bis der Tod eintrat. Bei leichter Verletzten wurde der Haarausfall etwa 10 bis 14 Tage nach der Bombe beobachtet, gleichzeitig begann die Fieberphase und bald darauf traten die inneren Blutungen und Schleimhautschäden auf. Die Schwere der jeweiligen Schäden war dosisproportional. Wer mit Dosen um 4,5 Gy und mehr bestrahlt wurde, verstarb innerhalb zwei Wochen. Weniger hoch, aber immer noch mit letalen Dosen bestrahlte Menschen starben unter entsetzlichen Qualen und im Delirium in der 6. bis 8. Woche nach der Bombe.

Klinischer Verlauf und Prognose

Grobe Abschätzungen sagen, daß rund 200.000 bis 250.000 Menschen innerhalb der ersten 8 Wochen nach der Bombe umkamen. Davon sind rund 50% in den ersten 6 Tagen gestorben und 96% in den ersten 3 Wochen. Man kann sich denken, welche Probleme allein die Beseitigung der Leichen aufgab. Da Vielfach-Verletzungen (Hitze, Druck, Strahlung) besonders häufig vorkamen, war die Todesursache in vielen Fällen unbekannt, dies gilt vor allem für die Opfer, die innerhalb der ersten 3 Wochen starben.

Doch zeigten gerade diese fast durchweg die Symptome der Strahlenkrankheit. Natürlich trugen auch die Verbrennungen und Verletzungen dazu bei, daß viele nicht überleben konnten. Die meisten Menschen, die innerhalb der ersten 2 bis 3 Wochen starben, hatten auch abnorm veränderte Blutbilder. Der klinische Verlauf und die Prognosen waren sehr unterschiedlich wegen der unterschiedlichen Verletzungsursachen (Hitze, Druck, Strahlung). Genaue Dosis-Wirkungsbeziehungen beim Menschen sind nicht bekannt, selbst bei homogener Ganzkörperbestrahlung. So kann man nur eine Einteilung in verschiedene Gruppen machen:

Gruppe 1: Dosisbereich bis 6 Gy, bereits nach 2 Wochen keine Überlebenden, Gruppe 2: 3 bis 4 Gy, nach 3 bis 6 Wochen nur noch 50% Über lebende, Gruppe 3: 2 bis 3 Gy, nach 6 Wochen rund 90 % Überlebende, Gruppe 4: 1 bis 2 Gy, keine Todesfälle.

Anzahl der Opfer

Es gibt auch heute noch keine genauen Angaben über die Anzahl der Opfer. Das kommt zum einen daher, weil die Opfer nicht alle geborgen werden konnten, weil die Unterlagen über die damalige Bevölkerung mit zerstört wurden, und weil es keine Angaben mehr über die Soldaten und die koreanischen Zwangsarbeiter gibt, die im August 1945 in Hiroshima und Nagasaki stationiert bzw. dort gearbeitet haben. Die genaue Größe dieser beiden Gruppen ist unbekannt. Man weiß nur, daß es sehr viele waren.

Die Atomic Bomb Casuality Commission (ABCC), der in den Wochen und Monaten nach der japanischen Kapitulation vor allem daran gelegen war, daß keine Informationen über die verheerende Wirkung der Atombomben an die Weltöffentlichkeit drangen, die sogar verbot, das Wort »Atombombe« zu benutzen, gibt in ihren zunächst geheimen Berichten folgende geschätzte Zahlen an:

Hiroshima Nagasaki
60.000 41.000
Verbrennungsverletzte Verbrennungverletzte
78.000 45.000
Druckverletzte Druckverletzte
35.000 22.000
Strahlenverletzte Strahlenverletzte

Hämatologische Befunde

Verlust der Knochenmarkszellen als Bestrahlungsfolge ist eine sehr kritische Schädigung, die zum Tod führt. Ebenso wurde eine Abnahme der roten und weißen Blutzellen beobachtet. Es wurden aber in den ersten Tagen nach der Bombe nur wenig Knochenmarksuntersuchungen und Blutanalysen durchgeführt, da die überlebenden Ärzte mit anderen Aufgaben überlastet waren.

Auswirkung der Bestrahlung auf die Spermatogenese

Die Anzahl der Spermien ist stark reduziert in den Überlebenden. Diese Reduktion hält lange an und ist teilweise permanent. Ganz ähnliche Befunde wurden später auch bei den Überlebenden der Strahlenunfälle auf dem Bikini-Atoll beobachtet.

Hygienische Folgen

Die Erfahrungen in Hiroshima und Nagasaki zeigen, daß neben den mittelbaren und unmittelbaren Folgen der Kernexplosion auch die Zerstörung der sozialen Strukturen einhergeht. Neben den bereits beschriebenen Auswirkungen, die die Psyche der Überlebenden weit über die Grenzen des Erträglichen belastet, kommt die Aufgabe, die Opfer zu beerdigen, sanitäre Einrichtungen zu erstellen und den Ausbruch von Seuchen zu verhindern, die bei den ebenfalls geschwächten Überlebenden katastrophale Auswirkungen hatten. In Japan war diese Aufgabe teilweise zu lösen, weil noch eine partiell intakte Umwelt bestand, aus der Hilfe gebracht werden konnte. Diese Hilfe war natürlich gering, da Japan militärisch wie wirtschaftlich bereits durch die konventionelle Bombardierung der Städte am Ende war. Trotz dieser bald von außen eintreffenden Hilfe war in den Tagen und Wochen nach der Bombe in Hiroshima und Nagasaki eine enorme Insektenplage zu beobachten. Unzählige Fliegen quälten die Leidenden und Sterbenden, die zu schwach waren, sich zu wehren.

In den Wunden vieler Opfer fand man Maden. Die Kadaver der Haustiere, die überall herumlagen, boten den Insekten einen hervorragenden Boden zur Vermehrung. Die nur mit unzureichenden sanitären Mitteln versorgten Menschen bekamen Läuse, Infektionskrankheiten breiteten sich aus. Die Beerdigung der Toten wurde zu einem großen Problem. Überall verwesten Leichen und Tierkadaver in der Sommerhitze. Haustiere und Vögel litten unter dem Strahlensyndrom und verendeten. Die Versorgung der Kranken und Verwundeten überforderte die Möglichkeiten des Gesundheitssystems. Der Geruch von Tod und Verwesung lag über den Trümmern der Städte.

Medizinische Langzeitfolgen

Die katastrophalen Folgen hoher Bestrahlungsdosen haben wir kennengelernt. Was sind die Folgen kleinerer Dosen? Hier spielen die sogenannten stochastischen Strahlenwirkungen eine große Rolle. Damit sind die Veränderungen im Erbmaterial, also die Mutationen in den Zellen, gemeint. Finden diese in den Oozyten oder in den Spermien statt, so kann das zu veränderten, d.h. mutierten Individuen in der nächsten Generation führen. Sind dagegen die Körperzellen der Bestrahlten verändert, so kann es zu einer Krebserkrankung kommen, die erst viele Jahre später klinisch manifest wird.

Die Organisationen, die mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der medizinischen Folgen der Atombombenexplosion beauftragt waren, die ABCC und später die RERF, haben in langjährigen Studien zunächst etwa 135.000 Überlebende, deren Aufenthalt und Position zum Zeitpunkt der Bombe angebbar war, in eine Lebenszeitstudie aufgenommen, sie in verschiedene Dosiskohorten eingeteilt und immer wieder Teilergebnisse ihrer Analysen publiziert.

Dabei haben sie sich besonders der Frage der Kanzerogenität gewidmet. Genetische Folgeschäden und allgemeine Schwächung des Gesundheitszustandes waren nicht ihr Untersuchungsziel.

Das hatte zur Folge, daß solche Strahlenwirkungen, wenn sie bei den Fallout-Geschädigten oder anderen strahlenbelasteten Populationen beobachtet wurden, von den offiziellen Stellen nicht mit der Strahlung in Verbindung gebracht wurden, weil eben allgemeine Gesundheitschwächungen und genetische Folgeschäden in Hiroshima und Nagasaki nicht berichtet wurden.

So wurde in den Jahren 1950 bis 1965 fast nur in den höher exponierten Teilkohorten eine mit der Dosis zunehmende Krebsrate beobachtet. Da weitaus der größte Teil der in die Studie aufgenommenen Personen, nur mit Dosen unter 100 cGy belastet wurde und bei ihnen keine statistisch gesicherte Zunahme der Krebsrate zu beobachten war, glaubte man bis in die Mitte der siebziger Jahre, daß Bestrahlungen mit niedrigen Dosen, wie sie in der Nuklearindustrie oder bei medizinisch-diagnostischer Anwendung von Röntgenstrahlung auftreten, kein zusätzliches Risiko für die menschliche Gesundheit bewirken.

Inzwischen häuften sich aber die Berichte, daß auch kleine Dosen kanzerogene Wirkung haben. Aber die Autorität der RERF-Wissenschaftler und die politischen Kräfte hinter ihnen waren so mächtig, daß wissenschaftliche Ergebnisse über die Mutagenität und Kanzerogenität kleiner Dosen, die nicht mit den Japandaten übereinstimmten, als fehlerhaft und unglaubwürdig abgetan wurden.

Die Kritik an den Ergebnissen der RERF wurde immer lauter und wissenschaftlich immer fundierter. Dann zeigte sich, daß mit längerer Beobachtungsdauer auch in den niedrig belasteten Kohorten die Krebshäufigkeit signifikant erhöht war. Außerdem ergaben neuere Berechnungen und Messungen über die Strahlungsstärke der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki, daß man bisher die Dosen überschätzt hatte. Es wurde auch langsam klar, daß die Neutronendosen wegen der relativ hohen Luftfeuchtigkeit damals im August 1945 kleiner waren als angenommen.

Schließlich zeigte sich, daß die als unbestrahlt betrachtete Kohorte teilweise erhebliche Fallout-Dosen abbekommen hatte.

Nimmt man dies alles zusammen, so ergibt sich ein erheblich höheres Strahlenkrebsrisiko als bisher angenommen wurde. Die alten Vorstellungen sind aber immer noch die Grundlage für unserer Strahlenschutzverordung.

Mit Hilfe der publizierten Rohdaten der RERF haben verschiedene Wissenschaftlergruppen ebenfalls Risikoanalysen durchgeführt und sind zu wesentlich höheren Strahlenrisiken gekommen (siehe Tabelle).

Teilweise liegen diese Werte um den Faktor 10-20 über den Werten der RERF und sind vergleichbar mit den so lange geächteten Ergebnissen von Untersuchungen an anderen exponierten Personengruppen (Nukleararbeiter, Patienten, in utero exponierte Feten etc.) Diese Diskrepanz in einer eminent wichtigen Frage, in der die offiziellen Strahlenschützer so sehr auf Übereinstimmung bedacht waren, hat zu einer sehr heftigen Auseinandersetzung geführt, die noch lange nicht beendet ist. Doch zeichnet sich immer mehr ab, daß mit den Hiroshima/Nagasaki-Daten zu viel herum manipuliert wurde, nachdem die ersten Teilergebnisse vorhanden waren und damit eine der Grundregeln der epidemiologischen Forschung nicht beachtet wurde (keine Änderung der Ausgangsdaten, nachdem erste Ergebnisse vorliegen).

Ich persönlich habe große Bedenken, diese Daten auch weiterhin als die wesentlichen Grundlagen unserer Strahlenschutzgesetzgebung zu akzeptieren. (Die Bestrahlungsbedingungen in Japan sind nicht vergleichbar mit Expositionen am Arbeitsplatz. Die Strahlenqualität unterscheidet sich erheblich von diagnostischer Röntgenexposition.) Ich stehe damit nicht ganz alleine da, aber die Mehrheit der Strahlenbiologen, Radiologen und Anwender von Strahlung ist da anderer Auffassung.

Was kann man tun?

Gestatten Sie mir nach all den schrecklichen Tatsachen und Perspektiven, die ein ausgedehnter Einsatz von Atomwaffen mit sich bringt, einige Worte darüber, was wir aus dem Gehörten und Gesehenen eigentlich folgern müßten:

Was kann man tun, Herr Doktor? Wie oft haben Ärzte diese Frage gestellt bekommen, sei es von schwerkranken Patienten selbst oder von den Angehörigen angesichts unheilbarer Krankheit oder unerträglicher Schmerzen. Niemals ist es gerechtfertigt, eine solche Frage negativ zu beantworten. Niemals, denn selbst wenn nichts mehr getan werden kann, so können doch Schmerzen gelindert und Zuspruch erteilt und Trost gespendet werden. Können Ärzte auch keine Heilung mehr anbieten, so können sie doch immer noch den Kranken versorgen. Auch aus diesem Grunde genießen Ärzte Vertrauen. Die Menschen würden also sehr wohl aufmerken und zuhören, wenn Ärzte wie etwa die IPPNW einmütig und eindeutig aussprechen, daß nichts, aber auch gar nichts getan werden kann, um die physikalischen und psychologischen Wirkungen von Atombomben zu mildern oder erträglich zu machen. Eine thermonukleare Katastrophe ist ganz einfach nicht zu ertragen. Wer davon noch nicht überzeugt ist, sollte nur einmal die Berichte der wenigen überlebenden Ärzte aus Hiroshima und Nagasaki lesen. Die medizinischen Perspektiven müssen auch den Politikern klargemacht werden und wer könnte das besser als die Ärzte? Ich frage mich oft, woran die Physiker und Ingenieure denken, die diese Waffen entwickelt und ihren Einsatz logistisch vorgeplant haben! Die Zahlen der zu erwartenden Todesopfer bei verschiedenen nuklearen Szenarien können für den Militärstrategen durchaus unterschiedliche Bedeutung haben. Sie haben aber nur eine Bedeutung für den Arzt.

Was ist das für eine Sprache!: Da ist die Rede von nur 2 Millionen oder 20 Millionen Toten nach einem »chirurgischen« Angriff auf gewisse Ziele! Der Militärstratege sagt dann nach Substraktion der Toten, es wird immer noch soviel Millionen Überlebende geben. Ein Arzt weiß, welcher Aufwand erforderlich ist, um nur einen schwer brandverletzten oder einen Strahlenpatienten zu versorgen und kann leicht mit der Anzahl der Verwundeten und Hilfebedürftigen multiplizieren. Dieses sind die Perspektiven, die die Ärzte den Strategen vermitteln müssen. Noch vor 10 bis 15 Jahren machte das Wort vom begrenzten und führbaren und gewinnbaren Atomkrieg die Runde, was auch immer die strategischen Implikationen sein mögen, das ist aber absolut sinnlos in medizinischer Betrachtungsweise. Die heute von mir angesprochenen Perspektiven sind schon lange bekannt. Sie geraten aber zunehmends in Vergessenheit, besonders in einer Zeit des Friedens und der Entspannung.

Trotzdem müssen alle Anstrengungen darauf gerichtet sein, die noch vorhandenen nuklearen Zerstörungspotentiale zu vernichten. Nur durch den totalen Abbau der Kernwaffen werden die Führer der nuklearen Supermächte die Wahrscheinlichkeit verringern, daß nämlich eines Tages die überlebenden Ärzte zu den Opfern sagen müssen: Wir können nichts mehr für euch tun.

Anmerkung

Der Artikel basiert auf einem Manuskript eines Vortrages, den der Autor in der Vorlesungsreihe »50 Jahre Hiroshima« an der Ruhr-Universität Bochum am 30. Mai 1995 hielt.

Literatur

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300.000 deutsche Ärzte fordern Abschaffung aller Atomwaffen

Der 98. Deutsche Ärztetag 1995, der letzte Woche in Stuttgart tagte, forderte einstimmig die verantwortlichen Politiker auf, weltweit alle Atomwaffen abzuschaffen (Drucksache IV-25). Der Deutsche Ärztetag ist die Vertretung der 300.000 Ärztinnen und Ärzte in der Bundesrepublik Deutschland.

50 Jahre nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, an denen mindestens 100.000 Menschen sofort und 400.000 Menschen an den Folgen der radioaktiven Strahlung starben, tritt die deutsche Ärzteschaft mit dieser Forderung gegen die atomare Bedrohung von Leben und Gesundheit ein. Dabei läßt sie sich von der Erkenntnis leiten, daß es bei radioaktiver Verstrahlung keine effektive medizinische Hilfe mehr geben kann.

Die deutschen Ärzte stehen damit an der Seite der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die den Weltgerichtshof in Den Haag beauftragten, die Rechtmäßigkeit des Einsatzes von Atomwaffen zu prüfen.

Heute gibt es immer noch über 48.000 atomare Sprengköpfe auf der Welt. Diese haben eine Sprengkraft von 50.000 Hiroshima-Atombomben. Die Atombombe, die am 6. August 1945 über Hiroshima zur Explosion gebracht wurde, hatte eine Sprengkraft von 13 Tonnen. Mehr als 360 Tonnen atomwaffenfähiges Plutonium lagern auf der Welt. Die Gefahr einer Atombombenexplosion, sei es durch Unfall, Terrorismus oder Krieg ist noch lange nicht gebannt.

Mit ihrer Forderung, weltweit alle Atomwaffen abzuschaffen, setzen die deutschen Ärzte für ihre Kolleginnen und Kollegen in der ganzen Welt ein Zeichen, sich dieser Forderung anzuschließen und sich für eine Welt frei von atomarer Bedrohung einzusetzen.

Berlin, 1. Juni 1995

Dr. Wolfgang Köhnlein ist Biologe und arbeitet am Institut für Strahlenbiologie der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.

Ein amerikanischer »hibakusha«

Ein amerikanischer »hibakusha«

Zu der Debatte um die »Enola-Gay-Ausstellung« in den USA

von Thomas Smith

Ich heiße Thomas Smith und bin Überlebender der Atomversuche, also ein amerikanischer hibakusha. Während meiner Dienstzeit bei der amerikanischen Marine wurde ich 17mal Zeuge von Atombombendetonationen im Pazifik. Das war im Jahre 1958. Ich war damals aufder USS-Hooper-Island stationiert, die beim Eniwetok-Atoll, im Archipel der Marshall-Inseln lag.

Als Zeuge habe ich die Sprengungen aus verschiedenen Entfernungen erlebt (…). So nah, daß man die Hitzewelle spüren konnte; so heiß, daß man dachte, die Kleider am Leib könnten in Flammen aufgehen. (…)

Viele Jahre danach habe ich mit gesundheitlichen Beschwerden zu schaffen gehabt;Beschwerden, die niemand vorher in meiner Familie gehabt hat; Beschwerden, die kein Arzt erklären konnte, und schließlich gesundheitliche Beschwerden, die nun auch meine Kinder hinnehmen müssen. Sowohl meine Tochter als auch mein Sohn zeigen genetische Auffälligkeiten, die durch meine Verstrahlung verursacht wurden. Und jetzt bange ich um die Gesundheit meiner Enkel.

<>Jene Detonationen und damit verbunden die gesundheitlichen Schäden bei meinen Kindern und bei mir selbst gehören zu dem dauernden Vermächtnis der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki; und das National Air & Space Museum hat sich entschlossen, die Spuren dieses Vermächtnisses aus seiner »Enola-Gay«-Ausstellung zu entfernen.

Erst Jahre nach jenen Tests habe ich andere Menschen mit ähnlichen Beschwerden gefunden. Menschen aus allen Teilen der Welt und mit den unterschiedlichsten Lebensläufen– Veteranen, »downwinders«, Menschen, die in Uranbergwerken gearbeitet haben, und natürlich die japanischen hibakusha. Eines hatten wir gemeinsam, wir waren radioaktiven Strahlungen ausgesetzt gewesen, entweder durch Berührung bei der Arbeit oder durch die Strahlung nach der Detonation einer nuklearen Bombe.

Ich habe 25 Operationen über mich ergehen lassen (…). Allein sechs Eingriffe an der Wirbelsäule einschließlich zahlreicher Knochentransplantationen aus dem Beckenbereich habe ich hinnehmen müssen, außerdem Eingriffe zur Wiederherstellung von Gelenken und zur Entfernung von Tumoren. (…) Heute muß ich mit einem geschwächten Immunsystem, Diabetes und chronischer Leberentzündung leben, und trotz-alledem rechne ich mich zu den Glücklichen. Heute bin ich noch am Leben und rede zu Ihnen, viele meiner Gefährten sind es nicht. Sie sind vor ihrer Zeit gestorben.

Die Ausstellung soll die Amerikaner ehren

Zu der Debatte über die »Enola-Gay-Ausstellung« in den USA

Als B 29-Kampfflieger des Zweiten Weltkrieges und Mitglied des Enola Gay-Komitees möchte ich meine Unzufriedenheit über die geplante Ausstellung des B 29-Bombers, der am 6. August 1945 die Atombombe auf Hiroshima abwarf, durch das Nationale Luft- und Raumfahrt-Museum zum Ausdruck bringen. Trotz der angekündigten Ergänzungen läuft das ganze auf eine »Anti-Bomben«-Ausstellung hinaus.

Die ein Jahr dauernden Verhandlungen mit Martin Harwit, dem Museums-Direktor, haben gezeigt, daß sämtliche Korrekturen rein kosmetischer Natur sind und nichts am Grundkonzept der Ausstellung ändern.

Die Ausstellung sollte eine Feier zum 50. Jahrestag des Kriegsendes sein. Sie sollte die Amerikaner ehren, die so lange auf so vieles verzichteten, und das sind fast alle amerikanischen Bürger, die zwischen 1941 und 1945 lebten.

Sie sollte unsere Führung für ihre großartige Leistung ehren, den Krieg so schnell zu beenden. Sie sollte die arbeitende Bevölkerung ehren, die oft erhebliche persönliche Opfer brachte, um ihre Arbeitskraft den kriegswichtigen Betrieben zur Verfügung zu stellen. Und sie sollte die siebeneinhalb Millionen Mitbürger ehren, die in dieser Zeit für ihr Land kämpften.

Für all dies ist die »Enola Gay« ein einzigartiges Symbol. Sie ist der berühmteste von allen B 29-Bombern. Mit dem Luftbombardement Japans konnte zum ersten Mal ein Krieg ohne Invasion beendet werden.

Uns allen sind die schrecklichen Ereignisse von »D-Day« bekannt. Und bei dieser Invasion ging es lediglich um den Transport über den Ärmelkanal. Dagegen hätten die Schrecken einer Invasion auf der Insel Honschu »D-Day« als Kinderspiel erscheinen lassen.

Wenn wir die Schrecken Hiroshimas zeigen, dann müssen wir auch Dresden, Tokio, London und all die anderen Städte zeigen, auf die Bomben fielen.

Wir sollten den Schwerpunkt der Ausstellung völlig verändern. Wir sollten mit dieser Ausstellung das Ende des Zweiten Weltkrieges gebührend feiern. Es leben schließlich noch viele von uns, die an diesem Krieg auf die eine oder andere Weise teilgenommen haben.

Leserzuschrift, New York Times, 10.9.1994. (Übersetzung: Helga Wagner.)

Presseerklärung von Thomas Smith. Veteran von Atomversuchen und Erster Vorsitzender der Vereinigung überlebender Strahlenopfer in Amerika. (Übersetzung Bill Hadfield)

Ihre Tränen verwandelten sich in Blut

Ihre Tränen verwandelten sich in Blut

Zur Wirkung radioaktiver niedrigdosierter Strahlung

von Shuntaro Hida

In diesem Jahr jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 50. Mal. In Europa besteht der Sinn der 50. Wiederkehr dieses Jahrestages wohl darin, daß mit dem Kriegsende die Herrschaft des Nationalsozialismus zerschlagen wurde und Freiheit und Demokratie wiederhergestellt wurden.

In Japan ist die 50. Wiederkehr jenes Jahres das Jahr, in dem auf die beiden japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte Atombomben abgeworfen und Menschen Opfer eben dieser Atombomben wurden. Die Bedeutung dieses Jahrestages sehe ich darin, sich der weiteren Verstärkung der Friedens- und Antiatom-Bewegung zur weltweiten Beseitigung der Kernwaffen zu verschreiben und den 50. Jahrestag zum Anlaß für einen erneuten Wiederbeginn dieser Bewegungen zu machen.

Eine einzige Atombombe hat damals eine ganze Stadt mit 300.000 Einwohnern in einem einzigen Augenblick ausgelöscht. Durch die Hitzewelle, die Explosionswucht und die radioaktive Strahlung sind nicht nur innerhalb von vier Monaten etwa 200.000 Menschen umgebracht worden. Bis heute, also 50 Jahre danach, sind 200.000 der damals Überlebenden an den Spätfolgen des Atombombenabwurfes gestorben. Und noch heute sterben Atombombenopfer an solchen Krankheiten wie Karzinomen, chronischen Leberschäden, Knochenmarksentzündungen, Blutkrankheiten. Die Ursachen dieser Krankheiten sind auf radioaktive Strahlungsschäden zurückzuführen.

Aus diesem Grunde betrachten wir Japaner die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki nicht etwa als ein einmaliges unglückliches Drama auf japanischem Boden in der Endphase des Krieges vor 50 Jahren. Vielmehr begreifen wir dieses Ereignis als wertvolle Lehre und Warnung, daß die Menschheit von diesen teuflischen Waffen, den Kernwaffen – die die ganze Menschheit zu vernichten vermögen – eher noch heute als morgen für immer die Hände lassen sollte.

Mein Erlebnis in Hiroshima

Vor 50 Jahren war ich ein junger Armeearzt im Offiziersrang und arbeitete im Militärkrankenhaus in Hiroshima. Am Vorabend des 6. August, gegen Mitternacht, kam ein Notruf aus der nahe gelegenen Gemeinde Hesaka, drei Meilen vom Krankenhaus entfernt, da Patienten in diesem Dorf dringend meiner Hilfe bedurften, und ich verließ das Hospital. Ohne diesen Notruf und meine Übernachtung außerhalb Hiroshimas könnte ich heute nicht unter Ihnen sein. Am nächsten Morgen um Viertel nach acht explodierte plötzlich die Bombe. Mit einem Schlag leuchteten millionenfache Blitze auf und blendeten mich. Es folgte eine ungeheure Hitze, die meine unbedeckte Haut verbrannte.

Dann, einige Sekunden später, kam der ungeheure Druck, der einem Orkan gleich den Hügel heraufraste und die Häuser in diesem Dorf erfaßte. Er riß das Dach des Hauses, in dem ich mich befand, ab und schleuderte mich etwa zehn Meter weit. Als ich aus den Trümmern des Hauses hervorkroch, sah ich auf den riesigen Atompilz, der höher und höher wuchs, in fünf verschiedenen Farben leuchtete und sich über ganz Hiroshima ausbreitete.

Da ich mich als Militärarzt zum Helfen verpflichtet fühlte, nahm ich sofort mein Fahrrad und fuhr in Richtung Hiroshima. Als ich etwa die Hälfte des Weges hinter mir hatte, sah ich den ersten Menschen, der aus dem Flammenmeer entflohen war. Und wie er aussah! Er war kein Mensch mehr. Vom Leib, von allen Teilen des Körpers, hingen zerfetzte Lappen herunter. Von den Spitzen der Finger, die er sich vor die Brust hielt, fiehlen schwarze Tropfen herab. Und das Haupt, der ungeheuer große Kopf, an dem kein einziges Haar zu sehen war, geschwollene Augen, die beiden Lippen, die bis zur Hälfte des Gesichtes aufgedunsen waren! Erschrocken trat ich einige Schritte zurück. Die hängenden Lappen waren nichts anderes als abgeschabte Haut des lebenden Menschen. Die schwarzen Tropfen waren sein Blut. Ob Mann, ob Frau? Ob Soldat, ob Zivilist? An nichts konnte man das ablesen. Von seiner Sehkraft war vielleicht noch etwas übrig. Er trottete mit vorgestreckten Händen einige Schritte auf mich zu und fiel auf den Bauch. Ich lief hin und wollte den Puls fühlen. Aber an diesem Fleischklumpen war nirgendwo eine Stelle mit trockener Haut. Bestürzt und hilflos stand ich da und schon überfielen den liegenden Menschen starke Krämpfe, aber bald gingen diese auch vorbei.

Ich eilte weiter zur Stadt, als ich an das Flußufer gelangte, das die Stadt nach Norden hin umgrenzte. Das Flußbett war voll von ausgebrannten Fleischklumpen. Drüben auf dem anderen Ufer loderten die Flammen zum Himmel und, diese umkreisend, stießen Rauchpfeiler wie lebende Wesen hoch. Vom Feuer gejagt, sprangen die Menschen ins Wasser. Im Wasser waren auch viele Kinder. Wie sehr auch meine Gedanken zu meinem Krankenhaus eilten, es war gar nicht möglich, durch die Feuerwand in die Stadt zu kommen. Eine Weile dachte ich hin und her, dann aber entschloß ich mich, zu dem Dorf zurückzukehren, das ich soeben verlassen hatte, um dort eine Nothilfeklinik für die Verwundeten zu errichten.

Eine unerklärliche Krankheit

Es war am vierten und fünften Tag nach dem Atombombenabwurf, als unter den Patienten merkwürdige Krankheiten auftauchten. Bisher war das im Dorf eingerichtete provisorische und immer überfüllte Lazarett meist mit Brandwunden und äußeren Verletzungen konfrontiert gewesen. Nun aber kamen Patienten mit Symptomen wie hohem Fieber, Blutungen der Nasen und Augenschleimhäute, Purpura und Ausfall des Kopfhaars. Sie starben entweder bereits nach einigen Stunden oder spätestens nach einigen Tagen. Im Nachhinein habe ich erfahren, daß es sich um Strahlungsschäden handelte, die man als akute Strahlenkrankheit bezeichnet. Für mich, der damals nichts dergleichen gelehrt bekommen und der keinerlei Erfahrungen damit hatte, war es eine unerklärliche Krankheit.

Ein Beispiel: Viele Tage bevor die Atombombe detonierte, heiratete ein Freund von mir in Hiroshima. Am 6. August wurden beide schwer verbrannt, der eine auf dem Weg zum Hauptquartier der Division und die andere in ihrer Küche. Glücklicherweise überlebten sie und entkamen mit knapper Not nach Hesaka, in mein Dorf. Keiner von beiden wußte vom Schicksal des anderen, obwohl beide auf dem gleichen Boden dieser Grundschule lagen. Die Opfer um sie herum starben, und jene, die zwischen den beiden jungen Menschen gelegen hatten, raffte der Tod hinweg. Schließlich lagen sie nebeneinander, ohne daß sie von einander etwas ahnten. Ihre Gesichter waren allzu verändert, sie waren füchterlich verbrannt. Aber schließlich erkannten sie sich am Klang ihrer Stimme. Was für eine glückliche Fügung!

Diese herzergreifende Episode sprach sich unter den Patienten schnell herum. Es schien den beiden nach und nach besser zu gehen, und nach zwei Wochen sollten sie in ein Krankenhaus in einem anderen Ort verlegt werden. Das glückliche Paar verabschiedete sich von den anderen Patienten und kam auch zu mir, um mir für die Behandlung zu danken. Doch kaum waren die Worte verklungen, da sprudelte plötzlich eine große Menge Blut aus dem Mund des Mannes. Und in beiden Händen, die er schmerzerfüllt an den Kopf legte, hielt er plötzlich ein Büschel von Haaren, als wären sie abrasiert. Er brach zusammen und bekam hohes Fieber. Innerhalb von 24 Stunden war er tot. Seine Frau war außer sich; sie schrie und hielt den Leichnam ihres Mannes. Doch auch ihre Tränen verwandelten sich in Blut, ihr Haar hatte das gleiche Schicksal und wenig später folgte sie ihrem Mann in den Tod.

Weitere schreckliche Ereignisse stellten sich ein. Auch unter den Leuten, die nach dem Bombenabwurf in die Stadt gegangen waren, um dort zu helfen, und unter den Leuten, die aus anderen Orten gekommen waren, um in der Stadt nach Verwandten und Bekannten zu suchen, tauchten Menschen mit merkwürdigen Krankenheitsbildern auf. Viele von ihnen starben.

Zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht wissen, daß diese Menschen in der Luft, auf Lebensmitteln und im Wasser befindliche Strahlungspartikel aufgenommen hatten, die wiederum schreckliche Wirkungen zeitigten: Die über längere Zeit wirkende niedrigdosierte radioaktive Strahlung rief plötzlich eine verstärkte Tumorbildung hervor oder die körperlichen Abwehrfunktionen wurden zerstört.

Ein weiteres Beispiel: Ein junger Stadtbeamter war im Keller des Rathauses unweit vom Explosionszentrum. Ihm wurden bei der Detonation die Beine zugeschüttet. Mit Hilfe eines Kollegen konnte er glücklich entkommen. Noch am selben Tag kam er im sechs Kilometer entfernt liegenden Vorort von Hiroshima, wo ich war, an.

Seine Frau, die kurz davor ein Kind gebar, war am 6. August bei ihren Eltern in der etwa 200 km entfernten Stadt Matsue. Sie ging, nachdem Sie das Baby den Eltern anvertraut hatte, in die zerstörte Stadt, um ihren Mann zu suchen. Nachdem sie 8 Tage lang durch die Ruinen gegangen war, konnte sie ihn endlich finden. Obwohl ihm ein Bein gebrochen war, war er noch verglichen mit anderen, die dort im Ort zu Hunderten untergebracht waren und von Minute zu Minute starben, in einem besseren Zustand. Angesichts dieses höllischen Bildes setzte die Frau ihre Kräfte gänzlich dafür ein, die Schwerverwundeten zu betreuen. Einige Tage arbeitete sie ganz selbstlos daran. Und es war entsetzlich für mich mit anzusehen, wie diese Frau nach wenigen Tagen erkrankte. Sie bekam plötzlich hohes Fieber und ihr blutete die Nase, es traten Blutflecken auf der Haut an allen Gliedern auf, und am Ende fiel ihr das ganze Kopfhaar aus. 14 Tage hat sie gelitten und mußte im äußersten Elend sterben. Die Symptome, die bei ihr auftraten, waren dieselben wie bei den Schwerverwundeten.

Das wirkliche Ausmaß der Opfer, der Schäden, des Leidens der vom Atombombenabwurf betroffenen Menschen, insbesondere die von der radioaktiven Strahlung hervorgerufenen Leiden, sind den Menschen in aller Welt bisher nicht korrekt mitgeteilt worden. Zum einen haben die Regierung der USA und die der US-Atompolitik gefolgschaftleistende japanische Regierung das wirkliche Ausmaß des Leidens und die Unmenschlichkeit der Strahlungskrankheit konsequent zu vertuschen und zu verstecken versucht. Zum anderen war die medizinische Forschung über die Wirkung radioaktiver Strahlung auf den menschlichen Organismus noch nicht ausreichend fortgeschritten.

Schäden durch niedrigdosierte radioaktive Strahlung

Es gab einen Bericht von dem 1977 – also 32 Jahre nach dem Atombombenabwurf – in Japan veranstalteten »Symposium der UN-NGO zu Problemen der Atombombenopfer« von Hiroshima und Nagasaki. Auf diesem Symposium wurden zwar die externen Wirkungen auf den menschlichen Körper nach erfolgter hochdosierter radioaktiver Strahlung deutlich gemacht; die Wirkung niedrigdosierter Strahlung, die von den in den menschlichen Körper gelangten Strahlungspartikel ausgeht, blieb jedoch völlig unerwähnt.

Was den Einfluß von radioaktiver Strahlung auf den menschlichen Organismus angeht, wurde damals lediglich die Menge der Strahlung problematisiert. Ohne zwischen extern und intern erfolgter Bestrahlung zu unterscheiden, war die Position sogenannter Erfahrungswerte in der Diskussion beherrschend, wonach die Wirkung radioaktiver Strahlung unterhalb eines bestimmten Schwellenwertes zu vernachlässigen sei.

1972 legte der kanadische Arzt Abram Petkau seine Petkau-Theorie öffentlich vor. Danach „zerstört aus dem menschlichen Organismus heraus langzeitlich erfolgende niedrigdosierte Strahlung Zellen nach einem völlig anderen Wirkungsprinzip, als dies bei der kurzfristigen Schädigung durch extern erfolgte hochdosierte Strahlung der Fall ist. Erfolgt die radioaktive Strahlung im Wasser, wird das unschädliche Sauerstoff-Element in schädlichen Aktiv-Sauerstoff umgewandelt. Diese Reaktion fällt bei niedrigdosierter Strahlung heftiger aus als bei hochdosierter Strahlung“. Im selben Jahr veröffentlichte der Amerikaner Ernest J. Sternglass ein Buch mit dem Titel „Low Level Radiation“ (übrigens veröffentlichte er es in London, da es in den USA nicht möglich war), in dem er die Schäden niedrigdosierter Strahlung epidemiologisch aufzeigte. Dieses Faktum ist übrigens bis heute kaum wahrgenommen worden.

Jedoch machte die Kernreaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 die Gefährlichkeit niedrigdosierter Kernstrahlung durch in den menschlichen Körper aufgenommene radioaktive Partikel mit einem Schlag deutlich. Im Gefolge dieser Katastrophe wurden die bis dato verheimlichte Existenz von zahlreichen Opfern niedrigdosierter Kernstrahlung im Zusammenhang mit den Großkatastrophen beispielsweise im Kernkraftwerk Three-Mile-Island oder der Atombombenfabrik Savannah-River in den USA sowie Schädigungen von mehreren der 250.000 US-Soldaten, die für Kernwaffenexperimente eingesetzt worden waren, bekannt. Ferner wurden u.a. 1992 von Donnell W. Boardman „Radiation Impact“, 1993 von Jay M. Gould et al. „Deadly Deceit“ gehäuft Untersuchungs- und Forschungsberichte über Schädigungen durch niedrigdosierte Kernstrahlung veröffentlicht.

Darüber hinaus berichtete die Untersuchung des Japanischen Verbandes der Atombombenopfer von 1985, daß es „unter den Atombombenopfern, die zum Zeitpunkt des Abwurfes über zwei Kilometer vom Epizentrum entfernt waren oder später in das Stadtgebiet gelangten, Menschen gibt, die Krankheitsbilder aufweisen, deren Ursache auf intern erfolgte niedrigdosierte Strahlung zurückgeführt werden kann“. Im Zusammenhang mit der Anwendung des Gesetzes zur Unterstützung von Atombombenopfern betrachtet die Stadt jedoch die Entfernung von zwei Kilometern ab dem Epizentrum als jene Grenze, von der ab keine Wirkung der Kernstrahlung angenommen wird. Ferner ist festzustellen, daß es auf internationalen Konferenzen zu entsprechenden Berichten von japanischen Wissenschaftlern zu dem Thema »Schäden niedrigdosierter Kernstrahlung« gekommen ist. So beginnt entgegen der bisher vorherrschenden Lehrmeinung der sogenannten Erfahrungswerte, bei deren Unterschreitung keine Schädigungen zu erwarten seien, die Auffassung derzeit zunehmend an Unterstützung zu gewinnen, derzufolge interne Abstrahlung niedrigdosierter Kernstrahlung schwerwiegende Folgen hervorruft.

Die Schäden von Kernwaffen sind nicht zu begrenzen

Die Wahrnehmung der Realität der Strahlenopfer infolge des erstmaligen Einsatzes von Kernwaffen in der Menschheitsgeschichte war wesentlich bestimmt durch das strategische Kräfteverhältnis bei den Kernwaffen. Die Realität selbst ist entsprechend verheimlicht worden. Des weiteren kann die medizinische Wissenschaft die konkrete Lage von Strahlenopfern derzeit nicht detailliert beleuchten und gänzlich deuten. Wäre dies möglich, würde ein allgemeines Bewußtsein darüber entstehen, daß „die eigentliche Bedrohung der Kernwaffen in der radioaktiven Strahlung liegt und bei intern ausgehender Bestrahlung auch bei kleinsten Mengen gefährlich ist“. So ist aber jene Kernwaffenbegrenzungstheorie immer noch weit verbreitet, wonach es keine „Ideallösung“ gibt, und „man zwar gegen den Einsatz von Atomwaffen ist, aber deren Besitz als notwendig für die Verhinderung von Krieg ansehen muß“.

Die Schäden von Kernwaffen sind räumlich und zeitlich nicht zu begrenzen. Werden Kernwaffen eingesetzt, gelangt radioaktive Substanz in die Atmosphäre und fällt über einen langen Zeitraum wieder zurück auf die Erdoberfläche, wo über Jahre hinweg die Menschheit langsam umgebracht wird und noch mehrere Generationen danach Schäden zu beklagen sein werden. Zudem hat der Besitz von Kernwaffen zur Voraussetzung, daß Uran gefördert, für militärische Zwecke aufbereitet wird, Sprengköpfe (Bomben) produziert und gelagert werden und deren Funktionsfähigkeit getestet wird. Auf all diesen Stufen werden unzählige Strahlenopfer zu verzeichnen sein.

Ich denke, daß es die Grundlage für die schnellstmögliche Realisierung der Abschaffung von Kernwaffen ist, die Menschen in aller Welt darüber zu informieren, worin die Besonderheit dieser menschenvernichtenden Waffen im Unterschied zu allen bisher dagewesenen Waffen besteht. Zu diesem Zweck fordern wir in Japan den Abschluß eines internationalen Abkommens zur vollständigen Beseitigung der Atomwaffen und rufen dafür zu einer weltweiten Hiroshima-Nagasaki Unterschriftenkampagne auf. Derzeit können wir bereits auf 40 Millionen Unterschriften in Japan und weltweit auf 100 Millionen verweisen.

Lassen Sie mich meine Rede mit der Bitte beenden, daß Sie als Deutsche in vorderster Position des Verbundes aller europäischen Bürger uns ihre Kraft und ihr Engagement für die Abschaffung der Atomwaffen zur Verfügung stellen mögen.

Über Shuntaro Hida

Dr. med. Shuntaro Hida, 1917 in Hiroshima geboren, ist in mehrfacher Hinsicht ein außergewöhnlicher »hibakusha«. Er gehört zu den wenigen Ärzten, die den Atombombenabwurf überlebt haben; den Grund hierfür nennt er in seinem Referat. Mit großem Einsatz ist er seit 1945 in (inter)nationalen Gremien für die Belange der »hibakusha« und für seine Vision einer atomwaffenfreien Welt tätig. Guido Grünewald hat ihn den »Botschafter« der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki genannt. Ferner hat Dr. Hida seine auch auf deutsch erschienenen Memoiren verfaßt (Der Tag, an dem Hiroshima verschwand. Erinnerungen eines japanischen Militärarztes, Bremen 1989, Donat Verlag). Es ist bemerkenswert, daß das nukleare Inferno nicht am Anfang seiner Erinnerungen steht, sondern deren Schlußpunkt bildet. Dr. Hida, der heute noch zweimal in der Woche strahlengeschädigte Patienten in Tokio fachlich betreut, gibt in seinem Buch mit der präzisen Sprache des Arztes authentische Einblicke in den japanischen Militarismus und in die damalige expansive Außenpolitik seines Landes.
Dr. Hidas Referat, welches hier abgedruckt wird, bildete den Auftakt seiner neunten Vortragsreise durch Deutschland, diesmal in Begleitung seiner Enkelin Rika Nogutschi. Dr. Guido Grünewald von der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte KriegsgegnerInnen verdanken wir es, daß Herr Hida sein Referat im Rahmen des Frankfurter Vortragszyklus' halten konnte. Frau Mokoto Uchida, Frankfurt, hat dankenswerterweise sowohl den Vortrag als auch die sich anschließenden Fragen aus dem Publikum und das folgende Interview übersetzt.

(B.W.K.)

Shuntaro Hida

Opfer und Täter von Hiroshima

Opfer und Täter von Hiroshima

Was ist 50 Jahre danach aus ihnen geworden?

von Sven Sohr

Der 6. August 1945 war der Tag Null. Dieser Tag, an dem bewiesen wurde, daß die Weltgeschichte vielleicht nicht mehr weitergeht, daß wir jedenfalls fähig sind, den Faden der Weltgeschichte durchzuschneiden, der hat ein neues Zeitalter der Weltgeschichte eingeleitet. Ein neues Zeitalter, auch wenn dessen Wesen darin besteht, vielleicht keinen Bestand zu haben. (Anders, 1982, S.66)

Gib die Menschen wieder.
Gib meinen Vater wieder und meine Mutter.
Gib meine Geschwister zurück.
Gib mir meine Söhne und Töchter.
Gib mir mich selbst zurück. Gib die Menschheit wieder.
Solange dieses Leben dauert, dieses Leben,
gib den Frieden wieder, der nie mehr endet.

Sankichi Toge

So leben wir also im Jahr 50! Runde Geburtstage pflegt man gewöhnlich zu feiern. Was werden wir tun? Werden wir uns erinnern? Kurz nachdem der Autor dieses Artikels angefragt wurde, ob er einen Überblicksbeitrag psycholgischer Forschung zu den Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki schreiben könne, fand er eine kleine Randnotiz in seiner Tageszeitung, überschrieben mit den Worten: „Japan gegen US-Atombomben-Briefmarke“ (Tagesspiegel, 4.12.1994, S. 32). Berichtet wird von einer dem US-Außenministerium übergebenen Note der japanischen Botschaft, in der Japan die USA auffordert, die Einführung einer Briefmarke mit einem Atombombenpilz zu überdenken. Das Bild des Atombombenpilzes ist unterschrieben mit „Atombomben beschleunigen Beendigung des Krieges, August 1945“. Dieser Vorfall, der an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten ist, verletzt nicht nur die tiefen Gefühle der japanischen Bevölkerung, er ist auch sachlich zumindest zu bezweifeln. – Aber wie so oft im Leben gerade dann am meisten in Bewegung gerät, wenn Menschen sich »betroffen« fühlen, wurde diese kleine Zeitungsnotiz zum emotionalen Anlaß des vorliegenden Versuchs, der Frage nach den Folgen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki wissenschaftlich nachzugehen.

Im Zentrum des ersten Teils der folgenden »Erinnerung« stehen die Opfer, unter anderem die Untersuchungen des Psychiaters Robert Lifton über das Phänomen der »psychischen Taubheit« bei den Überlebenden. Psychologisch ebenso interessant, wenn es auch zynisch klingen mag, ist das »Schicksal« der Täter, um die es im zweiten Teil des Aufsatzes geht. Exemplarisch werden dabei ganz unterschiedliche Wege der »Verarbeitung« anhand zweier Hiroshima-Piloten beschrieben: Zum einen Paul Tibbets, der auch heute noch »absolut nichts« bedauert, zum anderen Claude Eatherly, der in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wurde, um seine »Gewissensbisse« zu kurieren. Es ist das Verdienst des Philosophen Günther Anders, durch einen jahrelangen Briefwechsel mit Claude Eatherly auf dessen »Problem« aufmerksam gemacht zu haben. Da Günther Anders einer der ersten war, die sich wissenschaftlich mit den Folgen von Hiroshima auseinandersetzten und darauf reagierten, wird seinen Überlegungen zu den Konsequenzen der Katastrophe besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Der letzte Abschnitt des Artikels mündet schließlich in der Frage, ob und inwiefern uns das Thema heute betrifft.

„Alles planmäßig und in jeder Hinsicht geglückt.“

In der Nacht zum 6. August 1945 starteten auf Tinian im Beisein von 100 Reportern sieben B 29-Bomber. Die ersten drei sollten eine Stunde vor der Hauptgruppe Japan erreichen und das Wetter über Hiroshima, Kokura und Nagasaki erkunden. Die fünf Tonnen wiegende Atombombe, von den Militärs »Little Boy« genannt, wurde in der von Oberst Tibbets befehligten und zu diesem Zweck extra umgerüsteten Maschine »Enola Gay« befördert. Zwei Bomber sollten diese Maschine begleiten; einer hatte den Auftrag, über dem »Objekt« Apparate zur Feststellung der Explosionsstärke abzuwerfen, und der andere sollte Foto- und Filmaufnahmen machen. Der siebente Bomber sollte nach Iwoshima fliegen, einer Insel auf dem halben Weg nach Japan, um einzuspringen, falls die Maschine Tibbets eine Panne haben sollte. Um 7.09 Uhr meldeten die Aufklärungsflüge, daß der Himmel über Hiroshima und Nagasaki wolkenlos sei. Von dem Flugzeug, das Kokura überflogen hatte, war die gleiche Meldung gekommen. Oberst Tibbets in der »Enola Gay« erhielt das chiffrierte Telegramm: „Empfehlung: erstes Objekt“. Um 8.13 Uhr erschienen über dem Himmel von Hiroshima die drei Flugzeuge. Um 8.14 Uhr öffnete sich die Bombenluke. Am wolkenlosen Himmel zeigte sich ein Fallschirm, an dem die fünf Tonnen schwere Atombombe rasch abwärts glitt. Um 8.15 Uhr, als die Bombe 580 Meter von der Erde entfernt war, schaltete der Zündmechanismus. Über Hiroshima blitzte eine zweite Sonne auf: eine Todessonne. Diejenigen, die Hiroshima überlebt haben, sprechen von einem tödlichen Licht, grell, stark, sich ständig verändernd. In Sekunden wurden ungefähr 80.000 Menschen vernichtet, von denen Überreste auffindbar waren. Weitere 14.000 Menschen verschwanden spurlos. Über 100.000 Menschen starben in den folgenden Tagen, Wochen und Jahren.

Ein Mitglied der Besatzung der »Enola Gay« schreibt in seinen Erinnerungen: „Erst blitzte grell die Detonation, dann ein blendendes Licht, in dem die anrollende Explosionswelle zu sehen war, dann eine pilzförmige Wolke. Es sah aus, als ob über der Stadt ein Meer siedenden Teers brodelte.“ (vgl. Greune & Mannhardt 1982, S. 17f.). Die erste auf eine Stadt abgeworfene Atombombe war um ein Vielfaches vernichtender, als ihre Väter es vorausgesagt hatten. Eine Viertelstunde nach der Explosion ging von der »Enola Gay« ein Funkspruch zur Insel Tinian ab: „Alles planmäßig und in jeder Hinsicht geglückt. Empfehle sofort Vorbereitung der nächsten Aktion. Nach Bombenabwurf an Bord alles normal. Kehren zum Stützpunkt zurück.“ Kurze Zeit später ging die Nachricht von der Vernichtung Hiroshimas an den Panzerkreuzer »Augusta« weiter, auf dem der US-Präsident Truman von der Potsdamer Konferenz heimreiste. In seinen Erinnerungen schildert Truman diesen Moment so: „Am 6. August (…) kam die Nachricht, die die Welt erschütterte. Ich saß (…) beim Lunch, da brachte mir Hauptmann Frank Graham folgende Nachricht: 'An den Präsidenten vom Kriegsminister. Große Bombe abgeworfen (…) Erste Meldungen besagen: voller Erfolg, sogar noch größer als bei früherem Test`.“ Truman ließ Sekt bringen, hob sein Glas und sagte: „Gentlemen, wir haben soeben auf Japan eine Bombe abgeworfen, die die Sprengkraft von 20|000 Tonnen TNT hatte. Sie heißt Atombombe.“ Drei Tage später, am 9. August 1945, sollte sich in Nagasaki alles noch einmal wiederholen.

Medizinische Akut- und Spätfolgen der Atombombenopfer

Die medizinischen Akut- und Spätfolgen beschreibt Ohkita (1985). Die von den Atomwaffen hervorgerufenen akuten Verletzungen werden in thermische, mechanische und Strahlenverletzungen unterteilt. Am häufigsten waren allerdings Kombinationsverletzungen. Viele Menschen starben praktisch sofort an den Auswirkungen der Druckwelle und der Hitze, aber häufig erlagen die Menschen auch ihren Verletzungen, bevor sich die Strahlenkrankheit entwickeln konnte. Fast alle Menschen, die innerhalb von 10 Wochen starben, ließen Strahlenschäden erkennen.

Thermische Verletzungen (Verbrennungen): Auf dem Erdboden wurden bei den Atombombenexplosionen in Japan nach Schätzungen 3000-4000 Grad Celsius erreicht. Diese Hitze dauerte zwar nur ungefähr eine Sekunde an, dennoch betrug die Temperatur in jeweils über 1 km Entfernung der beiden Städte noch mehr als 573 Grad Celsius. So erlitten auch Menschen, die mehrere Kilometer vom Zentrum entfernt waren, tödliche Verbrennungen.

Strahlenwirkungen: Obwohl die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki zum ersten Mal dazu Gelegenheit gaben, die Auswirkungen einer massiven Bestrahlung bei Menschen zu beobachten, ist nur wenig über schwere Strahlenverletzungen bekannt, die sofort zum Tode führten, da diese Fälle nicht obduziert wurden. Zusätzlich verhinderte die große Zahl der Todesfälle und der Verletzungen in den ersten Tagen nach den Explosionen eine genaue statistische Auswertung der Strahlenwirkungen. Als ein verläßliches Zeichen einer Strahlenverletzung wird Haarausfall angesehen. Das Haar fiel beim Kämmen in dichten Büscheln aus.

Bis heute konnte die genaue Anzahl der Opfer, die durch die Bomben getötet wurden, nicht ganz geklärt werden. Die Anzahl der Personen unter den Überlebenden, die durch Verbrennung, mechanische Traumen, Strahlen oder durch eine Kombination dieser Schädigungen verletzt wurden, sind ebenfalls geschätzt worden. In Hiroshima geht man von 60.000 Menschen mit Verbrennungen, 78.000 mit mechanischen Verletzungen und 35.000 mit Strahlenschäden aus. In Nagasaki belaufen sich die Zahlen auf 41.000 Verbrennungen, 45.000 mechanische Verletzungen und 22.000 Strahlenschädigungen. Alle diese Verletzungen können kombiniert vorgelegen haben.

Psychologische und soziale Folgen für die Atombombenopfer

Um eine Vorstellung von der gesamten Situation nach dem Atombombenangriff zu erhalten, muß man nicht nur die ungeheure Zahl von getöteten Menschen berücksichtigen, sondern auch die Familien, die zerrissen wurden, Alte und Kranke, Frauen und Kinder, die oft hilflos zurückblieben. Einige tausend Kinder wurden zu Waisen, die durchschnittliche Zahl der Todesfälle je Familie wird mit 2/3 angenommen (Greune & Mannhardt 1982, S.65).

Die Atombombe zerstörte nicht nur Familien, sondern auch andere Formen der Gesellschaft, sie riß benachbarte Menschen auseinander und führte zum Untergang traditioneller Nachbarschaftshilfe. Jene, die mit dem nackten Leben davongekommen waren, hatten nicht nur ihre Angehörigen verloren, sondern darüber hinaus auch Nachbarn und Freunde; das Zusammenleben in seiner Gesamtheit war gestört. Sie hatten in vielen Fällen schwer verletzte Menschen zurücklassen müssen, als sie in panischer Angst flohen, sie schüttelten Freunde ab und konnten Nachbarn im Feuersturm nicht helfen. Tiefe Schuldgefühle erfaßte die Überlebenden, die oft über Monate und Jahre in apathischer Resignation verharrten.

Die besondere Lage, in der sich die Atomüberlebenden befanden und heute noch befinden, hat dazu geführt, daß eine besondere Bezeichnung für sie entstanden ist: Man nennt sie »Hibakusha« (die direkte japanische Übersetzung lautet »explosionsgeschädigte Personen«). In Japan lebten 1981 rund 400.000 Hibakusha, von denen knapp 60% krank und körperbehindert sind. Jährlich werden den Totenlisten von Hiroshima und Nagasaki mehr als 2500 Opfer hinzugefügt, gestorben an den Folgen der Atombombenabwürfe. Zur besonderen Behandlung der Hibakusha sind spezielle Atombomben-Hospitäler eingerichtet worden.

Es war vor allem der amerikanische Psychiater Robert Lifton, der sich der Tragödie der Hibakushas annahm und Untersuchungen über die psychischen Auswirkungen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki vorlegte. Lifton berichtet in seinem 1966 erschienenen Buch „Death in Life: Survivors of Hiroshima“ von einem Effekt der psychischen Taubheit (»psychic numbing«). Viele Menschen konnten sich nicht mehr an ihre Wahrnehmung erinnern: Was sie wahrnahmen, hielten sie für einen Blitz oder ein plötzliches Gefühl der Hitze, gefolgt von Bewußtlosigkeit.

Ein Lehrer mittleren Alters, der sich etwa 5000 Meter vom Zentrum entfernt befand, beschreibt seine Gefühle angesichts der Zerstörung. Es wird deutlich, wie Schuldgefühle gegenüber den Toten die psychischen Abwehrmechanismen durchdringen und sich schmerzhaft bemerkbar machen: „Ich ging in die Stadt, um meine Familie zu suchen. Irgendwie wurde ich mitleidlos, weil ich sonst nicht durch die Stadt hätte gehen und über die vielen Leichen steigen können. Am beeindruckendsten war der Ausdruck in den Augen der Menschen – ihre Körper waren schwarzverfärbt – ihre Augen blickten suchend umher, nach jemandem, der kommen und ihnen helfen würde.(…) Ich suchte nach meiner Familie und schaute jeden an, den ich traf, um zu sehen, ob sie oder er ein Familienmitglied war. Doch die Augen – die Leere – der hilflose Ausdruck – dies alles werde ich nie vergessen können (…) Ich nahm die Enttäuschung in ihren Augen wahr. Sie schauten mich erwartungsvoll an und blickten durch mich hindurch. Ich konnte es kaum ertragen von ihren Augen angestarrt zu werden (…).“ Der Lehrer nahm durch die Augen der anonymen Toten und Sterbenden eine Anklage seiner Unterlassung und seiner Schuld wahr, daß er ihnen nicht half, daß er sie sterben ließ, daß er »egoistischerweise« am Leben blieb.

Die Überlebenden litten nicht nur daran, daß die Menschen, die sie umgaben, starben, sondern auch an deren Todesart: eine brutale Art schnellen körperlichen Verfalls, die mit den normalen und »würdigen« Formen des Todes nichts mehr zu tun hatte – eine Tatsache, die im übrigen auch für jüdische KZ-Opfer von großer Bedeutung war. Darüber hinaus sind die Überlebenden von Hiroshima über die allgemeine Besorgnis und die Kontroverse über die negativen genetischen Auswirkungen der Atombombenexplosion informiert, die meisten von ihnen befürchten in der Tat negative Folgen für die nachfolgenden Generationen. Dies wiegt umso schwerer gerade in der ostasiatischen Kultur, die die Ahnenreihe und die Kontinuität der Generationen als den Hauptzweck des menschlichen Lebens und – zumindest symbolisch – als Weg zur Unsterblichkeit betont.

Aus dem bisher Gesagten dürfte klar geworden sein, daß die Atombombe das Dasein der Überlebenden sowohl in ihren eigenen Augen als auch in der Wahrnehmung anderer Menschen völlig verändert hat. Durch die unmittelbare Erfahrung und durch die späteren Erlebnisse wurden die Überlebenden Mitglied einer neuen psychosozialen Gruppe. Auf die Frage an die Überlebenden, was sie mit dem Wort »hibakusha« assoziierten, und was sie dabei fühlten, drückten sie in Liftons Untersuchungen ohne Ausnahme das Gefühl aus, daß sie zur Übernahme dieser neuen Existenzform gezwungen seien und diese trotz aller Bemühungen nicht mehr ablegen könnten.

Die Überlebenden scheinen nicht nur das Ereignis erlebt zu haben, sondern es auch einschließlich seiner Schrecken, seiner Folgen und besonders seines tödlichen Charakters in ihre Existenz aufgenommen zu haben. Sie fühlen sich gezwungen, sich mit den Toten zu vereinigen. Die Identität der Hibakusha wird symbolisch zu einer Identität der Toten, die sich durch die besonders starke japanische Fähigkeit zur Identifizierung und durch die besondere Form der Schuldgefühle für das Überleben noch verstärkt. Dieses vorherrschende Gefühl wird außerdem noch durch die Wahrnehmung der Überlebenden geprägt, als Versuchskaninchen benutzt worden zu sein, da sie die Opfer des ersten »Experiments« mit Atomwaffen geworden sind. Sie leiden unter der Wahrnehmung, daß sie die schlimmste der von Menschen erzeugten Katastrophen erlebt haben, und darunter, daß zur gleichen Zeit ihre persönlichen Erfahrungen durch die fortschreitende weitere Entwicklung und Erprobung schrecklichster Waffen sinnlos erscheinen.

Was für die Opfer (nicht) getan wurde…

Unmittelbar nach den beiden Atombombenangriffen kapitulierte die japanische Regierung. Nun sprach die offizielle Propaganda von „Opfern für den Frieden“ und unterdrückte zugleich alle Nachrichten über die Lage der Hibakusha. Nach der Kapitulation Japans im September 1945 machten sich sogleich die ersten amerikanischen Untersuchungskommissionen auf den Weg nach Hiroshima. Die Siegermacht USA wollte möglichst schnell die Auswirkungen der neuen Bombe in den beiden betroffenen Städten kennenlernen. Was die Fachleute dem Oberkommando zu berichten hatten, veranlaßte die amerikanischen Militärs unverzüglich zum Handeln. Über Hiroshima und Nagasaki wurde eine Nachrichtensperre verhängt. Nicht einmal Gedichte und Zeichnungen, die in den ersten Jahren nach der Explosion entstanden, passierten den amerikanischen Zensor, geschweige denn solche Erfahrungen, wie sie die »Kinder von Hiroshima« später aufgeschrieben haben. Erst als die USA und Japan 1951 den Friedensvertrag von San Francisco unterzeichnet hatten, wurde die Nachrichtensperre aufgehoben.

So makaber es klingt, aber die Leiden der Opfer, ihre Krankheiten und Schmerzen stellten für die amerikanische Atomwissenschaft ein unerschöpfliches Reservoir für Forschungen dar. Um die Untersuchungen möglichst systematisch zu betreiben, richteten die Amerikaner 1949 in Hiroshima eine Kommission für Atombombenopfer ein (»Atomic Bomb Casualty Commission«, kurz ABCC), ein Institut, das die wichtigsten Daten über die in Hiroshima in Verbindung mit der Atombombe auftretenden Krankheiten gesammelt hat. Seit Anfang der fünfziger Jahre sind japanische Ärzte und Wissenschaftler ebenfalls daran beteiligt; die gewonnenen Forschungsergebnisse werden zweisprachig veröffentlicht.

Weitgehend unerforscht bis auf den heutigen Tag sind allerdings die möglichen Folgen der Bestrahlung für die menschliche Erbmasse. Beschädigungen der Chromosomen können noch in der zweiten oder dritten Generation zu Mißbildungen führen. Mit dieser Angst müssen die 367.000 anerkannten Atombombenopfer in Japan leben, diese Angst bestimmt ihr Leben. Zu den möglichen Veränderungen der Erbmasse heißt es bei Hoffmann (1980): „Die Genetiker sind sich darüber einig, daß eine Verdoppelung der genetischen Effekte ernsthafte Folgen für die Bevölkerung eines Landes haben wird. Bereits eine addierte Strahlenzufuhr von 30 bis 80 Röntgen über die 30 Jahre einer Generation könnte diesen verheerenden Effekt hervorrufen. Hierzu ist nur eine vergleichsweise beschränkte Anzahl an Atomexplosionen in einem Nuklearkrieg nötig. Schon 750 Sprengungen von je 20 MT (Megatonnen) reichen aus, um die gesamte Menschheit genetisch zu entstellen.“

Die ABCC hatte nicht die primäre Funktion, den Überlebenden zu helfen. Auch von Seiten der japanischen Regierung aus waren die gesetzlichen Maßnahmen zur Unterstützung der Hibakusha völlig ungenügend. Die meisten von ihnen sind in einen Teufelskreis aus Armut und Krankheit geraten, aus dem sie sich selbst nicht befreien können. Infolge ihres schlechten Gesundheitszustandes sind sie nur begrenzt arbeitsfähig. Im Jahre 1952 trat zwar in Japan ein Gesetz über Entschädigungen von Kriegsschäden in Kraft, schloß Hibakusha jedoch mit der Begründung aus, es handele sich hierbei um Zivilisten, die nicht unter den Verordnungen dieses Gesetzes erfaßt würden. So gründeten im gleichen Jahr die beiden Schriftsteller Toge und Tamashiro in Hiroshima eine Organisation, die 1953 zu der Entstehung eines „Hiroshima City Council“ führte.

Mit Hilfe einer landesweiten Spendenaktion und Geldern der Regierung in Tokio konnte drei Jahre später endlich ein Hospital für die Überlebenden des nuklearen Holocaust eingerichtet werden. Viele tausend Patienten erhielten seitdem von Spezialisten von Strahlenkrankheiten und anderen Fachärzten eine medizinische Behandlung. Noch mehr warteten allerdings vergeblich auf einen Platz im Atombombenkrankenhaus; die einen weil das Hospital ausgelastet war, die anderen, weil sie die Kosten für die Behandlung nicht aufbringen konnten. Im Jahre 1982 waren 150 Atombombenkranke im Hospital untergebracht. Das Durchschnittsalter der Dauerpatienten betrug 71 Jahre, der jüngste Patient war 36 Jahre alt – er wurde bereits im Mutterleib bestrahlt (Vinke 1986, S. 97).

Ein Gesetz über die Behandlung der Atombombenopfer wurde erst im Jahre 1957 beschlossen. Zwölf Jahre vergingen also, bis erste Versorgungsregelungen für die Hibakusha durchgesetzt werden konnten. Bis 1968 mußten die Überlebenden warten, um eine unentgeltliche ärztliche Betreuung zu bekommen. Trotz allem ist auch heute noch die materielle Situation der Hibakusha mehr als unbefriedigend. Alljährlich sterben viele, denen es bis heute nicht gelang, eine bescheidene Rente zu erhalten.

Um so erstaunlicher ist es, daß zahlreiche Atombombenüberlebende den Mut und die Kraft fanden, auf zahlreichen internationalen Konferenzen, u.a. schon 1955 auf der ersten Weltkonferenz gegen Atom- und Wasserstoffbomben, Zeugnis von ihren Leiden abzulegen. Das Engagement der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki ist bis heute beispielhaft für die weltweite Mobilisierung gegen die Atomrüstung. Im Jahre 1978 reisten z.B. 500 von ihnen zur ersten Sondertagung der Vereinten Nationen zur Abrüstung nach New York und übergaben 32 Millionen Unterschriften zur Ächtung der Atombombe. Sofern es ihre Gesundheit erlaubt, bereisen sie andere Länder, um von ihrem Schicksal zu berichten und die Öffentlichkeit für atomare Abrüstung zu mobilisieren.

Über die Hiroshimapiloten Paul Tibbets und Claude Eatherly

Das vorangehende und mit „Hiroshima“ betitelte Gedicht trifft zumindest auf Oberst Tibbets zu, der sich als der Atombombenpilot, der die Bombe letztendlich »ausklicken« ließ, mehrere Male zu seinem Einsatz am 6. August 1945 geäußert hat. Zeichen von Reue, Scham oder Mitgefühl ließ Tibbets dabei nicht erkennen. Dafür ließ er sich mit Überlebenden fotographieren, als Beleg einer makaberen »Versöhnung«. Die folgenden Gesprächsauszüge sind der Zeitschrift „Metall“ vom 26. August 1981 entnommen (Vinke 1986, S. 110ff.):

“Frage: Wie denken Sie heute über die Bombardierung von Hiroshima und über Ihren Auftrag – bedauern Sie es?

Tibbets: Ich bedaure überhaupt nichts. Zum Zeitpunkt des Bombenabwurfs war ich von seiner Notwendigkeit überzeugt, und daran hat sich bis heute nichts geändert. (…)

Frage: Hätten Sie nicht 'nein` sagen können?

Tibbets: Das hat man mich schon oft gefragt. Aber nun frage ich Sie: Was wäre wohl geschehen, wenn jemand in der deutschen Wehrmacht zu Hitler 'nein` gesagt hätte? Ich bin als Soldat aufgewachsen, bin dazu erzogen worden, Befehle von kompetenter Autorität zu befolgen. Und damals bekam ich meine Instruktionen von allerhöchster Stelle. (…)

Frage: Seit Jahren wird am 6. August auf der ganzen Welt der Hiroshimaopfer gedacht. Haben Sie ein schlechtes Gewissen an diesem Tag?

Tibbets: Nein. Damit halte ich mich nicht auf. Darüber denke ich nicht nach. All das ist Vergangenheit. Hiroshima ist Geschichte. Es war eine Lektion, gewisse Dinge konnte man daraus lernen. Aber es gibt zu viele neue und interessante Dinge in meinem Leben. Jeden Tag muß ich eher darüber nachdenken als über so etwas wie Hiroshima. Ich lebe nicht in der Vergangenheit.“

Diese Worte sprechen für sich. Sie bedürfen eigentlich kaum noch einer Kommentierung – oder vielleicht doch? Wie ist das Ausbleiben jeglicher Humanität und Moral zu erklären? Oder ist sein Gehorsam nicht völlig »normal« gewesen? Diese Fragen wären einen eigenständigen Aufsatz wert<0> <>! Psychologisch sei an dieser Stelle nur an das zigfach replizierte Milgram-Experiment (1974) erinnert, bei dem weit über die Hälfte aller (männlichen<0> <>!) Versuchspersonen von der Möglichkeit Gebrauch machten, ihre (simulierten) Opfer mit einer tödlichen Stromstärke von 450 Volt zu bestrafen. Bei interkulturellen Vergleichsstudien war die Quote derjenigen, die bis zur vollen Bestrafung tendierten, in Deutschland übrigens am höchsten (Mantell 1971). Insofern macht die rhetorische Gegenfrage Tibbets bezüglich Nazi-Deutschland bei aller Absurdität sogar noch Sinn.

Auch Major Claude Eatherly saß im Flugzeug, das am 6. August 1945 die Bombe abwarf. Jungk schreibt zum Anblick eines Photos von Eatherly (Anders 1982, S. 196ff.): „Wer das Photo des jungen Claude Robert Eatherly betrachtet, des Kriegsfreiwilligen, der sich zur amerikanischen Luftwaffe meldete, sieht in das Gesicht des typischen amerikanischen »clean cut boy«. Es steht noch nicht viel darin geschrieben, aber das Wenige scheint alle Lesebuchtugenden wiederzugeben: Gradheit, Mut, Sauberkeit und Unschuld. Tausende und Tausende solcher Milchbärte sind damals zu den Waffen geeilt, um für »decency and democracy« gegen die Barberei des Nationalsozialismus zu kämpfen. Der Student Eatherly durfte, als er von der Lehrerbildungsanstalt in die Kaserne hinüberwechselte, noch daran glauben, daß Freiheit und Menschlichkeit sich mit Waffengewalt verteidigen ließen.“

Es wird erzählt, daß Major Eatherly nach dem erschütternden Erlebnis Hiroshima tagelang mit niemandem mehr gesprochen habe. Man nahm das jedoch auf dem Inselstützpunkt Tinian, wo der Flieger mit seiner Bombertruppe auf die Demobilisierung wartete, nicht besonders ernst. »Battle fatigue« – »Schlachtenmüdigkeit« hieß dieser Zustand. Von ihm wurde mancher befallen, und Eatherly selbst hatte schon einmal im Jahre 1943, nach 13 Monate langem, ununterbrochenem Partouilliendienst im südlichen Stillen Ozean an solcher nervlichen Erschlaffung gelitten. Damals hatte er sich schon nach vierzehntägiger Behandlung in einer New Yorker Klinik wieder erholt, und auch diesmal schien er ziemlich bald wieder zu dem Geisteszustand zurückzukehren, den man unter den Veteranen des Pazifiks als »normales Benehmen« in Ruhezeiten betrachtete: stundenlanges Pokern, unterbrochen von Flüchen, Witzen und Reminiszenzen.

Bald nach der Abmusterung, nach Hause zurückgekehrt, versuchte Eatherly – wie alle um ihn herum – zu vergessen, Geld zu verdienen, sich seinem Privatleben zu widmen. Er arbeitete als Angestellter eines Petroleumkonzerns in Houston, wo er es bis zum Verkaufsdirektor brachte. Tagsüber ging er ins Büro, abends besuchte er eine weiterbildende Schule, um Rechtswissenschaft (!) zu studieren. Seit 1943 war Eatherly verheiratet mit einer jungen Schauspielerin, die er während seiner Ausbildungszeit in Kalifornien kennengelernt hatte. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatten sich die beiden stets nur ein paar Tage, höchstens ein paar Wochen lang sehen können. Nun führten sie endlich ein etwas normaleres Leben mit Haus, Garten, Kindern und bescheidener sozialer Aufstiegschance.

Doch das war nur die eine Seite seines Lebens; in den Nächten quälten den Kampfflieger zunehmend Ängste und die Schatten von Gesichtern. Noch konnten ein paar Drinks die Depressionen und ein paar Pillen die Schlaflosigkeit verscheuchen. Doch schon bald genügten so einfache Beruhigungsmittel nicht mehr. Eatherly meinte in seinen Träumen die verzerrten Gesichter der im Höllenfeuer von Hiroshima Verbrennenden zu sehen. Im Gegensatz zu Paul Tibbet litt Claude Eatherly unter der Schuld, als Mitglied der Flugzeugbesatzung mitverantwortlich einen Befehl ausgeführt zu haben, der zur Auslöschung einer Stadt und eines Großteils ihrer Bewohner führte. Sein Schuldbekenntnis mußte in einer Zeit, als man die Kriegsheimkehrer in Amerika als Helden feierte, verhindert werden. Eatherly begann an Depressionen zu leiden und versuchte 1950, sich das Leben zu nehmen, nachdem er von der Planung der Wasserstoffbombe erfahren hatte, die den Effekt der Hiroshima-Bombe noch um ein Vielfaches übertreffen sollte. Nach einem sechswöchigen Aufenthalt in einem Militärhospital, der keine Veränderung seines depressiven Zustands bewirkte, beschloß er, das nationale Leitbild des Kriegshelden an Hand seiner eigenen Person zu dementieren. Er beging geringfügige Delikte, schickte gefälschte Schecks an Anti-Atom-Organisationen in Hiroshima und unternahm einen bewaffneten Raubüberfall, bei dem er das erbeutete Geld unangetastet liegenließ. Klinikaufenthalte und Gerichtsverhandlungen wechselten sich ab, bis er 1959 auf Veranlassung seines Bruders für längere Zeit eingewiesen wurde. Jungk (1961, S. 13) kommentierte den »Fall Eatherly« wie folgt: „Immerhin hat Major Eatherly etwas erreicht, das er sich vornahm. Es ist ihm schließlich doch gelungen, die Öffentlichkeit auf seinen »Fall« aufmerksam zu machen. Allerdings reagierte sie zunächst auf die Nachrichten über den »verrückten Piloten von Hiroshima« ganz anders, als Eatherly gehofft hatte. Er wollte die Menschen aufrühren, aber er rührte sie nur.“

In diese Zeit fiel der berühmt gewordene 70 Briefe umfassende Schriftwechsel mit dem Philosophen Günther Anders, der sich zu einer wahren Brieffreundschaft entwickelte, die für beide Seiten sehr wertvoll wurde. Als Eatherly die Nervenklinik verlassen hatte, verstärkte sich seine Korrespondenz mit zahlreichen Persönlichkeiten und Gruppen, die ein Ende des Rüstungswettlaufs forderten. Sein Engagement wurde von den Behörden als psychischer Defekt interpretiert und führte abermals zu einer Einweisung ins Hospital, diesmal auf eine geschlossene Abteilung. In dieser Situation durfte Eatherly auch keine Briefe mehr nach draußen schicken. Im Herbst 1960 floh er aus dem Hospital, versteckte sich bei Freunden und beschloß, nach Mexico auszuwandern. Im Dezember 1960 wurde Eatherly jedoch von einer Polizeistreife aufgegriffen, nachdem kurz zuvor eine Großfahndung ausgelöst worden war, und erneut in das Militärhospital eingewiesen. Eatherly gelang 1962 noch einmal die Flucht aus dem Hospital. Obwohl die zuständigen Behörden Kenntnis von seinem Aufenthaltsort hatten, reagierten sie nicht mehr. Der Briefwechsel zwischen Eatherly und Anders wurde in siebzehn Sprachen übersetzt – er erschien in politisch so unterschiedlichen Ländern wie dem francistischen Spanien und der Sowjetunion.

Unter allen Teilnehmern an den beiden Atombombardements war Claude Eatherly wohl der einzige, der der Versuchung widerstand, sich als Held feiern zu lassen. Für Anders (1982, S. 359) war er „der erste, der das Kennzeichen unserer Epoche in die Sprache persönlichen Lebens übersetzt hat – der erste, dessen persönliches Leben ausschließlich von den Gegebenheiten und Ängsten des Atomzeitalters bestimmt worden ist –, der erste, der es abgelehnt hat, mit dem Verhalten konform zu gehen, das eine konformistische Gesellschaft fordert –, der sich selbst darauf beschränkt hat, zu warnen statt sich darauf zu verlegen, die Gefahr zu verharmlosen, zu übertreiben oder Nutzen aus ihr zu ziehen, wie man es von uns erwartet. (…) Der Fall Eatherly ist nicht überholt, er ist vielmehr Inbegriff und Verkörperung des Gewissens in einer Welt, deren Millionen damit eingelullt werden, daß man ihnen weismacht und sie auch selber glauben, die Folgen ihrer Handlungen seien nicht ihre Sache.“

Zur Gefahr eines Atomkrieges in den 90er Jahren

Auf längere Sicht muß man (…) erwarten, daß die Zahl der atomar bewaffneten Mächte – jetzt sind es die USA, die UdSSR, Frankreich, Großbritannien und China – zunimmt. Die Gefahr eines Atomkriegs und die Wahrscheinlichkeit ernsthafter Folgen für Klima und globale Ökologie würden sich dann enorm vergrößern.

Crutzen/Hahn 1985, S. 233

Am Ende dieses Artikels steht die Frage, was diese Gefahr eigentlich qualitativ für Konsequenzen nach sich zieht. Nach 1945 mußte die Welt begreifen lernen, daß tatsächlich eine neue Epoche angebrochen war. Der Physiker Albert Einstein, selbst an der Entwicklung der Bombe beteiligt, sprach bald darauf den bemerkenswerten Satz aus (vgl. Gottstein 1986, S. 51): „Im Zeitalter der Nuklearwaffen braucht die Menschheit ein substantiell neues Denken, wenn sie überleben will.“ Das neue Denken ließ jedoch auf sich warten. Seit Hiroshima und Nagasaki wurden weit mehr als 1000 Atomtestexplosionen durchgeführt, Hiroshima und Nagasaki sind millionenfach reproduzierbar und potenzierbar geworden. Wie bereits in der Einleitung angedeutet, war der Philosoph Günther Anders einer der ersten, der die Bedeutung von Hiroshima und Nagasaki in ihrer ganzen Dimension erkannte. Anders begriff dieses Ereignis als »Tag Null einer neuen Zeitrechnung«, als das Ereignis, von dem aus alles anders sein würde. Denn diese Taten bewiesen, daß die Menschheit die Fähigkeit besitzt, sich selbst – und noch mehr – auszulöschen. Dieses ungeheure Vorkommnis, dessen Dimensionen erst allmählich sichtbar wurden, stellten den Auftakt der globalen Bedrohung der Menschheit dar. Dieses neue Zeitalter wurde nicht nur von Anders als »Endzeit« bezeichnet. Denn selbst wenn es gelingen sollte, diese Erde eines Tages wieder atomwaffenfrei abzurüsten, kann das Wissen, was einmal erdacht wurde, nicht wieder aus dem Gedächtnis der Menschheit verbannt werden.

An Szenarien über die Bedeutung eines Atomkrieges heutzutage mangelt es nicht. Die direkten Auswirkungen auf uns Menschen, d.h. die physischen und psychischen Folgen, sind wiederum auf erschütternde Art und Weise bei Lifton (1985, S. 283ff.) beschrieben: „Versuchen Sie sich einmal 100 Millionen oder mehr Tote und ein riesiges mit tödlicher Radioaktivität verseuchtes Gebiet vorzustellen (…).“ Die Szenen würden an das erinnern, was wir aus Science-Fiction-Filmen kennen. Das Zielgebiet, karg und verlassen, würde einer Mondlandschaft gleichen, und die wenigen Überlebenden hätten die Fähigkeit verloren, sich gegenseitig zu helfen oder zu trösten. Es gäbe niemand, um die Verwundeten zu pflegen oder sie in Krankenhäuser zu bringen, es gäbe gar keine Krankenhäuser, kein Morphium und keine Antibiotika mehr. Auch könnte niemand die Überlebenden mit dem Vertrauen in die Kontinuität des Lebens erfüllen, die gerade Katastrophenopfer so dringend benötigen. Sie würden erkennen, daß alle Menschen und alle Dinge, die ihnen jemals etwas bedeutet haben, zerstört worden sind. Und niemand der Überlebenden würde in der Lage sein, dem grundlegendsten aller menschlichen Rituale zu folgen, nämlich die eigenen Toten zu bestatten. Lifton schließt (1985, S. 288): „Die so oft gestellte Frage, ob die Überlebenden die Toten beneideten, hätte eine einfache Antwort: Nein, die Überlebenden wären solcher Gefühle gar nicht mehr fähig. Sie würden die Toten nicht so sehr beneiden als ihnen, innerlich und äußerlich, sehr ähnlich.“

Sozialwissenschaftliche Forschungsbefunde (vgl. Boehnke et al. 1988, Sohr 1993) belegen, daß Ängste vor einem Atomkrieg in den 80er Jahren auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges insbesondere bei Kindern und Jugendlichen sehr verbreitet waren und daß diese Bedrohungsgefühle auch in den 90er Jahren nicht aus den Köpfen völlig verschwunden sind. So hält fast jeder zweite der befragten Jugendlichen einen Atomkrieg „in der Zukunft“ für „ziemlich wahrscheinlich“. Umso erstaunlicher ist es, wie wenig Widerstand sich in den letzten Jahren gegen diese negativen Zukunftsaussichten regte, insbesondere auch gegenüber den auf Jahrtausende bestehenden Gefahren, die von Atomkraftwerken ausgehen. Anders (1987, S. 13f.) vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, daß wir Heutigen „im Zeitalter der Unfähigkeit zur Angst“ leben. Angesichts der Größe der uns umgebenden Gefahren gelänge es uns nicht, adäquat zu reagieren, wir seien geradezu »Analphabeten der Angst« und »apokalypseblind«. Aus diesem Grund postuliert Anders, unsere Mitmenschen „zur Angst zu erziehen“.

Als psychologisch bedeutsam scheint sich zu erweisen, was Lifton als »psychische Abstumpfung« bezeichnete (vgl. oben). Obwohl das Phänomen dem psychologischen Mechanismus der Verdrängung und im Verhalten der Apathie ähnelt, stellt diese Abstumpfung dennoch eine spezielle Reaktionsform auf eine überwältigende äußere Bedrohung dar. Die psychische Abstumpfung, die durch die Katastrophe von Hiroshima erzeugt wurde, beschränkt sich nicht nur auf die Opfer selbst, sie erstreckt sich auch auf die Menschen, die sich mit dem Ereignis beschäftigen. Unsere Unfähigkeit, uns den Tod vorzustellen, der ausgefeilte Mechanismus der Verdrängung und das tiefe innere Bedürfnis des Menschen, für sich den Anschein der Unsterblichkeit zu erwecken, sind allgegenwärtige Hindernisse beim Nachdenken über den Tod.

Dieser Artikel wurde mit der Intention geschrieben, an der Überwindung dieser Abwehrmechanismen zu arbeiten. Falls wir der Gefahr, in der wir heute schweben, überhaupt begegnen können, dann wohl nur, wenn wir bereit sind, uns die Folgen eines atomaren (und ökologischen) Infernos auch nur ansatzweise vorzustellen. Von dieser Fähigkeit, die Voraussetzung jeglichen Widerstandes ist, hängt möglicherweise das Überleben der Menschheit ab. Wenn wir dagegen weiterhin der Verdrängung Vorschub leisten, waren alle Worte umsonst, wie Jungk mahnt (1982, S. 195): „Millionen Worte sind seit 1945 von westlichen Fachleuten über die »Effekte der Kernwaffen« geschrieben worden. Dennoch klafft in dieser umfangreichen Literatur eine ganz wesentliche Lücke. Wohl haben Sachverständige Tausende von Trümmern, Zehntausende von Überlebenden der großen Katastrophe genauestens untersucht, aber sie schlossen etwas sehr Wichtiges von ihren so gründlichen Studien aus: sich selbst.“

Literatur

Anders, G. (1982), Hiroshima ist überall. München: Beck.

Anders, G. (1987), Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: Beck.

Boehnke, K., Meador, M., Macpherson, M.J., Petri, H. (1988), Leben unter atomarer Bedrohung – Zur Bedeutung existentieller Ängste im Jugendalter. Gruppendynamik 19 (4), 429-452.

Crutzen, P.J. & Hahn , J. (1985), Schwarzer Himmel. Auswirkungen eines Atomkrieges auf Klima und globale Umwelt. Frankfurt: Fischer.

Gottstein, U. (1986), 40 Jahre nach Hiroshima: Teststop – unser aller Chance. In T. Bastian, Wir warnen vor dem Atomkrieg. Dokumentation zum 5. Medizinischen Kongreß zur Verhinderung des Atomkriegs in Mainz. Neckarsulm: Jungjohann.

Greune, G. & Mannhardt, K. (1982), Hiroshima und Nagasaki. Köln: Pahl-Rugenstein.

Hoffmann, H. (1980), Atomkrieg – Atomfrieden. München.

IPPNW (1985), Last Aid. Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges. Neckarsulm: Jungjohann.

Jungk, R. (1961), Off limits für das Gewissen. Der Briefwechsel zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders. Reinbek: Rowohlt.

Komitee zur Dokumentation der Schäden der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki (1988), Leben nach der Atombombe. Hiroshima und Nagasaki 1945-1985. Frankfurt/Main: Campus.

Lifton, R.J. (1966), Death in Life: Survivors of Hiroshima. New York: Basic Books.

Lifton, R.J. (1985), Psychologische Auswirkungen der Atombombenabwürfe. In IPPNW, Last Aid, Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges (S. 48-68). Neckarsulm: Jungjohann.

Lifton, R.J. & Erikson, K. (1985), Überlebende eines Atomkrieges: Psychologischer und sozialer Zusammenbruch. In IPPNW, Last Aid, Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges (S. 283-288). Neckarsulm: Jungjohann.

Mantell, D.M. (1971), Das Potential zur Gewalt in Deutschland. Eine Replikation und Erweiterung des Milgramschen Experiments. In: Der Nervenarzt 5, S. 252-57.

Milgram, S. (1974), Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbek: Rowohlt.

Ohkita, T. (1985), Medizinische Auswirkungen in Hiroshima und Nagasaki. In IPPNW, Last Aid, Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges (S.69-107). Neckarsulm: Jungjohann.

Sohr, S. (1993), „So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen“. Seelische Gesundheit junger Menschen im Zeichen globaler Katastrophen. FU Berlin: unv. Diplomarbeit.

Vinke, H. (1986), Als die erste Atombombe fiel. Kinder aus Hiroshima berichten. Ravensburg: Otto Maier.

Sven Sohr ist Diplom-Psychologe und arbeitet zur Zeit an einer von buntstift/Regenbogen e.V. geförderten Dissertation über ökopolitisches Engagement von Kindern und Jugendlichen. Dienstanschrift: TU Chemnitz-Zwickau, Sozialisationsforschung und Empirische Sozialforschung, 09107 Chemnitz (Fax: 0371-5613925).

Kriegsverbrechen Vergewaltigung

Kriegsverbrechen Vergewaltigung

Beispiel: Bosnien-Herzegowina

von Helga Wullweber

Im Krieg in Bosnien-Herzegowina sind von allen Konfliktparteien Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen an Frauen, Männern und Kindern, begangen worden. Die Frauen des Kriegsgegners wurden von allen kriegführenden Parteien vergewaltigt. Am umfangreichsten aber und systematisch wurden bosnische Frauen, das sind muslimische, kroatische und infolge Eheschließung mit Muslimen »unreine« serbische Frauen, von den Truppen der bosnischen Serben vergewaltigt. Die Vergewaltigungen bezweckten die psychische Zerstörung der bosnischen Frauen und Männer und ihrer Familien. Sie dienten der ethnischen Säuberung in von den Serben beanspruchten Gebiete, waren Kriegstaktik, um Terrain zu erobern. Das unterscheidet die von den Serben in den von ihnen besetzten Gebieten begangenen Vergewaltigungen von anderen Kriegsvergewaltigungen.

Obgleich viele Lager, in denen Frauen vergewaltigt wurden, bekannt waren, blieben das UN-Flüchtlingskommissariat und das Internationale Rote Kreuz lange Zeit untätig. Bei der Anhörung des Bundestagsausschusses für Frauen und Jugend zu den systematischen Vergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina beklagte Roman Wieruszewski, persönlicher Referent des jetzigen UN-Menschenrechtsbeauftragten für Jugoslawien Tadeus Mazowiecki, die Hilflosigkeit der UN und die Gleichgültigkeit Europas: „Wir haben keine Mittel, mit dieser Situation fertig zu werden.“ Selbst Lager, zu denen die Vertreter internationaler Organisationen Zutritt haben, könnten nicht aufgelöst werden, weil es nicht genug Angebote aus den europäischen Staaten gibt, die Kriegsopfer unterzubringen (FR v. 9.12.92). Erst die internationale Einmischung von Frauen hat ein Ende der Untätigkeit bewirkt.

Aus der Feststellung, daß die Serben besonders grausam und zielgerichtet mordeten, folterten und vergewaltigten, folgt nicht, daß damit die Serben als für den Bürgerkrieg verantwortlich dingfest gemacht wären. Die Verurteilung der Kriegführung ist von der Beurteilung der Kriegsursachen zu unterscheiden. Das Anprangern der Kriegsverbrechen, das Beharren auf der Einhaltung der für die Zivilbevölkerung existentiellen Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts darf nicht den Blick auf das vielschichtige Konfliktfeld trüben, das dem Bürgerkrieg zugrunde liegt. Handlungsräume, die sich durch das öffentliche Anprangern der Kriegsvergewaltigungen als Kriegsverbrechen eröffnen, könnten durch die Ineinssetzung von Kriegsführung und Kriegsursachen verschüttet werden.

Vergewaltigung – Vergessenes Kriegsverbrechen

Von Frauen, Bürgerinnen und Politikerinnen wurde, um die internationale Staatengemeinschaft aufzurütteln und zum Eingreifen zu veranlassen, gefordert, die Kriegsvergewaltigung völkerrechtlich als Kriegsverbrechen zu ächten. Das ist aber längst geschehen. Seit 1949 ist es geltendes Völkerrecht, daß Vergewaltigungen im Krieg Kriegsverbrechen sind. Es ist bemerkenswert und bezeichnend, daß die Ächtung von Vergewaltigungen im Krieg als Kriegsverbrechen öffentlich nicht bekannt war, obgleich mit dieser Ächtung nach 1945 die Konsequenz aus den den Frauen im Zweiten Weltkrieg angetanen Vergewaltigungen gezogen wurde. Die von den Deutschen und den Japanern begangenen Kriegsvergewaltigungen waren als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des den, den Kriegsverbrecherprozessen zugrundeliegenden Londoner Abkommens vom 8. August 1945 in den alliierten Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg und in Tokio angeklagt und Grundlage der Verurteilungen. Doch handelten die Kriegsverbrecherprozesse von solchen unsäglichen millionenfachen Greueltaten, daß sich viele sperrten, die Einzelheiten zur Kenntnis zu nehmen. Auch wurden die Kriegsverbrecherprozesse in Deutschland von vielen, erleichtert mit dem Leben davon gekommen zu sein, mit schuldbewußter Apathie als bloße Siegerjustiz wahrgenommen. So wie die tausendfachen Vergewaltigungen, die die deutschen Soldaten den Frauen ihrer Kriegsgegner antaten, und die massenhaften Vergewaltigungen deutscher Frauen insbesondere durch die russischen Soldaten nach Kriegsende öffentlich kein Thema waren, sondern verschwiegen wurden – erst Helke Sander durchbrach 1992 mit ihrem Film »BeFreier und Befreite« das Schweigen –, so war in Vergessenheit geraten, daß die Vereinten Nationen, die in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das humanitäre Völkerrecht mit Elan fortentwickelten, an das den Frauen angetane besondere Leid gedacht und mit der Ächtung von Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen reagierten und künftig zu verhindern hofften. Zwar wurden die amerikanischen GI`s, die nach dem Vietnamkrieg wegen des Massakers in My Lai vor amerikanischen Militärgerichten angeklagt waren, auch wegen ihrer Beteiligung an unzähligen Vergewaltigungen verurteilt. Jedoch beförderte die nur vereinzelte Verfolgung von im Vietnamkrieg durch amerikanische GI's begangenen Kriegsverbrechen durch nationale amerikanische Militärgerichte nicht die Erkenntnis,daß die angeklagten Vergewaltigungen und Massaker als Kriegsverbrechen international geächtet sind. Während des 1971/72 neun Monate währenden Bürgerkrieges in Bangladesch, das seine Unabhängigkeit von Pakistan erklärt hatte, verloren Millionen Menschen ihr Leben und wurden Hunderttausende, überwiegend moslemische Frauen von den Pakistanis vergewaltigt. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde von Frauen weltweit gegen die Vergewaltigungen im Krieg protestiert und Hilfen für die vergewaltigten und schwangeren Frauen organisiert. Aber Bangladesh zählte zum sozialistischen Lager, auch war der Vietnamkrieg noch nicht zuende – die Anprangerung der Vergewaltigungen als international geächtete Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen hatte keine FürsprecherInnen. Erst 1992 wagte eine Gruppe koreanischer Frauen von der japanischen Regierung Wiedergutmachung zu fordern für 100.000 Frauen, die während des Krieges zwischen Korea und Japan 1930-1940 auf die Pazifischen Inseln in eine lange sexuelle Sklaverei verschleppt wurden. Die Mehrheit der Frauen war zu dem Zeitpunkt zwischen 16 und 18 Jahren alt, sie wurden von ihren Familien gerissen, zu denen sie niemals zurückkehren konnten (zit. nach Lepa Mladjenovic, Universal Soldier, in Scheherezade, Newsletter No.4, Januar 1993). Die Koreanerinnen fordern damit mit Jahrzehnten Verspätung von Japan die Wiedergutmachung ein, zu der jede Kriegspartei verpflichtet ist, deren Soldaten Kriegsverbrechen begangen haben.

Da die Kriegsvergewaltigungen Kriegsverbrechen sind, befaßt sich die vom Weltsicherheitsrat eingesetzte Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien auch mit den Vergewaltigungen. Außerdem hat die diesjährige UN-Generalversammlung dem Völkerrechtsausschuß der Vereinten Nationen (erneut) das Mandat erteilt, die Statuten eines internationalen Strafgerichtshofes auszuarbeiten, damit gegen die Kriegsverbrecher Anklage erhoben werden kann. Keine Delegation wagte gegen den Resolutionsentwurf offen aufzutreten, obgleich es genügend Gewaltherrscher gibt, die damit rechnen müßten, selbst vor einem internationalen Tribunal zu enden (FR v. 15.12.92).

Der völkerrechtlich garantierte humanitäre Standard

Die Ächtung der den Frauen in Bosnien-Herzegowina angetanen Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen resultiert aus nachfolgenden, von allen bosnischen Konfliktparteien in einer Vereinbarung vom 22.5.1992 anerkannten Regeln des humanitären Völkerrechts.

„In der Erwägung, daß bei allem Bemühen, Mittel zu suchen, um den Frieden zu sichern und bewaffnete Streitigkeiten zwischen den Völkern zu verhüten, es doch von Wichtigkeit ist, auch den Fall ins Auge zu fassen, wo ein Ruf zu den Waffen durch Ereignisse herbeigeführt wird, die ihre Fürsorge nicht hat abwenden können, von dem Wunsche beseelt, selbst in diesem äußersten Falle den Interessen der Menschlichkeit und den sich immer steigernden Forderungen der Zivilisation zu dienen“, war im IV. Haager Abkommen vom 18.10.1907, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, die „meuchlerische Tötung oder Verwundung von Angehörigen des feindlichen Volkes oder Heeres“ verboten (Art.23 Abs.1 b der Anlage zum Abkommen) und der „militärischen Gewalt auf besetztem feindlichen Gebiet“ aufgegeben worden, „die Ehre und die Rechte der Familie, das Leben der Bürger und das Privateigentum sowie die religiösen Überzeugungen zu achten“ (Art.46 der Anlage zum Abkommen). Ein papierenes Versprechen, das in beiden Weltkriegen unbeachtet blieb.

Trotzdem wurde nach dem Zweiten Weltkrieg das völkerrechtliche Kriegsrecht mit den vier »Genfer-Rotkreuzabkommen« vom 12.8.1949 durch humanitäre Regelungen zum Schutz der Verwundeten, Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung im Falle eines bewaffneten Konflikts aktualisiert, bestimmter gefaßt und die Geltung auch auf Bürgerkriege erstreckt. Die Abkommen betreffen zwar in erster Linie bewaffnete internationale Konflikte. Jedoch wird durch den in allen vier Abkommen gleichlautenden Art.3 der Zivilbevölkerung auch im Falle von nicht-internationalen, d.h. Bürgerkriegen, der Kernbestand des humanitären Völkerrechts garantiert. Art.3 verlangt von den Konfliktparteien u.a., daß sie „die nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmenden Personen menschlich behandeln, ohne jede auf Rasse, Farbe, Religion oder Glauben, Geschlecht, Geburt oder Vermögen oder auf irgendeinem anderen ähnlichen Unterscheidungsmerkmal beruhende Benachteiligung“. Dies bedeutet insbesondere das Verbot von grausamer Behandlung, Folterung, Beeinträchtigung der persönlichen Würde und namentlich von erniedrigender und entwürdigender Behandlung. Im 4. Genfer-Rotkreuzabkommen zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten heißt es im Unterschied zum IV. Haager Abkommen zum Schutz der Frauen explizit: „Die Frauen werden besonders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich vor Vergewaltigungen, Nötigung zur gewerbsmäßigen Unzucht und jeder unzüchtigen Handlung geschützt.“ (Art.27 4. Rotkreuzabkommen)

Mittels zweier Zusatzprotokolle vom 10.6.1977 wurde sodann das humanitäre Völkerrecht an die veränderte Kriegstechnik und an die veränderten Formen der Kriegführung im Guerillakrieg angepaßt und der humanitäre Mindeststandard, wie er in dem Art.3 der vier Genfer-Rotkreuzabkommen normiert ist, sowohl für internationale als auch für nicht-internationale Konflikte (d.h. für „interne Feindseligkeiten kollektiven Charakters, an denen organisierte und unter verantwortlichem Kommando stehende bewaffnete Einheiten beteiligt sind, die einen Teil des Staatsgebietes kontrollieren und fortlaufend militärische Operationen durchführen“, Art.1 Ziff.2 des 2. Zusatzprotokolls) fortentwickelt.

Für den Krieg im ehemaligen Jugoslawien sind beide Zusatzprotokolle von Belang, denn dieser Krieg ist beides: Krieg zwischen Staaten, soweit die jugoslawische Bundesarmee unter serbischem Oberkommando in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina kämpft, und Bürgerkrieg, soweit Milizen in Kroatien oder in Bosnien-Herzegowina ansässige Serben gegen bosnische oder kroatische Kampftruppen kämpfen.

In beiden Zusatzprotokollen wird zum Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte »grundlegend« garantiert, daß folgende Handlungen jederzeit überall verboten sind und bleiben, gleichviel ob sie durch zivile Bedienstete oder durch Militärpersonen begangen werden, gleichviel ob den geschützten Personen die Freiheit entzogen ist oder nicht: Folter jeder Art, gleichviel ob körperlich oder seelisch, Beeinträchtigungen der persönlichen Würde, insbesondere entwürdigende und erniedrigende Behandlung, Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und unzüchtige Handlungen jeder Art (Art.75, 76 des 1. Zusatzprotokolls, Art.4 des 2. Zusatzprotokolls).

Die den bosnischen Frauen angetanen Vergewaltigungen sind zugleich Foltermaßnahmen, denn unter Folter ist „jede Handlung zu verstehen, durch die jemand vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen zugefügt werden, sofern dies u.a. in der Absicht, von ihm oder einem Dritten eine Auskunft oder ein Geständnis zu erzwingen, ihn für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihm oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, ihn oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder in irgendeiner auf Diskriminierung beruhenden Absicht geschieht und sofern solche Schmerzen oder Leiden von einem öffentlich Bediensteten oder von einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person bzw. auf deren Veranlassung mit deren Zustimmung oder mit deren stillschweigendem Einverständnis verursacht werden“ (Art.1 der „Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ vom 10.12.1984). Wenn auch diese „Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ noch nicht in Kraft getreten ist, weil noch nicht zwanzig Staaten die Konvention, die Folter auch außerhalb kriegerischer Konflikte verbietet, ratifizierten, so gibt doch diese Definition nur den allgemeingültigen Begriff von Folter wieder und bestätigt die internationale Gültigkeit des Folterbegriffs. Die Vergewaltigungen, die die serbischen Truppen und Milizen im ehemaligen Jugoslawien begingen, sind Foltermaßnahmen im Sinne dieser Definition. Frauen wurden sowohl vergewaltigt, um sie einzuschüchtern und zu diskriminieren, als auch um von ihnen Auskunft über bosnisch-muslimisch-kroatische Gefechtsstellungen zu erhalten.

Ächtung von Menschen als Kriegsverbrechen

Insbesondere die systematischen, gezielt als Kriegstaktik eingesetzten Vergewaltigungen sind Kriegsverbrechen. Kriegsverbrechen sind die schweren Verstöße gegen die Genfer Rotkreuz- und Zusatzabkommen. Als schwere Verletzung der Rotkreuzabkommen und der Zusatzabkommen gelten u.a.: die vorsätzliche Tötung, die Folterung oder unmenschliche Behandlung, die vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schwerer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit, die rechtswidrige Verschleppung oder Verschickung und die rechtswidrige Gefangenhaltung von Zivilpersonen (Art.147 des 4. Rotkreuzabkommens, Art.85 Ziff.3 und 5 und Art. 11 Ziff.4 des 1. Zusatzabkommens). Schwere Verstöße und folglich Kriegsverbrechen sind auch die durch Art.75 des 1. Zusatzprotokolls und Art.4 des 2. Zusatzprotokolls „jederzeit und überall verbotenen“ Vergewaltigungen und die Nötigung zur Prostitution.

Die systematischen Vergewaltigungen der bosnischen Frauen durch die serbischen Truppen sind strafbare Kriegsverbrechen auch aufgrund der »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords« vom 9.12.1948. In dieser Konvention wird „Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen“, als „Verbrechen gegen das internationale Recht“ qualifiziert, zu dessen Verhütung und Bestrafung sich die Vertragsstaaten verpflichten. Als Völkermord werden u.a. definiert die Tötung von Mitgliedern der Gruppe oder die Verursachung von schweren körperlichen oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe, wenn diese Handlungen in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Die zum Zwecke der ethnischen Säuberung begangenen massenhaften Vergewaltigungen zielten auf die psychische Vernichtung und Demoralisierung der bosnischen Frauen und Männer und Kinder. Die Vergewaltigungen wurden also begangen, um sie als Gruppe zu zerstören.

Strafbarkeit von Kriegsverbrechen

Ein völkerrechtliches Strafrecht, d.h. einen Verbrechenskodex, der Sanktionen für Straftaten normiert, gibt es allerdings noch nicht. Zur Bestrafung der Kriegsverbrecher des 2. Weltkrieges hatten die Siegermächte zwar das Londoner Abkommen vom 8. August 1945 geschlossen, das die wichtigsten Tatbestände des völkerrechtlichen Strafrechts aufzeichnete: 1. Verbrechen gegen den Frieden, 2. Kriegsverbrechen, 3. Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Kriegsverbrechen im engeren Sinn sind alle schweren Verletzungen des Kriegsrechts, z.B. Mißhandlungen oder Deportation von Zivilpersonen in besetzten Gebieten, Mord oder Mißhandlung von Kriegsgefangenen, mutwillige Zerstörungen nichtmilitärischer Anlagen, Plünderung usw.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind schwere Verletzungen der Menschenrechte aus Motiven, die mit der Zugehörigkeit des Opfers zu einem bestimmten Staat, einer Volksgruppe, einer Rasse, Religion oder politischen Überzeugung zusammenhängen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen bestätigte in einer Resolution vom 11.12.1946 die »Nürnberger Prinzipien« und erteilte der Völkerrechtskommission den Auftrag, diese Prinzipien zu formulieren. Der Entwurf für einen Verbrechenskodex, den die Völkerrechtkommission 1954 vorlegte, fand jedoch nicht die Billigung der Generalversammlung.

Inzwischen wird die Notwendigkeit eines internationalen Verbrechenskodex in Frage gestellt und die Nürnberger Prinzipien als ausreichende völkergewohnheitsrechtliche Grundlage für die Aburteilung von Kriegsverbrechen angesehen, zumal in den Rotkreuzabkommen und in der Völkermordkonvention Verbrechenstatbestände normiert wurden, die die Nürnberger Prinzipien bekräftigten.

Auch die »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords« vom 9.12.1948, die zu verabschieden der UNO gelungen war, enthält keine eigene Strafnorm, sondern verpflichtet lediglich die Signatarstaaten, Handlungen, die als Völkermord definiert sind, unter Strafe zu stellen (Art.VI der Konvention). Die Bundesrepublik ist 1954 ihrer Verpflichtung aus der Konvention durch die Einfügung des § 220a in das Strafgesetzbuch nachgekommen.

So wie in der »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes« werden in allen vier Genfer Rotkreuzabkommen die „Maßnahmen gegen Verletzungen des Abkommens“ gleichlautend geregelt. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, „alle notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Festsetzung von angemessenen Strafbestimmungen für solche Personen zu treffen, die eine schwere Verletzung des Abkommens begehen oder zu solch einer Verletzung den Befehl erteilen“ (so z.B.: Art.146 Abs.1 des 4.<|>Rotkreuzabkommens). Dabei ist zu berücksichtigen, daß Art. 87 des 1.<|>Zusatzprotokolls die militärischen Kommandanten dafür verantwortlich macht, daß die ihrem Befehl unterstellten Soldaten oder sonstige Personen keine Verletzungen der Abkommen begehen.

Von der Option der Genfer Abkommen, Kriegsverbrechen unabhängig vom Tatort und der Nationalität des Täters nach nationalem Strafrecht zu ahnden, indem die dafür notwendigen Strafnormen in das nationale Recht aufgenommen werden, hat die Staatengemeinschaft nur vereinzelt und lückenhaft Gebrauch gemacht. Die Bundesrepublik ist auch dieser Verpflichtung nachgekommen. Gemäß § 6 Ziff.9 Strafgesetzbuch, der 1974 nach der Aufnahme der Bundesrepublik in die UNO in das Strafgesetzbuch eingefügt wurde, gilt das deutsche Strafrecht ohne Rücksicht auf den Tatort und unabhängig vom Recht des Tatortes und der Staatsangehörigkeit des Täters und des Opfers (Weltrechtsprinzip) für Taten, die aufgrund eines für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen zwischenstaatlichen Abkommens auch dann zu verfolgen sind, wenn sie im Ausland begangen werden. Durch diese Generalklausel wird der Bundesrepublik im Interesse internationaler Solidarität bei der Verbrechensbekämpfung eine umfassende Verfolgungszuständigkeit eröffnet. Die vier Genfer Rotkreuzabkommen und die beiden Zusatzabkommen sind zwischenstaatliche Abkommen im Sinne von § 6 Ziff.9 Strafgesetzbuch.

Verpflichtung zur Ermittlung, Verfolgung und Ahndung der Kriegsverbrechen durch nationale Gerichte

Die Völkermordkonvention sieht vor, daß Personen, denen Völkermord zur Last gelegt wird, entweder vor ein zuständiges Gericht des Staates, in dessen Gebiet die Handlung begangen worden ist, oder vor das internationale Strafgericht gestellt werden (Art.VI der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes).

Die vier Genfer Rotkreuzabkommen dagegen verpflichten gleichlautend jede Vertragspartei „zur Ermittlung der Personen, die der Begehung oder der Erteilung eines Befehls zur Begehung einer schweren Verletzung beschuldigt sind; sie stellt sie ungeachtet ihrer Nationalität vor ihre eigenen Gerichte; wenn sie es vorzieht, kann sie sie auch gemäß den in ihrem eigenen Recht vorgesehenen Bedingungen, einer anderen an der gerichtlichen Verfolgung interessierten Vertragspartei zur Aburteilung übergeben, sofern diese gegen die erwähnten Personen ein ausreichendes Belastungsmaterial vorbringt.“ (Art.146 des 4. Rotkreuzabkommens)

Das heißt: Jeder Vertragsstaat, auch die Bundesrepublik, ist zur Verfolgung der Personen verpflichtet, die wegen schwerer Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen als Kriegsverbrecher beschuldigt werden.

Das Problem, das sich bei dieser Möglichkeit, vor den nationalen Strafgerichten der Vertragsstaaten die Kriegsverbrechen nach den Rotkreuzabkommen anzuklagen, stellt, ist, ob der einzelne Staat über die erforderliche moralische und politische Reputation verfügt, um die Kriegsverbrechen anzuklagen und zu ahnden. Ein Staat, der stellvertretend für die Völkergemeinschaft Kriegsverbrechen verfolgt, sollte nicht wegen eigener Verstöße gegen elementare Menschenrechte angreifbar oder durch seine Geschichte desavouiert sein.

Voraussetzung dafür, daß die des Kriegsverbrechens beschuldigte Person vor ein nationales (deutsches, französisches, schwedisches etc.) Strafgericht gestellt werden kann, ist zwar, daß sie sich in der Gewalt des betreffenden Staates befindet, entweder weil die beschuldigte Person auf dessen Hoheitsgebiet gestellt oder weil sie ihm ausgeliefert wurde. Jedoch haben sich die Vertragsstaaten bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen zur Zusammenarbeit und zur Rechtshilfe und zur Auslieferung beschuldigter Personen an einen Vertragsstaat, der willens ist, diese vor sein nationales Strafgericht zustellen, verpflichtet (Art.88, 89 des 1. Zusatzprotokolls).

Verfolgung und Ahndung durch ein internationales Strafgericht

Einen Internationalen Strafgerichtshof gibt es noch nicht. Obwohl dem Londoner Abkommen 19 Staaten beitraten, waren doch die aufgrund dieses Abkommens gebildeten »Internationalen Militärtribunale« interalliierte und nicht internationale Gerichte. 1949 hatte das Sekretariat der Vereinten Nationen den Entwurf für ein Statut für einen Internationalen Strafgerichtshof entworfen, mit dem sich 1951 und 1953 ein Sonderausschuß der Vereinten Nationen befaßte. Die Völkerrechtskommission aber, die den Auftrag erhalten hatte, die Nürnberger Prinzipien zu kodifizieren, erklärte, daß die Zeit für die Errichtung eines solchen Gerichtshofes noch nicht reif sei. Es müßte erst einmal ein Verbrechenskodex erarbeitet werden. Dieser Plan wurde 1978 aufgegriffen und beschäftigt seitdem die Generalversammlung und die Völkerrechtskommission – bis heute ohne Ergebnis. 1992 ist nun erneut der Auftrag erteilt worden, die Statuten eines Internationalen Strafgerichtshofes auszuarbeiten.

Wenn auch der Auftrag zur Erarbeitung eines Statuts für ein internationales Strafgericht ohne Gegenstimmen erteilt wurde, so ist die baldige Verabschiedung des Statuts keineswegs gesichert. Nach Auskunft des deutschen Vertreters in der International Law Commission, der Völkerrechtskommission der UNO, Prof. Tomuschat, liegt der Entwurf für das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs bereits vor. Jedoch wird wegen des großen Kreises der erforderlichen Signatarstaaten und der Vorbehalte vieler Staaten gegen einen internationalen Strafgerichtshof, weil sie Anklagen gegen sich befürchten, mit einer schnellen Verabschiedung nicht gerechnet. Weil die Meinung in der Weltöffentlichkeit zu solchen Gerichtsverfahren gespalten ist, bezweifelt auch der Vorsitzende der UN-Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, der niederländische Jurist Frits Kalshoven, daß die dort begangenen Morde und Vergewaltigungen jemals vor ein internationales Gericht kommen können (FR v. 28.1.93). Ähnlich skeptisch, so wird (a.a.O.) berichtet, äußerte sich der Sonderbeauftragte der UN-Menschenrechtskommission für das ehemalige Jugoslawien, Tadeusz Mazowiecki, zu dem Vorschlag, Kriegsverbrechertribunale einzurichten. Er sei zwar vom moralischen Nutzen eines Tribunals überzeugt. Es werde jedoch äußerst schwierig sein, den Gedanken einer gerichtlichen Ahndung auch wirklich umzusetzen: „Es ist sicher wünschenswert, daß die Täter bestraft und Gerechtigkeit geübt wird, aber wir leben im 20. und noch nicht im 21. Jahrhundert.“ Zwar hat inzwischen die amerikanische Regierung versprochen, sich für die Schaffung eines internationalen Strafgerichts der Vereinten Nationen einzusetzen. Jedoch ist damit keineswegs sichergestellt, daß die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Statut für das internationale Strafgericht billigt und den Beschluß über dessen Errichtung mehrheitlich verabschiedet.

Den Vorbehalten vieler Staaten gegen ein internationales Strafgericht wird nur durch den Druck der internationalen Öffentlichkeit abzuhelfen sein, die darüber aufklärt, welche Staaten solche Gerichtsverfahren ablehnen. Ein Forum für die nachdrückliche Forderung nach einem internationalen Strafgericht sollte auch die Menschenrechtskonferenz der UNO im Juli 1993 in Wien sein.

Der kodifizierte Menschenrechtsstandard ist inzwischen beträchtlich. Jedoch mangelt es an Handhaben zu dessen Verwirklichung und Durchsetzung. Der Internationale Strafgerichtshof wird deshalb gebraucht. Er ist erforderlich, um Völkermord zu ahnden. Er ist außerdem als international anerkannte Instanz von fragloser Reputation erforderlich, der für die Ahndung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zuständig ist.

Wo KlägerInnen sind, werden auch RichterInnen sein

Es besteht noch keine Veranlassung, sich mit einem europäischen Tribunal in der Art des Russell-Tribunals zu bescheiden.

Einen Ausweg versucht zur Zeit die aus 52 Staaten bestehende KSZE-Staatengemeinschaft zu gehen. Sie hat aus Anlaß der Ereignisse in Bosnien eine Kommission eingesetzt, um einen »ad-hoc-Strafgerichtshof« zur Verfolgung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien einzurichten. Vor diesem Strafgerichtshof, auf den die KSZE-Staaten ihre Befugnisse aus den Rotkreuzabkommen delegieren, könnten die Kriegsverbrechen darstellenden Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen angeklagt werden.

Mehrere regionale und internationale Kommissionen, u.a. eine vom Sicherheitsrat eingesetzte Expertenkommission in Genf, leisten bereits Ermittlungsarbeit und sichern – auch für nationale Gerichte – Beweise für Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien. Die Sorge, daß es die Ermittler schwer haben werden, da Ex-Jugoslawien im Gegensatz zu Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht von internationalen Streitkräften besetzt ist, erscheint unbegründet.

Es besteht die Möglichkeit, Druck zur Errichtung eines »ad hoc-Strafgerichtshof« zur Verfolgung und Ahndung der Kriegsverbrechen dadurch auszuüben, daß in der Bundesrepublik Anzeige wegen der im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien begangenen Kriegsverbrechen und Kriegsvergewaltigungen erstattet und die Staatsanwaltschaft zur Einleitung von Ermittlungsverfahren gezwungen wird. Als Beweismaterialien können z.B. der Untersuchungsbericht von Amnesty International oder Berichte anderer Kommissionen, die Menschenrechtsverletzungen ermittelt haben, vorgelegt werden. Die Berliner Kriminalpolizei ermittelt bereits gegen neun serbische Tschetniks, die von Opfern während einer Sat.1-Sendung »Einspruch« im Publikum erkannt wurden (TAZ vom 25.1.93). In dem am 12.2.1993 von Mazowiecki in seiner Eigenschaft als Sonderberichterstatter für die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen veröffentlichten Bericht über die Lage im ehemaligen Jugoslawien wird festgestellt, daß sich die aus den Konfliktgebieten in Kroatien und Bosnien-Herzegowina gemeldeten Kriegsverbrechen als wahr herausgestellt haben.

Außerdem kontrollieren nach Ansicht von Mazowiecki die Führer aller Konfliktparteien wirksam ihre zivilen und militärischen Strukturen. Sie könnten daher nicht ihre Hände in Unschuld waschen, was die von ihren Streitkräften begangenen Greueltaten betrifft, sondern seien mitverantwortlich für die Vergewaltigungen und die anderen Kriegsverbrechen (FR vom 13.2.93). Richtet sich der Anfangsverdacht noch nicht gegen eine bestimmte Person, so würde das Ermittlungsverfahren zunächst gegen Unbekannt geführt werden.

Zwar kann die Staatsanwaltschaft gemäß § 153 c Abs.1 Ziff.1 Strafprozeßordnung aus Gründen der politischen Opportunität von der Verfolgung von Taten, die im Ausland begangen worden sind, absehen. Die Genfer Rotkreuzabkommen zählen jedoch zu den wenigen völkerrechtlichen Verträgen, in denen das sogenannte »Weltrechtsprinzip« statuiert ist, das die Vertragsstaaten ohne Rücksicht auf den Ort des Verbrechens und auf das Recht am Tatort, unabhängig auch von der Nationalität des Opfers und des Täters berechtigt und verpflichtet, Personen, denen Verstöße gegen ein solches Abkommen vorgeworfen werden, zu verfolgen. Es ist daher davon auszugehen, daß der § 153 c Abs.1 Ziff.1 Strafprozeßordnung nicht gilt, weil die Rotkreuzabkommen völkerrechtliche Vereinbarungen im Sinne von Ziff.94 Abs.2 der »Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren« sind, die die Verpflichtung begründen, Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen wie Inlandstaten zu behandeln und gemäß dem in § 152 Abs.2 Strafprozeßordnung verankerten Legalitätsprinzip dann zu verfolgen, wenn „zureichende Anhaltspunkte vorliegen“. Auch dann aber, wenn aus Gründen der politischen Opportunität von der Strafverfolgung abgesehen werden könnte, dürfte die Staatsanwaltschaft nicht untätig bleiben, sondern müßte prüfen, ob sie z.B. aus politischen Gründen von einer Verfolgung der Verstöße gegen die Rotkreuzabkommen absieht. Bliebe die Staatsanwaltschaft dennoch untätig, so würden deren BeamtInnen eine strafbare Strafvereitelung (§§ 258, 258 a Strafgesetzbuch) durch Unterlassen von Amtshandlungen begehen, zu deren Vornahme sie wegen des Legalitätsprinzips (§§ 152, 163 Strafprozeßordnung) verpflichtet sind. Innen- oder außenpolitische Gründe, die eine Verneinung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien durch die Bundesrepublik begründen könnten, sind nicht ersichtlich. Es dürfte deshalb schwer fallen, eine Ablehnung der Strafverfolgung zu rechtfertigen.

Da andererseits die Bundesrepublik aus historischen Gründen nicht daran interessiert sein kann, die Kriegsverbrecherprozesse durchzuführen, dürfte sie durch solche Ermittlungsverfahren veranlaßt werden, sich intensiv um die Errichtung eines »ad-hoc-Strafgerichts« der KSZE-Staatengemeinschaft zu bemühen. Ebenso könnte in anderen Vertragsstaaten, die wie die Bundesrepublik die rechtlichen Voraussetzungen für die Verfolgung der Kriegsverbrechen nach den Rotkreuzabkommen geschaffen haben, Anzeige erstattet und die Staatsanwaltschaften zur Einleitung von Ermittlungsverfahren veranlaßt werden. Es müßte hierdurch zumindest erreicht werden können, daß die KSZE-Staatengemeinschaft sich darüber verständigt, in welchem Staat die Kriegsverbrecherprozesse stattfinden sollten, um sodann diesen Staat, z.B. Schweden, mit der Durchführung der Prozesse zu beauftragen und die Verfahren gemäß Art.146 des 4. Rotkreuzabkommens an diesen abzugeben. Das beauftragte Strafgericht wäre zwar nach wie vor ein nationales, jedoch international mandatiertes Strafgericht.

<>Beendigung des Schweigens über die Kriegsvergewaltigungen

So manche, die sich über die Forderung mokieren, die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien vor einem internationalen Strafgericht anzuklagen und zu ahnden, und eine militärische Intervention fordern, um den verbrecherisch kämpfenden Serben das Handwerk zu legen, sind ignorant gegenüber den Erfahrungen, die gerade die Zeitgeschichte bietet, und gegenüber der Konfliktlage. Z.B. handelt die Geschichte des Niedergangs der DDR nicht zuletzt vom Nutzen, den es hat, die Dinge beim Namen zu nennen, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und nicht durch Schweigen zu tolerieren. Die Teilnahme der DDR an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), in deren Schlußakte sich die Teilnehmerstaaten zur Achtung der Menschenrechte ihrer BürgerInnen verpflichteten, hatte den oppositionellen BürgerInnen der DDR Sprachräume und, aus diesen resultierend, Handlungsräume eröffnet. Mit der KSZE-Schlußakte unter dem Arm klagten DDRlerInnen Menschenrechte ein, waren sie imstande, sich für Frieden und Menschenrechte einzusetzen und nicht mehr um des Friedens willen über Menschenrechtsverletzungen zu schweigen. Die DDR hat deshalb immer versucht, die innenpolitische Bedeutung der KSZE-Schlußakte herunterzuspielen. Zugleich markierte die KSZE-Schlußakte einen Einbruch in das von den sozialistischen Staaten propagierte Verständnis des in Art.2 Ziff.7 der Charta der Vereinten Nationen normierten Interventionsverbotes als Sprechverbot. Gemäß Art.7 Ziff.2 UN-Charta sind die Vereinten Nationen nicht befugt, in Angelegenheiten einzugreifen, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören. Die sozialistischen Staaten haben dieses Einmischungsverbot stets so interpretiert, daß schon Diskussionen über Menschenrechtsverletzungen eine unzulässige Einmischung darstellen.

Wenn auch diese Interpretation von den westlichen Staaten abgelehnt wurde, so folgte aus dem Dissens doch, daß über zahllose Menschenrechtsverletzungen nur verhalten öffentlich gesprochen wurde und schon gar nicht die Rede davon war, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die internationale Anprangerung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, die nicht länger ohnmachtsgläubige Hinnahme der Kriegsverbrechen und die Forderungen nach Sanktionen für die Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen, für die Ausführenden wie auch vor allem für die Befehlsgeber und Anführer, sind von neuer Qualität.

Das Anprangern und das Verantwortlichmachen wird von den Verantwortlichen als störende Einmischung in das Kriegsgeschehen erlebt. Sie fürchten die Wirkung, die von der Benennung der Schandtaten als Kriegsverbrechen und der Androhung ausgeht, daß die Täter und ihre Anführer, die sich bei ihrem verbrecherischen Tun im Kollektiv sicher wähnten, namhaft gemacht und individuell zur Rechenschaft gezogen werden. In Serbien darf über die Kriegsverbrechen nicht gesprochen werden. Auch Karadzic weiß aber, daß das Schweigen über die Kriegsverbrechen bei den Verhandlungen in Genf mit den Führern der Bürgerkriegsparteien über Waffenstillstände und Grenzverläufe, nicht die Tolerierung der Kriegsverbrechen bedeutet, für die er mitverantwortlich ist.

Die öffentliche Brandmarkung der schrecklichen Kriegsvergewaltigungen als Kriegsverbrechen hat Wirkungen gezeitigt. Seit die Verfolgung der Vergewaltiger und derjenigen, die die Vergewaltigungen anordneten oder zuließen, vehement gefordert wird, werden Hilfen finanziert und die Serben durch die Ermittlungsergebnisse der zur Untersuchung der Vorwürfe eingesetzten internationalen Kommissionen unter Druck gesetzt, die Unterkünfte, in denen Frauen vergewaltigt werden, aufzulösen. Vielleicht wenden die Serben inzwischen deshalb bei den von ihnen fortgesetzten Vertreibungen zum Zwecke der ethnischen Säuberung im Süden von Bosnien-Herzegowina »verfeinerte« Methoden an. Es gebe keine Berichte mehr über Gewalttaten, Todesfälle oder Verletzte, teilte der Sprecher des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) mit (Fr v. 3.2.1993). Die serbischen Militärs teilten mit, daß sie im Tal der Drina »humanitäre Korridore« für die moslemische Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete offenhalten, die es dieser ermöglicht über die Frontlinien in die von Moslems gehaltenen Gebiete Bosnien zu gelangen (a.a.O.).

Für die Opfer von Verbrechen kommt die Ahndung der Verbrechen zwar immer zu spät. Die genannten Auswirkungen bedeuten jedoch, daß die nachdrückliche Ankündigung, die Kriegsverbrecher vor einem internationalen Strafgericht zur Rechenschaft zu ziehen, durchaus von präventivem Nutzen und geeignet sein kann, die Frauen in den serbisch besetzten Gebieten Bosnien-Herzegowinas vor weiteren Vergewaltigungen zu bewahren.

Unterscheidung von verbrecherischer Kriegführung und Kriegsursachen

Die dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien zugrunde liegenden Probleme werden auf absehbare Zeit nicht gelöst werden können. Um zu verhindern, daß im ehemaligen Jugoslawien weiterhin Kinder, Frauen und Männer gefoltert und gemordet und vergewaltigt werden, ist deshalb die »Zivilisierung« der fortdauernden Auseinandersetzungen zum Schutz der Zivilbevölkerung unerläßlich.

Wer aus humanitären Gründen für eine militärische Intervention plädiert, verfehlt die Realität der verworrenen Konfliktlage im ehemaligen Jugoslawien und übersieht, daß die bisherige nicht-militärische Einmischung der Europäischen Gemeinschaft und der KSZE-Staatengemeinschaft der Illusion verhaftet war, die internationale Anerkennung der bestehenden innerjugoslawischen Grenzen als Staatsgrenzen könne Jugoslawien stabilisieren. Nach der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens war jedoch der status quo in Restjugoslawien nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Strikte Unparteilichkeit

Um die Sinnhaftigkeit und die Chancen von nicht-militärischer Einmischung, zu der das fact-finding zu Menschenrechtsverletzungen und die Vorbereitung von Prozessen gegen die für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen ebenso zählen wie weitere Verhandlungen, Embargos, aber auch die Inaussichtstellung von Wiederaufbaugeldern, einschätzen zu können, bedarf es der Vergegenwärtigung der dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien zugrunde liegenden Konfliktlage. Vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges in Jugoslawien wird die Bedeutung der fundamentalen Regel des humanitären Kriegsvölkerrechts, der strikten Unparteilichkeit, erhellt. Gleichlautend enthalten alle vier Genfer Rotkreuzabkommen die Berechtigung der Schutzmächte (das sind die von den am Konflikt beteiligten Parteien mit der Wahrnehmung ihrer Interessen betrauten Staaten und bzw. oder die UNO) und der Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes oder irgendeiner anderen unparteiischen humanitären Organisation, sich an alle Orte zu begeben, wo sich Kriegsgefangene oder hilfsbedürftige Zivilpersonen aufhalten, namentlich an alle Internierungs-, Gefangenhaltungs- und Arbeitsorte. Sie haben das Recht, Hilfssendungen zu verteilen und sich mit den Gefangenen und geschützten Personen ohne Zeugen zu unterhalten. Solche Besuche dürfen nur aus zwingenden militärischen Gründen und nur ausnahmsweise untersagt, Häufigkeit und Dauer der Besuche dürfen nicht begrenzt werden (z.B. Art.4, 8 bis 11 des 1. Rotkreuzabkommens; Art. 9 folgende, Art.142, 143 des 4.<|>Rotkreuzabkommens).

Der Berechtigung der Schutzmächte und humanitären Organisationen entspricht umgekehrt die Verpflichtung der am Konflikt beteiligten Parteien, die Schutz- und Hilfeleistungen zu ermöglichen. Diese (intensiver als bisher zu nutzenden) Möglichkeiten, helfend einzugreifen, etwa durch die Inspektion und Auflösung der Internierungslager oder zumindest deren Unterstellung unter internationale Kontrolle, werden durch militärische Interventionen aufs Spiel gesetzt, die das Konfliktknäuel, das in der Regel Bürgerkriegen zugrunde liegt, nur weiter verwirren.

Von den Vereinten Nationen ist unparteiisch darauf zu insistieren, daß alle Konfliktparteien den völkerrechtlichen Minderheitenschutz beachten und garantieren. Gemäß Art.27 des Internationalen Paktes der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte von 1966, durch den die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 rechtsverbindlich kodifiziert wurde, darf „in Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten… Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben und sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen.

Als Mittel zur Förderung der Identität wird in der Ziff.35 des KSZE-Konferenzdokuments die Einrichtung autonomer Verwaltungen erwähnt, die im Falle kompakter Siedlungsgebiete lokal autonom sind oder andernfalls über Personalautonomie verfügen, z.B. Selbstverwaltungsrechte für die Angehörigen der Minderheit haben. Dieser Minderheitenschutz muß von allen jugoslawischen Nachfolgerepubliken verlangt werden, um weiterer Verfeindung entgegenzuwirken.

Deeskalation

Dann besteht für die Verfolgung und Ahndung der Kriegsverbrechen auch die Chance, von den BürgerInnen im ehemaligen Jugoslawien unterstützt zu werden, indem sie sich von den, der Kriegsverbrechen beschuldigten Personen distanzieren und ihnen keinen Schutz zuteil werden lassen.

Zum Schutz der Frauen und Männer und Kinder in Bosnien-Herzegowina vor weiteren Vergewaltigungen, Folter und Mord kommt es darauf an, zu deeskalieren, indem von allen gleichermaßen der Schutz der Menschen- und Minderheitenrechte eingefordert wird; ferner indem Vertreibungen und Enteignungen nicht anerkannt, sondern Ansprüche auf Rückgabe oder Entschädigung vereinbart werden – um der Zukunftssicherung der Flüchtlinge willen und um der apokalytischen Stimmung, dem Nährboden für Nationalismus, entgegenzuwirken; und schließlich indem die Entpersönlichung der Soldaten und Milizionäre als Teil des militärischen Apparates nicht akzeptiert und Kriegsverbrechen nicht toleriert, sondern die einzelnen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Helga Wullweber, Rechtsanwältin in Hamburg, Vorstandsmitglied des Republikanischen RechtsanwältInnenvereins.

Weltmenschenrechtskonferenz

Mit der Resolution 45/155 beschloß die UN-Vollversammlung die Einberufung einer Weltkonferenz über Menschenrechte (WCHR), die vom 14.-25 Juni 1993 in Wien abgehalten werden soll. Diese Konferenz findet in einem entscheidenden historischen Moment statt: Das Ende des Kalten Krieges führte zu bedeutenden Veränderungen; die UN übernimmt eine aktivere Rolle bei internationalen Beziehungen. Die UN-Generalversammlung hat entschieden, daß 25 Jahre nach der ersten WCHR (Teheran 1968) das UN-Menschenrechtsprogramm überarbeitet werden muß, damit eine größere Wirkung und Effektivität bei der Förderung und dem Schutz der Menschenrechte erzielt werden kann. Die Konferenz wird über die Ausrichtung der Menschenrechtsprogramms für das nächste Jahrhundet beschließen.

Parallel zur WCHR findet in Wien ein Forum der NGOs (Nichtregierungsorganisationen) statt, an dem sich möglichst viele Menschenrechtsgruppen beteiligen sollten.

Weitere Informationen und Anmeldung beim Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte, Möllwaldplatz 4, A – 1040 Wien, Tel.: 43-1-5044677, Fax:43-1-50446789