Grenzen: Konfliktlöser oder Konfliktursache?

Grenzen: Konfliktlöser oder Konfliktursache?

Südsudan und Sudan

von Julia Kramer

Am 9. Juli 2011 wurde der aktuell jüngste Staat der Welt geboren: die Republik Südsudan. Voraus gingen zwei jahrzehntelange Bürgerkriege, ein »Umfassendes Friedensabkommen« 2005, Wahlen 2010 und das Unabhängigkeitsreferendum des Südsudan am 9. Januar 2011. Mit überwältigender Mehrheit von 98,83% entschieden sich die Südsudanes_innen für die Unabhängigkeit. Eine neue Grenze sollte einen Schlussstrich unter die blutige Geschichte setzen. Dieser Artikel untersucht, ob die Ziehung neuer Grenzen zwischen Sudan und Südsudan wirklich zur Lösung von Konflikten verhilft oder vielmehr diese nur verschiebt bzw. Anlass zu weiteren Konflikten ist.

Bei Abschluss des »Umfassenden Friedensabkommens«1 zwischen der Regierung in Khartum und der damaligen Rebellengruppe und jetzigen südsudanesischen Regierungspartei SPLM/A2 im Jahr 2005 war keineswegs klar, dass der Süden die Unabhängigkeit wählen würde. Zwar gab es innerhalb der SPLM/A spätestens seit 1991 mit dem zeitweilig abtrünnigen Dr. Riek Machar, einem Nuer, einen starken Vertreter für die Unabhängigkeit. Der Führer der SPLM/A, Dr. John Garang, der ethnischen Gruppe der Dinka angehörend, hingegen war ein Verfechter der Vision eines »neuen Sudan«, der Befreiung aller Marginalisierten im Süden wie im Norden. Er wurde mit Inkrafttreten des »Umfassenden Friedensabkommens« Vizepräsident des Sudan. Das Abkommen sah vor, dass beide Konfliktparteien die Einheit des Landes attraktiv machen sollten („Making Unity Attractive“), und nur im Fall, dass dies nicht gelänge, sollten die Südsudanes_innen sechs Jahre später die Unabhängigkeitsoption haben.

Neue Grenze: Historisches Korrektiv, Teilbefreiung oder machtpolitisches Kalkül?

Dass am 9.1.2011 die Unabhängigkeit gewählt wurde, liegt hauptsächlich in drei Faktoren begründet: Zum einen starb Dr. John Garang, der charismatische Visionär des »New Sudan«, wenige Monate nach Inkrafttreten des »Umfassenden Friedensabkommens« bei einem ungeklärten Hubschrauberabsturz. Trotz Ausschreitungen in Khartum hielt das Friedensabkommen, doch mit Garang, so sagen viele, starb auch die Einheit des Sudan, und in der SPLM/A wurde von nun an auf Unabhängigkeit Kurs gehalten. Dennoch spielt das Mausoleum von Dr. John Garang im »nation building« des neuen Staates Südsudan eine wichtige identitätsstiftende Rolle.

Der zweite und wahrscheinlich wichtigere Faktor ist die mangelnde Aufarbeitung historischer Entwicklungen und tief sitzender Traumata, die teils sogar weit vor den Bürgerkriegen gegen die Zentralregierung in Khartum begründet liegen.

Tausende von Jahren war das subsaharische »Hinterland« eine Quelle für Sklaven, zunächst für die ägyptischen Pharaonen, dann für den arabischen Markt. Die nilotischen Ethnien der Dinka, Nuer und anderer wurden immer weiter Richtung Süden verdrängt. Auch während der Kolonialzeit wurde der Südsudan vom britisch-ägyptischen Kondominium vernachlässigt: Der heutige Südsudan wurde geographisch zwischen vier Kirchen zur Mission aufgeteilt, mehr geschah kaum. Die etwa zwei Millionen Todesopfer und mehrere Millionen Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge während der beiden Bürgerkriege seit 1955 gingen ebenfalls hauptsächlich zu Lasten der Südsudanes_innen. Auch heute noch sind dort die akuten Auswirkungen des Krieges drastisch spürbar, z.B. anhand der fehlenden Infrastruktur oder der Verbreitung von Landminen.

Die sechs Jahre des Friedensabkommens wurde jedoch kaum genutzt, um die tiefen Wunden zu heilen; erst im Kontext des Referendums schienen viele Nordsudanes_innen »aufzuwachen« und die Diskrepanz zwischen ihrer oftmals paternalistisch-rassistischen Haltung und der Realität der Südsudanes_innen zu erkennen. Die »Jihad«-Propaganda während des Krieges und die mangelnde Interaktion zwischen Süd- und Nordsudanes_innen haben eine frühere Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen und Identitätsfragen sicherlich mit verhindert, zumal nicht wenige Angehörige arabischer Ethnien im Nordsudan zwar ihrerseits von Seiten hellhäutigerer Araber Rassismen erfahren, selbst aber noch oft das Wort »Sklave« in Bezug auf »afrikanische«, sprich dunkelhäutigere, Südsudanes_innen in den Mund nehmen.

Angesichts der unmittelbaren Kriegserfahrung, der historischen Diskrepanz und der anhaltenden Rassismuserfahrung ist das fehlende Vertrauen der Südsudanes_innen in eine gemeinsame Lösung unter einer nordsudanesisch geprägten Regierung nicht überraschend.

Hinzu kommt als dritter Faktor, dass sich der Nordsudan faktisch kaum am »Aufbau Süd« beteiligte und damit die Einheit wenig attraktiv machte. Ob es bereits ein Kalkül war, dass man nicht in einen Landesteil investieren wollte, der ohnehin unabhängig würde, bleibt dahingestellt. Aufbauarbeiten im Süden wurde jedenfalls hauptsächlich von internationalen Akteuren vorangebracht.

Die Südsudanes_innen konnten ihr Schicksal im Referendum selbst entscheiden, es gab aber sowohl von Seiten des Westens wie von Seiten der sudanesischen Regierung unter Omar Al Bashir ein eigenes Interesse an einer Unabhängigkeit des Südsudan. Bashir bekam vom Westen für den Fall einer friedlichen Ablösung des Südsudan in Aussicht gestellt, dass das Land seinen Status als »Schurkenstaat« verlieren würde. Außerdem dürfte angesichts der Einsicht, dass er den Süden wohl nicht halten könne, der arabisch-muslimischen Regierung ein vordergründig monolithischer Staat zur Machtkonsolidierung eher dienlich erschienen sein.

Interessen des Westens

Immer wieder3 wird die Rolle der US-Regierung und bestimmter Think-Tanks als Wegbereiter der Unabhängigkeit betont, die vordergründig den Konflikt im Sudan als einen hauptsächlich religiösen Konflikt zwischen Christen und Muslimen dargestellt hätten.

Der Westen hoffte mit einem unabhängigen Südsudan Zugriff auf das dort geförderte Öl zu erhalten, denn Bashir verkaufte das Öl vorwiegend an malaysische und chinesische Firmen. Südsudan, so die Hoffnung, würde dem Westen zugewandter sein und eine geostrategische Bastion sowohl im »Kampf gegen den Terror« als auch im Wettlauf um die afrikanischen Ressourcen zwischen China und den USA sein. So gab es bereits 2010 Gerüchte, dass die USA die bislang in Stuttgart beheimatete militärische Kommandozentrale AFRICOM ggf. nach Südsudan übersiedeln wollten. Auch Israel unterstützte die Neugründung des Südsudan und flog z.T. heimliche Angriffe auf Strukturen im Sudan, die der Unterstützung der Hamas verdächtigt wurden.4

Entsprechend der Eigeninteressen war und ist die Sudanpolitik westlicher Staaten wenig konsistent. Während Bashir aufgrund des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Genozids in Darfur geächtet ist und nicht als Gesprächspartner in Frage kommt, wird mit ihm als vermeintlichem »Stabilitätsfaktor« im »Kampf gegen den Terror« gleichwohl eng kooperiert oder im Falle von Deutschland wirtschaftlich angebandelt, zuletzt beim »Germany Sudan and South Sudan Business Day« im Januar 2013 im Auswärtigen Amt in Berlin.

Die durch die UN-Missionen auf eine beträchtliche Zahl angewachsene »international crowd« ist, je mehr sie verdient, i.d.R. umso weiter von der sudanesischen bzw. südsudanesischen Realität entfernt und wird somit auch von der jeweiligen Bevölkerung eher als Problem denn als Lösungsfaktor angesehen. Preissteigerungen z.B. im Immobilienbereich, ein Brain-drain hin zu internationalen Akteuren wie den Vereinten Nationen usw. verstärken diese Dynamik noch.

Die Hoffnung auf die uneingeschränkte West-Nähe Südsudans bekam einen Dämpfer, als der frisch gebackene Staat ebenfalls einen Öl-deal mit China abschloss. Weiterhin wird jedoch über den möglichen Bau einer Ölpipeline zur kenianischen Küste spekuliert. Diese »Lamu-Pipeline« würde ggf. mit Beteiligung der deutsch-österreichischen Firma ILF Consulting Engineers Ltd. gebaut und ist, da sie durch ein Naturschutzgebiet führen würde, u.a. wegen ihrer ökologischen Auswirkungen umstritten. Auch weitere Bodenschätze wie Uran und Kupfer könnten u.U. im Südsudan abgebaut werden. Wie ein Großteil Afrikas ist Südsudan ebenfalls massiv von »Landgrabbing« – nicht nur durch westliche Akteure – betroffen, wobei die Instabilität und die ungeklärten Landrechte auf verschiedenen Ebenen den »Grabbern« zugute kommen.

Grenzziehung und Ressourcen: Stolpersteine für den Frieden zwischen den Nachbarn

Ist durch die neue Grenze nun Frieden zwischen Süd und Nord? Bei weitem nicht. Zwischenstaatliche Konflikte entzünden sich genau an den Themen, die im »Umfassenden Friedensabkommen« nicht abschließend geklärt wurden:

  • der Verbleib des Bundesstaats Abyei,
  • die genaue Grenzziehung,
  • die Kosten für den Transport südsudanesischen Erdöls durch die nordsudanesische Pipeline.

Für den Bundesstaat Abyei, ein erdölreicher und fruchtbarer Landstrich zwischen Nord und Süd, war im »Umfassenden Friedensabkommen« ein separates Referendum vorgesehen, in dem dessen Bewohner_innen entscheiden sollten, ob sie zu Sudan oder zu Südsudan gehören wollen. Dieses Referendum fand nie statt, weil sich die beiden Seiten nicht darauf einigen konnten, wer als Bewohner_in Abyeis wahlberechtigt wäre. Sowohl südsudanesisch zugeordnete Dinka als auch nordsudanesisch zugeordnete Messeriya leben dort – über weite Strecken durchaus friedlich –, oftmals nomadisch oder halbnomadisch. Am Zankapfel Abyei entzündete sich folglich auch bereits im Mai 2011, zwei Monate vor der Unabhängigkeit Südsudans, ein weiterer bewaffneter Konflikt zwischen der sudanesischen Armee und der Sudanese People’s Liberation Army (SPLA).5 Die sudanesische Armee marschierte damals für ca. zwölf Monate in Abyei ein und vertrieb zeitweilig zehntausende Menschen.

Die Grenzziehung ist an verschiedenen Stellen darüber hinaus umstritten. An mehreren Hotspots kam es seit der Unabhängigkeit zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, so zum Beispiel in Süddarfur oder um das Ölfeld »Heglig«, das bei den Südsudanes_innen die Bezeichnung »Pan Thau« trägt. Im April 2012 besetzte die SPLA das Ölfeld für zehn Tage. Der Konflikt um Heglig/Pan Thau war einer der bisherigen Höhepunkte der Eskalation zwischen den beiden Staaten.

Zuvor war der Streit um den Transport des von Südsudan geförderten Erdöls durch die Pipelines, die durch den Nordsudan verlaufen, soweit eskaliert, dass Südsudan die Ölförderung fast vollkommen einstellte und damit den nördlichen Nachbarn Sudan wie sich selbst in eine schwere ökonomische Krise stürzte. Mangels Einigung über den Preis, den Südsudan für die Nutzung der Pipelines durch den Sudan zahlen sollte, hatte Sudan kurzerhand Schiffsladungen mit Öl im Wert von bis zu 815 Millionen Dollar im Hafen von Port Sudan konfisziert. Der Konflikt zeigt, wie interdependent die beiden Regierungen nach wie vor sind.

Während der Westen rasch auf eine Lösung pochte, spekulierte Südsudan wohl auf eine raschere Destabilisierung des Regimes in Khartum. Letzteres wiederum geriet durch den Akt Südsudans aufgrund des Verlusts der Öleinnahmen und des Wegfalls von Einkommen durch die Pipeline bei gleichbleibend immensen Militär- und Sicherheitsausgaben tatsächlich in eine Wirtschaftskrise und versuchte, diese für kriegstreiberische Propaganda zu nutzen. Dank der Bewusstseinsbildung und Mobilisierungskampagnen sozialer Bewegungen wie der Jugendbewegung Girifna (»Wir haben es satt«, girifna.com) kam es im Sommer 2012 zu massiven Protesten, den so genannten »Sudan Revolts«, in allen großen Städten Sudans. Diese hatten zwar die wirtschaftliche Krise mit als Auslöser und Thema, legten diese aber nicht dem Südsudan, sondern der eigenen Regierung zur Last –und verhinderten damit vielleicht einen neuen vollen Krieg, wenn sie auch ihr Ziel eines Regimewechsels bislang nicht erreichten.

Die zähen Verhandlungen zwischen den Regierungen beider Staaten in Addis Abeba führten im September 2012 zur Unterzeichnung von Abkommen u.a. zum Thema Sicherheit, die am 12. März 2013 mit der »Addis Implementation Matrix« konkretisiert wurden. Diese regelt u.a. den Abzug beider Armeen aus einer 14 Meilen breiten demilitarisierten Zone an der gemeinsamen Grenze sowie die Wiederaufnahme der Ölförderung und der Ölbeförderung durch die sudanesischen Pipelines.

Am 26. März 2013 bestätigte die U.N. Interim Security Force for Abyei (UNISFA), dass beide Seiten als ersten Schritt ihre Streitkräfte aus Abyei zurückgezogen hätten; der Rückzug entlang der gesamten Grenze soll bis 5.April folgen.

Grenze als Spiegelachse: Verschiebung der Probleme in zwei Entitäten?

Inwieweit diese Abkommen nachhaltig sind, ist fraglich, auch wenn es gute Gründe für beide Seiten gäbe, Stabilität anzustreben. Doch die neue Grenze rückt gleichermaßen innenpolitische Konfliktfelder in den Fokus, die nicht nur die Regierungen der beiden Länder belasten, sondern auch mit dem jeweiligen Nachbarland zumindest potentiell verwoben sind:

So beschuldigen sich die Regierungen beider Länder, im jeweils eigenen Land bewaffnete oppositionelle Gruppen zu unterstützen: Von Südsudan wird die Regierung in Khartum verdächtigt, u.a. abtrünnige SPLM/A-Generäle zu unterstützen, wohingegen der Norden dem Südsudan vorwirft, Rebellen der SPLM/A-Nord zu unterstützen.

Die SPLM/A-Nord ist ein wichtiger Faktor, um die Bedeutung der neuen Grenze zu ermessen: Große Landstriche im heutigen Sudan kämpften während des Krieges auf Seiten der SPLA, insbesondere im heutigen südlichen Sudan, in den Nuba-Bergen Südkordofans und in Blue Nile State. Im Rahmen des »Umfassenden Friedensabkommens« fand in diesen beiden Bundesstaaten daher eine »Volkskonsultation« statt, die als Umfrage aber ohne jegliche Umsetzungsverbindlichkeit verblieb. Als die sudanesische Regierung im Juni 2011 kurz vor der südsudanesischen Unabhängigkeit die Entwaffnung der SPLA im Nordsudan befahl, entschloss sich die Führung der inzwischen unter dem Namen SPLM/A-Nord bekannten Restmenge, wieder zu den Waffen zu greifen.

Bis heute sind Teile von Südkordofan und Blue Nile State unter Kontrolle der SPLM/A-Nord, und die sudanesische Luftwaffe geht u.a. mit Bombern massiv gegen die Rebellen sowie gegen die Zivilgesellschaft in der Region vor. Hunderttausende verstecken sich daher weitab von jeglicher humanitärer Hilfe in Berghöhlen oder sind in den benachbarten Südsudan geflohen. Da die Flüchtlingscamps sich z.T. in unmittelbarer Grenznähe befinden,6 wo die sudanesische Armee Rebellen vermutet, fliegt die Armee auch Angriffe gegen südsudanesisches Territorium. Der frühere Krieg gegen die eigenen Bürger_innen geht nun also im heutigen südlichen Sudan weiter; der Hauptauslöser für die Konflikte, die Marginalisierung weiter Teile der Bevölkerung, bleibt bestehen, und die Art des Konfliktaustrags zieht die Zivilgesellschaft weiterhin massiv in Mitleidenschaft.

Während sich der jahrzehntelange Konflikt zwischen der fundamentalistisch-diktatorischen Militärregierung einerseits und der marginalisierten Peripherie andererseits im aktuellen Konflikt in Südkordofan und Blue Nile State widerspiegelt und fortsetzt, lassen sich im Südsudan Spiegelungen des autoritären Systems im Norden wiederfinden: So hat der junge Staat mit Korruption, Menschenrechtsverletzungen und inter-ethnischen, oft machtpolitisch gefärbten Konflikten zu kämpfen. Sowohl zwischen einzelnen Ethnien, wie den Nuer und Murle, in deren Konflikt es im Januar 2012 zu einem Massaker mit ca. 3.000 Toten kam, als auch zwischen den nilotischen Dinka, Nuer und Shilluk, die im Norden des Südsudan beheimatet sind und viele Machtpositionen innehaben, einerseits und den ethnischen Gruppen im »Greater Equatoria«, dem südlichen Südsudan, andererseits. Menschenrechtsorganisationen beobachten mit Sorge u.a. die Entwicklungen bezüglich Presse- und Meinungsfreiheit und im Rechts- und Vollzugssystem. Wie so oft, ist die Transformation einer autoritär geführten Rebellengruppe hin zu einer demokratischen Regierungspartei ein steiniger Weg. Die Herausforderungen in einem verarmten Nachkriegsland wie Südsudan sind immens, und eine politische Opposition gegen eine als »Befreiungsbewegung« legitimierte Regierung ist nur schwer aufzubauen. Bereits vor dem Unabhängigkeitsreferendum des Südsudan, im Herbst 2010, drückte ein Bewohner des ländlichen Südsudan die Stimmungslage so aus: „Wir hoffen darauf, Menschenrechte, Sicherheit vor Krieg und Hunger und Demokratie verwirklichen zu können. Aber wir haben auch Angst, dass diese Hoffnung enttäuscht wird.“

Die Vergessenen: Pastoralisten, Binnenflüchtlinge und die Zivilgesellschaft des Sudan

Drei Gruppen sind besonders von der Grenzziehung betroffen: Die nomadischen und halbnomadischen Pastoralisten, die oft seit Jahrzehnten im Nordsudan lebenden Binnenflüchtlinge und die um die Chance auf einen »neuen Sudan« gebrachten Bürger_innen des (Nord-) Sudan.

Im pastoral geprägten Afrika sind Grenzen traditionell weniger durch einen Strich auf einer Landkarte oder in der Landschaft geprägt, sondern durch Nutzungsrechte verschiedener sozialer Gruppen im Jahreslauf. Neben den saisonalen Routen der Rinderhirten kann dies so weit gehen, dass die einzelnen ethnischen Gruppen nur unterschiedliche Wildpflanzen ernten und nutzen dürfen. Traditionell wandern »nordsudanesisch« identifizierte Rinderhirten, z.B. Gruppen der arabisch konnotierten Baggara, zu bestimmten Zeiten ihrer jährlichen Wanderrouten in heute »südsudanesische« Gebiete, z.B. der Dinka, und umgekehrt. Sofern die vereinbarten Zollzahlungen geleistet wurden, gab es hier bislang keine außergewöhnlichen Probleme. Zeugen berichten, dass vor der Unabhängigkeit sogar christlich-animistische Dinka-Älteste als Konfliktvermittler in darfurische Binnenflüchtlingscamps geholt wurden. Wird die Grenze zwischen Sudan und Südsudan undurchlässig, untergräbt das den Lebensunterhalt dieser Hirtengruppen. Dieses Problem wird noch durch die fortschreitende Desertifikation in der Sahel-Zone und den dadurch wachsenden Bevölkerungsdruck verstärkt.

Eine weitere Gruppe, deren Belange im »Umfassenden Friedensabkommen« nicht ausreichend geklärt wurde, ist die der Personen im jeweils »anderen« Teil des Landes. Die größte Gruppe von ihnen, die ehemaligen südsudanesischen Binnenflüchtlinge im Nordsudan, waren teilweise schon vor Jahrzehnten vor dem anhaltenden Bürgerkrieg in den Norden geflohen und hatten sich dort meist in den Außengebieten der Städte bzw. ausgeschriebenen Binnenflüchtlingscamps angesiedelt. Ihre Kinder sprechen nordsudanesisches Arabisch und kaum Englisch. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum verschärfte sich die Rhetorik rapide, und Anfeindungen im öffentlichen Leben nahmen zu. Das Recht auf einen sudanesischen Pass war für Angehörige südsudanesischer Ethnien nicht vorgesehen, und von hochrangigen Politikern wurde gedroht, dass sie keine öffentlichen Einrichtungen wie Krankenhäuser etc. mehr nützen dürften, sondern in »ihr eigenes Land« gehen sollen – selbst wenn sie im Nordsudan geboren wurden; maßgeblich gilt hier die ethnische Zugehörigkeit. Hunderttausende kehrten daraufhin in eine ungewisse Zukunft im Südsudan »zurück«, wo sie oft ebenfalls Diskriminierung erfahren. Sie werden teils als Verräter angesehen, da sie im Norden gelebt haben, und haben große Schwierigkeiten, im verarmten Südsudan Land oder Arbeit zu finden.

Als »Bauernopfer« der Unabhängigkeit des Südsudan kann auch die nordsudanesische Zivilgesellschaft bezeichnet werden. Bereits bei den Wahlen im April 2010 wurde deutlich, dass die internationale Gemeinschaft bereit ist, über die Unregelmäßigkeiten durch das Bashir-Regime hinwegzusehen und Bashir im Amt zu bestätigen, um den Unabhängigkeitsprozess des Südsudan nicht zu gefährden. Besonders für die gerade erwachende Demokratiebewegung, die begonnen hatte, die Angststarre der Gesellschaft zu brechen, war dies ein herber Schlag. Durch die Unabhängigkeit des Südens fühlte man sich mit einem diktatorischen Regime, welches auch unmittelbar wieder an Schärfe zulegte, »allein gelassen«.

2013 wurde beispielsweise die Hand- und Fußamputation als Strafe für Diebe zum ersten Mal seit 2001 wieder durchgeführt. Im Juni und Juli 2012 verhafteten die berüchtigten NISS (National Intelligence and Security Services) bis zu 2.000 Menschen im Zusammenhang mit den erwähnten »Sudan Revolts« und hielt sie meist ohne Anklage unter extremen Bedingungen wochenlang gefangen, bis die Proteste zunächst abebbten. Die Repression zivilgesellschaftlicher Aktivist_innen, insbesondere von Nicht-Arabern mit Herkunft aus den Konfliktgebieten, ist weiterhin massiv. Die internationale Gemeinschaft nimmt diese zivilen, unbewaffneten Proteste – trotz der anzunehmenden Wachsamkeit durch den »Arabischen Frühling« und der Exponiertheit Bashirs durch den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof – bis heute kaum zur Kenntnis. Aktuelle Medienberichte, Bashir würde alle politischen Häftlinge freilassen, dürfen als vordergründiges Kalkül gewertet werden; bislang (4.4.2013) jedenfalls sind nur wenige Freilassungen zu verzeichnen.

Die internationale Ignoranz mag gepaart mit der Verzweiflung auch ausschlaggebend gewesen sein, dass Vertreter_innen von sozialen Bewegungen sich in Kampala, Uganda, mit bewaffneten Akteuren wie der SPLM/A-Nord und darfurischen, teils fundamentalistischen Rebellengruppen und Oppositionsparteien zusammen auf eine »New Dawn Charta« (Charta der neuen Morgendämmerung) geeinigt haben. Die Charta fordert den Sturz des Regimes von Bashirs Nationaler Kongresspartei7 – jeweils mit den Durchsetzungsmitteln der einzelnen Gruppen, also entweder durch den gewaltfreien oder eben den bewaffneten Kampf.

Eine tief greifende Versöhnung wird unter dem Regime der Bashir-Partei weder mit dem Südsudan noch mit der eigenen Bevölkerung zu machen sein. Es ist zu hoffen, dass ein Wandel auch ohne eine langfristige, gewaltsame Auseinandersetzung wie in Syrien möglich sein wird, hat doch die sudanesische Bevölkerung bereits zwei Mal, 1964 und 1985, Militärdiktaturen gewaltfrei gestürzt. Eine massive Militärintervention wie in Libyen ist aufgrund des geringen internationalen Interesses unwahrscheinlich, aber auch nicht wünschenswert. Die nächsten Anwärter auf Unabhängigkeit und eine neue Grenze warten ansonsten schon in Darfur.

Konfliktlöser oder Konfliktursache?

Der »Nationalstaat« ist ein Konstrukt, das in Afrika meist koloniales Relikt ist und insbesondere in multiethnischen Staaten mit teilweise nomadischer Lebensweise nur bedingt funktioniert, wenn nicht gar eine eigenständige Konfliktursache ist. Weder die lokalen und regionalen politischen Eliten noch die involvierten internationalen Akteure suchen aktuell jedoch aktiv nach dem Kontext angemesseneren systemischen Lösungen. Wenn Grenzen zum Schutz von Menschengruppen notwendig erscheinen, so wären m.E. konsequente rechtliche Grenzen in Form von Menschenrechten den physischen Grenzen vorzuziehen. Die neue Grenze zwischen Sudan und Südsudan ist durch die Entscheidung der Südsudanes_innen jedoch ein historischer Fakt, auf dessen Grundlage nun ein gerechter Friede innerhalb und zwischen den beiden Ländern gefunden werden muss. Nach einem möglichen politischen Wandel in der Republik Sudan könnte eine neue Situation geschaffen sein, die eine intensive und nachhaltige Versöhnungsarbeit und Aufarbeitung der Vergangenheit zwischen beiden Ländern ermöglicht.

Geschichte des Sudan und Südsudan

Seit ca. 8000 v.Chr. Nomadische und halb-nomadische Lebensformen, Siedlungen am Nil
800 v.Chr. –
400 n.Chr.
Nubisches Königreich Kusch, Nordsudan/Ägypten. Beginn des Sklavenhandels von Süd nach Nord, lebendig für Jahrtausende.
11.-18. Jhd. Nach einer kurzen Ära der Christianisierung langsame Verbreitung des und Koexistenz mit dem Islam im Nordsudan.
1821-1885 Türkisch-ägyptische Besatzung, hauptsächlich im Norden. Beginn der britischen Mission im Süden.
1899-1955 Anglo-ägyptische Kolonialherrschaft. Südsudan wird vernachlässigt und christlich missioniert.
1955 Beginn des ersten Bürgerkriegs »Anya Nya 1 + 2« im Südsudan gegen Khartum.
1.1.1956 Unabhängigkeit von der Kolonialmacht. Präsidentschaft von Al Azhari.
1958 Putsch von General Abboud.
1964 Gewaltfreie »Oktoberrevolution« führt zu demokratischen, aber instabilen Regierungen.
25.5. 1969 Putsch von Oberst Nimeiri. Zunächst sozialistische, später islamistische Ausrichtung und Allianz mit verschiedenen Seiten des »Kalten Krieges«.
1972 Addis-Ababa-Abkommen beendet den Bürgerkrieg zwischen Nord und Süd für zehn Jahre.
1978 Öl wird entdeckt in Bentiu, heutiger Südsudan. Größere Exporte seit 1999.
1983 Bürgerkrieg zwischen SPLA (Sudanese People’s Liberation Army) und Regierung in Khartum entzündet sich an Nimeiris Islamisierungspolitik. Im Krieg und damit verbundenen Hungersnöten sterben ca. zwei Millionen Menschen.
März-Mai 1985 Absetzung Nimeiris durch gewaltfreien Volksaufstand; freie Wahl von Saddig El Mahdi.
30.6.1989 Putsch von Oberst Al Bashir, der mit der NCP (National Congress Party) eine militärisch-religiöse Diktatur führt.
2003 Beginn des Darfur-Konfliktes um Machtbeteiligung/Autonomie, zwischen SLA (Sudanese Liberation Army) und JEM (Justice and Equality Movement) u.a. gegen die sudanesische Armee und Janjaweed-Milizen.
9.1.2005 Abschluss des »Umfassenden Friedensabkommens« zwischen der SPLM/A und der NCP-Regierung.
2005 Unruhen nach Tod von Vizepräsident John Garang (SPLM/A) bei Hubschrauberabsturz. Beginn der UN-Mission im Sudan (UNMIS) und 2007 von UNAMID (Mission der UN und der Afrikanischen Union in Darfur).
4.3.2009 Internationaler Strafgerichtshof erlässt Haftbefehl gegen Präsident Al Bashir u.a. wegen Kriegsverbrechen in Darfur.
April 2010 Allgemeine Wahlen: Nach Rückzug der meisten Oppositionskandidaten und Berichten von Unregelmäßigkeiten gewinnt Al Bashir mit über 68% der Stimmen. Im Süden erlangt die SPLM 93%.
9.1.2011 Die Südsudanes_innen wählen in dem im »Umfassenden Friedensabkommen« festgelegten Referendum zu über 98% die Unabhängigkeit.
30.1.2011 Parallel zum Beginn der ägyptischen Revolution organisieren sudanesische Jugendbewegungen eine erste Demonstration für einen Regimewechsel, für Menschenrechte und gegen Preissteigerungen.
Mai/Juni 2011 Gewaltsamer Konflikt bricht aus im ölreichen Abyei wegen ungeklärter Zugehörigkeit zu Nord oder Süd. Im Juni nimmt die SPLM/A-Nord den gewaltsamen Kampf in den Nuba-Bergen auf gegen die Abrüstung ihrer Kämpfer und weitere Marginalisierung. Hunderttausende fliehen in den kommenden Monaten vor der Bombardierung durch die Armee.
9.7.2011 Unabhängigkeit Südsudans. Viele Südsudanes_innen verlassen Nordsudan, auch im Kontext von verstärkter Diskriminierung.
Sept. 2011 SPLM/A-Nord und Regierungstruppen beginnen Kämpfe in Blue Nile State. Allmählich wird die ganze Grenzregion zum Südsudan Konfliktgebiet. Im November gründet SPLM/A-Nord mit JEM, SLA und anderen bewaffneten Gruppen die »Sudanesische Revolutionäre Front«. Im Dezember wird JEM-Führer Khalil mit internationaler Hilfe ermordet.
ab Dez. 2011 Eskalation des Öl- und Grenzkonflikts zwischen Nord- und Südsudan: Norden konfisziert Öl als Bezahlung für die Pipeline-Nutzung zum Roten Meer. Süden stellt Ölförderung ein. Kriegsdrohungen, Mobilisierung, Besetzung von Land und Ölfeldern von beiden Seiten folgen. Entgegen der Warnung vor einem Krieg durch 700 Offiziere seiner Armee und internationalen Warnungen an beide Seiten spricht Al Bashir am 20.4.2012 bei einer Rede von Krieg gegen den Südsudan.
Juni-August 2012 »Sudan Revolts«: Nachdem Student_innen der Khartum-Universität gegen Preissteigerungen in der Mensa protestieren, folgen in allen größeren Städten des Landes Demonstrationen, die durch massive Polizeigewalt, Massenverhaftungen und zuletzt in Darfur auch scharfe Munition eingedämmt werden. Teile der Bewegung müssen unter massivem Sicherheitsdruck das Land verlassen, dennoch gibt es weiterhin immer wieder Proteste und Aktionen.
September 2012 Sudan und Südsudan unterzeichnen in Addis Abeba Abkommen zu Sicherheit, Grenzfragen, Ölexport u.a., die am 12.3.2013 in der »Addis Implementation Matrix« konkretisiert werden.
26.3.2013 Die Vereinten Nationen bestätigen den Abzug der Truppen beider Staaten aus Abyei. Die Zugehörigkeit von Abyei bleibt ungeklärt.

Anmerkungen

1) Comprehensive Peace Agreement, CPA.

2) Sudanese People’s Liberation Movement/Army.

3) Siehe z.B. Rebecca Hamilton: Special Report: The wonks who sold Washington on South Sudan. Reuters, 11. Juli 2012.

4) Siehe z.B. Ian Black: »Israeli attack« on Sudanese arms factory offers glimpse of secret war. The Guardian, 25. Oktober 2012.

5) SPLA (Sudanese People’s Liberation Army) ist der militärische Flügel des Sudanese People’s Liberation Movement und heute die offizielle Armee des Südsudan. SPLM (Sudanese People’s Liberation Movement), der politische Flügel bzw. die Partei der Befreiungsbewegung, ist heute Regierungspartei des Südsudans. SPLM/A bezeichnet die beiden als Einheit (i.d.R vor dem Friedensabkommen). Die SPLM/A-Nord umfasst die Reste der SPLM bzw. der SPLA im Nordsudan, die auch nach der Teilung des Landes teilweise militärisch gegen die Regierung in Khartum weiterkämpft.

6) Siehe Girifna: A Photo Essay–Yida Camp: to be or not to be. 1. März 2013; girifna.com/8039.

7) National Congress Party, NCP.

Julia Kramer, Conflict Resolution M.A. der Universität Bradford, arbeitete von 2008 bis 2010 mit dem Zivilen Friedensdienst (ZFD) im Sudan. Sie ist Ko-Autorin der Bildungsbroschüre »Gesichter der Gewaltfreiheit im Sudan« (2012), erschienen bei »act for transformation gG«, und arbeitet aktuell als Projektberaterin der ZFD-Projekte von »KURVE Wustrow, Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion«.

Zerstörtes Jugoslawien

Zerstörtes Jugoslawien

Kriegsfolgen auf dem Balkan

von Hannes Hofbauer

Engagement und persönliche Tragödie des Autors und Unternehmers Kurt Köpruner im bosnischen Travnik mögen paradigmatisch für die Langzeitfolgen der südslawischen Kriege stehen. Auch fast 15 Jahre nach dem Schweigen der Waffen sind sie allgegenwärtig, wie im folgenden Artikel beschrieben wird.

Der kürzlich verstorbene Kurt Köpruner kannte die jugoslawischen Republiken aus seiner jahrzehntelangen beruflichen Tätigkeit als Vertreter deutscher Metallfirmen. Seine persönlichen Erfahrungen mit dem Bürgerkrieg in Kroatien schrieb er in einem viel beachteten Roman nieder.1 Im Jahr 2004 entschloss er sich gemeinsam mit seiner Frau, eine zerstörte Metallfabrik im bosnisch-muslimischen Travnik zu übernehmen und wieder aufzubauen. Bereits kurz nach der Übersiedlung holte ihn der beendet geglaubte Krieg ein. Zwei Minensucher der Stadt Travnik kamen bei der Entschärfung einer Landmine, die direkt auf dem Gelände des LKW-Parkplatzes vor den Fabrikhallen deponiert gewesen war, ums Leben. Ein Gedenkstein erinnert an die Toten, die wie viele andere erst Jahre nach den Friedensschlüssen dem Krieg zum Opfer fallen.

Die Zerstörungen und Kriegsfolgen sind zahlreich. Sie reichen von direkten Schäden an Menschen, Siedlungen und Landschaft über psychologische und gesellschaftliche Deformationen bis zu strukturellen demographischen Veränderungen und Auswirkungen auf Völker- und Menschenrecht im Weltmaßstab. Im Folgenden soll eine Durchsicht versucht werden. Weitgehend unbehandelt bleiben dabei die andernorts2 ausführlich beschriebene territoriale Zersplitterung und sozioökonomische Verwerfung, die von den unterschiedlichen Kriegsgängen zwischen 1991 und 1999 verursacht wurden.

Uranmunition, Minen und posttraumatische Störungen

Die wohl schlimmste direkte Langzeitfolge kam zigtausendfach vom Himmel: Großteils US-amerikanische Bomber verstreuten weit über zehn Tonnen kleinkalibrige Uranmunition.3 Betroffen davon sind Bosnien, Kosovo, Serbien, Kroatien und – zu einem geringen Teil – Montenegro. Eine UN-Studie aus dem Jahr 20034 spricht allein für den Krieg der NATO gegen Jugoslawien von März bis Juni 1999 von 30.000 entsprechenden Geschossen auf Kosovo, während die jugoslawische Seite 50.000 ausgemacht haben will.5

Exkurs: DU-Munition

In dieser so genannten DU-Munition findet abgereichertes Uran (depleted uranium) Verwendung. Dieses ist ein Abfallprodukt der Atomindustrie und enthält das nicht spaltbare Uranisotop 238. Militärisch in großem Umfang verschossen wird DU-Munition seit dem Golfkrieg 1991, hauptsächlich durch US-Streitkräfte. Sie ist billig und hat wegen ihrer hohen physikalischen Dichte eine enorme Durchschlagskraft bei Metall, dient also als panzerbrechende Waffe.6 Beim Durchbohren des Ziels wird heißer Uranstaub frei, der sich selbst entzündet und damit von innen her das entsprechende Fahrzeug, Gerät oder Gebäude zur Explosion bringt. Auf Flugzeugen oder Hubschraubern montierte Bordwaffen können pro Minute zwischen 600 und 4.000 Schuss mit dieser Munition abfeuern.7 Die Perfidie der Waffe ist – von Laie zu Laie – schnell erklärt: Anstatt die relativ schwach radioaktiven Substanzen, die tonnenweise bei der Produktion von Atombrennstoff oder Atomwaffen anfallen, zu entsorgen, ummanteln US-Militärs das abgereicherte Uran mit Patronenhülsen und verschießen es in fernen Ländern.

In Ex-Jugoslawien kam abgereicherte Uranmunition erstmals im Sommer 1995 über serbischen Siedlungsgebieten in Bosnien zum Einsatz.8 In der Folge wurden weite Teile Bosnien-Herzegowinas, mehr oder minder der gesamte Kosovo, viele Regionen Serbiens und auch kroatische Landstriche mit radioaktiv strahlender Munition überzogen.

Die Aufdeckung des Einsatzes dieser schmutzigen Waffe ist übrigens dem deutschen Arzt Siegwart-Horst Günther zu verdanken.9 Günther lehrte in den Jahren 1990/91 an der Universität Bagdad, als er erstmals im Oktober 1991 mit Geschosshülsen von DU-Munition in Berührung kam. Nachdem er Proben in drei Berliner Labors untersuchen ließ, die eindeutig Radioaktivität nachweisen konnten, kam er in die Mühlen der deutschen Justiz und Psychiatrie. Sein Lebensweg hätte fast wie jener der Physiker in Dürrenmatts gleichnamigem Theaterstück geendet. Im Juli 1992 wurde Günther wegen illegalen Imports von radioaktivem Abfall angeklagt, im Januar 1999 drohte ihm wegen des Verdachts einer angeblich »paranoiden Entwicklung« die Einweisung in eine geschlossene Anstalt.10 Nur eine zwischenzeitlich breite Solidarität aus den Reihen der Friedensbewegung und letztlich das – viel später erfolgte – Eingeständnis der NATO, DU-Munition verwendet zu haben, bewahrten Günther davor, behördlicherseits zum Schweigen gebracht zu werden.

Abgereichertes Uran bringt multiple gesundheitliche Schäden mit sich. Diese reichen von schweren Funktionsstörungen insbesondere der Niere über Auslöser von Blut-, Haut- und Lungenkrebs bis zur Schädigung des Erbgutes. Aufgenommen werden in der Regel radioaktive Nanopartikel, die nach dem Einschlag der Munition frei werden und sich über Atemwege oder den Blutkreislauf, freilich auch über das Grundwasser, im menschlichen Körper verbreiten.11 Schätzungen über die Anzahl der infolge von abgereichertem Uran zu Tode gekommenen Menschen gehen weit auseinander. Nachdem die USA erst im März 2000, also fünf Jahre nach dem ersten Einsatz, überhaupt eingestanden, DU-Munition im Balkankrieg verschossen zu haben, betonten US-Vertreter gleichzeitig, dass davon keine Gefahr ausgehe. Diesem Befund schlossen sich im Wesentlichen die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) an. Letzteres meinte in einer Stellungnahme im März 2003, dass zweifelsfrei festgestellte erhöhte Krebsraten in Bosnien-Herzegowina „nur sehr unwahrscheinlich mit dem Gebrauch der DU-Munition […] in Zusammenhang gebracht werden können“.12 Die deutsche Bundesregierung antwortete im Jahr 2008 auf eine parlamentarische Anfrage der »Linken« über den Einsatz von DU-Munition in Afghanistan lapidar, ihr würden „keine eigenen Erkenntnisse zu möglichen Einsatzorten und -zeiten […] vorliegen“.13 Schweigen im Wald also, wenn es um die Folgen radioaktiver Verstrahlung von Kriegsgegnern geht.

Gesundheitsdesaster durch DU-Munition

Von serbischer Seite wurde die Aufarbeitung der Folgen von abgereichertem Uran nach dem Regimewechsel im Oktober 2000 systematisch boykottiert. Schon allein die Tatsache, dass die dafür zuständigen Stellen im Umweltministerium geschlossen wurden,14 zeigt, dass sich Belgrad nach Slobodan Milosevic mit der unangenehmen Vergangenheit nicht mehr beschäftigen wollte, um die von den neuen Eliten angestrebte Westintegration nicht zu gefährden.

Einer der wenigen Anhaltspunkte, wieviele Todesopfer DU-Munition fordert, findet sich in einem internen Bericht der britischen Atomenergiebehörde aus dem Jahr 1999. Dort wird – den Einsatz der radioaktiven Waffe im Irak betreffend – von zusätzlich 500.000 Krebstoten ausgegangen.15 Bezogen auf die Quantität der abgeschossenen Munition für das Gebiet Ex-Jugoslawiens würde das ein Mehr an 125.000 Krebstoten bedeuten.

Der jugoslawienweit mutmaßlich am stärksten von abgereicherter Uranmunition betroffene Ort ist die kleine, von Serben bewohnte Stadt Hadzici am Rande von Sarajewo. Nach den Angriffen 1995 stellten serbische Behörden eine Erhöhung von Radioaktivität um das 3.000-fache fest und evakuierten die gesamte Bevölkerung von 3.500 Personen ins Gebirgsstädtchen Bratunac.16 Zu spät, denn in den kommenden Jahren starb nach Recherchen des Filmemachers Frieder Wagner vom WDR ein knappes Drittel davon an Krebserkrankungen.17

Landminen – die gefährliche Erbschaft

Minentote können – anders als radioaktiv Verstrahlte – statistisch nicht versteckt werden. Zwischen 1996 und 2010 wurden allein in Bosnien-Herzegowina durch explodierende Landminen 498 Menschen getötet und 1.209 verstümmelt.18 Wer durch das Land fährt, bemerkt auch heute noch die zahlreichen gelb-roten Warnbänder an den Straßenrändern, auf denen Totenköpfe davor warnen, die Asphaltflächen nicht zu verlassen.

Bosnien ist das am stärksten verminte Land. Geschätzte 200.000 Minen blieben bis heute unentdeckt. Das in Sarajewo beheimatete »Mine Action Center« geht davon aus, dass insgesamt 1.270 Quadratkilometer bzw. 2,5% der Fläche des Landes vermint sind. Ausgelegt wurden die Landminen von allen Bürgerkriegsparteien. Sie finden sich vornehmlich in Bosnien und Kroatien. Die serbischen Kämpfer in der kroatischen Krajina waren besonders eifrig bei der Verminung von Landstrichen, was auch mit der geographischen und topographischen Lage der zu verteidigenden Gebiete zu tun gehabt haben dürfte. Denn das Siedlungsgebiet der kroatischen Serben, mittlerweile von dort vollständig vertrieben, war seit dem 16. Jahrhundert von den Habsburgern als »Militärgrenze« wie ein Band rund um osmanisches Gebiet gelegt worden und an manchen Stellen nur 40 Kilometer breit.19 Sowohl Kroatien als auch Bosnien-Herzegowina gehen davon aus, dass es mindestens bis ins Jahr 2019 dauern wird, die Entminung abzuschließen.

Posttraumatische Störungen

Auf ähnliche Schwierigkeiten wie bei der Quantifizierung der Strahlenopfer stößt man bei den posttraumatischen Störungen, die in weiten Teilen des Kriegsgebietes sowohl am Ort verbliebene als auch aus ihrer Heimat geflohene Menschen belasten. Eine von serbischen und amerikanischen Wissenschaftlern gemeinsam durchgeführte regionale Studie mag die Dimension andeuten, die monatelange Bombardements und gegenseitige Vertreibungen an psychischen Störungen verursacht haben: Während zweier Monate im Juli und August 2002 wurden Patienten in serbischen und kosovarischen Notfallstationen untersucht, die keine akut lebensbedrohliche Krankheit aufwiesen. Fazit: Bei der Hälfte von ihnen stellten die Ärzte posttraumatische Symptome wie z.B. Depressionen fest.20

Identität: Veteran

Eine weit verbreitete Art kompensatorischer Überhöhung erlebter Schrecklichkeiten findet mit der Definition von Kriegern – nach dem Kriegsgang – als »Veteranen« statt, also als Männer, die dem griechischen Wortstamm gemäß »aus dem Kampf« kommen. Die Gesellschaft perpetuiert damit ihre kriegerische Identität und stellt sie als wesentlich dar. Sämtliche Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien sind mit diesem Phänomen konfrontiert. Die Implikationen reichen von der Sozialpolitik bis zur Denkmalkultur: Veteran zu sein bedeutet, Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung zu haben.

Landauf, landab wurden steinerne Monumente errichtet, um der Krieger zu gedenken. Diese haben sowohl abstrakten wie auch konkreten Inhalt, heroisieren die (Un-) Taten der eigenen Gemeinschaft und erinnern an bestimmte Gefallene. Diese post-kriegerische Denkmalkultur ist weit verbreitet, besonders auffällig und zahlreich ist sie allerdings in Kroatien und im Kosovo vertreten. So etwa auf dem Zagreber Friedhof Mirogoj, der um mehrere Hektar erweitert wurde, um »für die Heimat« gestorbene Kämpfer Seite an Seite zu betten. Alle Gräber werden regelmäßig mit großen Kerzen des Verteidigungsministeriums bestückt, auf denen unübersehbar das symbolische Zeichen für den – angeblichen – Sinn des Todes prangt: die kroatische Schachbrettfahne. Auch antifaschistische Denkmäler aus der Zeit des Widerstandes gegen die Diktatur der Ustascha fanden im »Heimatkrieg« der frühen 1990er Jahre weitere Verwendung. Der Betrachter steht z.B. staunend vor einer Marmorplatte am Eingang der Schiffswerft von Rijeka, auf der die Namen der von den Ustaschi getöteten Arbeiter durch die Namen derjenigen ergänzt wurden, die „für die kroatische Unabhängigkeit im Kampf gestorben“ sind.

Kein Dorf und kaum eine Überland-Straßenkreuzung existiert im Kosovo, wo nicht der schwarze Adler auf rotem Grund eine Fahne ziert, die an Heldentode gegen Serbien erinnert. Als Ende 2012 ein großes albanisch-kosovarisches Kriegerdenkmal im nicht zum Kosovo gehörenden Presevo-Tal errichtet wurde, also auf kernserbischem, wiewohl mehrheitlich von Albanern besiedeltem Gebiet, drohte man in Belgrad mit dem Einsatz einer Sondereinheit. Ende Januar 2013, nach Gesprächen zwischen Belgrad und Prishtine, wurde die »Gedenkstele der albanischen Märtyrer« wieder abgetragen.

Auf andere Art erinnern Ruinen mitten in Belgrad an den Krieg der 1990er Jahre: Zwei völlig zerstörte Gebäude des serbischen Verteidigungsministeriums wurden 1999 von Cruise Missiles der NATO getroffen. Bis heute werden sie als Mahnmal gegen die Zerstörung so belassen.

Kriegsveteranen bestimmen nicht nur nationale Symbolik und zeithistorisches Gedenken, sondern sie mischen auch kräftig in der Politik mit. Pensionisten-Parteien werden vielfach von Veteranen betrieben. Entschädigungszahlungen und Kriegspensionen stehen im Mittelpunkt ihres politischen Interesses. Damit stoßen sie auch bei IWF und Weltbank auf Kritik, fordern doch die Weltfinanzorganisationen die Regierungen zum harten Sparen auf. Ausgaben für Veteranen stören dabei die Austeritätsmaßnahmen.

Strukturelle Schäden und soziale Verwerfungen

Die Balkankriege der 1990er Jahre haben freilich auch tiefe strukturelle Folgen gezeitigt. Eine wesentliche ist die Änderung der demographischen Verhältnisse sowohl in jenen Regionen, in denen gekämpft wurde, als auch in den benachbarten Ländern.

Die größten »ethnischen Säuberungen« betreffen die kroatische und die bosnische Krajina, die Republika Srpska und Kosovo. Serben (in der Krajina und im Kosovo) sowie Moslems (in der Republika Srpska) sind am meisten von Vertreibungen durch die jeweilige Gegenseite betroffen. Über die ethnische Komponente hinaus gab es auch Einschnitte von siedlungshistorischer Bedeutung. So sind weite Teile der früher von serbischen Bauern bewohnten Krajina heute menschenleer. Die Missgunst des – kroatischen – Kriegsgegners, ergänzt durch die Kargheit des Bodens, hat weite Landesteile veröden lassen und eine Wiederbesiedlung verhindert.

Vor allem der Krieg in Bosnien-Herzegowina führte letztlich auch zu einer Zwangsmobilisierung Hunderttausender Menschen, die das Land verließen und sich in Westeuropa, Nordamerika oder Australien ein neues Leben aufbauen müssen. Dies betrifft, anders als bei der Gastarbeitergenerationen seit Ende der 1960er Jahre, auch gesellschaftliche Eliten wie die technische Intelligenz, die der zerstörten Heimat beim Wiederaufbau besonders fehlen.

Wer nicht durch ethnische Vertreibung oder unmittelbare existenzielle Bedrohung zwangsmobilisiert wurde, der muss mit den Folgen des Krieges zu Hause leben. Soziale Differenz und regionale Disparität bestimmen den Alltag in vielfacher Weise. Ironischerweise waren es diese beiden Faktoren – die Verarmung weiter Teile der Bevölkerung und das zunehmende Auseinanderklaffen reicher und armen Republiken –, die in den 1980er Jahren zu gesellschaftlicher Unzufriedenheit und zunächst zu sozialen, dann zunehmend zu national gefärbten Protesten geführt hatten. Diese inneren Krisenerscheinungen wurden in der Folge von außen, vermittelt über die Schuldenpolitik des Internationalen Währungsfonds und später die geopolitischen Ambitionen des vergrößerten Deutschlands, dynamisiert. Mehr als 20 Jahre nach dem kriegerischen Auseinanderbrechen der multi-ethnischen südslawischen Föderation haben die regionalen Unterschiede sich in nationalen Grenzziehungen manifestiert und die sozialen Verwerfungen verstärkt. Die sozioökonomische Desintegration äußert sich symbolhaft im Umstand, dass in dem einstmals einheitlichen Wirtschaftsraum heute sechs Staaten (plus Kosovo) mit fünf verschiedenen Währungen existieren: In Slowenien, Montenegro und Kosovo gilt der Euro als Zahlungsmittel, in Bosnien-Herzegowina die Konvertible Mark, in Kroatien die Kuna, in Serbien der Dinar und in Makedonien der makedonische Denar.

Die Kleinstaaterei führte nicht zu einem regionalen Ausgleich. Vielmehr spiegelt sich im aktuellen Pro-Kopf-Einkommen die ungleiche Verteilung der späten 1980er Jahre wider, die mit zur Implosion der Föderation beigetragen hatte. Slowenien steht – wie vor 30 Jahren – mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von (nicht kaufkraftbereinigten) 17.000 Euro pro Jahr am besten da, Kosovo bildet wie gehabt mit 3.500 Euro das Schlusslicht.21 Die Differenz von 6:1 hat nicht nur regionale, sondern auch soziale Sprengkraft.

Mit Ausnahme Sloweniens haben die südslawischen Kriege zu einem ökonomischen Desaster geführt, das bis heute bei weitem nicht behoben ist. Anders als in ehemaligen Ländern des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe haben sich in den ex-jugoslawischen Republiken auch keine ausländischen Investoren im großen Stil eingefunden, die in die industrielle Produktion investiert hätten. Ausnahmen wie U.S. Steel im serbischen Smederevo haben ihre Fabrikstore oft nach kurzen Gastspielen wieder geschlossen.

Die Deindustrialisierung ließ alte Standorte in Serbien und Bosnien verwaisen. In Kroatien wiederum wird gerade die letzte industrielle Bastion des Landes ausgelöscht. Seitdem die Europäische Union anlässlich der Aufnahmegespräche mit Zagreb befunden hat, dass die kroatischen Werften auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig seien,22 ist ihre Schließung voll im Gange. Von den ursprünglich sechs Werften soll nur die ehemalige habsburgische Kriegsmarinewerft in Pula, »Uljanik«, bestehen bleiben.

Die Arbeitsplatzverluste schlagen sich auch statistisch nieder. Der Rückgang der Beschäftigten ist seit Kriegsausbruch dramatisch. Oftmals wurden bei Kampfhandlungen zerstörte Kombinate nicht wieder aufgebaut, wie z.B. im ehemals mustergültigen Single-Factory-Ort Borovo nahe Vukovar, der heute einer Ruinenlandschaft gleicht. Allein in Serbien haben seit 1990 17% der Beschäftigten ihre Arbeit verloren.23 Entsprechend katastrophal lesen sich auch die offiziellen Arbeitslosenstatistiken. Kosovo lag 2012 mit 44% Arbeitslosen an der Spitze, gefolgt von Makedonien mit 31%, Bosnien-Herzegowina mit 28%, Serbien mit 24% und Montenegro mit 20%. Auch Kroatiens 16,5%ige Arbeitslosenrate deutet nicht auf stabile soziale Verhältnisse hin, und die 9% in Slowenien müssen vor dem Hintergrund einer schweren Rezession interpretiert werden, die dem kleinen Adria-Anrainerstaat für 2013 ein negatives Bruttoinlandsprodukt von 1,5% voraussagt.24

Das Ende der europäischen Nachkriegsordnung

Mit den Bürgerkriegen in Ex-Jugoslawien und insbesondere mit dem völkerrechtswidrigen Eingriff der NATO im März 1999 ging auch die Epoche der europäische Ordnung nach 1945 zu Ende, die freilich schon mit dem Zusammenbruch des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe und des Warschauer Pakts einen wesentlichen Eckpfeiler verloren hatte. Die Auswirkungen der schleichenden Transformation vom – kodifizierten – Völkerrecht zum – schwammigen – Menschenrecht als zivilisatorische Grundlage sind unabsehbar. Dazu gehört, dass Krieg als Mittel der Politik wieder neue Legitimität erhalten hat. »Bomben für Menschenrechte« ist zur zynischen Losung des beginnenden 21. Jahrhunderts geworden, wobei dieser vorgeblich liberal-menschenrechtliche Bellizismus philosophisch von Denkern wie Jürgen Habermas und Bernard-Henry Levy25 begleitet wird. Die Intervention von außen in die jugoslawischen Bürgerkriege kann als Auftakt für diese Entwicklung gesehen werden.

Anmerkungen

1) Kurt Köpruner (2010):, Reisen ins Land der Kriege. Erlebnisse eines Fremden in Jugoslawien. Wien.

2) Vgl. Hannes Hofbauer (2013/2001): Balkankrieg – 10 Jahre Zerstörung Jugoslawiens. 4. Auflage, Wien.

3) Roug Rokke (2000): Einsatz von abgereichertem Uran: ein Verbrechen gegen die Menschheit; ag-friedensforschung.de.

4) UN Environment Programme (2003): Depleted Uranium in Bosnia and Herzegovina. Nairobi.

5) Bericht der Bundesrepublik Jugoslawien auf pregled-rs.rs/article.php?pid=176&id=17200; zitiert auf politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=853.

6) Wikipediaeintrag »Uranmunition«.

7) Ebenda.

8) »Oslobodjenje« vom 14. März 1996; vgl. auch: »Telegraf« vom 3. April 1996.

9) Siegwart-Horst Günther (1996): Uran-Geschosse: Schwergeschädigte Soldaten, mißgebildete Neugeborene, sterbende Kinder. Freiburg.

10) Interview mit Siegwart-Horst Günther, geführt von Brigitte Queck (Mütter gegen den Krieg) am 17. Februar 2012; tlaxcala-int.org.

11) Vgl. Frieder Wagner: Uranwaffen: Das größte Kriegsverbrechen unserer Zeit; hintergrund.de, 17.10.2008.

12) International Atomic Energy Agency: Depleted Uranium in Bosnia-Herzegovina. IAEA Staff Report, 27.3.2003.

13) Bundestagsdrucksache 16/8992 vom 25. April 2008.

14) Auskunft von Gordana Brun, Umweltberaterin der serbischen Regierung am 23. Mai 2001 in Belgrad.

15) »Independent« vom 22. November 1999.

16) Wikipediaeintrag »Hadžiæi«.

17) WDR-Bericht »Der Arzt und die verstrahlten Kinder von Basra« vom 28. April 2004.

18) Wikipediaeintrag »Bosnien und Herzegowina«, Abschnitt Minenlage«.

19) Vgl. Hannes Hofbauer (2004): Jugoslawische Zerfallslinien. Aktuelle Grenzen in historischer Perspektive. In: Joachim Becker/Andrea Komlosy (Hrsg.): Grenzen weltweit. Zonen, Linien, Mauern im historischen Vergleich. Wien, S.185ff.

20) Brett Nelson u.a. (2004): War-related psychological sequels among emergency department patients in the former Republic of Yugoslavia. BMC Medicine, Ausgabe 2,23. Zit. nach Christine Amrhein: Psychische Kriegsfolgen in Serbien auch heute noch zu spüren. Bild der Wissenschaft online, 1.6.2004.

21) Vasily Astrov u.a.: Double-dip Recession over, yet no Boom in Sight. Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, Current Analyses and Forecasts Nr. 11, März 2013.

22) Gespräch mit dem ortsansässigen Ökonomen der EU, David Hudson, in Zagreb am 2. August 2007.

23) Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (Hrsg.): Countries in Transition. Wien 1995, 2005, 2012; sowie eigene Berechnungen.

24) Vasily Astrov u.a., op.cit., S. vi.

25) Vgl. Hannes Hofbauer: Balkankrieg. op.cit., S.261 ff.

Hannes Hofbauer ist österreichischer Historiker und Verleger.

»Agent Orange«-Opfer

»Agent Orange«-Opfer

Ethnopsychoanalytische Betrachtung der Nachkriegsfolgen in Vietnam

von Natalie Wagner

Vietnam erzählt bei der Betrachtung von Kriegsfolgen eine ganz eigene Geschichte. Was den Vietnamkrieg (1964-1975) von anderen Kriegen unterscheidet, ist der gezielt massive Einsatz von Chemiewaffen. »Agent Orange« – eine neue Kriegswaffe, eingesetzt zur Zerstörung des Dschungels und der Ernte sowie zur Schwächung des Feindes – ist bis heute ein politisches, medizinisches und öffentliches Thema; noch immer führt sein Einsatz bei der Bevölkerung zu Behinderungen in erheblichem Ausmaß.

Vietnam gilt mit einer Gesamtbevölkerung von ca. 87 Millionen Menschen, einem BIP von 104,6 Milliarden US-Dollar (Stand 2010) und einem Wirtschaftswachstum von 6,78% heute als stabiles »Middle Income Country«. Das Land ist jedoch noch immer auf die internationale Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit angewiesen. Der Krieg verursachte nicht nur wirtschaftliche Rückständigkeit und Armut, besonders dauerhaft sind die individuellen, gesundheitlichen und ökologischen Folgen aufgrund des Einsatzes von Agent Orange.

»Agent Orange«, ein künstlich hergestelltes Herbizid, beschreibt die Zusammensetzung aus 2,4–Dichlorphenoxyessigsäure und 2,4,5-Trichlorphenoxyessigsäure. Bei der Synthese dieses Chemikals entsteht das giftige Nebenprodukt Dioxin in Form von 2,3,7,8-Tetrachlord[i]benzoparadioxin, kurz TCDD. TCDD gilt als ein Ultragift, das sowohl zu sichtbaren als auch zu weniger sichtbaren Folgen führen kann. Durch die fettlösliche Eigenschaft und eine Halbwertszeit von durchschnittlich zehn Jahren wird Dioxin langfristig in Zellen angelagert. TCDD hat speziell in Bezug auf den menschlichen Organismus die Wirkung eines Krebspromoters und eine eigenständige humankanzerogene Wirkung. Weiterhin kann es durch seine neurotoxische Wirkung Schäden im zentralen Nervensystem und durch eine mutagene Wirkung jegliche Art von Chromosomenveränderung – von körperlicher Fehlbildung bis hin zu geistiger Behinderung – hervorrufen. Die mutagene Wirkung kann x-chromosomal vererbt werden, sodass die Folgegenerationen ebenfalls von einer Dioxinvergiftung betroffen sein können. Zusätzlich stellt die Anlagerung von TCDD in der Muttermilch eine weitere Kontaminationsgefahr für Folgegenerationen dar.

Der Einfluss der Chemikalie auf Organismen ist von der Höhe, Dauer und Häufigkeit der Exposition, vom Alter und Zustand der körpereigenen Enzyme und der individuellen Krankheitsgeschichte abhängig. Laut WHO liegt ein tolerierbarer Dioxinwert bei 0,1-0,4 mg Aufnahme pro Tag (Berendt 2009, S.28). Eine erhöhte Aufnahme kann zu erheblichen gesundheitlichen Folgen führen:

  • Krebserkrankungen: (Non-) Hodgins-Lymphome, Melanome, Leukämie, Lymphdrüsen-, Lungen-, Prostata-, Darm- und Knochenmarkkrebs;
  • neurotoxische Auswirkungen: Schwächung des Immunsystems, Lähmungen, spastische Erscheinungen, Hirnschäden;
  • Auswirkungen auf das endokrine System und den Insulinhaushalt: Wachstumsstörungen, Enzymfehlfunktionen, Hauterkrankungen, Diabetes, Unfruchtbarkeit, Frühgeburten;
  • Chromosomenveränderungen: u.a. Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, Strukturasymmetrie des Gesichts, fehlende Organe oder Glieder, Fehlstellungen der Glieder, Polydaktylie, Kleinwüchsigkeit, Deformationen des Hirns und Rückenmarks, Anencephalie, Spina Bifida, Grebbes-Syndrom, Hydrocephalie;
  • Auswirkungen während einer Schwangerschaft: Fehlgeburten, Frühgeburten, intrauterine Wachstumsrückbildungen;
  • mittelfristige psychische Erscheinungen: Schockzustände, psychonervale Beeinträchtigungen, Schwindelanfälle, Reizbarkeit, Vergesslichkeit, Niedergeschlagenheit, posttraumatische Belastungsstörung in Verbindung mit toxischer Enzephalopathie, Schlaflosigkeit, vermehrte Erregbarkeit, sexuelle Störungen, Befindlichkeitsstörungen, Ängste und Selbstmordgedanken;
  • langfristige psychische Erscheinungen: Neurasthenie;
  • Letalität (Fabig 2007, S.52; Fabig/Otte 2007, S.194 f.; Gallo 2007, S.235 f.; Kühner 2009, S.2 f.).

Es existieren über 300 veröffentlichte Studien, die einen Zusammenhang von Dioxin und Erkrankung bestätigen. Auch wenn sich die Studien uneinig darüber sind, von welchem Dioxinwert eine bestimmte Krankheitsgefahr ausgeht, ist dennoch festzuhalten, dass jeder erhöhte Dioxinwert auch ein erhöhtes Risiko darstellt (Nguyen Van Tuan 2006, S.80 f./114).

Operation »Ranch Hand«

»Agent Orange« wurde während des Zweiten Weltkrieges erstmals an der University of Chicago hergestellt und diente als Unkrautvernichtungsmittel. Der erste Einsatz von Pflanzenvernichtungsmitteln als Kriegswaffe (1948 in Malaysia) galt als Grundlage für die Verwendung von »Agent Orange« und anderen Herbiziden im Vietnamkrieg. Der »Agent Orange«-Einsatz begann 1961. Vietnam war zu dieser Zeit am 17. Breitengrad in einen kommunistisch geführten Norden und einen antikommunistisch geführten Süden aufgeteilt. In amerikanischer und südvietnamesischer Kooperation wurde ein militärisches Entwicklungs- und Testzentrum zur Verhinderung eines kommunistischen Aufstandes durch die Guerillagruppen der »Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams« (Viet Cong) errichtet. Für die ersten Testreihen von Herbizideinsätzen trafen bereits Ende 1961 die ersten Fässer mit Chemikalien per Schiff in Südvietnam ein. Kurz darauf kam es in südvietnamesischer und amerikanischer Übereinstimmung Anfang 1962 zur Genehmigung der so genannten Operation »Ranch Hand«. Mithilfe von Transportflugzeugen wurden verschiedene Herbizide auf jenen Landesflächen gleichmäßig verteilt, in denen man die kommunistischen Gruppen vermutete. Im Laufe der Operation stieg die Zahl der Sprühungen an (Griffiths 2003, S.64 f.).1 Einige Landflächen wurden mehrmals pro Tag besprüht, sodass es zu gravierender Kontamination einzelner Landflächen, den »Hot Spots«, kam.

Trotz erster Studien im Jahre 1966, die genetische Fehlbildungen aufgrund einer Dioxinkontamination feststellten, fand die Operation »Ranch Hand« Ende der 1960er Jahre ihren Höhepunkt. Erst im Mai 1970 wurde das Versprühen von »Agent Orange« eingestellt, und 1971 erfolgte der Abbruch der Operation »Ranch Hand«. Insgesamt wurden 14 verschiedene Herbizide verwendet, »Agent Orange« machte allerdings aufgrund seines schnellen und hohen Wirkungsgrades 65% der gesamten Operationseinsätze aus. Daher wird der Begriff »Agent Orange« oftmals stellvertretend für die Gesamtheit der eingesetzten Herbizide verwendet (Stellman u.a. 2003, S.682).

Nach Auswertung und Korrektur US-amerikanischer Aufzeichnungen zur Operation »Ranch Hand« ergibt sich folgendes Bild:

  • 4,8 Millionen Menschen kamen während der Operation »Ranch Hand« direkt mit »Agent Orange« in Kontakt.
  • 17 Millionen SüdvietnamesInnen und eine Millionen NordvietnamesInnen waren insgesamt den Herbiziden ausgesetzt.
  • Die Durchschnittskonzentration des Dioxins der einzelnen Substanzen lag bei 13 mg.
  • Im Rahmen von über 19.900 Flugeinsätzen wurden 44 Mio. Liter »Agent Orange«, 20 Mio. Liter »Agent White«, 8 Mio. Liter »Agent Blue«, 1,9 Mio. Liter »Agent Purple«, 464.164 Liter »Agent Pink« und 31.026 Liter »Agent Green« versprüht.
  • 2.631.297 Hektar wurden mit Herbiziden besprüht (bis zu 27 Kilogramm Dioxin/Hektar).
  • Von 60% bewaldetem Land wurden 44% zerstört: 3,3 Millionen Hektar Land, 50% Oberfläche der nordöstlichen Mekongregion, zwei Millionen Hektar tropischer Wald, 40% der Mangrovenwälder und 43% der Ackerfläche.
  • Es kam zur Störung des Nährstoffgleichgewichts und der Bewässerungssysteme, zur Verminderung von Biodisponibilität, zu Veränderungen von Mikro- und Makroklimata und zur Begünstigung unerwünschter Arteninvasionen.
  • Im Jahr 2003 lag der Dioxingehalt in tierischen Nahrungsmitteln (Hot-Spot-Gebiet Bien Hoa) bei 0,03-331 mg (Fabig 2007, S.47; Stellman u.a. 2003, S.682 f.; Vo Quy 2007, S.218 f./212 f.).

»Agent Orange«-Opfer heute – der vietnamesische Blick auf Mensch und Gesellschaft

Die Dramatik des »Agent Orange«-Einsatzes liegt nicht nur in den direkt verursachten Folgen, sondern in den lang anhaltenden, weder kontrollierbaren noch unmittelbar nachweisbaren Folgen für die Nachkommen der zweiten und dritten Generation. Diese bezeichnen sich selbst als »Agent Orange«-Opfer.

Man geht von 800.000 bis drei Millionen »Agent Orange«-Opfern in ganz Vietnam aus. Diese hohe Differenz liegt in der fehlenden einheitlichen Definition von »Agent Orange«-Opfern, der hohen Dunkelziffer und fehlender Zahlen zu den Menschen, die bereits (unwissend) aufgrund von »Agent Orange« verstorben sind. Durchschnittlich ist jede achte Familie von »Agent Orange« betroffen. 70% der »Agent Orange«-Opfer leben unterhalb der Armutsgrenze und 40% in extremer Armut. 90% der Betroffenen sind arbeitslos und 85% der Familien haben mehr als ein beeinträchtigtes Kind (Beckmann/Giesler 2000, S.102; Kühner 2009, S.1 f.; Le Thi Nham Tuyet/Johansson 2001, S.156; Ninh Do Thi Hai 2002, S.199).

In Anlehnung an Friedmanns Aufteilung in Primär-, Sekundär- und Tertiäropfer (2004, S.13) gehören die ehemaligen Soldaten, die Zivilbevölkerung und die Nachfolgegenerationen zu den Betroffenen des »Agent Orange«-Einsatzes. Für diese drei Gruppen sind die sozialen Folgen sehr unterschiedlich und hängen von dem Zusammenspiel der Mikro-, Meso- und Makroebene ab. »Agent Orange«-Opfer werden in der vietnamesischen Kultur in erster Linie einer von zwei Gruppen zugeordnet: Kriegsveteranen oder Menschen mit Behinderung. Die Bewertungsstrukturen beruhen auf diachronisch-kulturellen und gesellschaftlichen Glaubens- und Verhaltenslehren und führen zu unterschiedlichen Reaktionsmöglichkeiten mit einer soziokulturellen Logik. Die Logik, geprägt von Konfuzianismus, Buddhismus, Ahnenkult, Daoismus, Kommunismus und Synkretismus, bedingt also die individuelle Bewertung und den tatsächlichen Umgang mit den Themen Krieg, Krankheit und Behinderung.

Im konfuzianischen Sinne sind (Fehl-) Entwicklungen der Persönlichkeit Probleme der Ethik und Moral. Dabei wird die Moral als Selbstkultivierung und Sittenorientierung verstanden. So verurteilt der Konfuzianismus verhaltensauffällige Kinder als »fehlorientiert« oder »noch nicht entfaltet« (Hee-Tae Chae 2004, S.218). Trotz der hohen Stellung innerer Werte werden körperliche Behinderungen mit Ambivalenz betrachtet, was mit dem Wunsch nach Konformität, dem Schamprinzip und dem Wahren des äußeren Gesichtes erklärt werden kann. Weiterhin existiert die Vorstellung, dass Moral, Begabung und Leistungsbereitschaft eine Behinderung ausgleichen können. Diese Idee der ausgleichenden Balance steigert den sozialen Druck auf Menschen mit Behinderung (Linck 1995, S.98 f./181). Daneben sind es oft die Mütter, die eine große psychische und physische Belastung empfinden. Nach einer Studie von Le Thi Nham Tuyet/Johansson (2001) fühlen sie sich oft minderwertig, da sie der Familie keine gesunden Nachkommen schenken können.

Die buddhistische Vorstellung von Karma und Wiedergeburt sieht eine Behinderung entweder als selbstverschuldete Strafe oder Rache für eine vorherige Existenz oder als Herausforderung für die jetzige Existenz. Karma impliziert stets eine Ursache-Wirkung-Relation und soll den Menschen zu guten Taten bewegen. Im Buddhismus ist der Mensch einerseits autonom, zeitgleich aber auch, aufgrund des Glaubens an ein Kollektiv-Karma, von der Gemeinschaft abhängig. Verknüpft mit dem Glauben an Geisterwesen und dem Ahnenkult ist der Mensch gewillt, seine eigene aktuelle Situation und die der eigenen Familie unmittelbar und positiv zu beeinflussen.

Im Sinne des Daoismus wird eine geistige oder körperliche Auffälligkeit als Unausgeglichenheit der dynamischen Wechselbeziehung von Yin und Yang beurteilt. Behinderungen, Krankheiten oder Auffälligkeiten gelten als mangelnde Harmonie mit sich und der Umwelt. Um einen harmonischen Ausgleich zu erzeugen, sollte die Umwelt nicht abwarten, bis sich die Abweichung anpasst, sondern muss sich im Sinne des Dao, d.h. der Wandelbarkeit des Universums, gemeinsam mit der Abweichung zu einem fließenden, gleichgesinnten Ganzen entwickeln. Leid und Krankheit sind im Daoismus frei von Bewertung und stehen in einem komplementär-harmonischen Verhältnis mit Gesundheit.

Die politischen Strukturen des Kommunismus können ebenfalls die Sicht auf Menschen mit Behinderung beeinflussen. Im kommunistischen Menschenbild, geprägt von der Idee der Gemeinschaft und der Arbeit als Beitrag für das Zusammenleben, wird die psychische Dimension des Menschen vernachlässigt. Von jedem Mitglied der Gesellschaft wird dieselbe Leistung erwartet. Zusätzlich passt das Bild von Menschen mit Behinderung oder der »Agent Orange«-Opfer nicht in die von der damaligen Wirtschaftsreform (Doi Moi) ausgehende positive Darstellung Vietnams.

Vereinfacht lassen sich vor diesem Hintergrund zwei Wege erkennen, eine Behinderung zu sehen. Einer gründet auf Mitleid bzw. Ehrerbietung, der andere beruht auf Emotionen wie Angst oder Scham. Mitleid und das Streben nach Barmherzigkeit stellen für die »Agent Orange«-Opfer eine wichtige Attitüde dar und ermöglichen soziale Reaktionen der Akzeptanz und Integration. Angst hingegen, gepaart mit Scham, Schicksalsglaube, Armut und Unkenntnis, führen zu Rückzug und Isolation. Der unbewusste gesellschaftlicheDruck zu Konformität und die fehlende Trennung zwischen Person und Behinderung können dazu führen, dass »Agent Orange«-Opfer entweder weggegeben oder versteckt werden.

Kriegsveteranen leben heutzutage oft in Isolation, Armut und einer Zweiklassengesellschaft. Gesellschaftliches Ansehen bekommt nur der Veteran, bei dem die Spuren des Krieges deutlich zu sehen sind und der für die kommunistische Regierung im Norden gekämpft hat. Südvietnamesische Veteranen werden verächtlich »Marionetten-Soldaten« genannt und haben gesellschaftlich eine schwere Stellung. Viele der »Agent Orange«-Opfer sind auf Almosen angewiesen. Je sichtbarer die Behinderung, desto mehr Almosen bekommt man, was oftmals gezielt zur weiteren körperlichen Verstümmlung führt.

1998 entstanden erstmals auf politischer Ebene gesetzliche Richtlinien, die langfristige Hilfen für »Agent Orange«-Opfer (u.a. medizinische Behandlung, berufliche Ausbildungsmöglichkeiten) gewährleisten sollen. Im Grundrechtskatalog von 1992 und im »National Plan of Action for the Vietnamese Children« werden Sozialhilfe und berufliche Eingliederung für Kriegsveteranen, Dioxin-betroffene Kinder und Menschen mit Behinderung gesichert (Ninh Do Thi Hai 2002, S.196). So gibt es beispielsweise seit dem Jahr 2000 eine monatliche Rente für Kriegsveteranen (ca. 10-20 US-Dollar) und eine Verminderung oder Befreiung der Schulgebühren für Kinder mit Behinderung. Weiter wurden – entsprechend des von der Weltgesundheitsorganisation entwickelten Konzeptes der »Community-Based Rehabilitation« – nach und nach in jeder Provinz Rehabilitationszentren für »Agent Orange«-Opfer aufgebaut sowie Nichtregierungs- und zwischenstaatliche Organistionen etabliert. Zu den wichtigsten dort tätigen Organisationen gehören MOLISA, VAVA, die GIZ, OGCDC und die ILO.2 Sie befassen sich u.a. mit juristischem Vorgehen gegen involvierte Chemieunternehmen und aktivieren die (Weiter-) Bildungs- und Gesundheitsebene.

Fazit

Die Auswirkungen und Folgen des Vietnamkrieges auf Umwelt und Mensch wurden 1970 mit dem Begriff des »Ecocide« beschrieben. »Ecocide« beschreibt in bewusster Anlehnung an den Begriff des Genozids die gezielte und permanente Zerstörung der menschlichen Umwelt. Explosive Munitionen, der Einsatz von Napalm und Minen, die mechanische Zerstörung der Felder und der gezielte Einsatz von Herbiziden gelten entsprechend als Akte gegen die Menschlichkeit.3 Das geschädigte Ökosystem ist nicht mehr in der Lage, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Auch wenn im Juli 2010 US-Außenministerin Hillary Clinton Hilfe bei der Beseitigung der giftigen Hinterlassenschaften des US-Militärs im Vietnamkrieg zusicherte, stehen die ökologischen Aufbauprogramme aufgrund der hohen Kosten in ständiger Gefahr, gestoppt zu werden.

Es ist zu betonen, dass die Vernichtung des Ökosystems zwar in vielen Kriegen eine eingesetzte Strategie war, dennoch hat der Einsatz von Herbiziden im Vietnamkrieg eine unvergleichliche Zerstörung hervorgerufen. Der Krieg, der Einsatz von Herbiziden und besonders der Einsatz von „»Agent Orange« haben im enormen Ausmaß der Umwelt, aber in noch gravierenderer Weise der Zivilbevölkerung geschadet. Sensibilität, die Schaffung eines Bewusstseins und Aufklärung sind sowohl nationale als auch internationale Ziele für eine angemessene Betrachtung und einen angemessenen Umgang mit den Folgen des »Agent Orange«-Einsatzes.

Literatur

Beckmann, Tho/Giesler, Renate (2000): Das Beispiel Vietnam: Agent-Orange und die Folgen. Zeitschrift »Behinderung und Dritte Welt« 11 (3), S.102-104.

Berendt, Isabell Franziska (2009): Der Einsatz von Agent Orange während des Vietnamkriegs in den 1960er Jahren. Die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Hamburg.

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Fabig, Anita/Otte, Kathrin (Hrsg.) (2007): Umwelt, Macht und Medizin. Zur Würdigung des Lebenswerks von Karl-Rainer Fabig. Kassel.

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Linck, Gudula (1995): Befähigung anderer Art? Zur Lebenswelt körperlich Behinderter in China. Pfaffenweiler.

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Ninh Do Thi Hai (2002): Vietnam. Die Sozialpolitik für Behinderte in Vietnam. In: Pitschas, Rainer/Baron von Maydell, Bernd/ Schulte, Bernd (Hrsg.): Teilhabe behinderter Menschen an der Bürgergesellschaft in Asien und Europa. Speyer, S.195-204.

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Vo Quy (2007): Ökozid in Vietnam – Erforschung und Wiederherstellung der Umwelt. In: Fabig, Anita/Otte, Kathrin (Hrsg.), op.cit., S.218-231.

Anmerkungen

1) 15.000 Gallonen (1962), 59.000 Gallonen (1963), 175.000 Gallonen (1964), 621.000 Gallonen (1965) und 2,28 Millionen Gallonen (1966). 1 US-Gallone = 3,7 Liter.

2) MOLISA = Ministry of Labour, Invalids and Social Affairs; VAVA = Vietnamese Association of Victims of Agent Orange; GIZ = Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit; OGCDC = Office of Genetic Counseling and Disabled Children; ILO = International Labor Organization.

3) Die Operation »Ranch Hand« verstieß zum damaligen Zeitpunkt gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907 und das Genfer Giftgasprotokoll von 1925; aufgrund fehlender Ratifizierung sind weder die USA noch die ehemalige südvietnamesische Regierung völkerrechtlich anklagbar (Berendt 2009, S.16 f.).

Natalie Wagner ist Diplom-Pädagogin mit den Schwerpunkten Sonderpädagogik, Psychologie und Soziologie, und sie beendete ihr Studium im September 2012 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Momentan leistet sie einen Freiwilligendienst im Auftrag der Deutschen UNESCO-Kommission in China.

Das zerrissene Geflecht der Seele

Das zerrissene Geflecht der Seele

Langzeitfolgen des Konflikts in Guatemala

von María Cárdenas und Philipp Schultheiss

Mit der Anklage gegen den ehemaligen Diktator und Ex-General Ríos Montt ist Guatemala das erste Land weltweit, in dem einem ehemaligen Staatsoberhaupt vor einem nationalen Gericht wegen Völkermordes der Prozess gemacht wird. Doch die Gesellschaft ist hinsichtlich der Frage gespalten, ob die Vergangenheit ruhen soll oder ob erst ihre Aufarbeitung einen Neuanfang des Landes ermöglichen kann. Um zu verstehen, weshalb der öffentliche Diskurs diesbezüglich noch immer so polarisiert ist, müssen die strukturellen, sozial- wie individualpsychologischen Langzeitfolgen des internen Konflikts ins Auge gefasst werden, die bis heute in die guatemaltekische Gesellschaft hineinwirken. Die beiden Autor_innen sind dieser Frage vor Ort nachgegangen und führten hierzu Interviews und Gruppendiskussionen mit Betroffenen.

Die Geschichte Guatemalas lässt sich anhand zweier zentraler Konfliktlinien bzw. Konfliktmuster charakterisieren: Zum einen verläuft die Ungleichverteilung von Zugangschancen, Besitz und politischer Teilhabe entlang der Ethnien. Zum anderen werden die politischen Machtkämpfe und ökonomischen Interessen autoritär und gewaltsam ausgetragen. Die europäischstämmige Oligarchie, die traditionell enge Beziehungen zum Militär hält, konnte seit der Kolonialisierung ihre Vormachtstellung durch die ethnische Einteilung der Bevölkerung in Mestizen und Indigene und deren auf Rassismus basierende Abgrenzung voneinander aufrecht erhalten.

Die sozioökonomischen Schichten entsprechen also seit jeher den ethnischen Gruppen: Indigene stellen die größte Bevölkerungsgruppe (60%; FIDH 2006) und die arme, landlose Unterschicht dar. Dem gegenüber besteht die europäischstämmige Oligarchie aus einem Nukleus von rund 20 Familien, die ihre Politikinhalte „mehr als in jedem anderen zentralamerikanischen Land über oligarchische Interessengruppen“ durchsetzt und so bis heute die Ungleichheit zementieren konnte (Zinecker 2006, S.23). Die Mestizen bilden die Mittelschicht, die sich bis heute nur durch die ethnische Diskriminierung der indigenen Bevölkerung von letzterer abgrenzen und ihren Status zwischen beiden Gruppen stabilisieren konnte. Diese gesellschaftliche Einteilung wird bereits seit der Kolonialisierung durch Terror, Zwangsumsiedlungen der indigenen Bevölkerung und die politökonomische Marginalisierung der Indigenen aufrechterhalten (vgl. Taussig, zitiert in Lovell 1988, S.36f.).

Die drastischen Unterschiede innerhalb der Gesellschaft zeigen sich auch im Bildungswesen und weisen auf eine intersektionale Dimension der Diskriminierung hin: Der Zugang zu Bildung hängt von der Verknüpfung von Herkunft, Geschlecht und Ethnie ab. So liegt die Dauer des durchschnittlichen Schulbesuchs einer weiblichen Indigenen bei lediglich zwei Jahren, gefolgt von männlichen Indigenen und anschließend Stadtbewohnerinnen, während Stadtbewohner mit 7,61 Jahren Schulbesuch den Höchstdurchschnitt darstellen (FIDH 2006, S.30). Aktuell plant die Regierung zudem, die Lehrerausbildung zu reformieren und in ein Universitätsstudium umzuwandeln, was der armen indigenen Bevölkerung, für die ein solches Studium kaum finanzierbar ist, den Zugang zum Lehrerberuf weiter erschwert. Bislang war der Lehrerberuf für viele Indigene einer der wenigen Wege in ein gesichertes und angesehenes Arbeitsverhältnis. Am eindeutigsten spiegelt sich jedoch starke Ungleichheit zwischen den Ethnien in den aktuellen Armutszahlen wieder: So folgern Rosada und Bruni, dass 75,6% der in Armut lebenden Bevölkerung Indigene sind und dass wiederum in den Regionen mit der höchsten indigenen Bevölkerung mehr als 75% in Armut oder extremer Armut leben (Rosada & Bruni 2009, S.8).

Rückblick: Der interne bewaffnete Konflikt 1960-1996

Zu Beginn der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hatte es durchaus Hoffnung auf eine gerechtere guatemaltekische Gesellschaft gegeben. Mit dem Aufkommen der katholischen Befreiungstheologie im Zuge der Emanzipationsbewegungen Lateinamerikas ab den 1950er Jahren sowie durch Reformen der Präsidenten Arévalo (1945-1949) und Jacobo Árbenz (1950-1954) zugunsten der armen und landlosen Bevölkerung hatte eine Refokussierung großer Teile der indigenen Bevölkerung auf ihre korporativen Strukturen, kulturellen Traditionen und Sprache eingesetzt (Lovell 1988, S.43). Árbenz hatte durch eine Landreform den Verkauf von 1,4 Millionen Hektar ungenutzten Landes aus privater und staatlicher Hand an 500.000 bis dato landlose Guatemalteken ermöglicht und so eine Umverteilung in Gang gesetzt, die Großgrundbesitzer, internationale Agrarkonzerne wie die United Fruit Company und die US-Regierung als Bedrohung wahrnahmen. Sie stürzten Árbenz am 17.06.1954 mit Hilfe der CIA und des rechten Flügels des guatemaltekischen Militärs.

Der Putsch und die darauf folgende erste Militärregierung legten den Grundstein für den bewaffneten Konflikt zwischen rechtem Militär, Paramilitärs und Oligarchie einerseits und linken Guerillas andererseits. Die Guerillas zogen sich vorrangig in die dicht bewaldete Region Ixcan im Nordwesten Guatemalas zurück, weshalb das Militär und später die paramilitärischen »Patrullas de Autodefensa Civil« (PAC) ihren Terror hauptsächlich gegen die dort ansässige ländliche und größtenteils indigene Zivilbevölkerung richteten (Taylor 2007, S.186ff). Das von evangelikalen Kirchen stark beeinflusste Militär legitimierte die gewaltsame Bekämpfung der korporativen indigenen Strukturen, welche durch die katholische Befreiungstheologie beeinflusst waren, indem sie sie als »kommunistisch« stigmatisierte. 1981 begann die Kampagne der »tierra arrasada«, der verbrannten Erde: Das Militär verbrannte die Dörfer und siedelte die ländlichen Bewohner zur besseren Kontrolle in neuen, hierfür extra gerodeten Flächen, sog. »Modelldörfern«, an (ebd). Das Militär bediente sich bei der Ausübung von Gewalt auch bei traditionellen und religiösen Deutungsmustern der Maya-Kosmovision und evangelikaler Pfingstkirchen, mit Hilfe derer die Verantwortung bzw. Schuld für widerfahrene Gewalt beim Opfer lokalisiert werden konnte. Gewalt wurde hierdurch zu einem legitimen Mittel der Normdurchsetzung bzw. -wiederherstellung umgedeutet. Viele Zivilisten wechselten aus Angst zu evangelikalen Kirchen über, da diese den Schutz des Militärs genossen.

Das Militär verknüpfte mit der Repression gegen diesen Teil der Bevölkerung also ökonomische, politische, rassistische und religiöse Motive. Der bewaffnete Konflikt und der vom Militär gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Terror forderte 200.000 Todesopfer bzw. »desaparecidos« und eine Million Binnenflüchtlinge (Carey 2004, S.71). Die Landreform von Árbenz wurde rückgängig gemacht, was im Zusammenspiel mit Vertreibung, Zwangsumsiedlungen und Landraub während des Bürgerkriegs die heutige Ungleichverteilung des Landes zementiert hat: Zwei Prozent der Bevölkerung besitzen heute 70% des kultivierbaren Landes (Held 2010, S.3).

Erst 1983 fand durch einen weiteren Putsch eine Befriedung des Landes statt, die 1996 mit der Demobilisierung der Guerillas und der Unterzeichnung von vier Friedensverträgen, die allerdings bis heute nur unzureichend erfüllt sind, abgerundet wurde. Wenngleich das Land bereits seit knapp zwanzig Jahren offiziell befriedet ist, wirken jedoch die spezifischen Formen der Gewalt weiterhin auf die Gesellschaft ein und haben sie bis heute geprägt.

Die Stille als Überlebensstrategie

Im Nordwesten nutzten die indigenen Gemeinden das schwer zugängliche Gebiet und die Grenze zu Mexiko, um Widerstand zu leisten oder um ein »Leben im Schatten« zu führen: Sie versteckten sich als Gemeinde bis zu zwanzig Jahre im bewaldeten Hochland (zur Gemeinde Primavera de Ixcan vgl. Taylor 2007). Aus dieser Erfahrung entwickelten sie trotz hoher Verluste an Familienangehörigen und Freunden eine starke soziale Kohäsion, die aus der gegenseitigen Abhängigkeit und Solidarität herrührt. Dies gab ihnen Kraft, die Gewalterfahrungen besser zu verarbeiten und einen Neubeginn zu schaffen: Sie konnten sich nicht nur als Opfer, sondern auch als Überlebende oder Widerstandskämpfer sehen. Nach dem Konflikt waren es diese Gemeinden, die die höchste Aufmerksamkeit von internationalen Organisationen erhielten. Ihnen wird allerdings auch bis heute eine große Organisationsfähigkeit attestiert.

Die Gemeinden, in denen der Widerstand geringer war, die aber an strategisch relevanteren Punkten lagen und keine Fluchtmöglichkeiten hatten, wie die Gemeinden an der Peripherie um Guatemala-Stadt, erhalten bis heute weniger internationale Aufmerksamkeit. Sie waren den verschiedenen Strategien der »Aufstandsbekämpfung«, wenn auch in geringerem Masse, jedoch schutzlos ausgesetzt. Die Gemeinden waren oftmals infiltriert, und das Militär nahm im Schutz der Nacht »Verdächtige« mit: Viele »desaparecidos«, Verschwundene, konnten bis heute nicht gefunden werden. Das Unwissen über das, was passierte, und wer in der Gemeinde welche Funktionen erfüllt hatte, führte zu einer Omnipräsenz der Angst und einer Gewaltpräsenz ohne Autor oder Adressat, die ein allgegenwärtiges Schweigen mit sich zog: „Wir waren alle im Ungewissen, niemand redete darüber, und niemand traute sich zu sagen, was er wusste“, die Wände bekamen Ohren, die Stille wurde zur einzigen Hoffnung auf Sicherheit (Interview 1).

Viele Eltern isolierten ihre Kinder, lehrten sie, mit Fremden, Bekannten und auch der Familie nur das Nötigste zu sprechen und kein Aufsehen zu erregen. „Sie wuchsen auf mit einer ständigen Angst vor einem unbekannten Ungeheuer, von dem niemand weiß, was es will, welche Waffen es hat, wo es sich befindet und wann es angreift.“ (Interview 3a) Dieses Gefühl der Unsicherheit und der Ungewissheit hielt auch nach der Hochphase der Gewalt 1981-1983 an. Es gab keine Aufklärung über die vielen Verschwundenen, sondern einen sanften Übergang zu »negativem Frieden«, so dass die Menschen keinen Bruch mit der gewaltsamen Vergangenheit erkennen konnten. Vielmehr bestand die Gemeinde weiterhin aus den selben Mitgliedern: Unter ihnen lebten Spitzel, Paramilitärs und Militärs neben Opfern von Tod, Folter, Vergewaltigung – als wäre nie etwas passiert und doch in ständiger Angst. So wurden auch die paramilitärischen PAC nie offiziell aufgelöst, sondern bestehen vielerorts als »seguridad comunitaria las 24h«, als Bürgerwehren, fort. In diesem Sinne ist für viele Opfer auch die Persistenz des Militärs im Inneren des Landes ein Zeichen, dass die Repression nicht vorbei ist, sondern vielmehr weiter existiert.

Meist wird bis heute weder in den Gemeinden noch im inneren Kreis über die Geschichte und die Gewalterfahrungen gesprochen, zu hoch ist die Angst, das Aufbrechen alter Wunden könnte neue Gewalt hervorbringen. Das fehlende Vertrauen hat viele Menschen paralysiert und eine »Kultur der Stille« geschaffen. Dies verhindert nicht nur einen Heilungs- und Versöhnungprozess innerhalb der Gemeinden, es manifestiert sich auch in einer Kriminalisierung bürgerschaftlichen Engagements: „Die Polarisierung wird forciert und wir (sozialen Akteure) werden als Störenfriede stigmatisiert. Die Menschen haben Angst vor Störenfrieden, weil sie das Militär anlocken.“ (Interview 1) Deutlich wird dies an 402 Angriffen oder Einschüchterungsversuchen gegen Menschenrechtsaktivisten allein im Jahr 2011 (Amnesty International 2012).

Wie die Gewalt in die Gemeinden floss

Die fehlende Möglichkeit der Artikulation von Problemen und Konflikten hat dabei oft gewaltsame Konsequenzen auf individueller und kollektiver Ebene und wirkt sich auch auf andere Bereiche des Privatlebens sowie auf die generelle Diskurs- und Konfliktlösungskompetenz aus. Mit der Kultur der Stille geht insofern auch eine Akkumulation von ungelösten Problemen einher. Die beinahe allumfassende Straflosigkeit, die bei einer der höchsten Mordraten weltweit (40 Morde pro 100.000 Einwohner)1 rund 98,6% dieser Morde unaufgeklärt lässt (Briscoe 2012, S.12), sowie die Ohnmacht angesichts dieser hohen Gewaltintensität verstärken die Frustration auf individueller und kollektiver Ebene. »Justicia a mano propia«, Selbstjustiz, sowie die in Guatemala im Vergleich zu den Nachbarländern stark verbreitete Lynchjustiz stellen deshalb oft die einzig zugänglichen Sanktionierungsmöglichkeiten und auch das einzige Ventil für die allgegenwärtige Bedrohung und die angesammelte Frustration dar.2 Ohnmacht bzw. das Wissen um die Straflosigkeit von Verbrechen gehen mit einer Resignation bzw. Legitimation von physischer, materieller und immaterieller Gewalt einher.

Am Phänomen der »Femicidios«, der Frauenmorde,3 wird auch eine weitere Funktion von Gewalt deutlich, die ihren Ursprung im staatlichen Terror hat: Die gesellschaftliche Zurechtweisung von Individuen mit Hilfe von Gewalt, denen die Täter ein nichtkonformes Verhalten gegenüber Regeln und Normen attestieren, wird oft von weiten Teilen der Gesellschaft wenn nicht unterstützt, so doch als gegeben akzeptiert (FIDH 2006, S.33). Aber auch der Diebstahl, der häufig mit unverhältnismäßiger Gewalt einhergeht, oder die zur Dienstleistung aufgewerteten Auftragsmorde, die für nur 400 US$ erhältlich sind, sind Indizien für die Verrohung und Veralltäglichung von Gewalt, die in großen Teilen aufgrund der (Zwangs-) Rekrutierung durch die Armee und die PAC in die Gesellschaft floss. So hatte das Militär zahlreiche Männer im Zuge der Indoktrination für den Einsatz in den PAC konkret in der Verwendung von sexueller Gewalt als Mittel der Aufstandsbekämpfung geschult und durch Mutproben abgehärtet (Weber 2013, S.11-14). Die teilweise noch Minderjährigen erlernten die strategische Anwendung von Vergewaltigungen, Folter und Mord und damit den gering zu schätzenden Wert eines Menschenlebens: „Mein Bruder, der bei der Armee war, sagte zu mir: Das Militär selbst zerstört jede friedliche Kultur, denn es lehrt dich, den anderen zu hassen und ihm zu misstrauen. Es gibt immer einen Feind. Auch wenn du ihn nicht siehst.“ (Interview 1)

»El sujeto social internalizado« – die Früchte der Gesellschaft

Neben den beschriebenen sozialpsychologischen Langzeitfolgen finden sich auch auf individueller Ebene physische und psychologische Auffälligkeiten, die ihre Wurzel im internen Konflikt haben und/oder mit den genannten gesellschaftlichen Phänomenen korrelieren. Während das Militär die Soldaten und Paramilitärs in Brutalität und Gewaltverherrlichung schulte, so leiden auf der anderen Seite ihre Opfer bis heute unter den Folgen von psychischer und physischer Folter und Gewaltanwendung. Vor allem bei Männern äußere sich dies unseren Interviewpartner_innen zufolge in einem hohen Maß an Alkoholismus. Auch waren sich die Therapeut_innen in den von uns geführten Interviews einig, dass die in Guatemala sehr häufig vorkommenden Krankheiten Gastritis und Diabetes oftmals psychosomatische Krankheitsbilder seien, deren Wurzeln in den traumatischen Erlebnissen des Konflikts zu finden sind. Dafür spricht, dass Gastritis im Distrikt Rabinal, in dem es zahlreiche Massaker gab, besonders häufig auftritt.4

Ein weiteres Phänomen, an dem sich beispielhaft das Zusammenwirken von sozialer und individueller Ebene zeigt, ist die sexuelle bzw. häusliche Gewalt gegenüber Frauen. Ihre Ursachen sind sowohl in der Verrohung wie der Traumatisierung vieler Männer zu finden, die während des Krieges als Kombattanten beider Seiten, aber auch als entführte und gefolterte Zivilisten nachhaltig durch Gewalt geprägt wurden. Gleichzeitig hatten Frauen in Abwesenheit der Männer klassisch maskulin belegte Aufgaben übernommen und so tradierte Geschlechterrollen in Frage gestellt, was zu zusätzlichen Spannungen führte. Auf der anderen Seite wurde die Rolle der Witwen von unseren Interviewpartner_innen als zentral für einen positiven Wandel der Geschlechterbeziehungen und der Anerkennung und Emanzipation der Frauen genannt. Viele Frauen, die Opfer der sexuellen Gewalt durch das Militär wurden, leiden bis heute unter verschiedensten psychischen Erkrankungen, wie etwa Depressionen, Schlafstörungen, Nervosität, Essstörungen oder Teilnahmslosigkeit.

Erschwerend wirkt hier, dass durch den von den Frauen erlittenen sexuellen Missbrauch die strengen kulturellen Konzeptionen einer »unbefleckten Ehefrau« zerstört wurden. Sexueller Missbrauch und Vergewaltigung wurden von den Gemeinden auch aufgrund ihrer Hilflosigkeit als kollektive Schande wahrgenommen, sodass oft versucht wurde, die Schuld für die Vergewaltigung auf die Frauen selbst oder ihre Ehemänner zu schieben (Weber 2013, S.11). Dies führte häufig zu einer noch stärkeren Stigmatisierung der Frauen und zu ihrem Ausschluss aus dem sozialen Leben der Gemeinde. In der Isolation können diese Frauen leicht Opfer neuer Übergriffe aus Familie oder Gemeinde werden. So weist Guatemala auch eine vergleichsweise hohe Rate häuslicher Gewalt auf.5 Viele Frauen versuchen daher aus Selbstschutz, das an ihnen verübte Verbrechen zu verheimlichen, und hüllen sich in vollkommenes Schweigen, was die oftmals ohnehin vorhandenen Leiden noch verstärkt (ebd., S.12).

Fazit

Die guatemaltekische Gesellschaft leidet noch immer in großen Teilen unter den Folgen des Terrors, der sich vor dreißig Jahren vor allem von Seiten des Militärs und der Oligarchie gegen die indigene und ländliche Bevölkerung gerichtet hatte. Weiterhin herrschen bei großen Teilen der mestizischen und weißen Bevölkerung ethnische Ressentiments gegenüber der indigenen Bevölkerung vor, die in deren Marginalisierung und strukturellen Armut resultieren. Umgekehrt herrscht bei großen Teilen der Indigenen ein starkes Misstrauen gegenüber Fremden. Auch ist die Gesellschaft gespalten, wie mit der Vergangenheit umgegangen werden soll. Hier ist es vor allem die Angst, die die Menschen hemmt, ihre Gedanken, Gefühle und Erfahrungen mit ihrer Gemeinschaft zu teilen. Darunter leiden oft sowohl diejenigen, die Menschenrechtsverbrechen erfahren haben, als auch diejenigen, die sie – teilweise gegen ihren Willen – verübt haben.

Der fehlende Diskurs über die Vergangenheit und ihre Folgen für die guatemaltekische Gegenwart blockiert Veränderungen auf makrostruktureller Ebene, die einen Ausweg aus dem Teufelskreis der Gewalt erlauben würden. Die Allgegenwärtigkeit der Angst und der Gewalt auf individueller sowie kollektiver Ebene kann sich auch aufgrund fehlender Ventile in Lynchjustiz und Selbstjustiz entladen. Die hohe Straflosigkeit und Veralltäglichung von Gewalt stehen in engem Zusammenspiel mit strukturellen, sozial- wie individualpsychologischen Langzeitfolgen des internen Konfliktes, welche bis heute in die guatemaltekische Gesellschaft hineinwirken. Hierbei leben die Menschen in einem sich selbst reproduzierenden Widerspruch, in dem die Gewalt sie einerseits paralysiert und sie selbst andererseits keine andere Möglichkeit als die Anwendung von Gewalt sehen, um sich zu schützen. Nichtsdestotrotz gibt es Menschen wie unsere Interviewpartner_innen, die im Kleinen Veränderungen im »teijido social«, dem sozialen Geflecht, schaffen. Die durch soziale und entwicklungsorientierte Projekte aus den Gemeinden heraus und mit ihnen neues Vertrauen und Solidarität untereinander schaffen. Die sich entgegen der repressiven Verhaltensnormen als »Störenfriede« engagieren und das zerrissene Geflecht der guatemaltekischen Seele zu flicken versuchen.

Literatur

Amnesty International (2012): Guatemala – Submission to the UN Human Rights Committee for the 104th Session of the Human Rights Committee. London.

Briscoe, Ivan (2009): El Estado y la seguridad en Guatemala. Madrid: Fundación para las Relaciones Internacionales y el Diálogo Exterior (FRIDE).

Carey Jr, David (2004): Maya Perspectives on the 1999 Referendum in Guatemala: Ethnic Equality Rejected? In: Latin American Perspectives: The Struggle Continues: Consciousness, Social Movement, and Class Action, H. 31, Nr. 6 (Nov. 2004), S.69-95.

Casaús Arzú, Marta Elena (2002): La metamorfosis del racismo en Guatemala. Cholsamaj. Ciudad de Guatemala.

Federación Internacional de los derechos humanos (FIDH)(2006): Informe. Misión Internacional de Investigación. El feminicidio en México y Guatemala.

Held, Susanne (2010): Der Kampf um Land in Guatemala am Beispiel des »Comité de Unidad«. München: GRIN Verlag.

Lovell, George W. (1988): Surviving Conquest: The Maya of Guatemala in Historical Perspective. In: Latin American Studies Association, H. 23, Nr. 2 (1988), S.25-57.

Rosada, Romás; Bruni, Lucilla (2009): Crisis y pobreza rural en América Latina: el caso de Guatemala. Documento de Trabajo N°45 Programa Dinámicas Territoriales Rurales. Rimisp – Centro Latinoamericano para el Desarrollo Rural. Santiago, Chile.

Taylor, Matthew John (2007): Militarism and the environment in Guatemala. In: GeoJournal H. 69 (2007), S.181-198.

Weber, Sanne (2013): Giving a voice to victims. Towards gender-sensitive processes of Truth, Justice, Reparations and Non- Recurrence (TJRNR) in Guatemala. Ciudad de Guatemala: Impunitywatch.

Zinecker, Heidrun (2006): Gewalt im Frieden. Formen und Ursachen der Nachkriegsgewalt in Guatemala. HSFK-Report 8/2006. Frankfurt/Main.

Anmerkungen

1) CERIGUA 2012; bit.ly/X4uT6Y.

2) Mindestens ein Familienmitglied jedes zweiten Guatemalteken war im letzten Jahr bereits Opfer von Gewalt, 77,9% fürchten sich, das Haus zu verlassen (nach Briscoe 2009, S.12).

3) Als »Feminicidio« wird ein Mord bezeichnet, der mit der Zugehörigkeit der Person zum (biologischen) weiblichen Geschlecht und ihrer gesellschaftlichen Rolle in Verbindung steht.

4) Studie der Regionalverwaltung Rabinal; bit.ly/10FudoM.

5) So weist die UNAIDS-Erhebung für 2011 zur Gewalt an Frauen durch ihren Partner in den letzten zwölf Monaten für Guatemala mit 27,6% den höchsten Prozentsatz aller zentralamerikanischer Länder aus; bit.ly/ZJWXew.

María Cárdenas Alfonso ist Staats- und Kommunikationswissenschaftlerin (B.A.). Zurzeit studiert sie Friedens- und Konfliktforschung (M.A.) an der Philipps-Universität Marburg und ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F. Philipp Schultheiß studiert Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Marburg. Dieser Artikel beruht auf den vorläufigen Ergebnissen des Forschungsprojekts der beiden Autor_innen »Wechselwirkungen von kulturellen Dispositionen und Traumatisierung in Guatemala«. Während ihrer zweimonatigen Feldforschung führten die beiden Autor_innen Interviews sowie Gruppendiskussionen in unterschiedlichen Regionen des Landes.

Instabilität im Nahen und Mittleren Osten

Instabilität im Nahen und Mittleren Osten

Der Irak und sein regionales Umfeld nach dem Zweiten Golfkrieg

von Jochen Hippler

Der Nahe und Mittlere Osten ist heute von vielfältigen Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt. Eine wichtige Rolle in der Region spielte Jahrzehnte lang der Irak. Zunächst geprägt von historisch bedingter Schwäche, entwickelte sich das Land unter Saddam Hussein und der Baath-Partei zu einem regionalen Kraftprotz. Damit war es nach dem Dritten Golfkrieg vorbei – seit 2003 an trug die innere Schwäche des Irak auch regional zu Instabilitäten bei. Inzwischen verschob sich der Motor der Instabilität nach Libyen und Syrien. Der Autor beleuchtet das komplexe Geflecht.

Vor zwei oder drei Generationen – also vor und zu Beginn der Herrschaft Saddam Husseins – galt der Irak zu Recht als schwach und instabil. Diese historische Erfahrung bildet einen wichtigen Hintergrund für die Politik der späteren irakischen Regierungen, insbesondere ab 1968.1

Schwäche des Irak vor 1968

Ein Faktor für die damalige Schwäche war die Vernachlässigung des Landes durch die es kontrollierenden externen Mächte (Osmanisches Reich, Großbritannien). Daraus und aus den inneren Bedingungen des Landes resultierte das zweite Problem: Der Irak verfügte lange über einen ausgesprochen schwachen Staatsapparat und war gekennzeichnet von Defiziten und Instabilität im politisch-administrativen Bereich und einer unzureichenden Nutzung seines Entwicklungspotentials, bei weiterhin quasi-feudalem Charakter seiner Machteliten.

Eine dritte Quelle gesellschaftlicher und staatlicher Schwäche lag in dem Fehlen eines einigermaßen homogenen »Staatsvolkes«. Neben der den schiitischen Arabern, die die Bevölkerungsmehrheit stellen (ca. 55%), gibt es eine sunnitisch-arabische (ca. 20%), eine kurdische sowie eine Reihe kleinerer Minderheiten. Geführt wurde das Land unter dem König, dem Militär und der Baath-Diktatur vorwiegend von einer sunnitisch-arabischen Elite. Das Autonomiestreben der Kurden hatte der irakischen Regierung lange zu schaffen gemacht, die Konflikte nahmen oftmals militärische Formen an. Diese Konstellation erschwerte dem künstlich und von außen gegründeten Irak die Identitätsfindung und Staatsbildung und damit die Stabilisierung. Eine arabisch-nationalistische Staatsideologie (wie von der Baath-Partei offeriert) musste dem Viertel der Bevölkerung als Zumutung erscheinen, das nicht arabisch war. Eine islamische Identität wiederum war aufgrund des unterschiedlichen sozialen und religiösen Status von Sunniten, Schiiten und säkularen Kräften ebenfalls kaum gegeben.

Die Stärke des Baath-Regimes

Die Machtübernahme der Baath-Partei 1968 erfolgte vor diesen innen- sowie diversen außenpolitischen Hintergründen (Gegnerschaft zu Iran, Israel, Saudi-Arabien und den Golfstaaten sowie ein ambivalentes Verhältnis zu den USA). Zur Stabilisierung des Landes bediente sich die baathistische Regierung sofort nach ihrem Machtantritt vier Hauptinstrumentarien: der Repression ihrer Gegner; der taktischen Kooptierung bzw. später ebenfalls Repression derjenigen politischen Kräfte, die noch zu stark erschienen; der politischen und ideologischen Gleichschaltung aller staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen (Militär, Verwaltung, ideologische Apparate); und der Anstrengungen zur Entwicklung des Landes und seiner Infrastruktur sowie der Sozialpolitik und eines gewissen sozialen Transfers.

Dieser letzte Aspekt der Herrschaftssicherung, der eher integrativ und unter Nutzung ökonomischer Anreize funktionierte, wurde erst dadurch zu einem wirksamen Instrument, dass dem Staat ab 1973 durch die plötzliche Steigerung des Ölpreises und die kurz zuvor erfolgte Verstaatlichung des Ölsektors umfangreiche zusätzliche Finanzmittel zuflossen. Dies erhöhte das Verteilungs- und Investitionspotential des Staates erheblich. Bis zum Ende der 1970er Jahre gelang dem Irak auf diese Weise eine repressive Stabilisierung, die von Ölgeldern abgestützt wurde.

Außenpolitisch verfolgte das Regime Saddam Husseins eine offensive Politik, sobald es die innenpolitische Stabilisierung für erreicht hielt, die militärische Aufrüstung (einschließlich der Produktion von Chemiewaffen) weit genug fortgeschritten war und sich in der Nachbarschaft entsprechende Gelegenheiten boten. Die »Islamische Revolution« im Iran schien eine solche Gelegenheit zu bieten, als das Land nach dem Sturz des Schah innenpolitisch und militärisch geschwächt war. Nach acht Kriegsjahren (1980-1988) konnte der Irak seinen Angriffskrieg militärisch zwar für sich entscheiden, war aber wirtschaftlich und infrastrukturell massiv geschwächt. Auch aus diesem Grund erfolgte bereits 1990 die nächste militärische Aggression gegen das benachbarte Ölland Kuwait.

In dieser historischen Phase stellte der Irak durch seine von militärischer Stärke gekennzeichnete offensive Machtpolitik eine Bedrohung der regionalen Stabilität dar. 1992 erklärte ein hochrangiger irakischer Diplomat dem Verfasser gegenüber: „Wir sind bereit, eine oder zwei Generationen Iraker zu opfern, um den Irak zu einem starken Land zu machen.“ Zu diesem Zeitpunkt war dieser Anspruch allerdings im Kern schon gescheitert, da der Irak gerade den Zweiten Golfkrieg (gegen die USA und zahlreiche Verbündete) verloren hatte und unter den internationalen Sanktionen litt, die das Land dauerhaft ausbluten ließen.

Faktor für regionale Instabilität nach 2003

Auch danach war der Irak eine Bedrohung für die regionale Stabilität – diesmal allerdings nicht aufgrund seiner Stärke, sondern aufgrund seiner inneren Schwäche. Der völkerrechtswidrige Krieg der USA unter George W. Bush hatte das Land 2003 einer amerikanischen Besatzungsbehörde unterworfen, die ursprünglich die Macht sofort an eine neue, US-dominierte irakische Regierung übertragen sollte. Allerdings existierte im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins keine politische Elite, der man die Regierungsgewalt hätte übertragen können. Der US-Krieg hatte aus einem überwältigend »starken« und repressiven Staat innerhalb kurzer Zeit einen »failed state« gemacht. Die staatlichen Strukturen des Landes brachen nach der Niederlage innerhalb weniger Tage zusammen und lösten sich auf, die Reste wurden von Washington im Zuge der »Entbaathifizierung« zügig liquidiert.

Da im Irak unter Saddam Hussein jeder Ansatz zur Bildung zivilgesellschaftlicher Organisationen oder Parteien brutal verhindert worden war, konnten sich solche lediglich im Exil (insbesondere schiitische Parteien in Iran), im Untergrund oder in der seit dem Zweiten Golfkrieg bestehenden kurdischen Autonomiezone im Norden des Landes entwickeln, und auch das nur ansatzweise. Mangels in der Gesellschaft verankerter politischer Organisationen war eine schnelle Machtübergabe durch die US-Besatzungsbehörden also gar nicht möglich. Als diese sich bald darum bemühten, andere Repräsentanten der irakischen Gesellschaft zu finden, um mittelfristig Partner bei der Verwaltung des Landes aufzubauen, setzten sie auf Vertreter »der« Schiiten, Sunniten, Kurden und anderer Gruppen, da die Gesellschaft ja aus diesen Gruppen bestehe. Dies führte dazu, dass es für Personen und Gruppen höchst vorteilhaft wurde, sich besonders »schiitisch«, »sunnitisch«, »kurdisch« oder »christlich« zu geben, da sie nur so direkten oder indirekten Zugang zu politischer Macht erhalten konnten.2 War früher die Zugehörigkeit zu konfessionellen Gruppen häufig eher sozial und kulturell als religiös bedeutsam (so war die Kommunistische Partei die politische Heimat der Schiiten, aber sicher nicht aus religiösen Gründen), kam es nun zu einer Art Wettrennen, wer denn »sunnitischer« oder »schiitischer sei – wobei die religiösen schiitischen Parteien, die im Exil und Untergrund am ehesten überlebt hatten, beträchtliche Positionsvorteile besaßen. So wurde eine Welle der Konfessionalisierung und Ethnisierung der irakischen Gesellschaft in Gang gesetzt, die bald wesentlich zur Eskalation des Bürgerkrieges (bis zu 3.500 Tote pro Monat zur Jahreswende 2006/2007) und zur dauerhaften Destabilisierung des Irak beitrug.

Dieser Bürgerkrieg war durch unterschiedliche Faktoren gekennzeichnet, u.a. die folgenden:

  • die Vertiefung sunnitisch-schiitischer Konflikte durch Terroranschläge extremistischer Gruppen auf Zivilisten der jeweils anderen Seite sowie durch einen weitgehenden Ausschluss sunnitischer Politiker von der Macht durch eine arabisch-schiitisch/kurdische Allianz,
  • der Kampf gegen die US-amerikanischen Besatzungstruppen und
  • ein regionaler Jihad, der Kämpfer aus anderen arabischen Ländern (z.B. Jordanien, Jemen, Syrien, Libyen) in den Irak zog.

Diese drei Faktoren hatten Folgen für die gesamte Region.

Der Wettbewerb um regionale Dominanz zwischen Saudi-Arabien und dem Iran führt nach dem Ausscheiden der irakischen Konkurrenz unter Saddam Hussein, die sich arabisch-nationalistisch gegeben hatte, häufig zu sunnitisch-schiitischen Spannungen, zu denen der konfessionalisierte Bürgerkrieg im Irak deutlich beitrug. Der jihadistische Kampf gegen die USA verkomplizierte die Situation weiter: Einerseits wurde er vor allem von salafistischen Kräften betrieben, die ideologisch dem saudi-arabischen Wahabitentum nahe standen und die Schiiten entweder als Ketzer oder ihnen gar die Zugehörigkeit zum Islam absprach. Zugleich richtete sich der Jihadismus auf der politischen Ebene gegen das saudische Königshaus und seine Verbündeten.

Sunnitisch-schiitische Konkurrenzsituation

Dies und die anti-amerikanische Stoßrichtung sunnitischer Extremisten kam dem Regime im Iran eigentlich entgegen. Grundsätzlich aber sieht der Iran den Salafismus als theologische und politische Bedrohung, nicht nur weil er seit längerem im belutschischen Südosten seines Landes einer Terrorkampagne sunnitischer Extremisten ausgesetzt ist. Der Iran hatte daher wie die säkulare syrische Diktatur das Interesse, den sunnitischen Extremismus zurückzudrängen. Gleichzeitig wollten beide, der Iran und Syrien, die Lage im Irak nutzen, um die USA dort unter Druck zu halten und sich selbst zu schützen: In den USA diskutierten neokonservative Kräfte unter George W. Bush offen, ob das US-Militär nach dem Sturz Saddam Husseins nicht auch gegen Syrien oder den Iran vorgehen solle. Eine dauerhaft instabile Situation und die Bindung beträchtlicher US-amerikanischer Kräfte und Ressourcen im Irak war daher für Syrien und den Iran ein nahe liegendes Ziel politischen Handelns.

In dieser Hinsicht war insbesondere der Iran ausgesprochen erfolgreich: Der US-Krieg gegen Saddam Hussein schaltete nicht nur einen traditionellen Gegner des Iran aus und eröffnete Teheran beträchtliche Einflussmöglichkeiten im Irak3 – insbesondere über die nun dominierenden schiitischen Parteien, die seit ihrer Exilzeit über gute Beziehungen zum Iran verfügen –, sondern er fügte den USA auch hohe Verluste, letztlich sogar eine politische Niederlage zu, die die westliche Position in der Region deutlich schwächte. Als Ende 2011 schließlich die letzten US-Soldaten aus dem Irak abzogen und der politische US-Einfluss dort schnell und dramatisch abnahm, war dieser Prozess weitgehend abgeschlossen.4 Die Reduzierung des Personals der umfangreichen US-Botschaft in Bagdad um Zweidrittel im Laufe dieses Jahres ist Ausdruck des schwindenden Einflusses, ebenso wie die Bitte des US-Außenministers bei seinem Besuch in Bagdad, der Irak möge über sein Staatsgebiet keine iranischen Waffenlieferungen an Syrien mehr zulassen. Noch wenige Jahre zuvor wäre eine solche Bitte nicht nötig gewesen.5

Heute ist der Irak kein aktiver Exporteur von Instabilität mehr, auch wenn er eine Zeit lang die Funktion eines »Durchlauferhitzers« für jihadistische Gruppen gespielt hatte, vergleichbar mit Afghanistan in den 1980er Jahren. Der Irak ist auch zehn Jahre nach dem Krieg und sechs Jahre nach dem langsamen Abflauen des Bürgerkrieges instabil und fragil. Das Gewaltniveau nimmt in den letzten Monaten erneut zu. Mit ein Grund dafür sind die diktatorischen Allüren von Ministerpräsident Maliki und seine neue anti-sunnitische Wende, was von jihadistischen Gruppen gleich ausgenutzt wird. Auch das Verhältnis zwischen der kurdischen Autonomieregierung und der Regierung Maliki ist schwieriger geworden.

Der Irak ist schon lange nicht mehr in der Lage, die regionale Stabilität durch seine Stärke und seinen Expansionsdrang zu bedrohen, aber er ist inzwischen auch nicht mehr so schwach, dass er dies durch seine Schwäche täte. Die interne und regionale Instabilität stellt heute vor allem ein Problem für die irakische Bevölkerung dar, und der Irak leidet darunter, dass er in die regionale sunnitisch-schiitische und die saudisch-iranische Konkurrenz verwickelt ist.

Neue Instabilität durch syrischen Bürgerkrieg

Dabei spielt eine erhebliche Rolle, dass der Irak Anrainerstaat zu Syrien ist. Aufgrund seiner zunehmenden Konfessionalisierung wird der syrische Bürgerkrieg im Irak vor allem aus der Perspektive der jeweils eigenen konfessionellen Zugehörigkeiten betrachtet. Die an den Rand gedrängte sunnitische Gemeinschaft sympathisiert mit den sunnitischen Aufständischen in Syrien, und insbesondere die irakischen (und verbliebenen ausländischen) Jihadisten im Irak bemühen sich, die salafistischen Elemente des dortigen Aufstandes zu unterstützen. Dabei geh es nicht nur um das Einsickern von Kämpfern und die Lieferung von materieller Unterstützung und Waffen nach Syrien. Inzwischen kam es sogar zu einem punktuellen Übergreifen des syrischen Bürgerkrieges auf den Irak, etwa als 40 syrische Soldaten, die bei schweren Gefechten über die Grenze geflohen waren, und ca. sieben sie zurückeskortierende irakische Soldaten Anfang März 2013 in einen Hinterhalt von al Kaida gerieten und getötet wurden.

Die Regierung in Bagdad und die kurdischen Parteien hingegen verfolgen eine Politik der wohlwollenden Neutralität gegenüber der Assad-Diktatur. Dies ist offensichtlich nicht aus politischer Sympathie der Fall – nachdem das eigene baathistische Regime überwunden wurde, besteht wenig Anlass, dem syrischen Baathismus gegenüber freundlich zu sein. Allerdings wird befürchtet, ein erfolgreicher Aufstand in Syrien wäre sunnitisch dominiert und jihadistische Gruppen könnten an Einfluss gewinnen, was destabilisierend auf den Irak zurückwirken würde. Daher leistet der Irak eine gewisse, diskrete Unterstützung der syrischen Regierung, verbirgt diese aber hinter offizieller Neutralität.

Gegenwärtig ist in der Region also weniger der Irak die Quelle von Instabilität, sondern Syrien, dessen Bürgerkrieg sich stark auf alle Nachbarländer auswirkt: In der libanesischen Innenpolitik ist dies besonders greifbar; aufgrund von Flüchtlingsströmen und politischen Erwägungen gilt dies auch für Jordanien und die Türkei. Dazu kommen erste militärische Auseinandersetzungen mit Israel, das von syrischer Seite mit Kleinwaffen und vermutlich mit Artillerie beschossen wurde und in mindestens einem Fall darauf mit gleichen Mitteln reagierte. Darüber hinaus kam es bereits zu zumindest einem israelischen Luftangriff auf Syrien.

Libyenkrieg und Waffenschmuggel

Eine Betrachtung der regionalen Stabilitäts- bzw. Instabilitätsfaktoren muss zumindest knapp auch die Folgen der internationalen Libyenintervention einbeziehen.6 Der neu aufzubauende libysche Staat zeichnet sich durch extreme Schwäche aus; zahlreiche Milizen, Stämme und Regionen hingegen agieren aus einer Position der Stärke. Dies führte dazu, dass nach der Plünderung zahlreicher Waffenlager des Gaddafi-Regimes vielfältig verfügbares militärisches Gerät und Waffen in erheblichem Umfang Richtung Süden und Südwester gelangte, insbesondere nach Mali und dessen Nachbarländer, bis hin zu Boko Haram in Nigeria. Somalische Piraten sind über Umwege ebenfalls beliefert worden. Libysche Waffen gelangen auch nach Ägypten und insbesondere auf den Sinai, von wo sie auch in den Gaza-Streifen und nach Syrien weitergereicht werden – sicher kein Zeichen regionaler Stabilität. Wenn manche der »offiziellen« Waffenlieferanten der syrischen Aufständischen (Saudi-Arabien, Katar) und Regierungen, die dabei logistische Hilfe leisten (Jordanien, Türkei) unter westlichem Druck nun stärker darauf achten wollen, dass ihre Unterstützung nicht jihadistischen Gruppen in Syrien zugute kommt, können solche Bemühungen leicht unterlaufen werden: Libysche Extremisten könnten Waffen aus den alten Beständen Gaddafis an ihre syrischen Gesinnungsgenossen liefern. Das könnte dann wieder auf den Irak zurückwirken.

Mehr regionale Instabilität

Insgesamt ist die regionale Instabilität im Nahen und Mittleren Osten in den letzten Jahren deutlich gewachsen. Der weiterhin fragile Irak ist dabei inzwischen nur in geringem Maße der Exporteur von Instabilität, eher ein Importeur. Seine Widerstandskraft gegenüber weiterer Gewalt, Fragmentierung und Instabilität ist aufgrund der seit dem Krieg nie überwundenen internen Dauerkrise eher gering einzuschätzen. Im Zentrum der Instabilität steht gegenwärtig Syrien, um das sich die anderen akuten und potentiellen Regionalkonflikte – im Libanon, der Nahostkonflikt, die offene, grenzüberschreitende Kurdenfrage, die Instabilität des Irak, die Spannungen an der syrisch-türkischen und z.T. syrisch-israelischen und syrisch-jordanischen Grenze und die saudi-arabisch-iranische Konkurrenz – gruppieren.

Anmerkungen

1) Zur Geschichte des Irak bis zum Ersten Golfkrieg siehe: Marion Farouk-Sluglett und Peter Sluglett (1987): Iraq Since 1958: From Revolution to Dictatorship, London.

2) Jochen Hippler, Von der Diktatur zum Bürgerkrieg – Der Irak seit dem Sturz Saddam Husseins. In: Jochen Hippler (Hrsg.) (2008): Von Marokko bis Afghanistan – Krieg und Frieden im Nahen und Mittleren Osten. Hamburg, S.92-109; online unter jochenhippler.de.

3) Mohsen M. Milani (2011): Iran’s Strategies and Objectives in Post-Saddam Iraq. In: Henri J. Barkey, Scott B. Lasensky, and Phebe Marr (eds.): Iraq, Its Neighbors, and the United States. Washington S.73-87.

4) Für eine intelligente politikorientierte Diskussion der US-Politik kurz vor dem Abzug siehe: Kenneth M. Pollack et al. (2011): Unfinished Business — An American Strategy for Iraq Moving Forward. Washington.

5) Jochen Hippler: Zum Zustand des Irak beim Abzug des US-amerikanischen Militärs. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Band 5, Heft 1 (2012), S.61-71.

6) Siehe dazu ausführlicher Jochen Hippler: Change in the Middle East – Between Democratization and Civil War: A Short Introduction; im Erscheinen.

PD Dr. Jochen Hippler ist Politikwissenschaftler und Friedensforscher und arbeitet seit 2000 am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen.

Toxische Kriegsrückstände

Toxische Kriegsrückstände

Workshop »Exploring a Legal Framework for Toxic Remnants of War«, 22. Juni 2012, Berlin

von Manfred Mohr und Alexander Stöcker

Mit der Entwicklung des Humanitären Völkerrechts hat sich der Schutz von Menschen während Kriegen und internationalen Konflikten verbessert. Doch besonders zum Ende des 20. Jahrhunderts wurde deutlich, dass der Schutz der Umwelt bisher nur unzureichend gewährleistet wird. Der Einsatz von Agent Orange während des Vietnamkriegs und die brennenden Ölfelder im Irakkrieg sind nur zwei Beispiele für die enormen Belastungen der Umwelt während kriegerischer Auseinandersetzungen. Infolgedessen drängt dieses Thema auch immer mehr in den Fokus der Diskussion der internationalen Gemeinschaft. UN-Organisationen wie die Umweltorganisation UNEP, Nichtregierungsorganisationen und das Internationale Komitee des Roten Kreuzes befassen sich mit der Thematik, doch bis heute fehlt es an einer klaren Einordnung und speziellen Regeln, die den Schutz der Umwelt während eines Konflikts gewährleisten.1

Die Erkenntnis, dass spezielle militärische Materialien und Praktiken zu großen Umweltschäden führen können, die auch das Potential haben, die Gesundheit der Zivilbevölkerung zu beinträchtigen, wächst jedoch. Explosive Kriegsrückstände werden bereits umfassend dokumentiert und zunehmend besser gehandhabt (siehe Verträge zu Landminen und Streumunition), toxische Kriegsrückstände, die bei militärischen Aktivitäten entstehen, hingegen werden als solche bisher kaum erfasst.

Mit dieser Thematik beschäftigt sich nun das Toxic Remnants of War (TRW) Project.2 Am 22 Juni 2012 während eines Workshops an der Freien Universität Berlin stand die juristische Einordnung dieser Thematik im Vordergrund. Dort kamen Völkerrechtler, Umweltrechtler und Militärvertreter zusammen, um den aktuellen Stand zu diskutieren und einzuschätzen, inwieweit toxische Kriegsrückstände in bestehenden Regeln bereits berücksichtigt werden und wie eine künftige Regulierung aussehen könnte.

Der politisch- rechtliche Rahmen

Grundsätzlich gilt, dass auf das Problem der toxischen Kriegsrückstände wie auf den Umweltschutz in Verbindung mit bewaffneten Konflikten mehrere Rechtsgebiete parallel Anwendung finden. Dazu gehören das Humanitäre Völkerrecht, das Umweltrecht und die Menschenrechte (etwa in Gestalt des in Art. 12 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verbürgten Rechts auf eine gesunde Umwelt).

Von großer Bedeutung ist dabei auch das Gewohnheitsrecht. So wird (u.a. vom Roten Kreuz) aus Schutzvorschriften des I. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen abgeleitet, dass von Konfliktparteien Umweltschutzbelange angemessen berücksichtigt werden müssen (sog. »due regard«-Regel). Dies geschieht im Zusammenhang mit einem Grundsatz, der für die Be- und Verurteilung von Umweltzerstörung durch Krieg besonders relevant ist: dem Vorsorgeprinzip (precautionary principle), das sich sowohl im Humanitären als auch im Umweltrecht findet.

Wie auf dem Berliner Workshop vorgestellt, geht das TRW-Projekt von einer breiten Arbeitsdefinition aus. Danach sind TRW toxische Substanzen, die während militärischer Aktivitäten verwandt werden oder daraus resultieren und die eine Gefährdung (hazard) für die Umwelt darstellen. Es geht um Schädigungshandlungen bzw. Auswirkungen vor, während oder nach einem Konflikt, egal ob absichtlicher oder unabsichtlicher Art. Das Schwergewicht liegt auf Post-Konflikt-Situationen (denen man bereits ein eigenes Recht – das »jus post bellum« – zuordnet), aber in Anbetracht der häufig enormen »Aufräumkosten« auch auf Prävention. Wir bewegen uns weniger im Bereich der Waffenverbote als dem der (Verpflichtung zur) Folgenbeseitigung.

Was sind toxische Kriegsrückstände?

Zu den toxischen Kriegsrückständen gehört fraglos das genotoxisch wirkende abgereicherte Uran (depleted uranium – DU), das beim Einsatz von Uranmunition Mensch und Umwelt gefährdet. Als Beispiel für weitere Substanzen mit potenzieller TRW-Qualität könnte man beispielsweise Thorium, weißen Phosphor und Dioxine nennen. Damit eine solche Substanz tatsächlich unter den TRW-Ansatz fällt, muss eine bestimmte Dosis gekoppelt mit Ausgesetztheit (exposure) vorliegen.

Um mit der Arbeit voranzukommen, kann das TRW-Projekt einen Abgleich mit vorhanden Listen von Substanzen vornehmen, die als gefährlich und risikoreich eingestuft (vereinbart) wurden. Solche finden sich sowohl im Bereich der Rüstungskontrolle (Beispiel Chemiewaffenkonvention) als auch dem des Internationalen Umweltrechts. Letzteres hat ein instruktives, expandierendes Recht zum gefährlichen Abfall entwickelt. Beispielhaft ist hier die 1989er »Baseler Konvention zur Verbringung gefährlicher Abfälle« – auch deshalb, weil eine Liste von Abfallkategorien (Stoffen) mit einer Liste von gefährlichen Eigenschaften verbunden wird.

Überhaupt ist das Internationale Umweltrecht, einschließlich vorhanden »soft laws«, von großer Relevanz für das TRW-Problem. Hierzu zählen etwa die in der Stockholmer UN-Deklaration von 1972 enthaltenen Prinzipien: Nummer 6 untersagt die Verbreitung toxischer Substanzen, die Ökosysteme ernsthaft oder irreversible schädigen; Nummer 21 und 22 sprechen die Verantwortung der Staaten an, dafür zu sorgen, dass durch Aktivitäten unter ihrer „Jurisdiktion und Kontrolle“ keine Umweltschädigungen außerhalb des Bereichs nationaler Jurisdiktion stattfinden.

Nationale Entwicklungen

Wird nationales Umweltrecht auf toxische Kriegsrückstände angewandt, können zum einen die Gesetze des Landes angewandt werden, in dem TRW anfallen. In Post-Konflikt Ländern ist die Umsetzung der eigenen Gesetze jedoch mangelhaft, da sowohl finanzielle Mittel fehlen als auch Umweltschutz meist nur eine untergeordnete Rolle spielt. Dies trifft beispielsweise auf Afghanistan, Irak und Kosovo zu. Des weiteren sind ausländische Militärangehörige häufig von diesen Gesetzen ausgenommen, da hier bilateral ausgehandelte Verträge zur Anwendung kommen.

Umweltverschmutzungen durch militärische Aktivitäten, die nicht während eines unmittelbaren Kampfeinsatzes entstehen, lassen sich grundsätzlich besser erfassen und juristisch verfolgen. Hierzu gibt es aktuell den Fall des NATO-Schießübungsplatzes Salto di Quirra auf Sardinien. Dort wurden über Jahrzehnte alle Arten von Waffen getestet und entsorgt, wodurch es zu verheerenden Umweltschäden kam, die auch die umliegende Bevölkerung betreffen. Unter anderem fanden Tests mit deutscher Beteiligung statt, wie im Fall der Erprobung des Lenkflugkörpers KORMORAN.3

Vor diesem Hintergrund wurde von dem zuständigen Staatsanwalt Domenico Fiordalisi ein Verfahren eingeleitet, um diese Geschehnisse aufzuklären. Derzeit sind 20 Personen angeklagt, darunter Personal des italienischen Militärs und Verteidigungsministeriums sowie Universitätsmitarbeiter. Die Anklagepunkte beinhalten unter anderem die vorsätzliche schwere Missachtung der Vorsichtsmaßnahmen zur Verhinderung von Unfällen und Naturkatastrophen sowie Falschaussage und Beihilfe zu einer Straftat. Herangezogen wird u.a. das italienische Gesetz Nummer 152, welches Umweltnormen vorgibt. Nach Staatsanwalt Fiordalisis Aussagen wurden an den Orten militärischer Aktivität viele der Grenzwerte für Schwermetalle überschritten. Das Ergebnis des Verfahrens bleibt abzuwarten, ebenso, wie mit den Militäranlagen auf Sardinien weiter verfahren wird.

Eine grundlegend andere Herangehensweise ist die Anwendung von nationalen Umweltnormen des Landes, das für die Freisetzung von TRW verantwortlich ist. Dabei bleibt zu klären, ob solche Normen extraterritoriale Geltung beanspruchen können. Besonders interessant ist hier die Politik des US-Militärs angesichts seiner globalen Präsenz, die durch eine Weltpolizisten-Rolle oder eines Agierens zum (reinen) Machterhalt bedingt ist.

In Einklang mit dem Prinzip der »Jurisdiktion und Kontrolle« können Militärbasen in Übersee beispielsweise als »Quasi-Territorien« eines Landes angesehen werden, aufgrund der umfangreichen Kontrolle, die das Militär über diese Basen hat. Das US-Verteidigungsministerium verfolgt dabei den Grundsatz der Einhaltung von US- oder inländischem Umweltrecht, je nachdem, welches strikter ist. In der Realität mangelt es aber an der Umsetzung dieses Grundsatzes bzw. vorhandener Normen, besonders in weniger entwickelten, konfliktbelasteten Ländern. So werden vom US-Militär in Afghanistan und Irak mehrere hundert so genannte »burnpits« betrieben, auf denen ohne sichtbare Einhaltung von Umweltrichtlinien jegliche Arten von Müll verbrannt werden, was zu immensen Belastungen der Umwelt und der dort lebenden Bevölkerung führt.

Über mehrere Gesetzgebungen findet der »Resource Conservation and Recovery Act«, das US-Gesetz für die Handhabung von toxischem Abfall, für alle Anlagen des Verteidigungsministeriums Anwendung. Nichtsdestotrotz stellte das US General Accounting Office in mehreren Gutachten fest, dass das Verteidigungsministerium Schadstoffe auf seinen Anlagen weiterhin nur unzureichend verwaltet.

Einen Sonderfall bilden die Rüstungsaltlasten in der Bundesrepublik Deutschland. Im Rahmen einer (neuerlichen) Bundesratsinitiative für ein »Rüstungsaltlastenfinanzierungsgesetz« soll erreicht werden, dass der Bund die Kosten für diese Art der Kriegsfolgenbeseitigung ganz übernimmt4 (sie würden dann pro Jahr ca. 40 Mio. Euro betragen). Besonders interessant ist an diesem Vorschlag, dass nunmehr unter Rüstungsaltlasten auch Umweltschäden aus der Zeit der (deutschen) Vorbereitung auf den Zweiten Weltkrieg fallen sollen.

Lösungsansätze

Die Frage nach Lösungsansätzen konnte auf dem Berliner Workshop nur gestreift werden. Im Übrigen war man sich jedoch einig, dass das Thema der toxischen Kriegsrückstände von größter Aktualität und Brisanz ist. Es bringt konkret auf den Punkt, was Umweltschutz in Verbindung mit militärischen Konflikten und Aktivitäten ausmacht, was Umweltzerstörung durch Krieg bedeutet und wie man dagegen vorgehen kann. Klar ist auch, dass es sich um ein Thema von hoher politischer Sensibilität und größter Tragweite handelt: Es reicht praktisch vom NATO-Schießplatz Salto di Quirra bis zu den Giftfässern in Nord- und Ostsee aus der Zeit der Weltkriege.

Beginnen könnte man vielleicht mit der Ausarbeitung einer Deklaration zu toxischen Kriegsrückständen. Sie würde ein politisches und konzeptionelles Zeichen setzen und könnte die Staaten und die Zivilgesellschaft auffordern, sich einer Lösung des Problems zuzuwenden. Dies könnte u. a. durch eine entsprechende nationale Gesetzgebung oder ein neues, spezielles internationales TRW-Instrument (nach dem Model von Protokoll V über explosive Kampfmittelrückstände unter dem UN-Waffenübereinkommen) geschehen. Angesichts der enormen wissenschaftlich-fachlichen und politisch-rechtlichen Herausforderung steht bislang nur so viel fest: Das Thema ist und bleibt spannend.5

Anmerkungen

1) Siehe beispielsweise die Übersicht des United Nationals Environment Programme (UNEP): Protecting the Environment During Armed Conflict. An Inventory and Analysis of International Law. November 2009.

2) toxicremnantsofwar.info. Das Projekt wird finanziell von der norwegischen Regierung gefördert.

3) Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium der Verteidigung, Christian Schmidt, vom 13.06.2012 auf schriftliche Fragen der Abgeordneten Agnieszka Brugger (Grüne).

4) Vgl. Bundestags-Drucksache 17/7968.

5) Wer Anregungen, Fragen oder gar den Wunsch zur Mitwirkung hat, kann sich gerne an einer der Autoren wenden: Prof. Dr. Manfred Mohr, Leiter des Legal Toxic Remnants of War Project, mohrm@gmx.net; Alexander Stocker, Mitarbeiter des Legal Toxic Renants of War Project, alexander.stoecker@live.com.

Manfred Mohr und Alexander Stöcker

Die syrische Flüchtlingskrise

Die syrische Flüchtlingskrise

von Susanne Schmelter

Seit Beginn der Proteste gegen das Regime von Bashar al-Assad sind über 110.000 syrische Staatsangehörige in die Nachbarländer Jordanien, Libanon, Irak und Türkei geflohen (Angaben des UNHCR, Stand Juli 2012). Und die Flüchtlingszahlen steigen täglich weiter. Der Bürgerkrieg in Syrien führt zu einer großen Flüchtlingskrise in einer Region, in der die letzte noch nicht bewältigt ist. Allein in Syrien warten noch rund 87.000 beim UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) registrierte Flüchtlinge aus dem Irak auf eine Aufnahme in einem Drittland. Während die allgemeine Flüchtlingsschutzsituation in der Region sich drastisch verschlechtert, schaffen es bis jetzt nur sehr wenige Schutzsuchende nach Europa. Die aktuellen Entwicklungen stellen die Abschottungspolitik der EU folglich mit neuer Vehemenz in Frage.

Seit 1971, als Hafez al-Assad, der Vater von Bashar al-Assad, an die Macht kam, unterdrückt das Regime innergesellschaftliche Konflikte rigoros. Der Assad-Clan gehört den Alawiten an und hat andere wichtige Positionen innerhalb des Staatsapparates ebenfalls mit Alawiten besetzt. Mit circa 11% sind sie die größte religiöse Minderheit in Syrien, gefolgt von Christen (10%), Drusen (3%) und kleineren muslimischen Glaubensgemeinschaften (2%). Mit über 70% stellen Sunniten die Mehrheit in einer syrischen Gesamtbevölkerung von über 22 Millionen.1

Unter Verweis auf die ethno-konfessionelle Gewalt im Irak und im Libanon stilisierte sich das Assad-Regime stets als Garant für Stabilität. Seit Beginn der Proteste im März 2011 zeigt es jedoch keinerlei Skrupel, selbst die ethno-konfessionelle Karte auszuspielen: Vor allem Alawiten, aber auch Christen und anderen Bevölkerungsgruppen wird mit allen Mitteln suggeriert, dass ihr Schicksal von dem des Regimes abhänge. Die exzessive Gewalt, mit der das Regime versucht, Proteste niederzuschlagen und seine Gegner zum Schweigen zu bringen, kostete bisher weit über 15.000 Menschen das Leben. Unter den syrischen Flüchtlingen sind hauptsächlich Angehörige der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung agiert bei den Protesten zwar weiterhin gewaltfrei, mit zunehmender Bewaffnung der Oppositionsbewegung und der damit einhergehenden Ausweitung des Bürgerkrieges ist jedoch davon auszugehen, dass auch verstärkt Angehörige von Minderheiten fliehen werden.

Flucht in die Nachbarländer

Der UNHCR ging Mitte Juli 2012 von über 110.000 syrischen Flüchtlingen in den Nachbarländern Libanon, Irak, Jordanien und Türkei aus.2 Überwiegend stammen sie aus dem stark vom Krieg betroffenem Homs, gefolgt von Dara‘a, Idleb und Hama. Die Zahl derjenigen, die seit Beginn des Aufstandes Binnenvertriebene wurden, ist schwer zu ermitteln, wird aber auf etwa 200.000 geschätzt. Viele von ihnen würden wahrscheinlich lieber ins Ausland fliehen, aber das syrische Regime hat die Fluchtwege Richtung Türkei und Libanon vermint.3 Auch auf dem Weg nach Jordanien sind Flüchtlinge Angriffen ausgesetzt.4

Bisher gilt in der Türkei, in Jordanien und dem Libanon Visafreiheit für syrische Staatsangehörige. Wie lange diese noch aufrecht erhalten wird, ist allerdings ungewiss. Im Juni 2012 begann die jordanische Regierung, nach eigenen Angaben aus Sicherheitsgründen, die Einreise syrischer Flüchtlingen zu beschränken.5

In keinem der vier Aufnahmeländer gilt die Genfer Flüchtlingskonvention für die Schutzsuchenden aus Syrien. Sie gelten als Gäste und haben nur einen temporären Status.

Im Gegensatz zu den irakischen Flüchtlingen, die infolge des Irakkrieges seit 2003 hauptsächlich in den urbanen Zentren von Syrien, Jordanien und Libanon Zuflucht suchten, sind die Schutzsuchenden aus Syrien nur teilweise in die großen Städte gezogen und kommen großteils in Flüchtlingslagern unter.

Libanon

Im Libanon sind über 30.000 syrische Flüchtlinge registriert. Die meisten von ihnen sind im Norden des Libanon, in den Städten Tripoli und Akkar und in der ebenfalls grenznahen Bekaa-Ebene untergekommen. Dort leben sie häufig unter schwierigen Bedingungen bei libanesischen Gastfamilien oder in Sammelunterkünften und neu errichteten Camps. Für die syrischen Flüchtlinge gelten bislang keine Einreisebeschränkungen in den Libanon. Im Land selbst sind die lokalen Behörden jedoch abgeneigt, den Flüchtlingen Mobilitätsgenehmigungen (circulation permits) auszustellen.

Als kleines und gesellschaftlich tief gespaltenes Land hat der Libanon nur begrenzte Aufnahmekapazitäten. Seit Mai 2012 mehrten sich auch im Libanon die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Assad-Anhängern und -Gegnern. Das ohnehin sehr instabile Land ist somit von einem »conflict spill-over« betroffen und kann den Flüchtlingen aus Syrien daher, wenn überhaupt, nur kurzfristig Schutz bieten.6

Irak

Irak ist von den vier benachbarten Aufnahmeländern das Land, in das am wenigsten Schutzsuchende aus Syrien geflohen sind. Nur der Nordirak, der unter kurdischer Verwaltung steht, ist stabil genug, um Flüchtlingen Sicherheit zu bieten. Dort registrierten sich in den Provinzen Dohuk, Erbil und Suleimanya über 6.500 syrische Kurden beim UNHCR. Von ihnen leben über 2.000 in einem offenen Flüchtlingszeltlager in der Provinz Dohuk. Mit der Registrierung in diesem Camp können die Flüchtlinge eine sechsmonatige Aufenthaltsgenehmigung und damit auch freien Zugang zu öffentlichen Einrichtungen erhalten. In Erbil, Suleimanya und anderen Teilen der Provinz Dohuk kommen die Flüchtlinge meist bei Familienmitgliedern oder der lokalen Bevölkerung unter.

Bzgl. der syrischen Kurden ist davon auszugehen, dass sie – wenn auch in unterschiedlichen Fraktionen – im Zuge der Umbrüche ihre eigene Interessenspolitik verfolgen. In diesem Kontext ist es denkbar, dass sich der kurdische Nordirak trotz begrenzter Aufnahmekapazitäten auch weiterhin dafür einsetzt, Kurden aus Syrien ein sicheres Refugium zu bieten.

Jordanien

In Jordanien sind über 32.000 syrische Flüchtlinge beim UNHCR registriert. Die Jordan Hashemite Charity Organisation geht allerdings von insgesamt 50.000 syrischen Flüchtlingen in Jordanien aus, die Regierung sogar von 110.000. Zuletzt nahm Jordanien geschätzte 450.000 Iraker auf; von ihnen erhalten weiterhin circa 30.000 Unterstützung vom UNHCR.7 Das Königreich zeigt sich – obwohl u.a. die Infrastruktur und die Wasserversorgung stark belastet sind – auch gegenüber den Syrern relativ aufnahmebereit.8 Sie werden in Jordanien als »Gäste« angesehen und leben großteils in der Hauptstadt Amman und der nördlich gelegenen Stadt Irbid. Im Norden des Landes wurden außerdem Container und Zelte aufgestellt, in denen zunehmend Flüchtlinge unterkommen; dort leben auch 500 palästinensische Flüchtlinge aus Syrien.9

Türkei

In der Türkei sind über 37.000 syrische Flüchtlinge registriert. Sie erhalten dort »temporären Status« – dies allerdings nur, wenn sie in einem der Flüchtlingslager in den grenznahen Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep oder Sanliurfa bleiben. Die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien, die auf irregulärem Weg oder einfach mit einem freien Drei-Monats-Visum in die Türkei eingereist sind, wird auf mehrere Tausend geschätzt. Die Türkei schiebt bis jetzt keine Syrer ab, lässt ihnen ohne gültige Aufenthaltserlaubnis jedoch nur die Option, sich in einem der Lager zu registrieren. Diese werden vom halbstaatlichen Türkischen Roten Halbmond verwaltet. Nichtregierungs- und internationale Organisationen haben keinen Zugang zu den Camps, so dass die Situation vor Ort nicht unabhängig überprüft werden kann.10 Seit Februar 2012 ist ein kleines Team des UNHCR mit »beratender« Funktion in Hatay vor Ort. Mit Verweis auf den temporären Flüchtlingsschutz, den der türkische Staat gewährt, führt das UNHCR selbst aber keine Flüchtlingsfeststellungsverfahren bei Schutzsuchenden aus Syrien durch und hat das Resettlement für diese Flüchtlingsgruppe eingestellt. Dies betrifft auch die 74 syrischen Flüchtlinge, die schon vor März 2011 in der Türkei registriert waren. Dass die Türkei die Grenzen für syrische Flüchtlinge offen hält, ist gut und wichtig. Dennoch können die abgeriegelten Lager im Grenzgebiet – quasi in Schussweite – keine Lösung sein.

Die Türkei hatte schon frühzeitig die Errichtung von Schutzzonen, so genannter »save havens«, auf der syrischen Seite der Grenze ins Gespräch gebracht. »Save havens« wurden mit internationaler Unterstützung 1991-2003 im Nordirak durchgesetzt. Die Errichtung einer solchen Schutzzone käme aber einer Militärintervention gleich, die unabsehbare Folgen haben könnte.

Irakische und palästinensische Flüchtlinge in Syrien

Während aus Syrien immer mehr Menschen fliehen, sind Ende Mai 2012 alleine beim UNHCR Syrien immer noch rund 87.000 irakische Flüchtlinge registriert.11 Gegenüber den irakischen Flüchtlingen zeigte sich Syrien sehr aufnahmebereit und erlaubte ihnen die Einreise unabhängig von Religion oder gesellschaftlichem Hintergrund. Obwohl ihre Lebensbedingungen prekär sind, leben sie meistens schon über fünf Jahre in einer lang anhaltenden Flüchtlingssituation (protracted refugee situation). Der Großteil von ihnen hofft auf einen Resettlement-Platz.12 Aufgrund der Sicherheitslage stellten aber die Aufnahmeländer die Durchführung der entsprechenden Verfahren in Syrien weitgehend ein. Diese irakischen Flüchtlinge drohen angesichts der aktuellen Entwicklungen in Vergessenheit zu geraten. Dabei sind sie nun erneut durch den Bürgerkrieg bedroht und in einer fast ausweglosen Situation gefangen: Sie können aufgrund der unsicheren Lage im Irak meist nicht zurück, kommen aber auch nicht raus, weil die Resettlement-Verfahren weitgehend auf Eis liegen. Im Falle einer Weiterflucht nach Jordanien oder in den Libanon haben sie kaum Chancen, einen regulären Aufenthaltsstatus zu erhalten. Die Zahl der Rückkehrer in den Irak ist 2011 zwar gestiegen,13 laut einer Umfrage des UNHCR Syrien vom Februar 2012 planen jedoch weniger als fünf Prozent innerhalb der nächsten zwölf Monate dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückzukehren.14

Außerdem leben circa 422.000 palästinensische Flüchtlinge in Syrien. Sie sind weitgehend lokal integriert, haben jedoch keine Staatsangehörigkeit. Sollten sie erneut zur Flucht gezwungen werden, laufen sie Gefahr, zu »Flüchtlingen zweiter Klasse« zu werden. So verweigerten Syrien und Jordanien nach 2003 palästinensischen Flüchtlingen aus dem Irak die Einreise, und sie mussten bzw. müssen – bis sie mit Hilfe des UNHCR in einen Drittstaat ausreisen können – unter äußerst schwierigen Bedingungen in Camps im irakisch-syrischen bzw. im irakisch-jordanischen Grenzgebiet leben. Der jordanische Außenminister Nasser Judeh stellte Anfang Juni 2012 denn auch klar: „Die Frage der palästinensischen Flüchtlinge wird von der UNRWA [United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East] bearbeitet. Unsere Position zu dem Thema ist klar. Wir werden niemandem, wem auch immer, erlauben, die syrische Flüchtlingskrise als Grund zu nutzen, um die palästinensischen Flüchtlinge in Syrien nach Jordanien zu schicken.“15

Die Flüchtlingspolitik der EU in der Region

Die internationale Gemeinschaft sollte auf eine dramatische Zuspitzung der syrischen Flüchtlingskrise vorbereitet sein. Dabei kommt der Europäischen Union durch ihre geographische Nähe eine besondere Rolle zu. Der Blick auf Syriens Nachbarländer zeigt, dass deren Aufnahmekapazitäten begrenzt sind. Die EU hat bisher 43 Mio. Euro für humanitäre Hilfe für die vom Krieg in Syrien betroffenen Menschen bereitgestellt. Die finanzielle Unterstützung ist wichtig, doch die EU kann die Verantwortung im Flüchtlingsschutz nicht einfach auf die Aufnahmeländer abschieben.

Die Abschottungspolitik der EU zeigt sich in dem EU-Anrainerstaat Türkei besonders deutlich: Da die Fluchtwege über das Mittelmeer weitgehend abgeriegelt sind, ist die Türkei zum wichtigsten Transitland für Schutzsuchende auf dem Weg nach Europa geworden. So halten sich in dem Land am Bosporus Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern auf, die den Übertritt in die EU planen. Die EU drängt auf Rückübernahmeabkommen und eine effektive Bewachung der Grenzen. Rückübernahmeabkommen bedeuten allerdings die Gefahr von Kettenabschiebungen, denn die Türkei hat kein Asylsystem für nicht-europäische Flüchtlinge und führt immer wieder Abschiebungen in die Herkunftsländer durch.

Damit die Türkei mehr Verantwortung im Flüchtlingsschutz übernimmt und weiterhin die Grenze für Schutzsuchende aus Syrien offen hält, muss die EU selbst großzügig Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen. In ähnlicher Form gilt das für den Libanon und Jordanien, die nicht nur auf Hilfszahlungen, sondern auf eine solidarische Aufnahmepolitik angewiesen sind. Dabei sollten die irakischen Flüchtlinge in Syrien keinesfalls vergessen werden. Sie befinden sich in einer verzweifelten, ausweglosen Lage, und die EU sollte entschlossen für ihre Aufnahme (Resettlement) eintreten.

Ob die EU aus der irakischen (2003 bis heute) und der libyschen (2011) Flüchtlingskrise gelernt hat, ist jedoch sehr fraglich. Im Falle der irakischen Flüchtlinge leistete die EU nur zögerlich Hilfe: So wurden von über 100.000 Resettlement-Plätzen, die westliche Staaten für irakische Flüchtlinge in der Region bereitstellten, nur 10.000 von der EU angeboten. Im Sommer 2011 schaute die EU tatenlos zu, wie mehr als 1.600 Schutzsuchende aus Libyen auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertranken.

In Deutschland wurde im Mai 2011 zwar ein Abschiebestopp nach Syrien verhängt, die Bundesregierung weigert sich jedoch, das bestehende Rückübernahmeabkommen mit dem Assad-Regime aufzukündigen. Obwohl bekannt ist, in welchem Ausmaß in den syrischen Gefängnissen gefoltert wird, wurden im Rahmen dieses Abkommens zwischen Januar 2009 und Juni 2010 73 syrische Asylsuchende aus Deutschland abgeschoben – 14 von ihnen wurden umgehend von den syrischen Behörden inhaftiert.

Im Jahr 2011 wurden in den 27 Mitgliedsstaaten der EU 6.725 Asylsuchende aus Syrien registriert – knapp 2.500 Asylgesuche mehr als 201016 –, 1.490 davon in Deutschland.17 Angesichts der Flüchtlingszahlen in der Region und der Bilder, die uns täglich aus Syrien erreichen, sind diese Zahlen marginal. Wenn die EU es mit Demokratie und Menschenrechten ernst meint, sollte sie sich gegenüber den Schutzsuchenden solidarisch zeigen und Fluchtwege nach Europa offen halten.

Anmerkungen

1) Zur syrischen Bevölkerungsstruktur siehe UNHCR (2011): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples – Syria: Overview; unhcr.org; zuletzt aktualisiert im Oktober 2011.

2) Für aktuelle Zahlen und UNHCR-Updates zur syrischen Flüchtlingskrise siehe UNHCR: Syria Regional Refugee Response; unhcr.org, laufende Aktualisierung.

3) Human Rights Watch (HRW): Syria: Army planting banned landmines. 13.03.2012.

4) Taylor Luck: Jordan opens new Syrian refugee holding facility amid emerging humanitarian crisis. The Jordan Times, 13.03.2012.

5) Jordan stops Syrian refugees from entering territories. ANSAmed, 12.06.2012.

6) Roots of the chaos in north Lebanon spread far and wide. The Daily Star, 22.05.2012.

7) UNHCR: 2012-2013 planning figures for Jordan.

8) Jordan struggling as Syrian refugees stream across the border. Public Radio International, 16.05.2012.

9) Jordan paying high price for hosting Syrian refugees. Jordan Times, 09.06.2012.

10) Oktay Durucan und Zaid Hydari: Update: Syrian Refugees in Turkey. Fahamu Refugee Legal Aid Newsletter, 01.04.2012.

11) UNHCR Syria Fact Sheet, Juni 2012.

12) Resettlement, die gezielte Aufnahme (Neuansiedelung) von Schutzsuchenden, ist ein wichtiges Instrument im Flüchtlingsschutz, um die Aufnahmekapazitäten von Drittstaaten systematisch zu nutzen und um »irregulären Migranten« die oft sehr gefährlichen Fluchtrouten zu ersparen.

13) Zwischen Januar 2011 und November 2011 wurden 24.980 Rückkehrer aus Syrien registriert.

14) Iraqi protracted displacement. Workshop Report, Amman, 22.03.2012.

15) Jordan paying high price for hosting Syrian refugees. Jordan Times, 09.06.2012.

16) UNHCR (2011): Asylum levels and trends in industrualized countries.

17) Pro Asyl: Zahlen und Fakten 2011.

Susanne Schmelter hat an der Philipps-Universität Marburg Friedens- und Konfliktforschung studiert. Im Jahr 2009/10 hat sie in Syrien gelebt und für ihre Masterarbeit zu irakischen Flüchtlingen in Damaskus und Beirut geforscht.

Innere Bilder, die krank machen

Innere Bilder, die krank machen

von Margarete Hecker

Der amerikanische Sergeant Robert Bales ist nach mehreren Jahren Kriegseinsatz im Irak und Afghanistan zum Massenmörder an Zivilisten geworden. Er soll ursprünglich freiwillig in die Armee eingetreten und ein guter Soldat und Kamerad gewesen sein. Wenn man solche Nachrichten hört, fragt man sich unwillkürlich, was treibt Männer, die jahrelangen Kriegseinsatz in fremden Ländern und Kulturen leisten müssen, zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen?

Kann es sein, dass sie diesen Krieg nicht mehr als gerecht und sinnvoll empfinden? Kann es sein, dass der erfolglose Versuch, in einer fremden Kultur unter verfeindeten Gruppen Frieden zu stiften, die Psyche der Soldaten zermürbt? Ist ihnen vielleicht der Glaube an die Sinnhaftigkeit ihres militärischen Einsatzes verloren gegangen? Die Traumaforscherin Judith Herman schreibt in ihrem Buch »Narben der Gewalt« (2000), dem Erfahrungen aus dem Vietnamkrieg zugrunde liegen: „Traumatische Ereignisse vernichten die Vorstellung des Opfers von Geborgenheit, das Bewusstsein seines eigenen Wertes und die Überzeugung, dass der Schöpfung eine sinnvolle Ordnung zugrunde liegt.“ Werden Soldaten somit selbst zu Opfern? Wenn Menschen längere Zeit in Todesangst leben müssen, wenn sie Gewalthandlungen, plötzlichen Tod, Verstümmelungen und Zerstörung um sich herum erleben, liegt es nahe, dass sie den Glauben an eine gerechte, sinnvolle Ordnung des Lebens verlieren. Kann es sein, dass der Sergeant Robert Bales, der sich nach mehreren Jahren aktivem Kampfeinsatz in ein ruhigeres Land versetzen lassen wollte, was abgelehnt wurde, selber ein Zeichen gesetzt hat, und anstatt die Zivilbevölkerung vor Terror zu schützen, nachts sechzehn Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, erschossen hat, also zum Mörder wurde?

Inzwischen ist das Kriegstrauma von heimgekehrten Soldaten, die posttraumatische Belastungsstörung, eine anerkannte medizinische Diagnose; ein hoher Prozentsatz auch der deutschen Soldaten, die aus dem Kriegseinsatz zurückkehren, leidet darunter. Viele von ihnen sind suizidal. Die Therapien sind langwierig und gelingen nicht immer zufriedenstellend.

Unsere deutsche Erfahrung aus dem Zweiten Weltkrieg steht der älteren Generation immer noch sehr deutlich vor Augen. Auch die überlebenden Männer waren in jungen Jahren Gewalt, plötzlichem Tod, Verstümmelung und Zerstörung ausgesetzt. Es war oft niemand da, um diese Eindrücke zu besprechen, das erfahrene Leid und die traumatischen Verluste erträglicher zu machen. Oft kommen erst jetzt, 67 Jahre nach Kriegsende, diese inneren Bilder ins Bewusstsein. Es sind Bilder, die krank machen können, nicht nur körperlich, auch seelisch und geistig. Sie können auch noch krank machen, nachdem sie viele Jahre bei den Überlebenden eingekapselt waren. Das gilt für Holocaustopfer gleichermaßen wie für deutsche Überlebende der Bombennächte oder der Flüchtlingskarawanen auf den eisigen Straßen in Richtung Westen im Winter 1944/45.

Manche Erfahrungen sind damals nie ausgesprochen oder mit anderen Menschen geteilt worden. Sie leben aber in den Kindern, Enkeln und Urenkeln weiter. Es scheint, dass erst jetzt die Zeit reif ist, die Fülle der verdrängten traumatischen Erfahrungen von Opfer- bzw. Täterschaft aus der Verdrängung zurückzuholen. Sabine Bode hat mir ihren Büchern »Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen« (2004) und » Kriegsenkel: Die Erben der vergessenen Generation« (2009) einen sehr eindrucksvollen und lebendigen Beitrag zu dieser Thematik geleistet. Die von ihr beschriebenen Fallgeschichten zeigen sehr deutlich, wie zerstörerisch die Kriegserlebnisse auch nach zwei oder drei Generationen weiterwirken und nicht zur Ruhe finden lassen. Junge Menschen haben das Gefühl, buchstäblich keinen sicheren Boden unter den Füßen zu haben, obwohl sie im relativen Wohlstand aufgewachsen sind, eine gute Ausbildung genossen haben, Eigentumswohnung oder Häuser von ihren Großeltern erben. Dennoch erleben sie keine Lebensfreude, keine Sinnerfüllung.

Man kann nur hoffen, dass Robert Bales ein gerechter Prozess erwartet, dass seine Belastungsstörung als solche erkannt und beim Namen genannt wird und dass er nicht seinen Kindern die unerträgliche Belastung als seelisches Trauma weitergibt. Emmy Werner, eine amerikanische Professorin für Entwicklungspsychologie, die in ihrer Jugend die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs in Deutschland miterlebt hat und später in ihren Forschungen den Begriff »Resilienz« (Gedeihen trotz widriger Umstände) geprägt hat, sagt am Schluss ihrer neuesten Untersuchung zur Situation von Kriegskindern aus aller Welt: „war is not good for children“.

Margarete Hecker war ca. 30 Jahre Professorin an der Evangelischen Hochschule Darmstadt mit dem Aufgabengebiet Weiterbildung von Sozialarbeitern in systemischer Familienberatung. Ein besonderes Anliegen sind ihr weiterhin die Aufarbeitung der Familien- und Sozialgeschichte der Nachkriegszeit, die Situation der Kinder und Enkel der Kriegsgeneration sowie Migrantenschicksale. Website unter nieder-modau.de.

Irak: Kriegsbilanz

Irak: Kriegsbilanz

von Jürgen Nieth

Zum 1. September zogen die USA den Großteil ihrer Truppen aus dem Irak ab. „Der Kampfeinsatz amerikanischer Streitkräfte im Irak ist nun auch offiziell beendet, etwa 50.000 Soldaten bleiben noch ein Jahr im Irak, um einheimische Sicherheitskräfte auszubilden und bei Einsätzen gegen Terroristen zu unterstützen.“ Der US-Präsident hat damit sein Wahlkampfversprechen gehalten, schreibt Günter Nonnenmacher in der Frankfurter Allgemeinen (FAZ, 02.09.10, S.1).

Rückzug ohne Triumph

Anders als Georg W. Bush, der bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn von einem Flugzeugträger aus den Sieg verkündete, wird Obamas Fernsehansprache von der deutschsprachigen Presse als nachdenklich bis widersprüchlich eingeschätzt. Obama versuchte in seiner Rede „Gräben zu zuschütten. Er attestierte seinem Vorgänger Patriotismus und lobte die amerikanische Armee, die im Irak einen hohen Blutzoll entrichtet hat. Der Subtext der Botschaft war aber nicht zu überhören: Die tausend Milliarden Dollar, die dieser Krieg gekostet hat, wären besser an der Heimatfront eingesetzt worden und sind eine der Ursachen für das horrende Haushaltsdefizit der Vereinigten Staaten.“ (FAZ, 02.09., S.1)

Ähnlich die Berliner Zeitung (BZ, 02.09.10, S.10). Sie hebt hervor, dass Obama keinen Zweifel ließ, „dass er den Krieg noch immer für falsch hält“ und dass er „ungewöhnlich für eine Kriegsrede… zudem auf die wirtschaftliche Lage in den USA“ einging.

Von einem „Etikettenschwindel auf Kosten der Iraker“ spricht dagegen Tomas Avenarius in der Süddeutschen Zeitung (SZ, 28.08.10, S.4). „Während das Land von einer Terrorwelle überzogen wird, vermittelt der US-Präsident den Eindruck, seine Truppen hinterließen halbwegs geordnete Verhältnisse.“ Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ, 02.09.10, S.21) sieht eine „recht widersprüchliche Rede an die Nation… Der Präsident versprach einerseits, dem Irak weiter zu helfen, andererseits betonte er, dass Amerika seiner Verantwortung gerecht geworden sei und nun die Zeit gekommen sei, dieses Kapitel abzuschließen. Seinen Landsleuten suggerierte er, dass die USA mit dem offiziellen Ende der Kampfoperationen im Irak eine große, auch wirtschaftliche Bürde abgeschüttelt hätten, an anderer Stelle wies er darauf hin, dass ein Großteil der frei gewordenen Ressourcen in den Krieg nach Afghanistan geflossen sei.“ Die NZZ kritisiert weiter, dass Obama einen Bogen um die nahe liegende Frage machte: „War dieser Krieg tatsächlich gerechtfertigt?“

Kriegsrechtfertigung

Den Versuch, den Krieg nachträglich zu rechtfertigen, unternimmt nur die Welt am Sonntag (22.08.10., S.14). Unter dem Titel „Mission unvollendet“ bedauert Richard Herzinger den „verfrühten“ Abzug der USA. Weiter schreibt er: Hätte man Saddam nicht gewaltsam entmachtet, „hätte er wieder… unkontrolliert schalten und walten können. Die Massenvernichtungswaffen, die man zur Genugtuung der Kriegsgegner nach dem US-Einmarsch nicht finden konnte, hätte er dann in Ruhe tatsächlich entwickeln können.“ Warum er es dann nicht früher gemacht hat, bleibt Geheimnis des Autors.

Ganz anders sieht das Stephan Bierling in der FAZ (27.08.10, S.9): „Der Irak wurde vor allem deshalb zur Zielscheibe, weil er der einfachste Gegner auf jener »Achse des Bösen« war, die schon unter Bushs Vorgänger Clinton Gestalt angenommen hatte.“

Auch die anderen Zeitungen ziehen durchweg eine vernichtende Bilanz.

Schlechter als unter Saddam

In der Wochenzeitung »Der Freitag« (09.09.10, S.10) schildert Jonathan Steele sein Reiseeindrücke: „Überall, wo man in diesem übel zugerichteten Land hinkommt, vergleichen die Menschen ihr Leben unter der Herrschaft Saddams mit dem, was ihnen jetzt widerfährt. Der Vergleich fällt selten zugunsten der »mokhtalin« aus, dem Wort für Invasoren oder Besatzer, das viele der Bezeichnung »die Amerikaner« oder »die Briten« vorziehen.“

Kriegskosten

4.419 US-Soldaten ließen im Irak ihr Leben. Zehntausende kehrten verwundet oder mit schweren Traumata zurück. Ihnen gedachte Obama bei seiner Ansprache an die Nation, die toten Iraker erwähnte er nicht. Andreas Zumach spricht in der taz (20.08.09., S.1) von 100.000 irakischen Zivilisten, die in unmittelbarer Folge von Krieg und Gewalttaten starben. „Rechnet man die Folgen der Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur wie etwa der Wasserversorgung hinzu, kamen knapp 800.000 irakische Zivilisten ums Leben.“

Auch die in Dollar messbaren Kriegskosten sind explodiert. Dem ehemaligen Verteidigungsminister Rumsfeld zufolge sollte der Irakkrieg 50 Milliarden Dollar kosten. Obama bezifferte die Kriegskosten jetzt auf mehr als eine Billion Dollar, „oft finanziert mit geliehenem Geld aus dem Ausland.“ (BZ, 02.09.10, S.10). „Damit untertreibt er aber gewaltig“, so Tilman Brück, Ökonom am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in der BZ. „Die wahren Kosten sind viermal größer.“ Die Obama Rechnung enthält nach der BZ „nur die direkten im US-Haushalt verbuchten Kriegskosten, etwa Sold und Material.“ Nicht berechnet sind die Kosten für Zehntausende Amerikaner, die weiterhin im Irak bleiben, und auch nicht die Kriegsfolgekosten, z. B. für die medizinische Versorgung der Veteranen. „Drei bis vier Billionen Dollar, nur für die USA. Die Kosten für die anderen Länder, vor allem den Irak, sind bislang nicht berechnet worden.“

Ziele nicht erreicht

„Die Intervention hat keines der erklärten Ziele erreicht“, so Viktor Maurer in der NZZ (09.09.10, S.23). „Im Gegenteil: …Erstens hat die Asymmetrisierung der Kriegsführung deutlich zugenommen… Zweitens haben terroristische Anschläge im Irak, im Nahen Osten und weit darüber hinaus zu- und nicht abgenommen. Drittens haben sich die Gewichte in der Region zugunsten Irans verschoben.“

Und in der SZ (28.08.10, S.4) wird bilanziert: „Der Irak hat sich nicht zum Demokratie-Biotop verwandelt. Er ist auch keine Drehscheibe der US-Militärmacht geworden, von der aus sich die Region dominieren ließe. Im Gegenteil: Der Irak-Krieg hat die Grundkonstellation im Nahen Osten auf den Kopf gestellt… Alte Konflikte (wurden) neu geschürt. Der Bagdad-Feldzug… hat jede Menge neue Fronten eröffnet.“

Zusammengefasst

„Desaströser könnte die Bilanz eines Krieges kaum ausfallen. Es muss einem angst und bange werden für die Menschen in Afghanistan, das derzeit mit denselben Methoden befriedet und stabilisiert werden soll“ (Andreas Zumach in der taz, 20.08.10, S.1).

1 Jahr danach

1 Jahr danach

von Jürgen Nieth

Um 3.33 Uhr am Morgen des 20. März 2003 beginnen die USA mit
der Bombardierung des Irak. Ein Jahr später machen drei der überregionalen
deutschen Tageszeitungen mit dem Thema Irak-Krieg auf: Die taz: „Iraks
Zukunft hat schon begonnen“,
die Welt: „Bush: »Die ganze Welt ist im
Krieg.« US-Präsident dankt Irak-Veteranen“
und die Süddeutsche Zeitung: „Bushs
»Koalition der Willigen« wackelt.“
Der angekündigte Abzug der spanischen
Truppen aus dem Irak und die Absatzbewegungen Polens finden auch bei der
Frankfurter Rundschau und der Frankfurter Allgemeinen den Weg auf die
Titelseite.

Erfundene Kriegsgründe

„Selten hat die Geschichte die Politik so schnell Lügen
gestraft wie beim Irak-Krieg. Schon ein Jahr danach ist es reine
Zeitverschwendung, sich noch mit den Begründungen für diesen Krieg aufzuhalten.
Ob Massenvernichtungswaffen oder Terror-Kontakte – das Gebäude der Anklage war
so wacklig konstruiert, dass es gleich nach dem Wüstensturm zusammenbrach,“

schreibt P. Münch in der SZ. T. Krauel in der Welt stellt fest: „Atomwaffen
oder Giftgas hat Washington bislang nicht gefunden. Somit ist die offizielle
Begründung, die seinerzeit für den Krieg ins Feld geführt wurde, derzeit
gegenstandslos.“
Der ehemalige Chef der UN-Waffeninspektionen im Irak, Hans
Blix, weist in einem Interview mit der FR darauf hin, dass es bereits lange vor
dem Krieg Zweifel an der Existenz von Massenvernichtungswaffen gab: „Meine
Zweifel begannen, als wir an den Orten, zu denen uns die Geheimdienste
schickten, nur leere Chemiewaffenköpfe fanden.“

Kriegskosten

Bereits am 19.03 hatte sich die FR ausführlicher mit den
bilanzierbaren Kriegskosten befasst. Danach sind bei „den »offiziellen
Kampfhandlungen« in Irak zwischen dem 17. März und 1. Mai vergangen Jahres …
nach Angaben des US-Militärs 138 US-Militärangehörige getötet worden … Laut
Pentagon sind seit 1. Mai 426 Militärs in Irak gestorben … Verlässliche Zahlen
über die Opfer unter den irakischen Streitkräften oder der Zivilbevölkerung
liegen nicht vor.“
Bundeswehr Oberstleutnant J. Rose spricht in der
Wochenzeitung »Freitag« (19.03) von „über 10.000 getöteten Zivilisten und
einem unbeschreiblichen Massaker in den Reihen des irakischen Militärs.“

Die FR (19.03) rechnet nach: „Der Irak-Krieg hat die USA
bis jetzt 107 Milliarden Dollar gekostet.“
Für M. Ignatieff in der Welt
muss auch zu den Kriegskosten gezählt werden, dass Amerika „sich mit vielen
seiner Verbündeten und den UN überworfen hat.“

Für P. Münch in der SZ zeigt „der Terror von Bagdad über
Basra bis nach Madrid …, dass die Welt (durch den Irak-Krieg) nicht sicherer
geworden ist … Der Feind, den es zu bekämpfen galt, wurde gestärkt.“

Koalition der Willigen wackelt

„Zum Jahrestag des Kriegsausbruchs ist die »Koalition der
Willigen« weiter ins Wanken geraten,“
schreibt die SZ. „Nach Spaniens
Ankündigung seine Truppen abzuziehen, zog am Freitag Südkorea sein Angebot
zurück, Soldaten in die nordirakische Stadt Kirkuk zu entsenden. Zuvor hatte
bereits Polens Ministerpräsident Alexander Kwasniewski beklagt, man habe
falsche Informationen über irakische Massenvernichtungswaffen erhalten und
einen Truppenabzug 2005 in Aussicht gestellt,“
(was der Sicherheitsberater
des Präsidenten später wieder relativierte). Die FAZ ergänzend: „Das
südkoreanische Verteidigungsministerium erklärte zur Begründung, Washington
habe Seoul zur Beteiligung an Militäroffensiven gedrängt. Die geplante Mission
solle jedoch ausschließlich dem friedlichen Wiederaufbau Iraks dienen.“

Perspektiven

Am 30. Juni wird der Irak offiziell in die Souveränität
entlassen. Im Irak ist damit die Hoffnung auf eine eigenständige Entwicklung
weit verbreitet. Das zeigt eine in der taz veröffentlichte Umfrage des »Oxford
Research Instituts« nach der 72,2% ein demokratisches Regime und 66,5% einen
starken Präsidenten wollen.

Zu den Chancen für eine demokratische Entwicklung schreibt
N. Chomsky, Professor am »Massachusetts Institute für Technologie« in Boston in
der gleichen taz: „Die US-Regierung hat absolut keine Absicht, die
Souveränität zu übertragen. Sie besteht auf einem Stationierungsabkommen, das
vorsieht, US-Truppen das Recht zu gewähren, dort zu bleiben und permanente
Militärbasen einzurichten. Und sie baut im Irak die weltweit größte
US-Botschaft. Warum
? Warum benötigen wir dort die größte Botschaft der Welt
… mit über 3.000 Angestellten? Etwa weil wir die Souveränität zurückgeben?“
Für Chomsky sehen Wolfowitz und die Neokonservativen in der Demokratie „ein
bösartiges und elendes System, das zerstört werden muss.“
Er verweist
darauf, dass „die meisten US-Verbündeten in dieser Region (Naher und
Mittlerer Osten) Diktaturen“
sind. „Brutale und gewalttätige Diktaturen
werden unterstützt. Es gibt allerdings einen politischen Führer, der in relativ
freien und demokratischen, international kontrollierten Wahlen gewählt wurde.
Wer? Jassir Arafat.“
Aber genau den möchte die Bush-Administration
eliminieren und durch jemanden ersetzen, „von dem wir erwarten, dass er das
tut, was wir sagen.“

Ein schlechtes Ohmen?

Die FAZ titelt an diesem 20.03.04: „Die Bundeswehr
schickt 600 Soldaten in das Kosovo.“
Ein Thema, dem sich auch die anderen
Tageszeitungen nach den erneut bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Kosovo
zuwenden. Das Bundeswehr Kosovo-Kontingent wächst damit auf 3.800 Soldaten. Die
FAZ registriert, dass es auch fünf Jahre nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien,
noch „keine international anerkannte Strategie für die Zukunft des Kosovo
gibt.“
„Die internationale Friedenstruppe hat ihre Aufgabe bisher alles
andere als erfüllt,“
stellt M. Martens in der gleichen Zeitung fest. Er
bilanziert: Trotz einiger Fortschritte sind mehrere der zentralen Punkte der UN
Resolutionen nicht erfüllt. Dazu gehört die Verhinderung des Ausbrechens neuer
Feindseligkeiten und die vollständige Demobilisierung der albanischen »Nationalen
Befreiungsarmee«: „Noch eindeutiger ist der Misserfolg bei der
Flüchtlingsrückkehr ausgefallen, zwar konnten die Kosovo-Albaner … wieder an
ihre Heimatorte zurückkehren, doch die Serben und andere Minderheiten der
Provinz wagen sich kaum zurück. Mehr als 230.000 Personen …“