Die Folgen des Kosovo-Krieges

Die Folgen des Kosovo-Krieges

von Norbert Mappes-Niediek

Die mehr als vier Jahre Abstand haben an den Debatten zum Kosovo-Krieg nichts verändert; die Argumente der Gegner und der Befürworter der NATO-Intervention sind allenfalls noch starrer geworden. Nur einige wenige Nebel von damals haben sich ein wenig gelichtet. Vom 1999 viel diskutierten »Hufeisen-Plan«, den der ungeschickte deutsche Verteidigungsminister Scharping der Öffentlichkeit präsentiert hatte, ist heute nicht mehr die Rede. Selbst hohe Militärs geben hinter vorgehaltener Hand zu, dass dieser angebliche Geheimplan zur Massenvertreibung der Albaner bloß ein Instrument der Desinformation war. Die Gegner der Intervention dagegen nehmen von ihren fixen Ideen von damals nicht so leicht Abschied. Zur Gewissheit hat sich verfestigt, der Westen habe damals ganz Serbien besetzen wollen und seine Absicht in einen »Annex B« des in Rambouillet verhandelten Autonomieplanes für das Kosovo versteckt. Wem es gelingt, in einem nebelfreien Moment einen scharfen Blick zurück auf die Ereignisse des Jahres 1999 und ihre Folgen zu werfen, der muss heute zu einer zweifach gespaltenen Bilanz kommen. Erstens: Die Folgen für die Weltpolitik sind, soweit sie sich überhaupt schon erkennen lassen, negativ gewesen; die Folgen für die Region dagegen waren überraschend positiv. Zweitens: Auch für die Region war der Krieg ein gefährliches Abenteuer, das vergleichsweise glücklich ausgegangen ist.

Mit dem 78-tägigen Bombardement Jugoslawiens von März bis Juni 1999 haben alle beteiligten NATO-Staaten sowohl die UN-Charta als den NATO-Vertrag, der Out-of-area-Einsätze an eine entsprechende Resolution des Weltsicherheitsrates bindet, und die Deutschen darüber hinaus ihr Grundgesetz gebrochen. Dass der Buchstabe der UN-Charta für Weltmächte nicht das alleinige Maß ihres Handelns ist, ist in der Charta mit ihrem Veto-Recht schon angelegt. Gegen den Bruch des NATO-Vertrages erhob sich kein Kläger. Wie relativ seine Bestimmungen sind, ist allen Mitgliedern dieses machtpolitisch verfassten Klubs seit jeher bewusst. Am irritierendsten von den drei Rechts- und Vertragsbrüchen ist der Umgang der Deutschen mit ihrem Grundgesetz. Einmal ernsthaft auf die Probe gestellt, wurde es zur Makulatur. Ausgerechnet in einem Land, das sich mehr als jedes andere auf seine Verfassung beruft, wo die Politiker sich oft hinter den Verfassungsrichtern verstecken und dessen Bürger unter Politik gern den Rechtsvollzug eines unwandelbaren Gesetzes verstehen, ist Außenpolitik offenbar dem rechtlichen Zugriff entzogen.

Die Kosovo-Intervention, durch keine Resolution des Sicherheitsrats gedeckt, hat den Vereinten Nationen weiter Legitimität entzogen. Dieser Prozess der Delegitimierung hat nicht erst im Kosovo begonnen. Die Rolle der strategischen Agentur im ex-jugoslawischen Krisenmanagement hatte die UNO schon im Winter 1994/95 politisch an die informelle Balkan-Kontaktgruppe und militärisch an die USA abgeben müssen. Dem Sicherheitsrat kam von da an nur noch zu, der Politik der Groß- und Regionalmächte einen möglichst weiten Rahmen zu stecken. Die Intervention wegen des Kosovo war dann der Präzedenzfall für den Angriff auf den Irak durch die USA und Großbritannien. Wie im Kosovo kam die Weltorganisation auch im Irak erst nachträglich wieder ins Spiel. Im Kosovo durfte sie sich noch unauffällig unter die Akteure mischen und so tun, als wenn sie von Anfang an dabei gewesen wäre. In den Irak kam sie schon am Nasenring. Welche Spätfolgen daneben der Bruch über die Kosovo-Frage für die Stimmung der Welt- und Atommacht Russland hat, lässt sich noch nicht richtig absehen. Die Nichteinmischung der Amerikaner in der Tschetschenienfrage ist kein beruhigendes Signal. Offenbar entstehen schon wieder – wenn auch geographisch stark veränderte – Einflusszonen, die, wie im »Kalten Krieg«, der UNO keinen Platz lassen.

Nach offiziellen jugoslawischen Angaben, die noch vom Milosevic-Regime erhoben wurden, sind bei dem Bombardement zwischen dem 24. März und dem 9. Juni 1999 3.300 Menschen getötet worden, darunter 1.500 Zivilisten. Einen Streit gab es nur um die Zahl der getöteten Soldaten: Belgrad verringerte die offizielle Zahl später wieder, offenbar aus Sorge um die Moral der Truppe; die NATO dagegen schätzte die Verluste der jugoslawischen Armee, vielleicht ebenfalls aus Propaganda-Gründen, auf 5.000 Mann. Die Massenvertreibungen der Kosovo-Albaner – zwischen 800.000 und 900.000 Menschen wurden für eine Zeit außer Landes getrieben – und die Repression gegen die Daheimgebliebenen dürften an die 10.000 Menschenleben gekostet haben. Den wirtschaftlichen Schaden des Krieges hat die damals oppositionelle Belgrader Expertengruppe G-17 in einem Gutachten gleich nach dem Ende des Bombardements auf 29,6 Milliarden Dollar geschätzt. Allein 23,2 Milliarden davon entfallen allerdings auf den schwierigen Posten »entgangenes Bruttoinlandsprodukt«. Gegenüber dem Vorjahr sank die Wirtschaftstätigkeit in Jugoslawien im Jahr 1999 um mehr als 40 Prozent, die Industrieproduktion sogar um 44 Prozent.

Was wäre passiert, wenn die NATO nicht interveniert hätte? Viele halten diese Frage zu Unrecht für unzulässig oder für zynisch. In Wirklichkeit kommt man an ihr nicht vorbei, wenn man die Intervention historisch einordnen und für zukünftige Entscheidungen auswerten will. Die Annahme, der bewaffnete Konflikt zwischen der albanischen »Kosovo-Befreiungsarmee« UCK und anderen Formationen der albanischen Minderheit auf der einen und der serbischen Polizei und der jugoslawischen Armee auf der anderen Seite sei schon befriedet und wäre ohne die NATO-Intervention bald zu Ende gewesen, ist jedenfalls verfehlt. Die relative Ruhe des Winters 1998/99 hatte das Kosovo weniger der Stationierung von OSZE-Beobachtern zu verdanken als der üblichen Winterwaffenruhe, die auch in Bosnien in jedem Jahr mehr oder weniger eingehalten wurde. Auch ohne das Massaker von Racak im Januar 1999 war klar, dass der bewaffnete Konflikt mit der Schneeschmelze weitergehen würde. Dem Kosovo drohte ein bosnisches Szenario: Ein jahrelanger, zäher Krieg auf kleiner Flamme, mit relativ starren Fronten, begleitet von ständigen Verhandlungen, Autonomie- und Friedensplänen, die immer wieder halb vereinbart und in letzter Minute dann doch abgelehnt worden wären, unter ohnmächtiger Aufsicht von UN- oder OSZE-Beobachtern, mit indirekter Versorgung der kämpfenden Armeen durch den UNHCR und humanitäre Agenturen, bei mal offener und dramatischer, mal schleichender Massenflucht der Bevölkerung. Die Zahl der Toten und dauerhaft Vertriebenen hätte bei diesem Szenario am Ende sicher weit höher gelegen.

Schon im Winter 1998/99 war es vorwiegend die UCK, die den Waffenstillstand immer wieder brach und überzogene Gegenreaktionen von Polizei und Armee gezielt provozierte. Es entwickelte sich ein festes Muster, das aus vielen Guerillakriegen bekannt ist: Um die Partisanen in den Wäldern von ihrem Nachschub abzuschneiden, mussten serbische Armee und Polizei die Zivilbevölkerung in den Dörfern terrorisieren und mit brutalen »Strafmaßnahmen« einschüchtern. Das hätte sich ohne die NATO-Intervention sicher so fortgesetzt. Die UCK und mit ihr die gesamte albanische Volksgruppe verfolgte das Ziel, den Konflikt zu internationalisieren und die Weltgemeinschaft zur Intervention zu drängen. Für eine Einigung am Verhandlungstisch stand es extrem schlecht: Milosevic war innenpolitisch in Bedrängnis und hätte sich mit einem Referendum gegen ausländische Einmischung im Kosovo auch noch politisch eingemauert; die albanische Seite stand zu dicht vor dem Ziel der Unabhängigkeit, um sich jetzt noch mit einer halben Lösung abfinden zu lassen. Dass die Albaner, die UCK eingeschlossen, in Rambouillet trotzdem ein Autonomiestatut unterschrieben und auf das Ziel der Unabhängigkeit de facto verzichteten, lag am gewaltigen Einsatz der damaligen US-Außenministerin Madeleine Albright und an der Unerfahrenheit der albanischen Unterhändler.

Aus diesem Szenario haben Kritiker den Schluss gezogen, dass der Westen die falsche Seite bombardiert hätte: Die größere Schuld hätte ja auf der Seite der Kosovo-Albaner gelegen. Diesem Schluss liegt ein dreifaches Missverständnis zu Grunde. Erstens hätte der Westen, selbst wenn er gewollt hätte, die andere, albanische Seite gar nicht bombardieren können. Guerillas lassen sich aus der Luft nicht bekämpfen. Zweitens war es nicht der Sinn des Bombardements, Jugoslawien für seine »Schuld« zu »bestrafen«. Die Regierung in Belgrad war vielmehr deshalb das Hauptangriffsziel der Intervention, weil sie den Schlüssel für die Lösung des Konflikts verwahrt hielt. Kriegsziel war es, Belgrads Souveränität über das Kosovo aufzuheben oder zu neutralisieren. Dieses zweite Missverständnis wurde vom Westen auch noch genährt, wenn in der Propaganda die serbischen Gräuel übertrieben dargestellt und der Charakter der UCK geschönt wurde, so dass den Bürgern im Westen der Krieg als moralische Strafaktion erscheinen musste. Drittens lebte die albanische Minderheit tatsächlich unter einer unerträglichen Unterdrückung, die früher oder später immer wieder zu bewaffneten Konflikten geführt hätte.

Das Ziel, Belgrad die Herrschaft über das Kosovo abzunehmen, wurde tatsächlich erreicht. Alle albanischen Flüchtlinge kehrten aus den Nachbarländern zurück. Die Stationierung der internationalen Friedenstruppe Kfor macht Kriege zwischen Albanern und Serben auch in der näheren Zukunft unwahrscheinlich.

Gegen diesen Erfolg steht ein Misserfolg: Die serbische Bevölkerungsgruppe wurde entweder in die Flucht getrieben, oder sie wanderte ab, oder sie lebt heute in »ethnisch reinen« Enklaven, zuweilen unter starken Sicherheitsproblemen. Diesen Prozess kann man aber nicht umstandslos als »ethnische Säuberung« werten und gegen die Massenvertreibung der Albaner im Frühjahr 1999 rechnen. Ein nicht geringer Teil der serbischen Bevölkerung in vorwiegend albanischer Umgebung hat das Kosovo bereits mit dem Abzug der Armee verlassen. Die Spannungen zwischen Albanern und Serben währten zum Zeitpunkt der Intervention schon fast 20 Jahre. In dieser Zeit hatten die meisten serbischen Familien Söhne zur Polizei oder zur Armee gegeben. Nach den Massenentlassungen der Albaner aus dem öffentlichen Dienst 1990 waren vor allem Kosovo-Serben in die freien Positionen gerückt; die serbische Minderheit hatte ihre Interessen mit denen des Staates eng verbunden. Von den verbliebenen Serben wurden von Mitte 1999 bis Mitte 2000 viele durch gezielte Morde in der Nachbarschaft in die Flucht getrieben. Die Täter waren meistens junge »Nachkriegshelden«, die während des kurzen Guerilla-Krieges nicht zum Zuge gekommen waren und sich nachher an wehrlosen alten Leuten schadlos hielten. Die albanische Öffentlichkeit war zum Mitleid mit Serben, die zu Opfern wurden, noch nicht fähig und weigerte sich, der Polizei bei der Aufdeckung dieser Verbrechen zu helfen. Eine albanische Staatsautorität, die diese De-facto-Vertreibung hätte orchestrieren können, gab es damals nicht. Die UNO-Zivilverwaltung stand dem Phänomen hilflos gegenüber. So traurig der Exodus der Serben aus dem Kosovo auch ist: Eine gezielte Massenvertreibung durch »die« Albaner war er nicht. Die Versuche, die geflüchteten Serben wieder anzusiedeln, scheitern fast alle. Dabei lässt sich erkennen, dass die Gründe für die Abwanderung vielschichtig waren: Viele Serben haben berechtigte Angst vor Ausschreitungen, aber viele wollen auch nicht in einem albanisch dominierten Gemeinwesen leben.

Zu den Passiva der Bilanz wird auch gerechnet, dass die Intervention für das Kosovo-Problem keine dauerhafte Lösung gestiftet hat. Noch immer ist der Status des Gebiets ungeklärt, und viele offene Rechts- und Eigentumsfragen behindern den Aufbau. Streng genommen darf man dieses Problem der Intervention aber nicht anlasten. Wenn über eine Militäraktion Völkerrecht gesetzt würde, wäre die Rolle der Vereinten Nationen endgültig marginal. Dass es keine Lösung gibt, reflektiert vielmehr die Paralyse der Weltorganisation, die auch nach überstandenen Krieg nicht in der Lage ist, die verbliebenen, entschärften Probleme zu lösen. Obwohl sich die Haltung Russlands durch die Intervention nicht verhärtet hat, hat der Sicherheitsrat für das Gebiet keinen Fahrplan. Alle Orientierungen, die der UNO-Generalsekretär und sein Vertreter im Kosovo ausgeben, entspringen nur der Verlegenheit.

Während des Bombardements war die Befürchtung aufgekommen, die Position von Slobodan Milosevic in Belgrad würde selbst bei einer Niederlage Jugoslawiens noch stärker werden. Tatsächlich richtete sich der Zorn der Bevölkerung im Frühjahr 1999 gegen die Mächte, die die Bomben warfen, und nicht gegen das eigene Regime. Im Herbst 1999 gelang es dem Regime sogar, eine gewisse Aufbaustimmung zu verbreiten. Nach der Winterpause 1999/2000 war es damit aber schon wieder vorbei. Vor allem in bürgerlichen, nationalserbischen Kreisen und in der serbisch-orthodoxen Kirche wuchs die Überzeugung, dass Serbien mit Milosevic nicht mehr aus der Sackgasse kommen würde. Den ganzen Sommer über gelang es der Opposition, besonders dem späteren Premier Zoran Djindjic, immer besser, die zerstrittenen Oppositionsparteien zu einen, wichtige gesellschaftliche Kräfte auf ihre Seite zu ziehen und Skeptiker innerhalb des Regimes zur Neutralität zu bewegen. In der Rückschau erschien der Kosovo-Krieg vielen Serben, die die Haltung ihrer Regierung unterstützt hatten, als das letzte Gefecht des Slobodan Milosevic, sein Rücktritt als die überfällige Konsequenz der Niederlage. Den Streit um das Kosovo hatte Milosevic sich als Pfand aufgehoben, das er bei Bedarf gegen die Unterstützung seines mürbe gewordenen Volkes eintauschen konnte. Als das Pfand verloren war, hatte er nichts mehr zu bieten. Heute sind die zerstrittenen Regierungsparteien in Belgrad zwar gegenüber dem Kosovo völlig manövrierunfähig – jeder, der sich von der starren Position der Regierung wegebewegte, würde von allen anderen gesteinigt. Aber hinter vorgehaltener Hand geben alle zu, dass das demokratische Serbien mit den Problemen des Kosovo hoffnungslos überfordert wäre und noch schlechter funktionieren würde als sowieso schon. Der Regimewechsel in Belgrad hat die permanente Kriegsgefahr auf dem Balkan deutlich entschärft. Wenn der Regimewechsel eine Folge der NATO-Intervention war, gehört die Beruhigung mit auf die »schwarze Seite« der Bilanz.

In der Rückschau auf den Kosovo-Konflikt sehen die meisten Serben sich auch heute noch im Recht. Nur ein radikaler Themenwechsel von den »patriotischen« auf soziale Fragen macht es möglich, dass wenige pazifistische und etliche nationalistische Parteien heute in Belgrad gemeinsam regieren. Das Gefühl nationaler Scham und Schande wegen der in serbischem Namen verübten Kriegsverbrechen ist noch immer auf kleine Gruppen beschränkt und steht hinter dem verbreiteten Opfer-Mythos weit zurück. Das Haager Kriegsverbrechertribunal wird in Serbien ebenso als prinzipiell antiserbisch empfunden wie in Kroatien als antikroatisch. Das Ressentiment gegen den Westen, das in Serbiens öffentlicher Meinung seit jeher einen festen Platz hat, ist durch den Kosovo-Krieg natürlich nicht kleiner, aber auch nicht größer geworden. Das Gefühl, man habe mit einem gerechten Anspruch kapituliert und müsse sich nun beugen und unterordnen, lässt sich leichter ertragen, wenn es mit einer mentalen Redimensionierung der eigenen Nation zusammenfällt: Mag der Anspruch auch berechtigt gewesen sein – mit dem untauglichen Versuch, der ganzen Welt zu widerstehen und selbst die Warnungen des verbündeten Russland zu überhören, hatte Milosevic sich auf Kosten seines Volkes übernommen. Der national orientierte Ex-Präsident Kostunica hatte zu Beginn seiner Amtszeit im Winter 2000/01 demonstrative Nähe zu den Europäern gezeigt und den Amerikanern deutlich gezürnt. Er gab die Haltung bald auf, weil sie lächerlich wirkte. Der Beitritt zur Europäischen Union gilt vielen Serben als illusionär, aber offene Gegnerschaft gegen die Perspektive gibt es nicht. In den letzten Monaten hat die Regierung Zivkovic Anstalten gemacht, sich in den europäisch-amerikanischen Konfliktpunkten – Irak, Internationaler Gerichtshof – mehr der US-Position zuzuwenden. Die öffentliche Meinung in Belgrad lässt es geschehen.

Auch die Befürchtungen, die Intervention würde das prekäre Gleichgewicht der regionalen Mächte durcheinander bringen, haben sich nicht bewahrheitet. Rumänien und Bulgarien, die beide skeptisch gegen die Intervention waren, überboten sich schon im Irak-Krieg wieder gegenseitig in ihrer Loyalität zu den USA. Bei der mazedonischen Bevölkerungsmehrheit war nach dem Kosovo-Krieg die Abneigung gegen die USA und die NATO stark; der Westen wurde als Verbündeter der Albaner wahrgenommen. Die Abneigung hat aber letztlich nicht verhindert, dass die USA eine wichtige Rolle bei der Vermittlung im mazedonischen Konflikt des Jahres 2001 spielen konnten und die NATO sogar Truppen stationieren durfte. Am problematischsten war die Wirkung der Intervention auf extremistische Albaner. Sie fühlten sich stark, übernahmen im Schlepptau der ahnungslosen NATO-Truppen die Macht in den Gemeinden im Kosovo und ließen sich erst mit Mühe und nach Monaten wieder aus den Rathäusern vertreiben. Etliche Extremisten begannen sogleich nach der Befreiung des Kosovo Konflikte in den Albanergemeinden Südserbiens und in Mazedonien anzuzetteln. Die Besatzungsmächte im Kosovo, besonders die USA, zögerten lange, bis sie gegen dieses Treiben vorgingen. Zum einen fürchteten sie bei Racheanschlägen der Extremisten die Solidarität der kosovo-albanischen Bevölkerung, zum anderen wurden sie auch in dieser Frage wieder Opfer ihrer eigenen Propaganda, nach der die Ziele der albanischen Kämpfer sich bloß auf die politische Lage im Kosovo richteten. Die angebliche »großalbanische« Option, die in der serbischen Kriegspropaganda eine große Rolle gespielt hatte, blieb aber Schimäre. Großalbanisch orientierte Parteien erzielten bei den Kosovo-Wahlen Ergebnisse im Promille-Bereich. Die großalbanische Fraktion einer ominösen »Albanischen Volksarmee« (ANA oder AKSh abgekürzt) in Mazedonien versucht seit zwei Jahren vergeblich, Kämpfer für ihre Sache zu mobilisieren.

Wenn die Folgen der Kosovo-Intervention für die Welt negativ, für die Region aber unter dem Strich positiv waren, so deutet das noch einmal auf den längst diagnostizierten Reformbedarf der Vereinten Nationen hin. Die Souveränität Jugoslawiens war für die Weltöffentlichkeit ein deutlich geringerer Wert als die Vermeidung eines jahrelangen Bürgerkriegs. Nur nach den Maßstäben von Regierungen, die ebenfalls Bürgerkriege gegen Minderheiten führen wollen, und nach den Regeln der UNO-Charta ist es anders herum.

Spricht das alles für die Wiederholbarkeit solcher Interventionen? Wenn der Erfolg den Befürwortern auch nachträglich Recht geben mag, so tut er es doch auf wenig überzeugende Weise. Die Strategen der NATO hatten den Verlauf des Krieges irrig kalkuliert. Man glaubte, nach falsch ausgewerteten Erfahrungen aus Bosnien, Belgrad werde schon nach wenigen nächtlichen Luftangriffen nachgeben. Stattdessen reagierte Belgrad mit einer massenhaften Vertreibung der albanischen Bevölkerung. Mitte April gerieten etliche Regierungen von NATO-Staaten zu Hause unter Druck, weil ihre Luftstreitkräfte mangels Erfolg zunehmend zivile Ziele zu bombardieren begannen. Um die zunehmend skeptische Öffentlichkeit bei der Stange zu halten, wurden die zivilen Opfer verharmlost und die Gräuel der serbischen Kriegspartei noch übertrieben. Warum Belgrad schließlich doch kapitulierte, ist bis heute ungeklärt. Eine plausible Annahme geht davon aus, dass die Drohung mit Bodentruppen der entscheidende Faktor war.

Versetzt man sich heute in die Entscheidungssituation vom März 1999 zurück, so lässt sich der Beschluss zum Eingreifen heute besser als damals rechtfertigen. Dass es aber überhaupt zu einer solchen Situation kam, ist nicht allein die Schuld des Slobodan Milosevic, sondern auch Folge einer verfehlten Krisenlösung. Es lohnt, sich noch ein wenig weiter als bis ins Frühjahr 1999 zurückzuversetzen. Der erste verhängnisvolle Fehler geht zurück in die frühen neunziger Jahre, als die Außenpolitik der EU noch ganz und gar in ihrer bürokratischen Phase steckte, die Union sich aber irrtümlich schon für fähig hielt, die Probleme des auseinanderfallenden Jugoslawien zu lösen. Jugoslawien, so diagnostizierte damals eine Juristenkommission unter dem französischen Ex-Justizminister Robert Badinter, zerfiel gerade in seine sechs Republiken; sie seien die legitimen Nachfolger des föderativen Staates. Das »Badinter-Gutachten« führte dazu, dass das heterogene Bosnien kurz darauf nach einem EU-typischen, bürokratischen Automatismus als selbstständiger Staat anerkannt wurde, das homogenere Kosovo, weil es keine Republik war, aber nicht. Die letzte Chance auf eine friedliche Lösung wurde Ende 1995 beim Abkommen von Dayton vertan, das den bosnischen Krieg beendete. Damals beschlossen die Unterzeichnerstaaten, den so genannten äußeren Wall der Sanktionen gegen Jugoslawien, seinen Ausschluss aus den internationalen Finanzinstitutionen, trotz des Friedens in Bosnien nicht aufzuheben. Eine der Bedingungen für die Aufhebung dieser Sanktionen war ein Autonomiestatut für das Kosovo. Die US-Unterhändler von Dayton haben gegen spätere Kritik zu Recht eingewandt, es sei unmöglich gewesen, das Problem Kosovo in Dayton gleich mit zu lösen; man hätte sich auf Bosnien konzentrieren müssen. Der eigentliche Fehler war aber ein anderer: Der Westen hätte die Sanktionen gegen Jugoslawien nach Dayton ersatzlos aufheben, das Regime Milosevic rehabilitieren und derselben Konditionalität unterstellen müssen wie das Tudjman-Regime in Kroatien. Solange Serbien unter Sanktionen stand, konnte Belgrad, selbst wenn es das gewollt hätte, die albanische Minderheit nicht integrieren. Von den Albanern aber verlangte der Westen, sich einem Regime zu fügen, das derselbe Westen als Paria behandelte. Dass diese Lage irgendwann zur Explosion führen würde, war schon damals klar. Schon im Sommer 1996, kaum ein halbes Jahr später, trat die »Befreiungsarmee« UCK auf den Plan. Mag uns die Erfahrung mit dem Kosovo auch an einigen friedenspolitischen Überzeugungen irre werden lassen, eine wenigstens bestätigt die Erfahrung glanzvoll: Der Krieg im Kosovo war nicht die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, sondern wieder einmal die Folge ihres Versagens.

Norbert Mappes-Niediek arbeitet seit Beginn der Kriege im früheren Jugoslawien als freier Südosteuropa-Korrespondent für deutsche Zeitungen und Rundfunkanstalten

Mazedonien: Internationaler Frieden ohne lokale Entwicklung?

Mazedonien: Internationaler Frieden ohne lokale Entwicklung?

»Globale Kultur« der Konfliktprävention und Transformation

von Tobias Denskus

Wer Mazedonien eine »Erfolgsgeschichte« nennt für Konfliktprävention der »Internationalen Gemeinschaft« auf dem Balkan, der hat prinzipiell Recht – er kommt nur wahrscheinlich nicht aus Mazedonien. Auch gut zwei Jahre nach der gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Armee und UCK-Kämpfern gibt es noch keine Erklärung, warum der Konflikt eskalierte (Vankovska 2003: 11), und wie die Zukunft des Landes, das etwa die Größe Hessens und gut zwei Millionen Einwohner hat, aussehen kann. Auch wenn eine institutionelle Perspektive (Aufnahme bzw. Assoziierung mit NATO und EU) skizziert wird,1 bleibt eine der drängenden Fragen, welche Werteperspektive damit einhergeht, die über das „Imitieren der westlichen Demokratie“ (Vankovska 2003: 9, Nikolovska 2003: 16) hinausgeht. Denn die „Erwartung, Demokratie dämme quasi als Selbstläufer ethnische Konflikte ein [hat sich nicht] bestätigt“ (Schlotter 2002: 1108).

Im Rahmen dieses Artikels sollen zwei konkrete und interdependente Thesen untersucht werden, die schlaglichtartig die Entwicklungen in Mazedonien beleuchten:2

Zum einen die Erfolgsthese: Haben die internationalen Akteure erfolgreich Konfliktprävention umgesetzt und können mögliche Erfolge »vernachhaltigt« werden? Und zum anderen die Globalisierungsthese: Die »Globale Kultur« (Paris 2003), angetrieben vom Ideal der (liberalisierten) Demokratie, formt maßgeblich den Modernisierungs- und Transformationsprozess, ohne jedoch zu einem zukunftsweisenden Gesamtkonzept von Sicherheit, Entwicklung und Frieden für die Mazedonier beitragen zu können. Das Beispiel der »liberalisierten« Wirtschaft macht dies besonders deutlich.

Zur Erfolgsthese

„Alles in allem kann man feststellen, dass in der Mazedonien-Krise der gesamte Katalog aus diplomatischem Druck, militärischen Drohungen, wirtschaftlichen Anreizen und finanziellen Versprechen erfolgreich zur Anwendung kam. Friktionen und Rivalitäten zwischen den Akteuren blieben gering.“ (Kluss 2003: 178). „In fact, it [Macedonia] is an underperforming post-conflict country still very much at risk, unable to tackle – operationally or politically – its security challenges without upsetting an uncertain ethnic balance.“ (ICG 2003: i)

Alleine die Verhinderung eines Bürgerkrieges und einer Militärintervention sind große Erfolge. Dass es den meisten Menschen in Mazedonien heute schlechter geht als vor zehn Jahren (Veljkovic 2003: 1) und zentrale Probleme, die seit der Unabhängigkeit 1991 im Raum stehen, nur ansatzweise gelöst sind (Ackermann/Pala 1996: 84),3 lässt allerdings den Eindruck zu, dass sich die Vertreter der »Internationalen Gemeinschaft« gegenseitig auf die Schultern klopfen, und froh sind, dass die institutionellen Arrangements relativ reibungslos funktioniert haben.

Großen Anteil am vordergründigen Erfolg haben die langfristig ausgerichteten UN- und OSZE-Missionen, die bereitwillig von den mazedonischen Regierungen aufgenommen wurden und eng mit den anderen internationalen »Spielern« (EU, NATO, USA) verbunden waren (Sokalski 2003, Frowick 2003, Troebst 1995). Dass sich dabei »weichere Maßnahmen« (z.B. das diplomatische Engagement der Parlamentarischen Versammlung der NATO und des Europaparlaments (Kluss 2003: 177f.), hoher persönlicher Einsatz – des EU-Beauftragten Javier Solana, des OSZE Hochkommissar für nationale Minderheiten, Max van der Stoel oder des OSZE-Sondergesandten Robert Frowick – und der politische Wille internationaler »Schwergewichte« wie der USA wirkungsvoll ergänzten, kann als großer Erfolg gewertet werden.

Trotz des gewaltsamen Aufflammens des Konfliktes im Frühjahr 2001 und anderer Dissonanzen – zum Beispiel der schädlichen Rolle des UN-Embargos (Vankovska 2003: 3f.) oder der Beendigung der UN-Mission durch den Sicherheitsrat, mit dem China offenbar die Anerkennung Taiwans durch die mazedonische Regierung bestrafen wollte – bleibt die Erkenntnis, dass in Mazedonien Vieles richtig angegangen und manch Schlimmeres verhindert werden konnte. Realpolitische Erfolge, die auf dieser Ebene auch einer friedenswissenschaftlichen Analyse standhalten: Internationales Konfliktmanagement bestand nicht nur in Absichtserklärungen oder leeren Drohungen, sondern konnte präventiv einer möglichen humanitäre Katastrophe entgegensteuern.

Zur Globalisierungsthese

„Rapid liberalization remains at the core of the peacekeeping formula, despite mounting evidence that hasty democratization can, in at least some circumstances, work against the goal of establishing a stable peace.“ (Paris 2003: 455)

Mit der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung hält eine »Globale Kultur«4 Einzug, die als »Schock-Therapie« ihre Wirkung nicht verfehlt hat: Die industrielle Produktion hatte in 2002 einen Umfang von weniger als 50% der Produktion von 1990, makro-ökonomische Stabilisierungsvorhaben haben zu einem hohen Handelsdefizit geführt und Privatisierungen wurden oft als »Selbstbedienungsladen« für die neue Elite benutzt – eine »economy of the party« (Veljkovic 2003: 1) ist entstanden.

Damit hängen dann ein »jobless growth« (Eftimoski 2003: 8) und eine steigende Zahl von öffentlichen Wohlfahrtsempfängern zusammen – ca. 300.000 Personen im Jahr 2002 (Pecijareski 2003: 6). Qualitative Verbesserungen haben seit 1991 kaum stattgefunden: „From the aspect of human development, as economic growth that generates higher level of employment, ensures security of the population and more equal income distribution […], contributes to sustained human development and supports democracy in the society – we can conclude that economic growth […] does not satisfy essential criteria to be »qualitative«.“ (Eftimoski 2003: 8)

Auch die mazedonischen Analysten sprechen sich nicht gegen wirtschaftliche Reformen aus, sie betonen aber, dass die verordnete Schock-Therapie der internationalen Finanzinstitutionen erhebliche Auswirkungen hatte und haben wird: „The negative effects include the fact that even though stable, the overpriced national monetary value […] led to massive import followed by unbalanced accounts regarding their payments. The fact that our own sources could not cover the consequences of such action, led to a need for loans and dependence upon those very same creditors.“ (Pecijareski 2003: 6)

Notwendige Reformen, zeitlich nicht an die lokalen Bedingungen angepasst, im Zusammenspiel mit fehlenden oder »personalisierten« wirtschaftspolitischen Strategien sind eine zentrale Komponente des internationalen Engagement, das die politisch-ökonomische Facette des Konflikts nicht entschärfen kann. Zusammen mit den Schwierigkeiten der sich entwickelnden Zivilgesellschaft ergibt sich das Bild einer Abwärtsspirale mit paradoxem Ausgang: „Democracy as well as civil society hang around as empty phrases as long as there is no substance i.e. solid economic ground for change and progress.“ (Vankovska 2002: 12)

Internationaler Frieden ohne lokale Entwicklungschancen?

Das gegenwärtige politische System ist also kaum nachhaltig ausgerichtet: „The changes that have occurred in the political system not only reversed the realization of the political goals by creating fundamental doubts about the projected parliamentary democracy, but also questioned the civic and lawful character of the country. (…)The elections were turned into a site of continuous carcinogenic metamorphosis of the already immunosupressed political body. Between democracy on one side and the greed for power on the other, we chose the latter.“ (Pecijareski 2003: 3/4)

Die Entwicklungen in Mazedonien seit seiner Unabhängigkeit haben gezeigt, dass die Prävention von Konflikten möglich ist. Die Verzahnung von (sicherheits-)politischen, militärischen und wirtschaftlichen Aspekten eröffnet viele Möglichkeiten für eine aktive und wirksame Konfliktprävention. Diese Interventionen scheinen aber mit den Zahnrädern einer großen, globalen Maschine verknüpft zu sein, die selten kritisch-reflektiert eingesetzt wird. Bei der Unterstützung von Transformationsländern sollten den Menschen vielmehr Möglichkeiten aufgezeigt werden, die Amyrta Sen als „overall freedoms of people to lead the kind of lives they have reason to value“ (1999: 10) definiert. Die gegenwärtigen Diskurse, die auf schnelle, vermeintlich ent-politisierte Lösungen abzielen, um Nachkriegsgesellschaften auf den »globalen Kurs« der letztlich westlich induzierten nachholenden Entwicklung zu führen, übersehen zum Beispiel die Dimension lokaler Lebenswelten – eine Tendenz der aktuellen Friedens- und Konfliktdebatte, die Hensell generell kritisch sieht.5

Es wäre daher zu einfach, Mazedonien als »Erfolg« auszugeben, genauso, wie es zu einfach ist, die internationalen Friedensbemühungen leichtfertig in Frage zu stellen. Wenn aber selbst gelungenes Konfliktmanagement schon so viele Fragen offen lässt, wie es derzeit in Mazedonien der Fall ist, muss allerdings die Frage erlaubt sein, welcher Erfolg der Friedensagenda der »Internationalen Gemeinschaft« in der Zukunft beschieden sein wird, die in vielen Ländern und Regionen mit mehr »Gegenwind« als in Mazedonien rechnen muss (z.B. im Irak, in Afghanistan oder in der Region der Großen Seen in Ostafrika).

„The initial active enthusiasm about transformation of socialism into capitalism turned into a passive acceptance of the fact that transition was over, and that we were trapped in the problems of the capitalist periphery (the Third World)“

(Nikolovska 2003: 1)

Literatur:

Ackermann, Alice/ Antonia Pala (1996): From Peacekeeping to Preventive Deployment: A Study of the United Nations in the Former Yugoslav Republic of Macedonia, in: European Security, Vol.5, No.1, S .83-97.

Denskus, Tobias (2002): The systems seems always to be less than the sum of its parts – International Post-War Reconstruction and the Role of Peacebuilding. MA Dissertation, University of Bradford.

Eftimoski, Dimitar (2003): Human Development, Inequality and Poverty in Republic of Macedonia in Transition Period, in: Nikolovska, Natalija (ed.) Macedonia On Globalization (forthcoming).

Hensell, Stephan (2002): Modernisierung und Gewalt in Mazedonien. Zur politischen Ökonomie eines Balkankrieges. Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Arbeitspapier 5/2002. Hamburg: Universität Hamburg.

International Crisis Group (2003): Macedonia: No Room for Complacency. ICG Europe Report No.149. Brussels/Skopje: ICG.

Kluss, Heinz (2003): Krisenmanagement in Mazedonien. Ein Lichtstreif am Horizont? In: Österreichische Militärische Zeitung, Nr.2/2003, S. 173-178.

Nikolovska, Natalija (2003): Transition Towards The Third World, in: Nikolovska, Natalija (ed.) Macedonia On Globalization (forthcoming).

Paris, Roland (2003): Peacekeeping and the Constraints of Global Culture, in: European Journal of International Relations, Vol.9, No.3, S. 441-473.

Pecijareski, Ljupco (2003): The Social Implications of the Economical and Political Changes in Macedonia, in: Nikolovska, Natalija (ed.) Macedonia On Globalization (forthcoming).

Schlotter, Peter (2002): Zum Beispiel Mazedonien. Demokratie und ethnische Selbstbestimmung im Konflikt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr.9/2002, S. 1101-1109.

Sokalski, Henryk J. (2003): An Ounce of Prevention: Macedonia and the UN Experience in Preventive Diplomacy. Washington, DC: United States Institute of Peace Press.

Troebst, Stefan (1995): Präventive Friedenssicherung durch Internationale Beobachtermissionen? Das Beispiel der KSZE-Spilover-Monitormission in Makedonien 1992-1993, in: Seewann, Gerhard (Hrsg.): Minderheiten als Konfliktpotential in Ostmittel und Südosteuropa. München: Oldenburg, S. 282-331.

Vankovska, Biljana (2002): Western Civil-Society Empowerment and the Lessons learned from the Balkans. Prepared for presentation at the DCAF Workshop »Promoting Civil Society in Good Governance«: Lessons for the Security Sector, Prague, 15-16 April.

Vankovska, Biljana (2003): Macedonia Between Globalisation and Fragmentation: Security Aspects, in: Nikolovska, Natalija (ed.) Macedonia On Globalization (forthcoming).

Veljkovic, Dusan (2003): Liberalization of the foreign trade as a factor to the destruction of an economy, in: Nikolovska, Natalija (ed.) Macedonia On Globalization (forthcoming).

Anmerkungen

1) Darüber stimmten der albanische Politiker Ali Ahmeti, Vorsitzender der Demokratischen Union für Integration, der mazedonische Botschafter für die USA, Nikola Dimitrov, sowie der ehemalige Repräsentant des OSZE Chairman-in-Office, Robert Frowick bei einer Diskussion im United States Institute of Peace überein, die am 1. Juli 2003 unter dem Titel Macedonia: Will Peace Hold? stattfand. http://www.usip.org/events/2003/0701_WKSmacedonia.html

2) Durch die vorgegebene Kürze des Artikels können die Diskurse zur Rolle der internationalen Akteure, die Mazedonien seit der Unabhängigkeit 1991 begleiten, zwar teilweise benannt, nicht aber eingehender untersucht werden. Zur Bedeutung von Diskursen und ihrer Analyse im Bereich der Friedensförderung siehe z.B. Denskus (2002) und Ebrahim (2003), der sehr treffend Edwards (1996) zitiert: „A discourse, then, is a way of knowledge, a background of assumptions and agreements about how reality is to be interpreted and expressed, supported by paradigmatic metaphors, techniques, and technologies and potentially embodied in social institutions.“ (Ebrahim, Alnoor (2003): NGOs and Organizational Change. Discourse, Reporting, and Learning. Cambridge, UK: Cambridge University Press, 13)

3) Von den vier Hauptbereichen ist der potentielle »spill-over« des Konfliktes im Kosovo verhindert worden und die Beziehungen zum benachbarten Serbien und Griechenland haben sich verbessert. Angespannte inter-ethnische Beziehungen und eine »düstere« wirtschaftliche Lage machen dem Land nach wie vor zu schaffen.

4) Roland Paris (2003) führt die »world polity« Schüler der Soziologie ins Feld, die „the norms, customs and widely held beliefs – or »culture« – of human societies“ studieren, und „rather than focusing on the culture of a particular national or religious group, these scholars treat the entire world as a single society, and argue that there is a distinct global culture that comprises the formal and informal rules of international social life.“ (442)

5) „Diese Diskussionen [über Diskurse über Krisenprävention und Peacebuilding], in denen »Instrumente«, »Mechanismen« und »Strategien« internationaler Akteure einen großen Raum einnehmen, haben ein Defizit. Sie tendieren zur Fixierung auf institutionelle Arrangements ohne dabei die sozialen Transformationsprozesse und die Konfliktakteure […] ausreichend zu berücksichtigen.“ (Hensell 2002: 2)

Tobias Denskus, MA, ist Mitarbeiter am Institut für Frieden und Demokratie der FernUniversität Hagen und arbeitet in einem Projekt zur Legitimation von Nichtregierungsorganisationen mit dem Schwerpunkt Mazedonien. Der Artikel entstand im Rahmen des Forschungsprojektes »Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in der transnationalen Konfliktprävention und -bearbeitung. Das Problem der demokratischen Legitimation und Verantwortlichkeit«.

Irak: Nachkriegszeiten

Irak: Nachkriegszeiten

von Jürgen Nieth

Keine beweglichen Bio-Waffen-Labors

Neue Erkenntnisse des militärischen Geheimdienstes DIA haben die Behauptung der US-Regierung von der Existenz zweier mobiler Biolabore im Irak in Zweifel gezogen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass es sich bei den zwei gefundenen Lastwagen nicht um Biolabore, sondern um Füllstationen für Wetterballons handelte. Ein Ergebnis, das mit den Aussagen führender irakischer Wissenschaftler – die sich in »US-Gewahrsam« befinden – übereinstimmt. Bereits bei der Veröffentlichung der ersten Bilder der angeblichen transportablen Labore hatten Insider auf tiefe Meinungsverschiedenheiten in der CIA hingewiesen und darauf, dass Experten „unlautere Rückschlüsse“ bemängelten. Auch der ehemalige UN-Waffeninspekteur David Albright fand die Analyse-Methode damals „im höchsten Maße fragwürdig.“ (Luxemburger Wort 12.08.03)

Drohnen untauglich für B- und C-Waffen-Angriff

Waffenexperten der US-Streitkräfte sind nach einer Überprüfung unbemannter irakischer Flugzeuge zu dem Ergebnis gekommen, dass diese entgegen der Darstellung der Bush-Regierung nicht für einen Einsatz chemischer oder biologischer Waffen geeignet waren. Außenminister Powell hatte bei seiner Präsentation von »Kriegsgründen« am 05. Februar vor dem UN-Sicherheitsrat sogar von der Möglichkeit gesprochen, die unbemannten Flugzeuge könnten Städte in den USA angreifen. Wie der Direktor des Geheimdienstes der US-Luftwaffe, Bob Boy, jetzt mitteilte, hätten sie mit dieser Einschätzung nie übereingestimmt. Die Drohnen hätten nach Einschätzung der Luftwaffe demselben Zweck gedient, wie die amerikanischen: der Aufklärung. (FR 26.08.03)

Gebeutelte US-Armee

Die US-Armee verfügt nicht über genügend aktive Streitkräfte, um gleichzeitig die derzeitige Besatzung des Irak und ihre Präsenz an anderen Einsatzorten aufrechtzuerhalten. Das ist das Ergebnis einer Studie des »Congressional Budget Office«. Die CBO-Studie entwickelt drei Irak-Szenarien: Die Stationierung von 40.000 bis 65.000 Soldaten würde im Rahmen der gegenwärtigen Streitkräfteplanung jährlich acht bis zwölf Milliarden Dollar kosten. Mit einem um zusätzliche Reservisten und Nationalgardisten erweiterten Kontingent von 100.000 GIs wären es pro Jahr 19 Milliarden. Zwei neue Divisionen mit 20.000 zusätzlichen Soldaten aufzustellen, würde fünf Jahre beanspruchen, eine Anfangsinvestition von 20 Milliarden erfordern und jährlich 10 Milliarden Dollar kosten. (Frankfurter Rundschau 04.09.03

Gebeutelte US-Zivilbevölkerung

Jeder achte US-Amerikaner lebt unter der Armutsgrenze. Nach einer Meldung von »ap« (03.09.2003) hat sich die Zahl der in Armut lebenden 2002 um 1,4 Millionen auf 34,8 Millionen erhöht. Besonders betroffen sind nach einer Erhebung der US-Zensusbehörde die Kinder: 12,2 Millionen arme Kinder, das sind 17,2 Prozent der Heranwachsenden. Den US-Statistikern zufolge gilt z.B. ein Drei-Personen-Haushalt als arm, wenn sein Einkommen unter 14.480 Dollar im Jahr liegt. Doch während die Armut wächst und die US-Staatsschulden auf nie zuvor erreichte Höhen steigen, sprudeln die Ausgaben für die Irak-Besatzung: Monatlich 4 Milliarden kostet der Militäreinsatz den USA (TAZ 28.08.03), im September wurden von Präsident Bush weitere 87 Mrd. Dollar für das »Unternehmen Irak« in 2004 beantragt.

Kriegsgewinner

Die aktuelle Kriegspolitik lohnt sich, zumindest für die US-amerikanischen Rüstungsunternehmen. Northrop Grumman und Lockheed Martin verzeichneten im letzten Jahr bereits eine Gewinnsteigerung um 140 Prozent. 2003 scheint noch deutlich besser zu werden. Northrop Grumman hat sich durch einige Firmenübernahmen zu einem der größten Rüstungskonzerne der Welt entwickelt. Im ersten Quartal 2003 meldete er 187 Mill. US-Dollar Gewinn, im zweiten gesteigert auf 207 Millionen. Loockheed Martin konnte im ersten halben Jahr die Verkaufzahlen um 23 Prozent steigern auf 7,71 Mrd. US-Dollar. Der Raketenhersteller Raytheon, der im letzten Jahr noch 138 Mill. Miese machte, strich zwischen Januar und Juli 100 Mill. Gewinn ein. Zu den großen Gewinnern des Irak-Krieges zählen auch kleinere auf Rüstungsaufträge spezialisierte Firmen, wie z.B. die Titan Cooperation (u.a. Sterilisierungsmittel gegen Milzbrandanschläge) oder Ceradyne, eine Firma, die sich auf den Schutz von Panzern und Waffen gegen hohe Wüstentemperaturen spezialisiert hat. (TAZ 04.08.03)

Vorkriegszeit

Geht es nach dem US-amerikanischen NATO-Botschafter, Nicolas Burns, so muss sich die NATO von einer Verteidigungsgemeinschaft zu einem offensiven Instrument entwickeln, das auch im Nahen Osten, in Südostasien oder in Afrika eingesetzt werden kann. In diesem Zusammenhang warf Burns der Bundesregierung am 16.09. vor dem »European Policy Center« in Brüssel vor, die Bundeswehr nicht auf die Erfordernisse der Gegenwart und Zukunft eingestellt zu haben. Es gehe nicht mehr um kontinentale Landkriege, sondern darum, den Krieg dahin zu tragen, wo es notwendig sei. Dafür brauche man eine andere Art von Technik und Kämpfern. (FR 17.09.03)

Das Letzte

Bildungsniveau

Sieben von zehn US-Bürgern glaubten noch Ende August, dass Saddam Hussein irgendetwas mit den Anschlägen vom 11. September zu tun hatte oder sie sogar organisierte. Von den Wählern der Bush-Partei sind sogar 80 Prozent dieser Meinung. Nach einer Untersuchung der Washington Post haben die Anspielungen des Präsidenten und des Vizepräsidenten, nachdem dem »Allzweckschurken« aus Bagdad alles zuzutrauen sein, wesentlich zu diesem Meinungsbild beigetragen.

Anschlag auf die Weltwirtschaft

Anschlag auf die Weltwirtschaft

Gesamtwirtschaftliche Kosten eines Kriegs gegen den Irak

von Rudolf Hickel

Die Interessen der USA-Administration, mit denen der Militärschlag gegen den Irak zu erklären versucht wird, sind sattsam bekannt. Vordergründig geht es um die Demontage von derzeit noch vermuteten Produktionspotenzialen für Massenvernichtungswaffen. Im Zentrum steht der Sturz des unbestreitbar diktatorischen Hussein-Regimes. Die penetrante Reduktion aller möglicher Alternativen, mit denen dieses Ziel erreichbar wäre, auf Krieg, zeigt, es geht ausschließlich um Großmachtinteressen der USA – ohne Rücksicht auf die gesamte Region sowie die Bündnispartner in der Allianz.
Ökonomisch gilt es, den Zugang zu den Ölquellen im Irak wie überhaupt im Nahen Osten zu sichern. Der Irak (15,1 Mrd. Tonnen) verfügt nach Saudi-Arabien (35,4) und vor Kuwait (13,0) über die zweitgrößten Ölreserven der Welt. Weit vor allen anderen Industrienationen liegt der Ölverbrauch der USA bei 895 Millionen Tonnen pro Jahr. Zwar sprudelt das schwarze Gold immer noch kräftig aus den Quellen der USA. Nach Saudi-Arabien mit 379 Mio. Tonnen sind die USA der zweite große Ölförderer mit 353 Mio. Tonnen. Je stärker jedoch heute die Vorkommen in den ölärmeren Regionen mit Einsatz hoher Kosten genutzt werden, desto entscheidender werden in Zukunft die Vorräte in der arabischen Wüste und umso mehr gewinnt das OPEC-Kartell an politischer Macht. Prognosen gehen bis zum Jahr 2020 von einer Verdreifachung des Ölbedarfs durch die USA aus. Die Abhängigkeit des Wirtschaftswachstums von Öl ist in den USA extrem hoch, weil auch zum Schaden der Umwelt auf eine Politik der Energieeinsparung und -substitution bisher verzichtet worden ist. Die USA deckt derzeit die Hälfte ihres täglichen Rohölbedarfs aus dem Ausland. Davon stammen 20% aus Ländern am persischen Golf. Allein die tägliche Rohölförderung des Iraks nach Aufhebung der Sanktionen würde ausreichen, den größten Teil des Bedarfs der USA aus dieser Energiequelle zu bedienen. Dabei geht es um die Frage, welche Mineralölfirmen nach dem Krieg gegen den Irak zur Ausbeutung der Ölquellen im Irak zum Zug kommen. Derzeit gibt es Verträge des Iraks mit einem französischen Mineralölkonzern. In den USA wird der französischen Regierung vorgeworfen, die Franzosen widersetzten sich dem Krieg, um die Rechte nicht zu verlieren. Diese Kritik an Frankreich macht die Absichten der US-Administration deutlich. Sicherlich wird die USA alles versuchen, das angestrebte Militärprotektorat im Irak nach dem Krieg zu nutzen, um die Rechte US-Mineralölkonzernen zuzuschanzen.

Die US-Strategie reicht jedoch weltpolitisch weit über das Interesse am Ölstandort Irak hinaus. Wie der Umgang mit den Verbündeten im »alten Europa«, also nach dem US-Sprachgebrauch gegenüber den Ländern, die den durch die USA diktierten Waffengang nicht mitmachen, deutlich werden lässt, George W. Bush demonstriert der Welt, dass die USA als Weltpolizei in den kommenden Jahren ohne Rücksicht auf die Verbündeten schalten und walten wollen. Dafür wird die auch die Destabilisierung Europas sowie im Nahen Osten in Kauf genommen.

Kriegskosten berechnen und verkünden

Die ökonomischen Interessen sowie der totalitäre Anspruch auf die Definitionsmacht bei der Lösung von Konflikten in der Welt erklärt wohl auch, warum auf ernsthafte Bewertungen der ökonomischen Folgen eines Krieges gegen den Irak verzichtet wird. Denn, werden die ökonomischen Vor- und Nachteile dieser Kriegsstrategie abgewogen, so fällt das Kosten-Nutzen-Kalkül Ergebnis niederschmetternd aus.

In der Sprache der ökonomischen Entscheidungstheorie werden gegenüber den durch die USA kalkulierten, allerdings selbst gefährdeten profítablen Vorteilen (»Benefits«) des Irak-Kriegs die gesamtwirtschaftlichen Kosten systematisch unterschlagen. Die Rechnungen, die aus dem Pentagon bekannt geworden sind, erfassen nur einen Bruchteil der gigantischen Belastungen, übrigens ausschließlich für die USA. Die katastrophalen Folgen in den vielen anderen Ländern, wie überhaupt für die Weltwirtschaft werden komplett ausgeblendet. Damit bleibt die USA-Administration der alten Tradition treu, mit völlig unterschätzen Kosten Kriege im eigenen Land politisch durchzusetzen. So wurden die Kosten des Korea- und Vietnamkrieges ebenso wie die des ersten Golfkriegs (1990-1991) auf die Erfassung der reinen Militärkosten reduziert. Dabei schreiben Finanzgesetze in den USA vor, zu »öffentlichen Großprojekten« – und dazu zählt dieser Krieg – Kosten-Nutzen-Analysen vorzulegen. Wenn diesem Gesetzesauftrag gefolgt würde, müsste der Aufmarsch ins Kriegsgebiet sofort gestoppt werden. Die Busch-Administration weiß wohl genau, warum sie auf die alt bekannte Verschleierungstaktik setzt. Einigermaßen angemessene Kostenschätzungen könnten die Akzeptanz derartiger Militäraktionen im eigenen Land gefährden. Auf der Basis einer umfassenden Analyse der direkten und indirekten Kosten des Kriegs gegen den Irak würden auch die Drittwirkungen entzifferbar – nämlich die ökonomischen Belastungen vieler Länder wie überhaupt der Weltwirtschaft. Selbst wenn Deutschland hoffentlich dabei bleibt, an diesem Krieg nicht teilzunehmen, die ökonomischen Lasten sind so oder so – wie noch zu zeigen sein wird – enorm. Erst die schonungslose Auflistung der ökonomischen Gesamtkosten zeigt, wer am Ende in welchem Ausmaß an den Lasten beteiligt sein wird.

Also, politisch wie ökonomisch, die Bewertung der gesamtwirtschaftlichen Kosten eines möglichen Kriegs gegen den Irak ist dringend erforderlich. Auch die Länder, die sich gegen die Teilnahme an diesem Krieg entschieden haben, müssen an der ökonomischen Wahrheit großes Interesse haben. Denn die Entscheidungen der USA lösen über die weltwirtschaftlichen Folgen negative Wirkungen (externe Effekte) aus, denen sich die zwar nicht entscheidenden, jedoch betroffenen Länder nicht entziehen können. Wohl auch um die ganze Wahrheit zu verheimlichen, werden methodische und substanzielle Bedenken gegen die Berechnung von Kriegskosten eingewendet. Diese bekannten eingrenzbaren Schwierigkeiten rechtfertigen jedoch nicht den Verzicht auf die Kalkulation der Kriegskosten. Im Mittelpunkt stehen letztlich nur die monetär bewertbaren Kosten. Die vielen Toten sowie das menschliche Elend durch einen Krieg lassen sich in einer solchen Kalkulation seriös nicht erfassen. Das ökonomische Rechenwerk belegt jedoch die verheerenden Wirkungen auf die ökonomische Wertschöpfung als Basis von Einkommenssicherung und der Arbeitsplätze. Die kurzweiligen ökonomischen Interessen an diesem Krieg werden durch gigantische Gesamtkosten völlig abgewertet. Dabei lassen sich zur Ermittlung der Kriegskosten Untersuchungen zu voran gegangen Kriegen produktiv nutzen. Forschungsarbeiten liegen nicht nur zu allen großen Kriegen vor, sondern auch zu Naturkatastrophen und jüngst zu den ökonomischen Folgen des internationalen Terrors (zu den ökonomischen Folgen des 11. Septembers).

Eine hervorragende Position auf dem Gebiet der Untersuchung der gesamtwirtschaftlichen Herausforderungen durch Krieg und Frieden nimmt der Begründer der modernen Makroökonomik, John Maynard Keynes, ein. Zu den Klassikern zählt sein im Juni 1919 erschienenes Buch »Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrags«. Nach Durchsicht der Verträge von Versailles zeigte er, dass die seitens der Alliierten Deutschland und seinen Verbündeten abverlangten Entschädigungssummen nicht aufbringbar und daher „unklug und selbstmörderisch“ seien. Weitsichtig warnte er vor dem politischen Debakel, in das diese nicht tragbaren Belastungen die Weimarer Republik stürzen mussten. Der Text macht zugleich die hohen Opportunitätserträge eines vermiedenen Krieges deutlich. Die Untersuchung widerlegt auch die heutigen Kriegstreiber, die wohl auch den ökonomischen Verstand verloren haben.

Die einigermaßen korrekte Erfassung der Kosten eines Krieges im Irak ist ausgesprochen komplex und kompliziert. Unterschiedliche, allerdings nur monetär bewertbare Kostenkomponenten sind zu unterscheiden. Da sind die direkten Kosten durch den Militäreinsatz. Deren Höhe hängt von der Länge und Intensität der Kriegsführung ab. Hinzu kommen die Kosten der Schaffung eines Militärprotektorats nach dem Krieg sowie für den Wiederaufbau. Dabei ist auch der derzeitige Zustand von Staat und Wirtschaft im Irak zu berücksichtigen. Schließlich müssen die indirekten Kosten abgeschätzt werden, die die Folgen für die Weltwirtschaft, die USA und die anderen einzelnen Länder erfassen. Hier spielt die Entwicklung des Ölpreises eine strategische Rolle. Die makroökonomischen Belastungen durch einen Ölpreisschock sind enorm. Aber auch Einflüsse auf den Außenwert des US$ und weiterer Wechselkurse sowie auf die Aktienkurse sind innerhalb der gesamtwirtschaftlichen Analyse zu berücksichtigen. Zudem müssen die Reaktionen der Konsumenten, der Investoren sowie der Geld- und Finanzpolitik im makroökonomischen Gesamtkalkül berücksichtigt werden. Dabei wird das Ausmaß all dieser Effekte durch die Länge und Art der Kriegsführung maßgeblich bestimmt. Die methodischen und empirischen Probleme der Erfassung der gesamtwirtschaftlichen Kosten sind unbestreitbar. Es wäre fatal, hier eine Präzision durch die Angabe monetärer Größen vortäuschen zu wollen. Aber die Kenntnis ungefährer Größenordnungen ist dem Verzicht auf Angaben in jedem Fall vorzuziehen.

Analyse der Kriegsfolgen für die USA

Eine umfassende und methodisch anspruchsvolle Abschätzung der volkswirtschaftlichen Kosten eines Krieges mit dem Irak USA hat der renommierte Wirtschaftsprofessor an der Yale-Universität, William D. Nordhaus,1 im Dezember 2002 vorgelegt. Seine Analyse bezieht sich zwar nur auf die ökonomischen Folgen für die USA. Aus diesem Ansatz lassen sich jedoch Anknüpfungspunkte zur Untersuchung der ökonomischen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, aber auch auf Deutschland ableiten. Diese Studie korrigiert auf der Basis des nicht unwahrscheinlichen schlimmsten Falls (»worst case«) die verniedlichenden Angaben zu den Kriegskosten, die aus dem Pentagon in die Öffentlichkeit gedrungen sind. Die offiziellen Bewertungen reduzieren die Kosten auf die direkten Militärausgaben. Auch die Untersuchung der »Democratic Staff of the House Budget Committee« (House Study) unterschätzt die Gesamtkosten mit der angegebenen Spanne von 48 und 60 Mrd.$. Die Schätzbasis bilden die Preise aus den Angaben zum ersten Golfkrieg, die korrigiert werden (»top down«-Methode). Im ungünstigsten Fall geht das New War A-Szenario von einer kurzen Dauer des Krieges aus (30 Tage Kämpfe und 2 ½ Monate Nachkriegspräsenz). Bei der Untersuchung durch das »Congressionell Budget Committee« (CBO-Studie) wird die Kostenschätzung auf der Basis der wichtigsten Komponenten vorgenommen (»bottom up«- Methode). Die Gesamtkosten belaufen sich im angenommenen ungünstigen Falle auf 44 Mrd.$.

In einem ersten Schritt sollen nachfolgend die Untersuchungsergebnisse von William D. Nordhaus, die sich ausschließlich auf die USA beziehen, zusammengefasst werden. Anschließend werden die ökonomischen Folgen eines Kriegs gegen den Irak auf Deutschland zu spezifizieren versucht.

William D. Nordhaus fasst in seiner Studie die direkten und indirekten Kosten zusammen. Dabei unterscheidet er zwischen den drei Szenarien: bad case, worse case, worst case (vom minimalen bis zum maximalen Kriegsfall). Aus den durchgerechneten Szenarien ergibt sich eine Bandbreite an volkswirtschaftlichen Gesamtkosten zwischen 99 Mrd.$ und 1924 Mrd.$. Der untere Wert gehört zum Szenario »bad case«. In der Tabelle sind die Kostenkomponenten dargestellt: Militärausgaben, Besatzung und Friedenserhaltung, Wiederaufbau und Infrastruktur, humanitäre Hilfeleistungen, Auswirkungen des Ölpreiseffektes und makroökonomische Auswirkungen. Bei dem »bad case« wird von kurzen Kampfhandlungen ausgegangen. Der Ölpreis fällt nach einem vorübergehend leichten Anstieg schnell und dauerhaft unter das heutige Niveau (Bandbreite 20-25 US $). Die Militärausgaben sind vergleichsweise beherrschbar. Auch die Ausgaben für die Besetzung und Friedenserhaltung, den Wiederaufbau und die Infrastruktur sowie für humanitäre Hilfe fallen gering aus. Von den Ölpreisen gehen in der gesamtwirtschaftlichen Wirkung sogar positive Effekte aus. Durch die schnelle Eroberung des Irak und die für die nachfolgende Phase unterstellte politische Stabilität sinkt der Ölpreis von derzeit ca. 30 $ pro Barrel deutlich unter 25 $. Durch entsprechende Kostenersparnisse bei den Konsumenten und Investoren würde die ökonomische Wertschöpfung um 40 Mrd. € zunehmen. Die gesamtwirtschaftlichen Wirkungen sind durch starkes Vertrauen, steigende Gewinne und sinkende Aktienkurse sowie eine günstige Wechselkursentwicklung ebenfalls positiv (17 Mrd.$). Dieser »bad case« scheint das kalkulierte Wunschszenario der Bush-Administration zu sein. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass selbst hier Gesamtkosten mit knapp 99 Mrd.$ entstehen. Dieses Szenario »Minimierung der Schäden« ist jedoch insgesamt viel zu optimistisch. Im nicht unrealistischen »worst case« explodieren dagegen die Kosten auf 1.924 Mrd.$. Hierbei wird ausgegangen von einem lang anhaltenden Krieg (mit Häuserkampf), der Zerstörung der Ölförderanlagen (auch in den Nachbarstaaten), dem Anstieg des Ölpreises auf 75$ für längere Zeit sowie von internationalem Gegenterror. Eine tiefe Vertrauenskrise breitet sich aus und lähmt die Weltwirtschaft. Die Konsumbereitschaft nimmt massiv zugunsten des Angstsparens ab. Sinkende Gewinnerwartungen führen zum Rückgang der Sachinvestitionen. Die Aktienkurse spiegeln die pessimistischen Erwartungen wider; sie stürzen ab. Da der private Konsum mit sinkenden Vermögenswerten infolge der Verluste bei Aktienkursen eingeschränkt wird, zwingt der Einbruch dieses Nachfrageaggregats die US-Wirtschaft endgültig in die Rezession. Für die USA kommt es zu einer zusätzlichen Belastung: Der sich heute schon durchsetzende Verfall des US $ gegenüber dem Euro führt zu einem Rückzug des ausländischen Kapitals aus den USA. Die Finanzierung des Doppeldefizit – öffentlicher Haushalt und Leistungsbilanzdefizit – durch ausländisches Kapital bricht in sich zusammen. Die Vorteile aus der US $-Abwertung für die Exportwirtschaft vermögen diese Nachteile nicht aufzuwiegen. Die Geldpolitik schaltet wegen wachsender Inflationsrisiken – vor allem durch die hohen Ölpreise – auf restriktiven Kurs um. Die Finanzpolitik verliert mit den wachsenden Staatsschulden an Manövrierfähigkeit. Insgesamt stürzt die Gesamtwirtschaft in eine tiefe Rezession. Dieser ökonomische Einbruch in den USA prägt jedoch auch die Weltwirtschaft und überträgt sich auf andere Industrieländer, insbesondere Deutschland.

Dabei werden in diesem Szenario nach Nordhaus zwei krisenverschärfende, mit einander zusammenhängende Belastungen nicht berücksichtigt. Ein Krieg im Irak würde die gesamte Region massiv destabilisieren. Dabei ist die Frage entscheidend, wie es nach einem aus USA-Sicht gewonnen Krieg im Irak weitergehen soll. Planspiele sind bekannt geworden. Politisch angestrebt wird die »Entbaathifizierung«. Dazu wird eine US-Militärverwaltung eingesetzt, die auch Kriegsverbrecherprozesse gegen Hussein und seinen engen Apparat durchsetzen soll. Einem zivilen US-Verwalter obliegt die Aufgabe, die schrittweise Transformation in ein demokratisches Staatswesen in die Wege zu leiten.

Es ist doch jetzt schon abzusehen, dass dieses Militärprotektorat als tiefe Demütigung in der gesamten Region begriffen wird. Der islamische Widerstand würde an Kraft gewinnen und könnte am Ende auch die undemokratischen Öloligarchien in den Golfstaaten ergreifen und zum Einsturz bringen. Schließlich ist mit einem neuen Schub beim internationalen Terrorismus im Klima religiösen Fundamentalismus zu rechnen. Ökonomische Untersuchungen, die im Gefolge des 11. September-Terrors in den USA entstanden sind, belegen umfangreich die sich daraus ergebenden ökonomischen direkten und indirekten Belastungen. Direkte Kosten entstehen durch Vernichtung von Sachvermögen sowie den Aufwand für Sicherheitsmaßnahmen. Indirekte Wirkungen über den Vertrauensverlust von Konsumenten und Investoren sowie steigende Sicherheitskosten treiben die volkswirtschaftlichen Schäden nach oben. Die Spaltung zwischen Armen und Reichen würde sich nicht nur vertiefen.

Fazit: Ein Krieg gegen den Irak wäre nicht nur politisch sondern auch ökonomisch heller Wahnsinn.

Deutschland durch Kriegsfolgen in der Abwärtsspirale

Die massiven ökonomischen Schäden, die der Krieg gegen den Irak auslösen würde, blieben jedoch nicht nur auf die Kriegsregion und die kriegsauslösende USA beschränkt. Die Weltwirtschaft würde allein schon wegen der Leitfunktion der USA in Mitleidenschaft gezogen. Diese globalen Folgen werden durch die Ölpreisentwicklung belegt. Kommt es zur Ölverknappung bzw. Erhöhung des Ölpreises, dann leiden darunter alle Länder im Ausmaß ihrer Abhängigkeit von dieser Energiequelle – auch wenn sie sich gegen diesen Krieg ausgesprochen haben. Nicht nur wegen seiner ökonomisch engen Verzahnung mit den USA würde Deutschland relativ stark durch die gesamten Kriegskosten belastet.

Mit Blick auf die Schwerpunkte im Nordhaus-Tableau sind für Deutschland die unterschiedlichen Ebenen der ökonomischen Belastung wie folgt zu bewerten:

Belastungen der öffentlichen Haushalte

  • Direkte Kosten für die Militäraktion entstehen im Ausmaß der Beteiligung an dem Krieg. Nach dem derzeitigen Stand sollen Soldaten nicht direkt in den Krieg einbezogen werden. Die Hilfe soll sich auf logistische Arbeiten und Überwachungsleistungen reduzieren. Derzeit sind die Kosten für logistische Leistungen durch die Bundeswehr mangels Angaben über das Ausmaß des (indirekten) Einsatzes nicht möglich. Sollten Kosten anfallen, ist wohl mit einer Umschichtung im Verteidigungshaushalt zu rechnen.
  • Derzeit ist unklar, inwieweit die USA erfolgreich Druck auf Deutschland ausüben wird, sich an den Kosten des Militärschlags zu beteiligen. Im letzten Golfkrieg – nach der Besetzung Kuweits durch den Irak 1991 – ist nach Angaben des Bundesfinanzministeriums eine Beteiligung im Umfang von 17,2 Mrd. DM erfolgt. Die meisten Ausgaben dienten der Sicherstellung des Nachschubs von Munition, Transportmitteln sowie der Zahlung von Finanzhilfen an die USA. Es sollte der Grundsatz gelten: ein Land, das den Krieg nicht unterstützt, darf auch nicht an dessen Finanzierung beteiligt werden.
  • An humanitären Hilfeleistungen sowie am Wiederaufbau des Iraks wird sich Deutschland sicherlich beteiligen (Gesamtvolumen im ungünstigsten Fall 605 Mrd.$).
  • Da vor allem bei anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen von einem wachsenden internationalen Terrorismus auszugehen ist, werden die öffentlichen Ausgaben für Sicherheitssysteme deutlich zunehmen.

Der absehbare Anstieg kriegsbedingter Ausgaben wird zur Belastung der öffentlichen Haushalte – insbesondere im Bundeshaushalt – führen. Die erste Welle derartiger Ausgaben nach dem 11. September ist durch die Anhebung der Versicherungs- und Tabaksteuer finanziert worden. Für die künftige Finanzierung stehen Ausgabenkürzungen an anderer Stelle, Steuererhöhungen oder der Anstieg der Staatsverschuldung zur Verfügung. Neue Verteilungskonflikte sind etwa nach dem Motto – Sicherheit statt Bildung – vorprogrammiert.

Gesamtwirtschaftliche Folgekosten

  • Der jüngste Anstieg des Ölpreises auf über 30 $ je Barrel ist bereits auf die Planung eines Militärschlags gegen den Irak zurückzuführen. Kenner des Ölmarkts gehen davon aus, dass heute schon 5-7 $ pro Barrel durch die erwarteten Kriegsfolgen »eingepreist sind«. Damit ist die zuletzt im Januar präsentierte Prognose zum Wirtschaftswachstum mit ohnehin nur 0,6 % für dieses Jahr bereits Makulatur. Sie basiert auf der Annahme, der Ölpreis werde sich im Frühjahr bei 25 $ bewegen. Gegenüber dieser Prognose liegt bei 30 $ die Ölrechnung um 4 Mrd. € höher. Steigt der Ölpreis auf 35 $ so kommen nochmals 8 Mrd. € hinzu. Die Folgen der Ölpreiserhöhung sind: Rückgang des privaten Konsums, Kostensteigerungen in der Wirtschaft und damit sinkende Ausrüstungsinvestitionen und steigende Ausgaben des Staates. Soweit versucht wird, die Kostensteigerung über die Preise zu überwälzen, steigt die Inflationsrate. Die Gefahr ist dann groß, dass die Europäische Zentralbank die Inflation zum Anlass nimmt, den durch die steigende Ölrechnung gesenkten inländischen Verteilungsspielraum durch eine restriktive Geldpolitik durchzusetzen. Die privatwirtschaftliche Investitionsbereitschaft würde zusätzlich belastet. Zusammen mit der ohnehin sich vertiefenden Vertrauenskrise führt der Ölpreisanstieg letztlich zum Abschwung der Konjunktur. Die Arbeitslosigkeit steigt. Die staatlichen Einnahmen sinken, während die Krisenkosten durch die ansteigende Arbeitslosigkeit in den öffentlichen Haushalten zunehmen. Der Druck auf eine Einsparpolitik zur Vermeidung einer Ausweitung der öffentlichen Schuldenaufnahme im Sinne der Maastricht-Kriterien nimmt zu. Die Konjunktur würde zusätzlich durch den Rückgang von öffentlichen Ausgaben für die Wirtschaft belastet.

Bei einer über ein Jahr andauernden Erhöhung des Ölpreises um 10 $ je Barrel sinkt das Wirtschaftswachstum in Deutschland um 0,3 Prozentpunkte; die absolute Einbuße beträgt 6 Mrd. €. Der private Konsum sinkt um 0,2 Prozentpunkt, die Ausrüstungsinvestitionen um 0,4 Prozentpunkte. Die Inflationsrate steigt um 0,5 Prozentpunkte.

  • In der Gesamtwirkung droht durch bei einem Krieg gegen den Irak die derzeit ohnehin nur stagnative Konjunkturentwicklung in eine Rezession umzukippen. Über den Ölpreisschock hinaus treiben weitere Rückwirkungen die Konjunktur Deutschlands in die Abwärtsspirale: Neuere Untersuchungen belegen die gewachsene Abhängigkeit der konjunkturellen Entwicklung Deutschlands von der der USA. Insoweit schlägt die von Nordhaus beim »worst case« erwartete tiefe Rezession der US-Wirtschaft auch auf Deutschland durch. Wegen der hohen Exportquoten kommt es bei einer krisenhaften Entwicklung der Weltwirtschaft zu zusätzlichen Belastungen der deutschen Wirtschaft. Unternehmen sehen sich darüber hinaus gezwungen, steigende Ölpreise und Kosten für zusätzliche Sicherheit gegenüber Terroranschlägen über die Preise abzuwälzen. Bei den gesamtwirtschaftlichen Folgen eines Kriegs gegen den Irak ist auch die Veränderung der Wechselkurse zu berücksichtigen. Oft wurde der US$ in Krisenzeiten als sicherer Hafen angesteuert und wertete deshalb auf. Als Kriegspartei an sich sowie wegen der wachsenden Risiken durch Terroranschläge wird die USA jedoch mit einer Abwertung ihrer Währung rechnen müssen. Die Kriegsfolgen sind in der jüngsten Abwertung des $ bereits »eingepreist«. Eine Abwertung des $ gegenüber dem €- – Aufwertung des € – verteuert die Rechnung für die deutschen Exporte in dieser Währung. Weichen die ausländischen Kunden wegen der verteuerten Waren aus Deutschland auf die internationalen Konkurrenten aus, sinken die Exporte. Reagieren die deutschen Unternehmen mit Preissenkungen, dann gehen die Erlöse zurück und die Gewinne sinken. Der Gesamteffekt ist jedoch recht gering, weil gut zwei Fünftel der Ausfuhren in die Länder der Eurozone fließen.

Eine Abwertung des Dollar gegenüber dem Euro um 10% verringert den Zuwachs des deutschen Bruttoinlandsprodukts um 0,3%.

Durch die Abwertung des $ werden allerdings die Importe, die in dieser Währung bezahlt werden, billiger. Der durch die Ölpreisexplosion und wachsende Kosten der Sicherheit zu erwartende Anstieg der Inflationsrate wird gedämpft und der Druck auf die Europäische Zentralbank in Richtung restriktiver Geldpolitik abgeschwächt. Wegen der hohen deutschen Importquote aus dem Euroland fällt jedoch dieser Entlastungseffekt recht gering aus.

Die einzelnen, hier genannten Faktoren, wie die Vertrauenskrise überhaupt, führen zu pessimistischen Gewinnerwartungen bei den Unternehmen. Da sich in der Kursentwicklung der Börsen künftige Gewinne widerspiegeln, sind weitere Kursverluste an der Börse vorprogrammiert. Darüber können auch die kurzfristigen Kursgewinne bei Unternehmen der Rüstungs- und Sicherheitswirtschaft nicht hinweg täuschen (»buy cannons, sell trumpets«). Kursverluste und damit sinkendes Geldvermögen reduzieren den privaten Konsum in Deutschland – allerdings erheblich schwächer als in den USA. Die anhaltend hohen Kursverluste werden jedoch auch als Indiz für niedrige Einkommenszuwächse und steigende Arbeitslosigkeit wahrgenommen. Die Folge sind Einschränkungen beim Konsum – auch durch Angstsparen. Allerdings fällt gegenüber den USA dieser Konsumverzicht erheblich geringer aus, da die Vermögensbildung in Form von Aktien in Deutschland eine bedeutend geringere Rolle spielt. Verluste bei den Aktienkursen sowie überhaupt wachsenden Probleme bei der Besorgung von Kapital an den Börsen belasten auch die Unternehmensinvestitionen. Sinkende Aktienkurse verstärken die Bewegung auf der gesamtwirtschaftlichen Abwärtsspirale.

Eine Modellrechnung zeigt, die Halbierung der Aktienkurse führt zu Einschränkung des privaten Konsums um 0,2-0,8 % und löst die Abnahme der Unternehmensinvestitionen um 0,6% aus.

Durch den Absturz der Konjunktur, in deren Sog auch die Nachfrage nach Beschäftigung einbricht, steigt die Arbeitslosigkeit. Es sind am Ende die Arbeitslosen die am stärksten die gesamtwirtschaftlichen Kosten eines Irakkriegs zu tragen hätten. Dabei ist damit zu rechnen, dass die hier beschriebenen endogenen Belastungen durch wirtschaftspolitische Fehl-Reaktionen verstärkt werden würden. Die Geldpolitik, die sich zur Stabilisierung des Preisniveaus vor allem gegen die ölpreisbedingte Inflation richtet, wird restriktiv ausgerichtet werden. Ergänzend wird die Finanzpolitik unter dem Druck der Maastricht- bzw. Amsterdam-Kriterien versuchen, die durch sinkendes Wirtschaftswachstum und steigende Arbeitslosigkeit zu erwartenden Einnahmeausfälle und wachsende Krisenkosten durch weitere Einsparungen bei den Ausgaben und/oder Steuererhöhungen aufzufangen.

Bereits der drohende Irakkrieg hat zur Verunsicherung und zum Vertrauensverlust der Investoren und Konsumenten geführt. Die gesamtwirtschaftlichen Verluste durch den Irak-Krieg müssen auf jeden Fall mit einer expansiven Finanz- und Geldpolitik beantwortet werden. Die wegen der allgemeinen Konjunkturkrise ohnehin gebotene gegensteuernde Konjunkturpolitik wird durch die Folgen der Bedrohung durch den Irak-Krieg noch dringlicher.

Fazit

Der Irakkrieg führt zu hohen gesamtwirtschaftlichen Kosten und damit zur Belastung der Weltwirtschaft nicht nur in den Metropolen. Wirtschaftliche Rezession und Arbeitslosigkeit sind die Folge. Deshalb reicht es nicht aus, zu erklären, man beteilige sich nicht an dem Krieg. Vielmehr müssen durch die deutsche Politik alle Möglichkeiten genutzt werden, diesen Krieg zu vermeiden. Friedenspolitik ist zugleich ein Beitrag zur Stärkung der Wirtschaft und der öffentlichen Haushalte. Friedenspolitisch wie ökonomisch sind die Aktivitäten der Bundesregierung zusammen mit den anderen Ländern zur Vermeidung dieses Krieges schlichtweg verantwortungsvoll, weil vernünftig.

Anmerkungen

1) William D. Nordhaus: The Economics of a War with Iraq; Cowles Foundation for Research in Economic, Yale University, Discussion Paper Nr. 1387, December 2002.

Prof. Dr. Rudolf Hickel lehrt am Institut für Arbeit und Wirtschaft (iaw), Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, der Universität Bremen
Der Artikel wurde am 26.02.2003 abgeschlossen

Die Kehrseite des Krieges

Die Kehrseite des Krieges

Risse im sozialen Gefüge Israels

von Claudia Haydt

Die Abriegelung der Palästinensischen Gebiete und besonders die »Operation Schutzschild« haben Hunger, Armut und tiefe wirtschaftliche Not in die palästinensischen Gebiete gebracht. Doch auch in Israel selbst hinterlässt der Krieg auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene tiefe Wunden. Die innerisraelische soziale Destabilisierung begann jedoch nicht erst mit der Al-Aqsa-Intifada, sie zeichnete sich schon einige Jahre früher ab.
Israel war in den letzten zwei Jahrzehnten – bis zum Ausbruch der Al-Aqsa Intifada – geprägt von einem deutlichen ökonomischen Wachstum. Die Früchte dieses Wachstums wurden jedoch sehr ungleich verteilt: Ein relativ kleiner Prozentsatz der Israelis konnte einen starken Anstieg seines Einkommens verzeichnen, während der große Rest weit weniger davon profitierte. Die Nichtregierungsorganisation ADVA (hebräisch für »Welle«) zeigt in ihren regelmäßig erscheinenden Sozialberichten1 den dringenden Bedarf auf, für langfristige, stabile sozioökonomische Politikkonzepte, die es ermöglichen würden, das Niveau der Bildung und des Einkommens in der israelischen Gesellschaft gleichmäßig anzuheben. „Diesem Bedarf wird durch die momentane Regierungspolitik keine Rechnung getragen. Im Gegenteil, alle Regierungen der letzten Zeit – egal ob links oder rechts – haben ihre soziale Verantwortung de facto aufgegeben, haben die Steuern für den Unternehmensbereich gesenkt und die Lasten für Privathaushalte erhöht.“2 In diesem Jahr gab es – im Kontext des andauernden militärischen Konfliktes und der Rezession – nur zwei Bereiche, an denen nicht gespart wurde: »Sicherheit« und »Infrastruktur« (v.a. beim Bau von Siedlungen, Umgehungstrassen und des »Sicherheitszauns«). Diese Regierungspolitik entlarvt Dr. Daphna Lavit (Ben-Gurion University Business School) als gefährliche, aber wirksame Taktik: Sie „verschleiert die Wirklichkeit und konzentriert die nationale Aufmerksamkeit auf eine unmittelbare drohende Auslöschung… Verlasst euch darauf, dass wirtschaftliche Zahlen und Aufstellungen langweilig und weitgehend unverständlich sind, dann wird euch die Bevölkerung unterstützen – bis zum Staatsbankrott. Wenn diese Taktik richtig angewandt wird, dann wird jede Opposition gegen Militärausgaben als unpatriotisch gelten …“3

Ökonomisches Wachstum und soziale Ungleichheit

Durch das starke Wirtschaftswachstum der letzten zwei Jahrzehnte gehört Israel heute zu den Ländern mit einem hohen Bruttoinlandsprodukt. Es stieg von 5.612 $ pro Kopf im Jahr 1980 auf 16.531 $ im Jahr 1999. Damit holte Israel einen Teil des ökonomischen Abstandes zu den Ländern der EU auf: Von knapp 60% des EU-Niveaus (1980) auf fast 75% (1999).

Gleichzeitig entwickelten sich die Einkommen der israelischen Bürger aber überaus unterschiedlich: Während das Einkommen des obersten Dezils (also der obersten 10% der Bevölkerung) parallel zum Bruttoinlandsprodukt stieg, hat sich das Einkommen in den mittleren und unteren Schichten kaum verändert. Waren 1990 die Einkommen im obersten Dezil durchschnittlich 8,9 mal höher als die im untersten Dezil so vergrößerte sich diese Kluft bis 1999 auf das 11,8-fache. Den Einkommensbeziehern aus den zwei obersten Dezilen gelang es, ihren Anteil am Kuchen zu vergrößern, während sich der Anteil des Rests der Bevölkerung verringerte. So verfestigt sich auch in Israel der weltweite Trend, dass immer weniger Menschen ein immer größer werdendes Einkommen zur Verfügung steht, während sich die ökonomische Situation der übergroßen Mehrheit – bis weit in die Mittelschichten hinein – verschlechtert.

Ethnische und Gender-Ungleichheiten

Zwischen Israelis unterschiedlicher ethnischer Herkunft sind soziale Unterschiede tief verankert. Das Einkommen der arabischen Bürger Israels ist traditionell am niedrigsten und ist seit 1995 sogar noch weiter gesunken. Das Einkommen von Juden mit asiatischem oder afrikanischem Hintergrund (Sepharden) ist etwas höher, ihr durchschnittliches Einkommen ist während der letzten Jahre gestiegen und hat sich vom durchschnittlichen Einkommen der Araber entfernt. Die »innerjüdische« Einkommens-Kluft zwischen Sepharden und den Juden europäischer bzw. US-amerikanischer Herkunft (Ashkenasen) hat sich kaum verändert. Das Einkommen der ashkenasischen Juden liegt weit über dem der anderen Gruppen: 1999 war das Einkommen eines durchschnittlichen ashkenasischen Arbeitnehmers um 50% höher als das eines sephardischen und um 100% höher als das eines arabischen.

Auch geschlechtsbedingt gibt es deutliche Einkommensunterschiede in Israel: 1999 erzielten Frauen im Durchschnitt nur 60% des Einkommens von Männern. Berücksichtigt man, dass viele Frauen nur Teilzeit arbeiten und zieht den Stundenlohn als Vergleichsgröße heran, dann ergibt sich immer noch eine um 19% schlechtere Bezahlung für Frauen.

Armut und Reichtum

Die Einkommen des oberen Managements entfernen sich auch in Israel immer weiter von den Durchschnittslöhnen. Dadurch wird auch das Bild des »Durchschnittslohnes« immer trügerischer: Es suggeriert, es handle sich hier um einen Betrag, den die meisten Menschen verdienen, das tatsächliche Einkommen der meisten Israelis liegt jedoch unter dem Durchschnittslohn. 1999 verdienten nur 27% der Israelis mehr als den Durchschnittslohn, während für 63% nur drei Viertel oder weniger zur Verfügung stand.

Für eine wachsende Anzahl von Israelis garantiert der Arbeitsmarkt nicht einmal mehr ein Einkommensminimum. Die Anzahl der Israelis deren Einkommen unter der Armutsschwelle4 liegt, stieg von 23,8% (1979) auf 32,2% (1999). Darunter sind viele, die nicht arbeitslos sind, deren Lohn aber nicht ausreicht für ein akzeptables Existenzminimum. Besonders hart betroffen sind davon Familien und Kinder: 1999 lebten 36,7% der Kinder unter der Armutsgrenze. Arbeitslosigkeit ist in arabischen Vierteln wesentlich höher als in jüdischen, unter Frauen höher als unter Männern und unter arabischen Frauen höher als unter jüdischen Frauen. Arbeitslosigkeit trifft überproportional diejenigen, bei denen das Bildungssystem versagt hat.

Bildung und Ungleichheit

Das Bildungssystem ist in jedem Staat eine zentrale – wenn nicht die zentrale – Möglichkeit, um sozialer Ungleichheit gegenzusteuern. Das israelische Schulsystem fungiert jedoch nicht als Instanz, die Ungleichheiten verringert, sondern verstärkt diese noch. Die Ungleichheiten des Schulsystems werden dann besonders auffällig, wenn man den Bildungserfolg nach Regionen getrennt betrachtet. Beinahe 60% aller Jugendlichen scheitern daran, einen High School-Abschluss zu erreichen. Die meisten davon stammen aus arabischen Wohngegenden oder aus jüdischen Armenvierteln.

Eine Studie verfolgte den Bildungsweg von Jugendlichen, die 1991 17 Jahre alt waren, bis ins Jahr 1998. Es wurde dabei unterschieden nach Jugendlichen aus wirtschaftlich starken Städten (z.B. Tel Aviv, Herzliya), aus strukturschwachen Städten (z.B. Safed, Tiberias) und aus arabischen Städten (z.B. Umm al Fahm, Kafar Kanna). Beinahe 50% der Jugendlichen aus arabischen Städten verließen die Schule vor der zwölften (und letzten) Klasse. Von denen die dort verblieben, versuchten dennoch viele erst gar nicht, einen Abschluss zu machen und effektiv bestanden nur 20% aller Schüler in arabischen Städten die Prüfungen. Ein Studium an einer Universität nahmen nur 5% auf. Für Jugendliche aus den wirtschaftlich starken Städten sieht die Bilanz deutlich besser aus, 56% bestanden die Prüfungen und 32% nahmen ein Studium auf.

Die Rolle, die die Ausstattung der Schulen mit Lehrern und deren Qualifikation sowie die angebotenen Curricula für das Bildungsniveau der Schüler spielen, fällt besonders auf, wenn man untersucht wie viele der erfolgreichen Schul-Absolventen an den Universitäten abgewiesen werden. Durchschnittlich 50% bis 60% der Schüler aus arabischen Städten werden nicht aufgenommen, weil ihre Prüfungsergebnisse oder die Anzahl und Qualität der an der Schule belegten Fächer den Anforderungen der Universitäten nicht entsprechen. Bei Schülern aus den wirtschaftlich stärkeren Regionen liegt die Quote in der Regel zwischen 15% und 20%.

Ein schlechter oder kein Schulabschluss verschlechtert die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, verurteilt viele Menschen zu oft ungesicherten Gelegenheitsjobs. Auch die steigende Arbeitslosigkeit trifft nicht alle Bevölkerungsgruppen gleich stark: Über die Hälfte der Israelis, die die Schule vorzeitig (vor dem 10. Schuljahr) verlassen haben, ist arbeitslos. Bei den Ultraorthodoxen ist diese Quote sogar bei 78%. Doch während die »Schulversager« überwiegend unfreiwillig arbeitslos wurden, ist Arbeitslosigkeit bei vielen Ultraorthodoxen frei gewählt.Viele leben von Lohnersatzleistungen und Kindergeld, das bei jedem Kind pro Kopf steigt.

Niedrige Einkommen führen zu sozialer Marginalisierung, zu schlechterer Gesundheitsversorgung, zu schlechten Startchancen für die nächste Generation und so fort. Die Ungleichheiten setzen sich bis ins hohe Alter fort. In Israel existiert keine allgemeine Rentengesetzgebung und viele sind auf die äußerst dürftige staatliche Altersversorgung angewiesen. Auch hier sind arabische Israelis und sephardische Juden besonders häufig unter den Verlierern.

Auswege aus der Armutsspirale?

Seit dem Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada erlebt Israel eine Wirtschaftskrise. Im ersten Halbjahr 2001 verzeichnete es ein negatives Wirtschaftswachstum von 1,8% und im zweiten Halbjahr waren es sogar minus 5,3%. Im Jahr 2002 schrumpft die Wirtschaft weiter und für das Jahr 2003 gehen die Prognosen von bis zu minus 2,5 % aus. Die weltweite Rezession und die Krise der Hightech-Branche verstärken die Folgen der Intifada auf die israelische Wirtschaft. Um die sehr teure »Operation Schutzschild« und den Einsatz zehntausender Reservisten bezahlen zu können, hat die Knesset weitgehende Budgetkürzungen beschlossen. Diejenigen, die bisher schon unter der Wirtschaftskrise leiden, müssen nun im Rahmen der Haushaltskürzungen zusätzliche Einbußen in Kauf nehmen. Die Befürworter dieser Entscheidung argumentieren, der Konflikt und die Rezession erforderten eine »Pause« im Kampf gegen soziale Ungleichheit. In der Praxis heißt das aber, soziale Ungleichheiten verfestigen sich und wachsen auf hohem Niveau weiter.

Die Brüche in der Gesellschaft werden immer deutlicher; dabei ist die Verstärkung der sozialen Unterschiede entlang ethnischer Zugehörigkeit offensichtlich nicht nur ein Nebeneffekt, sie scheint zumindest teilweise politisch gewollt. Dies fällt besonders bei der beschlossenen Kürzung des Kindergelds auf: Bei Eltern, die Ihren Militärdienst abgeleistet haben, wird das Kindergeld um 4% gekürzt, bei Eltern die keinen Militärdienst abgeleistet haben, beträgt die Kürzung 24%. Dies trifft besonders die arabische Bevölkerung, da diese vom Militärdienst ausgeschlossen ist. Viele Ultraorthodoxe leisten ebenfalls keinen Wehrdienst, haben jedoch mit ihrer starken Lobby in der Knesset Sonderregelungen durchgesetzt, die für sie die Kürzungen abfedern.

Die fortgesetzte kriegerische Auseinandersetzung mit der palästinensischen Bevölkerung verschärft die strukturellen und auch die z.T. bewusst verursachten sozialen Unterschiede – innerjüdische Unterschiede ebenso wie die zwischen arabischer und jüdischer Bevölkerung. Der Krieg kostet Geld, er schmälert die Produktivität indem er Reservisten aus dem Wirtschaftsprozess herausholt und er isoliert Israel im Rahmen der Weltwirtschaft. Der einzige Ausweg aus Krieg und Verelendung ist ein tragfähiger Kompromiss mit der palästinensischen Autonomiebehörde, ein Abschied aus der in jeder Hinsicht kostspieligen Siedlungspolitik und ein Ende der Besatzung.

Anmerkungen

1) Die Daten dieses Berichtes stammen, wenn nicht anders erwähnt, aus den Berichten von ADVA. Vgl. www.adva.org.

2) Dr. Shlomo Swirski / Etty Konor-Attias: Israel – A Social Report, Tel Aviv 2002, S. 4.

3) Daphna Levit, Where Have All our Shekels Gone?, Juni 2002 (http://www.coalitionofwomen4peace.org/articles/wherehaveallourshekelsgone.htm)

4) »Armutsschwelle« bezeichnet in Israel ein Äquivalenzeinkommen von höchstens 50% des Durchschnittseinkommens, wobei der Durchschnitt hier als Median gerechnet wird; d.h. es geht um den Wert, bei dem tatsächlich die eine Hälfte der Bevölkerung mehr und die andere Hälfte weniger verdient.

Claudia Haydt ist Soziologin und Religionswissenschaftlerin. In der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. bearbeitet sie den Schwerpunkt Israel/ Palästina und Islam.

Traumaarbeit im Kosovo

Traumaarbeit im Kosovo

von Michaela Huber

Erinnern Sie sich noch an die Bilder, die uns im April 1999 über die Fernsehanstalten ins Wohnzimmer flimmerten? Krieg im Kosovo! Menschen, die im letzten Winterschnee abwechselnd vor den Kanonen und Gewehren der Serben und den Bomben der NATO fliehen. Ich weiß nicht, was Sie dachten, als Sie – wie wir alle – realisieren mussten, dass hier die Deutschen zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wieder an einem Angriffskrieg beteiligt waren, diesmal im NATO-Verbund und auf Beschluss der ersten rot-grünen Regierung. Der Bevölkerung in ihren jeweiligen Mitgliedsländern hatte die NATO weismachen wollen: „Nur unsere Bomben verhindern die so genannten ethnischen Säuberungen.“ Doch die Fernsehbilder bewiesen das Gegenteil: Die Serben vertrieben nach Kriegsbeginn die albanischstämmigen Kosovaren erst recht, sie quälten sie jetzt erst recht und sie hörten erst damit auf, als sie auch im letzten Dorf und im letzten Gehöft ihr Werk beendet hatten.
Natürlich weiß ich nicht, wie es Ihnen ging, ob Sie sich von den Bildern des Grauens, dem Elend in den provisorischen Lagern, den in Schlamm und Kälte, teilweise ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne Windeln für die Kinder oder andere Hygieneartikel und ohne Zelte, dahinvegetierenden Menschen in besonderer Weise haben anrühren lassen oder ob Sie die Katastrophe im Kosovo mehr oder weniger kopfschüttelnd registrierten, wie wenige Monate später die Gemetzel und Vertreibungen in Osttimor oder Tschetschenien und vor wenigen Monaten den Krieg in Afghanistan.

Ich weiß nur, wie es mir ging, damals, als ich die Bilder aus den Flüchtlingslagern sah: Ich war aufgewühlt. Ich war aufgewachsen mit der Losung »Nie wieder Krieg!«, hatte diese Regierung gewählt, weil sie unter anderem genau dies einzuhalten versprach. Und nun half ich mit meinen Steuergeldern, halfen Politiker, die von mir gewählt worden waren, dabei, die Existenz von Menschen zu vernichten. Es sollte es ein »gerechter Krieg« sein, aber getroffen wurden – wie in jedem Krieg – vor allem Zivilisten. Bomben lösen eben keine Konflikte, sie verlagern sie höchstens.

Ich weiß noch, dass ich im April 99 immer wieder dachte: „Hier werden an einem Tag Zigtausende traumatisiert. Welchen Sinn hat dann unsere Arbeit, die wir versuchen, in mühsamer, jahrelanger Kleinarbeit zerstörte Lebensperspektiven von traumatisierten Menschen wieder oder zum ersten Mal aufzubauen? Welchen Sinn macht es, in meinem Beruf in Deutschland zu arbeiten, wenn ich mit meiner Wahlentscheidung, mit meinen Steuergeldern mithelfe, Menschen in anderen Ländern – nicht nur im Kosovo, auch in Serbien und demnächst wahrscheinlich an vielen Stellen der Welt – seelisch und körperlich zu zerstören und ihnen ihre Existenzgrundlage zu nehmen?“

Mir kam es im Nachhinein betrachtet so vor, als wären wir Deutsche, damals im April 99, in einen kollektiven Dissoziationsprozess geraten.

Da gab es Amnesie: Die Fernsehbilder – gleich wieder vergessen; Derealisierung: Ach, irgendwie wird es schon nicht so schlimm sein; und Depersonalisierung: Nur nicht fühlen, wie schrecklich es wirklich sein muss. Wir benahmen uns kollektiv wie eine dysfunktionale Familie: Das offensichtliche Leid, das wir mit angerichtet hatten oder das wir durch unsere Untätigkeit weiter geschehen ließen, wurde bagatellisiert. Die Bedeutung, »Die Deutschen werfen wieder Bomben in einem Krieg«, wurde gleich komplett geleugnet. Das schlechte Gewissen konnte durch ein paar Hundert Mark Spenden an eine Hilfsorganisation beschwichtigt werden – ganz so, als handelte es sich nicht um einen Angriffskrieg, an dem die Deutschen mit teilnahmen, sondern um eine Art Naturkatastrophe. Statt uns persönlich verantwortlich zu fühlen als »Zoon politicon« – als politisch denkendes, fühlendes und handelndes Wesen, das die meisten von uns sicher zu sein vorgeben –, gaben wir die Verantwortung ab und hofften, es gehe alles gut.

Viele fühlten sich gelähmt, sprachlos. Ich erlebte es immer wieder im Bekannten- und Kollegenkreis: Kaum brachte ich die Sprache auf den Kosovokrieg, erlahmte und verstummte die Unterhaltung – und dann wurde das Thema gewechselt. War es im Afghanistankrieg anders? Kaum.

Der Kosovokrieg hat mein Leben verändert

Erlauben Sie mir hier eine persönliche Bemerkung: Der Kosovokrieg hat mein Leben verändert. Er hat mich – die ich in den siebziger Jahren die Hoch-Zeit meines politischen Engagements erlebt hatte – erneut politisiert. Noch einmal verlor ich sozusagen meine politische Unschuld. Besser: die vorübergehende naive Vorstellung, wenn ich nur die richtigen Politiker wählte, würde auch eine richtige Politik dabei herauskommen und ich könne diesen Politikern vertrauen. Ohnmacht, Hilflosigkeit, Zorn und Enttäuschung, unruhiges Vorwärtsstreben: „Da kann man doch nicht untätig zusehen, da müssen wir doch etwas tun!“ – solche Empfindungen und Überlegungen trieben mich im Frühjahr 99 um, wochen- und monatelang. Und seither, bis heute!

Der erste Schritt zum eigenständigen Handeln

Wie es der Zufall so will, wurde ich unmittelbar nach dem Kosovo-Krieg von Medica Mondiale, einer Hilfsorganisation von Frauen für Frauen, die sich schon im Bosnienkrieg einen guten Namen gemacht hatte, angesprochen, ob ich ihnen nicht helfen wolle, ein Konzept für Erstintervention nach Traumatisierung für die neu gegründete Unterorganisation Medica Kosova zu entwickeln.

Wir setzten uns zusammen: Expertinnen, die vor Ort (gewesen) waren, und ich als Traumaexpertin erstellten ein Konzept, das die kulturspezifischen Bedingungen der KosovoalbanerInnen einbezog und das darauf hinauslief, kosovarische Ärztinnen, Krankenschwestern, Beraterinnen, Hebammen auszubilden, um Frauen und von da aus Familien zu helfen, mit den sozialen und psychischen Folgen des Krieges fertig zu werden.

Am Schluss kam dann für mich völlig unerwartet die Frage, ob ich ihnen auch im direkten Kosovoeinsatz behilflich sein könnte, das Konzept umzusetzen. Vor den Tagen im April hätte ich sicher gesagt: „Ach, es gibt in Deutschland genug zu tun. Nun muss ich nicht auch noch in ein Kriegs- oder Krisengebiet. Ich leide doch nicht am Florence-Nightingale-Syndrom!“

So aber bat ich mir erst einmal Bedenkzeit aus und versprach, auch noch andere Therapeutinnen bzw. Ausbilderinnen zu suchen, die das Konzept vor Ort umsetzen könnten. Doch mit wem ich auch sprach, alle Kolleginnen winkten ab: „Um Himmels Willen, das halte ich selbst psychisch nicht aus.“ – „Fahr du doch erst mal.“ oder „Vielleicht, wenn sich die Situation da unten mehr beruhigt hat“, oder auch ehrlich: „Das traue ich mir nicht zu.“ Ich konnte das alles gut verstehen, schließlich ging es mir ähnlich, das alles rang auch in mir.

Die Arbeit vor Ort

Trotzdem sagte ich schließlich zu und wusste gleichzeitig: Hiermit lege ich mich auf lange Zeit hinaus fest, mehrfach im Jahr ins Kosovo zu fahren. Denn was nützt das beste Ausbildungskonzept, wenn die Ausbilderin einmal auftaucht, einen brillianten Workshop abhält – und auf Nimmerwiedersehen verschwindet? Schließlich sieht das Konzept von Medica vor, einheimische Fachfrauen auszubilden, die dann ihrerseits mit den traumatisierten Frauen, Kindern und Familien arbeiten, und ihnen jede – auch supervisorische und therapeutische – Hilfe zur Verfügung zu stellen. Diese einheimischen Fachfrauen gab es schon. Es gibt zwei Dutzend Frauen, die einen Halbtagsjob bei Medica Kosova bekommen haben. Frauen, die selbst durch den Krieg traumatisiert wurden und die trotzdem bereit waren und sind, diese schwere Arbeit zu tun. Zwei Teams galt es zu schulen: zum einen die Frauen von den beiden gynäkologischen Ambulanzen – Ärztinnen, Hebammen, Krankenschwestern. Zum anderen die Beraterinnen, deren Erstberufe von Lehrerin über Juristin bis Soziologin reichen und die in die Zelte, die zerschossenen und halb aufgebauten Häuser, die abgelegenen Dörfer und Gehöfte gehen und die Menschen vor Ort betreuen. Dabei suchen sie vor allem den Zugang über die Frauen und den bekommen sie auch, denn ihre praktische Unterstützung und Beratung sind ebenso willkommen wie ihr offenes Ohr für die Folgen des Krieges und ihre – in Zukunft hoffentlich wachsende – Fähigkeit, traumatisierten Menschen nicht nur mit ihrer Empathie, sondern auch therapeutisch-fachkundig beizustehen.

Keine einzige der Frauen hat eine psychotherapeutische Erstausbildung. Keine spricht deutsch, nur sehr wenige gebrochen englisch und alle sind nicht nur stellvertretend traumatisiert durch das größtenteils massive Leid, das sie tagtäglich hören und sehen, sie sind auch selbst traumatisiert.

Nicht gerade eine einfache Aufgabe, die beiden Fachteams zu schulen in Erstintervention nach Traumatisierung und dabei ihre eigene Befindlichkeit mit anzusprechen und sie persönlich zu stärken. Ich unternahm den ersten Versuch hierzu Ende Oktober/Anfang November 99 und war danach noch zwei Mal in weiteren Projektstadien als Fortbilderin, Supervisorin und Mut Zusprechende vor Ort.

Da ich dies zum allerersten Mal machte und dann auch noch im Ausland und angewiesen auf die Hilfe einer Dolmetscherin, wollte ich meine Arbeit natürlich sofort evaluieren um zu sehen, ob das, was ich da mitbrachte, überhaupt etwas taugte. Außerdem interessierte mich natürlich, da die Kosovarinnen, wie ich bald merkte, über ihre eigenen Traumatisierungen – zumindest zunächst – wenig bis gar nicht sprechen wollten, ob sie tatsächlich drei Monate nach Ende des Krieges Anzeichen für PTSD-Symptome (Posttraumatische Belastungsstörung) zeigten. Ich konnte sie darauf neugierig machen, nachdem ich erste Arbeitseinheiten zu Trauma und PTSD durchgeführt hatte, hier für sich selbst einmal nachzuschauen. Dabei erwies sich die Medica-Dolmetscherin als ein wahrer Glücksfall: Die 23-jährige ehemalige Germanistikstudentin aus Pristina dolmetschte glänzend und einfühlsam, außerdem übersetzte sie die von mir eingesetzten Fragebogen ins Kosovoalbanische. Vorher-Nachher-Messungen mit Hilfe von Fragebogen zeigten: Nach der Fortbildung sank die Rate der PTSD-Symptome – die bei ausnahmslos allen Kosovarinnen ganz erheblich war – bei den Teilnehmerinnen deutlich, sogar signifikant.

Was also habe ich gesehen und erlebt im Kosovo, das von den KosovoalbanerInnen jetzt in ihrer eigenen Sprache »Kosova« genannt wird? Bei der Rückkehr ertappte ich mich dabei, dass ich auf entsprechende Fragen – sicher überraschend für die Fragenden – meist zunächst mit einem Satz antwortete wie: „Ich fühle mich reich beschenkt.“

Ja, es stimmt. Ich fühle mich reich beschenkt. Zuallererst fühle ich mich reich beschenkt durch die Liebenswürdigkeit und Offenheit, die Gastfreundschaft und begeisterte Aufnahme, die ich und die meine Arbeit in »Kosova« erfahren haben. Sowohl die anwesenden deutschen Medica-Kosova-Mitarbeiterinnen als auch die Kosovarinnen haben sich sehr über meine Hilfe gefreut. Und da ich mich ebenfalls als Lernende begreife und meinerseits mit Offenheit und Freundlichkeit auf sie zuging, entstand eine gute Atmosphäre: Es wurde hart und konzentriert gearbeitet, aber auch viel gelacht, manchmal heftig, aber nie verletzend gestritten und es war immer spürbar, dass es etwas Gemeinsames gab, das unsere Kreativität und Intelligenz ebenso herausforderte wie unsere Fachkompetenz und unser Improvisationstalent, etwas, für das jede von uns sich im Zweifelsfall auch zur Disposition stellte: den Kosovarinnen zu helfen, sich zu einem selbstständigen Unterstützungsprojekt zu entwickeln.

Reich beschenkt fühlte ich mich aber auch durch das Vertrauen und die Lernbereitschaft, ja Lernbegierde, die mir die Teilnehmerinnen des Workshops entgegenbrachten. Dies half mir sehr, den Frauen – fast alle Mütter mehrerer Kinder, die zunächst einmal glaubten, ihr Job bedeute so etwas wie »Mutterschaft als Beruf« – die eine oder andere Einstellungsänderung nahe zu legen. Zum Beispiel, dass sie einen Unterschied machen dürfen, ja machen müssen, zwischen einer Zeit, in der sie für ihre Klientinnen bzw. Patientinnen da sind, und einer Zeit, in der sie sich selbst regenerieren und ihre Ressourcen auffüllen müssen. So habe ich mich dafür entschieden – und der Erfolg zeigte, dass dies richtig war –, gut die Hälfte der Seminarzeit explizit mit dem Thema Ressourcen zu verbringen. Hierzu nur ein Beispiel, weil es mich selbst so überrascht hat: Diese Frauen, die sozial sehr angepasst zu sein scheinen und deutlich enger als wir hier in westlichen Ländern in ihre Familien eingebunden sind, hatten keinerlei Probleme damit eine Übung zu machen, wie sie eine große und starke Pflanze werden und sein können. Als ich sie bat die Pflanze, die sie in ihrer jeweiligen imaginativen Arbeit vor ihrem geistigen Auge gesehen hatten, zu malen, haben bis auf zwei Frauen alle eine starke Einzelpflanze gemalt, die groß und mittig auf ihrem Zeichenblatt prangte! Und das, obwohl ich in der Übungsanleitung auch angeboten hatte, die Pflanze könne vielleicht Ableger haben bzw. von anderen Pflanzen umgeben sein. Zwar traute ich mich – es war erst der zweite Seminartag – noch nicht, dies so offen auszusprechen, weil ich nicht wusste, inwieweit die Frauen hier ein gesellschaftliches Tabu ihrer Kultur über Bord geworfen hatten, aber auf jeden Fall wurde anhand der Bilder deutlich, dass die Frauen sich zumindest unbewusst als starke Einzelindividuen wahrnehmen konnten.

Und so haben mich die Kosovarinnen in vielfacher Hinsicht positiv überrascht: Sie sogen auch die Theorie auf wie ein Schwamm Wasser und gaben zu erkennen, dass sie sie anwenden würden und damit umgehen können. Von Tag zu Tag trauten sie sich mehr, in der nachmittäglichen Supervisionseinheit aus ihrem schwierigen Berufsalltag zu berichten. Wir konnten sogar beginnen, über ihre eigenen PTSD-Symptome zu sprechen und auch über die Schuldgefühle, die sie hatten, wenn sie mitten in der Hölle aus Flammen und Folter, Bomben und Gewaltorgien zu gelähmt gewesen waren, um der Soldateska rechtzeitig zu entfliehen und sich schämten, weil sie ihre Kinder angeblich nicht genug geschützt hatten. Dabei stellte sich heraus, dass viele von ihnen sich geradezu heldinnenhaft benommen hatten, indem sie Angehörige, Freunde und Patienten vor oder aus dem Inferno gerettet hatten. Nie hat eine das selbst erzählt – die anderen haben es mir »gesteckt«.

Schuldgefühle hatten viele auch nach dem Krieg, z.B. weil sie ihr Haus schon wieder aufgebaut hatten, während das Nachbarhaus noch eine ausgebrannte Trümmerlandschaft war und die Nachbarin noch bei Verwandten in beengten Verhältnissen hausen musste. Sie hatten Schuldgefühle, wenn ihr Mann lebend aus den Wäldern heimgekommen war, die Schwägerin aber ihren Mann noch vermisste. Überhaupt, die vermissten Männer: Wie immer, wie nach jedem Krieg mussten die Frauen die Last der Familien über viele Monate allein tragen. In der Region um Gjakova, der Stadt, in der das Medica-Kosova-Team seinen Sitz hat, sind 2.000 Männer im Krieg verschwunden. Mehrere Hundert wurden in Massengräbern gefunden und so manche Frau hat der Anblick ihres zerschundenen und erschlagenen Lebensgefährten in den Wahnsinn getrieben oder in endlos wiederkehrende Flashbacks und/oder dauerhafte Apathie. Etwa 1.500 Männer saßen noch anderthalb Jahre später in serbischen Gefängnissen, niemand wusste, wann sie heimkommen (erst zwei Jahre nach dem Krieg kamen achthundert von ihnen, bis aufs Skelett abgemagert und von Folter fürs Leben gezeichnet, nach Hause). Vielleicht können Sie erahnen, was da noch in den nächsten Monaten und Jahren auf die Frauen und Kinder, auf die Familien und das gesamte soziale Gefüge in Kosova zukommen wird – allein aus dieser Tatsache, ungeachtet all der anderen grausamen Erfahrungen, welche die Bevölkerung verkraften muss.

Ich könnte Ihnen viele grausame Schicksale schildern, viele grässliche Einzelheiten, doch zurück zur »Arbeit«: Ich habe den kosovarischen Mitarbeiterinnen von Medica bereits am vierten Tag Reorientierungstechniken beigebracht, also wie sie sich und ggf. auch ihre Patientinnen aus dem Versinken in Traumaerinnerungen herausholen können. Ich habe ihnen gezeigt, wie sie die Bilder, die viele nicht aus dem Kopf kriegen konnten, über eine »Bildschirmtechnik« auf eine Leinwand projizieren und von dort aus auf einen »Film« distanzieren und »wegpacken« können. Einige Frauen berichteten bereits jeweils am nächsten oder übernächsten Tag, sie hätten das Gelernte schon angewandt. Eine Hebamme zum Beispiel berichtete von einer Patientin, die sie sehr mochte, sie nannte sie »die Intellektuelle«. Sie sei mit ihr schon völlig verzweifelt, da die Patientin bei jedem Kontakt sofort wie manisch darauf zu sprechen kam, wie ihr Mann vor ihren Augen erschossen wurde. Die Hebamme sagte: „Ich wusste, ich konnte das einfach nicht länger ertragen. Ich wusste, ich würde sie bald im Stich lassen, weil ich es einfach nicht mehr hören konnte. Ja, und dann habe ich die Bildschirmtechnik mit ihr gemacht, gleich gestern noch. Und dann haben wir den Film weggepackt. Das hat funktioniert. Und zum ersten Mal wirkte die Frau wie aufgehellt, als sei sie dabei aus einem lebenden Alptraum zu erwachen.“ Können Sie sich vorstellen, dass ich mich trotz der harten Arbeit reich beschenkt fühlte?

Natürlich gibt es noch unendlich viel zu tun. Fortbildungen allein reichen nicht, um Traumaarbeit effektiv zu machen. Die KosovarInnen müssen auch alle kulturellen Möglichkeiten – Geschichtenerzählen, Tanzen, Singen, Trauerrituale etc. – benutzen, bis die »international« entwickelten Möglichkeiten zu ihrem eigenen Handwerkszeug sicher hinzugefügt werden können. Und es gibt Weiteres zu tun.

Hilfe zur Selbsthilfe ist weiter notwendig

Medica Kosova und andere Hilfsorganisationen brauchen nach wie vor Unterstützung um die Projekte, die Hilfe zur Selbsthilfe bedeuten, weiterzuführen. Hier konkret: Traumaaufarbeitung von Kosovarinnen für KosovarInnen vorzubereiten, supervisorisch zu begleiten und umzusetzen. Erst im zweiten Schritt wird es, im Kosovo wie in anderen Kriegs- und Krisengebieten, darum gehen, Psychotherapien im Sinne von Traumatherapien durchzuführen. Denn die Zahl der traumatisierten Frauen, Kinder und alten Menschen ist Legion.

Die Männer für Behandlungen zu gewinnen, ist aufgrund der archaisch-patriarchalen Grundeinstellung im Kosovo besonders schwierig. Des weiteren müsste dringend für Kinder – nicht nur, aber besonders natürlich für die Kriegswaisen – Betreuung und Traumabehandlung angeboten werden. Damit die Traumata nicht, wie es in Bosnien geschah (siehe Süddeutsche Zeitung, 23. 2. 2002), „von einer Generation an die andere weitergegeben“ werden. Auch hierfür braucht man in Kosova ausgebildete Kinder-TraumatherapeutInnen, die bereit wären ein entsprechendes Projekt aufzubauen, das mit den bestehenden Hilfsorganisationen kooperieren könnte.

Wie die Gründerin von Medica berichtete, gab und gibt es in Bezug auf Kosova eine paradoxe Situation: Oft gebe es bei Krisen oder Kriegen viele Hilfswillige, aber wenig Geld, sie zu entlohnen; dieses Mal seien die Gelder da gewesen, aber kaum eine/r wollte dort hin. Inzwischen winken alle ab: Neue Schauplätze des Grauens – wie Afghanistan – locken neue Spendengelder an. Der Balkan? Vergessen!

So haben sich – und damit bin ich wieder beim Anfang – die Bilder des Krieges doch in den Köpfen festgefressen. Kosova, Afghanistan, Tschetschenien, Osttimor und viele andere Orte der Welt wirken auf satte Bürger der »ersten Welt« so, als handle es sich um Abbilder eines Danteschen Infernos, nachdem jemand das Feuer ausgemacht hat.

Theoretisch und auch vom Grad der Zerstörung aus betrachtet ist das gar nicht so verkehrt. Aber wer nur das sieht, übersieht, dass die schwierigen Phasen noch kommen.

Die schwierigen Phasen kommen noch

Wenn die starken Frauen erst einmal zusammenbrechen dürfen; wenn, wie erst vor wenigen Monaten geschehen, die Männer nach Folter und Gefangenschaft heimkommen; wenn immer mehr Kinder verhaltensauffällig werden; wenn junge Männer den nächsten Krieg planen; wenn »der Serbe in der Seele« entdeckt wird – also die Täterintrojekte, die jetzt noch absolut tabuisiert sind –, dann beginnen die nächsten schwierigen Phasen.

Bislang sind wir erst in

  • Phase I nach dem Krieg: Die Menschen sind froh überlebt zu haben und bauen ihr Land auf. Die traumatisierten Menschen sind bislang immer noch weit gehend die anderen.
  • Phase II deutet sich an: sich selbst als Gewaltopfer wahr- und ernst zu nehmen. Doch erst danach kann etwas geschehen, was die internationale zivilisierte Gemeinschaft auch von den KosovarInnen erwarten muss, nämlich
  • Phase III: die Widerspiegelung der Gewalt in der eigenen Psyche unter Kontrolle bringen, um nicht die eigenen Kinder oder den unschuldigen serbischen oder Roma-Nachbarn weiterzuquälen und den Zirkel der Gewalt fortzusetzen.

Ich bin überzeugt, die KosovarInnen sind bereit, sie wollen das lernen, wollen die Bewältigung. Helfen wir ihnen dabei; vielleicht hilft das uns, unser eigenes Entsetzen über diesen Krieg, an dem Deutschland nicht ganz unschuldig ist, zu bewältigen. Mir jedenfalls hat der eigene Einsatz, die praktische und solidarische Unterstützung – wie ich glaube an der richtigen Stelle – geholfen, das eigene Gefühl der Wut und Hilflosigkeit zu überwinden.

Michaela Huber ist Psychotherapeutin in Kassel.

Der innere Frieden und die soziale Gerechtigkeit

Der innere Frieden und die soziale Gerechtigkeit

von Klaus Grehn

Frieden hat auch eine ökonomische Dimension. Andere Verteilungsverhältnisse sind nicht nur mit dem Blick über die Landesgrenzen hinaus – z.B. im Nord-Süd-Verhältnis – Voraussetzung für eine zukunftsfähige Entwicklung, sondern auch im Inneren. Klaus Grehn, Präsident des Arbeitslosenverbandes, fordert ein Ende der Umverteilung von unten nach oben. So uralt die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit ist, so hochaktuell sind sie und ihr Zusammenhang mit der An- oder Abwesenheit des inneren Friedens. Abgeschwächt könnte in diesem Wechselverhältnis der innere Frieden auch als Grad des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft bezeichnet werden.

Bei aller Definitions- und Begriffserweiterung im Verlaufe der gesellschaftlichen Entwicklung bleibt die Aristotelische Unterscheidung von ausgleichender Gerechtigkeit – iustitia commutativa – und Verteilungsgerechtigkeit – iustitia distributiva – (Nikomachische Ethik, d.V.) die grundsätzliche. Viele aktuelle Gerechtigkeitsbegriffe wie Steuergerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, Generationsgerechtigkeit etc. lassen sich darauf zurück führen. Sie bilden quasi die »Gerechtigkeiten«.

In der politischen Debatte um mehr soziale Gerechtigkeit wird immer wieder in Auseinandersetzung mit verschiedenen sozialen Bewegungen darauf verwiesen, dass es keine absolute Gleichheit im Sinne von absoluter Gerechtigkeit gebe. Mit dieser Begründung werden nicht nur Maßnahmen zur Herstellung von mehr relativer Gleichheit verweigert, zugleich wird den sozialen Bewegungen unterstellt, dass sie unter sozialer Gerechtigkeit Egalitarismus verstünden. Solche Interpretationen erschweren den Dialog zwischen der Politik und den sozialen Bewegungen beträchtlich. Soweit im Grundgesetz auf das Prinzip der Gerechtigkeit abgestellt wird, das betrifft insbesondere den Artikel 20I in dem das Sozialstaatsprinzip als Gestaltungsauftrag an das Streben nach sozialer Gerechtigkeit gebunden wird, lassen sich daraus keine sozialen Leistungsansprüche in einem bestimmten Umfang ableiten, wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat (BVerfGE 82, 60, 80).

Soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit sind vielfach auch in internationalen Verträgen verankert. So in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Artikel 22: „Jedermann hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuss der für seine Würde und freien Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen“.

Auf dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen haben sich die Regierungen verpflichtet, „bei nationalen, regionalen und internationalen Politiken und Maßnahmen der Förderung des sozialen Fortschritts, der Gerechtigkeit und der Verbesserung der Lebensbedingungen, auf der Grundlage der vollen Teilhabe aller Menschen höchste Priorität ein(zu)räumen“.

Eine historische Rückschau verdeutlicht, dass die Geschichte sozialer Bewegungen die Geschichte sozialer Auseinandersetzungen ist, dass das Niveau des inneren Friedens wesentlich bestimmt war und wird durch den jeweiligen Ausprägungsgrad sozialer Gerechtigkeit. Ob Sklavenaufstände oder Aufstände der Feudalbauern, ob französische Revolution oder Weberaufstände, ob Streiks oder Aktionen der sozial Ausgegrenzten und Benachteiligten – allen diesen Bewegungen lag und liegt als ein wesentliches Moment die Auseinandersetzung um mehr soziale Gerechtigkeit, insbesondere um mehr Verteilungs- und Teilhabegerechtigkeit mit zu Grunde.

Wie hochaktuell der Zusammenhang zwischen der Ausprägung von sozialer Gerechtigkeit und innerem Frieden/sozialem Zusammenhalt der Gesellschaft ist, zeigen einerseits die letzten Wahlen in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern, andererseits die Entwicklung der sozialen Bewegungen und Proteste. Hier wird deutlich, dass es trotz punktueller Maßnahmen nicht gelungen ist, wesentliche Gerechtigkeitslücken zu schließen und das Entstehen neuer Gerechtigkeitslücken zu verhindern.

Der Herstellung der deutschen Einheit, Finanzierungsprobleme, die demographische Entwicklung, die lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit erforderten und erfordern zur Durchsetzung des Gerechtigkeitsmodells strukturelle sozialstaatliche Veränderungen statt strukturellem Beharrungsvermögen. Temporäre Maßnahmen auf dem zweiten Arbeitsmarkt, Pflegeversicherung, Rechtsanspruch auf Kindergartenplätze usw. waren solche punktuellen Veränderungen während der Regierungszeit Kohls. Diesen Maßnahmen standen jedoch gravierende Leistungssenkungen für Lohnersatzleistungs- und SozialhilfeempfängerInnen gegenüber sowie

  • die Einführung untertariflicher Bezahlung der Beschäftigten auf dem zweiten Arbeitsmarkt;
  • Zwangsmaßnahmen wie Meldepflicht für Arbeitslose;
  • die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung;
  • die Intensivierung der sozialen Kontrolle der BezieherInnen von Lohnersatzleistungen und Sozialleistungen.

Verbunden wurden diese Maßnahmen mit unhaltbaren individuellen Schuldzuweisungen an die Betroffenen: Erinnert sei an die Diskussionen um »Leistungsmissbrauch«, »Sozialschmarotzertum« oder an die Legende von der »sozialen Hängematte im Freizeitpark Deutschland«.

Diese von der vormaligen Opposition als »Horrorkatalog der sozialen Grausamkeiten« bezeichneten Maßnahmen fanden ihren Niederschlag u.a. in dem »Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms«, dem »ersten und zweiten Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms« und dem »Beschäftigungsförderungsgesetz«.

Mit dieser Politik entfernte sich die Gesellschaft immer weiter von der sozialen Gerechtigkeit, wurden die sozialen Schieflagen verstärkt, wurden Arbeitslose statt Arbeitslosigkeit, Arme statt Armut bekämpft. Gleichzeitig wurden die UnternehmerInnen umfangreich entlastet, mit der Begründung, sie brauchten mehr finanziellen Spielraum um Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen zu können. Eine Erwartung, die nicht erfüllt wurde – das Gegenteil trat ein, die Arbeitslosenzahlen erreichten neue Rekordhöhen. Insgesamt zeigte sich, dass die Politik der Regierung Kohl den sozialen Zusammenhalt und den inneren Frieden destabilisierte. Die Kirchen antworteten auf diese Entwicklung mit ihrem Sozialwort. Gewerkschaften, Sozialverbände und Arbeitslose reagierten auf die Zunahme sozialer Ungerechtigkeiten zunächst mit Protesten und später mit einem entsprechenden Wahlverhalten.

Die Regierung Kohl scheiterte am 27. September 1998 wesentlich an der fehlenden sozialen Gerechtigkeit. Die neue rot-grüne Koalition wurde gewählt, auf Grund ihres in der Opposition praktizierten Eintretens gegen jene gesetzlichen Regelungen die den Sozialabbau verschärften, die die Schere zwischen Arm und Reich zwischen den Teilhabenden und den Ausgegrenzten weiter öffneten. Sie erhielten die Stimmen insbesondere von den Arbeitslosen wegen ihrer Versprechungen zur Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit.

Nach der Wahl trat eine gewisse Zeit der inneren Ruhe innerhalb der sozialen Bewegungen ein. Erste Maßnahmen der neuen Regierung wie z.B. die Rücknahme einiger Entscheidungen ihrer VorgängerInnen zum Kündigungsschutz und zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall deuteten auf eine Politik für mehr soziale Gerechtigkeit hin. Vergebens allerdings warteten die Arbeitslosen und die SozialhilfeempfängerInnen auf Maßnahmen, die für sie mehr soziale Gerechtigkeit herstellen würden. Entsprechende Vorschläge, vielfach auf den Vorstellungen aus der Oppositionszeit von SPD und Bündnis 90/Die Grünen fußend, wurden nun von diesen abgelehnt. Dazu zählte der Antrag auf Rücknahme der jährlichen Absenkung des Beitragsbemessungsentgelts für ArbeitslosenhilfeempfängerInnen um 3 Prozent genauso wie die Aufhebung der befristeten Sonderregelung für die Anhebung des Eckregelsatzes der SozialhilfeempfängerInnen nach der Rentenerhöhung statt nach dem Warenkorbprinzip. Diese Entwicklung führte zu wachsender Unruhe unter den Betroffenen und ihren Verbänden. Mit dem vorgelegten Sparpaket und der Konzentration der Sparmaßnahmen auf die finanziell Schwachen, die RentnerInnen, Arbeitslosen und SozialhilfeempfängerInnen wurde deutlich, dass auch die neue Regierung bereit ist, das versprochene »Mehr« an sozialer Gerechtigkeit auf dem Altar des »Sparzwangs« zu opfern. Es gab und gibt aber in dieser Gesellschaft keinen Konsens, nach dem Sparen – und das vor allem bei den Armen –, oberstes Regierungsziel sein soll.

Was aber bei dem Sparkonzept der rot-grünen Koalition den Widerstand und Protest der Betroffenen in besonderer Weise provoziert ist die Tatsache, dass sich der »Sparzwang« als trügerischer Schein entpuppt, hinter dem sich die Reduzierung des Sozialstaats, die alte Politik von mehr sozialer Ungerechtigkeit verbirgt, während es keine gesellschaftliche Aussprache über neue Wege gibt. Sparen kann dann einen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft leisten, wenn es der Durchsetzung des höheren Prinzips der sozialen Gerechtigkeit dient. Statt dessen wird Sparen zur moralischen Keule gegen die »Nichtsparbereiten«. Letztere sind allerdings bei näherer Betrachtung der AdressatInnen des »Sparpakets« die »Nichtsparfähigen« (eben die ärmsten Teile der Gesellschaft). Für diese Menschen muss es zynisch klingen, wenn die Regierung behauptet, dass „Sparen, der Sparhaushalt, die oberste soziale Gerechtigkeit“ sei und dass weiter wie bisher nicht zu sparen sozial ungerecht sei.

Was logischerweise auf das Sparpaket und die es begründende Wortakrobatik folgte waren und sind Turbulenzen im Bereich des inneren Friedens, unter anderem sichtbar in Demonstrationen und Aktionen, z.B. in der letzten Oktoberwoche in Berlin:

  • Dienstag, 26.10.: Demonstration der Bäuerinnen und Bauern;
  • Mittwoch, 27.10.: Aktion der Obdachlosen;
  • Donnerstag, 28.10.: Demonstration der RentnerInnen;
  • Freitag, 29.10.: Kundgebung der Arbeitslosen (in Berlin und weiteren 179 Städten).

In der Woche zuvor demonstrierten 80.000 BeamtInnen und Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, davor Zehntausende Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen. Von allen Seiten wird die Fortsetzung der Aktionen angekündigt. Münden diese Aktionen in gemeinsames Handeln etwa unter dem Motto: Alle gemeinsam gegen Sozialabbau und soziale Ungerechtigkeit, nach dem Beispiel der französischen Arbeitslosenbewegung AC! (Agir ensemble contre le chomage!), werden die Auswirkungen auf den inneren Frieden bedeutend sein.

Das hohe und lang anhaltende Niveau der Massenarbeitslosigkeit von offiziell ca. 4 Millionen Arbeitslosen (tatsächlich wohl mehr als 6,5 Millionen) und mehr als 7,5 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen, die damit verbundene Ausgrenzung und der Sozialabbau bedrohen in Deutschland den inneren Frieden. Darauf haben auch wiederholt Meinungsumfragen hingewiesen. So kommt jüngst das Mannheimer Ipos-Institut in einer repräsentativen Umfrage im Auftrage des Bundesverbandes der Deutschen Banken u.a. zu dem Ergebnis, dass die Massenarbeitslosigkeit eine Bedrohung für die Demokratie ist. Jeder Zweite ist der Ansicht, dass die hohe Anzahl der Arbeitslosen die politische Stabilität derart gefährdet, dass es zu politischen Unruhen kommen könnte (63 Prozent im Osten und 47 Prozent im Westen rechnen mit einer solchen Möglichkeit). Angesichts des Ergebnisses, dass zwei Drittel der Befragten eine weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit in den nächsten 10 Jahren erwarten, könnten die Folgen für den inneren Frieden dramatisch sein. Tatsache ist, dass der Mangel an Erwerbsarbeit tendenziell die sozialen Rechte nicht nur der Erwerbslosen aushöhlte, sondern auch die ihrer Familien. Eine wesentliche Ursache dafür ist, dass das Sozialstaatsprinzip und das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit kaum im internationalen Recht verankert sind (soziale Rechte sind z.B. nicht im Grundgesetz verankert). Dem zufolge orientieren sich gesetzliche Regelungen im Bereich der Arbeitslosigkeit und der Sozialhilfe weniger am Ziel nach mehr sozialer Gerechtigkeit als an Zielen wie Mitteleinsparung, Missbrauchsbekämpfung, Mitnahmeeffekt usw. (Vgl. Entwicklung des AFG, SGB III, BSHG u.a.).

Die Ausprägung der den sozialen Frieden gefährdenden sozialen Ausgrenzung der Arbeitslosen zeigt ein Vergleich der sozialen Rechte von Arbeitslosen und ArbeitnehmerInnen. Im Wesentlichen beruhen soziale Rechte auf Arbeit. ArbeitnehmerInnen haben deshalb nicht nur mehr Teilhabe als Arbeitslose an der Gesellschaft. Arbeitslose besitzen auch weniger soziale Rechte. So ist das Recht der Arbeitslosen auf soziale Dienstleistungen sowohl unter der Regierung Kohl wie auch unter der gegenwärtigen Regierung durch gesetzliche Bestimmungen begrenzt und mit zusätzlichen Verpflichtungen verbunden worden: Sie besitzen kein unbegrenztes Reiserecht (selbst wenn sie die Reisen finanzieren könnten) und ihre Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt, sie sind im Recht auf Bildung begrenzt, das Recht auf freie Arbeitssuche ist mit Sanktionen verknüpft. Je länger die Arbeitslosigkeit desto weniger gelten die sozialen Rechte in verschiedenen Lebensbereichen wie Gesundheit, Kultur, Rente, Wohnung, Kinderbetreuung, Bezahlung (Verpflichtung unterbezahlte Beschäftigung anzunehmen). Auf der anderen Seite haben Arbeits- und Sozialämter immer mehr »Macht« über die Betroffenen erhalten.

Eine kritische gesellschaftspolitische Diskussion der vorgenannten Problemlagen kann Wege zur Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit aufzeigen und würde Gefährdungen des inneren Friedens abbauen. Das gilt um so mehr, als die Gerechtigkeitslücken in verschiedenen sozialdemographischen Gruppen zu unterschiedlichen Folgen und Verhaltensweisen führen. Das betrifft die Wirkung fehlender Ausbildungsplätze und damit die Zukunftschancen für junge Menschen genauso wie den hohen Anteil sozial benachteiligter (und damit ungerecht behandelter) Frauen und AusländerInnen.

Empirisch bereits wiederholt belegt sind die Unterschiede, die auf die Dauer der Ausgrenzung zurückführbar sind. Zu hinterfragen ist, inwieweit wachsende Aggressivität, Kriminalität, Frust und Brutalität postmoderne Formen der Zerstörung des inneren Friedens sind und ungelöste Gerechtigkeitsfragen solche Entwicklungen verursachen. Auf diesen Bezug zur Arbeitslosigkeit, insbesondere der hohen Jugendarbeitslosigkeit, hat Jacques Delors wiederholt hingewiesen. Als einen Fingerzeig in diese Richtung kann man auch die Feststellung des Ausschusses der Weisen der Europäischen Kommission in ihrem Bericht »Für ein Europa der Bürgerrechte und der sozialen Rechte« aus dem Jahre 1995 sehen, nach dem „Europa in stärkerem Maße gefährdet ist als es selbst wahrhaben will, und das derzeitig festzustellende soziale Defizit eine wirkliche Bedrohung darstellt.“

Dr. Klaus Grehn ist Präsident des Arbeitslosenverbandes Deutschland e.V. Er wurde als Parteiloser auf der Liste der PDS 1998 in den Bundestag gewählt.