Schablonen im Kopf

Schablonen im Kopf

Koloniale Kontinuitäten im Wahrnehmen, Denken und Handeln

von Michaela Zöhrer

Unsere Gegenwart steht in einer kolonialen Tradition. Darauf machen nicht nur Neokolonialismus-Kritiken aufmerksam, die Kontinuitäten oder »Neuauflagen« des Kolonialismus in aktuellen politischen und vor allem ökonomischen Verhältnissen feststellen. In diesen und vielen weiteren globalen Zusammenhängen sind darüber hinaus historisch tradierte eurozentrische Selbst-, Fremd- und Weltbilder bis heute wirkmächtig, die sich aus neuen und zugleich »altbekannten« Geschichten und Bildern speisen. Der Beitrag betrachtet die kulturelle Dimension europäischer Expansion, um sich darüber gegenwärtigen kolonialen Kontinuitäten in unser aller Wahrnehmen, Denken und Handeln – und einem möglichen selbstkritischen Umgang damit – zu nähern.

In unser aller Wahrnehmen, Denken und Handeln? Im Weiteren werde ich schwerpunktmäßig auf die Rolle »des Westens« oder genauer gesagt auf das eingehen, was als »westlicher Blick« verstanden werden kann. Auch bei einer solch selbstkritischen Betrachtung gilt es mit zu berücksichtigen, dass wir als Menschen alle Teil der sogenannten Nord-Süd-Beziehungen sind, auch wenn wir in diesen sehr unterschiedliche Positionen einnehmen und jeweils anders auf die Welt, uns selbst und andere blicken. Und wir alle sind Nachfahren und zeitgenössische Protagonist*innen geteilter Geschichte(n). Aus globalgeschichtlicher und zugleich eurozentrismuskritischer Perspektive handelt es sich in doppelter und ambivalenter Hinsicht um eine geteilte Geschichte (Conrad und Randeria 2013, S. 39): Sie ist eine gemeinsame (shared), aber auch von Abgrenzung und Hierarchisierung gekennzeichnete (divided) Geschichte des Austauschs und der Interaktion.

Kolonialismus »daheim«

Die „Imperien waren immer auch ‚zu Hause‘ präsent“ (Conrad 2012, S. 6): Über die Jahrhunderte hinweg fertigten »entdeckende«, erobernde und missionierende Europäer*innen Reise- und Augenzeugenberichte sowie Zeichnungen an, die ihre Erlebnisse und Erfahrungen vor Ort illustrieren sollten. Dabei wurden auch die kolonisierten Bewohner*innen der Karibik und Amerikas, Ozeaniens, Südasiens, des Nahen Ostens und Afrikas dargestellt und fantasiert: vor allem als »Barbaren«, »Exoten« und »edle Wilde«. Es wurden jedoch nicht nur Geschichten und Bilder mit in die Metropolen gebracht, sondern auch (zynisch formuliert) diverse »Souvenirs«. Darunter waren vielfältige kulturelle Raubgüter, deren Rückführung nach wie vor aussteht. Aber auch Menschen wurden in die Heimatländer der Kolonialmächte verschleppt und etwa in Völkerschauen ausgestellt, um deren vorgeblich »primitive«, »naturverbundene« und »unzivilisierte« Lebensweisen vorzuführen.

Während frühe Berichte und Zeichnungen (wie auch die aus den Kolonien importierten Waren und Genussmittel) lange Zeit vor allem für elitäre Kreise verfügbar waren, sollten Ende des 19. Jahrhunderts verschiedenste Bevölkerungsschichten regelmäßig in Berührung mit einem nunmehr massentauglichen und konsumierbaren Kolonialismus kommen: etwa über entsprechende Bild-Aufdrucke auf Streichholzschachteln, Keksdosen oder Schokoladentafeln.

Viele der verbreiteten Geschichten und Bilder dienten dazu, Erfolge und Fortschritte der Kolonisierungspraxis vorzuführen, um die Daheimgebliebenen auch zu Kompliz*innen »im Geiste« zu machen. Grundlegend wurden mit deren Verbreitung solche kulturellen Vorstellungsbilder propagiert, „die koloniale Expansion und Herrschaft überhaupt attraktiv und akzeptabel – und noch grundlegender: denkbar – machten (Conrad 2012, S. 7). Gleichzeitig beschränkte sich koloniale Wissensproduktion nicht auf Propaganda in den und für die Metropolen.

Koloniales »Wissensmanage­ment« und Rassismus

Europäische Expansion ging von Beginn an – das heißt spätestens seit der realitätsverzerrend als »Entdeckung« umschriebenen Vereinnahmung der sogenannten Neuen Welt ab 1492 – mit der Produktion von Wissen einher. Zugleich war ein zentrales Mittel zur Herrschaftsgewinnung und -sicherung die Verdrängung und Vernichtung anderer Kulturen. Mit den Worten Ngũgĩ wa Thiong’os (1995 [1993], S. 74) gab es „einen systematischen Angriff auf die Sprachen der Völker, ihre Literatur, Tänze, Namen, Geschichte, Hautfarbe, ihre Religionen, in der Tat auf jedes Mittel der Selbstdefinition“. Diese Delegitimierung, Exklusion und Auslöschung von Kultur und Wissen ging einher mit der machtvollen und zerstörerischen Verbreitung und Durchsetzung jenes Wissens, das vorgeblich über Höherwertigkeit und Allgemeingültigkeit verfügt.

Die wohl wichtigste Ideologie, die der Legitimierung von Versklavung und Kolonialismus sowie der im Zuge dessen verübten Gräueltaten und installierten Ausbeutungsverhältnisse diente, ist der Rassismus. Für den kolonialen Rassismus hält Albert Memmi (2016, S. 148) fest: „Ein ständiges Bemühen der Kolonialisten besteht darin, in Worten und Verhalten den Platz und das Schicksal des Kolonisierten, seines Partners im kolonialen Drama, zu erklären, zu rechtfertigen und zu erhalten, d.h., letzten Endes das Kolonialsystem und damit seinen eigenen Platz zu erklären, zu rechtfertigen und zu erhalten“. Dafür wurden Repräsentationen der »Anderen« – in Abgrenzung zu einem Selbst – wirkmächtig in die Welt gesetzt, entlang von dichotom organisierten und gegeneinander wertend in Stellung gebrachten Differenzen: nicht-weiß/weiß, barbarisch/zivilisiert, irrational/rational, kindlich/erwachsen, weiblich/männlich usw. Die behaupteten Differenzen wurden wie ahistorische und apolitische Gewissheiten behandelt und folglich naturalisiert; sie wurden absolut gesetzt, indem sie als endgültig ausgegeben wurden und sich das eigene Handeln (der Kolonisierenden) darauf ausrichtete, dass sie es auch werden (ebd.).

Kolonial-rassistische Wissensproduktion mündete oftmals in einem perfiden und folgenschweren Paradox: „Das hier produzierte Wissen ermöglicht[e] den ‚Zivilisierten‘ die Anwendung ‚barbarischer‘ Praktiken und untermauert[e] dabei gleichzeitig die Konstruktion der Täteridentität als zivilisiert und der Opfer als unzivilisiert“ (Ziai 2006, S. 34). Rassismus war Ermöglichungsbedingung und Ausdruck des gewaltvollen und entmenschlichenden Handelns der Täter*innen. Mit ihm wurden identitätsbildende Differenzen und Hierarchien etabliert, um die Gräuel und Ungerechtigkeiten (vor sich selbst) rechtfertigen zu können.

Trotz des immer auch bestehenden Widerstands vonseiten kolonisierter und versklavter Menschen, haben Imperialismus und Kolonialismus in vielen Weltregionen, die heute dem Globalen Süden zugerechnet werden, aber auch in sogenannten Siedlerkolonien wie den USA, Kanada, Australien oder Neuseeland gravierende Spuren hinterlassen, nicht zuletzt in den Selbst-, Fremd- und Weltbildern der Kolonisierten und nachfolgender Generationen. Zeitgleich bestimmen aus der Kolonialzeit stammende Vorstellungsbilder bis heute ein »westliches« Wahrnehmen, Denken und Handeln.

Koloniale Kontinuitäten

Noch heute schöpfen Menschen überall auf der Welt – bewusst oder unbewusst – aus jenem »Wissensarchiv«, das sich über die Jahrhunderte der Versklavung und Kolonisierung hinweg selektiv füllte: mit noch heute wirkmächtigen Repräsentationen, die die Welt einteilen und Gruppen von Menschen voneinander abgrenzen und hierarchisieren. Wie Stuart Hall (2012, S. 167) festhält: Die Welt wird (aus Sicht des Westens) „symbolisch geteilt, in gut-böse, wir-sie, anziehend-abstoßend, zivilisiert-unzivilisiert, der Westen-der Rest“, wobei »der Rest« als etwas festgeschrieben wird, „das der Westen nicht ist – sein Spiegelbild“. Auch in der globalen Gegenwartsgesellschaft gilt: Die Selbstvergewisserung und Selbstaufwertung der einen und die Abwertung der als »Andere« Hervorgebrachten gehen Hand in Hand miteinander. Ein gesteigertes Selbstwertgefühl von Kollektiven geht immer auf Kosten anderer – mithin auf Kosten derjenigen, die als »per se« minderwertig oder als »noch nicht« auf einer (Entwicklungs-)Stufe mit dem eigenen kollektiven Selbst wahrgenommen und entsprechend behandelt werden. Diejenigen, die bis heute die Kriterien und Maßstäbe definieren und durchsetzen können, welche der Zuweisung der Plätze auf der Stufenleiter – und der Behauptung der Existenz und Relevanz der Stufenleiter selbst – dienen, sind dabei dieselben, die sich gleichsam obenauf wähnen können.

Wenn nun von kolonialen Kontinuitäten im kollektiven Wahrnehmen, Denken und Handeln gegenüber anderen Weltregionen und als »fremd« erlebten Menschen – übrigens auch im eigenen Land – die Rede ist, dann lässt sich an recht verschiedene konkrete Beispiele denken, die mal mehr, mal weniger explizit oder klar ersichtlich in einer kolonialen Tradition stehen. Da wären zuerst »Restbestände« eines Kolonialkults, etwa manch rassistische Straßen- und Geschäftsnamen oder »Kolonialhelden« verherrlichende Statuen, die besonders offenkundig von einer fehlenden Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Vergangenheit zeugen. Daneben gibt es Fälle, in denen in der Kolonialzeit tradierte Darstellungsweisen noch heute mehr oder minder identisch reproduziert werden. So ließ zum Beispiel vor wenigen Jahren Seifenprodukt-Werbung ein gängiges rassistisches Narrativ aus der Hochzeit des Imperialismus in dem Moment wieder aufleben, in dem sie die Verknüpfung »Schwarze Menschen = dreckig, weiße Menschen = sauber« bediente.

Darüber hinaus gibt es unzählige weniger offenkundige Beispiele anhand derer Vorstellungsbilder von Differenz und Dominanz wachgerufen und wachgehalten werden, die sich über die Jahrhunderte europäischer Expansion »festgesetzt« haben. Ich denke etwa an stereotype Darstellungen fremder, vor allem indigener, Kulturen in Schulbüchern. Oder an mancherlei Spendenplakate von Hilfsorganisationen, auf denen »Andere« – im Gegensatz zu »uns«, deren Unterstützung sie zu benötigen scheinen – immer noch anhand von Differenzmarkern repräsentiert werden, die schon für einen kolonialen Rassismus konstitutiv waren: Schwarz (statt weiß), krank (statt gesund), kindlich (statt erwachsen), passiv (statt aktiv), ungebildet (statt gebildet). Um hier von einer kolonialen Kontinuität zu sprechen, muss im Übrigen nicht notgedrungen ein »Hungerkind« mit »weißem Helfer« fotografisch abgelichtet sein. Es kann genügen, den afrikanischen Kontinent als schwarze Leere gerahmt von weißer Schulkreide zu zeigen und zu verkünden: „Ohne Bildung hat Afrika keine Zukunft“, „Wir schließen Bildungslücken“ (zur Plakat-Diskussion: Kiesel und Bendix 2010).

Bedeutsam ist zudem, wer und was nicht sichtbar wird – zumindest nicht als Sinnbild oder Inbegriff der jeweils unterstellten Norm, sondern wenn überhaupt als defizitäre oder exotische Abweichung. Zum Beispiel lohnt es sich mit Blick auf Darstellungsroutinen in Film, Fernsehen und Werbung zu fragen: Wer und was wird eigentlich ausgeblendet, wenn nach wie vor vornehmlich »primitive Stammeskulturen«, »hungernde Kinder«, »korrupte Diktatoren« oder auch »wilde Tiere« gezeigt werden, wenn es um den Kontinent Afrika geht? Oder warum werden in Deutschland lebende Menschen of Color fast ausschließlich in Klischeerollen – als etwa »kriminelle, ungebildete Ausländer*innen« – sichtbar, kaum jedoch als Mitbürger*innen mit ihren individuellen, tatsächlich ganz normalen Ecken und Kanten?

Jenseits des Eurozentrismus?

Werbung, Schulbücher, Spendenplakate, aber auch Auslandsberichterstattung, wissenschaftliche Konfliktanalysen, Aufdrucke auf Kaffeeverpackungen oder Reiseführer: Geschichten und Bilder von den (vermeintlichen) Lebenswirklichkeiten im Globalen Süden erreichen uns in Deutschland auf ganz unterschiedlichen Wegen und oft geradezu beiläufig. Diese mögen gegenwärtig anders aussehen und anderes betonen als jene Geschichten und Bilder, die zu der Zeit formal-politischer Kolonisation Verbreitung fanden. Sie erneuern nichtsdestotrotz häufig die gleichen Selbst-, Fremd- und Weltbilder, die bis heute ganz wesentlich dazu beitragen, dass Praktiken der Marginalisierung, Diskriminierung und Ausbeutung wie auch globale soziale Ungleichheiten und neokoloniale Verhältnisse für gerechtfertigt oder eben »normal« erachtet werden.

Was also tun? Aus meiner Sicht müssen wir in einem ersten, immer wieder aufs Neue zu tätigenden Schritt bewusst an unseren Wahrnehmungs-, Denk- und Bewertungsroutinen arbeiten, an den Schablonen in unseren Köpfen, die sich auch in unserem Handeln niederschlagen. Ein Bestandteil dieser Arbeit ist die Berücksichtigung geteilter globaler Geschichte(n) und damit der Versuch, einem internalisierten und zudem kulturell geradezu omnipräsenten Eurozentrismus aktiv zu begegnen: So wie Kolonialismus in den Kolonien und zur selben Zeit in Europa stattfand, mit jeweils sehr unterschiedlichen Auswirkungen und doch unumgänglich miteinander verflochten, so sind auch gegenwärtige koloniale Kontinuitäten immer global, wie lokal sie sich auch manifestieren mögen. Um einen Eurozentrismus möglichst zu überwinden, gilt es mit wenigstens zwei seiner zentralen Grundannahmen zu brechen (Conrad und Randeria 2013): Erstens mit der Annahme, dass die moderne Geschichte als Ausbreitung europäischer und ‚westlicher‘ Errungenschaften – des Kapitalismus, politisch-militärischer Macht, von Kultur und Institutionen –“ (ebd., S. 35) zu verstehen sei. Was kolonialgeschichtlich in der sogenannten Zivilisierungsmission seinen Höhepunkt fand, findet heutzutage sein Spiegelbild in der Haltung des Westens, beispielsweise »Demokratie« oder »Bildung« in Regionen des Globalen Südens bringen zu müssen.

Zweitens haben wir uns von der Vorstellung zu verabschieden, dass die europäische Geschichte des Fortschritts als eine rein innereuropäische Geschichte konzipiert werden könnte, dass also die Bedingungsmöglichkeiten »westlicher Errungenschaften« wie der Industrialisierung, aber etwa auch aktueller ökonomischer Dominanz, ausschließlich innerhalb Europas oder des Westens zu verorten wären. Mit einer solchen Vorstellung wird zum einen die Vielfalt globalen wechselseitigen Austauschs über die Jahrhunderte hinweg vernachlässigt. Zum anderen werden die vielen Schattenseiten der westlichen Modernisierung ausgeblendet: etwa die Relevanz, die den über Kolonialismus und Versklavung gewonnenen – auch menschlichen – »Ressourcen« in der Geschichte zukam. Und wie sieht es eigentlich aktuell am anderen Ende der Lieferketten aus?

Literatur

Conrad, S. (2012): Kolonialismus und Postkolonialismus: Schlüsselbegriffe der aktuellen Debatte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 62(44-45), S. 3-9.

Conrad, S.; Randeria, S. (2013): Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: Dies. (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Campus Verlag, S. 9-49.

Hall, S. (2012 [1992]): Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht. In: Ders. (Hrsg.): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument Verlag, S. 137-179.

Kiesel, T.; Bendix, D. (2010): White Charity. Eine postkoloniale, rassismuskritische Analyse der entwicklungspolitischen Plakatwerbung in Deutschland. Peripherie – Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt 30(3), S. 482-495.

Memmi, A. (2016 [1957]): Der Eingeborene und der Privilegierte. Der Rassismus. Mythisches Porträt des Kolonialisierten. (Ausschnitte aus Der Kolonisator und der Kolonialisierte). In: Kimmich, D.; Lavorano, S.; Bergmann, F. (Hrsg.): Was ist Rassismus? Stuttgart: Reclam, S. 145-162.

Ngũgĩ wa Thiong’o (1995 [1993]): Moving the Centre. Essays über die Befreiung afrikanischer Kulturen. Münster: Unrast.

Ziai, A. (2006): Zwischen Global Governance und Post-Development. Entwicklungspolitik aus diskursanalytischer Perspektive. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Michaela Zöhrer ist Friedens- und Konfliktforscherin und politische Bildnerin. Gelegentlich steht sie zivilgesellschaftlichen Organisationen zur Seite, die ihre (Bild-)Sprache eurozentrismus- und rassismuskritisch unter die Lupe nehmen möchten.

Farbe bekennen – Rassismus und ZKB


Farbe bekennen – Rassismus und ZKB

Jahrestagung der Plattform ZKB, online, 16.-17. April 2021

von Martin Quack

„It is not our differences that divide us. It is our inability to recognize, accept, and celebrate those differences.“ (Audre Lorde)

Rassismus und Konfliktbearbeitung sind eng miteinander verwoben: In einer Gesellschaft mit strukturellem Rassismus müssen Konfliktbearbeitung und Friedensarbeit selbst explizit rassismuskritisch werden. Diese klare Botschaft und der damit einhergehende Handlungsanspruch standen im Mittelpunkt der diesjährigen außergewöhnlichen Jahrestagung der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, die in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Villigst am 16. und 17. April 2021 erstmalig als Online-Tagung stattfand. Beide Themenfelder können sich aber auch gegenseitig mit ihren Methoden, Ansätzen und Erfahrungen befruchten. Die Vorträge und Diskussionen bestätigten diese Perspektiven auf das Doppelthema der Tagung »Farbe bekennen«, die den Titel der ersten umfassenden Veröffentlichung zu Schwarzer deutscher Geschichte aufgriff: »Farbe bekennen. Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte«, herausgegeben von Katharina Oguntoye, May Ayim und Dagmar Schultz (1986).

Bis zu 100 Personen nahmen aktiv über die Dauer der zweitägigen Konferenz an der Veranstaltung teil, ließen sich auf das Online-Format ein und beteiligten sich an den Diskussionen, im Chat und in Arbeitsgruppen. Zusätzlich konnten Teile der Tagung in einem Video-Stream verfolgt werden. Das Spektrum der Teilnehmer*innen war breit: Von Mitgliedern der Plattform ZKB über neue Kolleg*innen aus den Mitgliedsorganisationen bis hin zu Aktiven aus rassismuskritischen Initiativen. Von Menschen, die seit Jahrzehnten intensiv zu Rassismuskritik arbeiten – etwa in der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) – bis zu denen, die dies zum ersten Mal in dieser Intensität taten. Klar war: Menschen, die selbst von rassistischer Diskriminierung betroffen sind, können sich im Gegensatz zu anderen, die als Weiße gelesen werden, nicht aussuchen, ob sie sich mit dem Thema befassen wollen oder nicht. Die meisten Menschen nahmen aus Deutschland teil, einzelne aus anderen Ländern wie den Niederlanden, die Organisation Sadaka Reut aus Israel und Tiaji Sio (Diplomats of Color) aus Vietnam.

Engagiert und kontrovers wurden grundlegende Definitionen von Rassismus diskutiert, konkrete Ausprägungen von strukturellem Rassismus in Gesellschaft und Institutionen beleuchtet sowie eigene Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt.

Thematisch reichte der Bogen der Tagung von rassismuskritischen Prozessen der Organisationsentwicklung über Diversität in den Sicherheitskräften oder das Konzept der Friedenslogik, das beide Themen verbinden kann, bis zu den politischen Rahmenbedingungen und zur Bundestagswahl. Sheila Mysorekar (Neue deutsche MedienmacherInnen) und Marianne Pötter-Jantzen (MISEREOR) machten deutlich, wie kolonialistische Narrative bis heute reproduziert werden und welche Bedeutung dies etwa für Hilfsorganisationen hat. Paulino Miguel (Forum der Kulturen) betonte, wie sehr auch die Entwicklungszusammenarbeit von strukturellem Rassismus geprägt ist. In kleineren Gruppen wurden die vielfältigen eigenen Handlungsmöglichkeiten diskutiert. Sheena Anderson zeigte Wege zur rassismussensiblen Konfliktarbeit auf. Mauricio Salazar stellt in seiner Tagungsbeobachtung fest, dass die Vielfalt der deutschen Gesellschaft in vielen Organisationen noch nicht sichtbar wird.

Eine erste Bewertung der Tagung ist auf verschiedenen Ebenen möglich:

  • Reaktion: Das Engagement und das breite Interesse waren bereits im Vorfeld spürbar. In den Diskussionen, im Chat, auf der Tagungsplattform sowie im Anschluss per E-Mail äußerten sich viele Teilnehmer*innen sehr positiv zu Inhalten und Ablauf der Tagung.
  • Lernen: Die sehr verschiedenen Menschen, die auf der Tagung anwesend waren, konnten in unterschiedlichem Umfang ihr Wissen erweitern, etwa zum Ausmaß des strukturellen Rassismus, der als strukturelle Gewalt begriffen werden kann. Haltungen konnten reflektiert und konkrete Fähigkeiten unter den erschwerten Bedingungen einer Online-Konferenz erprobt werden: Welche Äußerungen und Begriffe sind angemessen und wertschätzend? Welche Definitionen hilfreich? Deutlich wurde bei vielen Teilnehmenden eine hohe Motivation zur Übersetzung und Umsetzung des Themas in die eigene Arbeit.
  • Verhalten: Die Organisation EIRENE stellte dar, wie sie ihr eigenes Verhalten bereits verändert und weiter verändern will. Auch andere Organisationen aus der Friedensarbeit führen bereits rassismuskritische oder machtkritische Prozesse durch oder stehen kurz davor. Handlungsmöglichkeiten, die identifiziert wurden, reichen vom individuellen Verhalten über Strukturen und Prozesse in Organisationen bis hin zu politischen Gremien wie dem Beirat Zivile Krisenprävention und Friedensförderung der Bundesregierung.
  • Resultate: Der Open Space zum Ende der Tagung konkretisierte, wie die Prozesse weitergehen sollen. Für eine Bewertung der Resultate ist es allerdings noch zu früh. Die Ideen für Vorhaben reichen von konkreten Einladungen zu weiteren Veranstaltungen (bspw. ein Workshopangebot des BSV) bis hin zu Konsequenzen für eine zivile Außen- und Innenpolitik – etwa die Idee eines Ministeriums für Integration, die von MdB Aydan Özoguz eingeführt und im Chat weiterdiskutiert wurde. Das Thema und das Format der Tagung waren außergewöhnlich für die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung. Auf dem Weg zu rassismuskritischer Konfliktbearbeitung hat sie zusammen mit der Evangelischen Akademie Villigst einen großen Schritt gemacht, auf den viele weitere folgen sollen, um Köpfe zu dekolonisieren, die Differenz zu feiern und Politik friedenslogisch zu gestalten.

Martin Quack

Gewalt gegen Fremde


Gewalt gegen Fremde

Studie: Viele Ausländer*innen, weniger fremdenfeindliche Straftaten

von Ulrich Wagner

Fremdenfeindliche Straftaten sind insbesondere 2015 und 2016 in zeitlichem Zusammenhang mit der verstärkten Einwanderung von Geflüchteten nach Deutschland und Europa stark gestiegen. Immer noch verharren sie auf einem hohen Niveau. Dabei zeigen sich starke lokale Unterschiede. Uns, einem Verbund von universitären Forscher*innen und Kolleg*innen vom Bundeskriminalamt, interessierte, wie man dies erklären kann.

Unsere Frage war: Führen die Anwesenheit von Ausländer*innen und einer großen Zahl von Geflüchteten in der Wohnumgebung zu mehr Feindseligkeit gegen Flüchtlinge – oder gehen die Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund und die Anzahl von Geflüchteten mit einer Abnahme fremdenfeindlicher Straftaten einher? Beides erscheint plausibel, sowohl auf der Basis von Alltagsüberlegungen als auch vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Modelle: Sozialwissenschaftliche Theorien, die Bedrohung in den Vordergrund stellen (z.B. Stephan und Renfro 2002), lassen erwarten, dass mit einer höheren Zahl von Ausländer*innen und Geflüchteten Gefühle von Bedrohung zunehmen, was wiederum zur Ablehnung von »Fremden« und zu mehr Straftaten gegen Geflüchtete führen sollte. Die Kontakttheorie (vgl. Pettigrew und Tropp 2011) hingegen sagt, dass mit einer größeren Zahl von Ausländer*innen und geflüchteten Menschen in der Nachbarschaft Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung zunehmen, was wiederum Vorurteile, Diskriminierung und Gewalt vermindern sollte.

Wir sind dieser Frage empirisch nachgegangen. Dazu haben wir Daten der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik von 2015 verwendet und analysiert, wie die Zahl fremdenfeindlicher Straftaten in den 402 deutschen Kreisen und kreisfreien Städten mit wichtigen demographischen und strukturellen Merkmalen der Kreise zusammenhängt.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Zahl der Ausländer*innen, die in einem Kreis leben, negativ mit der Zahl fremdenfeindlicher Straftaten zusammenhängt: je höher der Ausländeranteil in einem Kreis, umso geringer die Anzahl fremdenfeindlicher Straftaten. Wir fanden darüber hinaus einen positiven Zusammenhang der Anzahl fremdenfeindlicher Straftaten mit der Anzahl von Straftaten in den Kreisen insgesamt und mit der Lokalisation der Kreise in Ost- oder Westdeutschland: In Ostdeutschland gibt es deutlich mehr fremdenfeindliche Straftaten als im Westen. Die Anzahl fremdenfeindlicher Straftaten ist unabhängig von der Anzahl Geflüchteter in den Kreisen. All diese Zusammenhänge lassen sich nachweisen, auch wenn man für wichtige mögliche weitere Einflussfaktoren statistisch kontrolliert, wie für die ökonomische Situation und die Arbeitslosigkeit in den Kreisen.

Insgesamt stützen unsere Befunde die Kontakthypothese: Mit einer höheren Zahl von Ausländer*innen im Kreis nehmen die Kontakte zu und reduzieren Ablehnung und Gewalt – ein Mechanismus, den wir auch schon in anderen Studien nachweisen konnten (vgl. Wagner et al. 2006). Und wir finden keine Hinweise darauf, dass besondere Ängste und Befürchtungen im Zusammenhang mit Zuwanderung eine bedeutsame Triebfeder für fremdenfeindliche Straftaten sind.

Kontakt hilft, Fremdenfeindlichkeit zu reduzieren. Unsere Befunde haben praktische Bedeutung: Es macht Sinn, Kontakte zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft aktiv zu fördern. Das sollte beispielsweise berücksichtig werden, wenn es um Fragen der demographischen Zusammensetzung von Wohnbezirken geht oder um die Zusammensetzung von Schulen und Schulklassen. Empirisch nachgewiesen ist auch (vgl. Lemmer und Wagner 2015), dass Programme zur Förderung von interkultureller Kompetenz, die darauf basieren, Kontakte zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft zu fördern, tatsächlich wirksam sind.

Literatur

Die Ergebnisse wurden jetzt veröffentlicht in: Wagner, U.; Tachtsoglou, S.; Kotzur, P.F.; Friehs, M.T.; Kemmesies, U. (2020): Proportion of foreigners negatively predicts the prevalence of xenophobic hate crimes within German districts. Social Psychology Quarterly, S. 195-205.

Weitere Quellen

Lemmer, G.; Wagner, U. (2015): Can we reduce prejudice outside the lab? A meta-analysis of direct and indirect contact interventions. European Journal of Social Psychology, Vol. 45, Nr. 2, S. 152-168.

Pettigrew, T.F.; Tropp, L. (2011): When groups meet – The dynamics of intergroup contact. New York: Psychology Press.

Stephan, W. G.; Renfro, C. L. (2002): The role of threat in intergroup relations. In: Mackie, D.M.; Smith, E.R. (eds.): From prejudice to intergroup relations. New York: Psychology Press, S. 191-207.

Wagner, U.; Christ, O.; Pettigrew, T.F.; Stellmacher, J.; Wolf, C. (2006); Prejudice and minor­ity proportion: Contact instead of threat effects. Social Psychology Quarterly, Vol. 69, Nr. 4, S. 380-390.

Dr. Ulrich Wagner ist Professor für Sozial­psychologie im Ruhestand an der Philipps-Universität Marburg und aktiv im Vorstand von W&F.

Wir können auch hier nicht atmen

Wir können auch hier nicht atmen

von Tarek Shukrallah

Die in den vergangenen Wochen im Globalen Norden wie ein Lauffeuer um sich greifenden Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt brachten auch in Deutschland die Frage auf das Tapet der weißen Allgemeinbevölkerung, ob diese Gesellschaft, ob der Staat und seine Mitarbeiter*innen ein Rassismusproblem haben. Von Minneapolis nach Mittelhessen diskutiert mit einem Mal die Mittelklasse strukturellen Rassismus. Für Schwarze Menschen und People of Color ist die Debatte ein zweischneidiges Schwert. Endlich, sagen einige. Andere mahnen zu Misstrauen. Denn: Während Horst
Seehofer eine Studie zu rassistischen Polizeikontrollen, dem »racial profiling«, ablehnt, möchte er nun Gewalt gegen Polizist*innen erforschen lassen. Nach Ausschreitungen in Stuttgart betreibt die ermittelnde Behörde Stammbaumforschung – bei den migrantisierten Tatverdächtigen, versteht sich. Man könnte sagen: Auch das ist ein Debattenergebnis. Und es deutet darauf hin, warum trotz der besonderen Herausforderungen in Zeiten der Pandemie auch in Deutschland in unzähligen Groß- und Kleinstädten Zehntausende betroffene Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straße gegangen
sind.

Rassistische Polizeigewalt ist Alltag für Schwarze Menschen und People of Color. Tagtäglich werden an Bahnhöfen und an anderen öffentlichen Plätzen in der Bundesrepublik nicht-weiße Menschen von Polizei und Sicherheitsdiensten systematisch kontrolliert und schikaniert. Die Initiative »Death in Custody« konstatiert: Seit 1990 gab es 139 Todesfälle von Schwarzen Menschen und People of Color in Gewahrsam, zehn davon alleine im vergangenen Jahr. 2018 verbrannte Amad Ahmad in einer Zelle der JVA Kleve, nachdem er zwei Monate fälschlich in Polizeigewahrsam gehalten wurde. Man hatte ihn mit einer
völlig anderen Person mit gänzlich anderem Namen und Aussehen verwechselt. Doch für den Innenminister und seine Mitarbeiter*innen ist die Migration die Mutter aller Probleme. In Hanau wurden am 19. Februar zehn Menschen in einer Shisha-Bar von einem Rechtsterroristen ermordet. Der Vorfall wäre nicht denkbar ohne die Kriminalisierung von solchen überwiegend migrantisch geprägten Orten. So sorgte etwa das Nordrhein-westfälische Innenministerium unter Herbert Reul in den vergangenen Jahren systematisch für Razzien in Shisha-Bars, ohne je belastbares Material zu finden. Für viele Schwarze
Menschen und People of Color in Deutschland gehören Shisha-Bars zu den wenigen Orten, an denen sie sich ohne Angst vor Fremdheits- und Diskriminierungserfahrungen aufhalten können. Es sind Orte, an deren Pforte das überwiegend jugendliche Publikum nicht gescheitert ist. Indes werden sie an den Türen der Clubs und Kneipen der Allgemeinbevölkerung abgewiesen.

Im Zusammenhang mit der in den letzten Monaten wieder lauter gewordenen Kritik an Rassismus bei Sicherheitskräften und insbesondere bei der Polizei wurden Kritiker*innen immer wieder hämisch gefragt, ob sie denn nicht im Notfall oder bei Gefahr für Leib und Leben die Polizei riefen. Dieses Argument ist so zynisch wie dumm, denn tatsächlich rufen viele Schwarze Menschen und People of Color die Polizei nicht. Das Risiko einer Kriminalisierung, Inhaftierung oder gar des Todes in Polizeigewahrsam ist zu hoch. Für Menschen mit Rassismuserfahrungen in Deutschland sind Sicherheitskräfte oftmals
einfach Sicherheitsrisiken. Die Polizei wird zur Gefahr für Leib und Leben. Als Alternative entwickelten ebenjene Gruppen Ansätze wie die »community accountability«, um selbst mit Gewalt und Kriminalität, auch und insbesondere innerhalb der eigenen Lebenswelten, umgehen zu können, ohne sich der Gefährdung durch Polizeibehörden aussetzen zu müssen.

Gewalt bei Sicherheitskräften ist nicht durch Sensibilisierung und Reflexion innerhalb der Sicherheitsapparate lösbar. Sie ist ein systemisches Problem. Es ist jene Gewalt, die wesentlich dazu beiträgt, eine bestehende Ordnung zu reproduzieren, indem sie durch systematische Marginalisierung Widerstand gegen strukturellen und direkt vermittelten Rassismus verhindert. Auf diese Weise trägt sie dazu bei, dass rassifizierte Ausbeutungsverhältnisse aufrecht erhalten werden können. Es ist nur konsequent, dass sich heute Menschen mit Rassismuserfahrungen zusammentun und politisch organisieren,
sich dem Integrationsethos widersetzen und einen Platz im Diskurs einfordern – und mit ihm radikale Veränderungen.

Tarek Shukrallah ist Politikwissenschaftler*in, politische*r Referent*in und Aktivist*in in sozialen, migrantischen bzw. ­antirassistischen sowie queeren Bewegungen und betreibt die digitale Skill-­sharing-Plattform partizipieren.org.

»Racial Capitalism« und Neoliberalismus

»Racial Capitalism« und Neoliberalismus

Workshop an der Justus-Liebig Universität, Gießen, 4.-5. Juli 2018

von María Cárdenas

Was bedeutet Solidarität im Kontext von Racial Capitalism, Neoliberalismus und der Finanzialisierung unserer Welt? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Rassismus, dem Wiedererstarken von Rechtspopulismus in Europa wie andernorts und dem Kapitalismus unserer heutigen Zeit? Mit diesen Fragen beschäftigte sich der zweitägige internationale Workshop »Solidarity Reloaded: Racial Capitalism, Neoliberalism and Financialization« an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Der Workshop wurde organisiert von Encarnación Gutiérrez, Andrea Sempértegui, María Cárdenas und Ceren Türkmen und gefördert durch das Graduate Center for the Study of Culture (GCSC) und den Lehrstuhl für allgemeine Soziologie der Universität. Das Thema wurde aus dekolonial-feministischer Perspektive und anhand verschiedener Beispiele aus Europa (Deutschland und Großbritannien) und Lateinamerika (Ecuador und Kolumbien) beleuchtet. Ziel war es, Ähnlichkeiten und Unterschiede in der spezifischen Ausformung des Dreiecks von Rassismus – Patriarchat – Kapitalismus in den lokalen Kontexten auszumachen und gleichzeitig zu versuchen, Formen des Widerstands und der Solidarität zu identifizieren.

Der Workshop wurde am ersten Tag mit der von Prof. Encarnación Gutiérrez moderierten Podiumsdiskussion »Reloading Solidarity in Dangerous Times« eröffnet. Die drei geladenen Keynote-Speaker Gargi Bhattacharyya, Santiago Castro Gómez und Christina Vega Solis teilten zunächst ihre individuelle Perspektive auf die aktuelle Konjunktur und das Konfliktpotential des Racial Capitalism, um anschließend gemeinsam zu überlegen, welche Strategien zu einer Herausforderung des rassistischen Kapitalismus und zum Widerstand führen können.

Der zweite Tag des Workshops begann mit einer Einführung in das Konzept des »Racial Capitalism« (Cedric Robinson) durch Prof. Gargi Bhattacharyya. Die Soziologin der University of East London, die sich in Büchern wie »Dangerous Brown Men« oder »Crisis, Austerity and Everyday Life« mit der Intersektionalität von Kapitalismus, Rassismus und Geschlecht und ihrem Konfliktpotential für Großbritannien befasst, forderte ein Neulesen von Robinsons »Black Marxism -The Making of the Black Radical Tradition« (1983) angesichts seiner Antizipation von vielen der heutigen Konflikte in Europa und auch andernorts. Robinson zeige in seinem Werk, dass der Racial Capitalism bereits im Feudalsystem entstand und im Rahmen von Akkumulation und Enteignung, Ausbeutung und Sklaverei, Eurozentrismus einerseits und europäisch initiierten Genoziden (beispielsweise an der ursprünglichen Bevölkerung in den Amerikas) und Besetzung andererseits die moderne westliche Ordnung erst hervorbringen konnte. In diesem Sinne seien Kapitalismus und Rassismus kein Ergebnis der historischen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte, sondern bedingten diese vielmehr. Entsprechend sei der Rassismus in Großbritannien auch nicht als Nebeneffekt des Brexits zu verstehen, sondern stehe im Zentrum dessen, was Bhattacharyya als “neues autoritäres Renationalisierungsprojekt” bezeichnet. Dieser Beitrag wurde von Ceren Türkmen, Soziologin der Uni Gießen, durch eine postkolonial-antirassistische Kritik marxistischer Ansätze ergänzt, deren Relevanz sie anschließend am Beispiel der aktuellen Krise des Migrations- und Asylregimes in Deutschland aufzeigte.

Den Nachmittag eröffnete Cristina Vega Solis, Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO) in Ecuador, mit einer kritisch-feministischen Analyse von Solidarität anhand ihrer jüngsten Forschung zur Abtreibungsdebatte in Lateinamerika, zum Erdbeben in Ecuador 2016 sowie zu feministischen Protesten, wie sie jüngst in Argentinien, Ecuador und Brasilien stattfanden. Diese Phänomene könnten nicht ohne eine intersektionale Perspektive verstanden werden, die rassistische Diskurse und Bevormundung entlang Gender sichtbar machen. So stellten Abtreibungsgegner in Ecuador das Narrativ der idealtypischen »weißen« katholischen und formell gebildeten Kleinfamilie Diskursen über verarmte indigene Familien mit vielen Kindern gegenüber, um Abtreibung als rassisiertes »Bildungs- und Entwicklungsproblem« darzustellen. Andrea Sempértegui, Doktorandin am GCSC, kommentierte Vega Solis‘ Präsentation durch eine Verknüpfung des Konzepts des Racial Capitalism von Cedric Robinson mit dem Erdbeben 2016 in Ecuador und wie dies für die Expansion von Extraktivismusprojekten genutzt wurde.

Die Konferenz schloss mit dem Panel »conceptualizing ‘raza’ – decolonial perspectives«, moderiert durch Vanessa Thompson (Uni Frankfurt). Der Keynote-Speaker Santiago Castro Gómez, Philosoph an der Universität Javeriana (Kolumbien), zeigte anhand einer genealogischen Analyse, wie die heutige rassisierte Gesellschaftshierarchie Kolumbiens durch lokale Praktiken im 16. und 17. Jahrhundert im Konflikt zwischen spanischer Krone und Elite entstand. Hiermit bestätigte er die zu Beginn von Gargi Bhattacharyya artikulierten Zusammenhänge von Kapital und Rassismus im Feudalsystem. Santiago Castro Gómez zeigte aufbauend auf dem Konzept der »Kolonialität der Macht« (Anibal Quijano), wie die »weiße« Elite ein komplexes rassisiertes Gesellschaftssystem aufbaute, um ihren privilegierten Status zur kapitalistischen Akkumulation durch Extraktivismus gegen die Interessen der spanischen Krone abzusichern. Im Gegenzug war die Entwicklung indigener Reservate in Kolumbien ein Versuch der spanischen Krone, die Privatisierung von Land und somit den Verlust der Kontrolle über das kolumbianische Territorium einzudämmen.

María Cárdenas baute auf Castro Gómez’ Genealogie auf und wandte sie auf das heutige Friedensabkommen zwischen der FARC-EP und der Santos-Regierung an. In diesem Zusammenhang werden die im Friedensabkommen anvisierten Landreformen als Versuch des Staates sichtbar, das durch die Demobilisierung der FARC nun zugängliche Land für internationale Investitionen zurückzuerobern und in diesem Kontext Land notfalls auch in Oberfläche und Untergrund aufzuteilen (um so das in der Verfassung zugestandene indigene Territorium für Fracking und andere Formen des Extraktivismus wortwörtlich unterwandern zu können). Die Nein-Kampagne gegen das Friedensabkommen, das – ähnlich wie die Abtreibungskampagne in Ecuador –angesichts der im Friedensabkommen vorgesehen Gendersensibilität katholische und evangelikale Diskurse mobilisierte und Angst vor Werteverlust schürte, kann demgemäß als eine Strategie der weißen Großgrundbesitzer gesehen werden, sich gegen den Kern des Abkommens – die Landreform – zu wehren (siehe dazu Alejandra Londoño, »Gender-Ideologie« in Kolumbien, in W&F 3-2018).

Castro Gomez, Thompson und Cárdenas diskutierten mit dem Plenum die gezielte Ermordung ländlicher, indigener, afrokolumbianischer Aktivist*innen und Opfervertreter*innen, die die existierende, durch Vertreibung und Enteignung hervorgerufene Landverteilung anprangern, die im Schatten des bewaffneten Konflikts vorangetrieben worden war, als ein weiteres Beispiel von Racial Capitalism: Die seit Unterzeichnung des Friedensabkommens gezielte und fortschreitende Ermordung von mehr als 350 Aktivist*innen löscht mit ihnen immer auch kollektives Wissen ländlicher/ethnischer Gemeinden aus, das diese Aktivist*innen bewahrten, und verhindert so auch langfristig, dass das im Friedenabkommen versprochene Mindestmaß an sozialer und territorialer Gerechtigkeit und damit die Beseitigung einer der Ursachen des bewaffneten Konflikte eingefordert wird.

Die Konferenz schloss mit Worten von Megan Ming Francis, Politikwissenschaftlerin an der University of Washington, die mit einer antirassistischen Perspektive die oft unsichtbar gemachte Bedeutung des Black Civil Rights Movement für die Demokratiebildung in den USA hervorhob und daher »Solidarität« auch mit Blick auf die aktuelle Situation in den USA kritisch hinterfragte. So seien die Akteure der politischen Kämpfe, die meist selbst Opfer der staatlichen Unterdrückung und rassistischen Polizeigewalt sind, vom öffentlichen Diskurs weitgehend ausgeschlossen, obgleich sie zur Demokratiebildung beitragen. Umgekehrt fragte sie, weshalb in einem Kampf gegen Rassismus und Gewalt – einem Kampf, der die Gesamtheit der Gesellschaft angehen sollte – diejenigen die meiste Arbeit machen, die hiervon betroffen sind? Wie können wir diese Form von rassisierter Arbeit und (Selbst-) Ausbeutung diskutieren, und welche Arbeit können und sollten »weiße« Aktivist*innen übernehmen, ohne für die von Gewalt betroffenen Gruppen zu sprechen? In diesem Sinne appellierte sie an die Wissenschaftler*innen, nicht stets den Staat zu betrachten, sondern Basisaktivismus zu untersuchen und hierdurch zu stärken.

María Cárdenas

US-Grenzregime und Rassismus


US-Grenzregime und Rassismus

Migration aus und durch Mexiko

von Meztli Yoalli Rodríguez Aguilera und Mirna Yazmín Estrella Vega

Ungeachtet der Bedeutung, die die nicht-dokumentierte Immigration aus Lateinamerika für das US-amerikanische Wirtschaftswachstum spielt, unterliegt sie zunehmenden Einschränkungen, die sich auf Migrant*innen in Form allgegenwärtiger Gewalt auswirken und auf rassistischen Diskursen und Praktiken beruhen. Der vorliegende Artikel analysiert ein Jahr nach dem Amtsantritt von Donald Trump, wie die Kontinuität anti-immigratorischer Politiken sich nicht nur in der Grenzpolitik zeigt, sondern auch durch andere Formen von Gewalt. Die prekäre Lage von Migrant*innen, die vor lebensbedrohlicher Gewalt in ihren Herkunftsländern fliehen, ist überdies nicht auf das US-amerikanische Gebiet beschränkt, sondern hat sich bis zur Südgrenze Mexikos ausgebreitet. Dagegen organisiert sich aber auch Widerstand.

Seit vier Jahrzehnten gibt es eine wachsende Migrationsbewegung aus Zentralamerika in die USA. Diese zu analysieren ist schwer, da das Migrationsphänomen sehr komplex ist und sich schnell verändert: Einerseits verändern sich die Vertreibungs- und Fluchtursachen, die in der wachsenden Gewalt in den Ursprungsländern liegen: Femizide und genderbasierte Gewalt, kriminelle Gewalt, politökonomische und strukturelle Gewalt. In vielen Regionen sind lebensbedrohliche Gewaltformen an der Tagesordnung, denen die Regierungen dieser Länder nur wenig oder gar nichts entgegensetzen und vor denen sich Mittel- und Unterschicht kaum noch schützen können. Diese Gewalt wird noch verstärkt durch Maßnahmen der US-amerikanischen Migrationspolitik, wie Maßnahmen zur Abschiebung und Rückführung krimineller Gang-Mitglieder aus den USA.

Mexiko ist durch die ungleichen Beziehungen zu seinem nördlichen Nachbarn, den USA, stark geprägt. Bis heute sind Millionen undokumentierter Mexikaner*innen in die USA immigriert, die ungeachtet aller Hindernisse des Transits den »American Dream« als einzige Möglichkeit betrachten, ihre sozio­ökonomischen Lebensbedingungen zu verbessern.

Die Protagonist*innen dieses Migrationsphänomens sowie die Ursprungs- und Zielorte haben sich mit der Zeit verändert. Ungeachtet dessen ist es möglich, die Migrationspolitiken der beiden Länder in fünf relevante Phasen einzuteilen:

  • Das Programm Bracero, das 1942 begann und 1964 endete und ein Resultat des nach dem Zweiten Weltkrieg stark angewachsenen US-amerikanischen Bedarfs an Arbeitskräften war. Dieses Programm erlaubte die Eingliederung von Migrant*innen in den Agrar- und Industriebereichen über Zeitverträge.
  • Das Jahrzehnt der Familienzusammenführung (1980-1990) von Migrant*innen, die angesichts der wachsenden Nachfrage von Arbeitnehmer*innen im Agrarbereich und in der Industrie beschlossen hatten, sich in den USA niederzulassen.
  • Das Inkrafttreten des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA zwischen Kanada, USA und Mexiko im Jahr 1994. Dessen unerfüllte Erwartungen waren in den USA Anlass, die undokumentierte Migration und den Zugang zu besser vergüteter Arbeit zu regulieren. Dies mündete in Anti-Immigrationsgesetzen. Beispiele hierfür sind das Gesetz 187 von Kalifornien, welches 1994 erlaubte, undokumentierten Migrant*innen soziale Leistungen im Gesundheits- und Bildungsbereich zu verwehren, und das föderale Gesetz »Illegal Immigration Responsibility Act«, welches die Inhaftierung und Abschiebung von Migrant*innen aufgrund geringfügiger Verstöße ermöglichte.
  • Der »Krieg gegen den Terror« nach den Angriffen auf die Twin sTowers in New York 2001 motivierte zur Verstärkung der Grenzsicherheit und der Migrationskontrollen.
  • Unter der Obama-Administration stiegen zwischen 2009 und 2012 die Abschiebungen auf ein historisches Hoch. 3,2 Millionen Ausländer*innen – davon 2,3 Millionen Mexikaner*innen – mussten die USA verlassen (Meza González 2014).

Der Rückblick zeigt, dass die Migrationspolitik der USA immer interessengeleitet war und mit der Zeit immer restriktiver wurde. Das führte dazu, dass die Lebensbedingungen nicht nur der mexikanischen, sondern aller zentralamerikanischen Migrant*innen sich deutlich verschlechterten.

Transit durch Mexiko

Seit den 1980er Jahren entwickelten sich in Zentralamerika große Migrationsbewegungen; Mexiko wurde dabei einerseits Zielland, vor allem aber Transitland Richtung USA. Die bewaffneten Auseinandersetzungen – vor allem in Guatemala, El Salvador und Nicaragua – forcierten seit den 1970er Jahren die Fluchtbewegung. In den 1990er Jahren motivierten Naturkatastrophen in Lateinamerika und ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft Menschen, ihr Land zu verlassen und den »American Dream« zu verfolgen. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wächst im Migrationsstrom der Anteil von Frauen und Kindern, die aus ihren Herkunftsländern fliehen, um sich vor der extremen Gewalt gegen sie in mittlerweile vielen gesetzesfreien Gebieten in Sicherheit zu bringen. Diese Gewalt, sowohl zwischen lokalen kriminellen Banden als auch gegen die Zivilbevölkerung, wird verstärkt durch die Zusammenarbeit dieser Banden mit der organisierten Kriminalität, wie den mexikanischen »Los Zetas« oder dem Golf-Kartell.

Heute kann das gesamte mexikanische Gebiet als ein Transitgebiet gesehen werden, durch das laut ACNUR (2016) jährlich knapp eine halbe Million Menschen aus dem zentralamerikanischen Länderdreieck (El Salvador, Guatemala und Honduras) versuchen, in die USA zu kommen. Unter den schlimmsten Formen der Gewalt, denen sich Migrant*innen während des Transits ausgesetzt sehen, sind Entführungen, Erpressung, Folter, Zwangsrekrutierung und das »Verschwindenlassen« von Personen, vor allem wenn Migrant*innen in die Hände von Gruppen aus dem Drogenhandel kommen, die das Gebiet kontrollieren oder um dieses kämpfen. Für Migrantinnen und Minderjährige kommen Formen sexueller Gewalt und Menschenhandel hinzu. Letzteres geht von der organisierten Kriminalität aus, geschieht aber auch in Zusammenarbeit mit korrupten mexikanischen Behörden.

Die restriktive Migrationspolitik der USA wird als Maßnahme zur Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit und als Kampf gegen den Drogenhandel an US-amerikanischen Grenzen gerechtfertigt. Damit wird ein angeblich bestehender Zusammenhang von Migration und steigender Kriminalität hergestellt.

Von 1989 an unterstützten die USA eine Politik der »Kooperation« mit der mexikanischen Regierung, um die zentralamerikanischen Migrant*innen aufzuhalten. Dies ging so weit, dass Mitglieder des US-Auslandsgeheimdienstes CIA auf mexikanischem Gebiet an strategischen Punkten positioniert wurden, um die undokumentierte Migration aus dem mexikanischen Bundesstaat Chiapas in die USA zu unterbinden. Mexiko beteiligte sich aktiv an den Grenzkontrollen zwischen Zentralamerika und den USA. Mit Verweis auf den Drogenhandel und den illegalen Holzeinschlag wurde die Zahl von Polizeiagent*innen vervielfacht.

Durch den Druck, den die USA auf Mexiko ausübten, begann mit der »Operation Gatekeeper« 1994 der groß angelegte Versuch, die Migration aus Zentralamerika in die USA bereits an der Südgrenze Mexikos zu unterbinden. Mit den Programmen »Plan Sur« und zuletzt »Frontera Sur« (Villafuerte Solís 2004) sollten die südlichen Landesgrenzen quasi abgeriegelt werden. Das damit einhergehende fremdenfeindliche Verhalten der mexikanischen Behörden förderte auch die Fremdenfeindlichkeit weiter Teile der mexikanischen Bevölkerung und erschwerte einen transparenten Diskurs über die Migration. Mittlerweile werden alle lokalen Probleme in Mexiko auf die Migrant*innen geschoben. Hierdurch steigt für Migrant*innen die Gefahr von Gewaltszenarien. Ein besonders schockierendes Beispiel ist das Massaker an 72 zentral- und südamerikanischen Migrant*innen (58 Männer und 14 Frauen) in San Fernando im Bundesstaat Tamaulipas im Jahre 2010, das dem Kartell der organisierten Kriminalität »Los Zetas« zugeschrieben wird.

Frauen auf der Flucht sind zusätzlich von Gewalt betroffen. So wurden laut einem Bericht von Amnesty International (2010) sechs von zehn Migrant*innen in Mexiko Opfer sexueller Gewalt. In einem neuen Bericht von Ärzte ohne Grenzen (2017), der auf 429 Interviews mit Migrant*innen basiert, wurden 31,4 % der Frauen und 17,2 % der Männer während ihres Transits in Mexiko Opfer irgendeiner Form sexueller Gewalt.

Diese Formen von Gewalt und Straflosigkeit sind nur möglich, weil das Leben von Migrant*innen keine Bedeutung mehr hat. Diese Gewalt muss als eine Politik des Todes verstanden werden (Mbembe 2003), bei der der ausländische Körper als Wegwerfkörper betrachtet wird.

Rassismus und Kriminalisierung des »Andersseins«

Als Donald Trump, ein Multimillionär mit weltweiten Investitionen, am 9. November 2016 die Präsidentschaft des mächtigsten Landes der Welt übernahm, war das für viele ein tragischer Tag. Seine Wahlkampagne fußte auf Rassismus und Fremdenfeindlichkeit: Trump versprach als Lösung gegen die Migration aus Mexiko und Zentralamerika den Bau einer »Mauer«. Das Paradox liegt allerdings darin, dass Trump einerseits mit einer rassistischen Rhetorik den Rauswurf lateinamerikanischer Migrant*innen fordert, andererseits die Wirtschaft der USA die Arbeitskraft der Migrant*innen aber braucht.

Trumps Triumph ist nicht nur Ausdruck eines radikalen Rechtsrucks, wie wir ihn in anderen Ländern der Erde momentan auch erleben, er bedeutet auch die Hinwendung zu explizitem Rassismus als einer legitimen Form der Politik.

Eine der verheerendsten Handlungen Trumps gegen Migrant*innen ist die Einstellung des 2012 von der Obama-Regierung initiierten Programms DACA (Deferred Action for Childhood Arrivals).1 DACA hatte Personen, die als Minderjährige unter 16 Jahren ins Land gekommen waren, darin unterstützt, eine Arbeitserlaubnis und Fahrerlaubnis für zwei Jahre zu erhalten, mit der Möglichkeit der Verlängerung. Aktuell haben um die 800.000 junge Migrant*innen – die so genannten Dreamer – in den USA eine DACA Bescheinigung, die mit dem Auslaufen dieses Programms in ihre Ursprungsländer abgeschoben würden. Viele dieser von Zwangsrückführung Betroffenen kennen weder die Kultur noch die Sprache ihrer Ursprungsländer; sie haben meistens auch keine Angehörigen, die sie bei ihrer Ankunft unterstützten können. Stattdessen wären sie vollständig auf sich alleine gestellt und ohne Anpassungshilfen (wie Bildungsangebote oder Arbeitsmaßahmen), was ihnen den Aufbau eines neuen Lebens zusätzlich erschweren würde. Auch die öffentlichen Maßnahmen, die von Ländern wie Guatemala oder El Salvador im Zusammenhang mit Abschiebungen unternommen werden, haben bis jetzt kaum positive Auswirkungen. Im Gegenteil, die Zerrüttung der Gesellschaft, die strukturelle Gewalt und die wirtschaftliche und kulturelle Schwäche der Staaten wirkt sich negativ auf das Leben der Migrant*innen und ihre Entwicklung aus.

Allein in den ersten drei Monaten seit Trumps Regierungsübernahme sind die Festnahmen von Migrant*innen um 38 % angestiegen. Dies spiegelt die Prioritäten und die Sicherheitsstrategie der US-Regierung wieder. Gleichzeitig wird die kapitalistische Ausbeutung von Illegalisierten weiter angekurbelt und durch die konstante Angst vor Abschiebung gefördert. Shannon Speed bezeichnet dieses Phänomen als „neoliberalen Multikriminalismus“, eine postmultikulturelle Phase des Staates, in der die Aufrechterhaltung der neoliberalen Ökonomie mit der Herausbildung autoritärer Gesetze, Militarisierung und Kriminalisierung einerseits und finanziellen Gewinnen andererseits einhergeht. In dieser Dynamik besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Rassismus und dem Kapitalismus in den staatlichen Politiken der USA.

Speziell bezogen auf Zentralamerika hat Trump das Programm für zentral­amerikanische minderjährige Flüchtlinge (CAM)2 beendet. Dieses Programm gab Minderjährigen aus El Salvador, Honduras und Guatemala, die alleine in die USA gereist waren, den Flüchtlingsstatus und die Möglichkeit der familiären Wiedervereinigung. Eltern, die in den USA eine legale Aufenthaltserlaubnis hatten, konnten Asyl für ihr Kind aus Zentralamerika erhalten. Es wird davon ausgegangen, dass seit 2009 mehr als 200.000 Kinder Asyl in den USA beantragt haben. Mit der Beendigung dieses Programms werden tausende Kinder und Jugendliche keine Möglichkeit der legalen Wiedervereinigung mit ihrer Familie mehr haben. Der Versuch, ihr Leben vor der strukturellen und politischen Gewalt und der in ihren Ursprungsländern weit verbreiteten Bandengewalt durch Migration zu schützen, wird hierdurch kriminalisiert.

Im US-Bundesstaat Texas – in dem Trump gewann – wurde im Mai 2017 das Gesetz SB4 verabschiedet, um auch in den so genannten »sanctuary cities« (Zufluchtsstädten) die Kooperation der lokalen Behörden mit der nationalen Migrations- und Zollbehörde (Immigration and Customs Enforcement) zu erzwingen. Mit dem neuen Gesetz SB4 sind alle Polizist*innen sowie Gefängnisbehörden dazu verpflichtet, mit den Migrationsbehörden zusammenzuarbeiten. Das trägt auch zum Anwachsen rassistischen Verhaltens bei, da Polizist*innen von Menschen mit phänotypisch »lateinamerikanischen« Merkmalen Ausweispapiere verlangen können und bei nichtvorhandenen oder fehlerhaften Papieren verpflichtet sind, diese Menschen festzuhalten und abzuschieben. Hierdurch wird Alltagsverhalten, wie der Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen oder die Mobilität, zu einem Sicherheitsrisiko für Lateinamerikaner*innen; »racial profiling« gegen Latin*s wird legalisiert.3 Einige Bundesrichter gingen gegen dieses Gesetz in Berufung und konnten es so bis auf Weiteres stoppen. Auch zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen protestierten gegen dieses entmenschlichende und rassistische Gesetz.

DACA, CAM und SB4 sind nur drei Beispiele für die rassistische Politik, die Trump im ersten Jahr seiner Amtszeit durchgesetzt oder, wie im Fall des SB4 Gesetzes in Texas, unterstützt hat.

Neben der Regierungspolitik ist auch der an Legitimation gewinnende Alltagsrassismus Besorgnis erregend. Die Regierung Trump trägt nicht nur durch politische Initiativen von oben zu einer Kriminalisierung von Migration bei, sie sorgt auch dafür, dass rassistisches Verhalten gegen die »nichtweiße« Bevölkerung als normal gilt. Durch diese Regierung wird die weiße Vorherrschaft nicht nur legitimiert, sondern zunehmend auch repräsentiert. Das wurde besonders während der Proteste in Charlottesville, Virginia, im August 2017 deutlich, bei denen weiße Männer verschiedener Gruppierungen, wie Neonazis und Neo-Konföderalisten, gegen die Entfernung der Statue des Konföderalisten Robert E. Lee protestierten und den weißen Nationalismus der US-amerikanischen Ultrarechten und den verschärften Rassismus verteidigten.

Antirassistische Kämpfe und Widerstand

Ungeachtet der oben genannten Geset­zesinitiativen und der Normalisierung von Rassismus und institutioneller Gewalt in den USA gibt es aber auch Widerstand von unten gegen die verschiedenen Gesichter der Unterdrückung. Die Bewegung »Black Lives Matter« sowie die Bewegungen von Migrant*innen in vielen Städten des Landes richten sich gegen Polizeigewalt, gegen anti-schwarzen Rassismus sowie gegen die Kriminalisierung der Migra­tion. Zu den Protestformen gehören Initiativen, um Druck auf den US-Kongress auszuüben, genauso wie künstlerische Ausdrucksformen, z.B. Wandmalereien oder Lieder gegen die Gewalt und den Rechtsruck. Unterschiedliche soziale Gruppen haben gemeinsame Allianzen gegründet, um gegen die neoliberale und rassistische Politik Trumps vorzugehen.

Diese Formen des Widerstands sind nicht nur im Inneren des US-Imperiums sichtbar, sondern sie breiten sich geographisch aus, wie an der »Karawane zentralamerikanischer Mütter« deutlich wird. Diese Frauen haben vor drei Jahren den Kampf gegen Hass und Gewalt aufgenommen und auf ihrem Marsch mittlerweile 4.000 Kilometer auf mexikanischem Gebiet zurückgelegt. Mit der Suche nach ihren Kindern, die während des Transits verschwunden und seitdem vermisst sind, verurteilen diese Frauen nicht nur die Gewalt, der die Menschen beim Transit der verschiedenen Grenzen aufgrund der Institutionalisierung fremdenfeindlicher und anti-immigratorischer Politiken und der Gewalt krimineller Netzwerke ausgesetzt sind. Mit ihrem Weg, ihrer Erinnerung und ihrer Würde bieten die Frauen der Welt die Möglichkeit an, auch weiterhin an eine andere Welt zu glauben und an ihrem Aufbau mitzuwirken.

Ein Jahr nach Trumps Amtsantritt ist es notwendig, dass von den sozialen Bewegungen – wie die Zapatist*innen sagen würden, von unten und von links ausgehend – sich mehr Widerstand organisiert. Ein Widerstand, der von den Herkunftsländern der Migrant*innen ausgehend sich mit dem in den USA verknüpft. Als »change agents« – als Akteure des sozialen Wandels, die ein uneingeschränktes Recht auf ein Leben in Würde haben – müssen die Migrant*innen aktiv werden gegen die verschiedenen Formen struktureller und alltäglicher Gewalt, der sie in ihren Herkunftsländern, während ihres Transits in Mexiko und in den USA ausgesetzt sind.

Die neoliberale und neofaschistische Politik Trumps ist mit Hassrhetorik und Terror überladen. Die »nichtweiße« Bevölkerung (Latin*s, Afroamerikaner*innen, Native Americans und Muslime) dient als Sündenbock für die negativen Effekte des Kapitalismus, der nur aufgrund der Herrschaftsbeziehungen entlang der Idee von »Rasse« funktioniert (Garcia 2016). Die Gruppen, die die Regierung ausweist, symbolisch unsichtbar machen oder verschwinden lassen will, streiten für ihr Recht auf ein Leben in Würde in einem anderen Land, auf ein Leben ohne Rassismus und Gewalt.

Zweifellos ist der Weg des Widerstands lang. Es geht um das, was Raquel Gutiérrez die Produktion des Gemeinen“ (Produktion einer Gemeinschaft) nennt (Gutiérrez Aguilar 2015). Indem Migrant*innen ihre Rechte und ihr Recht auf Existenz einfordern und sich in ihren Gemeinden organisieren und die Möglichkeiten der transnationalen Teilnahme aufzeigen, tragen sie dazu bei, die Welt gerechter zu machen. Dieser antirassistische und anti-fremdenfeindliche Kampf ist ein Kampf des Überlebens, bei dem die Migrant*innen ihren Körper einsetzen, bei dem ihre Familie auf dem Spiel steht. Es ist ein Kampf für das Leben.

Anmerkungen

1) Auf Deutsch etwa: Aufgeschobene Handlung bei Ankünften im Kindesalter. [die Übersetzerin]

2) Auf Englisch: Central American Minors (CAM) Refugees Program.

3) Als »latino« oder »latina« (im Folgenden: Latin*) bezeichnen die Autorinnen sowohl Lateinamerikaner*innen als auch US-Bürger*innen, die bestimmte phänotypische und/oder kulturelle Merkmale aufweisen, die einer lateinamerikanischen Herkunft zugeschrieben werden, während Lateinamerikaner*in eine Aussage über die (nicht US-amerikanische) Staatsbürgerschaft beinhaltet. Das »racial profiling« degradiert US-amerikanische Staatsbürger*innen mit lateinamerikanisch definierten Merkmalen also zu Staatsbürger*innen zweiter Klasse, deren Staatsbürgerschaft grundsätzlich erst einmal zur Debatte steht und bewiesen werden muss. [die Übersetzerin]

Literatur

ACNUR (2017): México Fact Sheet. Ciudad de México. ACNUR

Amnistía Internacional (2010): Informe Víctimas Invisibles – Migrantes en Movimiento en México. Editorial Amnistía Internacional, Madrid.

García, J. A. (2016): Reseña – Indios, negros y otros indeseables. Capitalismo, racismo y exclusión en América Latina y el Caribe. Iberoamérica Social: revista-red de estudios sociales VI , S. 163-166.

Gutiérrez Aguilar, R. (2015): Horizonte Comunitario-Popular – Antagonismo Y Producción de Lo Común En América Latina. Puebla, Pue: Benemérita Universidad Autónoma de Puebla, Instituto de Ciencias Sociales y Humanidades »Alfonso Vélez Pliego«.

Mbembe, A. (2003): Necropolitics. Public Culture, Vol. 15, No. 1, S. 11-40.

Médicos Sin Fronteras (2017): Forzados a Huir Del Triángulo Norte de Centroamérica – Una Crisis Humanitaria Olvidada. Ciudad de México.

Meza González, L. (2014): Mexicanos deportados desde Estados Unidos – Análisis desde las cifras en Migraciones Internacionales. Tijuana: El Colegio de la Frontera Norte, S. 265-276.

Speed, S. (2016): State Interpellations – Indigenous Women Migrants in the Era of Neoliberal Multicriminalism. Critique of Anthropology, Vol. 26, No. 3, S. 1-22.

Villafuerte Solís, D. (2004): La Frontera sur de Me´xico – del TLC Me´xico-Centroame´rica al Plan Puebla-Panama´. México D.F.: Plaza y Valdéz.

Meztli Yoalli Rodríguez Aguilera ist Sozialanthropologin. Sie ist Doktorantin in Lateinamerikanischen Studien mit Schwerpunkt auf Sozialanthropologie an der Universität Texas in Austin. Sie arbeitet zu den Themen Feminismus, Rassismus, dekoloniale Epistemologien, staatliche Gewalt und soziale Gerechtigkeit.
Mirna Yazmín Estrella Vega ist Absolventin des Fachs Lateinamerika-Studien mit Schwerpunkt und einem Master in Frauenstudien. Zurzeit promoviert sie in Lateinamerikastudien. Ihre Schwerpunkte sind Migration von Frauen, zentralamerikanische Migration, lateinamerikanische dekoloniale Feminismen, Friedenserziehung und Kultur des Friedens.

Aus dem Spanischen übersetzt von María Cárdenas.

Flucht, Stadt und Rassismus

Flucht, Stadt und Rassismus

Geflüchtete in europäischen Städten

von René Kreichauf

Lagerähnliche Aufnahme- und Unterbringungspraktiken wurden im Kontext einer europäischen Angst vor Flüchtlingen als Teil asylfeindlicher Gesetzesvorhaben über Jahrzehnte etabliert. Die städtische Wohnversorgung von Geflüchteten spiegelt daher die Verräumlichung einer Gesetzgebung wider, die auf Ausgrenzung zielt. An den Beispielen Kopenhagen, Berlin und Madrid zeigt der Artikel die Strukturen, rassistischen Motive und Folgen dieser Lagerunterbringung auf.

Bis heute hat sich das System der Lagerunterbringung – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa – verstetigt und fortwährend perfektioniert: Mittlerweile werden in allen EU-Mitgliedsstaaten Geflüchtete größtenteils in so genannten Aufnahme- und Gemeinschaftsunterkünften in oder fernab von Städten zwangsuntergebracht. Der Umgang mit Geflüchteten, konkrete integrationspolitische Maßnahmen sowie insbesondere die Bereitstellung von Infrastrukturen und Wohnraum erfolgen zumeist lokal, aber nicht ohne Bezug zur europäischen und nationalen Flüchtlingspolitik.

Die Etablierung des Lagers in Kopenhagen, Berlin und Madrid

In Dänemark wird die Unterbringung der Asylsuchenden zentralistisch gesteuert. Das Udlandsservice (Einwanderungsbehörde) in Kopenhagen ist dem dänischen Justizministerium unterstellt und für das Asylverfahren und die Unterbringung zuständig. Es beauftragt das dänische Rote Kreuz oder Kommunen mit der Wohnraumversorgung. Die Unterbringung in Zentren ist in Dänemark Teil des Asylverfahrens und obligatorisch. Die Verteilung der Unterkünfte und von anerkannten Flüchtlingen erfolgt anhand der »Kommunekvoter«, einer Quote für die Zuweisung von Zugewanderten und Geflüchteten. Die Quote wird anhand der Einwohner_innenzahl einer Stadt und des Anteils (aller) Ausländer_innen berechnet. Kommunen, die bereits einen allgemein hohen Migrant_innenanteil haben (so genannte »Zero Communes« wie Kopenhagen, Arhus und Aalborg), dürfen keine weiteren Geflüchteten aufnehmen. In Kopenhagen gibt es daher keine Unterkünfte. Die Lager sind hier räumlich isoliert in Wäldern und alten Militäranlagen im Umland angelegt.

In Spanien werden die Lager direkt von der Subdirectora General Adjunta de Integración de los Inmigrantes (Integrationsbehörde) des Ministeriums für Arbeit und Soziales betrieben. Sie sind ein fester Bestandteil des spanischen Integrationsprogramms für Asylsuchende, das auf eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt und das Bildungssystem und letztlich auf die Teilhabe der Flüchtlinge an der spanischen Gesellschaft abzielt. Mehr als die Hälfte aller Asylsuchenden in Spanien werden – zumindest in den ersten Wochen nach ihrer Ankunft – in Madrid untergebracht: Zwei (von vier) der staatlich betriebenen Centros de Acogida a Refugiados (ähnlich den deutschen Gemeinschaftsunterkünften), ein Abschiebelager, von Nichtregierungsorganisationen angemietete Wohnungen sowie Spaniens einzige Erstaufnahmeunterkunft befinden sich in der Hauptstadt. Obwohl sich die Unterkünfte insgesamt durch ihre Lage in Nachbarschaften auszeichnen, sorgt die Architektur der Unterkünfte (vergitterte Fenster, Eingangstore, hohe Zäune etc.) für räumliche Barrieren.

In Deutschland ist die Aufnahme und Unterbringung der Asylsuchenden im Asylverfahrensgesetz sowie im Asylbewerberleistungsgesetz geregelt. Der »Königsteiner Schlüssel« entscheidet über die Verteilung der Geflüchteten auf die Bundesländer. Die konkrete Umsetzung der Gesetze und die Entscheidung über die Wohnformen obliegen den Ländern und Kommunen. Berlin ist, trotz der Möglichkeit, nach drei Monaten Aufenthalt privaten Wohnraum anzumieten, durch die Herausbildung eines Lagersystems geprägt, das aus drei offiziellen Erstaufnahmeeinrichtungen sowie ca. 60 Gemeinschafts- und Notunterkünften besteht und in dem ca. 75% der rund 40.000 Asylsuchenden untergebracht sind (Stand August 2015). Aufgrund der relativen Entscheidungshoheit über die Art der Wohnversorgung, die Auswahl von Betreiberfirmen bzw. -organisationen und von Standorten kann daher durchaus von einer Lagerpolitik als Stadtpolitik gesprochen werden.

Die untersuchten Städte beherbergen jeweils drei Lagerformen: Erstaufnahmeeinrichtung, Gemeinschaftsunterkunft und Abschiebezentrum. In jüngerer Zeit wird ein Trend zur Zusammenführung der unterschiedlichen Funktionen erkennbar (Flughafenverfahren, Gemeinschaftsunterkünfte auch als Erstaufnahmezentren und Orte der Abschiebung, zentrale Lagerkomplexe wie Sandholm in Dänemark oder Tempelhof in Berlin). Durch die Dublin- und EURODAC-Verordnungen, die einen EU-weiten Austausch über die Identität der Flüchtlinge ermöglichen, sowie durch die Vereinheitlichung der Aufnahmebedingungen hat sich zudem ein untereinander verbundenes Geflecht von Lagern mit dem Ziel der europaweiten Organisation der Fluchtmigration und der Unterbringung herausgebildet (Kreichauf 2015).

Das Lager als sozialräumliche Exklusionsfigur und als Instrument der Abschreckung

Die (offizielle) politische und verwaltungstechnische Rechtfertigung für die Anlage der Massenunterkünfte verläuft in allen Fallbeispielen nach folgendem Argumentationsmuster: Der Anstieg der Zahl der Flüchtlinge war bzw. sei unvorhersehbar und zwinge Entscheidungsträger_innen zu einer spontanen und effizienten Antwort. Da die angespannten Wohnungsmärkte die Flüchtlinge nicht absorbieren können und die Unterbringung in privatem Wohnraum mit hohem Zeit- und Organisationsaufwand verbunden sei, entstehe ein Handlungsdruck, auf den nur pragmatisch mit der schnellen Bereitstellung großer Unterkünfte für die »Masse« der Asylsuchenden reagiert werden könne. So behauptete ein Sprecher der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales: „Das ist einfach ein Gebot der schieren Not […]. Wir müssen kurzfristig reagieren. Da sind Wohnheime eben auch ein notwendiges Übel.“

Deutlich werden an diesem Vorgehen vor allem die Konstruktion eines fortwährenden Ausnahmezustandes und die Problematisierung der steigenden Flüchtlingszahlen, die die Massenunterkunft als vermeintlich unvermeidbare Reaktion legitimieren. Bei genauerer Betrachtung des empirischen Materials werden jedoch vier zentrale Ziele und soziopolitische Funktionen der Unterbringung in Lagern deutlich: 1.sozialräumliche Exklusion, 2. Abschreckung, 3. Disziplinierung und ökonomische Ausbeutung sowie 4. Kontrolle und unmittelbarer Zugriff auf die Flüchtlinge.

1. Sozialräumliche Exklusion

Anhand von 35 Kategorien wurde im Rahmen der Studie »The European Fortress City« die sozialräumliche Exklusion in zehn Unterkünften in den untersuchten Städten hinsichtlich ihrer Lage, ihren räumlichen Ausgrenzungstendenzen sowie symbolischer und individueller Isolationsmechanismen bewertet. Auffällig ist, dass vor allem die Erstaufnahmeeinrichtungen physisch und symbolisch von ihrer Umgebung abgetrennt sind. In Dänemark ist die systematische räumliche Ausgrenzung der Asylsuchenden – politisch gesteuert durch die »Kommunekvoter« – am offensichtlichsten. Alle Unterkünfte sind außerhalb städtischer Siedlungen angelegt. Besonders prägnant ist die Lage und Struktur des Center Sandholm. Es bildet einen nach außen abgeschotteten Raum, der über Zäune und Mauern sowie eine Pförtneranlage und Einlass- bzw. Ausgangskontrollen abgesichert wird. Unmittelbarer Nachbar des Center ist ein militärischer Stützpunkt der dänischen Armee samt Schießübungsgelände.

2. Abschreckung

Alle interviewten Flüchtlingsorganisationen und -initiativen in Berlin und Kopenhagen hoben die Bedeutung des Diskurses über den Missbrauch des Asylrechts und sozialstaatlicher Leistungen hervor, der als Instrument für die Einführung der Lagerunterbringung genutzt wird. In diesem Zusammenhang ist das Flüchtlingslager ein Instrument der politisch forcierten Abschreckung weiterer Migrantinnen und Migranten einerseits und der Stigmatisierung der Asylsuchenden als »Sozialschmarotzer« andererseits. Das Lager hilft, das Bild »fremder Eindringlinge« zu konstruieren, und dient gleichzeitig als Rechtfertigung für den Umgang mit dieser Gruppe.

3. Disziplinierung und ökonomische Ausbeutung

In Madrid funktioniert das Heim als ein Ort, der die Integration durch gezielte Integrationsmaßnahmen, Sprachunterricht und Arbeitsmarktvorbereitungskurse fördern soll.„Das ist keine Unterkunft zum Essen und Schlafen, sondern es ist eine Unterkunft mit einem Arbeitsprogramm“, erläuterte eine Mitarbeiterin einer Unterkunft. Das Programm korreliert mit der sozialräumlichen Struktur der Unterkunft als Ort unmittelbarer Kontrolle, Einschüchterung und Bestrafung. Dies wurde bei der Befragung der Heimleitung deutlich: „Manchmal nehmen sie nicht teil. Dann muss man sie per Lautsprecher ausrufen, und wir können die finanzielle Unterstützung kürzen oder ihre Zeit in der Unterkunft beschränken.“ Das Programm ist primär an der ökonomischen Integration der Flüchtlinge ausgerichtet sowie an der Bedeutung ihrer Arbeitskraft für die spanische Wirtschaft, die bis zur Krise 2008 wesentlich vom Niedriglohnsektor und vom irregulären Arbeitsmarkt abhängig war (Frenzel 2009). Dass ein direkter staatlicher Zweck des Arbeitsmarkts- und Integrationstrainings, das mit der Unterbringung in der Massenunterkunft verbunden ist, die Herausbildung einer Masse billiger Arbeitskräfte für den irregulären Arbeitsmarkt in Spanien sein könnte, wurde von vielen spanischen Interviewpartner_innen vermutet.

Disziplinierungspraktiken und ausgeprägte Machthierarchien werden nicht nur physisch-symbolisch (Militäranlagen als Unterkünfte, Gitter vor Fenstern einiger Unterkünfte etc.) erkennbar, sondern zeigen sich auch in Strategien des Heimpersonals. Im Berliner Lager Klingsorstraße werden Informationen über Mietwohnungen nur an einzelne ausgesuchte Bewohner_innen weitergegeben. Im Center Sandholm gibt es ein »Activation Program«, das aus der Reinigung aller Räumlichkeiten, Wäsche waschen und Gartenarbeit besteht. Abwesenheit wird mit der Kürzung des Taschengeldes und mit schlechteren Wohnbedingungen sanktioniert.

4. Kontrolle und Zugriff auf Geflüchtete

Schließlich garantiert die Lagerunterbringung die Kontrolle und den Zugriff auf Migrant_innen während des Asylverfahrens, wie der Berliner Flüchtlingsrat erläuterte: „Neben der Abschreckung ist immer auch ein definiertes Ziel die Kontrolle. Das heißt der Zugriff auf den Ausländer zum Zweck der Abschiebung.“ Innerhalb der Unterkünfte gibt es dabei sowohl direkte als auch indirekte Kontrollformen. Während die direkte Kontrolle vor allem durch Identitätsprüfungen der Geflüchteten und Besucher_innen, physische Grenzen wie Mauern und Zäune, Wachpersonal und – wie in Madrid – auch durch Videoüberwachung bestimmt wird, werden indirekte Kontrollmechanismen vor allem durch Eingriffe in die Privatsphäre der Bewohner_innen erkennbar. Das Personal, aber auch andere Asylsuchende, erzeugen einen Zustand permanenter Beaufsichtigung, wie ein Flüchtling im Center Sandholm beschrieb: „Alles, was ich tue, wird kontrolliert: wann ich gehe, wann ich zurückkomme, wann ich Post erhalte und wann ich Wäsche wasche.“

Das Lager als rassistisches Merkmal europäischer Asylgesetzgebung

In den Untersuchungen zu Unterbringungspraktiken als materielle Verwirklichung der Asylgesetzgebung wird unmittelbar deutlich, dass das Lager den physischen Raum administrativer und politischer Gewaltausübung in Bezug auf Geflüchtete darstellt. Es ist ein Raum, der zur Entwicklung und Manifestierung des Eigenen und des (ethnisch) Fremden dient und dafür (als gesetzlich vorgeschriebene Unterbringung für Flüchtlinge) auch politisch initiiert wurde und wird. Miles (2000) argumentiert, dass dieser Einschluss durch Ausschluss – je nach Kontext, in dem dies stattfindet, und wenn ein rassistischer Diskurs vorangegangen war – rassistisch sein kann.

Die Entstehung der Lager und die Etablierung regulierender Asylgesetze in den 1980er und 1990er Jahren gehen in Dänemark und Deutschland auf eine politische Zielsetzung zurück: Die Zuwanderung soll durch Abschreckung und durch Verschlechterung des Lebensstandards der Migrant_innen verhindert werden. Dabei wurde in aller Deutlichkeit offen auf „rassistische Argumentationsmuster rekurriert“ und „Flüchtlingen ein absichtlicher Missbrauch des Asylrechts unterstellt“ (Wichert 1994). Diese Debatte und die bis heute geltenden und weiter ausgebauten Asylrechtsverschärfungen sind laut Morgenstern (2002) durch einen kulturalistischen Rassismus, die Berufung auf kulturelle Unterschiede und die vermeintliche Unmöglichkeit eines Zusammenlebens geprägt. Morgenstern (2002), Herbert (2001) und Bade (2015) stellen fest, dass eine konservative, restriktive Reaktion der Politik vielfach bis heute als einzige Lösung gegen den vorgeworfenen Missbrauch des Asylrechts angesehen wird.

In Bezug auf Ausländergesetze und die Rolle des Staates sprechen Kalpaka und Räthzel (1990) sowie Jäger (1992) dann von Rassismus, wenn 1. die Andersartigkeit von Menschen, beispielsweise durch körperliche Erscheinungsformen und kulturelle Merkmale, herausgestellt wird, wenn 2. diese negativ (oder auch positiv) bewertet wird, die Bewertung eines Menschen also einen Bezug zu angenommenen andersartigen Erscheinungsformen und kulturellen Merkmalen herstellt, und wenn 3. diese Bewertung aus einer Position der Macht vorgenommen wird. Hall (2000) erläutert in diesem Zusammenhang, dass rassistische Ideologien immer dann entstehen, wenn die Produktion von Bedeutungen mit Machtstrategien verknüpft ist und diese dazu dienen, bestimmte Gruppen vom Zugang zu gesellschaftlichen, kulturellen und symbolischen Ressourcen auszuschließen. Essed (1991) und Link (2002) betonen, dass diese Form des Rassismus durch einen „weißen Konsens“ weniger erkennbar wird. Auch Pieper (2008) erklärt, dass durch die ideologische Funktion des Rechts als Basis des modernen Rechtsstaats diese rechtlichen Abwertungsprozesse „als normal, rechtlich geregelt und vor allem als gerecht und damit notwendig“ erscheinen und schließlich ihre rassistischen Komponenten verbergen.

In der Studie zu Berlin, Kopenhagen und Madrid wird deutlich, dass durch die Asylgesetzgebung und das Lager diskriminierende, ausgrenzende und rassisierende Markierungsprozesse stattfinden, die die Betroffenen als »fremd« und »nicht-zugehörig« bestimmen und ihnen dadurch eine untergeordnete Stellung in der Gesellschaft zuweisen. Asylsuchende in allen Untersuchungsstädten bezeichnen die Lager als Gefängnisse und als Orte, die sie nach außen kriminalisieren und in ihrer Lebensgestaltung unterdrücken. Befragte berichten von Diskriminierung (faul, da keine Arbeit; arm und dem Sozialstaat auf der Tasche liegend; kriminell, weil in einer gefängnisähnlichen Behausung lebend oder beim Schwarzfahren erwischt), die eng mit ihrem rechtlichen Status als Menschen ausländischer Herkunft mit unsicherem Aufenthalt und den durch die Asylgesetzgebung geschaffenen Zuständen zusammenhängen. Die Unterkünfte selbst spielen aufgrund ihrer Architektur, der städtebaulichen Anordnung und ihrer Lage eine besondere Rolle in der Entwicklung von Ressentiments gegenüber dem »Fremden«. Sie korrespondieren mit der rassistischen Markierung der Bewohner_innen und tragen gleichsam zu deren Verstärkung bei.

Die zwangsweise Unterbringung von Geflüchteten in Massenunterkünften erfolgt in allen Untersuchungsstädten seit der Verschärfung der jeweiligen Asylgesetzgebung in den 1980er und 1990er Jahren – nicht weil das Lager die humanitär oder ökonomisch »beste« Unterbringungsform darstellt und sinnvoll ist, sondern weil es die konkrete politische Aufgabe und Motivation verfolgt, als Symbol Zugewanderte abzuschrecken und als Raum die in einer fortschrittlichen Gesellschaft niedrigsten Lebensbedingungen anzubieten und rechtlich zu legitimieren. Die Lagersysteme und die einzelnen Lager sind als Räume der physischen wie sozialen Exklusion und als Folge der Ausländergesetzgebungen ein zentraler Bestandteil des – wie Pieper (2008) erörtert – institutionellen Rassismus.

Im Rahmen der Gesetzgebung entsteht Rassismus hiernach im Raum, und gleichermaßen entwickelt sich der Raum durch Rassismus. Die Lagerunterbringung zeigt damit zwei Dimensionen auf: Erstens werden die Geflüchteten durch die Verortung in diesem negativ konnotierten Raum als Gruppe überhaupt erst wahrgenommen – das ist der Ausgangspunkt rassisierender Markierungs- und Stigmatisierungsprozesse. Die Lagerunterbringung erzeugt Auffälligkeit durch bestimmte physische oder innere Strukturen (z.B. Konzentration von Menschen auf engstem Raum, Verlust der Privatsphäre, Abhängigkeit von Betreuenden bei der Verrichtung alltäglicher Aktivitäten,, erzwungene Erwerbslosigkeit etc.). Nach außen wird vermittelt, dass die Bewohner_innen einer Unterkunft nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, sondern als „subhuman beings“ (Untermenschen) oder „criminals and prisoners“ (Kriminelle und Zuchthäusler) wahrgenommen werden, wie Aktivist_innen in Berlin und Kopenhagen erläuterten. Diese Zustände tragen zur Entstehung von Konflikten innerhalb der Lagerbewohnerschaft und so wiederum zu Vorbehalten und irrationalen Ängsten in der Bevölkerung bei (=Rassismus durch Raumproduktion). Und zweitens ist dieser Raum überhaupt erst durch eine rassistische Gesetzgebung geschaffen wurden (= Raumproduktion durch Rassismus).

Das Lager als neuer Grenzraum in der europäischen Stadt

In allen drei Untersuchungsstädten schränken Asylgesetze den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen durch die gesetzlich vorgeschriebene Zwangsunterbringung in Lagern, Arbeits- und Ausbildungsverbote, das mittlerweile wieder in allen Untersuchungsstädten wirkende Sachleistungsprinzip, die Leistungskürzung unter das Existenzminimum und den systematischen Ausschluss von medizinischer Versorgung ein. Insgesamt verwehrt die Asylgesetzgebung damit den Geflüchteten rechtliche Möglichkeiten, für den Lebensunterhalt selbst zu sorgen und den Lebensalltag sowie das Lebensumfeld eigenständig zu wählen und zu gestalten.

Das Lager ist zentrales Resultat der Asylpolitiken auf supranationaler, nationaler und teilweise lokaler Ebene und gleichermaßen der Raum, in dem sich Asylpolitiken manifestieren. Herz (2008) bringt das prägnant zum Ausdruck: „The camp is politics having become space.“ (Das Lager ist zum Raum gewordene Politik.) Europaweit hat sich die Massenunterkunft als materielles Instrument von Asylpolitiken etabliert. Das Lager übernimmt die Funktion eines Grenzraums, der durch materielle wie symbolische Barrieren gekennzeichnet ist und den systematischen Ausschluss Zugewanderter mit unsicherem Aufenthaltsstatus von der Teilhabe am urbanen Leben garantiert – obwohl sie räumlich in (oder in der Nähe von) europäischen Städten leben.

Anmerkung

Dieser Artikel basiert auf Forschungsergebnissen des Projekts »The European Fortress City – The Socio-Spatial Exclusion of Asylum Seekers in Copenhagen, Berlin and Madrid«. Die Forschungsarbeit wurde im Rahmen des internationalen Masterstudiums »4 Cities – Unica Euro Master in Urban Studies« an der Vrije Universiteit Brussel, der Université Libre de Bruxelles, der Universität Wien, der Københavns Universitet, der Universidad Autónoma de Madrid und an der Universidad Complutense de Madrid von 2013 bis 2015 durchgeführt. Für diesen Beitrag wurden die Originalzitate aus den Interviews in Kopenhagen und Madrid ins Deutsche übersetzt.

Literatur

Klaus J. Bade (2015): Zur Karriere und Funktion abschätziger Begriffe in der deutschen Asylpolitik – Essay. Aus Politik und Zeitgeschichte/APuZ 25/2015 – Flucht und Asyl.

European Migration Network (2013): The Organisation of Reception Facilities for Asylum Seekers in Different Member States – Spain. Hrsg. von der Europäischen Kommission.

Philomena Essed (1991): Understanding Everyday Racism – An Interdisciplinary Theory. Newbury Park, London, New Delhi: Sage Publications.

Veronika Frenzel (2009): Schwarzarbeit – Schattenbrüder. E+Z – Entwicklung und Zusammenarbeit, Ausgabe 6/2009.

Stuart Hall (2000): Rassismus als ideologischer Diskurs. In: Nora Räthzel (Hrsg.): Theorien über Rassismus. Hamburg: Argument.

Ulrich Herbert (2001): Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland – Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtling. München: C.H. Beck.

Manuel Herz (2008): Refugee Camps – or – Ideal Cities in Dust and Dirt. In: Ilka and Andreas Ruby (eds.): Urban Transformation. Berlin: Ruby Press.

Siegfried Jäger (1992): BrandSätze – Rassismus im Alltag. Duisburg: DISS.

Annita Kalpaka und Nora Räthzel (1990): Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. In: Otger Autrata et al. (Hrsg.): Theorien über Rassismus. Hamburg: Argument.

René Kreichauf (2016): From Fortress Europe to the European Fortress City – The Translation of EU Asylum and Border Policies into Space. In: René Seyfarth und Frank Eckardt (eds): Urban Minorities. Bauhaus Urban Studies Bd. 6. Würzburg: Königshausen u. Neumann (im Erscheinen).

Jürgen Link (2002): Institutioneller Rassismus und Normalismus. In: Margarete Jäger und Kauffmann (Hrsg.): Leben unter Vorbehalt – Institutioneller Rassismus in Deutschland. Münster: Unrast.

Robert Miles (2000) Bedeutungskonstitution und der Begriff des Rassismus. In: Nora Räthzel (Hrsg.): Theorien über Rassismus. Hamburg: Argument, S.17-33.

Christine Morgenstern (2002): Rassismus – Konturen einer Ideologie. Einwanderung im politischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland. Hamburg: Argument.

Tobias Pieper(2008): Die Gegenwart der Lager – Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Frank Wichert(1994): Das Grundrecht auf Asyl – Eine diskursanalytische Untersuchung der Debatten im deutschen Bundestag. Unveröffentlichte Magisterarbeit, online beim Duisburger Institute für Sprach- und Sozialforschung (DISS).

René Kreichauf studierte Stadt- und Regionalplanung sowie Stadtsoziologie in Berlin, Brüssel, Wien, Kopenhagen und Madrid. Aktuell forscht er als Doktorand der Freien Universität Berlin und der Vrije Universiteit Brüssel zu Formen urbanen Asyls in europäischen und nordamerikanischen Städten.

Die Würde des Menschen in schwierigen Zeiten

Die Würde des Menschen in schwierigen Zeiten

von Wolfgang Uellenberg van Dawen

Das Versagen des Rechtsstaates in der Neujahrsnacht in Köln und anderen Städten führte zu vielfältigen Reaktionen und zu einer kontroversen Debatte, die ein erhellendes und zugleich erschreckendes Schlaglicht auf den Zustand unseres Gemeinwesens wirft. Für Rechtspopulisten und Rassisten sind die kriminellen Übergriffe auf Frauen nichts anderes als die Bestätigung sämtlicher Vorurteile und Feindbilder gegenüber Migranten, und die rechtspopulistische und unterschwellig rassistische »Alternative für Deutschland« (AfD) profitiert gemäß den Meinungsumfragen davon.

Der überwiegende Teil der Medien und der Politik richtet den Fokus nicht in erster Linie auf die von sexualisierter Gewalt verstörten und traumatisierten Opfer, sondern vornehmlich auf die vermuteten Täter. Es waren, daran bestehen kaum Zweifel, vor allem junge Migranten aus den Ländern des Maghreb, aber auch solche anderer Herkunft. Fest steht bisher ebenfalls, dass es überwiegend keine Flüchtlinge waren. Dennoch reagierten Koalitionspolitiker, allen voran solche der CSU, sofort mit Forderungen nach Verschärfung des Aufenthaltsrechtes und nach rascher Abschiebung, unabhängig davon, ob dies rechtlich und faktisch überhaupt möglich ist.

Die differenzierte Analyse der Ursachen massenhafter sexueller Übergriffe steht ebenso noch am Anfang wie die Diskussion über ein zielführendes und angemessenes Handeln – in erster Linie im Interesse der Opfer, aber ebenso der Migrant/innen und Geflüchteten, die nun Angst haben, pauschal verdächtigt und diskriminiert zu werden. Vereinfachungen und Schuldzuweisungen werden am Ende kein einziges Problem lösen, es besteht aber die Gefahr, dass die Angst vor »den Fremden« wächst und viele verunsicherte, bisher hilfsbereite und für die Flüchtenden Empathie empfindende Menschen sich nun zurückziehen oder gar in den Chor der Hardliner einstimmen.

Die Würde des Menschen gerade in diesen schwierigen Zeiten zu wahren ist eine Herausforderung, der sich alle stellen müssen, die für eine humane Flüchtlings- und Einwanderungsgesellschaft und für die Wahrung einer menschenrechtlich orientierten Politik eintreten. In erster Linie geht es hier um die Würde der Frauen. Wer hilft den Opfern? Wer begleitet sie bei ihren Aussagen vor den Ermittlungsbehörden? Und wie sollen die Täter identifiziert werden? Fragen über Fragen …

Das Sexualstrafrecht ist bei weitem nicht so eindeutig formuliert, dass jeder Übergriff überhaupt als Sexualdelikt verfolgt wird. Überfällig ist also eine Reform des Sexualstrafrechts mit der Maßgabe, dass ein »Nein« der Frauen genau das ist: ein »Nein«, und wenn es nicht akzeptiert wird, dies eine Straftat ist. Ob es nun zu einer Beschleunigung der Reform kommt, bleibt abzuwarten. Sie darf aber nicht auf die lange Bank geschoben oder verwässert werden. Darum muss auf die Übergriffe in der Neujahrsnacht die längst überfällige Debatte über den alltäglichen Sexismus geführt werden. Dies ist keine Relativierung der konkreten Übergriffe oder gar eine Entschuldigung für die Täter, sondern ein Aufruf, für die Würde der Frau einzutreten.

Patriarchalische Frauenbilder und die Reduzierung der Frau auf ein Objekt männlicher Dominanz sind, egal wo wir ihnen begegnen, als solche zu benennen. Vergessen wir nicht, dass sie in fast allen Religionen zu finden sind und auch in unserer Gesellschaft lange dominierten. Bis Mitte der 1970er Jahre wurde den Frauen im Bürgerlichen Gesetzbuch noch die Rolle der Hausfrau in der Ehe zugewiesen, und die Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit einigen Jahren strafbar. Der erreichte Fortschritt darf aber eben nicht nur für die einheimischen, sondern muss für alle Frauen gelten.

Die Debatte muss konkret geführt werden und Folgen haben, sonst bleibt sie oberflächlich und scheinheilig. Die öffentliche Empörung richtet sich derzeit auf Täter mit Migrationshintergrund, aber wer schützt die Migrantinnen vor Ausbeutung und Demütigung nicht nur in den Familien, sondern auch in der Mehrheitsgesellschaft und in der Arbeitswelt? Wie hart gehen denn die Behörden gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution vor, in Köln und anderswo? Wie hart werden Bordellbesitzer und ihre Hintermänner verfolgt, und warum nehmen Boulevardblätter immer noch Werbeanzeigen auf, in denen die Ware Frau vermarktet wird? Wo bleibt eigentlich die Reaktion der Verantwortlichen der »fünften Jahreszeit« in der »Hauptstadt des Frohsinns«? Denn während die ganze Stadt sich empört, feiert sie Karneval wie gewohnt – und das heißt mit deutlich sexistischer Schlagseite. Dringend überprüft und verändert werden muss das Sicherheitskonzept, und dazu gehört Transparenz über mögliche Gefahren. Denn wo es für Frauen – und nicht nur für sie – in den Städten gefährlich ist, ist doch meist bekannt.

Aber Aufklärung alleine genügt nicht: No-go-Areas darf es in unserem Land nicht geben, und zur Verhinderung bedarf es nicht nur der Prävention und Ursachenbekämpfung, sondern auch des Schutzes vor Ort. Statt enge Ordnungspartnerschaften zwischen Stadt, Polizei und Sicherheitsdiensten zu knüpfen, wurde immer mehr Personal abgebaut. Was nützen die stattdessen fast flächendeckend installierten Videokameras? In der konkreten Situation nichts! Angesichts des Versagens der Polizeibehörden in Köln und anderswo fordern nun viele einen starken Staat. Sicherheit, ob durch Prävention oder durch Repression, kann es aber nicht zum Nulltarif geben und nicht mit einer Schwarzen Null im Haushalt als Ziel.

Die schwierigste Diskussion dreht sich wohl um die Bewertung der Täter. Leicht machen es sich die Vereinfacher auf beiden Seiten: Rechtspopulisten und so genannte besorgte Bürger bis weit in die Mitte der Gesellschaft zeigen auf das Aussehen, die Herkunft und die Religion der Täter und reproduzieren damit tief verwurzelte, rassistisch geprägte Weltbilder. Eine Karikatur in der Süddeutschen Zeitung vom 9.1.2016, die eine schwarze Männerhand zeigt, welche eine weiße Frau sexuell belästigt, legt offen, welche Urängste vor dem »schwarzen Mann« selbst in einer liberalen Zeitung zum Vorschein kommen.

Differenzierende Aussagen der Sozialwissenschaft zu autoritären Strukturen, sozialen Verwerfungen und überkommenen Rollenbildern scheinen zu erklären, warum junge Männer zu sexualisierter Gewalt neigen. Daraus können dennoch nicht die konkreten Taten abgeleitet werden. Es ist unmöglich und eine falsche Verallgemeinerung, wenn aus kulturellen Traditionen auf eine bestimmte Gewaltbereitschaft geschlossen wird. Ebensowenig zielführend wäre es, auf jede sozialkulturelle Einordnung zu verzichten und die Kritik an einem religiös hergeleiteten und anerzogenen patriarchalischen Frauenbild als Rassismus zu verurteilen.

Einfache Erklärungen gibt es nicht, und darum bedarf es einer offenen und von Sachkunde bestimmten Debatte, die zu Konsequenzen führen muss. Dazu gehört, mit einer klaren Haltung und mit Nachdruck solchen Menschen – ob mit oder ohne Migrationshintergrund – entgegenzutreten, die die Regeln des Zusammenlebens nicht akzeptieren. Sexualisierte Gewalt und andere Formen der Kriminalität dürfen nicht toleriert, sondern müssen nach Recht und Gesetz bestraft werden.

Es ist aber eine völlige Illusion zu glauben, es reiche zur Integration aus, wenn eine »Leitkultur« verordnet, das Grundgesetz als Pflichtkanon gepredigt und mit erhobenem Zeigefinger die moderne deutsche Geschlechterrolle eingefordert wird. Integration muss gelebt werden, und gerade hier ist in den letzten Jahren trotz vieler Erfolge viel zu wenig geschehen. Viel zu gering sind die Aufwendungen für eine präventive und konsequente Sozialarbeit. Es fehlen Sozialarbeiter/innen an den Schulen und Streetworker auf den Straßen. Seit mindestens drei Jahren weiß das Innenministerium von Nordrhein-Westfalen beispielsweise um die Gefährdung junger Männer, etwa aus Marokko, die in die Kriminalität abzugleiten drohen. Wie wurde reagiert, abgesehen von einem sinnvollen Präventionsprojekt der AWO Köln in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium? Viel mehr solcher Projekte – und nicht nur Projekte, sondern nachhaltige Integrationsmaßnahmen – hätten stattfinden müssen.

Dies gilt erst recht für die soziale Integration. Noch immer sind es vor allem Migrantinnen und Migranten, die von Arbeitslosigkeit und prekärer Arbeit betroffen sind. Noch immer werden sie bei der Bewerbung um gute Arbeit und qualifizierte Ausbildung diskriminiert. Noch immer sind die Bildungssysteme und die Curricula nicht auf unterschiedliche Herkunftssprachen ausgerichtet. Seit diesem Jahr verweigert Nordrhein-Westfalen aus finanziellen Gründen über 18-jährigen Migranten und Geflüchteten den Zugang zu den Berufskollegs, um dort einen Hauptschulabschluss zu machen. Ein Skandal, den die Landesregierung aussitzen will.

Anerkennung ihrer eigenen Sprache und Kultur, aber ebenso Anerkennung und Wertschätzung ihres Lebens in Deutschland wird den Migrantinnen und Migranten viel zu selten zuteil und bleibt oft auf bloße Bekenntnisse beschränkt. Integration ist eine Herausforderung voller Mühen und muss oft auf beiden Seiten große Unterschiede überwinden, ist die Anstrengung aber wert. Allerdings kann Integration nur dann gelingen, wenn die sich vertiefende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, die in vielen Städten immer unübersehbarer wird und vor allem Menschen mit Migrationshintergrund ausgrenzt, überwunden wird. Diese Spaltung der Gesellschaft in einem reichen Land fördert Konkurrenzen zwischen Einheimischen und Migranten, insbesondere Geflüchteten, um bezahlbaren Wohnraum, um Plätze in Kitas und Schulen, um Ausbildung und gute Arbeit. Meist fordern jedoch nicht diejenigen, die sich in engen Verhältnissen einrichten müssen, die Ausgrenzung, sondern diejenigen, die auf der gesellschaftlichen Pyramide weiter oben stehen. Es sind ihre Vorurteile und ihre Ängste, etwas abgeben zu müssen zugunsten eines handlungsfähigen Staates, um die Folgen der von den Eliten unserer Gesellschaft so oft beschworenen Globalisierung sozial gerecht zu bewältigen, die den Weg in eine integrative Gesellschaft und ein friedliches Zusammenleben blockieren.

Dr. Wolfgang Uellenberg van Dawen, Historiker, war bis 2014 Leiter des Bereichs Politik und Planung der ver.di Bundesverwaltung in Berlin und engagiert sich für eine humane Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik in Köln.