Nukleares Erbe

Nukleares Erbe

Auswirkungen sowjetischer Atomwaffentests in Kasachstan

von Annegret Krüger

Vor 75 Jahren wurde in der kasachischen Steppe der erste sowje­tische Atomwaffentest gezündet. Dieser läutete damit eine Test­reihe ein, die sich über eine Zeitspanne von 40 Jahren zog. In diesem Zeitraum fanden über 450 Atomwaffentests in Kasachstan statt. Die dramatischen Konsequenzen für Mensch und Umwelt sind bis heute spür- und sichtbar und die Fragen nach einer nukle­aren Gerechtigkeit stellen sich heute dringlicher denn je. Auch die Frage einer deutschen Mitbetroffenheit muss diskutiert werden.

Am 29. August 1949 – vor genau 75 Jahren – führte die Sowjetunion ihren ersten Atomwaffentest in den kasachischen Steppen der Semipalatinsk Region (heute Abai Region) durch. Mit diesem ersten Test wurde aus sowjetischer Sicht ein „nukleares Gleichgewicht“ (Tsukerman und Azarkh 1999) mit den USA hergestellt. Dieser erste Test war gleichzeitig die folgenschwerste Testzündung in der Geschichte der sowjetischen Atomwaffentests, vor allem wegen des einsetzenden Regens und des mit ihm in den Boden gewaschenen radioaktiven »Fallouts«. Über vierzig Jahre lang wurden auf dem »Polygon« (so der sowjetische Begriff für ein Gebiet, in dem Waffen getestet oder Militärübungen abgehalten wurden) mehr als 450 Tests durchgeführt. Zwischen 1949 und 1962 wurden atmosphärische, sprich oberirdische Tests durchgeführt, die für den größten Teil der bis heute anhaltenden radioaktiven Kontamination verantwortlich sind. Ungefähre Schätzungen gehen von 1,5 Millionen Menschen aus, die auf irgendeine Art und Weise von den Atomwaffentests betroffen sind. 1991 wurde das Testgelände auch aufgrund des zivilen Engagements der »Nevada-Semipalatinsk«-Bewegung offiziell geschlossen, nachdem dort 1989 der letzte Test stattgefunden hatte (Kassenova 2022).

Das ehemalige Testgelände erstreckt sich über eine Fläche von ca. 18.000 km2, was in etwa der Größe Sloweniens entspricht. Die Region wurde von sowjetischen Militärplanern ausgewählt, da sie abgeschieden von großen Städten lag und vermeintlich kaum bewohnt war. Während der jahrelangen Tests erfuhren die Bewohner*innen der Steppen am eigenen Leib die kurz- und langfristigen Folgen von nuklearen Explosionen. Die Strahlung vergiftete ihre Luft, ihr Wasser und ihre Nahrung und änderte damit ihr Leben unwiderruflich (Kassenova 2022). Die Menschen in dieser Region, die letztlich alle Überlebende der Atomwaffentests sind, leben auch heute noch tagtäglich mit den unvorstellbaren Auswirkungen dieser Tests.1

Karte

Karte: Semipalatinsk Atomwaffentestgelände »Polygon«; Quelle: Datenpunkte Polygon von Paul Richards (Columbia University, 2001); Basemap: Stamen Terrain; eigener Entwurf Redaktion W&F.

Menschliches Leid

Auch wenn sie für die einfache Beobachter*in äußerlich gesund aussehen, leiden doch die allermeisten Betroffenen an verschiedenen mit Radioaktivität in Zusammenhang stehenden Krankheiten. Bis heute sterben viele Menschen bevor sie ein hohes Alter erreichen, unter anderem bedingt durch vorzeitiges Altern (Vakulchuk und Gjerde 2014). Gesundheitliche Folgen der Atomwaffentests spiegeln sich beispielsweise im erhöhten Vorkommen zahlreicher Krebsarten, darunter Leukämie, Lungenkrebs und Schilddrüsenkrebs, in der Rate an Kindern, die mit Behinderungen geboren werden, oder auch in einer Reihe verschiedener Atemwegserkrankungen wider (Yan 2018; Muchametalijewa 2019).

So nachdrücklich haben sich die Atomwaffentests vor Ort eingeschrieben, dass sie gar einen eigenen medizinischen Begriff geprägt haben: »Kainar-Syndrom« heißt das verbreitete Erscheinungsbild einer Kombination verschiedener Krankheiten, benannt nach dem kasachischen Dorf, in dem dieses am häufigsten auftrat (Atchabarov 2015). Für Frauen sind die gesundheitlichen Folgen noch einmal andere als für Männer. Sie sind oftmals von Brustkrebs, Fehl- und Totgeburten betroffen (Najibullah und Akaeva 2019). Zudem bleibt die große Angst bei einer Schwangerschaft, dass die Kinder womöglich auch von den Folgen der Tests betroffen sein werden. Neben diesen teils offensichtlichen Krankheiten stellen das hohe Aufkommen von Suiziden, vor allem während der Zeit der Atomwaffentests, und psychische Erkrankungen weitere Schattenseiten der Tests dar. Dutzende Menschen aus den umliegenden Dörfern in der Nähe des Polygons begingen jedes Jahr Selbstmord (Makarov et al. 1994).

Die Menschen wurden nicht über die Atomwaffentests und über die möglichen Konsequenzen dieser Tests aufgeklärt. Dies geschah zunächst auch aus Unwissenheit der sowjetischen Militärangehörigen, die selbst die Folgen ionisierender Strahlung nicht verstanden. Im Laufe der Zeit begann die Sowjetunion allerdings, systematisch medizinische Daten dazu zu sammeln, während sie gleichzeitig öffentlich eine Gefahr durch Strahlung als unbegründet abtat. So wurden Menschen in evakuierten Dörfern absichtlich zurückgelassen, um herauszufinden, wie Strahlung auf den menschlichen Körper wirkt. Diese Menschen hatten keine Ahnung, dass sie als Versuchskaninchen verwendet wurden und einer extrem hohen Dosis an Strahlung ausgesetzt wurden (Kassenova 2022; Wilhelmi 2023). Ein Überlebender resümiert, dass sie lediglich als „biologisches Material“ für Recherche- und wissenschaftliche Zwecke angesehen wurden. Durch diese Forschung konnte ein Zusammenhang zwischen der Strahlenexposition und der Entstehung von Strahlenangst (»Radiophobie«) und einer Zunahme sozialer Ängste festgestellt werden (TPNW 2023).

Im heutigen Gebäude des »Research Institute of Radiation Medicine and Ecology« der medizinischen Universität in Semei, Kasachstan, befand sich eine der zwei geheimen sowjetischen Kliniken, die die Gesundheit der lokalen Bevölkerung überwachen sollte. Das sogenannte »Dispensary No. 4« des sowjetischen Gesundheitsministeriums wurde 1957 gegründet und das medizinische Personal sprach sich schon bald für ein sofortiges Ende der Tests aus. Diese Klinik war jedoch lediglich für die Datensammlung und nicht für die Behandlung der kranken Menschen zuständig, obwohl sie über 10.000 Menschen untersuchten (Kassenova 2022). Auch heute noch dient das Institut überwiegend Forschungszwecken und führt das staatliche, medizinische Registrierungssystem, in dem bereits 373.686 betroffene Menschen von der ersten bis zur fünften Generation registriert wurden. Diese traurige aber notwendige Kartierung bildet die Grundlage für Forschungen im Hinblick auf Strahlung und deren Einfluss auf die Gesundheit und die Sterblichkeit in der betroffenen Bevölkerung, wie die kasachischen Vertreter*innen bei der zweiten Staatenkonferenz der Mitgliedsstaaten des Atomwaffenverbotsvertrags berichteten (TPNW 2023).

Nukleare Gerechtigkeit!?

Die kasachische Regierung hat nach dem Erlangen der Unabhängigkeit 1992 ein »Gesetz zum sozialen Schutz der von den Atomtests auf dem Semipalatinsker Atomwaffen-Testgelände betroffenen Bürger*innen« verabschiedet. Darin wurden die kontaminierten Gebiete festgelegt und anhand der unterschiedlichen Höhe der Strahlenbelastung klassifiziert (Vakulchuk und Gjerde 2014). Als Grundlage dienten die wenigen Dokumente, die noch auffindbar waren, beispielsweise in der sowjetischen Klinik »Dispensary No. 4«, oder die wenigen Informationen sowjetischer Ministerien, die zugänglich waren.2

Den Menschen wurde daraufhin je nach Ort und Dauer des Aufenthalts in den betroffenen Gebieten eine einmalige Entschädigung für durch die Atomwaffentests verursachte Schäden ausgezahlt. Menschen, die in den gesetzlich festgelegten Strahlenrisikogebieten leben und arbeiten, haben ebenfalls Anspruch auf zusätzliche Vergütung und zusätzlichen bezahlten Jahresurlaub. Frauen, die in diesen Gebieten leben, haben Anspruch auf zusätzlichen Schwangerschafts- und Entbindungsurlaub. Kinder von Menschen, die in den Jahren 1949 bis 1990 in den betroffenen Gebieten gelebt, gearbeitet oder gedient haben, können nach dem Gesetz als Opfer von Kernwaffentests anerkannt werden und haben Anspruch auf die entsprechenden Sozialleistungen, sofern sie an Behinderungen oder Krankheiten leiden, die mit der Exposition gegenüber ionisierender Strahlung in Zusammenhang stehen, und sofern ein kausaler Zusammenhang zwischen ihrem Gesundheitszustand und der Tatsache besteht, dass sich ein Elternteil in Strahlenrisikogebieten aufgehalten hat. Personen mit Behinderungen im Zusammenhang mit der Strahlenexposition bei Atomtests und deren Folgen haben Anspruch auf monatliche Invalidenbeihilfen. Weitere finanzielle Unterstützungsmaßnahmen sind höhere Renten, eine kostenlose oder subventionierte Gesundheitsversorgung oder Ermäßigungen für öffentliche Verkehrsmittel (TPNW 2023; Vakulchuk und Gjerde 2014).

Soweit die Theorie, denn in der Praxis gibt es genau mit der Anwendung dieser Ansprüche viele Schwierigkeiten. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Krankheit und Strahlungsexposition ist nicht immer eindeutig nachweisbar. Soldaten stehen vor der Herausforderung, dass sie nicht immer beweisen können, dass sie auf dem Testgebiet gearbeitet haben, da dies ein streng geheimes Unterfangen war. Diese Soldaten hatten im Gegensatz zu den sowjetischen Wissenschaftlern oftmals keinerlei Schutzkleidung oder -ausrüstung. Hinzu kommt, dass Menschen, die die betroffenen Gebiete verlassen haben, keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Die größte Hürde liegt jedoch darin, dass die Leistungen vor allem Personen gewährt werden, die eine offizielle Bescheinigung über ihren Status als Strahlenopfer erhalten haben. Solche Bescheinigungen werden nur nach einem akribischen Antragsverfahren ausgestellt, das die Vorlage von Dokumenten einschließt, die den Wohnsitz des Antragstellers in den betroffenen Gebieten zwischen 1949 und 1990 bestätigen. Ein Großteil der Betroffenen ist nicht im Besitz der erforderlichen Bescheinigung und erhält folglich keine Leistungen (Najibullah und Akaeva 2019).

Über die verschiedenen Generationen hinweg haben sich teilweise neue Krankheiten entwickelt oder es sind seltene Krankheiten aufgetreten, die nicht in der Liste der Krankheiten im Gesetz aus dem Jahr 1992 aufgeführt sind. Auch dann ist ein Anspruch schwierig durchzusetzen. Es wird von Betroffenen berichtet, dass das medizinische Personal manchmal keine angemessene medizinische Versorgung leisten könne, da diese selbst nicht wissen würden, an welchen Krankheiten die Menschen litten, gerade auch in den dörflichen Gegenden. Es zeigt sich, dass das Gesetz von 1992 eine Maßnahme darstellt, die für ihre Zeit gut war, nun aber fast 30 Jahre später hoffnungslos veraltet ist.

Die heimlich gesammelten Daten der Sowjetunion wurden nach deren Zusammenbruch nach Russland gebracht und die Anfragen der kasachischen Regierungen seither auf Zugang zu diesen Daten wurde stets abgelehnt. Mehr als 30 Jahre nach dem letzten Atomtest haben kasachische Wissenschaftler*innen zwar ein besseres Verständnis der Auswirkungen der sowjetischen Atomtests auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen, dennoch sind immer noch einige Fragen offen, gerade zu den langfristigen Auswirkungen auf künftige Generationen. Daher fordern Überlebende mehr Forschung, eine bessere Entschädigung, den Zugang zu wichtigen Dokumenten, eine Anpassung des »Opfergesetzes« – letztlich eine umfassende (nukleare) Gerechtigkeit, wobei sowohl die betroffenen Menschen als auch die Umwelt mitbedacht werden müssen. Es ist offensichtlich, dass das nuklear verursachte Trauma generationenübergreifend ist (Vakulchuk und Gjerde 2014; Yan 2018; Najibullah und Akaeva 2019; Kassenova 2022).3

Kasachstan als internationaler Abrüstungschampion

Auf der internationalen Bühne hat sich Kasachstan seit längerer Zeit als »Abrüstungschampion« etabliert. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlangte Kasachstan seine Unabhängigkeit 1991 und entschied sich dazu, die sowjetischen Atomwaffen aufzugeben. Dies stellt mitnichten eine Selbstverständlichkeit dar, sondern war Ergebnis eines langen Verhandlungsprozesses unter anderem mit Russland und den USA über Sicherheitsgarantien. Drei Szenarien standen im Raum: 1.) die Atomwaffen zu behalten, auch wenn Kasachstan keine Befehlsgewalt über diese hatte; 2.) die gemeinsame Kontrolle über das Atomwaffenarsenal mit Russland oder der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) oder 3.) ein atomwaffenfreies Kasachstan. In instabilen politischen Zeiten und eingeschlossen von zwei nuklearen Mächten – Russland und China – entschied sich Kasachstan für den atomwaffenfreien Weg, auch um internationale Anerkennung zu erhalten, und zeigt damit, dass es die nationale Sicherheit erhöhen kann, auf Atomwaffen zu verzichten (Kassenova 2022).

Schon zwei Jahre später erfolgte die kasachische Ratifizierung des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) im Dezember 1993 im Gegenzug für die Unterzeichnung des Budapester Memorandums über Kasachstans Sicherheitsgarantien. Seit 2006 gehört Kasachstan mit anderen zentralasiatischen Ländern zur »zentralasiatischen kernwaffenfreien Zone«, deren Vertrag symbolisch in Semei bzw. Semipalatinsk unterzeichnet wurde. Zum 70. Jahrestag des ersten sowjetischen Atomwaffentests ratifizierte Kasachstan den Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) (Kassenova 2022). Kasachstan setzt sich für den weltweiten, vollständigen Verzicht auf Atomwaffen bis 2045 ein, dem hundertsten Jahrestag der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und der Gründung der Vereinten Nationen. In dem Bemühen, eine bereite Auseinandersetzung zum weltweiten Erbe von Atomwaffentests und -einsätzen zu erreichen, initiierte Kasachstan 2023 eine UN-Resolution in der Generalversammlung zum Thema Opferhilfe und Umweltsanierung, die erfolgreich verabschiedet wurde (UN GA 2023). Weiter stellt Kasachstan den Präsidenten der anstehenden Vorbereitungskonferenz der nächsten Überprüfungskonferenz des NVV und hat den Vorsitz der dritten Vertragsstaatenkonferenz des AVV für 2025 inne. Heute ist der 29. August der Internationale Tag gegen Nuklearversuche, wie er von den Vereinten Nationen auf Kasachstans Initiative hin verabschiedet wurde.

Für aufmerksame Leser*innen wird hierbei eine deutliche Diskrepanz sichtbar, wie sich Kasachstan international präsentiert und wie es gleichzeitig mit den eigenen Überlebenden umgeht.

Auswirkungen auch in Deutschland

Die nukleare Kette der Atomwaffentests in Kasachstan reicht bis nach Deutschland, genauer in die ehemalige DDR. Dort wurde 1946 im sächsischen Erzgebirge und in Ostthüringen begonnen, Uranerz abzubauen. Damit mutierte die DDR zum wichtigsten Uranlieferant für das sowjetische Atomwaffenprogramm und half dabei, dass 1949 die erste sow­jetische Atomwaffe in Semipalatinsk getestet werden konnte. Die sowjetische Führung verlieh dem geheimen Uranabbau den Tarnnamen »Wismut« (ebenfalls ein Schwermetall), was die Förderung von Uran verschleiern sollte. Zwischenzeitlich war die DDR der viertgrößte Uranproduzent der Welt. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endete 1990 auch die Förderung in der DDR und aus der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft wurde die Wismut GmbH, die bis heute die kontaminierten Flächen saniert. Insbesondere die Renaturierung und das Reinigen des Grundwassers dauert nach wie vor an. Man geht davon aus, dass dies erst 2035 beendet sein wird (BMWK o.J.; Hertel 2022).

Die Folgen des Uran-Abbaus für Natur und Mensch sind auch hierzulande bis heute spürbar. Die Bergarbeiter erlitten gesundheitliche Schäden durch die Strahlung oder kamen sogar zu Tode und häufig kam es zu Grubenunfällen und -bränden. Durch das Einatmen schädlicher Partikel, die in der Lunge verblieben, kam es noch Jahre später zu Mutationen und dadurch zu Krebserkrankungen. 1956 wurde zum ersten Mal die Strahlenbelastung der lokalen Bevölkerung untersucht, jedoch wurden die Ergebnisse zunächst unter Verschluss gehalten. Seit 1993 führt das Bundesamt für Strahlenschutz die sogenannte »Wismut-Studie« durch, die eine der weltweit größten Kohortenstudien darstellt. Dabei werden ca. 59.000 männliche Bergarbeiter untersucht und die Ergebnisse dazu werden in regelmäßigen Abständen veröffentlicht. Die Studie zeigt, dass die Lungenkrebssterblichkeit bei den Wismut-Bergarbeitern 2,4 Mal höher als in der Allgemeinbevölkerung ist. Bis heute kommen immer neue Lungenkrebsfälle hinzu. Zudem steigt das Risiko, an Leukämie zu erkranken. Die Studie stellt weiter fest, dass nicht nur die Radon-, sondern auch die Quarzfeinstaubexposition zu einem deutlichen Anstieg des Lungenkrebsrisikos bei den ehemaligen Wismut-Beschäftigten führt. Außerdem konnte ein sehr starker Anstieg der Sterblichkeit an Silikose (»Quarzstaublunge«) festgestellt werden (Bundesamt für Strahlenschutz 2023).

Weiter beschäftigen die sowjetischen Atomwaffentests auch immer wieder deutsche Gerichte. Dabei geht es oftmals um sogenannte (Spät-)Aussiedler*innen, die sich in der Nähe des Atomwaffentestgeländes in Kasachstan aufhielten. Die Gerichte müssen darüber entscheiden, ob aufgrund der gesundheitlichen Schäden durch den Aufenthalt in Kasachstan Beschädigtenversorgung bzw. -rente gezahlt werden muss.

Politische Schlussfolgerungen

Die nukleare Kette greift also auf unterschiedliche Weise bis in das heutige Deutschland und zeigt, warum uns auch hier die sowjetischen Tests etwas angehen sollten. Aufgrund ihrer humanitären Auswirkungen und Risiken für die gesamte Menschheit gibt es keine andere Schlussfolgerung als Atomwaffen abzuschaffen. Denn solange es Atomwaffen gibt, besteht auch die Gefahr eines Einsatzes.

In der kasachischen Gesellschaft erfahren die Menschen aus den betroffenen Gebieten bis heute Stigmatisierungen. Dennoch sind die Geschichten der Überlebenden vor allem Geschichten einer unfassbaren Resilienz. Für ihre Heimat haben sie große Zukunftspläne. Sie sind weit mehr als Überlebende, sie sind Akteur*innen – so habe ich das auf der Recherchereise zu diesem Beitrag erlebt. Ihre Geschichten sollten uns alle als Warnung dienen in einer Zeit, in der Atomwaffen erneut unhinterfragt als Sicherheitsgarant gelabelt werden. Die anhaltenden Auswirkungen der sowjetischen Tests auf die Region sollten Politiker*innen weltweit als Erinnerung an die hohen Kosten von Atomwaffenprogrammen für Mensch und Umwelt dienen.

Anmerkungen

1) Als Teil einer Bildungsreise – organisiert von ICAN Deutschland, der Friedrich-Ebert-Stiftung Kasachstan und STOP (»Steppe Organization for Peace«) – durfte ich im Mai 2024 mit weiteren jungen Menschen nach Kasachstan reisen, um vor Ort über das nukleare Erbe zu lernen. Neben Treffen mit hochrangigen Vertreter*innen der Politik in der Hauptstadt Astana, wie Treffen im Außenministerium und mit einem Verfassungsrichter, waren insbesondere die Begegnungen mit Überlebenden der ersten Generation der Atomwaffentests in der Stadt Semei (ehemals Semipalatinsk) am beeindruckendsten. Die Stadt liegt ungefähr 120 km vom ehemaligen Testgelände entfernt.

2) Ein Großteil der gesammelten Daten zu den gesundheitlichen Folgen liegt jedoch weiterhin unerreichbar in russischen Archiven, wie dem Atomenergieministerium oder dem Verteidigungsministerium (Kassenova 2022; Wilhelmi 2023).

3) Die letzten Absätze beruhen u. a. auf persönlichen Berichten von Betroffenen.

Literatur

Atchabarov, A. (2015): Kainar syndrome: History of the first epidemiological case-control study of the effect of radiation and malnutrition. Central Asian Journal of Global Health 4(1), 221.

Bundesamt für Strahlenschutz (2023): Wismut Uranbergarbeiter-Kohortenstudie. Homepage, URL: bfs.de/de/bfs/wissenschaft-forschung/wirkung-risiken-ion/laufend/wismut.html.

Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) (o.J.): Geschichte des Uranerzbergbaus und Gründung der Wismut GmbH. Homepage, URL: bmwk.de/Redaktion/de/Artikel/Energie/Wismut/02-geschichte.html.

Hertel, A. (2022): Mit deutscher Hilfe: So kam Russland zu seinen Atomwaffen. MDR, 11.4.2022.

Kassenova, T. (2022): Atomic steppe. How Kazakhstan gave up the bomb. Stanford: Stanford University Press.

Makarov, M. A.; Kisseleva, L. M.; et al. (1994): “Stressovoe vozdeistvie faktorov okruzhaiushchei sredy na chostotu samoubiistv” [Stress impact of environmental factors on suicide frequency]. In: Zdorov’ye liudei, prozhivaiushchin v raione prilegaiushchem k Semipalatinskomu poligonu [Health of residents in the vicinity of Semipalatinsk Polygon], Collection of Articles, Vol. 2.

Najibullah, F.; Akaeva, K. (2019): Victims of Kazakhstan’s soviet-era nuclear tests feel ‘abandoned’ by government. RadioFreeEurope, 23.11.2019.

TPNW (2023): Second meeting of states parties to the treaty on the prohibition of nuclear weapons. Assessments of the consequences of nuclear tests on the territory of Kazakhstan. Report submitted by Kazakhstan. New York. 27 November–1 December 2023, (TPNW/MSP/2023/10).

Tsukerman, V.; Azarkh, Z. (1999): Arzamas-16: Soviet scientists in the nuclear age. A memoir. Nottingham: Bramcote Press.

UN GA (2023): First Committee. 78th Session. General and Complete Disarmament. A/C.1/78/L.52.

Wilhelmi, A. (2023): „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mir eine atomwaffenfreie Welt vorstellen kann“ – ein Interview mit Togjan Qasenova. Novastan.org, 24.1.2023.

Muchametalijewa, Z. (2019): Semipalatinsker Testgelände: Das atomare Erbe der Sowjetunion in Kasachstan. Übersetzt von Petersen, S. Novastan.org, 7.9.2019.

Vakulchuk, R.; Gjerde, K. (2014): Semipalatinsk nuclear testing: the humanitarian consequences. Report prepared for the Second Conference on Humanitarian Impact of Nuclear Weapons in Nayarit, Mexico, 13–14 February 2014. (mit Belikhina, T.; Apsalikov, K.) NUPI Report 1/2014. Oslo: Norwegian Institute of International Affairs.

Yan, W. (2018): Has Kazakhstan forgotten about its Polygon test survivors? The World, 17.12.2018.

Annegret Krüger ist Friedens- und Konfliktforscherin und arbeitet beim Netzwerk Friedenskooperative. Zudem ist sie Vorsitzende des Frauennetzwerk für Frieden e.V.

Die Sámi in einer umkämpften Arktis

Die Sámi in einer umkämpften Arktis

Aktuelle Herausforderungen für Selbstverwaltung und Autonomie

von Rene Urueña

Die rechtlichen und politischen Regelungen für die Selbstverwaltung der Sámi sind in Finnland seit langem umkämpft. Darüber hinaus schließen sich nach den geopolitischen Turbulenzen, die durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine ausgelöst wurden, zunehmend wertvolle internationale Räume für Zusammenarbeit und Beteiligung. Trotz zahlreicher Fortschritte bei der formalen Anerkennung von Rechten und der Schaffung von Räumen für internationale Beteiligung scheint die Selbstverwaltung der Sámi in der Arktis nach wie vor stark umstritten und externen geopolitischen Dynamiken ausgesetzt zu sein, die sich der Kontrolle der indigenen Gruppe entziehen.

Die Sámi1 sind eine indigene Gruppe von 50.000-100.000 Menschen, deren Heimat (traditionell als Sápmi bekannt) große Gebiete im heutigen Nordnorwegen, Finnland, Schweden und Russland umfasst. Sie sind jedoch eine klare Minderheit: Sie machen nur etwa 2,5 % der Bevölkerung des als Sápmi bezeichneten geografischen Gebiets aus, und ein großer Teil der Sámi lebt außerhalb dieses Gebiets (Mamo 2023). Die Sámi sind das einzige indigene Volk in der Europäischen Union; als solches haben sie eine eigene Sprache, Kultur, Traditionen und Selbstverwaltungsstrukturen, die oft unter starkem Druck durch äußere Faktoren stehen, wie z.B. durch die militärischen Spannungen zwischen der NATO und Russland in der arktischen Region. Derzeit gibt es neun samische Sprachen, von denen das Nordsámi mit etwa 75 % der Sprecher*innen die am weitesten verbreitete ist. Allerdings gibt es eine beträchtliche Vielfalt unter einigen dieser Sprachen, die in Schweden, Finnland und Norwegen offiziell gesetzlich geschützt sind, nicht aber in Russland (Svonni 2008).

Ein Großteil der samischen Kultur und des traditionellen Lebensunterhalts ist mit der Rentierzucht, dem Fischfang, der Jagd und dem Kunsthandwerk verbunden. Rentiere spielen in der samischen Kultur eine besonders wichtige Rolle. Ein Großteil des traditionellen Kalenderjahres ist auf die Wanderung der Rentiere ausgerichtet: Das Jahr beginnt im Juni auf den Sommerweiden, wo die Kälber gefüttert werden und Geweih und Fell kräftiger werden, um dem nächsten Winter standzuhalten. Dort werden die Ohren der Kälber markiert: Jede*r Rentierbesitzer*ini hat ein einzigartiges Ohrzeichen, das den Besitzer des Tieres identifiziert. Danach geht es auf die Herbstweiden, wo die für die Schlachtung ausgewählten Rentiere ausgesondert werden und die anderen Tiere sich paaren. Weiter geht es zu den Winterweidegründen, wo die Tiere unter dem Schnee nach Pflanzen und Nährstoffen graben, und schließlich zu den Kalbungsgebieten im Frühjahr, wo die Kälber geboren werden (oft im Mai) und ein neuer Zyklus beginnt (Mazzullo 2012).

Rentiere versorgen die Sámi traditionell mit Nahrung, Kleidung und Materialien für das Kunsthandwerk. Heute wird die Rentierzucht jedoch meist parallel zu anderen landwirtschaftlichen Tätigkeiten und im Einklang mit den örtlichen Vorschriften betrieben. In Finnland zum Beispiel, wo die Rentierzucht nicht auf die Sámi beschränkt ist, gibt es ein klar definiertes Rentierzuchtgebiet, das etwa 35 % des Landes umfasst. Dort dürfen die Rentiere frei weiden, unabhängig vom Landeigentum. Das Rentierzuchtgebiet ist in mehr als 50 kleinere Gebiete unterschiedlicher Größe unterteilt (von denen einige eindeutig als samische Bezirke gekennzeichnet sind), von denen jedes von einer Genossenschaft verwaltet wird. Jede*r Rentierbesitzer*in gehört einer Genossenschaft an, die ihre eigene Führung wählt und in einem Hirt*innenverband vertreten ist, der jedes Jahr im Juni, zu Beginn des Zuchtjahres, in einem »Rentierparlament« zusammenkommt. Nach Angaben des finnischen Rentierzüchter*innenverbandes gibt es in Finnland etwa 4.400 Rentierbesitzer*innen, von denen etwa 1.000 Sámi sind (Reindeer Herders’ Association 2022).

Sámi-Selbstverwaltung in Finnland

Die Kultur und die Traditionen der Sámi sind seit langem den Regulierungen der finnischen Regierung unterworfen und sind offiziell durch das Gesetz geschützt. In Abschnitt 17 der finnischen Verfassung heißt es, dass „die Sámi als indigenes Volk das Recht haben, ihre eigene Sprache und Kultur zu bewahren und weiterzuentwickeln“, und in Abschnitt 121 heißt es, dass „die Sámi in ihrem angestammten Land eine sprachliche und kulturelle Selbstverwaltung haben“. In diesem Zusammenhang ist einer der akutesten Konfliktanlässe zwischen der finnischen Regierung und der Führung der Sámi einer der Selbstverwaltung – konkret das »Sámi-Parlament«. Das Parlament ist das Selbstverwaltungsorgan der Sámi in Finnland, das 1996 auf der Grundlage seines Vorgängers, der »Sámi-Delegation«, die von 1973 bis 1995 tätig war, eingerichtet wurde. Das Sámi-Parlament ist ein unabhängiges Organ, das nicht Teil der öffentlichen Verwaltung ist. Es wird aus öffentlichen Mitteln finanziert und arbeitet unter einem Verwaltungsmandat des Justizministeriums.

Nach dem finnischen Gesetz über die Selbstverwaltung der Sámi „wählen die Sámi aus ihrer Mitte ein Sámi-Parlament für die Zwecke der kulturellen Autonomie“. Die entscheidende Frage ist jedoch, wer sich in die Wähler*innenliste für die Wahlen eintragen darf. Wer zählt als Sámi? Das Gesetz besagt, dass ein*e Same eine Person ist, die „sich selbst als Sámi betrachtet“, vorausgesetzt, dass die Person „oder mindestens einer ihrer Eltern oder Großeltern Sámi als Muttersprache erlernt hat(Gesetz 974/1995; Änderungen bis einschließlich 1026/2003, laki saamelaiskäräjistä, Abschnitt 3.1), oder dass „mindestens einer ihrer Elternteile als Wähler für eine Wahl zur Sámi-Delegation oder zum Sámi-Parlament registriert war oder hätte registriert werden können“. (Gesetz 974/1995, Abschnitt 3.3)

Diese Bestimmungen scheinen erst einmal mit dem übereinzustimmen, was in vielen indigenen Selbstbestimmungsgesetzen in anderen Teilen der Welt enthalten ist. Die finnische Gesetzgebung enthält jedoch eine zusätzliche Klausel, die eine*n Same als jemanden definiert, der*die „von einer Person abstammt, die in einem Grund-, Steuer- oder Bevölkerungsregister als Berg-, Wald- oder Fischerlappe eingetragen ist“ (Gesetz 974/1995, Abschnitt 3.2). Diese Klausel bezieht sich auf die seit langem bestehenden finnischen Steuerregister (seit dem 18. Jahrhundert), in denen die Zahlungen von Personen erfasst sind, die den so genannten Lebensstil der Lappen leben (Jagd, Rentierzucht usw.), zu denen sowohl Angehörige der finnischen Mehrheitsbevölkerung als auch der Sámi gehören. Die Lappensteuerklausel öffnet das Sámi-Parlament daher für Mitglieder, die sich selbst als Sámi bezeichnen, die aber von anderen Mitgliedern, die Sámi als Muttersprache gelernt haben, möglicherweise nicht als solche anerkannt werden.

Diese Frage ist im Menschenrechtssystem der Vereinten Nationen schon seit einiger Zeit umstritten. Bereits 2009 stellte der UN-Ausschuss für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung (»UN Committee on the Elimination of Racial Discrimination «, CERD) fest, dass die Rechtsauslegung des finnischen Obersten Verwaltungsgerichts der Selbstidentifizierung von Personen mehr Gewicht verleihen sollte (CERD/C/FIN/CO/19). Einige Jahre später, im Jahr 2012, kam derselbe Ausschuss zu dem Schluss, dass die finnische Gesetzesauslegung den Rechten der Sámi nicht genügend Gewicht beimaß (CERD/C/FIN/CO/20-22).

Die Kontroverse spitzte sich bei den samischen Wahlen 2015 zu, als Hunderte von Personen eine Registrierung als neue Wähler*innen beantragten, von denen 182 vom zuständigen Gremium des samischen Parlaments, dem Wahlausschuss, abgelehnt wurden. Gegen diese Ablehnungen wurde beim Exekutivrat des Sámi-Parlaments und anschließend beim Obersten Verwaltungsgericht Finnlands Berufung eingelegt. In zwei Entscheidungen in den Jahren 2015 und 2016 entschied das Oberste Verwaltungsgericht Finnlands gegen die Entscheidungen des Wahlausschusses und ordnete die Aufnahme von 93 dieser Personen in das Wählerverzeichnis an, so dass sie wählen durften. Umstritten war, dass das finnische Gericht sich nicht zu sehr darum kümmerte, ob der*die potenzielle Wähler*in auch nur eines der im Gesetz festgelegten objektiven Kriterien (nicht einmal das Steuerkriterium der Lappen) erfüllte, sondern auf die Gesamtbetrachtung der eigenen Meinung der Person über sich selbst als Sámi zurückgriff; für das Gericht wäre ein Ausschluss aus dem Wähler*innenverzeichnis, wie ihn der Wahlausschuss des Sámi-Parlaments beabsichtigte, in der Tat eine Diskriminierung der Kläger*innen.

Vorhersehbarerweise wurde die Entscheidung des Gerichts von der Führung der Sámi energisch zurückgewiesen, die daraufhin eine Reihe von Individualbeschwerden bei den Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen einreichte, mit dem Argument, dass eine solche Entscheidung „die Stimme des sámischen Volkes im Sámi-Parlament und die Wirksamkeit des Parlaments bei der Vertretung des sámischen Volkes bei wichtigen Entscheidungen (Finnlands), die ihr Land, ihre Kultur und ihre Interessen betreffen können, schwächt“. (CCPR/C/124/D/2668/2015).

Zwei UN-Gremien stellten sich auf die Seite der Sámi. Im Jahr 2019 stellte der Menschenrechtsausschuss zweimal fest (in CCPR/C/124/D/2668/2015 und CCPR/C/124/D/2950/2017), dass Finnland tatsächlich das Recht der Sámi verletzt hat, direkt oder durch frei gewählte Vertreter*innen an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen (Artikel 25 ICCPR), in Verbindung mit ihrem Recht, als Minderheit ihre eigene Kultur zu genießen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben und ihre eigene Sprache zu verwenden (Artikel 27 ICCPR). Das CERD wiederum stellte noch 2022 fest, dass das finnische System das Recht der Sámi verletzt, ihre eigene Identität oder Zugehörigkeit in Übereinstimmung mit ihren Bräuchen und Traditionen zu bestimmen, und die Strukturen und die Mitglieder ihrer Institutionen in Übereinstimmung mit ihren eigenen Verfahren auszuwählen (gemäß Artikel 33 der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker) (CERD/C/106/D/59/2016).

Infolge dieser breiten Verurteilung haben verschiedene finnische Regierungen versucht, das Gesetz über das Sámi-Parlament zu ändern, jedoch bislang ohne Erfolg. Die Erneuerung des Sámi-Parlamentsgesetzes hat den Verfassungsausschuss des finnischen Parlaments dreimal erreicht und ist jedes Mal gescheitert. Letztlich scheint die Frage des Sámi-Parlaments ein politisches Minenfeld zu sein. Die Politiker*innen in der Hauptstadt Helsinki scheinen wenig politischen Nutzen aus diesem wichtigen Thema ziehen zu können, das auch nur wenige Wähler*innenstimmen bringt. Insbesondere in einem Kontext, in dem das russische Expansionsstreben die meisten finnischen Kommentarspalten zu füllen scheint. Erst kürzlich, im Herbst 2023, versprach die neu gebildete Regierung von Ministerpräsident Orpo, einen weiteren Gesetzentwurf zur Änderung des geltenden Gesetzes vorzulegen (YLE News 2023). Es wurden jedoch keine Ergebnisse erzielt, was darauf hindeutet, dass die Debatte über das Sámi-Parlament und damit auch ein Großteil der Debatte über die Selbstbestimmungsrechte der Sámi im politischen Gefrierfach des Mainstreams bleiben wird – zumindest vorerst.

Internationale Governance: Erhöhte geopolitische Spannungen und arktische Zusammenarbeit

In Anlehnung an die nationalen Selbstverwaltungsstrukturen haben die Sámi eine stabile Organisationsstruktur für die internationale Zusammenarbeit und Vertretung geschaffen. Der 1956 gegründete »Sámi-Rat« ist eine internationale Nichtregierungsorganisation, die sich aus samischen Organisationen aus Finnland, Russland, Norwegen und Schweden zusammensetzt. Der Rat ist besonders aktiv bei den Vereinten Nationen und hat den Status eines »Ständigen Teilnehmers« im Arktischen Rat, einem wichtigen zwischenstaatlichen Forum für die Verwaltung der Arktis. Darüber hinaus hat der Rat 2019 eine Sondereinheit eingerichtet, die Einfluss auf die EU-Politik nehmen soll, unter anderem auf den Abbau von Grenzbarrieren in Sápmi.

Der Status eines »Ständigen Teilnehmers« im Arktischen Rat ist in internationalen Organisationen außergewöhnlich, da er über den »Beobachterstatus« für NGOs hinausgeht, den es anderswo gibt (Urueña 2008). Er gibt indigenen Organisationen die Möglichkeit, neben den Mitgliedsstaaten an allen Sitzungen teilzunehmen und die Agenda mitzugestalten. Infolgedessen war der Sámi-Rat in der Lage, echten Einfluss auf den Entscheidungsfindungsprozess im Arktischen Rat auszuüben, da es oft der Fall ist, dass die Mitgliedsstaaten eine bestimmte Policy nicht vorantreiben, die von diesen Teilnehmern abgelehnt wird, wie z.B. in Fragen des Umweltschutzes (Koivurova und Heinämäki 2006).

Dieser Einflussbereich ging jedoch im März 2022 verloren, als der Arktische Rat seine Aktivitäten als Reaktion auf Russlands Einmarsch in der Ukraine einstellte. Dies stellt für die Sámi eine Herausforderung an vielen Fronten dar (Zellen 2023). Einerseits offenbart es einen Bruch innerhalb der indigenen Organisationen mit ständigem Teilnehmerstatus im Rat. Bezeichnenderweise unterstützte eine der teilnehmenden Organisationen, die »Russische Assoziation der indigenen Völker des Nordens« (RAIPON), die zunehmend unter dem Einfluss Moskaus steht, wenige Wochen vor der Aussetzung der Aktivitäten im Arktischen Rat Putins „Wunsch und Entscheidung, die Rechte und Interessen der Bewohner*innen der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sowie die Sicherheit eines multiethnischen Russlands zu schützen“ (RAIPON 2022). Und obwohl eine andere Organisation (das »Internationale Komitee der indigenen Völker Russlands« (ICIPR)) rasch eine eigene Erklärung herausgab, in der sie die Invasion verurteilte, genießt RAIPON immer noch den Status eines offiziellen Teilnehmers (während ICIPR diesen Status nicht hat), wodurch sich die indigene Vertretung im Arktischen Rat entlang geopolitischer Linien zersplittert (Hosa 2023).

Darüber hinaus, und das ist vielleicht das Wichtigste, wurden die indigenen Teilnehmer des Arktischen Rates von den Mitgliedsstaaten nicht konsultiert, als die Entscheidung zur Aussetzung der Aktivitäten getroffen wurde – ein wichtiger Rückschritt in Bezug auf die Möglichkeiten der Sámi, internationale Politik zu beeinflussen, die sie betrifft. Obwohl Norwegen im Mai 2023 den Vorsitz des Rates übernommen und sein ausdrückliches Ziel erklärt hat, die arktische Zusammenarbeit nicht ins Stocken geraten zu lassen (Norwegian Ministry of Foreign Affairs 2023), muss der Realität ins Auge geblickt werden, dass einerseits ein Präzedenzfall in dem Sinne geschaffen wurde, dass folgenschwere geopolitische Entscheidungen in der Arktis getroffen werden, ohne die indigenen Gruppen zu konsultieren, und dass andererseits eine stabile multilaterale Zusammenarbeit in der Arktis ohne Russland unwahrscheinlich erscheint – was das Risiko birgt, dass der Sámi-Rat (und andere arktische indigene Organisationen) eines wichtigen Einflussbereichs in der internationalen Governance beraubt wird.

In ähnlicher Weise hat die Invasion auch die Strukturen der inner-samischen Zusammenarbeit beeinträchtigt, insbesondere zwischen den samischen Gruppen in Russland einerseits und denen in Finnland, Norwegen und Schweden andererseits (Zmyvalova 2022). Im April 2022 beschloss der Sámi-Rat, die Zusammenarbeit mit den Mitgliedsorganisationen der russischen Seite »auf Eis zu legen«. In der Praxis bedeutet dies, dass die Zusammenarbeit mit den russischen Sámi, die im Sámi-Rat durch die Kola-Saami-Assoziation und den Saami-Verband der Region Murmansk vertreten sind, ebenfalls auf Eis gelegt wurde. Bei der Bekanntgabe der Entscheidung formulierte der Sámi-Rat die Herausforderung in geopolitischen Begriffen und erklärte, dass „wir vor 1992 zu lange durch die Handlungen der Staaten und die durch Sápmi gezogenen Grenzen getrennt waren. Wiederum beeinträchtigt und bedroht das Handeln eines Staates die Zusammenarbeit und Einheit des samischen Volkes“ (Sámi Council 2022).

Die Zusammenarbeit mit Russland im »Barents Euro-Arctic Council« wurde im März 2022 ebenfalls ausgesetzt, und Russland zog sich ein Jahr später ganz aus der Organisation zurück. Der »Barents-Rat« verfügt über eine ständige Arbeitsgruppe für indigene Völker (WGIP), die 1995 gegründet wurde, sich aus samischen Vertreter*innenn zusammensetzt und eine beratende Funktion im Rat hat (Barents Euro-Arctic Council 2023). Sie hat sich als wichtiges Forum für die Zusammenarbeit der Sámi und für politische Interventionen erwiesen, insbesondere zu Fragen im Zusammenhang mit dem Klimawandel in der Arktis, der Nordpolitik der Europäischen Union und dem traditionellen Wissen und Kulturerbe. Selbst wenn die Arbeitsgruppe weiterhin mit Vertreter*innen aus den anderen Mitgliedstaaten arbeitet (was sie tut), sind die Auswirkungen auf die Sámi drastisch. „Der Mangel an Interaktion mit den Sámi auf russischer Seite beunruhigt uns“, sagte Eirik Larsen, Mitglied der WGIP und Vertreter im Sámi-Parlament in Norwegen, gegenüber High North News, „wir Sámi sind ein Volk, und es ist schlimm, dass ein Teil unseres Volkes isoliert ist. Vor allem ist es kritisch für die Sámi und andere indigene Völker in Russland, die ohne eigenes Verschulden in diese Situation geraten sind(Edvardsen 2023).

Die Sámi und die Finnische Arktisstrategie

Im Jahr 2021 verabschiedete Finnland eine neue »Arktische Strategie«, die die Evolution des strategischen Denkens des Landes über die Region widerspiegelt (Borg und Brander 2021). Im Gegensatz zur Version von 2013 ist die neue Strategie stärker auf Sicherheitsfragen ausgerichtet und weniger optimistisch, was die Zusammenarbeit mit Russland außerhalb der Umweltkooperation (insbesondere bei der nuklearen Sicherheit und der Emissionsreduzierung) angeht. Besonders bemerkenswert ist, dass die Strategie von 2021 die Rechte der Sámi als eine der wichtigsten Prioritäten der finnischen Politik in der Arktis aufnahm. Im Hinblick auf die Selbstverwaltung der Sámi und die Beteiligung an internationalen Governance-Strukturen umfassten die strategischen Ziele für 2021-2030 die „Verbesserung der Möglichkeiten für indigene Völker, sich an der arktischen Zusammenarbeit, einschließlich der Zusammenarbeit in der Barents-Region, zu beteiligen“ und einen „Wahrheits- und Versöhnungsprozess zur Aufarbeitung historischer Ereignisse zu ermöglichen, der auch zum Aufbau von Versöhnung und Vertrauen zwischen dem indigenen Volk der Sámi und der finnischen Regierung beiträgt“ (Artikel 46, Absatz 4.3).

Und doch scheint Russlands Einmarsch in der Ukraine diese Ziele deutlich zurückgeworfen zu haben. Wie eine Expert*innengruppe feststellte, die vom finnischen Premierminister beauftragt worden war, die Auswirkungen von Russlands Krieg auf die arktische Zusammenarbeit zu bewerten (Koivurova et al. 2022), ist es für die indigenen Völker der Arktis umso schwieriger, ihren Platz in der Zusammenarbeit zu finden, je stärker die Spannungen in der arktischen Region sind. Reformversuche der nationalen Selbstverwaltung scheinen ins Stocken geraten zu sein, und wertvolle Räume für internationale Zusammenarbeit und Beteiligung scheinen sich Stück für Stück zu schließen. In einem Kontext geopolitischer Unruhe erscheinen die Möglichkeiten der Sámi, sich selbst zu regieren, zunehmend eingeschränkter zu sein. Doch trotz dieser Einschränkungen scheinen multilaterale Partizipationsräume weiterhin der beste Weg zu sein, um die internationale Position der Sámi zu stärken und damit die Verhandlungsposition dieser Gruppe im eigenen Land zu verbessern. Die Abkopplung der Geopolitik von den innenpolitischen Debatten könnte sich als kontraproduktiv erweisen, auch wenn dies in einem Kontext, in dem die Sámi auf beiden Seiten der finnisch-russischen Grenze gespalten erscheinen, verlockend zu sein scheint. Wie auch die Natur selbst ihre Zeit braucht, um sich zu verändern und zu entwickeln, werden sich nur dann innenpolitische Partizipationsmöglichkeiten entwickeln, wenn deutlich wird, dass indigene Rechte klar wichtiger sind, als konjunkturelle geopolitische Erwägungen.

Anmerkung

1) Anmerkung des Übersetzers: Auf Deutsch gibt es auch die Schreibweise »die Samen«. Da die Eigenbeschreibung der Gruppe jedoch »Sámi« ist und der Autor durchgehend die Schreibweise »Sámi« verwendet hat, bleibt auch die Übersetzung bei dieser Verwendung.

Literatur

Barents Euro-Arctic Council (2023): Working group of indigenous peoples. Barents Euro-Arctic Council, Homepage.

Borg, E.; Brander, N. (Hrsg.) (2021): Finland’s strategy for Arctic policy. Helsinki: Finnische Regierung.

Edvardsen, A. (2023): Russia out of the Barents Euro-Arctic Council. ‘Cooperation with the Sámi on the Russian side is severely affected by Russia’s war.’ High North News, 29.9.2023.

Hosa, J. (2023): Feeling the chill. Navigating Arctic governance amid Russia’s war on Ukraine. European Council on Foreign Relations, Policy Brief, Mai 2023.

Koivurova, T. et al. (2022): Arctic cooperation in a new situation. Analysis on the impacts of the Russian war of aggression. Government Reports 2022-3. Helsinki: Finnische Regierung.

Koivurova, T.; Heinämäki, L. (2006): The participation of indigenous peoples in international norm-making in the Arctic. Polar Record 42(2), S. 101-109.

Mamo, D. (Hrsg.) (2023): The indigenous world 2023. Copenhagen: International Work Group for Indigenous Affairs.

Mazzullo, N. (2012): The sense of time in the north. A Sámi perspective. Polar Record 48(3), S. 214-222.

Norwegian Ministry of Foreign Affairs (2023): Norway’s chairship of the Arctic Council 2023–2025. BrosjyreVeiledning. Document E1016-E. URL: regjeringen.no, 28.3.2023.

RAIPON (2022): RAIPON supports the decision of president Putin to start the war in Ukraine. 13.3.2022.

Reindeer Herders’ Association (2022): Reindeer herders. URL: paliskunnat.fi.

Sámi Council (2022): Cooperation with Russian side on hold. Sámiráđđi,10.4.2022.

Svonni, M. (2008): Sámi languages in the nordic countries and Russia. In: Extra, G.; Gorter, D. (Eds.): Multilingual Europe. Facts and policies. Contributions to the sociology of language 96. Berlin, New York: De Gruyter Mouton, S. 233-252.

Urueña, R. (2008): Derecho de las Organizaciones Internacionales. Bogotá: Temis/Uniandes.

YLE News (2023): Sami self-governing reform headed to Finnish parliament. YLE News, 10.8.2023.

Zellen, B. S. (2023): As war in Ukraine upends a quarter century of enduring Arctic cooperation, the world needs the whole Arctic Council now more than ever. Northern Review 54, S. 137-160.

Zmyvalova, E. (2022): The impact of the war in Ukraine on the indigenous small-numbered peoples’ rights in Russia. Arctic Review on Law and Politics 13 (August), S. 407-414.

Rene Urueña ist Professor für Rechtswissenschaften an der Universität von Lappland (Finnland) und der Universidad de Los Andes (Kolumbien) (derzeit beurlaubt).

Aus dem Englischen von David Scheuing.

Polarkreise in der Polykrise

Polarkreise in der Polykrise

Arktis und Antarktis zwischen Konflikt und Kooperation

von Jürgen Scheffran und Verena Mühlberger

Die Polarregionen der Erde befinden sich in einem tiefgreifenden Wandel. Ökosysteme und Ressourcen von Arktis und Antarktis sind essentiell für die globale Stabilität und von der globalen Erwärmung besonders betroffen. Damit verbunden sind Konfliktrisiken, aber auch Chancen der Kooperation zwischen Staaten und der Zivilgesellschaft. Während die Antarktis als globales Gemeingut geschützt ist, wurde die Arktis in das Wettrüsten des Kalten Krieges einbezogen. Die darauf folgende Phase der Stabilität und Kooperation droht durch aktuelle Spannungen verschüttet zu werden. Trotz der heutigen Polykrise muss die Zusammenarbeit in den Polargebieten fortgesetzt und einer geopolitischen Polarisierung entgegengewirkt werden.

Die Arktis und die Antarktis sind planetare Antipoden, die jeweils innerhalb des nördlichen und südlichen Polarkreises liegen, also den Breitengraden beider Hemisphären, an denen die Sonne an den beiden Tagen der Sonnenwende gerade nicht mehr auf- oder untergeht (etwa bei 66° nördlicher/südlicher Breite). Während die kontinentale Landmasse im Südpolarkreis weitgehend naturbelassen ist und temporär nur wenige Menschen auf Forschungsstationen beherbergt, liegt der Nordpol im arktischen Ozean und ist von drei Kontinenten umgeben (Europa, Asien, Nordamerika), die im arktischen Polarkreis von etwa 4 Mio. Menschen bewohnt werden. Ist der antarktische Kontinent ganzjährig eisbedeckt, wird der arktische Ozean vom saisonalen Zyklus des Meereises bestimmt. In beiden Polregionen ist die lokale Flora und Fauna an die extremen klimatischen Bedingungen angepasst und anfällig für Veränderungen. Aufgrund der einzigartigen und zunehmend gefährdeten Natur der Polarregionen hat der Tourismus in den letzten zwei Jahrzehnten merkbar zugenommen und ist eine wachsende Einkommensquelle, übt aber Druck auf die fragilen Ökosysteme aus. Schon früh gab es internationale Bemühungen, die Regionen gemeinsam zu erforschen und auf der Grundlage gegenseitiger Interessen und Vereinbarungen zusammenzuarbeiten. Der 1961 in Kraft getretene Antarktisvertrag vereinbart die gemeinsame und friedliche Erforschung und Nutzung der Antarktis, die für marine Ressourcen nachhaltig erfolgen soll. Für die Arktis liegt ein solch umfassendes internationales Vertragswerk nicht vor.

Angesichts der Nähe zu Staaten und Bevölkerungen und damit verbundener Nutzungen und Konflikte liegt im Folgenden der Fokus auf der Arktisregion (zur Antarktis siehe die Beiträge von Lüdecke, S. 25 und Flamm, S. 29 in dieser Ausgabe). Mit dem Ende der letzten Eiszeit zogen sich die Gletscher, die teilweise auch Norddeutschland bedeckten, immer weiter nach Norden zurück, so dass eine Besiedlung durch Menschen möglich wurde, die sich über Jahrhunderte an die extremen Bedingungen der Arktis anpassten und ihr Leben nach dem Zyklus der Jahreszeiten ausrichteten. Während niedrige Temperaturen und kurze Wachstums­perioden eine kommerzielle Landwirtschaft in der Arktis-Region erschweren oder verhindern, gibt es heutzutage starke wirtschaftliche Interessen an den reichlich vorhandenen Bodenschätzen, insbesondere an Erdöl und Erdgas. Es leben über 40 verschiedene indigene Gruppen in der Arktis, deren traditionelle Subsistenzwirtschaft durch Fischerei und Jagd wie auch durch Rentier- und Karibuzucht geprägt ist. Durch eine frühere Schneeschmelze und Verschiebungen der Baumgrenzen in der arktischen Tundra ist ihr Lebensstil bereits gefährdet und gerät durch neue Wirtschaftsformen zunehmend unter Druck (Hansson et al. 2021).

Zone des Friedens in der Krise

Gegen Ende des Kalten Krieges schlug Michail Gorbatschow im Rahmen der »Murmansk-Initiative« vor, die Arktis in eine »Zone des Friedens« zu verwandeln, eine Sichtweise, die bei den Anrainerstaaten auch die Zeit danach bestimmte. So entwickelte sich die Arktis zu einer Zone der Kooperation, mit grenzüberschreitenden kooperativen Allianzen und Partnerschaften zwischen privaten und staatlichen Akteuren. 1996 wurde in Ottawa, Kanada, der Arktische Rat (»Arctic Council«) gegründet, in dem acht Regierungen und sechs indigene Verbände als Permanente Mitglieder für Frieden, Stabilität und konstruktive Zusammenarbeit in der Arktis kooperierten. Gemeinsame Projekte waren Abkommen in den Bereichen Suche und Rettung, Verhütung von Ölverschmutzung und wissenschaftlicher Kooperation, sowie Plattformen für die arktische Küstenwache und den Arktischen Wirtschaftsrat (Klimenko 2019). Ein Forum für die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in der Barentsregion ist der Barents Euro Arctic Council (BEAC), in dem es unter anderem um vertrauensbildende Maßnahmen und grenzüberschreitende Hilfeleistungen in Notfällen, bei Unfällen und Naturkatastrophen geht.

Trotz alarmistischer Vorhersagen und Spekulationen über ein »Gerangel um die Arktis« sind große Konflikte in der Region bislang ausgeblieben, was eine Debatte über den »arktischen Exzeptionalismus« auslöste (siehe dazu Humrich, S. 15 in dieser Ausgabe). Geopolitische Spannungen und multiple Krisen sind Störfaktoren für die arktische Zusammenarbeit und eine Herausforderung für den arktischen Exzeptionalismus (Käpylä und Mikkola 2019). Das betrifft z.B. Projekte im BEAC über biologische Vielfalt und Umwelt-Hotspots (Klimenko 2019). Mit einer zunehmenden strategischen und wirtschaftlichen Bedeutung der Arktis nehmen die Konfliktpotentiale zu und verdrängen die positive Dynamik der 1990er Jahre. Dabei spielen neben dem Klimawandel nicht zuletzt der Ukrainekrieg und die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen eine Rolle, die zur Aussetzung der Zusammenarbeit mit Russland im Arktischen Rat führten (Broek 2023).

Kipppunkte und Risikokaskaden des Klimawandels

Die Polregionen sind von zentraler Bedeutung für das Weltklima und erwärmen sich mit 3 bis 4 Grad Celsius Zuwachs seit den 1970er Jahren um ein Vielfaches schneller als andere Weltregionen. Die zunehmende Wärmeaufnahme durch die großen Ozean- und Landflächen verändert die physische Umwelt grundlegend (AMAP 2019). Eine Nichtdurchsetzung der Pariser Klimaziele würde die Zukunft der Region erheblich verändern. Viele Gebiete werden anfälliger für Waldbrände und Hitzewellen, der erschwerte Zugang zu sauberem Wasser und Lebensmitteln schafft ein Risiko für die Ausbreitung von Krankheiten, und das Katastrophenmanagement wird herausfordernder, mit Such- und Rettungseinsätzen wie bei den Waldbränden in Nordschweden im Sommer 2018. In beiden Polregionen besteht ein Risiko für sich selbst verstärkende Kipppunkte und Risikokaskaden im globalen Erdsystem, die Ende 2023 im »Global Tipping Points Report« (Lenton et al. 2023) bei der Weltklimakonferenz in Dubai vorgestellt wurden. Steigende Temperaturen führen zu größeren eisfreien Meeresflächen, die dadurch stärker Sonnenwärme aufnehmen als das Eis, und sie führen zum vermehrten Auftauen des Perma­frostes, aus dem das Treibhausgas Methan freigesetzt wird. Beides beschleunigt die globale Erwärmung. Während das Meer in der Arktis besser schiffbar wird, werden die Böden und darauf liegende Infrastrukturen (Verkehrswege, Gebäude, Stromleitungen, Pipelines) instabiler. Die veränderte Verteilung von Temperatur und Salzkonzentration schwächt den Wärmetransport des Golfstroms in den Norden, was dort eine Abkühlung bringen könnte. Das Abschmelzen der Eisschilde in Grönland und der Antarktis lässt den globalen Meeresspiegel ansteigen, was den Verlust von Küsten- und Landflächen weltweit bedeutet (Irrgang et al. 2022).

Ressourcenausbeutung und Ungleichheit

Das Abschmelzen arktischer Eisflächen auf dem Land und zur See ist ein tiefer Eingriff in die arktische Umwelt, die einigen Nachteile, anderen Vorteile bringt. Die Ausbeutung von Öl- und Gasvorkommen oder seltenen Erden und anderen Metallen für Digitalisierung und Energiewende belastet nicht nur das Weltklima, sondern auch die lokale Umwelt, mit Auswirkungen auf Ökosysteme und ihre Artenvielfalt in der Region. Dies untergräbt traditionelle Lebensgrundlagen der lokalen Bevölkerung (z.B. Rodon 2018).

Andere profitieren dagegen von den Veränderungen in der Arktis, durch besser zugängliche Ressourcen für die Energieproduktion (Boersma und Foley 2014), schnellere und direktere Schifffahrts- und Handelsrouten durch das eisfreie Meer, höhere Bodenpreise oder landwirtschaftliche Produktivität. Die Rohstoff-Industrie schafft neue Einkommensquellen und Arbeitsplätze (Keskitalo 2019), macht jedoch Staaten zunehmend von fossilen Brennstoffen abhängig, obwohl sie sich im Pariser Abkommen von 2015 zu einer Abkehr verpflichtet haben, um den Klimawandel abzuschwächen. Gelingt dies nicht, verschärfen sich sozio-ökonomische Ungleichheiten in der Arktis. Diese Konfliktdimensionen sollten nicht unterschätzt werden, da sie vor allem die binnen-nationalen Gefüge massiv betreffen.

Brennglas globaler und lokaler Konflikte

Mit der wachsenden strategischen Bedeutung der Arktis nehmen gesellschaftliche Spannungen und Konflikte zu, die die globale und lokale Ebene in komplexer Weise verbinden. Am Nordpol, wo alle Längengrade sich treffen, kommen geopolitische Ansprüche und Widersprüche geographisch weit auseinanderliegender Weltmächte (USA, Kanada, EU, Russland, China und Japan), deren Territorien zu großen Teilen außerhalb des Arktischen Zirkels liegen, wie in einem Brennglas zusammen. Spannungen zwischen Russland und dem Westen gehen einher mit Destabilisierungstendenzen in Europa und Nordamerika, dem Wandel der transatlantischen Beziehungen und Rivalitäten des Westens mit Ostasien. Damit verbunden sind konkurrierende Interessen von Staaten, Unternehmen und Bevölkerungen um Ressourcen, Transportmittel, Pipelines und Grenzziehungen.

Grafik Arktis-Region

Die Arktis-Region mit Informationen über Permafrost-Gebiete, Bergbauflächen (Minen) und sozial-ökologische Konflikte (Quelle: Mühlberger 2023).

Ein Streitgegenstand ist die Festlegung von Grenzen. Fragen der nationalen Souveränität und des internationalen Rechts betreffen die Ausdehnung des Festlandsockels und die Abgrenzung der Seegrenzen, die den Zugriff auf arktische Ressourcen festlegen. Einige Streitigkeiten konnten erfolgreich beigelegt werden, etwa um die Seegrenzen zwischen Russland und Norwegen in der Barentssee (Harding 2010). Dabei bestehen auch unterschiedliche Vorstellungen zwischen staatlichen und oft nomadischen gesellschaftlichen Gebietsansprüchen. In einigen Fällen sind die Rechte der indigenen Bevölkerung betroffen, etwa um Weideland und traditionelle Jagdgebiete, die durch staatliche Machtansprüche an den Rand gedrängt werden. Die Landfragmentierung beeinträchtigt traditionelle Nahrungs- und Wasserquellen und erschwert in Notfällen das Erreichen von Gesundheitszentren und Schutzräumen (Dudarev et al. 2013). Während Organisationen der indigenen Völker, wie der Sami-Rat, die Auswirkungen von Grenzen einschränken wollen, bewirken staatliche Grenzkontrollen vielerorts das Gegenteil (UNGA 2016). Mit wachsenden zwischenstaatlichen Spannungen reduzieren sich die schon erkämpften Mitsprachemöglichkeiten der indigenen Bevölkerung (vgl. Urueña S. 21 in dieser Ausgabe).

Zunehmend entwickelt sich in den einzelnen Staaten ein oft komplexes Problemgeflecht von zwischenstaatlichen Konflikten über Ressourcenextraktion, Klima- und Umweltveränderungen sowie den sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen auf die Bevölkerung, verstärkt durch Armut und Unterentwicklung, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Dabei werden wirtschaftliche Interessen häufig über die indigener Minderheiten gestellt (Temper und Shmelev 2015).

Militarisierung und Aufrüstung

Der Antarktis-Vertrag sieht die ausschließlich friedliche Nutzung der Antarktis vor und verbietet dort jegliche militärische Aktivitäten. Demgegenüber war die Arktis im Kalten Krieg eine der am stärksten militarisierten Regionen der Welt, an der Schnittstelle der Supermächte, als Überflugzone von Atomwaffen und damit verbundener Infrastrukturen, als Testgelände und für andere militärische Zwecke. Mit der Entspannung und dem Ende des Ost-West-Konflikts wurden die Rüstungsarsenale in der Region verringert, im Rahmen der kooperativen Strukturen sank der Bedarf an Gesprächen über militärische Sicherheitsfragen (Groenning 2016). In den letzten Jahren mehrten sich die Anzeichen für neue Spannungen in der Region, die mit einer zunehmenden Militarisierung verbunden sind. Neben der Kontrolle der Arktis geht es auch um Machtprojektionen in anderen Regionen, vor allem im Nordatlantik (vgl. Humrich, S. 16 in dieser Ausgabe).

Dies gilt insbesondere für Russland, das seit 2011 eine Reihe von Militärstützpunkten wiedereröffnet hat, Flugplätze und Radarstationen instand setzt, seine seegestützten Nuklearstreitkräfte und die der großen Überwasserschiffe modernisiert. Im Dezember 2014 richtete Russland das Gemeinsame Strategische Kommando Nord (JSC North) ein, um die verschiedenen militärischen Armeen und Teilstreitkräfte unter einem Kommando zusammenzufassen, ein Zeichen für das Wiederaufleben des Konzepts der »Strategischen Bastion« im Norden (Boulègue 2018). Nach eigenen Aussagen reagiert Russland auf das sich verändernde Umfeld in der Arktis und neue Sicherheitsherausforderungen durch zunehmenden Schiffsverkehr, räumlich und zeitlich längere Küstenlinien durch Meereisschmelze, Konsolidierung der Nordflotte und strategische Parität mit den USA und NATO, die ihre militärischen Anstrengungen nun ebenfalls mehr auf die Arktis richten (Klimenko 2019; Anthony et al. 2021).

Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 und den NATO-Beitritt von Finnland und Schweden droht die Arktis zunehmend in einen neuen Kalten Krieg hineingezogen zu werden. Im Westen wurden Befürchtungen geäußert, dass Russland die freie Durchfahrt im Arktismeer beschränken könnte. An der norwegischen Winterkampfübung »Cold Response« im Frühjahr 2022 nahmen rund 30.000 Soldatinnen und Soldaten aus 27 Nationen teil. Ein Jahr später führte Russlands Nordmeerflotte nach eigenen Angaben ein Manöver in den Gewässern der Arktis mit 1.800 Soldaten und mehr als einem Dutzend Schiffen durch. Ohne ernsthafte Bemühungen für Entspannung und Abrüstung droht in der Arktis ein forciertes Wettrüsten, das Atomwaffen, Flugkörper, Abwehrsysteme, U-Boote und Schiffe ebenso umfasst wie Weltraum-, Cyber- und hybride Kriegsführung.

Geopolitische Rivalität zwischen USA und China

Ein aktiver arktischer Akteur ist zunehmend auch China, das seine Visionen und Absichten 2018 in einem Weißbuch zur Arktis dargelegt hat (SCIO 2018). Neben der Wahrung der Souveränitäts- und Verwaltungsrechte der arktischen Staaten will China Mitsprache in Fragen der arktischen Ressourcenentwicklung und Schifffahrt, beansprucht Rechte auf Navigation, Überflüge und Fischerei, für die Verlegung von Unterseekabeln und Pipelines. China investiert in den Bergbau in Grönland, russische Flüssigerdgas-Projekte, die Zunahme der Schifffahrt entlang der »polaren Seidenstraße« sowie in wissenschaftliche Forschung und Diplomatie. Es gibt Befürchtungen einiger Anrainerstaaten im Westen über den wachsenden Einfluss Chinas auf die Arktisregion und damit verbundene sicherheitspolitische Implikationen (Havnes und Seland 2019).

Das hängt auch mit den strategischen Rivalitäten zwischen Russland, China und den USA zusammen, die sich in der Arktis entladen könnten. Der frühere US-Außenminister Mike Pompeo warnte anlässlich des Ministertreffens des Arktischen Rates in Rovaniemi am 6. Mai 2019 vor aggressiven Ambitionen Russlands und Chinas in der Arktis (Pompeo 2019). Entsprechend wurde der Ausbau der US-Marine- und Eisbrecherkapazitäten der Arktis und im Nordatlantik anvisiert, verbunden mit größeren Anstrengungen von Luftwaffe und Heer (DOD 2019). Auch wenn die Biden-Administration die Arktis zunächst als Zone niedriger Spannung ansah, bereiten sich die US-Küstenwache und andere Einrichtungen auf neue strategische Prioritäten vor (Anthony et al. 2021).

Umweltfolgen der Rüstung und ökologische Sicherheit

Rüstung und Krieg hängen eng mit Umweltfolgen und natürlichen Ressourcen in der Arktis zusammen, wodurch hier erweiterte Konzepte menschlicher und ökologischer Sicherheit an Bedeutung gewinnen.

Der Ukrainekrieg und damit verbundene Sanktionen haben zum einen die fortgesetzte Abhängigkeit der Welt von fossilen Energieträgern deutlich gemacht und den Blick daher auf die riesigen (vermuteten) arktischen Vorkommen gelenkt. Somit drohen das fossile Zeitalter und damit verbundene Konflikte perpetuiert zu werden.

Militärische Aktivitäten in der Arktis bringen zum anderen erhebliche Umweltbelastungen und -risiken mit sich, die die Umweltsicherheit gefährden (Hoogensen et al. 2013). So verschmutzt das russische Militär seit vielen Jahrzehnten seine arktischen Inseln, was 2010 zu einer größeren Säuberung von Abfällen führte, die nur teilweise erfolgreich war und kürzlich fortgesetzt wurde (Arctic Russia 2023). Es gab großflächige Zwischenfälle wie der Nuklearunfall auf dem Njonoksa-Testgelände in der Oblast Arkangelsk im Sommer 2019 (Klimenko 2019). Die wachsende Zahl und Intensität von militärischen Aktivitäten hat auch negative Auswirkungen auf die indigenen Gebiete. Militärübungen und Waffentests werden oft in scheinbar abgelegenen Randzonen oder in der vermeintlich »unberührten Wildnis« durchgeführt. Dies wird jedoch von indigenen Völker kritisiert, da militärische Aktivitäten oftmals auf historischem und kulturell relevantem Land stattfinden. Dies kann ihre Lebensgrundlagen beeinträchtigen, durch Landnahme, Verschmutzung und Abfälle, Transport militärischen Geräts, Lärm sowie der Störung von Vieh und Wildtieren (Vladimirova 2024).

Wege zur nachhaltigen Friedenssicherung

Um grenzüberschreitende Herausforderungen der arktischen Sicherheit einzudämmen, ist die Bereitschaft aller Beteiligten zur Zusammenarbeit erforderlich. Ein verstärktes Engagement von Politik und Forschung kann dazu beitragen, das Wissen und die Implementierung nachhaltiger und friedlicher Lösungsansätze auszubauen (Klimenko 2019).

  • Diskussion über Rüstungskontrolle und militärische Sicherheit: Um die Spannungen in der Arktis zu verringern und zu verhindern, dass kooperative Strukturen und Institutionen in eine geopolitische Sackgasse geraten, ist Rüstungskontrolle unabdingbar. Cepinskyte und Paul (2020) schlagen vor, Diskussionsplattformen über militärische Sicherheitsfragen in der Arktis einzurichten. 2012 initiierte Kanada ein Treffen der Verteidigungsstabschefs der arktischen Staaten, das wegen des Konflikts in der Ukraine und der Beendigung der militärischen Zusammenarbeit mit Russland nach 2014 jedoch ausgesetzt wurde. Die Unterbrechung der Kommunikation ist kein Weg zum Abbau der Spannungen in der Region, und einseitige Maßnahmen wie der Arctic Security Forces Roundtable, bei dem Russland nicht beteiligt ist, machen im Sinne einer Verständigung weniger Sinn.
  • Zwischenmenschliche Kontakte und Bildungsmaßnahmen dienen gerade in Zeiten zunehmender Spannungen dem grenzüberschreitenden regionalen Engagement. Mehr Jugendbeteiligung und Bildungsaustausch schaffen Vertrauen und Verständigung zwischen Gesellschaften, Gemeinschaften und Staaten, und verbessern den Wissensaustausch zwischen verschiedenen Gesellschaften und Kulturen. Beispiele sind Initiativen wie der Barents Youth Council und die Arctic Frontiers Emerging Leaders.
  • Ökologische Zusammenarbeit für gemeinsame Sicherheit: Der Austausch von umweltbezogenen Informationen ist ein Beitrag zum Schutz der polaren Gemeingüter. Um auf Notsituationen in Naturkatastrophen reagieren zu können, müssen begrenzte Ressourcen über große Entfernungen und Staatsgrenzen organisiert werden. Suche und Rettung gelten als erfolgreiche Beispiele für effektive Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen und können potenziell auf andere Bereiche und Akteure ausgeweitet werden, wie in der Strafverfolgung und der maritimen Polizeiarbeit.
  • Forschung zum nachhaltigen Frieden: Während wissenschaftliche Sanktionen der Klimaforschung in der Arktis schaden (Albrecht und Scheffran 2022), kann multidisziplinäre Forschung dazu beitragen, die Folgen menschlicher Aktivitäten in der Arktis für die Lebensmittel-, Wasser- und Gesundheitssicherheit und die Rolle von Technologien zu verstehen (Berner et al. 2016). Um die möglichen Auswirkungen geopolitischer Spannungen und militärischer Aktivitäten auf die arktische Zusammenarbeit zu untersuchen, müssen diese hinsichtlich ihrer Folgen (auch für die Umwelt) untersucht werden. Hierzu gehört auch die Einbeziehung verschiedener Stakeholder, z.B. der Industrie, humanitärer Organisationen und Versicherungen, die das Sicherheits- und Friedensverständnis in der Region erweitern können. Szenariobasierte Forschung und der bessere Zugang zu Daten kann dazu beitragen, Strategien zur Risikominderung und nachhaltigen Friedenssicherung zu entwickeln.
  • Indigenes Wissen und Partizipation: Trotz einiger Fortschritte beim Dialog mit indigenen Gemeinschaften werden ihre Stimmen nur selten von Staaten berücksichtigt, besonders wenn es um sensible Fragen ihrer Sicherheit und Souveränität geht. Um sie stärker einzubeziehen, sind bessere Möglichkeiten der Partizipation und Unterstützung für Forschungsprojekte zu schaffen, in denen die indigenen Völker ihr einzigartiges Wissen über die Arktis für die Problemlösung einbringen können.

Doppelte Transformation zwischen Eiszeit und Heißzeit

Beide Polregionen liegen an der Schnittstelle globaler Probleme und Konflikte und bieten Chancen für die regionale und internationale Kooperation. Sie sind für die Bewahrung der planetaren Grenzen und die Stabilisierung des Klimasystems von zentraler Bedeutung, die durch die nicht-nachhaltige Ausbeutung ihrer Ressourcen gefährdet werden und neue Abhängigkeiten schaffen. Um eine klimatische Heißzeit und eine politische Eiszeit zu vermeiden, braucht es eine doppelte Transformation für einen nachhaltigen und konfliktvermeidenden Umgang mit den Polarkreisen, der im Sinne zukünftiger Generationen auf Vermeidungs- und Anpassungsstrategien unter Beteiligung der lokalen und indigenen Bevölkerungen und ihres Wissens setzt. So können die Orte, um die sich die Erde dreht, zu Zonen des Friedens werden.

Literatur

Albrecht, M.; Scheffran, J. (2022): Wie kann die Wissenschaft noch mit Russland kooperieren? Frankfurter Rundschau, 22.7.2022.

AMAP (2019): Arctic climate change update 2019. Arctic Monitoring and Assessment Programme, Tromsø.

Anthony, I.; Klimenko, E.; Su, F. (2021): A strategic triangle in the Arctic? Implications of China-Russia-United States power dynamics for regional security. SIPRI Insights on Peace and Security 2021/3.

Arctic Russia (2023): Major cleanup in the Arctic: Preliminary results of a project by the Russian Geographical Society. Arctic Russia, 23.8.2023.

Berner, J. et al. (2016): Adaptation in Arctic circumpolar communities: food and water security in a changing climate. International Journal of Circumpolar Health 75, 33820.

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Dr. Jürgen Scheffran ist Professor (em.) für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.
Verena Mühlberger war Masterstudentin am Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN) der Universität Hamburg und hat in ihrer Abschlussarbeit zu den Auswirkungen des Klimawandels auf die Arktis geforscht.

Das Sanktionsregime gegen Russland

Das Sanktionsregime gegen Russland

Friedenspolitische Reflexionen angesichts des Krieges gegen die Ukraine

von Sascha Werthes und Melanie Hussak

Der Krieg der Atommacht Russland gegen die Ukraine hat zu einer Verhängung weitreichender Sanktionsmaßnahmen einer Vielzahl von Staaten geführt. Der friedenspolitische Nutzen von Sanktionen ist jedoch umstritten, da die Einschätzung der Möglichkeiten einer Erreichung intendierter Ziele eher pessimistisch stimmt, die Erwartung nicht-intendierter Folgen problematisch ist und die Gefahr einer durch die Sanktionen stimulierten eskalierenden Dynamik nicht von der Hand zu weisen ist. Wie können wir also die multilateralen Sanktionen gegen Russland friedenspolitisch einordnen?

Sanktionen sind ein beliebtes und viel genutztes Mittel uni-, pluri- und multilateraler Politik – so auch im Fall des russischen Krieges gegen die Ukraine. Nicht nur als Mittel der Interessendurchsetzung einzelner oder weniger Staaten, sondern ebenso in ihrer multilateralen und transnationalen Form werfen Sanktionen jedoch einige frie­dens­politische und friedensethische Fragen auf (siehe hierzu auch die Beiträge von Schweitzer 2019 und Lohrer 2019 in W&F). Die zum Teil hitzig geführten friedenspolitischen Debatten entstehen hierbei nicht nur aufgrund von Überlegungen zu ihrer umstrittenen politischen Wirksamkeit (s. u.a. Peksen 2019). Vielmehr ist mittlerweile gut dokumentiert, dass umfassende wie auch gezielte Sanktionsregime negative sozioökonomische, politische sowie humanitäre Folgen für die Bevölkerung im jeweils adressierten Zielstaat, im Sendestaat als auch in Drittstaaten haben können (anstelle vieler Meissner und Mello 2022; Early und Peksen 2022).

Wir unternehmen daher einige friedenspolitische Reflexionen zu Missverständnissen, Erwartungen sowie den friedensethischen Dilemmata mit Blick auf das multilaterale Sanktionsregime gegen Russland.

Zwangsbewehrung statt Machtmittel

Aus unserer Sicht gilt es zwei miteinander verwobene Diskursstränge über »Sanktionen« als friedenspolitisches Instrument klar zu unterscheiden. Zum einen, die argumentative Fokussierung auf (zumeist uni- oder plurilaterale) »Sanktionen« als Mittel einer interessengeleiteten Machtpolitik, um (die eigenen) Interessen gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen. Zum anderen, ein Verständnis von Sanktionen als Mittel zur Zwangsbewehrung von Normen, um diese zu erhalten oder auch durchzusetzen.

Im ersteren Falle birgt die vermeintliche »Sanktionspolitik« augenscheinlich ein hohes Risiko der Konflikteskalation. Maßnahmen einer interessengeleiteten Machtausübung werden eventuell mit Gegenmaßnahmen beantwortet, welche wiederum in Reaktion hierauf zu weiteren oder verschärften Maßnahmen führen können. Zudem sind Machtausübungen dieser Art auch nur erfolgversprechend, wenn man aus der Position des vermeintlich Stärkeren eine asymmetrische Kräftekonstellation für sich nutzen kann. Allerdings dokumentiert die »Global Sanctions Data Base« in der Auswertung der zwischen 1950 bis 2019 erfassten Sanktionsepisoden nur rund ein Drittel der Fälle als erfolgreich (vgl. Christen und Felbermayr 2022, S. 70). Entlang dieser Betrachtungen bringt Lohrer (2019) in einem früheren Heft von W&F Sanktionen mit reiner Machtpolitik in einen Zusammenhang und lehnt sie als Instrument einer Friedenspolitik zu Recht ab. Denn „nicht jede Machtausübung ist eine Sanktion, sondern nur die, die mit dem Anspruch auftritt, eine allgemeine Norm [sic] zur Geltung zu verhelfen“ (Daase 2019, S. 28f.). Entscheidend für eine friedensethische Bewertung, so kann man im Anschluss an Daase argumentieren, ist daher die argumentativ überzeugende und nicht nur deklaratorische Berufung auf und die Rechtfertigung von allgemeinen Normen, zu deren Erhalt politische oder wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen verhängt werden.

Dies bringt uns zum zweiten Diskursstrang. Hier sollen Sanktionen „als eine Maßnahme der sozialen Kontrolle verstanden werden, also als Reaktionen anderer auf normgemäßes oder von der Norm abweichendes Verhalten eines Sanktionsadressaten“ (Werthes 2019, S. 122f.). Auch wenn hier ebenfalls grundsätzlich die Gefahr besteht, dass Sanktionen zu einer Konflikteskalation beitragen können, so ist die zugrundeliegende Handlungslogik eine fundamental andere. Eine normativ erwünschte Ordnung soll durch die Zwangsbewehrung der entsprechend formulierten Prinzipien und Normen stabilisiert werden. Genau auf dieser Idee beruht auch das System der kollektiven Sicherheit, wie es in der VN-Charta verankert ist und welches das in der Charta verankerte Gewaltverbot (Art. 2.4) im Sinne einer internationalen Friedensordnung absichern soll. Durch ihre Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen haben Staaten grundsätzlich ihre Akzeptanz zu den in der Charta verankerten Prinzipien und Normen erklärt. Das damit verbundene System kollektiver Sicherheit basiert auf der Vorstellung, dass Akteure von Angriffshandlungen sowie von einer friedensbedrohenden oder friedensbrechenden Politik (Art. 39) abgehalten werden, wenn ihnen sonst kollektive nichtmilitärische (Art. 41) oder gar militärische Zwangsmaßnahmen (Art. 42) drohen.

Folgt man den Ausführungen Daases (2019, S. 15-18), so wird hier eine rechtspazifistische Position sichtbar. Die Chance zur Überwindung von Krieg (und Gewalt) wird hier in der rechtlich gestützten Monopolisierung von Zwangsgewalt bei einer internationalen Organisation gesucht. Die friedensethische Legitimität hängt somit von ihrer Normfundierung sowie ihrer regelbasierten Verhängung ab. Eine solche rechtspazifistische Position akzeptiert also das »traurige Notmittel« Sanktionen als friedenspolitische Option „unter bestimmten Voraussetzungen“ (s. auch Schweitzer 2019).

Friedenspolitische Erfolgsparameter von Sanktionsregimen

Hiermit einher geht eine weitere für eine kritische friedenspolitische Debatte über Sanktionen wichtige Überlegung. Die in einer solchen rechtspazifistischen Argumentation verankerte normative Rechtfertigungsnotwendigkeit von Sanktionen verändert die Erfolgsparameter von Sanktionen (hierzu Daase 2019, S. 28). Denn der Aspekt einer machtpolitischen Instrumentalisierung von Sanktionen verliert an Bedeutung. Insofern die Bekräftigung einer allgemeinen Norm die Hauptfunktion von Sanktionen ist und nicht unbedingt die Erzwingung eines bestimmten Handelns, können auch macht- und gewaltlose Sanktionen erfolgreich sein. Entsprechend argumentiert dann auch Daase (ebd.): „Sanktionen scheitern nicht dadurch, dass sie eine beabsichtige Verhaltensänderung nicht erreichen, sondern allenfalls dann, wenn die Berufung auf die zugrundeliegende Norm nicht gelingt und die Sanktion zu Recht als illegitimer Zwang angesehen wird.

Aus rechtspazifistischen Überlegungen heraus, stellt damit die Annahme der Resolution zur Verurteilung der russischen Aggression gegen die Ukraine am 2. März 2022 durch 141 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen eine beeindruckende Missbilligung unter Verweis auf allgemeine Normen (u.a. das allgemeine Gewaltverbot, Recht auf territoriale Integrität, Prinzipien des humanitären Völkerrechts) dar (VN-GA 2022). Auf Grundlage dieser Resolution lässt sich die Zwangsbewehrung dieser Normen mittels Sanktionen friedenspolitisch rechtfertigen.

Aus friedenspolitischen Überlegungen heraus sollte jedoch eine rechtspazifistische Rechtfertigungsmöglichkeit von Zwangsmaßnamen nicht als voraussetzungslose Legitimierung aller beliebigen Zwangsmaßnahmen missverstanden werden. Weitere friedenspolitische Überlegungen sind notwendig.

Friedenspolitische Prüfung der Angemessenheit

Die Zwangsbewehrung von Normen sollte in »friedenspolitischer Absicht« erfolgen. Zwangsmaßnahmen und ihre Aufhebungsbedingungen sollten mit dem Ziel verhängt werden, die Bedingungen eines gewaltfreien Zusammenlebens zu bewahren oder (wieder) herzustellen (Werthes 2019, S. 139ff). Dies bedeutet, Sanktionsmaßnahmen zu vermeiden, die zu einer Eskalation des Konflikts beitragen und eine Transformation und Konfliktbearbeitung erschweren. Die Verhängung von Sanktionen mit dem expliziten oder impliziten Ziel, einen Regierungswechsel im Zielland herbeizuführen, sind daher friedenspolitisch problematisch, da sie die Fronten verhärten und einen diplomatischen Dialog erschweren. Entsprechend sind auch Reisebeschränkungen – zumindest vorübergehend – aufzuheben, damit Regierungsverantwortliche und ggf. weitere politische Eliten des Landes an diplomatischen Gesprächen teilnehmen können. Die Einbettung von Sanktionsmaßnahmen in eine perspektivisch über Jahrzehnte andauernde Eindämmungsstrategie gegenüber Russland – ganz gleich wie sich die Lage in der Ukraine entwickelt – wie sie Lake (2022) einfordert, mag aus sicherheitspolitischer Sicht plausibel erscheinen, eine friedenspolitische Absicht ist hier jedoch nur noch schemenhaft zu erkennen.

Die »ultima ratio« der Zwangsbewehrung von Normen muss es sein, unter allen geeigneten Mitteln die jeweils gewaltärmsten Mittel vorzuziehen. Dies beinhaltet auch die beständige Suche nach alternativen, gegebenenfalls positiven oder gewaltärmeren Sanktionen, mit denen die friedenspolitischen Ziele ebenfalls verfolgt werden können. Zwangsbewehrung sollte in diesem Sinne ein Kontinuum ausnutzen, bei dem unterschiedliche soziale, politische, ökonomische Kosten auferlegt werden, um ein bestimmtes Verhalten zu fördern (Daase 2019, S. 24). Eng verbunden ist hiermit das Kriterium der »Verhältnismäßigkeit der Mittel«: Umfang, Dauer und Intensität der Zwangsmaßnahmen sind auf dasjenige notwendige Mindestmaß zu begrenzen, welches eine Aussicht auf Erfolg offeriert. Im Sinne eines »Unterscheidungsprinzips« sind nicht direkt beteiligte beziehungsweise nicht verantwortliche Personen, Gruppen und Einrichtungen soweit es geht zu schonen. Mit Blick auf politisch-institutionelle, ökonomische, soziale, kulturelle, ökologische und insbesondere auch humanitäre Folgen von Zwangsmaßnahmen gilt es eine »Verhältnismäßigkeit der Folgen« zu beachten.

Eine friedenspolitisch akzeptable Sanktionspolitik erfordert in diesem Sinne ein hohes Maß an »Flexibilität«, da auf die Dynamiken des Konflikts schnell und angemessen reagiert werden sollte. Die Entschärfung oder vorübergehende Aufhebung der Sanktionsmaßnahmen gilt es zu überlegen, sofern sich Gelegenheitsfenster, im Sinne von „Reife-Momenten“ (Zartman 2022), für eine diplomatische Bearbeitung des Konflikts abzeichnen.

Schlussbemerkungen

Wladimir Putin hat mit seiner irredentistischen, expansionistischen Aggressionspolitik gegen die Ukraine nicht zum ersten Mal die Gültigkeit der in der VN-Charta verankerten Prinzipien und Normen missachtet und damit eben auch infrage gestellt. Die klare Missbilligung seiner Aggression gegen die Ukraine durch die Generalversammlung war ein wichtiges, überzeugendes und notwendiges Signal mit dem Anspruch, den in friedenspolitischer Absicht formulierten, allgemeinen Normen (u.a. Gewaltverbot) zur Geltung zu verhelfen, die Gültigkeit aufrechtzuerhalten und eine Beachtung einzufordern. Wäre dies nicht erfolgreich gelungen, stünde die Büchse der Pandora weit offen. In allen Regionen der Welt würde sich das Risiko erhöhen, dass andere seinem Beispiel folgen.

Die in Verbindung hierzu stehenden regelmäßig neu zu befristenden multilateral abgestimmten Sanktionsmaßnahmen mit der Forderung nach Einstellung der Kampfhandlungen und Wiederherstellung der territorialen Integrität können somit für sich eine rechtspazifistische Normfundierung in Anspruch nehmen. Die Sanktionen gegen russische Finanzinstitute, den Energiesektor, den Verkehrssektor, den Technologiesektor, gegen die Medien sowie Sanktionen gegen Politiker*innen, Geschäftsleute und Oligarchen sind weitreichend. Ein Sanktionsregime dieser Art gegen eine G-20 Wirtschaftsnation mit einem ausgeklügelten militärisch-industriellen Komplex und einem diversifizierten Korb von Rohstoffexporten hat es bisher noch nicht gegeben (vgl. Mulder 2022). Die sozio-ökonomischen und politischen Folgen dieser Sanktionsmaßnahmen in Verbindung mit den Kosten und Folgen, die Putins Aggressionspolitik als solche produziert, sind schwer genau zu prognostizieren, werden jedoch nicht nur für die russische Bevölkerung gravierend sein. Diesbezüglich beschreibt Mulder (2022) vier Problematiken, die schon mit den bisherigen Sanktionsmaßnahmen einhergehen: Spillover-Effekte in benachbarte Länder und Märkte, Verstärkungseffekte durch Divestment des Privatsektors, Eskalationseffekte in Form russischer Antworten, und (negative) systemische Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Hinzuzufügen sind negative politische und humanitäre Folgen in Russland und weiteren Staaten.

Dies stellt ein friedenspolitisches Dilemma dar, welches jedoch nicht dazu führen sollte, die bisherigen gezielten und selektiven Sanktionsmaßnahmen aus friedenspolitischen Erwägungen heraus vorschnell abzulehnen. Sanktionen sind in rund einem Drittel der Fälle erfolgreich und können eben auch die militärischen Fähigkeiten zur Kriegsführung eindämmen sowie angesichts der erzeugten Kosten dazu beitragen, den Druck zur Verhandlungsbereitschaft zu erhöhen. Eine naive Sanktionspolitik jedoch, welche darauf hofft, durch immer neue Sanktionen, also mit der Erzeugung von mehr Druck und mehr Leid beim Adressaten ein Umdenken zu forcieren, ist mit Blick auf die oben genannten Prüfkriterien abzulehnen. Das heißt, bei jeder zu diskutierenden neuen Verhängung oder Verlängerung von Sanktionsmaßnahmen müssen die vorgestellten friedenspolitischen Überlegungen zur Prüfung der Angemessenheit von Sanktionsmaßnahmen berücksichtigt werden, wollen politische Entscheidungsträger*innen mit großer Vorsicht und hoffentlich auch friedenspolitischem Geschick vorgehen.

Literatur

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Christen, E.; Felbermayr, G. (2022): Sanktionspolitik gegen Russland. Wirtschaftsdienst (Zeitschrift für Wirtschaftspolitik), 102(2), S. 70-71.

Daase, C. (2019): Vom gerechten Krieg zum legitimen Zwang. Rechtsethische Überlegungen zu den Bedingungen politischer Ordnung im 21. Jahrhundert. In: Werkner, I.; Rudolf, P. (Hrsg.): Rechtserhaltende Gewalt – zur Kriteriologie. Wiesbaden: Springer, S. 13-32.

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Lake, D. A. (2022): Containment 2.0: Sanctions For The Long Haul. Political Violence at a Glance, 9.3.2022.

Lohrer, H. (2019): Sanktionen: Ein friedenspolitisches Instrument – Kein Instrument der Friedenspolitik. W&F 4/2019, S. 37-39.

Meissner, K. L.; Mello, P. A. (2022): The unintended consequences of UN sanctions: A qualitative comparative analysis. Contemporary Security Policy: (Online first, 1-31).

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Schweitzer, C. (2019): Sanktionen: Ein friedenspolitisches Instrument – Unter bestimmten Voraussetzungen eine Option. W&F 4/2019, S. 35-36.

Werthes, S. (2019): Politische Sanktionen im Lichte rechtserhaltender Gewalt. In: Werkner, I.; Rudolf, P. (Hrsg.): Rechtserhaltende Gewalt – zur Kriteriologie. Wiesbaden: Springer, S. 121-150.

Zartman, I. W. (2022): Understanding Ripeness: Making and Using Hurting Stalemates. In: Mac Ginty, R.; Wanis-St. John, A. (Hrsg.): Contemporary Peacemaking. Peace Processes, Peacebuilding and Conflict. 3. Aufl., Cham: Springer, S. 23-42.

Dr. Sascha Werthes ist Dozent für Internationale Beziehungen und Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Trier.
Melanie Hussak ist Mitglied der Redaktion von W&F und an der Friedensakademie Rheinland-Pfalz assoziiert.

Europas Dilemma


Europas Dilemma

Die EU und der russisch-ukrainische Konflikt

von Hanna Shelest

Die Frage danach, wie sich die EU im Lösungsprozess des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine einbringen soll, steht seit 2014 auf der Agenda und noch immer gibt es keine eindeutige Antwort. Ist es die EU als Ganzes oder sind es Frankreich und Deutschland, die die Rolle des Mediators einnehmen? Sollte die EU eine Peacekeeping-Mission in die Ukraine schicken? Was kann die EU außer Sanktionen noch tun? Im Folgenden einige Überlegungen zur derzeitigen und zur möglichen zukünftigen Rolle der EU und ihres Engagements im russisch-ukrainischen Konflikt.

Obwohl sich das EU-Engagement in der Ukraine seit 2014 insgesamt bedeutend vertieft hat, lässt sich das Gleiche nicht über die Rolle der EU im Friedensprozess sagen. Viele EU-Beamte betonen, dass die Organisation durch Frankreich und Deutschland im Normandie-Format vertreten sei. Dies wird allerdings weiterhin eher als französische und deutsche Mediationsbemühungen wahrgenommen, denn als Bemühungen der EU, so sehr Frankreich und Deutschland auch kontinuierlich die anderen Mitgliedsstaaten über die Fortschritte informieren und sich in ihren Positionen abstimmen.

Im ersten Mediationsversuch im Konflikt um die Ukraine im April 2014 – dem sogenannten Genfer-Format – waren die Ukraine, Russland, die USA und die Europäische Union Verhandlungspartner*innen. Die EU war hier als Organisation anwesend. Die geringe Bereitschaft der USA, in diesem Konflikt eine aktive Rolle als Mediator*in einzunehmen, hat dieses Format torpediert und so dazu geführt, dass das neue Normandie-Format aufgesetzt wurde. Hier ist die EU jedoch nicht als Organisation präsent, sondern wird von Deutschland und Frankreich vertreten, die jeweils als Akteure in sich und als Stimme der EU auftreten.

Die letzten sechs Jahre des Konfliktes und seiner Fortentwicklung haben zwei Probleme des Formats für die EU offenbart: zum einen die Entscheidung, nur entweder staatlicher oder institutioneller Mediator sein zu können. Denn wann präsentieren Deutschland und Frankreich ihre je eigene Vision für die Konfliktbeendigung und wann vertreten sie eine gemeinsame Linie der EU? Trotz aller Beteuerungen der Beamt*innen, dass das Gegenteil der Fall sei, hat es Brüssel immer noch nicht geschafft, für eine öffentliche Wahrnehmung seines Engagements zu sorgen und das Engagement von Deutschland und Frankreich wird als individuelle Mediation zweier Staaten gesehen.

Zum anderen verhandeln die Ukraine und Russland Fragen rund um konkrete Konfliktthemen direkt mit Paris und Berlin. Wenn die Ukraine und Russland also beispielsweise über die Modalitäten eines Friedensplans, eines Waffenstillstands, den Umgang mit ausländischen Kämpfern oder Sicherheitsgarantien sprechen wollen, so diskutieren sie dies mit Frankreich und Deutschland. Die EU kommt dabei üblicherweise nur ins Bild, wenn es um Sanktionsmechanismen und den Wiederaufbau nach Konfliktende geht.

Politische Instrumente

Verschiedene Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben einen reichen Erfahrungsschatz, wenn es um Konflikt­lösung und Mediation geht, die EU als Ganzes allerdings hat nur beschränkte Erfahrungen in dieser Hinsicht. Die Stärke der EU liegt eher in ihrer Rolle als »Peacebuilder«, wenn es um Fragen des Wiederaufbaus und der Versöhnungsprozesse, Reformbestrebungen oder den Umgang mit umstrittenen Territorien geht. Erst kürzlich wurden Konfliktpräventionsmechanismen überhaupt zu den außenpolitischen Prioritäten der EU hinzugefügt. Die EU-Globalstrategie für Außen- und Sicherheitspolitik von 2016 stellt Mediation auf eine Linie mit präventiver Diplomatie und betrachtet sie als ein Instrument der vorsorglichen Friedenssicherung und für frühzeitiges Handeln: „Vorwarnung ist nur von geringem Nutzen, wenn sie nicht von frühzeitigem Handeln begleitet wird. Das beinhaltet regelmäßige Berichterstattung und Vorschläge an den Rat der EU, sich durch die EU-Delegationen und EU-Sondergesandten in präventiver Diplomatie und Mediation zu üben“ (EEAS 2016, S. 30). Der Politische Dialog ist eines der Hauptinstrumente der EU-Außenpolitik für Konfliktmanagement, das darauf abzielt das Verhalten der Konfliktparteien zu verändern. Aber im Fall der Ukraine fällt es der EU nicht leicht, sich zu entscheiden, wessen Positionen sie verändern möchte. Zudem ist unklar, ob die EU nicht auch selbst als Konfliktpartei betrachtet werden sollte.

Genau aus dieser Unklarheit speist sich die strategische Schwäche der EU an dieser Stelle: Sie ist weder anerkannte Konfliktpartei noch eine unparteiische Mediatorin. Da die Revolution von 2013-2014 auf einen Weg der Ukraine in die EU abzielte und die Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der EU einer der Trigger für die russische Aggression war, entzogen die anderen Konfliktparteien (allen voran die russische Föderation, aber ebenso die separatistischen Regionen Donezk und Lugansk) der EU ihre »Neutralität« in diesem Konflikt. Die EU wird von der russischen Föderation und den separatistischen Gebieten nicht als Mediatorin akzeptiert, da sie Sanktionen gegen Russland eingesetzt hat und weiterhin einen Annäherungskurs mit der Ukraine fährt.

Gleichzeitig sollte die EU den »ukrainischen Fall« weitgehender betrachten, als nur durch die Linse der russisch-­ukrainischen Beziehungen. Für Russland ist diese Konfrontation eine über europäische Ordnungsmacht, ein Wettstreben mit den USA und eine Möglichkeit, den eigenen Einflussbereich gegen Europa in Stellung zu bringen. Für die EU hingegen sollte es hier um eine schwere Verletzung der Souveräntität und territorialen Integrität eines Staates, um Menschenrechte und Millionen Menschenleben, das Völkerrecht und die Unterstützung anderer unabhängiger Staaten gehen.

Seit 2014 hat es die EU nicht geschafft, einen Sondergesandten für die Ukraine zu benennen. Während die EU als Ganzes zwar umfassend im Dialog mit der Ukraine war, hatte die außenpolitische Komponente die geringste Bedeutung. Die Nachbarschaftspolitik, Energiefragen, Justiz-, Wirtschaft- und Handelsreformen, Visaerleichterungen – all diese Fragen führten schlussendlich zur Unterzeichnung des Assoziationsabkommens und des Freihandelsabkommens, zu verstärktem politischen Dialog und Handelsbeziehungen. Während der gleichen Zeit reiste die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini nur zweimal in die Ukraine und priorisierte beide Male Reformen und den Anti-Korruptions-Prozess gegenüber dem Friedensprozess. Sie war stark in den Verhandlungen zu Kosovo und zur iranischen Atomfrage eingebunden, dem Donbas allerdings schenkte sie wenig Beachtung und reiste auch nie dorthin, trotz ausgesprochener Einladungen. Der Wechsel der EU-Kommission 2019 hat an dieser Situation und den EU-Prioritäten gegenüber der Ukraine nichts verändert.

Unentschlossene Peacekeeping-Versuche

2015 hatte der damalige ukrainische Präsident offiziell eine EU- oder UN-geführte Peacekeeping-Mission in der Ukraine angefordert. Die EU-Version einer solchen Mission wurde schnell abgelehnt, nachdem sich alle Expert*innen über die geringen Erfolgsaussichten einer solchen Peacekeeping-Mission einig zu sein schienen. Der wichtigste Grund dafür war wohl der drohende Verlust der Neutralität in diesem Konflikt; aber viel grundlegender galt es zu berücksichtigen, dass die EU keine relevante Erfahrung mit der Durchführung von ­Peacekeeping-Missionen hat.

Vielmehr konzentriert sich die EU normalerweise auf zivile Aufgaben, den Prozess des »Peacebuilding«, vertrauensfördernde Maßnahmen, Wiederaufbauprojekte und Konfliktprävention. So sind auch beide derzeitigen Missionen in der Ukraine zivile Missionen – die EU »Grenzunterstützungsmission (Border Assistance Mission)« in Moldawien und der Ukraine (EUBAM, seit 2005) und die »EU Beratermission zur Reform des zivilen Sicherheitssektors in der Ukraine« (EUAM Ukraine, seit März 2014. EU-Militärmissionen sind typischerweise kurze Einsätze und als Unterstützung der Aktivitäten anderer internationaler Organisationen angelegt. Obwohl ein EU-interner Beschluss für ihren Einsatz genügt, hat die EU in der Vergangenheit nur dort Einsätze gestartet, wo schon andere internationale Organisationen vor Ort waren. Peacekeeping überlässt die EU immer noch gerne vor allem anderen Organisationen.

Im postsowjetischen Raum verlassen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten bei Konflikten traditionell auf die OSZE. Die direkten Einladungen für einen Einsatz in der Ukraine 2015 und 2018 wurden mit dem Hinweis abgelehnt, dass die EU-Mitgliedstaaten bereitstünden durch die UN und die OSZE am Konflikt zu arbeiten. Die Sonderbeobachtungsmission der OSZE in der Ukraine ist keine Peacekeeping-Mission im eigentlichen Sinne des Wortes, aber sie ist die einzige derartige Mission, die derzeit vor Ort ist. Indem sie die Mission politisch, diplomatisch und finanziell unterstützt, kann die EU eine halbwegs neutrale Rolle beibehalten und dennoch den Peacekeeping-Prozess beeinflussen, muss aber nicht tiefergehender involviert sein.

Was folgt nun?

Während die nächste Waffenstillstandsverlängerung so gut wie sicher ist, kann sich die EU in die Friedensverhandlungen aktiver einbringen, die aufgrund der Pandemie und russischem Widerstand zum Erliegen gekommen sind. Die »Krim-Plattform«, wie sie kürzlich vom ukrainischen Außenministerium angekündigt wurde, könnte ein neues Format sein, in dem sich die EU als Organisation mehr einbringt (MFA 2020).

Mittlerweile lassen sich Rufe danach, den Konflikt einzufrieren und die Sanktionen gegen Russland aufzuheben, häufiger vernehmen – obwohl ihre Urheber*innen den Kreml offen für die Annexion der Krim und den Krieg im Donbas anklagen. Viele europäische Think-Tanks haben schon vorgeschlagen, Russland in einen Dialog über die neue EU-Sicherheitsordnung einzubinden, in der Hoffnung, dass dies zur Konfliktbeilegung im Donbas beiträgt (vgl. ICG 2020, EASLG 2020). Viele von ihnen lassen dabei die Frage der Krim außen vor. De facto ist ein Szenario eines eingefrorenen Konfliktes aber die schlechteste Option, da es der internationalen Staatengemeinschaft erlauben würde, den Vorgängen in der Ukraine und den konstant erneuerten Forderungen aus Moskau noch weniger Beachtung zu schenken. Dialogbereitschaft und ein Einfrieren des Konfliktes fühlen sich daher mehr nach einem Beschwichtigungsversuch, als nach einer Konfliktlösung an.

An den Ausgangsbedingungen hat sich seit 2014 nichts verändert. Jeder Ruf nach Dialog sollte mit einem klaren Verständnis davon einhergehen, wie weit die europäischen Staaten bereit sind, Kompromisse bei ihren Prinzipien und Werten einzugehen. Wenn die EU eine normative Kraft hat und keine militärische, und wenn sie weichere Methoden und Sanktionen über militärische Optionen bevorzugt, dann kann es immer einen Weg für eine Position der »Offenen Karten« geben, nämlich mit der EU-Mitgliedschaftsperspektive für die Ukraine weiter voranzugehen. Das würde ein klares Signal an die russische Föderation senden, dass all ihre militärischen Manöver, hybride Kriegsführung oder politische Einmischung die EU nicht davon abhalten wird, neue Mitglieder einzuladen und den Einflussbereich ihrer Werte und Normen auszuweiten.

Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sich die EU als Organisation mehr einbringen wird. Die gegenwärtige Situation, in der die zwei einflussreichsten Mitgliedsstaaten im Normandie-Format präsent sind, scheint alle anderen Mitgliedstaaten zu befriedigen und dennoch der EU-Kommission genug Spielraum für ihre eigenen Manöver zu lassen. Mit den anstehenden Wahlen in Deutschland und Frankreich kann sich diese Situation aber in absehbarer Zeit ändern – eine mögliche neue Chance für die EU, sich als einheitliche Stimme und mögliche Mediatorin im russisch-ukrainischen Konflikt zu präsentieren.

Literatur

European External Action Service (EEAS) (2016): Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe. A Global Strategy for the European Union‘s Foreign and Security Policy. June 2016.

Euro-Atlantic Security Leadership Group (EASLG) (2020): Twelve Steps toward Greater Security in Ukraine and the Euro-Atlantic Region. February 2020.

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Ministry of Foreign Affairs of Ukraine (MFA) (2020): Crimean Platform to Keep Occupation of Crimea in Focus of Constant International Attention – Emine Dzhaparova. 05 October 2020.

Dr. Hanna Shelest ist Direktorin der Programme für Sicherheitsfragen beim außenpolitischen Think-Tank »Ukrainska Prisma« und Chefredakteurin der Zeitschrift »UA: Ukraine Analytica«.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing

Russlands »hybride Kriegführung«


Russlands »hybride Kriegführung«

von Hans-Georg Ehrhart

Vor einigen Jahren fand der Begriff »hybride Kriegführung« Eingang in den sicherheitspolitischen Diskurs. Anlässe waren die Annexion der Krim durch Russland 2014 und der verdeckte Krieg in der Ukraine. Das russische Vorgehen wurde mit verschiedenen Begriffen zu erfassen versucht. Es war die Rede von nichtlinearer, begrenzter, unkonventioneller, irregulärer, verdeckter, postmoderner oder eben hybrider Kriegführung. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass der Krieg, so Carl von Clausewitz, ein „wahres Chamäleon“ ist, das seine Erscheinungsform je nach Umgebung ändert (Clausewitz 1973, S. 212). Ein anderer liegt darin, dass es in der Kriegsforschung bis heute keine klare und allgemein akzeptierte Definition oder Typologie des Krieges gibt. Letztlich kommt es darauf an, was man unter Krieg versteht, und dieses Phänomen dann auch so zu nennen, ist eine äußerst politische Entscheidung.

Krieg im 21. Jahrhundert scheint andere Ausdrucksformen anzunehmen, als es das klassisch-binäre Verständnis seit der Herausbildung der europäischen Staatenwelt suggeriert. Demzufolge handelt es sich bei Krieg um eine zwischenstaatliche, mit regulären Armeen nach bestimmten Regeln auf dem Schlachtfeld geführte Auseinandersetzung (Ehrhart 2017). Doch lag dieser Sichtweise immer eine eurozentrische und staatsfixierte Sicht zugrunde. Zudem galt sie nur für einen relativ kurzen historischen Zeitraum und das auch nur eingeschränkt, weil auch in dieser Zeit hybride Mittel und Taktiken eingesetzt wurden. Darum ist Murray und Mansor zuzustimmen, wenn sie betonen, dass hybride Kriegführung – verstanden als Kombination von konventioneller und unkonventioneller bzw. regulärer und irregulärer Kriegführung – nichts Neues ist (Murray und Mansoor 2012, S. 2).

Gleichwohl wurde die russische Kriegführung in der Ukraine zunächst als etwas völlig Neues beschrieben, als Invasion, als feindliches Eindringen oder als Aggression (Ehrhart 2014, S. 26), bis sich in der NATO und in der EU schließlich die Begriffe »hybride Kriegführung« und »hybride Bedrohungen« durchsetzten. Auf dem Gipfel von Wales beschrieb die NATO hybride Kriegführung als „eine große Bandbreite an offenen und verdeckten militärischen, paramilitärischen und zivilen Maßnahmen“, die auf hochabgestimmte Weise eingesetzt werden“ (NATO 2014, Ziffer 13). Während in diesem weiten Verständnis die konventionelle Kriegführung noch mit aufgeführt wird, wurden später auch einzelne Aktivitäten, wie informationelle Beeinflussung und subversive Handlungen, als hybride Kriegführung bezeichnet. Damit wird der Begriff nicht nur noch unschärfer, sondern auch problematisch, weil er die rhetorische Kriegsschwelle senkt.

Der Begriff hat nicht nur, wie Ina Kraft treffend feststellt, die Funktion der Vereinfachung, der Generierung von Aufmerksamkeit und von Legitimität (Bilban und Griniger 2019a, S. 335; Artikel von Ina Kraft auf Seite 13 in diesem Heft), sondern auch der geistigen Mobilmachung und der politischen Konfrontation. Ihm liegt angeblich eine »Doktrin« zugrunde, die den Namen des russischen Generalstabschefs Valery Gerasimov trägt. Diese Zuordnung geht auf eine Rede im Jahr 2013 zurück, in der Gerasimov die westlichen Kriseninterventionen und die darin erkennbaren spezifischen Formen der Auseinandersetzung analysiert, nämlich politische Ziele mit minimalem bewaffnetem Aufwand zu erreichen, vor allem mit „Zersetzung [des gegnerischen] militärischen und wirtschaftlichen Potenzials, informationell-psychologischer Einflussnahme, aktiver Unterstützung der inneren Opposition und der Anwendung von Partisanen- und subversiven Methoden […]“ (Gerasimov, zitiert in Bilban und Griniger 2019b, S. 275 f.). Gerasimov selbst hat den Begriff der hybriden Kriegführung erstmals 2016 benutzt und das zugrundeliegende Konzept als westlich bezeichnet. Gleichwohl entspricht das russische Vorgehen gegen die Ukraine seiner Beschreibung, wie das folgende Kapitel zeigt.

Russlands Praxis hybrider Kriegführung in der Ukraine1

Die beiden Tschetschenienkriege von 1994 bis 1996 und von 1999 bis 2009 zeigten, dass Russlands Streitkräfte strukturell, technologisch, doktrinär und politisch-strategisch nicht mehr auf moderne Aufstandsbekämpfung eingestellt waren. Der Georgienkrieg 2008 schrieb zwar die im zweiten Tschetschenienkrieg begonnene taktisch-operative und politische Lernkurve fort, indem es gelang, die georgischen Soldaten rasch aus Südossetien und Abchasien zu vertreiben und die eigenen Truppen nach wenigen Tagen zurückzuziehen. Zudem wurde die militärische Operation durch intensive Informationsoperationen und Cyberattacken begleitet. Doch offenbarte dieser Konflikt auch militärische Schwächen, etwa in den Bereichen Führung, Informationstechnologien und Präzisionswaffen. Die Annexion der Krim 2014 zeigte verbesserte Führungsfähigkeiten und modernere Ausrüstung, etwa neue Kommunikationsmittel auf der Basis des russischen Navigationssystems Glonass und moderne Helme mit eingebautem Multifunktionsgerät. Das Vorgehen in der Ukraine seit 2014 demonstriert wiederum, dass Moskau seine Kriegführung durch direkte, wenn auch verdeckte bzw. abstreitbare, konventionelle Eingriffe unterstützen kann, wenn die Lage es erfordert.

Insgesamt nutzt(e) Russland die gesamte Bandbreite der Methoden hy­brider Kriegführung. Die Annexion der Krim wurde durch ein groß angelegtes Ablenkungsmanöver eingeleitet, bei dem ohne vorherige Ankündigung große Teile der Armee in Alarmbereitschaft versetzt wurden und mehr als 150.000 Soldat*innen eine Militärübung abhielten. Während westliche Beobachter gebannt auf den westlichen und den zentralen Wehrbezirk schauten, verstärkte Moskau die in Sewastopol stationierten 10.000 Soldaten bis Ende März um weitere 22.000, darunter Spezialkräfte der Geheimdienste und des neu gegründeten Streitkräftekommandos für Sonderoperationen. Maskierte, aber diszipliniert und bestimmt auftretende Männer im Kampfanzug ohne Hoheitsabzeichen – die so genannten »grünen Männchen« – waren immer dann präsent, wenn lokale prorussische Kräfte Gebäude des ukrainischen Staates besetzten. Die propagan­distische Begleitmusik spielte das Lied von der autonomen Volksbewegung, die den Anschluss an Russland wolle, um der faschistischen Bedrohung aus Kiew zu entgehen. Das alternative Narrativ wurde unterstützt durch die Ausschaltung kritischer Medien und Cyberangriffe auf ukrainische Internet- und Telefonverbindungen. Den vermeintlich legalisierenden Schlusspunkt setzten ein kurzfristig durchgeführtes Referendum und der formale Beitritt der Krim zu Russland am 18. März 2014.

In der Ost- und Südostukraine gestaltete sich das Vorgehen Russlands ähnlich. Im Unterschied zur Annexion der Krim eskalierte der Konflikt hier jedoch zum konventionellen Krieg. Die »grünen Männchen« agierten im Zusammenspiel mit lokalen bewaffneten Aufständischen hauptsächlich in den Gebietskörperschaften Donezk und Luhansk, wobei dieses Mal auch russische Soldaten und Kämpfer aus dem Kaukasus mitwirkten. Laut russischen Darstellungen handelt es sich ausschließlich um Freiwillige, die für die Selbstbestimmung der Russen kämpfen. Begleitet wurde das Vorgehen durch Cyberattacken auf ukrainische Regierungsorganisationen.

Zwar erhalten die Separatisten von Russland Führungsunterstützung und Ausrüstung, allerdings hat Moskau die beiden von ihnen deklarierten autonomen Volksrepubliken bislang nicht anerkannt. Nachdem die Aufständischen unter militärischen Druck der Ukraine geraten waren, antwortete Moskau mit grenznahen Militärmanövern, um eine Drohkulisse aufzubauen, vermehrten Waffenlieferungen, um die Separatisten zu stärken, mit unilateraler humanitärer Hilfe, um Pluspunkte an der heimischen Propagandafront einzufahren, und mit der Eröffnung einer weiteren Front im Südosten der Ukraine, um die Separatisten im Osten zu entlasten. Trotz des am 5. September 2014 in Minsk unter Vermittlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unterzeichneten Waffenstillstandabkommens zwischen der ukrainischen Regierung und den Separatisten flammten die Kämpfe immer wieder auf. Auch nach der Präzisierung und Bekräftigung des Minsker Abkommens durch die Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine im Februar 2015 (Minsk II) simmert der Krieg weiter. Er forderte bislang fast 13.000 Menschenleben.

Während die eingesetzten Waffen auf einen klassischen konventionellen Krieg hindeuten, zeigen die eingesetzten Kräfte und die russische Interpretation des Konflikts, die dem Prinzip der plausiblen Abstreitbarkeit folgt, dass es sich auch um eine Form des unkonventionellen Krieges handelt. Seinen hybriden Charakter erhält er durch das koordinierte Zusammenwirken konventioneller und unkonventioneller, symmetrischer und asymmetrischer sowie militärischer und ziviler Mittel und Methoden.

Warum führt Russland in der Ukraine einen hybriden Krieg?

Kriegführung dient in der Regel einem politisch-strategischen Ziel. Das gewaltsame Vorgehen wird gewählt, weil dieses Ziel als gefährdet angesehen und die eigene Handlung als Erfolg versprechend eingeschätzt wird. Im Falle des Gewaltkonflikts in der Ukraine verfolgt Russland völlig unterschiedliche politisch-strategische Vorstellungen von denen des Westens. Moskau denkt vor allem in der Logik des politischen Realismus, der auf Kategorien wie Macht, Einfluss und Gleichgewicht setzt. Zudem geht es ihm um seine Lesart von internationalen Normen. Drittens handelt es aus pragmatischen Erwägungen asymmetrisch.

Russland will die Ukraine so weit wie möglich im eigenen Einflussbereich halten und ihre Annäherung an die NATO verhindern. Die NATO-Erweiterung und die Verlagerung militärischer Infra­struktur an die Grenzen Russlands beschreibt es in seiner Militärstrategie als „wichtigste militärische Bedrohung von außen“ (The Military Doctrine of the Russian Federation 2014, Abs. 12a). Zudem will Moskau die am 1. Januar 2015 gegründete Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) ausbauen, die ohne Kiew signifikant weniger Gewicht hätte. Auch wenn die Mitgliedschaft Kiews in der EAWU momentan illusorisch ist, will Russland doch seinen Einfluss über den Osten des Landes wahren, bis sich die Lage in der ganzen Ukraine langfristig zu seinen Gunsten ändert. Bis dahin unterstützt es die Bildung eines quasistaatlichen Gebildes, ohne jedoch die formale Teilung der Ukraine voranzutreiben.

Russland geht es nicht nur um die Ukraine, sondern auch um seine Stellung in der Welt und um seine nationale Sicherheit (»Russia’s National Security Strategy to 2020« von 2009). Sein Ringen um Status und vor allem sein Widerstand gegen eine von den USA dominierte Weltordnung findet durchaus die Unterstützung anderer Staaten. In Europa sollten aus russischer Sicht zwei Zentren zu einer multipolaren Welt beitragen: die Europäische Union und eine von Russland geführte EAWU, einschließlich der Ukraine, Moldaus und Georgiens. Überwölbt würde das Ganze durch eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur. Der zweite Aspekt, die nationale Sicherheit, erfordert nach russischem geopolitischem Denken die Einbindung des »nahen Auslands«, weil sie ein Mindestmaß an strategischer Tiefe gewährleistet und aufgrund der jahrzehntelangen ökonomischen und ethnischen Verflechtung notwendig erscheint. Russland hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass es die Nichtbeachtung seiner Sicherheitsinteressen nicht hinnehmen wird. Die Reaktion im Georgienkonflikt war eine eindeutige Warnung. Man mag diese Haltung als altes Denken abtun, sie leitet aber das Handeln der russischen Führung.

Der russische Legitimationsdiskurs beschränkt sich aber nicht allein auf die genannten Argumente der realistischen Denkschule. Er greift auch auf russisch-konnotierte liberale Begründungen zurück, wenn er den Schutz der Menschen auf der Krim und in der Ostukraine sowie deren Recht auf Selbstbestimmung und kulturelle Identität anführt. Gleiches gilt für das Bedauern, dass das Völkerrecht nicht mehr greife und die von der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten sprachlichen, historischen und kulturellen Rechte der Russen in der Ukraine bedroht seien (President of Russia 2014). Das zweifelhafte Recht, russische Bürger auch außerhalb des Staatsgebietes militärisch zu schützen, deklariert Moskau schlicht für völkerrechtskonform. Die Kernbotschaft lautet: Russlands Handeln ist legal und legitim. Alle Rechtfertigungen dienen wohl auch dazu, die russische Bevölkerung um Präsident Putin zu scharen und dadurch in Kombination mit autoritären Maßnahmen, wie der Unterdrückung unabhängiger Medien, das politische System zu stabilisieren.

Schließlich versucht Russland mit Hilfe hybrider Kriegführung, aus einer Lage relativer Schwäche maximalen Vorteil zu ziehen. Die konventionelle Überlegenheit der USA und der NATO ist unstrittig. Allerdings hat Russland durch seine Nähe zur Ukraine einen geografischen Vorteil, der ihm die regionale Eskalationsdominanz ermöglicht. Es könnte schneller konventionelle Kräfte in der Region konzentrieren und nachführen, sollte die Lage es erfordern. Zudem ist es durch taktische Nuklearwaffen abgesichert. Da die Vermeidung eines Kriegs mit den USA aber höchste Priorität hat und Russland seine eigenen Kosten möglichst geringhalten will, wählt es eine asymmetrische Vorgehensweise. Offiziell ist Russland in der Ukraine noch nicht einmal Kriegspartei. Es agiert in der Grauzone zwischen Krieg und Frieden, gibt zugleich den Vermittler, modernisiert seine Streitkräfte und passt das Zusammenspiel seiner zivil-militärischen Fähigkeiten den Bedingungen und Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts an.

Schlussfolgerung

Russlands hybrider Krieg in der Ukraine ist eine Mischung aus unkonventioneller und konventioneller Kriegführung. Sie ist nicht grundsätzlich neu und wird auch von anderen Akteuren angewendet. Aber sie ist, wie jeder Krieg, in der konkreten Umsetzung anders. Die klassische Form des unkonventionellen Krieges wurde gewahrt, indem man verdeckt nicht- staatliche Akteure unterstützte. Andererseits verändert sie sich und geht in eine hybride, konventionelle und unkonventionelle Aktionen mischende, Form über. Zu dieser Form des Krieges im 21. Jahrhundert gehören offene und verdeckte Informationsoperationen, nicht eindeutig zuzuordnende Cyber­attacken, die Nutzung irregulärer und regulärer Kräfte, die wachsende Relevanz zivil-militärischer Vernetzung und die Nutzung von Hochtechnologie.

In einer Zeit, in der zwischenstaatliche Kriege glücklicherweise rar geworden sind, besteht die Gefahr, dass hybride Kriegführung in der Grauzone zu einem bevorzugten Mittel wird. Dies mag zwar angesichts der Alternative eines umfassenden Krieges als geringeres Übel erscheinen, ist aber gleichwohl gefährlich, weil immer die Gefahr einer beabsichtigten oder unbeabsichtigten Eskalation besteht.

Anmerkung

1) Dieses Kapitel greift auf meinen Beitrag »Unkonventioneller und hybrider Krieg in der Ukraine – zum Formenwandel des Krieges als Herausforderung für Politik und Wissenschaft«, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 9/2016, zurück.

Literatur

Bilban C.; Griniger, H. (2019a): Die Regionalstudien im Vergleich, in: Dies. (Hrsg.) (2019): Mythos »Gerasimov-Doktrin«, Wien: Landesverteidigungsakademie, S. 325-341.

Bilban C.; Griniger, H. (2019b): Was bleibt von der »Gerasimov-Doktrin«? In: dies. (Hrsg.) (2019): Mythos »Gerasimov-Doktrin«. Wien: Landesverteidigungsakademie, S. 263-301.

Clausewitz, C. v. (1973; Erstausgabe 1832-34): Vom Kriege. Bonn: Dümmler.

Ehrhart, H.-G. (2014): Russlands unkonventioneller Krieg in der Ukraine. Aus Politik und Zeitgeschichte 47-48/2014, S. 26-32.

Ehrhart, H.-G. (2017) (Hrsg.): Krieg im 21. Jahrhundert – Konzepte, Akteure, Herausforderungen. Baden-Baden: Nomos.

Murray W.; Mansoor P.R. (2012): Hybrid Warfare. Cambridge: Cambridge University Press.

North Atlantic Treaty Organization/NATO 2014: Gipfelerklärung von Wales – Treffen des Nordatlantikrates auf Ebene der Staats- und Regierungschefs in Wales. 5. September 2014; nato.diplo.de.

President of Russia (2014): Events – Conference of Russian ambassadors and permanent representatives. 1. Juli 2014; eng.kremlin.ru. ?

Russia’s National Security Strategy to 2020; 12. Mai 2009. Inoffizielle englische Übersetzung auf rustrans.wikidot.com/russia- s- national- ­security-strategy-to-2020.

The Military Doctrine of the Russian Federation – Approved by President of the Russian Federation; 25.12.2014. Inoffizielle englische Übersetzung auf de.scribd.com/doc/251695098/Russia-s-2014-Military-Doctrine.

Dr. Hans-Georg Ehrhart ist Senior ­Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Die neue Normalität?

Die neue Normalität?

NATO und Bundeswehr im (Informations-) Krieg mit Russland

von Jürgen Wagner

Seit der Eskalation der westlich-russischen Beziehungen ab 2014 hat sich die NATO wieder auf ihren alten Hauptfeind zurückbesonnen. Auch die Bundeswehr wird konsequent auf eine mögliche Auseinandersetzung mit Russland ausgerichtet, wie spätestens die beiden Kerndokumente des Jahres 2018, die »Konzeption der Bundeswehr« (20. Juli) und das »Fähigkeitsprofil« (3. September) verdeutlichten. Mehr noch: In Papieren des Heereskommandos wurden ein Krieg mit Russland und die daraus abgeleiteten Rüstungserfordernisse bereits detailliert ausgeplant. Besonders auffällig ist dabei, dass neben der Anschaffung und Finanzierung von zusätzlichem »schwerem Gerät« inzwischen vor allem dem Kampf um den so genannten Informationsraum eine immer größere Bedeutung eingeräumt wird.

Die Planungen von NATO und Bundeswehr für den Informationsraum betreffen nicht allein Aspekte wie das Lahmlegen gegnerischer IT-Systeme auf dem Gefechtsfeld, und auch mit massiver Propaganda im Feindesland ist es dabei nicht getan. Aus ihrer Warte befindet sich der Westen in einem dauerhaften (Informations-) Krieg mit Russland, in dem Maßnahmen bereits lange vor Ausbruch des »klassischen« Krieges einsetzen. Deshalb wird es als erforderlich erachtet, so etwa ein Papier der »Bundesakademie für Sicherheitspolitik« (BAKS), auch an der Heimatfront die Informationshoheit zu erringen: „Klassischerweise wird zwischen Friedens- und Kriegszeiten unterschieden – eine Grenze, die im Zeitalter des Informationskriegs zu verschwimmen droht. Doch bereits vor dem Ausbruch eines hochintensiven Konflikts stellt sich die Frage, wie dieser von einem gegnerischen Akteur im Cyber- und Informationsraum vorbereitet wird und welche Vorkehrungen dafür getroffen werden. […] Betrachtet man Kriege durch diese theoretische Brille, so beobachten wir, dass die Bevölkerung, oftmals auch nur Minderheiten oder einzelne Bevölkerungsteile, in die Informationskriege einbezogen und zum Ziel gemacht werden, indem sie einer kontinuierlichen Propaganda ausgesetzt ist. Dies geschieht lange bevor ein bewaffneter Konflikt ausbricht und Streitkräfte überhaupt involviert sind. […] Informationen selbst sind zum Angriffsziel und Mittel geworden; der Informationswettbewerb und der Kampf um die Deutungshoheit sind ein entscheidender Faktor in der modernen Kriegsführung geworden.1

Dachdokument der Rüstung: »Konzeption der Bundeswehr«

Den ersten wichtigen Meilenstein für eine grundlegende Neuausrichtung der Bundeswehr in Richtung Russland markierten im April 2017 die »Vorläufigen konzeptionellen Vorgaben für das künftige Fähigkeitsprofil der Bundeswehr«. Verfasst unter der Ägide von Generalleutnant Erhard Bühler, wurden schon damals keine Zweifel daran gelassen, dass der »Bündnisverteidigung« und damit faktisch der Rüstung gegen Russland künftig wieder mehr Bedeutung zukommen soll. Deutschland müsse bis 2031 drei schwere Divisionen mit je etwa 20.000 Soldat*innen in die NATO einbringen können, die erste bereits 2026, so die wichtigste Aussage des »Bühler-Papiers«. Den nicht sonderlich zarten Hauch von Kaltem Krieg, den das Ganze vermittelte, fasste damals die FAZ mit den Worten zusammen: „Damit würden die Divisionen wieder die klassische Struktur aus der Zeit vor 1990 einnehmen.2

In einem nächsten Schritt unterzeichnete Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen am 20. Juli 2018 die »Konzeption der Bundeswehr«, das »Dachdokument« der Truppe, die nun auch offiziell die (Re-) Fokussierung auf Auseinandersetzungen mit Russland zum Inhalt hatte (ohne dabei, wohlgemerkt, den Anspruch auf globale Militärinterventionen aufzugeben). Russland wird in der »Konzeption der Bundeswehr« zwar nicht ausdrücklich erwähnt, immer wieder ist aber die Rede davon, dass aufgrund „der sicherheitspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre […] die kollektive Bündnisverteidigung wieder in den Fokus der strategischen Überlegungen der NATO gerückt“ sei. Und weiter: „Die Bundeswehr muss […] in der Lage sein, zur kollektiven Bündnisverteidigung in allen Dimensionen mit kurzem Vorlauf, mit umfassenden Fähigkeiten bis hin zu kampfkräftigen Großverbänden innerhalb und auch am Rande des Bündnisgebietes eingesetzt zu werden.“ (S. 23)

Diese Formulierungen sind entlarvend, lassen sie doch genug Spielraum, um die Bundeswehr auch für Auseinandersetzungen in einem der aktuell noch »blockfreien« Länder zwischen der NATO und Russland einzusetzen, in denen die Spannungen seit Jahren zunehmen. Was dieser Anspruch für die Struktur und Bewaffnung der Bundeswehr bedeutet, wurde anschließend im »Fähigkeitsprofil der Bundeswehr« ausgebreitet.

Fähigkeitsprofil: Rüstungsstufenplan

Das »Fähigkeitsprofil der Bundeswehr«, ein internes Planungspapier der Bundeswehr vom 3. September 2018, übernimmt im Wesentlichen die bereits im »Bühler-Papier« erläuterten Vorschläge, präzisiert sie aber noch einmal deutlich. So visiert das Fähigkeitsprofil einen dreistufigen Umbau der Bundeswehr an – Schritt eins soll 2023 erfolgen. Zu diesem Zeitpunkt wird beabsichtigt, ein Brigadeäquivalent – also etwa 5.000 Soldat*innen (unter Berücksichtigung von Rotations- und Ruhezeiten noch einmal deutlich mehr) – mit voller Bewaffnung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung aller anderen »Verpflichtungen« (z.B. für die EU-Kampftruppen) in die NATO einbringen zu können. Der zweite Schritt soll 2027 folgen (ein Jahr später als im »Bühler-Papier« vorgesehen), da will die Bundeswehr eine Division mit etwa 20.000 Soldat*innen beisteuern. Das Ende des im Fähigkeitsprofil beschriebenen Planungshorizontes ist schließlich 2031 erreicht; von da ab sollen alle Teilstreitkräfte für einen Krieg mit Russland gerüstet sein: Drei Divisionen (Heer), vier gemischte Einsatzverbände (Luftwaffe), 25 Kampfschiffe (davon elf Fregatten) und acht U-Boote (Marine) sowie Kapazitäten zur Erlangung der Hoheit im Informationsraum (Cyber) will die Bundeswehr bis dahin mobilisieren können. Auch die Truppe soll größer werden: Die Bundeswehr soll von derzeit knapp 180.000 Soldat*innen allein bis 2025 auf 203.000 Soldat*innen anwachsen.3

Angesichts der Tatsache, dass Politik und Bundeswehr seit Jahren das fehlende Interesse an einer sicherheitspolitischen Debatte beklagen, ist es zynisch, das Fähigkeitsprofil als »VS [Verschluss-Sache] – nur für den Dienstgebrauch« einzustufen – es darf also nicht daraus zitiert werden (obwohl Teile des Inhaltes gleich an befreundete Zeitungen weitergereicht wurden). Die drei Anlagen zum Fähigkeitsprofil, in denen – mutmaßlich – eine detaillierte Aufstellung der Rüstungsprojekte mitsamt ihrer Kosten bis zur ersten »Ausbaustufe« 2023 sowie die zwischen 2024 und 2031 anvisierten Vorhaben enthalten sein sollen, wurden sogar als »geheim« eingestuft. Das bedeutet, Abgeordnete dürfen sie nur in der Geheimschutzstelle des Bundestages einsehen, sich keine Notizen darüber machen und auch nicht darüber reden.

Beim »erforderlichen« Finanzbedarf orientiert sich das Fähigkeitsprofil an den 1,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, die bereits im Mai 2018 in einem Papier der Bundeswehr-Universität auftauchten. Diese Zielgröße wurde anschließend mit Unterstützung der Kanzlerin von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen offiziell bei der NATO für das Jahr 2025 verbindlich zugesagt. In Zahlen bedeutet dies, dass nach dem Anstieg des Militärhaushaltes von 23,8 Mrd. Euro (2000) auf 43,2 Mrd. Euro (2019) noch einmal mächtig zugelegt werden soll: Als konkrete Zahl werden im Fähigkeitsprofil bis 2025 satte 59,78 Mrd. Euro (nach NATO-Kriterien 63,9 Mrd. Euro) genannt.4

Kriegsplanungen des Heereskommandos

Wie eingangs erwähnt, visierte das »Bühler-Papier«, die wichtigste Vorarbeit zum Fähigkeitsprofil, 2026 als Datum für die Einspeisung der ersten schweren Division in die NATO-Planungen an. Und genau dieses Datum diente augenscheinlich dem Heereskommando in dem Mitte 2017 von ihm herausgegebenen »Thesenpapier I – Wie kämpfen die Landstreitkräfte künftig?« als Orientierungspunkt. Darin wird ein detailliertes Szenario entworfen, wie die Bundeswehr im NATO-Verbund im Jahr 2026 einen Landkrieg gegen Russland gewinnen kann und welche Fähigkeiten hierfür beschafft werden sollen.5 In dem »Thesenpapier« geht es darum, ein „Zielbild Landstreitkräfte 2026“ auszuarbeiten, das sich prägend auf die künftige Struktur und Bewaffnung des Heeres auswirken soll: „Die in diesem Papier dargelegten Ideen und Anforderungen werden in einem Operationskonzept vertieft und dann konsequenterweise in neuen Strukturen münden. […] Das zukünftige Operationskonzept soll dabei die quantitativen und qualitativen Forderungen des Fähigkeitsprofils der Bundeswehr – abgeleitet aus den akzeptierten NATO Planungszielen und den nationalen Aufgaben – mit den hier dargestellten Ideen verknüpfen. Es wird so zum gedanklichen Kernelement der zukünftigen Entwicklung der Landstreitstreitkräfte.“ (S. 25)

Der zunehmenden Bedeutung des Informationsraums – sowohl für die Auseinandersetzung auf dem Gefechtsfeld selbst wie auch an der Heimatfront – wird unter anderem folgendermaßen Rechnung getragen: „Jede Präsenz und Aktion von [Landstreitkräften] auf einem zukünftig »gläsernen« Gefechtsfeld oder Einsatzraum erzeugt reaktiv einen Effekt im Informationsraum, der »Kampf« um/mit Informationen muss zwingend – und schnell im Sinne einer »Golden Hour« – geführt werden. (S. 8/9) Und weiter: „Das Gefechtsfeld wird transparenter und komplexer, sowohl im Sinne von verbesserten Aufklärungsfähigkeiten aller Seiten als auch hinsichtlich der Verbreitung von Meldungen/Nachrichten/Gerüchten quasi weltweit, in alle gesellschaftlichen Bereiche und in die eigene Truppe hinein. Das Gefechtsfeld wird durch die [sic!] Zusammentreffen von verbesserter Aufklärung, schnelleren Entscheidungs- und Bekämpfungszyklen aufgrund taktischer NetOpFü und zielgenauerer und verbesserter Wirkmittel letaler, selbst für gut geschützte Kräfte. […] Taktische Cyber-Kräfte unterstützen offensiv und defensiv den Einsatz von Landstreitkräften und […] ermöglichen auch […] den Angriff auf gegnerische Systeme und die offensive Beeinflussung von Entwicklungen im Informationsraum.“ (S. 15/16)

Daraufhin wird ein Szenario beschrieben, wie aus Sicht des Heeres ein künftiger (Informations-) Krieg gegen Russland ablaufen könnte. Es beginnt mit dem Auflaufen der maßgeblich von Deutschland aufgebauten Ultraschnellen NATO-Eingreiftruppe (VJTF), was aber nicht die erhoffte abschreckende Wirkung erzeugt: „Der Beschluss zur Aktivierung und Verlegung der VJTF (stand by), bestehend im Kern aus dem DEU Einsatzdispositiv (EDP), wurde aufgrund einer überraschenden Lageentwicklung notwendig. […] Dennoch kommt es nach einer Phase von Desinformation, separatistischen Aktivitäten, lokalen Angriffen von Separatisten und verdeckt operierenden Special Operation Forces zum Angriff der gegnerischen Hauptkräfte.“ (S. 17)

Als Reaktion auf diesen (russischen) Angriff startet die NATO daraufhin ihrerseits eine Offensive. Auf dem Gefechtsfeld stellt sich das dann wie folgt dar: „Zur Vorbereitung des Gegenangriffs befiehlt der BrigKdr das Auslösen des langfristig vorbereiteten Lähmens des gegnerischen FüInfoSys, um den gegnerischen Entscheidungsprozess zu verlangsamen. Parallel werden in offenen Quellen (soziale Netzwerke, Messenger Services, Nachrichtenkommentare etc.), eine Vielzahl von Meldungen platziert, die auf ein Ausweichen der NATO-Kräfte hindeuten und so die eigene Absicht verschleiern helfen.“ (S. 22)

Doch der (Informations-) Krieg soll nicht allein auf dem Gefechtsfeld, sondern auch an der Heimatfront ausgefochten werden: „Nachdem sich der Erfolg des Gegenangriffs abzeichnet, befiehlt der BrigKdr eine offensive und mehrsprachige Informationskampagne, die durch Bilder, Text, Videos etc. die Erfolge der NATO-Truppen herausstreicht und zeigt, dass Kollateralschäden vermieden werden, aber auch eigene Verluste nicht verschweigt. Zeitgleich werden ausgesuchte Angehörige des Gegners und deren Angehörige adressiert. Durch diese zeitnahe ehrliche und offene Berichterstattung wird gegnerischer Propaganda entgegengewirkt, die öffentliche Meinung sowohl in den NATO-Staaten als auch beim Gegner beeinflusst und die Informationshoheit umstritten oder gewonnen.“ (S. 22/23)

Deutlicher ist wohl nach dem Ende der Blockkonfrontation noch nie ein Krieg mit Russland öffentlich einsehbar durchgespielt worden.

Spiel mit dem Feuer

Die NATO (und damit auch die Bundeswehr) basiert – und rechtfertigt – ihr Agieren aktuell vor allem mit den Erkenntnissen aus einem Planspiel der RAND Corporation aus dem Jahr 2016.6 Die Denkfabrik gelangte zu dem Ergebnis, Russland sei in der Lage, innerhalb kürzester Zeit die drei baltischen Staaten zu besetzen und die »Suwalki-Lücke«, den Versorgungskorridor zu Polen, zu schließen. Daraus wurde die Forderung abgeleitet, eine solche Entwicklung müsse (und könne) durch eine beherzte NATO-Vorwärtspräsenz verhindert werden. Genau dies lieferte die Rechtfertigung für die unter Bruch der NATO-Russland-Akte inzwischen erfolgte Stationierung von 4.000 NATO-Soldat*innen in Osteuropa.

Möglich ist natürliches vieles, was dabei aber kaum eine Rolle zu spielen scheint, ist die Wahrscheinlichkeit, mit der ein solches Szenario eintreten könnte. Welches wie auch immer geartetes, nachvollziehbares Interesse Russland an einem solchen Schritt haben könnte, bleibt schleierhaft. Das andauernde Säbelrasseln und die gegen Russland gerichtete Aufrüstung (nicht nur) der NATO-Ostflanke bergen nicht nur großes Eskalationspotenzial, sie riskieren auch, den »Neuen Kalten Krieg« zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu machen. Allerdings hat es ohnehin den Anschein, als hätten sich die »strategischen Zirkel« schon auf einen Dauerkonflikt mit Russland eingerichtet, der wiederum als Rechtfertigung für die intensivierte Aufrüstung der Bundeswehr dient. So heißt es etwa in einem weiteren Papier der Bundesakademie für Sicherheitspolitik: „Es ist wichtig, den systemischen, ausdauernden und umfassenden Charakter der momentanen Herausforderung durch Russland zu begreifen. […] Die Antwort der atlantischen Gemeinschaft in Richtung Russland sollte der Herausforderung angemessen und daher ebenfalls systemisch, ausdauernd und umfassend sein. […] Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben bzw. den Eindruck aufkommen lassen, dass der derzeitige Konflikt mit Russland von vorübergehender Dauer sei und wir in absehbarer Zeit wieder zur Normalität zurückkehren könnten.7

Anmerkungen

1) Busch, C.; Düe, N. (2017): Informationskriege – Eine Herausforderung für die Bundeswehr. Bundesakademie für Sicherheitspolitik, BAKS-Arbeitspapier Nr. 24/2017.

2) Seliger, M. (2017): Bis zu den Sternen. Frank­furter Allgemeine Zeitung, 19.4.2017.

3) Offiziell zugänglichen Informationen zum Fähigkeitsprofil stellt das Verteidigungsministerium auf seiner Website bereit: Neues Fähigkeitsprofil komplettiert Konzept zur Modernisierung der Bundeswehr. 4.9.2018, bmvg.de.

4) Siehe u.a. Schnell, J. (2018): Diskussionsbeitrag zum Verteidigungshaushalt im Finanzplan der Bundesregierung für die Jahre 2019 bis 2022. München, Universität der Bundeswehr, 5.5.2018.

5) Kommando Heer (o.J.): Thesenpapier I – Wie kämpfen Landstreitkräfte künftig?
Das Papier wurde wohl im Sommer 2017 fertiggestellt, erschien aber erst später, zunächst auf dem Blog pivotarea.eu, 22.9.2017. Erst danach wurde es auch auf der offiziellen Webseite »Thesenpapiere zur Zukunft deutscher Landstreitkräfte« des Heeres (deutschesheer.de) veröffentlicht. Bislang folgten »Thesenpapier II – Digitalisierung von Landoperationen« sowie »Thesenpapier III – Rüstung digitalisierter Landstreitkräfte«.

6) Shlapak, D.A.; Johnson, M. (2016): Reinforcing Deterrence on NATO’s Eastern Flank. Rand Arroyo Center.

7) Menkiszak, M. (2017): Herausforderung Russland. Bundesakademie für Sicherheitspolitik, BAKS-Arbeitspapier Nr. 27/2017.

Jürgen Wagner ist geschäftsführendes Vorstands­mitglied der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (imi-online.de).

NATO-Russland-Beziehungen


NATO-Russland-Beziehungen

Wege aus der Konfrontation?

von Nadja Douglas

Vieles deutet daraufhin, dass die baltische Region einschließlich des angrenzenden Ostseeraumes in den kommenden Jahren entscheidend sein wird für die Beziehungen zwischen Ost und West. Wie in einem Brennglas zeigt sich, dass sowohl die NATO als auch Russland im Begriff sind, hier enormes Vertrauen zu verspielen, das an anderer Stelle gerade wieder aufgebaut werden soll. In den NATO-Russland-Beziehungen geht es heute mehr denn je um die gegenseitige Wahrnehmung und die Interpretation von Handlungsabsichten. Das Potenzial für Fehleinschätzungen ist immens.

Realistische Erklärungsansätze in den internationalen Beziehungen haben vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Zustands der Konfrontation wieder Konjunktur. Dies manifestiert sich besonders in der baltischen Region, wo sich zwei hochgerüstete Militärbündnisse gegenüberstehen: die transatlantische Militärallianz NATO auf der einen sowie Russland und seine Verbündeten der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit1 auf der anderen Seite. Für die beteiligten Staaten gibt es aus spieltheoretischer Sicht nur zwei Optionen: Aufrüsten oder Abrüsten. Momentan stehen die Zeichen auf Aufrüsten. Die als defensiv charakterisierten Aktionen der einen Seite werden von der anderen Seite als offensiv interpretiert und ebenso beantwortet.

Zu keiner Zeit in der Geschichte der Ost-West-Beziehungen wurde so wenig miteinander geredet wie heute. Freilich stehen sich heute keine Panzerarmeen mehr gegenüber, und militärische Übungen, obwohl auf beiden Seiten in der letzten Zeit ausgeweitet, erreichen nicht die damaligen Dimensionen. Da Russland sich heute nicht mehr als Teil einer von der NATO dominierten europäischen Sicherheitsordnung fühlt, sieht es sich auch nicht mehr an aus russischer Sicht überkommene Abkommen gebunden. Moskau plant vorrangig, die 2008 begonnene Modernisierung der Streitkräfte bis 2020 abzuschließen, bevor es aus einer Position der Stärke heraus bereit ist für neue Gespräche. Die Trump-Administration zeigt ebenfalls wenig Interesse: Anstatt neue Akzente zu setzen, fordert sie von Russland weiterhin vor allem die Einhaltung bestehender Rüstungskontrollverpflichtungen. Die Europäische Union wiederum ist gespalten. Während die einen an bestehenden Abkommen und Prinzipien festhalten (Stichworte Charta von Paris, Budapester Memorandum, NATO-Russland-Grundakte etc.), sind andere der Auffassung, dass diese Abkommen aufgrund der veränderten Sicherheitslage und Russlands Bilanz an Verfehlungen in den letzten Jahren hinfällig seien.2

Im Hinblick auf atomare Fähigkeiten kündigten jüngst zunächst die USA und dann Russland an, die Beteiligung am INF-Vertrag über das Verbot atomarer Mittelstreckenraketen auszusetzen. Die NATO-Mitgliedsstaaten hatten Russland erstmals geschlossen vorgeworfen, mit seinen neuen Marschflugkörpern3 gegen die Vorgaben des Vertrags zu verstoßen, was Russland zurückweist.4 Es gilt eine sechsmonatige Kündigungsfrist, und insbesondere deutsche Politiker setzen nun alles daran, das Abkommen noch zu retten.5 Es ist unstrittig, dass schon seit vielen Jahren gegenseitige Kontrollen fehlen und somit in der Vergangenheit die Vertragstreue keiner Seite vollständig verifiziert werden konnte. Ob dies nun gelingt, erscheint mehr als fraglich.

Bestandsaufnahme bestehender Verhandlungsformate

Sämtliche Verhandlungen, die Rüstungskontrolle bzw. militärische Transparenz (von Abrüstung spricht man schon lange nicht mehr) in Europa betreffen, verzeichnen seit längerer Zeit keinen Fortschritt bzw. wurden gänzlich aufgegeben. Während an der einen Stelle durch Militärstrategen sowie öffentliches verbales Aufrüsten Vertrauen zerstört wird, soll es an anderer Stelle in den noch bestehenden Verhandlungsformaten zwischen NATO und Russland bzw. unter der Ägide der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wieder aufgebaut werden.

Obwohl der NATO-Russland-Rat nach wie vor existiert, ist die Bilanz dieses seit 2002 existierenden Konsultationsgremiums, das im Sinne der NATO-Russland-Grundakte von 1997 eine zentrale Rolle in den NATO-Russland-Beziehungen spielen soll, eher bescheiden. Ursprünglich sollte der Rat zweimal jährlich auf der Ebene der Außen- und Verteidigungsminister*innen sowie monatlich auf der Ebene der Botschafter*innen bzw. Ständigen Vertreter*innen beim NATO-Rat tagen. Auch militärische Vertreter*innen sollten monatlich zusammenkommen. Die Realität zeigt hingegen, dass über die Jahre kein regelmäßiger Sitzungszyklus zustande kam. Auch hat sich der NATO-Russland-Rat nie von einem reinen Konsultationsgremium zu einem beschlussfähigen Organ entwickelt. Die Arbeit im Rat wurde darüber hinaus mehrfach über längere Zeit ausgesetzt. Zuletzt herrschte zwei Jahre lang Schweigen infolge der Ukraine-Krise und der Annexion der Krim (Douglas 2017).

Diese Praxis widerspricht dem beabsichtigten Zweck des Gremiums, denn der NATO-Russland-Rat sollte „das wichtigste Forum für Konsultationen zwischen der NATO und Russland in Krisenzeiten oder in Bezug auf jede andere Situation bilden, die den Frieden und die Stabilität berührt“ (NATO 1997, Kapitel II). Das Gegenteil ist heute der Fall: Befinden sich die NATO-Russland-Beziehungen in einer Krise, wird auch die Arbeit im Rat beeinträchtigt bzw. unterbrochen. Seit 2016 kam der Rat sporadisch acht Mal zusammen. Obgleich es auf beiden Seiten vereinzelt Bemühungen um einen konstruktiven Informationsaustausch gab, waren die letzten Sitzungen vor allem durch heftige Schlagabtausche und gegenseitige Vorwürfe geprägt.

Neben dem NATO-Russland-Rat gibt es derzeit nur noch ein weiteres Verhandlungsformat, in dessen Rahmen nach wie vor Wege aus der Krise der konventionellen Rüstungskontrolle gesucht sowie andere für die europäische Sicherheit relevante Fragestellungen thematisiert werden. Der von der Bundesrepublik während des OSZE-Vorsitzes 2016 initiierte »Strukturierte Dialog« ist ein informelles Dialogformat, das alle OSZE-Staaten einschließt und hochrangige Vertreter*innen aus den nationalen Außen- und Verteidigungsministerien der teilnehmenden Staaten zusammenbringt. Der Dialog versteht sich als Plattform für die Sondierung von Vorfragen im Hinblick auf mögliche neue Rüstungskontrollverhandlungen. 2018 wurden vom belgischen Dialog-Vorsitz insbesondere die Themen Bedrohungswahrnehmung und Risikominimierung auf die Agenda gesetzt. 2017 wurden Experten-Workshops zu Militärdoktrinen und militärischen Streitkräfte-Dispositiven sowie zu Übungen durchgeführt (OSCE 2018).

Das Forum dient vornehmlich der Bildung von Vertrauen, das an anderer Stelle (Rüstungsspirale in der baltischen Region) derzeit verspielt wird. Beispielhaft sollen neue Obergrenzen für Waffensysteme, Quoten für eine effektivere Beobachtung und Verifikation von militärischen Aktivitäten sowie Transparenzmaßnahmen, insbesondere in Bezug auf neue militärische Fähigkeiten und Waffengattungen, mehr Sicherheit und Stabilität schaffen. Auch Gebiete mit strittigem territorialem Status sollen nicht länger von der Rüstungskon­trolle ausgeklammert bleiben (Schmidt 2017). Bislang wurden sieben informelle Arbeitsgruppentreffen sowie drei Experten-Workshops abgehalten. Auch 2019 unter slowakischem OSZE-Vorsitz soll der Dialog fortgeführt werden. Unter anderem wird es um die Analyse von Handlungsabsichten sowie von »best practices« bei der Beantwortung von Fragebögen im Zusammenhang mit dem jährlichen militärischen Informationsaustausch gehen.

Gegenseitige Wahrnehmung und Provokation

Während für die Europäische Union und die USA die Krimannexion und die russische Intervention in der Ostukraine zu Recht eine Zäsur in den Beziehungen zu Russland darstellten, fand diese Zäsur in Russland selbst bereits Jahre zuvor statt. Nachdem »der Westen« seine damaligen Zugeständnisse nicht eingehalten hatte, eine Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok zu schaffen, die auf gleicher und unteilbarer Sicherheit basiert, stellte für Russland die NATO-Osterweiterung sowie die von den USA forcierte Stationierung einer Raketenabwehr in sensiblen Regionen, einen weiteren Einschnitt dar.

Auf beiden Seiten ist militärische Abschreckung wieder das Gebot der Stunde. Die transatlantische Allianz arbeitet an der Funktionalität der NATO-»Speerspitze« (Very High Readiness Joint Task Force). Man spricht davon, dass die Hauptfunktion der »Speerspitze«, neben der Rückversicherung der östlichen Bündnispartner, die einer »mobilen Stolperfalle« sei, die ein Durchmarschieren im Falle eines russischen Angriffes auf einen der östlichen Mitgliedsstaaten verhindern solle (Zapfe 2016, S. 2). Seit 2014 baut Russland ebenfalls gezielt seine militärischen Fähigkeiten im Westlichen Militärbezirk aus.6 Zudem hat Russland in Kaliningrad Radaranlagen sowie das S-400-Raketenabwehrsystem stationiert und seit spätestens 2016 Iskander-M-Kurzstreckenraketen, die auch nukleare Sprengköpfe tragen können. Immer offensichtlicher ist jedoch, dass es schwierig wird, den in der NATO-Russland-Grundakte postulierten Grundsatz der wechselseitigen Zurückhaltung einzuhalten. Aus russischer Sicht ist der NATO-Truppenaufbau an der Grenze zu Russland keine Rückversicherungsmaßnahme für die baltischen Staaten, sondern Teil einer größeren Strategie der Konfrontation. Der russische Präsident erklärte in der Vergangenheit wiederholt, dass Russland die Stationierung neuer NATO-Militärbasen und -Infrastruktur an der Grenze Russlands als direkte Bedrohung wahrnimmt und in angemessener Weise auf solche aggressiven Schritte reagieren werde (Kremlin 2018).

Auch wenn die baltische Region langfristig das größte Risiko für weitere Konfrontation birgt, gibt es weitere kritische Orte, an denen militärische Zwischenfälle provoziert werden. Der jüngste Zwischenfall in der Straße von Kertsch zeigt zum einen, dass die Ukraine im Eskalationsfall in ihren militärischen Beziehungen zu Russland ohne externe Unterstützung vollkommen unterlegen wäre. Russland auf der anderen Seite reagiert zunehmend nervös und räumt sich einseitig einen breiten Spielraum bei der Interpretation des geltenden Seerechts und der bilateralen Verträge mit der Ukraine ein. Die Ukraine wird seit 2014 als eine Art trojanisches Pferd »des Westens« gesehen. Die Tatsache, dass der ukrainische Präsident Poroschenko angekündigt hatte, einen Marinestützpunkt in Berdyansk im Asowschen Meer einzurichten, beunruhigt Moskau bereits seit geraumer Zeit. Die russische Regierung befürchtet, dass an dieser Stelle in nicht allzu weiter Zukunft NATO-Schiffe patrouillieren werden (Felgenhauer 2018). Tatsächlich rief Poroschenko als Reaktion auf den Zwischenfall nicht nur das Kriegsrecht aus, sondern appellierte an sämtliche NATO-Staaten, Schiffe zur Unterstützung der Ukraine in das Asowsche Meer zu schicken. Wie Russland auf einen solch hypothetischen Fall reagieren würde, lässt sich nur erahnen.7

Neujustierung der NATO-Russland-Beziehungen

Die Anzahl der vorhandenen Stellschrauben zur Neujustierung der NATO-Russland-Beziehungen hat in den letzten vier Jahren eher ab- als zugenommen. Zu Zeiten der Blockkonfrontation dienten Rüstungskontrollverhandlungen als kleinster gemeinsamer Nenner der Vertrauensbildung. Es muss also auch heute an jenen Stellschrauben gedreht werden, die zentral sind für die sicherheitspolitische Agenda beider Seiten. Um Wege aus der Konfrontation zu finden und das Minimalziel der »friedlichen Koexistenz« aufrecht zu erhalten, bedarf es künftig vor allem mehr Empathie für die Sicherheits- und Bedrohungswahrnehmung der jeweils anderen Seite.

Im Folgenden werden exemplarisch drei Bereiche skizziert, die dringend einer konsensuellen Regelung bedürfen. Darunter fallen die Vermeidung bzw. zunächst einmal die Definition von militärischen Zwischenfällen, die Erhöhung von militärischer Transparenz und Vertrauensbildung in kritischen Regionen sowie ein Modus Vivendi und gemeinsame Regeln im Umgang mit Staaten, die derzeit zwischen den euro-atlantischen und eurasischen Sicherheits- und Wertegemeinschaften stehen.

Vermeidung von militärischen Zwischenfällen

Im gesamten euro-atlantischen Raum, aber insbesondere in und über der Ostsee, kommt es verstärkt zu gefährlichen Zwischenfällen, bei denen zivile und militärische Schiffe und Flugzeuge Russlands, von NATO-Mitgliedsstaaten und von Dritten beteiligt sind. Allein zwischen 2014 und 2015 zählte das European Leadership Network (ELN) über 60 solcher Ereignisse (Kulesa et al. 2016, S. 7). Dabei handelte es sich vornehmlich um Luftraumverletzungen sowie Nahbegegnungen zwischen amerikanischen Kriegsschiffen und russischen Kampfflugzeugen. Trotz zahlreicher bilateraler, noch zu Sowjetzeiten abgeschlossener, Abkommen zwischen Russland und einzelnen Staaten besteht ein zentrales Problem fort: das Fehlen eines allgemeingültigen Abkommens, das die Wahrscheinlichkeit solcher Zwischenfälle minimiert bzw. regelt, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, falls sie dennoch stattfinden (siehe auch Kulesa et al. 2016). Da solch ein Abkommen derzeit und in naher Zukunft nicht greifbar ist, sollten Risiken für militärische Zwischen- bzw. Unfälle, wenn schon nicht minimiert, dann zumindest definiert werden.8

Neue regional ausgerichtete vertrauens- und sicherheitsbildende Initiativen

Das Risiko von nicht intendierten Zwischenfällen bzw. Provokationen in der baltischen Region wird verschärft durch den Mangel an überprüfbarer Zurückhaltung, eingeschränkter militärischer Transparenz und die Abwesenheit von direkter militärischer Zusammenarbeit und Kontakten in der Region. All das trägt unmittelbar zu einer erhöhten Bedrohungswahrnehmung und folglich zu einem erhöhten Risiko von Fehleinschätzungen bei.

Konkrete Empfehlungen zur Deeskalation reichen von Vorschlägen über ein baltisches Sicherheitssymposium (Kulesa 2018) bis hin zu Rüstungskontrollvereinbarungen auf der sub-regionalen Ebene (Richter 2016). Tatsächlich gibt es in der baltischen Region keine rechtlich bindende Vereinbarung über eine Begrenzung der dort stationierten Streitkräfte, weder aufseiten der baltischen Staaten noch aufseiten der Russischen Föderation. Das Informations- und Verifikationsregime des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) findet hier keine Anwendung, da Russland seine Teilnahme 2015 faktisch aufgekündigt hat und die baltischen Staaten das adaptierte Regime nie ratifiziert haben. Allerdings bietet das Wiener Dokument der OSZE, das einzig verbliebene Instrument für vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, unter Kapitel X, »Regionale Maßnahmen«, die Möglichkeit von gegenseitigen Verpflichtungen der militärischen Zurückhaltung (ähnlich wie jene in der NATO-Russland Grundakte). Es ermutigt teilnehmende Staaten, sich auf zusätzliche bilaterale und regionale vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zu einigen, um Spannungen zu deeskalieren. Der Fokus liegt dabei gerade auf Grenzregionen (Richter 2016, S. 9-11).

Gespaltene Gesellschaften als Sicherheitsrisiko

Häufig marginalisiert in der Konfrontation zwischen NATO und Russland, aber dennoch relevant, sind diejenigen Staaten, die zwischen einer transatlantischen Orientierung und der von Russland dominierten östlichen Interessensphäre schwanken. Die so genannten »Staaten dazwischen« wurden dadurch in der Vergangenheit wiederholt zum Spielball geopolitischer Auseinandersetzungen.9 Dieses Tauziehen wirkt sich negativ auf den inneren Zusammenhalt dieser Staaten und Gesellschaften aus und macht sie anfällig für innere Unruhen und Spaltungsprozesse (Babayan 2016).

Während die Aussicht auf einen Beitritt in die NATO und/oder die Europäische Union einst Garant für Sicherheit und Wohlstand der mittel- und osteuropäischen Staaten war, ist es inzwischen eine Quelle der Instabilität für die Länder weiter im Osten (wie gerade die Beispiele Georgien 2008 und Ukraine 2014 zeigen) (Charap et al. 2018, S. 6). Das trifft im Grunde auch auf die anderen Konflikte in der Region zu: Solange es keine Einigung über die regionale Ordnung gibt, werden weder Russland noch »der Westen« in der Lage sein, diese Konflikte vernünftig zu lösen, geschweige denn werden die lokalen Akteure dies erreichen. Auch offizielle oder informelle Verhandlungen über die europäische Sicherheitsarchitektur enden meist unweigerlich in einer Sackgasse, wenn es um die Frage der regionalen Ordnung ging (die innerhalb der OSZE initiierten Korfu- und Helsinki+40-Prozesse sind dafür gute Beispiele).

Lösungsvorschläge, die derzeit diskutiert werden (siehe z.B. Charap et al. 2018), zielen nicht darauf ab, die »Staaten dazwischen« wie gehabt nach dem Vorbild der Staaten Mittel- und Osteuropas zu transformieren. Aber auch Russland soll keine uneingeschränkte Einflusssphäre gewährt werden. Weder die NATO noch Russland sollten ihre Ambitionen uneingeschränkt weiterverfolgen können, um ihre jeweiligen Bündnisse zu erweitern. Stattdessen könnte ein weiteres regionales Integrationsformat zielführend sein, das offen und anwendbar wäre für die »Staaten dazwischen«, die weder einem westlichen noch einem östlichen Bündnis angehören möchten.10 Diese Option könnte einen Rahmen bieten für eine souveräne außen- und sicherheitspolitische Orientierung dieser Staaten sowie Verhaltensregeln aufstellen, wie die NATO und Russland mit ihnen umzugehen haben.

Anmerkungen

1) Die OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) ist das von Russland geführte Militärbündnis, dem einschließlich Russland sechs postsowjetische Staaten ange­hören.

2) Zu der ersten Gruppe gehören Staaten, die sich vor allem der OSZE nach wie vor verbunden fühlen, wie die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, die Schweiz und Finnland; zu der zweiten Gruppe östliche EU-Staaten, wie Polen und die baltischen Staaten.

3) Hier geht es vor allem um den landgestützten Marschflugkörper 9M729, siehe dazu Goncharenko 2018.

4) Das russische Verteidigungsministerium und Generalstabschef Walerij Gerasimow werfen umgekehrt den Amerikanern vor, durch das in Osteuropa (Rumänien und zukünftig Polen) stationierte Aegis-Raketenabwehrsystem gegen den INF-Vertrag zu verstoßen: Dessen Abschussrampen könnten auch offensiv genutzt werden und atomar bestückte Marsch­flugkörper mittlerer Reichweite abfeuern (siehe ?????? ??????? ?? ????????? ??? ???????? ?????; interfax-russia.ru, 5.12.2018).
Siehe dazu auch Katarzyna Kubiak, NATO-Raketenabwehr – Stand und Herausforderungen, auf S. 21 dieser W&F-Ausgabe.

5) Außenpolitiker von CDU/CSU und SPD schlugen vor, Russland solle die umstrittenen Marschflugkörper so weit nach Osten verlegen, dass sie Europa nicht mehr erreichen könnten. Im Gegenzug sollen die USA ihre Raketenabwehrsysteme in Rumänien und die geplanten in Polen für russische Kontrollen öffnen (Mit diesem Vorschlag wollen deutsche Politiker den INF-Vertrag retten; welt.de, 3.2.2018).

6) Zudem führt Russland periodisch sogenannte Übungen zur Einsatzbereitschaft (snap exercises) im Westlichen Militärbezirk durch, um kurzfristig die Kampfbereitschaft zu testen (ohne 42 Tage Ankündigungsvorlauf, wie vom Wiener Dokument der OSZE über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen von 2011 vorgesehen). Allein 2017 wurden mehr als hundert solcher Übungen registriert.

7) Siehe Antwort des Pressesprechers von Präsident Wladimir Putin, Dmitrij Peskow, während einer Pressekonferenz am 29. November 2018: ?????? ???????????????? ?????? ????????? ????????? ??????? ???? ? ????; interfax-russia.ru.

8) So wird nirgendwo aufgeschlüsselt bzw. definiert, was für Ereignisse genau unter gefährliche Zwischenfälle militärischer Art“ fallen, wie sie zum Beispiel in Paragraph 17 des Wiener Dokuments Erwähnung finden. Kulesa et al. 2018 (S. 3) führen Zwischenfälle auf, wie z. B. gefährliche Verletzungen fremden Luftraums, Beinahekollisionen zwischen zivilen und militärischen Flugzeugen, Sucheinsätze von U-Booten in fremden Hoheitsgewässern, Abfangeinsätze im internationalen Luftraum u.a.

9) Die drei kaukasischen Staaten (Armenien, Aserbaidschan und Georgien) sowie die Ukraine, die Republik Moldau und Belarus sind mittlerweile Teil der Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union.

10) Umfragen zufolge trifft das auf die Mehrheit der Gesellschaften in Georgien, Armenien und der Republik Moldau zu. Lediglich Ukrainer und Weißrussen sprechen sich mehrheitlich für einen Anschluss an NATO respektive OVKS aus (siehe Umfragedaten von 2017 in Charap et al. 2018, S. 26).

Literatur

Babayan, N. (2016): The In-Betweeners – The ­Eastern Partnership Countries and the Russia-West Conflict. Transatlantic Academy Paper Series 4/2016.

Charap, S.; Shapiro, J.; Demus, A. (2018): Rethinking the Regional Order for Post-Soviet Europe and Eurasia. Santa Monica, CA: RAND Corporation.

Douglas, N. (2017): Ist die NATO-Russland-Grundakte noch relevant? ZOiS Spotlight 11/2017, 24.5.2017, zois-berlin.de.

Felgenhauer, P. (2018): Russia’s Attack of Ukrainian Naval Ships in Black Sea- First Shots of Possible Winter War? Eurasia Daily Monitor, Vol. 15, Nr. 168.

Goncharenko, R. (2018): Ein nicht so geheimes Geheimnis – die russische Raketen 9M729. Deutsche Welle, 5.12.2018; dw.com.

Kremlin/ Presidential Executive Office (2018): Meeting of ambassadors and permanent representatives of Russia; en.kremlin.ru, 19.7.2018.

Kulesa, L.; Frear, T.; Raynova, D. (2016): Managing Hazardous Incidents in the Euro-Atlantic Area: A New Plan of Action, European Leader­ship Network, Policy Brief, November 2016.

Kulesa, L.; Raynova, D. (2018): Russia-West Incidents in the Air and at Sea 2016-2017 – Out of the Danger Zone? European Leadership Network, Euro-Atlantic Security Report, October 2018.

Kulesa, L. (2018): Challenges and opportunities for deterrence and arms control in the Baltic Sea area. European Leadership Network, Commentary, 1 October 2018.

OSCE (2018): The OSCE Structured Dialogue. 9.10.2018; osce.org.

NATO (1997): Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation vom 27. Mai 1997.

Richter, W. (2016): Sub-regional arms control for the Baltics – What is desirable? What is feasible? Deep Cuts Working Paper, No. 8, July 2016; deepcuts.org.

Schmidt, H.-J. (2017): Hoffnungsvoller Neustart der konventionellen Rüstungskontrolle? Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, PRIF Blog, 10. Juli 2017; blog.prif.org.

Zapfe, M. (2016): »Hybrid« threats and NATO’s Forward Presence – The Alliance’s Enhanced Forward Presence in the Baltics and Poland could face serious challenges in »sub-conven­tional« scenarios. Center for Security Studies at ETH Zurich, Policy Perspectives, Vol. 4, Nr. 7, September 2016.

Dr. phil. Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOIS) in Berlin. Sie befasst sich mit sicherheitspolitischen Fragestellungen im postsowjetischen Raum sowie in ihrem derzeitigen Forschungsprojekt mit der Beziehung zwischen gesellschaftlichen Initiativen und staatlichen Machtstrukturen.

Putins Wiederwahl und der Westen


Putins Wiederwahl und der Westen

von August Pradetto

Der russische Präsident Putin wird im März wiedergewählt werden, das steht außer Frage. Es gab keinen ernstzunehmenden Gegenkandidaten, und der Einzige, der eine Herausforderung gewesen wäre – Alexej Nawalny (in seinem Nationalismus noch rechts von Putin stehend) –, wurde wegen einer rechtskräftigen Verurteilung nicht zu den Wahlen zugelassen. Dieses Ergebnis jedoch nur auf staatliche Repression zurückzuführen, wäre zu kurz gesprungen. Putin steht im Inneren nach wie vor für die Überwindung des Chaos der Jelzin-Ära sowie für einen Wirtschaftsaufschwung, der sich auch für die Mittelschichten bemerkbar machte. Er verkörpert Stabilität, ein Wert, der nach Umfragen des Carnegie Moscow Center und des Levada Center nicht nur für die älteren, sondern auch für die meisten jungen Menschen der russischen Gesellschaft von hoher Bedeutung ist. Die meisten sehen die Priorität in einer Verbesserung der Lebensbedingungen, nicht in einem »regime change«. Daran ändert auch die Unzufriedenheit mit der Einschränkung von Liberalität und Offenheit wenig.

Und nach »außen«? Die »Rückkehr Russlands auf die Weltbühne« in den letzten Jahren ist auch mit Putin verbunden: »Heimholung« der Krim, die Sezession im Donbass als Faustpfand, das sicherstellt, dass die Lösung der von Russland mitverursachten Krise in der Ukraine über Moskau führt, militärisches Engagement in Syrien mit dem Ergebnis, dass sich Protegé Assad an der Macht hält und Moskau seine Militärstützpunkte ausbaut, Absprachen über Einflusszonen in Syrien mit dem NATO-Mitglied Türkei: Putin machte »Russia great again«.

Moskau fühlt sich daher in seiner »realistischen« Weltsicht bestätigt: In einer Welt, in der Akteure um Einfluss und Macht ringen und dafür ihre ökonomischen, politischen und militärischen Ressourcen einsetzen, überlebt nur derjenige, der sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln in diesem Kräftemessen behauptet. Auch in der vierten Amtszeit Putins ist daher mit größerem Selbstbewusstsein und gesteigertem außenpolitischen Macht- und Gestaltungswillen zu rechnen.

Putin folgt keineswegs nur einer »Pfadabhängigkeit« russischer imperialer Tradition, sondern liegt hier in einem seit 20 Jahren zunehmenden Trend. Die Unilateralisierung und Militarisierung von Außenpolitik sowie die Abkehr von Völkerrecht und kooperativen Institutionen sind nicht nur das Markenzeichen russischer Politik. Lange bevor Moskau die Krim annektierte und in Syrien intervenierte, führten westliche Staaten Kriege gegen Serbien, Afghanistan, Irak, Libyen und unterstützten in Syrien massiv islamistische Bürgerkriegsparteien – alles unilateral oder in »Koalitionen der (Kriegs-) Willigen« und völkerrechtswidrig. Verhaftet in »realistischen« Denkschablonen setzte Washington alles daran, auch die Ukraine in die NATO zu bekommen – völlig unnötig und kontraproduktiv unter dem Gesichtspunkt kooperativer sicherheitspolitischer Beziehungen auf dem eurasischen Kontinent.

Freilich war die Annexion der Krim deswegen noch lange nicht »logisch«, sondern eine Entscheidung für jene militarisierte Globalpolitik, wie sie vor allem für Washington seit 2001 charakteristisch ist. Russland wäre ohne die Krim nicht unsicherer, und mit der Krim ist Russland keinesfalls sicherer geworden. Russland wurde vielmehr selbst zu einem Faktor der Konfliktverschärfung und der Erosion des Völkerrechts.

Zu welchen Trugschlüssen »realistisches« Denken verleiten kann, zeigt die Fehlkalkulation Putins, Donald Trump als US-Präsidentschaftskandidaten zu unterstützen, oder auch die Unterstützung rechtsradikaler Parteien in Europa. Mehr Nationalismus bringt Moskau höchstens kurzfristig politische Entlastung. Massive Aufrüstung und Abkehr vom Multilateralismus schaden Russland in besonderem Maße.

Die Weltlage wird dadurch immer düsterer: Skrupellosere Einfluss- und Interventionspolitiken, Wettrüsten, die weitere Chaotisierung des »Greater Middle East« – all dies ist Ausdruck der Erosion jener Prinzipien, die gerade von den zentralen Playern auf globaler und regionaler Ebene zu berücksichtigen wären, um nach dem Zerfall der alten Weltordnung eine stabile neue zu schaffen!

Deutsche Außenpolitik sollte in der Tat auf größere Autonomie europäischer Sicherheitspolitik drängen. Aber Verteidigungspolitik müsste wieder Verteidigungspolitik werden und nicht wie seit Ende der 1990er Jahre zunehmend globale militärische Interessenpolitik. Und ganz obenan müsste die Stärkung von Völkerrecht und internationalen Organisationen (UN, OSZE) stehen, die dieses Recht umzusetzen hätten.

August Pradetto ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Verschärfte Konfrontation oder Entspannung?

Verschärfte Konfrontation oder Entspannung?

von Andreas Zumach

Abbau, Fortsetzung oder gar Verschärfung der Konfrontationspolitik mit Russland – vor dieser Alternative steht der NATO-Gipfel Anfang Juli in Warschau. Die polnischen Gastgeber rufen am lautesten nach einer Verschärfung der Konfrontation, die noch über die bereits beschlossenen Maßnahmen sowie die von den USA angekündigten unilateralen Schritte hinaus gehen soll, bis hin zu einer dauerhaften Stationierung von NATO-Truppenverbänden und Waffen in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Das wäre ein klarer Verstoß nicht nur gegen den Geist, sondern auch gegen die Buchstaben der 1997 zwischen der damals noch rein westlichen Militärallianz und Russland vereinbarten Grundakte, in deren praktischen Umsetzung 2002 der NATO-Russland-Rat etabliert wurde. Mit der Grundakte wollte die NATO Moskaus Bedenken gegen die Osterweiterung der Allianz beschwichtigen, die beschlossen und vollzogen wurde unter Bruch des Versprechens, mit dem die Regierungen Kohl/Genscher und Bush/Baker im Februar 1990 die Zustimmung Gorbatschows zur deutschen Wiedervereinigung erlangt hatten.

Die Regierung Merkel/Steinmeier gehört unter den 28 NATO-Mitgliedern zu den stärksten Befürwortern einer Wiederannäherung an Moskau und des Abbaus statt einer Verschärfung der Konfrontationspolitik. Allerdings wird diese Linie manchmal von den Aufrüstungsankündigungen der profilneurotischen Militärministerin und Kanzleramtsaspirantin von der Leyen torpediert.

Doch von ihr und einigen antirussischen Ideologen sowie Lobbyisten der Rüstungsindustrie abgesehen hat sich in Berlin inzwischen die Einsicht durchgesetzt, dass der im Frühsommer 2014 von der NATO eingeschlagene Konfrontationskurs gegenüber Moskau gescheitert ist: Weder die Suspendierung des NATO-Russland-Rates und der russischen Mitgliedschaft in der G8 noch die von den USA und der EU verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Moskau konnten die Regierung Putin zur Korrektur ihrer Ukrainepolitik bewegen. Deshalb war es ein richtiger erster Schritt, dass die NATO im April erstmals seit zwei Jahren wieder Beratungen mit Russland im Rahmen des NATO-Russland-Rates führte.

Doch dieser erste Schritt reicht nicht aus, um die Eskalationsdynamik der letzten zwei Jahre wirklich zu beenden und umzukehren. Diese hat inzwischen ein gefährliches Niveau und eine Eigenlogik erreicht, die immer mehr an den Kalten Krieg erinnern. Das gilt für die operativen Maßnahmen im militärischen Bereich (Manöver, Truppenverlegungen, gezielte Provokationen, z.B. durch Luftraumverletzungen, sowie konventionelle wie atomare Aufrüstungsprojekte) ebenso wie für die Sprachmuster der gegenseitigen Vorwürfe und Bedrohungsbehauptungen, mit denen die eigenen militärischen Eskalationsmaßnahmen begründet werden.

Die NATO könnte auf ihrem Warschauer Gipfel einiges tun, um die negative Eskalationsspirale im Verhältnis zu Russland zu beenden. Eine eindeutige Entscheidung, dass die vom Gipfeltreffen 2008 beschlossene Option für einen Beitritt der Ukraine, Georgiens und Moldawiens nicht mehr besteht, wäre ein sehr wichtiges Entspannungssignal, das Moskau zu einem Ende der hybriden Kriegsführung in der Ukraine bewegen könnte. Um die seit zwei Jahren ständig wachsende Gefahr ungewollter militärischer Zusammenstöße zu verringern, sollte die NATO Moskau ein Moratorium für Manöver beider Seiten in der Ostsee und im Schwarzen Meer sowie im grenznahen Luftraum vorschlagen.

Hilfreich für einen Entspannungsprozess wären auch Moratoriums- oder Verhandlungsvorschläge für die geplanten oder bereits angelaufenen Aufrüstungsprojekte beider Seiten im atomaren und konventionellen Bereich sowie über die Vereinbarung dauerhaft militärfreier Zonen beiderseits der Landgrenzen zwischen Russland und den osteuropäischen NATO-Staaten. Auf diese Weise ließe sich auch das Abkommen über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte (KSE) von 1990 noch retten.

Mit derartigen Initiativen könnte der NATO-Gipfel den russischen Präsidenten Putin, der in der eigenen Bevölkerung eine viel größere Unterstützung für seine bisherige Ukrainepolitik erfährt als die Regierungen der NATO-Staaten, zu Schritten der Deeskalation unter Wahrung des eigenen Gesichts bewegen. In der längerfristigen Perspektive eines solchen Entspannungsprozesses läge dann auch ein neues, diesmal von der OSZE oder den Vereinten Nationen durchgeführtes Referendum über die Zukunft der Krim, mit dem die völkerrechtswidrige Annexion der Halbinsel durch Russland korrigiert würde.

Andreas Zumach ist seit 1988 Korrespondent am Genfer Sitz der Vereinten Nationen für die taz und andere Zeitungen und Radiostationen im deutschsprachigem Raum. Er ist Mitglied im Beirat von W&F.