Das Sanktionsregime gegen Russland

Das Sanktionsregime gegen Russland

Friedenspolitische Reflexionen angesichts des Krieges gegen die Ukraine

von Sascha Werthes und Melanie Hussak

Der Krieg der Atommacht Russland gegen die Ukraine hat zu einer Verhängung weitreichender Sanktionsmaßnahmen einer Vielzahl von Staaten geführt. Der friedenspolitische Nutzen von Sanktionen ist jedoch umstritten, da die Einschätzung der Möglichkeiten einer Erreichung intendierter Ziele eher pessimistisch stimmt, die Erwartung nicht-intendierter Folgen problematisch ist und die Gefahr einer durch die Sanktionen stimulierten eskalierenden Dynamik nicht von der Hand zu weisen ist. Wie können wir also die multilateralen Sanktionen gegen Russland friedenspolitisch einordnen?

Sanktionen sind ein beliebtes und viel genutztes Mittel uni-, pluri- und multilateraler Politik – so auch im Fall des russischen Krieges gegen die Ukraine. Nicht nur als Mittel der Interessendurchsetzung einzelner oder weniger Staaten, sondern ebenso in ihrer multilateralen und transnationalen Form werfen Sanktionen jedoch einige frie­dens­politische und friedensethische Fragen auf (siehe hierzu auch die Beiträge von Schweitzer 2019 und Lohrer 2019 in W&F). Die zum Teil hitzig geführten friedenspolitischen Debatten entstehen hierbei nicht nur aufgrund von Überlegungen zu ihrer umstrittenen politischen Wirksamkeit (s. u.a. Peksen 2019). Vielmehr ist mittlerweile gut dokumentiert, dass umfassende wie auch gezielte Sanktionsregime negative sozioökonomische, politische sowie humanitäre Folgen für die Bevölkerung im jeweils adressierten Zielstaat, im Sendestaat als auch in Drittstaaten haben können (anstelle vieler Meissner und Mello 2022; Early und Peksen 2022).

Wir unternehmen daher einige friedenspolitische Reflexionen zu Missverständnissen, Erwartungen sowie den friedensethischen Dilemmata mit Blick auf das multilaterale Sanktionsregime gegen Russland.

Zwangsbewehrung statt Machtmittel

Aus unserer Sicht gilt es zwei miteinander verwobene Diskursstränge über »Sanktionen« als friedenspolitisches Instrument klar zu unterscheiden. Zum einen, die argumentative Fokussierung auf (zumeist uni- oder plurilaterale) »Sanktionen« als Mittel einer interessengeleiteten Machtpolitik, um (die eigenen) Interessen gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen. Zum anderen, ein Verständnis von Sanktionen als Mittel zur Zwangsbewehrung von Normen, um diese zu erhalten oder auch durchzusetzen.

Im ersteren Falle birgt die vermeintliche »Sanktionspolitik« augenscheinlich ein hohes Risiko der Konflikteskalation. Maßnahmen einer interessengeleiteten Machtausübung werden eventuell mit Gegenmaßnahmen beantwortet, welche wiederum in Reaktion hierauf zu weiteren oder verschärften Maßnahmen führen können. Zudem sind Machtausübungen dieser Art auch nur erfolgversprechend, wenn man aus der Position des vermeintlich Stärkeren eine asymmetrische Kräftekonstellation für sich nutzen kann. Allerdings dokumentiert die »Global Sanctions Data Base« in der Auswertung der zwischen 1950 bis 2019 erfassten Sanktionsepisoden nur rund ein Drittel der Fälle als erfolgreich (vgl. Christen und Felbermayr 2022, S. 70). Entlang dieser Betrachtungen bringt Lohrer (2019) in einem früheren Heft von W&F Sanktionen mit reiner Machtpolitik in einen Zusammenhang und lehnt sie als Instrument einer Friedenspolitik zu Recht ab. Denn „nicht jede Machtausübung ist eine Sanktion, sondern nur die, die mit dem Anspruch auftritt, eine allgemeine Norm [sic] zur Geltung zu verhelfen“ (Daase 2019, S. 28f.). Entscheidend für eine friedensethische Bewertung, so kann man im Anschluss an Daase argumentieren, ist daher die argumentativ überzeugende und nicht nur deklaratorische Berufung auf und die Rechtfertigung von allgemeinen Normen, zu deren Erhalt politische oder wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen verhängt werden.

Dies bringt uns zum zweiten Diskursstrang. Hier sollen Sanktionen „als eine Maßnahme der sozialen Kontrolle verstanden werden, also als Reaktionen anderer auf normgemäßes oder von der Norm abweichendes Verhalten eines Sanktionsadressaten“ (Werthes 2019, S. 122f.). Auch wenn hier ebenfalls grundsätzlich die Gefahr besteht, dass Sanktionen zu einer Konflikteskalation beitragen können, so ist die zugrundeliegende Handlungslogik eine fundamental andere. Eine normativ erwünschte Ordnung soll durch die Zwangsbewehrung der entsprechend formulierten Prinzipien und Normen stabilisiert werden. Genau auf dieser Idee beruht auch das System der kollektiven Sicherheit, wie es in der VN-Charta verankert ist und welches das in der Charta verankerte Gewaltverbot (Art. 2.4) im Sinne einer internationalen Friedensordnung absichern soll. Durch ihre Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen haben Staaten grundsätzlich ihre Akzeptanz zu den in der Charta verankerten Prinzipien und Normen erklärt. Das damit verbundene System kollektiver Sicherheit basiert auf der Vorstellung, dass Akteure von Angriffshandlungen sowie von einer friedensbedrohenden oder friedensbrechenden Politik (Art. 39) abgehalten werden, wenn ihnen sonst kollektive nichtmilitärische (Art. 41) oder gar militärische Zwangsmaßnahmen (Art. 42) drohen.

Folgt man den Ausführungen Daases (2019, S. 15-18), so wird hier eine rechtspazifistische Position sichtbar. Die Chance zur Überwindung von Krieg (und Gewalt) wird hier in der rechtlich gestützten Monopolisierung von Zwangsgewalt bei einer internationalen Organisation gesucht. Die friedensethische Legitimität hängt somit von ihrer Normfundierung sowie ihrer regelbasierten Verhängung ab. Eine solche rechtspazifistische Position akzeptiert also das »traurige Notmittel« Sanktionen als friedenspolitische Option „unter bestimmten Voraussetzungen“ (s. auch Schweitzer 2019).

Friedenspolitische Erfolgsparameter von Sanktionsregimen

Hiermit einher geht eine weitere für eine kritische friedenspolitische Debatte über Sanktionen wichtige Überlegung. Die in einer solchen rechtspazifistischen Argumentation verankerte normative Rechtfertigungsnotwendigkeit von Sanktionen verändert die Erfolgsparameter von Sanktionen (hierzu Daase 2019, S. 28). Denn der Aspekt einer machtpolitischen Instrumentalisierung von Sanktionen verliert an Bedeutung. Insofern die Bekräftigung einer allgemeinen Norm die Hauptfunktion von Sanktionen ist und nicht unbedingt die Erzwingung eines bestimmten Handelns, können auch macht- und gewaltlose Sanktionen erfolgreich sein. Entsprechend argumentiert dann auch Daase (ebd.): „Sanktionen scheitern nicht dadurch, dass sie eine beabsichtige Verhaltensänderung nicht erreichen, sondern allenfalls dann, wenn die Berufung auf die zugrundeliegende Norm nicht gelingt und die Sanktion zu Recht als illegitimer Zwang angesehen wird.

Aus rechtspazifistischen Überlegungen heraus, stellt damit die Annahme der Resolution zur Verurteilung der russischen Aggression gegen die Ukraine am 2. März 2022 durch 141 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen eine beeindruckende Missbilligung unter Verweis auf allgemeine Normen (u.a. das allgemeine Gewaltverbot, Recht auf territoriale Integrität, Prinzipien des humanitären Völkerrechts) dar (VN-GA 2022). Auf Grundlage dieser Resolution lässt sich die Zwangsbewehrung dieser Normen mittels Sanktionen friedenspolitisch rechtfertigen.

Aus friedenspolitischen Überlegungen heraus sollte jedoch eine rechtspazifistische Rechtfertigungsmöglichkeit von Zwangsmaßnamen nicht als voraussetzungslose Legitimierung aller beliebigen Zwangsmaßnahmen missverstanden werden. Weitere friedenspolitische Überlegungen sind notwendig.

Friedenspolitische Prüfung der Angemessenheit

Die Zwangsbewehrung von Normen sollte in »friedenspolitischer Absicht« erfolgen. Zwangsmaßnahmen und ihre Aufhebungsbedingungen sollten mit dem Ziel verhängt werden, die Bedingungen eines gewaltfreien Zusammenlebens zu bewahren oder (wieder) herzustellen (Werthes 2019, S. 139ff). Dies bedeutet, Sanktionsmaßnahmen zu vermeiden, die zu einer Eskalation des Konflikts beitragen und eine Transformation und Konfliktbearbeitung erschweren. Die Verhängung von Sanktionen mit dem expliziten oder impliziten Ziel, einen Regierungswechsel im Zielland herbeizuführen, sind daher friedenspolitisch problematisch, da sie die Fronten verhärten und einen diplomatischen Dialog erschweren. Entsprechend sind auch Reisebeschränkungen – zumindest vorübergehend – aufzuheben, damit Regierungsverantwortliche und ggf. weitere politische Eliten des Landes an diplomatischen Gesprächen teilnehmen können. Die Einbettung von Sanktionsmaßnahmen in eine perspektivisch über Jahrzehnte andauernde Eindämmungsstrategie gegenüber Russland – ganz gleich wie sich die Lage in der Ukraine entwickelt – wie sie Lake (2022) einfordert, mag aus sicherheitspolitischer Sicht plausibel erscheinen, eine friedenspolitische Absicht ist hier jedoch nur noch schemenhaft zu erkennen.

Die »ultima ratio« der Zwangsbewehrung von Normen muss es sein, unter allen geeigneten Mitteln die jeweils gewaltärmsten Mittel vorzuziehen. Dies beinhaltet auch die beständige Suche nach alternativen, gegebenenfalls positiven oder gewaltärmeren Sanktionen, mit denen die friedenspolitischen Ziele ebenfalls verfolgt werden können. Zwangsbewehrung sollte in diesem Sinne ein Kontinuum ausnutzen, bei dem unterschiedliche soziale, politische, ökonomische Kosten auferlegt werden, um ein bestimmtes Verhalten zu fördern (Daase 2019, S. 24). Eng verbunden ist hiermit das Kriterium der »Verhältnismäßigkeit der Mittel«: Umfang, Dauer und Intensität der Zwangsmaßnahmen sind auf dasjenige notwendige Mindestmaß zu begrenzen, welches eine Aussicht auf Erfolg offeriert. Im Sinne eines »Unterscheidungsprinzips« sind nicht direkt beteiligte beziehungsweise nicht verantwortliche Personen, Gruppen und Einrichtungen soweit es geht zu schonen. Mit Blick auf politisch-institutionelle, ökonomische, soziale, kulturelle, ökologische und insbesondere auch humanitäre Folgen von Zwangsmaßnahmen gilt es eine »Verhältnismäßigkeit der Folgen« zu beachten.

Eine friedenspolitisch akzeptable Sanktionspolitik erfordert in diesem Sinne ein hohes Maß an »Flexibilität«, da auf die Dynamiken des Konflikts schnell und angemessen reagiert werden sollte. Die Entschärfung oder vorübergehende Aufhebung der Sanktionsmaßnahmen gilt es zu überlegen, sofern sich Gelegenheitsfenster, im Sinne von „Reife-Momenten“ (Zartman 2022), für eine diplomatische Bearbeitung des Konflikts abzeichnen.

Schlussbemerkungen

Wladimir Putin hat mit seiner irredentistischen, expansionistischen Aggressionspolitik gegen die Ukraine nicht zum ersten Mal die Gültigkeit der in der VN-Charta verankerten Prinzipien und Normen missachtet und damit eben auch infrage gestellt. Die klare Missbilligung seiner Aggression gegen die Ukraine durch die Generalversammlung war ein wichtiges, überzeugendes und notwendiges Signal mit dem Anspruch, den in friedenspolitischer Absicht formulierten, allgemeinen Normen (u.a. Gewaltverbot) zur Geltung zu verhelfen, die Gültigkeit aufrechtzuerhalten und eine Beachtung einzufordern. Wäre dies nicht erfolgreich gelungen, stünde die Büchse der Pandora weit offen. In allen Regionen der Welt würde sich das Risiko erhöhen, dass andere seinem Beispiel folgen.

Die in Verbindung hierzu stehenden regelmäßig neu zu befristenden multilateral abgestimmten Sanktionsmaßnahmen mit der Forderung nach Einstellung der Kampfhandlungen und Wiederherstellung der territorialen Integrität können somit für sich eine rechtspazifistische Normfundierung in Anspruch nehmen. Die Sanktionen gegen russische Finanzinstitute, den Energiesektor, den Verkehrssektor, den Technologiesektor, gegen die Medien sowie Sanktionen gegen Politiker*innen, Geschäftsleute und Oligarchen sind weitreichend. Ein Sanktionsregime dieser Art gegen eine G-20 Wirtschaftsnation mit einem ausgeklügelten militärisch-industriellen Komplex und einem diversifizierten Korb von Rohstoffexporten hat es bisher noch nicht gegeben (vgl. Mulder 2022). Die sozio-ökonomischen und politischen Folgen dieser Sanktionsmaßnahmen in Verbindung mit den Kosten und Folgen, die Putins Aggressionspolitik als solche produziert, sind schwer genau zu prognostizieren, werden jedoch nicht nur für die russische Bevölkerung gravierend sein. Diesbezüglich beschreibt Mulder (2022) vier Problematiken, die schon mit den bisherigen Sanktionsmaßnahmen einhergehen: Spillover-Effekte in benachbarte Länder und Märkte, Verstärkungseffekte durch Divestment des Privatsektors, Eskalationseffekte in Form russischer Antworten, und (negative) systemische Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Hinzuzufügen sind negative politische und humanitäre Folgen in Russland und weiteren Staaten.

Dies stellt ein friedenspolitisches Dilemma dar, welches jedoch nicht dazu führen sollte, die bisherigen gezielten und selektiven Sanktionsmaßnahmen aus friedenspolitischen Erwägungen heraus vorschnell abzulehnen. Sanktionen sind in rund einem Drittel der Fälle erfolgreich und können eben auch die militärischen Fähigkeiten zur Kriegsführung eindämmen sowie angesichts der erzeugten Kosten dazu beitragen, den Druck zur Verhandlungsbereitschaft zu erhöhen. Eine naive Sanktionspolitik jedoch, welche darauf hofft, durch immer neue Sanktionen, also mit der Erzeugung von mehr Druck und mehr Leid beim Adressaten ein Umdenken zu forcieren, ist mit Blick auf die oben genannten Prüfkriterien abzulehnen. Das heißt, bei jeder zu diskutierenden neuen Verhängung oder Verlängerung von Sanktionsmaßnahmen müssen die vorgestellten friedenspolitischen Überlegungen zur Prüfung der Angemessenheit von Sanktionsmaßnahmen berücksichtigt werden, wollen politische Entscheidungsträger*innen mit großer Vorsicht und hoffentlich auch friedenspolitischem Geschick vorgehen.

Literatur

Early, B. R.; Peksen, D. (2022): Does Misery Love Company? Analyzing the Global Suffering Inflicted by US Economic Sanctions. Global Studies Quarterly, 2(2): (Online first).

Christen, E.; Felbermayr, G. (2022): Sanktionspolitik gegen Russland. Wirtschaftsdienst (Zeitschrift für Wirtschaftspolitik), 102(2), S. 70-71.

Daase, C. (2019): Vom gerechten Krieg zum legitimen Zwang. Rechtsethische Überlegungen zu den Bedingungen politischer Ordnung im 21. Jahrhundert. In: Werkner, I.; Rudolf, P. (Hrsg.): Rechtserhaltende Gewalt – zur Kriteriologie. Wiesbaden: Springer, S. 13-32.

Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN-GA) (2022): Aggression gegen die Ukraine. UN Doc A/Res/Es-11/1, 2. März 2022. New York: Vereinte Nationen.

Lake, D. A. (2022): Containment 2.0: Sanctions For The Long Haul. Political Violence at a Glance, 9.3.2022.

Lohrer, H. (2019): Sanktionen: Ein friedenspolitisches Instrument – Kein Instrument der Friedenspolitik. W&F 4/2019, S. 37-39.

Meissner, K. L.; Mello, P. A. (2022): The unintended consequences of UN sanctions: A qualitative comparative analysis. Contemporary Security Policy: (Online first, 1-31).

Mulder, N. (2022): The Toll of Economic War. How Sanctions on Russia Will Upend the Global Order. Foreign Affairs, (Online, 22.3.2022)

Peksen, D. (2019): When Do Imposed Economic Sanctions Work? A Critical Review of the Sanctions Effectiveness Literature. Defence and Peace Economics, 30(6), S. 635-647.

Schweitzer, C. (2019): Sanktionen: Ein friedenspolitisches Instrument – Unter bestimmten Voraussetzungen eine Option. W&F 4/2019, S. 35-36.

Werthes, S. (2019): Politische Sanktionen im Lichte rechtserhaltender Gewalt. In: Werkner, I.; Rudolf, P. (Hrsg.): Rechtserhaltende Gewalt – zur Kriteriologie. Wiesbaden: Springer, S. 121-150.

Zartman, I. W. (2022): Understanding Ripeness: Making and Using Hurting Stalemates. In: Mac Ginty, R.; Wanis-St. John, A. (Hrsg.): Contemporary Peacemaking. Peace Processes, Peacebuilding and Conflict. 3. Aufl., Cham: Springer, S. 23-42.

Dr. Sascha Werthes ist Dozent für Internationale Beziehungen und Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Trier.
Melanie Hussak ist Mitglied der Redaktion von W&F und an der Friedensakademie Rheinland-Pfalz assoziiert.

Europas Dilemma


Europas Dilemma

Die EU und der russisch-ukrainische Konflikt

von Hanna Shelest

Die Frage danach, wie sich die EU im Lösungsprozess des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine einbringen soll, steht seit 2014 auf der Agenda und noch immer gibt es keine eindeutige Antwort. Ist es die EU als Ganzes oder sind es Frankreich und Deutschland, die die Rolle des Mediators einnehmen? Sollte die EU eine Peacekeeping-Mission in die Ukraine schicken? Was kann die EU außer Sanktionen noch tun? Im Folgenden einige Überlegungen zur derzeitigen und zur möglichen zukünftigen Rolle der EU und ihres Engagements im russisch-ukrainischen Konflikt.

Obwohl sich das EU-Engagement in der Ukraine seit 2014 insgesamt bedeutend vertieft hat, lässt sich das Gleiche nicht über die Rolle der EU im Friedensprozess sagen. Viele EU-Beamte betonen, dass die Organisation durch Frankreich und Deutschland im Normandie-Format vertreten sei. Dies wird allerdings weiterhin eher als französische und deutsche Mediationsbemühungen wahrgenommen, denn als Bemühungen der EU, so sehr Frankreich und Deutschland auch kontinuierlich die anderen Mitgliedsstaaten über die Fortschritte informieren und sich in ihren Positionen abstimmen.

Im ersten Mediationsversuch im Konflikt um die Ukraine im April 2014 – dem sogenannten Genfer-Format – waren die Ukraine, Russland, die USA und die Europäische Union Verhandlungspartner*innen. Die EU war hier als Organisation anwesend. Die geringe Bereitschaft der USA, in diesem Konflikt eine aktive Rolle als Mediator*in einzunehmen, hat dieses Format torpediert und so dazu geführt, dass das neue Normandie-Format aufgesetzt wurde. Hier ist die EU jedoch nicht als Organisation präsent, sondern wird von Deutschland und Frankreich vertreten, die jeweils als Akteure in sich und als Stimme der EU auftreten.

Die letzten sechs Jahre des Konfliktes und seiner Fortentwicklung haben zwei Probleme des Formats für die EU offenbart: zum einen die Entscheidung, nur entweder staatlicher oder institutioneller Mediator sein zu können. Denn wann präsentieren Deutschland und Frankreich ihre je eigene Vision für die Konfliktbeendigung und wann vertreten sie eine gemeinsame Linie der EU? Trotz aller Beteuerungen der Beamt*innen, dass das Gegenteil der Fall sei, hat es Brüssel immer noch nicht geschafft, für eine öffentliche Wahrnehmung seines Engagements zu sorgen und das Engagement von Deutschland und Frankreich wird als individuelle Mediation zweier Staaten gesehen.

Zum anderen verhandeln die Ukraine und Russland Fragen rund um konkrete Konfliktthemen direkt mit Paris und Berlin. Wenn die Ukraine und Russland also beispielsweise über die Modalitäten eines Friedensplans, eines Waffenstillstands, den Umgang mit ausländischen Kämpfern oder Sicherheitsgarantien sprechen wollen, so diskutieren sie dies mit Frankreich und Deutschland. Die EU kommt dabei üblicherweise nur ins Bild, wenn es um Sanktionsmechanismen und den Wiederaufbau nach Konfliktende geht.

Politische Instrumente

Verschiedene Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben einen reichen Erfahrungsschatz, wenn es um Konflikt­lösung und Mediation geht, die EU als Ganzes allerdings hat nur beschränkte Erfahrungen in dieser Hinsicht. Die Stärke der EU liegt eher in ihrer Rolle als »Peacebuilder«, wenn es um Fragen des Wiederaufbaus und der Versöhnungsprozesse, Reformbestrebungen oder den Umgang mit umstrittenen Territorien geht. Erst kürzlich wurden Konfliktpräventionsmechanismen überhaupt zu den außenpolitischen Prioritäten der EU hinzugefügt. Die EU-Globalstrategie für Außen- und Sicherheitspolitik von 2016 stellt Mediation auf eine Linie mit präventiver Diplomatie und betrachtet sie als ein Instrument der vorsorglichen Friedenssicherung und für frühzeitiges Handeln: „Vorwarnung ist nur von geringem Nutzen, wenn sie nicht von frühzeitigem Handeln begleitet wird. Das beinhaltet regelmäßige Berichterstattung und Vorschläge an den Rat der EU, sich durch die EU-Delegationen und EU-Sondergesandten in präventiver Diplomatie und Mediation zu üben“ (EEAS 2016, S. 30). Der Politische Dialog ist eines der Hauptinstrumente der EU-Außenpolitik für Konfliktmanagement, das darauf abzielt das Verhalten der Konfliktparteien zu verändern. Aber im Fall der Ukraine fällt es der EU nicht leicht, sich zu entscheiden, wessen Positionen sie verändern möchte. Zudem ist unklar, ob die EU nicht auch selbst als Konfliktpartei betrachtet werden sollte.

Genau aus dieser Unklarheit speist sich die strategische Schwäche der EU an dieser Stelle: Sie ist weder anerkannte Konfliktpartei noch eine unparteiische Mediatorin. Da die Revolution von 2013-2014 auf einen Weg der Ukraine in die EU abzielte und die Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der EU einer der Trigger für die russische Aggression war, entzogen die anderen Konfliktparteien (allen voran die russische Föderation, aber ebenso die separatistischen Regionen Donezk und Lugansk) der EU ihre »Neutralität« in diesem Konflikt. Die EU wird von der russischen Föderation und den separatistischen Gebieten nicht als Mediatorin akzeptiert, da sie Sanktionen gegen Russland eingesetzt hat und weiterhin einen Annäherungskurs mit der Ukraine fährt.

Gleichzeitig sollte die EU den »ukrainischen Fall« weitgehender betrachten, als nur durch die Linse der russisch-­ukrainischen Beziehungen. Für Russland ist diese Konfrontation eine über europäische Ordnungsmacht, ein Wettstreben mit den USA und eine Möglichkeit, den eigenen Einflussbereich gegen Europa in Stellung zu bringen. Für die EU hingegen sollte es hier um eine schwere Verletzung der Souveräntität und territorialen Integrität eines Staates, um Menschenrechte und Millionen Menschenleben, das Völkerrecht und die Unterstützung anderer unabhängiger Staaten gehen.

Seit 2014 hat es die EU nicht geschafft, einen Sondergesandten für die Ukraine zu benennen. Während die EU als Ganzes zwar umfassend im Dialog mit der Ukraine war, hatte die außenpolitische Komponente die geringste Bedeutung. Die Nachbarschaftspolitik, Energiefragen, Justiz-, Wirtschaft- und Handelsreformen, Visaerleichterungen – all diese Fragen führten schlussendlich zur Unterzeichnung des Assoziationsabkommens und des Freihandelsabkommens, zu verstärktem politischen Dialog und Handelsbeziehungen. Während der gleichen Zeit reiste die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini nur zweimal in die Ukraine und priorisierte beide Male Reformen und den Anti-Korruptions-Prozess gegenüber dem Friedensprozess. Sie war stark in den Verhandlungen zu Kosovo und zur iranischen Atomfrage eingebunden, dem Donbas allerdings schenkte sie wenig Beachtung und reiste auch nie dorthin, trotz ausgesprochener Einladungen. Der Wechsel der EU-Kommission 2019 hat an dieser Situation und den EU-Prioritäten gegenüber der Ukraine nichts verändert.

Unentschlossene Peacekeeping-Versuche

2015 hatte der damalige ukrainische Präsident offiziell eine EU- oder UN-geführte Peacekeeping-Mission in der Ukraine angefordert. Die EU-Version einer solchen Mission wurde schnell abgelehnt, nachdem sich alle Expert*innen über die geringen Erfolgsaussichten einer solchen Peacekeeping-Mission einig zu sein schienen. Der wichtigste Grund dafür war wohl der drohende Verlust der Neutralität in diesem Konflikt; aber viel grundlegender galt es zu berücksichtigen, dass die EU keine relevante Erfahrung mit der Durchführung von ­Peacekeeping-Missionen hat.

Vielmehr konzentriert sich die EU normalerweise auf zivile Aufgaben, den Prozess des »Peacebuilding«, vertrauensfördernde Maßnahmen, Wiederaufbauprojekte und Konfliktprävention. So sind auch beide derzeitigen Missionen in der Ukraine zivile Missionen – die EU »Grenzunterstützungsmission (Border Assistance Mission)« in Moldawien und der Ukraine (EUBAM, seit 2005) und die »EU Beratermission zur Reform des zivilen Sicherheitssektors in der Ukraine« (EUAM Ukraine, seit März 2014. EU-Militärmissionen sind typischerweise kurze Einsätze und als Unterstützung der Aktivitäten anderer internationaler Organisationen angelegt. Obwohl ein EU-interner Beschluss für ihren Einsatz genügt, hat die EU in der Vergangenheit nur dort Einsätze gestartet, wo schon andere internationale Organisationen vor Ort waren. Peacekeeping überlässt die EU immer noch gerne vor allem anderen Organisationen.

Im postsowjetischen Raum verlassen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten bei Konflikten traditionell auf die OSZE. Die direkten Einladungen für einen Einsatz in der Ukraine 2015 und 2018 wurden mit dem Hinweis abgelehnt, dass die EU-Mitgliedstaaten bereitstünden durch die UN und die OSZE am Konflikt zu arbeiten. Die Sonderbeobachtungsmission der OSZE in der Ukraine ist keine Peacekeeping-Mission im eigentlichen Sinne des Wortes, aber sie ist die einzige derartige Mission, die derzeit vor Ort ist. Indem sie die Mission politisch, diplomatisch und finanziell unterstützt, kann die EU eine halbwegs neutrale Rolle beibehalten und dennoch den Peacekeeping-Prozess beeinflussen, muss aber nicht tiefergehender involviert sein.

Was folgt nun?

Während die nächste Waffenstillstandsverlängerung so gut wie sicher ist, kann sich die EU in die Friedensverhandlungen aktiver einbringen, die aufgrund der Pandemie und russischem Widerstand zum Erliegen gekommen sind. Die »Krim-Plattform«, wie sie kürzlich vom ukrainischen Außenministerium angekündigt wurde, könnte ein neues Format sein, in dem sich die EU als Organisation mehr einbringt (MFA 2020).

Mittlerweile lassen sich Rufe danach, den Konflikt einzufrieren und die Sanktionen gegen Russland aufzuheben, häufiger vernehmen – obwohl ihre Urheber*innen den Kreml offen für die Annexion der Krim und den Krieg im Donbas anklagen. Viele europäische Think-Tanks haben schon vorgeschlagen, Russland in einen Dialog über die neue EU-Sicherheitsordnung einzubinden, in der Hoffnung, dass dies zur Konfliktbeilegung im Donbas beiträgt (vgl. ICG 2020, EASLG 2020). Viele von ihnen lassen dabei die Frage der Krim außen vor. De facto ist ein Szenario eines eingefrorenen Konfliktes aber die schlechteste Option, da es der internationalen Staatengemeinschaft erlauben würde, den Vorgängen in der Ukraine und den konstant erneuerten Forderungen aus Moskau noch weniger Beachtung zu schenken. Dialogbereitschaft und ein Einfrieren des Konfliktes fühlen sich daher mehr nach einem Beschwichtigungsversuch, als nach einer Konfliktlösung an.

An den Ausgangsbedingungen hat sich seit 2014 nichts verändert. Jeder Ruf nach Dialog sollte mit einem klaren Verständnis davon einhergehen, wie weit die europäischen Staaten bereit sind, Kompromisse bei ihren Prinzipien und Werten einzugehen. Wenn die EU eine normative Kraft hat und keine militärische, und wenn sie weichere Methoden und Sanktionen über militärische Optionen bevorzugt, dann kann es immer einen Weg für eine Position der »Offenen Karten« geben, nämlich mit der EU-Mitgliedschaftsperspektive für die Ukraine weiter voranzugehen. Das würde ein klares Signal an die russische Föderation senden, dass all ihre militärischen Manöver, hybride Kriegsführung oder politische Einmischung die EU nicht davon abhalten wird, neue Mitglieder einzuladen und den Einflussbereich ihrer Werte und Normen auszuweiten.

Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sich die EU als Organisation mehr einbringen wird. Die gegenwärtige Situation, in der die zwei einflussreichsten Mitgliedsstaaten im Normandie-Format präsent sind, scheint alle anderen Mitgliedstaaten zu befriedigen und dennoch der EU-Kommission genug Spielraum für ihre eigenen Manöver zu lassen. Mit den anstehenden Wahlen in Deutschland und Frankreich kann sich diese Situation aber in absehbarer Zeit ändern – eine mögliche neue Chance für die EU, sich als einheitliche Stimme und mögliche Mediatorin im russisch-ukrainischen Konflikt zu präsentieren.

Literatur

European External Action Service (EEAS) (2016): Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe. A Global Strategy for the European Union‘s Foreign and Security Policy. June 2016.

Euro-Atlantic Security Leadership Group (EASLG) (2020): Twelve Steps toward Greater Security in Ukraine and the Euro-Atlantic Region. February 2020.

International Crisis Group (2020): Peace in Ukraine I: A European War. Report 256. 27.04.2020.

Ministry of Foreign Affairs of Ukraine (MFA) (2020): Crimean Platform to Keep Occupation of Crimea in Focus of Constant International Attention – Emine Dzhaparova. 05 October 2020.

Dr. Hanna Shelest ist Direktorin der Programme für Sicherheitsfragen beim außenpolitischen Think-Tank »Ukrainska Prisma« und Chefredakteurin der Zeitschrift »UA: Ukraine Analytica«.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing

Russlands »hybride Kriegführung«


Russlands »hybride Kriegführung«

von Hans-Georg Ehrhart

Vor einigen Jahren fand der Begriff »hybride Kriegführung« Eingang in den sicherheitspolitischen Diskurs. Anlässe waren die Annexion der Krim durch Russland 2014 und der verdeckte Krieg in der Ukraine. Das russische Vorgehen wurde mit verschiedenen Begriffen zu erfassen versucht. Es war die Rede von nichtlinearer, begrenzter, unkonventioneller, irregulärer, verdeckter, postmoderner oder eben hybrider Kriegführung. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass der Krieg, so Carl von Clausewitz, ein „wahres Chamäleon“ ist, das seine Erscheinungsform je nach Umgebung ändert (Clausewitz 1973, S. 212). Ein anderer liegt darin, dass es in der Kriegsforschung bis heute keine klare und allgemein akzeptierte Definition oder Typologie des Krieges gibt. Letztlich kommt es darauf an, was man unter Krieg versteht, und dieses Phänomen dann auch so zu nennen, ist eine äußerst politische Entscheidung.

Krieg im 21. Jahrhundert scheint andere Ausdrucksformen anzunehmen, als es das klassisch-binäre Verständnis seit der Herausbildung der europäischen Staatenwelt suggeriert. Demzufolge handelt es sich bei Krieg um eine zwischenstaatliche, mit regulären Armeen nach bestimmten Regeln auf dem Schlachtfeld geführte Auseinandersetzung (Ehrhart 2017). Doch lag dieser Sichtweise immer eine eurozentrische und staatsfixierte Sicht zugrunde. Zudem galt sie nur für einen relativ kurzen historischen Zeitraum und das auch nur eingeschränkt, weil auch in dieser Zeit hybride Mittel und Taktiken eingesetzt wurden. Darum ist Murray und Mansor zuzustimmen, wenn sie betonen, dass hybride Kriegführung – verstanden als Kombination von konventioneller und unkonventioneller bzw. regulärer und irregulärer Kriegführung – nichts Neues ist (Murray und Mansoor 2012, S. 2).

Gleichwohl wurde die russische Kriegführung in der Ukraine zunächst als etwas völlig Neues beschrieben, als Invasion, als feindliches Eindringen oder als Aggression (Ehrhart 2014, S. 26), bis sich in der NATO und in der EU schließlich die Begriffe »hybride Kriegführung« und »hybride Bedrohungen« durchsetzten. Auf dem Gipfel von Wales beschrieb die NATO hybride Kriegführung als „eine große Bandbreite an offenen und verdeckten militärischen, paramilitärischen und zivilen Maßnahmen“, die auf hochabgestimmte Weise eingesetzt werden“ (NATO 2014, Ziffer 13). Während in diesem weiten Verständnis die konventionelle Kriegführung noch mit aufgeführt wird, wurden später auch einzelne Aktivitäten, wie informationelle Beeinflussung und subversive Handlungen, als hybride Kriegführung bezeichnet. Damit wird der Begriff nicht nur noch unschärfer, sondern auch problematisch, weil er die rhetorische Kriegsschwelle senkt.

Der Begriff hat nicht nur, wie Ina Kraft treffend feststellt, die Funktion der Vereinfachung, der Generierung von Aufmerksamkeit und von Legitimität (Bilban und Griniger 2019a, S. 335; Artikel von Ina Kraft auf Seite 13 in diesem Heft), sondern auch der geistigen Mobilmachung und der politischen Konfrontation. Ihm liegt angeblich eine »Doktrin« zugrunde, die den Namen des russischen Generalstabschefs Valery Gerasimov trägt. Diese Zuordnung geht auf eine Rede im Jahr 2013 zurück, in der Gerasimov die westlichen Kriseninterventionen und die darin erkennbaren spezifischen Formen der Auseinandersetzung analysiert, nämlich politische Ziele mit minimalem bewaffnetem Aufwand zu erreichen, vor allem mit „Zersetzung [des gegnerischen] militärischen und wirtschaftlichen Potenzials, informationell-psychologischer Einflussnahme, aktiver Unterstützung der inneren Opposition und der Anwendung von Partisanen- und subversiven Methoden […]“ (Gerasimov, zitiert in Bilban und Griniger 2019b, S. 275 f.). Gerasimov selbst hat den Begriff der hybriden Kriegführung erstmals 2016 benutzt und das zugrundeliegende Konzept als westlich bezeichnet. Gleichwohl entspricht das russische Vorgehen gegen die Ukraine seiner Beschreibung, wie das folgende Kapitel zeigt.

Russlands Praxis hybrider Kriegführung in der Ukraine1

Die beiden Tschetschenienkriege von 1994 bis 1996 und von 1999 bis 2009 zeigten, dass Russlands Streitkräfte strukturell, technologisch, doktrinär und politisch-strategisch nicht mehr auf moderne Aufstandsbekämpfung eingestellt waren. Der Georgienkrieg 2008 schrieb zwar die im zweiten Tschetschenienkrieg begonnene taktisch-operative und politische Lernkurve fort, indem es gelang, die georgischen Soldaten rasch aus Südossetien und Abchasien zu vertreiben und die eigenen Truppen nach wenigen Tagen zurückzuziehen. Zudem wurde die militärische Operation durch intensive Informationsoperationen und Cyberattacken begleitet. Doch offenbarte dieser Konflikt auch militärische Schwächen, etwa in den Bereichen Führung, Informationstechnologien und Präzisionswaffen. Die Annexion der Krim 2014 zeigte verbesserte Führungsfähigkeiten und modernere Ausrüstung, etwa neue Kommunikationsmittel auf der Basis des russischen Navigationssystems Glonass und moderne Helme mit eingebautem Multifunktionsgerät. Das Vorgehen in der Ukraine seit 2014 demonstriert wiederum, dass Moskau seine Kriegführung durch direkte, wenn auch verdeckte bzw. abstreitbare, konventionelle Eingriffe unterstützen kann, wenn die Lage es erfordert.

Insgesamt nutzt(e) Russland die gesamte Bandbreite der Methoden hy­brider Kriegführung. Die Annexion der Krim wurde durch ein groß angelegtes Ablenkungsmanöver eingeleitet, bei dem ohne vorherige Ankündigung große Teile der Armee in Alarmbereitschaft versetzt wurden und mehr als 150.000 Soldat*innen eine Militärübung abhielten. Während westliche Beobachter gebannt auf den westlichen und den zentralen Wehrbezirk schauten, verstärkte Moskau die in Sewastopol stationierten 10.000 Soldaten bis Ende März um weitere 22.000, darunter Spezialkräfte der Geheimdienste und des neu gegründeten Streitkräftekommandos für Sonderoperationen. Maskierte, aber diszipliniert und bestimmt auftretende Männer im Kampfanzug ohne Hoheitsabzeichen – die so genannten »grünen Männchen« – waren immer dann präsent, wenn lokale prorussische Kräfte Gebäude des ukrainischen Staates besetzten. Die propagan­distische Begleitmusik spielte das Lied von der autonomen Volksbewegung, die den Anschluss an Russland wolle, um der faschistischen Bedrohung aus Kiew zu entgehen. Das alternative Narrativ wurde unterstützt durch die Ausschaltung kritischer Medien und Cyberangriffe auf ukrainische Internet- und Telefonverbindungen. Den vermeintlich legalisierenden Schlusspunkt setzten ein kurzfristig durchgeführtes Referendum und der formale Beitritt der Krim zu Russland am 18. März 2014.

In der Ost- und Südostukraine gestaltete sich das Vorgehen Russlands ähnlich. Im Unterschied zur Annexion der Krim eskalierte der Konflikt hier jedoch zum konventionellen Krieg. Die »grünen Männchen« agierten im Zusammenspiel mit lokalen bewaffneten Aufständischen hauptsächlich in den Gebietskörperschaften Donezk und Luhansk, wobei dieses Mal auch russische Soldaten und Kämpfer aus dem Kaukasus mitwirkten. Laut russischen Darstellungen handelt es sich ausschließlich um Freiwillige, die für die Selbstbestimmung der Russen kämpfen. Begleitet wurde das Vorgehen durch Cyberattacken auf ukrainische Regierungsorganisationen.

Zwar erhalten die Separatisten von Russland Führungsunterstützung und Ausrüstung, allerdings hat Moskau die beiden von ihnen deklarierten autonomen Volksrepubliken bislang nicht anerkannt. Nachdem die Aufständischen unter militärischen Druck der Ukraine geraten waren, antwortete Moskau mit grenznahen Militärmanövern, um eine Drohkulisse aufzubauen, vermehrten Waffenlieferungen, um die Separatisten zu stärken, mit unilateraler humanitärer Hilfe, um Pluspunkte an der heimischen Propagandafront einzufahren, und mit der Eröffnung einer weiteren Front im Südosten der Ukraine, um die Separatisten im Osten zu entlasten. Trotz des am 5. September 2014 in Minsk unter Vermittlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unterzeichneten Waffenstillstandabkommens zwischen der ukrainischen Regierung und den Separatisten flammten die Kämpfe immer wieder auf. Auch nach der Präzisierung und Bekräftigung des Minsker Abkommens durch die Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine im Februar 2015 (Minsk II) simmert der Krieg weiter. Er forderte bislang fast 13.000 Menschenleben.

Während die eingesetzten Waffen auf einen klassischen konventionellen Krieg hindeuten, zeigen die eingesetzten Kräfte und die russische Interpretation des Konflikts, die dem Prinzip der plausiblen Abstreitbarkeit folgt, dass es sich auch um eine Form des unkonventionellen Krieges handelt. Seinen hybriden Charakter erhält er durch das koordinierte Zusammenwirken konventioneller und unkonventioneller, symmetrischer und asymmetrischer sowie militärischer und ziviler Mittel und Methoden.

Warum führt Russland in der Ukraine einen hybriden Krieg?

Kriegführung dient in der Regel einem politisch-strategischen Ziel. Das gewaltsame Vorgehen wird gewählt, weil dieses Ziel als gefährdet angesehen und die eigene Handlung als Erfolg versprechend eingeschätzt wird. Im Falle des Gewaltkonflikts in der Ukraine verfolgt Russland völlig unterschiedliche politisch-strategische Vorstellungen von denen des Westens. Moskau denkt vor allem in der Logik des politischen Realismus, der auf Kategorien wie Macht, Einfluss und Gleichgewicht setzt. Zudem geht es ihm um seine Lesart von internationalen Normen. Drittens handelt es aus pragmatischen Erwägungen asymmetrisch.

Russland will die Ukraine so weit wie möglich im eigenen Einflussbereich halten und ihre Annäherung an die NATO verhindern. Die NATO-Erweiterung und die Verlagerung militärischer Infra­struktur an die Grenzen Russlands beschreibt es in seiner Militärstrategie als „wichtigste militärische Bedrohung von außen“ (The Military Doctrine of the Russian Federation 2014, Abs. 12a). Zudem will Moskau die am 1. Januar 2015 gegründete Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) ausbauen, die ohne Kiew signifikant weniger Gewicht hätte. Auch wenn die Mitgliedschaft Kiews in der EAWU momentan illusorisch ist, will Russland doch seinen Einfluss über den Osten des Landes wahren, bis sich die Lage in der ganzen Ukraine langfristig zu seinen Gunsten ändert. Bis dahin unterstützt es die Bildung eines quasistaatlichen Gebildes, ohne jedoch die formale Teilung der Ukraine voranzutreiben.

Russland geht es nicht nur um die Ukraine, sondern auch um seine Stellung in der Welt und um seine nationale Sicherheit (»Russia’s National Security Strategy to 2020« von 2009). Sein Ringen um Status und vor allem sein Widerstand gegen eine von den USA dominierte Weltordnung findet durchaus die Unterstützung anderer Staaten. In Europa sollten aus russischer Sicht zwei Zentren zu einer multipolaren Welt beitragen: die Europäische Union und eine von Russland geführte EAWU, einschließlich der Ukraine, Moldaus und Georgiens. Überwölbt würde das Ganze durch eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur. Der zweite Aspekt, die nationale Sicherheit, erfordert nach russischem geopolitischem Denken die Einbindung des »nahen Auslands«, weil sie ein Mindestmaß an strategischer Tiefe gewährleistet und aufgrund der jahrzehntelangen ökonomischen und ethnischen Verflechtung notwendig erscheint. Russland hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass es die Nichtbeachtung seiner Sicherheitsinteressen nicht hinnehmen wird. Die Reaktion im Georgienkonflikt war eine eindeutige Warnung. Man mag diese Haltung als altes Denken abtun, sie leitet aber das Handeln der russischen Führung.

Der russische Legitimationsdiskurs beschränkt sich aber nicht allein auf die genannten Argumente der realistischen Denkschule. Er greift auch auf russisch-konnotierte liberale Begründungen zurück, wenn er den Schutz der Menschen auf der Krim und in der Ostukraine sowie deren Recht auf Selbstbestimmung und kulturelle Identität anführt. Gleiches gilt für das Bedauern, dass das Völkerrecht nicht mehr greife und die von der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten sprachlichen, historischen und kulturellen Rechte der Russen in der Ukraine bedroht seien (President of Russia 2014). Das zweifelhafte Recht, russische Bürger auch außerhalb des Staatsgebietes militärisch zu schützen, deklariert Moskau schlicht für völkerrechtskonform. Die Kernbotschaft lautet: Russlands Handeln ist legal und legitim. Alle Rechtfertigungen dienen wohl auch dazu, die russische Bevölkerung um Präsident Putin zu scharen und dadurch in Kombination mit autoritären Maßnahmen, wie der Unterdrückung unabhängiger Medien, das politische System zu stabilisieren.

Schließlich versucht Russland mit Hilfe hybrider Kriegführung, aus einer Lage relativer Schwäche maximalen Vorteil zu ziehen. Die konventionelle Überlegenheit der USA und der NATO ist unstrittig. Allerdings hat Russland durch seine Nähe zur Ukraine einen geografischen Vorteil, der ihm die regionale Eskalationsdominanz ermöglicht. Es könnte schneller konventionelle Kräfte in der Region konzentrieren und nachführen, sollte die Lage es erfordern. Zudem ist es durch taktische Nuklearwaffen abgesichert. Da die Vermeidung eines Kriegs mit den USA aber höchste Priorität hat und Russland seine eigenen Kosten möglichst geringhalten will, wählt es eine asymmetrische Vorgehensweise. Offiziell ist Russland in der Ukraine noch nicht einmal Kriegspartei. Es agiert in der Grauzone zwischen Krieg und Frieden, gibt zugleich den Vermittler, modernisiert seine Streitkräfte und passt das Zusammenspiel seiner zivil-militärischen Fähigkeiten den Bedingungen und Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts an.

Schlussfolgerung

Russlands hybrider Krieg in der Ukraine ist eine Mischung aus unkonventioneller und konventioneller Kriegführung. Sie ist nicht grundsätzlich neu und wird auch von anderen Akteuren angewendet. Aber sie ist, wie jeder Krieg, in der konkreten Umsetzung anders. Die klassische Form des unkonventionellen Krieges wurde gewahrt, indem man verdeckt nicht- staatliche Akteure unterstützte. Andererseits verändert sie sich und geht in eine hybride, konventionelle und unkonventionelle Aktionen mischende, Form über. Zu dieser Form des Krieges im 21. Jahrhundert gehören offene und verdeckte Informationsoperationen, nicht eindeutig zuzuordnende Cyber­attacken, die Nutzung irregulärer und regulärer Kräfte, die wachsende Relevanz zivil-militärischer Vernetzung und die Nutzung von Hochtechnologie.

In einer Zeit, in der zwischenstaatliche Kriege glücklicherweise rar geworden sind, besteht die Gefahr, dass hybride Kriegführung in der Grauzone zu einem bevorzugten Mittel wird. Dies mag zwar angesichts der Alternative eines umfassenden Krieges als geringeres Übel erscheinen, ist aber gleichwohl gefährlich, weil immer die Gefahr einer beabsichtigten oder unbeabsichtigten Eskalation besteht.

Anmerkung

1) Dieses Kapitel greift auf meinen Beitrag »Unkonventioneller und hybrider Krieg in der Ukraine – zum Formenwandel des Krieges als Herausforderung für Politik und Wissenschaft«, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 9/2016, zurück.

Literatur

Bilban C.; Griniger, H. (2019a): Die Regionalstudien im Vergleich, in: Dies. (Hrsg.) (2019): Mythos »Gerasimov-Doktrin«, Wien: Landesverteidigungsakademie, S. 325-341.

Bilban C.; Griniger, H. (2019b): Was bleibt von der »Gerasimov-Doktrin«? In: dies. (Hrsg.) (2019): Mythos »Gerasimov-Doktrin«. Wien: Landesverteidigungsakademie, S. 263-301.

Clausewitz, C. v. (1973; Erstausgabe 1832-34): Vom Kriege. Bonn: Dümmler.

Ehrhart, H.-G. (2014): Russlands unkonventioneller Krieg in der Ukraine. Aus Politik und Zeitgeschichte 47-48/2014, S. 26-32.

Ehrhart, H.-G. (2017) (Hrsg.): Krieg im 21. Jahrhundert – Konzepte, Akteure, Herausforderungen. Baden-Baden: Nomos.

Murray W.; Mansoor P.R. (2012): Hybrid Warfare. Cambridge: Cambridge University Press.

North Atlantic Treaty Organization/NATO 2014: Gipfelerklärung von Wales – Treffen des Nordatlantikrates auf Ebene der Staats- und Regierungschefs in Wales. 5. September 2014; nato.diplo.de.

President of Russia (2014): Events – Conference of Russian ambassadors and permanent representatives. 1. Juli 2014; eng.kremlin.ru. ?

Russia’s National Security Strategy to 2020; 12. Mai 2009. Inoffizielle englische Übersetzung auf rustrans.wikidot.com/russia- s- national- ­security-strategy-to-2020.

The Military Doctrine of the Russian Federation – Approved by President of the Russian Federation; 25.12.2014. Inoffizielle englische Übersetzung auf de.scribd.com/doc/251695098/Russia-s-2014-Military-Doctrine.

Dr. Hans-Georg Ehrhart ist Senior ­Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Die neue Normalität?

Die neue Normalität?

NATO und Bundeswehr im (Informations-) Krieg mit Russland

von Jürgen Wagner

Seit der Eskalation der westlich-russischen Beziehungen ab 2014 hat sich die NATO wieder auf ihren alten Hauptfeind zurückbesonnen. Auch die Bundeswehr wird konsequent auf eine mögliche Auseinandersetzung mit Russland ausgerichtet, wie spätestens die beiden Kerndokumente des Jahres 2018, die »Konzeption der Bundeswehr« (20. Juli) und das »Fähigkeitsprofil« (3. September) verdeutlichten. Mehr noch: In Papieren des Heereskommandos wurden ein Krieg mit Russland und die daraus abgeleiteten Rüstungserfordernisse bereits detailliert ausgeplant. Besonders auffällig ist dabei, dass neben der Anschaffung und Finanzierung von zusätzlichem »schwerem Gerät« inzwischen vor allem dem Kampf um den so genannten Informationsraum eine immer größere Bedeutung eingeräumt wird.

Die Planungen von NATO und Bundeswehr für den Informationsraum betreffen nicht allein Aspekte wie das Lahmlegen gegnerischer IT-Systeme auf dem Gefechtsfeld, und auch mit massiver Propaganda im Feindesland ist es dabei nicht getan. Aus ihrer Warte befindet sich der Westen in einem dauerhaften (Informations-) Krieg mit Russland, in dem Maßnahmen bereits lange vor Ausbruch des »klassischen« Krieges einsetzen. Deshalb wird es als erforderlich erachtet, so etwa ein Papier der »Bundesakademie für Sicherheitspolitik« (BAKS), auch an der Heimatfront die Informationshoheit zu erringen: „Klassischerweise wird zwischen Friedens- und Kriegszeiten unterschieden – eine Grenze, die im Zeitalter des Informationskriegs zu verschwimmen droht. Doch bereits vor dem Ausbruch eines hochintensiven Konflikts stellt sich die Frage, wie dieser von einem gegnerischen Akteur im Cyber- und Informationsraum vorbereitet wird und welche Vorkehrungen dafür getroffen werden. […] Betrachtet man Kriege durch diese theoretische Brille, so beobachten wir, dass die Bevölkerung, oftmals auch nur Minderheiten oder einzelne Bevölkerungsteile, in die Informationskriege einbezogen und zum Ziel gemacht werden, indem sie einer kontinuierlichen Propaganda ausgesetzt ist. Dies geschieht lange bevor ein bewaffneter Konflikt ausbricht und Streitkräfte überhaupt involviert sind. […] Informationen selbst sind zum Angriffsziel und Mittel geworden; der Informationswettbewerb und der Kampf um die Deutungshoheit sind ein entscheidender Faktor in der modernen Kriegsführung geworden.1

Dachdokument der Rüstung: »Konzeption der Bundeswehr«

Den ersten wichtigen Meilenstein für eine grundlegende Neuausrichtung der Bundeswehr in Richtung Russland markierten im April 2017 die »Vorläufigen konzeptionellen Vorgaben für das künftige Fähigkeitsprofil der Bundeswehr«. Verfasst unter der Ägide von Generalleutnant Erhard Bühler, wurden schon damals keine Zweifel daran gelassen, dass der »Bündnisverteidigung« und damit faktisch der Rüstung gegen Russland künftig wieder mehr Bedeutung zukommen soll. Deutschland müsse bis 2031 drei schwere Divisionen mit je etwa 20.000 Soldat*innen in die NATO einbringen können, die erste bereits 2026, so die wichtigste Aussage des »Bühler-Papiers«. Den nicht sonderlich zarten Hauch von Kaltem Krieg, den das Ganze vermittelte, fasste damals die FAZ mit den Worten zusammen: „Damit würden die Divisionen wieder die klassische Struktur aus der Zeit vor 1990 einnehmen.2

In einem nächsten Schritt unterzeichnete Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen am 20. Juli 2018 die »Konzeption der Bundeswehr«, das »Dachdokument« der Truppe, die nun auch offiziell die (Re-) Fokussierung auf Auseinandersetzungen mit Russland zum Inhalt hatte (ohne dabei, wohlgemerkt, den Anspruch auf globale Militärinterventionen aufzugeben). Russland wird in der »Konzeption der Bundeswehr« zwar nicht ausdrücklich erwähnt, immer wieder ist aber die Rede davon, dass aufgrund „der sicherheitspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre […] die kollektive Bündnisverteidigung wieder in den Fokus der strategischen Überlegungen der NATO gerückt“ sei. Und weiter: „Die Bundeswehr muss […] in der Lage sein, zur kollektiven Bündnisverteidigung in allen Dimensionen mit kurzem Vorlauf, mit umfassenden Fähigkeiten bis hin zu kampfkräftigen Großverbänden innerhalb und auch am Rande des Bündnisgebietes eingesetzt zu werden.“ (S. 23)

Diese Formulierungen sind entlarvend, lassen sie doch genug Spielraum, um die Bundeswehr auch für Auseinandersetzungen in einem der aktuell noch »blockfreien« Länder zwischen der NATO und Russland einzusetzen, in denen die Spannungen seit Jahren zunehmen. Was dieser Anspruch für die Struktur und Bewaffnung der Bundeswehr bedeutet, wurde anschließend im »Fähigkeitsprofil der Bundeswehr« ausgebreitet.

Fähigkeitsprofil: Rüstungsstufenplan

Das »Fähigkeitsprofil der Bundeswehr«, ein internes Planungspapier der Bundeswehr vom 3. September 2018, übernimmt im Wesentlichen die bereits im »Bühler-Papier« erläuterten Vorschläge, präzisiert sie aber noch einmal deutlich. So visiert das Fähigkeitsprofil einen dreistufigen Umbau der Bundeswehr an – Schritt eins soll 2023 erfolgen. Zu diesem Zeitpunkt wird beabsichtigt, ein Brigadeäquivalent – also etwa 5.000 Soldat*innen (unter Berücksichtigung von Rotations- und Ruhezeiten noch einmal deutlich mehr) – mit voller Bewaffnung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung aller anderen »Verpflichtungen« (z.B. für die EU-Kampftruppen) in die NATO einbringen zu können. Der zweite Schritt soll 2027 folgen (ein Jahr später als im »Bühler-Papier« vorgesehen), da will die Bundeswehr eine Division mit etwa 20.000 Soldat*innen beisteuern. Das Ende des im Fähigkeitsprofil beschriebenen Planungshorizontes ist schließlich 2031 erreicht; von da ab sollen alle Teilstreitkräfte für einen Krieg mit Russland gerüstet sein: Drei Divisionen (Heer), vier gemischte Einsatzverbände (Luftwaffe), 25 Kampfschiffe (davon elf Fregatten) und acht U-Boote (Marine) sowie Kapazitäten zur Erlangung der Hoheit im Informationsraum (Cyber) will die Bundeswehr bis dahin mobilisieren können. Auch die Truppe soll größer werden: Die Bundeswehr soll von derzeit knapp 180.000 Soldat*innen allein bis 2025 auf 203.000 Soldat*innen anwachsen.3

Angesichts der Tatsache, dass Politik und Bundeswehr seit Jahren das fehlende Interesse an einer sicherheitspolitischen Debatte beklagen, ist es zynisch, das Fähigkeitsprofil als »VS [Verschluss-Sache] – nur für den Dienstgebrauch« einzustufen – es darf also nicht daraus zitiert werden (obwohl Teile des Inhaltes gleich an befreundete Zeitungen weitergereicht wurden). Die drei Anlagen zum Fähigkeitsprofil, in denen – mutmaßlich – eine detaillierte Aufstellung der Rüstungsprojekte mitsamt ihrer Kosten bis zur ersten »Ausbaustufe« 2023 sowie die zwischen 2024 und 2031 anvisierten Vorhaben enthalten sein sollen, wurden sogar als »geheim« eingestuft. Das bedeutet, Abgeordnete dürfen sie nur in der Geheimschutzstelle des Bundestages einsehen, sich keine Notizen darüber machen und auch nicht darüber reden.

Beim »erforderlichen« Finanzbedarf orientiert sich das Fähigkeitsprofil an den 1,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, die bereits im Mai 2018 in einem Papier der Bundeswehr-Universität auftauchten. Diese Zielgröße wurde anschließend mit Unterstützung der Kanzlerin von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen offiziell bei der NATO für das Jahr 2025 verbindlich zugesagt. In Zahlen bedeutet dies, dass nach dem Anstieg des Militärhaushaltes von 23,8 Mrd. Euro (2000) auf 43,2 Mrd. Euro (2019) noch einmal mächtig zugelegt werden soll: Als konkrete Zahl werden im Fähigkeitsprofil bis 2025 satte 59,78 Mrd. Euro (nach NATO-Kriterien 63,9 Mrd. Euro) genannt.4

Kriegsplanungen des Heereskommandos

Wie eingangs erwähnt, visierte das »Bühler-Papier«, die wichtigste Vorarbeit zum Fähigkeitsprofil, 2026 als Datum für die Einspeisung der ersten schweren Division in die NATO-Planungen an. Und genau dieses Datum diente augenscheinlich dem Heereskommando in dem Mitte 2017 von ihm herausgegebenen »Thesenpapier I – Wie kämpfen die Landstreitkräfte künftig?« als Orientierungspunkt. Darin wird ein detailliertes Szenario entworfen, wie die Bundeswehr im NATO-Verbund im Jahr 2026 einen Landkrieg gegen Russland gewinnen kann und welche Fähigkeiten hierfür beschafft werden sollen.5 In dem »Thesenpapier« geht es darum, ein „Zielbild Landstreitkräfte 2026“ auszuarbeiten, das sich prägend auf die künftige Struktur und Bewaffnung des Heeres auswirken soll: „Die in diesem Papier dargelegten Ideen und Anforderungen werden in einem Operationskonzept vertieft und dann konsequenterweise in neuen Strukturen münden. […] Das zukünftige Operationskonzept soll dabei die quantitativen und qualitativen Forderungen des Fähigkeitsprofils der Bundeswehr – abgeleitet aus den akzeptierten NATO Planungszielen und den nationalen Aufgaben – mit den hier dargestellten Ideen verknüpfen. Es wird so zum gedanklichen Kernelement der zukünftigen Entwicklung der Landstreitstreitkräfte.“ (S. 25)

Der zunehmenden Bedeutung des Informationsraums – sowohl für die Auseinandersetzung auf dem Gefechtsfeld selbst wie auch an der Heimatfront – wird unter anderem folgendermaßen Rechnung getragen: „Jede Präsenz und Aktion von [Landstreitkräften] auf einem zukünftig »gläsernen« Gefechtsfeld oder Einsatzraum erzeugt reaktiv einen Effekt im Informationsraum, der »Kampf« um/mit Informationen muss zwingend – und schnell im Sinne einer »Golden Hour« – geführt werden. (S. 8/9) Und weiter: „Das Gefechtsfeld wird transparenter und komplexer, sowohl im Sinne von verbesserten Aufklärungsfähigkeiten aller Seiten als auch hinsichtlich der Verbreitung von Meldungen/Nachrichten/Gerüchten quasi weltweit, in alle gesellschaftlichen Bereiche und in die eigene Truppe hinein. Das Gefechtsfeld wird durch die [sic!] Zusammentreffen von verbesserter Aufklärung, schnelleren Entscheidungs- und Bekämpfungszyklen aufgrund taktischer NetOpFü und zielgenauerer und verbesserter Wirkmittel letaler, selbst für gut geschützte Kräfte. […] Taktische Cyber-Kräfte unterstützen offensiv und defensiv den Einsatz von Landstreitkräften und […] ermöglichen auch […] den Angriff auf gegnerische Systeme und die offensive Beeinflussung von Entwicklungen im Informationsraum.“ (S. 15/16)

Daraufhin wird ein Szenario beschrieben, wie aus Sicht des Heeres ein künftiger (Informations-) Krieg gegen Russland ablaufen könnte. Es beginnt mit dem Auflaufen der maßgeblich von Deutschland aufgebauten Ultraschnellen NATO-Eingreiftruppe (VJTF), was aber nicht die erhoffte abschreckende Wirkung erzeugt: „Der Beschluss zur Aktivierung und Verlegung der VJTF (stand by), bestehend im Kern aus dem DEU Einsatzdispositiv (EDP), wurde aufgrund einer überraschenden Lageentwicklung notwendig. […] Dennoch kommt es nach einer Phase von Desinformation, separatistischen Aktivitäten, lokalen Angriffen von Separatisten und verdeckt operierenden Special Operation Forces zum Angriff der gegnerischen Hauptkräfte.“ (S. 17)

Als Reaktion auf diesen (russischen) Angriff startet die NATO daraufhin ihrerseits eine Offensive. Auf dem Gefechtsfeld stellt sich das dann wie folgt dar: „Zur Vorbereitung des Gegenangriffs befiehlt der BrigKdr das Auslösen des langfristig vorbereiteten Lähmens des gegnerischen FüInfoSys, um den gegnerischen Entscheidungsprozess zu verlangsamen. Parallel werden in offenen Quellen (soziale Netzwerke, Messenger Services, Nachrichtenkommentare etc.), eine Vielzahl von Meldungen platziert, die auf ein Ausweichen der NATO-Kräfte hindeuten und so die eigene Absicht verschleiern helfen.“ (S. 22)

Doch der (Informations-) Krieg soll nicht allein auf dem Gefechtsfeld, sondern auch an der Heimatfront ausgefochten werden: „Nachdem sich der Erfolg des Gegenangriffs abzeichnet, befiehlt der BrigKdr eine offensive und mehrsprachige Informationskampagne, die durch Bilder, Text, Videos etc. die Erfolge der NATO-Truppen herausstreicht und zeigt, dass Kollateralschäden vermieden werden, aber auch eigene Verluste nicht verschweigt. Zeitgleich werden ausgesuchte Angehörige des Gegners und deren Angehörige adressiert. Durch diese zeitnahe ehrliche und offene Berichterstattung wird gegnerischer Propaganda entgegengewirkt, die öffentliche Meinung sowohl in den NATO-Staaten als auch beim Gegner beeinflusst und die Informationshoheit umstritten oder gewonnen.“ (S. 22/23)

Deutlicher ist wohl nach dem Ende der Blockkonfrontation noch nie ein Krieg mit Russland öffentlich einsehbar durchgespielt worden.

Spiel mit dem Feuer

Die NATO (und damit auch die Bundeswehr) basiert – und rechtfertigt – ihr Agieren aktuell vor allem mit den Erkenntnissen aus einem Planspiel der RAND Corporation aus dem Jahr 2016.6 Die Denkfabrik gelangte zu dem Ergebnis, Russland sei in der Lage, innerhalb kürzester Zeit die drei baltischen Staaten zu besetzen und die »Suwalki-Lücke«, den Versorgungskorridor zu Polen, zu schließen. Daraus wurde die Forderung abgeleitet, eine solche Entwicklung müsse (und könne) durch eine beherzte NATO-Vorwärtspräsenz verhindert werden. Genau dies lieferte die Rechtfertigung für die unter Bruch der NATO-Russland-Akte inzwischen erfolgte Stationierung von 4.000 NATO-Soldat*innen in Osteuropa.

Möglich ist natürliches vieles, was dabei aber kaum eine Rolle zu spielen scheint, ist die Wahrscheinlichkeit, mit der ein solches Szenario eintreten könnte. Welches wie auch immer geartetes, nachvollziehbares Interesse Russland an einem solchen Schritt haben könnte, bleibt schleierhaft. Das andauernde Säbelrasseln und die gegen Russland gerichtete Aufrüstung (nicht nur) der NATO-Ostflanke bergen nicht nur großes Eskalationspotenzial, sie riskieren auch, den »Neuen Kalten Krieg« zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu machen. Allerdings hat es ohnehin den Anschein, als hätten sich die »strategischen Zirkel« schon auf einen Dauerkonflikt mit Russland eingerichtet, der wiederum als Rechtfertigung für die intensivierte Aufrüstung der Bundeswehr dient. So heißt es etwa in einem weiteren Papier der Bundesakademie für Sicherheitspolitik: „Es ist wichtig, den systemischen, ausdauernden und umfassenden Charakter der momentanen Herausforderung durch Russland zu begreifen. […] Die Antwort der atlantischen Gemeinschaft in Richtung Russland sollte der Herausforderung angemessen und daher ebenfalls systemisch, ausdauernd und umfassend sein. […] Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben bzw. den Eindruck aufkommen lassen, dass der derzeitige Konflikt mit Russland von vorübergehender Dauer sei und wir in absehbarer Zeit wieder zur Normalität zurückkehren könnten.7

Anmerkungen

1) Busch, C.; Düe, N. (2017): Informationskriege – Eine Herausforderung für die Bundeswehr. Bundesakademie für Sicherheitspolitik, BAKS-Arbeitspapier Nr. 24/2017.

2) Seliger, M. (2017): Bis zu den Sternen. Frank­furter Allgemeine Zeitung, 19.4.2017.

3) Offiziell zugänglichen Informationen zum Fähigkeitsprofil stellt das Verteidigungsministerium auf seiner Website bereit: Neues Fähigkeitsprofil komplettiert Konzept zur Modernisierung der Bundeswehr. 4.9.2018, bmvg.de.

4) Siehe u.a. Schnell, J. (2018): Diskussionsbeitrag zum Verteidigungshaushalt im Finanzplan der Bundesregierung für die Jahre 2019 bis 2022. München, Universität der Bundeswehr, 5.5.2018.

5) Kommando Heer (o.J.): Thesenpapier I – Wie kämpfen Landstreitkräfte künftig?
Das Papier wurde wohl im Sommer 2017 fertiggestellt, erschien aber erst später, zunächst auf dem Blog pivotarea.eu, 22.9.2017. Erst danach wurde es auch auf der offiziellen Webseite »Thesenpapiere zur Zukunft deutscher Landstreitkräfte« des Heeres (deutschesheer.de) veröffentlicht. Bislang folgten »Thesenpapier II – Digitalisierung von Landoperationen« sowie »Thesenpapier III – Rüstung digitalisierter Landstreitkräfte«.

6) Shlapak, D.A.; Johnson, M. (2016): Reinforcing Deterrence on NATO’s Eastern Flank. Rand Arroyo Center.

7) Menkiszak, M. (2017): Herausforderung Russland. Bundesakademie für Sicherheitspolitik, BAKS-Arbeitspapier Nr. 27/2017.

Jürgen Wagner ist geschäftsführendes Vorstands­mitglied der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (imi-online.de).

NATO-Russland-Beziehungen


NATO-Russland-Beziehungen

Wege aus der Konfrontation?

von Nadja Douglas

Vieles deutet daraufhin, dass die baltische Region einschließlich des angrenzenden Ostseeraumes in den kommenden Jahren entscheidend sein wird für die Beziehungen zwischen Ost und West. Wie in einem Brennglas zeigt sich, dass sowohl die NATO als auch Russland im Begriff sind, hier enormes Vertrauen zu verspielen, das an anderer Stelle gerade wieder aufgebaut werden soll. In den NATO-Russland-Beziehungen geht es heute mehr denn je um die gegenseitige Wahrnehmung und die Interpretation von Handlungsabsichten. Das Potenzial für Fehleinschätzungen ist immens.

Realistische Erklärungsansätze in den internationalen Beziehungen haben vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Zustands der Konfrontation wieder Konjunktur. Dies manifestiert sich besonders in der baltischen Region, wo sich zwei hochgerüstete Militärbündnisse gegenüberstehen: die transatlantische Militärallianz NATO auf der einen sowie Russland und seine Verbündeten der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit1 auf der anderen Seite. Für die beteiligten Staaten gibt es aus spieltheoretischer Sicht nur zwei Optionen: Aufrüsten oder Abrüsten. Momentan stehen die Zeichen auf Aufrüsten. Die als defensiv charakterisierten Aktionen der einen Seite werden von der anderen Seite als offensiv interpretiert und ebenso beantwortet.

Zu keiner Zeit in der Geschichte der Ost-West-Beziehungen wurde so wenig miteinander geredet wie heute. Freilich stehen sich heute keine Panzerarmeen mehr gegenüber, und militärische Übungen, obwohl auf beiden Seiten in der letzten Zeit ausgeweitet, erreichen nicht die damaligen Dimensionen. Da Russland sich heute nicht mehr als Teil einer von der NATO dominierten europäischen Sicherheitsordnung fühlt, sieht es sich auch nicht mehr an aus russischer Sicht überkommene Abkommen gebunden. Moskau plant vorrangig, die 2008 begonnene Modernisierung der Streitkräfte bis 2020 abzuschließen, bevor es aus einer Position der Stärke heraus bereit ist für neue Gespräche. Die Trump-Administration zeigt ebenfalls wenig Interesse: Anstatt neue Akzente zu setzen, fordert sie von Russland weiterhin vor allem die Einhaltung bestehender Rüstungskontrollverpflichtungen. Die Europäische Union wiederum ist gespalten. Während die einen an bestehenden Abkommen und Prinzipien festhalten (Stichworte Charta von Paris, Budapester Memorandum, NATO-Russland-Grundakte etc.), sind andere der Auffassung, dass diese Abkommen aufgrund der veränderten Sicherheitslage und Russlands Bilanz an Verfehlungen in den letzten Jahren hinfällig seien.2

Im Hinblick auf atomare Fähigkeiten kündigten jüngst zunächst die USA und dann Russland an, die Beteiligung am INF-Vertrag über das Verbot atomarer Mittelstreckenraketen auszusetzen. Die NATO-Mitgliedsstaaten hatten Russland erstmals geschlossen vorgeworfen, mit seinen neuen Marschflugkörpern3 gegen die Vorgaben des Vertrags zu verstoßen, was Russland zurückweist.4 Es gilt eine sechsmonatige Kündigungsfrist, und insbesondere deutsche Politiker setzen nun alles daran, das Abkommen noch zu retten.5 Es ist unstrittig, dass schon seit vielen Jahren gegenseitige Kontrollen fehlen und somit in der Vergangenheit die Vertragstreue keiner Seite vollständig verifiziert werden konnte. Ob dies nun gelingt, erscheint mehr als fraglich.

Bestandsaufnahme bestehender Verhandlungsformate

Sämtliche Verhandlungen, die Rüstungskontrolle bzw. militärische Transparenz (von Abrüstung spricht man schon lange nicht mehr) in Europa betreffen, verzeichnen seit längerer Zeit keinen Fortschritt bzw. wurden gänzlich aufgegeben. Während an der einen Stelle durch Militärstrategen sowie öffentliches verbales Aufrüsten Vertrauen zerstört wird, soll es an anderer Stelle in den noch bestehenden Verhandlungsformaten zwischen NATO und Russland bzw. unter der Ägide der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wieder aufgebaut werden.

Obwohl der NATO-Russland-Rat nach wie vor existiert, ist die Bilanz dieses seit 2002 existierenden Konsultationsgremiums, das im Sinne der NATO-Russland-Grundakte von 1997 eine zentrale Rolle in den NATO-Russland-Beziehungen spielen soll, eher bescheiden. Ursprünglich sollte der Rat zweimal jährlich auf der Ebene der Außen- und Verteidigungsminister*innen sowie monatlich auf der Ebene der Botschafter*innen bzw. Ständigen Vertreter*innen beim NATO-Rat tagen. Auch militärische Vertreter*innen sollten monatlich zusammenkommen. Die Realität zeigt hingegen, dass über die Jahre kein regelmäßiger Sitzungszyklus zustande kam. Auch hat sich der NATO-Russland-Rat nie von einem reinen Konsultationsgremium zu einem beschlussfähigen Organ entwickelt. Die Arbeit im Rat wurde darüber hinaus mehrfach über längere Zeit ausgesetzt. Zuletzt herrschte zwei Jahre lang Schweigen infolge der Ukraine-Krise und der Annexion der Krim (Douglas 2017).

Diese Praxis widerspricht dem beabsichtigten Zweck des Gremiums, denn der NATO-Russland-Rat sollte „das wichtigste Forum für Konsultationen zwischen der NATO und Russland in Krisenzeiten oder in Bezug auf jede andere Situation bilden, die den Frieden und die Stabilität berührt“ (NATO 1997, Kapitel II). Das Gegenteil ist heute der Fall: Befinden sich die NATO-Russland-Beziehungen in einer Krise, wird auch die Arbeit im Rat beeinträchtigt bzw. unterbrochen. Seit 2016 kam der Rat sporadisch acht Mal zusammen. Obgleich es auf beiden Seiten vereinzelt Bemühungen um einen konstruktiven Informationsaustausch gab, waren die letzten Sitzungen vor allem durch heftige Schlagabtausche und gegenseitige Vorwürfe geprägt.

Neben dem NATO-Russland-Rat gibt es derzeit nur noch ein weiteres Verhandlungsformat, in dessen Rahmen nach wie vor Wege aus der Krise der konventionellen Rüstungskontrolle gesucht sowie andere für die europäische Sicherheit relevante Fragestellungen thematisiert werden. Der von der Bundesrepublik während des OSZE-Vorsitzes 2016 initiierte »Strukturierte Dialog« ist ein informelles Dialogformat, das alle OSZE-Staaten einschließt und hochrangige Vertreter*innen aus den nationalen Außen- und Verteidigungsministerien der teilnehmenden Staaten zusammenbringt. Der Dialog versteht sich als Plattform für die Sondierung von Vorfragen im Hinblick auf mögliche neue Rüstungskontrollverhandlungen. 2018 wurden vom belgischen Dialog-Vorsitz insbesondere die Themen Bedrohungswahrnehmung und Risikominimierung auf die Agenda gesetzt. 2017 wurden Experten-Workshops zu Militärdoktrinen und militärischen Streitkräfte-Dispositiven sowie zu Übungen durchgeführt (OSCE 2018).

Das Forum dient vornehmlich der Bildung von Vertrauen, das an anderer Stelle (Rüstungsspirale in der baltischen Region) derzeit verspielt wird. Beispielhaft sollen neue Obergrenzen für Waffensysteme, Quoten für eine effektivere Beobachtung und Verifikation von militärischen Aktivitäten sowie Transparenzmaßnahmen, insbesondere in Bezug auf neue militärische Fähigkeiten und Waffengattungen, mehr Sicherheit und Stabilität schaffen. Auch Gebiete mit strittigem territorialem Status sollen nicht länger von der Rüstungskon­trolle ausgeklammert bleiben (Schmidt 2017). Bislang wurden sieben informelle Arbeitsgruppentreffen sowie drei Experten-Workshops abgehalten. Auch 2019 unter slowakischem OSZE-Vorsitz soll der Dialog fortgeführt werden. Unter anderem wird es um die Analyse von Handlungsabsichten sowie von »best practices« bei der Beantwortung von Fragebögen im Zusammenhang mit dem jährlichen militärischen Informationsaustausch gehen.

Gegenseitige Wahrnehmung und Provokation

Während für die Europäische Union und die USA die Krimannexion und die russische Intervention in der Ostukraine zu Recht eine Zäsur in den Beziehungen zu Russland darstellten, fand diese Zäsur in Russland selbst bereits Jahre zuvor statt. Nachdem »der Westen« seine damaligen Zugeständnisse nicht eingehalten hatte, eine Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok zu schaffen, die auf gleicher und unteilbarer Sicherheit basiert, stellte für Russland die NATO-Osterweiterung sowie die von den USA forcierte Stationierung einer Raketenabwehr in sensiblen Regionen, einen weiteren Einschnitt dar.

Auf beiden Seiten ist militärische Abschreckung wieder das Gebot der Stunde. Die transatlantische Allianz arbeitet an der Funktionalität der NATO-»Speerspitze« (Very High Readiness Joint Task Force). Man spricht davon, dass die Hauptfunktion der »Speerspitze«, neben der Rückversicherung der östlichen Bündnispartner, die einer »mobilen Stolperfalle« sei, die ein Durchmarschieren im Falle eines russischen Angriffes auf einen der östlichen Mitgliedsstaaten verhindern solle (Zapfe 2016, S. 2). Seit 2014 baut Russland ebenfalls gezielt seine militärischen Fähigkeiten im Westlichen Militärbezirk aus.6 Zudem hat Russland in Kaliningrad Radaranlagen sowie das S-400-Raketenabwehrsystem stationiert und seit spätestens 2016 Iskander-M-Kurzstreckenraketen, die auch nukleare Sprengköpfe tragen können. Immer offensichtlicher ist jedoch, dass es schwierig wird, den in der NATO-Russland-Grundakte postulierten Grundsatz der wechselseitigen Zurückhaltung einzuhalten. Aus russischer Sicht ist der NATO-Truppenaufbau an der Grenze zu Russland keine Rückversicherungsmaßnahme für die baltischen Staaten, sondern Teil einer größeren Strategie der Konfrontation. Der russische Präsident erklärte in der Vergangenheit wiederholt, dass Russland die Stationierung neuer NATO-Militärbasen und -Infrastruktur an der Grenze Russlands als direkte Bedrohung wahrnimmt und in angemessener Weise auf solche aggressiven Schritte reagieren werde (Kremlin 2018).

Auch wenn die baltische Region langfristig das größte Risiko für weitere Konfrontation birgt, gibt es weitere kritische Orte, an denen militärische Zwischenfälle provoziert werden. Der jüngste Zwischenfall in der Straße von Kertsch zeigt zum einen, dass die Ukraine im Eskalationsfall in ihren militärischen Beziehungen zu Russland ohne externe Unterstützung vollkommen unterlegen wäre. Russland auf der anderen Seite reagiert zunehmend nervös und räumt sich einseitig einen breiten Spielraum bei der Interpretation des geltenden Seerechts und der bilateralen Verträge mit der Ukraine ein. Die Ukraine wird seit 2014 als eine Art trojanisches Pferd »des Westens« gesehen. Die Tatsache, dass der ukrainische Präsident Poroschenko angekündigt hatte, einen Marinestützpunkt in Berdyansk im Asowschen Meer einzurichten, beunruhigt Moskau bereits seit geraumer Zeit. Die russische Regierung befürchtet, dass an dieser Stelle in nicht allzu weiter Zukunft NATO-Schiffe patrouillieren werden (Felgenhauer 2018). Tatsächlich rief Poroschenko als Reaktion auf den Zwischenfall nicht nur das Kriegsrecht aus, sondern appellierte an sämtliche NATO-Staaten, Schiffe zur Unterstützung der Ukraine in das Asowsche Meer zu schicken. Wie Russland auf einen solch hypothetischen Fall reagieren würde, lässt sich nur erahnen.7

Neujustierung der NATO-Russland-Beziehungen

Die Anzahl der vorhandenen Stellschrauben zur Neujustierung der NATO-Russland-Beziehungen hat in den letzten vier Jahren eher ab- als zugenommen. Zu Zeiten der Blockkonfrontation dienten Rüstungskontrollverhandlungen als kleinster gemeinsamer Nenner der Vertrauensbildung. Es muss also auch heute an jenen Stellschrauben gedreht werden, die zentral sind für die sicherheitspolitische Agenda beider Seiten. Um Wege aus der Konfrontation zu finden und das Minimalziel der »friedlichen Koexistenz« aufrecht zu erhalten, bedarf es künftig vor allem mehr Empathie für die Sicherheits- und Bedrohungswahrnehmung der jeweils anderen Seite.

Im Folgenden werden exemplarisch drei Bereiche skizziert, die dringend einer konsensuellen Regelung bedürfen. Darunter fallen die Vermeidung bzw. zunächst einmal die Definition von militärischen Zwischenfällen, die Erhöhung von militärischer Transparenz und Vertrauensbildung in kritischen Regionen sowie ein Modus Vivendi und gemeinsame Regeln im Umgang mit Staaten, die derzeit zwischen den euro-atlantischen und eurasischen Sicherheits- und Wertegemeinschaften stehen.

Vermeidung von militärischen Zwischenfällen

Im gesamten euro-atlantischen Raum, aber insbesondere in und über der Ostsee, kommt es verstärkt zu gefährlichen Zwischenfällen, bei denen zivile und militärische Schiffe und Flugzeuge Russlands, von NATO-Mitgliedsstaaten und von Dritten beteiligt sind. Allein zwischen 2014 und 2015 zählte das European Leadership Network (ELN) über 60 solcher Ereignisse (Kulesa et al. 2016, S. 7). Dabei handelte es sich vornehmlich um Luftraumverletzungen sowie Nahbegegnungen zwischen amerikanischen Kriegsschiffen und russischen Kampfflugzeugen. Trotz zahlreicher bilateraler, noch zu Sowjetzeiten abgeschlossener, Abkommen zwischen Russland und einzelnen Staaten besteht ein zentrales Problem fort: das Fehlen eines allgemeingültigen Abkommens, das die Wahrscheinlichkeit solcher Zwischenfälle minimiert bzw. regelt, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, falls sie dennoch stattfinden (siehe auch Kulesa et al. 2016). Da solch ein Abkommen derzeit und in naher Zukunft nicht greifbar ist, sollten Risiken für militärische Zwischen- bzw. Unfälle, wenn schon nicht minimiert, dann zumindest definiert werden.8

Neue regional ausgerichtete vertrauens- und sicherheitsbildende Initiativen

Das Risiko von nicht intendierten Zwischenfällen bzw. Provokationen in der baltischen Region wird verschärft durch den Mangel an überprüfbarer Zurückhaltung, eingeschränkter militärischer Transparenz und die Abwesenheit von direkter militärischer Zusammenarbeit und Kontakten in der Region. All das trägt unmittelbar zu einer erhöhten Bedrohungswahrnehmung und folglich zu einem erhöhten Risiko von Fehleinschätzungen bei.

Konkrete Empfehlungen zur Deeskalation reichen von Vorschlägen über ein baltisches Sicherheitssymposium (Kulesa 2018) bis hin zu Rüstungskontrollvereinbarungen auf der sub-regionalen Ebene (Richter 2016). Tatsächlich gibt es in der baltischen Region keine rechtlich bindende Vereinbarung über eine Begrenzung der dort stationierten Streitkräfte, weder aufseiten der baltischen Staaten noch aufseiten der Russischen Föderation. Das Informations- und Verifikationsregime des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) findet hier keine Anwendung, da Russland seine Teilnahme 2015 faktisch aufgekündigt hat und die baltischen Staaten das adaptierte Regime nie ratifiziert haben. Allerdings bietet das Wiener Dokument der OSZE, das einzig verbliebene Instrument für vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, unter Kapitel X, »Regionale Maßnahmen«, die Möglichkeit von gegenseitigen Verpflichtungen der militärischen Zurückhaltung (ähnlich wie jene in der NATO-Russland Grundakte). Es ermutigt teilnehmende Staaten, sich auf zusätzliche bilaterale und regionale vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zu einigen, um Spannungen zu deeskalieren. Der Fokus liegt dabei gerade auf Grenzregionen (Richter 2016, S. 9-11).

Gespaltene Gesellschaften als Sicherheitsrisiko

Häufig marginalisiert in der Konfrontation zwischen NATO und Russland, aber dennoch relevant, sind diejenigen Staaten, die zwischen einer transatlantischen Orientierung und der von Russland dominierten östlichen Interessensphäre schwanken. Die so genannten »Staaten dazwischen« wurden dadurch in der Vergangenheit wiederholt zum Spielball geopolitischer Auseinandersetzungen.9 Dieses Tauziehen wirkt sich negativ auf den inneren Zusammenhalt dieser Staaten und Gesellschaften aus und macht sie anfällig für innere Unruhen und Spaltungsprozesse (Babayan 2016).

Während die Aussicht auf einen Beitritt in die NATO und/oder die Europäische Union einst Garant für Sicherheit und Wohlstand der mittel- und osteuropäischen Staaten war, ist es inzwischen eine Quelle der Instabilität für die Länder weiter im Osten (wie gerade die Beispiele Georgien 2008 und Ukraine 2014 zeigen) (Charap et al. 2018, S. 6). Das trifft im Grunde auch auf die anderen Konflikte in der Region zu: Solange es keine Einigung über die regionale Ordnung gibt, werden weder Russland noch »der Westen« in der Lage sein, diese Konflikte vernünftig zu lösen, geschweige denn werden die lokalen Akteure dies erreichen. Auch offizielle oder informelle Verhandlungen über die europäische Sicherheitsarchitektur enden meist unweigerlich in einer Sackgasse, wenn es um die Frage der regionalen Ordnung ging (die innerhalb der OSZE initiierten Korfu- und Helsinki+40-Prozesse sind dafür gute Beispiele).

Lösungsvorschläge, die derzeit diskutiert werden (siehe z.B. Charap et al. 2018), zielen nicht darauf ab, die »Staaten dazwischen« wie gehabt nach dem Vorbild der Staaten Mittel- und Osteuropas zu transformieren. Aber auch Russland soll keine uneingeschränkte Einflusssphäre gewährt werden. Weder die NATO noch Russland sollten ihre Ambitionen uneingeschränkt weiterverfolgen können, um ihre jeweiligen Bündnisse zu erweitern. Stattdessen könnte ein weiteres regionales Integrationsformat zielführend sein, das offen und anwendbar wäre für die »Staaten dazwischen«, die weder einem westlichen noch einem östlichen Bündnis angehören möchten.10 Diese Option könnte einen Rahmen bieten für eine souveräne außen- und sicherheitspolitische Orientierung dieser Staaten sowie Verhaltensregeln aufstellen, wie die NATO und Russland mit ihnen umzugehen haben.

Anmerkungen

1) Die OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) ist das von Russland geführte Militärbündnis, dem einschließlich Russland sechs postsowjetische Staaten ange­hören.

2) Zu der ersten Gruppe gehören Staaten, die sich vor allem der OSZE nach wie vor verbunden fühlen, wie die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, die Schweiz und Finnland; zu der zweiten Gruppe östliche EU-Staaten, wie Polen und die baltischen Staaten.

3) Hier geht es vor allem um den landgestützten Marschflugkörper 9M729, siehe dazu Goncharenko 2018.

4) Das russische Verteidigungsministerium und Generalstabschef Walerij Gerasimow werfen umgekehrt den Amerikanern vor, durch das in Osteuropa (Rumänien und zukünftig Polen) stationierte Aegis-Raketenabwehrsystem gegen den INF-Vertrag zu verstoßen: Dessen Abschussrampen könnten auch offensiv genutzt werden und atomar bestückte Marsch­flugkörper mittlerer Reichweite abfeuern (siehe ?????? ??????? ?? ????????? ??? ???????? ?????; interfax-russia.ru, 5.12.2018).
Siehe dazu auch Katarzyna Kubiak, NATO-Raketenabwehr – Stand und Herausforderungen, auf S. 21 dieser W&F-Ausgabe.

5) Außenpolitiker von CDU/CSU und SPD schlugen vor, Russland solle die umstrittenen Marschflugkörper so weit nach Osten verlegen, dass sie Europa nicht mehr erreichen könnten. Im Gegenzug sollen die USA ihre Raketenabwehrsysteme in Rumänien und die geplanten in Polen für russische Kontrollen öffnen (Mit diesem Vorschlag wollen deutsche Politiker den INF-Vertrag retten; welt.de, 3.2.2018).

6) Zudem führt Russland periodisch sogenannte Übungen zur Einsatzbereitschaft (snap exercises) im Westlichen Militärbezirk durch, um kurzfristig die Kampfbereitschaft zu testen (ohne 42 Tage Ankündigungsvorlauf, wie vom Wiener Dokument der OSZE über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen von 2011 vorgesehen). Allein 2017 wurden mehr als hundert solcher Übungen registriert.

7) Siehe Antwort des Pressesprechers von Präsident Wladimir Putin, Dmitrij Peskow, während einer Pressekonferenz am 29. November 2018: ?????? ???????????????? ?????? ????????? ????????? ??????? ???? ? ????; interfax-russia.ru.

8) So wird nirgendwo aufgeschlüsselt bzw. definiert, was für Ereignisse genau unter gefährliche Zwischenfälle militärischer Art“ fallen, wie sie zum Beispiel in Paragraph 17 des Wiener Dokuments Erwähnung finden. Kulesa et al. 2018 (S. 3) führen Zwischenfälle auf, wie z. B. gefährliche Verletzungen fremden Luftraums, Beinahekollisionen zwischen zivilen und militärischen Flugzeugen, Sucheinsätze von U-Booten in fremden Hoheitsgewässern, Abfangeinsätze im internationalen Luftraum u.a.

9) Die drei kaukasischen Staaten (Armenien, Aserbaidschan und Georgien) sowie die Ukraine, die Republik Moldau und Belarus sind mittlerweile Teil der Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union.

10) Umfragen zufolge trifft das auf die Mehrheit der Gesellschaften in Georgien, Armenien und der Republik Moldau zu. Lediglich Ukrainer und Weißrussen sprechen sich mehrheitlich für einen Anschluss an NATO respektive OVKS aus (siehe Umfragedaten von 2017 in Charap et al. 2018, S. 26).

Literatur

Babayan, N. (2016): The In-Betweeners – The ­Eastern Partnership Countries and the Russia-West Conflict. Transatlantic Academy Paper Series 4/2016.

Charap, S.; Shapiro, J.; Demus, A. (2018): Rethinking the Regional Order for Post-Soviet Europe and Eurasia. Santa Monica, CA: RAND Corporation.

Douglas, N. (2017): Ist die NATO-Russland-Grundakte noch relevant? ZOiS Spotlight 11/2017, 24.5.2017, zois-berlin.de.

Felgenhauer, P. (2018): Russia’s Attack of Ukrainian Naval Ships in Black Sea- First Shots of Possible Winter War? Eurasia Daily Monitor, Vol. 15, Nr. 168.

Goncharenko, R. (2018): Ein nicht so geheimes Geheimnis – die russische Raketen 9M729. Deutsche Welle, 5.12.2018; dw.com.

Kremlin/ Presidential Executive Office (2018): Meeting of ambassadors and permanent representatives of Russia; en.kremlin.ru, 19.7.2018.

Kulesa, L.; Frear, T.; Raynova, D. (2016): Managing Hazardous Incidents in the Euro-Atlantic Area: A New Plan of Action, European Leader­ship Network, Policy Brief, November 2016.

Kulesa, L.; Raynova, D. (2018): Russia-West Incidents in the Air and at Sea 2016-2017 – Out of the Danger Zone? European Leadership Network, Euro-Atlantic Security Report, October 2018.

Kulesa, L. (2018): Challenges and opportunities for deterrence and arms control in the Baltic Sea area. European Leadership Network, Commentary, 1 October 2018.

OSCE (2018): The OSCE Structured Dialogue. 9.10.2018; osce.org.

NATO (1997): Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation vom 27. Mai 1997.

Richter, W. (2016): Sub-regional arms control for the Baltics – What is desirable? What is feasible? Deep Cuts Working Paper, No. 8, July 2016; deepcuts.org.

Schmidt, H.-J. (2017): Hoffnungsvoller Neustart der konventionellen Rüstungskontrolle? Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, PRIF Blog, 10. Juli 2017; blog.prif.org.

Zapfe, M. (2016): »Hybrid« threats and NATO’s Forward Presence – The Alliance’s Enhanced Forward Presence in the Baltics and Poland could face serious challenges in »sub-conven­tional« scenarios. Center for Security Studies at ETH Zurich, Policy Perspectives, Vol. 4, Nr. 7, September 2016.

Dr. phil. Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOIS) in Berlin. Sie befasst sich mit sicherheitspolitischen Fragestellungen im postsowjetischen Raum sowie in ihrem derzeitigen Forschungsprojekt mit der Beziehung zwischen gesellschaftlichen Initiativen und staatlichen Machtstrukturen.

Putins Wiederwahl und der Westen


Putins Wiederwahl und der Westen

von August Pradetto

Der russische Präsident Putin wird im März wiedergewählt werden, das steht außer Frage. Es gab keinen ernstzunehmenden Gegenkandidaten, und der Einzige, der eine Herausforderung gewesen wäre – Alexej Nawalny (in seinem Nationalismus noch rechts von Putin stehend) –, wurde wegen einer rechtskräftigen Verurteilung nicht zu den Wahlen zugelassen. Dieses Ergebnis jedoch nur auf staatliche Repression zurückzuführen, wäre zu kurz gesprungen. Putin steht im Inneren nach wie vor für die Überwindung des Chaos der Jelzin-Ära sowie für einen Wirtschaftsaufschwung, der sich auch für die Mittelschichten bemerkbar machte. Er verkörpert Stabilität, ein Wert, der nach Umfragen des Carnegie Moscow Center und des Levada Center nicht nur für die älteren, sondern auch für die meisten jungen Menschen der russischen Gesellschaft von hoher Bedeutung ist. Die meisten sehen die Priorität in einer Verbesserung der Lebensbedingungen, nicht in einem »regime change«. Daran ändert auch die Unzufriedenheit mit der Einschränkung von Liberalität und Offenheit wenig.

Und nach »außen«? Die »Rückkehr Russlands auf die Weltbühne« in den letzten Jahren ist auch mit Putin verbunden: »Heimholung« der Krim, die Sezession im Donbass als Faustpfand, das sicherstellt, dass die Lösung der von Russland mitverursachten Krise in der Ukraine über Moskau führt, militärisches Engagement in Syrien mit dem Ergebnis, dass sich Protegé Assad an der Macht hält und Moskau seine Militärstützpunkte ausbaut, Absprachen über Einflusszonen in Syrien mit dem NATO-Mitglied Türkei: Putin machte »Russia great again«.

Moskau fühlt sich daher in seiner »realistischen« Weltsicht bestätigt: In einer Welt, in der Akteure um Einfluss und Macht ringen und dafür ihre ökonomischen, politischen und militärischen Ressourcen einsetzen, überlebt nur derjenige, der sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln in diesem Kräftemessen behauptet. Auch in der vierten Amtszeit Putins ist daher mit größerem Selbstbewusstsein und gesteigertem außenpolitischen Macht- und Gestaltungswillen zu rechnen.

Putin folgt keineswegs nur einer »Pfadabhängigkeit« russischer imperialer Tradition, sondern liegt hier in einem seit 20 Jahren zunehmenden Trend. Die Unilateralisierung und Militarisierung von Außenpolitik sowie die Abkehr von Völkerrecht und kooperativen Institutionen sind nicht nur das Markenzeichen russischer Politik. Lange bevor Moskau die Krim annektierte und in Syrien intervenierte, führten westliche Staaten Kriege gegen Serbien, Afghanistan, Irak, Libyen und unterstützten in Syrien massiv islamistische Bürgerkriegsparteien – alles unilateral oder in »Koalitionen der (Kriegs-) Willigen« und völkerrechtswidrig. Verhaftet in »realistischen« Denkschablonen setzte Washington alles daran, auch die Ukraine in die NATO zu bekommen – völlig unnötig und kontraproduktiv unter dem Gesichtspunkt kooperativer sicherheitspolitischer Beziehungen auf dem eurasischen Kontinent.

Freilich war die Annexion der Krim deswegen noch lange nicht »logisch«, sondern eine Entscheidung für jene militarisierte Globalpolitik, wie sie vor allem für Washington seit 2001 charakteristisch ist. Russland wäre ohne die Krim nicht unsicherer, und mit der Krim ist Russland keinesfalls sicherer geworden. Russland wurde vielmehr selbst zu einem Faktor der Konfliktverschärfung und der Erosion des Völkerrechts.

Zu welchen Trugschlüssen »realistisches« Denken verleiten kann, zeigt die Fehlkalkulation Putins, Donald Trump als US-Präsidentschaftskandidaten zu unterstützen, oder auch die Unterstützung rechtsradikaler Parteien in Europa. Mehr Nationalismus bringt Moskau höchstens kurzfristig politische Entlastung. Massive Aufrüstung und Abkehr vom Multilateralismus schaden Russland in besonderem Maße.

Die Weltlage wird dadurch immer düsterer: Skrupellosere Einfluss- und Interventionspolitiken, Wettrüsten, die weitere Chaotisierung des »Greater Middle East« – all dies ist Ausdruck der Erosion jener Prinzipien, die gerade von den zentralen Playern auf globaler und regionaler Ebene zu berücksichtigen wären, um nach dem Zerfall der alten Weltordnung eine stabile neue zu schaffen!

Deutsche Außenpolitik sollte in der Tat auf größere Autonomie europäischer Sicherheitspolitik drängen. Aber Verteidigungspolitik müsste wieder Verteidigungspolitik werden und nicht wie seit Ende der 1990er Jahre zunehmend globale militärische Interessenpolitik. Und ganz obenan müsste die Stärkung von Völkerrecht und internationalen Organisationen (UN, OSZE) stehen, die dieses Recht umzusetzen hätten.

August Pradetto ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Verschärfte Konfrontation oder Entspannung?

Verschärfte Konfrontation oder Entspannung?

von Andreas Zumach

Abbau, Fortsetzung oder gar Verschärfung der Konfrontationspolitik mit Russland – vor dieser Alternative steht der NATO-Gipfel Anfang Juli in Warschau. Die polnischen Gastgeber rufen am lautesten nach einer Verschärfung der Konfrontation, die noch über die bereits beschlossenen Maßnahmen sowie die von den USA angekündigten unilateralen Schritte hinaus gehen soll, bis hin zu einer dauerhaften Stationierung von NATO-Truppenverbänden und Waffen in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Das wäre ein klarer Verstoß nicht nur gegen den Geist, sondern auch gegen die Buchstaben der 1997 zwischen der damals noch rein westlichen Militärallianz und Russland vereinbarten Grundakte, in deren praktischen Umsetzung 2002 der NATO-Russland-Rat etabliert wurde. Mit der Grundakte wollte die NATO Moskaus Bedenken gegen die Osterweiterung der Allianz beschwichtigen, die beschlossen und vollzogen wurde unter Bruch des Versprechens, mit dem die Regierungen Kohl/Genscher und Bush/Baker im Februar 1990 die Zustimmung Gorbatschows zur deutschen Wiedervereinigung erlangt hatten.

Die Regierung Merkel/Steinmeier gehört unter den 28 NATO-Mitgliedern zu den stärksten Befürwortern einer Wiederannäherung an Moskau und des Abbaus statt einer Verschärfung der Konfrontationspolitik. Allerdings wird diese Linie manchmal von den Aufrüstungsankündigungen der profilneurotischen Militärministerin und Kanzleramtsaspirantin von der Leyen torpediert.

Doch von ihr und einigen antirussischen Ideologen sowie Lobbyisten der Rüstungsindustrie abgesehen hat sich in Berlin inzwischen die Einsicht durchgesetzt, dass der im Frühsommer 2014 von der NATO eingeschlagene Konfrontationskurs gegenüber Moskau gescheitert ist: Weder die Suspendierung des NATO-Russland-Rates und der russischen Mitgliedschaft in der G8 noch die von den USA und der EU verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Moskau konnten die Regierung Putin zur Korrektur ihrer Ukrainepolitik bewegen. Deshalb war es ein richtiger erster Schritt, dass die NATO im April erstmals seit zwei Jahren wieder Beratungen mit Russland im Rahmen des NATO-Russland-Rates führte.

Doch dieser erste Schritt reicht nicht aus, um die Eskalationsdynamik der letzten zwei Jahre wirklich zu beenden und umzukehren. Diese hat inzwischen ein gefährliches Niveau und eine Eigenlogik erreicht, die immer mehr an den Kalten Krieg erinnern. Das gilt für die operativen Maßnahmen im militärischen Bereich (Manöver, Truppenverlegungen, gezielte Provokationen, z.B. durch Luftraumverletzungen, sowie konventionelle wie atomare Aufrüstungsprojekte) ebenso wie für die Sprachmuster der gegenseitigen Vorwürfe und Bedrohungsbehauptungen, mit denen die eigenen militärischen Eskalationsmaßnahmen begründet werden.

Die NATO könnte auf ihrem Warschauer Gipfel einiges tun, um die negative Eskalationsspirale im Verhältnis zu Russland zu beenden. Eine eindeutige Entscheidung, dass die vom Gipfeltreffen 2008 beschlossene Option für einen Beitritt der Ukraine, Georgiens und Moldawiens nicht mehr besteht, wäre ein sehr wichtiges Entspannungssignal, das Moskau zu einem Ende der hybriden Kriegsführung in der Ukraine bewegen könnte. Um die seit zwei Jahren ständig wachsende Gefahr ungewollter militärischer Zusammenstöße zu verringern, sollte die NATO Moskau ein Moratorium für Manöver beider Seiten in der Ostsee und im Schwarzen Meer sowie im grenznahen Luftraum vorschlagen.

Hilfreich für einen Entspannungsprozess wären auch Moratoriums- oder Verhandlungsvorschläge für die geplanten oder bereits angelaufenen Aufrüstungsprojekte beider Seiten im atomaren und konventionellen Bereich sowie über die Vereinbarung dauerhaft militärfreier Zonen beiderseits der Landgrenzen zwischen Russland und den osteuropäischen NATO-Staaten. Auf diese Weise ließe sich auch das Abkommen über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte (KSE) von 1990 noch retten.

Mit derartigen Initiativen könnte der NATO-Gipfel den russischen Präsidenten Putin, der in der eigenen Bevölkerung eine viel größere Unterstützung für seine bisherige Ukrainepolitik erfährt als die Regierungen der NATO-Staaten, zu Schritten der Deeskalation unter Wahrung des eigenen Gesichts bewegen. In der längerfristigen Perspektive eines solchen Entspannungsprozesses läge dann auch ein neues, diesmal von der OSZE oder den Vereinten Nationen durchgeführtes Referendum über die Zukunft der Krim, mit dem die völkerrechtswidrige Annexion der Halbinsel durch Russland korrigiert würde.

Andreas Zumach ist seit 1988 Korrespondent am Genfer Sitz der Vereinten Nationen für die taz und andere Zeitungen und Radiostationen im deutschsprachigem Raum. Er ist Mitglied im Beirat von W&F.

Eine Geschichte der Dilemmata

Eine Geschichte der Dilemmata

Konfliktentwicklung im Georgien/Südossetien-Konflikt

von Lara Sigwart

Die Sicherheitslage im Konflikt zwischen Georgien und Südossetien bleibt auch über ein Jahr nach dem Krieg prekär. Die Entwicklung des Konflikts seit 1989 zeigt die Dilemmata auf, die ihn auch heute noch bestimmen: Das Verhältnis zwischen Russland und Georgien wird nicht nur durch den Westen beeinflusst, sondern auch durch Interessenlagen lokaler Gruppen. Internationaler Einfluss auf den Konflikt ist allerdings nach dem Ende der OSZE-Mission stark eingeschränkt.

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Energiekonflikte auf dem »Eurasischen Schachbrett«

Energiekonflikte auf dem »Eurasischen Schachbrett«

Europas weiche Geopolitik im russischen Hinterhof

von Stephan Heidbrink

Da das fossile Energieregime an seine Grenzen stößt, ohne dass bisher durchsetzbare Alternativen erkennbar wären1, erfahren die erdöl- und erdgasreichen Regionen in den geoökonomischen und geopolitischen Kontrollstrategien der Zentrumsstaaten eine starke Aufwertung. Energiesicherung wird zur Zielgröße strategischer Außen(wirtschafts)politik – der Geostrategie. Es ist ein Konflikt um die Macht, die Spielregeln auf den Energiemärkten definieren zu können.

Im Mittelpunkt steht dabei in erster Linie die sog. »strategische Ellipse«, die den Nahen und Mittleren Osten, den Kaukasus sowie große Teile Russlands und Zentralasiens umfasst. Hier konzentrieren sich etwa 70% der konventionellen Weltölreserven und ca. 68% der Weltgasreserven.2 Für die absehbarer Zukunft bedeutet dies, dass insbesondere die Rolle der Russischen Förderation im Mittelpunkt der US-amerikanischen und europäischen strategischen Überlegungen stehen wird.3

Die Versuche des Westens, die strategische Ellipse zu kontrollieren, sind dabei keineswegs nur jüngsten Datums. In dem Versuch, die einzigartigen Chancen zur Ausweitung und Verstetigung der informellen Vorherrschaft der Vereinigten Staaten im »unipolar moment« (Charles Krauthammer 1990) während und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu nutzen, verfolgten die USA bzw. »der Westen« eine doppelte Strategie. Einerseits galt es, die russische Ökonomie entlang neoliberaler Vorstellungen für westliches Kapital zu öffnen und so für die Disziplinierung durch den (Welt-)Markt bzw. das transnationale Kapital empfänglich zu machen, andererseits sollte Kontrolle über die kaspischen Staaten – den russischen »Hinterhof« – auch mit Blick auf die fossilen Energiereserven erlangt werden.4

Im Rahmen der US-amerikanischen Geostrategie nimmt die Europäische Union – und innerhalb dieser v.a. die Bundesrepublik Deutschland – zunehmend eine »Brückenkopffunktion« bezüglich der Durchsetzung ihrer Interessen auf dem eurasischen Kontinent ein. Für die Europäische Union hat der ungefährdete Zugriff auf Öl- und Gasreserven eine besonders hohe Bedeutung, die in den letzten Jahren noch einmal stark zugenommen hat. Die EU ist heute bereits der weltgrößte Importeur von fossilen Energieträgern (allen voran Erdöl und Erdgas); dabei stammen derzeit etwa 40% aller europäischen Energieimporte aus der Russischen Förderation (und werden zu 80% durch die Ukraine transportiert). Die Europäische Kommission geht jedoch sogar davon aus, dass sich „die Abhängigkeit von Gasimporten […] bis 2030 voraussichtlich von 57% auf 84%“ und „die Abhängigkeit von Ölimporten von 82% auf 93%“ erhöhen werden.5

Die europäische Strategie zur Sicherung der Energieversorgung besteht aus zwei Aspekten. Neben dem Versuch, die europäische Energieversorgung durch neue Pipelineprojekte zu diversifizieren, hat die Absicherung der mittel- und langfristigen Liefer- und Kooperationsbeziehungen mit den Gas- und Ölförderländern durch ein marktliberales vertragliches Rahmenwerk nach dem Vorbild der WTO oberste Priorität. Im Prinzip existiert ein solcher Rechtsrahmen bereits. Die EU hatte in den 1990er Jahren die Initiative ergriffen, eine Europäische Energiecharta auszuhandeln, die zugleich die Grundlage für den Energiecharta Vertrag (ECV) bildete, der im Dezember 1994 von etwa 50 Staaten unterzeichnet wurde.6 In ihm sind Bestimmungen zum Investitionsschutz, zum Handel mit Energieträgern (Öl- und Gas), zu Transitkonditionen und auch ein internationales Streitbeilegungsverfahren enthalten. Die Wirkung ist jedoch äußerst begrenzt. So haben die USA und Kanada den Vertrag nicht unterzeichnet; China und Saudi-Arabien begnügen sich mit einer Beobachterrolle und Norwegen, Australien, Island, Weißrussland und Russland haben den ECV zwar unterzeichnet, nachfolgend jedoch nicht ratifiziert.

Russische Stabilisierungsversuche

Die Liberalisierungsoffensive der EU stößt gerade in Russland auf ein gegenläufiges Projekt: Nach der chaotischen, geradezu »raubtierkapitalistischen« Jelzin-Ära wird seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin (2000) versucht, die Wirtschaftsstruktur zu stabilisieren und zu diversifizieren sowie die eigenen wirtschafts- und sicherheitspolitischen Interessen auch international deutlicher zu artikulieren. Im Wesentlichen zielt die Putinsche Agenda darauf, den staatlichen Autoritätsverfall aufzuhalten. Im Zentrum steht dabei die Kontrolle über den Energiesektor.7 Er steht – gemeinsam mit den übrigen Rohstoffsektoren – für etwa 25% der gesamtwirtschaftlichen Produktion Russlands.

Deshalb wurde in den letzten Jahren eine Renationalisierung des Energiesektors eingeleitet. Das Projekt begann mit der Wiedererlangung der staatlichen Kontrollmehrheit bei dem Gasmonopolisten Gazprom, an dem der russische Staat nunmehr eine 50,002-prozentige Mehrheit hält, und der nach Jahren als „Selbstbedienungsladen“ (Alexander Rahr) unter der Führung des Putin-Vertrauten Alexej Miller nunmehr zu einem strategisch agierenden Konzern umgewandelt wurde.8 Gazprom hält einen 25%igen Anteil an der Weltgasproduktion und hat Zugriff auf etwa ein Drittel der weltweiten Erdgasreserven. Der Konzern verfügt über das Monopol in den Bereichen Produktion, Transport und Export von russischem Erdgas. Das Tochterunternehmen Gazeksport ist der weltweit größte Gasexporteur und der wichtigste Gaslieferant Europas mit einem Marktanteil von über 20% in Westeuropa und über 50% in Osteuropa (ohne GUS). Damit erwirtschaftet Gazprom ein Viertel der gesamten russischen Deviseneinnahmen.9

Ab 2003 wurden zudem zentrale Segmente des Ölsektors in staatliche Kontrolle zurückgeführt. Staatliche Ölgesellschaften stellten 2003 nur rund 12% der russischen Ölförderung. Insbesondere in den USA ansässige transnationale Öl-Konzerne wie ExxonMobil und Chevron wurden von der neuen russischen Strategie getroffen. Als besonders aggressive Vertreter im Wettlauf um Zugang zu den russischen Ressourcen hatten sie auf die beiden reichsten Männer Russlands und die mächtigsten innenpolitischen Gegenspieler Putins gesetzt: Auf den Oligarchen Roman Abramowitsch (Besitzer von Sibneft; 2003) und Michail Chodorkowski (Besitzer von Yukos; 2003). Bei der geplanten Mega-Fusion zwischen Sibneft und Yukos zur bei weitem größten russischen Ölfirma sollten zugleich ExxonMobil und Chevron beteiligt werden. Darüber hinaus verhandelte Chodorkowski (an staatlichen Stellen vorbei) mit China über den Bau einer transsibirischen Pipeline. Aus Sicht der russischen Administration drohte damit ein beachtlicher Kontrollverlust über strategisch wichtige Öl- und Gasvorkommen sowie Pipeline-Routen. Die Verhaftung Chodorkowskis 2003 wegen Steuerhinterziehung beendete das Projekt. In den folgenden Jahren wurde Yukos durch Steuernachforderungen (etwa 28 Mrd. $) zum Verkauf gezwungen, die größte Fördergesellschaft von Yukos erwarb der staatlich kontrollierte Rosneft-Konzern.

Ende 2005 wurde auch das Abramowitsch-Unternehmen Sibneft für über 13 Mrd. $ von Gazprom übernommen. Damit entfielen Ende 2005 35% der russischen Ölförderung auf staatliche Gesellschaften (Rosneft, Sibneft, Gasprom sowie Tatneft und Baschneft, die unter Verwaltung der Behörden von Tatarstan und Baschkirien stehen). Gegenüber 2003 hat sich der Produktionsanteil der staatlichen Ölgesellschaften somit etwa verdreifacht. Obwohl man weiterhin an ausländischen Investitionen interessiert ist, sind die Tendenzen unübersehbar, den Zugriff westlicher Konzerne auf russische Ressourcen stärker kontrollieren zu wollen. Im Jahr 2006 erließ der Kreml ein Gesetz, in dem Öl-, Gas- und Metalllagerstätten explizit zu strategischen Reserven aufgewertet wurden. Deren Ausbeutung muss nunmehr unter der Führung russischer Unternehmen stattfinden. Bestehende Mehrheitsbeteiligungen westlicher Firmen an der Exploration werden mit Hilfe der Anwendung bereits vorher bestehender Umweltauflagen oder auch Steuerfahndungen zugunsten russischer Konzerne (allen voran Gazprom) zurückgedrängt.

»Weiche« Geopolitik

Aufgrund der Schwierigkeiten, den russischen Energiesektor für westliches Kapital umfassend zu öffnen, wird nunmehr verstärkt versucht, Gas- und Ölvorkommen durch die Diversifizierung der Energieinfrastruktur unter Umgehung Russlands an Europa zu binden. Hierdurch soll die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen reduziert werden, um so zu verhindern, dass Moskau diese unter Umständen als politisches Druckmittel einsetzen könnte.

Dabei sind in das europäische Projekt zur Energiesicherung schon seit den frühen 1990er Jahren Elemente einer »weichen« Geopolitik eingelassen. Die umkämpfte und konfliktreiche Aufbereitung des Raumes im Energiebereich bezieht sich dabei vor allen Dingen auf die Entwicklung der Energieinfrastruktur, d.h. vor allem Pipelines sowie Verkehrswege in der Türkei und dem Kaukasus. Letztlich geht es aber um den Zugriff auf zentralasiatisches Öl und Erdgas, dessen Transport derzeit nur durch Russland erfolgen kann und daher deutlich unter Weltmarktpreisen erworben und strategisch eingesetzt wird – insbesondere durch Gazprom.

Die durch die EU angestrebte Diversifizierung in der Energieversorgung wurde bislang insbesondere durch zwei (komplementäre) Unterprogramme des TACIS-Programms10 (Technical Assistance to the Commonwealth of Independent States) vorangetrieben, wobei sich der Auf- und Ausbau des Pipelinenetzes sowie die Erschließung der dazu gehörigen Verkehrswege als inkohärent erweisen. Zum einen handelt es sich dabei um das Programm INOGATE (Interstate Oil and Gas Transport to Europe), das seit 1994 mittels des Auf- und Ausbaus eines Pipelinenetzes kaspisches Öl und Gas an den europäischen Markt anschließen soll. Zum anderen existiert das TRACECA-Programm (Transport Corridor Europe-Caucasus-Asia), das auf die Entwicklung eines alternativen Transportkorridors zu der traditionellen Handelsroute durch Russland ausgerichtet ist. Die Russische Föderation ist als einziger Staat des eurasischen Raumes nicht Mitglied in dem Programm.11

Vor allem das TRACECA-Programm ist recht eindeutig darauf ausgerichtet, mit der »Neuen Seidenstraße« das Raummonopol Russlands zu brechen. Zwar sind die Ergebnisse bislang bestenfalls bescheiden. Da seit einiger Zeit innerhalb der Europäischen Union die Transatlantiker, die für eine konfrontative Politik gegenüber Russland eintreten, immer mehr die Oberhoheit gewinnen, dürften derartige Versuche künftig jedoch intensiviert werden.

Die Dominanz der transatlantisch orientierten Fraktion im Bereich der »weichen« Geopolitik ist in der europäischen Unterstützung für das Pipeline-Projekt NABUCCO besonders deutlich ausgeprägt. Die über 3.000 Kilometer lange Pipeline ist das zentrale EU-Projekt bei der Suche nach einer „unabhängigen Versorgung durch Erdgasrohrleitungen von der kaspischen Region“.12 Die Pipeline soll von Aserbeidschan durch die Türkei, Rumänien, Bulgarien und Ungarn bis nach Österreich geführt werden. Unter der Führung der österreichischen OMV wird das Projekt von einem Konsortium aus Botas (Türkei), MOL Natural Gas Transmission (Ungarn), Bulgargaz (Bulgarien) und SNTGN Transgaz SA aus Rumänien und inzwischen auch RWE vorangetrieben.13

Das Konsortium kann sich auf die massive Unterstützung durch die EU verlassen, die (genau wie Deutschland) dem Projekt höchste Priorität einräumt.14 Die Machbarkeitsstudie wurde von der EU mit 4,8 Mio. Euro unterstützt und die Europäische Investitionsbank (EIB) sowie die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) signalisieren ihre Bereitschaft, bis zu 70% der Finanzierung zu übernehmen.

Inzwischen mehren sich Überlegungen, die Pipeline bis zur Ostseite des kaspischen Meeres weiterzuführen, um so auch die zentralasiatischen Ressourcen unter Umgehung Russlands aber auch Irans dem Europäischen Markt zuführen zu können.

Das politisch, finanziell und technisch anspruchsvollste Projekt ist jedoch die BTC-Pipeline. Sie ist neben der geplanten NABUCCO-Trasse der bisher größte Erfolg der Atlantiker. Insbesondere die USA als wichtigster Kunde Aserbeidschans wollen damit ihre Abhängigkeit vom nahöstlichen Öl verringern. Gleichzeitig umgeht die Pipeline Russland und den Iran und passt sich insofern in die Diversifizierungsstrategie der Europäischen Union ein. Die jetzige Streckenführung ist die teuerste und technisch aufwendigste Variante, die zudem noch mit enormen Umweltrisiken behaftet ist, da die Trasse durch stark erdbebengefährdetes Gebiet verläuft. Das betreibende Konsortium steht unter der Leitung der britischen BP, der US-amerikanischen Unocal sowie der Turkish Petroleum Inc. Dass die an dem Projekt beteiligte EBRD nicht auf einer Sicherung der Trassenführung nach EU-Standards bestanden hat, zeigt die Dominanz geopolitischer Überlegungen hinter der europäischen Beteiligung an dem Projekt. Die BTC ist ein offensichtlich gegen Moskau gerichtetes Projekt: Die Stationierung US-amerikanischer Truppen schon 2001 in Georgien, die folgende Finanzierung der »Caspian Guard« zum Schutz der Pipeline durch das Pentagon und Pläne zur Errichtung einer Militärbasis in Aserbeidschan können hier als Indizien gelten. Darüber hinaus ist das Projekt nicht nur aus umweltpolitischen Überlegungen höchst zweifelhaft, auch die wirtschaftliche Rentabilität ist in Zweifel zu ziehen. Die ehemals euphorischen Schätzungen des Ölreichtums des Kaspischen Meeres sind nunmehr deutlich ernüchterten Prognosen gewichen. Ob die Pipeline überhaupt ausreichend (lies: rentabel) gefüllt werden kann, ist derzeit eine offene Frage. Gleichzeitig erweisen sich jedoch die Erdgasreserven der Region (zwischen 6% und 8% der Weltreserven) zunehmend als Objekt der Begierde, gerade wenn es darum geht, gegenüber Russland oder genauer: Gazprom unabhängiger zu werden.

Russische Gegenstrategie

In Russland wird das NABUCCO-Projekt als Versuch interpretiert, das russische Raummonopol zu brechen. Hier decken sich die Wahrnehmungen von Gazprom und der russischen Regierung. Der russische Gaskonzern bemüht sich daher, das Projekt überflüssig zu machen und damit gleichzeitig näher an das europäische Verteilersystem heranzurücken. Bereits 1999 hatte Gazprom gemeinsam mit der italienischen ENI und unter heftigen Protesten der US-Administration begonnen, mit dem Blue Stream Projekt unter Umgehung der Ukraine eine Gaspipeline durch das schwarze Meer zur türkischen Stadt Samsun zu verlegen. Dieses Projekt richtete sich (unter Beteiligung japanischer und türkischer Firmen) gegen die Pläne eines anglo-amerikanischen Konsortiums, eine Pipeline (Trans-Caspian Gas Pipeline; TCP) durch das Kaspische Meer nach Turkmenistan zu führen. Das Gazprom-Unterfangen war bereits 2002 erfolgreich und beendete (vorerst) das TCG-Projekt.15 Aktuell plant Gazprom eine Verlängerung von Blue Stream parallel zum NABUCCO-Vorhaben durch Bulgarien und Rumänien bis nach Ungarn.

Gleichzeitig veräußerte E.On Ruhrgas seine Anteile an der ungarischen MOL (Mitglied im NABUCCO-Konsortium) gegen eine 25%-Beteiligung am russischen Yuschno-Russkoje-Feld an Gazprom. Darüber hinaus nutzt Gazprom die deutliche Abkühlung der Verhältnisse zwischen der Türkei und den USA einerseits sowie der EU andererseits. Frustriert über die Ignorierung türkischer Sicherheitsinteressen im Nordirak durch die US-amerikanische Regierung und die Hinhaltetaktik bzw. inzwischen ablehnende Haltung der Europäischen Union in der Beitrittsfrage zeigt sich die Türkei gegenüber dem Billig-Erdgas-Angebot von Gazprom aufgeschlossen. Die Spannungen zwischen Frankreich und der Türkei aufgrund des Armenien-Beschlusses der französischen Nationalversammlung haben bereits dazu geführt, dass Gas de France die Beteiligung an dem NABUCCO-Konsortium verwehrt wurde, obwohl deren Kapital dringend zur Realisierung benötigt wird. Das Projekt, die Türkei zur Energiedrehscheibe vis-a-vis Russland auszubauen, ist ernsthaft bedroht.

Für die Europäische Union kommt erschwerend hinzu, dass NABUCCO, um halbwegs rentabel betrieben werden zu können, auf zentralasiatisches Gas, vor allem aus Turkmenistan angewiesen ist. Insofern war es ein schwerer Schlag, als Wladimir Putin im Mai 2007 mit dem turkmenischen Präsidenten Gurbanguli Berdymuchamedow vereinbarte, dass große Teile des turkmenischen Erdgases über das russische Leitungsnetz geleitet werden.16

Das Vorhaben, mittels NABUCCO die zentralasiatischen Reserven aus der russischen Kontrolle zu lösen, droht damit zu scheitern. Einzig russisches und iranisches Gas könnten die Pipeline nunmehr ausreichend füllen, aber sowohl die iranische Option als auch ein Einstieg von Gazprom in das Konsortium stoßen sowohl auf heftigen Widerstand der Vereinigten Staaten wie auch auf große Skepsis in Europa.

Derzeit führt für die europäische Gasversorgung kein Weg an Gazprom vorbei. Dies ist aus westlicher Sicht umso Besorgnis erregender, als sich Gazprom bemüht, ein integrierter Energiekonzern zu werden. Das zielt sowohl auf die Ausdehnung des Geschäftsfeldes von der Förderung über den Transport bis hin zur Raffinierung von Erdöl als auch auf die Übernahme von Gasinfrastruktur und den direkten Zutritt zu Endverbrauchermärkten in Europa. Die Gazprom-Strategie kann als Lehre aus den Nationalisierungen der Ölgesellschaften im Nahen und Mittleren Osten gedeutet werden. Damals kontrollierten die neuen staatlichen Unternehmen zwar die Ölförderung (upstream), aber der Transport (mid-stream) und die Verarbeitung/Vermarktung (downstream) blieb von westlichen Firmen dominiert. Das gab den mehrheitlich anglo-amerikanischen Unternehmen (sowie dem Westen als dem zentralen Absatzmarkt insgesamt) ein entscheidendes Druckmittel an die Hand.17 Gazprom hingegen versucht, Quellen, Transportwege und Absatzmärkte unter ihrem Dach zu integrieren.

Der Konzern benutzt dazu seine marktdominierende Stellung in Russland und insbesondere seinen exklusiven Zugriff auf billiges zentralasiatisches Gas (und Öl). Die abrupten Preiserhöhungen gegenüber der Ukraine (März 2005/Anfang 2006) und Weisrussland (Ende 2006/Mai 2007) wurden durch Kompromisse beigelegt: Beide Staaten zahlen nicht den vollen Weltmarktpreis, aber sie treten die Kontrolle über ihre Gasinfrastruktur ab.18 Ein ähnliches Bild zeigt sich im Kaukasus: Das westlich orientierte Georgien weigerte sich, seine Infrastruktur abzutreten und zahlt nunmehr Weltmarktpreise. Demgegenüber zeigte sich Armenien kooperativ und zahlt statt 230 $ pro 1000 Kubikmeter Gas nur 110 $. Innerhalb der EU wird dies wiederum als ein gezielter russischer Versuch interpretiert, die europäische Energieversorgung unter Kontrolle zu bringen, um sich so ein erhebliches machtpolitisches Druckmittel zu verschaffen.19

Eskalationsdynamiken – Droht ein neuer Kalter Krieg?

Die geoökonomischen Erfolge des Westens – in erster Linie durch die BTC-Pipeline – sowie die geopolitischen Verschiebungen – insbesondere durch die mit z.T. massiver westlicher Unterstützung erfolgten sog. »bunten Revolutionen« in Georgien (2003), der Ukraine (2004) und Kirgisistan (2005) – erweisen sich zunehmend als kontraproduktiv in dem Bestreben, Energiesicherheit herzustellen. Kooperationsangebote Russlands wurden ausgeschlagen, und stattdessen wird auf eine konfrontativere Politik gesetzt, die letztlich der Russischen Förderation nur wenige Optionen ließ. Darüber hinaus erschütterte der Georgienkrieg im August 2008 die Vorstellungen des Westens, in Georgien über einen sicheren Transportkorridor jenseits Russlands zu verfügen, nachhaltig.20

Der Ton wird immer rauer und die Auseinandersetzungen verlagern sich mittlerweile auch in andere Regionen. So richtet sich der Blick der Europäischen Union nach den Rückschlägen im Bereich der »weichen Geopolitik« nunmehr einerseits verstärkt auf Afrika, wo sich derzeit ein neuer Wettlauf zwischen der EU und Gazprom abzeichnet.21 Andererseits intensiviert die EU ihre Anstrengungen, einen globalen Gasmarkt zu errichten. Bislang ist Erdgas fast ausschließlich durch Pipelines zu transportieren; dies soll sich mit der Flüssiggastechnologie ändern. Tiefgekühltes und damit verflüssigtes Gas lässt sich auf Tankschiffen transportieren und würde Erdgas so zu einer global handelbaren Ware wie Öl aufwerten. In Reaktion darauf wurde am 23. Dezember 2008 in Moskau die »Gas-OPEC« als Kartell erdgas-exportierender Länder durch 16 Staaten gegründet. Wie handlungsfähig diese neue Organisation sein wird, ist bislang noch unklar. Doch ihre Existenz wurde vom NATO-Wirtschaftsausschuss in einem Bericht als Bedrohung eingestuft, da Russland hiermit beabsichtige, Energielieferungen als machtpolitisches Druckmittel einzusetzen.22 In diesem Zusammenhang sind die Forderungen etwa des einflussreichen US-Senators Richard Lugar zur Gründung einer »Energie-NATO« zu sehen. Damit würde eine Unterbrechung der Erdöl- und Erdgaslieferungen als Angriff auf das atlantische Bündnis bewertet.23 Noch sind solche Vorschläge nicht mehrheitsfähig, allerdings wurde die sichere Energieversorgung schon vor einiger Zeit in die Sicherheitskonzeptionen des Westens integriert.

An der Energiefrage entzündet sich daher ein europäischer neuimperialer Diskurs. Die bescheidenen Fortschritte in der Internationalisierung des europäischen neoliberalen Binnenmarktregimes in den europäischen Nachbarschaftraum und die Rückschläge in der »weichen« Geopolitik bereiten das Feld, auf dem weit reichendere Vorschläge fruchtbaren Boden finden. Aufgrund der Weigerung der russischen Förderation, auf die Kontrolle über die Energiewirtschaft zugunsten (westlicher) privater Akteure zu verzichten, wird Russland zunehmend als Gefahr für die westliche Energiesicherheit wahrgenommen.

Anmerkungen

1) Vgl. Altvater, Elmar (2005): Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen. Münster; Leggett, Jeremy (2006): Peak Oil. Köln.

2) Barthel, Fritz Gerling, Peter (Koord.) (2003): Reserven, Ressourcen und Verfügbarkeit von Energierohstoffen 2002. Rohstoffwirtschaftliche Länderstudien XXVIII. Hannover, S.55.

3) Kalicki, Jan H. Goldwyn, David L. (eds.) (2005): Energy Security. Toward a New Foreign Policy Strategy.

4) Vgl. Van der Pijl, Kees (2006): Global Rivalries. From the Cold War to Iraq. London, S.347ff.

5) Europäische Kommission (2007): Eine Energiepolitik für Europa. Brüssel, den 10.1.2007, KOM (2007) 1 endg., 4.

6) Westphal, Kirsten (2006): Energy Policy between Multilateral Governance and Geopolitics: Wither Europe? In: Internationale Politik und Gesellschaft 4/2006, S.53f.

7) Vgl. FN 4, S.347ff.

8) Vgl. Pörzgen, Gemma (2008): Gasprom. Die Macht aus der Pipeline. Hamburg.

9) Windisch, Nancy (2007): Gazprom – Unternehmenspolitik des größten Erdgaskonzerns der Welt. www.weltpolitik.net/

10) Inzwischen wurde das TACIS-Programm durch das Europäische Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstrument (ENPI) ersetzt.

11) Ehlers, Kai (2006): Reicht Europa bis nach Kasachstan? In: Pflüger, Tobias Wagner, Jürgen (Hrsg.): Weltmacht Europa. Hamburg, S.183-197.

12) Europäische Kommission (2005): Grünbuch über Energieeffizienz. Brüssel, S.17

13)Ob es Zufall oder Absicht ist, das Konsortium setzt sich aus eben jenen Staaten zusammen, die im ersten Weltkrieg Verbündete gegen Russland waren.“ Kneissl, Karin (2006): Der Energiepoker. Wie Erdöl und Erdgas die Weltwirtschaft beeinflussen. München, S.38.

14) Vgl. Wagner, Jürgen (2007): Der Russisch-europäische Erdgaskrieg. Studien zur Militarisierung Europas 30/2007.

15) FN 4, S.352

16) Wolkowa, Irina (2007): Masterplan der Energiestrategie. www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Russland/kaspi.html

17) Yergin, Daniel (1991): The Prize. The Epic Quest for Oil, Money Power. New York, S.389-541.

18) Lindner, Rainer (2007): Blockaden der Freundschaft. SWP-aktuell 3. Januar 2007. Dabei erhielt Weissrussland 2,3 Milliarden $ für Beltransgasanteile, deren Wert auf 800 Millionen Dollar geschätzt wurden.

19) Vgl. FN 14. Darüber hinaus bemüht sich Gazprom nunmehr, Anteile an europäischen Verteilernetzen zu erwerben. Die Liberalisierungsstrategie der EU hat dafür die Vorrausetzungen geschaffen und dies erweist sich unter den veränderten Bedingungen nunmehr als zunehmend kontraproduktiv für das Bestreben, die geopolitische Position der EU zu stärken.

20) Vgl. Hantke, Martin (2008): »Alles wieder offen«. Georgienkrieg und imperiale Geopolitik. IMI-Studie 2008-10. Tübingen.

21) Vgl. Wagner, Jürgen (2009): Gas-OPEC und afrikanische Nabucco. http://www.imi-online.de/download/JW-Gas-OPEC-Nabucco.pdf

22) Kreimeier, Nils Wetzel, Hubert (2007): EU und USA zittern vor neuer »Opec«, Financial Times Deutschland, 06.03.2007.

23) U.S. Senate Committee on Foreign Relations, Senator Richard G. Lugar Opening Statement for Hearing on Oil, Oligarchs and Opportunity: Energy from Central Asia to Europe, 12.06.2008.

Stephan Heidbrink promoviert in Marburg über Energiesicherungsstrategien der Europäischen Union und ist Mitglied der Forschungsgruppe Europäische Integration (FEI).

Zentralasien, Europa und die Balance der Gewichte

Zentralasien, Europa und die Balance der Gewichte

von Arne C. Seifert

BND-Analysten schätzten in einer vertraulichen Studie vom Februar 2009 ein, dass sich eine Verschiebung der „Gewichte zwischen den großen Blöcken USA, EU und China langsam nach Osten“1 vollzieht. In den Diskussionen über Folgen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise wird die Frage erörtert, dass künftig veränderte Kräfteverhältnisse die internationalen Beziehungen prägen werden. Vorbei sind Bipolarität und Unipolarität, bestimmend wird »Multipolarität« als Konkurrenz alter Großmächte (USA, EU, Japan) und neuer, weiter aufsteigender (vor allem die »BRIC«2-Staaten) sein.

Die internationalen Beziehungen bewegen sich auf eine Phase von »Nichtpolarität« zu. Zwar hat man sich zu einem solchen Terminus noch nicht durchgerungen, er entspräche aber besser der Logik, da es der Pole immer nur zwei geben kann. Unbestritten dürfte jedoch auf der Hand liegen, dass mehrere große Mächte mit ihren Bewegungen und Gegenbewegungen miteinander kollidieren werden. Um hier konfliktvorbeugend und verhütend zu steuern, wird die Bedeutung von Politikinstrumenten der friedlichen Koexistenz erneut zunehmen.

Friedliche Koexistenz und Kooperation – Schlüsselworte des neuen Jahrhunderts

Eine Politik, die in ihren Mittelpunkt die Konfliktvermeidung stellt, hat ein Grundprinzip zu beachten: Alle Seiten müssen bedingungslos demokratisch miteinander umgehen. Egon Bahr erkannte dies, als er bereits 2007 voraussagte: „Es ist eine europäische Verantwortung, dass »Kooperation« zum Schlüsselwort unseres Jahrhunderts wird.“3 In internationalen und zwischenstaatlichen Beziehungen bedingungslos demokratisch miteinander umzugehen, impliziert allerdings, dass »der Westen« sich auch gegenüber autoritären Regierenden demokratisch verhalten müsste. Letzteres würde einer Erkenntnislogik folgen, dass veränderte internationale Bedingungen auch die Verhaltensregeln in den internationalen Beziehungen verändern.

In diesem Kontext kann als erstaunlich gelten, dass aus den öffentlichen Debatten um die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise, in welcher sich zugleich das Scheitern der Strategie des Neoliberalismus manifestiert, die westliche, gleichfalls neoliberal gesteuerte Außenpolitik ausgeklammert bleibt. Dabei ist offensichtlich, dass dem Neoliberalismus auch die internationale Politik des westlichen Bündnisses zu Diensten stand, von denen sich Europas außenpolitische Eliten und ihre intellektuelle Dienstleistungsbranche offensichtlich bisher nicht zu lösen gedenken. Das mag auch daran liegen, dass der Entwurf neuer Verhaltensregeln für den eigenen politischen Raum, nämlich den der OSZE, nicht ohne selbstkritische Bilanzierung eigener Politik in den letzten zwanzig Jahren auskäme. Paradox erscheint dabei, dass sich die westlichen Mitgliedstaaten der OSZE ausgerechnet in dieser Organisation von den Prinzipien ihres Mutterschoßes, der KSZE, nahezu völlig verabschiedet haben: nämlich den Prinzipien der friedlichen Koexistenz. Sie erneut auf den Prüfstand zu stellen, wäre für Europa ein Anpassen an »Nichtpolarität«, und Gewichteverschiebung in Richtung Osten eine lohnende intellektuelle Investition. Man sollte dieses Experiment, neben dem Imperativ Russland, mit den Staaten Zentralasiens beginnen. Dazu gehört auch das Erlernen eines demokratischen Umgangs mit autoritär Regierenden. Dafür spricht, dass Zentralasiens autoritäre Regierungen die »Mitte des Stocks« eines weltweit unvergleichlichen Kontinentalraums – Europa, Russland, Zentralasien, China, Indien u.a. – in ihren Händen halten.

Neue Weichenstellungen für den östlichen euro-asiatischen Kontinentalraum

Dieser Raum könnte sich für Europa als wichtigste »strategische Reserve« erweisen – von seinen wirtschaftlichen und menschlichen Ressourcen bis zu seinem zukünftigen internationalen Gewicht. Keine andere geopolitische »Einheit« der Welt verfügt über ein derartiges Potential und eine solche Chance gemeinsamer Entwicklungsmöglichkeiten. In den USA ist das erkannt. Sowohl unter dem Gesichtspunkt eines europäischen Gewichtszuwachses unter den neuen internationalen Bedingungen, als auch der eigenen Kontrolle jenes euro-asiatischen Kontinentalkolosses. Die strategische Stoßrichtung der USA erfolgt aus dem Süden. Daraus erklärt sich auch die Entschlossenheit der Obama-Regierung, Afghanistan zu halten, dafür dort ihr militärisches Engagement zu erhöhen und Pakistan einzubeziehen. Diese als »Afpak« für Afghanistan und Pakistan apostrophierte Strategie trägt dem Wunsch der USA Rechnung, hier den Grund für langfristige Präsenz zu bereiten, sozusagen für ein »Standbein«, um ihrem »Spielbein« Mobilität zu ermöglichen in Richtung Zentralasien, Iran, Indien sowie dem Persischen Golf und dem Arabischen Meer. Insofern kann eine von der Obama-Regierung ins Spiel gebrachte regionale Afghanistanregelung unter Einbeziehung der Nachbarstaaten, darunter Zentralasiens, weniger als Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen Afghanistanintervention interpretiert werden denn als politische Umarmungsgeste gegenüber den Zentralasiaten. Daher dürften sich die USA auch in den kommenden Monaten darum bemühen, in der Afghanistanfrage politisch sowohl gegenüber der EU als auch Zentralasien offensiv zu bleiben. Dazu benötigen sie aber gegenwärtig noch die Führung in militärischer Hinsicht.

Neuen Realitäten Rechnung tragen

Die europäische Transformationsstrategie der letzten rund zwanzig Jahre gegenüber Zentralasien und anderen Teilen des post-sowjetischen Raums erhellt, wie unter den neuen Bedingungen einer in östlicher Richtung verlaufenden Gewichtsverschiebung ein strategisch weitsichtiger Umgang mit autoritär Regierenden nicht funktionieren wird.

Für Westeuropas politische Eliten war die Transformation des sozialistischen in ein kapitalistisches Gesellschaftssystem von vornherein ein Projekt äußerer politischer Einflussnahme und Drucks. Als sicherster Weg dazu erschienen ihnen Reformen, die möglichst direkt und schnell, ohne »evolutionäre« Verzögerungen, vollendete Tatsachen schufen: die Implantierung von Marktwirtschaft und eines politischen Systems westlichen Typs. Außerdem musste er sich die äußeren Tore in die jungen Staaten des postsowjetischen Raums öffnen, um die Durchführung der Reformen zu forcieren.

Diese Politik war als bewusste Schock-Strategie eine Komponente der neoliberalen Gesamtstrategie. Deren drei typische Forderungen Privatisierung, Deregulierung und tiefe Einschnitte bei den Sozialausgaben charakterisieren heute die Bedingungen in allen zentralasiatischen Staaten. Versagt hat die Transformationsstrategie bei der dringend erforderlichen Schaffung und Konsolidierung ökonomischer Grundlagen für die weiteren Staatsformungsprozesse und die Staatskonsolidierung, weshalb einige dieser Staaten heute äußerst labil sind (besonders Kirgisistan und Tadschikistan) und sie die internationale Wirtschaftskrise besonders hart trifft. Eindeutig negativ ist die Bilanz auch hinsichtlich der Lebensqualität der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, die sich erheblich verschlechtert hat. Hier erweist sich die neoliberale Transformation nicht nur als zutiefst regressiv. Sie behindert auch die Transformation zur Demokratie, da sich keine ökonomische Basis für eine soziale Marktwirtschaft und Demokratie herausbilden konnte. In Zentralasien bildet sich eine Kluft zwischen Armut und Reichtum heraus, wie sie uns aus der Mehrheit der Entwicklungsländer bekannt ist – mit all ihren sozialen und politischen Risiken, einschließlich der rasant zunehmenden politischen Instrumentalisierung des Islams.

»Der Westen« übte von vornherein über seine internationalen Organisationen und bilateralen Beziehungen auf alle Transformationsprozesse und die Führungen der zentralasiatischen Staaten, welche diese zu implementieren hatten, einen gewaltigen äußeren Druck aus. Die OSZE spielte und spielt als „einer der Agenten des Wandels“ in diesem Szenarium eine zentrale Rolle. Indem sie die menschliche Dimension als „Kern der Anstrengungen zur Gewährleistung umfassender Sicherheit“4 in Zentralasien sieht, machte sie sich zu einer zentralen Trägerin der bisherigen westlichen Strategien gegenüber den zentralasiatischen Gesellschaften und deren Führungen.5

Sein Ziel, politische Systeme seines Typs zu etablieren, hat »der Westen« bislang nicht erreicht. Nüchternheit sollte das Nachdenken über die Frage bestimmen, ob und in welchen Zeiträumen das nachgeholt werden könnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es nicht gelingen, das Modell liberaler Demokratie in den zentralasiatischen Gesellschaften in absehbaren Zeiträumen zu verwurzeln. Vielmehr wird sich Europa hier auf eine Situation einzustellen haben, in der der Charakter der wirtschaftlichen Systeme kapitalistisch und der politischen nicht liberal-demokratisch sein wird. Das heißt, Europa wird eine Koexistenz-Politik entwickeln müssen gegenüber nicht am westlichen Gesellschaftsmodell fixierten ordnungspolitischen Orientierungen. Welche Zusammenhänge erlauben diese Hypothese?

Erstens hat die Einordnung der zentralasiatischen Führungen in die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SchOZ)6 das Kräfteverhältnis zwischen Europa und der zentralasiatischen Region schon heute zu Gunsten Letzterer verändert und verändert es weiter. Mit China und Russland sowie Indien als Beobachter der SchOZ eröffnet sich für die Staaten Zentralasiens die Möglichkeit, sich an die Gruppe der BRIC-Staaten anzulehnen. Sie sind Nutznießer jener Verschiebung der Gewichte nach Osten, aus der die zentralasiatischen Führungen ihren Honig saugen können.

Zweitens hat sich im Ergebnis einer von IWF, Weltbank und deren westlichen Migliedsstaaten vorgegebenen neoliberalen ökonomischen Transformationsstrategie in Zentralasien ein »bürokratischer Familienclan-Kapitalismus« etabliert. Seine Träger, die großen Clans, haben die frühere Allmacht des KPdSU-Apparates gegenüber der Gesellschaft abgelöst durch eine weitgehende Monopolisierung der ökonomischen, politischen und militärischen Macht. Das Wesen dieses neuen Herrschaftsmechanismus zu verstehen, ist deshalb wichtig, weil er sich in vielen jungen Staaten des post-sowjetischen Raums beobachten lässt. Er ist das Produkt einer Transformationsstrategie, die westliche Demokratie und Marktwirtschaft für ein geeignetes Bedingungsgefüge für die Überführung (nicht nur) der zentralasiatischen Gesellschaften zum kapitalistischen System hielt. „Die einzige Bedingung, unter der Marktwirtschaft und Demokratie gleichzeitig implantiert werden und gedeihen können, ist die, dass beide einer Gesellschaft von außen aufgezwungen und durch internationale Abhängigkeitsverhältnisse für längere Fristen garantiert werden.“7

Diese Strategie erweist sich heute als gravierende Fehlkalkulation. »Der Westen« verschätzte sich völlig im Typ des Kapitalismus und seiner Unternehmerklasse, die vor dem Hintergrund der sozialen, traditional-paternalistischen Spezifik der zentralasiatischen Gesellschaften (und nicht nur dieser) entstehen würden. Dabei war voraussehbar, dass die großen Clans die Gewinner einer Transformationsstrategie sein würden, welche auf die Privatisierung des staatlichen Eigentums als oberste Priorität setzte. Nach der Demontage der UdSSR verfügte nur diese erste Transformationsgeneration über die administrativen und finanziellen Ressourcen, um die Privatisierung zu ihren Gunsten umzulenken und zu entscheiden. Nie zuvor hat das Clansystem einen solch gewaltigen Aufschwung erfahren wie durch jene Privatisierung »von oben«. Da es eine in sich und für sich geschlossene Gesellschaftsschicht darstellt, widersetzt es sich der Öffnung der Gesellschaft und ihrer Demokratisierung. Selbst in der sowjetischen Periode war die Verquickung von politischer, ökonomischer und möglichst auch militärischer Macht in Personalunion nicht so eng wie heutzutage bei den Clans jener ersten Generation von Transformationssiegern, aus der die heutigen Entscheidungsträger kommen.

Das Paradoxon besteht weiter darin, dass »der Westen« von dieser neuen Unternehmerklasse politische Systeme präsentiert bekam, welche das Gegenteil zu dem von westlicher Feder vorgeschriebenen Postulat der KSZE-Charta von Paris für ein neues Europa von 1990 ist. Ihr zufolge verpflichten sich alle OSZE-Staaten „die Demokratie als die einzige Regierungsform […] aufzubauen, zu festigen und zu stärken“.8 Um zu dem vom Westen eingeforderten Typ von Demokratie zu gelangen, müsste er jedoch jenen Typ von bürokratischem Familienclan-Kapitalismus erst wieder abschaffen. Das aber wird der Westen nicht wagen, was die Herrschenden in Zentralasien wissen. Darin besteht das große Dilemma der westlichen Demokratisierungsstrategie.

Mehr noch: dieser Zustand wird sich selbst dann nicht ändern, wenn die Clan-Oligarchen der ersten Generation der Konkurrenz neuer zweiter und dritter Unternehmergenerationen weichen müssen. Letztere werden zwar nach politischer Macht streben, auf ihre ökonomische jedoch nicht verzichten. Also werden solche inneren Auseinandersetzungen weder den herrschenden Typ von Unternehmerklasse noch deren Aversion gegen eine Trennung von politischer und ökonomischer Macht, gegen eine offene Gesellschaft und Demokratie westlichen Typs, aus der Welt schaffen.

Heißt das, seine Transformationsstrategie hat »dem Westen« gar nichts gebracht? Keineswegs. Er erreichte für ihn Vorrangiges – die Beseitigung der politischen und ökonomischen Grundlagen des sowjetischen Gesellschaftstyps. Ein Zurück zum einstigen sowjetischen Imperium wird es nicht geben, was er als Erfolg historischen Ausmaßes wertet. Auch bei der Transformation zur Marktwirtschaft ist der Rubikon überschritten. Selbst wenn westliche Unternehmen noch nicht auf allen Gebieten zufrieden sind – ein Zurück in die Planwirtschaft wird es ebenfalls nicht geben. Folglich könnte man sich in Europa ein etwas entspannteres Nachdenken über eine Neujustierung politischer Prioritäten gegenüber Zentralasien leisten und über den Sinngehalt des Hinweises Egon Bahrs nachdenken: „[…] wer die Beschwörungsformel von der Wertegemeinschaft undifferenziert benutzt, muss wissen, dass daraus Unterwerfungsformeln werden können, wenn die eigenen Werte nicht mehr klar vertreten werden.“9 Was heißt – wer Achtung der Demokratie als universellen Wert einfordert, darf sie aus seinem internationalen Verhalten nicht ausklammern.

Welches Fazit könnte gezogen werden?

Erstens: In den letzten knapp zwei Jahrzehnten haben sich im zentralasiatischen Teil des OSZE-Raums die geostrategischen Konstellationen verschoben, die gesellschaftssystemischen Bedingungen verändert und die Eliten sich ebenso umgeschichtet wie deren Charakter, Interessenlagen und Kooperationsvoraussetzungen. Die Zeiten hochfliegender Hoffnungen, dass »der Westen« seine »Demokratie als die einzige Regierungsform« im riesigen, seiner sozialen Natur und politischen Kultur nach höchst pluralistischen post-sowjetischen Raum durchzusetzen vermag, neigen sich ihrem Ende zu. Er muss auch Obacht geben, dass neue Widersprüche die noch bestehenden Voraussetzungen für strategische Partnerschaften und Kooperation nicht unterlaufen. Die OSZE haben sie bereits eingeholt. Als wichtigster Widerspruch kann derjenige zwischen den internationalen demokratiepolitischen Gestaltungsansprüchen »des Westens« und den real existierenden Herrschaftsstrukturen gelten. Es sind die praktisch-politischen Konsequenzen zu prüfen, die sich aus der richtigen Erkenntnis ergeben, dass „[e]xterne Demokratieförderung […] nicht oktroyiert, exportiert oder exekutiert werden kann. Sie kann nur eine optimierende Katalysatorrolle einnehmen von im Empfängerland bereits vorhandenen Liberalisierungs- und Demokratisierungsansätzen.“10

Zweitens: Das politische und ökonomische Überleben der zentralasiatischen Führungen hängt zukünftig immer weniger von Europas Verständnis oder Unverständnis der in ihrer Großregion ablaufenden gesellschaftspolitischen Prozesse ab. Die neue »nichtpolare« Großmachtkonstellation eröffnete ihnen die Wahl zwischen Großmächten unterschiedlicher Herrschaftssysteme und politischer Orientierungen. Dieser Umstand und das in Europa erwachende Verständnis für die besondere Rolle Zentralasiens stellen die europäische Politik vor eine völlig neue, aber ganz zentrale Aufgabe: Wenn die zentralasiatischen Staaten schon nicht mehr darauf angewiesen sind, ins europäische Boot zu steigen, aber dennoch daran interessiert sind, mit ihrem eigenen Boot an unseres anzudocken, dann ist für Europa die Zeit gekommen zu prüfen, wie mit autokratischen Führungen auf gleicher Augenhöhe demokratisch umzugehen ist.

Drittens: Zum Glück gibt es dafür die OSZE mit ihren wichtigen politischen Erfahrungen aus der Konstruktion von Zusammenarbeit und friedlicher Koexistenz unterschiedlicher Systeme. Die europäischen Staaten sollten abwägen, ob sie bereit sind, ihr Verständnis der OSZE als Kontrollinstrument und ein Motor der »Proliferation« des liberalen Demokratiemodells in den postsowjetischen Raum in das einer Zukunftsvision von der OSZE als »Regulator« von Zusammenarbeit und Sicherheit im Sinne euro-asiatischer, kontinentaler Partnerschaft zu transformieren, der hilft, den euro-asiatischen Raum als gemeinsamen zu erschließen. Entscheidet sie sich für Ersteres, würde die OSZE Europa eine strategisch unverzichtbare Dienstleistung erweisen: die Justierung ihrer Prinzipien und Steuerungsinstrumente für eine solche Partnerschaft im Sinne kooperativer Sicherheit und Zusammenarbeit, des Ausgleichs und der Harmonisierung von Interessen. Zum anderen würde der Entwurf eines solchen neuen Verhältnisses es wichtigen euro-asiatischen Staaten – Russland und Zentralasien eingeschlossen – erleichtern, ihre strategische Partnerschaftswahl, in der sie heute noch schwanken, zugunsten einer gesicherten Zukunft mit Europa auf einem gemeinsamen Kontinent zu treffen. Auch ließen sich Misstrauen stiftende Konkurrenzängste, insbesondere der Russischen Föderation bezüglich seiner asiatischen und zentralasiatischen Nachbarschaftsregionen, ausräumen. Die so zu öffnenden neuen Perspektiven und ihr gemeinsames Gestalten könnten auch dazu beitragen, die Krise zu überwinden, in der sich die OSZE heute befindet.

Fiele die Abwägung zugunsten von Sicherheit und Zusammenarbeit im Sinne einer euro-asiatischen kontinentalen Partnerschaft aus, so wäre das für Europa keine »Rolle rückwärts«, sondern vorwärts, da der Ausgleich und die Harmonisierung von Interessen Potenziale einer euro-asiatischen Kooperation mobilisieren könnten, die noch nicht in vollem Umfang erkannt wurden: in wirtschaftlicher, außenpolitischer und weltpolitischer Hinsicht sowie im Sinne gegenseitiger kultureller Befruchtung.

Das Nachdenken über ein neues Verhältnis zueinander müsste selbstverständlich ein gemeinsames sein. Geographisch bräuchte der jetzige OSZE-Raum nicht überschritten zu werden. Zunächst geht es um Vertrauensbildung zwischen den europäischen und den euro-asiatischen OSZE-Teilnehmerstaaten. In weiteren Schritten könnte Vertrauensbildung durch Letztere gegenüber deren asiatischen Partnern angestrebt werden. Die Verschiebung der internationalen Gewichte nach Osten wartet nicht auf Europa.

Anmerkungen

1) Rinke, Andreas: Metamorphose der Geopolitik, in: Internationale Politik, Juni 2009, S.40.

2) BRIC-Staaten: Brasilien, Russland, Indien, China

3) Egon Bahr: Europas strategische Interessen, in: Internationale Politik, April 2007, S.87.

4) Organization for Security and Co-operation in Europe (2001): OSCE Meetings on Human Dimension Issues 1999-2001. Warschau, S.7 (eigene Übersetzung).

5) „Fragen der menschlichen Dimension sind zum wichtigsten Tätigkeitsfeld der OSZE geworden […]“ zit. nach Wolfgang Zellner (2006): Managing Change in Europe: Evaluating the OSCE and Its Future Role: Competencies, Capabilities, Missions. CORE Working Paper Nr. 13, S.26 (eigene Übersetzung).

6) SchOZ-Mitglieder: China, Russland, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Usbekistan. Beobachterstatus haben Indien, Pakistan, Iran und Mongolei.

7) Claus Offe (1994): Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im Neuen Osten, New York, S.65 (Hervorhebung durch den Autor).

8) Charta von Paris für ein neues Europa. Erklärung des Pariser KSZE-Treffens der Staats- und Regierungschefs, Paris, 21. November 1990, in: Ulrich Fastenrath (Hrsg.): KSZE/OSZE. Dokumente der Konferenz und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Neuwied u.a., Loseb.-Ausg., Kap. A.2, S.2 (Hervorhebung durch den Autor).

9) Bahr, a.a.O. (Anm. 5), S.87.

10) Wulf Lapins (2007): Demokratieförderung in der Deutschen Außenpolitik, Berlin, FES, S.16.

Dr. Arne C. Seifert, Botschafter a. D., ist Mitglied des Vorstands des Verbands für internationale Politik und Völkerrecht, Berlin