Sicherheitspolitik in den Nachfolgestaaten der UdSSR

Sicherheitspolitik in den Nachfolgestaaten der UdSSR1

von Hans-Henning Schröder

Die Auflösung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken im Dezember 1991 war Endpunkt eines 1986/87 angelaufenen Politisierungsprozesses. Das Erstarken politischer Bewegungen, die nationale oder regionale Interessen vertraten, entzog dem Zentrum Schritt um Schritt den Boden. In der zweiten Hälfte des Jahres 1990 wurde klar, daß die notwendigen Veränderungen des Wirtschafts- und Herrschaftssystems nur noch von den Republiken ausgehen konnten und nicht mehr von einer Unionsregierung, die sich allein auf die verknöcherte Bürokratie der alten Machtapparate stützte. Der dilettantisch vorbereitete Umsturzversuch einer Handvoll Konservativer im August 1991 beschleunigte die Auflösung der Zentralmacht lediglich.

Doch der zerfallene Sowjetstaat hinterließ ein brisantes Erbe: eine bankrotte Wirtschaft, Armut und soziale Spannung, Nationalismus, dazu ein überdimensioniertes Waffenarsenal, aus dem sich nationale Formationen, Parteimilizen und paramilitärische Verbände jeglicher Couleur bedienen konnten. Der Untergang der Union hat zwar die Wahrscheinlichkeit eines »großen Krieges« zwischen den Supermächten radikal gesenkt, stattdesen sind aber regionale Krisen und begrenzte bewaffnete Konflikte eine reales Problem.

Die Herausbildung politischer Strukturen in den GUS-Staaten

Die Auflösung der alten Union, die im Jahre 1922 formell gegründet wurde, hinterließ ein Vakuum. Die Republiksregierungen erzielten keine Einigkeit bei dem Versuch, eine neue, alle souveränen Einzelstaaten einschließende Struktur zu schaffen. Auf der anderen Seite gibt es jedoch eine Vielzahl von Problemen, die die Republiken nur gemeinsam lösen können. Dazu gehört vor allem die Organisation ökonomischer Zusammenarbeit, die angesichts einer Verflechtung der regionalen Wirtschaftsbereiche und durch die gegenseitigen Abhängigkeiten der Republiken notwendig ist. Im Konsens müssen auch die Grenz- und Minderheitenfragen gelöst werden. Um die Kontrolle über die Atomwaffen zu gewährleisten, ist wenigstens die Zusammenarbeit der vier Stationierungsstaaten – Rußland, Kasachstan, Belarus und die Ukraine – erforderlich. Auch bei der Aufteilung des Unionsvermögens – darunter die Streitkräfte – ist ein Mindestmaß von Abstimmung unabdingbar.

Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), in der sich elf der fünfzehn früheren Unionsrepubliken zusammengeschlossen haben2, hat bisher jedoch keine politische Struktur geschaffen, die die Kompetenz hätte, solche Aufgaben zu lösen. Die Herausformung politischer Systeme in den GUS-Republiken verläuft regional ganz unterschiedlich. Formen politischer Auseinandersetzung entwickelten sich verschiedenartig – je nach Tradition, Sozialstruktur, nationaler Gemengelage und wirtschaftlichem Problemdruck. In einer Reihe von Regionen kam es zu einer Militarisierung von interethnischen Auseinandersetzungen. Nationale Gruppierungen bewaffneten sich und suchten etwa in den Konflikten um Südossetien (Georgien), Transnistrien (Moldowa), in Nagornyj Karabach (Armenien/Aserbejdshan) oder bei Streitigkeiten um Boden- und Wasserrechte in Mittelasien Lösungen gewaltsam zu erzwingen. Demgegenüber werden zwischen Rußland und der Ukraine oder Rußland und den baltischen Republiken Konflikte auf politischem Wege ausgetragen. Es zeichnet sich ab, daß infolge der unterschiedlichen Entwicklung politischer Systeme auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion Zonen unterschiedlicher Sicherheit entstehen – Regionen, in denen die politischen Kräfte bereit sind, nach friedlichen Regelungen für Konflikte zu suchen, und solche, in denen Gruppierungen dominieren, die willens sind, ihre Ziele militärisch durchzusetzen.

Sicherheitspolitische Bedrohungsvorstellungen

Der Wandel der politische Lage – gekennzeichnet durch den Zerfall des östlichen Militärbündnisses, das im Juni 1991 endgültig liquidiert wurde, und die Auflösung der Union Ende 1991 – führte auch innerhalb der GUS zu einer Umwälzung in den Bedrohungsvorstellungen. Die äußere Gefahr – die Bedrohung durch den »Imperialismus« – spielte im Bewußtsein von Öffentlichkeit und politischen Eliten keine Rolle mehr, stattdessen setzte sich die Erkenntnis durch, daß die innenpolitische Entwicklung ganz erhebliche Risiken barg. Zudem entstanden mit der Ausformung nationaler und regionaler Identitäten neue Feindbilder – der unmittelbare Nachbar wurde als neuer Gegner entdeckt.

Analysiert man die Bedrohungsszenarien, die in der Öffentlichkeit diskutiert wurden, wird deutlich, daß eine äußere Gefahr nicht perzipiert wird. Eine Sicherheitsgefährdung durch die NATO etwa, oder durch ein erstarktes Deutschland spielt im Denken der politischen Akteure praktisch keine Rolle mehr. Auch jene Szenarien, die den Verlust der Kontrolle über Atomwaffen thematisieren und die in der westlichen Öffentlichkeit herausgestellt werden, rufen in den Republiken augenscheinlich keine ernsthafte Besorgnis hervor.

Sorgen verursacht dagegen die innere Entwicklung:

  • Die wachsende ökonomische Krise, die zu massiven sozialen Spannungen führen und die politischen Strukturen destabilisieren wird.
  • Die Regionalisierung der politischen Zusammenhänge und des Wirtschaftsraums: eine Auflösung der bisher existierenden ökonomischen und politischen Zusammenhänge, die einhergeht mit stärkerer Verselbständigung einzelner Regionen – nicht allein nach ethnischen Merkmalen, sondern auch nach geographischen (neben Tatarstan oder Baschkortostan entwickeln innerhalb von Rußland z.B. auch Sachalin, die St.Petersburger oder die Fernost-Region spezifische Eigeninteressen).
  • Zwischennationale und interethnische Probleme, die sich mit dem weiteren Zerfall der Volkswirtschaft verschärfen werden. Dabei scheint die Situation in den Republiken unterschiedlich: In der Ukraine und Belarus gibt es zwar nationale Minderheiten, doch erwarten die Politiker dort einstweilen keine gefährlichen Spannungen. Lediglich die Krim-Frage scheint ein Problem darzustellen. In Rußland stellen Politiker die Gefahr einer Regionalisierung in den Vordergrund, die sich teilweise auch mit dem Erstarken nationaler Bewegungen in den autonomen Republiken überschneidet. Es droht der Zerfall der Russischen Föderation. In einer Reihe von Republiken – Georgien, Moldowa, Aserbejdshan und Armenien – herrscht offener Bürgerkrieg zwischen ethnischen Gruppen. Ein Ende der Kämpfe ist nicht abzusehen.
  • Vor dem Hintergrund der sozialen und ökonomischen Krise und des drohenden Zerfalls der politischen Strukturen in Rußland fürchten viele Politiker die Restauration autoritärer Strukturen. In Belarus etwa sieht man diese Gefahr sowohl für Rußland wie für die Ukraine, deren aktuelles Regime kritisch beobachtet wird. In der Ukraine sieht man die Gefahr einer autoritären Entwickung in Rußland. Dort wiederum mehren sich Stimmen, die fragen, ob eine autoritäre Ordnung nicht besser ist als ein soziales und ökonomisches Chaos.
  • Auch wenn eine akute Bedrohung durch die »Vereinigten Streitkräfte« nicht gesehen wird, besteht doch eine gewisse Sorge über das Unruhepotential, das ein sozial unterversorgtes Offizierskorps darstellen könnte. Die Vorsicht bei Schritten zur Truppenreduzierung ist auch von solchen Überlegungen bestimmt.
  • Diese Perzeption der politischen Entwicklung führte dazu, daß Politiker in Belarus und der Ukraine Besorgnis über Destabilisierungstendenzen in Rußland äußern und die Möglichkeit erörtern, daß sich dort ein Regime installieren könnte, das wieder eine imperiale und expansive Politik betreiben und die Souveränität der Republiken bedrohen würde.
  • Die Gefahr, daß Grenzprobleme Auslöser für Konflikte zwischen den Republiken werden könnten, wird in den drei slavischen Republiken Anfang 1990 vergleichsweise niedrig angesetzt. Zwar wird durchweg unterstrichen, daß die Grenzziehung zwischen den Republiken weder historisch noch ethnisch wirklich legitimiert sei, doch sprechen die verantwortlichen Politiker sich allesamt für eine pragmatische Behandlung dieser Frage – Wahrung des status quo – aus. Fragen wie die Zuordnung der Krim, die Herauslösung Transnistriens aus Moldowa oder der Status von Nagornyj Karabach zeigen allerdings, welcher Sprengstoff in der Grenzfrage steckt.

Die Entwicklung der Streitkräfte

Die innenpolitischen Probleme und die Vielzahl möglicher innerer Konflikte, die daraus erwachsen können, machen die rechtsstaatliche Einbindung und die sichere politische Kontrolle der bewaffneten Macht um so notwendiger. Beides aber war in den Anfangsmonaten des Jahres 1992 nicht gewährleistet.

Die Auflösung des alten Unionsvertrages entzog den sowjetischen Streitkräften die Rechtsgrundlage. Sie eliminierte auch die politischen Instanzen, die die Armee bisher kontrolliert hatten. Über Wochen hinweg agierten sowjetische Militärs in einem rechtsfreien Raum: Kriegsschiffe fuhren unter der Flagge eines nichtexistierenden Staates zur See, für die Stationierung von Land- und Luftstreitkräften auf dem Territorium der souveränen Republiken fehlte jegliche gesetzliche Basis. Die Instanzen, die bisher über Militärpolitik entschieden hatten und die für die Kosten der Militärmacht aufgekommen waren, existierten nicht mehr. Die Republiksregierungen standen unter dem Zwang, diese Probleme baldmöglichst und im Konsens zu regeln.

Neuordnung der militärischen Strukturen: die »Vereinigten Streitkräfte«

Nach der Auflösung der Union setzten die Staatsoberhäupter der GUS-Staaten zunächst einen kommissarischen Oberbefehlshaber für die ehemals sowjetischen Truppen – nunmehr die »Vereinigten Streitkräfte« – ein3. Das Amt wurde dem bisherigen sowjetischen Verteidigungsminister Schaposchnikow anvertraut, der innerhalb der Armee Autorität besaß und sich durch sein besonnenes Verhalten während des Putschversuches im August 1991 empfohlen hatte. Die Ernennung wurde im Februar 1992 formell bestätigt; Schaposchnikow wurde regulärer Oberbefehlshaber der »Vereinigten Streitkräfte« der GUS.4 Die militärische Führung war durch die Auflösung der Union zunächst nicht direkt berührt. Dieser Schritt war dann die Legalisierung eines seit längerem existierenden Faktums. Schaposchnikow übernahm die gesamte Führungsstruktur – das sowjetische Verteidigungsministerium, das nun in »Vereinigtes Oberkommando« umbenannt wurde, ebenso wie den Generalstab. Neben den laufenden Fragen – Gewährleistung der Versorgung der Truppe und Fortführung des Ausbildungsbetriebs – war die alte neue Führung vorrangig mit zwei Aufgaben konfrontiert: die Entwicklung von Streitkräftestrukturen, die der neuen politischen Struktur angepaßt waren, und die operative Umsetzung der Abrüstungsvereinbarungen, die die Sowjetunion unterzeichnet, jedoch nicht mehr ratifiziert und verwirklicht hatte.

Als Grundmuster der neuen Streitkräftestruktur bildete sich bald eine Zweiteilung der bewaffneten Macht heraus: auf der einen Seite die »strategischen Kräfte«, die dem Vereinigten Oberkommando unterstellt waren und jene Verbände umfaßten, die zur Lösung strategischer Aufträge eingesetzt werden konnten; auf der anderen Seite die konventionellen Kräfte, die alle anderen Verbände umfaßten, soweit sie nicht den Republiken unterstellt wurden. Das Oberkommando und die russische Regierung beabsichtigten zunächst, den Löwenanteil der Streitkräfte den strategischen Kräften zu unterstellen: neben den nuklear bewaffneten Verbänden die gesamte Seekriegsflotte, die Luftverteidigung, die Luftlandeverbände samt den dazugehörigen Rückwärtigen Diensten. In diesem Falle hätten die Republiken nur noch Zugriff auf Zivilverteidigung und einen kleinen Teil der Landstreitkräfte gehabt. Gegen diese Definition setzten sich die Ukraine und in der Folge auch andere Republiken wie Belarus und Moldowa energisch zur Wehr, da sie durch eine solche Aufteilung die Möglichkeit verloren hatten, selbst schlagkräftige Truppen aufzustellen. Aufgrund der Widerstände kam es bei den Treffen der Staatsoberhäupter der GUS nicht zu einer inhaltlichen Einigung über den Bestand der strategischen Kräfte. Ihre Aufstellung wurde zwar beschlossen, die genaue Abgrenzung dieser Streitmacht sollte jedoch in bilateralen Abkommen zwischen dem Oberkommando und der jeweiligen Stationierungsrepublik ausgehandelt werden.5

Diese Abmachung war symptomatisch für die gemeinsame Militärpolitik der GUS-Staaten; zwar wurden während der Gipfel in Minsk und Kiev eine Reihe von Abkommen getroffen6, doch gelang es den Vertretern der Ukraine und einiger anderer Republiken, alle Regelungen zu verhindern, die sie beim Aufbau eigener Streitkräfte eingeschränkt hätten. Das traf auch für die Frage der Finanzierung zu. Die Vereinigten Streitkräfte benötigten ständig Mittelzuweisungen, um wenigstens die laufenden Kosten zu decken. Es konnte aber kein Wehrbudget für 1992 verabschiedet werden, da die Vertreter der Republiken sich nicht über die Aufteilung der Finanzlast einig waren. Eine Reihe von Republiken lehnte es ab, für die nichtstrategischen Kräfte der GUS zu zahlen, da sie die Mittel für den Aufbau eigener Armeen nutzen wollten. Da sich die GUS-Staaten aber auch nicht über die Definition der strategischen Kräfte hatten einigen können, konnten auch Militärausgaben für diesen Bereich nicht aufgeteilt werden. Für die laufenden Ausgaben der Streitkräfte kam daher die Russische Föderation auf.

Hier zeichnete sich schon eine Entwicklungstendenz ab: Rußland übernimmt die Finanzierung und – über kurz oder lang – auch die politische und operative Kontrolle über die Masse der Vereinigten Streitkräfte. GUS-übergreifende Streitkräftestrukturen wird es voraussichtlich nur noch solange geben wie nuklear bewaffnete Verbände außerhalb Rußlands stationiert sind und ein überrepublikanisches Kommando notwendig machen. Spätestens mit der Erfüllung des START-Vertrages im Jahre 1994 wird dies nicht mehr der Fall sein.

Zum Stand des Aufbaus republikseigener Streitkräfte

Seit dem Treffen in Minsk im Februar 1992 war öffentlich erkennbar, daß die Führungen aller drei slavischen Republiken sich darauf einrichteten, eigene Streitkräfte aufzubauen.

In Rußland hatte sich im Frühjahr 1992 in der Öffentlichkeit und bei Politikern weitgehend die Auffassung durchgesetzt, daß die Masse der sowjetischen Streitkräfte im Grunde Rußland gehörten, frei nach dem (häufig zitierten) Motto: „Wer zahlt, bestellt auch die Musik.“ Eine spezifisch russische militärische Struktur existierte zwar anfangs nicht, doch am 16. März 1992 schuf Jelzin durch Erlaß ein russisches Verteidigungsministerium7, dessen Führung zunächst der Präsident selber übernahm. Die Bildung russischer Streitkräfte wurde für den Mai geplant. Zu ihrem Umfang wurden im Februar Zahlen um eine Million Mann genannt (mit einer Bandbreite zwischen 0,5 und 1,5 Mio. bei verschiedenen Sprechern), im April pendelte sich diese Zahl bei 1,2-1,3 Mio. ein.

In der Republik Belarus existierten Anfang 1992 ebenfalls keine republikseigenen Streitkräfte. Die belorussische Führung erklärte jedoch ihre Absicht, im Laufe der nächsten beiden Jahre eine eigene Armee aufzubauen. Die Streitkräfte sollen auf Basis der Verbände gebildet werden, die dem Belorussischen Wehrkreis unterstellt sind. Die Angaben über den geplanten Umfang schwanken zwischen 70-80 000 bzw. 150 000.

Die Ukraine verfügt bereits über verschiedene Formationen: reguläre Streitkräfte, die auf Basis der Truppen des Kiever, Odessaer und Karpatenwehrkreises formiert werden, Grenztruppen (auf Basis der sowjetischen Grenztruppen, 25 000 Mann) sowie eine Nationalgarde (auf Basis der Inneren Truppen und stark dem Präsidenten attachiert, derzeit etwa 10 000 Mann). Über die angestrebte Truppenstärke der regulären ukrainischen Armee kursieren unterschiedliche Zahlen. Nach Angaben des Stabschefs sind in der Ukraine derzeit 600 000 Mann stationiert, die bis 1994-95 auf 300 000 reduziert werden sollen. Aus dem Außenministerium wird eine letztendlich wünschbare Stärke von 100 000 genannt.

Bewaffnete Verbände ganz unterschiedlichen Charakters entstanden in einer Reihe von anderen Republiken. So stellten Moldowa, Aserbejdshan und Armenien eigene Armeen auf, viele Präsidenten schufen sich Nationalgarden, die – wie etwa in Georgien oder in Tadzhikistan – auch gegen die eigene Bevölkerung einsetzbar waren. Republiken, die sich neu bildeten, wie Transnistrien oder Tschetscheno-Inguschetien, organisierten in der Regel rasch bewaffnete Selbstschutzeinheiten. Daneben entstanden Parteimilizen und paramiltärische Verbände, wie etwa die Kosakentruppen, die unlängst den transnistrischen Selbstschutz gegen die moldawische Armee unterstützten.8 Diese unkontrollierte und regellose Militarisierung in den Einzelrepubliken ist außerordentlich gefährlich und kann regional zu Bürgerkriegen jugoslawischen Musters führen.

Die politische Rolle der Militärs

Welche Rolle Führer von Parteimilizen und paramilitärischen Verbänden in den Krisenregionen spielen, ist von außen kaum zu beurteilen. Man muß aber davon ausgehen, daß sie aufgrund ihrer militärischen Machtstellung im Verlaufe von politischen Konflikten wie z.B. in Georgien oder Transnistrien nicht ohne Einfluß sind.

Die Rolle regulärer Militärs scheint nicht in allen Einzelrepubliken gleich zu sein. In der Ukraine übt das Militär offenbar keinen nennenswerten Einfluß auf politische Entscheidungen aus. In Belarus, das noch keine eigene Armee hat, stellen die dort stationierten Truppen einen Fremdkörper dar, der – wenigstens im sozialen Bereich – erheblichen Druck ausüben könnte. In Rußland ist der direkte politische Einfluß der Militärs sehr viel deutlicher spürbar. Gegen den Widerstand des Oberbefehlshabers der Vereinigten Streitkräfte, Schaposchnikow, der offenbar bemüht ist, das Militär aus der Politik herauszuhalten, suchen Offiziersgruppen das Gewicht der Streitkräfte fühlbar zu machen. Die GUS-weite Offiziersversammlung Mitte Januar 1992 und die Bildung eines Koordinierungsrates, der als ständiges Vertretungsgremium dieser Versammlung fungiert, zeigt in diese Richtung. Solche Bestrebungen werden bisher jedoch durch eine besonnene militärische Führung eingedämmt. Allerdings stellt das Offizierskorps ein erhebliches Unruhepotential dar: angesichts der inflationären Preisentwicklung unterbezahlt, oft ohne Wohnung für die Familie, außerhalb Rußlands in Konflikt mit der Bevölkerung der Stationierungsgebiete macht sich bei den Offizieren eine Stimmung breit, die viele Berufssoldaten für ein »Durchgreifen« und die »Wiederherstellung der Ordnung« plädieren läßt. Sollte die Wirtschaftskrise sich weiter verschärfen, könnte ein Militärputsch, der von solchen Kräften getragen wird, in Rußland wohl sogar mit Unterstützung in der Öffentlichkeit rechnen.

Rüstungsproduktion und Rüstungsexport

Angesichts knapper Mittel und geplanter Truppenreduzierungen geht die Rüstungsbeschaffung stark zurück. Dieser Trend wird sich in Zukunft noch stärker ausprägen. Das wirft für die Rüstungsindustrie und jene Regionen, in denen diese Produktion konzentriert ist, erhebliche Probleme auf.

Vor diesem Hintergrund scheint in den meisten Republiken quer durch die politischen Blöcke Konsens zu bestehen, daß der Export von konventionellen Waffen legitim ist. Dies trifft in Rußland auch für liberale Politiker wie Galina Starovojtova zu. Man muß also davon ausgehen, daß die Staaten der GUS – sofern der Weltwaffenmarkt es zuläßt – in großem Ausmaß konventionelle Waffensysteme exportieren werden. Dabei wird es sich zum einen um Systeme handeln, die durch Truppenreduzierungen frei werden und nicht im Rahmen der Vorgaben des KSE-Vertrages unbrauchbar gemacht werden müssen, zum anderen um die laufende Produktion der Rüstungsindustrie.

Die starke, republiksübergreifende Verflechtung des Rüstungssektors wird es vermutlich für einzelne Republiken wie die Ukraine unmöglich machen, eine selbständige Konversionspolitik zu betreiben. Im Moment scheinen die zuständigen Behörden den alten Konversionsansatz der sowjetischen Instanzen fortzusetzen – Aufrechterhaltung eines geschlossenen Rüstungskomplexes, Steigerung des zivilen Ausstoßes aus diesen Rüstungsbetrieben, staatlich vorgegebene Prioritäten für den Agrarbereich. Neu ist das Moment des Rüstungsexports, mit dem – so die geläufige Begründung – Konversion jetzt finanziert werden soll.

Allerdings ist es doch sehr fraglich, ob diese Strategie positive Wirkung haben wird. Die Konversionspolitik der letzten Jahre war jedenfalls ein Fehlschlag. Die Umstellungsprogramme haben nicht zu einer Besserung der Lage in den Regionen mit hoher Rüstungsproduktion geführt. Der wahrscheinliche Mißerfolg der Konversion bedeutet jedoch zugleich, daß die Gefahr des Abfließens hochqualifizierter Rüstungsspezialisten in Risikoregionen fortbesteht und sich noch verschärfen wird.

Folgen für die internationalen Beziehungen

Die Entwicklungen innerhalb der GUS haben in begrenztem Außmaße auch Folgen für die Außenwelt. Das betrifft zunächst vor allem die Frage, ob es gelingen wird, die Abrüstungsvereinbarungen, die die UdSSR in den letzten Jahren ihres Bestehens eingegangen ist – isnbesodnere KSE und START –, unter den neuen Bedingungen zu ratifizieren und in die Tat umzusetzen.

Soweit zu übersehen, sprechen sich alle betroffenen Republiken uneingeschränkt für die In-Kraft-Setzung des KSE-Vertrages aus. Deutlich ist der starke Wunsch, in europäische Strukturen integriert zu werden. Allerdings zeigt es sich, daß es eine Reihe von Stolpersteinen gibt:

  • Das Verfahren der Ratifizierung durch die verschiedenen Republiken ist unklar. In Rußland geht man davon aus, daß Rußland als Rechtsnachfolger der UdSSR ratifiziert, die übrigen Republiken dagegen nur zustimmen. In der Ukraine und Belarus geht man davon aus, daß natürlich die eigenen Parlamente ratifizieren.
  • Im Rahmen der durch den KSE-Vertrag festgelegten Obergrenzen für Waffensysteme besteht in den Republiken keine Einigkeit über die Verteilung von Quoten. Sie muß jetzt in bilateralen Abkommen zwischen den Einzelstaaten der GUS fixiert werden. Gespräche darüber werden derzeit auf Expertenebene geführt. Die Differenzen scheinen z.Z. noch erheblich. Z.B. kritisierten Vertreter des belorussischen Verteidigungsausschusses, daß Belarus im Rahmen der Quote 700 Kampfpanzer behalten dürfen solle, wähend es doch zu seiner Verteidigung 2 000 benötige. Der Ukraine wiederum gesteht der KSE Vertrag weit mehr Waffensysteme zu als Rußland lieb ist. Auch dies ist Gegenstand von Gesprächen zwischen den beiden Staaten.
  • In Belarus und der Ukraine entwickelten Politiker die Vorstellung, daß die nationalen Parlament den Verbleib jener Waffensysteme und Verbände kontrollieren sollten, die aus den Republiken nach Rußland abgezogen werden. Dies war vor allem auf die taktischen Atomwaffen bezogen, für deren Abtransport und Vernichtung kein internationales Regime festgelegt wurde. Doch legten eine Reihe von Sprechern auch Wert darauf, die Verlegung von Luftlandetruppen und anderen Eliteverbänden zu überwachen.

Die Umsetzung des KSE-Vertrags wird sich daher komplizierter gestalten als erwartet. Es ist abzusehen, daß das ursprüngliche Abkommen durch ein Netzwerk bilateraler Verträge ergänzt werden muß. Dies bedeutet jedoch nicht, daß im Raum der ehemaligen Sowjetunion die Gefahr einer neuen Hochrüstung besteht. Wahrscheinlich werden alle Republiken bei Aufstellung eigener Streitkräfte weit unter den durch den KSE-Vertrag festgelegten Obergrenzen bleiben. Allerdings könnte der Ausbau des Verifikations- und Kontrollsystems erschwert werden.

Was den START-Vertrag angeht, so scheint die Situation einfacher. Belarus und die Ukraine streben eine Politik der Atomwaffenfreiheit an und wollen daher die auf ihrem Boden stationierten Atomwaffen an Rußland abgeben. Die taktischen Atomwaffen sind bereits vollständig vom Territorium der Ukraine abgezogen. In Rußland strebt die Führung offenbar an, nach Konzentration der Nuklearwaffen auf dem Boden der Republik die Kontrolle über diese Systeme in die eigene Hand zu nehmen und das Vereinigte Oberkommando aufzulösen. Welches Konzept der russischen Nuklearkriegsplanung dann zugrunde liegen wird, ist bisher noch unklar.

Ein Problem stellt allerdings die Haltung Kasachstans dar. Kasachstan ist eine der vier Republiken, auf deren Boden strategische Systeme stationiert sind. Anders als Belarus und die Ukraine hat sich die kasachische Führung bisher geweigert, ihre Atomwaffen an Rußland abzugeben. Da Kasachstan nicht über die Kapazitäten verfügt, diese Waffen fortzuentwickeln und zudem nicht über die für eine Atommacht notwendigen Vorwarn- und Kommandostrukturen, ist es unwahrscheinlich, daß die Republik tatsächlich eine eigenständige Nuklearstrategie entwickeln und realisieren kann. Die Ziele der kasachischen Führung sind unklar, doch scheint es denkbar, daß sie die Atomwaffen als eine Art von »bargaining chip« benutzt, um der Republik, an der sonst niemand ein größeres Interesse hätte, auf internationalem Parkett eine stärkere Ausgangsposition zu verschaffen.

Mögliche sicherheitspolitische Risiken

Die Auflösung der Sowjetunion und die militärpolitische Entwicklung innerhalb der GUS haben dazu geführt, daß in Europa Zonen unterschiedlicher Sicherheit entstanden sind. Während für Mittel- und Westeuropa oder die USA eine strategische Bedrohung nicht mehr erkennbar ist, sind die Staaten der GUS wachsenden inneren Gefahren ausgesetzt.

Allerdings kann man wenigstens in den drei slavischen Republiken mit gewissen Einschränkungen mittelfristig mit einer kalkulierbaren Sicherheits- und Verteidigungspolitik rechnen. Zwar wird sich die GUS in absehbarer Zeit auflösen, doch sind die politischen Eliten der drei slavischen Republiken offenbar bereit, sich in europäische Strukturen zu integrieren und hier westlichen Vorgaben auch weit entgegenzukommen. Fragen der Abrüstung und der Kontrolle atomarer Systeme scheinen daher lösbar, auch wenn die notwendigen bilateralen Absprachen zwischen den Staaten der ehemaligen Sowjetunion den Verhandlungs- und Umsetzungsprozeß komplizieren und verlangsamen werden.

Erhebliche Gefahren gehen aber von anderer Seite aus:

  • von der schweren Wirtschaftskrise, die zu einer Verschärfung der sozialen Spannungen führt und die Herausbildung stabiler politischer Strukturen behindert;
  • von interethnischen Konflikten, die im Gefolge sozialer Spannungen entstehen werden. Dabei sind bewaffnete Konflikte zwischen den großen Republiken eher unwahrscheinlich, gerechnet werden muß jedoch mit einer Vielzahl lokaler Auseinandersetzungen nach dem Modell der Konflikte um Südossetien oder in der Tschetscheno-Inguschetischen Republik;
  • von einer Politisierung des Militärs; denn vor diesem Hintergrund ist es denkbar, daß Teile des Offizierskorps nach einer politischen Rolle streben und dabei auch den Einsatz von Gewalt in ihre Überlegungen einbeziehen. Dies würde die Entwicklung eines stabilen politischen Systems gefährden;
  • von der Herausbildung autoritärer Regime, die wenigstens in einem Teil der Republiken wahrscheinlich ist. Dabei kann es sich durchaus um Regimestrukturen handeln, die auf Konsens mit den Regierten angelegt sind und die oppositionellen Kräfte einbinden, demokratische Mechanismen aber außer Kraft setzen. Doch es sind auch Herrschaftsformen möglich, die sich auf die alten Gewaltapparate stützen. Eine Restauration der alten Sowjetunion scheint jedoch in absehbarer Zukunft unmöglich;
  • von dem Bestreben der Republiken, durch Verkauf von Waffen und Rüstungstechnologie Devisen zu erwerben. Dies ist erklärte politische Absicht und kann regional durchaus unerwünschte Folgen haben;
  • vom »brain drain« hochqualifizierter Rüstungsexperten, die in die Rüstungsindustrie dritter Staaten abwandern;

Gefahren solcher Art muß man, und das ist gewiß keine neue Erkenntnis, vor allem durch die – wirtschaftliche und politische – Einbindung der Einzelrepubliken in europäischen Strukturen begegnen, in deren Kontext dann weitere Maßnahmen, z.B. zur Eindämmung des »brain drain«, denkbar sind. Dies sind die Aufgaben, mit der EG, NATO und KSZE konfrontiert sind – und dies verlangt von ihnen eine grundlegende Neubewertung der Lage, die sich auch in einem Wandel von Aufgabenstellung und Struktur dieser Organisationen niederschlagen müssen.

Anmerkungen

1) Der Artikel basiert außer auf der laufenden Zeitschriftenliteratur vor allem auf Gesprächen, die der Verfasser im Februar 1992 während einer Informationsreise durch die Ukraine, Belarus und Rußland mit Sicherheitspolitikern und Militärs führen konnte. Zurück

2) Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen haben den Unionsverband ganz verlassen, die Stellung Georgiens im Verhältnis zur GUS ist vorläufig ungeklärt – eine Folge der politischen Wirren in diesem Staat. Zurück

3) Protokol Sovešcanija glav nezavisimych gosudarstv, in: Pravda, 23.12.1991, S.2. Zurück

4) Rešenie glav gosudarstv Sodruestva nezavisimych gosudarstv: O naznacenii Glavnokomandujušcego Ob-edinennymi Vooruennymi Silami Sodruestva, in: Krasnaja Zvezda, 18.2.1992, S.1. Zurück

5) Soglašenie me219du gosudarstvami-ucastnikami Sodruestva nezavisimych gosudarstv o statuse Strategiceskich sil, in: Krasnaja Zvezda, 19.2.1992, S.1, 5. Zurück

6) Vgl. Pravda, 23.12.1991, S.1-2; Diplomaticeskij Vestnik, 1992, Nr. 1, S. 3-10; Krasnaja Zvezda, 18.2.1992, S.1, 3; Krasnaja Zvezda, 19.2.1992, S. 1, 3, 5 Zurück

7) Ukaz Prezidenta Rossijskoj Federacii: O Ministerstve oborony Rossijskoj Federacii i Vooruennych Silach Rossijskoj Federacii, in: Vedomosti S-ezda Narodnych Deputatov Rossijskoj Federacii i Verchovnogo Soveta Rossijskoj Federacii, 1992, Nr.13 st. 678, S.925-926. Zurück

8) Die Entwicklung von paramilitärischen Verbänden vollzieht sich zu rasch als daß vollständige Angaben möglich wären; den Stand von 1991 gibt die Monographie der russisch-amerikanischen Universität wieder: Rossijsko-Amerikanskij Universitet: Vooruennye i voenizirovannye formirovanija v SSSR. Vzgljady. Pozicii. Dokumenty, Moskva 1991; zu den Kosaken vgl. Gehrmann, U.: Das Kosakentum in Rußland zu Beginn der neunziger Jahre: Historische Traditionen und Zukunftsvisionen, Köln, Januar 1992 (= Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien 11). Zurück

Dr. Hans-Henning Schröder, Referent für Sicherheits- und Rüstungspolitik der GUSS-Staaten am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln.

Konversion: Probleme und Perspektiven in der Sowjetunion

Konversion: Probleme und Perspektiven in der Sowjetunion

von Christa Vennegerts • Dietmar Pietsch

Vom 24.-31. Mai 1989 wurde erstmals eine deutsch-sowjetische Friedenswoche veranstaltet, die auf bundesdeutscher Seite vom Koordinierungsausschuß der Friedensbewegung organisiert wurde. Die inhaltliche Vorbereitung der einzelnen Veranstaltungen lag bei den einzelnen im Trägerkreis der Friedensbewegung vertretenen Organisationen.Die Fraktion der Grünen im Bundestag hat sich mit insgesamt drei Veranstaltungen beteiligt, darunter einer zu Fragen der Rüstungskonversion in der Bundesrepublik und in der Sowjetunion. Die sowjetische Seite war durch 3 Experten vertreten. Aus der Bundesrepublik haben u.a. Betriebsräte aus den Rüstungsbetrieben Krupp Mak, Kiel, Blohm & Voss, Hamburg und MBB, Bremen teilgenommen. Einige der dabei angeschnittenen Fragen und Probleme sollen im nachfolgenden Beitrag dargestellt werden.

Ursachen für Rüstungskonversion in der UdSSR

Die sowjetische Wirtschaft befindet sich in einem desolaten Zustand. Die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern des täglichen Bedarfs verschlechtert sich zusehens. Selbst die an sich wenig glaubwürdigen Angaben des CIA über die Wachstumschancen der sowjetischen Wirtschaft zeichnen nach neuesten Berechnungen sowjetischer Wirtschaftswissenschaftler ein geradezu sonniges Bild der Verhältnisse. Trotz der eingeleiteten Reformen hat sich die Versorgungssituation breiter Volksschichten eher verschlechtert als verbessert. Der Wirtschaftswissenschaftler und stellvertretende Ministerpräsident Abalkin befürchtet bereits, daß die Gesellschaft sich ådestabilisierenï könnte, wenn es nicht innerhalb von zwei Jahren gelinge, die Versorgung zu verbessern. Boris Jelzin sieht gar eine årevolutionäre Situationï heraufdämmern.

Auch wenn im Detail noch unklar ist, welche Maßnahmen zur Bewältigung der ökonomischen Krise den meisten Erfolg versprechen – eines scheint bei sowjetischen Politikern, Wissenschaftlern und den Menschen völlig unstreitig zu sein: Militärausgaben in Höhe von 77 Mrd. Rubel (=ca. 210 Mrd. DM) wird die UdSSR nicht weiter aufwenden können, wenn sich die ökonomische und damit letztlich die soziale Lage verbessern soll. Auf dem Volksdeputiertenkongreß kündigte Ministerpräsident Ryschkow bereits an, daß die sowjetische Regierung beabsichtigte, die Militärausgaben bis 1995 praktisch zu halbieren. Parallel dazu sollen die durch Waffenproduktion ausgelasteten Betriebe auf die Fertigung von Zivilgütern umgestellt werden.

Es sind jedoch nicht allein wirtschaftliche Gründe, die dem Thema Rüstungskonversion in der UdSSR eine bislang nicht gekannte Aktualität verleihen. Seit dem Amtsantritt Gorbatschows ist in die sowjetische Abrüstungspolitik eine Dynamik gekommen, die die Nato-Staaten abrüstungspolitisch völlig in die Defensive gebracht hat. Innersowjetisch ist eine Demontage überholter Verteidigungsdoktrinen in Gang gesetzt worden, die auf eine Verringerung und Defensivierung der Militärapparate hinausläuft. Diese Neuausrichtung bedingt gleichfalls eine Beschneidung geplanter Beschaffungsprogramme.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die geplante Umstellung von Rüstungsbetrieben in der UdSSR einerseits das Ergebnis einer wirtschaftlichen Notsituation, andererseits die Folge verstärkter Abrüstungsbemühungen ist.

Charakteristika der sowjetischen Rüstungsindustrie

Genaue Angaben über die Zahl der Rüstungsbetriebe und der dort Beschäftigten sind trotz Glasnost für ausländische und sowjetische Wissenschafler gleichermaßen unzugänglich. Der sowjetische Militär-Industrie-Komplex wird heute von 9 verschiedenen Ministerien organisiert. Die Kontrolle und Koordination der rüstungsrelevanten Industrien erfolgt durch die Militär-Industrielle Kommission bei dem Präsidium des Ministerrats der UdSSR. Nach Angaben des US-amerikanischen Verdeidigungsministeriums soll die Waffenproduktion in der UdSSR auf 150 Großbetriebe konzentriert sein. Weitere rd. 150 Großbetriebe sollen Ausrüstungsgegenstände, wie Radargeräte, Lastkraftwagen und Fernmeldegeräte herstellen. Die Kernbetriebe der Rüstungsindustrie werden durch tausende von Zulieferbetrieben ergänzt. Die Zahl der in der Rüstungsindustrie Beschäftigten wird auf einige Millionen Personen geschätzt. Gleichfalls US-amerikanische Quellen behaupten, daß etwa die Hälfte des für Forschung und Entwicklung zur Verfügung stehenden Personals für militärische Forschung eingesetzt wird.

Die sowjetische Industrie insgesamt ist durch eine pyramidenartige, vielstufige Struktur gekennzeichnet. Auf den oberen Ebenen der Pyramide befinden sich die Betriebe, die in der volkswirtschaftlichen Prioritätenskala der sowjetischen Planwirtschaft den höchsten Rang einnehmen. Diese Betriebe werden mit den qualitativ besten Ressourcen (Produktions- und Finanzmitteln, Arbeitskräften) ausgestattet. An der Spitze dieser Pyramide stehen die Rüstungsbetriebe.

Der hohe Rang, der der Rüstungsindustrie in der industriellen Prioritätenskala zukommt, hat zu einigen Besonderheiten geführt. Die Rüstungsindustrie erhält die besten Maschinen und Anlagen. In diesem Bereich werden höhere Löhne gezahlt und Sozialleistungen gewährt als in der zivilen Wirtschaft. Die Beschäftigten in Rüstungsbetrieben genießen Vorrang bei der Zuweisung von Wohnungen, die medizinische Versorgung ist besser.

Auch intern unterscheidet sich die Rüstungsindustrie erheblich von anderen Betrieben. Der Vorrang der Waffenbeschaffung ist so angelegt, daß das Verteidigungsministerium einen bestimmenden Einfluß auf die Entwicklung und Produktion neuer Waffensysteme hat. Für zivile Industrien verhält es sich genau umgekehrt. Eines der Hauptprobleme der sowjetischen Industrie ist die Vorherrschaft eines Verkäufermarktes und die Schwäche des Konsumenteneinflusses. Für die Betriebe besteht kein sonderlicher Anlaß, qualitativ den Konsumentenwünschen entsprechende Produkte zu fertigen und zu liefern. Hier unterscheiden sich Rüstungsbetriebe gravierend von der übrigen Wirtschaft.

In den Rüstungsbetrieben herrschen rigide Qualitätskontrollen. Das Militär entsendet Vertreter, die den gesamten Fertigungsvorgang kontrollieren, um sicherzustellen, daß das Rüstungsmaterial den militärischen Anforderungen entspricht. Diese Repräsentanten haben die Aufgabe, Engpässe durch rechtzeitige Bereitstellung von Ressourcen zu vermeiden, die Kostenentwicklung zu überwachen und auf die Einhaltung von Qualitätsstandards zu achten. Die Lieferung qualitativ minderwertiger Teile durch die Zulieferindustrie hat dazu geführt, daß die zuständigen Ministerien daran gingen entsprechende Produktionskapazitäten in den Rüstungsbetrieben aufzubauen und vorzuhalten. Dadurch soll mehr Unabhängigkeit von Zulieferanten und Sicherung der Produktqualität erreicht werden.

Auch der Maschinenpark in Rüstungsbetrieben besteht in der Regel aus modernen, technisch hochwertigeren Produktionsanlagen als in der übrigen Wirtschaft. So verfügen die Betriebe der Luftfahrtindustrie über große Bestände an numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen.

Zentrale Planung und Koordination bildet nur die eine Seite der qualitativ hochstehenden sowjetischen Rüstungsindustrie. Flankiert wird dieses System durch eine Vielzahl vor allem materieller Anreize für die Beschäftigten. Die Notwendigkeit, Anreizmechanismen zu entwickeln, die über die in der Volkswirtschaft bereits vorhandenen hinausgehen, ergibt sich aus den besonderen Arbeitsbedingungen in Rüstungsbetrieben. So schränken strenge Geheimhaltungsvorschriften die Privatsphäre der Beschäftigten über das ansonsten in der Wirtschaft verbreitete Maß weiter ein. Auch lassen sich hochqualifizierte Arbeiter und technisches Leitungspersonal nur bei überdurchschnittlicher Entlohnung gewinnen und motivieren. So liegt der Grundlohn für Arbeiter in der Flugzeugindustrie um ca. 7% über dem im Maschinenbau, wobei die in der Rüstungsfertigung gezahlten Prämien noch nicht eingerechnet sind.

Konversionsplanung in der UdSSR

In seiner vielbeachteten Rede vor der 43. UN-Generalvollversammlung hat Generalsekretär Gorbatschow alle Staaten, vor allem die großen Militärmächte aufgefordert, nationale Konversionspläne vorzulegen und von Wissenschaftlern einen zusammenfassenden Bericht für die UNO erarbeiten zu lassen. Darüberhinaus erklärte er: „Die Sowjetunion ihrerseits ist bereit,

  • im Rahmen der Wirtschaftsreform einen eigenen inneren Konversionsplan aufzustellen;
  • im Verlauf des Jahres 1989 als Experiment Konversionspläne für zwei bis drei Betriebe der Verteidigungsindustrie aufzustellen;
  • ihre Erfahrungen bei der Arbeitsvermittlung für Fachleute aus der Rüstungsindustrie sowie bei der Verwendung der entsprechenden Ausrüstungen, Gebäude und Anlagen für die zivile Produktion zu veröffentlichen.“

Auf dem Volksdeputiertenkongreß ist diese Aussage durch eine Grundsatzentschließung weiter konkretisiert worden: 60% der Waffenkombinate, Bomberproduktionsstätten und Panzerfabriken sollen åkonvertiertï werden. Der Ministerrat wurde aufgefordert, einen Sozialplan und einen Plan für die Umstellung der Rüstungsproduktion auf Konsumgüter vorzulegen.

Zur Behebung der akuten Versorgungsnöte soll die Rüstungsindustrie mitwirken beim Aufbau eines Maschinensystems für Ackerbau und Viehhaltung, damit die Vollmechanisierung der Landwirtschaft abgeschlossen und die Produktivität der ländlichen Bevölkerung gesteigert werden kann. Nach Aussage von Gorbatschow vor der 27. Konferenz der Moskauer Stadtparteiorganisation arbeiten die Rüstungsbetriebe z.Zt. intensiver an Aufträgen für die Leicht- und Lebensmittelindustrie, als an Aufträgen für Kampfflugzeuge.

Die Herstellung ziviler Güter ist für viele sowjetische Rüstungsbetriebe kein unbekanntes Terrain. Auf dem 24. Parteikongreß der KPdSU berichtete Breschnew, daß 42% der von Rüstungsbetrieben hergestellten Güter zivilen Zwecken diene.

Die dem Ministerium für Maschinenbau angegliederten Rüstungsbetriebe liefern seit Jahren ein buntes Sammelsurium verschiedener Zivilprodukte. Jährlich 1000 verschiedene zivile Güterarten werden hergestellt und abgesetzt: 1989 2 Millionen Kühlschränke, 2,6 Millionen Fahrräder, 3 Millionen Waschmaschinen, 700.000 Erzeugnisse der Unterhaltungselektronik, 730.000 transportable Benzinmotorsägen und 440.000 Elektroherde. Selbst so kurios anmutende Produkte wie abwaschbare Tapeten, Lampen und Hockeyschläger werden in Rüstungsbetrieben gefertigt. 1990 soll sich die Produktion ziviler Industriegüter um 50% erhöhen und zwar vorwiegend durch neue Erzeugnisse.

Ob dies gelingen wird, ist mit großen Fragezeichen versehen.

Unabhängig von den Erfolgsaussichten stimten die Teilnehmer des Seminars darin überein, daß

  1. nationale, regionale und betriebliche Umstellungsprogramme bereits hier und heute vorbereitet und ausgearbeitet werden müssen, unabhängig davon, ob international bereits weitergehende Abrüstungsmaßnahmen vereinbart wurden.
  2. Konversionspläne sowohl von staatlicher als auch betrieblicher Seite erstellt werden müssen. Ohne eine staatliche Rahmenplanung wird Konversion weder in der UdSSR noch in der Bundesrepublik realisiert werden können.
  3. Konversion eingebettet sein muß in eine regionale Entwicklungsplanung.
  4. die Voraussetzungen für Konversion in der UdSSR und der BRD sich unterscheiden: In der UdSSR besteht eine unbefriedigte Nachfrage; das Konsumgüterangebot ist unzureichend. In der Bundesrepublik sind die Grundbedürfnisse weitgehend befriedigt und Teile der Märkte gesättigt.

Zwischen den bundesdeutschen und den sowjetischen Teilnehmern ist vereinbart worden, in der näheren Zukunft gemeinsame Fallstudien zur Konversion auf betrieblicher und regionaler Ebene zu erarbeiten. Zur Weiterführung dieser Arbeit wird eine Gruppe von Betriebsräten und Grünen im Herbst in die Sowjetunion reisen.

Christa Vennegerts ist Bundestagsabgeordnete der Grünen; Dietmar Pietsch, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion.

Trojanische Pferde des Westens?

Trojanische Pferde des Westens?

Russlands »Denkfabriken« – Masse statt Klasse

von Peter Linke

In den letzten Jahren schossen sie wie Pilze aus dem Boden – politische »Denkfabriken« verschiedenster Coleur: politologische Forschungszentren, die den innen- und außenpolitischen Gegebenheiten Russlands intellektuell Gestalt und Struktur verleihen möchten; Meinungsforschungsinstitute, die behaupten zu wissen, was Russlands »große« und »kleine« Leute wirklich denken; Consulting-Agenturen, die mit vermeintlichem Insider-Wissen das große Geld verdienen wollen.

Denkfabriken sind in, gelten als anstrebenswerte Karriere-Option: Allein in den letzten fünf Jahren hat sich der »Ausstoß« von Aspiranten und Doktoranten im Fachbereich Politologie verdreifacht; entsprechend zugenommen hat die Zahl erfolgreich verteidigter Dissertationen.1 Selbst für viele Politiker und Manager gehört es inzwischen zum guten Ton, ein »Doktor der Gesellschaftswissenschaften« zu sein.

Vor allem westliche Beobachter feiern Russlands neue »Denkfabriken« als Keimzellen wahrhaft pluralistisch-demokratischer Umgangsformen zwischen den Menschen nach Jahrzehnten totalitärer Gleichschaltung.2

Rückblick: Die sowjetischen Denkfabriken

»Denkfabriken« gab es freilich schon in der Sowjetunion. Und Außen- bzw. Wirtschaftspolitik war ihr bevorzugter Arbeitsgegenstand: Konfrontiert mit Nikita Chruschtschows Forderung nach Koexistenz und Wettbewerb mit dem kapitalistischen Westen, kam die Partei- und Staatsführung nicht umhin, sich für die konkreten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs zu interessieren. Der wachsenden Nachfrage nach entsprechenden Analysen entsprach das Sekretariat der Akademie der Wissenschaften der UdSSR im Frühjahr 1956 mit der Gründung eines »Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen« (IMEMO).

Die zunehmende Globalisierung der sowjetischen Außenpolitik und daraus resultierende Konfrontation mit den USA veranlasste die Akademie der Wissenschaften in den späten fünfziger und sechziger Jahren, eine Reihe regionalspezifischer Forschungseinrichtungen ins Leben zu rufen, darunter 1959 ein Afrika-Institut (IA), 1961 ein Lateinamerika-Institut (ILA), 1961 ein Institut zur Erforschung der Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems (IEMSS) sowie 1966 ein Fernost-Institut (IDW). 1967 kam es zur Gründung eines speziellen Instituts für USA- und Kanada-Studien (ISKAN). Zunächst befasst mit komplexen Untersuchungen zur wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung Nordamerikas, avancierte es später in enger Zusammenarbeit mit dem IMEMO zur zentralen sowjetischen »Denkfabrik« für strategische und konventionelle Rüstungsangelegenheiten, Umweltfragen sowie »Nord-Süd«-Beziehungen. Schließlich und endlich reagierte die Akademie auf die wachsende wirtschaftliche und politische Integration Westeuropas mit der Schaffung eines so genannten Europa-Instituts (IEAN) im Jahre 1988.

Während sich all diese Institute ausschließlich Forschungsaufgaben widmeten, kümmerte sich das 1944 gegründete Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) um die Ausbildung des außenpolitischen Nachwuchses, versorgte aber auch seinen Arbeitgeber, das sowjetischen Außenministerium (MID), regelmäßig mit aktuellen Analyse-Papieren, die in einem so genannten Problem-Laboratorium erarbeitet wurden.

„Die Rolle der sowjetischen Denkfabriken bei der Formulierung innen- und außenpolitischer Leitlinien sollte weder über- noch unterschätzt werden“, resümiert Mitte der neunziger Jahre ein langjähriger Mitarbeiter des IDW. „Führende Forschungsinstitute nahmen sowohl im akademischen als auch politischen Leben eine prominente Stellung ein. Die Direktoren des IMEMO und ISKAN waren Mitglieder des Zentralkomitees der KPdSU und verbrachten viel Zeit damit, Veränderungen in der Politik und daraus resultierende »heiße« Forschungsthemen auszumachen. Sie gehörten hochrangigen offiziellen Delegationen an. Die meisten Direktoren von Forschungsinstituten unterhielten persönliche oder berufliche Beziehungen zu altgedienten ZK-Mitgliedern. Die staatliche Entscheidungsfindungsmaschine war jedoch so ungeheuer groß und rigide, dass es eher schwer fällt, von einer direkten Einflussnahme selbst führender »Denkfabriken« auf den Prozess der Entscheidungsfindung zu sprechen.“3

Den Anfang vom Ende der Dominanz akademischer »Denkfabriken« bei der Erarbeitung außen- und wirtschaftspolitischer Konzepte läutete Michail Gorbatschows Perestrojka ein. Angesichts des ungeheuren Problemdrucks erschienen dem neuen Kreml-Herrn die überkommenen Forschungseinrichtungen als Dinosaurier: zu groß, zu langsam, zu wenig anpassungsfähig. Gefordert wurden schlanke und geschmeidige Strukturen, in denen nicht Hunderte, sondern einige wenige Analysten, nicht langfristig, sondern kurzfristig, nicht akademisch komplexe, sondern praktisch verwertbare Studien auf den Tisch packen.

1990: Tendenz zu nichtakademischen Denkfabriken

Zu den ersten »Denkfabriken«, die versuchten, politische Analyse-Arbeit jenseits der etablierten akademischen Strukturen zu organisieren, gehörten das 1990 von Ex-Premier Jegor Gajdar gegründete Institut für wirtschaftliche Probleme der Übergangsperiode (IEPPP), das im gleichen Jahr von JABLOKO-Chef, Grigorij Jawlinskij, initiierte Zentrum für wirtschaftliche und Politische Studien (EPIzentr) sowie die 1991 von Ex-Außenminister Eduard Schewardnadse ins Leben gerufene Außenpolitische Assoziation (WA), unter dessen Dach eine Reihe lose miteinander verbundene Analysten-Gruppen zu sicherheitsstrategischen, ethnopolitischen und ökologischen Problemen zu arbeiten begannen.

Diese und weitere, insbesondere nach dem Ende der Sowjetunion entstandene nicht-akademische »Denkfabriken« – allen voran das 1992 von Präsident Boris Jelzin per Dekret gegründete Russische Institut für Strategische Studien (RISI)– sollten den traditionellen Forschungsinstituten das Leben merklich erschweren.

Unterfinanzierung der Akademien

Hinzu kamen erhebliche finanzielle Probleme: Waren bis Ende der achtziger Jahre 97 Prozent aller Forschungsmittel aus dem Staatshaushalt gekommen, sollten es 1999 nur noch 49 Prozent sein.4 Im Jahre 2000 standen der Russischen Akademie der Wissenschaften knapp 300 Millionen US-Dollar zur Verfügung, was rund 18 Prozent der Budgetmittel der Akademie der Wissenschaften der UdSSR entsprach. Von diesen 300 Millionen kamen 29 Prozent aus nicht-staatlichen Quellen, 6,7 Prozent aus Mieteinnahmen und 12,1 Prozent aus diversen Ministerien.5 Mit anderen Worten: dem Russischen Staat war seine Akademie der Wissenschaften nicht mehr als 150 Millionen US-Dollar wert.

Die chronische Unterfinanzierung der Akademie der Wissenschaften bewirkte in den letzten Jahren eine nachhaltige Fragmentierung großer Forschungsinstitute in diverse Forschungszentren, deren Handvoll Mitarbeiter eher »Projekt-Manager« denn Forscher sind.

Wachsende Auslandsabhängigkeit

Beschleunigt wird diese Entwicklung durch diverse ausländische Geldgeber, die es in der Regel vorziehen, mit kleinen, überschaubaren Analyse-Strukturen zusammenzuarbeiten. Einige Studien beziffern den Anteil ausländischer Investitionen in russische Forschungsprojekte für das Jahr 1999 mit 16,9 Prozent.6 Andere unterstreichen das besondere Engagement US-amerikanischer Finanziers, die seit Mitte der neunziger Jahre Russlands Wissenschaftler mit jährlich 350 Millionen US-Dollar unterstützt haben sollen.7

Auf alle Fälle unbestritten ist die hohe Abhängigkeit vieler, insbesondere in den neunziger Jahren entstandener politologischer Forschungszentren von ausländischen Geldgebern.8 Nur wenige, wirklich etablierte »Denkfabriken« wie das RISI werden großzügig aus dem Staatshaushalt finanziert oder aus den Töpfen der russischen Privatwirtschaft, wie das Anfang 2002 von Michail Chodorkowskij aus der Taufe gehobene Institut für Angewandte Internationale Studien (IPMI).

Präsident Wladimir Putin hat wiederholt klargestellt, dass Russlands Reformbemühungen ohne Spitzenleistungen auf wissenschaftlich-technischem Gebiet zum Scheitern verurteilt sind. Mit der unlängst erfolgten Gründung eines Ministeriums für Wissenschaft und Bildung sollen die personellen Voraussetzungen für derartige Spitzenleistungen geschaffen werden. Allerdings: Über den Zusammenhang zwischen erfolgreicher Reformpolitik und humanwissenschaftlicher Forschung hat Russlands Staatsoberhaupt bisher kaum ein Wort verloren.

Die offensichtliche präsidiale Geringschätzung humanwissenschaftlicher Forschung manifestiert sich nicht zuletzt in der Tätigkeit russischer politischer »Denkfabriken«.

Natürlich gibt es einige, die meinungsbildend bis in »höchste Kreise« wirken und deshalb zu recht als sichere »Karriere-Bank« gelten, etwa das bereits erwähnte RISI, aber auch die Ende 1999 von Handels- und Wirtschaftsminister German Gref gegründete Stiftung »Zentrum für strategische Studien« (F-ZSR).

Auch scheinen einige der neu gegründeten quasi-akademischen »Forschungszentren« den Sprung ins pralle Leben geschafft zu haben, wie das 1992 aus dem IMEMO hervorgegangene Zentrum für geopolitische und militärische Prognosen (ZGWP) oder das unter dem Dach des Afrika-Instituts operierende Zentrum für Strategische und Globale Studien (ZSGI).

Selbst das MGIMO hat dank geschickter Kommerzialisierung seiner Lehrangebote seine Stellung als führende außenpolitische Kaderschmiede gegen eine Reihe neu gegründeter IP-Lehrstühle, insbesondere an den Universitäten Moskau, Sankt Petersburg und Nishnij Now-gorod, behaupten können.

Gleichzeitig bleibt die Abhängigkeit dieser und vieler anderer »Denkfabriken« von westlichen, vor allem US-amerikanischen Geldgebern enorm, was sich alles andere als positiv auf die intellektuelle Qualität ihrer »Produkte« auswirkt: „Russlands Wissenschaftler“, grollt der bekannte Politologe Alexej Bogaturow, „ beschränken sich darauf, unsere lokalen Realitäten in eine für westliche Sponsoren und ausländische Leser verständliche Sprache zu übersetzen.“9 Die „westliche Politikwissenschaft“ sei gut für den Westen; das „russische Material“ ließe sich damit nur bedingt bearbeiten. Nötig wäre eine „russische Theorie“, von deren Erarbeitung Russlands Wissenschaftler allerdings nichts wissen wollten. Bogaturow: „Zehn Jahre lang haben wir ausländische Konzepte übernommen. Nun wissen wir, dass westliche Theorien wenig dazu taugen, die in Russland laufenden Prozesse zu erklären. Die westlichen Theorien erwuchsen einem anderem Material, erklärten erfolgreich Realitäten, die für andere politische und geographische Areale charakteristisch waren. Im russischen Kontext konnten sie nur als Ausgangspunkt für eigene Ausarbeitungen dienen. In diesen Ausarbeitungen hätten die Ideen westlicher Kollegen kritisch verarbeitet, der Anwendungsbereich ihrer theoretischen Konstrukte erkundet und revidiert werden müssen, um neues theoretisches Wissen zu generieren. Die Pflicht der russischen Intellektuellen bestand nicht darin, westliches Wissen zu übernehmen und zu propagieren, sondern dem Westen zurückzugeben, was sie ihm intellektuell schuldig waren. Durch Einspeisen originärer (wenngleich, erkenntnistheoretisch betrachtet, durchaus westlicher) Ausarbeitungen in den westlichen Diskurs hätten wir uns nicht nur Klarheit darüber verschafft, inwieweit sich die russische Erfahrung mit den intuitiven Erwartungen des politischen Denkens verträgt, sondern auch Erklärungsvarianten für das geliefert, was in Russland bzw. zwischen Russland und der Welt an realer Entwicklung passiert. An dieser Aufgabe ist unsere Wissenschaft gescheitert. Und sie wird an ihr solange scheitern, bis sie aufhört zu glauben, nur fremde Erfahrungen aufnehmen zu können, Erfahrungen, deren Studium zum Selbstzweck politologischen Eiferns geworden ist. In Wissenschafts- und Bildungszentren der Hauptstadt und der Provinz erweist es sich als prestigeträchtiger, leichter und materiell vorteilhafter, westliche Bücher nachzuerzählen und Studenten zu zwingen, diese auswendig zu lernen, anstatt sich am lebendigen Material der russischen Wirklichkeit die Zähne auszubeißen.“10

Einige gehen noch weiter: Aufgabe russischer Wissenschaftler sei nicht, »westliche Theorie« mit »russischer Theorie« zu verfeinern, sondern zur Herausbildung einer wirklichen »Weltwissenschaft« beizutragen. Bogaturow gehe es lediglich um das lockere Miteinander zweier partikularer, lokaler Varianten wissenschaftlichen Bewusstseins. Nach Meinung des renommierten Historikers und Politikwissenschaftlers Marat Tscheschkow sei dies ebenso kurzsichtig wie gefährlich: Bogaturow reduziere die „westliche Wissenschaft“ auf eine „lokale Erfahrung“, während er die „russische Wissenschaft“ auf die Analyse des „Eigenen“ als das „Besondere“ festnagele. „Im »Eigenen« müssen sich jedoch nicht nur besondere, sondern auch allgemeine Eigenschaften widerspiegeln. Nur so wird das russische wissenschaftliche Bewusstsein die Welt als Ganzes verstehen – oder anders ausgedrückt – die Welt an sich, und nicht nur sich in der Welt verstehen.“11 Bogaturows intellektueller Provinzialismus, sein Insistieren auf die Etablierung einer »russischen Wissenschaft« parallel zur »Wissenschaft des Westens« offenbare einen Autarkismus- und Selbstgenügsamkeitskomplex, an dem das russische wissenschaftliche Denken lange genug gelitten habe.

Während die Gelehrten streiten, machen westliche Sponsoren Nägel mit Köpfen, etwa in Form eines Programms für »zwischenregionale gesellschaftswissenschaftliche Studien«.12 Von russischen Beobachtern als Versuch gefeiert, in Russland eine „aktive, schöpferische und nicht rein »vermittelnde« Wissenschaft“ zu entwickeln,13 ist dieses im April 2000 von der Washingtoner Carnegie-Stiftung initiierte und inzwischen neun »zwischenregionale gesellschaftswissenschaftliche Institute« oder »Centers for Advanced Studies and Education« (MION) umfassende Programm nicht mehr und nicht weniger als der arrogante Versuch einer nachhaltigen Westernisierung der in Russland laufenden gesellschaftswissenschaftlichen Debatte.

Dass sie auch künftig nicht davon abrücken werden, die Güte russischer Gesellschaftsanalysen am Grad ihrer Westernisierung festzumachen, daran lassen insbesondere US-amerikanische Geber-Institute keinen Zweifel. Wie formulierte es doch unlängst die Präsidentin der Carnegie-Stiftung, Jessica Tuchman Mathews: „Ganz allgemein verbessert sich die Qualität russischer Politik-Analysen, da sich die Forscher zunehmend westlicher/internationaler Forschungs- und Politik-Analyse-Mittel bedienen …“14

Anmerkungen

1) Siehe Andrej Jurewitsch: Retransljator sapadnych konzepzij. In: Nesawisimaja Gaseta, Moskwa, 09.06.2004.

2) Siehe z.B. Jessica Tuchman Mathews: Russian Think Tanks. In: Vedomosti, February 16, 2004 (http:// www.ceip.org/files/publications/2004-02-16-mathews-vedemosti.asp).

3) Vladimir Yakubovsky: A Short History of Russian Think Tanks. In: NIRA Review, Tokyo, Winter 1995 (http:// www. nira.go.jp/publ/review/95winter/yakubo.html).

4) Katri Pynnöniemi: Russian Foreign Policy Think Tanks in 2002. UPI Working Papers 38, Helsinki 2003, p. 2.

5) Irina Sandul: A time of self-discovery for the Academy. In: The Russian Journal, June 14-20, 2002, p. 9 – zitiert nach ebenda.

6) Siehe z.B. Irina Dezhina, Loren Graham: Russian Basic Science After Ten Years of Transition and Foreign Support. Carnegie Endowment Working Papers, Number 24, Washington DC, February 2004, p. 29.

7) Pynnöniemi: Russian Foreign Policy Think Tanks…, p. 4.

8) Ebenda.

9) Alexej Bogaturow: Desjat let paradigmy oswoenija. In: Pro et Contra, Moskwa, Bd. 5, No. 1, Winter 2000, S. 198.

10) Ebenda, S. 200.

11) Marat Tscheschkow: Bolesn serjosneje, tschem kashetsja. In: Ebenda, Bd. 5, No. 3, Sommer 2000, S. 199.

12) Siehe Andrej Kortunow, Irina Laktionowa: Gumanitarii objedinjajutsja po setewomu prinzipu. In: Nesawisimaja Gaseta, 14.04.2004.

13) Jurewitsch: s.o.

14) Tuchman Mathews: s.o.

Peter Linke arbeitet als freier Journalist in Berlin

Kollaps oder Wiedergeburt?

Kollaps oder Wiedergeburt?

Die Militärindustrie Russlands

von Ksenia Gontschar

Seit Ende der Achtzigerjahre laufen die Versuche zur Reform des Rüstungskomplexes in Russland. Doch in dieser Zeit hören wir vor allem von Krise, Produktionsrückgang, erfolgloser Konversion und gefährlichen sozialen Spannungen. Selten kann über Erfolge in einzelnen Branchen oder Unternehmen berichtet werrden, etwa von »Seestart« (Morskoi Start), einem internationalen Projekt zum Start kommerzieller Satelliten von einer schwimmenden Plattform. Ansonsten ein trostloses Bild: Skandale, scharfe Konkurrenz in eng begrenzten Marktnischen, der Kampf um die Umverteilung des Eigentums und die Kontrolle von Finanzquellen der Exportgesellschaften dominieren in den Neuigkeiten über den Zustand des Rüstungskomplexes. Und am Ende der 90er-Jahre geben die Ereignisse – sowohl die politischen als auch die wirtschaftlichen – Grund zur Annahme, dass die reale Lage der Dinge bei weitem noch komplizierter und uneindeutiger ist als bisher angenommen wurde.

Wohl niemals in der postsowjetischen Zeit waren Einschätzungen des Zustands der Rüstungsindustrie so populär wie jetzt. Die einen sprechen über den endgültigen Kollaps oder sogar vom nur noch virtuellen Vorhandensein des früheren Monsters, das in der Wirtschaft des Landes eher in Form von Firmenschildern als in Form echter Unternehmen existiere. Die anderen stellen die Rüstungsindustrie als unschlagbare Quelle technologischer Wunderwerke dar, die unter günstigeren Umständen zur Lokomotive des Wirtschaftswachstums werden könne. Eine dritte Version brachte schließlich der Krieg in Tschetschenien und die undiplomatische Wahlkampfrhetorik hervor, die von der wiedergeborenen militaristischen Macht des militär-industriellen Komplexes (MIK), der gar die Kriegshandlungen initiiert habe, sie zum Test für neue Waffen und zum Abpumpen von Mitteln aus dem Föderationshaushalt nutze.

Die Wahrheitsfindung ist schwierig, denn im Vergleich zur Mitte der 90er-Jahre sind die öffentlich zugänglichen Daten über den Rüstungskomplex merklich weniger geworden. Dies erklärt zum Teil die Polarisierung der Einschätzungen und ruft gleichzeitig Sorge hervor bezüglich der Glaubwürdigkeit der Informationen, die den politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen zugrunde liegen. Es ist z.B. bezeichnend, dass der einzige praktische Vorschlag des Wahlprogramms Wladimir Putins im Bereich der Wirtschaft die Idee ist, Eigentum, Industrie und Bevölkerung zu inventarisieren, da zuverlässige Daten darüber „peinlicherweise derzeit niemand im Lande nennen“ könne (Putin, 2000). Es wird angenommen, dass eine solche Wirtschaftsprüfung in Zukunft helfen könne, vernünftige Entscheidungen zu treffen und realistische Programme auszuarbeiten.

Weiter unten werde ich versuchen, soweit dies der Rahmen eines Artikels erlaubt, eine solche »Inventarisierung« in Bezug auf die Gruppe der Militärbranchen der russischen Industrie vorzunehmen und Antworten auf folgende Fragen zu finden: Wie groß und gefährlich ist der Rüstungskomplex? Welche makroökonomischen Parameter schaffen in ihm die Rahmenbedingen für Reformen? Wie hat sich die staatliche Politik geändert und was ist von der neuen Regierung zu erwarten?

Makroökomonische Rahmenbedingungen
der Reformen

Die Militärindustrie, die zuerst unter dem einschneidenden Rückgang der Militärausgaben 1992 zu leiden hatte und sich dann als das verwundbarste Glied der Industrie i.B. auf makroökonomische Schocks herausstellte, wird nicht selten als das Hauptopfer der Systemreformen bezeichnet. Die Liberalisierung der Preise und Märkte, die Verknappung der Geldmenge, der Rückgang von Subventionen und Investitionen und die Inflation konnten nicht anders als die Konkurrenzfähigkeit dieser Branchengruppe selbst auf dem Binnenmarkt zu verringern. Darüber hinaus besteht jede Veranlassung zu betonen, dass die Wirtschaft des MIK heute in bedeutendem Maße nicht so sehr vom Militärbudget, das ein äußerst niedriges Niveau hat, als von der Dynamik bestimmter makroökonmischer Kennziffern abhängt, die in Tabelle 1 vorgestellt werden. Unverschämte Darlehenszinssätze, geringe Einkommen der Bevölkerung und eine entsprechend niedrige Nachfrage nach der zivilen Produktion des MIK sowie das Fehlen von Investitionen schaffen im Ganzen äußerst ungünstige Bedingungen für Konversion. Darüber hinaus glichen sich Angebot und Nachfrage in der Zeit hoher Inflationsraten nur auf Kosten einer riesigen Aufnahme von Krediten, von Barterverrechnungen und Nichtbezahlung von Fälligkeiten aus. Die Resultate waren die dramatische Krise der Staatsfinanzen im August 1998 und die massenhafte Zahlungsunfähigkeit von Industrieunternehmen.

1999 verbesserten sich die wirtschaftlichen Kennziffern sowohl in der Industrie insgesamt als auch im Rüstungskomplex deutlich. Drei Prozesse erwiesen sich als verhältnismäßig günstig: Die Abwertung des Rubels und das entsprechende Anwachsen der Binnenkonkurrenz, die günstigen Preise für Öl und die Maßnahmen der Bank Russlands (der Verkauf von Devisenerlösen durch Exporteure). Nach vorläufigen Angaben wuchs das Bruttoinlandsprodukt 1999 um 3,2 Prozent und die Produktion des MIK allein in den ersten 9 Monaten von 1999 um ein Drittel (Rossija 1999, Ausgabe 4, S. 13). Das Tempo des Preiswachstums verringerte sich 1999 im Vergleich zu 1998 und die Einnahmen des Staatshaushalts stiegen. Seit März 1999 nahm die Beschäftigung in der Wirtschaft zu und die offizielle Arbeitslosenrate sank.

Dennoch wirkten auch einige negative Faktoren weiter: Die Einkünfte der Bevölkerung hielten sich auf einem äußerst niedrigem Niveau, der Warenumsatz im Einzelhandel und die Nachfrage verringerten sich. Die Labilität der Banken und die politische Instabilität beinhalten hohe Risiken für Investitionen. Der Zustand der regionalen Haushalte, die im Zuge der Dezentralisierung eine besondere Bürde an sozialen Ausgaben zu tragen haben, hat sich verschlechtert. Die regionale Segmentierung hat auf diese Weise zugenommen und die Kluft zwischen »reichen« und »armen« Regionen hat ein sozial gefährliches Niveau erreicht.

In dieser wirtschaftlichen Situation erhielten einige Unternehmen der Rüstungsindustrie die Chance zum Produktionswachstum. Der militärische Teil des MIK in Folge des verbesserten Staatshaushalts und der zivile auf Grundlage der aktivierten Importsubstitution in Folge der Geldabwertung. So wuchs im Jahr 1999 die Rüstungsproduktion im Verhältnis zu 1998 um 40 Prozent. Das bedeutendste Wachstum war in der Waffen- und Munitionsindustrie zu beobachten, was mit der Nachfrage durch den Tschetschenienkrieg erklärt werden könnte. Die dritte Wachstumsbranche – der Schiffsbau – arbeitet vor allem nach militärischen Exportaufträgen. In Anbetracht dessen, dass Militäraufträge im Jahr 2000 anderthalbmal gesteigert werden, kann man erwarten, dass die Wachstumstendenz der Militärproduktion erhalten bleibt. Es ist aber dennoch notwendig festzustellen, dass das Wachstum auf einem ganz niedrigen Niveau anfing und kaum für ein Anzeichen einer erneuerten Militarisierung gehalten werden kann. So betrug das allgemeine Niveau der Rüstungsproduktion 1998 nur 27 Prozent von 1991, darunter in der Luftfahrtindustrie nur 12 Prozent und in der Elektronik 5 Prozent (BICC Conversion Survey 2000).

Führend im Verkauf auf dem zivilen Markt wurde die Raketen- und Raumfahrtbranche. Hier setzte sich das stabile Wachstum fort: 1997 um 19 Prozent, 1998 um 11 Prozent und in den ersten 9 Monaten von 1999 um 34 Prozent (Rossija 1999, Ausgabe 4, S. 71).

Politische Konzeptionen

Bei aller Vielfältigkeit der politischen Erklärungen über das Schicksal des Rüstungskomplexes und den unterschiedlichen Konzeptionen der verschiedenen Regierungen gibt es doch einige allgemeine Züge: Erstens wurde keine der Konzeptionen und kein Programm vollständig realisiert. Zweitens beließen alle der Rüstungsindustrie »besondere Bedingungen«, d. h. die Politik gegenüber den Rüstungsunternehmen widersprach in der Praxis sogar oft der grundlegenden Wirtschaftspolitik des Staates. Und drittens entschied sich keine der Regierungen zu einer schmerzhaften Restrukturierung des MIK, dazu, Umfang und Struktur des MIK einer realen Finanzierung durch Rüstungsaufträge anzupassen. In Folge dessen wurde nicht etwa die militär-industrielle Politik zum Motor der Veränderungen sondern der Zustand des Rüstungsexportmarktes. Der Anteil des Exports beim Verkauf von Luftfahrttechnik erreichte zum Beispiel 1998 84 Prozent auf dem militärischen und 23 Prozent auf dem zivilen Markt.

Wie wir im folgenden sehen werden stellt das grundlegende Problem der Rüstungsindustrie, an dessen Lösung sich bereits fünf Regierungen versucht haben, die Überdimensionierung des MIK im Vergleich zu den finanziellen Möglichkeiten des Haushaltes und sogar zu den Bedürfnissen der immer noch riesigen Armee dar. Ungeachtet des schon lange erklärten Ziels, nicht mehr als 600 Unternehmen mit verschiedenen Eigentumsformen im MIK zu lassen, haben sich in Wirklichkeit fast dreimal so viele Unternehmen gehalten. Von ihnen bekommen viele schon jahrelang keine militärischen Aufträge mehr und sind auch auf dem zivilen Markt wenig erfolgreich. Dennoch fehlte es an institutionellen Maßnahmen um hoffnungslose oder nicht nachgefragte Rüstungsunternehmen vom Markt zu nehmen. Die Regierung ist nicht in der Lage, den MIK zu kontrollieren und mit Aufträgen in traditioneller Weise zu versorgen und gleichzeitig fehlen ihr der politische Wille und die Ressourcen zu einer radikalen Restrukturierung. Darüber hinaus engen die Erklärungen über eine Verstärkung der staatlichen Rolle in der Leitung und über eine mögliche Deprivatisierung einiger Unternehmen sowie der Verlust des Rechts von Aktienunternehmen, selbstständig auf den internationalen Rüstungsmarkt zu gehen, die Möglichkeiten zu unternehmerischen Manövern für Teilnehmer des Rüstungsmarktes stark ein.

Zu Beginn des Jahres 2000 bleibt die Frage offen, ob die Regierung das Programm zur Restrukturierung des Militärkomplexes – einer scharfen Kürzung der Zahl der Lieferanten des Verteidigungsministeriums und die Schaffung einer kleinen Zahl großer, integrierter Korporationen – realisieren kann. Derzeit werden folgende Maßnahmen realisiert:

  • Zügig wird das Staatliche Rüstungsprogramm 2001-2010 ausgearbeitet, das die Rahmen für einen ausreichenden militärischen Teil des Rüstungskomplexes setzen soll und die Führer und Outsider unter den Rüstungslieferanten definiert. Insbesondere für letztere wird ein neues Programm zur Restrukturierung und Konversion vorbereitet.
  • Es wächst die Isolierung des Rüstungskomplexes, sowohl im System der staatlichen Leitung (insbesondere wurde eine Branchenleitung eingerichtet),als auch bei der Annahme von besonderen Gesetzen und Verfahren von Wirtschaftsprüfung, Privatisierung und Konkurs. Darüber hinaus wird für die Versorgung staatlicher Unternehmen ein spezielles Bankennetz geschaffen.
  • Der regionale Einfluss auf den Rüstungskomplex wird erhöht. Reiche Regionen mit ambitionierten Regierungen (Moskau, St. Petersburg, das Gebiet Swerdlowsk und andere) haben eine aktive Politik i.B. auf die in ihren Territorien gelegenen Rüstungsunternehmen erarbeitet. In der Regel machen die regionalen Administrationen das Recht auf Eigentum an Rüstungsunternehmen im Tausch gegen steuerliche und tarifliche Vergünstigungen sowie Aufträge und Kredite auf Kosten regionaler Hauhalte geltend. Darüber hinaus tragen die regionalen Regierungen die Finanzierung von Objekten der sozialen Infrastruktur, die sich früher in der Bilanz der Unternehmen befanden;
  • Der Rüstungsexport wird weiter als grundlegende zusätzliche Quelle von Ressourcen angesehen (der Umfang des Exports betrug 1999 ca. drei Milliarden Dollar, gleichzeitig wurde das Budget für Rüstungsaufträge 2000 um das zweieinhalbfache auf etwas mehr als zwei Milliarden Dollar erhöht). Doch während Anfang der 90er-Jahre die Regierung annahm, dass der Rüstungsexport die Konversion finanziere, müssen die Exporteure heute nach Worten des Vize-Ministerpräsidenten Ilja Klebanow die Binnenankäufe von Waffen und Militärtechnik bezahlen (Kommersant, 31.1.2000). Und sie werden Priorität bei der Erfüllung der inländischen Rüstungsaufträge haben. Deshalb ist nicht die Rede von den sieben Prozent Exporteinnahmen, die der staatlichen Gesellschaft »Roswooruschenie« zur Verfügung stehen, sondern von den Einnahmen der Exportunternehmen. Dennoch ist zu bezweifeln, ob sich letztere mit diesem Schema einverstanden erklären, wenn sie natürlich nicht nationalisiert werden.

Der Militär-Industriekomplex in Zahlen

Wenn man von der »Inventarisierung« des MIK spricht ist es nützlich zu wissen wie groß dieser Teil der Industrie heute ist und inwieweit die Befürchtungen über seine destabilisierende politische und soziale Rolle berechtigt sind. Unsere Analyse wird zeigen, dass von einer überaus großen Zahl von Unternehmen die Rede ist, die nichtsdestotrotz nur eine minimale Rolle in der Wirtschaft spielen und die vorwiegend auf dem zivilen Markt arbeiten.

So gehören 1528 Unternehmen zum Rüstungskomplex, das sind 204 weniger als 1997 (der Rückgang hängt mit dem vollständigen Rückzug nichtstaatlicher Unternehmen vom militärischen Markt zusammen). Zum MIK rechnet man immer noch fast zwei Millionen Beschäftigte, real jedoch arbeiten hier weniger als eine Million. Die durchschnittliche Auslastung der Produktionskapazitäten ist sehr niedrig.

Die Rolle des Rüstungskomplexes in der Wirtschaft ist auf ein minimales Niveau zurückgefallen So kommen auf den MIK weniger als ein Prozent neuer Investitionen. Bei einer Schätzung des Wertes der Jahresproduktion der ganzen Warenproduktion, der militärischen und zivilen, erreicht er kaum 9 Milliarden Dollar. Auf den MIK entfallen nur 7 Prozent der gesamtrussischen Warenproduktion von Konsumgütern, 1992 überstieg dieser Anteil noch ein Viertel (Astachow, 2000). Dieser sogar für russische Verhältnisse niedrige Anteil in der Produktionsstruktur des Rüstungskomplexes (Tabelle 2) zeigt die Perspektivlosigkeit des Rüstungskomplexes.

Nach 1992 wurden Versuche unternommen der strukturellen Überdimensioniertheit des MIK mit Hilfe von institutionellen Reformen, der Fusion von Gesellschaften und der Integration von wissenschaftlichen und produzierenden Firmen beizukommen. Doch dieser Teil der Umwandlung ist bis jetzt weniger als alles andere geglückt: Die Privatisierung führte nicht zur Formierung effektiver Eigentümer, viele integrierte Gesellschaften zerfielen oder haben erst gar nicht mit der gemeinsamen Tätigkeit angefangen. Die Reorganisation wurde zu einem Konfliktfeld gegensätzlicher Interessen der Zentralregierung, der Regionen und der Unternehmen. Die Regierung will die Kontrolle über die strategischen Unternehmen aus Sicherheitsgründen. Die Regionalregierungen fürchten den Verlust von Arbeitsplätzen bei einem Verlusts des Status des Militärlieferanten und die Umverteilung von Steuereinnahmen in andere Regionen im Resultat der Firmenfusionen. Die Direktoren der Unternehmen sind gleichzeitig sowohl am Erhalt unternehmerischer Freiheit als auch an der Nutzung staatlicher Vergünstigungen und versteckter Subventionen interessiert. Auf Grund dieser Widersprüche ist kaum zu erwarten, dass das Problem kurz und schmerzlos gelöst werden kann.

Derzeit zerfallen früher geschaffene Allianzen, von den profitablen Konzernen werden finanziell zahlungsunfähige Unternehmen abgetrennt und neue Kombinationen entstehen. Besondere öffentliche Aufmerksamkeit erfährt die Luftfahrtindustrie, bei der die Restrukturierungspläne der Regierung variieren zwischen der Idee 350 Unternehmen in einen Konzern ähnlich Gasprom umzuwandeln und weniger radikalen Umwandlungen. So sollen beispielsweise die zwei bisher konkurrierenden Produzenten von Jagdflugzeugen MiG und Suchoi vereinigt werden. Da gibt es zwar noch Widerstände, auch wenn das unerwartete Zwischenresultat der Reorganisationsinitiative das Projekt zur Produktion eines zivilen Flugzeugs TU-334 der Gesellschaft MiG-MAPO ist, die in dieses Vorhaben 69 Millionen Dollar Gewinn aus der Modernisierung des Jagdflugzeugs MiG investierten. Andere Teilnehmer an diesem Vorhaben sind die Russische Luft- und Raumfahrtagentur, die Gesellschaft Tupolew und die ukrainische Firma Aviant (Kommersant, 7. Dezember 1999). MAPO stellt sich auf den zivilen Markt. Mit einem 80-prozentigen Anteil ziviler Verkäufe kann man diese Umstellung als eines der größten Konversionsprojekte der letzten Zeit bezeichnen.

Mitte 1999 waren drei Viertel der Unternehmen aus dem Rüstungskomplex staatlich oder sie waren Aktiengesellschaften mit einem staatlichen Aktienanteil und nur ein Viertel waren Aktiengesellschaften ohne staatlichen Anteil (Tabelle 2). Es wird vermutet, dass diese Situation in nächster Zeit konstant bleibt, da der Privatisierungsprozess im Rüstungskomplex praktisch zum Stillstand gekommen ist. Darüber hinaus ist den 697 Unternehmen, in denen der Staat Aktionär ist, untersagt zu verkaufen (www.polit.ru, 31. Januar 2000)

Das ist schade denn die Resultate einer Stichprobenuntersuchung von Unternehmen des Rüstungskomplexes nach der Krise 1998 zeigten, dass alle Gesellschaften ohne staatliche Beteiligung den Anstieg der Binnennachfrage und die Konkurrenzvorteile, die die Abwertung des Rubels brachte, nutzen konnten. In ihrer Gesamtheit befanden sich die staatlichen Unternehmen in der Gruppe mit den schlechtesten Kennziffern (Kosals, 2000).

Zu den erfolgreichen nichtstaatlichen Unternehmen gehören vor allem mittlere Gesellschaften. Die großen Gesellschaften konnten nicht schnell genug auf die veränderten Bedingungen reagieren und waren mit Schulden und überschüssiger Beschäftigung zu belastet, die kleinen Firmen sind zu schwach um Kredite für das Umlaufkapital zu erhalten und verfügen über keine Möglichkeiten, mit nichtgeldlichen Zahlungsformen zu operieren. Die Qualität dieses Wachstums ist im wirtschaftlichem Sinne nicht sehr hoch: Die Untersuchung zeigte die direkte Abhängigkeit des Verkaufswachstums von Bartergeschäften und dem Abbau sozialer Leistungen.

So befindet sich der Rüstungskomplex Anfang 2000 auf der Makroebene weiterhin in der gefährlichen Zone von Wirtschaftskrise und nicht genau definierter staatlicher Politik. Auf der Mikroebene zeigten sich dennoch einige erfolgreiche Projekte sowohl auf dem zivilen als auch auf dem militärischen Markt. Das überraschendste Resultat der Reformen im Rüstungskomplex könnte die hohe Lebensdauer der Unternehmen sein, deren Ursache vielleicht die fortgesetzte verdeckte Subventionierung in Form der Abschreibung von Steuerschulden und Strafen, Steuertarifen und anderen staatlichen Renten sind, die die Regierung aus politischen und sozialen Motiven nicht ändern will.

Dennoch sind die Perspektiven längerfristigen Wachstums und Entwicklung bei solchen Gesellschaften um einiges höher, die sich an anderen Wachstumsfaktoren orientieren, so vor allem am Export und an einer liquiden Binnennachfrage, vor allem von Seiten der »reichen« natürlichen Monopole wie Gasprom, RAO EES (Energiesysteme) und Verkehr, sowie an der Qualität der Gesellschaftsleitung. In jüngster Zeit wurde der Markt insbesondere auch für solche Restrukturierungsmaßnahmen wie die Teilung in militärische und zivile Produktion, Konkretisierung der Eigentumsrechte, Erhöhung der Arbeitsproduktivität und Kostenoptimierung empfänglicher.

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998
Bruttoinlandsprodukt -5 -14 -9 -13 -4 -5 1 -4,6
Industrieproduktion -8 -18 -14 -20,9 -3,3 -4 1,9 -5,2
Investitionen -15 -40 -12 -24 -1 -18 -5 -6,7
Export -28 -18 4 8 25 8,5 -1,4 -15,8
Einkommen der Bevölkerung -47 9 13 -13 -0,9 6,3 -18,2
Preisindex der Industrie 238 2049 987 235 180 25,6 7,5 23,2
Tabelle 1: Einige Kennziffern der Wirtschaft Russlands 1991-1998 (in % zur entsprechenden Periode des Vorjahres. Quelle: Wirtschaftliche Entwicklung Russlands, 1999, BD. 6, Nr. 6, Juni-Juli, S.4-5
Zahl der Unternehmen insgesamt 1528
nach Eigentumsform nach Tätigkeit
staatlich 634 industriell 747
Aktiengesellschaft mit staatlicher Beteiligung 508 wissenschaftlich 560
Aktiengesellschaft
ohne staatliche Beteiligung
386 wissenschaftlich-produzierend 116
weitere 105
Produktionsstruktur des MIK
nach Märkten
(Anteil an der Produktion in %)
nach Branchen
(Anteil an der Zahl der Beschäftigten in %)
Militärproduktion
für den Binnenmarkt
18,2 Luftfahrt
Waffenindustrie
25
17
Militärproduktion für den Außenmarkt 29,5 Raketen und Raumfahrt
Munition und Spezialchemikalien
14
11
Zivilproduktion für den Binnenmarkt 40,6 Radio
Elektronik
10
8
Zivilproduktion für den Außenmarkt 11,7 Kommunikationsmittel 6
Tabelle 2: Grundlegende Kennziffern des Rüstungskomplexes Russlands im Jahr 1998.
Quelle: Informationsagentur TS-VPK, Februar 2000, www.vpk.ru

Literatur:

Astachow, Andrei (1999). Einige Ergebnisse und Probleme der Restrukturierung der Rüstungsindustrie. Finansy, September, S. 3-6

Kosals, Leonid (2000), Rezept zum Überleben des Rüstungskomplexes. Hesawisimoe woennoe obosrenie, 28. Januar-3. Februar

Putin, Wladimir (2000), Offener Brief an die russischen Wähler. Kommersant, 25. Februar, S. 3

Rossija-1999. Wirtschaftskonjunktur. Veröffentlichung des Zentrums für Wirtschaftskonjunktur bei der Regierung Russlands

Ksenia Gontschar, Moskau, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bonn
International Center for Conversion (BICC).
Übersetzung aus dem Russischen von Susanne Heinke-Mikaeilian.

Die russische Militärreform

Die russische Militärreform

von Karl Harms

Die Notwendigkeit einer Reformierung des gigantischen russischen Militärapparats wurde bereits zu tiefsten Sowjetzeiten erkannt, seit dem Beginn der Perestroika heftig diskutiert, dann aber auf Grund der chaotischen Zustände im Lande und eines sich rasch verändernden politischen Umfelds – mehr von der Not getrieben, als von einem klaren Konzept – mal zögerlich, mal sprunghaft in die Tat umgesetzt. Der Hauptwiderspruch aller Reformbemühungen besteht von Anfang an in der Tatsache, dass sich Russland keine Riesenarmee mehr leisten will, dem Staat aber die Mittel für eine ausgewogene und planvolle Reform fehlen.

Bei einer näheren Betrachtung des bisherigen Verlaufs der russischen Militärreform lassen sich in etwa folgende Etappen feststellen:

  • Die erste Etappe begann ungefähr 1987 (Beginn der öffentlichen Diskussion über eine Militärreform). Die Anfänge der Reform erlitten schon bald schwere Rückschläge durch die Auflösung des Warschauer Vertrages, den unvorbereiteten Rückzug der Sowjetarmee aus den osteuropäischen Staaten, den Zerfall der Sowjetunion u.a.m. Diese Etappe kann als die Etappe des chaotischen Niedergangs der Streitkräfte und der Rüstungsindustrie bezeichnet werden.
  • Die zweite Etappe begann 1997, dem Jahr, in dem der neu gebildete Verteidigungsrat schmerzhafte Rahmenbedingungen für die Reform festlegte, die nicht von Wunschträumen, sondern von dem tatsächlichen Zustand der Wirtschaft und der Staatsfinanzen ausgingen. Diese Etappe kann man als den Versuch werten, Ordnung in den chaotischen Niedergang zu bringen, wenige machbare Reformschwerpunkte zu bestimmen und auch durchzusetzen.
  • Eine dritte Etappe könnte durch die im Januar 2000 veröffentlichte neue »Konzeption der nationalen Sicherheit der russischen Föderation« begonnen haben. Unter günstigen Voraussetzungen, d.h. klares Konzept, straffe Führung, minimale Erholung der Wirtschaft und der Staatsfinanzen, wäre das die Etappe der Stabilisierung. Nach vorsichtigen Schätzungen könnte diese Etappe vier bis sechs Jahre dauern bevor ein behutsames, vor allem qualitatives Anwachsen des russischen Militärpotenzials beginnen würde und die Streitkräfte mit einem klaren Auftrag sowie einer gefestigten Struktur den ihnen vom Staat zugewiesenen Platz in der Gesellschaft einnehmen könnten.

Es würde über den Rahmen eines Artikels weit hinausgehen, wollte man den bisherigen Verlauf der russischen Militärreform mit allen Widrigkeiten und Konflikten objektiver und subjektiver Art beschreiben wollen. Deshalb werden im weiteren nur die entscheidenden, wirklich tragenden Ergebnisse der bisherigen Reformbemühungen dargelegt.

Eine veränderte Grundstruktur der Streitkräfte

Die Sowjetarmee bestand aus folgenden Teilstreitkräften: Landstreitkräfte, Seestreitkräfte, Luftstreitkräfte, Truppen der Luftverteidigung des Landes und Raketentruppen strategischer Bestimmung.1 Darüber hinaus unterstanden dem Verteidigungsminister direkt die Luftlandetruppen und die Kosmischen Streitkräfte, die nicht als Teilstreitkräfte bezeichnet wurden.

Im Rahmen der unabdingbaren quantitativen Kürzungen in allen Teilstreitkräften ergab sich die Notwendigkeit einer Vereinfachung der Führungsstrukturen, der Überwindung jeglicher strukturellen Doppelgleisigkeit und einer Straffung bzw. Streichung von Organen und Truppenteilen der Sicherstellung. Das führte zu folgenden Veränderungen:

  • Den Raketentruppen Strategischer Bestimmung wurden die bis dahin selbstständigen Kosmischen Streitkräfte unterstellt. Die Waffengattung »Raketenabwehr« wurde aus der Teilstreitkraft Truppen der Luftverteidigung des Landes herausgelöst und ebenfalls den Raketentruppen strategischer Bestimmung unterstellt.
  • Die Truppen der Luftverteidigung (LV) des Landes und die Luftstreitkräfte (LSK) wurden zu einer Teilstreitkraft unter der Bezeichnung »Luftstreitkräfte« zusammengefasst. Abgeschlossen ist die Bildung von Luftarmeen des Oberkommandos, und zwar einer Luftarmee strategischer Bestimmung und einer Luftarmee der Transportfliegerkräfte (jeweils ausgestattet mit Flugzeugen großer Reichweite). Neu gegliedert wurden die Kräfte und Mittel der LV. Sie umfassen nunmehr einen Bezirk der LSK/LV in der westlichen strategischen Richtung, vier Armeen der LSK/LV und ein selbstständiges Korps der LSK/LV im Raum Ural.
  • Der Hauptstab der Landstreitkräfte wurde aufgelöst. Es verblieben lediglich zwei Hauptverwaltungen, die im Verteidigungsministerium eingerichtet wurden. Ansonsten werden die Verbände der Landstreitkräfte direkt von den Chefs der jeweiligen Militärbezirke (MB) geführt.
  • In allen Teilstreitkräften wurde die Masse der nicht voll aufgefüllten Verbände und Truppenteile aufgelöst. Tausende hochqualifizierter Offiziere wurden ohne soziale Absicherung entlassen.
  • Die große Zahl militärischer Lehranstalten (16 Militärakademien, 2 Universitäten, einige Dutzend Offiziershochschulen), wissenschaftliche Forschungsinstitute (jede Teilstreitkraft hatte mindestens eins) und Erprobungszentren (Erprobung neuer Waffensysteme für die Truppenverwendung) wird reduziert und neu gegliedert.
  • Die dem Verteidigungsministerium direkt unterstehenden Bautruppen sowie eine Reihe von Einheiten und Einrichtungen der Rückwärtigen Dienste wurden aufgelöst.

1998 wandte sich der Verteidigungsminister (früher Chef der Strategischen Raketentruppen) an den russischen Präsidenten mit dem Vorschlag, auf der Basis der Strategischen Raketentruppen, die Teilstreitkraft Strategische Abschreckungskräfte (»Sily Strategitscheskogo Sdershiwanija« SSS) zu schaffen. Dazu sollten alle strategischen Kernwaffenträger aus dem Bestand der Luftstreitkräfte und der Seestreitkräfte den Raketentruppen strategischer Bestimmung operativ unterstellt werden; operativ heißt im Sinne der Einsatzplanung und Einsatzführung. Dieser Vorschlag wurde lange diskutiert und fand viele kritische Gegenstimmen vor allem aus den Hauptstäben der Luft- und Seestreitkräfte. Eine Entscheidung wurde vertagt.

Eine neue territoriale Gliederung

Auf dem Territorium der Russischen Föderation (RF) existierten bis vor einiger Zeit acht Militärbezirke und das Sondergebiet Kaliningrad. Sie wurden z.T. überlagert von dem Moskauer Luftverteidigungsbezirk, von sieben Bezirken der Truppen des Ministeriums des Innern, von sechs Bezirken der Grenztruppen und neun Regionalzentren des Ministeriums für Katastrophenschutz. Innerhalb der Grenzen einiger Militärbezirke befinden sich außerdem die Stationierungsräume der Flotten, und zwar der Baltischen Flotte, der Schwarzmeerflotte, der Nordmeerflotte, der Pazifikflotte und der Kaspischen Flotille.

Die Grundidee der neuen territorialen Gliederung der Streitkräfte ist aus den nachstehend genannten Maßnahmen erkennbar, die ab Juli 1998 in Angriff genommen wurden:

  • Die Anzahl der Militärbezirke wurde von acht auf sechs verringert. Als selbstständiges Gebilde bleibt das Kaliningrader Sondergebiet (siehe Abb. 1).
  • Die Grenzziehung der Militärbezirke und notwendige strukturelle Veränderungen wurden den entscheidenden strategischen Richtungen angepasst
    (siehe Abb. 2).
  • Die Führungsstäbe der Militärbezirke erhielten den Status operativ-strategischer Führungsstäbe. Alle militärischen oder paramilitärischen Truppenkörper in den Grenzen eines Militärbezirks sollen nunmehr der Kommandogewalt des Chefs des Militärbezirks unterstehen, und das unabhängig von ihrer strukturellen Zugehörigkeit.
  • Um die Spezifik verschiedener Teilstreitkräfte (z.B. Luftstreitkräfte) oder Unterstellungsverhältnisse (z.B. Truppen des Ministeriums des Innern) berücksichtigen zu können wurden drei Formen der Unterstellung unter die Befehlsgewalt des Chefs des MB festgelegt: die direkte Unterstellung, die operative Unterstellung und die Unterstellung in spezifischen Fragen.

Das Wehrersatzwesen

Eine der ersten – und in der damals noch sowjetischen Öffentlichkeit heiß diskutierten – Fragen einer künftigen Militärreform war das Problem der Auffüllung der Streitkräfte.

Die vorherrschende Meinung bestand darin, die Wehrpflicht abzuschaffen und zu einer Freiwilligen- bzw. Berufsarmee überzugehen. Man versprach sich angesichts einer immer anspruchsvolleren Kampftechnik eine höhere Qualifikation der Soldaten, eine verbesserte soziale Absicherung und vor allem auch eine neue Qualität der Disziplin und Ordnung. Auf Grund der z.T. katastrophalen Zustände in der Armee und der vielen gefallenen Wehrpflichtigen im Afghanistankrieg schrie die Öffentlichkeit förmlich nach radikalen Veränderungen. Heute, fast dreizehn Jahre nach Beginn der Militärreform, ist immer noch alles beim Alten. Die Kriminalitätsrate in der Armee ist ungewöhnlich hoch, die massenhafte Drangsalierung jüngerer Soldaten durch die schon länger dienenden ist erschrekkend, bei der Auswahl der Unteroffiziere herrscht das Prinzip der »negativen Auswahl« (Jugendliche aus ärmlichen Verhältnissen, die weniger Gebildeten, ohne Beruf usw.). Hauptgrund für die Stagnation auf diesem Gebiet auch hier – die fehlenden Mittel. Eine Berufs- oder Freiwilligenarmee ist teurer als eine Wehrpflichtarmee. Die einzige positive Veränderung der letzten Zeit besteht darin, dass auf Grund der erheblichen zahlenmäßigen Reduzierung der Streitkräfte die Anzahl der Wehrpflichtigen über dem Bedarf liegt. Die Armee ist dadurch in der Lage, eine gewisse positive Auswahl unter den Wehrpflichtigen vorzunehmen.

Sehr ernst ist die Lage in Bezug auf den Offiziersnachwuchs. Aus vielerlei Gründen hat der früher so geachtete Beruf des Offiziers an Attraktivität verloren. Es ist hier nicht der Platz, diese Gründe aufzulisten. Vielleicht genügt ein Beispiel. Allein 1996 haben ca. 500 Offiziere Selbstmord begangen weil sie ihre Situation als ausweglos empfanden oder weil sie sich vom Staat im Stich gelassen fühlten. Die Krise im Offiziersnachwuchs wird von den dafür zuständigen Personalchefs als besorgniserregend bezeichnet.

Der milit.-ind. Komplex (MIK)

Ganz am Beginn der Militärreform, d.h. Ende der Achtzigerjahre, wurde dieser Frage eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Das hatte seine Gründe: Die überdimensionierte Rüstungsindustrie der Sowjetunion war gegenüber der übrigen Volkswirtschaft in jeder Hinsicht privilegiert. Sie hatte sich zu einem Staat im Staate entwickelt und übte einen bedeutenden Einfluss auch auf politische Entscheidungen aus. Andererseits verfügte sie über ein überragendes technisches und menschliches Potenzial, das man für Modernisierung anderer Zweige der Volkswirtschaft nutzen wollte. Einer der ersten damaligen Reformschritte bestand darin, den gebündelten Militäretat dem Verteidigungsministerium zuzuweisen, damit dieser gegenüber der Rüstungsindustrie als Auftraggeber auftreten konnte. Als nächste Schritte waren die Optimierung des Gesamtsystems und eine teilweise Konversion von Rüstungsbetrieben geplant. Diese gut gedachten Vorhaben scheiterten an dem weiteren Verlauf der innenpolitischen Veränderungen wie z.B. überhasteter Auflösung der staatlichen Plankommission und des zuständigen Ministeriums, Zusammenbruch bisheriger Absatzmärkte bzw. Auftraggeber, Inflation, steigender Staatsverschuldung, »Dollarisierung« der Volkswirtschaft.

Alle Probleme der russische Streitkräfte zusammengenommen erscheinen heute als unbedeutend gegenüber den Problemen der MIK. Einen letzten Versuch der Reformierung des MIK stellte das 1997 vom Wirtschaftsministerium erarbeitete Programm der Umstrukturierung und Konversion dar. Es gelang nicht, dieses Programm in der erforderlichen Breite und Abfolge zu realisieren. Eine Reihe geplanter Vorhaben entsprechen auch nicht mehr der sich veränderten Lage. Der MIK wird nicht mehr geführt, die noch vorhanden gewesenen geringen Chancen für seine Umgestaltung wurden verspielt. Einige Betriebe produzieren noch weil sie vom Rüstungsexport profitieren, andere führen ein kümmerliches Dasein auf der Basis geringfügiger Aufträge bzw. staatlicher Subventionen. Neue Militärtechnik wird in nur sehr geringer Zahl produziert. Sie basiert ausschließlich auf dem ehemals bedeutendem Entwicklungsvorlauf sowjetischer Konstruktionsbüros. Die Entwicklung von Militärtechnik der nächsten Generation stagniert. Kräfte und Mittel für die Erarbeitung eines neuen wissenschaftlich-technischen Vorlaufs können nicht bereitgestellt werden. Das Entscheidungsfeld für einen Ausweg aus dieser Misere ist bis aufs Äußerste eingeschränkt. Ein russischer Militärkommentator bemerkte dazu treffend: „Es gibt nur noch die Wahl zwischen den schlechten und den sehr schlechten Varianten.“2

Der Versuch eines Neubeginns

Am 10. Januar 2000 unterschrieb der amtierende russische Präsident Putin die Neufassung der Konzeption der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation. Es ist dies die dritte offizielle Variante in den letzten zwei Jahren (erste Konzeption im Dezember 1997, die zweite im Oktober 1999).

In ersten Kommentaren wird darauf verwiesen, dass nur ein enger Kreis von Spezialisten diese Konzeption in kürzester Zeit (im Verlauf von einem Monat und 18 Tagen) erarbeiten musste. Dabei handelt es sich um ein Staatsdokument, das als das zweitwichtigste nach der Verfassung der Russischen Föderation gesehen wird. Die dadurch unvermeidbaren theoretischen Schwächen dieses Dokuments werden nicht ohne Einfluss auf die Praxis der nationalen Sicherheit bleiben. Dennoch neigen russische Kommentatoren zu der Einschätzung, dass die Konzeption 2000 insgesamt einen Schritt nach vorn bedeutet.

Es ist wichtig zu wissen, dass im Oktober 1999 der Entwurf einer neuen Militärdoktrin zur Diskussion gestellt wurde. Einer der Gründe für die Eile bei der Erarbeitung der neuen Konzeption der nationalen Sicherheit der RF könnte der Wunsch des neuen Interimspräsidenten gewesen sein, der Diskussion um die Doktrin und damit auch um die künftigen Schwerpunkte der Militärreform ganz bestimmte Rahmenbedingungen vorzugeben.

Einleitend wird die Konzeption der nationalen Sicherheit als ein System von Ansichten zur Gewährleistung der Sicherheit der Persönlichkeit, der Gesellschaft und des Staates vor äußeren und inneren Bedrohungen definiert. Unter der nationalen Sicherheit wird die Sicherheit seines multinationalen Volkes als des Trägers der Souveränität und der einzigen Machtquelle verstanden.

Diese sehr breite Konzeptdefinition und der sehr allgemein gehaltene Sicherheitsbegriff führten m. E. dazu, dass eine Vielzahl von Sicherheitsrisiken und eine noch größere Anzahl von Aufgaben beschrieben werden mussten. Über weite Strecken beinhaltet die Konzeption eine wundersame Mischung ökonomischer, finanzpolitischer, wissenschaftlich-technischer, regionaler, ethnischer, ökologischer, sozialer und rein militärischer Probleme und Aufgaben. Sowjetische und russische Erfahrungen haben in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass ausufernde Dokumente – und mögen sie theoretisch noch so richtig gewesen sein – vom Staatsapparat und den Führungskräften nicht angenommen wurden. Nach den ersten Lippenbekenntnissen verstaubten sie.

Worin bestehen die wesentlichsten sicherheitspolitischen Aussagen der neuen Konzeption?

Im Kapitel 1, »Russland innerhalb der Weltgemeinschaft«, wird die Feststellung getroffen, dass sich nach dem Ende der bipolaren Konfrontation zwei Entwicklungstendenzen gegenüber stehen: Die erste als eine alle Bereiche (ökonomische, politische, wissenschaftlich-technische usw.) umfassende integrative Tendenz. Auf ihrer Grundlage wird Russland um die Herausbildung einer bipolaren Welt bemüht sein. Die zweite „äußert sich in dem Versuch der Schaffung einer solchen Struktur internationaler Beziehungen, die auf eine Dominanz der hochentwickelten westlichen Länder unter Führung der USA und auf eine einseitige vor allem militärische Lösung der Schlüsselfragen der Weltpolitik, unter Umgehung des Völkerrechts, hinausläuft.“

Im Kapitel 2, »Die nationalen Interessen der Russischen Föderation«, werden die Interessen Russlands im militärischen Bereich so formuliert: „Die nationalen Interessen Russlands im militärischen Bereich bestehen in der Verteidigung seiner Unabhängigkeit, der Souveränität, der staatlichen und territorialen Integrität, in der Verhinderung einer militärischen Aggression gegen Russland und seine Verbündeten, in der Gewährleistung von Bedingungen für eine friedliche, demokratische Entwicklung des Staates.“

Im Kapitel 3, »Bedrohungen der nationalen Sicherheit der RF«, wird zunächst den ökonomischen Faktoren, den separatistischen und nationalistischen Tendenzen, der unzureichenden Rechtsstaatlichkeit, der Kriminalität, dem Terrorismus und anderen zivil-gesellschaftlich relevanten Faktoren Aufmerksamkeit zuteil.

Bei der Darstellung der Bedrohungen im internationalen Bereich werden die folgenden »grundlegenden Bedrohungen« genannt:

  • „Das Bestreben einzelner Staaten … die Rolle bestehender Mechanismen zur Gewährleistung der internationalen Sicherheit, vor allem aber der UNO und der OSZE, herabzusetzen;
  • die Gefahr einer Schwächung des politischen, ökonomischen und militärischen Einflusses Russlands in der Welt;
  • die Festigung der militärisch-politischen Blöcke und Bündnisse, vor allem die Osterweiterung der NATO;
  • die Möglichkeit des Auftauchens ausländischer Militärbasen und großer militärischer Kontingente in unmittelbarer Nähe der russischen Grenzen;
  • die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägermitteln;
  • die Schwächung der Integrationsprozesse in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS);
  • das Entstehen und die Eskalation von Konflikten in der Nähe der Staatsgrenzen der RF und der äußeren Grenzen der GUS;
  • territoriale Ansprüche an die Russische Föderation.“

Nach der Aufzählung weiterer Bedrohungsfaktoren kommen die Autoren der Konzeption zu einer erstmalig in dieser Eindeutigkeit formulierten Aussage: „Das Niveau und die Maßstäbe der Bedrohung im militärischen Bereich wachsen an.“ Dem schließt sich die z.T. präzisierte Formulierung aus der Konzeption des Jahres 1999 an, die da lautet: „Der in den Rang einer strategischen Doktrin erhobene Übergang der NATO zur Praxis gewaltsamer (militärischer) Handlungen außerhalb des Verantwortungsbereiches des Blocks und ohne Sanktion des Sicherheitsrates der VN, birgt die Gefahr einer Destabilisierung der gesamten strategischen Weltlage in sich.“

Beachtenswert in diesem Kapitel erscheint ein Absatz, der die gegenwärtige Ausgangslage für die Fortsetzung der Militärreform darstellt. Seine kritischen Feststellungen lauten sinngemäß so: Die Reform militärischer Strukturen und der Verteidigungsindustrie haben sich über Gebühr verzögert. Hauptursachen dafür sind die unzureichende Finanzierung und Unzulänglichkeiten in der rechtlichen Basis. Die sich verstärkenden negativen Tendenzen zeigen sich vor allem in einem kritisch niedrigen Niveau der operativen- und Gefechtsausbildung, in einer unzulässigen Verringerung des Ausstattungsgrades mit modernen Waffen und modernem Gerät sowie in der äußersten Schärfe sozialer Probleme. Das alles führt zu einer Schwächung der militärischen Sicherheit der Russischen Föderation.

Das 4. Kapitel behandelt »Die Gewährleistung der nationalen Sicherheit der RF«. Auch hier finden die LeserInnen eine unendliche Aufzählung verschiedenster Aspekte für die Gewährleistung der nationalen Sicherheit, die einen vorrangig deklarativen Charakter tragen. In dem eigentlich militärischen Teil dieses Kapitels erscheinen die folgenden Aussagen beachtenswert:

  • „Zur Verhinderung des Krieges und bewaffneter Konflikte bevorzugt die Russische Föderation politische, diplomatische, ökonomische und andere nichtmilitärische Mittel. Gleichwohl erfordern die nationalen Interessen das Vorhandensein einer für ihre Verteidigung ausreichenden Militärmacht.“
  • „Eine der wichtigsten Aufgaben der Russischen Föderation besteht in der Gewährleistung der Abschreckung im Interesse der Vorbeugung einer Aggression beliebigen Maßstabs, einschließlich einer Aggression unter Anwendung von Kernwaffen gegen Russland und seine Verbündeten.“
  • „Die Russische Föderation muss über nukleare Kräfte verfügen, die garantiert dazu befähigt sind, jedem Aggressorstaat oder einer Staatenkoalition einen angemessenen Schaden unter beliebigen Bedingungen der Lage zuzufügen.“
  • „Die Streitkräfte der Russischen Föderation müssen in ihrem Friedensbestand in der Lage sein, den zuverlässigen Schutz des Landes vor einem luft-kosmischen Überfall,… die Abwehr einer Aggression im lokalen Krieg (bewaffneten Konflikt) bzw. die strategische Entfaltung für die Lösung von Aufgaben in einem großflächigen Krieg zu gewährleisten.“

Ganz offensichtlich lässt sich Russland auch die Möglichkeit von Auslandseinsätzen seiner Streitkräfte offen, denn im weiteren heißt es: „Die Interessen der Gewährleistung der nationalen Sicherheit verlangen unter entsprechenden Umständen die militärische Präsenz Russlands in einigen strategisch wichtigen Regionen der Welt. Die Stationierung begrenzter Truppenkontingente – auf vertraglicher und völkerrechtlicher Grundlage – muss die Bereitschaft Russlands gewährleisten, seine Verpflichtungen zu erfüllen, in den Regionen zur stabilen militärstrategischen Kräftebalance beizutragen und der RF die Möglichkeit geben, auf Krisensituationen in deren Anfangsstadium zu reagieren und die Verwirklichung außenpolitischer Ziele des Staates zu fördern.“

Fazit

Unter den vielen Bedrohungen der nationalen Sicherheit sieht Russland auch eine rein militärische. Die nach dem Ende des Kalten Krieges vorherrschende Meinung von einer langen Periode des friedlichen Zusammenlebens der Völker verliert in der russischen Öffentlichkeit zusehends an Glaubwürdigkeit. Dominierend sind heute Misstrauen und Argwohn. Die Hauptgründe dafür sind die Osterweiterung der NATO, die jüngsten Kriegshandlungen der NATO-Staaten gegen Jugoslawien, der zusehends größer werdende qualitative und quantitative waffentechnische Vorsprung der USA und das alarmierende Beispiel des Tschetschenienkrieges.

Die frühzeitig erkannte Notwendigkeit einer Militärreform scheiterte an den katastrophalen Folgen politischer, administrativer und ökonomischer Umbrüche. Die bisher durchgeführten Reformschritte haben den Niedergang der Streitkräfte verlangsamt, aber noch nicht gestoppt.

Das Empfinden der russischen Führung, dass das Niveau und die Maßstäbe der Bedrohung im militärischen Bereich anwachsen, bestimmt zweifellos ihr weiteres Vorgehen. Der verfügbare Handlungsspielraum bleibt aber zunächst äußerst beschränkt. Aus der militärischen Logik heraus erhöhen sich dadurch Rolle und spezifisches Gewicht der Abschreckung. Die herkömmlichen Kräfte und Mittel einer strategischen Abschreckung sind – gemessen am US-amerikanischen Potenzial – schwach. Die Streitkräfte, die für die Verteidigung des Riesenlandes zur Verfügung stehen, befinden sich in einem desolaten Zustand. Das sind die Gründe für die in letzter Zeit russischerseits immer wieder betonte Notwendigkeit einer glaubhaften atomaren Abschreckung.

Die Militärreform als eine komplexe Abfolge gut durchdachter Einzelschritte wird in dem Maße vorankommen, wie es gelingen wird, die russische Wirtschaft anzukurbeln. Von einer russischen Gefahr kann im überschaubaren Zeitraum nicht die Rede sein. Dennoch sollte sich der Westen hüten Russland zu demütigen. Der Weg zu gutnachbarlichen Beziehungen führt, wie gehabt, über eine vertrauensbildende Politik, die es versteht russische Befindlichkeiten zu berücksichtigen und Misstrauen abzubauen.

Militärbezirke
Abb.1: Neufestlegung der Militärbezirke
Strategische Richtung Militärbezirk Stab
Westl. strateg. Richtung Moskauer MB Moskau
Nordwestl. strat. Richtung Leningrader MB St. Petersburg
Südwestliche strat. Richtung Nordkaukasischer MB Rostow am Don
Zentral-asiat. strat. Richtung Wolga-Ural-MB Samara
Sibirische strat. Richtung Sibirischer MB Tschita
Fernöstliche strat. Richtung Fernost-MB Chabarowsk
Abb.2: Anpassung der Grenzziehung der Militärbezirke an die entscheidenden strategischen Richtungen

Anmerkungen

1) Jede TSK wurde von einem Oberbefehlshaber kommandiert, der sich in seiner Führungstätigkeit auf einen Hauptstab der TSK stützte. Die Hauptstäbe der TSK waren dem Generalstab nachgeordnet.

2) Sergej Sokut in »Nezawisimaja Gaseta« Nr.1/2000

Dr. Karl Harms war als Oberst der NVA über sechs Jahre im Stab der Vereinten Streitkräfte in Moskau tätig. Er arbeitet heute als Publizist in Berlin.

Drohungmit der Bombe?

Drohung
mit der Bombe?

Russland und seine Nuklearwaffen

von Otfried Nassauer

„Russland senkt Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen“ meldete die französische Nachrichtenagentur afp am 14. Januar. Kaum im Amt hatte Vladimir Putin eine neue »Konzeption der nationalen Sicherheit« in Kraft gesetzt. Das Papier, so viele westliche Beobachter, erlaube nicht nur den auch von der NATO offen gehaltenen Ersteinsatz nuklearer Waffen, sondern lasse erkennen, daß Moskau angesichts der Schwäche seiner konventionellen Streitkräfte davon ausgehe, Atomwaffen künftig früher einsetzen zu müssen. Russland auf den Spuren der NATO, auf zu einer russischen Variante der Strategie der flexiblen Antwort, mit der die NATO den Kalten Krieg überwinterte? Neuer Grund zu westlicher Vorsicht?
Otfried Nassauer über die neue Rolle der Atomwaffen in der russischen Sichewrheitspolitik.

Vladimir Putin, Russlands Interimspräsident und Premierminister hat sich schnell einen Ruf als entschlossener Entscheider gemacht. Kaum im Amt, ließ er das nur drei Monate alte Grundlagendokument russischer Sicherheitspolitik, die »Konzeption nationaler Sicherheitspolitik der Russischen Föderation« seines Vorgängers Boris Jelzin aus dem Oktober 1999n überarbeiten und setzte erste eigene Akzente. Das Papier sieht den „Einsatz aller Russland zur Verfügung stehenden Kräfte und Mittel, einschließlich von Kernwaffen“ vor, „wenn bei Notwendigkeit der Abwehr einer bewaffneten Aggression alle anderen Maßnahmen zur Krisenbeilegung ausgeschöpft wurden und sich als uneffektiv erwiesen“ haben.

Die »Konzeption der Sicherheit« stellt die politische Grundlage für die Verabschiedung einer neuen »Militärdoktrin« dar, die im März politisch gebilligt werden soll. Den Entwurf für dieses Dokument hatte am 9. Oktober 1999 die Zeitung »Krasnaja Swesda« veröffentlicht. Er beschreibt die Rolle nuklearer Waffen etwas präziser. Russland sieht danach die Nuklearwaffen als „wirksamen Faktor der Abschreckung von Aggressionen, der Gewährleistung von militärischer Sicherheit der Russischen Föderation und ihrer Verbündeten sowie der Aufrechterhaltung der internationalen Stabilität und des Friedens.“ Mit dem russischen Nuklearpotenzial müsse „jedem Aggressor-Staat oder jeder Staatenkoalition unter beliebigen Lagebedingungen ein befohlener Schaden garantiert zugefügt werden können.“

Der Entwurf der Militärdoktrin wiederholt die Negative Sicherheitsgarantie, die Russland 1995 den nicht-nuklearen Mitgliedern des Nichtverbreitungsvertrages gegeben hatte: Russland werde gegen Staaten, „die nicht über Kernwaffen verfügen keine Kernwaffen einsetzen, es sei denn, ein solcher Staat verwirklicht oder unterstützt gemeinsam mit einem Kernwaffenstaat oder als dessen Verbündeter eine Invasion oder einen beliebigen anderen Überfall gegen die Russische Föderation, ihr Territorium, ihre Streitkräfte oder anderen Truppen, ihre Verbündeten oder gegen einen Staat dem gegenüber sie Sicherheitsverpflichtungen hat.“

Russland behalte sich aber „das Recht auf die Anwendung von Kernwaffen vor – sowohl in Antwort auf den auf den Einsatz von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen gegen sie oder ihre Verbündeten als auch, in kritischen Situationen für die nationale Sicherheit der Russischen Föderation und ihre Verbündeten, als Antwort auf eine Aggression großen Maßstabs mit konventionellen Waffen.“

Per definitionem stellt der Einsatz nuklearer Waffen gegen einen »nur« mit biologischen und chemischen Waffen ausgestatteten Gegner einen Ersteinsatz dar, ebenso der Einsatz in Reaktion auf einen großen konventionellen Angriff. Letzteres war auch die Strategie der NATO während der letzten zwanzig Jahre des Kalten Krieges als davon ausgegangen wurde, dass Moskau dem Westen konventionell deutlich überlegen sei. Bislang aber haben lediglich die USA in ihrer nationalen Strategie die Option offengehalten, Nuklearwaffen gegen die Besitzer von biologischen und chemischen Waffen einzusetzen. Washington bedrängt die NATO seit Jahren, dies auch in die Bündnisstrategie aufzunehmen – ein politisch höchst heikles Unterfangen, da ein solcher Einsatz nicht nur gegen die Negativen Sicherheitsgarantien von 1995 verstoßen würde, sondern – sollte dabei die nukleare Teilhabe im Rahmen der NATO zur Anwendung kommen – auch eine direkte Verletzung der Artikel I und II des Nichtverbreitungsvertrages darstellen würde. Nun scheint auch Moskau eine solche Erweiterung der Funktion nuklearer Waffen zu planen. Dort scheint man sich aber nicht bewußt zu sein, daß die Negativen Sicherheitsgarantien keine Ausnahme für Staaten machen, die biologische oder chemische Waffen besitzen. Sonst müßte es doch verwundern, warum die Wiederholung der Garantien und die erweiterte Funktion nuklearer Waffen direkt aufeinander folgen. Die Entwicklung in den Nuklearwaffenstaaten hin zu einer Erweiterung und damit Relegitimation nuklearer Waffen wirft zudem die Frage auf, welche weitergehenden, negativen Folgen für den NVV entstehen, der im April und Mai zur Überprüfung ansteht.

Zugleich machen die Konzeption nationaler Sicherheit und der Entwurf der Militärdoktrin aber auch deutlich, daß Nuklearwaffen eine vor allem politische, den Weltmachtstatus Russlands abstützende Funktion haben und ein klassisches Abschreckungsdenken unter dem Vorzeichen einer gesicherten Zweitschlagsfähigkeit vorherrscht.

Zahlenmäßig wirkt das russische Nuklearpotenzial auf den ersten Blick weiterhin imposant. Russland verfügte im vergangenen Jahr nach den Zählregeln des START-Vertrages noch über mehr als 6.500 strategische Atomsprengköpfe, für die 756 Interkontinentalraketen, 592 U-Boot-gestützte Raketen und 74 Langstreckenbomber als Trägersysteme existierten. Es gelang der russischen Föderation eine neue Langstreckenrakete vom Typ SS-27 zu entwickeln und – wenn auch deutlich langsamer als vorgesehen – bei den Streitkräften einzuführen. Jüngst wurde mit der Ukraine vereinbart, daß dort nach dem Zerfall der Sowjetunion verbliebene strategische Blackjack-Bomber im Tausch gegen ukrainische Energieschulden nach Russland überführt werden. Der Papierform nach ist Russlands strategische Nuklearmacht damit nur wenig schwächer als die der USA mit Trägersystemen für knapp 8.000 Sprengköpfe.

In der Wirklichkeit geben diese Zahlen jedoch kaum Aufschluß über das einsetzbare strategische Nuklearpotenzial Russlands. Das liegt zum einen daran, daß die Sprengkopfzahlen »nach START« zum Teil theoretischer Natur sind. Zum anderen muß berücksichtigt werden, daß jedes Trägersystem (und seine Sprengköpfe) solange mitgezählt werden, bis es verifiziert eliminiert ist. Somit sind diese Zahlen vor allem mit Blick auf die russische Seite, die bei der teuren Nuklearabrüstung deutlich hinter den USA hinterherhinkt – deutlich zu hoch. Das wird auch in folgenden Beispielendeutlich:

  • Russland verfügt zwar angeblich noch über 592 U-Boot-gestützte Raketen, es kann jedoch nur mit Mühe jederzeit je ein U-Boot zu Patrouillen im Nordmeer und im Pazifik aussenden.
  • Die Zahl einsetzbarer strategischer Nuklearwaffen bei den Russischen Streitkräften sinkt durch den natürlichen Alterungsprozeß immer weiter ab. Um 2008 – so die verbreitete Annahme – wird Russland allein deshalb vermutlich über deutlich weniger als 1.800 einsetzbare strategische Nuklearsprengköpfe verfügen. Russische Sprengköpfe haben aus technischen Gründen eine Lebensdauer von etwa 10-15 Jahren – US-amerikanische von etwa 30 Jahren – und Russland verfügt nicht über die Mittel, ebenso viele Sprengköpfe und vor allem Trägersysteme nachzuproduzieren wie wegen Überalterung außer Dienst gestellt werden müssen.

Unklarheit herrscht auch über die Zahl taktischer Nuklearwaffen, die die Russische Föderation weiterhin einsatzbereit hält. Anders als im Bereich strategischer Waffen gibt es hier bislang keine vertraglichen Transparenz und Datenaustausch vorschreibenden Regelungen. Auf westliches Drängen, über diese Waffen z.B. im Rahmen des NATO-Russland-Rates zu einem Informationaustausch zu kommen, reagierte Moskau eher zugeknöpft. Die Reduzierung taktisch nuklearer Waffen nach dem Ende des Kalten Krieges erfolgte weitestgehend auf Basis einseitiger Schritte, die beide nuklearen Supermächte 1991/92 angekündigt hatten. Im Westen herrschen vielerorts Zweifel, ob Russland Willens und in der Lage war seinen einseitig übernommenen Verpflichtungen vollständig nachzukommen.

Um die zehntausend taktische Nuklearwaffen vermuteten manche westlichen AnalytikerInnen vor wenigen Jahren noch in Moskaus Arsenalen und befürchteten, daß hier ein signifikantes Ungleichgewicht zu den USA entstanden sei. Dort sollen nur noch etwa 1.000 taktische Nuklearwaffen im Dienst gehalten werden. Russland dürfte heute kaum über mehr als 5.000 taktische Nuklearwaffen verfügen; viele dieser Waffen sind zudem zur Delaborierung vorgesehen. Schon 1997 bezifferte der kenntnisreiche stellvertretende Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Alexei Arbatov die Zahl der im Dienst verbliebenen taktischen Nuklearwaffen auf 3.800. Andere russische WissenschaftlerInnen schätzten das verbliebene Potenzial 1998 auf insgesamt 5.700 Sprengköpfe. Einig sind sich allerdings die meisten BeobachterInnen, daß im neuen Jahrtausend die Zahl der einsetzbaren taktischen Nuklearwaffen schnell auf etwa 1.000 Systeme absinken dürfte. Dies auch deshalb, weil sich Russland bei der Modernisierung und Neuproduktion von Sprengköpfen auf den Erhalt seiner strategischen Nuklearfähigkeit und die verfügbaren Ressourcen hier konzentriert. Ein größeres Programm zur Modernisierung der taktischen Nuklearwaffen Russlands – immer wieder einmal tauchte das Gerücht auf, der Bau von bis zu 20.000 neuen Mini-Nuklearwaffen sei geplant – hat sich bislang nicht bestätigen lassen.

Diese Trends haben Auswirkungen auf die von manchen westlichen AnalytikerInnen befürchtete Umsetzung einer russischen Variante der NATO-Strategie der flexiblen Antwort. Die dafür erforderliche einsatznahe Stationierung taktisch nuklearer Waffen zur Unterstützung konventioneller Operationen würde Russland vor nicht unerhebliche Probleme stellen. Viele der während des Kalten Krieges von den sowjetischen Streitkräften genutzten Depots liegen außerhalb des heutigen Russlands. Nicht selten waren dies die moderneren und besser ausgestatteten. Dort, wo Russland heute taktische Nuklearwaffen mit operativem Nutzen stationieren müßte, gibt es oft keine geeigneten, reaktivierbaren Lager für diesen Bestimmungszweck. Sie müßten mit hohen Kosten neu eingerichtet werden.

Schließlich ist zu berücksichtigen: Die deutlichen Worte, die mancher russische Politiker zur erweiterten Rolle nuklearer Waffen verliert, haben oft einem anderen Hintergrund. Mit diesen Äußerungen stützt Russland seine Ansprüche auf Mitsprache bei Fragen der europäischen und internationalen Sicherheit, seine Rolle als Großmacht und – innenpolitisch gedacht – als den USA ebenbürtige Supermacht.

Die wirklichen Interessenlagen Moskaus spiegeln sich dagegen eher im rüstungskontrollpolitischen Verhalten. Der Kreml ließ trotz des tiefen Konfliktes mit der NATO wegen des Kosovo-Einsatzes die Verhandlungen über ein KSE 2-Abkommen nicht scheitern. Und trotz der immer wieder vertagten Ratifizierung des START 2-Abkommens durch die Duma werden weiterhin bilaterale technische Gespräche mit den USA über ein künftiges START 3-Abkommen geführt. Die Absicht START II in Russland durchzusetzen wurde nie aufgegeben.

Die Vorgespräche für ein START III Abkommen fußen auf den Grundlagenvereinbarungen zwischen den Präsidenten Jelzin und Clinton während des Helsinki-Gipfels 1997, in denen u.a. auch festgelegt wurde, über die Problembereiche »verifizierbare Abrüstung atomarer Sprengköpfe« und »taktische Nuklearwaffen« zu verhandeln. Sie werden in Genf geführt.

Die in Helsinki vereinbarte künftige Obergrenze für die Zahl erlaubter Atomwaffen ist aus russischer Sicht mit 2.000- 2.500 zu hoch; Russland möchte die Zahl auf maximal 1.500 beschränkt wissen. Eine solche Absenkung war seitens der USA bislang für ein viertes START-Abkommen ins Auge gefaßt worden. Deutlich spiegelt sich das russische Interesse, Kosten für die Modernisierung und Aufrechterhaltung seines strategischen Nuklearpotenzials zu sparen.

Unklar ist derzeit, ob und welche Fortschritte bei diesen Gesprächen in den Fragen der Einbeziehung taktischer Nuklearwaffen und des verifizierbaren Sprengkopfabbaus erzielt wurden.

Ähnlich wie im Bereich strategischer Waffen muß Russland an weiteren signifikanten Reduzierungen gelegen sein. Nur so lassen sich Kosten für eine teure Modernisierung sparen. Nur so kann das russische Interesse die US-Nuklearwaffen der NATO in Europa, die Russland als strategische weil russisches Territorium bedrohende Waffen sehen muß, durch Rüstungskontrolle zu beseitigen gewahrt werden.

Ob und welche Fortschritte aber in diesen Verhandlungen insgesamt erreicht werden können wird sich nicht zuletzt daran entscheiden, ob Moskau und Washington Einigung über die Zukunft des ABM-Vertrages erzielen können. Dieser Vertrag ist aus Moskauer Sicht das Fundament aller bilateralen Verträge, mit denen die Zahl strategischer Atomwaffen begrenzt werden. Er sichert, daß der Gegner verwundbar bleibt und es darf deshalb nicht verwundern, wenn russische Politiker oder Regierungsmitglieder immer wieder einmal damit drohen, daß Russland sich bei einem Ausscheiden Washingtons aus dem ABM-Vertrag automatisch nicht mehr an die Verträge über die Begrenzung strategischer Nuklearwaffen gebunden fühle.

Unter Putins Präsidentschaft könnte Russland allerdings bereits sein, den USA auf dem Weg zu einem Kompromiß bei START III und dem ABM-Vertrag sichtbar entgegen zu kommen. Dies macht eine der selten beachteten Veränderungen deutlich, die Putin an Jelzins Konzept der nationalen Sicherheit vornehmen ließ: In der Fassung Jelzins vom 5. Oktober 1999 lautet die entscheidende Passage: Die Außenpolitik Russlands ist auszurichten „auf das Erreichen eines Fortschritts im Bereich der Kontrolle über Kernwaffen, die Aufrechterhaltung strategischer Stabilität und den Erhalt und die Festigung des Vertragsregimes von 1972 zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme.“ (Nesawisimoje wojennoje obosrenije, Nr. 46 (169), 26.11.1999) Unter Putin wird bereits zehn Tage nach Übernahme der Interims-Präsidentschaft Kompromißbereitschaft signalisiert: Hier lautet das Ziel „die Anpassung der existierenden Vereinbarungen über Rüstungskontrolle an die neuen Bedingungen in den internationalen Beziehungen.“ (Nesawisimoje wojennoje obosrenije, 14.1.2000, http://nvo.ng.ru/concepts/2000-01-14/6_concept.html)

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS). Er arbeitet u.a. an einem durch die Ford-Stiftung geförderten Projekt zu den NATO-Russland-Beziehungen.

Zurück zum Kalten Krieg?

Zurück zum Kalten Krieg?

Russland und der US-Hegemonieanspruch

von Jürgen Scheffran

Von einem »Klimawandel« zwischen Moskau und Washington ist die Rede, von einer politischen »Frostperiode« der bilateralen Beziehungen, von einem »Kalten Frieden«, der in einen neuen »Kalten Krieg« umschlagen könne. Dabei schien Russland der Berliner Zeitung noch zu Beginn des Jahres 1999 kein ernst zunehmender Machtfaktor in der internationalen Politik mehr zu sein:„Es ist unübersehbar: die »Bill-und-Boris-Ära« ist vorbei, Russland hat für die amerikanische Außenpolitik keine Priorität mehr. Ökonomisch hat man in Washington den einstigen Rivalen… abgeschrieben. Politisch ist Russland bereits seit Monaten praktisch gelähmt, sein internationaler Spielraum ist stark eingeengt. Und militärisch hat das Land nach Einschätzung von Sicherheitsexperten nicht einmal mehr die Fähigkeit, einen Nachbarstaat von der Größe Finnlands oder Schwedens zu besetzen.“1 Doch das war vor dem Kosovo-Krieg und vor dem Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges. Seitdem ist der »russische Bär« auf die Weltbühne zurückgekehrt, die Register seiner ihm noch verbliebenen Macht ziehend.
Jürgen Scheffran über innere und äußere Gründe für den russischen Positionswechsel.

Spätestens seit dem neuerlichen Tschetschenien-Krieg und der zur Jahrtausendwende symbolträchtig vollzogenen Machtübergabe von Boris Jelzin an Wladimir Putin versucht Russland wieder auf dem internationalen Parkett ein Wort mitzureden und die Phase der »Politik der Schwäche« zu überwinden. Sicher, ein großer Teil der Probleme – von der Sicherheitspolitik bis zur Wirtschafts- und Sozialpolitik – war hausgemacht bzw. ein unvermeidbares Ergebnis der schmerzvollen Transformation des Sowjetsystems in den kapitalistischen Weltmarkt. Zugleich darf aber nicht übersehen werden, dass der erhebliche Positionsverlust gegenüber dem Westen auch eine Folge westlicher Macht- und Interessenpolitik ist, die auf Russlands Sicherheitsbedürfnisse wenig Rücksicht nahm.

Es reicht nicht, den Wandel in Russland als autonomen, allein von inneren Entwicklungen angetriebenen Prozess zu beschreiben. Weitaus spannender und der Komplexität der Problemlage angemessener ist es, die Verquickung interner und externer Effekte zu untersuchen. Dies ließe sich zeigen an der Art und Weise wie die NATO-Osterweiterung über russische Ängste hinweg ging oder an der eigennützigen Politik der USA in der ölbeladenen Kaukasus-Region. Im folgenden sollen die Zusammenhänge an zwei Beispielen schlaglichtartig verdeutlicht werden, dem Kosovo-Krieg der NATO und der neuen Raketenabwehrdebatte.

Der Beinahe-Zusammenstoß
im Kosovo

Schon im Bosnien-Krieg lehnte Moskau ein militärisches Eingreifen der NATO ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates ab. Die russische Regierung suchte nach politischen Lösungen mit Hilfe internationaler Gremien, in denen sie ein gleichberechtigtes Mitspracherecht hatte (Vereinte Nationen, OSZE, Balkan-Kontaktgruppe).2 Auch im Verlauf der Kosovo-Krise votierte Russland für eine stärkere Einbeziehung der zivilen internationalen Institutionen und widersetzte sich einer »Federführung« durch die NATO. Gleichzeitig versuchte es seinen Einfluss auf die jugoslawische Führung geltend zu machen, nicht ohne deutliche Kritik zu üben an der jugoslawischen Politik (so beim Massaker von Racak).

Diese Politik traf auf den entschiedenen Widerstand vor allem der USA. Das wurde auch in Rambouillet deutlich. Zwar unterstützte Russland den ersten Vertragsentwurf, doch an den erheblichen Änderungen, die dann auf Druck der USA vorgenommen wurden um die albanische Seite zufrieden zu stellen, wurde die russische Verhandlungspartei nicht mehr beteiligt. Folgerichtig blieb Russland der feierlichen Unterzeichnung des Rambouillet-Abkommen am 19.3.99 durch die Kosovo-Albaner fern, was das Scheitern der Verhandlungen besiegelte.

Der Beginn der NATO-Luftangriffe musste Russland zwangsläufig weiter brüskieren. Premierminister Jewgeni Primakow sprach davon, der NATO-Angriff auf ein souveränes Land habe „irreparabel destabilisierende Auswirkungen auf die Situation im Kosovo, im ehemaligen Jugoslawien, in Europa und der ganzen Welt.“3 Folgerichtig sagte er einen vorgesehenen USA-Besuch mitten im Flug ab. Am 29. März 1999 kritisierte Präsident Jelzin das Vorgehen der NATO, das „unter Umgehung des Sicherheitsrats, entgegen ihrer Satzung, entgegen jeder Vernunft“ erfolgt sei. Gleichzeitig erklärte er, Russland werde sich jedoch nicht in einen bewaffneten Konflikt hineinziehen lassen und seine Beziehungen zu den USA nicht aufs Spiel setzen. Wenige Tage später schlug er die unverzügliche Einberufung einer Außenministerkonferenz der G8-Staaten vor.

Dies traf sich mit den Vorschlägen des deutschen Außenministers Fischer, der mit seinem am 13. April 1999 vorgelegten Plan bestrebt war, Moskau wieder »ins Boot« zu holen, um die G8-Bedingungen zur Beendigung der NATO-Luftangriffe durchzusetzen. Als Mittler zu Belgrad diente nun der frühere russische Ministerpräsident Tschernomyrdin, der letztlich maßgeblich mit dazu beitrug, dass Milosevic dem G-8-Plan im Rahmen eines UNO-Mandats zustimmte.

Die Darstellung auf der diplomatischen Ebene besagt aber nur wenig über die Wirkung des Kosovo-Krieges auf die Diskussion innerhalb Russlands. In den russischen Massenmedien löste das Vorgehen der NATO im Kosovo ein Feuerwerk anti-westlicher Ressentiments und Reaktionen aus, gepaart mit einem instinktiven Panslawismus, der Differenzen mit der Politik Milosevics vergessen ließ. In Umfragen sahen 70 % der RussInnen den NATO-Angriff als „direkte Bedrohung für die russische Sicherheit“ an. Da die NATO als Aggressorin angesehen wurde, wurde Jugoslawien zum Opfer, das der Unterstützung Russlands bedürfe. Es wurde dazu aufgerufen von den Sanktionen gegen Jugoslawien abzurücken und dem Land nicht nur humanitäre, sondern auch militärische Hilfe zukommen zu lassen und sogar Freiwillige zu schicken.

Tatsächlich hat der Kosovo-Krieg die politische Bühne in Russland nachhaltig verändert. War es bis dahin noch möglich, auf dem schmalen Grat zwischen Antiamerikanismus und Westbeziehungen, zwischen Rhetorik und pragmatischer Vermittlung zu lavieren, erzwang der Kosovo-Krieg eine Zuspitzung, eine Entscheidung zwischen Für und Wider. Alle maßgeblichen politischen KandidatInnen und Parteien verurteilten die Bombardierung. Selbst Gregorii Yawlinski, Führer der liberalen Jabloko-Partei, verurteilte die NATO-Angriffe als »absolut illegitim''. Der Vorsitzende des Ausschusses für internationale Angelegenheiten der Duma warf der NATO vor, mit dem Recht des Stärkeren ins Mittelalter zurückzukehren und der frühere Ministerpräsident Jegor Gaidar äußerte die Befürchtung, jeder Schlag auf Jugoslawien sei auch ein Schlag gegen eine demokratische Entwicklung in Russland.

Durch den globalen Hegemonialanspruch der USA wurden die in der Gesellschaft Russlands schon lange schwelenden antiwestlichen, in erster Linie antiamerikanischen Ressentiments gefördert. In der Elite Russlands verquicken sich „Gefühle der Demütigung, Kränkung und des verletzten Stolzes mit einem Überlegenheitskomplex und dem Bestreben, etwas von der früheren internationalen Bedeutung zurückzugewinnen“.4

Mit dem Kosovo bekam die politische Klasse Russlands ein praktisches Anschauungsbeispiel für die Befürchtung, das multiethnische Russland könne selbst einmal zur Zielscheibe der neuen NATO-Interventionsstrategie werden. Daher ist der Einwand, die antiwestliche und gegen die NATO gerichtete Haltung Russlands sei „eine Reaktion auf die Probleme im Inneren und Ausdruck des Versuchs, die Aufmerksamkeit von der anhaltenden Krise im Land selbst abzulenken“,5 nicht ganz überzeugend denn er übersieht, dass die Sicherheitsängste gegenüber dem Westen einen realen Kern besitzen. Er kann auch nicht entschuldigen, dass die NATO die Komplexe und Ängste der politischen Klasse Russlands noch verstärkte. Gestärkt wurde die Anhängerschaft derjenigen, die die NATO traditionell am entschiedensten ablehnten, also der Kommunisten und der NationalistInnen, aber auch jene Mischung aus Law-and-Order, Geheimdiensten, Wirtschaftsbossen und Militärs, die sich in der Gestalt Putins personifizierte.

Auch das russische Militär konnte im Gefolge der NATO-Intervention die Stimmung zu seinen Gunsten ausnutzen. Generalstabschef Anatolii Kwashnin verurteilte die NATO-Agression als eine Verletzung des NATO-Vertrags und folgerte, „Russland benötige alle Streitkräfte und alle Militärstrukturen, über die es verfüge, einschließlich der strategischen Kernwaffen, um darauf zu antworten und die territoriale Integrität und Souveränität Russlands zu sichern.“ 6 Konkrete Anzeichen für einen wachsenden Einfluss des Militärs sind der Ruf nach einer expansiveren Militärdoktrin, eine Zunahme von Militärübungen und eine Steigerung des Militärbudgets.

Ringen um Raketenabwehr

Langfristig könnten die Pläne der USA für die Entwicklung einer nationalen Raketenabwehr (National Missile Defense, NMD) noch folgenschwerer sein als der Kosovo-Krieg. Seit den Sechzigerjahren war Raketenabwehr ein Dauerbrenner in den Beziehungen zwischen Moskau und Washington. Zunächst spielte die damalige Sowjetunion mit ihrem um Moskau stationierten Abwehrgürtel aus nuklearbestückten Abfangraketen noch eine Führungsrolle, doch mit der Entspannung der Siebzigerjahre wurden Raketenabwehrsysteme zunehmend obsolet. Beide Supermächte waren sich der unzureichenden technischen Möglichkeiten bewusst und befürchteten, ein offensiv-defensives Wettrüsten könne die strategische Stabilität untergraben und beträchtliche Ressourcen verschlingen. Daher vereinbarten sie 1972 den ABM-Vertrag, der beiden Seiten die Entwicklung, Erprobung und Stationierung einer landesweiten Raketenabwehr untersagt, ausgenommen ein System von 100 Abfangeinrichtungen an einem Ort. Moskau behielt ein abgespecktes System bei, während die USA ihres bei Grand Forks verschrotteten.

1983 verkündete der republikanische Präsident Ronald Reagan in seiner »Star Wars-Rede« das Ziel, Atomwaffen durch die Entwicklung eines weltraumgestützten Abwehrsystems „impotent und obsolet“ zu machen. Milliardensummen flossen in die Strategische Verteidigungs-Initiative (SDI), die den ABM-Vertrag auszuhebeln drohte. Die sowjetische Regierung opponierte massiv gegen die Weltraumpläne der USA. Auch die neue Führung unter Gorbatschow widersetzte sich SDI und entwickelte dagegen ein Konzept umfassender nuklearer Abrüstung.

Das mit dem Ende des Kalten Krieges überfällige Begräbnis für SDI ließ jedoch auf sich warten. Nach dem vermeintlichen Erfolg der Patriot-Rakete gegen die irakische Scud stieg SDI wieder wie Phönix aus der Asche empor. Zwar benannte US-Präsident Clinton das Programm in Ballistic Missile Defense (BMD) um und verschob die technologischen Prioritäten hin zur Bodenabwehr, doch der finanzielle Umfang wurde kaum verringert. Als Begründung dienten nun die vermeintlichen Bedrohungen durch Schurkenstaaten, Terroristen und versehentliche Raketenstarts. Seit 1983 flossen mehr als 55 Mrd. Dollar in die Raketenabwehr. Anfang 1999 wurden zusätzliche 7 Mrd. bereitgestellt. Im Sommer 2000 soll Clinton eine Entscheidung über die Stationierung fällen, auf Grundlage der durch Abwehrtests belegten technischen Funktionsfähigkeit.

Trotz nur geringer technischer Fortschritte und obwohl NMD nicht explizit gegen Russland gerichtet ist, sieht die russische Regierung hierin eine ernste Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit. Eine zusammenfassende Argumentation gibt der russische Verteidigungsminister Sergejew im Rahmen einer in der Süddeutschen Zeitung dokumentierten Kontroverse mit US-Verteidigungminister Cohen. Die Kernpunkte:

  • Der ABM-Vertrag ist eine Voraussetzung für die Reduzierung und Begrenzung strategischer Offensivwaffen und muss erhalten bleiben.
  • Das »Nationale Raketenabwehrsystem« der USA kann die Destabilisierung der militär-strategischen Lage beschleunigen und gefährliche Folgen für die gesamte Weltordnung haben.
  • Die Bedrohung der USA durch Raketenprogramme Nordkoreas, Irans und des Iraks ist übertrieben, denn diese und andere Staaten besitzen nicht die notwendigen finanziellen, wissenschaftlichen und technologischen Mittel um in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine strategische ballistische Rakete zu entwickeln, die das Gebiet der USA erreichen könnte.
  • Für eine nukleare Erpressung oder für Terrorakte braucht es keine strategischen Raketen. Es gibt weit unkompliziertere und kostengünstigere Mittel, gegen die das Raketenabwehrsystem der USA trotz seiner enormen Kosten unwirksam ist. Zufällige oder nicht genehmigte Starts interkontinentaler Raketen habe es bislang nie gegeben.
  • Sinn macht der Aufbau eines landesweiten Raketenabwehrsystems nur zur Bekämpfung der strategischen ballistischen Raketen Russlands. Eine begrenzte Abwehr müsse technisch in der Lage sein, einen Raketenschlag aus jeder Richtung gegen einen beliebigen Teil des Landes abzuwehren und könne leicht für die Abwehr einer größeren Zahl strategischer Gefechtsköpfe aufgestockt werden.
  • Beginnt eine Seite mit dem Aufbau eines Raketenabwehrsystems zwingt sie die andere zur Verbesserung ihrer Waffen. Die wechselseitige Reaktion wird sich hoch schaukeln und das Wettrüsten stimulieren, auch in den Weltraum hinein.7

In der Reaktion auf NMD fährt Moskau zweigleisig. Zum einen werden Rüstungskontrollvorschläge gemacht, zum anderen militärische Gegenmaßnahmen eingeleitet. So beharrt Russland auf der Einhaltung des ABM-Vertrages als Eckstein des Systems gegenseitiger Abschreckung und Rüstungskontrolle und lehnt bislang eine Revision und Neuinterpretation ab. Statt dessen sollten beide Länder die Kontrolle über strategische Nuklearwaffen ausbauen.

Ein wichtiger Streitpunkt bei der Auslegung des ABM-Vertrages ist die Frage, wie weit die durch den Vertrag nicht erfassten Abwehrsysteme gegen taktische Raketen kurzer Reichweite (tactical missile defense, TMD) auf solche gegen strategische Raketen langer Reichweite aufgestockt werden können und dürfen.8 Wo die technische Trennlinie zu ziehen ist bleibt umstritten.

Um die wechselseitigen Blockaden zu überwinden vereinbarten Clinton und Jelzin am 20. Juni 1999 eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie in Anknüpfung an die Helsinki-Beschlüsse vom März 1997 ihre Verpflichtung zum Zwecke der Stärkung der strategischen Stabilität und internationalen Sicherheit bekräftigen, die Bedeutung weiterer Reduzierungen der strategischen Offensivwaffen hervorheben und die fundamentale Bedeutung des ABM-Vertrags als Eckstein der strategischen Stabilität anerkennen.

Um die Gegensätze etwas aufzuweichen und Kompromissbereitschaft zu demonstrieren schlugen einige russische ExpertInnen gewisse Zugeständnisse bei der Modifizierung der Bestimmungen des ABM-Vertrages vor, etwa die Erhöhung der erlaubten Anlagen von einer auf zwei, vertrauensbildende Maßnahmen oder ein Verbot von weltraumgestützten Abfangflugkörpern.9 Die Hoffnungen, im Gegenzug für Zugeständnisse beim ABM-Vertrag von den USA Konzessionen zu erhalten (etwa eine beschleunigte Verhandlung von START III), wurden spätestens seit der Nicht-Ratifizierung des Teststopp-Vertrages durch den US-Senat und die fortgesetzten Abwehrversuche der USA enttäuscht.

Der Konflikt um den ABM-Vertrag fand seinen Niederschlag auch in der innenpolitischen Debatte Russlands. So benutzt die russische Duma, wie schon bei der NATO-Osterweiterung und beim Kosovo-Konflikt, die START II-Ratifikation als Faustpfand gegen die US-Raketenabwehrpläne. KritikerInnen, denen die Konzessionen und Kosten einer START II-Implementierung bereits zu hoch sind, lehnen Zugeständnisse beim ABM-Vertrag rigoros ab.

Auch vom russischen Militär wurden schärfere Töne angeschlagen: Generalmajor Wladimir Dworkin warnt, mit der Beseitigung des ABM-Vertrages werde das gesamte Vertragssystem zwischen beiden Staaten »einstürzen«. Russland werde die erforderlichen Gegenmaßnahmen gegen eine Raketenabwehr ergreifen: mehr Kernwaffen, die Beibehaltung der durch START II gebannten Raketen mit Mehrfachgefechtsköpfen (SS 18, SS 19), mit denen auch die neue Topol M-Rakete ausgestattet werden könne, sowie erschwingliche Maßnahmen (z.B. Attrappen) um die Raketenabwehr zu durchdringen.

Schließlich kann Russland auch eigene Abwehrsysteme weiterentwickeln und damit dem Ruf von Rüstungslobbyisten folgen, die dies seit Jahren fordern (etwa dem früheren Berater Gorbatschows und ehemaligen SDI-Kritiker, Jewgenij Welichow).10 Genau einen Monat nach dem Abwehrtest der USA vom 2. Oktober 1999 gab der russische General Wladimir Jakowlew, Befehlshaber der russischen strategischen Raketenstreitkräfte, den Test eines Abfangflugkörpers auf dem Testgelände von Sary-Shagan in Kasachstan bekannt. Die getestete Rakete soll zu dem Moskauer Abwehrsystem A 135 gehören, das nach dem ABM-Vertrag zulässig ist.

Insgesamt kann Russland auf genügend Erfahrungen im Bereich Weltraum, Raketen und Raketenabwehr zurückblicken um den USA eine Weile lang Paroli bieten zu können, auch wenn diese technologisch und wirtschaftlich den längeren Atem haben mögen. Gewonnen wäre damit aber für keine Seite etwas, im Gegenteil: Die nuklearen Risiken des Ost-West-Konflikts würden durch ein politisch und ökonomisch instabiles Russland noch vervielfältigt. Bei einer positiven Stationierungsentscheidung der USA dürften die Chancen auf weitere nukleare Abrüstung gleich Null sein, ein weiteres START-Abkommen würde auf unbestimmte Zeit verschoben. Schließlich dürfte auch die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen eher zu- als abnehmen.

Für Sergejew lässt sich durch Raketenabwehr die Verbreitung der Raketentechnologien nicht eindämmen. Im Gegenteil, die „Umsetzung der US-Pläne wird unweigerlich dazu führen, dass die Kontrolle über die Verbreitung der Raketen und Raketentechnologien zusammenbricht. Der »Club« der Raketen- und Nuklearstaaten wird damit größer werden. Und in den Beziehungen zwischen den Großmächten wird sich der Schwerpunkt darauf verlagern, einander entgegenzuwirken.“

Bis dahin zeigt sich die russische Seite verhandlungsbereit und wartet mit eigenen Vorschlägen auf. So propagiert der Oberbefehlshaber der strategischen Raketentruppen, Generaloberst Wladimir Jakowlew, einen globalen strategischen Stabilitätspakt und ein Abkommen über die Unverletzlichkeit des Weltraumes. Als Alternative zur Raketenabwehr schlägt Sergejew neben der Bewahrung des ABM-Vertrags die Stärkung der internationalen Strukturen zur Nichtweitergabe von Massenvernichtungswaffen und deren Trägermitteln vor. Konkret unterstützt er das von Jelzin in Köln vorgeschlagene globale Kontrollsystem für die Nichtweitergabe der Raketen und Raketentechnologien. Die von Russland gemeinsam mit China unterstützte Resolution gegen ein Wettrüsten im All und für die Einhaltung des ABM-Vertrages fand bei fast allen Staaten Zustimmung, außer bei den USA.

Russlands Sicherheitskonzept
in der multipolaren Welt

Sowohl am Kosovo-Krieg als auch an der Raktenabwehrdebatte wird deutlich, wie sehr sich interne und externe Faktoren wechselseitig stimulieren können. Es zeigt sich, dass es bei den Prozessen in Russland nicht nur um interne Machtkämpfe rivalisierender Parteien, sondern auch um die Neuverteilung globaler Macht im Konzert von Staaten und Staatensystemen geht, die untereinander Koalitionen bilden oder zueinander in Konkurrenz treten können. In vielen der derzeitigen Konflikte geht es darum, sich alten oder neu formierenden Machtpolen zuzuordnen. Für Russland (wie auch für Indien oder China) ist es eine zentrale Herausforderung der Zukunft ob es gelingt, die Nation gegenüber den zentrifugalen Tendenzen in der globalisierten Welt zu bewahren. In beiden Fällen, dem Zerfall wie auch der Bewahrung der Einheit, besteht die Gefahr, dass Gewalt zu einem Mittel der Auseinandersetzung wird.

Einige der angesprochenen Probleme finden sich in dem neuen »Konzept der nationalen Sicherheit« Russlands wieder.11 Die gegenüber den entsprechenden Dokumenten der Jahre 1993 und 1997 stärkere Betonung von militärischer Gewalt und staatlicher Intervention bei einer Zurücknahme kooperativer Elemente trägt die Handschrift Wladimir Putins, der damit den außenpolitische Kurs in eine härtere Richtung lenken will.

Gleich zu Beginn dieses Konzepts ist die Rede vom Kampf zweier sich gegenseitig ausschließender Tendenzen, zwischen dem Trend zur von Russland bevorzugten Multipolarität und dem Bestreben des unter Führung der USA stehenden Westens, „eine Struktur internationaler Beziehungen zu bilden, die auf der einseitigen Lösung von Schlüsselproblemen vor allem mit militärischer Gewalt und Umgehung grundlegender Normen des Völkerrechts beruht.“ Als sicherheitsgefährdend betrachtet das Konzept das Bestreben bestimmter Staaten und internationaler Zusammenschlüsse, die Rolle der Vereinten Nationen und der OSZE bei der Lösung internationaler Konflikte zu schwächen. Gemeint ist die „in den Rang einer strategischen Doktrin erhobene Praxis der NATO, außerhalb des Geltungsbereichs des Blocks militärische Gewalt auch ohne Sanktion des Sicherheitsrates der UN durchzuführen.“

Stärker als zuvor werden die Sicherheitsinteressen militärisch definiert, sodass den russischen Streitkräften ein höherer Stellenwert zukommt, insbesondere auch den Kernwaffen. Damit rückt Russland ab von früheren weitreichenden Abrüstungsvorschlägen und der Forderung nach einem Ersteinsatzverbot. Der Kernwaffeneinsatz wird nun im Falle einer bewaffneten Aggression, „wenn alle anderen Mittel zur Lösung einer Krisensituation ausgeschöpft oder unwirksam sind“, als „notwendig und gerechtfertigt“ angesehen, und zwar auch gegen Chemiewaffen und konventionelle Waffen. Die Atomwaffe wird so zum letzten Rettungsanker russischer Großmachthoffnungen und zum Kristallisationspunkt für die Wiedergewinnung eigener Stärke gegenüber einer hoffnungslos überlegenen USA.

Anmerkungen

1) R. Heine, Ende der »Bill-und-Boris-Story«, Berliner Zeitung, 26.1.1999.

2) A. Kreikemeyer, Die Mühsal der Selbstbehauptung: Russische Außen- und Sicherheitspolitik in der ausgehenden Ära Jelzin, Friedensgutachten 1999, Münster: LIT, S. 133-142.

3) Balkan Chronology, 27. March 1999.

4) L. Schewzowa, Zwischen Großmachtrhetorik und Pragmatismus – Vom Kosovo auf die Probe gestellt: Russland und der Westen, In: T. Schmid (Hg.), Krieg im Kosovo, rororo, 1999, S. 205-217.

5) Schewzowa 1999, a.a.O.

6) Zitate aus: D.Y. Bakk, How Kosovo Empowered the Russian Military, Program on New Approaches to Russian Security, Policy Memo Series No. 61, Harvard-University, http://www.fas.harvard.eud/~ponars.

7) Schirm oder Schrecken – der Streit um den ABM-Vertrag, Verteidigungsminister der USA, William Cohen, und Russlands, Igor Sergejew, Süddeutsche Zeitung, 10.2.2000.

8) A. Pikayev, The Prospects for ABM Treaty Modification, PONARS Memo No.108.

9) A. Diakov, P. Podvig, START II and the ABM Treaty, INESAP Information Bulletin, No.17, August 1999.

10) Zu den russischen Entwicklungen Anfang der Neunzigerjahre vgl. J. Scheffran, Raketenabwehr contra Proliferation, Wissenschaft und Frieden, 1/1994.

11) 2000 Russian National Security Concept, 14 January 2000, http://www.princeton.edu/~ransac.

Dr. Jürgen Scheffran ist Wiss. Mitarbeiter bei IANUS. Er arbeitet an einem vom BMBF geförderten Kooperationsprojekt zu »Machtverteilung, Koalitionsbildung und Multipolaren Stabilität in internationalen Systemen«, an dem auch russische WissenschaftlerInnen beteiligt sind.

Russland und die GUS

Russland und die GUS

von Olga Alexandrova

Der Machtwechsel im Kreml und der Krieg in Tschetschenien haben andere Ereignisse im postsowjetischen Raum beinah vollkommen verdrängt. Das Kürzel »GUS« (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) sagt der westlichen Öffentlichkeit nach wie vor sehr wenig. Unterdessen zeichnen sich Tendenzen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion ab, die zur Neugestaltung des postsowjetischen Raums führen.

Die Transformation der Sowjetunion in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten wurde im Jahre 1991 mit dem Ziel durchgeführt, einen friedlichen Übergang von einem unitaren Bundesstaat in einen lockeren Staatenbund herbeizuführen. Die Mitgliedsstaaten der GUS, damals die sowjetischen Unionsrepubliken, sind mit stark divergierenden Zielen und Erwartungen und manche – wie Aserbaidschan, Georgien oder Moldova – nur unter starkem Druck Russlands der GUS beigetreten. Jeder von diesen Staaten verstand die Gemeinschaft auf seine eigene Art und Weise. Während Russland die GUS eher als eine Fortsetzung des früheren Bundesstaates in einer lockereren Form sehen wollte, betrachtete z.B. die Ukraine die Gemeinschaft lediglich als ein Instrument der »zivilisierten Scheidung«. Der Präsident Kasachstans, Nasarbaew, schlug dagegen die Schaffung einer Eurasischen Union mit suprastaatlichen Strukturen vor. Turkmenistan trat konsequent gegen eine engere Integration innerhalb der Gemeinschaft ein und bestand – wie die Ukraine – darauf, dass die GUS kein suprastaatliches Gebilde werden dürfe, sondern ein koordinierendes Konsultativorgan bleiben solle. Inzwischen hat die GUS ihre Aufgabe und Funktion als »Konkursverwalterin« mehr oder weniger erfüllt. Im Ergebnis der bisherigen Entwicklung besteht das Spezifikum dieser Organisation in der einzigartigen Kombination von Integrations- und Desintegrationstendenzen, die zur politischen Distanzierung der Mitgliedsstaaten von einander bei der Erhaltung von wirtschaftlicher Abhängigkeit führen.

Die GUS in der Krise

Heute jedoch befindet sich die GUS in der Krise, die im Wesentlichen nicht so sehr durch einen Mangel an Integrationsinitiativen, als vielmehr »genetisch« bedingt ist. Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten wurde seinerzeit nicht auf der Grundlage eines grundsätzlich neuen Aufbruchskonzepts geschaffen, sondern als Substitut für die aufgelöste Sowjetunion. Bei der Gründung wurde eine gewisse Unbestimmtheit in Hinsicht auf ihren Status festgelegt: In den Gründungsdokumenten wurde nicht klar definiert, was die neue Struktur darstellt oder darstellen soll. Es wurde lediglich erklärt, dass die Gemeinschaft weder ein Staat, noch eine suprastaatliche Struktur sei. Die GUS besitzt keine Völkerrechtssubjektivität und ist mit keiner vertragschließenden Gewalt ausgestattet. Infolge dessen nimmt sie in rechtlich relevanter Hinsicht an den internationalen Beziehungen nicht teil. Das Vertragswerk der GUS ist inzwischen unübersichtlich geworden. Trotz der Tatsache, dass mehr als 50 GUS-Organe entstanden und weit über 1.000 Verträge und Abkommen vereinbart worden sind (umgesetzt werden jedoch lediglich 7-10 Prozent von allen Abkommen und Verträgen), funktioniert heute die GUS als ein Instrument einer Neuintegration eher schlecht als recht. Dabei werden die beschlossenen Abkommen nicht selten in erster Linie von Russland selbst nicht eingehalten. Zahlreiche multilaterale Verträge wurden oft nur von einem Teil der GUS-Staaten unterzeichnet und sind wegen fehlender Ratifizierung nicht in Kraft getreten. Hier sind nur ein paar Beispiele zu nennen: Die Satzung der GUS ist durch die Ukraine, Moldova und Turkmenistan nicht unterzeichnet worden und die Ukraine, die auch am System der kollektiven Sicherheit der GUS nicht teilnimmt, betrachtet sich lediglich als ein »assoziiertes Mitglied« oder »Teilnehmerstaat«. Zehn GUS-Staaten unterzeichneten ursprünglich die Konvention über die Zwischenparlamentarische Versammlung (inzwischen ist auch die Ukraine der Zwischenparlamentarischen Versammlung der GUS beigetreten) und neun Staaten die Erklärung über die Gründung der Wirtschaftsunion. Dem Taschkenter Vertrag über die kollektive Sicherheit gehörten bis April 1999 neun von zwölf GUS-Staaten an. Im April 1999 haben sich Adserbaidschan, Georgien und Usbekistan geweigert den Taschkenter Vertrag zu verlängern. Somit umfasst heute das System der kollektiven Sicherheit lediglich sechs von zwölf GUS-Staaten – Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgistan, Russland und Tadschikistan, wobei Armenien mit keinem von diesen Staaten eine gemeinsame Grenze hat und Russland nur mit Belarus und Kasachstan.

Einer der Gründe für das Versagen der GUS als Integrationsstruktur gleichberechtigter Subjekte liegt in der politischen, wirtschaftlichen, militärischen sowie institutionellen Dominanz Russlands. In russischer Auffassung bedeutete die Konsolidierung der GUS die Aufrechterhaltung der auf Moskau zentrierten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen anderer GUS-Mitglieder. Die russischen Überlegungen bezüglich der Integration gingen davon aus, dass die anderen GUS-Staaten einen Teil ihrer Souveränität abtreten sollen, nicht jedoch Russland. In der Tat, zu wessen Gunsten sollte Russland auf einen Teil seiner Souveränität verzichten? Zugunsten der vollkommen von Russland kontrollierten GUS, mit anderen Worten zu seinen eigenen Gunsten? Dies zeigte den grundsätzlichen Unterschied zu den europäischen Integrationsvorstellungen. Die europäische Integration setzt zwar auch voraus, dass die Mitgliederstaaten einen Teil ihrer Souveränität abgeben, aber an suprastaatliche Strukturen, in denen kein Staat Übergewicht hat und die von allen Mitgliedern gleichermaßen getragen werden.

Die wichtigsten Ansatzpunkte der russischen GUS-Politik sahen u.a. vor:

  • umfassende wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen einer Wirtschaftsunion, Schaffung günstiger Voraussetzungen für die Etablierung des russischen Kapitals in den anderen GUS-Staaten;
  • Aufbau eines Systems der kollektiven Sicherheit;
  • Errichtung russischer Militärstützpunkte in den anderen GUS-Staaten sowie gemeinsamer Schutz (d.h. unter Beteiligung Russlands) der äußeren Grenzen der GUS;
  • Schutz der »russischsprachigen« Bevölkerung als eines der wichtigsten Instrumente zur Sicherung langfristiger russischer Präsenz in den anderen GUS-Staaten.

Die Erhaltung der russischen Diaspora als Vertreterin russischer Interessen außerhalb der Grenzen der Russischen Föderation führte zu ihrer Instrumentalisierung. Der Anspruch, einziger Garant von Frieden und Stabilität im postsowjetischen Raum zu sein, und der Versuch, die russische Kontrolle über friedensstiftende Aktionen zu sichern, schufen die Möglichkeit, ethnische und politische Spannungen sowie Grenz- und Territorialkonflikte zwischen den neuen unabhängigen Staaten in russischem Interesse zu instrumentalisieren. Dasselbe betraf die militärische Präsenz Russlands.

Es wurde jedoch bald offensichtlich, dass Moskau nicht imstande war, die Kosten für eine direkte Abhängigkeit anderer ehemaliger Sowjetrepubliken aufzubringen. Russland musste deswegen nach solchen politischen Mitteln der GUS gegenüber suchen, die bei begrenztem Kostenaufwand seine Kontrolle über die neuen unabhängigen Staaten sichern. Vom ursprünglichen Konzept der Reintegration des postsowjetischen Raums hat sich die russische Führung jedoch verabschiedet. Das bedeutet freilich nicht, dass Russland bereit wäre, die Kontrolle über den postsowjetischen Raum vollkommen aufzugeben – insbesondere über die Regionen, in denen die Interessen (Erdöl und -gas) der neuen russischen Wirtschaftselite tangiert werden. Die heutige russische Politik in der GUS ist weniger auf die Wiederherstellung der Sowjetunion in dieser oder jener Form gerichtet, als viel mehr auf die Sicherung der schwindenden russischen Kontrolle, wobei sich die Formen dieser Kontrolle wandeln und wirtschaftlicher Einfluss sich wirksamer erweisen kann als direkte politische und militärische Einflussnahme.

Der Schwerpunkt in den Beziehungen zwischen den GUS-Staaten verschiebt sich immer mehr von der multilateralen Kooperation auf die bilaterale Ebene. Russland hat diesen Sachverhalt nicht nur anerkannt, sondern es konzentriert seine Bemühungen vor allem auf den Ausbau bilateraler Beziehungen zu anderen GUS-Staaten. Die immer offensichtlicher werdenden Differenzierungs- und Diversifizierungstendenzen innerhalb der GUS haben ohne Zweifel der russischen Politik Anstoß in dieser Richtung gegeben. Dies ist auch das stillschweigende Eingeständnis, dass die GUS ihr integratives Potenzial fast vollständig erschöpft hat und selbst aus Sicht der russischen Führung als Integrationsinstrument zunehmend an Bedeutung und Attraktivität verliert. Russland ist zur differenzierten Anbindungspolitik auf der Basis der bilateralen Beziehungen über gegangen und die Suche nach Lösungen in Streitfragen vollzieht sich zunehmend außerhalb der GUS-Strukturen. Der GUS-Rahmen wird dadurch immer mehr relativiert.

Subregionale Differenzierung der GUS

In den letzten Jahren sind Tendenzen festzustellen, die auf eine Festigung der Selbstständigkeit der meisten GUS-Staaten (mit Ausnahme von Armenien, Belarus und dem militärisch und finanziell total von Russland abhängigen Tadschikistan) in den internationalen Angelegenheiten sowie deren aufkeimende Emanzipation von Russland hinweisen. Mit der Konsolidierung der Eigenstaatlichkeit nach außen werden Unterschiede in der außen- und sicherheitspolitischen Ausrichtung sowie in den außenwirtschaftlichen Interessen verschiedener Staaten zunehmend deutlich. Dies ist keine Fehlentwicklung innerhalb der GUS, sondern ein natürlicher Prozess. Das Entstehen neuer institutionalisierter und nicht institutionalisierter subregionaler Zusammenschlüsse ist ein weiteres deutliches Anzeichen für den sich vertiefenden Differenzierungsprozess innerhalb der GUS. Diese formellen und informellen Zusammenschlüsse, obwohl sie innerhalb der GUS entstehen, sind nicht so sehr auf die Zusammenarbeit in der Gemeinschaft wie auf sich selbst oder auswärtige Partner ausgerichtet und stellen ohne Zweifel einen Prozess der Regionalisierung der GUS und einer graduellen Institutionalisierung regionaler oder subregionaler Interessen dar, die sich deutlich von »gemeinsamen«GUS-Interessen unterscheiden.

Dazu gehört die im März 1996 gegründete sogenannte Gemeinschaft Integrierter Staaten oder die Zollunion, welche Russland, Belarus, Kasachstan, Kirgistan und seit Ende 1998 auch Tadschikistan umfasst. Obwohl diese Gemeinschaft bei ihrer Gründung als eine höhere Stufe der Integration gepriesen wurde funktioniert sie eher schlecht als recht und droht wegen gegensätzlicher Zolltarifpolitik der einzelnen Teilnehmer zu scheitern. Es gibt immer wieder Streitigkeiten wegen russischer protektionistischer Zolltarife zwischen Russland einerseits und den anderen drei Zollunion-Mitgliedsstaaten, weil Verbraucher in Belarus, Kasachstan und Kirgistan letzten Endes für ihre Importe mehr zahlen müssen um russische Produzenten zu schützen. Der Beitritt Kirgistans zur WTO hat die Zollunion noch weiter ausgehöhlt. Das Gleiche trifft auf den Zentralasiatischen Wirtschaftsraum Kasachstans, Kirgistans und Usbekistans (gegründet im Januar 1994) zu, der auch eine militärische Dimension umfassen sollte. Besonders zu erwähnen sind jedoch zwei ganz unterschiedliche subregionale Zusammenschlüsse: die Union Belarus-Russland (gegründet als Gemeinschaft im April 1996, im Dezember 1999 nach mehreren Anläufen zu einem vertraglich fixierten Unionsstaat ausgebaut) und das sogenannte »GUUAM« (der Name besteht aus den ersten Buchstaben der beteiligten Staaten – Georgien, Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan und Moldova).

Die Union Belarus-Russland ist ein merkwürdiges Gebilde. Einerseits werden jetzt supranationale Organe geschaffen und mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattet, andererseits soll die nationale Souveränität der Partnerstaaten weiterhin gewahrt werden. Beide Seiten sind mit unterschiedlichen Zielen die Union eingegangen: Dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko ging es vor allem um die Lösung eigener wirtschaftlicher Probleme mit Hilfe eines gemeinsamen Wirtschaftsraums Belarus-Russland, was auf erhebliche Vorteile u.a. im Transport- und Energiebereich für Minsk hinauslaufen würde. Für die russische Führung war die Symbolik der Integration wichtig, welche ohne besonders hohen Einsatz politischen Mehrwert schuf. Eine bedeutende Rolle spielten auch sicherheitspolitische Überlegungen: »Die Westerweiterung« Russlands als Antwort auf die NATO-Osterweiterung. Der neue »Unionsstaat« bleibt eher eine »virtuelle Realität« als eine reale »Wiedervereinigung« und die Aussichten auf die Schaffung eines »slawischen Staates« unter der Beteiligung der Ukraine sind genauso unrealistisch wie früher.

GUUAM entstand zuerst als ein informeller Zusammenschluss – oder engere Zusammenarbeit und »strategische Partnerschaft« – zwischen Aserbaidschan, Georgien und der Ukraine auf der Grundlage des gemeinsamen Interesses an der Realisierung des alternativen eurasischen Transportprojekts für den Transport des kaspischen Erdöls über Georgien und die Ukraine. Später schlossen sich zuerst Moldova und, auf dem NATO-Gipfeltreffen im April 1999 in Washington, Usbekistan an. Neben dem wirtschaftlichen Interesse am Kommunikationsprojekt haben alle Staaten – mit Ausnahme Usbekistans – ein gemeinsames Problem: den Seperatismus und die ambivalente Rolle Russlands in dieser Frage. Aserbaidschan war mit dem Krieg in Nagorny Karabach, Georgien in Abchasien und Moldova in Transnistrien konfrontiert, in der Ukraine befindet sich die Krim in dieser Hinsicht noch immer im latenten Zustand. Für Nagorny Karabach, Abchasien und Transnistrien versucht Russland die für Aserbaidschan, Georgien und Moldova unannehmbare Formel eines »gemeinsamen Staates«, einer Art Konföderation, durchzubringen. Darüber hinaus bemühen sich Aserbaidschan, Georgien und die Ukraine um eine umfangreiche Zusammenarbeit mit der NATO.

Die Tatsache, dass die Ukraine, der nach Russland zweitgrößte Nachfolgestaat der Sowjetunion, mit von der Partie ist, verleiht der Gruppe größere Bedeutung. Die Ukraine hat 1997 die »strategische Partnerschaft« mit Aserbaidschan und Georgien beschlossen und trat neben Russland als Garant der Konfliktbeilegung in Moldova ein. GUUAM ist keine regionale Organisation, kein Bündnis – es ist lediglich eine Interessengemeinschaft und ein Beratungsgremium. Während Russland und Belarus versuchen, ein Modell der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Vereinigung – wenn auch virtuell– zu realisieren, wählen die Staaten im Süden der GUS – die Ukraine sowie die Staaten Transkaukasiens und Zentralasiens – den Weg der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Da die Zusammenarbeit innerhalb GUUAM vor allem auf die Verwirklichung der Kommunikationsprojekte, vor allem des Transports des Erdöls vom Kaspischen Meer nach Ostmittel- und Westeuropa, zielt, haben nach einigen Meldungen auch Polen und Rumänien ihr Interesse angekündigt, sich der Gruppe anzuschließen. Ein großes Problem für das Funktionieren des GUUAM bleibt die wirtschaftliche Schwäche aller beteiligten Staaten und vor allem des größten Partners, der Ukraine.

Heute kristallisieren sich neben Russland drei Gruppen von Staaten innerhalb der GUS heraus:

  • Militärische Verbündete Russlands; dazu gehören Armenien, Belarus, Tadschikistan. Mit diesen Staaten hat Russland Verträge über enge militärische Zusammenarbeit abgeschlossen.
  • Westorientierte Staaten (GUUAM);: Aserbaidschan, Georgien, Moldova, die Ukraine, Usbekistan.
  • Zwischen diesen zwei Gruppen befinden sich Kasachstan, Kirgistan und Turkmenistan, wobei Turkmenistan zur GUUAM-Gruppe tendiert.

Fehlende Voraussetzungen
für eine umfassende Integration der GUS

Einer der Gründe für die fortgesetzten Differnzierungstendenzen innerhalb der GUS liegt darin, dass einige wichtige Voraussetzungen für eine engere politische, sicherheitspolitische und wirtschaftliche Integration dieser Organisation fehlen. Es gibt derzeit keine äußere und innere Bedrohung, die als für alle gemeinsame Gefahr empfunden wird, oder auch nur eine von allen Staaten gleichermaßen geteilte Bedrohungsperzeption. Die Bedrohungsperzeptionen verschiedener GUS-Staaten erweisen sich im Gegenteil nicht selten als nicht kongruent oder sogar als gegensätzlich. Die Diskussion um die NATO-Osterweiterung oder der gescheiterte Versuch Russlands, eine gemeinsame Position und Verurteilung der NATO wegen Kosovo durch die GUS zu erzielen, haben dies besonders deutlich gezeigt: Mit Ausnahme von Belarus und Tadschikistan, die den russischen Standpunkt vorbehaltlos unterstützten, sowie von Armenien, das eine zurückhaltende Stellung gegenüber der NATO bezog, strebten andere GUS-Staaten nach enger Zusammenarbeit mit der Allianz. Es fehlt weiter eine gemeinsame tragende supranationale oder suprastaatliche Idee. Letztlich ist auch kein umfassendes gemeinsames und einigendes wirtschaftliches Interesse festzustellen. Die GUS-Staaten wickeln ihren Außenhandel zunehmend mit der Außenwelt ab. In den letzten Jahren und insbesondere nach August 1998 ist die Position Russlands im Handel mit den meisten GUS-Staaten deutlich schwächer geworden, was vor allem auf die tiefe Wirtschaftskrise in Russland, aber auch in anderen GUS-Staaten sowie auf die Umstellung der Außenhandelsbeziehungen vieler Staaten der Gemeinschaft auf Drittländer zurückzuführen ist. Der Anteil des Intra-GUS-Handels am Gesamtaußenhandelsvolumen der GUS ist seit 1991 von 78 auf 24 Prozent zurückgefallen. Auch der Anteil Russlands am Außenhandel der meisten dieser Staaten ist deutlich gesunken, dennoch bleibt das Land für einige Staaten (Belarus, Kasachstan, Moldova, die Ukraine) nach wie vor der wichtigste Handelspartner.

Russland hat sein wirtschaftliches Übergewicht und seine Überlegenheit gegenüber den anderen GUS-Mitgliedstaaten natürlich bewahrt. Die dargelegten Entwicklungstendenzen innerhalb der GUS deuten jedoch auf das Schwinden des russischen Einflusses auf die Konzeption und Durchführung der Politik der neuen unabhängigen Staaten hin. Das Entstehen neuer Zusammenschlüsse auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion ohne russische Beteiligung wird in politischen Kreisen Russlands im besten Falle als Anzeichen wachsender politischer und wirtschaftlicher Konkurrenz mit Russland im postsowjetischen Raum und im schlimmsten Falle als Ausdruck einer »antirussischen Ausrichtung« der Politik der betroffenen Staaten betrachtet.

Der Aufbau von Bündnisbeziehungen zu den neuen unabhängigen Staaten wurde auch vom amtierenden russischen Präsidenten Putin zu einer der Prioritäten der Sicherheitspolitik des Landes erklärt. Das Bemühen der GUS-Staatsoberhäupter um ein freundliches Verhältnis zu Putin, das auf dem Gipfeltreffen im Januar 2000 in Moskau offensichtlich war, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sie sich noch nicht sicher sind, was vom neuen Mann im Kreml zu erwarten ist. Der Krieg in Tschetschenien wird nicht nur für die russische Innen- und Außenpolitik weitreichende Folge haben. Er hat auf direkte und indirekte Weise die Komplexität der Probleme, mit denen sich die neuen unabhängigen Staaten in ihren Beziehungen zu Russland konfrontiert sehen, und die unterschiedliche Lage der GUS-Staaten gegenüber Russland sehr deutlich gezeigt. Die meisten GUS-Staaten – vor allem Aserbaidschan und Georgien, die sich verstärktem Druck aus Moskau ausgesetzt sehen – sowie die Ukraine, verfolgen den Krieg in Tschetschenien mit gemischten Gefühlen. Einerseits registriert man mit Besorgnis die Hinweise der russischen Führung auf »externe Bedrohungen« und »äußere Feinde«. Andererseits wird das von Russland hervorgehobene Feindbild von internationalen islamistischen Netzwerken, die den postsowjetischen Raum bedrohen, in vielen GUS-Staaten – insbesondere in Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan –nicht ignoriert. Die unterschiedlichen Reaktionen auf den Krieg in Tschetschenien und Irritationen Moskaus über solche Reaktionen im »nahen Ausland« zeigen sehr deutlich, zu welchen ehemaligen Sowjetrepubliken die Beziehungen Moskaus am problematischsten sind. Das sind in erster Linie Aserbaidschan, Georgien und die Ukraine. Es bleibt abzuwarten wie die neue russische Führung unter Wladimir Putin ihre Politik gegenüber der GUS insgesamt und den einzelnen Staaten zu gestalten gedenkt.

Literatur

Bremmer, Ian/Bailes, Alyson (1998), Sub-regionalism in the Newly Independent States, in: International Affairs, Band 74, Nr. 1.

D'Anieri, Paul (1997), International cooperation among unequal partners: The mergence of bilateralism in the former Soviet Union, in: International Politics, Band 34, Nr. 4.

Ehrhart, Hans-Georg u.a. (Hrsg.) (1995), Crisis Management in the CIS: Whither Russia?, Baden-Baden, Nomos Verlagsgesellschaft.

Götz, Roland/Halbach, Uwe (1996), Politisches Lexikon GUS, München, Verlag C.H.Beck.

Grinberg, Ruslan/Kosikova, Lidija (1997), Russland und die GUS. Auf der Suche nach einem neuen Modell wirtschaftlicher Zusammenarbeit, Berichte des BIOst, 50/1997.

Kelett, Anthony (1999), Soviet and Russian Peacekeeping 1948-1998: Historical Overview and Assessment, in: The Journal of Slavic Military Studies, Band 12, Nr. 2.

Meissner, Boris (1994), Das politische Paktsystem innerhalb der GUS, in: Osteuropa-Recht, Band 40, Heft 3.

Rühl, Lothar u.a. (1998), Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zwischen Konflikten und russischer Dominanz, Informationen zur Sicherheitspolitik, Wien.

Dr. Olga Alexandrova ist Wissenschaftliche Referentin am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOSt), Köln

Rüstung in Russland

Rüstung in Russland

Entwicklungstendenzen und Exporte

von Peter Lock

Um die gegenwärtige Situation des russischen militärisch-industriellen Komplexes – in der russischen Abkürzung VPK – zu verstehen, ist ein kurzer Rückblick auf den sowjetischen VPK und seine Rolle im innergesellschaftlichen Kräftespiel notwendig. Im Hinblick auf sein Verhältnis zu den Rüstungsindustrien in den führenden westlichen Industriestaaten ist die außerordentliche Beschleunigung des Innovationstempos in zivilen Sektoren von großer Bedeutung, das inzwischen auch die Entwicklung der meisten militärischen Systeme bestimmt. Denn das Dilemma des sowjetischen VPK bestand darin, daß er keine Verbindung zur globalen Dynamik ziviler Innovation hatte. Die zahlreichen technologischen Spitzenleistungen des VPK, z.B. in der Weltraumforschung, können nicht darüber hinweg täuschen, daß die Isolation der Sowjetunion von der Dynamik des zivilen Weltmarktes dazu geführt hat, daß man industriell das Zeitalter der Informationstechnologien verpasst hat. Wegen der nach wie vor weitgehend chaotischen Verhältnisse in der russischen Volkswirtschaft hat sich bis heute, trotz der prinzipiellen Verfügbarkeit hervorragend ausgebildeten wissenschaftlichen Personals, daran wenig geändert.

Immerhin hat sich die Diskussion längst von naiven Erwartungen an die Möglichkeiten friedenskensianischer Strategien nach dem Ende des Kalten Krieges als Umkehrung vom Rüstungskensianismus verabschiedet. Die »Friedensdividende« war zwar eine notwendige Utopie während des Kalten Krieges, aber sie war zugleich auch eine von Kenntnissen wirtschaftlicher Zusammenhänge kaum getrübte Wunschvorstellung. Denn man war einerseits einem falschen Image herausragender technologischer und unternehmerischer Leistungsfähigkeit der Rüstungsindustrie aufgesessen und hatte andererseits die Hinterlassenschaft des Kalten Krieges in Form von riesigen Hypotheken übersehen, die von nachfolgenden Generationen noch abgetragen werden müssen.1 Unmittelbare Wohlfahrtsgewinne hat es daher nicht gegeben, während die langfristigen positiven Wirkungen sich in der allgemeinen konjunkturellen Entwicklung verlieren.

Vor allem in Russland ist es bislang nicht gelungen, die im VPK gebundenen Ressourcen umzusteuern. Mehr noch, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Russlands hat sich trotz massiver Rohstoffexporte soweit verschlechtert, daß man um die Aufrechterhaltung von einheitlicher Staatlichkeit, insbesondere der Reproduktion leistungsfähiger Streitkräfte, fürchten muß. Vor dem Hintergrund von Verfügbarkeit und notwendiger Kontrolle von großen Mengen zum Teil weitreichender Massenvernichtungswaffen müssen die Entwicklung des russischen VPK und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes als ein vorrangiges Problem für die globale Sicherheit betrachtet werden. Die Gefahren, die sich aus der gegenwärtigen russischen Misere ergeben können, sind ungleich größer als die Schäden, die von den sog. Schurkenstaaten und internationalen Terroristen angerichtet werden können.

Die notwendige Vorgeschichte

Während Gorbatschow mit Rüstungsminderungen eine systemische Stabilisierung anstrebte und die ökonomische Implosion der sowjetischen Wirtschaft durch Konversion zu verhindern suchte, wurde er im Westen als Systemveränderer hofiert. Die Menschen in Russland und den anderen Staaten der Sowjetunion haben die Gorbatschow'sche Politik realistisch bewertet und ihn nach seiner Entmachtung mit Verachtung gestraft während er im Westen weiter als der gefeiert wird, der er wider eigenen Willen wurde. Er war Auslöser oder doch zumindest Beschleuniger einer systemischen Veränderung, deren Ausgangspunkt die Implosion des erschöpften, von Rustüngsproduktion geprägten sowjetischen Wirtschaftssystems war.

Die Wahrnehmung des VPK als vermeintlich besonders leistungsfähiger Sektor innerhalb der sowjetischen Wirtschaft hat zu einer fatalen Restrukturierung der sowjetischen Industrie unter Gorbatschow geführt. Mit dem Ziel, die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern und besonders langlebigen Gebrauchsgütern in hinreichender Menge und in verbesserter Qualität zu erreichen, wurden Ende der Achtzigerjahre Unternehmen des zivilen Sektors in großem Umfang in den VPK integriert, sodaß statistisch der Anteil des VPK an der zivilen Produktion dramatisch stieg. Gleichzeitig hatte sich damit der Machtbereich der lokalen und regionalen VPK-Direktoren während der Endphase der Sowjetunion teilweise umfassend erweitert. Zwar schmelzen diese »machtvollen Eisberge« des VPK, die die Industrielandschaft nach wie vor prägen, seit 1990 unaufhaltsam ab. Aber es ist gegenwärtig nicht erkennbar, wann dieser Prozeß zum Stillstand kommen und sich selektiv in bestimmte Richtungen umkehren wird.

Zunächst ist festzuhalten, daß das sowjetische Rüstungssystem weit weniger effizient gesteuert war als es dessen auf die Legitimation der eigenen militärischen Industrie-, Forschungs- und Bürokratiekomplexe ausgerichtete Projektion im Westen Glauben machte. Eine Kombination von vertikaler sektorieller Segmentierung des VPK durch oft wahllose, zentralistische Zuordnung zu den zahlreichen Branchenministerien und umfassender Steuerungsmacht einzelner Unternehmen – vor allem aufgrund ihrer häufig regional dominanten Position – hat den zentralen Planungsvorgang de facto weitgehend zu einem Anpassungsprozeß an die existierenden und sich ständig verstärkenden Machtpositionen dominanter Akteure sowohl auf Unternehmens- als auch auf der Ebene einzelner Branchenministerien gemacht. Verstärkt durch die geradezu paranoide Geheimhaltung innerhalb des VPK startete die russische Föderation mit einer industriellen Infrastruktur, die durch totale Intransparenz, ineffektive parallele Mehrfachentwicklungen im F&E-Bereich und großen Disökonomien durch vertikale Integration ohne Berücksichtigung der damit verbundenen Kosten gekennzeichnet war. Auch das System der sowjetischen Rüstungsproduktion befand sich in den Achtzigerjahren bereits in einer schweren Entwicklungskrise, die in den propagandistischen Nebeln des Kalten Krieges weitgehend verhüllt blieb.

Alle Versuche des VPK, den Innovationsprozeß zu effektivieren und den Beschaffungsprozeß zu rationalisieren, sind an der »Vermachtung« des ökonomischen Systems gescheitert. Während die Einführung unterschiedlicher Typen eines Waffensystems im Westen als Sequenz auf einem bedrohlich effizienten Innovationspfad des sowjetischen VPK dargestellt wurde, handelte es sich tatsächlich aber häufig um verschiedene Baumuster der gleichen Generation, die von konkurrierenden, aber durchsetzungsmächtigen Produktionsverbünden entwickelt worden waren. Klassisches Beispiel sind die Panzer der Baumuster T 64, T 72, T 80, die im Westen alarmistisch als vermeintlicher Beweis für eine bedrohliche Innovationskompetenz der sowjetischen Rüstungsindustrie dargestellt wurden, obgleich es sich um konkurrierende Produkte handelte, die allen militärischen Erfordernissen widersprechend parallel beschafft wurden. Die Sowjetarmee war politisch nicht in der Lage, die Beschaffung an militärischen Prioritäten zu orientieren und zwecks Standardisierung das beste Baumuster auszuwählen. Die jeweiligen Produktionsverbünde erwiesen sich politisch als mächtiger.

Überspitzt formuliert war die Rüstungsbeschaffung in der Sowjetunion und damit indirekt auch die Doktrin eine Funktion der Machtverhältnisse unter den segmentierten Akteuren des VPK. Daher war es nur konsequent, daß sowohl Gorbatschow als auch später Jelzin innerhalb der militärischen Führungsschicht Unterstützung fanden, denn dort war man davon überzeugt, daß der sowjetische VPK den technologischen Wettlauf ohne einschneidende wirtschaftliche Veränderungen und den Zugriff auf westliche Technologien endgültig verlieren würde.

In einem Punkt waren alle Akteure des VPK vereint und haben sehr erfolgreich ihre partikularen ökonomischen Interessen als Kollektiv zum Schaden der sowjetischen Volkswirtschaft durchgesetzt: Rüstungsexporte galten als Ausdruck des Erfolges des sowjetischen Systems gegenüber dem Westen. Der expansiven Breshnew-Doktrin blieben zumeist nur ärmste Drittweltstaaten als Kooperationspartner (u.a. Angola, Mozambique, Kuba, Äthiopien, Somalia, Nicaragua). Daher waren die expandierenden sowjetischen Rüstungsexporte gesamtwirtschaftlich eine große Belastung, denn nur ein geringer Teil wurde bezahlt. Auch finanzkräftigere Rüstungskunden wie Syrien, Irak und Indien ließen »anschreiben«. Zumeist wurden »unendliche« Kredite vergeben. In der innersowjetischen Konkurrenz um Ressourcen waren die an Rüstungsexporten beteiligten Unternehmen gleichwohl privilegiert, denn die Exporte wurden bei Ablieferung aus der Staatskasse in Rubel bezahlt, unabhängig davon, ob die Empfängerländer jemals für die Lieferungen bezahlten.

Die allgemeine Rüstungsexporthausse nach der Ölkrise im Jahre 1973 hatte zu einer stetigen Ausweitung auch der sowjetischen Rüstungsexporte geführt. Daraus hat sich eine sich selbst immer weiter verstärkende ökonomische Position des VPK im sowjetischen System ergeben. Der VPK konnte höhere Löhne zahlen und umfangreiche Sozialleistungen bieten, was zu einer Konzentration besonders qualifizierter Arbeitskräfte im VPK führte. Zusätzlich hatten Rüstungsunternehmen und militärische Forschungsinstitute privilegierten Zugang zu selektiven Importen aus westlichen Industriestaaten, vor allem im Werkzeugmaschinenbereich, nachdem durch Energieexporte nach Westeuropa hinreichend Devisen verfügbar geworden waren. Die Allokation erheblicher Devisen zur Beschaffung westlicher Werkzeugmaschinen, häufig unter Umgehung der COCOM-Restriktionen, an den VPK brachte volkswirtschaftlich kaum Produktivitätsfortschritte, da in Abwesenheit von Marktmechanismen in der vertikal zerklüfteten Rüstungsindustrie Maschinenlaufzeiten dieser Hightech-Importe von wenigen Tagen pro Jahr keine Seltenheit waren.

Rüstung in Russland

Mit dem Ende der Sowjetunion und dem Beginn der Liberalisierung im Jahre 1992 unter Gaidar ist der Rüstungsmarkt intern und extern zusammengebrochen. Der Staat verfügte weder über die Mittel für militärische Beschaffung, noch über die Mittel für die Kreditierung von Exportgeschäften nach altem Muster. Durch die anfänglich weitgehende Ausnahme des VPK von der Privatisierung und die massive vertikal integrierte Produktion, die durch die Übernahme ziviler Fertigung Ende der Achtzigerjahre um die Dimension häufig auch lokaler horizontaler Konzentration erweitert worden war, hat sich der Kern der Rüstungsindustrie trotz minimaler Beschaffungsvolumen in Russland auf erheblich abgesenktem Niveau gehalten. Zunächst negierte man die veränderte Lage und setzte die Produktion auf der Grundlage einer Pyramide von Lieferantenkrediten fort, wozu auch die Herstellung von Konsumgütern im Rahmen planwirtschaftlicher Konversionsvorgaben gehörte, für die es allerdings kaum Nachfrage gab. Dies führte zu teilweise großen Lagerbeständen an Waffensystemen unterschiedlichster Art. Folglich konzentrierten sich alle Anstrengungen auf Rüstungsexport, vorgeblich um auf diese Weise die Umstellung der Rüstungsindustrie auf zivile Produktion zu finanzieren. Mit Ausnahme der Lieferung militärischer Hochtechnologie nach China gab es jedoch wenig zahlungskräftige Nachfrage nach russischer Militärtechnologie. Entsprechend hat der Sektor große Verluste an qualifiziertem Personal an den Dienstleistungssektor erlitten und operiert auf niedrigstem Lohnniveau. Aber für die verbliebene Belegschaft ist die Betriebszugehörigkeit, trotz Zwangsurlaub und Wochenarbeitszeiten von ein bis zwei Tagen, zumeist ohne Alternative. Der Mobilität, die mit einem Wohnortwechsel verbunden ist, sind in Russland enge bürokratische und wirtschaftliche Grenzen gesetzt.

Die Direktoren des VPK kontrollieren das Geschehen, sie haben häufig verwertbare Anlagen aus den Betrieben herausgelöst und zum eigenen Nutzen privatisiert oder Lagerbestände an Rohstoffen und Halbwaren illegal exportiert. Überwiegend kam es zu einer Nomenklaturaprivatisierung. Sie ermöglichte es den Direktoren häufig, sich »ihren« Betrieb mehr oder weniger anzueignen.

Hierdurch wurde das Netzwerk bestehender informeller Beziehungen wiederum zu einer zentralen Ressource der Transformation bzw. deren Verhinderung. Unter diesen Voraussetzungen ist die russische Wirtschaft insgesamt in sehr starkem Maße auf zwischenbetrieblichen Tauschhandel zurückgefallen. Wahrscheinlich ist, daß dies für die Rüstungsindustrie in besonders starkem Maße gilt. Aus den akkumulierten zwischenbetrieblichen Verschuldungspyramiden der ersten Jahre, die per Dekret abgeschrieben wurden, hat sich eine auf Tausch beruhende Wirtschaftsweise entwickelt. Selbst Steuern werden durch Warenlieferungen abgegolten, deren Preise weit überhöht sind da es sich meist um Waren handelt, für die keine Nachfrage besteht und schon gar nicht zu den Verrechnungspreisen, die in diesen »Steuerzahlungen« nominal behauptet werden.

Staatliche Forschungsförderung, die grundsätzlich an militärischen Prioritäten ausgerichtet war, ist auf einem Minimum angelangt. Gleichwohl ist bislang die flächendeckende Schließung maroder Einrichtungen ausgeblieben und eine notwendige Restrukturierung verhindert worden. Hierzu haben zahlungsfähige Exportkunden in Nischenmärkten beigetragen. Hier ist vor allem der Satellitensektor zu nennen, in dem es eine intensive Zusammenarbeit mit westlichen Konzernen gibt, weil man bestimmte Technologien überlegen beherrscht und vor allem kostengünstig anbieten kann. Weitere Bereiche sind spezielle Werkstoffe, sowohl metallische als auch nichtmetallische. In einigen Fällen scheiterte eine Einbindung technisch leistungsfähiger Institute in global vernetzte Produktionsstrukturen an fehlenden Rahmenbedingungen wie fehlende Rechtssicherheit für potenzielle Partner und politische Einschränkungen der Handlungsfreiheit im militärisch-industriellen Bereich.

Entgegen der propagandistischen Darstellung paralleler Strukturen im Rüstungsbereich in West und Ost hatte sich seit den Siebzigerjahren eine dramatische Differenzierung der Grundlagen rüstungstechnologischer Entwicklung ergeben, die sich im Verlaufe der Zeit beschleunigt hat und auch in den westlichen Industrienationen zu einschneidenden Strukturveränderungen des Rüstungssektors geführt hat. Das Innovationstempo des Informationstechnologiesektors, dessen Dynamik von ziviler Nachfrage auf dem Weltmarkt bestimmt wird, hat das sowjetische, ausschließlich von militärischen Prioritäten bestimmte Innovationssystem uneinholbar abgehängt. Während in den westlichen Industriestaaten Waffensysteme und Produktionsverfahren immer stärker vom »spin-in« ziviler Informationstechnologie profitierten, hatte die sowjetische Rüstungsindustrie einen mindestens zehnjährigen informationtechnologischen Rückstand zu bewältigen. In begrenztem Maße gelang dies durch hochspezielle und aufwendige Softwareentwicklungen. Aber im Gegensatz zur westlichen Informationstechnologie, die auf zivile Märkte ausgerichtet und daher generisch konzipiert ist, hatten diese Lösungen kein kumulatives Entwicklungspotenzial.

Dieser Strukturwandel in der rüstungstechnologischen Innovation hat der russischen Rüstungsindustrie jede Chance genommen auch nur näherungssweise eine Parität zu wahren. Daher haben die Folgen der tiefen Wirtschaftskrise in Russland seit Beginn dieses Jahrzehnts den Niedergang der Rüstungsindustrie zwar beschleunigt, aber sie waren strukturell nicht ursächlich. Vielmehr war bereits der sowjetischen Wirtschaft aus systemischen Gründen eine Teilhabe an der zivil-industriellen Innovationsdynamik des Weltmarktes verschlossen geblieben.

Daher beruht die im VPK verbreitete Sowjetnostalgie auf einem Trugbild einer Zeit, in der man bereits den Anschluß endgültig verloren hatte. Die militärischen Spitzentechnologien des VPK befanden sich bereits in einer Sackgasse ohne langfristiges Entwicklungspotenzial. Darüber können beeindruckend agile Jagdflugzeuge von Sukhoi und MAPO (MIG) nicht hinweg täuschen. Den zur US-amerikanischen AirLand-Battle-Doktrin gehörenden Waffensystemen der Achtzigerjahre hatte die sowjetische Industrie nichts entgegen zu setzen. Der zweite Golfkrieg hat diesen Sachverhalt weltöffentlich gemacht.

Daß es den russischen Rüstungssektor überhaupt noch gibt, erklärt sich einerseits aus dem alternativlosen Prinzip Hoffnung der beteiligten Akteure, die sich noch nicht erfolgreich in andere Wirtschaftsbereiche absetzen konnten und mageren Exportmärkten, die Gegenstand des letzten Abschnittes sind. Die Beschaffung neuen Gerätes durch die russischen Streitkräfte ist minimal, jedenfalls seit die Hersteller auf wirklicher Bezahlung durch den Staat bestehen. Anfang der Neunzigerjahre hatten die Streitkräfte Waffen geordert, die nie oder so spät gezahlt wurden, daß die Zahlung aufgrund der hohen Inflationsrate den gelieferten Werten nicht einmal näherungsweise entsprachen. Der laufende Krieg in Tschetschenien und die damit verbundenen Änderungen des politischen Klimas eröffnen erstmals Chancen für ein wenig erhöhte Beschaffungen.

Sollten sich die russischen Staatsfinanzen wieder so weit konsolidieren, daß militärische Beschaffungen überhaupt in einem nennenswerten Umfang realisiert werden können – was derzeit nicht der Fall ist – dann stellt sich die Frage der Ausrichtung und Konzentration des Rüstungssektors auf der Grundlage einer noch zu entwickelnden Doktrin. Die dabei zu diskutierenden Optionen hängen unmittelbar vom politischen Umfeld ab, in dem sich Russland definieren muß. In erster Linie bedeutet das, daß das Verhältnis zur EU – und davon abgeleitet zur NATO – entscheidend diese Entwicklung prägen wird.

An eine eigenständige intensive Weiterentwicklung der Rüstungstechnologie ist nicht zu denken, selbst in jenen Nischen, in denen bereits entwickelte Prototypen, auch gemessen an westlichen Maßstäben, ein leistungsfähiges Angebot ergäben wenn man sie denn mit westlicher Elektronik ausgestattet in angemessener Frist auf dem Markt anbieten könnte. Ein Beispiel ist das neue militärische Transportflugzeuge Antonow 70. Ohne westlichen Partner wird man allein schon aus Kapitalmangel ein solches Produkt nicht zur Produktionsreife bringen können und wäre dann auch auf Exportmärkte angewiesen.

Dabei hat es gegenwärtig den Anschein, als hätten die westlichen Luftrüstungskonzerne ein Verweigerungskartell gebildet, das darauf aus ist die russische Luftfahrtindustrie endgültig auszuschalten. Vor allem der Zusammenbruch ziviler Märkte in Russland hat das »good will«-Potenzial selektiver rüstungswirtschaftlicher Zusammenarbeit auf Seiten der westlichen Luftfahrtindustrie als Eintrittskarte in die zivilen Märkte Russlands vollständig entwertet. Daher wird sich die Zusammenarbeit mit westlichen Unternehmen, auch im Rüstungsbereich, auf isolierte Komponentenfertigung in Fällen beschränken, in denen russische Unternehmen nach wie vor über ein verfahrenstechnisches »tacit know how« verfügen, das sie kostengünstig anbieten können. Außerdem hat wie bereits erwähnt die große Nachfrage nach ziviler Weltraumtechnologie einigen russischen Unternehmen, die ursprünglich dem VPK zugeordnet waren, gute Exportchancen eröffnet, die zu einer Konsolidierung der entsprechenden Unternehmen führen können, wenn es die Rahmenbedingungen erlauben.

Insgesamt aber bleibt die Situation in Russland von der Diskrepanz zwischen seinem potenziellen Reichtum und der Implosion der Ökonomie sowie dem Zerfall des Staates geprägt. Das gesamte Staatsbudget Russlands übersteigt kaum den Haushaltsansatz für die Bundeswehr, die Gesellschaft ist dem Staat entfremdet, das Bruttosozialprodukt liegt in der Größenordnung von Belgien. Ein erheblicher Teil der industriellen Produktion wird auf Tauschbasis abgewickelt, was hohe Transaktionskosten verursacht und konkurrenzfähige Exportproduktion nahezu unmöglich macht. Zusätzlich überlagern mächtige kriminelle Akteure die russische Ökonomie wie ein giftiger Nebel, für den staatliche Akteure kein Hindernis bilden.

Schließlich belastet das militärische Erbe des Kalten Krieges die russischen Perspektiven. Die noch zu erbringenden Lebenszykluskosten vor allem der Massenvernichtungswaffen übersteigen die finanzielle Leistungsfähigkeit Russlands deutlich. Zur Verhinderung von Katastrophenszenarien, die über Russland hinausreichen,2 muß das teure Recycling der kumulierten chemischen und nuklearen Kriegsmittel dringend als internationale Gemeinschaftsaufgabe angegangen werden.

Als gefährliche Alternative zu einer langsam zunehmenden rüstungsindustriellen Verflechtung und schließlichen Integration in einen gesamteuropäischen Verbund zeichnet sich ein abgekoppelter russischer, von Nationalismus getriebener Weg ab, der darauf verwiesen ist, die vergleichsweise spärlichen Ressourcen auf die Entwicklung größtmöglicher Abschreckung mit Massenvernichtungswaffen zu konzentrieren. Dies bedeutet die Entwicklung asymmetrischer militärischer Optionen in Russland, die das angehäufte Arsenal atomarer und chemischer Waffen aggressiv in Wert setzen. Denn differenziertere Doktrinen sind für ein isoliertes Russland, das sich von der NATO, d.h. den USA und Europa, bedroht sieht, nicht finanzierbar.

Rüstungsexport als scheinbarer Rettungsanker des VPK

Die nach wie vor große Aufmerksamkeit, die russischen Rüstungsexporten in den westlichen Medien zuteil wird, vermittelt ein falsches Bild. Die russischen Rüstungsexporte3 sind gegenüber sowjetischen Zeiten dramatisch gesunken und haben sich in den letzten drei Jahren ein wenig konsolidiert, weil die Volksrepublik China Aufträge über mehrere Milliarden US-$ an die russischen Luftrüstungsindustrie erteilt hat. Nahezu alle anderen lukrativen Märkte werden inzwischen von den USA beherrscht. Größere und kleinere Brosamen bleiben Großbritannien, Frankreich und rechnet man die Lieferungen von Überschußbeständen hinzu auch Deutschland.

Dabei ist zu beachten, daß sich Rüstungsimporte gegenüber den Achtzigerjahren insgesamt außergewöhnlich verringert haben. Gründe liegen in der Beendigung des Kalten Krieges und der ökonomisch erzwungenen Einstellung des konfrontativ begründeten faktischen Verschenkens von Waffen durch die Sowjetunion an befreundete Staaten und der tiefgreifenden Finanzkrise in vielen Staaten, die noch in den Achtzigerjahren stark gerüstet hatten. Ohne die Nachrüstung nach dem zweiten Golfkrieg in den Erdöldiktaturen der Region wäre der Zusammenbruch des internationalen Rüstungsmarktes noch drastischer ausgefallen.

Trotz größter Anstrengungen und massiver Beteiligung an allen Rüstungsmessen reduziert sich der russische Rüstungsexport auf:

  • die Lieferung moderner Luft- und Flottenrüstung an die Volksrepublik China in großem Umfang, einschließlich Know-how-Transfer (40 % und mehr);
  • die gelegentliche Berücksichtigung der Angebote in Erdöldiktaturen, Südkorea und Südostasien um die Verhandlungsposition gegenüber den dominierenden USA und Großbritannien zu verbessern (etwa 30%);
  • das Abtragen von massiver Verschuldung aus Zeiten des RGE durch Lieferung von Rüstungsgütern, z.B. MIG 29 an Ungarn;
  • neuerdings die Schaffung einer eigenständigen Agentur zur internationalen Vermarktung von Surplusmaterial, deren Erträge den Streitkräften zu Gute kommen soll (weniger als 10 %);
  • legale, aber vor allem illegale Transaktionen aller Art, dazu gehören Lieferungen innerhalb der GUS, Verschieben von Armeeeigentum auf Schwarzmärkte und verschleierte Lieferungen aus laufender Produktion durch kriminelle Akteure (Anteil wird heute auf nicht mehr als 10 % geschätzt). Da auch auf den völkerrechtlich legalen Märkten Schmiergeldzahlungen in Höhe von 15 % der Auftragssumme an der Tagesordnung sein sollen (vgl. Schreiber) ist eine Abgrenzung der beiden Sphären problematisch.

Mit einem maximalen Horizont von drei Mrd. US-$ für Exporte ist eine Refinanzierung und Modernisierung des russischen VPK ausgeschlossen. Ohne einschneidende Änderung der Situation wird das kontinuierliche Abschmelzen des VPK nicht aufgehalten, ferner wird man weiter technologisch den Anschluß an die von den USA forcierte Entwicklung verlieren und längerfristig nur noch als Billiganbieter einfacher Waffensysteme fungieren. Der strukturelle Niedergang wird bislang noch dadurch ein wenig verschleiert, daß die Entwicklungszeiträume komplexer Waffensysteme im Vergleich zur zivilen Technologie ungleich länger sind und daß Waffensysteme überaus lange Zeit, häufig bis zu 50 Jahre, eingesetzt werden und somit noch im Kalten Krieg erreichte Standards weiter marktfähig sind.

Trotz seiner prekären Situation hat Russland soweit bekannt sämtliche UN-Embargomaßnahmen diszipliniert mitgetragen und allen Versuchungen widerstanden Massenvernichtungswaffen zu exportieren.

Bleibt es bei der relativen Isolierung der russischen Industrie wird die Fähigkeit der Rüstungsindustrie weiter abnehmen, in Konkurrenz zu anderen Anbietern leistungsfähige Rüstungsgüter zu fertigen. Damit wäre sie dauerhaft auf die Bedienung illegaler Märkte in innerstaatlichen bewaffneten Konflikten verwiesen. So paradox es unseren im Kalten Krieg sozialisierten Ohren klingen mag, es liegt im europäischen Sicherheitsinteresse Wege zu finden, mit der russischen Rüstungsindustrie zu kooperieren und sie einzubinden.

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu: Peter Lock, Auf Schulden gibt es keine Dividende. Friedensdividende: Einst notwendige Utopie, heute tragische Illusion, in: Der Überblick 2/1992, S. 67-70. Diese Hypotheken bestehen unter anderem in Fehlallokationen in der Volkswirtschaft, schamloser Vernutzung der Umwelt und schließlich hoher Staatsverschuldung.

2) Siehe: Lock, Peter / Opitz, Petra (1996): Deferred Costs of Mlitary Defence: An Underestimated Economic Burden, in: Chaterji et al. eds., Arms Spending, Development and Security, New Dehli 1996, S.253-266.

3) Daten zu russischen Rüstungsexporten finden sich in: SIPRI-Yearbook, erscheint bei Oxford University Press; auf den Internetseiten des US-amerikanischen Center for Defense Information und dem Informationsdienst des Council for a livable World Education Fund »Arms Trade News« in Washington D.C. 20002, 110 Maryland Avenue N.E., Suite 201, nützliche Informationen auch im Yearbook von BICC (Bonn International Center for Conversion).

Dr. Peter Lock, European Association for Research on Transformation, Hamburg / Moskau (EART) e.V.

Russland setzt aufs Militär

Russland setzt aufs Militär

von Jürgen Nieth

Vor einem Jahr, am 24. März 1999 startete die NATO ihren Luftkrieg gegen Jugoslawien. Sie startete, ohne vorher die zivilen internationalen Institutionen ausreichend in eine Lösungssuche für den existierenden Konflikt einzubeziehen, sie bombardierte ohne internationales Mandat. Über die wahren Gründe für diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gibt es bis heute viele Diskussionen und Spekulationen. Dass die vorgegebenen »humanitären Aspekte« für den Krieg nicht die ausschlaggebenden – auf gar keinem Fall aber die einzigen – waren, wurde bereits nach wenigen Tagen sichtbar, als in Folge des Krieges das Elend unter der zu schützen vorgegebenen Zivilbevölkerung wuchs und die Flüchtlingszahlen explodierten.

Nein, die Gründe für das amerikanische Drängen auf schnellen Kriegsbeginn unter Umgehung der UNO – und die damit verbundene Brüskierung Russlands und Chinas – lagen nicht im Kosovo, sie waren globaler. In jeder Phase dieses Konfliktes demonstrierten die USA – nicht nur gegenüber Jugoslawien sondern auch gegenüber den Verbündeten und dem Rest der Welt, wer das sagen hat und dass sich die letzte Supermacht nicht mehr reinreden läßt. Unfreiwillig (?) bestätigt vom deutschen Außenminister Fischer in der »Zeit«: „Wir hatten nur 15 Minuten Zeit“ um zu entscheiden ob wir mitmachen oder nicht.

Die verbliebene Supermacht USA demonstrierte Macht und die einstige Supermacht Russland wurde vorgeführt, zeigte sich ohnmächtig. Wäre der Krieg nach wenigen Tagen wie geplant zu Ende gewesen, die Welt wäre heute eine andere.

Doch es kam anders: Die UNO und die Russen mussten nach über 2 Monaten Krieg ins Boot zurückgeholt werden. Und die Russen zeigten militärisch neues Selbstbewusstsein, als sie in einer Blitzaktion den Flugplatz von Pristina besetzten und damit die Aufteilung des Protektorats Kosovo unter die 4 mächtigsten NATO-Mächte kurzfristig in Frage stellten.

Ein viertel Jahr nach dem Ende des Kososvo-Krieges führt Russland dann selbst Krieg im eigenen Land. Und – im Vergleich zum ersten Tschetschenienkrieg muss man bitter feststellen – sie haben vom NATO-Krieg gegen Jugoslawien gelernt. Diesmal ist ihr Krieg propagandistisch gut vorbereitet. Ein paar Hundert Tote in Folge von Anschlägen in russischen Städten, für die Tschetschenische Rebellen verantwortlich gemacht werden, haben in der Bevölkerung die Stimmung für ein hartes durchgreifen geschürt. Die Berichterstattung über den Krieg im Kaukasus wird – wie auf dem Balkan – sorgsam gefiltert. Russische Politiker zeigen sich selbstsicher, auch was die Reaktionen der westlichen Welt betrifft, die dann tatsächlich trotz Flüchtlingstrecks, dem Erdboden gleichgemachter Dörfer und ungezählter Toter unter der Zivilbevölkerung auffallend zurückhaltend sind. Der selbst gerechtfertigte Krieg (Kosovo) gegen ein anderes Land macht es eben schwer, den selbst gerechtfertigten Krieg eines anderen Landes gegen sogenannte Terroristen zu verurteilen. Wer selbst den Krieg als »Fortführung der Politik mit anderen Mitteln« betrachtet, muss das zwangsläufig auch bei anderen akzeptieren. Insoweit hat das Wort vom Kosovo als der »Mutter des zweiten Tschetschenienkrieges« seine Berechtigung.

Doch die Ex-Supermacht greift nicht nur in Tschetschenien auf das Militärische zurück. Auch in der internationalen Politik Russlands wird dem militärischen Faktor eine offensichtlich größere Bedeutung beigemessen: In Japan drohte Jelzin Ende des letzten Jahres allen potenziellen Feinden unverblümt mit der A-Bombe und in der neuen Militärdoktrin wird auch der Ersteinsatz der A-Waffen einkalkuliert.

Ein Schritt zurück zur bipolaren Welt ist die Betonung des militärischen Faktors sicher nicht, dafür ist der Abstand zwischen Russland und den USA ökonomisch und militärisch viel zu groß; ob dieser Schritt die Chancen für eine neue russische Weltmachtrolle in einem multipolaren System verbessert oder ob es Schritt ist, der den ökonomischen Niedergang noch beschleunigt, das wird die Zeit zeigen, denn da spielen noch viele andere Faktoren eine Rolle.

Doch soviel steht fest: Ein Blick auf den Kosovo zeigt, der militärische Sieg der NATO hat die Probleme nicht gelöst, der Hass ist eskaliert und an ein ziviles Zusammenleben der unterschiedlichen Ethnien ist für eine überschaubare Zukunft nicht zu denken.

Ein Blick auf Tschetschenien zeigt, der militärische Sieg Russlands wird die Probleme nicht lösen, unter Umständen wird selbst der Kampf gegen die »Rebellen« noch Jahre dauern.

International stagniert seit längerem die Politik der Rüstungsbegrenzungs- und Abrüstungsvereinbarungen. Mit der »Neuauflage von SDI« drohen die USA auch bestehende Verträge wie den ABM-Vertrag auszuhebeln. Die stärkere Betonung des militärischen Faktors wird auch hier nicht zur Lösung von Problemen beitragen, im Gegenteil, sie wird bestehende Probleme verschärfen. Was wir brauchen ist eine zivile Politik und in die muss Russland als weltpolitisch wichtiger Faktor einbezogen werden, noch ist die Tür dafür offen.

Ihr Jürgen Nieth