10 Jahre nach Tschernobyl

10 Jahre nach Tschernobyl

von Jürgen Scheffran

Am frühen Morgen des 26. April 1986, im Verlaufe eines „Sicherheitstests“, explodierte Block 4 des Atomkraftwerks von Tschernobyl in der nördlichen Ukraine. Von der Wucht der Explosion wurde das Dach des Reaktorgebäudes weggeblasen. 190 Tonnen hoch-radioaktiven Urans und Graphits, Stoffe mit einer Radioaktivität von mehr als 100 Millionen Curie, der 40-fachen Menge von Hiroshima und Nagasaki, wurden in die Atmosphäre geschleudert. Die radioaktive Wolke überstrich Europa wie ein strahlender Pinsel und hinterließ unsichtbare Spuren der Zerstörung in Mensch und Tier, die auch nach zehn Jahren nicht beseitigt sind. Das Feuer von Tschernobyl konnte zwar notdürftig in Beton gegossen werden, doch es brennt in uns allen weiter.

Besonders schwerwiegend waren die Folgen für die Menschen in der Region um Tschernobyl. Ein Viertel des fruchtbaren Ackerlands wurde zu radioaktivem Abfall. Dutzende von Ortschaften hörten auf zu existieren, 400.000 Menschen mußten evakuiert werden. 70<-10> <0>% der Radioaktivität ging auf die Bevölkerung von Belarus nieder, die von den Behörden über den Ernst der Lage getäuscht wurde. 1,2 Millionen Kinder in Belarus und der Ukraine tragen ein hohes Risiko, an Krebs oder Leukämie zu erkranken.

Werden Millionen von Menschen einer erhöhten Strahlung ausgesetzt, sind (abgesehen von den unmittelbar Strahlenkranken) die Opfer nur statistisch abzuschätzen. Je nach zugrundegelegtem Modell sind tausende oder hunderttausende von Toten zu beklagen, wobei viele den Krebstod in sich tragen, ohne es zu wissen. Diese Unsichtbarkeit der Katastrophe macht ihr Verdrängen so leicht. Nach wie vor ist das Risiko radioaktiver

„Niedrigstrahlung“ Gegenstand einer Kontroverse unter Experten, wobei frühere verharmlosende Ansichten zunehmend revidiert werden müssen.

Die Glaubwürdigkeit der Experten ist in den Augen der Öffentlichkeit auch dadurch erschüttert, daß manche professionellen Strahlenschützer immer noch eher den Schutz der Strahlen vor der Kritik der Menschen im Auge haben als den Schutz der Menschen vor der Wirkung der Strahlung. Daß die internationale Kontrolle über die Kernenergie der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) unterliegt, deren Auftrag zugleich die Verbreitung der Kernenergie ist, hat der Verbreitung der Wahrheit keinen Vorschub geleistet. Am Mantel des Schweigens über Tschernobyl haben Freunde der Kernenergie in Ost und West gemeinsam gewoben. Als in der Bundesrepublik alle Meßgeräte Alarm schlugen und Kinder ihre strahlenden Schuhe vor der Tür des Kindergartens lassen mußten, gab die Bundesregierung bekannt, die Gesundheit der Bevölkerung sei zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Auch heute noch wird (ungeachtet der Erfahrung von Harrisburg) die These vertreten, ein ähnlicher Unfall sei in einem westlichen Kernkraftwerk ausgeschlossen, da hier eine andere »Sicherheitskultur« herrsche (so eine OECD-Studie von 1995). Könnte es nicht eher sein, daß das Hantieren mit der gewaltigen, in der Materie schlummernden Energie menschliches und technisches Versagen geradezu anzieht?

Die folgenschwerste Industriekatastrophe der Geschichte hat auch Geschichte gemacht. Die immensen Schäden und Kosten waren von der im Wandel befindlichen Sowjetunion nicht zu verkraften. Tschernobyl bedeutete einen entscheidenden Rückschlag nicht nur für die Perestroika Gorbatschows, sondern auch für Glasnost, die unter der Desinformation verschüttet wurde. Tschernobyl war jedoch nicht nur der Anfang vom Ende der Sowjetunion, sondern auch der Kernenergie. Selbst die Kernenergieindustrie mußte nach dem Schock von ihren optimistischen Prognosen abrücken und hatte den Ausstiegsszenarien nicht mehr viel entgegenzusetzen. Eine Wende zeichnete sich erst ab, als sich die Möglichkeit eröffnete, den Teufel Klimakollaps mit dem Beelzebub Kernenergie auszutreiben. Eine geläuterte Kerntechnologie wird nun angeboten, die inhärent sicherer, sauberer und billiger als ihr Vorgänger sein soll. Die Scheinalternative zwischen Kohle und Kernenergie lenkt von den wahren Alternativen ab: Energieeinsparung und regenerative Energien.

Die Zweifel an der Kernenergie bleiben. Die Endlagerungsproblematik ist weiter ungelöst und die Bürde für zukünftige Generationen nimmt mit jedem Tag zu. Niemand kann angesichts einer unsicheren Zukunft sagen, ob die sozialen und politischen Strukturen stabil genug sind, um diese Last ausreichend lange zu tragen. Das mit der Kernenergie verbundene Konflikt-, Gewalt- und Repressionspotential ist auch in den westlichen Staaten gegenwärtig, was die Auseinandersetzungen um die Castor-Transporte oder um die Plutoniumverschiffung zwischen Japan und Frankreich zeigen.

Schließlich darf nicht übersehen werden, daß mit dem nuklearen Brennstoffkreislauf die Möglichkeit zum Bau der Atombombe verbunden ist, trotz aller Bestrebungen der IAEO, eine Trennlinie zwischen den beiden Gesichtern des Janus-Kopfes zu ziehen. Wie durchlässig diese Trennlinie ist, hat der irakische Diktator Saddam Hussein gezeigt. Der Golfkrieg war somit nicht nur ein Krieg um Öl, sondern auch ein Krieg um das militärische Gefahrenpotential der Kernenergie. Solange die Industriestaaten, allen voran die Kernwaffenmächte, den Griff auf die Kerntechnik ungeniert praktizieren (Beispiel Garchinger Reaktor), wird der Mythos Kernenergie auch in der »Dritten Welt« weiterleben.

„Beeilt Euch, Genossen!“

„Beeilt Euch, Genossen!“

Stalins Atombombenprogramm

von Igor N. Golovin

Ende der dreißiger Jahre begann ich die Anwärterschaft der Moskauer Universität und war mit der Theorie der Kernkräfte unter Leitung eines der größten russischen theoretischen Physikers der Zeit, Igor Tamm, beschäftigt. Dann besuchte ich regelmäßig jede Woche das Kernphysikseminar im physikalischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion. Das Seminar leiteten Skobelzin und Tamm. Als Mitglieder hatten Frank, Weksler, Cherenkov und andere aktive Experimentatoren und Theoretiker teilgenommen.

Im Januar 1939 veröffentlichte die Zeitschrift „Naturwissenschaften“ die erstaunliche Nachricht über die Entdeckung von Hahn und Straßmann. Unmittelbar danach wurde klar, daß es möglich ist, die Atomenergie für die Menschheit nutzbar zu machen.

Sofort begannen unsere Kernphysiker in Moskau, Leningrad und Charkov, Experimente auf diesem Gebiet durchzuführen. Im Leningrader Physikalisch-Technischen Institut bei Abraham Ioffe war der aktivste Mitarbeiter I.V. Kurchatov, der mich in mehreren Konferenzen und Seminaren bereits beeindruckt hatte und voller Energie und Geist war. Er widmete seine ganze Kraft und die seiner Labormitarbeiter der Lösung der wichtigen Frage, ob die Kettenreaktion möglich sei. In seinem Labor waren schon im Sommer 1939 die wichtigsten Berechnungen durchgeführt und die Zahl der Neutronen, die durch eine Spaltung frei werden, gemessen worden. Ein wenig später haben mit Kurchatovs Hilfe Flerov und Petrshak die spontane Spaltung ohne Neutronenbestrahlung durchgeführt. Bald danach wurde deutlich, wie wichtig diese Erkenntnisse für die Atombombenentwicklung sind.

Im Institut der physikalischen Chemie, das gerade aus dem Institut von A. Ioffe ausgegliedert worden war und unter Semenovs Leitung stand, arbeiteten zwei junge, sehr begabte Theoretiker: Chariton und Zeldovich. Sie besuchten Kurchatovs Seminar und begannen sofort die Theorie der Kettenreaktion bei der Uranspaltung zu entwickeln. Sie wiesen nach, daß die Reaktion entweder ruhig fließend gesteuert sein kann oder zur Explosion führt. Sie hatten ausgerechnet, daß in beiden Fällen eine riesige Menge Energie frei wird.

Sobald aus den Zeitschriften und Kurchatovs Messungen die notwendigen Werte bekannt wurden, rechneten sie die kritische Uranmasse aus, die notwendig wäre, um eine Explosion auszulösen. Im Juli 1939 erzählte Chariton, daß hierzu ca. 10 kg Uran-235 notwendig sind, und erklärte, daß z.B. im Falle einer solchen Explosion über dem Zentrum Moskaus nicht nur die Stadt vollständig bis zur Stadtgrenze zerstört werden würde, sondern auch die ganze Umgebung. N. Semenov schrieb sofort an das zuständige Ministerium. Er bekam leider keine Antwort.

Der Akademiker Chlopin aus dem Radium-Institut in Leningrad hatte unterdessen die Urankernsplitter sorgfältig identifiziert. Doch die Wissenschaftler Ioffe und Chlopin setzten in der Akademie der Wissenschaften durch, daß eine sogenannte Urankommission gebildet wurde, die einen Plan für die Untersuchung der Kettenreaktion entwickelte. Sie gaben dem Geologen A.E. Fersman den Auftrag, Uranerzlager zu finden.

Die Regierung der Sowjetunion reagierte nicht auf diese Schritte. Im Herbst 1939, vom 15.-20. November, fand in Charkov im Ukrainer Physikalisch-Technischen Institut die alljährliche Kernphysik-Konferenz der Akademie der Wissenschaften statt. Dort versammelten sich 120 Physiker aus 16 Städten der Sowjetunion. Von den ca. 40 Vorträgen beschäftigten sich nur vier mit der Uranspaltung. Es fanden wichtige Diskussionen über die Isotopentrennung statt.

Nach einem Jahr sorgfältiger Untersuchungen zur Uranspaltung fand die nächste Konferenz statt. Vom 20.-26. November 1940 versammelten sich 200 Teilnehmer in Moskau. Von den 40 Vorträgen beschäftigten sich wiederum nur vier mit der Uranspaltung. Doch dieses Mal hielt Kurchatov einen Übersichtsvortrag, in dem seine Schlußfolgerung folgendermaßen lautete: Im Prinzip ist die Frage, ob die Kettenreaktion möglich ist, positiv zu beantworten. Leider gäbe es allerdings große technische Schwierigkeiten, um eine effektive Isotopentrennung für Wasserstoff und Uran zu entwickeln.

Solange Kurchatov die Ergebnisse der Experimente analysierte, wuchs die Spannung im Hörsaal, der bis auf den letzten Platz mit Zuhörern besetzt war. Nachdem Kurchatov seinen Vortrag beendet und den Hörsaal verlassen hatte, begann ein aufgeregtes Gemurmel unter den Zuhörern. Wir fühlten, daß wir an einem großartigen Ereignis teilnahmen.

Der Vorsitzende Chlopin verließ den Saal durch dieselbe Tür wie Kurchatov. Einer nach dem anderen folgten ihm – Ioffe, Lejpunkskij, Chariton und andere. 10 Minuten, 20 Minuten gingen vorbei … Ich hielt es nicht mehr aus und ging auch in das Hinterzimmer. Da war ein Kampf ausgebrochen! Endlich, nach einer halben Stunde, kam Chlopin zurück in den Hörsaal und sagte: „Wir haben die Lage besprochen und sind zu folgendem Schluß gekommen: Obwohl die Resultate sehr wichtig sind, ist es zu früh, sich an die Regierung zu wenden, um in großem Ausmaße die Arbeit weiterzuentwickeln und eine entsprechende Finanzierung einzufordern. In Europa ist Krieg. Die Zeit ist unruhig. Das Geld ist notwendig für andere Dinge.“

Ein enttäuschtes Murren ging durch den Hörsaal. Wie konnte so etwas geschehen? Waren wir eingeschläfert durch die Reden, die besagten, daß unsere Grenzen fest versperrt sind und kein Feind sie durchbrechen kann?

Es scheint mir heute, daß unter uns Physikern nur Chariton, der einige Jahre vorher durch Deutschland gereist war und das Verhalten der Hitlerjugend mit eigenen Augen gesehen hatte, die Gefahr richtig einschätzte. Nachdem er nach Hause kam, verließ er die Kernphysik, die er damals als »abstrakt« empfand, und entwickelte die Theorie der chemischen Kettenreaktionen für Sprengstoffe – Explosionen und Detonationen.

Wir müssen uns in Erinnerung rufen, daß bereits ein Jahr bevor uns Chlopin sagte, „es sei zu früh“, Präsident Roosevelt den von Szillard geschriebenen und von Einstein unterzeichneten Brief erhielt, in dem sie die Gefahr beschrieben, daß Hitler die Möglichkeit hatte, eine Atombombe zu bauen!

Von ziviler Wissenschaft war keine Rede mehr

Nachdem am 22. Juni 1941 Hitlers Truppen unsere Grenzen überschritten, unsere Städte bombardierten und das Leiden begann, war von »ziviler Wissenschaft« nicht mehr die Rede. „Alles für den Sieg.“ „Der Feind wird vernichtet.“ Das war auf den Plakaten, die an unseren Häusern klebten, zu lesen.

Im ersten Kriegsplan von Ioffe war folgendes enthalten:

  • Kosyrevs Radarentwicklung fortsetzen;
  • Aleksandrovs Schiffsverteidigung gegen die magnetischen Treibminen anwenden;
  • Kurchatovs Uranuntersuchungen beschleunigen.

Die Institute aus Leningrad, Moskau und Charkov wurden in das tiefe Hinterland verlegt. Alle Atomuntersuchungen wurden gestoppt.

Erst viel später, 1990, habe ich erfahren, daß schon im Herbst 1941 Berija, das Oberhaupt des Geheimdienstes, Stalin informiert hatte, daß er durch seine Agenten Nachrichten über intensive Arbeiten in England und in den Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der Uranbombenerzeugung erhalten hatte. Stalins Antwort war: „Das ist alles Desinformation. Sie wollen unseren Druck gegen Hitler schwächen.“

Im Herbst 1942 hatte Berija dann bereits so viele Dokumente über die Arbeit an der Uranbombe durch seine Agenten erhalten, daß Stalin endlich zu dem Ergebnis kam, daß solch eine Waffe noch in diesem Krieg große Bedeutung erlangen werde.

Im Januar 1943 versammelte er bei sich vier Wissenschaftler: Ioffe, Chlopin, Kapiza und Vernadskij und fragte sie, ob es wirklich möglich sei, eine Uranbombe zu bauen. Die Wissenschaftler bestätigten es und Ioffe benannte Kurchatov zum Leiter dieser bevorstehenden Arbeit.

Am 11. Februar 1943 unterzeichnete Stalin die Regierungsverordnung über die Wiederaufnahme des Uranprojektes, Kurchatovs Berufung zum wissenschaftlichen Leiter des Projektes und die Ernennung von V.M. Molotov, den stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates, zum Verantwortlichen der Regierung für dieses Projekt.

Am 12. April 1943 wurden in der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion zwei Dokumente unterschrieben. Zum einen wurde in der Akademie der Wissenschaften der UdSSR das Laboratorium N2 eingerichtet und zum anderen wurde Professor I.V. Kurchatov zum Leiter des Laboratoriums N2 berufen. Genau wie diese beiden Dokumente unterlag die gesamte Arbeit im Laboratorium N2 strengster Geheimhaltung. Kurchatov entwarf sofort zusammen mit Chariton, Zeldowich, Flerov, Kikoin und Alichanov das Arbeitsprogramm für die erste Phase.

Bis heute haben wir keine Zeugnisse darüber gefunden, ob Kurchatov 1943 von Fermis Erfolg, im Uran-Graphit-Brüter in Chicago am 2. Dezember 1942 Kettenreationen auszulösen, gewußt hat. Ohne Verzögerung begann er mit ähnlichen Experimenten. Am Moskauer Elektrodenwerk wurde bald die Produktion des extrareinen Graphits aufgenommen. Dies geschah in solchen Mengen, die Kurchatov für völlig ausreichend hielt. Ende 1944 wurde die erste Uranschmelze in Moskau durchgeführt. Da Kurchatov bereits wußte, daß neben der Isotopentrennung für die Ladung der Atombombe Plutonium notwendig ist, das chemisch separiert werden kann, beeilte er sich, Plutonium – wenn auch in kleinsten Mengen – zu bekommen, um seine chemischen und Kerneigenschaften kennenzulernen. Hierfür begann er 1943 einen Zyklotron zu bauen.

Anfangs wurde angenommen, daß im Laboratorium N2 alle Probleme des Atombombenbaus gelöst werden können. Deshalb begann der junge Ingenieur Merkin unter Charitons Leitung 1943 die »Kanonenvariante« der Bombe zu modellieren. Dazu hatte er mit einer Flinte gegen eine andere geschossen und mit Hilfe der Impulsphotographie den Zusammenstoß der zwei Kugeln studiert.

Kikoin begann seine Arbeit mit Fritz Lange, der schon vor dem Kriege aus Hitler-Deutschland emigrierte, in Charkov forschte und jetzt mit der Zentrifuge arbeiten wollte. Eine Zentrifuge wurde gebaut und in Swerdlowsk geprüft. 1944 brachte dann der russische Aufklärungsdienst eine Nachricht, die besagte, daß die Amerikaner ein großes Diffusionswerk zur Isotopentrennung gebaut hatten. Deshalb arbeitete Kikoin bis 1953 nicht weiter an den Zentrifugen, sondern konzentrierte seine Kräfte und die seiner Mitarbeiter auf die Arbeit an der Diffusionsmethode.

Der Sieg über den deutschen Faschismus

Dann kam der Sieg über die faschistische Diktatur in Deutschland und wir Wissenschaftler dachten schon darüber nach, was wir nun weiter tun würden, denn die Bombe schien uns nicht mehr notwendig.

Aber ehe wir diese Gedanken beenden konnten, kam die Nachricht, daß in der Wüste Alamogordo die Amerikaner einen Atombombenversuch durchgeführt hatten. Das erste Gefühl war Neid; ihnen war es gelungen und uns nicht. Dann schien es uns aber wenig sinnvoll, es bei uns zu wiederholen, und wir dachten über Urankraftwerke nach.

Aber nach den Atombombenabwürfen vom 6. und 9. August auf Hiroshima und Nagasaki endete unsere ruhige Arbeit. Die Regierung und die Generalität waren von Panik ergriffen. Kurchatov, Chariton, Kikoin und andere wurden täglich zu Sitzungen in den Kreml oder vom Geheimdienst in die Lubjanka beordert. Die Besprechungen dauerten stundenlang bis zur völligen Erschöpfung der Teilnehmer. Die Wissenschaftler mußten erklären, was die Bombe eigentlich ist und wie sie gemacht worden sein konnte. In den Zeitungen wurden Massen von Artikeln geschrieben und viele Reden waren im Rundfunk zu hören. Sie hatten immer den Tenor: „Das Vernichten der japanischen Städte ist gegen uns gerichtet.“

Diese Propaganda wirkte auf uns und überzeugte uns davon, daß wir uns beeilen mußten. Ein paar Tage später war die Panik überwunden und Stalin und Berija zeigten ihr organisatorisches Talent. Stalin ließ den Generalstab zu diesem Projekt nicht zu und übergab Berija alle Machtbefugnisse.

Berija wurde zum administrativen Kopf des Atomkomplexes. Seine strenge Führung beschleunigten unzweifelhaft das Projekt.

Zusammen mit Stalin baute Berija arbeitsfähige Entscheidungsstrukturen auf: Dem Ministerrat wurde die erste Hauptabteilung unterstellt und alle Ministerien, die an dem Problem arbeiteten, wurden dieser Abteilung untergeordnet, deren Leiter B.L. Vannikov wurde. Vannikov, der während des Krieges Minister für Munition war, genoß unter den Ministern des Landes unumstrittene Autorität. M.G. Pervuchin, stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates der UdSSR und Minister der chemischen Industrie, wurde sein Stellvertreter. Ein weiterer Stellvertreter Vannikovs wurde A.P. Zavenjagin, dessen besondere Fähigkeiten in der Planung großer Fabriken und angeschlossener Städte lag (Magnitogorsk, Norilsk). Kurchatov erhielt das Recht, den Ministerrat der UdSSR und das Staatsoberhaupt direkt und ohne Vermittlung anzusprechen.

Als oberstes staatliches, geheimes Gremium wurde ein Spezialkomitee gebildet. Dieses Komitee bearbeitete die von Kurchatov und Vannikov vorgelegten Regierungserklärungen und legten Stalin den endgültig formulierten Text zur Unterschrift vor. Zu den Mitgliedern dieses Komitees gehörten Pervuchin, Vannikov, Zavenjagin, Vosnesensky, Kurchatov, Kapiza und später Malyshev.

Folgende Struktur der wissenschaftlichen Leiter wurde eingeführt: Chariton war für die Bombenkonstruktion und den Bau zuständig; Kurchatov selbst war außer der allgemeinen Leitung des Projektes für den plutoniumproduzierenden Uran-Graphit-Reaktor zuständig; Kikoin für die Diffusionsisotopentrennung, Bochwar für die Materialien, für die Konstruktionslegierungen der Reaktoren und für die Bombenladungen selbst. Diese Leiter waren verantwortlich für den Erfolg in den jeweiligen Abteilungen gegenüber dem Spezialkomitee, das heißt gegenüber Berija. Für jede Abteilung wurde eine Verwaltung geschaffen. Diese Struktur befreite uns Wissenschaftler – leider nicht Kurchatov und die Abteilungsleiter – von organisatorischen Sorgen, so daß die Arbeit schnell vorankam. Alle unsere finanziellen Forderungen wurden sofort erfüllt.

Die Repräsentanten des militärischen Stabes und Mitglieder des Politbüros, die nicht mit dem Atomproblem befaßt waren, wurden nicht in die Arbeit des Komitees einbezogen. Stalin erklärte diese Aktivitäten für geheim und Militäroffiziere hatten dort keinen Zutritt. Daraus folgte, daß der erste Atombombentest 1949 und der erste Wasserstoffbombentest 1953 für das Militär völlig unerwartet kam. Die »Übergabe« der Atombombe an die Armee, konkret an Marschall Shukov, war eine besondere Aktion Anfang der fünfziger Jahre nach Stalins Tod.

Seit Herbst 1945 wurden die Aktivitäten bezüglich der Atombombe weitreichend und schnell weiterentwickelt. Viele militärische und zivile Einheiten, Spezialisten und Arbeiter waren involviert. »Atomstädte« wurden in Regionen errichtet, in denen Uranvorkommen vermutet wurden. Die Menschen arbeiteten unermüdlich, hungernd und frierend auf dem Konstruktionsgelände, für eine schnelle Entwicklung der Atomindustrie sorgend, ohne Kenntnis darüber, wofür dieses Labor eingerichtet war.

Im Sommer 1945, noch vor den amerikanischen Bombenabwürfen geschahen zwei wichtige Ereignisse: 1. Berijas Agenten brachten eine Blaupause der amerikanischen Plutoniumbombe, die sich in der Vorbereitungsphase zum Test im Juli befand. 2. Ähnlich der amerikanischen Mission »Alsos« schickten auch wir Wissenschaftler nach Deutschland, die Uran, Dokumente und Spezialisten suchen sollten, die für uns nützlich waren, um die Uranproblemlösung zu beschleunigen.

Wir erkannten, daß es den deutschen Physikern eher als uns gelungen war, einen Uranmeiler zu entwickeln. Von der Atombombe war aber keine Spur. Mehrere deutsche Physiker und Ingenieure waren bereit, mit ihren Familien nach Rußland zu kommen, um bei uns zu arbeiten.

Die wichtigsten Ergebnisse erhielten wir in den folgenden Jahren von Nikolaus Riehl und Max Steenbeck. Riehl hat bei uns das erste Uranwerk gegründet und versorgte uns in den vierziger Jahren mit extrareinem Reaktoruran. Der weise Max Steenbeck entwickelte mit uns eine Gaszentrifuge für die Trennung der Uranisotope. Seine Arbeit war sehr wichtig, um den rechten Weg zu finden, was Kikoin mit seinen Kollegen Mitte der fünfziger Jahre gelang.

Wir im Labor N2, das später »Institut für Atomenergie« genannt wurde, hatten die Aufgabe, die Produktion des spaltbaren Materials für Atombomben wissenschaftlich zu begleiten, einschließlich des Projektierens und des Baus der dazugehörigen Werke bis hin zu ihrer Inbetriebnahme. Dazu gehörten die Entwicklung der Uranisotopentrennung und Plutoniumproduktion in den Uran-Graphit-Reaktoren. In unserem Institut wurden die ersten Uran-Graphit-Reaktoren, Diffusionskaskaden und elektromagnetischen Anlagen in Europa entwickelt und gebaut.

Diese Probleme wurden bis Mitte der fünfziger Jahre völlig gelöst. Dabei wurde die Physik der Atomspaltung experimentell und theoretisch breit entwickelt sowie die Neutronenphysik der Reaktoren selbst.

Einigen von uns drohte das Konzentrationslager

Unter Stalin war unser Laborleben vor dem ersten Test am 29. August 1949 nicht immer ungetrübt. Es wurde manches Mal geflüstert, daß, falls unsere Bombe beim Test nicht explodiert, einige von uns – und Kurchatov als erster – ins Gefängnis oder Konzentrationslager kämen. Dabei wurde angedeutet, daß die Ersatzpersonen, die unsere Arbeit dann fortsetzen sollten, bereits bestimmt waren. Der erfolgreiche Test befreite uns von dieser Unruhe.

Kurchatov als Sieger genoß danach unbestreitbare Autorität auf der höchsten Ebene unseres Staates. Bei Chariton in Arsamas-16 war die Arbeit am schwersten. Obwohl unsere erste Atombombe beinahe eine Kopie der amerikanischen war, mußte er nicht nur die ganze Physik der Explosion in Theorie und modellierenden Experimenten realisieren, sondern auch alle Probleme lösen, die aus der amerikanischen Blaupause heraus nicht erklärt werden konnten und insbesondere die Probleme, die die Sicherheit ihrer Wirkung betrafen.

Während dieser Arbeit hatten die Theoretiker unter Zeldovichs Leitung zusammen mit den Experimentatoren und Konstrukteuren bessere Lösungen gefunden. Sie wunderten sich darüber, warum Chariton die Realisierung dieser Lösungen verboten hatte. Keiner von ihnen hatte eine Ahnung davon, daß Chariton einer amerikanischen Blaupause so genau wie möglich folgte.

Diese eigenen Lösungen wurden erst bei dem Atombombentest 1951 realisiert. Zur gleichen Zeit hatte der junge Sacharov zusammen mit seinem Lehrer, dem berühmten Theoretiker Tamm, selbständige Ideen bezüglich der Wasserstoffbombe entwickelt, für die es in Amerika kein Beispiel gab.

Am 12. August 1953 wurde die weltweit erste Wasserstoffbombe auf dem Versuchsgelände Semipalatinsk getestet. Ihr TNT-Äquivalent war »nur« 400 Tausend Tonnen. Zu der Zeit hatten die Amerikaner zwar Bomben mit stärkerer Sprengkraft, aber eben keine Wasserstoffbomben.

Nikita Chruschtschow, der zu der Zeit Generalsekretär der Kommunistischen Partei war, forderte: „Um in der Außenpolitik zu gewinnen, muß man das aus einer Position der Stärke tun.“

Einige Monate später, nach höchster Anstrengung von Sacharov und seinen Kollegen, wurde die Lösung für eine Superbombe gefunden. Am 22. November 1955 wurde sie getestet. Dieser Test bestätigte, daß Wasserstoffbomben unbegrenzter Leistung möglich und nicht zu teuer sind.

Nach diesem Test kam Kurchatov völlig niedergeschlagen zurück. Er sagte seinem Freund, dem Wissenschaftler Anatoli Aleksandrov: „Diese Waffe darf nie eingesetzt werden!“ Er wendete sich direkt an Chruschtschow mit der Bitte, ihn von der Leitung der Tests zu entbinden. Seine Bitte wurde erfüllt. Eine Woche danach war er voll von Ideen über die Anwendung der neuen Technik für das Wohl der Menschen und nicht gegen die Menschen!

Ich schließe nicht aus, daß es ihn all die Jahre quälte, mit der Waffe beschäftigt gewesen zu sein. Ich erinnere mich, wie begeistert er war und wie glänzend seine Augen waren, als wir zwei an einem Neujahrsabend in seinem Chefzimmer saßen und Sacharovs Idee über die Möglichkeit der gesteuerten Kernfusion besprachen, um die Menschheit, wie wir dachten, auf ewig von der Sorge um Brennstoffe zu befreien. Er beendete das Gespräch entflammt mit den Worten: „Nun wollen wir das neue Jahr nicht mit den Waffen, sondern mit der Friedensanwendung unserer Kenntnisse beginnen.“ Das war der 31. Dezember 1950.

Nach Stalin folgte der „Kampf gegen die Kapitalisten“

Die letzten vier Jahre seines Lebens (1956-1960) hat Kurchatov sehr viel dazu beigetragen, die Kontakte zwischen russischen und ausländischen Wissenschaftlern, die durch den Krieg und Stalins Isolationspolitik gestört waren, wieder aufzubauen. Er sorgte für den friedlichen Gebrauch der Atomenergie; in erster Linie für den Bau der Kernkraftwerke und für die Anwendung der ionisierenden Strahlungen in Wissenschaft und Medizin. Insbesondere sorgte er für die breite Entwicklung der gesteuerten Kernfusion zusammen mit den Wissenschaftlern aller Länder. Er reiste mit Chruschtschow nach England, hielt zwei Vorlesungen im englischen Kernwaffenzentrum Harwell, wo er zur Zusammenarbeit und zur Aufhebung der Geheimhaltung bezüglich der friedlichen Nutzung der Kernenergie aufrief.

Eineinhalb Jahre nach Kurchatovs Tod im Juli 1961 versammelte Chruschtschow im Kreml die ältesten Wissenschaftler, die die Physik und den Bau der Wasserstoffbombe führend entwickelt haben, und erklärte, daß er einen Vorsprung gegenüber den Amerikanern in bezug auf die Bombenentwicklung wünsche. Die Physiker sagten ihm, daß es realistisch sei, eine Wasserstoffbombe von 100 Megatonnen TNT Äquivalent zu bauen. Das erfreute ihn und er forderte die Realisierung, damit sie, wie er meinte, „wie ein Damoklesschwert über den Kapitalisten hängt“.

So eine Bombe wurde gebaut und am 30. Oktober 1961 zur Explosion gebracht. Sie hatte aber nur – nach einem Beschluß der Physiker – die Hälfte der Ladung, um die Zahl der unschuldigen Opfer auf der Erdkugel herabzusetzen, die von der in der Atmosphäre zerstreuten Radioaktivität an Krebs erkranken würden.

War denn diese Explosion ein Signal der Friedfertigkeit, über das die Parteigenossen und Chruschtschow selbst so viel sprachen und schrieben?

Sacharov wußte, wie die Waffenvorräte in unseren Arsenalen anwuchsen. Die Angst packte ihn, als ihm klar wurde, welche Folgen dieses, von ihm und seinen Kollegen geborene Ungeheuer in den Händen der Politiker haben könnte. Im Februar 1968 war ihm der Wahnsinn des Kalten Krieges klar, und er setzte sich an seinen Schreibtisch in dem geheimen Zentrum Arsamas-16 und schrieb sein berühmtes „Nachdenken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“. Nach einigen Monaten wurden seine Gedanken in vielen Millionen Exemplaren gedruckt, in viele Sprachen übersetzt – außer ins Russische – und in der ganzen Welt gelesen und besprochen.

Sacharov sagte der Welt ganz offen und deutlich, daß die Menschheit an der Grenze ihrer Geschichte stehe. Die Katastrophe der totalen Vernichtung liege vor uns, ausgelöst entweder durch den Wahnsinn der Politiker oder durch einen fatalen Zufall. Die Atomwaffenvorräte überstiegen bereits zehnfach und mehr die Menge, die ausreicht, um alles Leben auf der Erdkugel zu vernichten. Er machte deutlich, daß die Menschheit größte Probleme zu lösen hätte, wie z.B. die Gefahr des explosionsartigen Bevölkerungszuwachses auf der Erde, aus dem wiederum der allgemeine Hunger resultiere; die Vergiftung unserer Umwelt; das Schwinden der Vorräte fossiler Brennstoffe; die Verbreitung von Dogmen statt wissenschaftlicher Erkenntnis. Er erklärte, daß vor dem Hintergrund dieser gesamtmenschlichen Probleme die Meinungsverschiedenheit in der Partei und die »Klassenwidersprüche« erblaßten. Alle diese Bedrohungen würden durch die Spaltung der Menschheit in zwei feindliche Lager – sozialistische Dikaturen und Kapitalismus – verstärkt. Deshalb, so meinte Sachararov, seien Konvergenz und friedliche Koexistenz notwendig.

Unterdessen ruinierten der Kalte Krieg und das Wirtschaftssystem der Sowjetunion unser Land. Schon zu Beginn der siebziger Jahre sahen die Parteileiter ihre Schwächen in der Staatsverwaltung. An den Toren der Werke erschienen die Aufrufe: „Wollen wir erfüllen … !“ „Wollen wir erreichen … !“ Die Zeitpunkte der Regierungsverordnungen wurden jedoch hintertrieben und in den Berichten über die Erfüllung wurde massiv betrogen. Mit Beginn der achtziger Jahre bekamen wir endlich an den Hochhäusern die Selbstverherrlichungen zu lesen: „Ruhm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion!“ Das war schon die Agonie der Partei.

Existiert eine Schuld der Wissenschaftler?

Danach folgte die Zeit, in der sogar der Generalsekretär der Partei – und nicht nur die vernünftigen Menschen aus allen Schichten des Volkes – verstand, daß das sowjetische Staatsverwaltungssystem und die sowjetische Außenpolitik sich überlebt hatten und das Land in den Abgrund führten. Es war Michail Gorbatschow, und es begann die Perestroika.

So haben die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki den Fall der bolschewistischen Diktatur beschleunigt, indem die Folgen während des Kalten Krieges die Sowjetwirtschaft überforderten.

Existiert aber nun doch eine Schuld der Wissenschaftler? Eine Schuld, die geerbt sein kann? Ich denke, daß der große Mathematiker unserer Zeit, Norbert Wiener, Begründer der Kybernetik, Recht hat. Er sagte ungefähr folgendes: „Der Wissenschaftler wird immer ein hilfloses Spielzeug in den Händen des gewissenlosen Politikers sein.“

Wenn wir Wissenschaftler für das Geschehene auch nicht schuldig sind, so haben wir doch die Pflicht, das Geschehene zu überdenken und die richtigen Schlußfolgerungen daraus zu ziehen.

Euch anwesenden Studenten und aller Jugend, der das ganze Leben und Glück des Schaffens noch bevorsteht, wünsche ich auf alle Fälle zu bedenken, daß die Wahrheit nur im Meinungsstreit gefunden werden kann, im Streiten ohne Zwang und ohne Diktat.

In den Naturwissenschaften ist nur wahr, was in vielen unabhängigen und freien Experimenten bestätigt ist. In der Politik sind die Experimente zu teuer, meist zu blutig, um sie zu wiederholen. Euer Volk hat die zwölfjährige Diktatur Hitlers überlebt, unser Volk die siebzigjährige bolschewistische Diktatur. Beide überlebte Diktaturen und die Atomwaffenrealitäten haben uns gezeigt, daß es nur zwei Wege gibt: entweder die parlamentarische offene Gesellschaft, in der die Wahrung der Menschenrechte gesichert ist, oder das allgemeine Chaos und der Tod.

Und denen unter Euch, die sich entschlossen haben, sich der angewandten Physik zu widmen, kommt die edle Aufgabe zu, die Kenntnisse, die wir durch die Waffenentwicklung erworben haben, für das Wohl der Menschen zu verwenden. In der Gegenwart müssen die Atomkraftwerke vervollkommnet und ihre Sicherheit gesteigert werden. Leider wird ihre Radioaktivität immer beunruhigen.

Doch wunderbar ist die Natur!

Die Fusion der leichten Atomkerne, die uns die ungeheure Wasserstoffbombe geschenkt hat, eröffnet uns gleichzeitig den Weg zu den saubersten Energiequellen. Unsere Pflicht ist es, diesen Weg weiterzugehen, so kompliziert er uns auch erscheint, um wohlbehaltenes Leben auf der Erde zu versorgen und vor Atomkriegen und sozialen Katastrophen zu bewahren.

Wollen wir diesen Weg gehen!

„Ihr drängt euch zu! Nun gut, so mögt ihr walten …. Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert. Ihr bringt mit euch die Bilder froher Tage. …“

(J. W. Goethe: Faust)

Dr. Igor N. Golovin

Konversion des Rüstungssektors

Konversion des Rüstungssektors

Entwicklungsoption für Rußland?1

von Thomas Sauer

Die wirtschaftlichen Entwicklungsaussichten Rußlands hängen maßgeblich davon ab, wieweit es gelingt, den postsowjetischen Rüstungssektor in den Kern einer vorwiegend zivil orientierten, international konkurrenzfähigen verarbeitenden Industrie zu verwandeln und die Rohstofflastigkeit der Exportstruktur zu überwinden.

Die Erfahrungen Südostasiens bestätigen, daß der Austausch von relativ ähnlichen, diversifizierten Industriegütern (intra-industrieller Handel) der dynamischste Teil des internationalen Handels ist: Länder, denen es gelingt, an diesem Handel im nennenswerten Umfang teilzuhaben, verfügen in der Regel über bessere langfristige Wachstums- und Entwicklungsaussichten als Länder, die vorwiegend Rohstoffe exportieren. Die erfolgreiche Konversion seiner Rüstungsindustrie wäre für Rußland eine entscheidende Voraussetzung, zu diesen Ländern zu gehören und seine langfristigen Wachstumsaussichten zu verbessern.

Die empirischen Erfahrungen zeigen aber auch, daß die Ergebnisse von Handelsliberalisierung in Entwicklungsländern mit großen Binnenmärkten und umfangreichen Rohstoffreserven relativ bescheiden waren und nachhaltige Erfolge beim Versuch dieser Länder, die Rohstofflastigkeit des Exportangebots zu überwinden, sehr unwahrscheinlich sind.2 Zu fragen ist, inwieweit diese Problematik auch für Rußland zutrifft und einen wirklichen Entwicklungssprung durch erfolgreiche Konversion der Rüstungsindustrie behindert.

Gerade in Rußland mehren sich seit 1993 die Symptome einer Form von Deindustrialisierung, die in der Fachliteratur unter dem Stichwort »Dutch disease« diskutiert wird: Diese »holländische Krankheit« wird ausgelöst durch exogene Rohstoffpreisschocks (in Holland war Erdgas gefunden worden), die, vermittelt über ihre Auswirkungen auf die relativen Preise von Rohstoff- und Nichtrohstoffsektor, die Wettbewerbsposition der verarbeitenden Industriezweige bzw. der Landwirtschaft nachhaltig verschlechtern können.3 Gerade die für diese Situation typische reale Aufwertung des Rubel war bereits im Verlauf des Jahres 1993 sukzessive erfolgt und spätestens seit Dezember 1993 in eine – an Kaufkraftparitäten gemessene – reale Überwertung des Rubel eingemündet.4

Ausgelöst wurde dieser Aufwertungsdruck auf den Rubel in den Jahren 1993 und 1994 vor allem durch die Entwicklung der Exportpreise für russische Rohstoffe in das »nahe Ausland«, also die Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion und die ehemaligen RGW-Mitgliedstaaten. Die Anpassung der Preise dieser Lieferungen an die Weltmarktpreise wirkte wie ein Rohstoffboom, der die Nachfrage nach russischen Rubeln erhöhte und den realen Rubelkurs – trotzt inflationärem Abwertungsdruck – stützte. Verstärkend hinzu kam die im russischen Reform- und Stabilisierungsprogramm von 1993 festgeschriebene Politik einer positiven Realverzinsung, die im November 1993 erstmals erreicht wurde.5 Die Kapitalflucht konnte so gebremst und Rußland wieder für Kapitalzufluß attraktiver gemacht werden, wodurch die Rubelnachfrage und der reale Aufwertungsdruck weiter erhöht wurden. Der überwiegende Teil des investierten Kapitals wiederum floß in den Rohstoffsektor, was dessen Boom weiter anheizte, während große Teile des verarbeitenden Gewerbes in eine tiefe Rezession stürzten. Die verarbeitende Industrie konnte durch den real aufgewerteten Rubel immer weniger im Ausland absetzen, während sie sich im Inland aufgrund derselben Ursache einer gestärkten Importkonkurrenz gegenüber sah, die sich insbesondere im konsumnahen Bereich verheerend auswirkte.

Von den Auswirkungen der »holländischen Krankheit« besonders betroffen ist, wie im folgenden dargestellt wird, der russische Rüstungssektor: Hier wurde ein wesentlicher Teil der langlebigen Konsum- und Investitionsgüter gefertigt, die sich nun einer scharfen Importkonkurrenz ausgesetzt sehen. Faktisch alle sowjetischen Hochtechnologieanbieter waren im Rüstungssektor konzentriert. Die Umwidmung (Konversion) dieser bislang vorwiegend militärisch genutzten Kapazitäten zu zivilen Zwecken sollte einen gewaltigen Innovationsschub in der sowjetischen Wirtschaft freisetzen und letztlich auch positiv auf die militärische Stärke des Landes zurückwirken. Offensichtlich ist der »Spin-off-Effekt«, den man sich durch den institutionellen Umbau des ex-sowjetischen Innovationssystems in eine zivile Richtung erhofft hatte, bislang ausgeblieben. Strukturelle Verzerrungen aufgrund einer durch den Rohstoffboom ausgelösten »holländischen Krankheit« könnten zusätzlich den Aufbau eines zivilen nationalen Innovationssystems als einer zentralen Wachstums- und Entwicklungsvoraussetzung für die russische Wirtschaft dauerhaft behindern.

Innovationsfähigkeit als zentrale Wachstumsvoraussetzung

Würde Rußland auf den Weltmärkten dauerhaft in die Rolle eines Rohstoffexporteurs gedrängt, wäre kaum von einem ernsthaften Transformationserfolg zu sprechen, wenn gleichzeitig die wesentlichen ökonomischen Modernisierungsziele der russischen Reformpolitik verfehlt würden. Gerade die neue westliche Wachstums- und Außenhandelstheorie hebt die Fähigkeit, endogen technischen Fortschritt hervorzubringen, als zentrale Wachstumsvoraussetzung für moderne Volkswirtschaften hervor.6 Sie geht in ihrer Argumentation davon aus, daß Technologieproduktion (Innovation) in der Regel mit der Existenz von unvollkommenen Märkten verbunden ist: Ihre hohen Fixkosten und Lerneffekte führen zu steigenden Skalenerträgen bei den Unternehmen, die ihre Innovationen erfolgreich am Markt unterbringen. Die daraus folgende oligopolistische oder monopolistische Konkurrenzposition der innovativen Unternehmen erlaubt ihnen ein strategisches Verhalten, bei dem die Wettbewerbsfähigkeit nicht allein von den Preisen bestimmt wird, zu denen sie anbieten können.

Die Außenhandelsliberalisierung der osteuropäischen Transformationsländer bewirkt eine Vergrößerung des Marktes.7 Diese erhöht (modelltheoretisch) einerseits die mögliche Anzahl der Produktvarianten bzw. der Komponenten zur Fertigung und senkt andererseits die Durchschnittskosten aufgrund der größeren Absatzmöglichkeiten. Es stellt sich aber die Frage, welche Unternehmen in welchen Ländern diese Skalenerträge bei einer Öffnung der Märkte realisieren können. Weil ihre bisherigen Absatzmärkte relativ klein waren, sind osteuropäische Unternehmen von ihren Ausgangsbedingungen her zunächst einmal im Nachteil: Es besteht die Möglichkeit, daß westeuropäische und asiatische Unternehmen trotz Außenhandelsliberalisierung die neuen osteuropäischen Konkurrenten dauerhaft vom Markt halten können, indem sie ihre höheren Skalenerträge effizient zur Stabilisierung ihres technologischen Vorsprungs nutzen. Diese Tendenz würde im russischen Falle durch einen Rohstoffboom nur verstärkt und verfestigt.

Im Ergebnis könnte dies zu einer vollkommenen Verlagerung FuE-intensiver Produktion nach Westeuropa führen und dort Wachstum auslösen, während in Osteuropa aufgrund der Erosion – und des ausbleibenden Umbaus – der lokalen Innovationssysteme eine dauerhafte Entwicklungsblockade errichtet würde. Es muß also zu einer entwicklungsorientierten Abstimmung zwischen makroökonomischer Stabilisierung, außenwirtschaftlicher Liberalisierung und wachstumsorientierter Strukturpolitik in Rußland und Osteuropa kommen, soll eine dauerhafte Divergenz der Wachstums- und Entwicklungsaussichten im Vergleich mit den entwickelten Marktwirtschaften vermieden werden. Dies gilt insbesondere für die Konversion des militärischen Innovationssystems in Rußland als einem zentralen Bestandteil der Strukturpolitik, die bisher gerade an der fehlerhaften Abstimmung mit der Makro- und Reformpolitik gescheitert ist. Dabei sind zwei Phasen zu unterscheiden: die der gorbatschowschen Perestrojka und die der marktorientierten Reformen seit dem Zerfall der Sowjetunion.

Der während der Gorbatschow-Ära erwartete innovative »Spin-off-Effekt« der sowjetischen Rüstungsforschung durch Abrüstung und Konversion blieb in der Praxis weitestgehend aus. Dafür lassen sich neben systemspezifischen auch systemunabhängige Ursachen benennen: In den westlichen Marktwirtschaften fiel die »Friedensdividende« der Konversion der Rüstungsindustrie bislang ebenfalls viel spärlicher aus als in der ersten Abrüstungseuphorie erwartet. Zahlreiche Konversionsprojekte scheiterten daran, daß es den Unternehmen offenbar sehr schwer fällt, die Fähigkeit zum kostenbewußten, konkurrenz- und innovationsorientierten Agieren zu entwickeln, die auf zivilen Hochtechnologiemärkten unabdingbar ist und die aufgrund der eingeschränkten Wettbewerbssituation auf den nationalen Rüstungsmärkten nicht notwendig war. Die Erwartung, daß sich das hochqualifizierte technologische Angebot des Rüstungssektors problemlos auch eine geeignete zivile Nachfrage schaffen könne, erfüllte sich daher nicht.8

Außerdem waren für kritische, auch militärstrategisch relevante Technologiefelder9, dazu gehört insbesondere die Mikroelektronik, in den siebziger und achtziger Jahren die zivilen Märkte zu den entscheidenden Innovationstriebkräften geworden. Der direkte Vergleich zwischen zivilen und militärischen Anbietern auf dem Gebiet doppelt – militärisch und zivil – verwendbarer Technologien (»Dual-use-Technologien«) machte deutlich, daß die zivilen Anbieter hinsichtlich des technologischen Niveaus und der Effizienz der Produktion oftmals den traditionellen Wehrtechnikproduzenten überlegen waren.

In der UdSSR kam zu der systemindifferenten Problematik die systemspezifische Problematik hinzu, daß sich die sowjetischen Unternehmen insgesamt in einer Mangelwirtschaft bewegten. Darüber hinaus mußten sie nicht über den Preis oder das technologische Niveau ihrer Produkte um ihre Kunden konkurrieren, sondern konnten sich in der Regel auf den Absatz ihrer defizitären Güter verlassen. Die starke Stellung sowjetischer Unternehmen gegenüber den privaten Konsumenten rührte daher, daß sie im Gegensatz zu diesen keinen harten, sondern »weichen« Budgetbeschränkungen unterlagen: Sowohl das Überleben der Unternehmen als auch ihr Wachstum hing nicht davon ab, daß die Verkaufserlöse die Produktionskosten deckten und einen Ertrag sicherten, weil beides im Bedarfsfall vom sowjetischen Staat durch Subventionen aller Art gesichert wurde.10 Im Ergebnis waren die sowjetischen Rüstungsunternehmen allgemein nicht zu effizienten, kostenbewußten und innovativen Verhaltensweisen gezwungen.

In der UdSSR fehlte es somit systembedingt zusätzlich an Konkurrenz um die zivilen Kunden, welche die Einstellung technologisch obsoleter Produktionen und die Einführung neuer, innovativer Produkte erzwungen hätte. Die russischen Rüstungsunternehmen befanden sich hier in einer Art »doppelter Abkapselung« von innovativer Nachfrage: sowohl aus dem militärischen als auch aus dem zivilen Bereich. Gerade dieser Umstand trug maßgeblich dazu bei, den Rückstand gegenüber den USA und anderen westlichen Staaten auf den Feldern militärstrategisch relevanter »Dual-use-Technologien« – wie der Mikroelektronik – rasch zu vergrößern.11

Das Phänomen der »weichen Budgetbeschränkungen« der sowjetischen Betriebe wurde während der Perestrojka nicht etwa beseitigt, sondern vielmehr verstärkt, weil man zwar das Instrumentarium zentraler Mengenplanung weitestgehend abbaute und die Betriebe zugleich eine größere finanzielle Dispositionsautonomie erhielten, die Praxis zentraler Subventionierung »prioritärer« Bereiche aber nicht eingestellt wurde. Davon profitierte der russische Rüstungssektor unmittelbar, weil seine – teilweise – Konversion zur obersten Priorität erklärt wurde, ohne ihn tatsächlich zur Konkurrenz um zivile Märkte zu zwingen. Im Ergebnis behinderte die Konversion in dieser Spätphase der Perestrojka eher marktorientierte Reformen als sie zu befördern, weil sie dem Rüstungssektor nach wie vor eine Sonderstellung einräumte.

Marktorientierte Reformen änderten die Situation

Die Situation änderte sich erst grundlegend, als die Regierung Gajdar in der Russischen Föderation Ende 1991 marktorientierte Reformen tatsächlich in Angriff nahm, die auch die Rahmenbedingungen für die russischen Rüstungsunternehmen radikal verändern sollten. Wesentliche Eckpunkte waren:

  • die veränderte Beschaffungspolitik des russischen Staates,
  • die »krisenhafte« Entwicklung der russischen Waffenexporte und die politischen Bemühungen, diese zu unterstützen,
  • die verstärkte Importkonkurrenz auf den zivilen Binnenmärkten aufgrund der oben angeführten sukzessiven Realaufwertung des Rubel,
  • die inkonsistente Privatisierungspolitik gegenüber dem Rüstungssektor.

Anpassung und Marktöffnung

Die genannten Faktoren, vor allem die aus Abrüstung und Marktöffnung (»Dutch disease«) folgenden, beinflußten maßgeblich das Anpassungsverhalten der russischen Rüstungsunternehmen. Neue russische Daten, die dem ifo vom Zentrum für ökonomische Konjunktur bei der Regierung der Russischen Föderation in Moskau (i.f. »Zentrum«) zur Verfügung gestellt wurden, erlauben eine genauere Analyse der zugrundeliegenden Verhaltensmuster.12 Erfaßt wurden zum einen quantitative Daten über Produktion, Beschäftigung, Entlohnung und Investitionen im russischen Rüstungssektor von rund 700 Konversionsbetrieben, die dem russischen Staatskomitee für die Verteidigungsindustrie, Goskomoboronprom, unterstehen. Sie erlauben differenzierte Aussagen über die Entwicklung in einzelnen Produktgruppen, Branchen und Regionen. Zum anderen hat die Industrieabteilung des Zentrums (unter der Leitung von D. Belâev) seit 1993 zwei schriftliche Befragungen von Konversionsunternehmen des russischen Rüstungssektors durchgeführt, bei denen die 140 (1993) bzw. 158 (1994) antwortenden Unternehmen ein – zumindest annähernd – repräsentatives Bild der Grundgesamtheit von rund 700 in Frage kommenden Betrieben geben: So stimmt die Betriebsgrößenverteilung der Stichprobe (nach der Zahl der Beschäftigten) sehr gut mit der der Rüstungsunternehmen insgesamt überein (Abb.1).

Gerade die Kombination von Angaben über die quantitative Entwicklung des Rüstungssektors insgesamt mit den qualitativen Befragungsergebnissen des Zentrums verspricht einen vertieften Einblick in das Anpassungsverhalten russischer Rüstungsunternehmen.

Die Daten des Zentrums für ökonomische Konjunktur (Tab.1) weisen einen durchgängig starken Rückgang der Wehrgüterproduktion spätestens seit 1991 aus. Dieser Rückgang setzte also bereits vor den radikalen Kürzungen des russischen Rüstungsetats des Jahres 1992 ein (diese und der Einbruch bei den Rüstungsexporten schlugen allerdings zusätzlich mit 12 Prozentpunkten zu Buche). Die Daten für das erste Halbjahr 1994 deuten daraufhin, daß die Stärke der Kontraktion der Wehrgüterproduktion im laufenden Jahr sogar noch übertroffen wird; jetzt ist aber offenbar gleichermaßen die zivile Produktion erfaßt.

Versteckte Arbeitslosigkeit in den Rüstungsbetrieben

Die Zivilproduktion konnte bis 1993 einen bedeutenden Teil des Produktionsrückganges im Rüstungssektor auffangen, weil hier die Kontraktion nicht so stark ausgeprägt war wie in der Wehrgüterproduktion. Die Beschäftigung in der Zivilproduktion nahm 1991 und 1992 sogar absolut zu, was den Stellenabbau im militärischen Bereich zumindest z.T. kompensierte. Insgesamt ging die Beschäftigung deutlich langsamer zurück als die Produktion im Rüstungssektor. Dies läßt auf eine Hortung von Arbeitskräften bzw. die Entstehung einer versteckten Arbeitslosigkeit in den Rüstungsbetrieben schließen. Im Ergebnis ist auch die Entwicklung der Arbeitsproduktivität im russischen Rüstungssektor insgesamt negativ. Nur 1993 ging der Produktionsrückgang zumindest annähernd mit dem Stellenabbau einher, eine Entwicklung, die sich 1994 aber bislang nicht fortsetzte.

1992, als der Beschäftigungsanstieg in der Zivilproduktion des Rüstungssektors besonders stark war, ging der Stellenabbau in der Rüstungsproduktion relativ reibungslos vonstatten; allerdings verschlechterte sich im Ergebnis die Produktivität in der Zivilproduktion überdurchschnittlich stark, während sie in der Wehrgüterproduktion ausnahmsweise annähernd konstant blieb. Bei entsprechenden Beschäftigungsmöglichkeiten im zivilen Bereich ist also grundsätzlich ein zum Produktionsrückgang proportionaler Stellenabbau in der Wehrgüterproduktion möglich, allerdings praktisch nur zum Preis eines Produktivitätsrückgangs in der Zivilproduktion.

Die qualitativen Befragungsergebnisse des Zentrums für ökonomische Konjunktur entsprachen zumindest für das Jahr 1992 nicht der quantitativ ermittelten beschleunigten Reduktion der Zivilproduktion des Rüstungssektors: Der Saldo der Antworten auf die Frage nach der Entwicklung der Zivilproduktion war noch 1992 mit 6 Prozentpunkten positiv und wurde 1993 dagegen mit 17 Prozentpunkten deutlich negativ. Zugleich zeigen sich erhebliche Disproportionen zwischen den Angaben über den Umfang der Zivilproduktion und die Entwicklung der Nachfrage nach diesen zivilen Gütern. Sie zeigen an, daß die Rüstungsbetriebe immer noch bei ihren Produktionsplanungen die von ihnen selbst vermutete Entwicklung der Nachfrage zu einem beachtlichen Teil hartnäckig ignorieren: Der erwartete und der tatsächlich eingetretene Nachfragerückgang übertrafen die prognostizierten und die faktischen Produktionsrückgänge jeweils um signifikante Größenordnungen. Das bedeutet, daß ein zunehmender Anteil der Zivilproduktion des Rüstungssektors »auf Halde« produziert wird und »weiche Budgetbeschränkungen« immer noch das Verhalten der Unternehmen bestimmen.

Binnenwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit

Unter dem Vorbehalt, daß Produktionszahlen angesichts des massiven Aufbaus von Lagern fertiger Erzeugnisse nur sehr bedingt etwas über die Marktentwicklung aussagen, sind auch die Daten über die Produktion einzelner ziviler Investitions- und Konsumgütergruppen im Bereich des russischen Rüstungssektors zu betrachten. Sie geben Auskunft über die Relation der Zivilproduktion des Rüstungssektors zur Produktion dieser Gütergruppen im gesamten verarbeitenden Gewerbe. Damit kann zumindest indirekt – gleiches Lagerhaltungsverhalten unterstellt – auf die Veränderungen der Marktanteile und damit der binnenwirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit des Rüstungssektors geschlossen werden. Es wird ein differenziertes Bild erkennbar: Die binnenwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit des Rüstungssektors gegenüber dem Zivilsektor ist offensichtlich nicht eindeutig besser (wie noch in der sowjetischen Diskussion oftmals behauptet wurde). Vielmehr mußten Anbieter aus dem militärischen Bereich (beispielsweise bei der Herstellung von Motorrädern und Motorrollern sowie von Güterwaggons und Anlagen für die Nahrungsmittelindustrie) »Marktanteilsverluste« bei einzelnen Gütergruppen hinnehmen.

Bei anderen Gütergruppen konnte sich der Rüstungssektor tatsächlich gegenüber dem Zivilsektor behaupten, entweder weil die Kontraktion der Produktion hier nicht so stark war wie im verarbeitenden Gewerbe insgesamt (das gilt insbesondere für die Herstellung von Lastkraftwagen, Bohrausrüstungen, spanabhebenden Werkzeugmaschinen) oder weil der Rüstungssektor – im Gegensatz zur Gesamtindustrie – seine Produktion sogar ausweiten konnte, wie – bezeichnenderweise – bei der Herstellung von Maschinen, Ausrüstungen und Ersatzteilen für Erdölraffinerien, Erdölförderung und Bergbau, wo der militärische Maschinenbau offenbar von der vergleichsweise guten Investitionssituation im Rohstoffsektor profitierte.

Die Investitionsgüterproduktion des Rüstungssektors hat also offensichtlich genügend auch zivil nutzbare Kapazitäten, um zivile binnenwirtschaftliche Nachfrage zu befriedigen, sofern sie gegeben ist und die Importkonkurrenz aufgrund der realen Rubelaufwertung nicht erdrückend. Unter der Auslandskonkurrenz leidet seit 1993 vor allem die Produktion von langlebigen Konsumgütern, die traditionell fast ausschließlich im Bereich des Rüstungssektors konzentriert war. Bis dahin konnten hier – teilweise sogar beachtliche – Produktionszuwächse erzielt wurden.

Branchenentwicklung des Rüstungssektors

Einen – im Vergleich zum gesamten Rüstungssektor – überdurchschnittlichen Produktionsrückgang hatten 1993 und im ersten Quartal 199413 vier Branchen des Rüstungssektors zu verzeichnen: die Luftfahrt, das Nachrichtenwesen, die Elektronik sowie die Waffen- und Munitionsproduktion. Dagegen waren Schiffbau, Radioindustrie, Raumfahrt und Atomindustrie im gleichen Zeitraum unterdurchschnittlich vom Produktionsrückgang betroffen.

Diese Probleme im Produktionsbereich spiegeln sich recht gleichmäßig in der Produktivitätsentwicklung wider: Die Branchen, deren Produktion 1993 und im ersten Quartal 1994 am stärksten schrumpfte, hatten auch am meisten Probleme, ihren Beschäftigungsstand entsprechend der sinkenden Kapazitätsauslastung zu verringern, was im Ergebnis in den betroffenen Branchen (Luftfahrt, Nachrichtenwesen, Elektronik, Waffen- und Munitonsherstellung) zu überdurchschnittlichen Produktivitätsrückgängen führte. Nur in der Elektronikindustrie konnte dieser Trend im ersten Quartal 1994 umgekehrt werden.

Konfrontiert man die Produktivitätsentwicklung in den Rüstungsbranchen mit dem relativen Lohnnivau, scheint ein positiver Zusammenhang offensichtlich (Abb.2): Die beiden Branchen mit der besten Produktivitätsentwicklung (Schiffbau und Atomindustrie) können auch die höchsten Lohnniveaus im Rüstungssektor aufweisen (bei der Atomindustrie liegt es sogar deutlich höher als in der Gesamtindustrie). Umgekehrt werden in den Branchen mit den schlechtesten Produktivitätskennziffern auch die niedrigsten Löhne im Vergleich zum gesamten verarbeitenden Gewerbe gezahlt.

Die Beschäftigten in den Krisenbranchen des Rüstungssektors zahlen also mit ihrem negativen Lohndifferential den Preis für die versteckte Arbeitslosigkeit in ihrem Industriezweig. Diese Form der »Arbeitslosenversicherung« wird so betriebs- bzw. branchenintern und nicht gesellschaftlich umgelegt. Ausnahmebereich ist die »Radioindustrie«, bei der eine relativ günstige Produktivitätsentwicklung mit einem sehr niedrigen Lohnniveau einhergeht. Dies und das ebenfalls sehr niedrige Lohnniveau in den anderen »elektronikrelevanten« Industriezweigen des Rüstungssektors (Nachrichtenwesen und Elektronik) deutet darauf hin, daß die Wettbewerbsfähigkeit dieser Branchen vor allem an dem technologischen Rückstand und der mangelhaften Qualität der Produkte leidet.

Betrachtet man den Anteil zentralisierter Investitionen an den gesamten Investitionen der einzelnen Branchen des Rüstungssektors als Indikator für das Ausmaß ihrer Subventionierung, dann deutet einiges darauf hin, daß vor allem die produktivsten Branchen subventioniert werden, das gilt zumindest für den Schiffbau und die Raumfahrtindustrie (allerdings nicht für die Elektronikindustrie), für die Atomindustrie lagen leider keine Investitionsangaben vor.

Die größten Rüstungsunternehmen als Nutznießer

Wie eingangs schon angeführt wurde, ist die Rüstungsproduktion im Vergleich zur Gesamtindustrie (vgl. Abb.1) überproportional konzentriert. Wie die Befragungsergebnisse des Zentrums für ökonomische Konjunktur deutlich machen, profitieren die größten Rüstungsunternehmen mit mehr als 10.000 Beschäftigten auch überproportional von den Fördermaßnahmen, die im Konversionsgesetz von 1992 festgeschrieben sind: Das gilt insbesondere für die Nutzung zentraler Konversionsfonds, zu denen diese Größtunternehmen offensichtlich den besten Zugang haben, aber auch für Regeln bei der Preisfestsetzung und Vergünstigungen bei den Abschreibungsregeln und außenwirtschaftlicher Tätigkeit. Nur Kompensationszahlungen für Konversionsverluste, die beispielsweise durch Stornierung von Rüstungsaufträgen aufgetreten sind, werden stärker von »kleineren« Rüstungsunternehmen in Anspruch genommen.

Nutzen die gößten russischen Rüstungsunternehmen offensichtlich bislang die Fördermaßnahmen des Konversionsgesetzes am intensivsten, zeigten sie zugleich auch die deutlichsten Präferenzen für eine Rüstungsoption: Beim tatsächlichen (1993) und für 1994 anvisierten Wachstum lagen die Rüstungsunternehmen mit mehr als 10.000 Beschäftigten eindeutig vorn. Bedenklich muß aber vor allem stimmen, daß diese Unternehmen in ihrer absoluten Mehrheit 1994 bereits wieder eine Erhöhung der Rüstungsproduktion planten.

Konversion spielt nur noch eine untergeordnete Rolle

Konversion der Rüstungsproduktion im engeren Sinne (»Kürzung der militärischen und Ausweitung der zivilen Produktion«) spielt 1994 nach den Befragungsergebnissen des Zentrums für ökonomische Konjunktur nur noch eine untergeordnete Rolle als Entwicklungsstrategie für die russischen Rüstungsunternehmen: Ganze 4% der befragen Unternehmen votierten noch für diese Option (1993 waren es immerhin noch 14%). Dagegen richten viele Rüstungsunternehmen ihre Anstrengungen auf eine Diversifizierung ihrer Produktionspalette (Option: Beibehaltung der Rüstungsproduktion auf dem derzeitigen Niveau und Erhöhung der zivilen Produktion). Aber auch hier ist 1994 mit 26% gegenüber 1993 mit 39% eine deutliche Abnahme zu verzeichen. Ein nicht unerheblicher Teil der Unternehmen von (1994 immerhin 13%; 1993 16%) votierten für die Rüstungsoption, d.h. eine Erhöhung der Wehrgüterproduktion u.a. für den Export.

Eine 1994 stark zunehmende Bedeutung für die Wehrgüterproduzenten hatten vor allem Umstrukturierungsstrategien (Option: Reorganisation der Produktion)14: Mehr als die Hälfte der Unternehmen plante offensichtlich für 1994 gezielte Restrukturierungsmaßnahmen. Dabei wurden einerseits – vor allem von den Staatsunternehmen – die Konzernbildung (Bildung von Finanz-Industrie-Gruppen) und andererseits – vor allem von in Kapitalgesellschaften umgewandelten Unternehmen – die Gründung von Gemeinschaftsunternehmen »unter Teilnahme von ausländischen Partnern« als Umstrukturierungsmaßnahmen bevorzugt.

Resümee

Für die Hypothese, daß die »Dutch-disease«-Problematik für Rußland relevant ist und die Konversion des russischen Rüstungssektors behindert, konnten anhand der vorliegenden Daten einige erhärtende Indizien gewonnen werden, die allerdings einer weiteren empirischen Überprüfung auf Grundlage einer weiter verbesserten Datenlage bedürfen. Evident ist, daß der Rüstungssektor stärker als andere Industriesektoren vom strukturellen Anpassungsdruck betroffen ist. Das zeigte sich daran, daß hier der Produktionsrückgang überdurchschnittlich stark ausfiel (vgl. Tab.1) und vor allem an dem relativ niedrigen Lohnniveau, das die Rüstungsunternehmen – mit Ausnahme derjenigen in der Atomindustrie – zahlen konnten und das im vollständigen Kontrast zu den überdurchschnittlichen Löhnen steht, die den Rüstungsbeschäftigten vor der Gajdar-Wende zugeschrieben wurden.

Zum einen ist diese überproportionale Kontraktion des Rüstungssektors Ausdruck der radikalen Kürzung des Wehrbudgets und insbesondere der Beschaffung militärischer Ausrüstungen für die russischen Streitkräfte sowie des Verlusts traditioneller Absatzmärkte für Rüstungsexporte in den ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages. Zum anderen sprechen die massiven Probleme

der »elektronikrelevanten« Rüstungszweige dafür, daß die Importkonkurrenz hier immens ist, und zwar sowohl unter preislichen Aspekten als auch von der Qualität der Produkte her. Es ist wahrscheinlich, daß die Preiskonkurrenz für die gesamte Zivilproduktion des Rüstungssektors spätestens seit 1994 zum maßgeblichen Faktor geworden ist: In diesem Jahr sinkt sie erstmals stärker als die Produktion im Durchschnitt der gesamten Industrie. Massiv betroffen sind auch leistungsstarke Branchen wie die Luft- und Raumfahrtindustrien. Gerade hier, bei an sich konkurrenzfähigen Branchen, behindert natürlich die reale Überwertung des Rubel den Absatz auf den internationalen Märkten besonders stark.

Insgesamt zeigt sich ein massiver politischer und ökonomischer Bedeutungsverlust des russischen Rüstungssektors: Nach der massiven Reduktion des Rüstungsetats im Jahr 1992 war bisher kein entsprechend massiver Wiederanstieg zu verzeichnen. Vielmehr haben sich die Prioritäten zugunsten anderer Sektoren verschoben, vor allem zugunsten des sogenannten Brennstoff-Industrie-Komplexes und der Landwirtschaft: Der Etatposten für Beschaffungen von Rüstungsgütern entspricht mit 8,4 Bill. Rubel etwa den gesamten Subventionen für die Grundstoffindustrien (7,8 Bill. Rubel) und ist deutlich kleiner als die Landwirtschaftssubventionen von insgesamt 12 Bill. Rubel.15

Für die Konversion des Rüstungssektors ist im russischen Föderationshaushalt für 1994 mit 755 Mrd. Rubeln nur ein Zehntel der Zuweisungen vorgesehen, welche die Grundstoffindustrien bekommen und nur ein Sechzehntel dessen, was für die Landwirtschaft reserviert wurde. Mit dieser Summe ist keine ernsthafte »selektive« Strukturpolitik zu machen, die auf eine zivilorientierte Modernisierung des einstmals militärischen Maschinenbaus gerichtet ist.

Für die Fähigkeit des neuen russischen Wirtschaftssystems endogen technischen Fortschritt hervorzubringen, ist ein zwar abgespecktes, aber intaktes Innovationssystem notwendig16; internationale Kooperationen auf den Gebieten Rüstungskonversion sowie Forschung und Entwicklung könnten dabei zwar eine wichtige Rolle spielen, tun es bislang trotz großen öffentlichen Interesses aber noch nicht: So waren nach OECD-Angaben vom April 199417 von den technischen Hilfsmaßnahmen der multilateraten Finanz- und Wirtschaftsorganisationen (EBRD, IBRD, IMF, EC) nur 1,4% der Projektsummen für die Unterstützung der Rüstungskonversion in den Neuen Unabhängigen Staaten (NUS) vorgesehen, bei den laufenden Projekten waren es sogar nur 0,3% der insgesamt (bereits vergebenen) Mittel. Noch geringer war der Anteil der technischen Fördermittel für Wissenschaft und Technologie in den NUS: 0,1% bei den geplanten und 0,5% bei den bereits abgeschlossenen Projekten. Die Zahlen machen deutlich, wie gering die Priorität ist, die im Rahmen der internationalen Unterstützung der Rüstungskonversion und dem Innovationssystem in Rußland beigemessen wird, auch wenn zahlreiche bilaterale Initiativen existieren, die aber das Bild der quantitativen Unterstützung nicht wesentlich verändern.18 Auch auf der Unternehmensebene sind die Kooperationen quantitativ bisher eine zu vernachlässigende Größe: Nach den Angaben des Zentrums für ökonomische Konjunktur waren in den ersten neun Monaten 1993 ganze 0,3% der Konversionsaufwendungen in der russischen Rüstungsindustrie Mittel ausländischer Investoren.19

Die lang anhaltende Überbewertung des Rubel birgt die Gefahr in sich, daß die überfällige strukturelle Anpassung der russischen Wirtschaft in eine Richtung »überschießt«, die die verarbeitenden Zweige der Industrie dauerhaft in Mitleidenschaft zieht und eine erfolgreiche Konversion der russischen Rüstungsindustrie verhindert. Damit wären auch die Entwicklungsaussichten Rußlands langfristig sehr beschränkt. Sollte sich diese Diagnose einer »holländischen Krankheit« erhärten, steht eine Therapie vor den bekannten Dilemmata: Eine politisch induzierte allgemeine Abwertung des Rubel hätte unerwünschte inflationäre Folgen und würde darüber hinaus das Vertrauen der russischen Bevölkerung in die wirtschaftspolitische Kompetenz ihrer Regierung nachhaltig erschüttern. Die Einführung gespaltener Wechselkurse würde einen Wust neuer bürokratischer Reglementierung bedeuten und auf mittlere Frist kaum durchzuhalten sein. Bleiben als »zweitbeste«, aber sinnvollste Lösung nur interventionistische Maßnahmen mit all ihren Problemen: Sie müßten die Umverteilung eines signifikanten Teils der Rohstofferlöse in den Modernisierungskern der verarbeitenden Industrie gewährleisten und die Konversion des russischen Rüstungssektors vorantreiben.

Tabelle 1: Produktion und Beschäftigung im Rüstungssektor Rußlands (1990-1994)
jeweils
Vorjahreszeitraum=100
1991/90 1992/91 1993/92 1. H. 1994
Industrieproduktion insgesamt 90 84 84 74
Produktion des Rüstungssektors insgesamt 86 82 84 63
– militärische Produktion 74 62 70 61
– zivile Produktion 96 93 89 64
Produktionsarbeiter insgesamt 96 91 88 85
– militärische Produktion 86 63 78 k.A.
– zivile Produktion 104 108 93 k.A.
Produktionsindex 90 90 95 74
– militärische Produktion 86 98 90 k.A.
– zivile Produktion 92 86 96 k.A.
Quelle: Centr ekonomiceskoj kon'ûnktury, Rossiâ 1992, S. 157; dass., Rossiâ 1994, Vyp. 1, S. 188; dass., Segoduâ, 30.9.1994, S. 11; Bezeichnungen des ifo Instituts.
Tabelle 2: Branchenentwicklung im russischen Rüstungssektor 1993/94
Gesamt-
sektor
Luft-
fahrt
Schiff-
bau
Radio-
ind.
Nach-
rich- ten- wesen
Elektro-
nik
Waffen Muni-
tion
Raum-
fahrt
Atom Indu-
strie
Produktion (in % des
Vorjahreszeitsraum)
1992 82 84 89 84 74 72 84 70 94 100 81
1993 84 81 88 93 78 66 82 82 95 103 84
I/1994 65 54 77 69 60 60 56 64 70 84 75
Beschäftigung in der
industriellen Produktion (in % des Vorjahreszeitraums)
1922 91 91 90 87 87 92 93 90 89 97 96
1993 88 90 90 86 82 81 91 89 89 97 93
I/1994 86 87 89 85 82 79 88 85 88 94 91
Lohnniveau (in % des
Durchschnitts des gesamten Verarbeitenden Gewerbes)
1992 69 71 77 53 56 54 68 71 66 114 100
1993 68 68 89 53 52 44 64 62 70 121 100
Feb. 1994 70 65 98 56 55 46 62 58 76 129 100
Investitionen im Bereich der
Hauptverwaltungen von Goskomoboronprom 1993 (Mrd. Rubel)
Gesamte I. 530,2 121,3 65 41,3 18,4 44,1 107,8 55,9 65,3 k.A. k.A.
Zentral I. 83,5 11,2 17,2 5,1 1,3 8,6 15,2 7,2 10,4 k.A. k.A.
Anteil ZI 15,7 9,2 26,5 12,3 7,1 19,5 14,1 12,9 15,9
Verteilung der Investitionen auf
die Rüstungsbranchen (in % des Gesamtsektors)
Gesamt 100 22,9 12,3 7,8 3,5 8,3 20,3 10,5 12,3,
Zentral 100 13,4 20,6 6,1 1,6 10,3 18,2 8,6 12,5,
Quelle: Centr ekonomiceskoj
kon'ûnktury, Rossiâ-1994, Vypusk 1, Tablica VI.17, S. 193; D.A. Belâev,
Konversiâ voennogo proizvodstva, a.a.O., Tablici 2 & 5.

Anmerkungen

1) Dieser Artikel wurde zuerst in ausführlicherer Form im ifo Schnelldienst Nr. 32, 1994, veröffentlicht. Teilweise wurde er auf dem Workshop »Konzeptionelle und praktische Probleme betrieblicher Konversion« am 7. und 8. Oktober im Brandenburgischen Wirtschaftsinstitut Stahnsdorf präsentiert und verdankt dessen Teilnehmern einige Anregungen. Insbesondere ist der Autor Petra Opitz für einige kritische Anmerkungen dankar. Zurück

2) R. J. Langhammer, Das Exportangebot der Nachfolgestaaten der UdSSR auf dem Weltmarkt: Rohstoffe und sonst (noch) nichts?, in: Die Weltwirtschaft, Heft 4, 1993, S. 412 – 423, hier S. 421. Zurück

3) Vgl. R. Götz, »Deindustrialisierung« Rußlands: unabwendbares Schicksal oder Problem der Struktur- und Währungspolitik? Aktuelle Analysen des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Nr. 50, Köln, 13. September 1994, S. 6; vgl. auch Langhammer 1993, a.a.O., S. 421. Zurück

4) Götz, »Deindustrialisierung«, a.a.O., S. 4-5. Zurück

5) Vgl. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Berlin, Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, Institut für Wirtschaftsforschung Halle, Die wirtschaftliche Lage Rußlands: Beschleunigte Talfahrt durch verschleppte Reformen, in: Wochenbericht des DIW, S. 283-319, S. 293. Zurück

6) Vgl. P. Romer, The Origins of Endogenous Growth, in: Journal of Economic Perspectives, Vol. 8, Number 1, Winter 1994, S. 3-22; G. M. Grossman und E. Helpman, Endogenous Innovation in the Theory of Growth, ebd., S. 23-44. Vgl. zur im folgenden dargestellten Anwendung der Theorie auf Osteuropa insbesondere V. Vincentz, Internationaler Handel auf unvollkommenen Märkten: Implikationen für Osteuropa, Arbeiten aus dem Osteuropa-Institut München, Nr. 160, Juni 1993. Zurück

7) Gemessen am BSP sind es nur 5<0> <>%, um die der westeuropäische Markt erweitert wird, gemessen an der Zahl der Einwohner wächst der Markt allerdings um 30<0> <>%; vgl. Vincentz, Internationaler Handel, a.a.O., S. 5. Zurück

8) Vgl. die ausführliche Diskussion dieser Problematik in: J. A. Alic et al., Beyond Spinoff: Military and Commercial Technologies in a Changing World, Boston, 1992; vgl. auch den exzellenten Überblick über die amerikanische Diskussion von R. Rilling, Zuviel in Feuerkraft, zuwenig in die Gehirne … Die Rüstungs- und Technologiepolitik der USA im Übergang, in: W. Liebert, R. Rilling und J. Scheffran, Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik: Zum Problem zivil-militärischer Ambivalenz, Marburg, 1994, S. 44 – 106. Zurück

9) Vgl. L. M. Branscomb, Targeting Critical Technologies, in: STI Review No. 14, Paris: OECD, 1994, S. 33 – 57. Zurück

10) Vgl. J. Kornai, The Soft Budget Constraint, in: Kyklos, Bd. 39, 1986, No. 1, S. 3 – 30. Zurück

11) Eine ausführliche Analyse der Problematik findet sich in: T.H.W. Sauer, Mißlungene Vergesellschaftung: Fragmentierung als Problem des Innovationsprozesses im sowjetischen Wirtschaftssystem, ifo Studien zur Ostforschung, Band 12, München, 1994, insbesondere Teil IV. Zurück

12) D.A. Belâev, Ekonomiceskoe polozenie konversiruemych predprijatij i perspektivy ich razvitiâ v 1993, Ms., Moskau 1993, auszugsweise veröffentlicht in: Rossikie vesti, 29.9.93, S. II; ders., Konversiâ voennogo proizvodstva, Ms., Moskau 1994. Zurück

13) Für das gesamte erste Halbjahr lagen nur für einzelne Branchen Daten vor. Zurück

14) Allerdings sind hier Verzerrungen durch die Differenzierung der Fragestellung gegenüber 1993 wahrscheinlich. Zurück

15) Vgl. Rossijskaâ federaciâ, Federal'nyj zakon, „O federal'nom bûdzete na 1994 god“, in: Rossijskâ gazeta, 6. Juli 1994. Zurück

16) OECD, Centre for Co-Operation with the Economies in Transition: Science, Technology and Innovation Policies – Federation of Russia, Vol. I, Evaluation Report, Paris 1994. Zurück

17) S. Zecchnini, The Assistance of International Institutions to the Transition Process, Ms., o.O. [Paris] 7. April 1994, Table 3. Zurück

18) Vgl. OECD, Cooperation in Science and Technology with the Federation of Russia: Experience and Programms of Selected OECD Countries, Paris, 1994. Zurück

19) Centr ékonomiceskoj kon'ûnktury, Rossiâ-1994, Ekonomiceskaâ kon'ûnktura, Vypusk 1, Moskva, mart 1994, S. 194, Tablica VI.18. Zurück

Thomas Sauer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im ifo-Institut, München.

Perspektiven der Erweiterung der NATO und die Interessen Rußlands

Perspektiven der Erweiterung der NATO und die Interessen Rußlands

Auslandsaufklärung der Russischen Föderation*

von Forschungsinstitut für Friedenspolitik

Dies ist ein offenes Dokument der Auslandsaufklärung der Russischen Föderation, es ist ihre Einschätzung und Analyse einer der aktuellsten Fragen der Gegenwart – die Probleme der Erweiterung der NATO um den nicht mehr existierenden Warschauer Vertrag. Früher »war alles einfach«: es fand ein Kampf zweier Blöcke statt. Heute gibt es diesen Kampf zum Glück nicht mehr. Aber wie wird die Sicherheit der verschiedenen Staaten in der Periode der Postkonfrontation gewährleistet – davon hängt das Schicksal Europas und der Welt im ganzen ab. Die unterbreitete Variante, die in diesem Dokument einer Betrachtung unterzogen wird – das ist die Vergrößerung des Geltungsbereiches jenes Blockes, der den Westen in der Periode des Kampfes verkörperte. Inwieweit ist das gerechtfertigt, ist solch eine Entscheidung optimal? Die Auslandsaufklärung legt ihren Standpunkt zu diesem Problem unter Berücksichtigung ihrer ganzen Vielschichtigkeit und Kompliziertheit dar.

Ich denke, daß die im Dokument zum Ausdruck gebrachten Einschätzungen nicht nur Anhänger finden werden, sondern auch solche, die sie – wenn auch nur teilweise – nicht teilen. Wir sind darauf vorbereitet.

Wahrscheinlich entsteht die Frage nach den Quellen der in dieser Analyse enthaltenen Angaben. Ich sag es direkt: das sind sowohl offene Informationen als auch jene, die man durch spezifische Mittel der Aufklärung erhalten hat. Das Wichtigste liegt, wie man sich vorstellen kann, in den Schlußfolgerungen der Analytiker der Auslandsaufklärung, die sie auf der Grundlage der eingegangenen Angaben gezogen haben, und diese Schlußfolgerungen sind einheitlich. Rußland ist nicht gleichgültig bezüglich der Entwicklung der Ereignisse, die seine Interessen berühren. Rußland hat allen Grund, den Verlauf dieser Ereignisse mit möglichen Veränderungen in der geopolitischen und militärischen Lage zu messen. Das erneuerte Rußland hat ein Recht darauf, daß seine Meinung Berücksichtigung findet.

Der Direktor der Auslandsaufklärung der Russischen Föderation

Akademiemitglied E. Primakow

Die Frage der möglichen Erweiterung des Geltungsbereiches der NATO nach Mittel- und Osteuropa ist eine der Schlüsselfragen bei der Bestimmung des zukünftigen Antlitzes der europäischen Sicherheit, der Kräfteverteilung auf dem Kontinent in der Periode der Postkonfrontation. Die Bewegung der Staaten Mittel- und Osteuropas (MOE-Staaten) in Richtung NATO berührt die Interessen Rußlands und erfordert eine sorgfältige Analyse.

1. Probleme der Erweiterung

1.1 Allgemeines Herangehen der NATO an die Mitgliedschaftsbedingungen der MOE-Länder in der Allianz

Es gibt allen Grund anzunehmen, daß die Aufnahme der MOE-Länder in die NATO in den USA und den Staaten Westeuropas als eines der wichtigen Probleme angesehen wird, vom Charakter deren Lösung in vielerlei Hinsicht die reale Entwicklung der internationalen Beziehungen in der Periode der Postkonfrontation abhängt. Zugunsten der Aufnahme dieser Länder in die NATO werden folgende Argumente vorgebracht:

nach der Beendigung des »kalten Krieges« ist es für die Stabilisierung der Lage in Europa auf einem qualitativ neuen Niveau notwendig, im Westen und Osten des Kontinentes die Unterschiede in den Systemen zur Gewährleistung der Sicherheit zu beseitigen;

das beständige Bestreben der MOE-Länder zum Eintritt in die NATO kann nicht ignoriert werden, ohne daß jenen politischen Kräften Schaden zugefügt wird, die sich in der Führung der genannten Länder nach Westen orientieren;

die sehr wahrscheinliche Einbeziehung der NATO in die Regelung von Konflikten in Mittel- und Osteuropa diktiert die Notwendigkeit der Vervollkommnung der Kontrollmechanismen zur Lage in der Region, einschließlich des z.Z. ruhenden Systems der politischen Konsultationen, die Vorbereitung einer einheitlichen Infrastruktur, die Erarbeitung einer Ordnung des Zusammenwirkens auf dem Gebiet der Verteidigung und des Aufbaus von Streitkräften;

die Mitgliedschaft der MOE-Länder in der NATO wird als Alternative zur Formierung eigener subregionaler Sicherheitsstrukturen angesehen, die bei bestimmten Lageveränderungen in entsprechende Strukturen der GUS hineingezogen werden könnten.

Bei der Diskussion der Frage über die Erhöhung der Mitgliedszahl der Nordatlantischen Allianz wird die Aufmerksamkeit auf den rein militärischen Aspekt des Problems gerichtet. Hierbei wird unter Berücksichtigung der gegenwärtigen geopolitischen Situation der Schwerpunkt auf die Verlagerung der NATO-Grenzen gelegt. Vor dem Hintergrund der in den GUS-Ländern bestehenden innenpolitischen Instabilität wird diese Situation nach Einschätzungen der NATO-Führung durch die Möglichkeit der Existenz mehrerer Nuklear-Staaten auf dem Territorium der früheren UdSSR charakterisiert.

Die Verschiebung der NATO-Grenzen unter solchen Bedingungen wird als Ausfüllung eines »Sicherheitsvakuums« in Mittel- und Osteuropa betrachtet. NATO-Generalsekretär Wörner ist der Meinung, daß es ein »tragischer Fehler« wäre, die Bitten der MOE-Länder um die Gewährung von Garantien für ihre Stabilität und Sicherheit zurückzuweisen, die nur die NATO zu geben in der Lage ist.

Nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung ist eine detaillierte Analyse der dargelegten Motive zur Erweiterung der NATO notwendig, um die realen Auswirkungen der angelaufenen Prozesse auf die Interessen Rußlands aufzudecken.

Im Zusammenhang damit kann man die Schlußfolgerung ziehen, daß die unverzügliche Aufnahme der MOE-Staaten als vollberechtigte Mitglieder in die NATO von ihrer Führung nicht als zweckmäßig angesehen wird. Hierbei berücksichtigen die NATO-Leute folgende Umstände:

übereilte und nichtvorbereitete Schritte in diese Richtung können zu einem Rückfall in die Politik der Konfrontation auf dem Kontinent führen;

die Aufnahmekandidaten in die Allianz werden mit einer Reihe von zwischenstaatlichen, darunter territorialen, Widersprüchen belastet, was die inneren Schwierigkeiten in der NATO erhöht, die schon in der gegenwärtigen Form bestimmten Schaden von den angespannten, wenn nicht feindlichen Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei nimmt;

die Erweiterung der zahlenmäßigen Zusammensetzung der NATO um jene Länder, die das westliche Niveau des Verständnisses der Aufgaben der internationalen Sicherheit nicht erreicht haben und die keine Erfahrungen in der Harmonisierung ihrer nationalen Interessen mit denen einer Koalition haben, kann zu einer Senkung der Effektivität der Führungsmechanismen der NATO führen und die Durchführung einer abgestimmten Politik beim von den Alliierten praktizierten Prinzip der Einstimmigkeit erschweren;

Rußland kann Korrektive in seinen nach Europa gerichteten Kurs einbringen, indem es die Erweiterung der NATO um die MOE-Länder als die Schaffung eines »Cordon Sanitaire« interpretiert, der seine Integration in ein einheitliches Europa behindert;

der Eintritt der Länder Mittel- und Osteuropas in die Nordatlantische Allianz bewegt auch andere Staaten, analoge Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Dabei wird es schwierig, sie abzulehnen, ohne daß den Beziehungen mit ihnen Schaden zugefügt wird. Aber im Falle der Aufnahme z.B. der Ukraine in die NATO ohne Rußland entsteht eine neue geopolitische Lage, die fähig ist, den Widerstand Moskaus hervorzurufen;

die Reorganisation, die Umschulung und die Umrüstung der Armeen der MOE-Länder erfordert bedeutende Ressourcen und einen langen Zeitraum;

die MOE-Länder sind nicht vorbereitet, die ihnen durch eine NATO-Mitgliedschaft auferlegten zusätzlichen finanziellen und materiellen Ausgaben zu tragen;

die Erweiterung der NATO ruft die Notwendigkeit einer Umarbeitung der ausbalancierten Entwicklungsprogramme der Allianz auf einigen Gebieten (Ausstattung der Kriegsschauplätze, wissenschaftliche Forschungsarbeit, gemeinsame Militärproduktion, militärische und operative Einsatzbereitschaft) hervor, schafft im Verlauf der Ausarbeitung einer neuen Militärstrategie der Allianz zusätzliche schmerzhafte Probleme, besonders zu solch »sensiblem« Punkt wie die Rolle der Nuklearkomponenten, vor allem der taktischen.

Schließlich werden die rein juristischen Hindernisse für die schnellste Aufnahme neuer Mitglieder in die Allianz untersucht. Sie sind vor allem mit den Besonderheiten des Funktionierens des Mechanismus der Zusammenarbeit in einer Koalition und ihren völkerrechtlichen Grundlagen verbunden. So gibt es in der NATO praktisch einen Konsens in der Frage gegen eine sofortige Ausweitung der Gültigkeit von Artikel 5 des Nordatlantischen Vertrages auf die MOE-Länder, der seinem Wesen nach einen automatischen Ablauf des Zusammenwirkens der Allianz mit dem Ziel der Abwehr einer Aggression vorsieht.

Die Gegenüberstellung der beiden aufgeführten Gruppen von Argumenten läßt den Schluß zu, daß der Eintritt neuer Mitglieder in die NATO einen Prozeß darstellt, der aus einigen Etappen besteht. Für die Zeit der »Vorbereitungsperiode« können sie einen Zwischenstatus erhalten, der sich von einer vollberechtigten Mitgliedschaft durch ein niedrigeres Niveau der Integration ihrer nationalen Streitkräfte in die Militärstrukturen der Koalition, durch einen eingeschränkten Zugang zur Beratung und zur Annahme gemeinsamer Entscheidungen, durch einen flexiblen Grad der Teilnahme an der Finanzierung und Realisierung gemeinsamer Programme und – als wichtigstes – durch den Umfang der Garantien der Allianz auf dem Gebiet der Verteidigung unterscheidet.

Als die wahrscheinlichste Variante der Erweiterung der Nordatlantischen Allianz kann man die anfängliche Einbeziehung der »Visegrad-Gruppe« in diesen Prozeß ansehen. Berücksichtigt wird, daß Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei bedeutende Erfahrungen beim Zusammenwirken auf dem Gebiet der Sicherheit sowohl untereinander als auch mit den westlichen Nachbarn gesammelt haben. Sie haben einen ausreichend gefestigten Mechanismus bi-und multilateraler Konsultationen zu einem breiten Kreis politischer und militärischer Fragen geschaffen. Die Staaten der »Visegrad-Gruppe« haben sich nach Einschätzung des Westens mehr als andere auf dem Weg der Festigung demokratischer Institutionen und der Annahme westlicher Werte bewegt. Doch sogar in Bezug auf diese Länder gibt es praktisch keine Möglichkeit ihrer sofortigen Aufnahme mit den Rechten eines vollberechtigten Mitglieds in die Allianz.

In der NATO hat sich kein Konsens zu dem von ihrer Führung unterbreiteten »evolutionären Schema der Bewegung der Allianz nach Osten« herausgebildet. Dieses Schema sah vor: 1. die Gewährung des Status als assoziiertes Mitglied für Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn; 2. Entwicklung einer militärischen Zusammenarbeit mit Bulgarien und Rumänien; 3. Festigung der strategischen Verbindungen mit Rußland und der Ukraine. Bei allgemeiner Zustimmung in der Frage, in einer langfristigen Perspektive die MOE-Länder in dieser oder jener Form in die Allianz aufzunehmen, herrscht das Streben vor, diesen Prozeß nicht zu forcieren.

Groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine prinzipielle Entscheidung, die die Perspektive der NATO-Erweiterung bedeutet, schon auf dem im Januar 1994 bevorstehenden Treffen der Staats-und Regierungschefs der Mitglieder der Allianz angenommen wird. Ein wichtiges Element der unterbreiteten Deklaration kann die Auflistung der Kriterien werden, deren Einhaltung für alle zukünftigen Mitglieder obligatorisch ist: Verzicht auf territoriale Ansprüche; Achtung der Rechte nationaler Minderheiten; Treue zur friedlichen Regelung von Streitfragen und zu den demokratischen Prinzipien des Staatsaufbaus und zu Marktreformen; Errichtung der Bürgerkontrolle über die Streitkräfte usw.

Zusammen damit muß berücksichtigt werden, daß eine stufenweise Mitgliedschaft in der NATO durch den Nordatlantischen Vertrag nicht vorgesehen ist, zu dessen allgemeiner Revision die Alliierten nicht geneigt sind.

1.2. Nuancen im Herangehen einzelner Mitgliedsländer der NATO

Die Gemeinsamkeit des prinzipiellen Herangehens an das Problem der Erweiterung der NATO schließt spezifische Besonderheiten in den Positionen einzelner Mitgliedsländer der Allianz nicht aus. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen folgende Fragen, zu denen es Meinungsverschiedenheiten gibt:

die Fristen der Annahme eines prinzipiellen Beschlusses über die Erweiterung der NATO;

die Zusammensetzung der Antragsteller und die Formen ihrer Eingliederung oder Assoziierung mit der Allianz;

die völkerrechtlichen und zeitlichen Rahmen dieses Prozesses;

der Inhalt der »Übergangs-Periode« für die Eingliederung neuer Staaten in die NATO;

der Mechanismus der Integration der Antragsteller, die Notwendigkeit und Reihenfolge der Ausnutzung der Zwischenstrukturen, insbesondere der Institutionen der europäischen Sicherheit (EG, WEU, NATO-Kooperationsrat, KSZE);

der Charakter und der Grad der Berücksichtigung des russischen Faktors im Verlauf der europäischen Umgestaltung in der Periode der Postkonfrontation.

Man muß bemerken, daß die Ansichten der westlichen Partner zu dem genannten Problem ständig korrigiert werden, gemeinsam »geölt« und an neuen Momenten in der internationalen Lage gemessen werden, darunter an »Signalen« aus Moskau. (…)

1.4 Über die Position der MOE-Länder zu den Fragen der NATO-Mitgliedschaft

Die Haupttriebkraft des Prozesses der Erweiterung der NATO sind die Kandidaten für den Beitritt in die Allianz selbst – die MOE-Länder. Im Streben, sich mit der Nordatlantischen Allianz zu vereinen, nutzen sie folgende Argumentation:

die jugoslawische Krise hat gezeigt, daß Europa unter den neuen Bedingungen eine Zone internationaler Konflikte geworden ist; »tektonische Verwerfungen«, genährt durch ethnische, religiöse und ökonomische Widersprüche, können sich auf das Territorium anderer MOE-Staaten ausbreiten;

die Entwicklung der Lage auf dem Territorium der früheren UdSSR zeigte einerseits eine unzureichende Effektivität der auf den Mechanismen der kollektiven Sicherheit der GUS beruhenden Anstrengungen zur Verhütung und Regelung von Krisen und militärischen Konflikten und andererseits eine reale Bedrohung für Mittel- und Osteuropa aus der »nicht voraussehbaren Lage« in der Russischen Föderation, in der Ukraine, in Moldova und den baltischen Ländern;

die bestehenden Strukturen internationaler Sicherheit, darunter die UNO und die KSZE, sind als Instrument zur Gewährleistung von Frieden und Stabilität in Europa ungenügend wirksam, und die Vorstellungen über die Möglichkeit der raschen Schaffung eines auf ihrer Grundlage beruhenden Systems kollektiver Sicherheit im europäisch-asiatischen Raum erwiesen sich als illusorisch;

die Osteuropäer selbst sind nicht in der Lage, effektive Strukturen zu schaffen, die sie vor einer miltärischen Bedrohung und möglichen Erschütterungen von außen bewahren sollen: sogar die Mitglieder der »Visegrad-Gruppe«, die in militärischer Beziehung weiter entwickelt sind, stießen bei ihrem Versuch, zumindest eine Art eigener Verteidigungsallianz zu schaffen, auf unüberwindliche politische, wirtschaftliche, organisatorische und technische Schwierigkeiten;

der Beitritt der MOE-LÄnder in die NATO kann die Garantie der Unumkehrbarkeit des von ihnen eingeschlagenenen Kurses auf Annäherung an den Westen werden, der auf der Gemeinsamkeit der politischen Ziele und der sozial-ökonomischen Werte beruht;

der Status als Mitglied der Nordatlantischen Allianz gibt den MOE-Ländern die Möglichkeit, ein Maximum ökonomischer Vorteile zu erhalten und voll die Vorteile der »Diversifikation« ihrer Politik zu nutzen.

Die Unterschiede in den Positionen der Osteuropäer werden durch den Grad ihrer Bereitschaft zur Erfüllung der Forderungen der Allianz sowie durch das mit ihnen erreichte Niveau der Zusammenarbeit bestimmt. Nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung sind die innenpolitischen Umstände weniger bedeutsam.

2. Die Interessen Rußlands

Vom Standpunkt der Interesses Rußlands hat das Problem der NATO-Erweiterung mehrere Aspekte, die man im Prozeß der Entwicklung der Beziehungen mit der Nordatlantischen Allianz, mit Mittel- und Osteuropa und den Ländern des nahen Auslands berücksichtigen muß.

2.1. Die Perspektiven der Nordatlantischen Allianz

Nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung erfordert die Analyse des Einflusses des Prozesses der NATO-Erweiterung auf die Interessen Rußlands vor allem prognostische Einschätzungen, die mit der Möglichkeit der Evolution dieser Allianz nach Beendigung des »kalten Krieges« verbunden sind.

Die offiziell unterbreiteten Ziele und logischen Impulse, bedingt durch die reale Lage, diktieren die Transformation der Allianz aus einer militärpolitischen Gruppierung, die auf die Abwehr einer Bedrohung von außen gerichtet war, in ein auf den Prinzipien der kollektiven Sicherheit beruhendes Instrument der Sicherung des Friedens und der Stabilität. Im vorliegenden Kontext wird auch die Aufgabe der Erweiterung des Geltungsbereiches der NATO in östliche Richtung untersucht. Wobei nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung Moskau viele Befürchtungen, die mit dem Eintritt der MOE-Länder in die NATO verbunden sind, genommen oder abgeschwächt würden, wenn es Garantien einer vorhergehenden Entwicklung des Prozesses der Veränderung der Funktionen der Allianz oder der parallelen Erweiterung der politischen Funktionen der NATO und ihres geographischen Umfanges gäbe. Doch diese Garantien fehlen.

Vor allem gibt es keine ausreichende Klarheit in der Frage zu den Perspektiven der Transformation der NATO. In der Allianz hat sich bisher noch kein genaues Verständnis zu ihrer Rolle und ihrem Platz im System der internationalen Beziehungen in der Periode der Postkonfrontation herausgebildet. Die Diskussionen zu den Fragen der politischen Strategie der NATO haben eher einschätzenden, vorläufigen Charakter. Gleichzeitig sind unter den atlantischen Partnern wesentliche Abweichungen darin sichtbar, was das Verhältnis von Aufgaben und Vollmachten auf dem Gebiet der Sicherheit der NATO und anderer internationaler Institutionen betrifft.

Eine Realität ist auch das Fortbestehen von Stereotypen des Blockdenkens, die besonders einer Reihe von Vertretern der militärischen Führung der westlichen Länder und der Allianz im ganzen eigen sind. Eine dieser Stereotypen ist damit verbunden, daß die UdSSR, deren Kern Rußland darstellte, lange Jahre als die Hauptursache der militärischen Bedrohung für die Existenz der westlichen Zivilisation betrachtet wurde.

Ausgehend von ihrem ursprünglichen Charakter ist die NATO auf die strategische Planung des »worst case« gerichtet, was sich auf den Charakter und die Details der operativen Dokumente, des militärischen Aufbaus und der Einsatzbereitschaft der nationalen Streitkräfte sowie der der Koalition auswirken muß. Für die Überwindung dieser »Resterscheinungen« ist offensichtlich eine längere Zeitspanne nötig. Unterdessen vollzieht sich der psychologische Bruch nicht schmerzlos und trifft auf den Widerstand einflußreicher Vertreter von führenden Kreisen des militärischen Establishments, der akademischen Welt und des Militärisch-Industriellen Komplexes der NATO-Staaten.

Man darf auch die Trägheit des Wettrüstens nicht außer acht lassen, der die ständige Aufrechterhaltung eines »Feindbildes« – und sei es auch nur das eines potentiellen – im Bewußtsein der Öffentlichkeit verlangt. Das wird untersetzt durch die reale Besorgnis der Führer der wichtigsten NATO-Länder, daß es zu einer möglichen Einschränkung der Beschäftigungsrate auf den militärischen Gebieten der Wirtschaft, der Wissenschaft und der zukünftigen wissenschaftlichen Forschungsarbeit kommt. Nicht selten werden im Westen Befürchtungen zum Ausdruck gebracht, daß es unter den Bedingungen der »Euphorie der Postkonfrontation« zu einem Auseinanderbrechen des Militärindustriellen Komplexes und zum Verlust des erreichten technischen Niveaus und der Profitquellen kommt.

Das Streben der MOE-Länder, durch den Eintritt in die NATO den Westen zur aktiven Unterstützung bei der Lösung ihrer innen- und außenpolitischen Probleme heranzuziehen, kann einen unerwarteten Effekt geben. Die Nordatlantische Allianz, die sich in komplizierte, durch scharfe Kämpfe bestimmte Prozesse in den osteuropäischen Staaten hineinziehen läßt, kann vor der objektiven Notwendigkeit stehen, seine Politik zu verhärten. Die Transformation der NATO in eine universelle friedenschaffende und stabilisierende Kraft kann sich hinziehen. Auf jeden Fall existiert die Gefahr, daß dieser Prozeß und die Erweiterung der Allianz nicht synchron verlaufen. Darin liegt die Gefahr für die Interessen Rußlands, da solche Asynchronität die Chancen für eine endgültige Überwindung der Spaltung des Kontinents verringern und zu einem Rückfall in die Politik der Blöcke führen kann – und das unter den Bedingungen der Annäherung des Geltungsbereiches der NATO an die unmittelbaren Grenzen der Russischen Föderation.

2.2. Geopolitische Aspekte

In dem Verständnis, daß die Verlagerung des Geltungsbereiches der NATO an die Grenzen Rußlands eine bestimmte Besorgnis der Russischen Föderation hervorruft und im Streben, solch einer Reaktion die Schärfe zu nehmen, benutzen die Anhänger des Anschlusses der MOE-Länder an die NATO folgende Argumentation:

die durch die NATO abgesicherte Zone der internationalen Stabilität wird auf die Staaten ausgeweitet, die unmittelbar an das Territorium der früheren UdSSR grenzen. Damit nimmt die Nordatlantische Allianz die Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Friedens und die Verhinderung von Konflikten in dieser Region auf sich;

die Befürwortung des Kurses auf die Erweiterung ihres quantitativen Bestandes durch die Nordatlantische Allianz selbst zwingt sie, eine deutlichere Position zu den Grundfragen der europäischen Umgestaltung in der Periode nach dem »kalten Krieg« einzunehmen, eindeutig die Ziele und den Charakter der zukünftigen Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation und den anderen GUS-Mitgliedern zu erläutern, den Prozeß des Neudurchdenkens der politischen Rolle der NATO zu beschleunigen und wirksame Maßnahmen zur Transformation des Blockes in ein Instrument zur Gewährleistung allgemeiner Sicherheit zu ergreifen;

die Erweiterung der NATO um die MOE-Länder eröffnet auch Rußland den Weg in die Allianz.

Letzteres Argument wird besonders am Vorabend des im Januar stattfindenden NATO-Gipfeltreffens hervorgehoben. Unterdessen kamen Experten zu dem Ergebnis, daß in den Vorschlägen an die Adresse Rußlands in Bezug auf eine Partnerschaft mit der NATO bisher keine Linie zur Schaffung eines Mechanismus zur Aufrechterhaltung der internationalen Sicherheit sichtbar wird, der nach seinem Bestand und seinen Funktionen den Bedingungen der Periode der Postkonfrontation entspricht. Die Idee eines solchen Mechanismus wird im Westen diskutiert. Von Spezialisten in den Vereinigten Staaten wird beispielsweise die Möglichkeit untersucht, in der gegenwärtigen Etappe eine Organisation der kollektiven Sicherheit zu schaffen, die etwas zwischen der NATO einerseits und KSZE und UNO andererseits darstellt.

In der Tat hat für Rußland jener Fakt prinzipielle Bedeutung, in welche Allianz und mit welchen Funktionen es eintreten und welche partnerschaftlichen Beziehungen es mit ihr herstellen kann.

NATO-Generalsekretär Wörner unterstrich bei seinem Auftritt am 29. Oktober d.J. auf der Konferenz »Aufrechterhaltung des Friedens in Europa« in Madrid, an der Experten von NATO, WEU, EG und KSZE teilnahmen, eine Reihe von Momenten, die, wenn nicht Besorgnis, so doch zusätzliche Fragen provozieren. Er erklärte, daß zusammen mit der Gewährleistung der gemeinsamen Verteidigung der Mitglieder der Allianz ihr Hauptziel in der gegenwärtigen Situation in der Aufrechterhaltung des strategischen Gleichgewichts in Europa besteht. Die zweite Aussage kann man als Fortsetzung zur Erfüllung einer der globalen Funktionen der NATO aus der Periode der Konfrontaion des »kalten Krieges« unter neuen Bedingungen interpretieren. Falls das zutrifft, erfordert die Verlagerung der Grenzen der Nordatlantischen Allianz an die Grenzen Rußlands entweder seine militärische Stärkung, was nicht den zu lösenden Aufgaben der wirtschaftlichen Entwicklung entspricht oder das Einverständnis zur Asymmetrie auf dem Gebiet der Sicherheit, was ebenfalls den Interessen der Russischen Föderation widerspricht.

Nach einer anderen Aussage Wörners wird es eine der wichtigsten Funktionen der NATO werden, Stabilität in die MOE-Länder und nach Mittelasien zu »projizieren«. Wenn die »Partnerschaft« oder eine andere Form der NATO-Erweiterung die Einbeziehung der Staaten Mittelasiens in ihren Geltungsbereich beinhaltet, so kann das nicht ohne Grund in Rußland als Alternative zum entstehenden System der kollektiven Sicherheit im Rahmen der GUS interpretiert werden. Die Ausweitung des Geltungsbereiches der NATO auf zwei Regionen, die von Westen und vom Süden unmittelbar an die Russische Föderation grenzen, ist in der Lage, begründeten Verdacht dahingehend hervorzurufen, daß sich eine für Rußland höchst nachteilige geopolitische Lage herausbildet.

2.3. Militärische Aspekte

Natürlich darf es für solche plumpen Behauptungen, wie sie während der Periode des »kalten Krieges« gängig waren (zum Beispiel über die scharfe Konfrontation zwischen Ost und West, NATO und Warschauer Vertrag) keinen Platz mehr geben. Schwierig ist es, anzunehmen, und falsch wäre es, davon auszugehen, daß die geographische Erweiterung der NATO der Bildung eines Brückenkopfes dient, der darauf abzielt, Rußland oder seinen Verbündeten einen Schlag zu versetzen. Dieser Schluß ist jedoch nicht mit jenem identisch, daß das Vorrücken der NATO nach Osten nicht die Interessen der militärischen Sicherheit Rußlands berührt.

In letzter Zeit kamen im Westen verschiedene Auslegungen der Position der russischen Armee zu dieser Frage in Umlauf. Insbesondere tauchten Vermutungen über das Streben der Generalität auf, ihren »wachsenden Einfluß« auf die Regierung Rußlands auszunutzen und ihr einen harten Kurs auf dem Gebiet der Gewährleistung der nationalen Sicherheit »aufzuzwingen«. Gleichzeitig muß man berücksichtigen, daß die eigene Bestimmung und die fachlichen Aufgaben der Streitkräfte die Spezifik ihres Standpunktes zum Problem der Ausweitung des Geltungsbereiches der NATO nach Osten prädestiniert. Es ist offensichtlich, daß die militärische Führung Rußlands Aufmerksamkeit auf folgendes richten muß:

1. Die Tatsache, daß im Ergebnis der NATO-Erweiterung die größte Militärgruppierung der Welt, die über ein umfangreiches Angriffspotential verfügt, sich in unmittelbarer Nähe der russischen Grenzen befindet, erfordert ein grundlegendes Neudurchdenken aller Verteidigungskonzeptionen, der Neuformierung der Streitkräfte, eine Überprüfung der operativen Pläne für die Kriegsschauplätze, die Entfaltung einer zusätzlichen Infrastruktur, die Neudislozierung der großen Militärkontingente und die Veränderung der Einsatzpläne und des Charakters der militärischen Ausbildung. Diese Maßnahmen sind vom russischen Standpunkt eine objektive Notwendigkeit und müssen unabhängig davon realisiert werden, daß die NATO politisch nicht mehr als Gegner betrachtet wird. Ohne jeden Zweifel würde in einer ähnlichen Situation auch von der gegenüberliegenden Seite ein analoges Herangehen festgelegt werden.

2. Die Realisierung der aufgeführten Maßnahmen, zumal in gedrängten Fristen, zieht zweifellos eine Überbeanspruchung des Staatshaushaltes und eine Schwächung der Verteidigungsfähigkeit Rußlands in der Periode der strukturellen Umgestaltung und der Verlegung der führenden Gruppierungen der Streitkräfte nach sich.

3. Man kann nicht übersehen, daß unter solchen Bedingungen folgende Bedrohung entsteht: Gefahr des Verzögerns der Fristen und des Bruchs der vorhandenen Programme zur Senkung, Reorganisation und Professionalisierung der Streitkräfte, ihrer Ausstattung mit modernen intelligenzintensiven, teuren Waffensystemen. Ein Zurückbleiben auf diesem Gebiet würde eine wesentliche Einschränkung des Kampfpotentiales der Streitkräfte Rußlands im Vergleich mit dem Niveau der führenden Militärmächte bedeuten.

4. Im Falle der Unfähigkeit der Regierung Rußlands, eine normale Finanzierung, Vervollständigung, die materiell-technische Absicherung und den sozialen Schutz der Streitkräfte zu sichern, kann eine Unzufriedenheit von Armeekreisen entstehen, was weder im Interesse der politischen noch der militärischen Führung Rußlands, noch des Landes insgesamt liegt.

Man darf auch jenen Fakt nicht ignorieren, daß die Erweiterung der NATO dazu führt, daß ihr Geltungsbereich auch jenen Teil des europäischen Kontinents umfaßt, in dem die zwischenstaatlichen Grenzen im Ergebnis des zweiten Weltkrieges verändert wurden. Dabei vollzieht sich solch ein Prozeß unter Bedingungen, daß im Ergebnis der Herausbildung neuer Staaten in Europa die Vereinbarungen von Helsinki, die den Status quo fixieren, nicht mehr gültig sind bzw. wesentlich geschwächt werden. Folglich kann man meinen, daß unter den neuen Bedingungen die NATO der alternative Garant der Nachkriegsgrenzen sein wird. Zusammen mit den positiven Momenten hat das auch eine negative Seite. Viele Experten verbinden die »Evolution der Erweiterung« der Nordatlantischen Allianz mit der wachsenden Bedeutung der BRD in der NATO. Die »Vorbereitungsperiode« des Eintritts der MOE-Länder als vollberechtigte Mitglieder in die NATO ist auch eng mit der Aktivierung ihrer auf bilateraler Grundlage basierenden militärischen Zusammenarbeit verbunden. Eine Reihe ausländischer Politologen kommt zu dem Schluß, daß die Erhöhung der Mitgliedszahl der Allianz dazu führt, daß sich die BRD auf dem europäischen Kontinent aus einem »Importeur« von Sicherheit in ihren »Exporteur« verwandelt. Im Zusammenhang damit gibt es Grund zu der Annahme, daß bei der Bearbeitung der Frage über die Erweiterung der NATO bestimmte Kreise in Deutschland diesen Prozeß vom Standpunkt der weiteren Entwicklung der Lage zu den Nachkriegsgrenzen betrachten.

Eine ganze Reihe von Fragen auf diesem Gebiet ist nicht nur mit Deutschland, sondern auch mit anderen Staaten verknüpft. Versuchen zum Beispiel nicht diese oder jene Kräfte in Rumänien, die Idee der Vereinigung mit Moldova groß aufzuziehen, diesen Prozeß zu forcieren und sich dabei auf seine Mitgliedschaft in der NATO zu stützen und dabei die Interessen der Dnjestr-Region zu ignorieren? So oder so ist der Schluß berechtigt, daß unter den Bedingungen der NATO-Mitgliedschaft der MOE-Länder das Niveau der Internationalisierung von Streitfragen und Konflikten, darunter territorialen, wächst.

Die Erweiterung der NATO um die »Visegrad-Gruppe« stimuliert die baltischen Staaten zum Eintritt in die Nordatlantische Allianz. Daraus kann eine Situation entstehen, daß der Schwerpunkt ihrer Zusammenarbeit mit dem Westen sich in den militärischen Bereich verlagert. Das könnte als eine Herausforderung Rußlands betrachtet werden, dessen geopolitische Interessen einer Militärpräsenz von Drittstaaten in dieser Region widerspricht.

Die Führung der Nordatlantischen Allianz unterstreicht, daß die Schaffung eines »Cordon Sanitaire« in den MOE-Ländern, der Rußland von Westeuropa trennen würde, nicht zu ihren Absichten gehört. Dennoch kann sich das unabhängig von den subjektiven Absichten der NATO-Führer vollziehen. Auf jeden Fall entsteht mit dem Beitritt der MOE-Länder in diese Organisation objektiv eine Barriere zwischen Rußland und dem übrigen Teil des Kontinents.

Man muß auch berücksichtigen, daß die Veränderung des Mitgliedsbestandes der NATO unvermeidlich zur Untergrabung einer Reihe von Verpflichtungen der Allianz führt, die sich aus multilateralen Verträgen und Abkommen, darunter aus dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa ergeben, dessen Einhaltung zur Stabilität und Sicherheit auf dem Kontinent beiträgt.

Bekanntlich wurde der Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa auf der Konzeption der gleichen Sicherheit aufgebaut und verfolgte das Ziel, bis Ende 1995 ein Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte zwischen beiden Staatengruppierungen (NATO und früherer Warschauer Vertrag) durch die Errichtung von gleichen Obergrenzen nach Anzahl der Kampftechnik der Bodentruppen und der Luftstreitkräfte zu erreichen. Im Falle der Erweiterung der NATO um Länder des früheren Warschauer Vertrages wird das Prinzip des Kräftegleichgewichtes verletzt. So würden die Quoten der konventionellen Streitkräfte nicht nur der potentiellen neuen NATO-Mitglieder, sondern auch von GUS-Ländern, vor allem aber Rußlands in Frage gestellt – darunter auch an den Flanken.

Außerdem entstünde das Problem der wesentlichen Korrektur von Gruppenverpflichtungen in Bezug auf die Weitergabe von Bewaffnungen und der Überprüfung ihrer Obergrenzen zwischen den Staaten der »Visegrad-Gruppe« (Artikel VII), zu Fragen der Kontrolle und Durchführung von Inspektionen (Artikel XIV) und andere.

Man muß bemerken, daß beliebige Korrekturen des Vertrages, die Rußland in den letzten 1 1/2 – 2 Jahren in bi- und multilateralen Verhandlungen angestrebt hat, auf den harten Widerstand und die negative Reaktion der NATO trafen. So wurde die Botschaft von Rußlands Präsident Jelzin (September 1993) an die Führer der NATO-Staaten, die den Vorschlag zur Überprüfung der Einschränkungen für die Streitkräfte Rußlands an den Flanken beinhaltet (Artikel V), von der Führung der Allianz praktisch zurückgewiesen. Es gibt zahlreiche Beweise dafür, daß diese Position des Blockes bis Ende 1995, dem Zeitpunkt des Auslaufens der Reduzierung der konventionellen Streitkräfte, die auf dem Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa basiert, beibehalten wird.

2.4. Innenpolitische Aspekte

Man kann die Möglichkeit einer ungünstigen Auswirkung der Erweiterung der NATO auf die innenpolitische Lage in Rußland sowie auf die Psyche der Russen nicht ignorieren. Die gesellschaftliche Meinung in der Russischen Föderation formierte sich lange Zeit in einem Anti-NATO-Geist. Sie kann nicht mit einem Mal geändert werden. Im Zusammenhang damit wird die Ausweitung des Geltungsbereiches der Nordatlantischen Allianz auf die früheren verbündeten Staaten der UdSSR in der gegenwärtigen Etappe von einem bedeutenden Teil der Gesellschaft als »Annäherung der Gefahr an die Grenzen der Heimat« betrachtet. Das kann den antiwestlichen Kräften in der Russischen Föderation einen Impuls geben, sie mit Argumenten für zielgerichtete Versuche zur Diskreditierung des Regierungskurses zu versorgen. Unter solchen Bedingungen kann es im Land zur Wiedergeburt der Idee der »belagerten Festung« und von isolationistischen Tendenzen mit sich daraus ergebenden negativen Folgen für die Durchführung des Reformkurses kommen.

In Rußland muß also die gesellschaftliche Meinung zur Akzeptanz der NATO als Struktur der europäischen Sicherheit und Stabilität und nicht als eine feindliche Kraft wachsen, die zur politischen und militärischen Festigung ihrer Überlegenheit über den Hauptgegner im »kalten Krieg« drängt.

Auf der Grundlage der erfolgten Analyse, die in Abhängigkeit vom Eingehen neuer Angaben selbstverständlich korrigiert wird, sind die Experten der Auslandsaufklärung zu folgenden Schlußfolgerungen gelangt:

unter den Bedingungen der Periode der Postkonfrontation und des Fehlens einer sogenannten Blockdisziplin, die bis zur Auflösung des Warschauer Vertrages bestand, ist Rußland im Recht, den souveränen Staaten Mittel- und Osteuropas vorzuschreiben, ob sie in die NATO oder eine beliebige andere internationale Vereinigung eintreten dürfen;

den Interessen Rußlands würde eine Synchronisierung des Prozesses der Erweiterung des Geltungsbereiches der NATO mit der Veränderung des Charakters dieser Allianz und mit der Anpassung ihrer Funktionen an die Besonderheiten der gegenwärtigen Etappe der historischen Entwicklung entsprechen;

der Prozeß des Eintritts der MOE-Staaten in die NATO, sein Charakter, die Fristen, die Rechte und Pflichten der neuen Mitglieder, müssen unter Berücksichtigung der Meinung aller interessierten Seiten, darunter Rußlands, gestaltet werden. Dazu gehören auch die Perspektiven der Festigung der Grundlagen der kollektiven Sicherheit auf dem Kontinent, die Entwicklung einer gesamteuropäischen Zusammenarbeit, aber auch die Notwendigkeit der Gewährleistung von Garantien einer bedingungslosen Einhaltung der abgeschlossenen internationalen Abkommen durch alle Länder, die die Mitgliedschaft in der NATO anstreben.

nur die Berücksichtigung der aufgeführten Faktoren würde die Schaffung von Voraussetzungen und günstigen Bedingungen für ein Zusammenwirken der Russischen Föderation mit der NATO, und der Überführung ihrer Beziehungen auf das Niveau einer echten Partnerschaft ermöglichen;

in der gegenwärtigen Etappe müßte eine vielfältige Politik einer allseitigen Entwicklung der Zusammenarbeit mit allen internationalen Institutionen durchgeführt werden, die fähig sind, der Schaffung eines einheitlichen Systems kollektiver Sicherheit in Europa zu dienen.

Anmerkung

*) Es handelt sich hier um eine auszugsweise Dokumentation einer Stellungnahme der Auslandsaufklärung der Russischen Förderation, Moskau 1993. Übersetzung aus dem Russischen im Auftrag des Forschungsinstituts für Friedenspolitik e.V. von Werner Heiden, Berlin. Die vollständige Fassung ist erhältlich bei: Forschungsinstitut für Friedenspolitik e.V., Lohgasse 3, Postfach 1251 D-82352 Weilheim Tel.: (0881) 4586, Fax: (0881) 2080, Einzelpreis DM 8,– FF-Mitglieder DM 5,–; FF-Dokumentation 4-94

Russisches Militär

Russisches Militär

Träger des Nationalismus?

von Andreas Heinemann-Grüder

Seit den Wahlen im Dezember 1993 zur Staatsduma ist Wladimir Schirinowski zur medienwirksamen, Schrecken verbreitenden Symbolfigur der militanten Spielart des russischen Nationalismus geworden. Seine Wählerschaft wurde maßgeblich im Militär verortet. Keineswegs die Mehrheit, aber immerhin ein qualifiziertes Drittel der Militärangehörigen soll für Schirinowski gestimmt haben (sein Stimmenanteil bei den Listenwahlen betrug gesamtnational 23%).

Im folgenden möchte ich den Affinitäten zwischen dem russischen Nationalismus und im Militär verbreiteten bzw. vorherrschenden politischen Einstellungen nachgehen. Darüber hinaus werde ich die Interessen des russischen Militärs gegenüber den GUS-Staaten und Elemente ihrer praktischen Umsetzung aufzeigen. Wie ich darzulegen versuche, führt eine simple Gegenüberstellung von regierenden »Demokraten« und opponierenden »Nationalisten« nicht weit – wesentliche Elemente des russischen Nationalismus haben unter dem maßgeblichen Einfluß russischer Militärs bereits Eingang in die gegenwärtige Regierungspolitik gegenüber den GUS-Staaten gefunden. Dies soll nicht heißen, daß nicht weiterhin qualitative Unterschiede zwischen militanten Nationalististen (Schirninowski), autoritär gestimmten Großrussen (ehemaliger Vizepräsident Rutskoj) und dem Jelzin-Lager bestehen. Doch was geschieht, wenn Jelzin immer weitergehende Zugeständnisse an seine nationalistischen Herausforderer macht? Wird die bisherige Loyalität der russischen Militärführung gegenüber dem oberkommandierenden Präsidenten dann konditional, weil Jelzins Nachgeben als Zeichen seines Niedergangs interpretiert würde? Wieweit ist das Primat ziviler und demokratischer Kontrolle über das Militär gegeben? Welche Auswirkungen hätte ein politischer Machtwechsel zugunsten einer dezidiert autoritär-nationalistischen Regierung?

Worauf wir uns nach der Ära Jelzin einzustellen haben, läßt sich nur spekulativ erschließen. Im schlimmsten anzunehmenden Fall der Machtübernahme durch Schirinowski würde dessen mögliche Allianz mit dem Militär zweifellos zur realen Bedrohung für den Frieden Rußlands und seiner Nachbarn. Ohne Worst-Case-Szenarien skizzieren zu wollen muß aber festgehalten werden, daß die Wurzeln des russischen Nationalismus gleichwohl zu tief und breit sind, als daß sie mit den grotesken Eskapaden ihres führenden Repräsentanten abgetan werden könnten.

Eine Gesamtanalyse der Ursachen für das Aufkommen des russischen Nationalismus soll und kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Doch gilt es, einige Voraussetzungen für seine Brisanz und Grundelemente des russischen Rechtsextremismus in Erinnerung zu rufen. Die Auflösung der Sowjetunion, der radikale Bruch mit den politischen, ökonomischen, sozialen und ideellen Basisinstitutionen des »realen Sozialismus« und die dadurch verursachte Desintegration von Staat und Gesellschaft aktualisieren in besonderer Weise die Frage nach dem Werte- und Normensystem Rußlands (der »nationalen Identität«), dem Verfassungssystem und dem politischen Prozeß (der »politischen Kultur«).

Die Radikalität des durch Jelzins Regierung seit 1991 initiierten Systemwechsels zog eine politische Polarisierung nach sich, die sich bis Herbst 1993 vor allem im Machtkampf zwischen den Eliten der Exekutive, des Obersten Sowjets und dem Verfassungsgericht niederschlug, seitdem jedoch zunehmend eine zuvor noch weitgehend apathische Öffentlichkeit erfaßt. Die staatsstreichartige Auflösung des Obersten Sowjets im Herbst 1993 durch Jelzin verdeutlichte ein fundamentales Dilemma: Läßt sich der Systemwechsel demokratisch gestalten, wenn und solange substantielle Voraussetzungen der Demokratie wie ein sozial ausdifferenziertes Parteien- und Verbändesystem, die Anerkennung von rechtsstaatlichen Spielregeln und ein gesellschaftlicher Basiskonsens nicht gegeben sind, oder bleibt der Systemwechsel dann auf revolutionäre, autoritäre, extremistische Formen der Machtausübung angewiesen? Und ruft die Radikaltiät der Reformer nicht notwendig ebenbürtige, möglicherweise darüber hinaus schießende Gegenreaktionen hervor?

Die politische Polarisierung ist zweifellos auch ein soziales Phänomen – in die wachsende Kluft, die sich zwischen der kleinen, auf radikale Reformen orientierten Elitegruppe und dem neureichen »Business« auf der einen und breiten, marginalisierten Teilen der Bevölkerung auf der anderen Seite auftut, stoßen verschiedene nationalistische Gruppierungen hinein1. Die objektiven Probleme der Identitätsfindung, der Integration und der politischen Repräsentation einer sich schnell ausdifferenzierenden Gesellschaft werden von den Nationalisten keineswegs beantwortet, sondern gleichsam auf einen Ersatzschauplatz transferiert. Vereinfacht lassen sich drei Grundströmungen der russischen Rechten ausmachen – monarchistische, rückwärtsgewandte Gruppen, neokommunistische Parteien mit dem Ruf nach Wiederherstellung der Sowjetunion und schließlich aggressive nationalistische Vereinigungen. Gemeinsam ist allen Schattierungen der russischen Rechten ein Plädoyer für autoritäre Herrschaftsformen, die Ablehnung »westlicher« Demokratie und »Zivilisation«, das Führerprinzip, eine Verherrlichung des Militärs, die Behauptung einer russischen Großmachtrolle, die unreflektierte Idealisierung vergangener »Größe« und ein russophiler, bisweilen bis zur Xenophobie reichender Überlegenheitsdünkel.

Das russische Nationalbewußtsein erfährt gleichwohl höchst widersprüchliche Auslegungen: missionarisch, orthodox, monarchistisch, heidnisch, arisch, nationalbolschewistisch oder gar faschistisch soll die russische »Zivilisation« sein. Während die einen imperial denken und die Sowjetunion zumindest in Form von russisch dominierten Patron-Klient-Beziehungen wiedererstehen lassen wollen, möchten konservative Slawophile Rußlands Dominanz nur auf den slawischen Raum erstreckt sehen. Wieder andere rufen zur gänzlichen Trennung von den abtrünnigen ehemaligen Sowjetrepubliken auf; Rußlands Aufstieg werde durch die Alimentierung des »nahen Auslands« nur behindert. Faschistoid-xenophobische Strömungen, die es schon im Zarenreich gab, sind in jüngster Zeit ebenfalls wieder anzutreffen. Die »Demokraten« wiederum geben die zunehmende Diffusion der genannten nationalistischen Einflüsse in das eigene Lager als »gesunden Patriotismus« aus.

Nichts illustriert die Schärfe des russischen Integrationsproblems markanter als die Tatsache, daß nationalistische Parolen zur Schwundgröße innergesellschaftlicher Selbstvergewisserung werden konnten. Wie läßt sich das Militär vor diesem Hintergrund demokratisch einbinden und auf demokratische Grundwerte in der Wehrerziehung, innermilitärisch, bei politischen Meinungsäußerungen und im Verhalten gegenüber Nachbarstaaten verpflichten, wenn die Legitimität ziviler Herrschaft schwach, dafür die Versuche politischer Einflußnahme durch verschiedene Parteien jedoch umso ausgeprägter sind? Könnte das russische Militär zu einer intervenierenden Hilfstruppe des militanten russischen Nationalismus bzw. eines autoritären Regimes werden?

Politische Einstellungen im Militärapparat

Im Vordergrund der politischen Selbstäußerungen russischer Offiziere steht die Sicherung korporativer Interessen. Nach dem Auseinanderbrechen der einheitlichen Sowjetstreitmacht in verschiedene Nationalarmeen besteht das Gruppeninteresse vor allem in der sozialen Reproduktion. Die allgemeine Desillusionierung über die Segnungen der Demokratie, die Politikmüdigkeit und Zukunftsverdrossenheit hat sich auch auf die Armeeangehörigen übertragen2. Angesichts der politischen Orientierungslosigkeit, die mit der Auflösung der KPdSU entstand, und der Überholtheit alter Gruppenzuordnungen suchen Militärangehörige nach neuen Legitimationen. Die Berufung auf ruhmreiche Traditionen der russischen und der Sowjetarmee soll vor allem nach innen dem Prozeß der Demoralisierung, des Disziplinverfalls, der Erosion militärischer Sekundärtugenden, ja des verbreiteten Zweifels am Nutzen des Militärdienstes entgegenwirken.

Umfragen unter russischen Offizieren zufolge (als Vergleichsgruppe dienten Rüstungsbeschäftigte), die im Herbst 1992 durchgeführt wurden, äußerte sich die Mehrheit der Befragten gegen Kürzungen der Rüstungsausgaben (61<0> <>% dagegen, 18<0> <>% dafür). Die Westorientierung der russischen Außenpolitik befürworteten fast zwei Drittel der Rüstungsarbeiter, während unter den Offizieren 34<0> <>% dafür und 34<0> <>% dagegen waren und etwa eben so viele vor einer Antwort zurückscheuten. 75<0> <>% der Offiziere zogen den Staatsbesitz gegenüber dem Privatbesitz vor, nur 15<0> <>% äußerten sich für das Privateigentum. Unter den Offizieren gab es auch deutlich mehr Opponenten der großen Privatisierung: 72<0> <>% sprachen sich dagegen aus. In politischer Hinsicht unterschied sich das Offizierskorps signifikant von vorherrschenden Meinungsbildern in der übrigen Bevölkerung: von den Offizieren unterstützten 58<0> <>% die nationalpatriotische Opposition gegen Jelzin. Nur 25<0> <>% äußerten sich gegen die nationalpatriotische Opposition um den damaligen Vizepräsidenten Rutskoj. Keine der nationalpatriotischen bzw. agressiv nationalistischen Gruppierungen konnte freilich die Mehrheit der Offiziere für sich reklamieren3. Zwar zählte die Mehrheit der Offiziere zu den konservativen, reformbremsenden und staatsautoritären Kräften, doch nur etwa ein Drittel des Offizierskorps ließ sich dieser Umfrage zufolge den extrem nationalistischen Gruppen zuschlagen. Bei den Wahlen im Dezember 1993 sollte sich dieses Bild erstaunlich exakt bestätigen. Laut einer im Frühjahr 1993 veröffentlichten Studie würden allerdings sogar fast zwei Drittel der Offiziere ein Militärregime in Rußland bevorzugen4. Eine weitere Umfrage unter 50 Generälen und Admiralen, 6700 Offizieren und Fähnrichen, 1000 Zeitsoldaten sowie 1300 Soldaten in der Grundausbildung, die zwischen Dezember 1992 und November 1993 durchgeführt wurde, relativiert dieses besorgniserregende Bild allerdings in einer Hinsicht – im Durchschnitt nur 8<0> <>% der Befragten brachten überhaupt eine dezidierte Ergebenheit gegenüber politischen Parteien und Bewegungen zum Ausdruck. Gleichzeitig fühlten 35<0> <>% der Berufssoldaten Beunruhigung und Ungewißheit; 60-80<0> <>% der Soldaten und Offiziere waren mit ihrer materiellen und sozialen Lage unzufrieden5. Die soziale Unzufriedenheit schlägt sich also nicht automatisch in Politisierung, geschweige denn nationalistischen Leidenschaften nieder.

Ein quantitativ schwer bezifferbarer, allerdings lautstarker Anteil des Offizierskorps ist bereit, einem autoritär-nationalistischen Regime zu Diensten zu sein. Diese Bereitschaft geht freilich nicht so weit, daß eine eigenständige Machtübernahme angestrebt wird (geschweige denn aussichtsreich wäre). Bezeichnenderweise ist bisher einem autonomen Eingreifen des Militärs in die politischen, ökonomischen, sozialen und ethnischen Konflikte von den nationalpatriotischen Wortführern unter den Offizieren nicht das Wort geredet worden. Möglicherweise ist ihnen und ihren Verbündeten unter den extrem rechten Parteien bewußt, daß derartige Interventionen in die Innenpolitik das Militär vor innere Zerreißproben stellen würden, die seine tatsächliche Einsatzfähigkeit verhindern würden. Ein kohärentes Weltbild und ein eigenständiges politisches Programm lassen sich bei den führenden Militärs nicht feststellen. Obwohl hinreichende empirische Daten nicht verfügbar sind, kann davon ausgegangen werden, daß der Organisationsgrad, d.h. die Repräsentativität nationalpatriotischer Einstellungen und die Kohäsion der Offiziere, nicht ausreicht, um die politische Herrschaft autonom an sich zu reißen.

In Rußland existieren fast zwei Dutzend überwiegend reformfeindliche Offiziersorganisationen. Am prominentesten unter ihnen sind die Offiziersunion, die Kosakenunion, der Russische Nationalrat und die Offiziere für die Wiedergeburt Rußlands6. Die erste Organisation von Armeeangehörigen, die sich um soziale Belange kümmerte und gleichsam die »Perestroika von unten« in den Streitkräften verkörpert hatte – der gewerkschaftsähnliche Verband »Schit« (Schild) – hat sich gespalten und mittlerweile nur noch begrenzten Einfluß.

Zahlreiche Offiziersvereinigungen dienen der Traditionspflege, der Verteidigung der »Würde und Ehre« von Militärangehörigen und der Veranstaltung von Veteranentreffen, ohne jedoch explizit politische Ziele zu verfolgen. Die Repräsentativität und Verankerung der explizit nationalpatriotischen Verbände läßt sich schwer einschätzen. Der »Bund der Offiziere Rußlands« (Oberst Stanislav A. Terechov)7, die »Bewegung der Offiziere für die Wiedergeburt des Vaterlandes«, der »Koordinationsrat der Offiziersversammlungen Saschita«, die Russische Nationalistische Legion, Gruppen für militärpatriotische Erziehung der Bewegung »Russische Nationale Einheit«, die Abteilung der monarchistischen »Zarenwölfe« und der »Verein der Afghanistanveteranen« gehören indes zu den dezidiert nationalpatriotischen Gruppen8. Im 1991 gegründeten Bund der Offiziere Rußlands haben sich restaurativ-kommunistische, für eine Wiederbelebung der UdSSR eintretende und nationalpatriotische Berufsoffiziere zusammengeschlossen. Einige nationalpatriotische Parteien und Organisationen sollen sich bereits paramilitärische Strukturen zugelegt haben9. Die Tätigkeit nationalpatriotischer Offiziersverbände konzentriert sich auf einige Wehrbezirke.

Interessen des russischen Militärs gegenüber den GUS-Staaten

Eine scharfe Gegenüberstellung von nationalistischen und »demokratischen« Kräften in Bezug auf Rußlands nationale Interessen scheint seit 1993 kaum mehr gerechtfertigt, denn unter dem maßgeblichen Einfluß der Militärs hat sich Jelzins Regierung wesentliche Elemente des nationalistischen Stimmungsbildes zu eigen gemacht. Trotz aller Vielstimmigkeit und widersprüchlicher Botschaften lassen sich seit 1993 scharf akzentuierte Grundlinien erkennen, die einen sich verbreiternden außen- und sicherheitspolitischen Konsens zwischen Regierung und Opposition zumindest gegenüber dem sogenannten »nahen Ausland« anzeigen. Die Unterschiede zwischen dem nationalpatriotischen Lager, wie es bis Herbst 1993 vom ehemaligen Vizepräsidenten Rutskoj repräsentiert wurde, und den »Demokraten« erscheinen zunehmend marginal. Die 1992 noch bestimmende Kontroverse zwischen »Westlern« und »national-patriotischen Kräften«, zwischen »Atlantikern« und »Eurasiern« ist mittlerweile deutlich zugunsten letzterer entschieden.

Es läßt sich eine Konsensbildung aus zwei Elementen erkennen. Auf der einen Seite soll die globale Großmacht-Partnerschaft mit den USA auf den Feldern der Abrüstung, Rüstungskontrolle, des Waffenhandels, der Proliferationsabwehr und der Zusammenarbeit bei Regionalkonflikten wie dem arabisch-israelischen oder in Bosnien gestärkt werden. Auf der anderen Seite möchte Rußland eine Aufteilung von Interessensphären zwischen der NATO und sich selbst in Bezug auf das Territorium der früheren Sowjetunion und darüber hinaus einiger mittel-osteuropäischer Staaten: Rußlands Vorherrschaft im »nahen Ausland« soll anerkannt und nicht durch eine Ausweitung von NATO-Versicherungen herausgefordert werden.

Die Übernahme von Sowjettruppen durch Rußland blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Verständnis nationalstaatlicher Interessen Rußlands – die Militärpräsenz außerhalb der Russischen Föderation präjudizierte geradezu ein großrussisches Verständnis nationaler Interessen. Die militärische Erbschaft wurde zudem von einer Führung angetreten, die Rußland keinesfalls als einen gleichberechtigten Nationalstaat, sondern als eine militärische Großmacht mit regionalem Dominanzanspruch betrachtet. Nach dem Rückzug aus Osteuropa und dem Verlust des cordon sanitaire der westlichen GUS-Anrainerstaaten wurden die russischen Streitkräfte zur Projektionsfläche für den Erhalt einer russischen Großmachtrolle. Rhetorische Figuren wie »Ordnungsmacht«, »Garant der Sicherheit«, »Großrußland« und »friedenschaffende Kräfte« verhüllen dabei nur dürftig den Anspruch auf eine Generalermächtigung für imperiale Praktiken.

Offenkundig ist unter führenden russischen Militärs die Vorstellung einer regionalen Führungsrolle Rußlands, auch jenseits der Grenzen der russischen Föderation, tief verwurzelt. Zunächst noch unabhängig von den blutigen Konflikten in den früheren Südrepubliken der Sowjetunion sollte die russische Militärmacht gegen westliche Einmischung sowie als Puffer gegen den islamischen Extremismus in den zentralasiatischen Staaten dienen10. Wohlfeile Bedrohungsszenarien wie z.B. ein Zusammenschluß der zentralasiatischen Republiken (Kasachstan, Turkmenistan, Kirgisien, Tadschikistan und Usbekistan) zu einem türkisch-beeinflußten Bund, der sich der militärischen Kontrolle Rußlands entziehen würde, waren schnell bei der Hand.11 Die russische Presse steigerte sich in eine Islamophobie hinein, die den real vorherrschenden Tendenzen in den zentralasiatischen Staaten keineswegs entspricht12

Insbesondere der Verweis auf die »geopolitischen« Interessen Rußlands im Kontext der Debatten um die Militärreform und um die Konfliktpolitik an Rußlands Südflanke belegt die Kontinuität eines russischen Großmachtanspruches, der von der Sowjetunion übernommen wurde. Der Verweis auf die »Geopolitik« sollte den Anspruch auf eine militärisch untersetzte weltpolitische Rolle Rußlands im Konzert der Mächte USA, Deutschland, England, China und Frankreich aufrechterhalten. Da keine politischen und ökonomischen, geschweige denn zivilisatorische Ressourcen zur Bekräftigung eines geopolitischen Aktionsradius zur Verfügung stehen, wird der Großmachtanspruch durch eine Kombination militärischer Machtmittel mit der Ausnutzung von inneren Konfliktlagen in anderen GUS-Staaten und wirtschaftlichem Reintegrationsdruck untermauert.

Bereits in einem frühen Stadium der Diskussion über die Sicherheitsinteressen Rußlands (also im Frühjahr 1992) erlebte der diametral zu den Imperativen des »Neuen Denkens« stehende »Realismus« (d.h. die Betonung der Machtattribute und der geopolitischen Machtbalance) eine Renaissance13. Gewiß bestimmen die Geographie, die Demographie, die Religionen, natürliche Ressourcen, die Ökologie, die Infrastruktur und das sozio-ökonomische System auch Rußlands »geopolitische« Lage. Doch verleitet die Betonung objektiver Gegebenheiten zu einem vermeintlichen Determinismus und zur Geringschätzung von Interdependenz und subjektiven Gestaltungsmöglichkeiten. Die Funktion der Wiederbelebung eines »realistischen« Diskurses im Kontext der Bestimmung von Sicherheitsinteressen wird vor allem im Kontrast zum »Neuen Denken« sichtbar:

  • Anstelle der Orientierung auf den Westen werden Rußlands Lage »zwischen zwei Kontinenten und drei Ozeanen« und der asiatische Vektor betont14. Die Besinnung auf »Geopolitik« impliziert zugleich einen russischen Sonderweg.
  • Statt sich normativ von KSZE-Werten leiten zu lassen und sich auf nichtmilitärische Konfliktregelung zu orientieren, finden die Geographie und die Machtattribute wieder Erwähnung. Galten dem »Neuen Denken« innere Reformen, Modernisierung und die Rechtsstaatlichkeit als Voraussetzungen zukunftsweisenden Außenverhaltens, so versucht der »realistische« Diskurs durch Rückbesinnung auf das militärische Potential den Großmachtstatus auch unabhängig von innergesellschaftlichen Machtressourcen zu bewahren.
  • Keineswegs zufällig geht die »geopolitische« Identitätssuche mit der Reanimierung alter Bedrohungsbilder einher, namentlich der Klage über eine US-amerikanische Einmischung in die inneren Angelegenheiten Rußlands und einer Begrenzung russischer Souveränität in der Stunde ökonomischer Schwäche und politischer Instabilität15. In vielfältigen Variationen erscheint Rußland als umzingelte, stärkungsbedürftige und um Verbündete ringende Festung. Das aus dem Kalten Krieg bekannte Amerikabild einer feindseligen, infiltrierenden, unheilbringenden und an Rußlands Erniedrigung interessierten Macht lebt unterschwellig in diesem Kontext wieder auf.

Rußland möchte die GUS-Staaten als Verteidigungsraum aufrechterhalten; Rußlands Außengrenzen seien eigentlich die der GUS. Gewiß stellt die Durchlässigkeit der inneren GUS-Grenzen und die russische Unfähigkeit, ein eigenes Grenzregime aufzubauen, ein bedrohliches Einfallstor für Waffen- und Drogenschmuggel, illegalen Handel und unkontrollierte Migrationsbewegungen dar. Zwischen dem verständlichen russischen Interesse an einem gemeinsamen Grenzregime der GUS-Staaten und dem Aufbau und Unterhalt eines Netzes von Militärstützpunkten mit Offensivfähigkeiten sowie der Einmischung in innere Angelegenheiten bleibt jedoch zu unterscheiden. Und in der Tat haben die russischen Truppen in Aserbaidschan, Tadschikistan, Moldawien und Georgien in den vergangenen drei Jahren wiederholt und massiv die innenpolitischen Machtverhältnisse zu eigenen Gunsten zu beeinflussen versucht. Ob das russische Militär dabei immer an politische Abstimmungsprozesse und Entscheidungen zwischen dem Außenministerium, dem Sicherheitsrat und dem Staatskomitee bzw. jetzigen Ministerium für Nationalitätenfragen gebunden blieb oder eigenmächtig handelte, läßt sich im Einzelfall schwer belegen.

Bei der Analyse des Realverhaltens schälen sich einige wiederkehrende Grundmuster heraus. Bereits im Frühjahr 1992 wurde sowohl durch Äußerungen des russischen Verteidigungsministers Gratschow als auch durch die Diskussionen um die Militärdoktrin eine Schutzgarantie gegenüber allen russischen Staatsbürgern im Ausland von den russischen Streitkräften reklamiert. Im Unterschied zum Entwurf der Militärdoktrin hat deren endgültige Fassung allerdings den Schutzanspruch nicht mehr auf alle, die sich Rußland in irgendeiner Weise zugehörig fühlen, ausgedehnt. Ob alle russischsprachigen Menschen im Ausland zugleich als russische Staatsbürger angesehen werden, bleibt somit offen. Befürchtet wird, daß es zu einer erheblichen Migration unter den 25 Millionen Russen kommt, die außerhalb der Russischen Föderation (insbesondere aus Moldova, den transkaukasischen Republiken und den zentralasiatischen Republiken) oder als Minderheiten in einzelnen Regionen Rußlands leben (insbesondere in Tatarstan, Baschkirien und Mordwinien)16.

Wie akut die Bedrohung von russischen Minderheiten tatsächlich im Einzelfall ist, läßt sich von außen schwer beurteilen. Im abchasischen Fall und in der Dnestr-Region drängte sich freilich der Eindruck auf, daß die Bedrohung dort lebender Russen absichtlich in krassen Farben geschildert wurde, um intervenieren zu können. Im Kern impliziert der militärische Schutzanspruch gegenüber Russen im Ausland die Begrenzung der Souveränität aller GUS-Staaten, die russische Minderheiten beherbergen. Dem Gedanken, daß die russischsprachigen Minderheiten außerhalb Rußlands – wollen sie denn nicht nach Rußland migrieren – längerfristig nur zu loyalen Staatsbürgern ihrer jeweiligen Staaten werden können und deshalb deren politische Integration zu fördern wäre, steht die Instrumentalisierung der Russen für militärische Präsenzinteressen entgegen.

Das russische Militär möchte zweifellos in den Südregionen der ehemaligen Sowjetunion stabile, berechenbare Machtverhältnisse installiert sehen. Die Regime-Instabilität und Zerrüttung der Sicherheitsapparate in Tadschikistan und Georgien haben in Rußland eine legitime Sorge vor Kontrollverlust hervorgerufen. Doch das russische Interesse an Stabilität in den südlichen Anrainerstaaten wird mit politischen Bedingungen verknüpft. Das russische Konfliktverhalten ist deshalb außerordentlich widersprüchlich – die Unterstützung für die Konfliktparteien im aserbaidschanisch-armenischen Konflikt oder im abchasisch-georgischen wechselte mehrfach, je nach dem, welche Seite den russischen Interessen gerade dienlich zu sein schien.

Konsens scheint unter Rußlands Entscheidungsträgern (nicht nur den Militärs) darin zu bestehen, daß eine Ausdehnung der Einflußsphären der Türkei oder anderer islamischer Staaten auf die Südregionen der ehemaligen Sowjetunion verhindert werden soll. Die zeitweilige Unterstützung Armeniens gegenüber Aserbaidschan und die russische Mithilfe beim Sturz des protürkischen aserbaidschanischen Ministerpräsidenten Eltschibej im Jahre 1993 sprechen hierfür eine deutliche Sprache. Darüber hinaus möchte Rußland das Recht zum Unterhalt von Militärstützpunkten in allen ehemals sowjetischen Südrepubliken eingeräumt bekommen.

Rußland hat ein ausgeprägtes Interesse, ein Netz von Militärstützpunkten in den kaukasischen Republiken, Zentralasien, Moldawien und Weißrußland dauerhaft aufzubauen. Doch nur einige ehemalige Sowjetrepubliken wollen Rußland das Recht einräumen, Stützpunkte zu unterhalten. Mit Tadschikistan, Kasachstan, Armenien und Georgien bestehen mittlerweile Stationierungsabkommen. Doch Turkmenien, Usbekistan, die Ukraine und, selbstredend, die baltischen Staaten möchten die russische Militärpräsenz so bald wie möglich beendet sehen. Im Gegenzug zum Erhalt militärischer Stützpunkte wird von russischer Seite den Vertragspartnern Unterstützung beim Aufbau nationaler Armeen und der Regimestabilisierung offeriert. Letztlich geht es der russischen Militärpolitik jedoch um eine übergreifende militärpolitische Integration des postsowjetischen Raumes unter russischer Führung.

Eine der gängigen Legitimationsformen für die großrussische, extensive Definition »vitaler Interessen« und Einflußsphären besteht im reziproken Bezug auf NATO-Konzeptionen, die Sicherheitsinteressen ihrerseits weit außerhalb des NATO-Vertragsgebietes definieren.

Erheblichen Druck hat Rußland auch gegenüber Nichtmitgliedern der GUS ausgeübt, um sie zur GUS-Mitgliedschaft und zum Beitritt zum Taschkenter Abkommen vom Mai 1992 über Sicherheit und Zusammenarbeit zu bewegen, wobei sowohl ökonomische wie militärische Pressionen angewendet wurden. Dies trifft etwa für die Politik gegenüber Georgien, Aserbaidschan und Moldawien zu.

Der Ruf nach einer russischen Vormachtstellung auf dem Territorium der gesamten ehemaligen Sowjetunion enthält neben der offensichtlichen Botschaft noch eine verdeckte: Die UNO, die KSZE und potentielle oder tatsächliche ausländische Einflußmächte (USA, Türkei, Saudi-Arabien, Irak, Iran, Pakistan und Jordanien) sollen der russischen Einflußzone nach Möglichkeit ferngehalten werden. Seit Frühjahr 1993 bemühte sich Jelzin um eine Generalermächtigung der UNO für »friedenschaffende« Einsätze russischer Truppen im GUS-Raum. Der Vorstoß verfolgte eine dreifache Intention: Rußland durch ein UNO-Mandat von dem Ruch neoimperialer Praktiken zu befreien, die Westmächte fernzuhalten und angesichts der Unwilligkeit der anderen GUS-Staaten zur militärischen Lastenteilung finanzielle Unterstützung von der UNO zu erhalten.

Russisches Militär als »friedenschaffende« Kraft

Die Unbestimmtheit des Status russischer Streitkräfte außerhalb der Russischen Föderation (immerhin 600 000 Soldaten), hält in den unfreiwilligen Stationierungsländern die Befürchtungen vor russischer Dominanz wach. Die russischen Vorposten waren nicht nur häufig Waffenlieferanten für Separatisten-Gruppen (Moldawien, Abchasien) und Werbestützpunkte für Söldner, sondern sie nahmen durch Kampfhandlungen gegen reguläre Truppen, gegen irreguläre Verbände, aber auch gegen zivile Einwohner an der Konflikteskalation teil.

Russische Einheiten erweisen sich so in Drittstaaten häufig als Konfliktpartei, weil sie von wenigstens einer konfliktbeteiligten Seite als offene oder indirekte Unterstützer der gegnerischen Seite aufgefaßt werden.

Bezeichnend für das russische Konfliktverhalten ist das Übergewicht des militärischen Faktors im Verhältnis zur unterentwickelten zivilen Konfliktregulation. Unvorbereitet auf politische und diplomatische Missionen, erweist sich die russische Militärpräsenz in Konfliktzonen häufig weniger als Befriedung denn als konfliktverschärfend.

Der Auftrag und der Charakter der »friedenschaffenden Kräfte« innerhalb von GUS-Staaten ist umstritten. Seit Juli 1992 finden »friedenschaffende«-Einsätze in Südossetien (gebildet aus russischen, georgischen sowie nord- und südossetischen Einheiten), in der Dnestr-Region und seit Ende November 1992 in Tadschikistan statt. Ein Vergleich »friedenschaffender Kräfte« mit entsprechenden Peacekeeping-Kräften (friedenserhaltenden) der KSZE oder der UNO ist nur begrenzt möglich – sie sind ohne Abstimmung in der GUS gebildet worden, sie operieren ohne Zustimmung aller Konfliktbeteiligten und ohne vorherigen Waffenstillstand, sie übersteigen in manchen Fällen in ihrer Kampfstärke die Kräfte der anderen Konfliktparteien und operieren in Nachbarschaft zu russischen Truppenteilen, die direkt in die Konflikte involviert sind und sie werden als Alternative zu den von Georgien und Moldova bevorzugten KSZE- bzw. UNO-Friedenstruppen eingesetzt17.

Sowohl die russischen Armeen wie die hauptsächlich von Russen gebildeten »friedenschaffenden Kräfte« beschränken sich keineswegs auf die Funktionen eines unparteiischen Dritten. Vielmehr werden »friedenschaffende« Missionen als Mittel der Sicherung von militärischen Einflußzonen betrachtet18. Mit neutralen Friedenstruppen, die die international sanktionierte Aufgabe haben, Konfliktparteien zu trennen, Waffenstillstände zu überwachen, humanitäre Hilfe zu gewährleisten und Bedingungen für friedliche Konfliktbearbeitung zu schaffen, hat die Praxis der russischen bzw. russisch-dominierten »friedenschaffenden Kräfte« wenig gemein19.

Die extensive Definition russischer Sicherheitsinteressen und der unverhüllte Anspruch auf das Territorium der früheren Sowjetunion als Einflußzone wurde mit Präsident Jelzins Auftreten vor der »Bürgerunion« schon Anfang März 1993 in den Rang offizieller Politik erhoben. Jelzin erklärte, daß der Moment gekommen sei, an dem die entsprechenden internationalen Organisationen, darunter die UNO, Rußland Sondervollmachten als Garant des Friedens und der Stabilität auf dem Territorium der früheren UdSSR bereitstellen sollen20.

Die Praxis der russischen »friedenschaffenden Kräfte« belegt die Notwendigkeit einer multilateralen rechtlichen Aufgabenzuweisung. Zu klären wäre u.a., in welche Konflikttypen diese Kräfte intervenieren sollen, welche politischen Mechanismen ihrem Einsatz vorgeschaltet sein müssen und ob die Einsatzgebiete sich auf alle GUS-Konfliktregionen, nur auf die Mitgliedsstaaten des in Taschkent gebildeten Sicherheitsrates oder auch auf die Russische Föderation erstrecken sollen.

Eine offene Mißachtung der staatlichen Unabhängigkeit von anderen GUS-Staaten ist derzeit nicht zu erwarten. Eine formelle Wiedererrichtung der Sowjetunion scheint unwahrscheinlich. Von einer direkten Verantwortung für die Machtausübung in Nachbarstaaten wird Rußland ebenfalls zurückscheuen. Vielmehr läßt sich am Verhalten gegenüber Georgien, Moldova und Aserbaidschan bereits eine Mischung aus wirtschaftlichen und politischen Pressionen und der militärischen Instrumentalisierung von inneren Konfliktlagen auf der einen und Gratifikationen auf der anderen Seite beobachten.

Demokratische oder nationalistische Tugenden?

Das Militär ist – durchaus in Fortführung sowjetischer Tradition – keineswegs gewillt, eine eigenständige politische Rolle jenseits ziviler Legitimität wahrzunehmen. Für eine aktive Beteiligung der Militärführung am Sturz Jelzins oder gar an der Inthronisation Schirinowskis oder Rutskojs zum Präsidenten – vergleichbar dem Umschwung der Reichswehrführung 1932/33 zugunsten Hitlers – lassen sich keine Indizien finden. Für ein derart entschiedenes Votum reicht der diffuse Einfluß nationalpatriotischer Grundstimmungen weder im mittleren Offizierkorps noch in der militärischen Führung aus. Die militärische Führung ist hauptsächlich mit der inneren Kohäsion und der Rekonstruktion der Streitkräfte befaßt. Die Durchsetzung des Moskauer Führungsanspruchs und der Kontrolle über die von der Sowjetunion übernommenen Verbände im »nahen und fernen« Ausland, die Überwindung der innermilitärischen Destabilisierung, die Militärreform und eine betonte innenpolitische Neutralität im Konflikt der Verfassungsorgane beherrschten die Politik des russischen Oberkommandos und Verteidigungsministeriums. Der anfängliche Unwille zur Intervention während der gewaltsamen Auflösung des Obersten Sowjets im Oktober 1993 illustrierte, wie sehr die militärische Führung auf die Bewahrung innerer Kohäsion, die Entwicklung von Professionalismus und innenpolitische Neutralität bedacht wahr21. Innenpolitisch ist die Verfügbarkeit des Militärs – und zwar sowohl für Jelzin wie einen möglichen autoritären Nachfolger – aufgrund des Widerwillens in der militärischen Führung, gegenüber ethnischen Minderheiten, in sozialen Konflikten oder bei politischen Zusammenstößen Stellung zu beziehen, beschränkt.

Das Militär hat in den Jahren 1992/93 seinen Einfluß als politische Interessengruppe währenddessen vornehmlich auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik ausbauen können. Die Unterstützung des Militärs für Jelzin während der dramatischen Erstürmung des Obersten Sowjets Anfang Oktober 1993 hat den Einfluß des Militärs als Interessengruppe gestärkt. Die billigende Hinnahme des innenpolitischen Reformkurses durch das Militär entgilt Jelzin augenscheinlich mit Zugeständnissen an dessen großrussische Rhetorik, sozialpolitischen Gratifikationen und stärkeren Einspruchsrechten des militärischen Establishments bei Haushaltsentscheidungen. Der politische und militärische Dominanzanspruch Rußlands auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion und die Renaissance großrussischer »Geopolitik« sind unter dem Einfluß nationalpatriotisch denkender und handelnder Militärs zur Leitlinie russischer Politik gegenüber dem »nahen Ausland« geworden. Unter den gesellschaftlichen Kräften Rußlands, die eine russische Dominanz im GUS-Rahmen restituieren wollen, nehmen russische Militäreliten insofern einen herausragenden Platz ein, als sie ein öffentlichkeitswirksamer und mit eigenen Machtmitteln ausgestatteter Teil des Staatsapparates sind.

Da für eine institutionelle Kontrolle, die Depolitisierung des Militärs und seine innere Demokratisierung – trotz einiger Fortschritte22 – gegenwärtig noch nicht wirksame Instrumente entwickelt worden sind, wird, wie es scheint, die Loyalität des Offizierskorps gegenüber der Regierung hauptsächlich durch den Interessenkonsens in Bezug auf die nationalstaatlichen Interessen im »nahen Ausland«, soziale Zugeständnisse und Zuschläge beim Wehretat erkauft. Diese Interessenallianz bleibt jedoch als Grundlage für das zivile Primat über das Militär fragil und ist im Falle einer Machtübernahme durch extrem nationalistische Kräfte auch für aggressivere Gangarten in der Außenpolitik instrumentalisierbar. Beunruhigend ist vor allem der Umstand, daß angesichts der Demoralisierung, der Disziplinprobleme, sozialer Sorgen und der Korruption in den russischen Streitkräften inhaltsarme nationalistische Parolen und Emotionen – zuweilen mit dem Segen der russisch-orthodoxen Kirche – zur neuen vereinigenden korporativen Ideologie der Armee erhoben werden, und zwar vorwiegend anstelle aktiver Loyalität gegenüber rechtsstaaatlichen, demokratischen Grundwerten und den Prinzipien der KSZE. Es besteht die Gefahr, daß – wie in vordemokratischen Gesellschaften schlechthin – die Armee erneut zur Schule, ja der Geburtsstätte der Nation avanciert. Jene Parteien und Bewegungen, die sich auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet haben, vernachlässigten bisher sträflich ihre Aufgabe, die demokratischen Institutionen zur »Schule der Nation« auch für das Militär zu machen. So findet ein Wettlauf mit der Zeit statt: Gelingt es in der Jelzin noch verbliebenen Zeit, die Armee zusammen mit der Gesellschaft zu demokratisieren, oder schaffen es die »patriotisch« sich drapierenden Nationalisten in den Streitkräften, ihre Sekundärtugenden an die Stelle der demokratischen Primärtugenden zu setzen? Vom Ausgang dieses Wettlaufs hängt es ab, ob die im Vorhof der Macht angelangten Präsidentschaftsanwärter Schirinowski und Rutskoj in den Innenhof gelangen – ohne die Unterstützung der Armee würden sie keinen Erfolg haben. Jelzin hat mit der am 12. Dezember 1993 per Volksentscheid gebilligten Verfassung ein mächtiges, auch die Streitkräfte bindendes Instrument in die Hand bekommen. Ob der Grundrechtekatalog der Verfassung oder nationalistische Parolen zur integrierenden Ideologie der Streitkräfte werden, ist jedoch noch nicht entschieden.

Anmerkungen

1) Siehe Wendy Slater, Russia, in: Radio Free Europe/Radio Liberty Research Report, vol.3, No.16, 22.4.1994, 23-27; grundlegend zu Ideen und Organisationen der russischen Rechten: Walter Laqueur, Der Schoß ist fruchtbar noch. Der militante Nationalismus der russischen Rechten, München 1993. Zurück

2) Centr voenno-sociologiceskich, psichologiceskich i pravovych issledovanii Vooruzennych Sil, Spravocno-analiticeskij material o moralno-psichologiceskom sostojanii licnogo sostava Vooruzennych Sil, Moskva 1992 (unveröffentlichtes Manuskript). Zurück

3) Fond »Obsestvennoe mnenie«; Serija issledovanij »Monitor«, proekt »narod i politika«, rukovoditel N. Kljamkin, Moskva 1992 Zurück

4) Siehe Moscow News 7.2.1993. Zurück

5) Aleksandr Zilin und Tat`jana Skorobogatenko, Esli zavtra vojna…, in: Moskovskie Novosti Nr.2, 9.-16.1.1994. Zurück

6) Siehe Moscow News 7.2.1993 und Siegfried Fischer, Zerfall einer Streitmacht, Bremen 1992, 278. Zurück

7) Vgl. Interview mit Stanislav Terechov in: Der Spiegel 45/1992, 196. Zurück

8) Eine Kurzbeschreibung der verschiedenen Offiziersverbände findet sich in: Ustavom dumat` ne zapresceno, in: Rossija 9/1993. Zurück

9) Vgl. Vladimir Lopatin, Armija i gosudarstvo, in: Novaja Ezednevnaja Gazeta 16.4.1993. Zurück

10) R. Mustafin, Islamskij faktor. On bespokoit mnogich, in: Krasnaja Zvezda 9.4.1992; S.Pecorov, Ju. Tegin, Islamskij ekstremizm: novyj vyzov dlja Rossii?, in: Krasnaja Zvezda 21.4.1992. Zurück

11) Semen Novoprudskij, Novyj Turkestan kak zasita ot diktata Moskvy i ot tadzikskoj smuty, in: Nezavisimaja Gazeta 6.1.1993 Zurück

12) Uwe Halbach, Heinrich Tiller, Rußland und seine Südflanke, in: Aussenpolitik 11/1994, 156-165, hier 162. Zurück

13) General I.S. Danilenko, Geopliticeskoe polozenie Rossii i problema ee voennoj bezopasnosti, in: Voennaja Akademija generalnogo staba, Voennnaja Bezopasnost` Rossii, Moskva 1992, 64. Zurück

14) A.S. Sinajskij, Geopolitika i nacionalnaja bezopasnost` Rossii, in: Voennaja Mysl` 10/1992, 5. Zurück

15) E.A.Pozdnjakov, Nacionalno-gosudarstvennye interesy Rossii, in: Voennaja Akademija generalnogo staba, Voennnaja Bezopasnost Rossii, Moskva 1992, 71 und ders. Sovremennye geopoliticeskie izmenenija i ich vlijanie na bezopastnost` i stabilnost` v mire, in: Voennaja Mysl` 1/1993, 11-17. Zurück

16) Viktor Perevedencev, Russians outside Russia: potential refugees?, in: Moscow News 15.1.1993. Zurück

17) Suzanne Crow, Russian peacekeeping: Defense, diplomacy, or imperialism, in: Radio Free Europe/Radio Liberty Research Report 18.9.1992, 38. Zurück

18) Vgl. Suzanne Crow, Russia seeks leadership in regional peacekeeping, in: Radio Free Europe/Radio Liberty Research Report 9.4.1993, 28ff. und dies., Russia Promotes the CIS as an International Organization, in: Radio Free Europe/Radio Liberty Research Report, vol.3, no.11, 18.3.1994, 33. Zurück

19) Vgl. Suzanne Crow, The Theory and Practice of Peacekeeping, in: Radio Free Europe/Radio Liberty Research Report, 18.9.1992, 31-36. Zurück

20) Reakcia v Kieve i Tbilisi po povodu vystupenia presidente Rossii na sezde »Grazdanskogo sojuza«, in: Izvestia 3.3.1993. Zurück

21) Siehe dazu auch Brian D. Taylor, Russian Civil-Military Relations After the October Uprising, in: Survival, vol.36, no.1, Spring 1994, 3-29 und Hans-Henning Schröder, Eine Armee in der Krise, Köln, Bericht des BIOST 45/1993 sowie H.Tiller und H.H.Schröder, Machtkrise und Militär. Die russischen Streitkräfte während des Machtkampfes zwischen Präsident und Parlament im Herbst 1993, Köln, Bericht des BIOST 46/1993. Zurück

22) Siehe dazu Robert Arnett, Russia after the Crisis. Can Civilians Control the Military, in: ORBIS Winter 1994, 41-57. Zurück

Dr. Andreas Heinemann-Grüder, Historiker und Politikwissenschaftler, arbeitet am Institut für Politikwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin, 10117 Berlin, Ziegelstr. 13c, Tel.: 030/284 31 530.

Angeklagt wegen »Geheimnisverrats«

Angeklagt wegen »Geheimnisverrats«

Russischer Chemiker nach internationalen Protesten aus der Haft entlassen

von Reiner Braun

Am 23.2.1994 wurde Vil Mirzajanov aus der Haft entlassen. Der Bericht soll einen Überblick über die Ereignisse der letzten Wochen geben, u.a. über den Prozeß, an dem ich eine Woche als Prozeßbeobachter teilnahm. Dabei hatte ich die Gelegenheit zu vielfältigen Gesprächen mit Journalisten, Wissenschaftlern, »Bürgerbewegten« und den Angehörigen der Familie Mirzajanov.

Mit der aufsehenerregenden Enthüllung, daß die russische Militärführung und in der Militärforschung tätige Wissenschaftler auch nach der Unterzeichnung des weltweiten Abkommens über den Abbau bzw. Vernichtung der chemischen Waffen weiterhin an der Entwicklung verheerender C-Waffen bzw. Elemente dafür forschen, wandte sich V. Mirzajanov am 20.9.1992 an die Öffentlichkeit.

V. Mirzajanov arbeitete zusammen mit seinen Kollegen Wladimir Uglew und Wladimir Petrenko am Staatlichen Wissenschaftlichen Forschungszentrum für Organische Chemie und Technologie (GSNIIOHT). Sie verloren sofort nach der Enthüllung ihre Arbeitsplätze. Die drei Wissenschaftler informierten, daß in dem Moskauer Teil des Instituts GSNIOHT neue Nervengase entwickelt werden. Diese sind chemisch zwar mit dem auch von den Amerikanern gelagerten Nervenkampfstoff VX verwandt, besitzen aber eine andere Struktur. Dies macht sie einerseits im Feldtest etwa noch acht- bis zehnmal stärker als das bisher giftigste Kampfgas VX. Es führt andererseits aber auch dazu, daß diese Chemikalien oder deren chemische Vorstufen im Gegensatz zu allen anderen bekannten Kampfstoffen nicht in den Listen verbotener chemischer Verbindungen enthalten sind, die einem Ausfuhrverbot aus Rußland unterliegen. Auf der Basis dieser Kampfstoffe sind außerdem Binärwaffensysteme bis zur Einsatzreife entwickelt und getestet worden. Bisher war von offizieller russischer und vorher sowjetischer Seite bestritten worden, daß in Rußland auch nur an der Entwicklung binärer C-Waffen gearbeitet werde. (Binäre C-Waffen bestehen aus zwei Komponenten, die sich beim Einsatz mischen und erst dann ihre tödliche Wirkung entfalten.)

Im Moskauer Zentrum wurden nach Angaben von Mirzajanov Mengen dieses supertoxisch tödlichen Kampfstoffes gelagert, die theoretisch ausreichen, um die gesamte Bevölkerung dieser Acht-Millionen-Stadt zu töten. Mirzajanov wurde am 22.10.92 wegen des Artikels in den Moskau-News verhaftet und seine Wohnung durchsucht. Er blieb zunächst bis zum 1.11.92 in Haft. Ende Januar 1993 wurde er aus der Haft entlassen.

Die von dem Kollegen Mirzajanov gemachten inhaltlichen Aussagen über die neu entwickelten Nervengase wurden am 5.2. dieses Jahres von Wladimir Uglew bestätigt, der selbst Miterfinder dieser Kampfstoffe ist und mehr als 15 Jahre an deren Entwicklung mitgearbeitet hat. Da er als Volksanwalt Immunität besaß, hat er bislang nicht verhaftet werden können. Ihm ist allerdings bereits untersagt worden, seine Arbeitsstätte zu betreten. Auch gegen ihn läuft ein Ermittlungsverfahren wegen Geheimnisverrats.

Der dritte bedrohte Wissenschaftler ist Wladimir Petrenko, seit vielen Jahren Chemiker in dem Zentralen Forschungsinstitut für Tests der Chemiewaffen-Einheiten des Verteidigungsministeriums in Wolsk-17 (hier eher bekannt als Schikanij-19). Petrenko leidet seit 1982, dem Jahr, in dem er als Versuchsperson selber Proben neuer Giftstoffe einatmen mußte, an einer Vielzahl von Krankheiten. Die Geschichte des an ihm durchgeführten Menschenversuchs ist im Januar diesen Jahres von dem Journalisten Sergej Michailow in der Wochenzeitung Business News in Sartow beschrieben worden. Michailow wurde daraufhin des Geheimnisverrats angeklagt. Petrenko hat aufgrund des Artikels seinen Arbeitsplatz verloren. Vor gerichtlicher Verfolgung schützt ihn (wie Uglew) zur Zeit noch sein Status.

Die Naturwissenschaftler-Initiative hat die russischen Kollegen seit Anfang 1993 materiell, individuell und politisch unterstützt. Uns ist es im Laufe der Jahre durchaus geglückt, eine breitere Medienöffentlichkeit für die Kollegen herzustellen; dies führte auch zu interessanten Reaktionen aus der Politik (s.u.) Motiv für unser Engagement war, daß die Aktivitäten an dem russischen Institut – die sicher nicht ohne Wissen der Regierung stattfinden – zumindest gegen den Geist des weltweiten Abkommens zur Vernichtung chemischer Waffen verstoßen, für dessen Zustandekommen sich die Naturwissenschaftler-Initiative seit 10 Jahren eingesetzt hat. Engagement und Mut der Kollegen lassen sich als Beispiele für verantwortungsbewußte Zivilcourage bezeichnen und bedürfen unserer Meinung nach einer großen Unterstützung, zeigen sie doch, wie sich Kollegen aus Verantwortung für die Folgen ihres Tuns engagieren.

Der Prozeß

Seit dem 6.1.94 stand V. Mirzajanov vor dem Moskauer Bezirksgericht, am 27.1.94 wurde er erneut inhaftiert. Nachdem alle seine Anträge auf Befangenheit der Richter, die dem KGB angehört haben sollen – dieselbe Organisation, die maßgeblich den Prozeß vorbereitete, abgewiesen wurden, nachdem der Antrag seines Anwalts auf Einsetzung eines unabhängigen Wissenschaftlergremiums verworfen wurde, weigerte sich Dr. Mirzajanov, an den Verhandlungen teilzunehmen (siehe nebenstehende Erklärung).

Der Gerichtsprozeß entscheid, daß V. Mirzajanov auch weiterhin in Haft bleibt!

Der Verteidiger Mirzajanovs, der russische Menschenrechtsanwalt Alexander Asnijs, wertete dies als »Bestrafung ohne Urteil«. Er verwies darauf, daß alle Gründe für die Verhaftung Mirzajanovs, v.a. seine Ankündigung, wegen Verzichts auf eine umfassende Beweisaufnahme nicht vor Gericht zu erscheinen, entfallen waren. Mirzajanov teilte dem Gericht mit, daß er – da durch die Beweisaufnahme und durch die Expertenanhörung russischer Offiziere und in der Rüstungsforschung tätiger Wissenschaftler seine Behauptungen der Fortsetzung binärer russischer Waffenforschung bestätigt wurden – vor Gericht erscheinen werde.

In einem dramatischen Appell verwies er auf die skandalösen Haftbedingungen im Lubjanov-Gefängnis: „Den Fraß kann man nicht als Essen bezeichnen. Zucker habe ich schon seit 10 Tagen nicht mehr bekommen.“ Er sagte, daß er sich an das Rote Kreuz wenden will, um eine Überprüfung der Haftbedingungen zu erreichen, die nicht dem internationalen Standard entsprächen.

Dieser Schritt trug mit zu seiner Haftentlassung bei, sollte doch nicht die ungleichmäßige Behandlung von politischen Häftlingen (»Putschisten« gegen Gorbatschow, »Verteidiger« des Weißen Hauses) und Mirzajanov sowie »normalen« Häftlingen zu deutlich werden.

Öffentlichkeit ja, aber noch nicht genug

Der Prozeß fand unter dem erheblichen Druck der russischen Öffentlichkeit statt, die nach monatelangem Schweigen der offiziösen Presse und des Fernsehens letztendlich doch über den Vorgang informiert wurde und sich zunehmend kritisch – zumindest zu dem formalen Vorgehen des Gerichts, u.a. Anklage auf Grundlage von Gesetzen, die vorher nicht öffentlich bekanntgegeben waren – äußerte. Angemerkt sei hier aber auch, daß es keine konkrete Unterstützung von Mirzajanov durch die russische Scientific Community gab, weil sein Vorgehen durchaus als »Landesverrat« oder als »gegen nationale Interessen der Großmacht Rußland« gerichtet angesehen wird.

Statement of Vil Mirzajanov

Judges of the Court! Today the Moscow City Court has refused me and my lawyer Aleksandr Asnis the consideration of our most elemantary petitions regarding the violation of my right of defense under Statute 20 of the Criminal Code of the Russian Federation – to have a thorough, full and objective investigation of all circumstances of the case. You rejected even our request to attach to the case the five normative acts, which serve as the basis on which our accusation is made, and which therefore cannot serve as the basis for an arraignment of a person for criminal responsibility, since they have never been published in the official form as required by Article 15 par. 3 of the Constitution of the Russian Federation.
And so you commit a criminal act by your cynical violation of the constitution of the Russian Federation. My efforts to prevent the mockery and dersion of comon sense and human rights in a civilized world are defeated by us and I must come to the conclusion that the only possible option for me is not to participate in this event. Therefore I am informing you that from this point on I will not appear in the court proceedings nor will I be a willing accomplice to a criminal act that violates the basic laws of the Constitution of the Russian Federation.24.1.1994, Signature of Vil Mirzajanov (Translation)

Schon längere Zeit hat es, ausgehend v.a. von der Naturwissenschaftler-Initiative in Deutschland und der Federation of American Scientists in den USA – politischen Druck und Aktivitäten gegeben. So schaltete sich das Auswärtige Amt mehrfach ein und wandte sich an das Auswärtige Amt Rußlands und an das Präsidentenbüro Jelzins. US-Präsident Clinton sprach die Inhaftierung bei seinem Staatsbesuch bei Jelzin an und das EG-Parlament verabschiedete eine sehr kritische Erklärung. Die Liste auf der Ebene der Politik läßt sich fortsetzen. Im Prinzip wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, in welche Richtung sich eigentlich das »neue Rußland« entwickele. Unterstützung fand Mirzajanov auch in der Wissenschaft. Schreiben an Jelzin liegen u.a. von der Gesellschaft Deutscher Chemiker, American Chemical Society, American Physical Society, American Association for the Advancement of Science und der International Science Foundation vor.

Ins Rollen gebracht – wenn auch sehr langsam – wurde die Unterstützung durch die kritischen Wissenschaftlerorganisationen. Weitere Hilfe und Unterstützung ist notwendig, wenn wir Dr. Mirzajanov auf dem Kongreß »Wissenschaft und Verantwortung« begrüßen wollen.

Völlig ungeklärt ist die politische und wissenschaftliche Frage. Wird in Rußland immer noch an der Entwicklung chemischer Waffen geprobt oder sogar getestet? Die Auseinandersetzung ist noch lange nicht beendet.

Geldspenden auf das Hilfsfond-Konto Stichwort »Dr. Mirzajanov«, Prof. Hirschwald, Kto.-Nr. 4633270700, BLZ 100 200 00 bei der Beliner Bank.

Reiner Braun ist Geschäftsführer der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden«.

Gewaltpotentiale in der ehemaligen UdSSR

Gewaltpotentiale in der ehemaligen UdSSR

von Andrej Fadin

Nach Einschätzung des russischen Generalstabes existieren gegenwärtig auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR mindestens 70 real oder potentiell gewaltförmige Konflikte. Dies sind keine Kriege im eigentlichen Sinne, Perioden aktiver Kampfhandlungen werden häufig durch längere Ruheperioden oder Zeiten »bewaffneten Friedens« abgelöst und die Gewalt in den Konfliktgebieten sind nicht nur auf Kampfhandlungen der verfeindeten Seiten beschränkt. Gewalt durchdringt das Innere der jeweiligen Gemeinschaften, erstreckt sich auf die »eigenen Leute«, wird zum Element ihres Alltags und zum organischen Bestandteil der politischen Kultur. Noch weniger kann man das, was vor sich geht, als »Revolution« bezeichnen, da in vielen der betroffenen Gesellschaften die soziale Hierarchie unverändert bleibt.

Deshalb verwende ich der Einfachheit halber bei der Analyse der gegenwärtigen Welle der Gewalt auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR den mit vielen Assoziationen verbundenen Terminus »Violencia«. Im Kolumbien der 40er Jahre entstanden, widerspiegelt dieser Begriff alle Sphären des Lebens durchdringende, brutale sozialpolitische Gewalt.

Das Geschehen auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR kann man als Prozeß der Reorganisierung dieses Gebietes im Zuge der Genese neuer, postimperialer nationalstaatlicher Hierarchien interpretieren. Dieser im 20. Jahrhundert in seinen Maßstäben, Tiefe und Dynamik beispiellose Umgestaltungsprozeß wird aller Wahrscheinlichkeit nach über viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte – real also die aktive Lebenszeit der heute lebenden Generation – andauern.

Langwierigkeit, Schärfe und scheinbare »Irrationalität« des Umstrukturierungsprozesses des euro-asiatischen Raumes werden nicht nur durch seine gigantischen Ausmaße, die kulturelle Heterogenität und seine Lage im Zentrum verschiedener weltpolitischer Kraftfelder bestimmt: Der Zerfall des Imperiums bedeutete eine Öffnung dieses Raumes, welcher nun durch mächtige äußere Kraftfelder quasi auseinandergerissen wird. Eine derartige Öffnung gegenüber äußeren Einflüssen zerstört die traditionell geopolitisch ausgerichtete national-politische Hierarchie und erschwert die Prozesse einer neuen Hierarchisierung.

Andererseits hat das Veschwinden des sowjetischen Pols tiefgreifende Veränderungen im Weltsystem ausgelöst. Der bis dahin stabile äußere Kontext, der die Rolle eines starken strukturierenden Kraftfeldes spielen konnte, gehört der Vergangenheit an. Damit stellt er bei weitem keinen eindeutig stabilisierenden Faktor mehr dar, sondern kann innere Kräfteverhältnisse nachhaltig destabilisieren. Anschaulich sichtbar ist diese Tendenz z.B. am Beispiel der rumänisch-moldowischen oder türkisch-aserbaidshanischen Bezeihungen.

Offensichtlich ist, das von der Dauer, Intensität und den Ausmaßen der Gewaltwelle auf den Trümmern des Imperiums in bedeutendem Maße das Schicksal Rußlands abhängt. Damit ist auch die Zukunft Europas und – in gewisser Weise – die gesamte Welt betroffen. Um die Chancen für ein Abflauen der scheinbar unendlichen Welle von nationalen Kriegen und Konflikten an den Grenzen Rußlands analysieren zu können, müssen Antworten auf eine Reihe von Schlüsselfragen gefunden werden:

Welche makrosozialen und politischen Prozesse bilden die Grundlage für Gewalt? Wer sind die sozialen Hauptakteure der Gewalt, wer kämpft wofür in den verschiedenen Konflikten auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR? Welche Prozesse und Akteure werden in welcher Situation eine »Befriedung« fördern?

Die soziale Basis der Gewalt

In sozialer Hinsicht – wie Konfliktforscher längst festgestellt haben – ernährt der Krieg sich selbst, ist es wesentlich einfacher, einen Krieg zu beginnen, als ihn später zu beenden. In den von Konflikten erfaßten Regionen der ehemaligen UdSSR haben sich bereits Interessensgruppen gebildet, deren Schicksal mit dem Krieg verbunden ist, einige sind direkt am Krieg interessiert. Dazu gehören nicht nur die neuen militär-politischen Eliten, sondern auch ein Teil der Geschäftswelt, welcher von der totalen Versorgungsknappheit, von Lebensmittel-, Treibstoff- und Waffenlieferungen an die Konfliktparteien profitiert.

Flüchtlinge

Wenig beachtet wird bisher der eigentlich offensichtliche Fakt, daß es bereits große Bevölkerungsgruppen gibt, die an der Festschreibung der bisherigen Ergebnisse der Konflikte interessiert sind. Das sind jene, denen es möglich war, das Land, Immobilien und das sonstige Eigentum der die jeweilige Republik verlassenden Flüchtlinge an sich zu bringen. Hunderttausende Osseten und Georgier, Armenier und Aserbaidshaner, Usbeken und Tadshiken haben auf der Flucht vor Verfolgung ihre bestellten Felder und Gärten, ihre Häuser und eingerichteten Wohnungen, Vieh und sonstiges Eigentum zurückgelassen. Alles dies fiel ihren früheren Nachbarn, besonders »aktiven Privatisateuren« oder mafia-artigen Organisationen zu.

Die Flüchtlinge selbst sollten als Betroffene eigentlich zu den entschiedensten Gegnern von Gewalt gehören. In Wirklichkeit ergibt sich jedoch ein völlig anderes Bild.

Die Flüchtlinge finden sich ohne reguläres Einkommen im Kellergeschoß der sozialen Pyramide wieder. Für die meisten bedeutet dies den Zusammenbruch ihres bisherigen Lebens, eine psychologische Katrastrophe, verschärft dadurch, daß es für sie keinerlei absehbare, reale Perspektiven der Wiederherstellung der früheren sozialen Stellung gibt. Die formal existierenden Systeme der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen funktionieren faktisch nicht. Die Menschen leben jahrelang auf Bahnhöfen, in Zelten und überfüllten Aufnahmeheimen.

Die Tragik der Situation besteht darin, daß ihre objektiven Interessen (Rückkehr in die Heimatgebiete oder wenigstens eine entsprechende Kompensation) in den meisten Fällen nicht durch Kompromisse, sondern durch eine Revanche nach dem Sieg im Konflikt erreicht werden können. So bildet sich auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das »palästinensische Paradigma« heraus: Nach ihrer Vertreibung werden die Flüchtlinge zu einer chronischen Quelle der Gewalt, ihrem Träger und demographischen Hauptpotential. Gerade aserbaidshanische Flüchtlinge waren die Hauptkraft der anti-armenischen Pogrome in Baku und Gindsho. Ihrerseits bildeten Flüchtlinge aus den von der aserbaidshanischen Armee eroberten Dörfern den Kern der armenischen bewaffneten Gruppen im Karabach und entlang der armenisch – aserbaidshanischen Grenze. Dasselbe geschah auf beiden Seiten der Front in Südossetien und Abchasien.

Verständlich wird in diesem Zusammenhang auch, warum beispielsweise Flüchtlinge aus Tadshikistan die Aufnahme in Usbekistan verweigert wurde: Die Regierung fürchtete, daß die Flüchtlinge wie ein Katalysator auf alle inneren Widersprüche der usbekischen Gesellschaft wirken würden.

Das Militär

Ein anderes, ebenso gefährliches, jedoch zahlenmäßig nicht so starkes soziales Produkt des Krieges sind die in den Strudel der inneren Konflikte hineingezogenenen Angehörigen der ehemaligen Sowjetarmee. Die vor ihnen stehenden Probleme sind beinahe unlösbar.

Während ihres manchmal jahrzehntelangen Dienstes in den Unionsrepubliken der UdSSR sind sie buchstäblich mit der Erde dort verwachsen, besitzen Haus und Land. Für viele bedeutet der Abzug aus diesen Gebieten minimal den Verlust des Wohnraumes, oft eine irreparable Lebenskatastrophe, den Zusammenbruch des mit viel Mühe hergestellten Lebensstiles, ein kolossales Absinken von Lebensqualität und -standard. Der Tausch einer Wohnung in Riga, Tallinn oder Tblissi gegen ein einfaches Zelt im Gebiet Pskow oder eine kalte Kaserne ohne Wasserleitung und Kanalisation in Abakan – dies ist für die meisten die reale Perspektive. Die Einheiten des berühmt-berüchtigten Rigaer OMON (Sondereinheiten des sowjetischen Innenministeriums) wurden, beispielsweise, nach Surgut und Tjumen (Westsibirien) verlegt. Ihr Schicksal zeigt anschaulich, gegen welche Zukunft diese Kräfte real gekämpft haben.

Weiterhin hängt ein Großteil der Lebensqualität (Wohnraum, Wochenendhäuser, Grundstücke, die Versorgung mit allen möglichen ansonsten knappen Waren) der provinziellen Generäle traditionell von den örtlichen zivilen (früher: Partei-) Verwaltungen ab. Ein offener Konflikt mit diesen Kräften bedeutet für die Generalität einen automatischen Entzug all dessen und stellt unter Umständen eine Bedrohung ihrer Familien dar. Fälle von Erpressung der Militärs mit Drohungen gegen ihre Familien werden regelmäßig in nahezu allen Konfliktregionen bekannt.

Gerade der Kompromiß der provinziellen Generäle (früher der sowjetischen, heute der russischen) mit den örtlichen politischen Eliten führte mehrfach zur Teilnahme von Armeeeinheiten in national-staatlichen Konflikten auf Seiten der Republik ihrer Stationierung. Das anschaulichste Beispiel hierfür sind die Operationen der 4. Armee (seit fast 20 Jahren in Aserbaidshan stationiert) gegen armenische Siedlungen in Karabach (Mai 1991). Ihrerseits führten Kampfhubschrauber der in Armenien stationierten russischen 7. Gardearmee in der Folgezeit (Herbst 1992) Schläge gegen Positionen der aserbaidshanischen Armee. Es entsteht also eine Situation, in der russische Militärangehörige (nicht nur ehemalige, sondern in Ausübung ihres Dienstes!) gleichzeitig auf beiden Seiten aktiv an einem Konflikt teilnehmen.

Die beiden am meisten verbreiteten Formen der Teilnahme von Militärs an den Konflikten sind jedoch die Übergabe (der Verkauf) von Waffen und Söldnertum.

Bei der Tiefe des gegenwärtigen Chaos' und Desorganisation der Verwaltung ist es unmöglich festzustellen, welcher Teil der Waffen in den Händen von Dutzenden verschiedenen »Regierungen«, unterschiedlichen nationalen »Milizen«, militarisierten pollitischen Gruppierungen und einfach Banden von ihnen geraubt (»nationalisiert«) wurde, welcher Teil einfach beim Abzug der Truppen verloren ging, und welcher Teil an die örtlichen Machthaber verkauft oder gegen irgendeine »Vergütung« überlassen wurde. Fakt ist, daß das Niveau der Bewaffnung vieler dieser Regierungen weit über den Erwartungen der Militärspezialisten liegt. Einige von ihnen haben durchaus das Niveau eines kleinen europäischen Staates erreicht. Die russische Armee ließ allein beim Abzug aus dem kleinen Tschetschenien, dessen selbsterklärte Unabhängigkeit von keinem Staat der Erde anerkannt wurde, immerhin 165 Panzer (darunter modernste), ca. 25 Flugzeuge, Millionen Einheiten Munition und eine ungezählte Anzahl von Handfeuerwaffen zurück.

Das Vorhandensein einer derartigen Zahl von Waffen in einem Land, dessen gesamte männliche Bevölkerung während des Wehrdienstes eine insgesamt nicht schlechte militärische Ausbildung erhielt und teilweise (über eine Million Menschen) Kampferfahrung im Afghanistan-Krieg sammeln konnte, läßt die Aufstellung einer Vielzahl verschiedener »Armeen« wahrscheinlich erscheinen.

Auch die für die Durchführung komplizierter taktischer Operationen (etwa den Angriff der Abchasen auf Gagra im Oktober 1992) und die Bedienung moderner Waffensysteme (etwa die »georgischen« und »aserbaidshanischen« Bomber SU-25 oder Hubschrauber Mi-24) nötigen hochqualifizierten militärischen Spezialisten stellt die zerfallende Sowjetarmee im Überfluß zur Verfügung.

Die Rede ist hier nicht nur von purem Söldnertum, oft stellt der Dienst in fremden Armeen lediglich die Lösung jener lebenswichtigen Probleme dar, welche die russische Regierung nicht zu lösen im Stande ist.

Die Entwurzelten

Die Dauer und das Ausmaß der Konflikte sind selbst schon Faktoren, die ihnen selbsttragenden Charakter verleihen. In den bisher langandauernsten Konflikten (im Berg-Karabach und in Ossetien) ist bereits eine ganze Generation herangewachsen, die ins bewußte Leben mit der Waffe in der Hand eingetreten ist und außer an Waffen keinerlei Ausbildung erfahren hat. Ein gewöhnliches Arbeitsleben erscheint diesen Jugendlichen nüchtern und langweilig im Vergleich mit den heldenhaften Kriegstagen. Diese Menschen sind nicht mehr in der Lage, selbst die Waffen niederzulegen.

Augenzeugen berichten, daß in Südossetien bereits nach Verkündung des Waffenstillstands eine Gruppe von fünfzehnjährigen Halbwüchsigen nachts abwechselnd die Stellungen der georgischen und ossetischen Truppen beschossen hat und, als zwischen beiden der Schußwechsel begann und die örtliche Bevölkerung sich in Kellern in Sicherheit brachte, in aller Ruhe Wohnungen ausraubte. Diese Jungen endeten tragisch – sie wurden von ossetischen Truppen aufgegriffen und erschossen, vorher jedoch waren in den von ihnen provozierten Schußwechseln Dutzende Menschen gestorben.

Der Zerfall der sozialen Hierarchie, der Verlust von Autoritäten, das Chaos und der Krieg aller gegen alle bringen aus traditionellen Gemeinschaften neue Führerpersönlichkeiten hervor. Der Krieg verleiht den Feldkommandeuren und militärischen Führern unbedingte Autorität und macht ihre Stellung in der Gesellschaft unangreifbar. Für viele von ihnen würde der Frieden automatisch den Abstieg – und nicht nur um eine Stufe – in der sozialen Pyramide bedeuten. Ohne die Garantie, daß ihnen nach dem Krieg ein neuer, gleichwertiger Status sicher ist, werden sie die Waffen nicht niederlegen.

Die Eliten

Von den verschiedenen Kriterien, unter denen man die »Violencia« betrachten kann (geopolitisch, politisch, kulturell, sozial-psychologisch, juristisch usw.) wurde bisher der soziologische am wenigsten betrachtet. Die Frage nach dem sozialen Sinn des Geschehens auf Grundlage der Interessen und Lage verschiedener Gruppen der nationalen und regionalen Gesellschaften wurde nicht durchdacht und erst gar nicht gestellt.

Dabei spricht die Analyse von Struktur und Dynamik der postsowjetischen Konflikte eindeutig für eine enorm starke organisierende Rolle der nationalen (lokalen, regionalen) Eliten in diesen Konflikten.

In der Anfangsetappe (Beginn der Perestroika Gorbatschows) erreichten die örtlichen Eliten in ihrem Tauziehen mit dem reformistischen Zentrum ein höheres Niveau der regionalen Selbstständigkeit. Das Zentrum seinerseits versuchte die traditionelle sowjetische Elite zu spalten und ihr ein Gegengewicht in Gestalt der Bürgerbewegungen entgegenzusetzen, indem sie diesen einen politischen Schirm durch das Verbot von Repressionen und den offiziell verkündeten Pluralismus zur Verfügung stellte.

Im Ergebnis dessen spaltete sich die alte sowjetische Elite in verschiedene Lager (nach dem Verhältnis zu Moskau, der Orientierung nach außen, der Basis in verschiedenen Bevölkerungsgruppen). Der Eintritt der neuen, sich an der Peripherie bildenden »Gegeneliten« in den Machtkampf bewirkte, daß der »natürliche« Gegensatz zwischen den imperialen und nationalen Eliten sich rasch zu einem eskalierenden Konflikt entwickelte.

In der folgenden Etappe führte die Eskalation zu nationaler Gewalt, danach zum Krieg. Der Krieg seinerseits ermöglichte die Tabuisierung von Gewaltanwendung bei inneren Konflikten aufzuheben. Eine anschauliche Illustration für dieses Modell ist der Ablauf der Ereignisse in Georgien: Zunächst eine »nationale Revolution«, danach der äußere Krieg gegen Süd-Ossetien, dann ein kriegerischer innerer Konflikt (Sturz von Präsident Gamsachurdia und Kampf seiner Anhänger für die Restauration). Danach wiederum versucht das neue Regime (Schewardnadse) angesichts des wachsenden Widerstandes, die mit militärischen Mitteln errungene Macht durch »ein Schließen der Reihen gegen den gesamtgesellschaftlichen Feind« durch neuen Krieg zu legitimieren. Die Lage erfordert ein Hinaustragen des inneren Konfliktes »nach außen«: Es entsteht das Bedürfnis nach dem »Abchasien – Feldzug«. So werden im relativ kleinen Georgien gleich drei Kriege geführt, die sich gegenseitig entfachen. Ein klassisches Beispiel von »Violencia«.

Die Veränderungen, die während der langandauernden und tiefgehenden kriegerischen Konflikte (vergleichbar mit dem afghanischen) innerhalb der Hierarchie der Eliten vor sich gehen, sind unumkehrbar. Damit hängt der Befriedungsprozeß der »Violencia« direkt von der Stabilisierung der durch sie gesprengten sozialen Ordnung ab. In der neuen Hierarchie müssen sich die während des Konfliktes emporgekommenen neuen Gruppierungen organisch in die alten Eliten einordnen und die von ihnen im Krieg eroberte »hohe Position« einnehmen. Diese Erscheinung ist gut bekannt, z.B. aus dem Beispiel Afghanistan: Bei Fehlen einer starken und einheitlichen Staatsmacht können und wollen sich die »Emporkömmlinge des Krieges« in das friedliche Leben nicht auf Grundlage der alten, »Vorkriegsrollen« eingliedern. Eine einmal gestörte soziale und politische Hierarchie kann sich selbst bei einem vollständigen Sieg einer Seite nicht wieder in alter Form herstellen, auch nicht beim Sieg der für die Restauration kämpfenden Seite.

Leider ist in diesen Situationen das logische Endergebnis nicht der demokratische Protest des Volkes gegen den Krieg, sondern die Errichtung straffer national-autoritärer Regimes. Unter pluralistischen Bedingungen ist es für die entsprechenden Regierungen unmöglich, die zur Erreichung des Friedens notwendigen Kompromisse zu machen, da die Opposition sie sofort des Verrates der nationalen Interessen bezichtigen würde. Beispiel dafür sind u.a. die Unmöglichkeit für die Regierung Moldowas, dem Dnjestr-Gebiet einen politischen Status zu verleihen und den föderativen Staatsaufbau festzuschreiben. In ähnlicher Lage befinden sich die Regierungen Armeniens und Aserbaidshans, was die Regulierung des Karabach-Problems betrifft. Das Paradoxe der Situation besteht darin, daß nur ein autoritäres Regime, welches entweder die Opposition ignoriert oder aber mit Repressalien unterdrückt, Frieden schließen kann, ohne dabei gestürzt zu werden.

Der Prozeß der Formierung derartiger Regimes hat bereits begonnen. Es ist nachzuvollziehen, wie sich die Strukturen der Exekutive (zuungunsten der Legislative) während des Konfliktes in Moldowa und in Armenien bzw. Aserbaidshan verstärkten. Vor unseren Augen wird ein autoritäres Militärregime in Georgien aufgebaut.

Von diesem Standpunkt aus gesehen können die Kriege nur von denen beendet werden, die sie begonnen haben: von den nationalen politischen Eliten; Und nur nachdem die von ihnen verfolgten realen Kriegsziele erreicht sind. Ihr reales Ziel war überall die Übernahme der Macht von den alten, kommunistischen Eliten, ihre Konsolidierung und Legitimierung.

Volkskriege werden bis zum Sieg geführt, politische jedoch nur bis zur Erreichung der gewünschten, rationalen Resultate. Ein endloser »Volkskrieg« wird also für die neue Elite unnötig, da er die Nutzung der im Krieg neu gewonnenen Stellung in der Gesellschaft behindert. Deshalb ist die »Wiederherstellung der Ordnung« nach innen auf jeder der beteiligten Seiten eine unausweichliche Folge des Krieges. Mit anderen Worten: Die Beseitigung des Obersten Kostenko im Dnjestr-Gebiet durch die Führung des Gebietes selbst, die Liquidierung der ossetischen Jugendlichen durch ossetische Truppen.

Dieser Fakt erlaubt seltsamerweise einen gewissen Optimismus: Sobald also die Ziele erreicht sind, beginnen die Seiten, nach Auswegen aus der Situation zu suchen – natürlich möglichst ohne Macht- oder Gesichtsverlust. Dies an sich ist jedoch – zugegeben – eine schwierige Aufgabe.

Die menschliche Dimension der »Violencia«

Im Prozeß eines langanhaltenden und wenig intensiven Konfliktes bildet sich ein aus allen Bürgerkriegen, einschließlich des ersten russischen und des mexikanischen, bekannter spezifischer Persönlichkeitstyp heraus: Der Typ des Atamans, eines örtlichen oder regionalen charismatischen Kriegshelden, wie des Obersten Kostenko oder des Führers der Kuljaber Aufständischen in Tadshikistan, Safarow. Andererseits ist für die einfachen Mitglieder der zahllosen Armeen, Volksmilizen, militarisierten Organisationen die Zugehörigkeit zu diesen Organisationen und das Recht, in der Öffentlichkeit Waffen tragen zu können, ein bestimmtes Privileg und ein starker sozialer Stimulus.

Eine solche Einstellung zum Krieg und zu Waffen ist jedoch nur solange möglich, wie der Konflikt nicht in einen »vollwertigen« Krieg übergegangen ist, der das äußerste Anspannen aller physischen und moralischen Kräfte des Individuums und der Gemeinschaft erfordert.

In dieser Hinsicht unterscheidet sich die »Violencia« von einem »totalen« Krieg, wo Tod eher die Regel als die Ausnahme ist. Gerade solche Kriege konnten bisher von den nationalen Eliten vermieden werden. Die Konflikte auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR eskalieren interessanterweise nicht zu »totalen« Kriegen (mit der Ausnahme, vielleicht des Konfliktes um Berg-Karabach). Die Gesamtzahl der Getöteten in allen Konflikten übersteigt nach allen Schätzungen bisher 15-20.000 nicht.

In ihrer Intensität, den Maßstäben der Kampfhandlungen und Verlusten und dem Grad der Mobilisierung von inneren Ressourcen sind alle diese Konflikte vergleichbar etwa mit dem Krieg in Jugoslawien oder dem Konflikt auf Sri Lanka. Geht man jedoch von der Größe der betroffenen Territorien und der Gesamtzahl der in die Konflikte verwickelten Kräfte, von der Bewaffnung und vor allem von der Gefahr eines Ausweitens nach dem Domino-Prinzip aus, so ist das Gewaltpotential in den postsowjetischen Staaten präzedenzlos in der Nachkriegsgeschichte.

Rußland

1991 realisierte sich die fünf Jahre zuvor geäußerte metaphorische Prognose eines Redakteurs der Zeitschrift »Mir-XX Wek« (Die Welt im 20. Jahrhundert): Die Grenzen Afghanistans verschoben sich bis an die Grenzen des Gebietes Krasnodar, d.h. bis ins russische »Mutterland«.

Die blutigen Ereignisse in Abchasien eröffneten die scheinbar ausweglose Perspektive eines langanhaltenden Krieges unmittelbar an der russischen Grenze. Die Einbeziehung der nordkaukasischen Autonomie in der Russischen Förderation wurde aktueller Fakt. Der Konflikt zwischen Georgien und Ossetien ist ungelöst, es schwelen der ossetisch-inguschische Konflikt und – am gefährlichsten – die chronische Drohung einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Tschetschenien. All das gestattet es, von der Gefahr der Verschmelzung all dieser Konflikte in einem Zweiten Kaukasuskrieg zu sprechen, der für Rußland selbst schwere Folgen auf eigenem Territorium bedeuten würde.

Unausweichlich sind gewaltige Flüchtlingsströme (schon heute gibt es ca. 500.000 registrierte Flüchtlinge, die Zahl der nicht registrierten wird auf eine Million geschätzt). Die gesellschaftlichen Folgen dieser Fluchtbewegungen muß man vor dem Hintergrund der schweren sozialen Krise in Rußland selbst betrachten: Absinken der Produktion 1992 fast um ein Viertel, bis Mitte 1993 wird die Arbeitslosigkeit auf 4-7 Millionen ansteigen, eine zumindest für die nachstalinistische Periode ungekannte Welle der Kriminalität usw.

Vor einem solchen Hintergrund stellen sich die Folgen der »Violencia« entlang der Grenzen Rußland mit furchtbarer Klarheit dar: Zunächst erfolgt eine Militarisierung des gesamten Lebens, die Zerschlagung jeglicher Opposition und die Verstärkung der totalitären Kontrolle in den an die Konfliktregionen angrenzenden Gebieten. Schon heute realisieren sich derartige Tendenzen im Zusammenspiel von Kosakentum, örtlichen Machtzentren und der Armee. In einigen Orten wurden bereits mit der Losung »Rußland den Russen« Menschen anderer Nationalität vertrieben.

Danach durchdringen diese Merkmale aus den Grenzgebieten das gesamtrussische politische Leben, werden immer einflußreicher bei der Fällung von Entscheidungen durch das Parlament und die Exekutive. Das logische Ergebnis einer solchen Entwicklung kann leicht als autoritäres Regime modelliert werden, welches unter der Losung des Überlebens, der »Aufrechterhaltung der Ordnung« errichtet wird. Ein Teil der inneren Widersprüche wird hierbei nach außen getragen; Rußland beginnt, auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR eine aktive Machtpolitik zu betreiben und – möglicherweise nicht ohne Zustimmung des Westens – die Rolle des regionalen Gendarmen zu erfüllen.

Denkbar ist jedoch auch ein anderes Szenario: Anwachsen des sozialen Chaos, Zerfall der zentralstaatlichen Strukturen und Beginn der »Violencia« in Rußland selbst. Dieses Szenario erfordert eine gesonderte Analyse.

Die Hauptfrage hierbei ist, ob die Gewalt an den Grenzen Rußlands haltmachen wird oder als politisch-ideologischer (wie der Erste Russische Bürgerkrieg) oder als interregionaler (wie in China Anfang des Jahrhunderts), in sein Inneres vordringen wird.

Meiner Meinung nach wirken zwei Faktoren einer solch katastrophalen Entwicklung entgegen: Der erste besteht darin, daß sich die alten russischen Eliten größtenteils erhalten haben, vor allem in der Provinz. Die traditionelle sowjetische Hierarchie ist hier faktisch nicht zerstört, irgendwelche starken Gegenkräfte sind nicht entstanden und konnten so auch nicht als destabilisierender Faktor in Erscheinung treten.

Ein noch wichtigerer Faktor ist jedoch die sozial-demographische Veränderung Rußlands: Das neue, nicht-traditionelle Rußland ist eine urbanisierte Gesellschaft mit der für die Stadtbevölkerung typischen niedrigen Geburtenrate. Psychologisch ist der Verlust des einzigen Kindes eine völlig irreparable Katastrophe für die Familie. Aus dieser Sicht stellen die neuen Familien mit nur einem Kind (vor allem in den städtischen Mittelschichten) eine die Vorstellungen vom Wert des menschlichen Lebens revolutionierende Erscheinung dar, die bewirkt hat, daß der Wert des menschlichen Lebens seit Beendigung des Weltkrieges um mehrer Stufen höher eingeschätzt wird.

Die negative Bevölkerungsentwicklung in den meisten Gebieten Rußlands wird von den meisten Publizisten als nationale Tragödie beschrieben, ist jedoch in Wirklichkeit lediglich das unausweichliche Resultat der Modernisierung der Gesellschaft (vergleichbar mit dem Bevölkerungswachstum in Deutschland und Schweden) und vielleicht eine der stabilsten Grundlagen für das niedrige Gewaltpotential im heutigen Rußland.

Keine auch noch so ideologisierten Systeme ermöglichen heute eine Akzeptanz von Blutvergießen großen Ausmaßes in der urbanisierten Gesellschaft. Trotz der großen Versuchung, Gewalt zum Sturz des nicht legitimen Regimes im kleinen Tschetschenien anzuwenden, haben selbst die radikalsten Patrioten nicht zur Intervention aufgerufen: Die Erinnerung an die Kaukasuskriege der Geschichte und die nicht verheilten Wunden des Afghanistan-Krieges haben eine Immunität gegenüber derart »einfachen Lösungen« geschaffen.

Es gibt im Land nicht mehr die Massen von jugendlicher Dorfbevölkerung, die in der Vergangenheit ein ideales Kanonenfutter in jedem Kriege, einschließlich des Bürgerkrieges, darstellten. Es gibt – bisher – noch nicht die Massen von arbeitslosen lumpenproletarischen Schichten innerhalb der jugendlichen Stadtbevölkerung. Gerade dieses soziale Material lieferte den Sprengstoff für die blutigen Explosionen im Nordkaukasus und Transkaukasien sowie auf dem Balkan.

Seine geopolitischen Ziele könnte Rußland in dieser Situation nur mit Hilfe einer Berufsarmee, von Söldnern oder Freiwilligen erreichen. Söldnertum war bisher für Rußland untypisch. Die Teilnahme der Kosaken an praktisch allen Konflikten auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR relativiert diese Trradition jedoch spürbar.

Die Gefahr eines sozialen Chaos, der wirtschaftlichen Krise, massenhafter Langzeitarbeitslosigkeit kann die Tendenz »des steigenden Wertes« des menschlichen Leben durchaus umkehren, die ersten Alarmsignale gibt es bereits.

Andrej Fadin ist Redakteur der Zeitschrift »Mir-XX Wek« (Die Welt im 20. Jahrhundert) in Moskau. Übersetzung aus dem Russischen: Andreas Schön.

Sicherheitspolitik in den Nachfolgestaaten der UdSSR

Sicherheitspolitik in den Nachfolgestaaten der UdSSR1

von Hans-Henning Schröder

Die Auflösung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken im Dezember 1991 war Endpunkt eines 1986/87 angelaufenen Politisierungsprozesses. Das Erstarken politischer Bewegungen, die nationale oder regionale Interessen vertraten, entzog dem Zentrum Schritt um Schritt den Boden. In der zweiten Hälfte des Jahres 1990 wurde klar, daß die notwendigen Veränderungen des Wirtschafts- und Herrschaftssystems nur noch von den Republiken ausgehen konnten und nicht mehr von einer Unionsregierung, die sich allein auf die verknöcherte Bürokratie der alten Machtapparate stützte. Der dilettantisch vorbereitete Umsturzversuch einer Handvoll Konservativer im August 1991 beschleunigte die Auflösung der Zentralmacht lediglich.

Doch der zerfallene Sowjetstaat hinterließ ein brisantes Erbe: eine bankrotte Wirtschaft, Armut und soziale Spannung, Nationalismus, dazu ein überdimensioniertes Waffenarsenal, aus dem sich nationale Formationen, Parteimilizen und paramilitärische Verbände jeglicher Couleur bedienen konnten. Der Untergang der Union hat zwar die Wahrscheinlichkeit eines »großen Krieges« zwischen den Supermächten radikal gesenkt, stattdesen sind aber regionale Krisen und begrenzte bewaffnete Konflikte eine reales Problem.

Die Herausbildung politischer Strukturen in den GUS-Staaten

Die Auflösung der alten Union, die im Jahre 1922 formell gegründet wurde, hinterließ ein Vakuum. Die Republiksregierungen erzielten keine Einigkeit bei dem Versuch, eine neue, alle souveränen Einzelstaaten einschließende Struktur zu schaffen. Auf der anderen Seite gibt es jedoch eine Vielzahl von Problemen, die die Republiken nur gemeinsam lösen können. Dazu gehört vor allem die Organisation ökonomischer Zusammenarbeit, die angesichts einer Verflechtung der regionalen Wirtschaftsbereiche und durch die gegenseitigen Abhängigkeiten der Republiken notwendig ist. Im Konsens müssen auch die Grenz- und Minderheitenfragen gelöst werden. Um die Kontrolle über die Atomwaffen zu gewährleisten, ist wenigstens die Zusammenarbeit der vier Stationierungsstaaten – Rußland, Kasachstan, Belarus und die Ukraine – erforderlich. Auch bei der Aufteilung des Unionsvermögens – darunter die Streitkräfte – ist ein Mindestmaß von Abstimmung unabdingbar.

Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), in der sich elf der fünfzehn früheren Unionsrepubliken zusammengeschlossen haben2, hat bisher jedoch keine politische Struktur geschaffen, die die Kompetenz hätte, solche Aufgaben zu lösen. Die Herausformung politischer Systeme in den GUS-Republiken verläuft regional ganz unterschiedlich. Formen politischer Auseinandersetzung entwickelten sich verschiedenartig – je nach Tradition, Sozialstruktur, nationaler Gemengelage und wirtschaftlichem Problemdruck. In einer Reihe von Regionen kam es zu einer Militarisierung von interethnischen Auseinandersetzungen. Nationale Gruppierungen bewaffneten sich und suchten etwa in den Konflikten um Südossetien (Georgien), Transnistrien (Moldowa), in Nagornyj Karabach (Armenien/Aserbejdshan) oder bei Streitigkeiten um Boden- und Wasserrechte in Mittelasien Lösungen gewaltsam zu erzwingen. Demgegenüber werden zwischen Rußland und der Ukraine oder Rußland und den baltischen Republiken Konflikte auf politischem Wege ausgetragen. Es zeichnet sich ab, daß infolge der unterschiedlichen Entwicklung politischer Systeme auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion Zonen unterschiedlicher Sicherheit entstehen – Regionen, in denen die politischen Kräfte bereit sind, nach friedlichen Regelungen für Konflikte zu suchen, und solche, in denen Gruppierungen dominieren, die willens sind, ihre Ziele militärisch durchzusetzen.

Sicherheitspolitische Bedrohungsvorstellungen

Der Wandel der politische Lage – gekennzeichnet durch den Zerfall des östlichen Militärbündnisses, das im Juni 1991 endgültig liquidiert wurde, und die Auflösung der Union Ende 1991 – führte auch innerhalb der GUS zu einer Umwälzung in den Bedrohungsvorstellungen. Die äußere Gefahr – die Bedrohung durch den »Imperialismus« – spielte im Bewußtsein von Öffentlichkeit und politischen Eliten keine Rolle mehr, stattdessen setzte sich die Erkenntnis durch, daß die innenpolitische Entwicklung ganz erhebliche Risiken barg. Zudem entstanden mit der Ausformung nationaler und regionaler Identitäten neue Feindbilder – der unmittelbare Nachbar wurde als neuer Gegner entdeckt.

Analysiert man die Bedrohungsszenarien, die in der Öffentlichkeit diskutiert wurden, wird deutlich, daß eine äußere Gefahr nicht perzipiert wird. Eine Sicherheitsgefährdung durch die NATO etwa, oder durch ein erstarktes Deutschland spielt im Denken der politischen Akteure praktisch keine Rolle mehr. Auch jene Szenarien, die den Verlust der Kontrolle über Atomwaffen thematisieren und die in der westlichen Öffentlichkeit herausgestellt werden, rufen in den Republiken augenscheinlich keine ernsthafte Besorgnis hervor.

Sorgen verursacht dagegen die innere Entwicklung:

  • Die wachsende ökonomische Krise, die zu massiven sozialen Spannungen führen und die politischen Strukturen destabilisieren wird.
  • Die Regionalisierung der politischen Zusammenhänge und des Wirtschaftsraums: eine Auflösung der bisher existierenden ökonomischen und politischen Zusammenhänge, die einhergeht mit stärkerer Verselbständigung einzelner Regionen – nicht allein nach ethnischen Merkmalen, sondern auch nach geographischen (neben Tatarstan oder Baschkortostan entwickeln innerhalb von Rußland z.B. auch Sachalin, die St.Petersburger oder die Fernost-Region spezifische Eigeninteressen).
  • Zwischennationale und interethnische Probleme, die sich mit dem weiteren Zerfall der Volkswirtschaft verschärfen werden. Dabei scheint die Situation in den Republiken unterschiedlich: In der Ukraine und Belarus gibt es zwar nationale Minderheiten, doch erwarten die Politiker dort einstweilen keine gefährlichen Spannungen. Lediglich die Krim-Frage scheint ein Problem darzustellen. In Rußland stellen Politiker die Gefahr einer Regionalisierung in den Vordergrund, die sich teilweise auch mit dem Erstarken nationaler Bewegungen in den autonomen Republiken überschneidet. Es droht der Zerfall der Russischen Föderation. In einer Reihe von Republiken – Georgien, Moldowa, Aserbejdshan und Armenien – herrscht offener Bürgerkrieg zwischen ethnischen Gruppen. Ein Ende der Kämpfe ist nicht abzusehen.
  • Vor dem Hintergrund der sozialen und ökonomischen Krise und des drohenden Zerfalls der politischen Strukturen in Rußland fürchten viele Politiker die Restauration autoritärer Strukturen. In Belarus etwa sieht man diese Gefahr sowohl für Rußland wie für die Ukraine, deren aktuelles Regime kritisch beobachtet wird. In der Ukraine sieht man die Gefahr einer autoritären Entwickung in Rußland. Dort wiederum mehren sich Stimmen, die fragen, ob eine autoritäre Ordnung nicht besser ist als ein soziales und ökonomisches Chaos.
  • Auch wenn eine akute Bedrohung durch die »Vereinigten Streitkräfte« nicht gesehen wird, besteht doch eine gewisse Sorge über das Unruhepotential, das ein sozial unterversorgtes Offizierskorps darstellen könnte. Die Vorsicht bei Schritten zur Truppenreduzierung ist auch von solchen Überlegungen bestimmt.
  • Diese Perzeption der politischen Entwicklung führte dazu, daß Politiker in Belarus und der Ukraine Besorgnis über Destabilisierungstendenzen in Rußland äußern und die Möglichkeit erörtern, daß sich dort ein Regime installieren könnte, das wieder eine imperiale und expansive Politik betreiben und die Souveränität der Republiken bedrohen würde.
  • Die Gefahr, daß Grenzprobleme Auslöser für Konflikte zwischen den Republiken werden könnten, wird in den drei slavischen Republiken Anfang 1990 vergleichsweise niedrig angesetzt. Zwar wird durchweg unterstrichen, daß die Grenzziehung zwischen den Republiken weder historisch noch ethnisch wirklich legitimiert sei, doch sprechen die verantwortlichen Politiker sich allesamt für eine pragmatische Behandlung dieser Frage – Wahrung des status quo – aus. Fragen wie die Zuordnung der Krim, die Herauslösung Transnistriens aus Moldowa oder der Status von Nagornyj Karabach zeigen allerdings, welcher Sprengstoff in der Grenzfrage steckt.

Die Entwicklung der Streitkräfte

Die innenpolitischen Probleme und die Vielzahl möglicher innerer Konflikte, die daraus erwachsen können, machen die rechtsstaatliche Einbindung und die sichere politische Kontrolle der bewaffneten Macht um so notwendiger. Beides aber war in den Anfangsmonaten des Jahres 1992 nicht gewährleistet.

Die Auflösung des alten Unionsvertrages entzog den sowjetischen Streitkräften die Rechtsgrundlage. Sie eliminierte auch die politischen Instanzen, die die Armee bisher kontrolliert hatten. Über Wochen hinweg agierten sowjetische Militärs in einem rechtsfreien Raum: Kriegsschiffe fuhren unter der Flagge eines nichtexistierenden Staates zur See, für die Stationierung von Land- und Luftstreitkräften auf dem Territorium der souveränen Republiken fehlte jegliche gesetzliche Basis. Die Instanzen, die bisher über Militärpolitik entschieden hatten und die für die Kosten der Militärmacht aufgekommen waren, existierten nicht mehr. Die Republiksregierungen standen unter dem Zwang, diese Probleme baldmöglichst und im Konsens zu regeln.

Neuordnung der militärischen Strukturen: die »Vereinigten Streitkräfte«

Nach der Auflösung der Union setzten die Staatsoberhäupter der GUS-Staaten zunächst einen kommissarischen Oberbefehlshaber für die ehemals sowjetischen Truppen – nunmehr die »Vereinigten Streitkräfte« – ein3. Das Amt wurde dem bisherigen sowjetischen Verteidigungsminister Schaposchnikow anvertraut, der innerhalb der Armee Autorität besaß und sich durch sein besonnenes Verhalten während des Putschversuches im August 1991 empfohlen hatte. Die Ernennung wurde im Februar 1992 formell bestätigt; Schaposchnikow wurde regulärer Oberbefehlshaber der »Vereinigten Streitkräfte« der GUS.4 Die militärische Führung war durch die Auflösung der Union zunächst nicht direkt berührt. Dieser Schritt war dann die Legalisierung eines seit längerem existierenden Faktums. Schaposchnikow übernahm die gesamte Führungsstruktur – das sowjetische Verteidigungsministerium, das nun in »Vereinigtes Oberkommando« umbenannt wurde, ebenso wie den Generalstab. Neben den laufenden Fragen – Gewährleistung der Versorgung der Truppe und Fortführung des Ausbildungsbetriebs – war die alte neue Führung vorrangig mit zwei Aufgaben konfrontiert: die Entwicklung von Streitkräftestrukturen, die der neuen politischen Struktur angepaßt waren, und die operative Umsetzung der Abrüstungsvereinbarungen, die die Sowjetunion unterzeichnet, jedoch nicht mehr ratifiziert und verwirklicht hatte.

Als Grundmuster der neuen Streitkräftestruktur bildete sich bald eine Zweiteilung der bewaffneten Macht heraus: auf der einen Seite die »strategischen Kräfte«, die dem Vereinigten Oberkommando unterstellt waren und jene Verbände umfaßten, die zur Lösung strategischer Aufträge eingesetzt werden konnten; auf der anderen Seite die konventionellen Kräfte, die alle anderen Verbände umfaßten, soweit sie nicht den Republiken unterstellt wurden. Das Oberkommando und die russische Regierung beabsichtigten zunächst, den Löwenanteil der Streitkräfte den strategischen Kräften zu unterstellen: neben den nuklear bewaffneten Verbänden die gesamte Seekriegsflotte, die Luftverteidigung, die Luftlandeverbände samt den dazugehörigen Rückwärtigen Diensten. In diesem Falle hätten die Republiken nur noch Zugriff auf Zivilverteidigung und einen kleinen Teil der Landstreitkräfte gehabt. Gegen diese Definition setzten sich die Ukraine und in der Folge auch andere Republiken wie Belarus und Moldowa energisch zur Wehr, da sie durch eine solche Aufteilung die Möglichkeit verloren hatten, selbst schlagkräftige Truppen aufzustellen. Aufgrund der Widerstände kam es bei den Treffen der Staatsoberhäupter der GUS nicht zu einer inhaltlichen Einigung über den Bestand der strategischen Kräfte. Ihre Aufstellung wurde zwar beschlossen, die genaue Abgrenzung dieser Streitmacht sollte jedoch in bilateralen Abkommen zwischen dem Oberkommando und der jeweiligen Stationierungsrepublik ausgehandelt werden.5

Diese Abmachung war symptomatisch für die gemeinsame Militärpolitik der GUS-Staaten; zwar wurden während der Gipfel in Minsk und Kiev eine Reihe von Abkommen getroffen6, doch gelang es den Vertretern der Ukraine und einiger anderer Republiken, alle Regelungen zu verhindern, die sie beim Aufbau eigener Streitkräfte eingeschränkt hätten. Das traf auch für die Frage der Finanzierung zu. Die Vereinigten Streitkräfte benötigten ständig Mittelzuweisungen, um wenigstens die laufenden Kosten zu decken. Es konnte aber kein Wehrbudget für 1992 verabschiedet werden, da die Vertreter der Republiken sich nicht über die Aufteilung der Finanzlast einig waren. Eine Reihe von Republiken lehnte es ab, für die nichtstrategischen Kräfte der GUS zu zahlen, da sie die Mittel für den Aufbau eigener Armeen nutzen wollten. Da sich die GUS-Staaten aber auch nicht über die Definition der strategischen Kräfte hatten einigen können, konnten auch Militärausgaben für diesen Bereich nicht aufgeteilt werden. Für die laufenden Ausgaben der Streitkräfte kam daher die Russische Föderation auf.

Hier zeichnete sich schon eine Entwicklungstendenz ab: Rußland übernimmt die Finanzierung und – über kurz oder lang – auch die politische und operative Kontrolle über die Masse der Vereinigten Streitkräfte. GUS-übergreifende Streitkräftestrukturen wird es voraussichtlich nur noch solange geben wie nuklear bewaffnete Verbände außerhalb Rußlands stationiert sind und ein überrepublikanisches Kommando notwendig machen. Spätestens mit der Erfüllung des START-Vertrages im Jahre 1994 wird dies nicht mehr der Fall sein.

Zum Stand des Aufbaus republikseigener Streitkräfte

Seit dem Treffen in Minsk im Februar 1992 war öffentlich erkennbar, daß die Führungen aller drei slavischen Republiken sich darauf einrichteten, eigene Streitkräfte aufzubauen.

In Rußland hatte sich im Frühjahr 1992 in der Öffentlichkeit und bei Politikern weitgehend die Auffassung durchgesetzt, daß die Masse der sowjetischen Streitkräfte im Grunde Rußland gehörten, frei nach dem (häufig zitierten) Motto: „Wer zahlt, bestellt auch die Musik.“ Eine spezifisch russische militärische Struktur existierte zwar anfangs nicht, doch am 16. März 1992 schuf Jelzin durch Erlaß ein russisches Verteidigungsministerium7, dessen Führung zunächst der Präsident selber übernahm. Die Bildung russischer Streitkräfte wurde für den Mai geplant. Zu ihrem Umfang wurden im Februar Zahlen um eine Million Mann genannt (mit einer Bandbreite zwischen 0,5 und 1,5 Mio. bei verschiedenen Sprechern), im April pendelte sich diese Zahl bei 1,2-1,3 Mio. ein.

In der Republik Belarus existierten Anfang 1992 ebenfalls keine republikseigenen Streitkräfte. Die belorussische Führung erklärte jedoch ihre Absicht, im Laufe der nächsten beiden Jahre eine eigene Armee aufzubauen. Die Streitkräfte sollen auf Basis der Verbände gebildet werden, die dem Belorussischen Wehrkreis unterstellt sind. Die Angaben über den geplanten Umfang schwanken zwischen 70-80 000 bzw. 150 000.

Die Ukraine verfügt bereits über verschiedene Formationen: reguläre Streitkräfte, die auf Basis der Truppen des Kiever, Odessaer und Karpatenwehrkreises formiert werden, Grenztruppen (auf Basis der sowjetischen Grenztruppen, 25 000 Mann) sowie eine Nationalgarde (auf Basis der Inneren Truppen und stark dem Präsidenten attachiert, derzeit etwa 10 000 Mann). Über die angestrebte Truppenstärke der regulären ukrainischen Armee kursieren unterschiedliche Zahlen. Nach Angaben des Stabschefs sind in der Ukraine derzeit 600 000 Mann stationiert, die bis 1994-95 auf 300 000 reduziert werden sollen. Aus dem Außenministerium wird eine letztendlich wünschbare Stärke von 100 000 genannt.

Bewaffnete Verbände ganz unterschiedlichen Charakters entstanden in einer Reihe von anderen Republiken. So stellten Moldowa, Aserbejdshan und Armenien eigene Armeen auf, viele Präsidenten schufen sich Nationalgarden, die – wie etwa in Georgien oder in Tadzhikistan – auch gegen die eigene Bevölkerung einsetzbar waren. Republiken, die sich neu bildeten, wie Transnistrien oder Tschetscheno-Inguschetien, organisierten in der Regel rasch bewaffnete Selbstschutzeinheiten. Daneben entstanden Parteimilizen und paramiltärische Verbände, wie etwa die Kosakentruppen, die unlängst den transnistrischen Selbstschutz gegen die moldawische Armee unterstützten.8 Diese unkontrollierte und regellose Militarisierung in den Einzelrepubliken ist außerordentlich gefährlich und kann regional zu Bürgerkriegen jugoslawischen Musters führen.

Die politische Rolle der Militärs

Welche Rolle Führer von Parteimilizen und paramilitärischen Verbänden in den Krisenregionen spielen, ist von außen kaum zu beurteilen. Man muß aber davon ausgehen, daß sie aufgrund ihrer militärischen Machtstellung im Verlaufe von politischen Konflikten wie z.B. in Georgien oder Transnistrien nicht ohne Einfluß sind.

Die Rolle regulärer Militärs scheint nicht in allen Einzelrepubliken gleich zu sein. In der Ukraine übt das Militär offenbar keinen nennenswerten Einfluß auf politische Entscheidungen aus. In Belarus, das noch keine eigene Armee hat, stellen die dort stationierten Truppen einen Fremdkörper dar, der – wenigstens im sozialen Bereich – erheblichen Druck ausüben könnte. In Rußland ist der direkte politische Einfluß der Militärs sehr viel deutlicher spürbar. Gegen den Widerstand des Oberbefehlshabers der Vereinigten Streitkräfte, Schaposchnikow, der offenbar bemüht ist, das Militär aus der Politik herauszuhalten, suchen Offiziersgruppen das Gewicht der Streitkräfte fühlbar zu machen. Die GUS-weite Offiziersversammlung Mitte Januar 1992 und die Bildung eines Koordinierungsrates, der als ständiges Vertretungsgremium dieser Versammlung fungiert, zeigt in diese Richtung. Solche Bestrebungen werden bisher jedoch durch eine besonnene militärische Führung eingedämmt. Allerdings stellt das Offizierskorps ein erhebliches Unruhepotential dar: angesichts der inflationären Preisentwicklung unterbezahlt, oft ohne Wohnung für die Familie, außerhalb Rußlands in Konflikt mit der Bevölkerung der Stationierungsgebiete macht sich bei den Offizieren eine Stimmung breit, die viele Berufssoldaten für ein »Durchgreifen« und die »Wiederherstellung der Ordnung« plädieren läßt. Sollte die Wirtschaftskrise sich weiter verschärfen, könnte ein Militärputsch, der von solchen Kräften getragen wird, in Rußland wohl sogar mit Unterstützung in der Öffentlichkeit rechnen.

Rüstungsproduktion und Rüstungsexport

Angesichts knapper Mittel und geplanter Truppenreduzierungen geht die Rüstungsbeschaffung stark zurück. Dieser Trend wird sich in Zukunft noch stärker ausprägen. Das wirft für die Rüstungsindustrie und jene Regionen, in denen diese Produktion konzentriert ist, erhebliche Probleme auf.

Vor diesem Hintergrund scheint in den meisten Republiken quer durch die politischen Blöcke Konsens zu bestehen, daß der Export von konventionellen Waffen legitim ist. Dies trifft in Rußland auch für liberale Politiker wie Galina Starovojtova zu. Man muß also davon ausgehen, daß die Staaten der GUS – sofern der Weltwaffenmarkt es zuläßt – in großem Ausmaß konventionelle Waffensysteme exportieren werden. Dabei wird es sich zum einen um Systeme handeln, die durch Truppenreduzierungen frei werden und nicht im Rahmen der Vorgaben des KSE-Vertrages unbrauchbar gemacht werden müssen, zum anderen um die laufende Produktion der Rüstungsindustrie.

Die starke, republiksübergreifende Verflechtung des Rüstungssektors wird es vermutlich für einzelne Republiken wie die Ukraine unmöglich machen, eine selbständige Konversionspolitik zu betreiben. Im Moment scheinen die zuständigen Behörden den alten Konversionsansatz der sowjetischen Instanzen fortzusetzen – Aufrechterhaltung eines geschlossenen Rüstungskomplexes, Steigerung des zivilen Ausstoßes aus diesen Rüstungsbetrieben, staatlich vorgegebene Prioritäten für den Agrarbereich. Neu ist das Moment des Rüstungsexports, mit dem – so die geläufige Begründung – Konversion jetzt finanziert werden soll.

Allerdings ist es doch sehr fraglich, ob diese Strategie positive Wirkung haben wird. Die Konversionspolitik der letzten Jahre war jedenfalls ein Fehlschlag. Die Umstellungsprogramme haben nicht zu einer Besserung der Lage in den Regionen mit hoher Rüstungsproduktion geführt. Der wahrscheinliche Mißerfolg der Konversion bedeutet jedoch zugleich, daß die Gefahr des Abfließens hochqualifizierter Rüstungsspezialisten in Risikoregionen fortbesteht und sich noch verschärfen wird.

Folgen für die internationalen Beziehungen

Die Entwicklungen innerhalb der GUS haben in begrenztem Außmaße auch Folgen für die Außenwelt. Das betrifft zunächst vor allem die Frage, ob es gelingen wird, die Abrüstungsvereinbarungen, die die UdSSR in den letzten Jahren ihres Bestehens eingegangen ist – isnbesodnere KSE und START –, unter den neuen Bedingungen zu ratifizieren und in die Tat umzusetzen.

Soweit zu übersehen, sprechen sich alle betroffenen Republiken uneingeschränkt für die In-Kraft-Setzung des KSE-Vertrages aus. Deutlich ist der starke Wunsch, in europäische Strukturen integriert zu werden. Allerdings zeigt es sich, daß es eine Reihe von Stolpersteinen gibt:

  • Das Verfahren der Ratifizierung durch die verschiedenen Republiken ist unklar. In Rußland geht man davon aus, daß Rußland als Rechtsnachfolger der UdSSR ratifiziert, die übrigen Republiken dagegen nur zustimmen. In der Ukraine und Belarus geht man davon aus, daß natürlich die eigenen Parlamente ratifizieren.
  • Im Rahmen der durch den KSE-Vertrag festgelegten Obergrenzen für Waffensysteme besteht in den Republiken keine Einigkeit über die Verteilung von Quoten. Sie muß jetzt in bilateralen Abkommen zwischen den Einzelstaaten der GUS fixiert werden. Gespräche darüber werden derzeit auf Expertenebene geführt. Die Differenzen scheinen z.Z. noch erheblich. Z.B. kritisierten Vertreter des belorussischen Verteidigungsausschusses, daß Belarus im Rahmen der Quote 700 Kampfpanzer behalten dürfen solle, wähend es doch zu seiner Verteidigung 2 000 benötige. Der Ukraine wiederum gesteht der KSE Vertrag weit mehr Waffensysteme zu als Rußland lieb ist. Auch dies ist Gegenstand von Gesprächen zwischen den beiden Staaten.
  • In Belarus und der Ukraine entwickelten Politiker die Vorstellung, daß die nationalen Parlament den Verbleib jener Waffensysteme und Verbände kontrollieren sollten, die aus den Republiken nach Rußland abgezogen werden. Dies war vor allem auf die taktischen Atomwaffen bezogen, für deren Abtransport und Vernichtung kein internationales Regime festgelegt wurde. Doch legten eine Reihe von Sprechern auch Wert darauf, die Verlegung von Luftlandetruppen und anderen Eliteverbänden zu überwachen.

Die Umsetzung des KSE-Vertrags wird sich daher komplizierter gestalten als erwartet. Es ist abzusehen, daß das ursprüngliche Abkommen durch ein Netzwerk bilateraler Verträge ergänzt werden muß. Dies bedeutet jedoch nicht, daß im Raum der ehemaligen Sowjetunion die Gefahr einer neuen Hochrüstung besteht. Wahrscheinlich werden alle Republiken bei Aufstellung eigener Streitkräfte weit unter den durch den KSE-Vertrag festgelegten Obergrenzen bleiben. Allerdings könnte der Ausbau des Verifikations- und Kontrollsystems erschwert werden.

Was den START-Vertrag angeht, so scheint die Situation einfacher. Belarus und die Ukraine streben eine Politik der Atomwaffenfreiheit an und wollen daher die auf ihrem Boden stationierten Atomwaffen an Rußland abgeben. Die taktischen Atomwaffen sind bereits vollständig vom Territorium der Ukraine abgezogen. In Rußland strebt die Führung offenbar an, nach Konzentration der Nuklearwaffen auf dem Boden der Republik die Kontrolle über diese Systeme in die eigene Hand zu nehmen und das Vereinigte Oberkommando aufzulösen. Welches Konzept der russischen Nuklearkriegsplanung dann zugrunde liegen wird, ist bisher noch unklar.

Ein Problem stellt allerdings die Haltung Kasachstans dar. Kasachstan ist eine der vier Republiken, auf deren Boden strategische Systeme stationiert sind. Anders als Belarus und die Ukraine hat sich die kasachische Führung bisher geweigert, ihre Atomwaffen an Rußland abzugeben. Da Kasachstan nicht über die Kapazitäten verfügt, diese Waffen fortzuentwickeln und zudem nicht über die für eine Atommacht notwendigen Vorwarn- und Kommandostrukturen, ist es unwahrscheinlich, daß die Republik tatsächlich eine eigenständige Nuklearstrategie entwickeln und realisieren kann. Die Ziele der kasachischen Führung sind unklar, doch scheint es denkbar, daß sie die Atomwaffen als eine Art von »bargaining chip« benutzt, um der Republik, an der sonst niemand ein größeres Interesse hätte, auf internationalem Parkett eine stärkere Ausgangsposition zu verschaffen.

Mögliche sicherheitspolitische Risiken

Die Auflösung der Sowjetunion und die militärpolitische Entwicklung innerhalb der GUS haben dazu geführt, daß in Europa Zonen unterschiedlicher Sicherheit entstanden sind. Während für Mittel- und Westeuropa oder die USA eine strategische Bedrohung nicht mehr erkennbar ist, sind die Staaten der GUS wachsenden inneren Gefahren ausgesetzt.

Allerdings kann man wenigstens in den drei slavischen Republiken mit gewissen Einschränkungen mittelfristig mit einer kalkulierbaren Sicherheits- und Verteidigungspolitik rechnen. Zwar wird sich die GUS in absehbarer Zeit auflösen, doch sind die politischen Eliten der drei slavischen Republiken offenbar bereit, sich in europäische Strukturen zu integrieren und hier westlichen Vorgaben auch weit entgegenzukommen. Fragen der Abrüstung und der Kontrolle atomarer Systeme scheinen daher lösbar, auch wenn die notwendigen bilateralen Absprachen zwischen den Staaten der ehemaligen Sowjetunion den Verhandlungs- und Umsetzungsprozeß komplizieren und verlangsamen werden.

Erhebliche Gefahren gehen aber von anderer Seite aus:

  • von der schweren Wirtschaftskrise, die zu einer Verschärfung der sozialen Spannungen führt und die Herausbildung stabiler politischer Strukturen behindert;
  • von interethnischen Konflikten, die im Gefolge sozialer Spannungen entstehen werden. Dabei sind bewaffnete Konflikte zwischen den großen Republiken eher unwahrscheinlich, gerechnet werden muß jedoch mit einer Vielzahl lokaler Auseinandersetzungen nach dem Modell der Konflikte um Südossetien oder in der Tschetscheno-Inguschetischen Republik;
  • von einer Politisierung des Militärs; denn vor diesem Hintergrund ist es denkbar, daß Teile des Offizierskorps nach einer politischen Rolle streben und dabei auch den Einsatz von Gewalt in ihre Überlegungen einbeziehen. Dies würde die Entwicklung eines stabilen politischen Systems gefährden;
  • von der Herausbildung autoritärer Regime, die wenigstens in einem Teil der Republiken wahrscheinlich ist. Dabei kann es sich durchaus um Regimestrukturen handeln, die auf Konsens mit den Regierten angelegt sind und die oppositionellen Kräfte einbinden, demokratische Mechanismen aber außer Kraft setzen. Doch es sind auch Herrschaftsformen möglich, die sich auf die alten Gewaltapparate stützen. Eine Restauration der alten Sowjetunion scheint jedoch in absehbarer Zukunft unmöglich;
  • von dem Bestreben der Republiken, durch Verkauf von Waffen und Rüstungstechnologie Devisen zu erwerben. Dies ist erklärte politische Absicht und kann regional durchaus unerwünschte Folgen haben;
  • vom »brain drain« hochqualifizierter Rüstungsexperten, die in die Rüstungsindustrie dritter Staaten abwandern;

Gefahren solcher Art muß man, und das ist gewiß keine neue Erkenntnis, vor allem durch die – wirtschaftliche und politische – Einbindung der Einzelrepubliken in europäischen Strukturen begegnen, in deren Kontext dann weitere Maßnahmen, z.B. zur Eindämmung des »brain drain«, denkbar sind. Dies sind die Aufgaben, mit der EG, NATO und KSZE konfrontiert sind – und dies verlangt von ihnen eine grundlegende Neubewertung der Lage, die sich auch in einem Wandel von Aufgabenstellung und Struktur dieser Organisationen niederschlagen müssen.

Anmerkungen

1) Der Artikel basiert außer auf der laufenden Zeitschriftenliteratur vor allem auf Gesprächen, die der Verfasser im Februar 1992 während einer Informationsreise durch die Ukraine, Belarus und Rußland mit Sicherheitspolitikern und Militärs führen konnte. Zurück

2) Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen haben den Unionsverband ganz verlassen, die Stellung Georgiens im Verhältnis zur GUS ist vorläufig ungeklärt – eine Folge der politischen Wirren in diesem Staat. Zurück

3) Protokol Sovešcanija glav nezavisimych gosudarstv, in: Pravda, 23.12.1991, S.2. Zurück

4) Rešenie glav gosudarstv Sodruestva nezavisimych gosudarstv: O naznacenii Glavnokomandujušcego Ob-edinennymi Vooruennymi Silami Sodruestva, in: Krasnaja Zvezda, 18.2.1992, S.1. Zurück

5) Soglašenie me219du gosudarstvami-ucastnikami Sodruestva nezavisimych gosudarstv o statuse Strategiceskich sil, in: Krasnaja Zvezda, 19.2.1992, S.1, 5. Zurück

6) Vgl. Pravda, 23.12.1991, S.1-2; Diplomaticeskij Vestnik, 1992, Nr. 1, S. 3-10; Krasnaja Zvezda, 18.2.1992, S.1, 3; Krasnaja Zvezda, 19.2.1992, S. 1, 3, 5 Zurück

7) Ukaz Prezidenta Rossijskoj Federacii: O Ministerstve oborony Rossijskoj Federacii i Vooruennych Silach Rossijskoj Federacii, in: Vedomosti S-ezda Narodnych Deputatov Rossijskoj Federacii i Verchovnogo Soveta Rossijskoj Federacii, 1992, Nr.13 st. 678, S.925-926. Zurück

8) Die Entwicklung von paramilitärischen Verbänden vollzieht sich zu rasch als daß vollständige Angaben möglich wären; den Stand von 1991 gibt die Monographie der russisch-amerikanischen Universität wieder: Rossijsko-Amerikanskij Universitet: Vooruennye i voenizirovannye formirovanija v SSSR. Vzgljady. Pozicii. Dokumenty, Moskva 1991; zu den Kosaken vgl. Gehrmann, U.: Das Kosakentum in Rußland zu Beginn der neunziger Jahre: Historische Traditionen und Zukunftsvisionen, Köln, Januar 1992 (= Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien 11). Zurück

Dr. Hans-Henning Schröder, Referent für Sicherheits- und Rüstungspolitik der GUSS-Staaten am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln.

Konversion: Probleme und Perspektiven in der Sowjetunion

Konversion: Probleme und Perspektiven in der Sowjetunion

von Christa Vennegerts • Dietmar Pietsch

Vom 24.-31. Mai 1989 wurde erstmals eine deutsch-sowjetische Friedenswoche veranstaltet, die auf bundesdeutscher Seite vom Koordinierungsausschuß der Friedensbewegung organisiert wurde. Die inhaltliche Vorbereitung der einzelnen Veranstaltungen lag bei den einzelnen im Trägerkreis der Friedensbewegung vertretenen Organisationen.Die Fraktion der Grünen im Bundestag hat sich mit insgesamt drei Veranstaltungen beteiligt, darunter einer zu Fragen der Rüstungskonversion in der Bundesrepublik und in der Sowjetunion. Die sowjetische Seite war durch 3 Experten vertreten. Aus der Bundesrepublik haben u.a. Betriebsräte aus den Rüstungsbetrieben Krupp Mak, Kiel, Blohm & Voss, Hamburg und MBB, Bremen teilgenommen. Einige der dabei angeschnittenen Fragen und Probleme sollen im nachfolgenden Beitrag dargestellt werden.

Ursachen für Rüstungskonversion in der UdSSR

Die sowjetische Wirtschaft befindet sich in einem desolaten Zustand. Die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern des täglichen Bedarfs verschlechtert sich zusehens. Selbst die an sich wenig glaubwürdigen Angaben des CIA über die Wachstumschancen der sowjetischen Wirtschaft zeichnen nach neuesten Berechnungen sowjetischer Wirtschaftswissenschaftler ein geradezu sonniges Bild der Verhältnisse. Trotz der eingeleiteten Reformen hat sich die Versorgungssituation breiter Volksschichten eher verschlechtert als verbessert. Der Wirtschaftswissenschaftler und stellvertretende Ministerpräsident Abalkin befürchtet bereits, daß die Gesellschaft sich ådestabilisierenï könnte, wenn es nicht innerhalb von zwei Jahren gelinge, die Versorgung zu verbessern. Boris Jelzin sieht gar eine årevolutionäre Situationï heraufdämmern.

Auch wenn im Detail noch unklar ist, welche Maßnahmen zur Bewältigung der ökonomischen Krise den meisten Erfolg versprechen – eines scheint bei sowjetischen Politikern, Wissenschaftlern und den Menschen völlig unstreitig zu sein: Militärausgaben in Höhe von 77 Mrd. Rubel (=ca. 210 Mrd. DM) wird die UdSSR nicht weiter aufwenden können, wenn sich die ökonomische und damit letztlich die soziale Lage verbessern soll. Auf dem Volksdeputiertenkongreß kündigte Ministerpräsident Ryschkow bereits an, daß die sowjetische Regierung beabsichtigte, die Militärausgaben bis 1995 praktisch zu halbieren. Parallel dazu sollen die durch Waffenproduktion ausgelasteten Betriebe auf die Fertigung von Zivilgütern umgestellt werden.

Es sind jedoch nicht allein wirtschaftliche Gründe, die dem Thema Rüstungskonversion in der UdSSR eine bislang nicht gekannte Aktualität verleihen. Seit dem Amtsantritt Gorbatschows ist in die sowjetische Abrüstungspolitik eine Dynamik gekommen, die die Nato-Staaten abrüstungspolitisch völlig in die Defensive gebracht hat. Innersowjetisch ist eine Demontage überholter Verteidigungsdoktrinen in Gang gesetzt worden, die auf eine Verringerung und Defensivierung der Militärapparate hinausläuft. Diese Neuausrichtung bedingt gleichfalls eine Beschneidung geplanter Beschaffungsprogramme.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die geplante Umstellung von Rüstungsbetrieben in der UdSSR einerseits das Ergebnis einer wirtschaftlichen Notsituation, andererseits die Folge verstärkter Abrüstungsbemühungen ist.

Charakteristika der sowjetischen Rüstungsindustrie

Genaue Angaben über die Zahl der Rüstungsbetriebe und der dort Beschäftigten sind trotz Glasnost für ausländische und sowjetische Wissenschafler gleichermaßen unzugänglich. Der sowjetische Militär-Industrie-Komplex wird heute von 9 verschiedenen Ministerien organisiert. Die Kontrolle und Koordination der rüstungsrelevanten Industrien erfolgt durch die Militär-Industrielle Kommission bei dem Präsidium des Ministerrats der UdSSR. Nach Angaben des US-amerikanischen Verdeidigungsministeriums soll die Waffenproduktion in der UdSSR auf 150 Großbetriebe konzentriert sein. Weitere rd. 150 Großbetriebe sollen Ausrüstungsgegenstände, wie Radargeräte, Lastkraftwagen und Fernmeldegeräte herstellen. Die Kernbetriebe der Rüstungsindustrie werden durch tausende von Zulieferbetrieben ergänzt. Die Zahl der in der Rüstungsindustrie Beschäftigten wird auf einige Millionen Personen geschätzt. Gleichfalls US-amerikanische Quellen behaupten, daß etwa die Hälfte des für Forschung und Entwicklung zur Verfügung stehenden Personals für militärische Forschung eingesetzt wird.

Die sowjetische Industrie insgesamt ist durch eine pyramidenartige, vielstufige Struktur gekennzeichnet. Auf den oberen Ebenen der Pyramide befinden sich die Betriebe, die in der volkswirtschaftlichen Prioritätenskala der sowjetischen Planwirtschaft den höchsten Rang einnehmen. Diese Betriebe werden mit den qualitativ besten Ressourcen (Produktions- und Finanzmitteln, Arbeitskräften) ausgestattet. An der Spitze dieser Pyramide stehen die Rüstungsbetriebe.

Der hohe Rang, der der Rüstungsindustrie in der industriellen Prioritätenskala zukommt, hat zu einigen Besonderheiten geführt. Die Rüstungsindustrie erhält die besten Maschinen und Anlagen. In diesem Bereich werden höhere Löhne gezahlt und Sozialleistungen gewährt als in der zivilen Wirtschaft. Die Beschäftigten in Rüstungsbetrieben genießen Vorrang bei der Zuweisung von Wohnungen, die medizinische Versorgung ist besser.

Auch intern unterscheidet sich die Rüstungsindustrie erheblich von anderen Betrieben. Der Vorrang der Waffenbeschaffung ist so angelegt, daß das Verteidigungsministerium einen bestimmenden Einfluß auf die Entwicklung und Produktion neuer Waffensysteme hat. Für zivile Industrien verhält es sich genau umgekehrt. Eines der Hauptprobleme der sowjetischen Industrie ist die Vorherrschaft eines Verkäufermarktes und die Schwäche des Konsumenteneinflusses. Für die Betriebe besteht kein sonderlicher Anlaß, qualitativ den Konsumentenwünschen entsprechende Produkte zu fertigen und zu liefern. Hier unterscheiden sich Rüstungsbetriebe gravierend von der übrigen Wirtschaft.

In den Rüstungsbetrieben herrschen rigide Qualitätskontrollen. Das Militär entsendet Vertreter, die den gesamten Fertigungsvorgang kontrollieren, um sicherzustellen, daß das Rüstungsmaterial den militärischen Anforderungen entspricht. Diese Repräsentanten haben die Aufgabe, Engpässe durch rechtzeitige Bereitstellung von Ressourcen zu vermeiden, die Kostenentwicklung zu überwachen und auf die Einhaltung von Qualitätsstandards zu achten. Die Lieferung qualitativ minderwertiger Teile durch die Zulieferindustrie hat dazu geführt, daß die zuständigen Ministerien daran gingen entsprechende Produktionskapazitäten in den Rüstungsbetrieben aufzubauen und vorzuhalten. Dadurch soll mehr Unabhängigkeit von Zulieferanten und Sicherung der Produktqualität erreicht werden.

Auch der Maschinenpark in Rüstungsbetrieben besteht in der Regel aus modernen, technisch hochwertigeren Produktionsanlagen als in der übrigen Wirtschaft. So verfügen die Betriebe der Luftfahrtindustrie über große Bestände an numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen.

Zentrale Planung und Koordination bildet nur die eine Seite der qualitativ hochstehenden sowjetischen Rüstungsindustrie. Flankiert wird dieses System durch eine Vielzahl vor allem materieller Anreize für die Beschäftigten. Die Notwendigkeit, Anreizmechanismen zu entwickeln, die über die in der Volkswirtschaft bereits vorhandenen hinausgehen, ergibt sich aus den besonderen Arbeitsbedingungen in Rüstungsbetrieben. So schränken strenge Geheimhaltungsvorschriften die Privatsphäre der Beschäftigten über das ansonsten in der Wirtschaft verbreitete Maß weiter ein. Auch lassen sich hochqualifizierte Arbeiter und technisches Leitungspersonal nur bei überdurchschnittlicher Entlohnung gewinnen und motivieren. So liegt der Grundlohn für Arbeiter in der Flugzeugindustrie um ca. 7% über dem im Maschinenbau, wobei die in der Rüstungsfertigung gezahlten Prämien noch nicht eingerechnet sind.

Konversionsplanung in der UdSSR

In seiner vielbeachteten Rede vor der 43. UN-Generalvollversammlung hat Generalsekretär Gorbatschow alle Staaten, vor allem die großen Militärmächte aufgefordert, nationale Konversionspläne vorzulegen und von Wissenschaftlern einen zusammenfassenden Bericht für die UNO erarbeiten zu lassen. Darüberhinaus erklärte er: „Die Sowjetunion ihrerseits ist bereit,

  • im Rahmen der Wirtschaftsreform einen eigenen inneren Konversionsplan aufzustellen;
  • im Verlauf des Jahres 1989 als Experiment Konversionspläne für zwei bis drei Betriebe der Verteidigungsindustrie aufzustellen;
  • ihre Erfahrungen bei der Arbeitsvermittlung für Fachleute aus der Rüstungsindustrie sowie bei der Verwendung der entsprechenden Ausrüstungen, Gebäude und Anlagen für die zivile Produktion zu veröffentlichen.“

Auf dem Volksdeputiertenkongreß ist diese Aussage durch eine Grundsatzentschließung weiter konkretisiert worden: 60% der Waffenkombinate, Bomberproduktionsstätten und Panzerfabriken sollen åkonvertiertï werden. Der Ministerrat wurde aufgefordert, einen Sozialplan und einen Plan für die Umstellung der Rüstungsproduktion auf Konsumgüter vorzulegen.

Zur Behebung der akuten Versorgungsnöte soll die Rüstungsindustrie mitwirken beim Aufbau eines Maschinensystems für Ackerbau und Viehhaltung, damit die Vollmechanisierung der Landwirtschaft abgeschlossen und die Produktivität der ländlichen Bevölkerung gesteigert werden kann. Nach Aussage von Gorbatschow vor der 27. Konferenz der Moskauer Stadtparteiorganisation arbeiten die Rüstungsbetriebe z.Zt. intensiver an Aufträgen für die Leicht- und Lebensmittelindustrie, als an Aufträgen für Kampfflugzeuge.

Die Herstellung ziviler Güter ist für viele sowjetische Rüstungsbetriebe kein unbekanntes Terrain. Auf dem 24. Parteikongreß der KPdSU berichtete Breschnew, daß 42% der von Rüstungsbetrieben hergestellten Güter zivilen Zwecken diene.

Die dem Ministerium für Maschinenbau angegliederten Rüstungsbetriebe liefern seit Jahren ein buntes Sammelsurium verschiedener Zivilprodukte. Jährlich 1000 verschiedene zivile Güterarten werden hergestellt und abgesetzt: 1989 2 Millionen Kühlschränke, 2,6 Millionen Fahrräder, 3 Millionen Waschmaschinen, 700.000 Erzeugnisse der Unterhaltungselektronik, 730.000 transportable Benzinmotorsägen und 440.000 Elektroherde. Selbst so kurios anmutende Produkte wie abwaschbare Tapeten, Lampen und Hockeyschläger werden in Rüstungsbetrieben gefertigt. 1990 soll sich die Produktion ziviler Industriegüter um 50% erhöhen und zwar vorwiegend durch neue Erzeugnisse.

Ob dies gelingen wird, ist mit großen Fragezeichen versehen.

Unabhängig von den Erfolgsaussichten stimten die Teilnehmer des Seminars darin überein, daß

  1. nationale, regionale und betriebliche Umstellungsprogramme bereits hier und heute vorbereitet und ausgearbeitet werden müssen, unabhängig davon, ob international bereits weitergehende Abrüstungsmaßnahmen vereinbart wurden.
  2. Konversionspläne sowohl von staatlicher als auch betrieblicher Seite erstellt werden müssen. Ohne eine staatliche Rahmenplanung wird Konversion weder in der UdSSR noch in der Bundesrepublik realisiert werden können.
  3. Konversion eingebettet sein muß in eine regionale Entwicklungsplanung.
  4. die Voraussetzungen für Konversion in der UdSSR und der BRD sich unterscheiden: In der UdSSR besteht eine unbefriedigte Nachfrage; das Konsumgüterangebot ist unzureichend. In der Bundesrepublik sind die Grundbedürfnisse weitgehend befriedigt und Teile der Märkte gesättigt.

Zwischen den bundesdeutschen und den sowjetischen Teilnehmern ist vereinbart worden, in der näheren Zukunft gemeinsame Fallstudien zur Konversion auf betrieblicher und regionaler Ebene zu erarbeiten. Zur Weiterführung dieser Arbeit wird eine Gruppe von Betriebsräten und Grünen im Herbst in die Sowjetunion reisen.

Christa Vennegerts ist Bundestagsabgeordnete der Grünen; Dietmar Pietsch, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion.

Trojanische Pferde des Westens?

Trojanische Pferde des Westens?

Russlands »Denkfabriken« – Masse statt Klasse

von Peter Linke

In den letzten Jahren schossen sie wie Pilze aus dem Boden – politische »Denkfabriken« verschiedenster Coleur: politologische Forschungszentren, die den innen- und außenpolitischen Gegebenheiten Russlands intellektuell Gestalt und Struktur verleihen möchten; Meinungsforschungsinstitute, die behaupten zu wissen, was Russlands »große« und »kleine« Leute wirklich denken; Consulting-Agenturen, die mit vermeintlichem Insider-Wissen das große Geld verdienen wollen.

Denkfabriken sind in, gelten als anstrebenswerte Karriere-Option: Allein in den letzten fünf Jahren hat sich der »Ausstoß« von Aspiranten und Doktoranten im Fachbereich Politologie verdreifacht; entsprechend zugenommen hat die Zahl erfolgreich verteidigter Dissertationen.1 Selbst für viele Politiker und Manager gehört es inzwischen zum guten Ton, ein »Doktor der Gesellschaftswissenschaften« zu sein.

Vor allem westliche Beobachter feiern Russlands neue »Denkfabriken« als Keimzellen wahrhaft pluralistisch-demokratischer Umgangsformen zwischen den Menschen nach Jahrzehnten totalitärer Gleichschaltung.2

Rückblick: Die sowjetischen Denkfabriken

»Denkfabriken« gab es freilich schon in der Sowjetunion. Und Außen- bzw. Wirtschaftspolitik war ihr bevorzugter Arbeitsgegenstand: Konfrontiert mit Nikita Chruschtschows Forderung nach Koexistenz und Wettbewerb mit dem kapitalistischen Westen, kam die Partei- und Staatsführung nicht umhin, sich für die konkreten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs zu interessieren. Der wachsenden Nachfrage nach entsprechenden Analysen entsprach das Sekretariat der Akademie der Wissenschaften der UdSSR im Frühjahr 1956 mit der Gründung eines »Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen« (IMEMO).

Die zunehmende Globalisierung der sowjetischen Außenpolitik und daraus resultierende Konfrontation mit den USA veranlasste die Akademie der Wissenschaften in den späten fünfziger und sechziger Jahren, eine Reihe regionalspezifischer Forschungseinrichtungen ins Leben zu rufen, darunter 1959 ein Afrika-Institut (IA), 1961 ein Lateinamerika-Institut (ILA), 1961 ein Institut zur Erforschung der Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems (IEMSS) sowie 1966 ein Fernost-Institut (IDW). 1967 kam es zur Gründung eines speziellen Instituts für USA- und Kanada-Studien (ISKAN). Zunächst befasst mit komplexen Untersuchungen zur wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung Nordamerikas, avancierte es später in enger Zusammenarbeit mit dem IMEMO zur zentralen sowjetischen »Denkfabrik« für strategische und konventionelle Rüstungsangelegenheiten, Umweltfragen sowie »Nord-Süd«-Beziehungen. Schließlich und endlich reagierte die Akademie auf die wachsende wirtschaftliche und politische Integration Westeuropas mit der Schaffung eines so genannten Europa-Instituts (IEAN) im Jahre 1988.

Während sich all diese Institute ausschließlich Forschungsaufgaben widmeten, kümmerte sich das 1944 gegründete Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) um die Ausbildung des außenpolitischen Nachwuchses, versorgte aber auch seinen Arbeitgeber, das sowjetischen Außenministerium (MID), regelmäßig mit aktuellen Analyse-Papieren, die in einem so genannten Problem-Laboratorium erarbeitet wurden.

„Die Rolle der sowjetischen Denkfabriken bei der Formulierung innen- und außenpolitischer Leitlinien sollte weder über- noch unterschätzt werden“, resümiert Mitte der neunziger Jahre ein langjähriger Mitarbeiter des IDW. „Führende Forschungsinstitute nahmen sowohl im akademischen als auch politischen Leben eine prominente Stellung ein. Die Direktoren des IMEMO und ISKAN waren Mitglieder des Zentralkomitees der KPdSU und verbrachten viel Zeit damit, Veränderungen in der Politik und daraus resultierende »heiße« Forschungsthemen auszumachen. Sie gehörten hochrangigen offiziellen Delegationen an. Die meisten Direktoren von Forschungsinstituten unterhielten persönliche oder berufliche Beziehungen zu altgedienten ZK-Mitgliedern. Die staatliche Entscheidungsfindungsmaschine war jedoch so ungeheuer groß und rigide, dass es eher schwer fällt, von einer direkten Einflussnahme selbst führender »Denkfabriken« auf den Prozess der Entscheidungsfindung zu sprechen.“3

Den Anfang vom Ende der Dominanz akademischer »Denkfabriken« bei der Erarbeitung außen- und wirtschaftspolitischer Konzepte läutete Michail Gorbatschows Perestrojka ein. Angesichts des ungeheuren Problemdrucks erschienen dem neuen Kreml-Herrn die überkommenen Forschungseinrichtungen als Dinosaurier: zu groß, zu langsam, zu wenig anpassungsfähig. Gefordert wurden schlanke und geschmeidige Strukturen, in denen nicht Hunderte, sondern einige wenige Analysten, nicht langfristig, sondern kurzfristig, nicht akademisch komplexe, sondern praktisch verwertbare Studien auf den Tisch packen.

1990: Tendenz zu nichtakademischen Denkfabriken

Zu den ersten »Denkfabriken«, die versuchten, politische Analyse-Arbeit jenseits der etablierten akademischen Strukturen zu organisieren, gehörten das 1990 von Ex-Premier Jegor Gajdar gegründete Institut für wirtschaftliche Probleme der Übergangsperiode (IEPPP), das im gleichen Jahr von JABLOKO-Chef, Grigorij Jawlinskij, initiierte Zentrum für wirtschaftliche und Politische Studien (EPIzentr) sowie die 1991 von Ex-Außenminister Eduard Schewardnadse ins Leben gerufene Außenpolitische Assoziation (WA), unter dessen Dach eine Reihe lose miteinander verbundene Analysten-Gruppen zu sicherheitsstrategischen, ethnopolitischen und ökologischen Problemen zu arbeiten begannen.

Diese und weitere, insbesondere nach dem Ende der Sowjetunion entstandene nicht-akademische »Denkfabriken« – allen voran das 1992 von Präsident Boris Jelzin per Dekret gegründete Russische Institut für Strategische Studien (RISI)– sollten den traditionellen Forschungsinstituten das Leben merklich erschweren.

Unterfinanzierung der Akademien

Hinzu kamen erhebliche finanzielle Probleme: Waren bis Ende der achtziger Jahre 97 Prozent aller Forschungsmittel aus dem Staatshaushalt gekommen, sollten es 1999 nur noch 49 Prozent sein.4 Im Jahre 2000 standen der Russischen Akademie der Wissenschaften knapp 300 Millionen US-Dollar zur Verfügung, was rund 18 Prozent der Budgetmittel der Akademie der Wissenschaften der UdSSR entsprach. Von diesen 300 Millionen kamen 29 Prozent aus nicht-staatlichen Quellen, 6,7 Prozent aus Mieteinnahmen und 12,1 Prozent aus diversen Ministerien.5 Mit anderen Worten: dem Russischen Staat war seine Akademie der Wissenschaften nicht mehr als 150 Millionen US-Dollar wert.

Die chronische Unterfinanzierung der Akademie der Wissenschaften bewirkte in den letzten Jahren eine nachhaltige Fragmentierung großer Forschungsinstitute in diverse Forschungszentren, deren Handvoll Mitarbeiter eher »Projekt-Manager« denn Forscher sind.

Wachsende Auslandsabhängigkeit

Beschleunigt wird diese Entwicklung durch diverse ausländische Geldgeber, die es in der Regel vorziehen, mit kleinen, überschaubaren Analyse-Strukturen zusammenzuarbeiten. Einige Studien beziffern den Anteil ausländischer Investitionen in russische Forschungsprojekte für das Jahr 1999 mit 16,9 Prozent.6 Andere unterstreichen das besondere Engagement US-amerikanischer Finanziers, die seit Mitte der neunziger Jahre Russlands Wissenschaftler mit jährlich 350 Millionen US-Dollar unterstützt haben sollen.7

Auf alle Fälle unbestritten ist die hohe Abhängigkeit vieler, insbesondere in den neunziger Jahren entstandener politologischer Forschungszentren von ausländischen Geldgebern.8 Nur wenige, wirklich etablierte »Denkfabriken« wie das RISI werden großzügig aus dem Staatshaushalt finanziert oder aus den Töpfen der russischen Privatwirtschaft, wie das Anfang 2002 von Michail Chodorkowskij aus der Taufe gehobene Institut für Angewandte Internationale Studien (IPMI).

Präsident Wladimir Putin hat wiederholt klargestellt, dass Russlands Reformbemühungen ohne Spitzenleistungen auf wissenschaftlich-technischem Gebiet zum Scheitern verurteilt sind. Mit der unlängst erfolgten Gründung eines Ministeriums für Wissenschaft und Bildung sollen die personellen Voraussetzungen für derartige Spitzenleistungen geschaffen werden. Allerdings: Über den Zusammenhang zwischen erfolgreicher Reformpolitik und humanwissenschaftlicher Forschung hat Russlands Staatsoberhaupt bisher kaum ein Wort verloren.

Die offensichtliche präsidiale Geringschätzung humanwissenschaftlicher Forschung manifestiert sich nicht zuletzt in der Tätigkeit russischer politischer »Denkfabriken«.

Natürlich gibt es einige, die meinungsbildend bis in »höchste Kreise« wirken und deshalb zu recht als sichere »Karriere-Bank« gelten, etwa das bereits erwähnte RISI, aber auch die Ende 1999 von Handels- und Wirtschaftsminister German Gref gegründete Stiftung »Zentrum für strategische Studien« (F-ZSR).

Auch scheinen einige der neu gegründeten quasi-akademischen »Forschungszentren« den Sprung ins pralle Leben geschafft zu haben, wie das 1992 aus dem IMEMO hervorgegangene Zentrum für geopolitische und militärische Prognosen (ZGWP) oder das unter dem Dach des Afrika-Instituts operierende Zentrum für Strategische und Globale Studien (ZSGI).

Selbst das MGIMO hat dank geschickter Kommerzialisierung seiner Lehrangebote seine Stellung als führende außenpolitische Kaderschmiede gegen eine Reihe neu gegründeter IP-Lehrstühle, insbesondere an den Universitäten Moskau, Sankt Petersburg und Nishnij Now-gorod, behaupten können.

Gleichzeitig bleibt die Abhängigkeit dieser und vieler anderer »Denkfabriken« von westlichen, vor allem US-amerikanischen Geldgebern enorm, was sich alles andere als positiv auf die intellektuelle Qualität ihrer »Produkte« auswirkt: „Russlands Wissenschaftler“, grollt der bekannte Politologe Alexej Bogaturow, „ beschränken sich darauf, unsere lokalen Realitäten in eine für westliche Sponsoren und ausländische Leser verständliche Sprache zu übersetzen.“9 Die „westliche Politikwissenschaft“ sei gut für den Westen; das „russische Material“ ließe sich damit nur bedingt bearbeiten. Nötig wäre eine „russische Theorie“, von deren Erarbeitung Russlands Wissenschaftler allerdings nichts wissen wollten. Bogaturow: „Zehn Jahre lang haben wir ausländische Konzepte übernommen. Nun wissen wir, dass westliche Theorien wenig dazu taugen, die in Russland laufenden Prozesse zu erklären. Die westlichen Theorien erwuchsen einem anderem Material, erklärten erfolgreich Realitäten, die für andere politische und geographische Areale charakteristisch waren. Im russischen Kontext konnten sie nur als Ausgangspunkt für eigene Ausarbeitungen dienen. In diesen Ausarbeitungen hätten die Ideen westlicher Kollegen kritisch verarbeitet, der Anwendungsbereich ihrer theoretischen Konstrukte erkundet und revidiert werden müssen, um neues theoretisches Wissen zu generieren. Die Pflicht der russischen Intellektuellen bestand nicht darin, westliches Wissen zu übernehmen und zu propagieren, sondern dem Westen zurückzugeben, was sie ihm intellektuell schuldig waren. Durch Einspeisen originärer (wenngleich, erkenntnistheoretisch betrachtet, durchaus westlicher) Ausarbeitungen in den westlichen Diskurs hätten wir uns nicht nur Klarheit darüber verschafft, inwieweit sich die russische Erfahrung mit den intuitiven Erwartungen des politischen Denkens verträgt, sondern auch Erklärungsvarianten für das geliefert, was in Russland bzw. zwischen Russland und der Welt an realer Entwicklung passiert. An dieser Aufgabe ist unsere Wissenschaft gescheitert. Und sie wird an ihr solange scheitern, bis sie aufhört zu glauben, nur fremde Erfahrungen aufnehmen zu können, Erfahrungen, deren Studium zum Selbstzweck politologischen Eiferns geworden ist. In Wissenschafts- und Bildungszentren der Hauptstadt und der Provinz erweist es sich als prestigeträchtiger, leichter und materiell vorteilhafter, westliche Bücher nachzuerzählen und Studenten zu zwingen, diese auswendig zu lernen, anstatt sich am lebendigen Material der russischen Wirklichkeit die Zähne auszubeißen.“10

Einige gehen noch weiter: Aufgabe russischer Wissenschaftler sei nicht, »westliche Theorie« mit »russischer Theorie« zu verfeinern, sondern zur Herausbildung einer wirklichen »Weltwissenschaft« beizutragen. Bogaturow gehe es lediglich um das lockere Miteinander zweier partikularer, lokaler Varianten wissenschaftlichen Bewusstseins. Nach Meinung des renommierten Historikers und Politikwissenschaftlers Marat Tscheschkow sei dies ebenso kurzsichtig wie gefährlich: Bogaturow reduziere die „westliche Wissenschaft“ auf eine „lokale Erfahrung“, während er die „russische Wissenschaft“ auf die Analyse des „Eigenen“ als das „Besondere“ festnagele. „Im »Eigenen« müssen sich jedoch nicht nur besondere, sondern auch allgemeine Eigenschaften widerspiegeln. Nur so wird das russische wissenschaftliche Bewusstsein die Welt als Ganzes verstehen – oder anders ausgedrückt – die Welt an sich, und nicht nur sich in der Welt verstehen.“11 Bogaturows intellektueller Provinzialismus, sein Insistieren auf die Etablierung einer »russischen Wissenschaft« parallel zur »Wissenschaft des Westens« offenbare einen Autarkismus- und Selbstgenügsamkeitskomplex, an dem das russische wissenschaftliche Denken lange genug gelitten habe.

Während die Gelehrten streiten, machen westliche Sponsoren Nägel mit Köpfen, etwa in Form eines Programms für »zwischenregionale gesellschaftswissenschaftliche Studien«.12 Von russischen Beobachtern als Versuch gefeiert, in Russland eine „aktive, schöpferische und nicht rein »vermittelnde« Wissenschaft“ zu entwickeln,13 ist dieses im April 2000 von der Washingtoner Carnegie-Stiftung initiierte und inzwischen neun »zwischenregionale gesellschaftswissenschaftliche Institute« oder »Centers for Advanced Studies and Education« (MION) umfassende Programm nicht mehr und nicht weniger als der arrogante Versuch einer nachhaltigen Westernisierung der in Russland laufenden gesellschaftswissenschaftlichen Debatte.

Dass sie auch künftig nicht davon abrücken werden, die Güte russischer Gesellschaftsanalysen am Grad ihrer Westernisierung festzumachen, daran lassen insbesondere US-amerikanische Geber-Institute keinen Zweifel. Wie formulierte es doch unlängst die Präsidentin der Carnegie-Stiftung, Jessica Tuchman Mathews: „Ganz allgemein verbessert sich die Qualität russischer Politik-Analysen, da sich die Forscher zunehmend westlicher/internationaler Forschungs- und Politik-Analyse-Mittel bedienen …“14

Anmerkungen

1) Siehe Andrej Jurewitsch: Retransljator sapadnych konzepzij. In: Nesawisimaja Gaseta, Moskwa, 09.06.2004.

2) Siehe z.B. Jessica Tuchman Mathews: Russian Think Tanks. In: Vedomosti, February 16, 2004 (http:// www.ceip.org/files/publications/2004-02-16-mathews-vedemosti.asp).

3) Vladimir Yakubovsky: A Short History of Russian Think Tanks. In: NIRA Review, Tokyo, Winter 1995 (http:// www. nira.go.jp/publ/review/95winter/yakubo.html).

4) Katri Pynnöniemi: Russian Foreign Policy Think Tanks in 2002. UPI Working Papers 38, Helsinki 2003, p. 2.

5) Irina Sandul: A time of self-discovery for the Academy. In: The Russian Journal, June 14-20, 2002, p. 9 – zitiert nach ebenda.

6) Siehe z.B. Irina Dezhina, Loren Graham: Russian Basic Science After Ten Years of Transition and Foreign Support. Carnegie Endowment Working Papers, Number 24, Washington DC, February 2004, p. 29.

7) Pynnöniemi: Russian Foreign Policy Think Tanks…, p. 4.

8) Ebenda.

9) Alexej Bogaturow: Desjat let paradigmy oswoenija. In: Pro et Contra, Moskwa, Bd. 5, No. 1, Winter 2000, S. 198.

10) Ebenda, S. 200.

11) Marat Tscheschkow: Bolesn serjosneje, tschem kashetsja. In: Ebenda, Bd. 5, No. 3, Sommer 2000, S. 199.

12) Siehe Andrej Kortunow, Irina Laktionowa: Gumanitarii objedinjajutsja po setewomu prinzipu. In: Nesawisimaja Gaseta, 14.04.2004.

13) Jurewitsch: s.o.

14) Tuchman Mathews: s.o.

Peter Linke arbeitet als freier Journalist in Berlin