Die Türkei im östlichen Mittelmeer

Die Türkei im östlichen Mittelmeer

Machtkampf um Ressourcen und Einfluss

von Gülistan Gürbey

Die Entdeckung von Erdgasfeldern im östlichen Mittelmeer hat die geopolitische Dynamik in der Region erheblich beeinflusst. Die Anrainerstaaten, insbesondere die Türkei, Griechenland, Zypern, Israel und Ägypten, befinden sich im Wettstreit um die Kontrolle und Ausbeutung dieser Ressourcen. Die Türkei hat mit ihrem konfrontativen Vorgehen, darunter militärische Drohgebärden und Erdgasexplorationen unter türkischer Kriegsmarinebegleitung, die Spannungen verschärft. Dieser Beitrag analysiert die Position der Türkei in diesem Konflikt, unter Berücksichtigung ihrer Interessen, Ziele und weiterer Einflussfaktoren.

Unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hat sich die Außenpolitik der Türkei seit 2002 rasant verändert. Dies zeigt sich in einem neuen ideologischen und strategischen Selbstverständnis sowie dem Streben nach regionaler und globaler Dominanz. Der regionale Machtradius der Türkei hat sich erheblich erweitert und der Einfluss der Türkei hat regional und international sichtbar zugenommen. In ihrer Außen- und Sicherheitspolitik setzt die Türkei unter Erdoğan auf strategische Autonomie, einen Mix aus politischen und militärischen Mitteln, einschließlich einer erhöhten Bereitschaft zum Einsatz militärischer Gewalt, und eine fluide Bündnispolitik. Die Beziehungen zu westlichen Verbündeten (NATO, USA, EU) sind darin zweitrangig (Gürbey 2023). Ein Konfliktfeld, auf dem sich dieser neue Machtanspruch zeigt, sind die Konflikte um fossile Ressourcen unter dem östlichen Mittelmeer.

Konkurrenz um Energierohstoffe im östlichen Mittelmeer

Seit 2009 hat die Entdeckung großer Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer einen intensiven Wettbewerb um deren Nutzung ausgelöst. Funde wie »Tamar« (2009), »Leviathan« (2010), »Aphrodite« (2011), »Zohr« (2015) und »Calypso« (2018) machen die Region zu einem potenziellen Energielieferanten für Anrainerstaaten und Europa. Jedoch verschärft sich der Streit um maritime Grenzen und Interessen im östlichen Mittelmeer, insbesondere zwischen der Türkei, Griechenland und Zypern. Das zentrale Problem liegt im Streit über die Abgrenzung der Interessensphären im Meeresgebiet, insbesondere in Bezug auf maritime Interessen, Luft- und Seegrenzen sowie den Status griechischer Inseln in der Ägäis und im Mittelmeer. Dieser langjährige Konflikt wurde durch die jüngsten Erdgasfunde erneut entfacht (Meinardus 2022).

Die völkerrechtliche Basis für die Festlegung von Wirtschaftszonen bis zu 200 Seemeilen vor der Küste beruht auf dem UN-Seerechtsübereinkommen von 1982, das 1994 in Kraft trat. Jedoch ist die Abgrenzung im östlichen Mittelmeer komplex, da benachbarte Staaten, gegenüberliegende Nationen und ein Inselstaat in einem geographisch engen Raum involviert sind. Die Türkei ist dem UN-Übereinkommen nicht beigetreten und legt ihren Ansprüchen auf den Zugriff eigene Interpretationen der Abgrenzung von Wirtschaftszonen zugrunde, insbesondere bezüglich der Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) von Inseln.

Im Konflikt um die Abgrenzung der Wirtschaftszonen in der Ägäis und im Mittelmeer zwischen der Türkei und Griechenland wurden seit 2002 informelle Sondierungsgespräche zwischen den beiden Staaten geführt, um eine Basis für Verhandlungen zu schaffen. Diese Sondierungsgespräche über die Grenzen in der Ägäis mit über 2.400 Inseln und wichtigen Hochseeschifffahrtsrouten brachten bis März 2016 keine Einigung, als die Türkei die Verhandlungen abbrach.

Im Streit um die AWZ fordert die Türkei, nur die Küstenlinien des Festlandes zur Abgrenzung zu berücksichtigen, nicht die von Inseln. Die türkische Position behauptet, Inseln hätten keinen Festlandsockel, daher habe Zypern als Inselstaat keine Rechte auf eine eigene AWZ. Griechenland beansprucht gemäß der UN-Seerechtskonvention für jede Insel eine eigene AWZ und kritisiert türkische Erkundungen vor griechischen Inseln demnach als illegale Unternehmungen.

Die Türkei erkennt die Republik Zypern nicht an, behandelt jedoch die – nur von ihr selbst anerkannte – Türkische Republik von Nordzypern (TRNZ) als souveränen Staat. Ankara lehnt es strategisch ab, die Erdgassuche zu beenden, bevor die Zypernfrage gelöst und die TRNZ einbezogen ist. Obwohl die Türkei behauptet, Inseln könnten keine Ausschließlichen Wirtschaftszonen beanspruchen, schloss sie im September 2011 ein Abkommen mit der TRNZ über die Anerkennung von AWZ und beauftragte ihr staatseigenes Energieunternehmen TPAO mit Probebohrungen zwischen Nordzypern und der türkischen Südküste.

Die Türkei hat Schwierigkeiten mit den vielen griechischen Inseln in der Ägäis, die sie als Fortsetzung des anatolischen Festlandes betrachtet. Beispielsweise beansprucht die Insel Kastelorizo, die über 500 Kilometer von Athen entfernt vor der türkischen Küste liegt, ein Seegebiet von 200 Seemeilen. Ankara erkennt weder den griechischen Anspruch auf einen Festlandssockel südlich von Kreta und um die Dodekanes-Inselgruppe mit Rhodos an, noch bilaterale Verträge anderer Anrainerstaaten (wie beispielsweise zwischen Zypern und Ägypten, Libanon und Israel) auf Grundlage der UN-Seerechtskonvention.

Eskalationsdynamik ab 2019

Ankara sieht den Status quo in der Ägäis bedroht, wenn Athen das Recht zur Ausdehnung seiner Küstenzonen von 6 auf 12 Seemeilen anwenden würde. Die Türkei erklärte dies bereits 1995 als »casus belli«, da eine Ausdehnung der griechischen Hoheitsgewässer zu einem Verlust des freien Zugangs zum offenen Meer und zu strategisch wichtigen Seewegen führen würde. Dies wäre besonders kritisch, wenn griechische Ansprüche im Seegebiet zwischen Rhodos und Zypern erweitert würden. Dann würde sich die griechische Zone so weit nach Osten strecken, dass sie mit der von Zypern beanspruchten AWZ zusammenstieße und damit eine von Athen und Nikosia gewünschte gemeinsame AWZ entstehen würde. Um dies zu verhindern, reagiert die Türkei mit Eskalation, indem sie Bohrungen in den umstrittenen Zonen durchführt, in denen die AWZ von Griechenland, Zypern und Ägypten verlaufen.

Das 2019 von Anrainerstaaten, darunter Griechenland, Zypern, Israel und Ägypten, gegründete »Eastern Mediterranean Gas Forum« (EMGF), das darauf abzielen sollte, die Energie- und Sicherheitssituation in der Region zu verbessern, sieht die Türkei als Bedrohung und setzte militärische Maßnahmen ein, um die von Zypern beauftragten Erkundungen zu stoppen. Sie schickte eigene Forschungs- und Bohrschiffe in die umstrittenen Meeresgebiete und die Ausschließlichen Wirtschaftszonen von Zypern und Griechenland, um den Druck zu erhöhen. Die Regierung verknüpfte geschickt die geopolitische Rivalität im östlichen Mittelmeer mit ihrer Libyen-Politik. Als Reaktion auf das Gasforum EMGF schloss die Türkei im November 2019 ein umstrittenes bilaterales See- und Militärabkommen mit der international anerkannten islamistisch ausgerichteten Regierung in Libyen ab, die im Libyen-Konflikt von der Türkei durch Waffenlieferungen und Söldnertruppen aus Syrien unterstützt wird (Deutscher Bundestag 2020). Die Vereinbarung mit Libyen sicherte diesem militärische Unterstützung durch die Türkei zu und definierte im Gegenzug eine gemeinsame exklusive Wirtschaftszone beider Staaten, die sich von der Türkei bis Nordafrika erstreckt. So konnte die Türkei einen großen Teil des östlichen Mittelmeeres für sich beanspruchen. Innerhalb dieses festgelegten Seekorridors befinden sich griechische Inseln wie Kreta, Kassos, Karpathos und Rhodos. Griechenland, Zypern und Ägypten lehnen das türkisch-libysche Abkommen aus naheliegenden Gründen jedoch ab.

Im Mai 2020 kündigte die Türkei an, vor den griechischen Inseln Kreta, Karpathos und Rhodos nach Öl zu bohren. Begleitet von Kriegsschiffen durchquerten ihre Bohrschiffe die von beiden Seiten beanspruchte Region. Die Spannungen eskalierten im Sommer 2020, woraufhin Deutschland, die EU und die NATO Deeskalationsbemühungen unternahmen (NATO 2020). Die Türkei unterbrach vorübergehend ihre Gasbohrungen in den umstrittenen Meeresgebieten, um einer militärischen Konfrontation mit Griechenland vorzubeugen. Die EU reagierte mit Teilsanktionen, darunter teilweise Kürzungen von EU-Finanzmitteln und Sanktionen gegen Beteiligte an den türkischen Bohrungen (Europäischer Rat 2020). Die türkische Regierung drohte, die seit März 2016 bestehende Flüchtlingsvereinbarung mit der EU zu kündigen, und erhöhte den Druck, indem sie im März 2020 vorübergehend ihre Grenze zu Griechenland für Flüchtlinge öffnete.

Hegemoniale Bestrebungen und strategische Interessen

Die Türkei verfolgt im östlichen Mittelmeer mehrere strategische Ziele. Erstens strebt sie Energieautonomie an, um ihre Abhängigkeit von externen Quellen zu verringern. Zweitens sieht sie die Erdgasvorkommen als wirtschaftliche Chance, um die nationale Wirtschaft zu stärken. Drittens verfolgt sie eine geopolitische Agenda zur Festigung ihrer regionalen Einflussnahme. Die türkische Regierung setzt verschiedene Mittel ein, darunter militärische Konfrontationen, die durch Drohkulissen und Erdgasexplorationen unter Begleitung von Kriegsmarine geprägt sind. Dieser militärische Ansatz dient der Abschreckung und Sicherung von Verhandlungsmacht und ist Teil einer umfassenden hegemonialen Strategie, die regionale Dominanz und Vorherrschaft unter Einsatz von militärischen Mitteln anstrebt.

Aus türkischer Sicht ist die Konkurrenz um die Ausbeutung der Energieressourcen eng mit den neo-osmanischen Ambitionen und Interessen der türkischen Regionalpolitik verbunden. Das ideologische Fundament dieser Politik kombiniert extremen türkischen Nationalismus, Islamismus und Neo-Osmanismus, und ist gekennzeichnet durch eine Rückbesinnung auf die Geschichte und die imperiale Größe des Osmanischen Reiches. Das Ziel ist die Ausweitung des Machtradius auf die ehemals osmanisch beherrschten Gebiete, wobei die Türkei als hegemoniale Führungsmacht positioniert wird. Die Türkei setzt militärische Mittel ein, um ihre Interessen im Irak, Syrien, Libyen, Bergkarabach und im östlichen Mittelmeer durchzusetzen (van Heukelingen und Deen 2022, Deutscher Bundestag 2019, Gürbey 2018). Die aktive Einmischung unter Anwendung militärischer Gewalt ist Teil des neuen türkischen Konzepts der Vorneverteidigung, das für die eigene Sicherheit und Durchsetzung der Interessen als essenziell betrachtet wird. Diese Strategie wird auch im östlichen Mittelmeer angewendet, wobei Ankara darauf besteht, dass nur ein schlagkräftiges Militär die nationalen Interessen sichern kann. Die Politiken im östlichen Mittelmeer, in Libyen und in Syrien sind daher eng miteinander verflochten und bilden gemeinsam elementare Bausteine des größeren neoosmanisch-hegemonialen Konzepts.

Die maritime Dimension dieser Strategie ist die Militärdoktrin »Mavi Vatan« von 2006, die Ankaras politisch-militärische Agenda für das kommende Jahrzehnt manifestiert. Sie positioniert die Türkei als aufstrebende Seemacht mit Präsenz in den drei Meeren (Schwarzes Meer, Ägäis, Mittelmeer), in denen nationale Interessen durchgesetzt werden sollen. Das Verteidigungskonzept basiert auf einer starken Machtprojektion, die vorsieht, dass die Türkei am Horn von Afrika und am Persischen Golf ihre nationalen Interessen in einer erweiterten Einflusszone verfolgt. Diese Machtprojektion wird durch den permanenten und rasanten Ausbau der Militärtechnologie und Rüstungsindustrie unterstützt, um die Luft-, Land- und Seestreitkräfte gezielt zu stärken. Die Türkei treibt die Entwicklung eigener Waffensysteme, Raketen, Panzer und sogar ein eigenes Raumfahrtprogramm voran, um die Abhängigkeit vom Westen zu reduzieren (Bastian 2024, Yanarocak 2020).

Anzeichen einer Entspannung?

Aufgrund der zunehmenden Isolation und der Wirtschafts- und Währungskrise bemüht sich die türkische Regierung seit 2021, die beschädigten Beziehungen zu Nachbarländern wie Ägypten, Israel, Vereinigte Arabische Emirate und Saudi-Arabien wiederherzustellen. Dies soll eine weitergehende Isolation durch regionale Veränderungen, insbesondere durch die seit 2020 sich anbahnenden neuen Allianzen zwischen Israel und den Golfstaaten, vermeiden und Investitionen aus Saudi-Arabien oder den Emiraten sichern, die für die Bewältigung der gegenwärtigen Krisen wichtig sind.

Auch mit Griechenland ist eine Entspannung im Gange. Seit Ende Februar 2022 gab es mehrere Treffen auf höchster Ebene, um bilateral und international zusammenzuarbeiten und gemeinsame Projekte in Bereichen wie Energie und Tourismus zu vereinbaren. Die Militärs beider Staaten wollen die Manöver in der Ägäis auf das absolute Minimum beschränken. Eine Entspannung zwischen der Türkei und Griechenland ist für die NATO von geostrategischer Bedeutung, ebenso wie für die USA und die EU. Die USA haben ihre militärische Zusammenarbeit mit Griechenland in den letzten Jahren intensiviert und US-Stützpunkte in Mittel- und Nordgriechenland sowie auf Kreta errichtet und erweitert. Aus Sicht des NATO-Bündnisses ist es wichtig, eine Schwächung der Südostflanke durch die Streitigkeiten zwischen den beiden Nachbarstaaten zu vermeiden, insbesondere angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine.

Fazit

Die Situation im östlichen Mittelmeer ist geprägt von einem komplexen Ringen um Ressourcen und Einfluss. Die Türkei verfolgt dabei eine hegemoniale Strategie, um nicht nur im östlichen Mittelmeer, sondern auch in anderen regionalen Konflikten eine führende Rolle spielen zu können. Die geopolitische Situation im östlichen Mittelmeer erfordert eine umfassende regionale Stabilitätspolitik mit Beteiligung vieler Länder, da bilaterale Verhandlungen allein nicht ausreichen. Die Türkei hat eine wichtige Rolle in der von den USA geführten Strategie, die darauf abzielt, Russland und China einzudämmen sowie ein Bündnis zwischen Russland, China und dem Iran zu verhindern. Diese Rolle gibt der Türkei Spielraum und stärkt die Position der Regierung. Trotz Kursänderungen werden Präsident Erdoğan und seine Regierung weiterhin bestrebt sein, diesen Spielraum maximal und eigenständig zu nutzen, um ihre geopolitischen Interessen durchzusetzen, dabei aber Zielkonflikte mit dem Westen kontrolliert zu halten. Bei einem Regierungswechsel in der Türkei wäre eine verbesserte Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit in den Beziehungen zu westlichen Partnern zu erwarten. Dies könnte sich positiv auf die Zusammenarbeit mit der Türkei auswirken und ihre Bereitschaft erhöhen, gemeinsame Lösungen zu finden.

Literatur

Bastian, J. (2024): Turkey: An emerging global power. SWP Comment. Berlin, Februar 2024.

Deutscher Bundestag (2019): Völkerrechtliche Aspekte der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ in Nordsyrien. Wissenschaftliche Dienste, WD 2-3000-116/19, 17. Oktober 2019.

Deutscher Bundestag (2020): Seevölkerrechtliche Bewertung der türkisch-libyschen Vereinbarung über die Abgrenzung ihrer maritimen Interessenssphären im östlichen Mittelmeer. Wissenschaftliche Dienste, WD 2-3000-143/19, 17. Januar 2020.

Europäischer Rat (2020): Außerordentliche Tagung des Europäischen Rates (1.- 2.10) – Schlussfolgerungen. EUCO 13/20, Brüssel, 2.10.2020.

Gürbey, G. (2018): Türkische Militäroffensiven in Syrien: Im Dienst des Friedens oder neo-osmanischer Expansionismus? Südosteuropa Mitteilungen, Nr. 3, S. 44-61.

Gürbey, G. (2023): Die Außenpolitik der „neuen Türkei“. Zwischen hegemonialem Anspruch und Anpassungsdruck. APuZ 40-41, S. 28-34.

Meinardus, R. (2022): Neue Spannungen in der Ägäis. Kein Platz für Griechenland in Erdogans „Charme-Offensive“. Qantara.de, 2.3.2022.

NATO (2020): Military de-confliction mechanism between Greece and Turkey established at NATO. Pressemitteilung, 1.10.2020.

van Heukelingen, N.; Deen, B. (2022): Beyond Turkey’s ‘zero problems’ policy. Motives, means and impact of the interventions in Syria, Libya and the South Caucasus. Clingendael – the Netherlands Institute of International Relations. Policy Brief, Januar 2022.

Yanarocak, H. E. C.(2020): Turkey’s giant leap: Unmanned aerial vehicles. Turkeyscope 4(6), Juli-August 2020.

PD Dr. Gülistan Gürbey ist habilitierte Politikwissenschaftlerin und Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Sie promovierte beim Zeithistoriker Prof. Dr. Dr. Karl-Dietrich Bracher und habilitierte beim Friedensforscher Prof. Dr. Ernst-Otto Czempiel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Frieden und Konflikte in Nahost, Türkei, Zypern, Kurden, Irakisch-Kurdistan, Irak, Syrien.

Türkei bombt IS zurück


Türkei bombt IS zurück

von Jürgen Nieth

Am 9. Oktober überschritt die türkische Armee zum dritten Mal seit 2016 die Grenze zu Syrien. „Ermöglicht hat dieses blutige Spektakel Donald Trump.“ Indem er seine Soldaten aus der Region abzog, ermutigte er „Erdogan zum Völkerrechtsbruch. Amerika schaut nun dabei zu, wie sich zwei seiner Bündnispartner bekriegen. Noch vor einem Jahr hatte Trump geschwärmt: »Die Kurden sind ein großartiges Volk. Sie kämpften und starben mit uns. Wir haben Zehntausende von ihnen im Kampf gegen ISIS verloren. Ich kann Ihnen sagen, dass ich das nicht vergesse«.“ (Livia Gerster in FAS 13.10.19, S. 8) An anderer Stelle heißt es bei Gerster: „Die syrischen Kurden hatten alles unternommen, um Erdogan keinen Anlass zur Intervention zu geben. Sie haben militärische Anlagen abgebaut, Bunker gesprengt und alle Bedingungen der Amerikaner erfüllt, um eine türkische Offensive abzuwenden.“ Verteidigungsanlagen, die sie jetzt bitter vermissen.

Schon nach fünf Tagen Krieg schätzt das UN-Nothilfeprogramm Ocha, dass 130.000 Menschen […] seit Beginn der Kämpfe vertrieben wurden“ (FR 14.10.19, S. 5). Andere sprechen von über 200.000. Hunderte wurden bereits getötet, darunter viele Zivilist*innen. Und mit der direkten Konfrontation zwischen der türkischen und der syrischen Armee, die nach einer Vereinbarung zwischen den Kurden und der Regierung von Assad in das bisherige kurdische Autonomiegebiet einrückt, droht eine neue Eskalationsstufe.

Erdogans Ziele

„Erdogan will […] auf syrischem Gebiet eine etwa 400 Kilometer lange und 30 bis 40 Kilometer tiefe sogenannte Sicherheitszone schaffen. Damit verfolgt er zwei Ziele: Erstens will er dort bis zu zwei Millionen syrische Flüchtlinge ansiedeln, die sich jetzt noch in der Türkei aufhalten. Zweitens sollen die Milizen der syrisch-kurdischen Volksbefreiungseinheiten YPG […] von dort vertrieben werden […] Bei Licht besehen handelt es sich dabei um eine militärische Besatzungszone auf dem Staatsgebiet Syriens. Dass die Türkei durch die Vertreibung der Kurden und die Ansiedlung ethnischer Araber die demografischen Strukturen dauerhaft zu verändern versucht, macht die Sache noch problematischer.“ (Gerd Höhler in BZ, 10.10.19, S. 4)

Mehrere Zeitungen weisen darauf hin, dass die militärische Intervention Erdogans auch innenpolitisch begründet ist. Angeschlagen nach den Wahlniederlagen in Ankara und Istanbul, gelang es ihm mit dem Militäreinsatz, die Opposition zu spalten.

Kanonenfutter

„Die türkische Armee wird unterstützt von syrischen islamistischen Kämpfern, die auch schon bei den beiden vorangegangenen Großoffensiven der Türkei auf syrischem Territorium dabei waren. Sie bilden mit 18.000 Mann die Speerspitze am Boden, das Kanonenfutter sozusagen.“ (Jürgen Gottschlich in taz, 11.10.19, S. 10) Für Alfred Hackenberger (Welt, 10.10.19, S. 6) sind „Erdogans Handlanger“ mehrheitlich „radikale Islamisten. Sie stehen schon seit Jahren auf der Soldliste der Türkei, lassen sich aber von ihr selten kontrollieren […] Sie haben [in der Region Afrin] geplündert, Menschen gefoltert und ermordet sowie Kultstätten religiöser Minderheiten zerstört […] Im Internet tauchten immer wieder Videos auf, in denen Gefangene brutal hingerichtet werden.“

Wiederkehr des IS

Nach Schätzungen des Pentagon operieren immer noch 18.000 IS-Fanatiker in Syrien und im Irak, darunter 3.000 Ausländer.“ (FR 11.10.19, S. 6) Da die Kurden derzeit alle verfügbaren Kräfte an die Front mit der Türkei verlagern „wächst die Gefahr, dass die 10.000 gefangenen Gotteskrieger und ihre 70.000 Familienangehörigen die Kriegswirren zur Massenflucht nutzen und ihr Kalifat neu errichten oder sich nach Europa durchschlagen […] Sollten […] kurdische IS-Haftanstalten in nächster Zeit unter Ankaras Kontrolle fallen, könnte der türkische Geheimdienst viele der Dschihadisten, mit denen er jahrelang ein stillschweigendes Einvernehmen pflegte, freilassen und für den Krieg gegen deren Todfeinde, die syrischen Kurden rekrutieren.“ (Martin Gehlen in FR 11.10.19, S. 6) Am 13. Oktober meldet die kurdische Autonomieverwaltung, dass „rund 800 IS-Unterstützer, darunter viele Angehörige islamistischer Kämpfer, nach Beschuss durch mit der türkischen Armee verbundene Milizen aus dem Lager Ain Issa ausgebrochen“ sind (nd 14.10.19, S. 1). In derselben Ausgabe (S. 5) schreibt Anita Starosta von medico international: „Die Türkei bombt gerade den militanten Islamismus zurück.“

EU – halbherzig und inkonsequent

„In den ersten vier Monaten dieses Jahres hat die Türkei Kriegswaffen für 184,1 Millionen Euro aus Deutschland erhalten […] 2018 war die Türkei nach Russland das Land, für das der höchste Betrag aus der Staatskasse für Hermes-Bürgschaften bereitgestellt wurde. 1,78 Milliarden Euro. In den ersten acht Monaten dieses Jahres waren es bereits 789 Millionen Euro.“ (FR 14.10.19, S. 5) „Die EU-Außenminister verständigten sich am Montag [14.10.] auf einen Stopp sämtlicher Waffenlieferungen an die Türkei. In einer gemeinsamen Erklärung äußerten die EU-Partner, das militärische Vorgehen Ankaras in Nordsyrien bedrohe nicht nur Sicherheit und Stabilität der Region, sondern könne auch der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) Auftrieb geben.“ (FAZ 15.10. 19, S. 1) Die Nato verhält sich noch zurückhaltender: „Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, die Türkei müsse sicherstellen, dass ihr Vorgehen verhältnismäßig und maßvoll sei.“ (BZ, 10.10.19, S. 4) Das kann man auch als Zustimmung zum türkischen Militäreinsatz werten.

Angesichts der Katastrophe bräuchte es, so Sebastian Bähr (nd 14.10.19, S. 1) „stärkere politische Mittel, um den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu stoppen. Ein kompletter Rüstungsstopp, Wirtschaftssanktionen, die Einstellung von Finanzhilfen und Hermes-Bürgschaften, eine international bewachte Flugverbotszone in Nordsyrien. Allen voran muss jedoch der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei aufgekündigt werden.“

Redaktionsschluss dieser Seite 15. Oktober 2019.

Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, FAS – Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, FR – Frankfurter Rundschau, nd – Neues Deutschland, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, Welt – Die Welt.

NATO-Austritt der Türkei?

NATO-Austritt der Türkei?

von Axel Gehring

Spätestens seit dem Putschversuch im Juli 2016 und den russisch-iranisch-türkischen Astana-Verhandlungen zur Beilegung des Syrienkriegs scheint ein grundlegender Wechsel in der bündnispolitischen Orientierung der Türkei begonnen zu haben. Think Tanks, wie die Stiftung Wissenschaft und Politik, spekulieren bereits über einen türkischen NATO-Austritt (Hähnlein et. al. 2018). Doch wie realistisch ist das, und welche politischen Implikationen haben derartige Spekulationen? Für eine Antwort ist es notwendig, den Analyserahmen über unmittelbar außen- und militärpolitische Interessen und diskursive Stimmungen hinaus zu erweitern. Hierfür ist es erforderlich, soziale Kräfteverhältnisse in den Blick zu nehmen, die türkische NATO-Mitgliedschaft stärker historisch zu betrachten und die hochgradig institutionalisierten ökonomischen Strukturverhältnisse einzubeziehen.

Die Einbindung der Türkei in die transatlantische Ordnung begann unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Damals machte die türkische Regierung gegenüber den USA die strategisch wichtige Lage des Landes im Kontext der beginnenden Blockkonfrontation geltend und verwies dabei auf das sowjetische Vorhaben, Truppen nahe des Bosporus zu stationieren.

Dieses türkische Ersuchen um Einbindung in die entstehende transatlantische Ordnung entsprang vor allem einer grundlegenden Verschiebung der sozialen Kräfteverhältnisse im eigenen Land (Gehring 2019): Im Laufe des Zweiten Weltkrieges war das etatistisch-kemalistische Entwicklungsmodell unter Druck geraten, und eine Handelsbourgeoisie hatte an Stärke gewonnen. Sie drängte nicht nur auf die Etablierung eines Mehrparteiensystems, sondern war die wesentliche Trägerin einer Westintegration, welche die neuen Kräfteverhältnisse im Land und die marktwirtschaftliche Reorientierung durch einen externen Anker gegen potentielle innere Widerstände absichern sollte. 1945 trat die Türkei dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und 1946 dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) bei. Ab 1947 nahm sie auch am European Recovery Program (Marshallplan) teil. Bereits früh war sie tief in die institutionellen Strukturen der US-Hegemonie der Nachkriegszeit integriert und wurde 1952 in die NATO aufgenommen. Die militärische Integration komplementierte damit die ökonomische Einbindung in die transatlantische Ordnung. 1959 folgte das Ersuchen um Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die sich komplementär zur US-Hegemonie entwickelt hatte.

Umkämpfte Popularität des Westens und der NATO

Die gegenwärtige Krise der Türkei-NATO-Beziehungen ist keineswegs singulär, die NATO-Mitgliedschaft und die Präsenz westlicher Truppen waren in der Türkei nie unumstritten. In den 1960er Jahren wurden die Besuche US-amerikanischer Flottenverbände zu wichtigen Ereignissen der Mobilisierung der politischen Linken. Der Gründungsmythos des türkischen Staates war ein antiimperialistischer – die Republik war anfangs mit sowjetischer Unterstützung aufgebaut worden –, daher wirkten NATO-kritische Positionen lange Zeit bis weit in das sozialdemokratisch-kemalistische Lager und auch in Teilen des türkischen Militärs. Das islamistische Spektrum lehnte die Mitgliedschaft ab. Beide Lager verfolgten ökonomische Konzeptionen, die auf eine stärkere Unabhängigkeit von westlichem Kapital setzten, als es die konservativ-liberalen Kräfte taten. Letztere waren eng mit den Interessen der großen Holdinggesellschaften verbunden und traten am aktivsten für die Westintegration der Türkei ein (Yalman 2009).

Während des Kalten Krieges wurden daher seitens des Westens umfangreiche hegemoniale Konzessionen an die Türkei gemacht: Sie durfte weit von liberalkapitalistischen Entwicklungsparadigmen abweichen, nachdem diese das Land Ende der 1950er Jahre in eine tiefe soziale und ökonomische Krise geführt hatten. Das neue Projekt einer importsubstituierenden Industrialisierung erschwerte den Zugang zum türkischen Markt und sorgte für regelmäßige Konflikte mit der Europäischen (Wirtschafts-) Gemeinschaft, mit der die Türkei seit 1964 assoziiert war. Zugleich aber blieb sie auf westliche Finanzhilfen und Kredite angewiesen. Ihre inneren Widersprüche sowie der Siegeszug des Neoliberalismus in den kapitalistischen Zentren führten Ende der 1970er Jahre zum Scheitern der importsubstituierenden Industrialisierung und 1980 zum Militärputsch, der (gegen den Willen der Bevölkerung) den Weg für die radikale neoliberale Transformation öffnete.

Neoliberale Integration in den Westen und autoritärer Populismus

Die Transformation kulminierte in den 1990er Jahren in der Revitalisierung des (nunmehr) EU-Beitrittsprojektes. Die Türkei leitete seit dem Abschluss der Zollunion mit der EU (1996) weite Teile ihrer ökonomischen Handlungskompetenzen aus den Verträgen mit der EU ab. So wurde die breite Masse der Bevölkerung von jeglicher Einflussnahme auf grundlegende wirtschaftspolitische Entscheidungen ausgeschlossen – EU- und IWF-Politiken waren gewollt komplementär zueinander.

In den 2000er Jahren konnte die Türkei im Kontext der neoliberalen Reformen zunächst hohe und stabile Wachstumsraten erzielen. Seit dem Ausbruch der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/8 flossen internationale Investitionen jedoch längst nicht mehr so leicht in die Türkei. Die AKP-Regierung suchte nach Möglichkeiten, das Wachstum aufrechtzuerhalten. 2008 verzichtete die türkische Regierung auf ein weiteres Beistandsabkommen mit dem IWF. Dies gab ihr einen größeren Spielraum, neben deflationär wirkenden orthodox-neoliberalen Politiken zugleich populistisch-klientelistische Sozialpolitiken zu verfolgen, die nicht auf sozialen Rechten, sondern auf Loyalitätsbeziehungen basieren. Die industriellen Beziehungen blieben derweil von einem restriktiven Gewerkschaftsregime geprägt.

Um das Wachstum der stark neoliberalisierten Ökonomie aufrechtzuerhalten, lancierte der türkische Staat zudem mehr und mehr öffentlich-private Großprojekte. Lokale Widerstände gegen solche Projekte wurden – wie seit Jahrzehnten üblich – in der Regel mit staatlicher Härte gebrochen. Die Kompetenzen zur Durchführung der expansiv-neoliberalen Politik wurden in wachsendem Maße in Sonderbürokratien angesiedelt, die unmittelbar Tayyip Erdogan rechenschaftspflichtig waren. Die Unabhängigkeit bestehender neoliberaler Regulierungsagenturen, wie der Zentralbank, wurde sukzessive ausgehöhlt. Das Aufkommen des populistisch-expansiv-neoliberalen Paradigmas und der autoritäre Populismus in der Türkei bedingten sich also gegenseitig (Gehring 2019).

Bündnispolitische Wende im Kontext des Syrienkrieges?

Türkische Unternehmen investierten seit Mitte der 2000er Jahre verstärkt in den arabischen Nachbarstaaten der Türkei, aber auch im post-sowjetischen Raum. Insbesondere in den arabischen Staaten wurde diese Expansion durch eine häufig als »neo-osmanisch« bezeichnete Außenpolitik abgesichert. Diese türkische Außenpolitik wurde im Westen lange als komplementär zu den eigenen Interessen wahrgenommen; die autoritäre Transformation wurde übersehen und die Türkei stattdessen für ihr fortgesetztes Wachstum bewundert. Kurz: Sie galt seit den 2000er Jahren als ein »Role Model« eines Landes, das Islam, Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung in Einklang brachte. Entsprechend wurde die aktive Rolle der Türkei in ihren Nachbarstaaten begrüßt und damals nicht etwa als Abwendung vom Westen debattiert – denn das als NATO-Staat in den Westen integrierte Role Model schien die Wirkmacht des Westens in der Region zu vergrößern (Tugal 2017).

Dies galt auch zu Beginn der Umstürze in zahlreichen arabischen Staaten ab Anfang 2011. Dennoch markierten gerade diese Entwicklungen jenen Punkt, der wenig später als Beginn einer Abkehr vom Westen diskutiert werden sollte. Doch zunächst schienen türkische und westliche Interessen weitestgehend komplementär zu sein: Die Türkei betrieb nicht mehr nur Außenpolitik von Regierung zu Regierung, sondern unterstützte gemäß ihrer Konzeption der »Strategischen Tiefe« (Davutoglu 2001) vor allem islamistische Kräfte in den postrevolutionären Prozessen – in der Folge fehlten ihrer Außenpolitik Ansprechpartner*innen jenseits dieses Spektrums (Tugal 2017). Der Sturz der Muslimbruderschaft zeigte schnell die Grenzen dieses Ansatzes auf: Die Türkei war nicht nur jeder weiteren Einflussmöglichkeit auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in Ägypten beraubt, sondern es setzte eine fortdauernde diplomatische Eiszeit zum neuen Regime ein. Auch die Beziehungen zum Gegenspieler der Muslimbruderschaft – Saudi Arabien – verschlechterten sich.

In Syrien schienen die Dinge für die Türkei zunächst besser zu laufen: Sie setzte nach der Eskalation der Revolte gegen das Baath-Regime auf eine disparate Koalition islamistischer Kräfte, die sich unter dem Banner der Freien Syrischen Armee zusammenfand. Ähnlich wie zahlreiche westliche Staaten formulierte die Türkei das Ziel eines Sturzes der syrischen Regierung – die logistische Unterstützung aus der Türkei war dafür sogar eine unabdingbare Voraussetzung. In dem nicht zuletzt infolge der türkischen Politik konfessionalisierten Bürgerkrieg blieben jedoch erhebliche Teile der Bevölkerung loyal zum Regime, das seine Truppen zunehmend im Westen des Landes konzentrierte. Im kurdischen Raum des Landes konnten sich in der Folge Autonomiestrukturen unter der Führung der Partei der Demokratischen Union (PYD) bilden. Einer schweren Attacke seitens des Islamischen Staates ausgesetzt, avancierte die PYD ab 2014 zu einer Schlüsselpartnerin der US-amerikanischen Außenpolitik. In den folgenden Jahren führte sie das Bündnis der Syrischen Demokratischen Kräfte an, die weite Teile Nord- und Ostsyriens vom Islamischen Staat befreiten.

Während dies eine erhebliche Niederlage für die türkische Außenpolitik darstellte, begann Russland ab Herbst 2015, das syrische Regime unmittelbar militärisch zu unterstützen. Die scharfe türkisch-russische Konfrontation führte zu russischen Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei, und währenddessen schwand jede Perspektive auf einen Sturz des Baath-Regimes.

Mit einer US-gestützten kurdischen Selbstverwaltung im Norden und dem sich abzeichnenden Sieg der syrischen Regierung im Rest des Landes stand die Türkei vor einem außenpolitischen Desaster. Nun wurde die Außenpolitik einer grundlegenden Revision unterzogen. Der Architekt der neo-osmanischen Außenpolitik, Ahmet Davutoglu, musste im Mai 2016 sein Amt als Ministerpräsident aufgeben, die Außenpolitik gegenüber Russland wurde neu ausgerichtet, und Russland hob sein Embargo auf. Auch der Putschversuch im Sommer 2016, den die AKP der in den USA ansässigen Gülenbewegung anrechnete, sorgte für eine Annäherung zwischen der Türkei und Russland.

Doch vor allem der Ende 2016 gestartete russisch-türkisch-iranische Astana-Prozess zur diplomatischen Beilegung des Syrienkrieges wird häufig als Indiz für einen möglichen Bündniswechsel der Türkei gewertet. Dabei werden Interessensdivergenzen übersehen: Die gemeinsam vereinbarte Schaffung von so genannten Deeskalationszonen in umkämpften Rebellengebieten hatte der syrischen Regierung 2017 die Rückeroberung großer Teile des Landes bis zum Euphrat ermöglicht. Nach Abschluss dieser Offensiven wurden weitere Deeskalationszonen mit militärischer Gewalt und gegen den Willen Ankaras aufgelöst. Um Ankara in diesen Prozess einzubinden, hatte die russische Regierung den türkischen Angriff auf Afrin zugelassen.

Russland wertete über den Astana-Prozess die Türkei nicht etwa zu einer gleichberechtigten Verhandlungspartnerin auf, sondern dieser Prozess sollte ihren schrittweisen militärisch-diplomatischen Rückzug aus dem Konflikt gesichtswahrend regeln. Es gilt im Grunde der fragile Deal: Ankara gibt die Unterstützung für den Sturz der syrischen Regierung auf und darf im Gegenzug die kurdische Autonomieverwaltung im Norden unter Druck setzen, um zumindest Minimalziele zu erreichen. Wie der andauernde Disput um den zukünftigen Status von Idlib (einem der letzten Rebellengebiete) zeigt, fällt es der Türkei schwer, sich diese Niederlage einzugestehen.

Von einer grundsätzlichen gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessenlage zwischen der Türkei und Russland in Syrien kann also keine Rede sein. Vielmehr haben zwei konkurrierende Mächte eine Möglichkeit gefunden, ihren lokalen Disput zu regulieren und den kleinsten Nenner ihrer Interessen zu bestimmen: die territoriale Integrität Syriens. Für Moskau bedeutet dies die maximale Stärkung der Zentralregierung in Damaskus und für Ankara die maximale Schwächung der kurdischen Autonomiestrukturen.

Obwohl die Verhinderung einer kurdischen Autonomie zur türkischen Staatsräson gehört, greift es zu kurz, die gesamte türkische Außenpolitik auf diese Frage zu reduzieren oder gar zu postulieren, die Türkei würde aufgrund dieser Frage die NATO verlassen. Zudem erscheinen die Differenzen im Lichte der jüngsten US-Entscheidung, die eigenen Truppen wieder aus Syrien abzuziehen, als eine temporäre Unstimmigkeit, die dem besonderen Kontext des Krieges gegen den Islamischen Staat entsprang.

Vor allem aber greift es zu kurz, die Frage der türkischen NATO- und Westintegration primär anhand von Außen- und Miltärpolitik zu debattieren. Außenpolitik entfaltet sich als Politik eingebettet in soziale Kräfteverhältnisse (Cox 1987) – die transatlantisch-europäische Ordnung ist ein solches soziales Kräfteverhältnis: Die türkische Regierung ist keine Handlangerin US-amerikanischer oder deutscher Interessen, sie konzipiert ihre Außenpolitik vielmehr innerhalb der transatlantisch-europäischen Ordnung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg als eine sich rasch transnationalisierende sozioökonomische Ordnung konstituiert hatte. Wie jede Regierung trägt die Türkei Konflikte mit anderen Regierungen aus, die innerhalb dieser Ordnung agieren. Dies kann sie nicht zuletzt, weil sie sich sozioökonomisch auf den Schultern dieser Ordnung reproduziert. Wie bereits erwähnt, fand die Integration der Türkei in die NATO komplementär zu ihrer sozioökonomischen Integration in die transatlantische Ordnung statt, die später um die europäische Komponente ergänzt wurde. Es stellt sich also die Frage, wie es um die Integration der Türkei in die europäisch-transatlantische Ordnung bestellt ist.

Wachsende Verflechtung mit dem Westen

Um die tatsächliche Tiefe der gegenwärtigen Krise zwischen dem Westen und der Türkei bestimmen zu können, ist es wichtig, auch soziale Kräfteverhältnisse als außenpolitisch relevant zu betrachten: Die Regulierung der türkischen Wirtschaft nach dem Post-Washington-Konsens, der für einen besonders rigiden Neoliberalismus steht, wurde zwar im Zuge der autoritär-populistischen Politik seit 2007/8 gelockert, doch die wichtigsten ökonomischen Akteur*innen in der Türkei sind die Richtung Westen integrierten Holdinggesellschaften. Konkret leiden sie unter einem stark gesunkenen Wechselkurs zu den Währungen US-Dollar und Euro, in denen sie sich auf den internationalen Finanzmärkten verschuldet haben (Gehring 2018). In ihrem Versuch, die Krisendynamik zu begrenzen, hat sich die türkische Regierung lange darum bemüht, nicht auf die Unterstützung westlicher Staaten und Institutionen zurückzugreifen. Doch genau diese Strategie ist weitgehend gescheitert und mit ihr auch das populistisch-expansive neoliberale Projekt. Abgesehen von Katar sind keine Staaten bereit, signifikant in die Türkei zu investieren und so den Wechselkurs der Lira zu stabilisieren. Insbesondere das Engagement der beiden umworbenen Staaten China und Russland blieb weit hinter den türkischen Erwartungen zurück, bedeutsame Investitionen wären aber eine notwendige Voraussetzung für einen Wechsel des Bündnisses. Vor allem aber stellt sich die Frage: Besitzt Russland überhaupt die ökonomischen Kapazitäten, der Türkei eine realistische Alternative zum Westen zu bieten? Russland verfügt mit 1,5 Billionen US$ über ein Bruttoinlandsprodukt, welches etwas kleiner ist als das Italiens. Bei einer qualitativen Betrachtung der ökonomischen Beziehungen fällt zudem auf, dass Russland bei Importen zwar mit knapp 20 Milliarden US$ der drittgrößte Handelspartner der Türkei ist, jedoch das Gros des Handels auf Energieimporte entfällt. Außerdem wächst die Handelsverflechtung der Türkei mit dem weit größeren Haupthandelspartner EU quantitativ schon seit Jahren wieder.

Die sozioökonomische Verflechtung ist allerdings keine rein quantitative ökonomische Größe, sie vollzieht sich vielmehr in Gestalt einer umfassenderen Integration in die transatlantisch-europäische Ordnung. Die Paradigmen und Praxen, die den ökonomischen Austausch regulieren, sind Teil dieser Ordnung. Die neoliberalen Paradigmen und Praxen des Post-Washington-Konsenses wurden in der Türkei wesentlich über das EU-Projekt verankert und werden von breiten Teilen der führenden Holdinggesellschaften getragen. In den letzten Krisenjahren ist nicht nur der Versuch gescheitert, eine populistische Alternative zu ihnen zu entwickeln, sondern auch der Versuch, die Wirtschaftskrise mit Hilfe nicht-westlicher Staaten zu bearbeiten. Im Laufe des Herbstes 2018 hat sich die türkische Regierung längst wieder westlichen Staaten zugewandt – nicht nur, weil es aus Russland und China keine signifikanten Finanzzusagen gab, sondern auch, weil die zwei Länder keine alternativen regulativen Paradigmen und Institutionen bereitstellen, die für die türkische Privatwirtschaft unabdingbar sind. Ein NATO-Austritt stünde in einem diametralen Widerspruch zur wachsenden Bedeutung der Westintegration für die Türkei.

Politische Folgen der Spekulationen über einen türkischen NATO-Austritt

Der Übermacht der ökonomischen Verflechtungen Richtung Westen, die sich tief in die produktiven, ökonomischen, sozialen und politischen Machtstrukturen der Türkei eingeschrieben haben, steht also eine begrenzte, höchst widersprüchliche und spannungsreiche Zusammenarbeit mit Russland auf einzelnen sicherheitspolitischen Feldern gegenüber. Letztere entspringt primär dem Bestreben einer Schadensbegrenzung, denn die Türkei hatte sich mit ihrer »neo-osmanischen« Außenpolitik schlicht verhoben und wurde in Syrien auf das Verfolgen von Minimalzielen zurückgeworfen, die ein Arrangement mit Russland zur Voraussetzung haben.

Spekulationen über einen möglichen NATO-Austritt der Türkei basieren wesentlich auf dem Außer-Acht-lassen sozialer Kräfteverhältnisse. Die Handlungskapazitäten des türkischen Staates werden überschätzt, spekulative Thesen werden formuliert. Mutmaßungen über einen NATO-Austritt tragen jedoch dazu bei, die Verhandlungsposition der Türkei gegenüber den anderen Staaten im Bündnis zu stärken. Gern lässt die türkische Außenpolitik ambivalente Sichtweisen über den Bestand der türkischen Westintegration aufkommen, ohne diesen aber selbst substanziell in Frage zu stellen. Solche Ambivalenzen sind auf gewisse Art zweckdienlich: Fast jedes »realpolitische« Zugeständnis kann mit dem Verweis gerechtfertigt werden, dass im Falle eines NATO-Austritts die Möglichkeiten westlicher Machtprojektion in der Region geschwächt würden und die Region durch eine weniger klare bündnispolitische Verortung der Türkei weiter destabilisiert würde.

Angesichts des geringen Realitätsgehaltes solcher Spekulationen gilt es vielmehr zu entgegnen, dass die türkische Außenpolitik auf den Schultern der transatlantischen Ordnung agierend ein erhebliches Problem für die Sicherheit und den Frieden in der Region darstellt. An die westliche Zurückhaltung während der Afrin-Offensive Anfang 2018 und drohende weitere türkische Invasionsvorhaben sei an dieser Stelle exemplarisch erinnert.

Literatur

Cox, R. (1987): Production, Power, and World Order – Social Forces in the Making of History. New York, Chichester: Columbia University Press.

Davutoglu, A. (2001): Stratejik Derinlik – Türkiye’nin Uluslararasi Konumu. Istanbul: Küre Yayinlari.

Gehring, A. (2018): Brüchige Stabilität – Die Türkei nach den Wahlen. Online-Artikel für die Zeitschrift Luxemburg, Juli 2018.

Gehring, A. (2019): Vom Mythos des starken Staates und der europäischen Integration der Türkei – Über eine Ökonomie an der Peripherie des euro-transatlantischen Raumes. Wiesbaden: Springer VS (im Erscheinen).

Hähnlein, R.; Kaim, M.; Seufert, G. (2018): Die Türkei verlässt die NATO. In: Brozus, L. (Hrsg): Während wir planten – Unerwartete Entwicklungen in der internationalen Politik. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Foresight-Beiträge 2018.

Yalman, G. (2009): Transition to Neoliberalism – The Case of Turkey in the 1980s. ?stanbul: Biligi University Press.

Tugal, Cihan (2017): Das Scheitern des türkischen Modells – Wie der Arabische Frühling den islamischen Liberalismus zu Fall brachte. München: Antje Kunstmann.

Axel Gehring ist Politikwissenschaftler in Marburg. Seine Dissertation »Vom Mythos des starken Staates und der europäischen Integration der Türkei – Über eine Ökonomie an der Peripherie des euro-transatlantischen Raumes« zur EU- und Westintegration der Türkei aus Sicht führender türkischer Akteur*innen erscheint im März 2019 bei Springer VS.

My mind has been under occupation


My mind has been under occupation

Der (türkische) Militarismus und seine Folgen

von Serdar M. Degirmencioglu

Militarismus ist für den Autor nicht nur Ursache für Kriege, sondern auch eine Doktrin, die die Herzen und das Denken der Menschen besetzt. Er erzählt, wie der Militarismus sein eigenes Denken immer mehr besetzte, und beklagt, dass sich die Zunft der Psycholog*innen diesem Thema weitgehend verweigert. Am Beispiel der Türkei schildert er auch, wie der Militarismus in das Berufsleben der Menschen eingreift und dieses zerstört.

Die Besetzung meines Denkens begann 2003, etwa zu der Zeit, als die Invasion des Irak stattfand. Am 20. März, als die Luftangriffe begannen, fuhr ich mit einem Freund aus den Vereinigten Staaten zu einem Jugend-Friedenszentrum in der Nähe von Istanbul. Seine Frau, Kinder, Eltern und alle Bekannte machten sich große Sorgen. Und sie hatten recht. Wenn ein Krieg begonnen wird, werden Menschen verletzt. Krieg bedeutet Leiden. Ihre Besorgnis hielt an, bis mein Freund wieder zurück nach Hause kam.

Einige Monate später reiste ich zur New Mexico Highlands University in Las Vegas, um an der 9. Konferenz der Society for Community Research and Action teilzunehmen. Die Invasion war in meinem Denken. Und sie war auch im Denken anderer, die sich aber nicht trauten, ihre Gedanken zu äußern. Die Diskussionen fanden woanders statt, z.B. auf den Wänden der Toilette (Degirmencioglu 2003).

Ich konnte mich während der Konferenz nicht konzentrieren und ging in ein Nebengebäude. Es war das Studierendenzentrum. Im Gebäude stieß ich auf eine Wand, die mit Briefen und Botschaften bedeckt war. Es waren die Stimmen der Kinder und Jugendlichen der Stadt. Die Botschaft war immer die selbe: „Wir lieben Dich. Wir wollen Dich zurückhaben.“ Las Vegas gehörte zu den Orten, an denen junge Männer und Frauen nicht viele Optionen hatten. Viele wurden in die Armee rekrutiert. Ihre Photos hingen überall. Ich war den Tränen nahe. Das Studierendenzentrum war leer. Meine Kollg*innen waren im anderen Gebäude. Ich war der einzige Mensch, der die Schreie der Brüder und Schwestern dieser Rekruten hörte. Ich musste diese Stimmen mitnehmen. Diese Stimmen mussten Gehör finden.

Jungen Menschen eine Stimme zu geben war mir keine unbekannte Aufgabe. Im Dezember 2000 hatte ich die Kampagne »Höre meine Stimme: Ich habe auch eine Stimme« gestartet und Kinder (6-11 Jahre) und Jugendliche (bis 18 Jahre) gebeten, Botschaften an den Ministerpräsidenten zu schicken und ihm zu schreiben, was ihnen in den Sinn kam. Der Ministerpräsident musste als oberster Regierungsrepräsentant die Meinung aller Bürger*innen berücksichtigen, auch die der jungen. Die Reaktion war überwältigend. Junge Menschen waren begierig, ihre Meinung zu Gehör zu bringen. Eine Auswahl der Botschaften, die ich erhielt, wurde später in einem Buch veröffentlicht (Degirmencioglu 2006).

Junge Menschen verdienen es, gehört zu werden. Sie verdienen die Chance, in ihren Gemeinschaften und der Gesellschaft entscheidenden Einfluss zu nehmen. Das sind die Grundbedingungen für soziale Gerechtigkeit und Frieden. Es gibt aber hohe Hürden. Eine dieser Hürden ist sicherlich der Militarismus.

Der Klang der Freiheit

Militarismus ist eine Doktrin, die Menschen nicht nur gegenüber Stimmen des Friedens taub macht, sondern auch gegenüber den Stimmen ihrer Gemeinschaft – den Stimmen von Frauen, von Kindern, von Behinderten, von Unterdrückten. Die Blockaden, die Militarismus im Denken der Menschen aufbaut, können offenkundig oder subtil sein. Aber sie sind sehr real und haben sehr ernste Folgen. Die schiere Absurdität von Militarismus spiegelt sich oft in militärischen Parolen wider, z.B. „Der Lärm, den Du hörst, ist der Klang der Freiheit.“

Ich stolperte über diesen Slogan in einem Buch, das aufzeigt, wie imperiale Pläne und der Militarismus den Irak zerstörten. Der Journalist Rajiv Chandresekaran (2007) erzählt in erschreckenden Details die Geschichte der Coalition Provisional Authority (CPA, Provisorischen Behörde der Koalition) – das war der Mechanismus zur Beherrschung des Irak. Während der Irak erledigt wurde, gab es in Baghdad täglich Presse-Briefings, um der Welt zu erzählen, dass sich das Leben in Irak jeden Tag verbessert.

Beim Presse-Briefing am 24. Februar 2004, das von CPA-Sprecher Daniel Senor organisiert wurde, stellte ein irakischer Journalist eine Frage auf Arabisch. Er wollte wissen, warum die Helikopter Tag und Nacht im Tiefflug unterwegs seien. Die Kinder hätten große Angst. Sie könnten nicht schlafen. Seine Frage richtete er an Brigadegeneral Mark Kimmitt. Der antwortete so: „Was wir den Kindern von Irak sagen würden ist, dass der Lärm, den sie hören, der Klang der Freiheit ist. Diese Helikopter sind in der Luft, um Schutz, um Sicherheit zu bieten. Ganz sicher fliegen unsere Helikopter nicht absichtlich in einer Höhe, die die Kinder des Irak irritiert. Sie sind zu ihrer Sicherheit da. Sie sind zu ihrem Schutz da. Und genau so, wie meine Frau, eine Lehrerin, den Kindern im Klassenzimmer sagt, wenn sie in Fort Bragg das Artilleriefeuer hören, sie sagt dann: ‚Kinder, das ist der Klang der Freiheit.’ Ihnen scheint diese Erklärung zu gefallen. […] Sagen sie den Kindern des Irak das gleiche, dass der Lärm der Helikopter über ihrem Kopf sicherstellt, dass sie sich keine Sorgen um die Zukunft machen müssen.“ (S. 141)

Für General Kimmit kamen Helikopter und Waffen vor Kindern. Wenn das Militär sprach, hatten Kinder zuzuhören. Wenn Helikopter flogen, hatten Kinder sich daran zu gewöhnen. Wenn Waffen abgefeuert wurden, hatten Kinder das zu mögen. Krieg und die Werkzeuge des Krieges waren eine Realität. Die Welt hatte diese Realität zu akzeptieren.

Es war klar, dass der »Klang der Freiheit« lauter war als die Stimmen der Kinder im Irak. Er war auch lauter als die Stimmen der Kinder von Fort Bragg. Und er war eindeutig lauter als die Stimmen der Schwestern und Brüder in Las Vegas, die ihre Angehörigen zurück wollten. Das ist die Wahrheit. Wenn das Militär spricht, wird es gehört. Wenn Waffen sprechen, werden sie gehört. Diejenigen, die unter dem Krieg leiden, nicht.

Militarismus ist eine Doktrin, die die Herzen und das Denken besetzt. Er verwandelt sie in Steine. Wenn junge Menschen in die Armee rekrutiert werden, leiden sie. Ihre Angehörigen leiden. Und doch geht ihr Leiden im »Klang der Freiheit« unter. Und wenn eine Armee ein Land besetzt, Irak oder ein anderes, sind die Bewohner*innen gezwungen zu leiden. Und ihre Stimmen sind viel schwerer zu hören, weil der »Klang der Freiheit« lauter ist, wenn eine Invasion oder Besatzung stattfindet. Das ist der Grund, warum 14 Jahre nach der Invasion des Irak rund um die Welt nur wenig über das Leiden der Menschen im Irak veröffentlich wird. Eines ist klar: Irak ist erledigt.

Psychologie im Dienste des Militärs

Mein Denken beschäftigt sich seither mit dem Militarismus. Die Invasion des Irak half mir dabei, die Selbstzufriedenheit in der Psychologie zu erkennen. Als ich erfuhr, dass bei der Invasion des Irak Napalmbomben eingesetzt wurden, beschäftigte ich mich mit der Geschichte von Napalm und stellte fest, dass die Psychologie die Napalmbomben vollständig ignoriert hatte. Die Welt wusste von den Leiden, die Napalm verursacht, aber die Psycholog*innen interessierten sich nicht dafür. Ich veröffentlichte meine Rechercheergebnisse in Englisch und Türkisch (Degirmencioglu 2010a; 2010b). Ich reiste zu etlichen Konferenzen auf unterschiedlichen Kontinten, um die Ergebnisse bekannt zu machen (z.B. Degirmencioglu 2012). Die Psycholog*innen hörten nicht zu.

Noch schlimmer wurde es Mitte der 2000er Jahre, als klar wurde, dass die American Psychological Association (APA, Verband der Psycholog*innen in den USA) heimlich mit der Regierung von George W. Bush zusammenarbeitete, damit die Psychologie dem »Krieg gegen den Terror« besser zu Diensten sein kann. Pycholog*innen dienten dem Krieg (dem Militär und der CIA) im Irak, einem Land, das gleich neben der Türkei liegt.

Im November 2014 beauftragte der APA-Vorstand den Rechtsanwalt David Hoffmann von der Kanzlei Sidley Austin, eine »unabhängige Untersuchung« durchzuführen, ob es Beweise für die Vorwürfe gäbe, dass „APA an Aktivitäten beteiligt war, die eine heimliche Zusammenarbeit mit der Regierung Bush konstituieren, um im Krieg gegen den Terror den Einsatz »erweiterter« Befragungstechniken zu befördern, zu unterstützen oder zu ermöglichen.1

Die unabhängige Untersuchung mündete in einem Dokument, das als »Hoffmann-Bericht« bekannt wurde. Der Bericht bestätigte sämtliche Vorwürfe gegen die APA. Das änderte aber nichts daran, dass die Mainstream-Psychologie nicht zuhören wollte. Das galt für die USA, für Europa und für mein eigenes Land, die Türkei.

Den Militarismus ignorieren

Psycholog*innen in der Türkei interessieren sich kaum für Militarismus. In einem Land, in dem seit Langem die Wehrpflicht für Männer gilt, bedeutet das, dass die Psycholog*innen einer Erfahrung ausweichen, die Generation um Generation sämtliche junge Männer betrifft. Die Wehrpflicht ist natürlich nur ein Teil des Problems. Der Militarismus in der Türkei ist ein allgegenwärtiges und hartnäckiges Problem, da er sich mit Nationalismus und mit der republikanischen Tradition vermischt. Schulen sind von Militarismus geplagt (Degirmencioglu 2011), vermehrt in den letzten zehn Jahren. Die Regierungspartei will den jungen Menschen den Militarismus aufzwingen (Degirmencioglu 2013), aber Psycholog*innen interessieren sich nicht für die Indoktrinationskampagnen an den Schulen.

Militarismus befördert den bewaffneten Konflikt und nährt sich daran. Seit mehr als 30 Jahren hält der bewaffnete Konflikt zwischen den türkischen Regierungskräften und der kurdischen Guerilla-Bewegung an. Im Lauf der Jahre verschob sich der Konflikt von den ländlichen in die städtischen Gebiete. Jetzt gibt es eine städtische Volksbewegung der Kurden und eine Partei, die Demokratische Partei der Völker (HDP), die diese Bewegung im Parlament vertritt. Junge Menschen, die geboren wurden, nachdem der Konflikt in den 1980er Jahren begann, wuchsen in einer grausamen Welt auf. Viele kurdische Jugendliche, einschließlich meiner Studierenden, glauben nicht an Frieden. Sie denken, das ist ein verblassender Traum.

Militarismus gedeiht durch Tod, wenn Tod verherrlicht und in ein Privileg verwandelt wird. Das ist die Funktion des Märtyrertodes und der Mythen, die zu seiner Verherrlichung aufgebaut werden. In den 1990er Jahren, als bewaffnete Kämpfe zunahmen, nahm auch die Zahl von Soldaten, die in diesen Kämpfen getötet wurden, zu. Schnell wurden Beerdigungen gefallener Soldaten zum politischen Vehikel, um den Militarismus zu befördern, Hass und Rassismus zu säen und Wähler*innen zu gewinnen. Beerdigungen von Märtyrern wurden ein Thema, das jede größere Partei einbeziehen musste. Sozialwissenschaftler*innen hielten sich allerdings von dem Thema des Märtyrertods und wie er dem Militarismus dient fern. Ich beschloss, das Schweigen zu brechen, und arbeitete etwa drei Jahre lang an der Herausgabe eines Buches, das sich mit dem Märtyrertod auseinandersetzt. Das Buch (Degirmencioglu 2014) wurde in der Türkei von einem der großen Verlage gedruckt.

Politik des Todes

Ich sage es nicht gerne, aber auch der Tod beherrscht mein Denken.

2015 wurde der Tod eine politische Strategie in der Türkei. Das geschah nach den Wahlen im Juni des Jahres. Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) wollte die vierte Legislaturperiode in Folge die Regierung stellen. Ihr Ziel war es, eine große Mehrheit der Sitze zu erringen und Änderungen der Verfassung durchzusetzen. Letztlich sollte ein präsidiales System nach dem Vorbild der USA eingeführt werden, das Präsident Recep Tayyip Erdogan mehr Macht geben würde. Der Präsident warnte vor Chaos, wenn seine Partei keine deutliche Mehrheit erhielte.

Am 7. Juni gaben die Wähler*innen jedoch der HDP genügend Stimmen, um die 10 %-Hürde zu überwinden, eine willkürliche Sperre, die seit Langem verhinderte, dass die kurdische Bewegung im Parlament vertreten war. Als die HDP die Hürde genommen hatte, verlor die AKP ihre Mehrheit, und im Parlament entstand ein Patt. Der Präsident suchte nicht nach politischen Alternativen. Stattdessen kam eine neue Strategie zum Zug. Die Friedensgespräche zwischen der Regierung und den kurdischen Guerillakräften wurden abgebrochen. In mehreren Städten wurde eine Ausgangssperre verhängt, und die Regierung ging militärisch gegen kurdische Zivilist*innen vor. Die Demonstration brutaler militärischer Macht fand die Unterstützung nationalistischer Hardliner und derer, die an den Autoritarismus glauben. Beerdigungen von Märtyrern wurden wieder zu Ereignissen mit hohem öffentlichem Stellenwert. Führende Politiker, einschließlich des Präsidenten, drängten junge Männer, den Märtyrertod zu suchen. Der Präsident rief nach vorgezogenen Wahlen. Das Blut, das im Sommer vergossen wurde, wandelte sich am 7. November in Stimmen. Die AKP gewann die zuvor verlorene Mehrheit wieder. Ende 2015 litt die Türkei unter der »Politik des Todes«, und der Frieden rückte in weite Ferne.

Invasion meines Berufslebens

Vor diesem Hintergrund unterzeichneten mehr als tausend Wissenschaftler*innen (Academics for Peace) eine Friedenspetition und riefen die Regierung auf, die gnadenlosen Angriffe im Südosten des Landes zu stoppen, die bei den Zivilist*innen zu zahllosen Verletzten und Toten führte. Die Petition wurde am 11. Januar 2016 veröffentlicht. Die Regierung antwortete mit einer Hexenjagd. Binnen einer knappen Woche erhielten die Universitäten Anweisung, mit dem Problem »umzugehen«. Viele Nachwuchswissenschaftler*innen an privaten Universitäten wurden entlassen. Viele Wissenschaftler*innen wurden gedrängt, ihre Unterschrift zurückzuziehen. Manche erhielten Todesdrohungen. An fast allen Universitäten wurden interne Untersuchungen aufgenommen.

Vier Wissenschaftler*innen wurden verhaftet, nachdem sie die Forderung nach Frieden auf einer Pressekonferenz wiederholten. Sie wurden der »terroristischen Propaganda« bezichtigt und mehr als einen Monat in Haft gehalten. Ihrem Prozess am 22. April wohnten zahlreiche Beobachter*innen nationaler und internationaler Organisationen bei. Das Gericht wies die fingierten Vorwürfe ab.

Die Hexenjagd war Teil des Regierungsplans, um die Universitäten von kritischen Stimmen zu säubern und zum Schweigen zu bringen. In manchen Privatuniversitäten nutzte die Verwaltung die Hexenjagd der Regierung, um Hochschullehrer*innen loszuwerden, die sich kritisch über die Institution oder die Arbeitsbedingungen geäußert hatten. Die Dogus-Universität, an der ich lehrte, war eine davon. Dogus war eine profitorientierte Institution, die zur Durchsetzung der Arbeitsbedingungen ein Klima der Angst aufbaute. Ich war ein Rebell, der nicht zum Klima der Universität passte. Als Vorsitzender des Fachbereichs Psychologie leistete ich vehement Widerstand gegen unrechtmäßige und unethische Maßnahmen zur Steigerung des Profits. Die Verwaltung hegte schon lange einen Groll gegen mich. Im Jahr 2013 wurde ich bereits 40 Tage nach meiner Arbeitsaufnahme gefeuert, weil ich dagegen war, den Profit anzukurbeln. 2014 musste die Kündigung aufgrund eines Gerichtsurteils zurückgenommen werden.

Die Universitätsverwaltung setzte am 18. Januar 2016, eine Woche nach der Friedenspetition, eine Untersuchung in Gang. Ich wurde vom Vorsitz entbunden, damit die Verwaltung Marionetten an den Fachbereich bringen konnten. Im März versuchte der Dekan, mich daran zu hindern, in Kairo eine Keynote-Speech zu geben. Als das misslang, kürzte er die Vergütung, die ich für die Übernahme zusätzlicher Lehrveranstaltungen erhielt. Als nächstes verhinderte die Verwaltung, dass ich zu einer Konferenz in die USA reisen konnte.

Ich rechnete damit, Mitte Juni, unmittelbar nach den Abschlussprüfungen, gefeuert zu werden. Ich ging davon aus, dass die Verwaltung diese Gelegenheit nutzen würde, mich ohne Abfindungszahlung loszuwerden – auch ein Weg, die Profite zu steigern. Aber die Verwaltung reagierte schneller: Ich wurde am 29. April entlassen. Als Rechtsgrundlage verwiesen sie auf eine Vorschrift, die es ermöglichte, öffentliche Angestellte zu entlassen, die am Arbeitsplatz offen politische Propaganda betrieben. Das traf auf meinen Fall nicht zu, aber das war egal. Die Verwaltung nutzte die anhaltende Hexenjagd als Vorwand, damit die Studierenden und die anderen denken sollten, der Druck der Regierung habe zu meiner Entlassung geführt. Im Mai reichte ich Klage gegen die Universitätsverwaltung ein, wohl wissend, dass das Verfahren dieses Mal vermutlich schwieriger werden würde. Selbst wenn ich die Klage gewinnen und meine Entlassung abgewiesen werden sollte, hatte sich das Blatt gewendet. Universitäten in der Türkei sind nun unter Besatzung, und mein Berufsleben in der Türkei ist wohl vorbei.

Universitäten unter Besatzung

Die Regierung leitete ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen die »Academics for Peace« ein und übergab den Fall einem berüchtigten Staatsanwalt. Da kein Verbrechen vorliegt, gibt es keine Beweise. Die Staatsanwaltschaft beschloss, durch inkriminierende Fragen Beweise zu schaffen. Der Plan war, alle diejenigen, die die Petition unterzeichnet hatten, in die Polizeistationen einzubestellen. Die Wissenschaftler*innen würden persönlich und einzeln vorsprechen, 14 Fragen beantworten und sich so selbst belasten.

Allerdings beschlossen wir kollektiv, keine dieser Fragen zu beantworten. Eine Gruppe junger, engagierter Anwält*innen begann, uns pro bono zu beraten. Um die Einschüchterungsstrategie umzukehren, traten unsere Anwält*innen auf den Plan. Jede*r einzelne Wissenschaftler*in wurde beim Gang zur Polizei anwaltlich begleitet. Jede*r einzelne Wissenschaftler*in gab an, dass sie/er gefordert habe, Frieden zu schaffen, und dass dies unter die Meinungsfreiheit fällt. Die Polizeibeamten mussten mit »copy and paste« arbeiten: Die Aussagen waren identisch. Der Plan des Staatsanwalts geriet so zur Lachnummer. Keine einzige Frage wurde gestellt. Keine einzige Frage wurde beantwortet. Das wurde durch gemeinschaftliche Anstrengungen ermöglicht, durch die Solidarität von Wissenschaftler*innen und Anwält*innen.

Die Situation verschlechterte sich nach dem 15. Juli 2016, als ein misslungener Putschversuch es der Regierung erlaubte, Sonderbefugnisse zu erlangen. Zuerst wurden sämtliche Universitätsdekane im Land aufgefordert, sofort zurückzutreten. Dieser Schritt sollte Furcht verbreiten. Die Botschaft war laut und eindeutig: Das Regime hatte die volle Kontrolle über die Universitäten, und es fand eine Säuberung statt. Bald wurde der Notstand erklärt, und 15 Universitäten wurden wegen angeblicher Verbindung zur Gülen-Bewegung über Nacht geschlossen. Die Studierenden, die an diesen Universitäten eingeschrieben waren, wurden zu akademischen Waisen. Wissenschaftler*innen und Verwaltungsangestellt wurden über Nacht arbeitslos.

Am 1. September wurde ein Regierungsdekret erlassen, durch das mehr als 50.000 Angestellte des öffentlichen Dienstes ihre Stelle verloren, darunter 2.356 Wissenschaftler*innen. Zu letzteren gehörten mehr als 40 Mitglieder der »Academics for Peace«.

Während die Säuberungen täglich weitergehen, ist das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit verschwunden. Die Säuberungen führen zur Auflösung der Universitäten, der Schulen und des Glaubens an die Demokratie. Die Hoffnung für Frieden schwindet. Psycholog*innen, die Militarismus, soziale Gerechtigkeit und Frieden jahrelang ignorierten, sind jetzt mit dem bevorstehenden Kollaps der Universitäten, ihrer heimatlichen Basis, konfrontiert.

Politik der Dämonisierung

Seit dem gescheiterten Putschversuch herrscht in der Türkei der Ausnahmezustand, der alle drei Monate verlängert wird. Wenn eine Regierung den Ausnahmezustand erklärt, Sonderbefugnisse erlangt und per Dekret regiert, gibt es für diese Regierung keinen Grund, diese Machtbefugnisse aufzugeben und den Ausnahmezustand aufzuheben. Wenn eine Regierung nahezu die totale Kontrolle erlangt, d.h. das Parlament, das Rechtswesen, die Massenmedien und die Kommunalverwaltungen kontrolliert, gibt es für diese Regierung kaum einen Grund, sich an die Verfassung, die bestehenden Gesetze oder die Menschenrechte zu halten. So eine Regierung bewegt sich rasch Richtung Totalitarismus.

An diesem kritischen Punkt ist es vielleicht hilfreich, sich an den Fall Paraguay zu erinnern, wo sich Alfredo Stroessner 1954 als Diktator etablierte und die Macht 35 Jahre lang behielt, bis 1989. Als er an die Macht kam, erklärte er den Ausnahmezustand und verlängerte diesen während seiner gesamten Diktatur alle drei Monate. Seine Herrschaft war für Paraguay eine Katastrophe. Diese historische Lektion lehrt uns, dass die Entwicklung der Türkei hin zum Totalitarismus unvermeidlich ist. Angesichts der Fakten und des Verfassungsreferendums vom April 2017 kann das jetzige Regime in der Türkei kaum anders denn als Diktatur bezeichnet werden.

Wenn die totale politische Kontrolle in Reichweite ist, sieht sich ein diktatorisches Regime sozusagen genötigt, jegliche Opposition auszuschalten und so die Hindernisse auf dem Weg zum Totalitarismus zu beseitigen. Dementsprechend hat das jetzige Regime der Türkei sich sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch für den Militarismus entschieden. Sämtliche oppositionellen Medien gerieten in den Fokus, und die Türkei wurde zum Land mit der höchsten Zahl inhaftierter Journalist*innen. Die Regierung behauptet, diese Journalist*innen seien Verräter*innen, Spion*innen (d.h. Feinde). Die Feinde sind überall. Es können Journalist*innen sein oder Führungspersonen und Abgeordnete der HDP, die vom Volk gewählt wurden, oder Demonstrant*innen auf der Straße. Sie alle verdienen, im Gefängnis zu sein oder schlimmer.2

Die Feindrhetorik ist beabsichtigt. Recep Tayyip Erdogan, der Präsident der Turkei, nutzt absichtlich jede Gelegenheit, einen Feind zu erfinden. Ziel ist die Polarisierung der Öffentlichkeit. Der Feind ist überall, in der Türkei und außerhalb. Die Öffentlichkeit muss sich daher entscheiden, ob sie hinter dem Feind oder hinter der Regierung steht (also ihm).3 Der Feind sind ausländische Mächte, der Feind sind Russland, die Niederlande, Deutschland – der Feind ist jeder, den das Regime als Feind ansieht. Und der Feind kann nach Belieben der Regierung wechseln.

Eine Analogie, die von Erdogan wieder und wieder herangezogen wird, hat mit Verstecken zu tun. Das sind Unterschlupfe der Feinde der Türkei, und es scheint, die Türkei ist voll von ihnen. Die »Versteck«-Analogie wurde ursprünglich genutzt, um die bevorstehende Verfolgung der Gülen-Anhänger anzukündigen. Die Regierung war stark und entschlossen, „in die Verstecke“ der Gülen-Anhänger zu marschieren. So sagte Erdogan, der damals Ministerpräsident war, 2014: „Also, heute ist der 30. März. Was haben sie gesagt? Sie sagten ‚Chaos nach dem 25. März’. Stimmt. Wir sahen das Chaos. Was war dieses Chaos? Dieses Land bekam die Gelegenheit, die Verräter zu sehen, die das Außenministerium abhörten und Verrat begingen, indem sie sich in die nationale Sicherheit dieses Staates und der Menschen einmischten. Das war ihr Chaosplan. Ich habe seit Monaten gesagt, ‚Wir werden in ihre Verstecke marschieren’.“4

Ursprünglich war die Analogie auf Gülen-Anhänger beschränkt. Später wurde sie auch für andere verwendet, besonders für die kurdischen Guerilleros, die als Bestien dargestellt wurden, die sich in Höhlen verstecken. Die Regierung war stark und entschlossen, in die Höhlen zu marschieren, wo auch immer diese sein mögen.

Ihre Kraft bezieht die »Versteck«-Analogie natürlich aus den inhärenten Bestien. Das Regime will seine Feinde als Untermenschen, als »häßliche Ungeheuer« darstellen, die es verdienen, eliminiert zu werden. Sie verdienen nichts Besseres, weil sie per Definition »Untermenschen« sind.

Diese Strategie wurde schon von vielen anderen eingesetzt, und sie ist sehr gefährlich: „Schau zurück auf einige der tragischsten Episoden der menschlichen Geschichte, und Du wirst Worte und Bilder finden, die Menschen ihre grundlegenden menschlichen Eigenschaften absprechen. In der Nazi-Zeit stellte der Film »Der ewige Jude« Juden als Ratten dar. Im Genozid von Ruanda nannten Hutu-Offizielle Tutsis ‚Kakerlaken’, die ausgemerzt werden müssten.“ 5

Die Geschichte liefert uns viele Fälle, in denen die Porträtierung politischer Gegner als Untermenschen die Lizenz zum Töten lieferte. In der Türkei war und ist das so. Die Seiten der Online-Medien, z.B. YouTube, sind voll von Videos, in denen Guerilleros misshandelt, gefoltert oder schlicht exekutiert werden. Und dazu muss man gar keiner Guerilla-Truppe angehören. Jeder, der für »einen von denen« gehalten wird, verdient diese Behandlung. Die Titel und Kommentare solcher Videos verweisen oft auf »Untermenschen«, die eliminiert werden. Die Leichen verdienen keinen Respekt und werden daher als »Kadaver« bezeichnet. Einen Guerillero zu töten, heißt »einen Kadaver auf seine Kappe zu nehmen« usw.

Die Propaganda wird nicht einmal im Ramadan unterbrochen, der doch ein Monat der Brüderlichkeit und des Friedens sein soll. Am 7. Juni 2017 ergriff der Präsident der Türkei das Wort bei einem Fastenbrechen, das von hochrangigen Angehörigen der Sicherheitskräfte organisiert wurde. Unter Verweis auf diejenigen, die im Juli 2016 an dem Putschversuch beteiligt waren, sagte er, diese verdienten mehr als eine Gefängnisstrafe: „Wenn“, sagte er, „diese Terroristen jemals ihre Strafe abgesessen haben und aus dem Gefängnis spazieren, wird die Öffentlichkeit sie strafen: Sie werden ihnen ins Gesicht spucken und sie in der Spucke ertränken.“6

Wer immer noch nicht versteht, was in der Türkei passiert, dem sollten diese Worte genügen. Der Präsident der Türkei ist der Richter, die Geschworenen und der Staatsanwalt in einer Person. Er weiß, wer schuldig ist, wer ein Terrorist ist, wer ein Feind ist. Er weiß auch, wie der Gerechtigkeit Genüge getan werden kann. Er hat kein Problem, zum Lynchen durch Spucken aufzurufen, und es wäre ihm egal, wenn aus dem Spucken etwas Drastischeres würde. Er weiß, dass Dehumanisierung ein geistiges Schlupf­loch ist, das es zulässt, dass Menschen anderen Menschen Leid antun.

Die Türkei ist eindeutig auf Crash­kurs, und die Seele des Landes wird korrumpiert zugunsten von Hegemonie und Tyrannei. Was in der Türkei passiert, ist so ungeheuerlich, so surreal, dass es sich anfühlt wie ein grauenhaft militaristischer Film, der in Endlosschleifen sinnloses Töten zeigt. Aber es ist kein Film. Es ist keine Animation. Die Türkei befindet sich mitten in der Tragödie, die jeden Tag schlimmer wird.

Militarismus zerstört akademische Freiheit

Während ich diesen Text abschließe, ist mein Denken von unterschiedlichen Kräften besetzt, von Kräften, von denen ich mir wünschte, dass sie nie existierten. Auch der Tod besetzt mein Denken. Es fand eine Invasion meines Berufslebens statt, und die Universitäten, denen ich so viel Zeit gewidmet habe, stehen unter Besatzung. Mein Heimatland wird erledigt.

Ich empfehle, dass Sie meine Worte ernst nehmen. Wenn Militarismus vorherrscht, ist die akademische Freiheit zum Verschwinden verdammt. Psycholog*innen müssen den Frieden ernstnehmen, um ihres Berufs willen, wenn nicht sogar um des Gemeinwohls willen.

Anmerkungen

1) American Psychological Association (o.J.): ­Report of the Independent Reviewer and Re­lated Materials. apa.org/independent-review/.

2) Turkey seeking up to 142 years in jail for co-head of pro-Kurdish opposition party. Deutsche Welle, 17.1.2017; dw.com.

3) “Gün, Mücadele ve Zalimlerin Üzerine En Sert Sekilde Gitme Günüdür”. Türkiye Cumhuriyeti, 16.3.2016; tccb.gov.tr.

4) FULL TEXT: Turkish PM Erdogan’s post-election »balcony speech». Hürriyet Daily News, 31.3.2014; hurriyetdailynews.com.

5) Resnick, B.: “They’re not even people”: why Eric Trump’s dehumanizing language matters – The psychology of what happens when we think our opponents are less than human is troubling. Vox, 7.6.2017; vox.com.

6) “Türkiye’yi Tacize ve Tehdide Yeltenenler, Bunun Bedelini Öder”. Türkiye Cumhuriyeti, 7.6.2017; tccb.gov.tr.

Literatur

Chandrasekaran, R. (2007). Imperial Life in the Emerald City – Inside Baghdad’s Green Zone. London: Bloomsbury Publishing.

Degirmencioglu, S.M. (2003). Impressions from the Biennial. The Community Psychologist, Vol. 36, No. 3, S. 27.

Degirmencioglu, S.M. (2005) Sesimi Duyun – Benim de Sesim Var. Ankara: Kök Yayincilik.

Degirmencioglu, S.M. (2006). Hear My Voice – I, too, have a voice. Dialogue on Participation, No. 3, S. 9.

Degirmencioglu, S.M. (2010a) The psychology of napalm – Whose side are psychologists on? Journal of Critical Psychology, Counselling and Psychotherapy, Vol. 10, No. 4, S. 196-205.

Degirmencioglu, S.M. (2010b) Napalm düstügü yeri yakar – Psikoloji kimin yaninda? Elestirel Psikoloji Bülteni, No. 3-4, S. 46-66.

Degirmencioglu, S.M. (2011). Militarism all over schools in Turkey. Broken Rifle, No. 88.

Degirmencioglu, S.M. (2012). Psychology of napalm – Why do psychologists avoid burning issues? International Congress of Psychology, Cape Town, South Africa.

Degirmencioglu, S.M. (2013). Young people in Turkey besieged by militarism – Past and pres­ent. In: Everett, O. (ed.): Sowing Seeds – The Militarization of Youth and How to Counter it. London: War Resisters’ International, S. 71-78.

Degirmencioglu, S.M. (ed.) (2014): “Öl Dediler”, Öldüm – Türkiye’de Sehitlik Mitleri. Istanbul: Iletisim Yayinlari.

Serdar M. Degirmencioglu (serdardegirmencioglu@gmail.com) war bis zu seiner Entlassung im April 2016 Professor für Entwicklungs- und Gemeindepsychologie an der Dogus-Universität in Istanbul. Seitdem war er Gastwissenschaftler an der American University in Cairo, der University of Macerata and L’Université libre de Bruxelles. Seine letzten Bücher befassen sich mit Tabus (z.B. dem Märtyrertod) und vernachlässigten Themen (z.B. profitorientierten Universitäten, psychologischen Auswirkungen von privater Verschuldung). Zur Zeit ist er Mitglied des Exekutivausschusses der »Society for the Study of Peace, Conflict, and Violence: Peace Psychology«.
Dieser Artikel wurde Anfang Juni 2017 fertiggestellt.
Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Erdogans Reichstagsbrand


Erdogans Reichstagsbrand

von Jürgen Nieth

„Hat es in der Türkei am 15. Juli 2016 einen Putsch gegen die Staatsführung gegeben? Ja, den gab es wohl – so wie es am 27. Februar 1933 in Berlin einen Brandanschlag auf den Reichstag gab […] [Dieser] war willkommenes Vehikel zur Etablierung der Nazi-Barbarei. Sehr Ähnliches hat sich in den abgelaufenen zwölf Monaten in der Türkei abgespielt. Nach einem Umsturzversuch, dessen Dilletantismus im Nachhinein viele Fragen aufwirft, folgten Ausnahmezustand, die Entmachtung des Parlaments, die Entlassung und/oder Verhaftung Hunderttausender, schlicht: Terror.“ (Roland Etzel, ND, 17.7.17., S. 1)

Staatsterror

Die Bilanz, die in der deutschen Presse ein Jahr nach dem Putschversuch gezogen wird, ist übereinstimmend kritisch. Kein Wunder, denn die Handlungen Erdogans und seiner Getreuen sprechen für sich: „Nach offiziellen Angaben sind bislang 50.510 Menschen verhaftet worden […] Gegen insgesamt 169.013 Menschen laufen Ermittlungsverfahren, knapp 150.000 Menschen sind aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden. Über die Hälfte davon sind Lehrer, Dozenten und Professoren. Rund 150 Journalisten […] sitzen im Gefängnis, über hundert Zeitungen, TV-Sender und Radios wurden geschlossen oder aus dem Äther verbannt.“ (Jürgen Gottschlich, taz, 17.7.17., S. 3)

Andere Presseorgane nehmen Details der Verfolgungen unter die Lupe: „Bis heute wurden 4.424 Richter und Staatsanwälte suspendiert, 2.584 inhaftiert, 680 sind in Einzelhaft. Rund ein Viertel der staatlichen Justiz wurde ausgeschaltet.“ (Frank Nordhausen, BZ, 15.7.17., S. 3) „563 Mütter [sind gezwungen] […] mit ihren Säuglingen und Kindern gemeinsam die Haft zu verbringen.“ (Cüneyt Dinc, Freitag, 27.7.17., S. 8). „Ein Dutzend Universitäten und über tausend Privatschulen wurden geschlossen. Die Regierung zog die Pässe von mehreren zehntausend Menschen ein […] Fast tausend Unternehmen mit einem Gesamtumsatz von fast 20 Milliarden Dollar, deren Inhaber als Gülen-Anhänger galten, wurden verstaatlicht.“ (Markus Bernath und Susanne Güsten im Tagesspiegel, 15.7.17., S. 2) „Die Listen der jeweils neuesten Entlassungen erscheinen meist nach Mitternacht im »Resmi Gazete«, dem offiziellen Organ der Regierung […] Fieberhaft suchen Hunderttausende Türken dann nachts in den neuen Listen ihre Namen. Wenn sie ihn finden, wissen sie, dass vielleicht schon im Morgengrauen die Polizei kommen wird. Selbst wenn man sie nicht verhaftet, wird ihnen niemand mehr einen Job geben, verlieren sie ihre Krankenversicherung, werden […] ihre Kinder in der Schule gemobbt.“ (Boris Kálnoky, WaS, 16.7.17, S. 2) „Ein Abgeordneter der republikanischen Volkspartei und elf Mandatsträger der Demokratischen Partei der Völker (HDP) befinden sich seit Monaten im Gefängnis, darunter die beiden Ko-Vorsitzenden der HDP […] Außerdem wurden 74 Bürgermeister der HDP inhaftiert. Für 89 Kommunen, vor allem im kurdischen Südosten, wurde von der Regierung ein Treuhänder statt des gewählten Bürgermeisters eingesetzt.“ (Jan Keetmann, ND, 21.7.17., S. 5)

Der angekündigte Putsch

„Bereits wenige Tage nach dem Putsch sprach Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von einem »kontrollierten Putsch«, was bedeutet, Erdogan habe zwar den Putschversuch gegen sich nicht selbst geplant, er habe jedoch die Kontrolle über ihn gehabt. Eine neue Chronologie der Ereignisse […] stützt diese These […] [sie zeigt], dass Erdogans Leute die Putschisten infiltriert hatten und über die Abläufe im Bilde waren.“ (Rainer Hermann, FAZ, 15.7.17., S. 8) Hermann zeigt auf, dass der pensionierte Oberst Attila Ugur bereits am 14. Juli in der regierungsnahen Zeitung »Yeni Safak« von einem bevorstehenden Putsch gesprochen habe. In der SZ (15.7.17., S. 2) verweist Christiane Schlötzer darauf, dass der „Geheimdienst (MIT) am 15. Juli bereits um 14,30 Uhr von einem Hubschrauberpiloten über einen unmittelbar bevorstehenden Staatsstreich informiert [wurde] – sieben Stunden bevor Panzer auf die Bosporusbrücke rollten.“ Gleich mehrere Zeitungen weisen darauf hin, das Erdogan selbst noch in der Nacht des Aufstandes von dem Putschversuch als einem „Geschenk Gottes, das es ermöglicht, die Armee zu säubern“ gesprochen habe, dass die Listen für zehntausende Verhaftungen vorbereitet waren und dass innerhalb von 48 Stunden 50.000 Menschen festgenommen wurden.

Erdogans Machtdemonstration

Am 15. Juli 2016 wehrten die Türken gemeinsam den Staatsstreich ab, waren Regierungs- und Oppositionspolitiker gemeinsam im Parlament Angriffen ausgesetzt. Am Jahrestag des Putsches erlebte die Türkei eine riesige Machtdemonstration Erdogans: „Sämtliche Reklametafeln waren mit Plakaten gepflastert, die Erdogans Palast gestaltet hatte, von den Minaretten erklang Sela, der Ruf zum Totengebet. Sogar auf unseren Mobiltelefonen waren Botschaften, die den Putschversuch verdammten: Wenn wir am 15. Juli 2017 eine Nummer wählten und sei es die Notrufnummer 112, dann erklang zunächst die von Erdogan persönlich eingesprochene Botschaft zum 15. Juli. Erst danach konnte man einen Krankenwagen anfordern […] Die Opposition blieb [bei den Feierlichkeiten] außen vor […] Bei der Parlamentszeremonie wurde der Opposition kein Rederecht gewährt.“ (Bülent Mumay, FAZ, 20.7.17, S. 14)

Es redete Erdogan. Er „kündigt in Istanbul unter Applaus des Publikums an, die Wiedereinführung der Todesstrafe voranzutreiben. Er schlägt vor, mutmaßliche Putschisten vor Gericht in orange Overalls zu stecken wie die Häftlinge in Guantanamo. Er ruft: »Wir werden den Verrätern den Kopf abreißen«.“ (Spiegel Nr. 30/2017, S. 27)

Fazit

Daniel Steinvorth zieht in der NZZ die Bilanz: „Währte der Putschversuch nur eine Nacht, so währt der Putsch nach dem Putsch bereits ein Jahr.“ (15.7.17., S. 12) Doch erst nach den Festnahmen des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner hat der deutsche Außenminister eine »Neuausrichtung« der deutschen Türkeipolitik gefordert. Von Taten ist außer einer Reisewarnung bisher allerdings nichts zu sehen.

Zitierte Zeitungen: BZ – Berliner Zeitung, Der Spiegel, Der Tagesspiegel, FAZ – Frankfurter Allgemeine, Freitag, ND – neues deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, WaS – Welt am Sonntag.

Nach Erdogans Gusto


Nach Erdogans Gusto

von Regina Hagen

„Staatsstreich vollendet“, erklärt die jw am 18.4.2017 auf ihrer Titelseite und sagt als Ergebnis des „Votum[s] über die Diktaturambitionen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan die Umwandlung der türkischen Republik in eine „Präsidialdiktatur“ voraus.

Die absehbaren Folgen des türkischen Referendums über eine Verfassungsreform beurteilen andere auch mit Sorge, aber in vorsichtigerer Diktion: „Erdogan in den Fussstapfen der Sultane“ (NZZ 19.4.17, S. 1), „Alle Macht dem Präsidenten (FAZ 20.4.17, S. 10), „Alle Macht für Erdogan“ (nd 18.4.17, S. 1), „illiberale Demokratie“ (FR 18.4.17, S. 1, FAZ 20.4.17, S. 10). „Das Referendum ist das Ermächtigungsgesetz Erdogans“, zieht Arno Widmann eine historische Parallele (FR 18.4.17, S. 11), und Reiner Hermann weist darauf hin, „[d]ie neue Verfassung enthalte keine Mechanismen mehr, um das Land vor einem Absturz in ein autoritäres Regime zu bewahren“ (FAZ 20.4.17, S. 10).

Ein halber Triumph

Alle Medien kommentieren am 18.4.17 das mit 51,4 % Ja- und 48,6 % Nein-Stimmen knappe Ergebnis des türkischen Referendums: „Erdogans gespaltenes Reich“ (FR, S. 1), „Spalter!“ (WELT, S. 1), „Erdogans Sieg entzweit die Türkei“ und „So gespalten wie Amerika“ (SZ, S. 1, 4). Jürgen Gottschlich vergleicht das Referendumsergebnis mit dem Ergebnis der letzten Wahl in der Türkei: „Statt 61 Prozent, die die beiden Parteien AKP und MHP, die jetzt das Referendum unterstützt haben, bei der letzten Wahl erzielten, hat er gerade mal 51 Prozent geholt, also 10 Prozent verloren.“ (taz 18.4.17, S. 3) Özlem Topçu meint ebenfalls: „Aber es ist in Wahrheit doch schiefgegangen. […] Eine denkbar knappe Mehrheit – trotz all der Macht der Regierung Erdogan, trotz ihrer gewaltigen finanziellen und medialen Überlegenheit, trotz der Repression der Kritiker, trotz der Verdrängung und Behinderung der Nein-Kampagne […].“ (ZEIT 20.4.17, S. 9)

Und es dominieren die Zweifel an der Korrektheit der Abstimmung: „Nein zum Ja“ (taz 18.4.17, S. 1), Sieg voller Ungereimtheiten“ (FAZ 18.4.17, S. 3), „Schatten des Verdachts“ (SZ 19.4.17, S. 2) , „es habe in fast 11.000 Wahllokalen Unregelmäßigkeiten gegeben“ (FAZ 19.4.17, S. 3). In kurdischen Gebieten konnten viele Menschen nicht abstimmen, Säcke mit Nein-Stimmen lagen auf dem Müll, und dann ist da noch die Sache mit manipulierten Stimmzetteln. „So wurden 2,5 Millionen Stimmen von der Obersten Wahlbehörde YSK als »gültig« anerkannt, obwohl die vorgeschriebenen Stempel der Wahlkommission auf den Umschlägen fehlten.“ (jw 19.4.17, S. 1) Angesichts einer Mehrheit von knapp 1,4 Millionen Ja-Stimmen ist diese Zahl keine Lappalie.

Druck auf Medien und Oppositionelle

Die Folgen der Verfassungsänderungen für einzelne Bevölkerungsgruppen sind heute kaum abzusehen. Reporter ohne Grenzen geht davon aus, dass „die Situation für unabhängige Medien in der Türkei noch schwieriger“ wird, und die FAZ (19.4.17, S. 15) geht davon aus, dass „Staatspräsident Erdogan noch stärkeren Druck ausüben [wird], ‚um die letzten unabhängigen Medien dort auch noch zum Schweigen zu bringen’“. Mehrmals finden die aktuell etwa 150 inhaftierten Journalist*innen Erwähnung. Die WELT (18.4.17) nutzt die Kommentar-Spalte auf S. 1, um an ihren Türkei-Korrespondenten Deniz Yücel zu erinnern, denn „ er sitzt noch immer im Gefängnis von Silivri […] weil die Regierung ihm Volksverhetzung und Terrorpropaganda vorwirft“. Dieses Schicksal teilt er aktuell mit nahezu 50.000 Menschen, die die Regierung als ihre Gegner einstuft, und das mit steigender Tendenz.

Militärische Zusammenarbeit

Die Türkei ist seit 1952 Mitglied des Nordatlantischen Bündnisses und beherbergt in Incirlik US-Atomwaffen. „Die NATO-Mitgliedschaft der Türkei will die Große Koalition aber nicht infrage stellen. ‚Die Türkei ist geostrategisch ziemlich unverzichtbar’ […].“ (taz 19.4.17, S. 1) Dagegen fordern „Linke und Grüne […] Konsequenzen für die militärische Zusammenarbeit mit der Türkei. Die rund 260 auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik stationierten Bundeswehrsoldaten müssten abgezogen und alle Waffenlieferungen an den NATO-Partner gestoppt werden“, berichtet Melanie Reinsch in der FR (18.4.17, S. 5).

Jörg Haas, Leiter der campact!-Kampagne »Keine Panzer für Erdogan!« verweist im Interview mit Gitta Düperthal auf Pläne des Rüstungskonzerns Rheinmetall, eine komplette Panzerfabrik in die Türkei zu exportieren, obgleich „Erdogan Panzer gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes“ einsetzt. „Der Rheinmetall-Deal mit Erdogan“, so Haas, „hätte weitere üble Folgen. Von der Fabrik aus könnte die Türkei Panzer in alle Krisenherde der Region liefern, etwa über das Golfemirat Katar […]. Die deutsche Rüstungsexportkontrolle des Bundestags wäre ausgehebelt.“ Für Sevim Dagdelen von der Linkspartei ist daher klar: „Keine Waffen, kein Geld, keinen Soldaten mehr für Erdogan.“ (jw 18.4.17, S. 8)

Die Türkei und die EU

Die Internationale Liga für Menschenrechte fordert nun „die Aufkündigung des menschenverachtenden Flüchtlingsdeals mit der Türkei, an dessen Stelle unter Mithilfe des UNHCR wirksam kontrollierte Direkthilfe für Geflüchtete in der Türkei treten sollte“ (ilmr.de 18.4.2017). Das wird wohl kaum passieren. „In Brüssel geht man trotz allem davon aus, dass Erdogan weiter ein Interesse hat, am Flüchtlingsabkommen mit der EU festzuhalten. Einfach deshalb, weil die Türkei dafür Geld bekommt. Bis 2018 sollen sechs Milliarden Euro überwiesen werden […].“ (SZ 18.4.17, S. 2) Gleichzeitig ist in der EU aber eine heftige Diskussion entbrannt um weitere Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. „Die Wiedereinführung der Todesstrafe habe oberste Priorität, sagte [Erdogan].“ (NZZ 19.4.17, S. 3) Genau dies ist laut Kommissionspräsident Juncker aber „die röteste aller roten Linien“ und „wäre ein klares Signal, dass die Türkei kein Mitglied der europäischen Familie sein will“ (SZ 19.4.17, S. 2).

Zitierte Zeitungen: DIE WELT kompakt (WELT), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Frankfurter Rundschau (FR), junge welt (jw), Neue Zürcher Zeitung (internationale Ausgabe) (NZZ), Neues Deutschland) (ND), Süddeutsche Zeitung (SZ), tageszeitung (taz), Zeit (Die Zeit).

Aus dem Herausgeberkreis

Aus dem Herausgeberkreis

von W&F-Herausgeberkreis

Die Ereignisse in der Türkei

Stellungnahme und öffentlicher Appell der deutschen IALANA-Sektion

von IALANA

I

Als das türkische Verfassungsgericht
Ende Februar 2016 die angeordnete Untersuchungshaft gegen zwei
Journalisten aufhob, die die Unterstützung militanter Islamisten
in Syrien durch türkische Stellen aufgedeckt hatten, drohte der
türkische Präsident Erdogan den Richtern: „Ich sage es offen und
klar, ich akzeptiere das
nicht und füge mich der Entscheidung
nicht, ich respektiere sie
auch nicht.“1 Dieser Drohung hat er jetzt Taten folgen lassen.

Als Vorwand dafür hat er den am 15. Juli d.J. gescheiterten Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs genutzt. Seit der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 sind anhand von offenkundig lange vorbereiteten Listen fast 3.000 RichterInnen und StaatsanwältInnen durch die Exekutive ihres Amtes enthoben und ein Großteil von ihnen verhaftet worden. Die Suspendierungen und Repressionen sind auf Tausende von Journalisten, Lehrern, Professoren, Rechtsanwälten und Angehörigen von Bildungseinrichtungen ausgedehnt worden. Zeitungen sowie Rundfunk- und Fernsehsender sind geschlossen oder gleichgeschaltet worden. Unter Berufung auf die türkische Verfassung und Artikel 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention hat die türkische Regierung jetzt zudem den »Ausnahmezustand« verhängt, um sich lästiger rechtstaatlicher Fesseln zu entledigen.

II

Die NATO schweigt bisher zu diesen Vorgängen. Dabei sind alle NATO-Mitgliedsstaaten verpflichtet, „die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten“ (Satz 2 der Präambel des NATO-Vertrages).

Wir stellen fest, dass das Vorgehen von Präsident Erdogan und seiner Regierung mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen unvereinbar ist, die die Türkei jedenfalls durch den Beitritt zum Europarat und durch die Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eingegangen ist. Die mit einer Verhängung des Ausnahmezustandes verbundene „Aussetzung“ grundrechtlicher Garantien der EMRK käme nach Artikel 15 EMRK allein dann in Betracht, wenn „das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht ist“. Diese Voraussetzung ist in der Türkei heute schon deshalb nicht gegeben, weil der versuchte Militärputsch bereits am 16. Juli d.J. niedergeschlagen und gescheitert war, also jedenfalls seitdem schon aus diesem Grunde nicht mehr als Rechtfertigung für die Verhängung des Ausnahmezustandes herangezogen werden darf. Die Türkei hat keinerlei Recht, die EMRK und die Unabhängigkeit der Justiz nach eigenem Belieben einzuschränken.

Es darf nicht hingenommen werden, dass die Meinungs-, Informations- und Versammlungsfreiheit sowie die Pressefreiheit in der Türkei entgegen Artikel 9 und 10 EMRK eingeschränkt werden und dass entgegen Artikel 5 und 8 EMRK die persönliche Freiheit und Sicherheit sowie das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens von Erdogan-Kritikern nicht gesichert sind. Ferner verstößt es gegen die EMRK, dass den nach Medienberichten zwischenzeitlich mehr als 50.000 suspendierten türkischen Staatsbediensteten und anderen Verhafteten die in Artikel 6 EMRK garantierten Rechte auf ein faires Verfahren vorenthalten werden. Ausweislich der uns von betroffenen Richtern zugegangenen E-mails werden die Betroffenen entgegen Artikel 6 Absatz 3 EMRK jedenfalls nicht „innerhalb möglichst kurzer Frist […] in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigungen unterrichtet“. Beweise für eine behauptete Verwicklung in den gescheiterten Militärputsch oder andere Amtspflichtverletzungen werden den Betroffenen über den schlichten Verweis auf die Listen hinaus weder mitgeteilt noch gar nachprüfbar vorgelegt.

III

Die Suspendierungen und Verhaftungen der mehr als 500 Verwaltungsrichter, von mehreren Verfassungsrichtern und mehr als 2.000 RichterInnen anderer Gerichte lassen die Zielrichtung erkennen: Die von Präsident Erdogan und seiner AKP-Regierung angeordneten und veranlassten Maßnahmen zielen vor allem auf die Ausschaltung einer unabhängigen Justiz, die Einschüchterung und Unterdrückung jeder Opposition, die Gleichschaltung der Presse und Medien sowie auf die möglichst ungehinderte Errichtung eines autoritären Präsidialregimes mit einem ungehemmten Führerkult.

Das dürfen die Vertragsstaaten der EMRK und die Institutionen des Europarates nicht länger widerspruchslos hinnehmen. Die Forderung der Bundeskanzlerin und von Bundesinnenminister de Maizière an Präsident Erdogan, das „Gebot der Verhältnismäßigkeit“ zu wahren, stellt die repressiven Maßnahmen gegen die türkische Bevölkerung im Grundsatz nicht in Frage, sondern geht von deren Legitimität aus. Sehr befremdlich ist es, dass Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier am 21.7.2016 in Washington erklärt hat, der in der Türkei verhängte Notstand müsse „auf die unbedingt notwendige Dauer beschränkt und dann unverzüglich beendet“ werden.2 Auch das legitimiert den aktuell verhängten »Ausnahmezustand«. Präsident Erdogan wird all dies freuen.

IV

1. Wir fordern die deutsche Bundesregierung und die Regierungen aller Vertragsstaaten des Europarates auf, beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg eine Staatenbeschwerde nach Artikel 33 der EMRK3 gegen die Türkei zu erheben, um ein EMRK-konformes Verhalten einzufordern und durchzusetzen. Zur Vorbereitung sollte unverzüglich eine Expertenkommission mit »fact finding«-Befugnissen entsandt werden. Sie sollte sicherstellen, dass sich verfolgte und verhaftete Bürgerinnen und Bürger in der Türkei ungehindert mit der Bitte um Unterstützung an sie wenden können.

2. Auch die OSZE ist gefordert. Das Menschenrechtskomitee (Human Dimension Committee) der OSZE muss sich unverzüglich mit der Menschenrechtslage in der Türkei befassen. Sie sollte eine sofortige Rücknahme der pauschalen listenmäßigen Suspendierung der RichterInnen und StaatsanwältInnen sowie der Eingriffe in die Unabhängigkeit der Justiz und ein Ende der Verstöße gegen zentrale Menschenrechte einfordern.

3. Der NATO-Rat muss auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs baldmöglichst zu einer Sondersitzung zusammentreten, um die Türkei eindringlich auf ihre demokratischen und rechtsstaatlichen Pflichten als NATO-Mitgliedsstaat hinzuweisen. Die in der Türkei im NATO-Rahmen stationierten 50 Atomsprengköpfe müssen dort unverzüglich abgezogen werden. Alle Waffen- und Rüstungslieferungen sowie alle Finanztransfers an das Erdogan-Regime müssen sofort bis auf Weiteres gestoppt werden.

4. Die Tornado-Einheit der Bundes-Luftwaffe sollte unverzüglich aus Incirlik abgezogen werden.

Anmerkungen

1) Vgl. u.a. dpa: Lange Haftstrafen für regierungskritische Journalisten. faz.net, 6.5.2016.

2) saz./dpa/Reuters: Steinmeier ruft Erdogan zu Verhältnismäßigkeit auf. faz.net, 21.7.2016.

3) Artikel 33 der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Fassung vom 1. Juni 2010: „Staatenbeschwerden: Jede Hohe Vertragspartei kann den Gerichtshof wegen jeder behaupteten ­Verletzung dieser Konvention und der Protokolle dazu durch eine andere Hohe Vertragspartei ­anrufen.

Berlin, den 24./25.7.2016
IALANA – Deutsche Sektion der Inter­national Association Of Lawyers Against Nuclear Arms

Transhumanismus

FIfF-Kommunikation 2/2016

von FIfF

Transhumanismus ist kein klar abgegrenzter Begriff oder gar ein klar umrissenes Forschungsgebiet. Mit der immer engeren Verbindung zwischen Wissenschaften und Technik in Bio-, Gen- und Informationstechnologie in all den duplizierten Fächern mit dem Präfix Computational, mit Artificial-Life-Forschung, Trans- und Posthumanismus und Extropianismus verschwimmen auch Grenzen zwischen Mensch und Maschine.

Die Beiträge des Schwerpunkts der aktuellen Ausgabe der FifF-Kommunikation zum Transhumanismus sind von klaren Bekenntnissen zum Technikoptimismus bis hin zu fundierter Konzeptkritik breit gefächert. Der erste Teil, zusammengestellt von Karsten Wendland, Linda Embacher und Stephan Straub, zeigt Ziele, Paradigmen des und Techniken für den Transhumanismus, der mittlerweile vielerorts als »neue Religion der technischen Eliten« gilt. Sein Fernziel ist die Unsterblichkeit des einzelnen Menschen, erreichbar durch »Mind Uploading« in die Virtualität. In dieser lebt man sodann für immer, kann sich nach Bedarf in den unterschiedlichen Rollen und Formen (durch »Download«) materiell manifestieren und danach wieder zurückkehren.

In einem Interview sprechen James J. Hughes, Zoltan Istvan und Stefan L. Sorgner über »Expectations and Apprehensions on Transhumanism«, Kevin Warwick schreibt über »Transhumanism: Some Practical Possibilities«, Michael Hrenka, Benjamin Eidam und Steven Bärwolf behandeln »Prothesen und Implantate aus einer transhumanen Perspektive« und Thomas Damberger untersucht »Information: Der blinde Fleck im Transhumanismus«.

Der zweite Abschnitt des Schwerpunkts, zusammengestellt von Britta Schinzel, beginnt mit Texten über realisierbare bzw. bereits realisierte Bereiche der Amalgamierung von Organischem und Technischem, um sich dann der Genealogie und den Problemen von bzw. der Kritik an transhumanistischen Utopien zuzuwenden.

In ihrem Beitrag »Neurotechnologie: Aktuelle Entwicklungen und ethische Fragen« verbinden Oliver Müller und Stefan Rotter die Darstellung der konstruktiven Möglichkeiten der Neurotechnologie mit reflexiven ethischen und anthropologischen Überlegungen. Die Aufwärtsentwicklung von der Reparatur zur unternehmerischen Selbstverbesserung, von Therapie zu »enhancement«, Optimierung, Leistungssteigerung und Wahrnehmungssteigerung stellt Karin Harrasser in ihrem Beitrag »Parahumane Konstellationen von Körper und Technik« der vorherrschenden globalen Wachstumsideologie gegenüber. Rainer Rehak problematisiert in seinem Beitrag »Die Macht der Vermenschlichung und die Ohnmacht der Begriffe« die Umdeutung alltagssprachlicher Begriffe. Ralf Schöppner untersucht soziale, ethische und Machbarkeits-Überlegungen: »Glücklich durch Technik?«

Oliver Müllers Beitrag »Zu einigen philosophischen Tiefenstrukturen des Transhumanismus« erörtert dessen Voraussetzungen und Vorannahmen aus älteren philosophischen Traditionen und Menschenbildern, und Karen Kastenhofer und Helge Torgersen behandeln im Beitrag »Transhumanismus und Neuroenhancement» die neue Aufgabe der Technikfolgenabschätzung (TA), sich mit noch nicht realisierten Zukunftsvisionen auseinanderzusetzen.

Die Hochschule Bremen wird den schon länger bestehenden Internationalen Frauenstudiengang Informatik (IFI) nun in Zusammenarbeit mit der Bundeswehr um ein neues Duales Studienangebot komplettieren. Ralf E. Streibl, der in dem Studiengang seit Beginn das Fachgebiet Informatik und Gesellschaft vertreten hatte, will unter diesen Bedingungen nicht weiter an der Lehre mitzuwirken und legt in einem offenen Brief seine Gründe dar.

Dietrich Meyer-Ebrecht rezensiert einen Artikel von Robert Epstein, »The new mind control«, und setzt damit seine Reihe von Beiträgen zur Selbstbestimmtheit in der digitalen Welt fort. Thea Riebe wirft in ihrem Beitrag »Sicherheit durch Überwachung?« einen kritischen Blick auf »Surveillance Studies«, und Sylvia Johnigk und Kai Nothdurft beschreiben in »SUPERNERDS. Wie sicher sind deine Daten?« den Umgang mit Datenschutz in sozialen Medien bei Schülern der 8. bis 12. Klasse. Die gewohnten Rubriken runden die Ausgabe ab.

Inhaltliche Anfragen richten Sie bitte an die Redaktion redaktion@fiff.de; ein Rezensionsexemplar senden wir Ihnen auf Anfrage an fiff@fiff.de gerne zu. Auf unserer Webseite (fiff.de/publikationen/fiff-kommunikation/) finden Sie weitere Informationen zur aktuellen Ausgabe und zu vorangegangenen Heften sowie eine Auswahl der Beiträge online.

Türkei-Wahlen am Rande des Abgrunds

Türkei-Wahlen am Rande des Abgrunds

von Errol Babacan

In der Türkei wurde am 1. November 2015 zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres ein neues Parlament gewählt. Für die AKP hat sich die Neuwahl ausgezahlt, sie hat ihre bei den Wahlen im Juni verlorene absolute Mehrheit wiedergewonnen. Inmitten des Zerfalls der geopolitischen Ordnung im Nahen Osten trübt das Wahlergebnis die ohnehin düsteren Aussichten auf eine Befriedung des Bürgerkriegs und auf Entspannung der politischen Verhältnisse in der Türkei noch stärker ein.

Vor dem Hintergrund der Prognosen fiel das Wahlergebnis überraschend aus. Trotz berechtigter Befürchtungen wurden aber keine Wahlfälschungen auf breiter Front festgestellt. Es ist jedoch klar, dass die Wahlen nicht unter fairen und gleichen Bedingungen stattgefunden haben. Grundrechte wie die Presse- und Versammlungsfreiheit sind in der Türkei stark eingeschränkt. Die staatlichen Sicherheitsapparate werden seit Jahren massiv gegen Opposition und Medien eingesetzt.

Nichtsdestotrotz muss nüchtern festgestellt werden, dass die Regierung erhebliche Unterstützung aus der Bevölkerung erhält. Der nach den Juni-Wahlen neuerlich eskalierte Bürgerkrieg mit der kurdischen Befreiungsbewegung, der in wenigen Wochen mehrere Hundert Tote forderte, scheint die Zustimmung noch vergrößert zu haben. Indes hat eine Reihe von Bombenanschlägen, die mit dem »Islamischen Staat« in Verbindung gebracht werden, aber allesamt nicht aufgeklärt sind, eine lähmende Wirkung auf die Opposition entfaltet. Insbesondere der Anschlag auf eine Friedenskundgebung in Ankara mit über hundert Toten war für die linke und kurdische Opposition ein Schock. Teile der AKP-Anhängerschaft reagierten dagegen demonstrativ mit Schadenfreude und bejubelten den Anschlag mit dem Ruf zum »Dschihad«. Deutlicher konnten das Ausmaß und der Charakter der Spaltung nicht aufgezeigt werden. In Nachbarschaft zu den Bürgerkriegsländern Syrien und Irak hat der sunnitische Dschihadismus in der Türkei organisatorisch und ideologisch Fuß gefasst.

Während die innenpolitische Konfliktlage sich verschärft, steht das Land vor einem Abgrund, der ein noch größeres Ausmaß an Polarisierung und Gewalt bereithält. Ein Rückzug der Türkei aus dem Krieg in Syrien gekoppelt mit einer innenpolitischen Kehrtwende wäre der einzige Ausweg gewesen. Mit dem eindeutigen Wahlsieg der AKP ist diese Option wohl vom Tisch. Damit bleibt die Türkei einer Dynamik ausgesetzt, die weit über die Innenpolitik hinausreicht. Die AKP ist mitverantwortlich für das Erstarken des Dschihadismus in der Region, die hauptsächliche Triebkraft ist sie aber nicht. Vielmehr ist der Nahe Osten Schauplatz einer Auflösung der geopolitischen Ordnung, die sowohl der AKP Spielräume eröffnet als auch das Emporkommen des Dschihadismus begünstigt.

Ausgelöst haben diesen Zerfallsprozess die USA durch ihre Interventionen in Afghanistan und Irak. Beschleunigt wurde er durch die Bombardierung Libyens seitens der NATO und die Forcierung eines »regime change« in Syrien. Inmitten des Zerfalls verschärft sich im Hintergrund nun die Konkurrenz zwischen den geopolitischen Hauptkräften USA und EU und ihren Herausforderern Russland und China. Ein Ende der Gewaltspirale ist nicht in Sicht, die Härte, mit der die Hauptkräfte aufeinander treffen, nimmt weiter zu. Inzwischen ist selbst ein direktes militärisches Aufeinandertreffen zwischen den USA und Russland in Syrien nicht mehr auszuschließen.

Sicherlich sind die Konfliktdynamiken in den Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas komplex. Sie reichen von zunehmender Verarmung, Arbeits- und Perspektivlosigkeit bis hin zur Unterdrückung jeglicher demokratischen Regung. Offen zu Tage liegt jedoch, dass die geopolitischen Hauptkräfte mit ihren regionalen Verbündeten im Schlepptau in Syrien einen Krieg austragen, der mittels Bombardements, Waffenlieferungen und Unterstützung diverser Diktaturen die Erosion demokratischer und friedlicher Perspektiven befördert.

Verstärkt wird diese desolate Entwicklung durch Deutschland, dessen Prioritäten durch den unsäglichen »Flüchtlingsdeal« mit der Türkei offengelegt wurden. Darüber hinaus ist Deutschland in die jüngeren Kriege involviert, sowohl durch seine Mitgliedschaft in der NATO als auch durch das spezifische Bündnis, das es mit den Golfstaaten – Hauptimporteure deutscher Waffen – und der Türkei im Syrienkrieg eingegangen ist. Die politischen Verhältnisse in diesen Ländern und ihre Rolle bei der Förderung des Islamismus sind bekannt. Dieses Wissen bleibt aber ohne jegliche politische Konsequenzen, auch deshalb, weil die friedenspolitische Kritik hierzulande nicht stark genug ist. Das gibt zu denken.

Errol Babacan ist Politikwissenschaftler und Mitherausgeber von »Infobrief Türkei«.

Von Patrioten, Raketenabwehr und Bündnissolidarität

Von Patrioten, Raketenabwehr und Bündnissolidarität

von Götz Neuneck

Raketenabwehr scheint wieder in Mode zu kommen. Am 4.12.2012 entschieden die NATO-Außenminister auf eine Anfrage der Türkei, die „integrierte NATO-Luftverteidigung“ durch die Stationierung von Abwehrraketen des Typs »Patriot« der USA, der Niederlande und Deutschlands zu stärken und „die Bevölkerung und das Territorium der Türkei zu schützen“. Grundlage ist Artikel 4 des Nordatlantik-Vertrages, der Konsultationen vorsieht, „wenn nach Auffassung eine[s NATO-Mitglieds] die Unversehrtheit des Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist“. Zu Recht fragt eine Studie der »Stiftung Wissenschaft und Politik«, „welche dieser drei Dimensionen tatsächlich bedroht ist“.

Wie aber steht es um die Wirksamkeit von Raketenabwehr und die sich daraus ergebenden Konsequenzen, auch unter dem Aspekt von Massenvernichtungswaffen?

Zwar betonen NATO-Sprecher und Vertreter der türkischen Regierung, die Stationierung sei ausschließlich als defensive Maßnahme zu verstehen und stelle weder auf die Errichtung einer Flugverbotszone noch auf offensive Operationen gegen Syrien ab. Zumindest in der innertürkischen Diskussion ging die Anfrage bei der NATO aber stets mit der Annahme einher, ein militärisches Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg sei allenfalls eine Frage der Zeit. Patriots haben eine Reichweite zwischen 20 und 160 km und sind daher nur in diesem Radius wirksam gegen anfliegende Flugzeuge oder Raketen. Besteht etwa eine solche Gefahr, solange sich Syrien und die Türkei nicht in einer kriegerischen Auseinandersetzung befinden? Die NATO schuldet ihren Mitgliedern Beistand gegen einen bewaffneten Angriff, nicht aber Rückendeckung für beliebige außenpolitische Ziele. Gegen den Schutz der Bevölkerung und den Erweis von Bündnissolidarität ist im Prinzip wenig einzuwenden. Politische Symbolhandlungen mit militärischen Mitteln, die das Eskalationsrisiko in einer spannungsgeladenen Konfliktregion in die Höhe treiben, sind hingegen kontraproduktiv.

Am 14.12.2012 stimmte der Deutsche Bundestag mit 461 gegen 86 Stimmen für den Antrag der Bundesregierung, zwei Patriot-Abwehrbatterien in die Türkei zu senden. Das Mandat stellt fest: „Die Türkei ist einer potentiellen Bedrohung durch ihren Nachbarn Syrien ausgesetzt.“ Außenminister Westerwelle ergänzte, die NATO wolle gegen alle „Eventualitäten an der Grenze“ gewappnet sein. Es sei „ein klares Signal an das Regime von Assad, mit der Gewalt und Übergriffen auf das Staatsgebiet der Türkei aufzuhören“. Diese Argumentation bezieht sich u.a. auf den Abschuss eines türkischen Flugzeuges am 22.6.2012 über dem Mittelmeer und Granateneinschläge unbekannter Herkunft am 3.10.2012 auf der türkischen Seite der Grenze zu Syrien, bei denen fünf Menschen ums Leben kamen. Gegen Waffen dieser Art bieten Patriots jedoch keinen Schutz.

Sollte Syrien tatsächlich weiter reichen Raketen auf die Türkei abfeuern, ist allerdings keineswegs sicher, dass es mit den Patriots gelingen würde, diese im Fluge zu zerstören. So könnte eine Rakete zwar getroffen werden, der Sprengkopf aber intakt bleiben und am Boden tödliche Agenzien freisetzen. In diesem Kontext sind insbesondere Meldungen, die syrische Armee hätte ihre Chemiewaffen in Bereitschaft versetzt, Besorgnis erregend. Man spricht von 100 Tonnen Sarin, Senfgas und VX und ca. 100 Mittelstreckenraketen, aber auch von Artillerie. Eskaliert der Bürgerkrieg weiter, muss damit gerechnet werden, dass die Agenzien freigesetzt werden, entweder gegen die Rebellen oder, wenn sie den Aufständischen in die Hände fallen, gegen die Regierungstruppen oder die Zivilbevölkerung. Dies lässt die Befürchtung wachsen, dass es dann auch zu einer direkten Einmischung der NATO kommt.

Die türkische Regierung betrachtet die Patriots als Unterstützung für ihren politischen Syrien-Kurs und als Rückendeckung der westlichen Allianz. Die Frage aber bleibt: Rückendeckung für was? Die Regierung Erdogan plädiert u.a. für die Bewaffnung der oppositionellen Freien Syrischen Armee, für die Bildung einer Übergangsregierung und für die Einrichtung einer Flugverbotszone entlang der syrischen Nordgrenze. Sie setzt auf den Sturz von Assad und sucht den Syrien-Konflikt zu »internationalisieren«. Der Patriot-Einsatz könnte dann dazu beitragen, eine Sicherheitszone im Norden Syriens zu proklamieren und so dem direkten Eingreifen türkischer und/oder amerikanischer Streitkräfte in den syrischen Bürgerkrieg den Boden zu bereiten.

Prof. Dr. Götz Neuneck ist Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Konfliktstoff Wasser

Konfliktstoff Wasser

Ein Bewässerungsprojekt und seine Folgen

von Rainer Stoodt

»Ne mutlu türküm Diyene« – Glücklich ist, wer sich Türke nennen darf. Die riesigen Lettern auf dem Staudamm des Atatürk-Stausees sind Programm. Hier manifestiert sich der Stolz der türkischen Nation, ein »Jahrhundertprojekt« zu realisieren, hier soll der Sprung in die Neuzeit stattfinden. Mehr als zehn Jahre baute die türkische Republik im Südosten der Türkei zwischen den Städten Adiyaman und Urfa einen der größten Staudämme der Welt, die Stauhöhe beträgt 160 m. Mit seinen 800 Quadratkilometern Fläche ist der Stausee etwa anderthalb Mal so groß wie der Bodensee. Der Atatürk-Damm ist Teil des aufwendigen, integrierten Entwicklungsprogramms »Güneydogu Anadolu Projesi« (Südostanatolien-Projekt), das im Endzustand 22 Staudämme aufweisen soll und mit 19 Energiegewinnungsanlagen bis zu 8.000 kWh vor allem in den westtürkischen Energiesektor liefern soll. Daneben verspricht sich die Türkei durch Bewässerungsanlagen die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion (besonders in der Harran-Ebene auf einer Fläche von 1,6 Mio. ha).
Nicht zuletzt kann die Türkische Republik mit Hilfe der Staudämme die Wassermengen bestimmen, die von Euphrat und Tigris nach Syrien und in den Irak fließen, die Türkei wird zur regionalen Wassersupermacht; Konflikte mit den Nachbarn sind vorprogrammiert.

Sechs landwirtschaftlich geprägte kurdische Provinzen – Gaziantep, Adiyaman, Urfa, Diyabarkir, Mardin und Siirt – umfaßt das Projektgebiet. Gestaut werden die beiden Flüsse Euphrat und Tigris sowie deren Nebenflüsse. Neben den drei großen Staudämmen Keban, Karakaya und Atatürk am Euphrat umfaßt das in 13 Teilprojekte gegliederte Vorhaben noch 18 weitere Dämme und 17 hydroelektrische Kraftwerke. Die Gesamtfläche umfaßt etwa 73.000 Quadratkilometer, was einer Fläche der Benelux-Staaten entspricht und fast 10% des türkischen Staatsgebietes umfaßt. 1985 lebten dort etwa 4,3 Millionen Menschen in 4.100 Dörfern und 5.150 kleineren Siedlungen.

Ein ausgedehntes Bewässerungssystem mit Pump- und Tunnelanlagen, wie z.B. die beiden parallelen Urfa-Tunnel – vom Atatürk-Stausee zur Haranebene – mit einer Länge von 27 Kilometern und einem Durchmesser von 7,62 Metern, soll bis zum Jahr 2010 eine Fläche von 1,6 Mio. Hektar bewässern. Zur Zeit werden etwa 100.000 ha Ackerland künstlich bewässert.

Neben dem Ziel der großflächigen Bewässerung steht das GAP-Projekt im Kontext der allgemeinen Energieproduktions-Planung der Türkei mit mehreren hundert Dämmen verschiedener Größenordnung. Die Türkei will zu einem Agrar- und Stromexportland aufsteigen.

Planungsziele in dem bereits 1988 vorgelegten Masterplan sind:

  • eine exportorientierte Agrarproduktion, vornehmlich in die nahöstlichen Nachbarstaaten;
  • die Ansiedlung verarbeitender Industriezweige, von Lebensmittelfabriken bis hin zur Konsumgüterproduktion;
  • der Aufbau einer Schwerindustrie und die Steigerung der Energieproduktion durch die hydroelektrischen Großanlagen.

Südostanatolien – Nordwest-Kurdistan soll so zur Kornkammer für den Nahen Osten und zum wirtschaftlichen Brückenkopf zwischen Europa und Nahost werden.

Die Investitionssumme beläuft sich bisher auf etwa 55 Milliarden DM. Da sich die Weltbank weigerte, das Projekt mitzufinanzieren, wurde es bisher zu 90% durch den innertürkischen Kreditmarkt finanziert, lediglich die Turbinenanlagen konnten durch internationale Kredite einer Schweizer Holding bezahlt werden. Zwar bemühte sich die türkische Regierung um weitere internationale Kredite, aufgrund der Brisanz der Wasserfrage jedoch ohne Erfolg. So weigerte sich die japanische Regierung nach einer Intervention Syriens, einen Kredit über 348 Mio. US-Dollar auszuzahlen (NZZ 10.10.91). Das GAP-Projekt kostet den türkischen Staat jeden Tag 2 Mio. US- Dollar und verursacht, wie westliche Finanzexperten der Weltbank kritisieren, ein Drittel der türkischen Inflationsrate (Financal Times 24.7.92).

Entwicklung oder Befriedung

Der bereits oben genannte Masterplan beinhaltet neben einer reichhaltigen Datenerhebung Vorschläge für Stadtplanung, für die Entwicklung der ländlichen Räume sowie für Ausbildung und Qualifikation.

Während die Bereiche Ausbildung und Qualifikation genauso wie die Information der Bevölkerung weitgehend vernachlässigt wurden, haben die erhobenen Daten nicht nur ökonomische Folgen. Zum ersten Mal seit Gründung der türkischen Republik 1923 wurden genaue Daten über die ökonomischen, sozialen, politischen und religiösen Strukturen der bis dahin bewußt vernachlässigten kurdischen Region zusammengetragen. „Sehr stark religiöse Bevölkerung, steht unter dem Einfluß der folgenden Scheichs (…), eigentlich rückständige Bevölkerung, ist aber dem Einfluß des sozialdemokratischen Politikers XY erlegen„, heißt es dort zum Beispiel. Erfaßt wird, ob Anschläge der PKK in der Nähe eines Dorfes zu verzeichnen sind, ob die Bevölkerung staatsloyal, neutral oder seperatistisch einzustufen ist und vieles mehr (Medico Report 7,1991, S. 10.).

Diese Daten, ergänzt durch Bevölkerungsstatistiken, bilden eine Grundlage für den Krieg des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung. Besonders im östlichen Teil des GAP-Gebietes werden fast täglich Dörfer zerstört, deren Bevölkerung vom Militär eine Zusammenarbeit mit der PKK unterstellt wird.

So dienen die erhoben Daten nicht allein der regionalen Entwicklung sondern auch der Selektion. Selektiert werden die »Guten« und die »Bösen«, das zu integrierende Potential, das an der zukünftigen Entwicklung teilhaben soll, und die nicht mehr zu integrierenden Bevölkerungsteile, die aus dem Gebiet vertrieben werden sollen.

Die veröffentliche Ausgabe des Masterplans verschweigt auch ganz bewußt, daß in der betroffenen Region Kurdinnen und Kurden leben. In dem ursprünglichen, von den Japanern vorgelegten Entwurf war noch die Rede von den ethnischen Unterschieden der regionalen Bevölkerung, die für die wirtschaftliche Entwicklung genutzt werden sollten. Dieser Passus wurde ersatzlos gestrichen.

Landwirtschaft

Bestimmender Wirtschaftszweig im Projektgebiet ist die Landwirtschaft. 80% der Bevölkerung leben direkt von der Landwirtschaft, davon 53 % in Subsistenzwirtschaft. Diese Familien bewirtschaften weniger als 2,5 ha Land, das ihnen meistens gehört oder das sie vom Staat bzw. von Großgrundbesitzern gepachtet haben. Der Gesamtanteil dieses Besitzes beträgt lediglich 8% der Gesamtanbaufläche. Diesen kleinen Wirtschaftsbetrieben stehen jene 7% der Familien gegenüber, denen 51% der wirtschaftlich nutzbaren Fläche gehören. Dazu kommen etwa 30% landlose Familien, die sich größtenteils als Wanderarbeiter während der dreimonatigen Baumwollernte im Westen des Landes verdingen. Eine 1973 begonnene Landreform wurde nie zum Abschluß gebracht, im Gegenteil – in der 80er Jahren erhielten fast alle Großgrundbesitzer ihr »verlorenes« Land zurück. Die noch bestehende Landreformbehörde führt heute die Flurbereinigungen durch, da eine allgemeine Zersplitterung der Besitzverhältnisse durch das Realerbrecht (alle Kinder erhalten Land zu gleichen Teilen) verbunden mit dem islamischen Erbrecht (Söhne erben doppelt so viel wie Töchter) weiter zunimmt.

Auf der Harran-Ebene, dem zentralen Projektgebiet, im dem teilweise mit der Bewässerung begonnen wurde, wird bisher in erster Linie – da fast 6 Monate des Jahres kein oder nur geringer Niederschlag fällt – Trockenfeldbau betrieben. Dazu kommen Gerste und Weizen, in geringem Maße Kichererbsen, Pistazien und Linsen und in den Randgebieten, ermöglicht durch höhere Niederschläge oder künstliche Bewässerung, auch Wein und Gemüse. Durch den Wassermangel kann derzeit nur eine Ernte pro Jahr eingebracht werden. Ein Teil der Ebene wird von Nomaden als Sommerweide genutzt.

Mit der angestrebten Bewässerung des Gebietes sollen mindestens zwei Ernten pro Jahr möglich werden. Mit den steigenden Erträgen werden auch die Einkommen der Bauern steigen, allerdings auch die Kosten. Die Einführung der Bewässerungswirtschaft wird die Bauern zwingen, Kredite für Saatgut, Teile des Bewässerungssystems, Maschinen und Pestizide aufzunehmen. Man muß davon ausgehen, daß es in erster Linie die Großgrundbesitzer und Investoren aus der Westtürkei sein werden, die das größte Stück vom Kuchen abbekommen werden.

In einem ausgewogenen Verhältnis könnten Baumwolle, Mais, Soja, Sesam und Obst angebaut werden. Vergleiche mit anderen Entwicklungsprojekten in der Türkei deuten allerdings daraufhin, daß in erster Linie Baumwolle, deren Preis staatlich garantiert wird, und Getreide als Monokulturen angebaut werden (Tekinel, S. 29). Die Anbieter der leistungssteigernden Agroindustrie stehen zwar schon »Gewehr bei Fuß«, bis heute gilt die Infrastruktur jedoch als mangelhaft. Ungeklärt sind auch die Absatzmöglichkeiten für die Produkte (Financal Times v. 24.7.1992).

Agrosoziale Verhältnisse

Nicht abzusehen sind auch die sozioökonomischen Folgen, die die Entwicklung zur Agroindustrie mit sich bringen wird. In der GAP-Region leben z.Z. etwa 4,5 Mio. Menschen. Nach Beendigung des Projekts sollen es über 12 Mio. sein. Mit der Zwangsumsiedlung tausender kurdischer Familien in die Westtürkei soll die Ansiedlung türkischer Familien aus der dicht besiedelten Schwarzmeeregion einhergehen. Eine beträchtliche Anzahl landloser Bauern sieht sich aufgrund der Zerstörung ihres traditionellen Lebens- und Arbeitsraumes, der Subsistenzwirtschaft, gezwungen, die Heimat zu verlassen, um in den rapide wachsenden Gecekondu-Vierteln der türkischen Großstädte und der kurdischen Städte wie Diyarbakir, Adiyaman, Mardin oder Siverek ein karges Dasein zu fristen und mit Tagesjobs den Lebensunterhalt zu bestreiten. Bereits die Umsiedlung der überfluteten Dörfer bereitete der Türkei massive Probleme. Zahlreiche DorfbewohnerInnen, die seit 1985 durch das Ansteigen des Atatürk-Sees evakuiert werden mußten, haben bis heute noch nicht die vereinbarte Entschädigungssumme erhalten, die landlose Bevölkerung ging sowieso leer aus.

Katastrophal sind die Aussichten im östlichen Teil des GAP-Gebietes. Die Provinzen Diyarbakir, Batman, Mardin und Cizre sind z.Z. Schauplatz einer ethnischen Säuberung, in dessen Folge bisher, so der Menschenrechtsverein von Diyarbakir, weit über 2.000 Dörfer entvölkert wurden. Das Militär vertreibt die Menschen, vernichtet deren Häuser und brennt die Felder und Olivenhaine ab, die Militärverwaltung verweigert den Vertriebenen regelmäßig die Rückkehr und den Wiederaufbau ihrer Dörfer. Hier entsteht eine völlig neue Situation in Bezug auf Landbesitz und die zukünftige Nutzung der Böden, besonders da es in dieser Region keine Boden-Kataster gibt. Das Gebiet gilt als Hochburg der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) .

Mit den Umsiedlungsaktionen und den ethnischen Säuberungen schafft die türkische Regierung Fakten, die die Entwicklung einer Agroindustrie mit großen Feldern und modernem Landbau forcieren kann. Das Bewässerungsprojekt wird nur einer kleinen Schicht von Großgrundbesitzern und kapitalkräftigen Anlegern zugute kommen, die Masse der Bevölkerung wird noch mehr verelenden.

Zahlreiche Dörfer, die seit 1985 im Rahmen der Überflutungen an Euphrat und Tigris evakuiert wurden, haben bis heute noch nicht die vereinbarte Entschädigungssumme erhalten, die landlose Bevölkerung ging sowieso leer aus. Das Dorf Sylemanbey am Euphrat wurde 1985 evakuiert, bis heute streiten sich die 3.000 Bewohnerinnen und Bewohner mit dem türkischen Staat um mindestens 1,5 Millionen türkische Lira, die ihnen bereits 1985 zugesagt, bis heute aber nicht ausgezahlt wurden. Die meisten der Vertriebenen hausen heute in den Slums von Diyabarkir, Urfa oder Mardin.

Nach Aussage von DorfbewohnerInnen erhielten die Großgrundbesitzer aufgrund ihres Einflusses bei den Behörden umgehend Entschädigungszahlungen. Dazu kam, daß sie, im Wissen um Entschädigung, Land in den zu überflutenden Gebieten aufkauften. Die Gleichen kaufen nun in dem ausgewiesen Tourismusbereich am Atatürk-See wiederum Land, das später an internationale Hotelketten weiterverkauft werden soll. So werden die Reichen immer reicher, während ein Großteil der vertriebenen kurdischen Bevölkerung weiter verarmt.

Ökologische Auswirkungen

Zu den politischen Problemen in der Region kommen ökologische. Umweltschützer werfen den Planern vor, die ökologischen Folgen des riesigen Stausees nicht bedacht zu haben. Probleme wie Versalzung oder die Änderung des Regionalklimas tauchen in den Planungsvorgaben des Masterplans überhaupt nicht auf, eine Umweltverträglichkeitsstudie wurde bisher nicht erstellt, sie soll erst nach (!) Abschluß der Bestandsaufnahme erarbeitet werden, wenn wesentliche Teile des Projektes bereits fertiggestellt oder im Bau sind.

Umweltrelevante Aspekte finden sich in den bisher erschienen Ausgaben nur insoweit, wie sie die ökonomischen Zielsetzungen unterstützen.

Besonders gravierend könnten sich auch die Maßnahmen der türkischen Armee erweisen. Seit über fünf Jahren werden besonders im Tigris-Projektgebiet zur Guerillabekämfung systematisch die vorhandenen Wälder abgebrannt.

Kulturdenkmäler

Bei jedem Staudammbau werden kleinere oder größere Ortschaften überflutet, deren BewohnerInnen müssen das Gebiet verlassen. Hier – wie auch in vielen anderen Ländern, die solche Projekte als Entwicklung verstehen – oftmals ohne Entschädigung und ohne den Menschen eine Perspektive zu geben. Im Fall des GAP-Projekt kommt noch dazu, daß durch das Aufstauen und die Bauarbeiten in großer Zahl Kulturdenkmäler zerstört werden. Das empört besonders kurdische Intellektuelle und Nationalisten, die den Umgang des türkischen Staates mit seinen Kulturschätzen scharf kritisieren. Das GAP-Gebiet war seit Tausenden von Jahren besiedelt, dem Atatürk-Stausee fielen u.a. die Hauptstadt des Komagene- Königreichs Samsat und die 9.000 Jahre alte Siedlung Nevali Çori zum Opfer.

Ein ähnliches Schicksal wird bei Aufstauung des Tigris die römische Stadt Hasankeyf treffen. Verhindert wird der Bau des Itisu-Dammes möglicherweise durch den Guerillakampf der Arbeiterpartei Kurdistans. Deren Vorsitzender, Abdullah Öcalan, erklärte bereits im Juni 1993 in einem Interview mit dem britischen Radiosender BBC, seine Organisation werde den Bau dieses Dammes nicht zulassen, da er ein kolonialistisches Projekt sei und nicht den Interessen der Bevölkerung diene. Zudem sei die kulturelle Zerstörung einer so bedeutenden Stadt wie Hasankeyf nicht zu akzeptieren. Dies ist im Übrigen eine der wenigen Aussagen der PKK zum GAP-Projekt. Es scheint aber, daß kurdische Nationalisten dem Projekt als integriertes Entwicklungsvorhaben insgesamt positiv gegenüberstehen.

Der Streit ums Wasser

Wasser ist in der Region des Nahen Osten Mangelware. Durch fehlende Niederschläge sind die Türkei, Syrien und der Irak auf eine ständige Bewässerung ihrer landwirtschaftlichen Nutzflächen angewiesen. Somit wird der Zugang zu Wasser zu einer existenziellen Frage.

In einem Abkommen konnte Syrien 1987 die Türkei verpflichten, mindestens 500 m³/s Euphratwasser zu garantieren. Während Syrien sich immer wieder beklagt, daß diese Menge nicht erreicht wird, fordert der Irak 700 m³/s. Da es bisher noch keine völkerrechtlich verbindliche Regelung zur Nutzung von Flußanliegern gibt, kann die Türkei mit den Durchflußgeschwindigkeiten Druck auf die am Unterlauf der beiden Flüsse liegenden Staaten ausüben. Letztendlich sitzt das Land am Oberlauf immer am längeren Hebel, wobei erst mit dem vollständigen Ausbau aller Staudämme die Türkei die Wassermengen fein regulieren kann.

Der ehemalige UN-Generalsekretär Butros-Ghali erklärte, daß das Wasser eines Tages zu einem neuen Zündstoff in der Region werden kann: „Wenn es zu einem weiteren Krieg in dieser Weltgegend kommen wird, dann wird er ums Wasser geführt werden.“ Denn die Türkei macht schon jetzt mit ihrem Wasser Politik: Während des zweiten Golfkrieges wurde – mit Zustimmung der Syrer – dem Irak buchstäblich das Wasser abgedreht. Die vertragsgemäße Belieferung Syriens mit dem lebenswichtigen Euphratwasser wird immer wieder von einem Ende der Unterstützung der Arbeiterpartei Kurdistans abhängig gemacht.

Ausblick

Ob das gesamte Projekt bis zum Jahre 2005 steht, ist noch längst nicht klar. Zum einen gibt es massive Proteste der Anrainerstaaten, allen voran Syrien. Es wird deutlich, daß dringend ein internationales Abkommen über die Zukunft des Wassers notwendig ist. Dabei werden sich auch multinationale Gremien einmischen, und es ist davon auszugehen, daß die Türkei nicht allein über die Wassermengen von Euphrat und Tigris entscheiden kann.

Zweitens kann schon jetzt der Zeitplan nicht mehr eingehalten werden: An den Baustellen im östlichen GAP-Gebiet wird nicht mehr gearbeitet, da die Guerilla der Nationalen Volksbefreiungsarmee ARGK in der Vergangenheit mehrmals Materiallager und Fahrzeugpools angegriffen hat.

Drittens muß die allgemeine wirtschaftliche Lage der Türkei berücksichtigt werden. Wirtschaftskrise und der Krieg in Kurdistan haben dafür gesorgt, daß die Kassen leerer wurden und dringend benötige Gelder zum Weiterbau bzw. Ankauf von Importprodukten nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Arbeiten an den begonnen Dämmen am Tigris sind daher weitgehend eingestellt worden, der Bau von Bewässerungsanlagen am Euphrat ist ins Stocken geraten. Bei der allgemeinen ökonomischen und wirtschaftlichen Krise der Türkei ist nur aus Prestigegründen ein weiterer Fluß der Kapitalmittel in Richtung GAP-Projekt zu erwarten.

Literatur

Hauptmann, Gerhard (1988): Nevali Çori: Architektur, in: Anatolica XV, S. 99-110.

Hinz-Karadeniz, Heidi u. Stoodt, Rainer (Hrsg.) (1993): Die Wasserfalle. Vom Krieg um Öl zum Krieg um Wasser: Aufstieg und Fall eines Großprojektes in Kurdistan, Gießen.

Hinz-Karadeniz, Heidi (1994): Vom Krieg um Öl zum Krieg um Wasser. In: Hinz-Karadeniz /Stoodt (Hrsg.) Kurdistan: Politische Perspektiven in einem geteilten Land, Gießen, S. 203-229.

Jungfer, Eckhardt (1998): Wasserressourcen im Vorderen Orient. Geographische Rundschau 50, H. 7-8, S. 400-405.

Kolars, J.F. / Mitchell, W.A. (1991): The Euphrates River and the Southeast Anatolia Project, Carbondale and Edwardsville.

Riemer, Andrea (1998): Die Türkei an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Die Schöne oder der kranke Mann am Bosporus, Frankfurt.

Struck, Ernst (1994): Das Südostanatolien-Projekt. Geographische Rundschau 46, H. 2, S. 88-95.

Tekinel, O. et. al. (1992): »Southeastern Anatolian Projekt« and its possible effects on development of the GAP-Region and Turkish agriculture, in: Deutsch-Türkische Agrarforschungen, hg. vom Verband deutsch-türkischer Agrar- und Naturwissenschaftler e.V., Hohenheim.

Rainer Stoodt, M.A., Autor mehrerer Bücher zum Thema Türkei – Kurdistan.