Militärisches Denken als Antwort auf globale Bedrohungen?

Militärisches Denken als Antwort auf globale Bedrohungen?

von Ulrich Albrecht

Ist militärisches Denken die Antwort auf die globalen Bedrohungen? Die Fragestellung klingt rhetorisch und die Annahme ist sicher nicht falsch, dass die Mehrheit der in Friedensforschung und Friedensbewegung Engagierten ein klares Nein als Antwort bereithält; allenfalls bereit, den militärischen Aufwand der Vergangenheit, die immense Bindung von Ressourcen zu rekapitulieren, ehe man sich die globalen Herausforderungen der Zukunft genauer vor Augen führt. Ulrich Albrecht beantwortet die Themenfrage mit ja. Er geht davon aus, dass militärisches Denken, die konzeptionellen Fähigkeiten von Strategen, von Konzepteuren neuer Waffensysteme gebraucht werden – nicht nur sie, sie aber auch, um den exorbitanten Herausforderungen der globalen Entwicklungen begegnen zu können. Gleichzeitig fordert er angesichts von NMD-Phantasien in den USA mehr Einmischung von Seiten der Wissenschaft.
Die menschliche Intelligenz ist die wichtigste Ressource um das Überleben dieser Spezies zu organisieren. Wenn die Nutzung menschlicher Kreativität in der großen Anstrengung des Kalten Krieges vorrangig militärischen Vorbereitungen galt, so liegt es nahe, diese Potenziale künftig für das Bestehen globaler Herausforderungen einzusetzen. Daher mein Ja zu der Frage, ob militärisches Denken als Antwort auf globale Bedrohungen gebraucht wird.

Nehmen wir die globalen Herausforderungen in den Blick: Nach der Implosion des so genannten realen Sozialismus ist die Geschichte – sehr im Gegensatz zu der Voraussage von Francis Fukuyama – nicht an ihr Ende gekommen. Sie hat vielmehr im Tempo der Veränderungen gewaltige Beschleunigungen erfahren. Europa und die Welt befinden sich in einem Umbruchprozess von welthistorischen Ausmaßen, der von Konflikten und mannigfachen Krisen begleitet wird. Die Tiefe dieses Wandels ist vergleichbar mit den großen Zäsuren der Weltgeschichte, dem Ende des Römischen Reiches, dem Beginn der Neuzeit, den großen europäischen Revolutionen.

Im Zuge dieser Veränderungen schält sich schrittweise eine neue Ordnung heraus. Wir streiten derzeit miteinander, was wir von dieser neuen Ordnung erkennen. Eines aber ist klar: mit überkommenen Mustern von Wahrnehmung, mit vorfindlichen Theorien ist das Neue nicht mehr zu verstehen. Und mit den vorfindlichen Institutionen ist die Antwort nicht zu organisieren.

Wir stehen vor tektonischen Verwerfungen, vor Beben in den sozialen Strukturen, die sich vor allem in der Zunahme von Gewalt manifestieren. Wir nehmen die internationale Umwelt, etwa in Somalia oder in Afghanistan, als schwer durchschaubar, als chaotisch wahr. Das sind Indizien für mangelnde analytische Einsicht. Krieg, bis 1989/90 weitgehend im Kondominium der Supermächte reguliert, ist nach Europa zurückgekehrt. Trotz aller Bewältigungsversuche – wir stehen fassungslos vor dem Inferno an Gewalt, das sich in unserer unmittelbaren Nachbarschaft abgespielt hat und abspielt.

Ein zweites Indiz, dass wir wenig begreifen, selbst die Militärs sind verwirrt: Anstelle der mechanisierten und totalen Kriege der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, in der gewaltige Heere etwa in großen Panzerschlachten aufeinander trafen, sind irreguläre militärische Auseinandersetzungen getreten. Doch haben wir es nicht einfach mit einem Remake von Geschichte zu tun. Krieg zwischen Staaten der westlichen Sphäre erscheint uns heute als ausgeschlossen. Aber um diese herum ist Krieg. „Krebsartig breitet sich ein neuer Typ von Konflikt aus, auf den die alte Doktrin nicht passt: Gruppenkonflikte innerhalb zerfallender Staaten ohne erkennbare Zentralgewalt, häufig mit mehr als zwei Parteien, von denen keine eindeutig legitimiert ist und denen Gewalt zum Selbstzweck wird“, schreibt Hans Michael Kloth im SPIEGEL. Den Vereinten Nationen machen vor allem die unklaren Verantwortungsmuster zu schaffen. „In der Vergangenheit konnte man bei einem Waffenstillstand davon ausgehen, dass die Militärs von einer Regierung kontrolliert werden“, klagt Bernard Miyet, bis Herbst 2000 Unter-Generalsekretär der UN für friedenserhaltende Maßnahmen. „Jetzt sehen wir uns Gruppen gegenüber, bei denen es manchmal schwer ist nachzuvollziehen, welche politischen Ziele sie verfolgen.“

Der vormalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Boutros-Ghali, hat 1995 anlässlich des 50. Jahrestages seiner Organisation das Problem in seinem »Supplement zur Agenda für den Frieden« mit den folgenden Worten beschrieben: „Viele der Konflikte von heute ereignen sich innerhalb der Staaten und nicht zwischen Staaten. Das Ende des Kalten Krieges hat Hemmnisse verschwinden lassen (…) Im Ergebnis ist es zu einer Flut von Kriegen in neuerdings unabhängigen Staaten gekommen, die häufig einen religiösen oder ethnischen Charakter aufweisen, und in denen es oft zu ungewöhnlichen Gewalttaten und Grausamkeiten kommt. Das Ende des Kalten Krieges scheint zudem zum Ausbruch solcher Kriege in Afrika beigetragen zu haben.“

Leslie H. Gelb, Präsident des einflussreichen US-Council on Foreign Relations, widmet sich im Eröffnungsbeitrag der Weihnachtsnummer 1994 von »Foreign Affairs« in vergleichbarer Weise der Frage, was (Untertitel) „die fortwährende Herausforderung der neuen Welt“ nach dem Ende des Kalten Krieges sei. Nach beschwörenden Appellen, auf den Kern des Friedensproblems zu kommen („Die Frage des strategischen Fokus ist ausschlaggebend. Keine Strategie kann Erfolg haben, wenn sie nicht die gefährlichste Bedrohung angeht und diese zutreffend bestimmt“) gelangt er zu einem ähnlichen Ergebnis wie kurz nach ihm der Generalsekretär der Vereinten Nationen. Nicht die nukleare Proliferation, nicht Russland, nicht das wiedervereinigte Deutschland (!) nicht neue chinesische Bestrebungen oder auch Handelskriege bildeten das Problem (wiewohl Leslie H. Gelb findet, wobei besonders der Fingerzeig auf Deutschland hierzulande Beachtung finden sollte: „All are serious“), sondern: „Das Kernproblem bleiben Kriege nationalen Zerfalls, ein beständiger Rückgriff auf unbürgerliche Bürgerkriege (uncivil civil wars), sich in ihre Bestandteile auflösende zerbrechliche aber halbwegs funktionierende Nationalstaaten, die an der Wohlfahrt der stabilen Nationen nagen.“

Diese »Kriege nationalen Zerfalls« bestimmt Boutros-Ghali in seinem »Position Paper« genauer: „Die neue Saat von innergesellschaftlichen Konflikten weist gewisse Eigenheiten auf, die die UN-Peacekeeper mit Herausforderungen konfrontieren, wie sie diese seit dem Kongo-Einsatz in den frühen sechziger Jahren nicht mehr erlebt haben. Diese Konflikte werden gewöhnlich nicht nur von regulären Streitkräften ausgefochten, sondern von Milizen und bewaffneten Zivilpersonen, die wenig Disziplin zeigen, und deren Kommandostränge unklar bleiben. Oft handelt es sich um Guerillakriege ohne deutliche Frontlinien. Zivilisten sind die Hauptopfer und häufig auch die Hauptziele. Humanitäre Katastrophen sind alltäglich, und die Verantwortlichen in den Kämpfen, wenn man sie überhaupt als Verantwortliche bezeichnen kann, vermögen nicht, damit zu Rande zu kommen.“

Der Generalsekretär der Organisation für Afrikanische Einheit, Salim Ahmed Salim, bestätigt für Afrika die Feststellung von Boutros-Ghali: „Ein gemeinsamer Grundzug aller Konflikte – von Liberia bis Somalia, von Angola zum Sudan und von Ruanda bis Mozambik und Südafrika – ist, dass es die verwundbarsten Gruppen sind, die am meisten betroffen sind, und die verletzbarsten unter diesen allen sind unschuldige Kinder.“

In der Äußerung des UN-Generalsekretärs bleibt hervorzuheben, dass die Kämpfe „mit ungewöhnlicher Gewalt und Grausamkeit“ ausgetragen werden. Viele der Bluttaten sind denn auch eher als Pogrome denn als militärische Handlungen zu werten, die den Maßgaben der Haager Landkriegsordnung folgen. Dass „Zivilisten Hauptopfer und häufig auch Hauptziele“ sind, so der Generalsekretär weiter, spricht allen Traditionen von der Einhegung des Krieges, allen Auffassungen vom neuzeitlichen soldatischen Handwerk Hohn.

Die Kriege des 21. Jahrhunderts widerspiegeln die tiefe Spaltung der Welt in eine von zwischenstaatlichem Krieg freie Wohlstandsinsel, geografisch beschränkt auf Westeuropa, die USA und Japan, und großen Regionen im vormals realsozialistischen Territorium, in Afrika und anderen Teilen der Welt, die den Anschluss an die wirtschaftliche, technologische und kulturelle Entwicklung der Moderne nicht schaffen. Diese Dichotomie zwischen Zentrum und Peripherie setzt sich im Militärischen fort. Das affluente Zentrum perfektioniert die Möglichkeiten der Hightech-Kriegführung, schafft sich so erweiterte Handlungsräume für die Durchsetzung eigener Interessen und auch zum gelegentlichen Intervenieren in der Peripherie aus so genannten humanitären Gründen. Der qualitative Rüstungswettlauf schreitet erstaunlicherweise ungebrochen fort.

Die »humanitäre Intervention«, nebenbei gesagt, ist keineswegs eine Erfindung unserer Tage. Vor hundert Jahren nutzten die europäischen Großmächte eben dieses Konzept, um im niedergehenden osmanischen Reich im Namen von christlichen Minderheiten Stützpunkte auf Zypern, im Libanon und anderswo zu ergattern.

Die Weltbank hat 1997 den niedergehenden Staat und dessen Verbindung mit Krieg zum zentralen Thema ihres Jahresberichtes gemacht. „In den letzten Jahren“, heißt es dort, „sind in einer wachsenden Zahl von Ländern faktisch alle Funktionen und Institutionen, oftmals im Zusammenhang mit einem Bürgerkrieg, zusammengebrochen.“ Die Institutionen mögen noch Bestand haben, sie leisten aber kaum etwas. Daneben gibt es implodierte Staaten. Der Bericht nennt Afghanistan, Kambodscha, Liberia und Ruanda. Schauplätze, wie es im Bericht heißt „für einige der schlimmsten humanitären Katastrophen.“ Es handelt sich aber nicht lediglich um ein Problem dieser Gesellschaften. „Diese zogen oft die Nachbarländer“, fährt der Weltbankbericht fort, „durch Gewalt, Banditentum und Flüchtlingsströme in Mitleidenschaft. Sie warfen Länder zurück, zerstörten wirtschaftliche Anlagen und die Infrastruktur, beanspruchten gewaltige Summen an internationaler Hilfe – und forderten natürlich zahllose Menschenleben.“

Von den Wohlstandsinseln des Nordens hier militärisch mit überlegenen Mitteln einfach dazwischen zu hauen, wird gar nichts lösen. Um den Weltbankbericht nochmals zu zitieren: „In Angola, Liberia und Somalia entstand zum Beispiel eine sich selbst tragende Wirtschaft der bewaffneten Gewalt, die auf Plünderung, auf Erpressung unter Gewaltandrohung, Drogenhandel, Geldwäsche, Raubbau an Tropenholz sowie Ausbeutung der Bodenschätze wie Edelsteine und Mineralien beruhte.“

In Liberia, im Kongo oder auch in Mosambik hat sich eine Bürgerkriegsökonomie herausgebildet, die in sich einigermaßen stabil ist, die nunmehr seit Jahren der Bevölkerung ein kärgliches Überleben gestattet. Diese Kriegsökonomien sind nunmehr offen, mit den Weltmärkten für Waffen, Drogen und Diamanten direkt verknüpft. Eine besondere Rolle spielen humanitäre Schutzzonen. „Das humanitäre Schutzgebiet stellt eine echte Revolution für die Kriegsökonomien dar“, schreibt Jean-Christophe Rufin, einer der Herausgeber des ersten Sammelwerkes zu diesem Thema. „Ein humanitäres Rückzugsgebiet eröffnet der Guerilla eine rückwärtige Basis in einem Nachbarland, die nicht durch eine Grenze, sondern vor allem durch die Präsenz von zivilen Flüchtlingsmassen geschützt ist, die überdies von der internationalen Gemeinschaft versorgt werden.“

Als Hauptinstrumente der neuen Kriegsökonomien gibt Rufin Raub und organisierte Kriminalität an. Auch betont Rufin die Bedeutung internationaler Vernetzung dieser Bürgerkriegswirtschaften: „Die Konflikte sind Teil einer Schattenwirtschaft, deren Beziehungen sie prägen und sie als Ausgangs- (Export von lokalen Produkten) und Endpunkt (Import von Waffen und Subsistenzmitteln) haben. Ganze Ketten von geheimen Stützpunkten sind nötig: Verbindungsstationen jenseits der Grenze (im Fall einer Blockade oder Überwachung kann das geschulte Schmugglerbanden erfordern), in benachbarten oder entfernteren Ländern und in den reichen Ländern, wo immer die eigentlichen Bestimmungsorte liegen.“

Die Forschung zu diesen Bürgerkriegsökonomien ist jung. Wir beginnen langsam zu verstehen, wie diese neuen Kriegswirtschaften im Gegensatz zur althergebrachten Kriegsökonomie funktionieren (diese hatten im Gegensatz zu den heutigen Verhältnis das Leitziel der Autarkie). Und wir begreifen, dass die alten Gegenmittel, etwa Embargos, gegen diese vernetzten Ökonomien noch weniger auszurichten vermögen als bisher.

Ein neuer Sicherheitsbegriff

Die Rede vom erweiterten Sicherheitsbegriff nach dem Ende des Kalten Krieges ist sattsam bekannt. Der Sicherheitshaushalt der Zeitgenossen bekam neben der militärischen weitere Dimensionen: Es geht in unserem Weltteil auch um ökologische, um soziale Sicherheit. Mein österreichischer Kollege Anton Pelinka hat das kürzlich auf den Begriff gebracht: „Es gibt keine nationale Sicherheit mehr, die nicht von einer transnationalen Sicherheit ausgeht. Und es gibt keine militärische Sicherheit, die nicht auch und wesentlich wirtschaftliche und ökologische, kulturelle und religiöse Herausforderungen mit berücksichtigt. Vor allem aber gibt es keine äußere Sicherheit, die nicht auch die innere berücksichtigt und umgekehrt.“

Die Bedrohungen der Umwelt, wachsende Ozonlöcher, Temperatursteigerungen infolge von CO2-Emissionen, die das Polareis abschmelzen und die Meeresspiegel steigen lassen, die systemische Bedrohung des Überlebens nicht unserer Spezies, sondern von Leben überhaupt, bedürfte eigentlich zur Bekämpfung eben jener Milliarden, die hierzulande weiterhin für militärische Rüstung ausgegeben werden. Und sie bedürfte auch der Wissenschaftsressourcen, die weiterhin der Priorität Rüstungstechnik gewidmet werden.

Die zweite große Katastrophe bleibt der ausbleibende Entwicklungsfortschritt in der so genannten Dritten Welt und das damit verbundene Leiden am Mangel für die Mehrheit derjenigen Menschen, die heute leben. 1960, 1970, 1980 wurden mit Fanfaren Entwicklungsdekaden proklamiert. Heute verkündet niemand mehr eine neue Entwicklungsdekade. Afrika wird zum sprichwörtlich vergessenen Kontinent, viele Staaten dort versinken in inneren Kriegen, der große Traum vom Aufstieg durch Entwicklung verfliegt, Staatlichkeit, die all dies organisieren sollte, zerfällt.

Für mich am überzeugendsten hat die ILO, die International Labour Organisation, diese Entwicklung auf den Begriff der »Human Security« gebracht. Es geht gewiss weiterhin um Sicherheit von Menschen vor äußerer Gefahr oder auch Gewalt im Inneren eines Landes. Daneben aber steht das Begehren, soziale Sicherheit zu haben, ökologisch gesichert zu leben. Menschliche Unsicherheit wird, noch vor Unsicherheit vor äußerer Gefahr, von der ILO beschrieben mit ungesicherter Ernährung, unsicherer Bleibe, ungewissem Gesundheitszustand, unsicherer Beschäftigung und Einkommen. Human Security, menschliche Sicherheit, bedeute ein auskömmliches Leben, Arbeit, ein Minimum an sozialer Sicherheit. Und wir müssen wiederum hinzufügen: Unter Bedingungen von Nachhaltigkeit, die nächste Generation soll auch leben (können).

Der grundsätzliche Schritt der ILO und konzertierende Aktionen anderer UN-Organe erfolgen nicht zufällig. Behutsam wollen diese Weltinstitutionen, nachdem die Friedensdividende nach Ende der militarisierten Ost-West-Konfrontation sich nicht wie erhofft eingestellt hat, unter ihren Mitgliedern eine Reflexion einleiten, was denn nun tatsächliche Prioritäten sind. In westlicher Sicht sieht dies sehr verdächtig danach aus, dass einmal mehr mit der Mehrheit der UN-Mitglieder Druck ausgeübt werden soll, die immer noch hohen Militärausgaben anderen Zwecken zuzuführen, von Hightech-Projekten wie dem NMD-Vorhaben abzugehen. Von der Agenda der Völkergemeinschaft her ist diese Prioritätenliste klar: Nicht die Produkte, der outcome militärischen Denkens, aber dessen enorme Fähigkeiten sind gefragt, um Human Security voranzubringen.

Das Handeln von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren

Naturwissenschaftler haben hier ein Mandat, das ist mindestens geklärt, seit Siegmund Freud im Jahre 1932 auf die Frage Albert Einsteins antwortete, was man tun könne, „um das Verhängnis des Kriegs von den Menschen abzuwehren.“ Einstein entwickelte seine Haltung in vier Stufen, die hier skizziert werden sollen. – Freuds Antwort auf die Einladung Einsteins zum Gedankenaustausch:

„Ich erschrak zunächst unter dem Eindruck meiner – fast hätte ich gesagt: unserer – Inkompetenz, denn das erschien mir als eine praktische Aufgabe, die den Staatmännern zufällt.“

Sich vom Schreck erholend, fährt Freud fort: „Ich besann mich auch, dass mir nicht zugemutet wird, praktische Vorschläge zu machen, sondern dass ich nur angeben soll, wie sich das Problem der Kriegsverhütung einer psychologischen Betrachtung darstellt.“

Darum geht es: Naturwissenschaftler, Vertreter anderer Disziplinen „sollen nur angeben“, ich paraphrasiere Freud in seiner Antwort an Einstein, „wie sich das Problem der Kriegsverhütung“ in der Sicht ihrer Disziplin darstellt.

Einstein selber meinte 18 Jahre später, mittlerweile gab es Atomwaffen, der Wissenschaftler müsse nicht lediglich interdisziplinär das Kriegsthema erörtern, sondern er müsse – so sein zweiter Schritt – auf Volkes Wille setzen: „Ich bin überzeugt“, schrieb er 1950, „die verantwortlichen Machthaber müssten ihre verhängnisvolle Haltung ändern, wenn Meinung und Wille der Mehrheit der Menschen wirksam zum Ausdruck gebracht werden könnten.“

Sechs Jahre später vollzieht Einstein den Schritt weg vom Konjunktiv und wendet sich gemeinsam mit Bertrand Russel 1956 in einem dritten Schritt mit dem bekannten Manifest an die allgemeine Öffentlichkeit; der Naturwissenschaftler und der naturwissenschaftlich gebildete Philosoph konstatieren, dass der Weg in eine friedvollere Welt die Abkehr von der Nuklearrüstung erfordere.

Schon 1932 hat sich Albert Einstein, Ulf Wolter zufolge, mit dem Gedanken getragen, eine weltweite Umfrage zum Kriegsthema zu lancieren. Mit Blick auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die jedermann das Recht, die Pflicht und auch die gesetzlich geschützte Möglichkeit zuspricht, sich direkt an der Gestaltung und der Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes zu beteiligen, wäre – übertragen auf heute – jedermann zu befragen, wie er etwa zu dem US-amerikanischen Projekt einer nationalen Raketenabwehr (NMD) steht. Das wäre der vierte Schritt im Denken Einsteins gewesen – eine konsultative Urabstimmung zum Thema Rüstung und Krieg.

Ich persönlich meine, dass das Engagement des Naturwissenschaftlers und Ingenieurs heute über die ersten drei Schritte der Befassung Einsteins mit der Kriegsproblematik hinausgehen muss. Die interdisziplinäre Erörterung dessen, was vorgeht, ist selbstverständliche wissenschaftliche Pflicht, reicht aber politisch bei weitem nicht hin. Auch auf den allgemeinen Willen der Öffentlichkeit zu setzen, so die den zweiten Schritt Einsteins prägende Überzeugung, wird ungenügend bleiben. Das Pugwash-Manifest, den dritten Schritt Einsteins markierend, bleibt hoch verdienstlich und hat eine bedeutsame internationale Nichtregierungs-Organisation von Wissenschaftlern ins Leben gerufen. Die alljährlichen Appelle dieser mit dem Friedensnobel-Preis ausgezeichneten Bewegung finden allerdings nur ein geringes Echo. Die Interaktion von Wissenschaft und Politik, sollen dissente Anliegen der Wissenschaftler politikfähig werden, bedarf augenscheinlich radikaler Mittel der Einmischung, welche Albert Einstein seit 1932 bewegt haben, und welche hier als vierte Stufe seines Engagements gedeutet wurden. Einstein hat das Projekt einer universalen Befragung nie konkret betrieben. Angesichts von NMD-Phantasien in den USA ist es an der Zeit, seine Idee wirklich zu prüfen, wenn es um Antworten auf diese neue amerikanische Herausforderung geht.

Prof. Dr. Ulrich Albrecht lehrt an der FU Berlin. Er ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung

EU-USA: Zunehmende Differenzen?

EU-USA: Zunehmende Differenzen?

von Jürgen Nieth

Europa kommt – und zwar mächtig. So jedenfalls sieht es aus, glaubt mensch den Schlagzeilen der Presse in den letzten Wochen.

Der „alte Kontinent (attackiert) die Wirtschaftsmacht USA“, titelt der Spiegel (Nr. 22-2000). Trotz schwächelndem Euro, trotz gewaltigem Vorsprung der USA, entdeckt er „wohin man auch blickt (…) ein neues europäisches Selbstbewusstsein“ und deutliche Anzeichen für eine erfolgreiche Aufholjagd der EuropäerInnen. Dokumentiert im schneller steigenden Aktienindex, Erfolgen in der Top-Technologie und der Herausbildung neuer Superkonzerne. Beispiele: Vodafone-Mannesmann als Nr. 1 im Mobilfunk und Nokia als Nr.1 bei den Mobilfunkgeräten, Daimler-Chrysler unter deutscher Führung und mit dem Zusammenschluss von Aerospatiale Matra, DASA und Aeronauticas zur European Aeronautic Defence and Space Companie (EADS) rückt in der Luft- und Raumfahrt ein europäischer Konzern auf Platz 2 in der Welt, der sich anschickt auch in der Rüstungsproduktion zum wichtigsten Konkurrenten der US-Konzerne zu werden.

Wer aber die US-amerikanische Politik der letzten Jahrzehnte betrachtet, weiß, dass die USA jederzeit bereit sind zu protektionistischen Maßnahmen zu greifen und ihre Supermachtposition auszureizen, wenn es um ihre ökonomischen Interessen geht. Wie heißt es doch in der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA von 1997: „Unsere Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen sind unauflösbar miteinander verbunden.“

Schon heute beinhaltet das Verhältnis Europa-USA wesentlich mehr Differenzen, als die Herrschenden beiderseits des Atlantiks zugeben möchten. Vieles deutet darauf hin, dass diese weiter zunehmen werden und zwar sowohl im ökonomischen, im politischen wie auch im militärischen Bereich.

Auffälligstes Beispiel ist die gegenwärtige Debatte um die Neue Raketenabwehr der USA – dem Nachfolgemodell von Regans-SDI-Plänen.

Der US-Präsident will noch in diesem Sommer das Ja geben zum Bau eines Raketenabwehrsystems und damit eine Politik festschreiben, die statt auf Rüstungskontrolle auf einseitige militärische Stärkung setzt. Eine Politik, die den ABM-Vertrag aushebelt und Anlass gibt zu einem erneuten Wettrüsten.

Ein funktionierendes Raketenabwehrsystem würde auch innerhalb der NATO Zonen unterschiedlicher Sicherheit schaffen. Hinzu kommt, dass die USA ihre »Verbündeten« vor vollendete Tatsachen stellen, die diese nicht beeinflussen, sondern nur ablehnen oder akzeptieren können. Die maximale Ausnutzung der Hegemonialposition wird den Dissens vertiefen, sie zwingt die EU-Staaten, sich zu emanzipieren.

So unausweichlich wie diese Emanzipation ist, so kompliziert ist sie allerdings auch. Zum einen ist offen, ob die EU in diesem Prozess zu einer eigenen und einheitlichen Interessenvertretung findet. Zum anderen geht es darum, welche Politik im Mittelpunkt einer europäischen Emanzipation steht: Kommt es über den Weg einer eigenen Militärmacht zu einer Militarisierung Europas oder findet Europa den Weg zu einer Zivilisierung der Außenpolitik?

Eigentlich liegt auf der Hand, dass auch eine noch so große militärische Überlegenheit nicht in der Lage ist, internationale Probleme zu lösen. Das haben die USA in Vietnam erfahren, Russland in Afghanistan, die NATO am Golf usw. Auch der Misserfolg des ersten Kriegseinsatzes der Bundeswehr gegen Jugoslawien dürfte nicht zur Nachahmung reizen.

Doch gerade diesen Konfliktherd kannte die westeuropäische Gemeinschaft seit Jahren. Jetzt gibt es zaghafte – leider auch halbherzige – Schritte hin zu einem Stabilitätspakt für den südlichen Balkan. Vor zehn Jahren wäre eine solche Initiative sicher ein wichtiger Beitrag gewesen, um die Konflikte im zerfallenden Jugoslawien zivil zu bearbeiten. Noch vor zwei Jahren waren die europäischen Staaten nicht einmal bereit alle 3.000 OSZE-BeobachterInnen, die sie selbst beschlossen hatten, zur Konflikteindämmung im Kosovo einzusetzen. Heute ist dort auf unbegrenzte Zeit im Rahmen der KFOR ein Mehrfaches an Soldaten stationiert. Das demonstriert nicht nur, um wie viel teurer die militärische Variante – von den Kriegskosten ganz abgesehen – gegenüber der zivilen Konfliktbearbeitung ist, es zeigt vor allem, dass in den Köpfen der Regierenden nach wie vor das Denken in militärischen Kategorien dominiert.

So sind dann auch große Zweifel angebracht, dass die EU-Staaten die Chance des Einigungsprozesses nutzen, um die Armeen drastisch zu verkleinern und die Wehretats deutlich zu senken; dass eine Emanzipation Europas von den USA zur Entwicklung einer Politik genutzt wird, der es darum geht, Konflikte rechtzeitig zu erkennen und sich politisch und ökonomisch einzumischen um sie zu lösen, bevor sie in eine Gewaltspirale entgleiten; dass Europa endlich seine ökonomische und politische Potenz in die Waagschale wirft für eine Zivilisierung der Außenpolitik.

Jürgen Nieth

Zurück zum Kalten Krieg?

Zurück zum Kalten Krieg?

Russland und der US-Hegemonieanspruch

von Jürgen Scheffran

Von einem »Klimawandel« zwischen Moskau und Washington ist die Rede, von einer politischen »Frostperiode« der bilateralen Beziehungen, von einem »Kalten Frieden«, der in einen neuen »Kalten Krieg« umschlagen könne. Dabei schien Russland der Berliner Zeitung noch zu Beginn des Jahres 1999 kein ernst zunehmender Machtfaktor in der internationalen Politik mehr zu sein:„Es ist unübersehbar: die »Bill-und-Boris-Ära« ist vorbei, Russland hat für die amerikanische Außenpolitik keine Priorität mehr. Ökonomisch hat man in Washington den einstigen Rivalen… abgeschrieben. Politisch ist Russland bereits seit Monaten praktisch gelähmt, sein internationaler Spielraum ist stark eingeengt. Und militärisch hat das Land nach Einschätzung von Sicherheitsexperten nicht einmal mehr die Fähigkeit, einen Nachbarstaat von der Größe Finnlands oder Schwedens zu besetzen.“1 Doch das war vor dem Kosovo-Krieg und vor dem Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges. Seitdem ist der »russische Bär« auf die Weltbühne zurückgekehrt, die Register seiner ihm noch verbliebenen Macht ziehend.
Jürgen Scheffran über innere und äußere Gründe für den russischen Positionswechsel.

Spätestens seit dem neuerlichen Tschetschenien-Krieg und der zur Jahrtausendwende symbolträchtig vollzogenen Machtübergabe von Boris Jelzin an Wladimir Putin versucht Russland wieder auf dem internationalen Parkett ein Wort mitzureden und die Phase der »Politik der Schwäche« zu überwinden. Sicher, ein großer Teil der Probleme – von der Sicherheitspolitik bis zur Wirtschafts- und Sozialpolitik – war hausgemacht bzw. ein unvermeidbares Ergebnis der schmerzvollen Transformation des Sowjetsystems in den kapitalistischen Weltmarkt. Zugleich darf aber nicht übersehen werden, dass der erhebliche Positionsverlust gegenüber dem Westen auch eine Folge westlicher Macht- und Interessenpolitik ist, die auf Russlands Sicherheitsbedürfnisse wenig Rücksicht nahm.

Es reicht nicht, den Wandel in Russland als autonomen, allein von inneren Entwicklungen angetriebenen Prozess zu beschreiben. Weitaus spannender und der Komplexität der Problemlage angemessener ist es, die Verquickung interner und externer Effekte zu untersuchen. Dies ließe sich zeigen an der Art und Weise wie die NATO-Osterweiterung über russische Ängste hinweg ging oder an der eigennützigen Politik der USA in der ölbeladenen Kaukasus-Region. Im folgenden sollen die Zusammenhänge an zwei Beispielen schlaglichtartig verdeutlicht werden, dem Kosovo-Krieg der NATO und der neuen Raketenabwehrdebatte.

Der Beinahe-Zusammenstoß
im Kosovo

Schon im Bosnien-Krieg lehnte Moskau ein militärisches Eingreifen der NATO ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates ab. Die russische Regierung suchte nach politischen Lösungen mit Hilfe internationaler Gremien, in denen sie ein gleichberechtigtes Mitspracherecht hatte (Vereinte Nationen, OSZE, Balkan-Kontaktgruppe).2 Auch im Verlauf der Kosovo-Krise votierte Russland für eine stärkere Einbeziehung der zivilen internationalen Institutionen und widersetzte sich einer »Federführung« durch die NATO. Gleichzeitig versuchte es seinen Einfluss auf die jugoslawische Führung geltend zu machen, nicht ohne deutliche Kritik zu üben an der jugoslawischen Politik (so beim Massaker von Racak).

Diese Politik traf auf den entschiedenen Widerstand vor allem der USA. Das wurde auch in Rambouillet deutlich. Zwar unterstützte Russland den ersten Vertragsentwurf, doch an den erheblichen Änderungen, die dann auf Druck der USA vorgenommen wurden um die albanische Seite zufrieden zu stellen, wurde die russische Verhandlungspartei nicht mehr beteiligt. Folgerichtig blieb Russland der feierlichen Unterzeichnung des Rambouillet-Abkommen am 19.3.99 durch die Kosovo-Albaner fern, was das Scheitern der Verhandlungen besiegelte.

Der Beginn der NATO-Luftangriffe musste Russland zwangsläufig weiter brüskieren. Premierminister Jewgeni Primakow sprach davon, der NATO-Angriff auf ein souveränes Land habe „irreparabel destabilisierende Auswirkungen auf die Situation im Kosovo, im ehemaligen Jugoslawien, in Europa und der ganzen Welt.“3 Folgerichtig sagte er einen vorgesehenen USA-Besuch mitten im Flug ab. Am 29. März 1999 kritisierte Präsident Jelzin das Vorgehen der NATO, das „unter Umgehung des Sicherheitsrats, entgegen ihrer Satzung, entgegen jeder Vernunft“ erfolgt sei. Gleichzeitig erklärte er, Russland werde sich jedoch nicht in einen bewaffneten Konflikt hineinziehen lassen und seine Beziehungen zu den USA nicht aufs Spiel setzen. Wenige Tage später schlug er die unverzügliche Einberufung einer Außenministerkonferenz der G8-Staaten vor.

Dies traf sich mit den Vorschlägen des deutschen Außenministers Fischer, der mit seinem am 13. April 1999 vorgelegten Plan bestrebt war, Moskau wieder »ins Boot« zu holen, um die G8-Bedingungen zur Beendigung der NATO-Luftangriffe durchzusetzen. Als Mittler zu Belgrad diente nun der frühere russische Ministerpräsident Tschernomyrdin, der letztlich maßgeblich mit dazu beitrug, dass Milosevic dem G-8-Plan im Rahmen eines UNO-Mandats zustimmte.

Die Darstellung auf der diplomatischen Ebene besagt aber nur wenig über die Wirkung des Kosovo-Krieges auf die Diskussion innerhalb Russlands. In den russischen Massenmedien löste das Vorgehen der NATO im Kosovo ein Feuerwerk anti-westlicher Ressentiments und Reaktionen aus, gepaart mit einem instinktiven Panslawismus, der Differenzen mit der Politik Milosevics vergessen ließ. In Umfragen sahen 70 % der RussInnen den NATO-Angriff als „direkte Bedrohung für die russische Sicherheit“ an. Da die NATO als Aggressorin angesehen wurde, wurde Jugoslawien zum Opfer, das der Unterstützung Russlands bedürfe. Es wurde dazu aufgerufen von den Sanktionen gegen Jugoslawien abzurücken und dem Land nicht nur humanitäre, sondern auch militärische Hilfe zukommen zu lassen und sogar Freiwillige zu schicken.

Tatsächlich hat der Kosovo-Krieg die politische Bühne in Russland nachhaltig verändert. War es bis dahin noch möglich, auf dem schmalen Grat zwischen Antiamerikanismus und Westbeziehungen, zwischen Rhetorik und pragmatischer Vermittlung zu lavieren, erzwang der Kosovo-Krieg eine Zuspitzung, eine Entscheidung zwischen Für und Wider. Alle maßgeblichen politischen KandidatInnen und Parteien verurteilten die Bombardierung. Selbst Gregorii Yawlinski, Führer der liberalen Jabloko-Partei, verurteilte die NATO-Angriffe als »absolut illegitim''. Der Vorsitzende des Ausschusses für internationale Angelegenheiten der Duma warf der NATO vor, mit dem Recht des Stärkeren ins Mittelalter zurückzukehren und der frühere Ministerpräsident Jegor Gaidar äußerte die Befürchtung, jeder Schlag auf Jugoslawien sei auch ein Schlag gegen eine demokratische Entwicklung in Russland.

Durch den globalen Hegemonialanspruch der USA wurden die in der Gesellschaft Russlands schon lange schwelenden antiwestlichen, in erster Linie antiamerikanischen Ressentiments gefördert. In der Elite Russlands verquicken sich „Gefühle der Demütigung, Kränkung und des verletzten Stolzes mit einem Überlegenheitskomplex und dem Bestreben, etwas von der früheren internationalen Bedeutung zurückzugewinnen“.4

Mit dem Kosovo bekam die politische Klasse Russlands ein praktisches Anschauungsbeispiel für die Befürchtung, das multiethnische Russland könne selbst einmal zur Zielscheibe der neuen NATO-Interventionsstrategie werden. Daher ist der Einwand, die antiwestliche und gegen die NATO gerichtete Haltung Russlands sei „eine Reaktion auf die Probleme im Inneren und Ausdruck des Versuchs, die Aufmerksamkeit von der anhaltenden Krise im Land selbst abzulenken“,5 nicht ganz überzeugend denn er übersieht, dass die Sicherheitsängste gegenüber dem Westen einen realen Kern besitzen. Er kann auch nicht entschuldigen, dass die NATO die Komplexe und Ängste der politischen Klasse Russlands noch verstärkte. Gestärkt wurde die Anhängerschaft derjenigen, die die NATO traditionell am entschiedensten ablehnten, also der Kommunisten und der NationalistInnen, aber auch jene Mischung aus Law-and-Order, Geheimdiensten, Wirtschaftsbossen und Militärs, die sich in der Gestalt Putins personifizierte.

Auch das russische Militär konnte im Gefolge der NATO-Intervention die Stimmung zu seinen Gunsten ausnutzen. Generalstabschef Anatolii Kwashnin verurteilte die NATO-Agression als eine Verletzung des NATO-Vertrags und folgerte, „Russland benötige alle Streitkräfte und alle Militärstrukturen, über die es verfüge, einschließlich der strategischen Kernwaffen, um darauf zu antworten und die territoriale Integrität und Souveränität Russlands zu sichern.“ 6 Konkrete Anzeichen für einen wachsenden Einfluss des Militärs sind der Ruf nach einer expansiveren Militärdoktrin, eine Zunahme von Militärübungen und eine Steigerung des Militärbudgets.

Ringen um Raketenabwehr

Langfristig könnten die Pläne der USA für die Entwicklung einer nationalen Raketenabwehr (National Missile Defense, NMD) noch folgenschwerer sein als der Kosovo-Krieg. Seit den Sechzigerjahren war Raketenabwehr ein Dauerbrenner in den Beziehungen zwischen Moskau und Washington. Zunächst spielte die damalige Sowjetunion mit ihrem um Moskau stationierten Abwehrgürtel aus nuklearbestückten Abfangraketen noch eine Führungsrolle, doch mit der Entspannung der Siebzigerjahre wurden Raketenabwehrsysteme zunehmend obsolet. Beide Supermächte waren sich der unzureichenden technischen Möglichkeiten bewusst und befürchteten, ein offensiv-defensives Wettrüsten könne die strategische Stabilität untergraben und beträchtliche Ressourcen verschlingen. Daher vereinbarten sie 1972 den ABM-Vertrag, der beiden Seiten die Entwicklung, Erprobung und Stationierung einer landesweiten Raketenabwehr untersagt, ausgenommen ein System von 100 Abfangeinrichtungen an einem Ort. Moskau behielt ein abgespecktes System bei, während die USA ihres bei Grand Forks verschrotteten.

1983 verkündete der republikanische Präsident Ronald Reagan in seiner »Star Wars-Rede« das Ziel, Atomwaffen durch die Entwicklung eines weltraumgestützten Abwehrsystems „impotent und obsolet“ zu machen. Milliardensummen flossen in die Strategische Verteidigungs-Initiative (SDI), die den ABM-Vertrag auszuhebeln drohte. Die sowjetische Regierung opponierte massiv gegen die Weltraumpläne der USA. Auch die neue Führung unter Gorbatschow widersetzte sich SDI und entwickelte dagegen ein Konzept umfassender nuklearer Abrüstung.

Das mit dem Ende des Kalten Krieges überfällige Begräbnis für SDI ließ jedoch auf sich warten. Nach dem vermeintlichen Erfolg der Patriot-Rakete gegen die irakische Scud stieg SDI wieder wie Phönix aus der Asche empor. Zwar benannte US-Präsident Clinton das Programm in Ballistic Missile Defense (BMD) um und verschob die technologischen Prioritäten hin zur Bodenabwehr, doch der finanzielle Umfang wurde kaum verringert. Als Begründung dienten nun die vermeintlichen Bedrohungen durch Schurkenstaaten, Terroristen und versehentliche Raketenstarts. Seit 1983 flossen mehr als 55 Mrd. Dollar in die Raketenabwehr. Anfang 1999 wurden zusätzliche 7 Mrd. bereitgestellt. Im Sommer 2000 soll Clinton eine Entscheidung über die Stationierung fällen, auf Grundlage der durch Abwehrtests belegten technischen Funktionsfähigkeit.

Trotz nur geringer technischer Fortschritte und obwohl NMD nicht explizit gegen Russland gerichtet ist, sieht die russische Regierung hierin eine ernste Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit. Eine zusammenfassende Argumentation gibt der russische Verteidigungsminister Sergejew im Rahmen einer in der Süddeutschen Zeitung dokumentierten Kontroverse mit US-Verteidigungminister Cohen. Die Kernpunkte:

  • Der ABM-Vertrag ist eine Voraussetzung für die Reduzierung und Begrenzung strategischer Offensivwaffen und muss erhalten bleiben.
  • Das »Nationale Raketenabwehrsystem« der USA kann die Destabilisierung der militär-strategischen Lage beschleunigen und gefährliche Folgen für die gesamte Weltordnung haben.
  • Die Bedrohung der USA durch Raketenprogramme Nordkoreas, Irans und des Iraks ist übertrieben, denn diese und andere Staaten besitzen nicht die notwendigen finanziellen, wissenschaftlichen und technologischen Mittel um in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine strategische ballistische Rakete zu entwickeln, die das Gebiet der USA erreichen könnte.
  • Für eine nukleare Erpressung oder für Terrorakte braucht es keine strategischen Raketen. Es gibt weit unkompliziertere und kostengünstigere Mittel, gegen die das Raketenabwehrsystem der USA trotz seiner enormen Kosten unwirksam ist. Zufällige oder nicht genehmigte Starts interkontinentaler Raketen habe es bislang nie gegeben.
  • Sinn macht der Aufbau eines landesweiten Raketenabwehrsystems nur zur Bekämpfung der strategischen ballistischen Raketen Russlands. Eine begrenzte Abwehr müsse technisch in der Lage sein, einen Raketenschlag aus jeder Richtung gegen einen beliebigen Teil des Landes abzuwehren und könne leicht für die Abwehr einer größeren Zahl strategischer Gefechtsköpfe aufgestockt werden.
  • Beginnt eine Seite mit dem Aufbau eines Raketenabwehrsystems zwingt sie die andere zur Verbesserung ihrer Waffen. Die wechselseitige Reaktion wird sich hoch schaukeln und das Wettrüsten stimulieren, auch in den Weltraum hinein.7

In der Reaktion auf NMD fährt Moskau zweigleisig. Zum einen werden Rüstungskontrollvorschläge gemacht, zum anderen militärische Gegenmaßnahmen eingeleitet. So beharrt Russland auf der Einhaltung des ABM-Vertrages als Eckstein des Systems gegenseitiger Abschreckung und Rüstungskontrolle und lehnt bislang eine Revision und Neuinterpretation ab. Statt dessen sollten beide Länder die Kontrolle über strategische Nuklearwaffen ausbauen.

Ein wichtiger Streitpunkt bei der Auslegung des ABM-Vertrages ist die Frage, wie weit die durch den Vertrag nicht erfassten Abwehrsysteme gegen taktische Raketen kurzer Reichweite (tactical missile defense, TMD) auf solche gegen strategische Raketen langer Reichweite aufgestockt werden können und dürfen.8 Wo die technische Trennlinie zu ziehen ist bleibt umstritten.

Um die wechselseitigen Blockaden zu überwinden vereinbarten Clinton und Jelzin am 20. Juni 1999 eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie in Anknüpfung an die Helsinki-Beschlüsse vom März 1997 ihre Verpflichtung zum Zwecke der Stärkung der strategischen Stabilität und internationalen Sicherheit bekräftigen, die Bedeutung weiterer Reduzierungen der strategischen Offensivwaffen hervorheben und die fundamentale Bedeutung des ABM-Vertrags als Eckstein der strategischen Stabilität anerkennen.

Um die Gegensätze etwas aufzuweichen und Kompromissbereitschaft zu demonstrieren schlugen einige russische ExpertInnen gewisse Zugeständnisse bei der Modifizierung der Bestimmungen des ABM-Vertrages vor, etwa die Erhöhung der erlaubten Anlagen von einer auf zwei, vertrauensbildende Maßnahmen oder ein Verbot von weltraumgestützten Abfangflugkörpern.9 Die Hoffnungen, im Gegenzug für Zugeständnisse beim ABM-Vertrag von den USA Konzessionen zu erhalten (etwa eine beschleunigte Verhandlung von START III), wurden spätestens seit der Nicht-Ratifizierung des Teststopp-Vertrages durch den US-Senat und die fortgesetzten Abwehrversuche der USA enttäuscht.

Der Konflikt um den ABM-Vertrag fand seinen Niederschlag auch in der innenpolitischen Debatte Russlands. So benutzt die russische Duma, wie schon bei der NATO-Osterweiterung und beim Kosovo-Konflikt, die START II-Ratifikation als Faustpfand gegen die US-Raketenabwehrpläne. KritikerInnen, denen die Konzessionen und Kosten einer START II-Implementierung bereits zu hoch sind, lehnen Zugeständnisse beim ABM-Vertrag rigoros ab.

Auch vom russischen Militär wurden schärfere Töne angeschlagen: Generalmajor Wladimir Dworkin warnt, mit der Beseitigung des ABM-Vertrages werde das gesamte Vertragssystem zwischen beiden Staaten »einstürzen«. Russland werde die erforderlichen Gegenmaßnahmen gegen eine Raketenabwehr ergreifen: mehr Kernwaffen, die Beibehaltung der durch START II gebannten Raketen mit Mehrfachgefechtsköpfen (SS 18, SS 19), mit denen auch die neue Topol M-Rakete ausgestattet werden könne, sowie erschwingliche Maßnahmen (z.B. Attrappen) um die Raketenabwehr zu durchdringen.

Schließlich kann Russland auch eigene Abwehrsysteme weiterentwickeln und damit dem Ruf von Rüstungslobbyisten folgen, die dies seit Jahren fordern (etwa dem früheren Berater Gorbatschows und ehemaligen SDI-Kritiker, Jewgenij Welichow).10 Genau einen Monat nach dem Abwehrtest der USA vom 2. Oktober 1999 gab der russische General Wladimir Jakowlew, Befehlshaber der russischen strategischen Raketenstreitkräfte, den Test eines Abfangflugkörpers auf dem Testgelände von Sary-Shagan in Kasachstan bekannt. Die getestete Rakete soll zu dem Moskauer Abwehrsystem A 135 gehören, das nach dem ABM-Vertrag zulässig ist.

Insgesamt kann Russland auf genügend Erfahrungen im Bereich Weltraum, Raketen und Raketenabwehr zurückblicken um den USA eine Weile lang Paroli bieten zu können, auch wenn diese technologisch und wirtschaftlich den längeren Atem haben mögen. Gewonnen wäre damit aber für keine Seite etwas, im Gegenteil: Die nuklearen Risiken des Ost-West-Konflikts würden durch ein politisch und ökonomisch instabiles Russland noch vervielfältigt. Bei einer positiven Stationierungsentscheidung der USA dürften die Chancen auf weitere nukleare Abrüstung gleich Null sein, ein weiteres START-Abkommen würde auf unbestimmte Zeit verschoben. Schließlich dürfte auch die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen eher zu- als abnehmen.

Für Sergejew lässt sich durch Raketenabwehr die Verbreitung der Raketentechnologien nicht eindämmen. Im Gegenteil, die „Umsetzung der US-Pläne wird unweigerlich dazu führen, dass die Kontrolle über die Verbreitung der Raketen und Raketentechnologien zusammenbricht. Der »Club« der Raketen- und Nuklearstaaten wird damit größer werden. Und in den Beziehungen zwischen den Großmächten wird sich der Schwerpunkt darauf verlagern, einander entgegenzuwirken.“

Bis dahin zeigt sich die russische Seite verhandlungsbereit und wartet mit eigenen Vorschlägen auf. So propagiert der Oberbefehlshaber der strategischen Raketentruppen, Generaloberst Wladimir Jakowlew, einen globalen strategischen Stabilitätspakt und ein Abkommen über die Unverletzlichkeit des Weltraumes. Als Alternative zur Raketenabwehr schlägt Sergejew neben der Bewahrung des ABM-Vertrags die Stärkung der internationalen Strukturen zur Nichtweitergabe von Massenvernichtungswaffen und deren Trägermitteln vor. Konkret unterstützt er das von Jelzin in Köln vorgeschlagene globale Kontrollsystem für die Nichtweitergabe der Raketen und Raketentechnologien. Die von Russland gemeinsam mit China unterstützte Resolution gegen ein Wettrüsten im All und für die Einhaltung des ABM-Vertrages fand bei fast allen Staaten Zustimmung, außer bei den USA.

Russlands Sicherheitskonzept
in der multipolaren Welt

Sowohl am Kosovo-Krieg als auch an der Raktenabwehrdebatte wird deutlich, wie sehr sich interne und externe Faktoren wechselseitig stimulieren können. Es zeigt sich, dass es bei den Prozessen in Russland nicht nur um interne Machtkämpfe rivalisierender Parteien, sondern auch um die Neuverteilung globaler Macht im Konzert von Staaten und Staatensystemen geht, die untereinander Koalitionen bilden oder zueinander in Konkurrenz treten können. In vielen der derzeitigen Konflikte geht es darum, sich alten oder neu formierenden Machtpolen zuzuordnen. Für Russland (wie auch für Indien oder China) ist es eine zentrale Herausforderung der Zukunft ob es gelingt, die Nation gegenüber den zentrifugalen Tendenzen in der globalisierten Welt zu bewahren. In beiden Fällen, dem Zerfall wie auch der Bewahrung der Einheit, besteht die Gefahr, dass Gewalt zu einem Mittel der Auseinandersetzung wird.

Einige der angesprochenen Probleme finden sich in dem neuen »Konzept der nationalen Sicherheit« Russlands wieder.11 Die gegenüber den entsprechenden Dokumenten der Jahre 1993 und 1997 stärkere Betonung von militärischer Gewalt und staatlicher Intervention bei einer Zurücknahme kooperativer Elemente trägt die Handschrift Wladimir Putins, der damit den außenpolitische Kurs in eine härtere Richtung lenken will.

Gleich zu Beginn dieses Konzepts ist die Rede vom Kampf zweier sich gegenseitig ausschließender Tendenzen, zwischen dem Trend zur von Russland bevorzugten Multipolarität und dem Bestreben des unter Führung der USA stehenden Westens, „eine Struktur internationaler Beziehungen zu bilden, die auf der einseitigen Lösung von Schlüsselproblemen vor allem mit militärischer Gewalt und Umgehung grundlegender Normen des Völkerrechts beruht.“ Als sicherheitsgefährdend betrachtet das Konzept das Bestreben bestimmter Staaten und internationaler Zusammenschlüsse, die Rolle der Vereinten Nationen und der OSZE bei der Lösung internationaler Konflikte zu schwächen. Gemeint ist die „in den Rang einer strategischen Doktrin erhobene Praxis der NATO, außerhalb des Geltungsbereichs des Blocks militärische Gewalt auch ohne Sanktion des Sicherheitsrates der UN durchzuführen.“

Stärker als zuvor werden die Sicherheitsinteressen militärisch definiert, sodass den russischen Streitkräften ein höherer Stellenwert zukommt, insbesondere auch den Kernwaffen. Damit rückt Russland ab von früheren weitreichenden Abrüstungsvorschlägen und der Forderung nach einem Ersteinsatzverbot. Der Kernwaffeneinsatz wird nun im Falle einer bewaffneten Aggression, „wenn alle anderen Mittel zur Lösung einer Krisensituation ausgeschöpft oder unwirksam sind“, als „notwendig und gerechtfertigt“ angesehen, und zwar auch gegen Chemiewaffen und konventionelle Waffen. Die Atomwaffe wird so zum letzten Rettungsanker russischer Großmachthoffnungen und zum Kristallisationspunkt für die Wiedergewinnung eigener Stärke gegenüber einer hoffnungslos überlegenen USA.

Anmerkungen

1) R. Heine, Ende der »Bill-und-Boris-Story«, Berliner Zeitung, 26.1.1999.

2) A. Kreikemeyer, Die Mühsal der Selbstbehauptung: Russische Außen- und Sicherheitspolitik in der ausgehenden Ära Jelzin, Friedensgutachten 1999, Münster: LIT, S. 133-142.

3) Balkan Chronology, 27. March 1999.

4) L. Schewzowa, Zwischen Großmachtrhetorik und Pragmatismus – Vom Kosovo auf die Probe gestellt: Russland und der Westen, In: T. Schmid (Hg.), Krieg im Kosovo, rororo, 1999, S. 205-217.

5) Schewzowa 1999, a.a.O.

6) Zitate aus: D.Y. Bakk, How Kosovo Empowered the Russian Military, Program on New Approaches to Russian Security, Policy Memo Series No. 61, Harvard-University, http://www.fas.harvard.eud/~ponars.

7) Schirm oder Schrecken – der Streit um den ABM-Vertrag, Verteidigungsminister der USA, William Cohen, und Russlands, Igor Sergejew, Süddeutsche Zeitung, 10.2.2000.

8) A. Pikayev, The Prospects for ABM Treaty Modification, PONARS Memo No.108.

9) A. Diakov, P. Podvig, START II and the ABM Treaty, INESAP Information Bulletin, No.17, August 1999.

10) Zu den russischen Entwicklungen Anfang der Neunzigerjahre vgl. J. Scheffran, Raketenabwehr contra Proliferation, Wissenschaft und Frieden, 1/1994.

11) 2000 Russian National Security Concept, 14 January 2000, http://www.princeton.edu/~ransac.

Dr. Jürgen Scheffran ist Wiss. Mitarbeiter bei IANUS. Er arbeitet an einem vom BMBF geförderten Kooperationsprojekt zu »Machtverteilung, Koalitionsbildung und Multipolaren Stabilität in internationalen Systemen«, an dem auch russische WissenschaftlerInnen beteiligt sind.

Vom Europäischen Haus zurück zum Mächtekonzert

Vom Europäischen Haus zurück zum Mächtekonzert

von Hans-Joachim Spanger

Fjodor Tjutschew ist keineswegs allein mit dem berühmten Zitat in die Geschichte eingegangen, dass man Russland nicht verstehen, sondern nur an Russland glauben könne. Schon 1844 gelangte er zu der heute nicht minder aktuellen Erkenntnis: „Über Russland wird viel gesprochen, heutzutage ruft es eine wache und besorgte Neugier hervor, es ist offensichtlich zu einer der größten Sorgen unseres Jahrhunderts geworden, doch diese Sorge ist so verschieden von den anderen, dass sie eher bedrückt denn erregt.“1 Es ist offenbar gleichgültig, in welchem politischen Aggregatzustand sich Russland befindet, ob es in zaristisch-imperialer, marxistisch-leninistischer oder oligarchisch-demokratischer Verkleidung daher kommt, die Sorgen bleiben die gleichen.

Auch dies ist für Tjutschew keineswegs verwunderlich, denn er registriert schon damals mit dem gleichen Sinn für Aktualität: „Lange Zeit waren die Vorstellungen des Westens von Russland ähnlich denen der Zeitgenossen von Kolumbus über die Neue Welt. Es war derselbe Irrtum, dieselbe optische Täuschung.“ Das galt zum einen der Arroganz im Westen, nach der „die neu entdeckten Länder nur eine Fortsetzung der ihnen schon bekannten Erdhalbkugel seien“, was unausgesprochen die konzertierten Anstrengungen westlicher Geber und Nehmer ins Visier nimmt, Russland auch heute nach dem eigenen Bilde und ohne sonderliche Rücksicht auf seine Eigenarten auf den Weg der Demokratie und Marktwirtschaft bringen zu wollen.2 Zum anderen brachte er damit das Grundverständnis eines überzeugten, wenn auch unorthodoxen, »Panslawisten« zum Ausdruck, für den Russland in jeder Hinsicht einzigartig war und der daher kaum auf Verständnis der übrigen Welt rechnen konnte.

Dieser Dualismus zwischen eingebildeter Singularität und ausgebildeter Distanz macht das historische Dilemma und die Tragik der russischen Rolle in der internationalen Gemeinschaft aus. Gleichsam zwischen dem Dritten Rom und der »Dritten Welt« oszillierend, war die objektive Rückständigkeit immer nur durch ein Sendungsbewußtsein zu ertragen, das kompensatorisch ebenso überhöht wurde wie der Nihilismus, mit dem sich andere wie die »WestlerInnen«, als KritikerInnen der Rückständigkeit regelmäßig vom eigenen Land abzuwenden pflegten. Es liegt auf der Hand, daß der rasante Abstieg vom Olymp der bürokratisch-saturierten Supermacht in die Niederungen einer zahlungsunfähigen Bananenrepublik, den Russland in den letzten Jahren erfahren mußte, kaum dazu angetan ist das beschriebene Dilemma erträglicher zu machen. Im Gegenteil muß es eher erstaunen, wie wenig Verwerfungen der revitalisierte Inferioritätskomplex und die Suchbewegungen nach innen wie außen bislang ausgelöst haben. Es ist in Russland zwar viel von einem »Weimar-Syndrom« die Rede, doch liegt die kollektive Schmerzgrenze offenkundig ungleich höher als seinerzeit in Deutschland, um diffuses Ressentiment in kollektive politische Aktion umschlagen zu lassen.

Ähnliche Schockwellen sind aus Russland folglich nicht zu erwarten. Das Dilemma des Dualismus jedoch ist auch heute aktuell und prägt Rhetorik und Kurs der russischen Außenpolitik. Diese schwankt, seit die Russische Föderation 1992 aus der Taufe gehoben wurde, zwischen den weit gesteckten Ambitionen einer virtuellen Großmacht auf der Suche nach einer neuen Identität und den begrenzten Kapazitäten einer realen Ökonomie, die im globalen Wettbewerb zum Rohstoffanhängsel des Westens degeneriert ist. Ihre Schlüsselkategorien sind »Großmacht«, »Multipolarismus« und »nationale Interessen«.

Zwar ist in Russland heute im Unterschied zum deklaratorischen Internationalismus der Sowjetunion viel von den »nationalen Interessen« des Landes die Rede. Worin genau diese bestehen, bleibt jedoch über allgemeine Bekenntnisse hinaus – etwa zur Wahrung der territorialen Integrität – offen und durchaus kontrovers. Immerhin knüpft die russische Debatte an objektiven Problemen an – vom Verlust des inneren und äußeren Imperiums bis zu den bewaffneten Konflikten im angrenzenden und nach Russland hineinragenden südlichen Krisenbogen.

Nun dienen nationale Interessen weit besser dem politischen Diskurs als der politischen Orientierung. Das gilt zumal für Russland, wo es besonders schwer fallen muß mit ihnen den Bogen zwischen inneren Wünschen und äußerer Wirklichkeit zu schlagen, zwischen unbehaglich veränderten Kräfteverhältnissen auf der einen Seite und einer nationalen Idee, deren Erkundung erst in präsidentiellen Preisausschreiben ausgelobt werden muß auf der anderen. Es kann daher auch nicht verwundern, daß Einführung und Gebrauch des Begriffes ursprünglich weniger der Bestimmung des eigenen Standortes dienten als vielmehr der Abgrenzung, namentlich von dem dezidiert »pro-westlichen« Kurs der Wendezeit 1992. Das betrifft sowohl die Akzentuierung der spezifischen »geopolitischen Interessen« Russlands als euro-asiatischer Kontinentalmacht mit originären Gestaltungsansprüchen als auch die Relativierung des westlichen Zivilisationsmodells, das mit den russischen kollektiven und etatistischen Traditionen nicht vereinbar sei.

Schon damals wurde die Zeit der Wende von ihrem Urheber und prominentesten Verfechter, dem damaligen Außenminister Kosyrew, als »romantische Periode« belächelt. Ihre Essenz war nach dem gescheiterten eigenen Weg des real existierenden Sozialismus die Rückkehr in den breiten Strom der »zivilisierten Welt« – ganz so, wie sich die einstigen Verbündeten der »Rückkehr nach Europa« verschrieben hatten. Im Unterschied zu diesen blieb es jedoch – wenig verwunderlich – bei einem nur halbherzigen Versuch. Für die kleineren OsteuropäerInnen bedeutete die Rückkehr in nüchterner Verarbeitung der Geschichte und realistischer Bewertung aktueller Risiken Distanzierung und Anschluß zugleich. Das war für Russland nicht möglich: Zum einen konnte es sich als einstiger Kern kaum plausibel vom eigenen hegemonialen Kosmos distanzieren, was schon bei der Ukraine reichlich artifiziell wirkte. Zum anderen konnte die »zivilisierte Welt«, selbst hegemonial strukturiert, keinen für würdig befundenen Platz bieten. Um sich diesen zu erstreiten blieb daher nur, selbst Definitions- und Gestaltungsmacht zu beanspruchen, als Gleicher unter Gleichen im Konzert der Großmächte.

Spätestens seit 1993 beherrscht der Anspruch, »Großmacht« und damit eines von mehreren Gravitationszentren in einer nach dem Ende des Bipolarismus »multipolaren« Welt zu sein mit bisweilen obsessiven Zügen die russische Außenpolitik. Im – heftig umstrittenen – Konzept des einstigen Außenministers Kosyrew reduzierte sich dieser Anspruch noch auf eine rhetorisch bemühte kompensatorische Beschwörungsformel ohne unmittelbare operative Relevanz. Entscheidend blieben bei ihm auch über die »romantische« Anfangsperiode hinaus die Prämissen demokratischer Gemeinsamkeit und wirtschaftlicher Offenheit. Das verpflichtete Russland, allen Tendenzen entgegen zu treten, die in Folge einer „engen nationalistischen und eigensüchtigen“ Politik die Welt erneut in »eine Arena wetteifernder nationaler Interessen« verwandeln und dem „Gleichgewicht der Angst“ Geltung verschaffen würde – ganz wie beim Mächtekonzert des 19. Jahrhunderts.3 Er blieb damit der von Gorbatschow begründeten Tradition verbunden, der mit dem paradigmatischen »Gemeinsamen Europäischen Haus« und den »allgemeinmenschlichen Werten« ja nicht allein den marxistisch-leninistischen Manichäismus der Klassentheorie überwinden, sondern auch die Einheit der zivilisierten Welt begründen wollte.

Klassische Gleichgewichtspolitik und neue Machtrivalität bilden dagegen die Essenz der heute dominierenden – und weit weniger kontroversen – außenpolitischen Doktrin wie sie von Kosyrews Nachfolger, Jewgenij Primakow, mit dem Begriff des »Multipolarismus« eingeführt und auf den Begriff gebracht wurde. Weit stärker von geostrategischen Differenzen als von demokratischen Gemeinsamkeiten und den Imperativen ökonomischer Modernisierung inspiriert ist Russland darin auferlegt, im Sinne der (potenziell entstehenden) »multipolaren« Welt der (real existierenden) »unipolaren« unter der Ägide der USA entgegen zu treten. Das schließt eine allzu enge Partnerschaft mit dem Westen schon deshalb aus, weil diese bedeuten würde, sich in ein unakzeptables Gefolgschaftsverhältnis zu den USA begeben und eigene Interessen aufgeben zu müssen. Anzustreben ist vielmehr eine Strategie der Äquidistanz und idealiter auch der wechselnden Koalitionen mit den wichtigsten Machtzentren, namentlich den USA, China, Deutschland und Japan.4

Das so anvisierte Mächtekonzert relativiert zwar, verwirft aber nicht prinzipiell den von Gorbatschow und Kosyrew noch bemühten Bezug auf das zivilisatorische gemeinsame Ganze. Vielmehr ist der »Multipolarismus« attraktiv, weil er taktische Spielräume eröffnet ohne risikoreiche strategische Entscheidungen treffen zu müssen. Eine solche würde erst dann erfolgen, wenn im Sinne von Konzepten wie dem »Eurasismus« oder der »Russischen Idee« nationale Interessen ideologisch zu einem russischen Sonderweg verdichtet und damit allenfalls noch eine antagonistische Kooperation erlauben würden.

Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß mit Primakow und seinem neuen Konzept die Distanz zum Westen deklaratorisch gewachsen ist, zugleich aber die russische Außenpolitik stetiger und berechenbarer wurde und damit nach der Sprunghaftigkeit zuvor erstmals eine Kernbedingung für kooperative Beziehungen erfüllt war. In der praktischen russischen Politik finden sich denn auch beide Momente: die Idee einer zivilisatorischen Einheit Europas, die unter seiner Mitwirkung institutionell abgesichert werden soll und die Logik klassischer Machtrivalität mit dem Westen. So hat Russland mit Nachdruck eine Aufnahme in die G7, die Gruppe der weltwirtschaftlich führenden Mächte gefordert, die im russischen Sprachgebrauch spätestens seit 1995 »die politische G8« heißt und sich seit dem Gipfel von Denver 1997 auch einer russischen Vollmitgliedschaft nicht länger verschließt. Auch wünscht das Land eine Aufnahme in die Welthandelsorganisation sowie die OECD und konnte sich bereits mit seinem Wunsch nach Mitgliedschaft im »Pariser Club« der öffentlichen Gläubiger durchsetzen. Und nicht zuletzt strebt Moskau präferenzielle (Freihandels-)Beziehungen mit der Europäischen Union an. Selbst eine Mitgliedschaft in der NATO wird nicht prinzipiell ausgeschlossen, der Schaffung eines neuen gesamteuropäischen Sicherheitssystems auf Grundlage der OSZE und angereichert durch einen europäischen Sicherheitsrat jedoch der Vorzug gegeben.

Auf der anderen Seite beansprucht Russland die exklusiven Rechte einer Großmacht. Das gilt in Sonderheit für das Gebiet der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, das als russische Einflußsphäre gegen externe Einmischung abzuschirmen ist. Es gilt aber auch für die frühere sowjetische Einflußsphäre im östlichen Mitteleuropa, wo zumindest ein droit de regard reklamiert wird. Und schließlich gilt es für den Umgang mit dem Westen selbst, der zum Beweis seiner Kooperationsbereitschaft eine umfassende und gleichberechtigte Mitwirkung Russlands in allen für die Sicherheit Europas und der Welt relevanten Fragen sicherstellen soll.

In erster Linie richtet sich das russische Begehren nach Gleichberechtigung im Konzert der großen Mächte gegen die schmerzlich empfundene machtpolitische Marginalisierung nach dem Zerfall des eigenen hegemonialen Kosmos. Nicht das Bedürfnis nach Selbstbindung, sondern der Wille zur Selbstentfaltung beherrscht daher den russischen Wunsch nach Mitwirkung in jenen Institutionen, mit denen der Westen dem internationalen System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts seinen Stempel aufdrückt. Dabei stehen jene Institutionen im Mittelpunkt, die aus einer rein machtpolitischen Perspektive am sichtbarsten die Dominanz des Westens verkörpern: die (einstige) G7 als „eine besondere Art von Welt-Direktorium“5 sowie die NATO als strukturierendes Zentrum der europäischen Sicherheit.

Kaum eine Organisation hat Russland deutlicher seine Ohnmacht vor Augen geführt als die NATO – sei es mit ihren Plänen, den Einzugsbereich des Bündnisses nach Osten auszuweiten oder ihren militärischen Aktivitäten im Rahmen der von ihr so deklarierten humanitären Intervention auf dem Balkan. Auf beides hat die russische Politik höchst aufgeregt reagiert. Und in beiden Fällen hat sie sich schließlich zur Kooperation bereit gefunden. Dieser Widerspruch offenbart das gravierende strukturelle Dilemma, mit dem sich Moskau weit über den unmittelbaren Anlaß hinaus konfrontiert sieht: entweder durch Kooperationsverweigerung in die Selbstisolation zu geraten oder durch Kooperationsbereitschaft eine Selbstbindung einzugehen, die der NATO eine erweiterte Legitimation, Russland hingegen prima facie nur die Rolle eines Juniorpartners sicherte. Aktionen wie die unilaterale Besetzung des Flughafens von Pristina durch russische SFOR-Truppen aus Bosnien verschaffen zwar temporär Entlastung, belegen aber letztlich nur die ganze Hilflosigkeit.

Mit der Grundlagenakte vom 27. Mai 1997 konnten die NATO und Russland zumindest die Voraussetzungen für eine institutionell verstetigte Kooperation schaffen – bis die Bomben auf Jugoslawien ihr ein vorzeitiges Ende bereiteten und zugleich die fortdauernde Brüchigkeit der beiderseitigen Beziehungen offenbarten. Ob über die gemeinsame Friedenssicherung auf dem Balkan und temporäre Dialogversuche hinaus die Zusammenarbeit im 1997 vereinbarten NATO-Russland-Rat wiederaufgenommen werden kann hängt von beiden Seiten ab – von der Richtung des Wandels in der NATO ebenso wie von der inneren und äußeren Kooperationsfähigkeit Russlands.

Das Mächtekonzert ist keine russische Erfindung, es reflektiert vielmehr den anarchischen Urzustand des internationalen Systems. Allerdings ist dessen Hegung zumindest auf dem europäischen Kontinent heute relativ weit fortgeschritten. Dies läßt die russische Neigung ziemlich nostalgisch erscheinen – es sei denn, die einstige Supermacht will sich unverändert mit der einzigen Supermacht und deren ebenfalls zunehmendem Unilateralismus messen. Das aber ist auf unabsehbare Zeit ein ziemlich hoffnungsloser Wettlauf. Was der russischen Politik vor diesem Hintergrund realistisch bleibt, ist mit dem Gaullismus eine Anleihe bei einer anderen ambitionierten Nation. Er kann sich rhetorisch mit den Schwachen des internationalen Systems solidarisieren, er kann die Starken mit den USA an der Spitze symbolisch herausfordern und er kann im Namen der nationalen gegen die internationale Ordnung rebellieren um sich schließlich doch in dessen Realität zu schicken.

Anmerkungen

1) Fjodor Tjutschew, Russland und Deutschland, in: ders., Russland und der Westen. Politische Aufsätze, Berlin, 1992, S. 52.

2) Ibid., S. 52f.

3) Andrej Kozyrev, Strategija partnerstvo, in: Me dunarodnaja izn', Nr. 5, 1994, S. 9f.

4) Yevgeny Primakov, The World on the Eve of the 21st Century, in: International Affairs (Moskau), 42. Jg., Nr. 5/6, 1996, S. 2-4; Sergei Kortunov, Russia in Search of Allies, in: International Affairs (Moskau), 42. Jg., Nr. 3, 1996, S. 148f.

5) So der ehemalige Erste Stellvertretende Außenminister Anatoly Adamishin, Is there a likelihood of accord on foreign policy?, Moscow News, Nr. 19 (13.-19. Mai), 1994, S. 4.

Dr. Hans Joachim Spanger ist stellv. Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt/M.