Regelbasierte Weltordnung statt hegemonialem Wettstreit

Regelbasierte Weltordnung statt hegemonialem Wettstreit

von Paul Schäfer

Vor genau zwanzig Jahren widmete sich Wissenschaft und Frieden dem Thema »Recht ? Macht ? Gewalt« (Heft 2/2001). Die Bundeswehr hatte sich im Rahmen der NATO an einem Kriegseinsatz beteiligt. Der wurde 1999/2000 ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates, also völkerrechtswidrig, gegen Rest-Jugoslawien geführt, mit dem vorgegebenen Ziel, die Unterdrückung der kosovo-albanischen Minderheit zu beenden. Die Befürworter*innen des Krieges bemühten wahlweise einen übergesetzlichen Notstand (?Not kennt kein Gebot?) oder redeten nebulös von einem ?werdenden internationalen Recht?.

Wiederum genau zehn Jahre danach erschien das Schwerpunktheft »Schafft Recht Frieden?« (2/2011). Auch dieses Heft behandelte die strikte Beachtung des Gewaltverbots der UN-Charta. Zugleich rückte das Spannungsfeld zwischen einer friedenssichernden nationalstaatlichen Souveränität und international verankerten und durchzusetzenden staatsbürgerlichen Rechten und Freiheiten stärker ins Blickfeld. 2005 hatte die UN-Generalversammlung die sogenannte Schutzverantwortung beschlossen (»Responsibility to Protect«), die vorsah, dass der UN-Sicherheitsrat im Falle von Völkermord und schwersten Kriegsverbrechen auch militärische Mittel einsetzen könne. Zuvor wurde mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH 2002) eine globale Strafgerichtsbarkeit etabliert.

Die Botschaft beider Hefte ist ziemlich klar: Recht entsteht nicht im luftleeren Raum, es hat auch mit gesellschaftlichen und internationalen Machtverhältnissen zu tun. Völkerrecht bewegt sich immer im Widerstreit zwischen dem Versuch der Staaten, ihre Machtinteressen und Privilegien zu sichern, und den elementaren Bedürfnissen der Menschen nach einer friedlichen und gerechten Welt. Gerade daher ist der »Kampf um das Recht« von elementarer Bedeutung, wenn es darum geht, die Prinzipien einer friedlichen Streitbeilegung und der internationalen Zusammenarbeit zum Wohle Aller dauerhaft und konsequent zu verankern.

Ausgangspunkt dieses Hefts und des beiliegenden Dossiers zur »Kooperativen Sicherheit« ist die Erosion einer regelbasierten Weltordnung, die aus den Fugen geratene Welt, die wir in den letzten Jahren verfolgen konnten. Mit den Fugen sind verbindliche Regeln und Normen gemeint, die in diplomatischen Aushandlungsprozessen zur Geltung gebracht werden sollen. Sie werden mit Recht auch als »zivilisatorische Leitplanken« bezeichnet. Viele dieser Institutionen der internationalen Ordnung (insbesondere das System der Vereinten Nationen) wurden zunehmend an den Rand gedrängt, internationale Verträge (nicht zuletzt im Bereich der Rüstungskontrolle und der Abrüstung) ausgehebelt, verbindliche Regeln des Miteinander in der Staatenwelt missachtet. Auch der Blick in die Zukunft verheißt nicht unbedingt Gutes. Wir befinden uns im Übergang zu einer multipolaren Welt, in der der Wettstreit um globale und regionale Vorherrschaft die Gefahr militärischer Zusammenstöße beträchtlich erhöht. Die neuen hegemonialen Konflikte sind auch deshalb bedrohlich, weil sie die überlebenswichtige globale Zusammenarbeit zur Lösung der globalen Probleme gefährden bzw. beeinträchtigen. Die Erfordernisse dieser Kooperation sind immens: Klima- und Umweltkrise, mächtige transnationale Unternehmen, die sich gesellschaftlicher Kontrolle entziehen, Covid-19-Pandemie, neue waffentechnologische Entwicklungen, digitale Überwachung und vieles mehr.

Die Weiterentwicklung und Reformierung der internationalen Rechtsordnung ist daher ein extrem wichtiger Bestandteil zukunftssichernder Politik. Neben der Erosion des Völkerrechts wendet sich das Heft daher auch den progressiven Entwicklungen zu. Mehr als dreißig Themenvorschläge hatten wir auf dem Tisch, als wir über dieses Heft beraten haben; Beleg für die vielfältigen Reformdiskussionen und -bestrebungen. Gemessen daran, kann uns das vorliegende Heft nur einen kleinen Einblick geben.

Hans-Joachim Heintze (der bereits 2001 zu den Autor*innen zählte) gibt eine Grundrichtung unserer Überlegungen vor: Vom »Völkerrecht der Souveränität« zum »Völkerrecht der Solidarität«. Damit ist die Messlatte hoch gelegt, die auch auf die Nachhaltigkeitsziele der UNO und deren Implementierung verweist. Andreas Schüller unterstreicht in seinem Beitrag die wichtige Rolle der Zivilgesellschaft bei der Mobilisierung und Weiterentwicklung des internationalen Rechts.

Alexander Benz befasst sich damit, wie deutsche Gerichte ? in der Umsetzung des Weltrechtsprinzips ? dazu beitragen können, dass schwere Verbrechen nicht länger straffrei bleiben, sondern auch an »entfernten Orten« geahndet werden können. Der Beitrag von Daniela Triml-Chifflard ist ein Beleg dafür, dass die künftige Rechtssetzung zur Bewahrung der Umwelt einen Horizont verlangt, der eurozentristisches Denken überschreitet und dabei auch Rechtsvorstellungen indigener Gemeinschaften würdigt. All dies zeigt: es ist vieles in Bewegung im Völkerrecht. Nicht nur aus diesem Grund sollten wir
nicht weitere zehn Jahre warten, um die Zusammenhänge von Recht, Friedenssicherung und ziviler Konfliktbewältigung erneut zu thematisieren,

Ihr Paul Schäfer

Ambivalenter Neubeginn


Ambivalenter Neubeginn

von Jürgen Nieth

Am 20.01. hat Joseph R. Biden vor einem kleinen Publikum geladener Gäste seinen Amtseid als 46. Präsident der USA abgelegt. Unter den Gästen „die früheren Präsidenten Bill Clinton, George W. Bush und Barack Obama, Kongressmitglieder, Diplomaten, Familienmitglieder. Die Bevölkerung Washingtons musste zu Hause bleiben. Die »National Mall« war gesperrt und militärisch gesichert worden.“ (Majid Sattar, FAZ, 21.01.21, S. 3) Wo sonst Zehntausende dem neuen Präsidenten zujubeln, gab es diesmal nur zehntausende US-Fahnen.

Vereidigung im Ausnahmezustand…

…schildert Hubert Wetzel in der SZ (21.01.21, S. 3): „Aus Angst davor, dass bei Bidens Vereidigung noch einmal Trump-Anhänger in der Hauptstadt aufmarschieren und dann vielleicht ihre Sturmgewehre mitbringen, wurden 20.000 Nationalgardisten nach Washington verlegt. Die Innenstadt ist ein Labyrinth von Zäunen, Gittern und Betonsperren, die Kreuzungen sind mit Militärlastern und Schneepflügen blockiert und die Straßen wurden geräumt.“

Donald Trump nahm als erster Präsident seit anderthalb Jahrhunderten nicht an der Vereidigung seines Nachfolgers teil. Er war am Morgen nach Florida abgereist.

Gespaltenes Land

Mit dem neuen Präsidenten wird „eine der chaotischsten Phasen der jüngeren amerikanischen Geschichte ein Ende finden“. Reymer Klüver hält aber gleichzeitig fest, dass Donald Trump „eine im Inneren unversöhnlich tief gespaltene Gesellschaft und im Äußeren ein international isoliertes Land“ hinterlässt (SZ, 21.01.21, S. 1).

Trump geht, aber der Trumpismus bleibt. Biden hatte 81 Millionen Wähler*innen, Trump 74 Millionen. Diese „74 Millionen sind immer noch da. Und ein großer Teil von ihnen glaubt weiter an die Lüge vom gestohlenen Wahlsieg und findet, dass der Sturm auf das Kapitol ein Akt der Selbstverteidigung gewesen sei. Nicht schön, aber notwendig.“ (Hubert Wetzel, SZ, 21.01.21, S. 3)

Politikwende

Biden hat an seinem ersten Tag im Oval Office 17 Präsidialdekrete unterzeichnet, um „eine Politikwende einzuleiten“, wie Bernd Pickert in der taz (22.01.21, S. 4) schreibt. Die USA kehren zurück in das Pariser Klimaabkommen und die Weltgesundheitsorganisation, die von Trump verhängten Einreiseverbote für Bürger*innen bestimmter muslimischer Länder sind aufgehoben, die Keystone XL Pipeline von Kanada in die USA ist gestoppt, Ölbohrungen in den Nationalparks von Alaska sind vorerst wieder untersagt, für Trumps Mauerbau an der Südgrenze zu Mexiko gibt es kein Geld mehr.“

Moritz Wichmann (nd, 22.01.21, S. 1) hebt Positives aus der Rede zur Amtseinführung Bidens hervor. Er „nannte klar die vier Krisen, die die USA plagen: ‚ein Land im wütenden Virus, die Klimakrise, wachsende Ungleichheit und systemischer Rassismus‘. Und er benannte recht scharf im Ton der sonst sanft gesprochenen Rede den Rassismus und den rechten Extremismus im Land als Gegner, den es zu besiegen gelte […] Eine Schlüsselstelle der Rede ist jene, an der Biden darüber sprach, wie die USA bisher Probleme gemeistert hätten: ‚wenn genug Menschen zusammenkommen‘. Dieses ‚genug‘ läuft nicht auf Einheit mit den Republikanern, sondern auf Fortsetzung […] der pragmatischen Zusammenarbeit von Liberalen und Linken aus dem Wahlkampf hinaus.“

Aber »USA first« bleibt

Das betrifft vor allem China: „Die Vereinigten Staaten müssen China ‚aus einer Position der Stärke gegenübertreten‘, hatte der designierte Außenminister Antony Blinken […] in seiner Anhörung vor dem US-Senat erklärt […] Eine ‚aggressive‘ Antwort an China versprach auch Avril Haines, die […] an der Spitze der 17 US-Geheimdienste stehen wird.“ (Jörg Kronauer, jw, 21.01.21, S. 1) Paul Anton Krüger schreibt dazu in der SZ (21.01.21, S. 7): „Der künftige Verteidigungsminister Austin sagte, die strategische Ausrichtung des US-Militärs werde sich auf Asien und China im Besonderen fokussieren.“

»USA first« betrifft auch Russland: Krüger (s.o.) schreibt, Blinken suche einen „parteiübergreifenden Konsens in Washington und eine gemeinsame Haltung mit den Aliierten […] Moskau müsse »Kosten und Konsequenzen« seines Verhaltens tragen.“ Laut Kronauer (s.o.) befürwortet Blinken den NATO-Beitritt Georgiens. Dieser würde den militärischen Ring […] um Russland noch ein weiteres Stück zuziehen.Ein Lichtblick: Laut ZDF Nachrichtenticker (21.01.21, 22:47 Uhr) will US-Präsident Biden „den letzten großen Abrüstungsvertrag mit Moskau verlängern. […] Der New Start Vertrag wäre in gut zwei Wochen ausgelaufen. Das Abkommen begrenzt die nuklearen Arsenale Russlands und der USA auf je 800 Trägersysteme und 1550 einsatzbereite Atomsprengköpfe.“

Fraglich bleibt die Politik gegenüber Iran: Einerseits spricht Blinken davon, dass das Atomabkommen mit dem Iran – das von Trump aufgekündigt wurde – seinen Zweck erfüllt und die iranische A-Bombe verhindert habe. Andererseits fordert er, dass der Iran die Vereinbarungen des alten Abkommens „wieder strikt und vollständig“ einhält, dann könne man über „ein stärkeres und längerfristiges [also neues, J.N.] Abkommen“ verhandeln (Krüger, s.o.).

USA – EU

Die „Europäer:innen sollten trotz der berechtigten Freude über den Politik-Wandel der neuen US-Regierung nicht nur die Hand reichen, sondern sich darauf gefasst machen, dass nicht alle Unterschiede und strittigen Punkte einfach verschwinden.“ (Andreas Schwarzkopf, FR, 21.01.21, S. 11) Nach einer Allensbach-Umfrage „unter mehr als 500 Top-Entscheidern“ der deutschen Politik und Wirtschaft erwarten mehr als zwei Drittel, „dass sich der harte Wettkampf um politische und wirtschaftliche Macht zwischen China und den Vereinigten Staaten unverändert fortsetzt, bei dem die deutsche Wirtschaft zwischen die »Fronten« geraten könnte.“ (Heike Göbel, FAZ, 21.01.21, S. 17)

Bei der Ostseepipeline Nordstream 2 ist sie das längst und es deutet im Moment nichts darauf hin, dass sich an der Embargopolitik der USA gegen die beteiligten Firmen etwas ändern wird.

USA-first – das gilt eben auch gegenüber politisch Verbündeten.

Quellen: FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, FR – Frankfurter Rundschau, jw – junge welt, nd – der tag, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, ZDF-Ticker

Erosion der UN-Charta


Erosion der UN-Charta

von Andreas Zumach

Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, […]

Mit diesem friedenspolitischen Bekenntnis beginnt die Präambel der Gründungscharta der Vereinten Nationen (United Nations, UN). Die Charta wurde nach achtwöchigen Verhandlungen im Opernhaus von San Francisco am 26. Juni 1945 verabschiedet von Delegierten aus 50 Staaten, die rund 80 Prozent der damaligen Weltbevölkerung repräsentierten. Vor Inkrafttreten der Charta am 24. Oktober 1945 kam als 51. Gründungsmitglied noch Polen hinzu.

Zur konkreten Umsetzung dieses friedenspolitischen Bekenntnisses wurden erstmals in der Geschichte des Völkerrechts das Verbot zwischenstaatlicher Gewalt (Art. 2,4) – mit Ausnahme der Selbstverteidigung gegen einen militärischen Angriff (Art. 51) – sowie Entscheidungsstrukturen, Regeln und Institutionen für kollektive Maßnahmen zur Bewahrung und Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit vereinbart (Art. 39-50).

Gemessen an dem Anspruch, „künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren“, sind die UN – oder besser: sind ihre inzwischen 193 Mitgliedstaaten – gescheitert. Fast 280 bewaffnete Konflikte fanden in den letzten 75 Jahren statt, oftmals verbunden mit Völkermord und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen.

Doch ohne die UN und ihre Bemühungen zur Beilegung gewaltsamer Auseinandersetzungen hätten viele dieser Konflikte noch länger gedauert, noch mehr Tote und Verwundete gefordert und noch mehr Zerstörungen hinterlassen. Ohne die UN wäre es wahrscheinlich zu einem dritten Weltkrieg gekommen, möglicherweise sogar unter Einsatz atomarer Waffen. Zahlreiche Situationen, in denen die Welt sehr kurz vor dem Abgrund eines atomaren Krieges stand, wie im Oktober 1962 während der Krise um die sowjetischen Atomraketen auf Kuba, wurden im UN-Sicherheitsrat entschärft. Und ohne die UN und ihre humanitären Unterorganisationen wären in den letzten 70 Jahren Hunderte Millionen Opfer von Naturkatastrophen, Hungersnöten und gewaltsamen Vertreibungen nicht versorgt worden. Schließlich boten die UN den Rahmen für die Vereinbarung zahlreicher internationaler Normen, Regeln und Verträge zu Rüstungskontrolle und Abrüstung, Menschenrechten, Umweltschutz, Sozialstandards sowie zahlreichen anderen Themen. Diese Vereinbarungen haben die Erde zwar nicht in ein Paradies verwandelt, sie trugen aber immerhin dazu bei, die Lebensbedingungen für viele der inzwischen über sieben Milliarden Erdbewohner*innen zu verbessern. All das ist auch von friedenspolitischer Bedeutung.

Zu den friedenspolitischen Defiziten gehört, dass einige der in Art. 39-50 der UN-Charta (Kapitel VII, Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen) vorgesehenen Strukturen, Maßnahmen und Institutionen nie realisiert wurden. Die Verantwortung dafür tragen in erster Linie die fünf ständigen Mitglieder (und Vetomächte) des Sicherheitsrats.

Darüber hinaus wird seit dem Ende des Kalten Krieges von vielen Staaten das zwischenstaatliche Gewaltverbot (Art. 2,4) ausgehöhlt, indem sie das Recht zur Selbstverteidigung (Art. 51) immer stärker ausweiten.

In den 1990er Jahren reklamierte zunächst die NATO in ihrer neuen Strategie das »Recht« auf weltweite militärische Intervention, gegebenenfalls auch ohne Mandat des Sicherheitsrates. Seit den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« von 1992 macht auch die deutsche Bundesregierung Auslandseinsätze nicht mehr von einem Mandat des UN-Sicherheitsrates abhängig. 1999 markierte der völkerrechtswidrige Luftkrieg der NATO gegen Serbien/Montenegro einen gravierenden Bruch. Dieser Krieg und die nach dem Sieg der NATO durchgesetzte Abspaltung des Kosovo von Serbien schufen einen Präzedenzfall, auf den sich seitdem andere Völkerrechtsbrecher, wie Russland im Krimkonflikt, berufen.

Nach den Terroranschlägen vom 11.9.2001 wurde das Recht zur Selbstverteidigung von der US-Administration bemüht, um im »Krieg gegen den Terror« militärische Interventionen, Folter und Drohnenmorde zu rechtfertigen. Inzwischen sind andere Länder dem schlechten Vorbild gefolgt; aktuelles Beispiel ist die völkerrechtswidrige Besatzung der Türkei in Syrien.

Wie machtlos die UN häufig sind, zeigt der verzweifelte Appell von Generalsekretär Guterres, die Waffen mögen doch wenigstens während der aktuellen Coronapandemie ruhen. Bleibt mehr Hoffnung als die, dass uns die Regierungen, die für die Erosion der friedenspolitischen Normen des Völkerrechts verantwortlich sind, wenigstens mit verlogenen Reden zum 75. Geburtstag der UN-Charta verschonen?

Andreas Zumach ist Journalist und lebt in Berlin.

Die alte Weltmilitärordnung


Die alte Weltmilitärordnung

Ein Epilog

von Ekkehart Krippendorff

Im Februar 2018 starb Ekkehart Krippendorff, Politikwissenschaftler und Mitbegründer der westdeutschen Friedensforschung. Vom Bewusstsein einer „nicht abtragbaren Schuld des Nazismus“ geprägt, beharrte er nachdrücklich auf dem Pazifismus als Leitmotiv für sein Leben und Werk und scheute auch nicht davor zurück, sich mit seiner eigenen Zunft, den Internationalen Beziehungen und der Friedens- und Konfliktforschung, anzulegen, denen er Anpassung an die herrschenden Verhältnisse vorwarf.
Anstelle eines Nachrufs soll er hier selbst zu Wort kommen, mit einem Text von 1993, den er nach dem ersten Golfkrieg der USA gegen Irak schrieb.

Die ganze Monstrosität, die sich unter dem neutralen Titel der Internationalen Politik verbirgt, kam in dem Krieg zur Rückeroberung des Scheichtums Kuweit auf ihren wahren Begriff und wurde bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Als Christoph Columbus 1492 mit drei Karavellen Sevilla verließ, um den Seeweg nach Indien zu finden und dabei einen Kontinent entdeckte, den er so für seine Eroberung zugänglich machte, war das auch mehr als das Abenteuer eines Kapitäns: die ganze expansiv-aggressive Energie, die sich in Westeuropa etwa zweihundert Jahre lang aufgestaut hatte, der Drang der europäischen Krieger- und Händlerklassen nach Herrschaft und Profit, gekoppelt mit dem technischen Erfindungsreichtum ihrer Intellektuellen und Ingenieure, der religiöse Eifer einer sich allen anderen Rassen überlegen fühlenden Kultur, die steigende Meisterung der Natur, die vor keinem Widerstand zurückschreckt – all das ging ein in die Expedition. Die Folgen waren absehbar und nicht absehbar zugleich.

Und so dann auch wieder in den Operationen »Wüstenschild« und »Wüstensturm«: Jahrhunderte gelernter soldatischer Disziplin und Akzeptanz der großen Projekte der Führer (»The Commanders« nennt Bob Woodward wie selbstverständlich seine Studie über den engsten Kreis der amerikanischen Politiker-Klasse am Vorabend des Golfkrieges), Jahrhunderte auch der Entwicklung raffiniertester Zerstörungstechnologien, hervorgegangen aus der okzidentalen Naturwissenschaft als Naturunterwerfung, gingen ein in diesen Krieg, tief eingeschliffene Weltbilder als Weltkarten-Bilder in den Köpfen der Außenpolitiker im Spiel um die Macht, um historische Größe und um Nachruhm in der Geschichte (im Kreise der »Commanders« weiß man: »um ein großer Präsident zu sein, brauchst du einen Krieg – und du mußt als der Angegriffene erscheinen«) – das alles gehört zum Hintergrund, der zugleich ein Vordergrund ist, für die geradezu reflexartige Reaktion der westlichen Staatsherren, den vergleichsweise geringfügigen Ambitionen des irakischen Potentaten mit dem massiven Einsatz aller ihnen zur Verfügung stehenden Mittel entgegenzutreten und ihn in seine Schranken zu verweisen.

Als im 4. vorchristlichen Jahrhundert der Makedonier König Alexander, um der Große zu werden, sich anschickte, Asien zu erobern, wurde er mit dem mythischen Gordischen Knoten konfrontiert: nur der werde Asien beherrschen, der ihn zu lösen verstehe. Alexander nahm sein Schwert und zerhieb das komplizierte Fadengebilde; er hatte einfach nicht die Geduld noch genügend ausgebildete Fähigkeiten, mit intellektuell und kulturell schwierigen Aufgaben umzugehen, geschweige denn fertigzuwerden. Der Schwertstreich schien ihm die einfachere Lösung, der schnellere Weg zu Erfolg und historischem Ruhm. Letzteren hat er bekanntlich gewonnen – ersteren kaum, denn sein Reich zerfiel schneller unter den Diadochen, als es gedauert hatte, es zu erobern. So sehen in der Regel die militärischen, die Gewaltlösungen aus. Den großen Siegen folgen die Probleme, und die Sieger nehmen ihre Erfolge mit ins Grab.

Sie sind – wie Alexander, nur in der Regel noch kleiner – Kämpfer, Krieger und Sieger, weil sie die Fähigkeit zur Vereinfachung von Problemen, d.h. zur Umgehung der Probleme oder auch zur Reduktion von Komplexität auf den primitiven Nenner der Schwertgewalt mitbringen. Damit können sie auch und nicht zuletzt das Publikum hinter sich bringen, das – verständlicherweise – Vereinfachungen liebt: wenn die Herrschenden schon ständig ihre Untertanen – sei es als demokratisch Regierte, sei es als unterdrückt­eingeschüchterte Massen – als Fußvolk ihrer Globalstrategien, bestehend aus Wirtschaftspotentialen, Machtgleichgewichten und zu füllenden Vakua, in Bewegung halten, dann soll das Spektakel wenigstens übersichtlich gestaltet sein. Völker und Kulturen haben, wo sie miteinander in Kontakt treten, immer Reibungsflächen, Konflikte, Spannungsverhältnisse. Aber sofern daraus nicht Herrschaftskonflikte konkurrierender Dynasten (oder ihrer demokratisch legitimierten Nachfolger) werden, entsteht aus eben diesen Berührungen Kultur, Kreativität, Neues. Das ist aufregend, aber auch anstrengend, eine Herausforderung für alle Mitglieder der betreffenden Völker, Rassen und Kulturen. Herrschaft hingegen bietet die Vereinfachung an, reduziert Komplexität, offeriert statt der schwierigen Auseinandersetzung die Versuchung, an der Ausbeutung durch Eroberung teilzunehmen; sie ersetzt den vielstimmigen interkulturellen, inter-nationalen Dialog durch den Monolog der Gewalt, verdinglicht im Schwert, im trainierten Militär, in der Technologie der Waffen. Alexanders Truppen jubelten ihm zu, als er den Knoten auf seine einfache Art löste; die Konquistadoren in der Nachfolge des Columbus gaben sich ebenfalls keine Mühe, die Sprachen und Kulturen der »entdeckten« Völker zu lernen; für die »Commanders« in den elektronischen Schalträumen der US-amerikanischen Politikmaschine in Washington waren und sind die Araber nicht viel mehr als auf strategischen Weltkarten plazierte Spielfiguren, die Region, die sie bewohnen, keine Kulturlandschaft, sondern schlicht »Wüste«. Die britische Zeitschrift »The Middle East«, die daraus ihre Titelseite gestaltete, hat diese Wahrheit besser auf den sinnlich wahrnehmbaren Begriff gebracht, als es eine umständlich argumentierende Politikkritik vermöchte.

Krieg und Weltspiel sind zwei Seiten derselben Medaille der Herrschaft, die Bevölkerungen – Menschen, Kulturen, Gesellschaften – als Objekte betrachtet und einsetzt. Sie sind ihre materialen Mittel der Verwirklichung von Macht, gestern in der Form dynastischer Gefolgschaften, heute im Gehäuse moderner Staaten. In Krieg und Spiel wird gewonnen und verloren – aber die Sieger sind immer dieselben und die Verlierer auch: Es siegen die Herrschenden, und es verlieren die Beherrschten, ganz gleich, wie das Spiel oder der Krieg selbst ausgeht. Saddam Hussein ist bekanntlich immer noch an der Macht, so wie seine Gegenspieler Bush & Co., und auch wenn man auf den angeblichen Saddam­Bruder Hitler verweisen würde, der doch, Herrscher, der er zweifellos war, verlor und von der Bühne verschwand (durch Selbst-Mord, nicht durch Exekution!), so bleibt doch die uns allen nur zu gut bekannte Tatsache, daß die, die mit Hitler in Deutschland das Sagen gehabt hatten, sehr bald wieder auf ihren Kommandostühlen saßen. Im Kriegsspiel geopfert wurden Millionen von Soldaten und kleinen Leuten, auf seiten der Sieger so gut wie auf seiten der Besiegten. Daß es in diesem Golfkrieg auf Siegerseite so wenig Geopferte gab, war ja eher ein Glücksfall: gerechnet hatte man bekanntlich mit bis zu 80 000 eigenen Toten und fand auch diesen Preis nicht zu hoch für den Sieg, als das Signal zur Schlacht gegeben wurde. Dem Besiegten war der Preis seiner »Mutter aller Schlachten« von mehr als 100 000 Toten auch nicht zu hoch für seinen Platz im Pantheon der großen Menschenverächter, er hat sie bekanntlich nicht einmal zu zählen für nötig befunden. Und sein Spiel geht weiter – so wie das der Neuen Weltordnung. Es bleibt, solange wir es uns gefallen lassen, von den Herrschenden regiert, manipuliert und in ihrem Spiel benutzt zu werden, die alte, einfache Weltmilitärordnung, deren Logik der Macht der Gewehrläufe entspricht, denn nur das ist die Sprache, die sie sprechen und gegenseitig verstehen. Eine menschliche Sprache aber ist das nicht.

Textauszug aus: Ekkehart Krippendorff, Militärkritik. S. 128-132. ©Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1993. Alle Rechte bei und vorbehalten durch den Suhrkamp Verlag Berlin. Die Rechtschreibung folgt dem Original.

Die Grenzen des Westens

Die Grenzen des Westens

von Jürgen Scheffran

Seit der Gründung vor 35 Jahren begleitet »Wissenschaft und Frieden« kritisch die Beziehungen ziviler und militärischer Forschung und Technik, ein Schwerpunkt dieses Hefts. Die Weltpolitik war 1983 geprägt durch die nukleare »Nach«rüstung. Damals konnte mit viel Glück ein Atomkrieg verhindert werden. Seitdem hat sich die Welt verändert. Der Ost-West-Konflikt endete 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer, als der Ostblock wie in einer Kettenreaktion verschwand. Die Sowjetunion löste sich 1991 auf.

Aus dem Chaos ging der Westen als Sieger hervor, allen voran die Hegemonialmacht USA. Die Chance, eine friedliche, atomwaffenfreie und gerechte Weltordnung zu errichten, wurde vertan. Der herrschende Machtblock setzte auf NATO-Expansion, Widerstand gegen Abrüstung, Militärinterventionen und die neoliberale Globalisierung. Während das westliche Modell bis heute dominant und attraktiv erscheint, realisiert sich das Versprechen von Wohlstand, Freiheit und Demokratie für die meisten Menschen nicht.

Hat der Westen seine Grenzen erreicht? Krisenerscheinungen sind unübersehbar und global vernetzt: Hunger und Unterentwicklung, Gefälle zwischen Arm und Reich, Klimawandel und Umweltzerstörung, Flucht und Terrorismus, Kriege und Rüstungsspiralen. Der Arabische Frühling hat gezeigt, dass Kaskadeneffekte Regionen destabilisieren und auch Europa treffen.

Ursachen und Folgen wurden in dieser Zeitschrift vielfach analysiert, so in einem Editorial des Autors vor 20 Jahren: „Zunehmend wird offenkundig, daß nach einem Jahrhunderte währenden Siegeszug die Grenzen des wachstumsorientierten Entwicklungsmodells erreicht sein könnten. Dessen Prinzip, die permanente Grenzüberschreitung, läßt sich nicht beliebig fortsetzen. Dennoch wird nun mit der Globalisierung und Liberalisierung der Weltökonomie der Versuch unternommen, die weltumspannenden Ströme von Gütern, Kapital, Finanzen, Technologie und Kommunikation weiter zu beschleunigen, weil nur durch mehr Wachstum das Wirtschaftskarussell sich weiter dreht.“ (W&F 1-1998)

Und 2003 wurden die Folgen für Krieg und Frieden beschrieben: „Es geht den USA um die langfristige Absicherung ihrer Hegemonie, um die Schaffung eines von ihnen dominierten Weltmarkts und um die Privatisierung aller gewinnträchtigen Bereiche. Wer dagegen die Globalisierungsdynamik und damit verbundene Kriege als Kampf der Demokratien um mehr Demokratie begreift, übersieht die vorherrschende ökonomische Dimension und die Tatsache, dass im Rahmen der Globalisierung sich immer mehr Reichtum in den Händen weniger privater Akteure konzentriert, die durch keinerlei demokratische Strukturen kontrolliert werden.“ Die Konsequenz: „An der gesellschaftlichen Basis wächst damit ein Potential der Verarmten und Verzweifelten, der Missachteten und Empörten heran, das einen Nährboden für jede Form der Radikalität bietet. Durch Vernetzung kann die Unzufriedenheit auf der lokalen Ebene in nationale, ja globale Netzwerke der Gewalt einbezogen werden.“ (Editorial W&F 3-2003)

Die Mobilisierung dieser Unzufriedenheit erleben wir durch Trump, Putin, Erdogan und andere. Könnte es dem Westen ergehen wie 1989 dem Osten? Für Bundespräsident Steinmeier ist die Welt aus den Fugen geraten. Heinrich August Winkler, der die »Geschichte des Westens« schrieb, fragt in seinem jüngsten Werk: „Zerbricht der Westen?“ Und der frühere Außenminister Joschka Fischer befürchtet in seinem Buch den „Abstieg des Westens“. Dabei wird die Mitverantwortung an der Krise kaum thematisiert. NATO-Expansion, Kosovo-Intervention, Hochtechnologiekrieg, Raketenabwehr und Weltraumrüstung haben zu dem Zerwürfnis mit dem früheren Partner Russland maßgeblich beigetragen und den neuen Kalten Krieg eingeleitet, schon vor dem Machtantritt von Wladimir Putin im Jahr 2000.

Zunehmend werden Widersprüche erkennbar, z.B. dass der ökonomische den politischen Liberalismus untergräbt. In den USA wird das durch Trumps Wild-West-Politik ausgelöste »Chaos in der liberalen Ordnung« beklagt, das die westliche Allianz spalte (wie beim Iran-Abkommen) und den Einfluss Chinas vergrößere. Es dürfte kaum helfen, als Reaktion den Neoliberalismus auszuweiten, was Emmanuel Macron in Frankreich gegen massive Widerstände versucht. Das Modell »Germany First« (mit Niedriglöhnen, Hartz-IV und Schwarzer Null) zu europäisieren, dürfte nicht zielführender sein als Trumps Handelskrieg und »America First«. Dies wurde deutlich in der Wirtschaftskrise 2008, als Staaten enorme Summen zur Rettung von Finanzinstitutionen ausgaben. Heute dienen staatliche Mittel dazu, Konflikte einzudämmen und von den Zentren fern zu halten.

Eine kritische Betrachtung darf nicht den Blick für Alternativen verstellen, von der friedlichen Konfliktbearbeitung über Rüstungskontrolle und Abrüstung bis zum Klimaschutz. Auch hierzu hat »­Wissenschaft und Frieden« vieles beigetragen. Eine Idee wäre die Schaffung eines Friedensministeriums, das anlässlich der Verleihung des Göttinger Friedenspreises vorgeschlagen wurde.

Ihr Jürgen Scheffran

Am Rande des Imperiums

Am Rande des Imperiums

Chinas Staatskapitalismus zwischen
Rivalität und Interdependenz

von Jenny Simon

China hat so stark an internationaler Bedeutung zugenommen, dass heute eine Herausforderung der US-geführten Weltordnung durch ein chinesisches Gegenprojekt diskutiert wird. Chinesische Eliten scheinen derzeit aber weder willens noch in der Lage, ein sino-kapitalistisches Ordnungsmodell international zu verankern. Wahrscheinlicher ist die Etablierung eines internationalisierten Staatskapitalismus als alternatives Ordnungsmuster zur liberalen Wirtschaftsordnung.
Ob es in Folge zur Integration der aufstrebenden Schwellenländer in den US-geführten, expansiv-liberal ausgerichteten Wirtschaftsraum oder zur Konsolidierung eines staatskapitalistischen Ordnungsmodells kommt, ist noch offen.

China gewann in der vergangenen Dekade derart an ökonomischer Bedeutung, dass heute die Frage nach einer Herausforderung der US-geführten Weltordnung durch einen chinesischen Gegenentwurf im Raum steht. Als Anzeichen werden etwa die Entwicklung Chinas zur zweitgrößten Ökonomie und größten Handelsnation bewertet. Auch in den globalen Finanzbeziehungen wird China seit der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise eine zunehmend wichtige Rolle beigemessen. Insbesondere die Höhe der chinesischen Devisenreserven, der Gläubigerstatus gegenüber den USA sowie Chinas neue Rolle in der Entwicklungszusammenarbeit werden als Faktoren genannt. Schließlich verweist auch die führende Rolle in der zunehmenden politischen Kooperation aufstrebender Schwellenländer auf Chinas wachsende geopolitische Bedeutung.

Allerdings besteht Uneinigkeit in der Bewertung dieser Entwicklung. Die Einschätzungen reichen von einer Integration Chinas in die liberale Weltwirtschaft über die Entstehung einer multipolaren Weltordnung bis hin zur Ablösung der liberalen Ordnung durch einen globalen Sino-Kapitalismus (Boris 2016; McNally 2012; Arrighi 2008; Panitch and Gindin 2008). Die Frage, ob es zur Entwicklung eines alternativen Ordnungsmodells chinesischer Prägung kommt und welche Konflikte damit einher gehen könnten, ist nicht nur ausschlaggebend für die weitere Dynamik des globalen Kapitalismus, sondern wird auch Einfluss auf die Frage künftiger militärischer Konfrontationen nicht nur im asiatischen Raum haben.

Hand in Hand

Betrachten wir die Entstehung eines Ordnungsmodells chinesischer Prägung in einer längerfristigen Perspektive, so fällt zunächst nicht die Konkurrenz, sondern der wechselseitige Zusammenhang zwischen liberaler Weltmarktordnung und der chinesischen Entwicklungsweise auf. Dieser entstand vor allem über zwei Kanäle: Zum einen begegnete man im Kontext der weltwirtschaftlichen Reorganisation seit den 1970er Jahren der Profitabilitätskrise in den Zentrumsökonomien mit einer Verlagerung von Wertschöpfung nach China und in andere (semi-) periphere Ökonomien. Während dies in den Zentren zur Deindustrialisierung und gleichzeitig zum Import günstiger Konsumgüter aus den neuen Produktionsstandorten führte, trugen der Zufluss von Kapital und die Ansiedlung von Produktionskapazitäten in Kombination mit den marktwirtschaftlichen Reformprozessen in China maßgeblich zur Entstehung einer auf Export ausgerichteten Industrialisierungs- und Wachstumsstrategie bei. Die zunehmend internationalisierten Finanzbeziehungen bilden das zweite Bindeglied: Deren Liberalisierung ermöglichte die Investition der in der Exportproduktion erwirtschafteten Devisenreserven in amerikanische Staatsanleihen. Dieser Kapitalexport in die USA trug wesentlich zur Ausweitung der Finanzwirtschaft in den USA bei und finanziert indirekt den Import chinesischer Produkte (Ivanova 2013, S. 65; Ho 2008).

Die chinesische Entwicklungsweise entstand zunächst auf Basis der sich unter US-Führung etablierenden liberalen Weltmarktordnung. Andersherum trug die Entwicklungsweise Chinas und anderer semiperipherer Ökonomien zur Transformation der wirtschaftlichen Entwicklung der USA bei. Die Ordnungsstrukturen standen, bei ungleichen Machtverhältnissen, zunächst nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ermöglichten sich in gewisser Weise gegenseitig.

Von Chinas Entwicklungsweise …

Chinas ökonomische Strategie entwickelte sich im Rahmen dieses Wechselverhältnisses schrittweise zum Erfolgsmodell mit eigenständiger Entwicklungsweise. Diese ist durch eine neue, wettbewerbs­orientierte Form des „Staatskapitalismus 3.0“ (ten Brink und Nölke 2013) gekennzeichnet. Wertschöpfung erfolgt auf Basis eines Niedriglohnmodells im Rahmen von heterogenen Unternehmensformen, die überwiegend durch nationales Kapital dominiert werden, um eine Kontrolle ökonomischer Schlüsselbereiche durch ausländisches Kapital zu vermeiden (Nölke et al. 2015, S. 546ff.; ten Brink 2014, S. 38). Die Akkumulationsstrategie ist auf die Exportproduktion sowie massive staatlich geförderte Investitionen in Industrie- und Infra­strukturprojekte gerichtet. Gleichzeitig wird der Binnenmarkt immer wichtiger. Die chinesische Ökonomie ist dabei zwar abhängig von globalen Märkten und ausländischen Investitionen, zugleich führt die starke Regulierung und Abschirmung von Schlüsselsektoren, des Binnenmarkts und des Finanzsystems aber zu einer asymmetrischen Integration in den Weltmarkt.

Ökonomische Stabilität und makro­ökonomische Erfolge stellen zusammen mit der Kontrolle zentraler Wirtschaftsbereiche ein wesentliches Moment des Machterhalts der politischen Eliten in den Partei- und Staatsapparaten dar.

Mit der »Go-out-Strategie«, dem gezielten Engagement und Investment chinesischer Unternehmen im Ausland, und verstärkt seit der Krise 2008/2009 ist eine Internationalisierung des chinesischen Ordnungsmodells zu beobachten (Schmalz 2015, S. 552ff.). Dies ist eng verbunden mit der zunehmenden politischen Zusammenarbeit der Regierungen semiperipherer Staaten. Im Rahmen dieses semiperipheren Multilateralismus wird zum einen um die Akzeptanz staatskapitalistischer Ordnungsprinzipien in den bestehenden internationalen Organisationen (Welthandelsorganisation/WTO, Internationaler Währungsfonds/IWF usw.) gerungen. Zum anderen wird eine Strategie der Institutionalisierung der Kooperation zwischen den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und allgemein die Etablierung neuer internationaler Institutionen, etwa der New Development Bank oder der Asian Infrastructure Investment Bank, verfolgt. Diese werden parallel zu den bestehenden Institutionen aufgebaut und genutzt um Prinzipien einer staatskapitalistischen Entwicklungsweise auf internationaler Ebene zu verankern.

… zum internationalisierten Staatskapitalismus

China ist derzeit jedoch weder willens noch in der Lage, im Alleingang ein alternatives Ordnungsmodell durchzusetzen. Angesichts der Kooperation staatskapitalistisch orientierter Schwellenländer zeichnet sich eher die Entwicklung eines breiteren staatskapitalistischen Ordnungsmodells ab, in dem Entwicklungsweisen verschiedener semiperipherer Ökonomien verallgemeinert werden (Nölke et al. 2015, S. 561).

Dabei handelt es sich um eine klar kapitalistische Grundordnung auf der Basis privaten Eigentums, in der global ausgerichteten Akkumulationsstrategien große Bedeutung zukommt. Sie unterscheidet sich allerdings deutlich von der liberalen Wirtschaftsordnung. Zentral ist zunächst eine sichtbar koordinierende Rolle (halb-) staatlicher Akteure, etwa bei transnationalen Infrastruktur- und Ressourcenprojekten oder bei grenzüberschreitenden Direktinvestitionen. Wichtige Regulierungsmechanismen basieren auf Allianzen zwischen (halb-) staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren, informellen Beziehungen, Hierarchien und marktförmiger Regulierung. Dies wird abgesichert, indem die Unternehmensfinanzierung in zentralen Bereichen durch nationales Kapital erfolgt (Nölke et al 2015; Schmalz 2015).

Deutlich zeichnet sich in den Strategien zur Etablierung einer alternativen Finanzordnung der Kontrast zur liberalen Wirtschaftsordnung ab. Dabei wird der zentralen Rolle des US-Dollar das Konzept eines multipolaren Währungssystems gegenübergestellt. Die explizite Kritik der BRICS-Staaten am dollarbasierten Finanzsystem, Maßnahmen zur Internationalisierung des chinesischen Renminbi oder der Handel zwischen Schwellenländern in Eigenwährung sind Ausdruck dieser Strategie. Zudem wird eine von einzelnen Nationalstaaten unabhängige internationale Reservewährung angestrebt. Den marktliberalen Regeln des international freien Kapitalverkehrs und den deregulierten Finanzbeziehungen wird eine starke staatliche Regulierung der nationalen Finanzsysteme sowie des internationalen Kapitalverkehrs gegenübergestellt. Die Liberalisierung des Marktzugangs erfolgt nicht durch universelle Liberalisierung und Deregulierung im Sinne des Freihandels, sondern eher kontrolliert durch bi- und multilaterale Verträge.

Damit liegt zwar bislang kein voll entwickeltes, kohärentes Ordnungsmodell vor, allerdings zeichnet sich eine nicht-liberale staatskapitalistische Alternative zur liberalen Wirtschaftsordnung ab.

Rivalitäten

Die Formierung eines alternativen Ordnungsmodells führt zu einer widersprüchlichen Konstellation aus Interdependenz und Konkurrenz. Die kapitalistische Eigentumsordnung und die ökonomische Globalisierung werden dabei aber keineswegs grundsätzlich in Frage gestellt. Es handelt sich klar um innersystemische Widersprüche und Konflikte. Zudem reproduziert und stabilisiert die zunehmende weltwirtschaftliche Integration der großen Schwellenländer kurz- und mittelfristig die bestehende Ordnung, indem etwa Investitionen in die aufstrebenden Ökonomien profitsuchendes Kapital der Zentren absorbiert oder chinesische Investitionen in amerikanische Staatsanleihen während der Krise das globale Finanzsystem stabilisierten.

Allerdings stehen einige Elemente eines staatskapitalistischen Ordnungsmodells in deutlichem Widerspruch zu den Prinzipien einer liberalen Marktwirtschaft. So führten Themen wie die Gestaltung der globalen Finanzbeziehungen, Standards der Corporate Governance oder die Regulierung des Zugangs insbesondere zu Produktmärkten zu Auseinandersetzungen in internationalen Organisationen (Nölke et al. 2015, S. 558ff.). Auch Chinas zunehmend wichtige Rolle als internationaler Kreditgeber und die entstehende Konkurrenz zum IWF führen zu Spannungen. Die internationale Kreditvergabe durch (halb-) staatliche chinesische Institutionen in der (Semi-) Peripherie übertrifft mittlerweile das Niveau von IWF- und Weltbank-Krediten. China bietet einen alternativen Zugang zu Liquidität für in Zahlungsschwierigkeiten geratene Regierungen, was potentiell den Einfluss des IWF und dessen Politik der Strukturanpassung zur internationalen Durchsetzung marktliberaler Prinzipien deutlich einschränkt. Auch der noch am Anfang stehende Konflikt um die internationale Führungsrolle des US-Dollar ist in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen.

In den USA werden China und ein mit ihm verbundenes staatskapitalistisches Ordnungsmodell klar als Herausforderung wahrgenommen. Um dieser zu begegnen, setzt die US-Außenpolitik auf eine umfassende Strategie, angefangen bei ihrer Blockadehaltung in internationalen Organisationen über den Abschluss weitreichender Investitions- und Freihandelsabkommen bis hin zur Erweiterung militärischer Kapazitäten in Ostasien (Schmalz 2015, S. 558ff.). Auch wenn die Rivalitäten derzeit überwiegend in internationalen Organisationen ausgetragen werden, handelt es sich doch nicht um einfache, auf institutioneller Ebene zu behebende Inkompatibilitäten zwischen den konkurrierenden Wirtschaftsmodellen. Freier Kapitalverkehr und Marktzugang, Privatisierung und die Möglichkeit des ungehinderten Engagements im Ausland sind zentrale Bestandteile der Strategien transnationaler Unternehmen und Investoren aus den Zentren des Globalen Nordens (Nölke et al. 2015, S. 561).

Die Verallgemeinerung der Prinzipien liberaler Marktwirtschaft sichert die Einbindung der (Semi-) Peripherie in den politischen Macht- und den ökonomischen Verwertungsbereich des US-geführten »Heartland«, des Kerngebiets des US-geführten expansiv-liberal ausgerichteten Wirtschaftsraums (van der Pijl 2006, S. 6ff.). Die Regulierung des Kapitalverkehrs, der nationalen Finanzbeziehungen und des Zugangs zum Binnenmarkt, der Einfluss auf Staatsbanken und -unternehmen und die selektive Internationalisierung sind auf der anderen Seite zentrale Voraussetzungen für die in China verfolgte Entwicklungsweise und den Machterhalt der politischen Eliten des Landes. Die widersprüchlichen Ordnungsstrukturen sind damit fundamentaler Ausdruck unterschiedlicher Formen der Integration in den Weltmarkt, verschiedener Strategien der Akkumulation und der Machtsicherung einflussreicher Akteure in den jeweiligen Ökonomien.

Fragmentierung globaler Kräfteverhältnisse

Der geoökonomische Aufstieg Chinas schlägt sich nur langsam auch in geopolitischen Strukturen nieder. Dies ist unter anderem in einer starken Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung unterschiedlicher Machtressourcen begründet: Die strukturelle Macht über die Funktionsprinzipien der globalen Ökonomie sowie das militärische Übergewicht liegen nach wie vor in den alten Zentren (Schmalz 2015, S. 559; Schmalz und Ebenau 2011, S. 172).

Allerdings ist eine Phase der Fragmentierung globaler Kräfteverhältnisse zu erkennen, in der die US-geführte liberale Weltordnung nicht mehr den alternativ­losen Pol bildet. Kurz- und mittelfristig wird die marktliberale Ordnung zwar durch die Internationalisierung aufstrebender Schwellenländer stabilisiert, die hier verfolgte Entwicklungsweise und das sich etablierende staatskapitalistische Ordnungsmuster führen jedoch trotz Integration und Interdependenz zu erheblicher Rivalität.

Ob es zur spannungsreichen Integration der aufstrebenden Schwellenländer in das »Heartland« oder zur Konsolidierung eines staatskapitalistischen Ordnungsmodells als Alternative zur liberalen Wirtschaftsordnung kommt, ist noch nicht entschieden. Dies wird ebenso von der Entwicklung der Kräfteverhältnisse innerhalb Chinas und anderer Schwellenländer, ihrer ökonomischen Entwicklung sowie von den Strategien des liberalen Machtbocks abhängen. Zentral ist zudem, ob es den Protagonisten des staatskapitalistischen Ordnungsmodells gelingt, die Anforderungen ihrer jeweiligen Akkumulationsstrategien sowie die eingegangenen Kompromisse und Bündnisse zu verallgemeinern, auf internationaler Ebene zu verankern und dabei die Interessen anderer Akteure zu berücksichtigen.

Deutlich ist bereits jetzt, dass der Einfluss des liberalen Ordnungsmodells am Rand des »Heartland« zurückgedrängt wird und unter den Vorzeichen eines semiperpipheren Multilateralismus die Konflikte um die Gestaltung der Weltwirtschaft nicht mehr exklusiv unter den kapitalistischen Zentren ausgetragen werden. Wir befinden uns in einer Phase der Reorganisation globaler Konkurrenz- und Machtverhältnisse, einer Transformation des globalisierten Kapitalismus, die allerdings dessen grundlegende Funktionsprinzipien unberührt lässt.

Literatur

Arrighi, G. (2008): Adam Smith in Beijing – Die Genealogie des 21. Jahrhunderts, Hamburg: VSA.

Boris, D. (2016): BRICS und die neue Weltordnung. Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 106, S. 67-77

Ho, H. (2008): Rise of China and the Global Overaccumulation Crisis. Review of Interna­tional Political Economy 15, S. 149-179.

Ivanova, M. (2013): Marx, Minsky, and the Great Recession. Review of Radical Political Economics 45(1), S. 59-75.

McNally, C. (2012): Sino-Capitalism – China’s Reemergence and the International Political Economy. World Politics 64(4), S. 741-776.

Nölke, A. et al. (2015): Domestic Structures, ­Foreign Economic Policies and Global Economic Order. European Journal of International Relations 21(3), S. 538-567.

Panitch L.; Gindin, S. (2008): Finance and American Empire. In: Panitch, L.; Konings, M. (eds.): American Empire and the Political Economy of Global Finance. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 17-47.

Schmalz, S. (2015): An den Grenzen des American Empire – Geopolitische Folgen des chinesischen Aufstiegs. Prokla 45(4), S. 545-562.

Schmalz, S.; Ebenau, M. (2011): Auf dem Sprung – Brasilien, Indien und China, Berlin: Dietz.

Ten Brink, T. (2014): The Challenge of China’s Non-Liberal Capitalism for the Liberal Global Economic Order. Harvard Asia Quaterly 16(2), S. 36-44.

ten Brink, T.; Nölke, A. (2013): Staatskapitalismus 3.0. Der moderne Staat, 6(1), S. 21-3.

van der Pijl, K. (2006): Global Rivalries- From the Cold War to Iraq. London: Pluto Press.

Jenny Simon promoviert zur Rolle Chinas in der internationalen politischen Ökonomie der globalisierten Finanzbeziehungen an der Universität Kassel.

»Neue Weltordnung«


»Neue Weltordnung«

Globalisierungskritik zwischen Ideologiebildung und Täuschung

von Alan Schink

In diesem Beitrag wird ein Überblick über die Geschichte und Funktion von Verschwörungsdeutungen zur »Neuen Weltordnung« gegeben. Diese werden auf ihren Stellenwert für globalisierungskritische soziale Bewegungen untersucht. Es wird argumentiert, dass verschwörungstheoretische Deutungsmuster, vor allem wenn sie sich auf globale Zusammenhänge beziehen, die Tendenz zur politischen Ideologiebildung verstärken. Gleichzeitig stellen diese Deutungsmuster für soziale Bewegungen in Zeiten der »Globalisierung« paradoxerweise notwendige Mittel der politischen Wissenserzeugung und Handlungsbefähigung dar.

Verschwörungstheorien sind nach Anton (2011, S. 67) als soziale Deutungsmuster zu unterscheiden von Verschwörungsideologien, für die sie Träger sein können, aber nicht müssen. Verschwörungstheorien sind daher als „Wissensform[en] mittlerer Reichweite“ zu begreifen, die einzelne Ereignisse als Folge einer Verschwörung deuten. Sie können politische Ideologien stützen, aber auch dekonstruieren. Ideologisch wird das Verschwörungsdenken dort, wo es keinen Raum für strukturelle Faktoren oder nicht intendierte Ereignisse und Widersprüche lässt, sondern – ego- oder ethnozentrisch – konspirierende soziale Andere als Kausalursache gesellschaftlicher Ereignisse oder Veränderungen begreift. Oftmals wird diesen Anderen eine »Übermacht« zugeschrieben.

Eine soziale und politische Funktion von Ideologien-Bildung ist die Feindbildkonstruktion. Diese entwickelt sich in der Regel dort, wo das Denken bzw. das Handeln durch die Unfähigkeit oder den Unwillen zur Perspektivenübernahme geprägt ist (Spillmann und Spillmann 1989). Nicht-ideologisches Verschwörungsdenken zeichnet sich demgegenüber durch die Anerkennung einer Differenz und Wechselwirkung zwischen akteursbezogenen Einzelereignissen und strukturellen Zusammenhängen sowie die Fähigkeit zur Perspektiven-Übernahme aus.

Gerade wenn es um die praktische Handlungsfähigkeit sozialer Bewegungen geht, zeigt sich, dass der in der akademischen Gesellschaftsanalyse oftmals vorausgesetzte Antagonismus zwischen Handlungs- und Strukturtheorien selbst schon eine falsche, weil einseitige methodische Voraussetzung ist, die davon ausgeht, dass sich Strukturen und Komplotte ausschließen. Das Verschwörungsdenken ist im Falle der sozial-aktivistischen Auseinandersetzung mit lokaler und globaler Machtpolitik ein notwendiger Denkmodus. Denn gegen eine nur »system-« oder »strukturgeleitete« Gesellschaft ohne handlungs- und verantwortungsfähige Subjekte ließe sich politisch nicht agitieren. Verschwörungsideologisch und analytisch falsch wird das akteurszentrierte Denken dort, wo es davon ausgeht, alle globalen Zusammenhänge ließen sich ausschließlich durch das konspirative Tätigsein weniger Akteur*innen erklären.

Der Vorwurf, Verschwörungstheorien zu verbreiten, hat im leitmedialen Diskurs die Funktion, bestimmte Aussagen zu diskreditieren und auszuschließen. Bezeichnend dafür ist etwa das nach dem Kennedy-Attentat 1967 gestartete CIA-Programm zur Verleumdung von Personen, die öffentlich Zweifel an der offiziellen Alleintäter-These äußerten (DeHaven-Smith 2013, S. 106ff.). Seither ist das Label der »Verschwörungstheorie« im Diskurs der Leitmedien ein Kampfbegriff, der weniger inhaltliche Aussagen über das Gesagte oder seine Sprecher*innen trifft, sondern vielmehr dazu dient, deren Position(en) im Diskurs festzulegen (Schink 2016). Unterstellt wird damit meist der »totalisierende« – weil über-kohärente und nicht-widerlegbare – Charakter und daher auch die »Falschheit« der diskreditierten Äußerungen.

Dies geschah auch im Fall des linken Globalisierungskritikers Noam Chomsky. Ihm wird vor allem von neokonservativer Seite vorgeworfen, mit seiner Kritik an einer US-geführten Globalisierung (vgl. exemplarisch Chomsky 1994) Verschwörungstheorien zu verbreiten (Pipes 1997, S. 160). Es ist nicht verwunderlich, dass Globalisierungskritik aufgrund der angenommenen Totalität ihres Gegenstandes (»Weltordnung«) einen Hang zum ideologischen, weil totalisierenden Denken aufweist. Interessant ist dieser Vorwurf vielmehr aufgrund des Chomsky damit unterstellten Verschwörungsdenkens. Denn die Behauptung verortet Chomsky diskursiv auf »Extrem«-Positionen und rückt ihn damit in die Nähe rechter Verschwörungsideologien. Obschon sich sowohl anarchistische oder linke Aktivist*innen, wie Noam Chomsky, als auch Libertäre, Konservative und Rechte, wie etwa der US-amerikanische Evangelikale Pat Roberston, negativ auf die so genannte »Neue Weltordnung« beziehen, gibt es zwischen ihnen erhebliche Unterschiede, die aber von ihren politischen Gegner*innen unterschlagen werden.

Theorien einer »Neuen Weltordnung« sind als solche zunächst nicht widerlegbar. Sie sind, anders als die »lokalen« gesellschaftlichen Ereignisse oder Komplotte, die sie kontextualisieren, eben keine „Wissensform[en] mittlerer Reichweite“, sondern »globale« Deutungsmuster (Anton 2011). Sowohl Chomskys gesellschafts- und kapitalismuskritische Analysen als auch Robertsons apokalyptische Narrative beschreiben dabei die Konvergenz einer globalen Ordnung (vgl. Hardt und Negri 2001, S. 3), die an ihren eigenen Maßstäben gemessen erstmal sinnvoll und kohärent erscheinen. Beide nutzen sowohl strukturalistische als auch akteursbezogene Erklärungsschemata, die sich jedoch voneinander unterscheiden. Ist das strukturelle Element bei Robertson eine böse, verborgene satanische Kraft, sind es bei Chomsky immer auch Systemzwänge, die entsprechende Akteur*innen erst zu konspirativen Handlungen veranlassen. Die »Neue Weltordnung« ist für Robertson eine Ausgeburt des Bösen und von diesem bewirkt. Er sieht sie bereits in der Bibel erwähnt und daher müsse sie kommen – alle »lokalen« Ereignisse seien nur Zeichen ihrer »globalen« Verwirklichung (Robertson 1993 [1991], S. 12, 24f.). Es ist kein Raum für Widersprüche, alles fügt sich in ein geschlossenes Weltbild. Für Chomsky ist die Weltordnung dagegen, wenn man so will, eine »Verschwörung der Kapitalist*innen« dieser Welt. Diese unterliegen einerseits systemischen Zwängen, inneren Widersprüchen und »internen« Konflikten, andererseits exerzieren sie diese Systemzwänge, Widersprüche und Konflikte weiter »nach unten« und reproduzieren damit dieses System (vgl. Chomsky 1994, S. 100ff., 144f., 183).

Die »Neue Weltordnung« als Topos der Globalisierungskritik

Begriffsprägend für den Terminus der »Neuen Weltordnung« war u.a. H.G. Wells mit seinem gleichnamigen Werk »The New World Order« von 1940, in welchem er beteuert, dass es für die Menschheit nur eine Chance auf Überleben gäbe: die Neuordnung globaler Beziehungen gegenüber dem selbstzerstörerischen Treiben einer egoistisch-­ethnozentrischen Menschheit. Diese neue Weltordnung war für Wells jedoch keine politische Agenda von oben, kein Produkt globaler Eliten, sondern eine Art systemischer Prozess sozialer Selbstorganisation (Wells 2007 [1940], S. 121). In verschwörungsideologischen Narrativen sind es dagegen meist nur wenige mächtige Gruppen oder Individuen, die hinter der »Neuen Weltordnung« stehen und diese »steuern«.

Die kritisch-dystopische Ideengeschichte einer »Neuen Weltordnung« kann grob in drei Phasen eingeteilt werden. Seit den 1950er Jahren bis in die 1980er haben vor allem rechtskonservative Gruppierungen, wie die John Birch Society, den Terminus aufgegriffen und die Vereinten Nationen als wichtigste Organisation einer die nationale Souveränität zersetzenden Globalisierung identifiziert. Weitere im Hintergrund agierende Gruppierungen seien die »Bilderberger«, der »Council on Foreign Relations«, die US-amerikanische »Fed«, die »Trilaterale Kommission« sowie andere internationalistische Vereinigungen, wie die Freimaurer, oft im Verbund mit Familien, wie den Rockfellers oder den Rothschilds. Gary Allen, seinerzeit Sprecher der John Birch Society, sieht sogar noch Einflüsse des bayerischen Illuminaten-Ordens und ihres Gründers Adam Weishaupt in dieser internationalen „Verschwörung“ (Allen 2001 [1971], S. 225) wirken.

Die zweite Phase beginnt mit der Ansprache von G.H.W. Bush an die Weltgemeinschaft Ende Januar 1991. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erhoben nun die USA „Weltführungsanspruch“ (Hippler 1991, S. 89). In der »Eintrittsrede« zum Irakkrieg (»Golfkrieg«) heißt es: „[H]eute führen wir die Welt im Kampf gegen eine Bedrohung der Anständigkeit und Menschlichkeit. Es geht um mehr als um ein kleines Land [Kuwait], es geht um eine große Idee: um eine neue Weltordnung, in der verschiedene Nationen sich um eine gemeinsame Angelegenheit kümmern, um die Verwirklichung der universellen Hoffnungen der Menschheit: Frieden und Sicherheit, Freiheit und Gesetzlichkeit.“ (a.a.O.)

Mit dieser Ansprache wurde der Terminus wieder aktuell und gleichzeitig zum Topos der Globalisierungskritik auch aus dem politisch linken Spektrum. In der Folge griffen ihn prominente Globalisierungskritiker, wie Michael Hardt und Antonio Negri (2000) oder vorher schon Noam Chomsky, auf. Laut Chomsky (1994, S. 16) seien nicht Nationalstaaten die Architekt*innen einer »Neuen Weltordnung«, sondern die jeweiligen reichen Eliten dieser Staaten – unter ihnen vor allem jene der Supermacht USA; ihre Ideologie: der Neoliberalismus. Für Pat Robertson ist die Ansprache Bushs dagegen eine Offenbarung des hintergründig wirkenden Bösen in der Errichtung der „Neuen Weltordnung“ (Robertson 1993 [1991], S. 24). Während bei Robertson Globalisierung und »Neue Weltordnung« Welt-Sozialismus bzw. -Kommunismus bedeuten, bezieht sich die Kritik bei Chomsky auf den globalen Kapitalismus bzw. Neoliberalismus.

Die dritte und andauernde Phase, in der der Topos der »Neuen Weltordnung« im globalisierungskritischen Diskurs maßgeblich geprägt wurde bzw. wird, kann mit den geopolitischen Reaktionen auf die Terroranschläge des 11. September 2001 angesetzt werden. In der Folge der Ereignisse begann der globale »Krieg gegen den Terror«, der asymmetrisch und raumzeitlich nicht begrenzt, d.h. »total«, sein sollte. Die US-Regierung teilte die Post-9/11-Welt in Akteur*innen, die »für Amerika«, und solche, die »mit den Terroristen« sind. Parallel zur geopolitischen Neuausrichtung der US-Politik nach 9/11 entwickelten sich sogleich einerseits von der offiziellen Version abweichende Verschwörungstheorien zu diesem Ereignis. Andererseits dienten diese Deutungen selbst wiederum globalen und zur ideologischen Totalisierung neigenden Narrativen, wie eben Verschwörungsdeutungen zur »Neuen Weltordnung«, als Futter.

Die »Neue Weltordnung« im sozialen und politischen Protest

Die Mobilisierungskraft von Theorien zur »Neuen Weltordnung« lässt sich nicht als kausaler Zusammenhang beschreiben. Vielmehr stellen sie als globale Deutungsmuster einen weltanschaulichen Hintergrund dar, vor dem konkrete gesellschaftliche Ereignisse und Komplotte sinnhaft gedeutet werden. In der globalen Dimension dieser Deutungsmuster liegt zugleich ihre Stärke wie ihre Schwäche für die soziale und politische Mobilisierung. Einerseits wirken solche Deutungsmuster latent im Hintergrund und bilden einen zwar sinnerzeugenden, aber recht »groben« Rahmen zur Interpretation tagesaktueller Ereignisse. Andererseits sind sie ohne die Referenz auf dieses Geschehen wirkungslos und unwirklich, weil abstrakt und unspezifisch. Globale verschwörungstheoretische Deutungsmuster verknüpfen politisches Handeln mit (gesamt-) gesellschaftlichen Ereignissen oder Veränderungen. Die Ansprache von G.H.W. Bush anlässlich des Irakkrieges 1991 und die darauf folgenden Ereignisse markierten einen solchen Verknüpfungspunkt für eine kritische Gegen-Mobilisierung.

Ein weiterer Kulminationspunkt globalisierungskritischer Bewegungen waren die »Occupy Wallstreet«-Proteste im Herbst 2011, zunächst in den Vereinigten Staaten, dann weltweit. Ausschlaggebend waren hier sowohl die US-weite Immobilienkrise als auch diverse vorangegangene und parallele soziale und politische Proteste in anderen Regionen der Welt. Innerhalb der »Occupy«-Bewegung fand sich ein sehr heterogenes politisches Spektrum, das keine konkreten Forderungen formulierte. Dies wird in der Bewegungsforschung als „Ausdruck postdemokratischer Verhältnisse“ (Décieux und Nachtwey 2014, S. 76) gedeutet. In solchen Verhältnisses sehen sich die Aktivist*innen durch die traditionellen Institutionen nicht (mehr) repräsentiert und wollen von ihnen auch nicht (mehr) repräsentiert werden.

Ähnliches gilt auch für die von Frühjahr bis Ende 2014 in der BRD sich ausbreitende Bewegung der »Montagsmahnwachen für den Frieden« (Ullrich 2015). Wie bei »Occupy« spielten auch hier Topoi einer globalen Verschwörung und die »Neue Weltordnung« eine Rolle. Es fanden sich sowohl verschwörungstheoretische als auch verschwörungsideologische Deutungsmuster. Dabei ist zu beobachten, dass das Verschwörungsdenken mobilisierend wirkt, zugleich aber auch hinderlich ist, etwa wenn es um die Organisation konkreter politischer Protestformen geht. Von manchen »Mahnwachen«-Aktivist*innen wurde sogar die »Occupy«-Bewegung selbst als Teil des globalistischen Programms der »Neuen Weltordnung« bezichtigt (Janich 2011). Verschwörungsdenken und Postdemokratie gehen somit scheinbar Hand in Hand.

Ideologiebildung und notwendige Täuschung

Das Verschwörungsdenken, zumal auf globale Zusammenhänge bezogen, ist im Hinblick auf sein analytisches und politisches Potential ambivalent. Es kann mobilisierend, aber auch hemmend wirken, kritisch-analytisch notwendig und fruchtbar sein, aber auch verblendend und destruktiv. Anders als etwa bei der Globalisierungskritik von Robertson lenkt im Fall von Chomsky der Verschwörungstheorie-Vorwurf von der von ihm formulierten Systemkritik ab (Spark 2001, S. 55; vgl. Chomsky 1994, S. 411). Verschwörungsdeutungen der Globalisierung sind, mit Hardt und Negri, zugleich „wahr und falsch“ (2001, S. 323).

Sie stellen eine Art »notwendige Täuschung« dar. Denn sie sind notwendig im Sinne eines »cognitive mapping«, das die blinde Totalität bloß systemischer oder strukturalistischer Erklärungen aufbricht und damit politische Handlungsfähigkeit erst ermöglicht. Zugleich ist ihre Erklärungskraft global gesehen relativ, begrenzt und flüchtig – so wie das »Em­pire« bei Hardt/Negri (2000) kein Zen­trum und keine stabile Identität besitzt: Es ist zugleich Akteur und Ideologie. Das bedeutet, die »Gestalter*innen« der Weltordnung und ihre Funktionär*innen manipulieren und täuschen nicht nur die »Massen« (Herman und Chomsky 2002 [1988]), sondern immer auch sich selbst über ihre Macht und Identität. Hier werden die politisch-entmachtende Gefahr und die normativ-performative »Falschheit« des ideologischen Verschwörungsdenkens sichtbar. Denn es ist für soziale Bewegungen nicht nur eine wissenschaftlich-akademische Frage, wieviel (Über-) Macht und Handlungskompetenz globalen »Eliten« zugesprochen wird, sondern primär eine performative und sinnhaft-handlungsleitende.

Literatur

Allen, G. (2001 [1971]): Die Insider – Baumeister der »Neuen Welt-Ordnung«. Preußisch Oldendorf: VAP.

Anton, A. (2011): Unwirkliche Wirklichkeiten – Zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien. Berlin: Logos.

Chomsky, N. (1994): World Orders Old and New. New York: Columbia University Press.

Décieux, F.; Nachtwey, O. (2014): Occupy – Protest in der Krise. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 27. Jg. Nr. 1, S. 75-88.

DeHaven-Smith, L. (2013): Conspiracy Theory in America. Austin: University of Texas Press.

Hardt, M.; Negri, A. (2001): Empire. Cambridge u. London: Harvard University Press, 4. Aufl.

Herman, E.S.; Chomsky, N. (2002 [1988]): Manufacturing Consent – The Political Economy of the Mass Media. New York: Pantheon.

Hippler, J. (1991): Die Neue Weltordnung. Hamburg: Konkret Literatur.

Janich, O. (2011): Occupy Wall Street – Die künstliche Opposition der Neuen Weltordnung. Kopp Online, 17.10.11.

Parker, M. (2001): Human Science as conspiracy theory. In: Parish J.; Parker, M. (eds.): The Age of Anxiety – Conspiracy Theory and the Human Sciences. Oxford: Blackwell Publishers, S. 191-207.

Pipes, D. (1997): Conspiracy – How the Paranoid Style Flourishes and Where It Comes From. New York: Touchstone.

Schink, A. (2016): Veröffentlichung und Verschwörungsdenken. Eine diskursethnographische Untersuchung zur Debatte über heterodoxe Praktiken des Internet-Aktivismus. In: Hahn, K.; Langenohl, A. (Hrsg.): Kritische Öffentlichkeiten – Öffentlichkeiten in der Kritik. Wiesbaden: VS, S. 187-212.

Robertson, P. (1993 [1991]): Geplante Neue Welt. Wuppertal: One Way.

Spark, A. (2001): Conjuring Order – the new world order and conspiracy theories of globalization. In: Parish, J.; Parker. J. (eds.): The Age of Anxiety – Conspiracy Theory and the Human Sciences. Oxford: Blackwell Publishers, S. 46-62.

Spillmann, K.; Spillmann, K. (1989): Feindbilder – Entstehung, Funktion und Möglichkeiten ihres Abbaus. Zürcher Beiträge zur Sicherheitspolitik und Konfliktforschung, Nr. 12.

Ullrich, P. (2015): Postdemokratische Empörung – Ein Versuch über Demokratie, soziale Bewegungen und gegenwärtige Protestforschung. Berlin: ipb working papers.

Wells, H.G. (2007 [1940]): The New World Order. Minneapolis: Filiquarian Publishing.

Alan Schink ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dissertant an der Universität Salzburg in der Abteilung Soziologie und Kulturwissenschaft. Er lehrt und forscht auf dem Gebiet der Kultursoziologie und der qualitativen Methoden. Zu seinen derzeitigen Forschungsschwerpunkten gehören moderne und digitalisierte Kulturen, sozialer Aktivismus und Verschwörungstheorien.

Die Münchner Sicherheitskonferenz

Die Münchner Sicherheitskonferenz

Verantwortung für die Weltgemeinschaft ?

von Thomas Mohr

Ein ganzes Wochenende lang herrscht Ausnahmezustand in München: Teile der Innenstadt werden für die Öffentlichkeit gesperrt, Kanaldeckel zugeschweißt und Straßenbahnlinien umgeleitet. Auffällig viel Polizei ist zu sehen. Demonstrationen versuchen, Aufmerksamkeit zu bekommen. „Ach so, wieder Sicherheitskonferenz“, grummeln die Einheimischen. Was hat es mit dieser Veranstaltung auf sich, die jedes Jahr im Februar so eine Unordnung in München verursacht? Kann sie zu einer friedlicheren und gerechteren Weltordnung beitragen?

Es ist unübersehbar: Die Weltgemeinschaft ist bisher nicht in der Lage, die Erde effektiv, fair und nachhaltig als gemeinsame Heimat der ganzen Menschheit zu organisieren. Wesentliche Aspekte dieses Versagens sind der riesige Abstand zwischen dem Reichtum weniger und der Armut vieler – nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern zunehmend auch innerhalb der einzelnen Länder –, die Ausbeutung endlicher Ressourcen für den kurzfristigen Nutzen eines kleineren Teils der Weltbevölkerung, die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, Militär und Krieg als Mittel der Politik, zunehmende Spannungen zwischen wichtigen Akteuren, mangelhaft entwickelte Strukturen einer fairen internationalen Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung. Wie ist vor diesem Hintergrund die Münchner Sicherheitskonferenz einzuschätzen? Kann sie einen Beitrag leisten zu einer Politik, die ihre Verantwortung für die Weltgemeinschaft ernst nimmt? Oder versammeln sich dort, zugespitzt formuliert, Politiker*innen aus NATO- und EU-Staaten, um zu klären, wie sie sich und den Wohlstand ihrer Geldgeber möglichst effektiv vor dem Rest der Welt schützen?

Die Münchner Sicherheitskonferenz (Munich Security Conference, MSC) wurde 1963 von Ewald von Kleist als »Internationale Wehrkunde-Begegnung« gegründet und war im Kalten Krieg ein Ort der transatlantischen Meinungsbildung. Unter dem Kleist-Nachfolger Horst Teltschik (ab 1999) nahmen erstmals auch Nicht-NATO-Staaten an der Konferenz teil. Seit 2009 ist Wolfgang Ischinger, zuvor u.a. Staatssekretär im Außenamt und Diplomat, Leiter der MSC. Auf ihrer Internetseite wird die Konferenz heute folgendermaßen vorgestellt: „Im Laufe der vergangenen fünf Jahrzehnte hat sich die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) zum zentralen globalen Forum für die Debatte sicherheitspolitischer Themen entwickelt. Jedes Jahr im Februar kommen über 450 hochrangige Entscheidungsträger aus aller Welt zusammen, um über aktuelle und zukünftige sicherheitspolitische Herausforderungen zu diskutieren. Dazu zählen Staats- und Regierungschefs, Minister, führende Persönlichkeiten aus internationalen und nichtstaatlichen Organisationen sowie hochrangige Vertreter aus Industrie, Medien, Forschung und Zivilgesellschaft. […] Alle Aktivitäten sind darauf ausgerichtet, bestmögliche Plattformen für einen freimütigen und offenen Meinungs- und Ideenaustausch zu bieten.“ 1

Ganz anders schätzt das » Aktionsbündnis gegen die ‚NATO-Sicherheitskonferenz’«2 dies ein, das der von ihr als »NATO-Kriegstagung« titulierten Veranstaltung Kriegstreiberei vorwirft, am Konferenzsamstag gegen sie demonstriert und auch schon dazu aufrief, die Konferenz zu umzingeln oder sie zu verhindern. Seit 2003 führt ein weiterer Trägerkreis jeweils am Wochenende der MSC die »Internationale Münchner Friedenskonferenz« durch, eine Informations- und Bildungsveranstaltung zu friedenspolitischen Themen, die sich als inhaltliche Alternative zur MSC versteht.3 Einen dritten Weg schlug die Projektgruppe »Münchner Sicherheitskonferenz verändern« (MSKv)4 ein. Bereits vor zehn Jahren suchte diese kleine Gruppe den Dialog mit den Verantwortlichen der Sicherheitskonferenz. Aus ihren Gesprächen mit Konferenzleiter Ischinger ergab sich 2009 die Möglichkeit, eine*n – inzwischen zwei – zivilgesellschaftliche Beobachter*innen zur MSC zu entsenden. An der Sicherheitskonferenz nehmen neben den über 300 offiziellen Teilnehmer*innen auch gut 150 so genannte Beobachter*innen teil. Seit 2015 bietet die Projektgruppe unter Federführung des Forum Ziviler Friedensdienst (forumZFD) auf der MSC auch selbst ein thematisches »Side Event« an. Die Vision der Projektgruppe ist eine »Münchner Konferenz für Friedenspolitik«, ein Forum für faire globale Zusammenarbeit, von dem Initiativen für eine gerechte, ökologische und gewaltfreie Weltinnenpolitik ausgehen.

Welche Interessen verfolgt die Sicherheitskonferenz?

An der Behauptung, die MSC sei – so ihr Pressesprecher Rolofs5 – eine „neutrale Plattform für einen unabhängigen Gedankenaustausch zu aktuellen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik“, „absolut regierungs- und parteiunabhängig“ und verfolge „keine eigenen“ politischen Interessen, sind Zweifel durchaus angebracht. Diese beginnen bei der Finanzierung der Konferenz und damit der Regierungsunabhängigkeit. Neben direkten, nicht in Rechnung gestellten Unterstützungsleistungen der Bundeswehr (beispielweise den Schutz der Veranstaltung und des Veranstaltungsorts »Bayerischer Hof«) werden der MSC über das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Mittel für „sicherheitspolitische Öffentlichkeitsarbeit aus einem Etat des Verteidigungsministeriums zur Verfügung gestellt. Dafür standen laut der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Jahr 2015 ca. 500.000 Euro zur Verfügung; diese Summe habe ca. 30 % der Gesamtkosten der Veranstaltung abgedeckt.6 Begründet wird diese Unterstützung damit, dass „die Durchführung der Münchner Sicherheitskonferenz im besonderen Interesse der Bundesregierung“ liege. Sie erlaube es der Bundesregierung, einem großen Kreis bedeutender Entscheidungsträger anderer Staaten und Regionen ihre Position zu ausgewählten Einzelthemen darzustellen. Eines der Themen scheint die »neue deutsche Verantwortung« zu sein, die Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen den Konferenzteilnehmer*innen und der Öffentlichkeit 2014 unisono zu erläutern suchten.

Auch die Behauptung, die MSC verfolge keine eigenen politischen Interessen, sondern wolle nur Plattform sein, kann nicht überzeugen. Seit Ischinger von der Bundesregierung mit der Leitung der MSC beauftragt wurde, nutzt er seine Position, um in den Medien, die ihn häufig als Sicherheitsexperte anfragen, seine politische Meinung zu verbreiten. Ein besonderes Anliegen scheint ihm zu sein, bei der deutschen Bevölkerung für Akzeptanz der Auslandseinsätze der Bundeswehr zu werben. So forderte er unmissverständlich: „Deutschland muss seinen Nachkriegspazifismus vollends überwinden.“ 7 Es ist kaum anzunehmen, dass die politischen Präferenzen ihres Leiters nicht auch Programm und Außenwirkung der Sicherheitskonferenz selbst prägen.

Die Sicherheitskonferenz öffnet sich (ein wenig)

Die weitaus meisten Teilnehmer*innen der MSC kommen zwar weiterhin aus Staaten der NATO, der EU bzw. anderer Verbündeter des Westens, die Einbeziehung von Ländern wie Russland, Iran oder auch China ist aber durchaus bemerkenswert.

So bot die MSC iranischen Politikern immer wieder die Möglichkeit, ihre Position im langjährigen Atomkonflikt mit dem Westen ausführlich darzustellen. Der iranische Parlamentspräsident Laridschani nutzte seinen Auftritt bei der MSC 2009 darüber hinaus für eine deutliche Kritik an der Politik des Westens und hielt dabei anklagend zwei Fotos von Opfern des israelischen Phosphoreinsatzes im Gazastreifen hoch. Kon­struktiv ging es beim Meinungsaustausch allerdings selten zu. 2006 z.B. beantwortete die neue Bundeskanzlerin Merkel eine Zwischenfrage des iranischen Vize-Außenministers Araghchi ziemlich barsch und von oben herab. 2010 quälte der iranische Außenminister Mottaki bei seinem kurzfristig anberaumten Auftritt die Zuhörer*innen zu später Stunde mit langatmigen Ausführungen, ohne – wie eigentlich erhofft – die iranischen Vorschläge für eine Lösung des Atomstreits zu präzisieren. Immerhin wurde mit dem Iran so zumindest ein Gesprächskontakt aufrecht erhalten. Die in den letzten Jahren eingeführten Liveübertragungen der Plenarsitzungen der MSC boten der Öffentlichkeit außerdem die Möglichkeit, die iranische Position einmal in voller Länge zu hören. Und vielleicht wurde in den Hinterzimmern ja konstruktiver miteinander gesprochen? Auf Basis ihrer langjährigen Gesprächskontakte mit iranischen Regierungsvertretern nutzte die MSC jedenfalls im Oktober 2015 nach dem Wiener Abkommen zum iranischen Atomprogramm das Tauwetter, um in Teheran ein »Core Group Meeting«8 zu veranstalten, an dem u.a. der iranische und der deutsche Außenminister teilnahmen.

Auch regionale Konflikte, wie z.B. zwischen Mazedonien und Griechenland oder zwischen Serbien und Kosovo, stehen ab und zu auf der Tagesordnung. Dies gilt auch für den Nahost-Konflikt. Und während Ischinger noch 2010 auf die Frage des Bayernkuriers, ob die Konferenz „zum globalen Sicherheitsforum“ werde, antwortete: „Wir können nicht in zwei Tagen die ganze Welt abhandeln. Wir wollen den zentralen Fokus der Konferenz dort halten, wo auch die Wurzeln dieser Konferenz liegen: bei transatlantischen und europäischen Sicherheitsfragen“,9 gab es 2013 im Hauptprogramm dann doch ein Podium mit den »aufstrebenden Mächten«, wodurch die wachsende Bedeutung von China, Singapur, Indien und Brasilien gewürdigt wurde.

»Towards Mutual Security« lautet der Titel einer 2014 von der MSC zur 50. Sicherheitskonferenz veröffentlichten umfangreichen Festschrift. Doch anders als die NATO stehen die Vereinten Nationen und die OSZE, also inklusive Organisationen gemeinsamer Sicherheit, die ihre Existenzberechtigung nicht bestimmten »äußeren Feinden« verdanken, kaum im Blickfeld der Konferenz. 2009, bei der ersten Konferenz, die Ischinger als neuer Leiter verantwortete, spielten die Vereinten Nationen z.B. überhaupt keine Rolle. 2010 wurde dieses Manko mit einer persönlichen Videobotschaft des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon zumindest etwas korrigiert, 2011 war er dann persönlich Gast der Konferenz.

Seit der Ukraine-Krise hat die OSZE, die lange Zeit – auch finanziell – klein gehalten worden war, als Organisation, in der nicht nur der Westen, sondern auch Russland Mitglied ist, in der internationalen Politik wieder neu Beachtung gefunden, was auch bei der MSC Widerhall fand. Ischinger wurde von der OSZE zum Leiter einer Kommission ernannt, die sich über »Europäische Sicherheit als Gemeinschaftsaufgabe« Gedanken machen sollte. Und bei der MSC 2015 wurde die OSZE durch die Verleihung des Ewald-von-Kleist-Preises der Sicherheitskonferenz besonders gewürdigt. Die Laudatio hielt der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan, der auf der Konferenz auch einige kurzfristig umsetzbare Reformvorschläge für die Vereinten Nationen vorstellte.10 Trotzdem: Vereinte Nationen und OSZE sind weiterhin nur Randthemen auf der MSC.

Die MSC wagte außerdem eine Öffnung nach außen. Noch unter der Leitung von Horst Teltschiks wurde 2007 Kenneth Roth von Human Rights Watch als erster und einziger Vertreter einer Nichtregierungsorganisation zur Konferenz zugelassen. 2012 wurde mit dem Auftritt von Kumi Naidoo, dem internationalen Greenpeace-Chef, ein neuer Akzent auf dem Podium der MSC gesetzt: „Allein Kumi Naidoo sprach sowohl die Bedrohungen für die Umwelt durch ungebremsten Energiekonsum an als auch die bereits stattfindenden verheerenden Folgen für die Menschen in den armen Ländern Afrikas und Asiens“, so die MSKv-Konferenzbeobachterin Renate Grasse.11 Sie hatte allerdings den Eindruck, dass sein Beitrag ein weithin unverstandener Fremdkörper im Konferenzgeschehen blieb.

Die Sicherheitskonferenz und Russland

Seit Jahren nimmt auch eine russische Delegation an der MSC teil. Offen bleibt, ob dies als Chance zu einem echten Dialog genutzt wird. So berichtete 2011 die MSKv-Beobachterin Grasse: „Die russischen Delegationsmitglieder waren »die anderen«. Die Begrüßung war förmlicher, die Diskussionsbeiträge schärfer und konfrontativer.“ 12

Russische Vertreter hatten bereits 1999 bei ihrer ersten Teilnahme an der MSC vor einer Osterweiterung der NATO und insbesondere vor einer Aufnahme der baltischen Staaten gewarnt. „Wenn die NATO diese rote Linie überschreitet“, so der stellvertretende Außenminister Jewgeni Gussarow, „dann verändert sich unser Verhältnis zur NATO grundsätzlich, dann ist das Potential für eine Zusammenarbeit nicht mehr vorhanden“.13 In seiner Rede auf der MSC 2007 wurde der russische Präsident Putin noch deutlicher: „Die USA hat ihre Grenzen in fast allen Bereichen überschritten. Wem soll das gefallen?“ 14 Er erinnerte an die einstige Zusicherung der NATO, keine Truppen in Ostdeutschland zu stationieren, und warnte ausdrücklich davor, ein weiteres Festhalten an der NATO-Ost­erweiterung würde das gegenseitige Vertrauen gefährden. „Man will uns neue Trennlinien und Mauern aufzwingen, die abermals den Kontinent zerschneiden.“ 15

Ähnlich deutlich äußerte sich der russische Politiker Kosachev bei der MSC 2010: Die NATO wolle zwar global handeln, vertrete aber nur die Interessen ihrer Mitgliedsstaaten und könne die OSZE und die Vereinten Nationen als Institutionen gemeinsamer Sicherheit keinesfalls ersetzen. Auch sei unklar, ob sich die NATO in Zukunft – anders als 1999 im Fall Kosovo – an UN-Mandate halten wolle. Ischinger hingegen benennt in seiner Festrede bei einer großen deutsch-russischen Dialogveranstaltung im Oktober 2015 als eigentlichen Kern unserer Beziehungskrise“ nicht das Agieren des Westens, sondern die einseitige militärische Sicherheitsstrategie Russlands. Moskau habe „nicht aufgehört, seine eigene Sicherheit so zu definieren, dass sie fast zwangsläufig der Unsicherheit der Nachbarn Russlands bedarf“.16

Bei der MSC 2016 beschwor der russische Ministerpräsident Medwedew gar die Gefahr eines neuen Kalten Krieges. Ruth Aigner, zum zweiten Mal für MSKv dabei, beobachtete: „Noch mehr als 2015 hinterlassen die Eindrücke auf der MSC 2016 einen tiefen Zweifel an der zerrütteten Art des Umgangs unter den »Supermächten«. Wo läge ein Ansatzpunkt in der kontinuierlichen Dämonisierung durch amerikanische Redner? Wem dient die misstrauische Zuspitzung von Äußerungen russischer Vertreter durch deutsche Medien, wenn diese sogar von Außenminister Steinmeier auf offener Bühne beanstandet wird? Viel Pessimismus, Spekulationen und Unterstellungen drängten sich durch die Räume des Bayerischen Hofs.“ 17

Friedens- statt Sicherheitskonferenz!

Mona-Géraldine Hawari, 2016 ebenfalls für MSKv bei der MSC, berichtete: „Die Münchner Sicherheitskonferenz befasste sich einmal mehr mit der Frage nach Zustand, Entwicklung und Perspektiven der internationalen Ordnung. Nun stellt sich der kritischen Beobachterin die Frage, ob es mit Blick in die Zukunft überhaupt legitim und vernünftig ist, diese alte Ordnung als gute Ordnung erhalten zu wollen. Auf der MSC 2016 wollte man dies jedenfalls ganz entschieden und ließ dabei beiseite, dass die die Konferenz dominierenden Ordnungsvorstellungen überwiegend als paternalistisch, eurozentristisch und bisweilen auch hegemonial zu bezeichnen sind.“ 18

Die Münchner Sicherheitskonferenz ist also beides: Medienspektakel mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit, bei dem die Spannungen der in ternationalen Politik auf offener Bühne dargestellt werden, ebenso wie eine informelle Begegnungsmöglichkeit, die – je nachdem – für Rüstungsgeschäfte oder für friedensfördernde Dialoge genutzt werden kann. Durch verschiedenartigste Parallelveranstaltungen, die sich teilweise nur an handverlesene Gäste richten, wurde das Programm in den letzten zwei, drei Jahren allerdings deutlich vielfältiger. Die Ausrichter dieser Zusatzangebote reichen von der US-Rüstungsfirma Raytheon bis zur Deutschen Gesellschaft für international Zusammenarbeit (GIZ). Auf diesem Weg können sogar Themen der Friedens- und Entwicklungspolitik Eingang finden, aber eben nur auf Nebenschauplätzen. Konferenzbeobachterin Hawari richtet deshalb folgende Fragen an den MSC-Planungsstab: „Warum wagen Sie nicht mehr Kursänderungen in Programm und Ablauf, warum nicht mehr Vertreter*innen internationaler Organisationen, warum nicht weniger Bühne und mehr Konferenz, warum Reproduktion der Verhältnisse statt neuem Input?“ 19

Zu einem Deutschland, das sich seiner historischen Friedensverantwortung bewusst ist, würde eine andere internationale Konferenz besser passen: eine Tagung, die sich – statt wie bisher an der »Sicherheitslogik« – an einer »Friedenslogik« (Hanne-Margret Birckenbach) orientiert. So eine Konferenz könnte ein Ort sein, wo Deutschland sich jedes Jahr neu den folgenden Fragen stellt: Wer sind die Anderen, vor denen wir Angst haben? Was tragen wir selbst zur momentanen Konfliktkonstellation bei? Und wer sind die Anderen, die vor uns Angst haben bzw. denen unsere Politik Leiden zufügt? Dann könnte mit genau diesen (verschiedenen) Anderen der Kontakt gesucht und der Dialog ermöglicht werden. Wie wäre es, wenn die Sicherheitskonferenz anstatt zur Verfestigung einer vermeintlichen Weltordnung konsequent als Dialogveranstaltung zum Abbau von Feindbildern gestaltet würde? Nicht nur bei Themen wie Russland, Ukraine, Syrien, Iran oder sogar islamischem Fundamentalismus gäbe es da einiges zu tun.

Anmerkungen

1) Munich Security Conference: Über die MSC; securityconference.de.

2) sicherheitskonferenz.de.

3) www.friedenskonferenz.info.

4) mskveraendern.de.

5) Marvin Oppong (2016): Ausverkauf des Journalismus? Medienverlage und Lobbyorganisationen als Kooperationspartner. Frankfurt am Main: Otto Brenner Stiftung, S. 56.

6) Laut stellvertretendem Konferenzleiter Benedikt Franke (MSKv-Veranstaltung 24.2.2016) beträgt der Anteil der Bundesregierung am Budget allerdings nur noch zehn Prozent, da die Zuschüsse von Sponsoren steigen. Hier sind vor allem Linde, Allianz, BMW, Kraus-Maffei-Wegmann, Socar, Telekom sowie weitere internationale Wirtschafts- und Rüstungsunternehmen zu nennen (securityconference.de/ueber-uns/unterstuetzer/). Unter Ischinger wurde die Sicherheitskonferenz in eine Stiftung (gemeinnützige GmbH) überführt. Das verstärkte Engagement von Sponsoren sowie die neue Rechtsform deuten auf eine größere Eigenständigkeit der MSC gegenüber der Bundesregierung hin, möglicherweise allerdings um den Preis, nun vermehrt die Interessen der Sponsoren berücksichtigen zu müssen.

7) Text von Wolfgang Ischinger und Gérard Errera, veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung vom 3.4.2014; zit. nach: MSC: Monthly Mind April 2014, »Fremde Freunde«; ­securityconference.de.

8) Unter Konferenzleiter Ischinger hat die MSC ihre Aktivitäten um weitere Veranstaltungsformate außerhalb Münchens erweitert, z.B. Core Group Meetings, European Defence Roundtables, Cyber Security Summits. Mit diesen über das Jahr verteilten Veranstaltungen wurden Themenspektrum und Relevanz der MSC erweitert.

9) „In der Außenpolitik muss man immer Optimist sein.“ 46. Münchner Sicherheitskonferenz: Gelegenheit zum Meinungsaustausch auch hinter dem Vorhang – Interview von Heinrich Maetzke mit Wolfgang Ischinger. Bayernkurier, 6.2.2010, S. 5.

10) Die Reformvorschlage stammen von der unabhängigen Gruppe einflussreicher Führungspersönlichkeiten »The Elders«: Strengthening the United Nations – Statement by the Elders, 7 February 2015; theelderts.org.

11) Renate Grasse: Als Beobachterin bei der 48. Münchner Sicherheitskonferenz 2012 – Bericht aus einer fremden Welt. Projektzeitung »gewaltfrei MSK verändern«, Nr. 8, Februar 2013, S. 2.

12) Renate Grasse: Als Beobachterin bei der Sicherheitskonferenz 2011. Projektzeitung »gewaltfrei MSK verändern«, Nr. 7, Februar 2011, S. 2.

13) Lorenz Hemicker: Münchner Momente 1999 – Russland warnt die NATO; securityconference.de.

14) Oliver Rolofs: Münchner ­Momente 2007 – Ein Hauch von Kalter Krieg; ­securityconference.de.

15) Ibid.

16) Petersburger Dialog 2015, Potsdam: Vortrag von Botschafter Wolfgang Ischinger bei der Eröffnungssitzung am 22. Oktober 2015; petersburger-dialog.de.

17) Eindrücke vom Sicherheitskonferenz-Wochenende. MSKv Denk-Mail Nr. 13, 15.2.2016.

18) Ibid.

19) Thomas Mohr: Die Münchner Sicherheitskonferenz 2016 – von außen und von innen. FriedensForum, Heft 3/2016, S. 7.

Dr. phil. Thomas Mohr, Diplom-Psychologe, Psychoanalytiker ist Vorsitzender der Projektgruppe »Münchner Sicherheitskonferenz verändern« e.V. und nahm seit 2009 viermal als Beobachter an der Münchner Sicherheitskonferenz teil.

Weltstaat als globale Demokratie


Weltstaat als globale Demokratie

Perspektiven für kritische Ansätze

von Dirk Hannemann

Ein Weltstaat ist möglich und wünschenswert. Das zeigen progressive Ansätze, die Demokratie im globalen Maßstab denken. Aus der kritischen Auseinandersetzung wird deutlich, was Alexis de Toqueville 1830 auf seinen Reisen durch die USA feststellte: „Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft.“ Für Amerika lautete die Herausforderung, aus Millionen Menschen eine Nation zu formen, obwohl der Staat sich über einen Kontinent erstreckte, große ökonomische Unterschiede aufwies und sich auf Rassentrennung gründete. In der Gegenwart stellt sich exakt dieselbe Frage auf globaler Ebene. Allerdings muss die Nation dafür nicht erfunden, sondern überwunden werden.

Es gab schon immer den Wunsch, die Weltordnung anders zu denken denn als System von Nationalstaaten, die ökonomisch konkurrieren und blutige Kriege führen. Ein früher Versuch stammt aus der Feder des Abbé de Saint-Pierre. Als Frankreich, England und andere kriegführende Staaten den Frieden von Utrecht verhandelten, machte er ihnen 1713 den Vorschlag, sie sollten vereinbaren, ihre Heere abzurüsten und sich in Zukunft nicht mehr in die inneren Angelegenheiten des anderen Landes einzumischen. Er riet ihnen, als Christen einen Friedensbund in Europa zu gründen und ein Schiedsgericht zu installieren, das alle Streitigkeiten friedlich löst. Gottfried Wilhelm Leibniz, Ratgeber des Fürstenhauses von Hannover, schrieb ihm dazu in einem Brief: Es sei gut, diese Gedanken ins Publikum zu bringen, andererseits aussichtslos, die Fürsten der Zeit für ein solches Projekt zu gewinnen. „Nur ein Minister, der im Sterben liegt,“ schrieb Leibniz, „kann das wagen, und auch dieser nur dann, wenn er keine Familie hinterlässt.“ (Patzig 1996, S. 15)

Karl Marx und Friedrich Engels adressierten im »Kommunistischen Manifest« von 1848 ein anderes revolutionäres Subjekt: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Die Arbeiter sollten ihre Sache selbst in die Hand nehmen und sich in einer Internationalen organisieren, um den Völkergefängnissen der Nationalstaaten eine eigene Assoziation entgegenzusetzen. Ein erster Versuch 1864 scheiterte, weil Anarchisten und Kommunisten sich nicht auf eine Strategie einigen konnten. Der zweite Versuch starb in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges.

Weltrepublik – Immanuel Kant

Immanuel Kants Schrift »Zum ewigen Frieden« von 1795 hat ihren festen Platz in der Debatte behauptet. Kant dachte über eine »Weltrepublik« nach, in der sich freie Staaten zu einer »Republik der Republiken« zusammenschließen. Eine „Universalmonarchie“, die die einzelnen Republiken auflöse, müsse ein „seelenloser Despotismus“ sein und sei nie zur Debatte gestanden (Patzig 1996, S. 21). Aber auch dem föderalen Staatenbund gibt Kant letztlich wenig Chancen auf Verwirklichung. „Ein Lob dem nüchternen Kant, der den monolithischen Illusionen nicht auf den Leim gegangen ist“, zollen Wolf-Dieter Narr und Alexander Schubert Beifall (Narr und Schubert 1994, S. 242). Nach einer Diskussion von Weltstaatstheorien, die sie als Illusion und Wunschdenken abtun (ebd., S. 235-247), schließen sie sich der Kantschen Idee eines Weltföderalismus an, dessen lokale Ebene gestärkt werden müsse (ebd., S. 257). Ob die beiden wussten, dass Kants Anthropologie auf einer Hierarchie der Rassen aufbaut? Der Königsberger eignet sich kaum als Referenz für einen demokratischen Ansatz zur Weltordnung. Die amerikanischen Ureinwohner bezeichnet Kant als „zu schwach für schwere Arbeit“ und „unfähig zu aller Cultur; die Afrikaner hingegen als einer Kultur von Sklaven, nicht aber freier Völker fähig, und beide als unfähig, aus eigener Kraft eine ordentliche bürgerliche Gesellschaft zu errichten. Asiaten (Chinesen und Hindustani) werden als zivilisiert, aber wenig dynamisch und antriebslos dargestellt. Weißen hingegen wird nachgesagt, sie besäßen alle Antriebskräfte, Talente und Prädispositionen für Kultur und Zivilisationen, die für einen Fortschritt hin zur Vollkommenheit nötig seien.“ (McCarthy 2015, S. 90)

Und wie bewerten die Spezialisten von den Internationalen Beziehungen die Idee eines Weltstaates?

Das absolute Tabu – die Lehre von den Internationalen Beziehungen

In den 1.200 Seiten seines aktuellen Werkes »Die Ordnung der Welt« stellt der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel ohne Diskussion fest, einen Weltstaat könne es nicht geben, so laute „[d]as erste Axiom der Lehre von den internationalen Beziehungen“ (Menzel 2015, S. 29). Diese Disziplin betrachte es quasi als Natur­gesetz, dass es „keine übergeordnete In­stanz, keinen Weltstaat gibt, der mit einem internationalen Gewaltmonopol ausgestattet ist“ (ebd., S. 17). Alle menschliche Geschichte sei von Großmachtpolitik geprägt. Wenn die derzeitige Phase der US-amerikanischen Hegemonie ende, was laut Menzel im Jahr 2035 der Fall sein wird, würde eine neue Großmacht kommen, die der Welt ihren Stempel aufdrücke. Vielleicht China? Oder doch noch einmal die USA als aktueller Titel­verteidiger? Eine globale Demokratie jedenfalls sei ausgeschlossen.

Ganz in diesem Sinne fasst der Tübinger Friedens- und Konfliktforscher Volker Rittberger den Stand der Debatte zusammen: „Es gibt wenige Auffassungen in der Lehre von der Internationalen Politik, über die soviel Übereinstimmung besteht, wie die, dass die Idee eines Weltstaates ebenso unerfüllbar wie unpraktikabel ist.“ (Rittberger 2000, S. 204) Als Kunst des Möglichen bliebe ein »heterarchisches« (gleichberechtigtes) Weltregieren. Nationen blieben die zentralen Akteure, so Rittberger, kooperierten aber und bildeten supranationale Organisationen, wie die Europäische Union.

Mathias Albert, Professor in Bielefeld, stellt kurz und trocken fest: „Es gibt keinen Weltstaat und es wird auch in Zukunft keinen solchen geben.“ (Albert 2007, S. 9). Bemerkenswert ist, dass Albert mit diesem Satz einen Tagungsband einleitet, in dem acht Wissenschaftler ihre Forschung zum Weltstaat vorstellen. Aber er fasst die Befunde korrekt zusammen, wenn er schreibt: „Die Beiträge des vorliegenden Bandes finden nicht, was sie nicht finden wollen: einen Weltstaat als einen auf die globale Ebene projizierten Einheitsstaat in Analogie zum Nationalstaat“ (ebd., S. 21) – was sie auch nicht finden sollten, wie mir (Redner auf der Tagung) scheint. Wenn auf einem Tagungsband »Weltstaat« draufsteht, muss also keineswegs »Weltstaat« drin sein.

Wenn der Staat nicht global wird, dann werden es vielleicht die politischen Prozesse?

Weltregieren ohne Weltregierung – Global Governance

Michael Zürn vom Wissenschaftszen­trum Berlin beobachtet in seinem Projekt eines »komplexen Weltregierens« die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure. Seit etwa zwei Jahrzehnten sei eine zunehmende „Politisierung der Weltpolitik“ durch Bürgerinnen und Bürger festzustellen, etwa in Form von Protesten am Rande von Gipfelkonferenzen. Darum könne heute „Weltpolitik endgültig nicht mehr als zwischenstaatliche Politik“ verstanden werden (Zürn 2013, S. 11). Organisationen wie Greenpeace und Amnesty International erfüllten eine wichtige Funktion als Aufpasser bei internationalen Organisationen und würden über Politisierung zur Demokratisierung der Weltpolitik beitragen (ebd., S. 26). Gegenüber einer voll ausgebildeten globalen Staatlichkeit bleibt Zürn skeptisch. Diese scheitere an „kognitiven und soziokulturellen Voraussetzungen der Demokratie, die auf internationaler Ebene und selbst auf europäischer Ebene nicht gegeben seien (ebd., S. 26). Seine neueste empirische Forschung erkennt einen vorsichtigen Trend hin zum „minimalen Weltstaat“ mit Ansätzen eines Gewaltmonopols, aber nicht zur „kosmopolitischen Demokratie“ eines David Held – dafür fehle die Bereitschaft zur transnationalen Solidarität (Zürn 2016, S. 113).

Jürgen Neyer, Professor in Frankfurt (Oder), analysiert in »Globale Demokratie« (Neyer 2013) zahlreiche Weltordnungsmodelle. Besonders macht seine Darstellung nicht nur, in welcher Ausführlichkeit kosmopolitische und weltstaatliche Theorien dargestellt, sondern auch, wie objektiv sie beurteilt werden (ebd., S. 327). Der Idealtyp „Demokratischer Weltstaat“ wird von Neyer hinsichtlich etlicher Kriterien als „unproblematisch“ beurteilt: erstens bei der Kongruenz zwischen Herrschern und Beherrschten („Idealfall“, ebd. S. 228), zweitens bei der Möglichkeit, in angemessener Zeit zu Entscheidungen zu kommen, trotz vieler Beteiligter, und drittens bei der Fähigkeit, die Entscheidungen auch durchzusetzen, was mit einem globalen Gewaltmonopol natürlich gut gelingt. Das vierte Kriterium fällt besonders positiv aus: Die Bevölkerung eines demokratischen Weltstaates könne sich „umfassend“ beteiligen. Lediglich das fünfte Kriterium, die Kontrollmöglichkeiten eines Gobalstaates, stuft Neyer als „bechränkt“ ein (ebd., S. 228-234). Zur sachlichen Einschätzung Neyers hat vermutlich beigetragen, dass er seit Jahren zum Integrationsprozess in der Europäischen Union arbeitet, der vielen als Blaupause für die Entwicklung zu einem Weltstaat gilt (vgl. ebd., S. 223-228).

Neyer betrachtet eine Fülle von Weltstaatstheorien. Alexander Wendt (2003) steht bei ihm für einen funktionalen Ansatz. Dem Konstruktivisten Wendt gilt der Weltstaat als unausweichlich, weil er kollektive Sicherheit am besten garantiere (ebd., S. 219f.). Das Modell von David Held (2007) ist die wichtigste Referenz für Neyer. Helds kosmopolitischer Ansatz ist demokratietheoretisch fundiert und wartet mit konkreten Vorschlägen für die Institutionen auf der globalen Ebene auf (Neyer 2013, S. 138-142, 219). Held möchte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das Vetorecht für Großmächte abschaffen und die Organisation mit einer eigenen Armee ausstatten. Langfristig kann er sich ein Weltparlament vorstellen, das diesen Namen auch verdient. Zeitgemäß normative Ansätze für einen Weltstaat sieht Neyer in den Kantianern Otfried Höffe (2002) und Matthias Lutz-Bachmann (2002).

Zu welchen Ergebnissen kommen kriti­sche Ansätze, die sich an Rechts- und Gerechtigkeitsideen orientieren, ohne das Gerüst der Internationalen Beziehungen?

Weltstaat von oben – Sibylle Tönnies

Im Jahr 2002, kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center, erschien in Deutschland ein frisches und kraftvolles Buch, das in einer klaren Sprache den Weltstaat fordert: Sibylle Tönnies’ »Cosmopolis Now – Auf dem Weg zum Weltstaat« (2002). Wie das berühmte Werk »Empire« von Antonio Negri und Michael Hardt (2000) und »Global State« von Martin Shaw (2000), geht Tönnies ebenfalls davon aus, dass es im Ansatz bereits den Weltstaat gibt, nämlich in Form der US-amerikanischen Hegemonie. Diese müsse man anerkennen und versuchen, sie zu gestalten.

Der Rechtswissenschaftlerin an der Universität Bremen und an der Bucerius Law School in Hamburg geht es darum, die universalen Menschenrechte weltweit zu verwirklichen. Dafür sucht Tönnies eine Macht, die diese weltweit durchsetzen kann, und findet sie in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Menschenrechte können die Welt nur regieren, wenn eine Ordnung zur Verfügung steht, die genauso universal ist wie sie selbst. Sie brauchen eine Weltordnung, sie brauchen eine Weltpolizei, die sie schützt.“ (Tönnies 2002, S. 149)

Das Problem ist laut Tönnies, dass die USA diese Rolle des Weltpolizisten gar nicht einnehmen möchten. Sie möchten sich auch selbst keinem System internationaler Regeln unterwerfen. Typisch sei, dass die USA in Den Haag Kriegsverbrecher vor das Gericht stellen, aber sich selbst der Strafverfolgung durch diese Körperschaft entziehen (ebd., S. 66f). Im Jahre 2002 urteilt Tönnies: „Die Amerikaner haben noch nicht die Reife, eine Pax Americana zu schaffen. Sie genießen es, die einzige Supermacht zu sein, wollen aber weiterhin mit formal gleichberechtigten Rivalen ihre Kräfte messen und sich als Sieger erweisen. Die Vereinigten Staaten maßen sich keineswegs die Pax Americana an. Sie müssen im Gegenteil mit der Erwartung konfrontiert werden, dass sie sie etablieren sollen.“ (ebd., S. 41)

Tönnies ist dabei wichtig, bei ihrem Projekt von „Weltstaat“ zu sprechen. Natürlich wäre es mit ihrer Position geschickter, sagt sie, von einer „fälligen Verrechtlichung der Weltorganisationen“ zu sprechen, von der „Stärkung supranationaler Organisationen“ oder von der „Erforderlichkeit verbindlicher Regeln für die Voraussetzungen humanitärer Interventionen“. Dies seien aber verharmlosende Formulierungen. „In dem Moment, in dem eine Welt-Rechtsordnung auch durchgesetzt werden kann, in dem Moment also, wo eine Weltexekutive besteht, gibt es auch einen Weltstaat. In diesem Moment ist nämlich die Gewalt monopolisiert.“ (­Tönnies 2002, S. 11)

So groß dürfte der Schritt gar nicht sein in das US-amerikanische Imperium, zumindest für die Jugend der Welt – sie trägt doch ohnehin schon seine Kleidung, schaut seine Filme und spricht seine Sprache (ebd., S. 57). Was dem entgegensteht, ist eine der großen Schwächen der jungen Generation, sagt die Dame aus dem Jahrgang 1944, nämlich ihr mangelndes Machtbewusstsein (ebd., S. 79f.). Außerdem verachte sie die Staatsidee, was sich auch in einem naiven Glauben an die Macht von Nicht-Regierungsorganisationen zeige (ebd., S. 80). In diesem intellektuellen Klima müsse die Idee eines Weltstaats Ängste auslösen und seine Idee totalitär erscheinen (ebd., S. 84f.).

Sibylle Tönnies kann allerdings nicht gut erklären, wieso ein Hegemon zum »wohlwollenden Diktator« wird, wenn die USA die Weltarmee der Vereinten Nationen stellen, wie Tönnies vorschlägt (ebd., S. 32), Wie Tönnies dagegen mit Klassikern der Politischen Philosophie umgeht, ist brillant. Sie kann mit den »Federalist Papers« der USA von 1878/88, mit Thomas Hobbes und nicht zuletzt mit der Soziologie ihres berühmten Großvaters Ferdinand Tönnies (»Gemeinschaft und Gesellschaft«, 1887) zeigen, dass ein Weltstaat gut zu begründen ist, und schlägt seinen Kritikern einige der wichtigsten Waffen aus der Hand. Lesenswert!

Weltstaat von unten – Charles Monbiot

Charles Monbiot, Jahrgang 1963, wendet sich an die Millionen Globalisierungskritiker. Mit seinem Buch »United People – Manifest für eine neue Weltordnung« (2003) möchte er dem weltweiten „Netzwerk von Aufständischen“ eine Perspektive zu eröffnen, wie man über den Protest hinausgehen kann: Es „sollte unser Ziel nicht sein, die Globalisierung zu verhindern, sondern sie uns zunutze zu machen und sie zum Werkzeug zur Durchsetzung der ersten globalen Revolution in der Menschheitsgeschichte umzufunktionieren“ (Monbiot 2003, S. 32).

Ein Weltparlament ist das wichtigste Projekt des britischen Journalisten (»Guardian« u.a.). Die Bewegung solle eine weltweite Wahl nach dem Prinzip »ein Mensch, eine Stimme« selbstständig organisieren (ebd., S. 99). Aus der Wahl würden 600 Abgeordnete als wahre Vertreterinnen und Vertreter der Weltbevölkerung hervorgehen, für je zehn Millionen Menschen eine Vertretung. Dieses Weltparlament wäre dann eine wahrhaft demokratische Gegenmacht zu den internationalen Organisationen, die doch nur die reichen Nationen vertreten – eine moralische Instanz mit mächtiger Stimme. Die Idee eines Weltparlaments ist laut Monbiot wohl vor allem für den Westen eine große Herausforderung. Den plagt nämlich – so wörtlich – „die Angst vor der gelben Gefahr“ (ebd., S. 118-121). Die USA und Europa würden in einem Weltparlament überstimmt von 1,4 Milliarden Chinesen und einer Milliarden Indern, neben 800 Millionen Stimmberechtigten aus Afrika. „Als würden Truthähne für Weihnachten stimmen“, kommentierte dies ein führender US-Vertreter der Internationalen Beziehungen.

Zwei Lektionen müssen die heutigen Globalisierungskritiker laut Monbiot lernen. Erstens sollten die Aktivistinnen und Aktivisten vom Protestieren zum Gestalten übergehen – siehe oben – und zweitens ihre »small is beautiful«-Philosophie überdenken. Die angemessene Alternative sei, die globale Ebene als Demokratie zu gestalten. „Die Vorstellung, wir könnten Macht einfach zum Verschwinden bringen und sie durch eine so genannte »Anti-Macht« ersetzen, ist bei Anarchisten reicher Länder recht beliebt. Die meisten Aktivisten in den armen Ländern aber, in denen die Auswirkungen der Macht deutlich fühlbar sind, erkennen sie als das, was sie ist: purer Unsinn. Nur weil wir die Muskeln nicht spielen lassen, heißt das noch nicht, dass die anderen auch darauf verzichten werden.“ (ebd., S. 22f.)

Die klaren Worte für eine globale Identität, die er bereits als gegeben ansieht, und seine strikt ablehnende Haltung zur Nation machen das Werk besonders wertvoll, insbesondere, weil es in einer deutlichen Warnung vor einem Rassismus der gebildeten Stände mündet. Weniger überzeugend klingt Monbiots Entwurf neuer Welthandelsorganisationen. Was läuft auf institutioneller Ebene bei den existierenden drei Organisationen falsch? Das wird nicht ausreichend klar. Insgesamt aber ein kluger Ratgeber für Occupy & Co.

Folgerungen für Theorie und Praxis

Drei Folgerungen ergeben sich für kritische Ansätze und politische Kampagnen, die weltweite Demokratie verwirklichen möchten.

Erstens gilt es, globale Staatlichkeit authentisch zu denken, wobei antidemokratische Glaubenssätze nach und nach verabschiedet werden müssen, vor allem in der Disziplin der Internationalen Beziehungen. Das gleiche gilt für den Rassismus und die Idee einer Nation, die einer rationalen Forschungsagenda im Wege stehen.

Zweitens, moderne Ansätze dürfen nicht im Protest gegen die Globalisierung verharren, sondern sie sollten versuchen, sie nach ihren Interessen zu gestalten. Dafür könnten sie eine entschlossene Machtperspektive einnehmen zugunsten einer sozialen und ökologischen Demokratie, die einen Rahmen für eine gerechte Weltwirtschaft bietet.

Drittens sollten die lokale, regionale und globale Ebene nicht als Gegensatz angesehen und gegeneinander ausgespielt, sondern je nach Problemlage aufeinander abgestimmt werden. Nur weil die globale Ebene von der Normalwissenschaft so vernachlässigt wird, muss sie in der aktuellen Diskussion nicht mehr Raum einnehmen, als von der Sache her nötig wäre.

Der Weltstaat sei nicht möglich und nicht wünschenswert, deswegen müsse in Abwesenheit eines Weltstaates über zweitbeste Lösungen nachgedacht werden – diese Redensart sollte möglichst bald aus der Literatur verschwinden und eine fundierte Diskussion über Möglichkeiten globaler Demokratie an ihre Stelle treten.

Literatur

Albert, M. (2007): Weltstaat und Weltstaatlichkeit – Neubestimmung des Politischen in der Weltgesellschaft. In: Albert, M.; Stichweh, R. (Hrsg.): Weltstaat und Weltstaatlichkeit – Beobachtungen globaler Strukturbildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Held, D. (2007): Soziale Demokratie im globalen Zeitalter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Höffe, O. (2001): Globalität statt Globalismus – Über eine subsidiäre und föderale Weltrepublik. In: Lutz-Bachmann, M.; Bohmann, J. (Hrsg.): Weltstaat oder Staatenwelt? Für und wider die Idee einer Weltrepublik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Lutz-Bachmann, M. (2001): Weltweiter Frieden durch eine Weltrepublik? Probleme internationaler Friedenssicherung. In: Lutz-Bachmann, M.; Bohmann, J. (Hrsg.): Weltstaat oder Staatenwelt? Für und wider die Idee einer Weltrepublik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

McCarthy, T. (2015): Rassismus, Imperialismus und die Idee menschlicher Entwicklung. Berlin: Suhrkamp.

Menzel, U. (2015): Die Ordnung der Welt. Berlin: Suhrkamp.

Monbiot, G. (2003): United People. Manifest für eine neue Weltordnung. München: Riemann.

Narr, W.-D.; Schubert, A. (1994): Weltökonomie -Misere der Politik. Frankfurt: Suhrkamp.

Negri, A.; Hardt, M. (2003): Empire – Die neue Weltordnung. Frankfurt a.M: Campus.

Neyer, J. (2013): Globale Demokratie – Eine zeitgemäße Einführung in die Internationalen Beziehungen. Baden-Baden: Nomos.

Patzig, G. (1996): Kants Schrift »Zum ewigen Frieden«. In: Merkel R.; Wittmann R. (Hrsg.): »Zum ewigen Frieden« – Grundlagen, Aktualitäten und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Rittberger, V. (2000): Globalisierung und der Wandel der Staatenwelt – Welt regieren ohne Weltstaat. In: Menzel, U. (Hrsg.): Vom Ewigen Frieden und vom Wohlstand der Nationen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 188-219.

Shaw, M. (2000): Theory of the Global State – Globality as an Unfinished Revolution. Cambridge: Cambridge University Press.

Tönnies, S. (2002): Cosmopolis Now – Auf dem Weg zum Weltstaat. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.

Wendt, A. (2003): Why A World State is Inevitable. European Journal of International Relations, Vol. 9, No. 4 (December), S. 491-542.

Zürn, M. (2013): Politisierung als Konzept der Internationalen Beziehungen. In: Zürn, M.; Ecker-Ehrhardt, M. (Hrsg.): Die Politisierung der Weltpolitik. Berlin: Suhrkamp, S. 7-35.

Zürn, M. (2016): Four Models of a Global Order with Cosmopolitan Intent – An Empirical Assessment. Journal of Political Philosophy, Vol. 24, Nr. 1, S. 88-119.

Dirk Hannemann, Jahrgang 1968, wohnhaft in Berlin, Diplom-Politologe (Universität Frankfurt am Main), Lehraufträge an der Freien Universität Berlin. Heute als selbstständiger Kommunikationstrainer tätig.

Ist der liberale Frieden tot?

Ist der liberale Frieden tot?

Überlegungen zum europäischen Friedensprojekt

von Christiane Fröhlich und Regina Heller

Westlicher Interventionismus auf der Grundlage einer liberalen Friedensidee ist zu Recht in die Kritik geraten. Der Beitrag lotet mögliche Alternativen aus.

Die liberale Friedensidee, die europäische Politik auf der Basis eigener historischer Erfahrungen normativ anleitet, geht davon aus, dass kollektive Gewaltanwendung weltweit durch Demokratisierung, wirtschaftliche Verflechtung, Rechtsstaatlichkeit und Verteilungsgerechtigkeit verhindert werden kann. Sie wird in zunehmendem Maße durch andere, z.T. aufstrebende und daher hinsichtlich ihres weltpolitischen Gestaltungspotenzials wichtiger werdende Weltregionen herausgefordert. So wird auch der der liberalen Friedensidee zugrundeliegende, universalistische Gedanke infrage gestellt, dass die Rezepte, die für den Frieden in Europa gesorgt haben, auch global ihre Wirkung entfalten könnten. Kritiker des liberalen Friedens (etwa Oliver Richmond und Roger MacGinty) führen die in der post- bzw. de-kolonialen Literatur hervorgebrachte Skepsis gegenüber der im Globalen Norden dominanten liberalen Friedensidee und der epistemischen Macht westlicher Sozialwissenschaft fort. Ein zu westlicher Ansatz und die Vernachlässigung der paradoxen Effekte des Liberalismus, konkret seiner inhärenten Neigung, Frieden durch Gewalt zu konstituieren, sowie die negativen Folgen der politischen Ökonomie liberaler Friedensprozesse unter den Bedingungen einer zunehmenden globalen Verflechtung, sind hier zentrale Kritikpunkte.1

Aber auch in Europa selbst gerät die Idee liberaler Friedensstiftung massiv unter Druck, sei es durch die Zunahme an Systemkrisen, die Persistenz demokratieabträglicher Ordnungspraktiken oder durch ordnungspolitische Spannungen mit Russland. Auch vor dem Hintergrund der sehr aktuellen Frage, wie die Integration von »Anders-Sein« in westlich-liberalen Demokratien gelingen kann, ist die Debatte darüber, wie Frieden trotz bestehender Differenzen erhalten bzw. erreicht werden kann, absolut grundlegend. Wie kann also angesichts der Krise des liberalen Friedens aus Europa heraus bzw. für Europa selbst friedliche oder dem Frieden zuträgliche Ordnung hergestellt werden? Ist friedens­politisch grundlegend neues, normatives Orientierungswissen gefragt, oder gibt es, allen identifizierten Schwierigkeiten zum Trotz, etwas »Transzendentes« in der liberalen Friedensidee, das jenseits von zeit-, kultur- und ortsgebundenen Vorstellungen und Paradigmen von Ordnung existieren und auch in den schwierigen Fahrwassern der Globalisierung bestehen kann?

Zwischen radikaler Differenz und normativer Durchlässigkeit

Für die Beantwortung dieser Fragen erscheint es sinnvoll, zunächst zu den Wurzeln der aktuellen Ordnungszerfallsprozesse vorzudringen. Als ursächlich für das Auseinanderfallen bestehender Friedensordnungen bzw. für Probleme bei der Herstellung globaler friedenspolitischer Ordnungsstrukturen gilt vor allem das Aufeinanderprallen einer Vielzahl unterschiedlicher normativer Ordnungsvorstellungen weltweit. Doch eigentlich wissen wir noch nicht sehr viel über diese normativen Unterschiede, geschweige denn darüber, wie das Wirkungsverhältnis zwischen normativer Vielfalt einerseits und Frieden anderseits tatsächlich aussieht. Unklar ist vor allem, ob diese Unterschiede tatsächlich so gravierend sind, dass sie gesellschaftliche Gegensätze unüberbrückbar machen und damit auch sicherheits- und friedenspolitische Interessen unvereinbar werden.

In der aktuellen wissenschaftlichen Debatte existieren unterschiedliche Sichtweisen auf das Problem. Zum einen existieren Positionen, die von einer »radikalen Differenz« ausgehen. Sie sehen gesellschaftliche Gegensätze als unüberbrückbar und damit auch die Möglichkeit einer globalen, einheitlichen Friedensordnung, wie sie noch in den 1990er Jahren für möglich gehalten wurde, als Chimäre an. Nach dieser Lesart ist die Idee eines liberal inspirierten Friedens in einer pluralistischen Weltgesellschaft nichts weiter als ein westlich-hegemonialer Diskurs, der historische Machtstrukturen reproduziert. Ihr Argument speisen die Vertreter der »Radikalen Differenz«-These aus einer normativ zurückgenommenen, kontext-sensiblen, empirischen und vor allem kritischen De- und Rekonstruktion politischer und gesellschaftlicher, lokaler, regionaler und globaler Strukturen. Neben den bereits oben erwähnten Kritikern der liberalen Friedensidee wären auch Arbeiten zu nennen, die im Rahmen der »kritischen Normenforschung« in Deutschland entstanden sind.2

Auf der anderen Seite stehen jene Neo-Humanisten, die die Vorstellung eines Werteuniversalismus trotz gegensätzlicher Kulturen nicht vollends verwerfen wollen, und die die postmoderne Beliebigkeit der »Radikalen Differenz«-Debatte und ihre normative Zurückgenommenheit kritisieren. Björn Goldstein zum Beispiel spricht sich dafür aus, im „Multiversum“ unterschiedlicher Weltkulturen explizit nach einem gemeinsamen, kulturübergreifenden normativen Gehalt („normativen Guten“ ) zu suchen.3 Der Kulturtheoretiker Christoph Antweiler spricht von einem „inklusiven Humanismus“,4 der uns helfen könnte, die „Achtung anderer Kulturen […] durch [die] Achtung des Menschen [zu] ergänz[en]“,5 und empfiehlt, „kulturell Trennendes und Verbindendes zusammen zu denken“ 6 und auf dieser Grundlage die Möglichkeit zu schaffen, nach nicht-eurozentrischen „Kulturuniversalien“ 7 zu suchen. Allen gemeinsam ist, dass sie dezidiert für die Einnahme eines eigenen normativen Standpunktes werben, der der Untersuchung vorausgehen muss und von dem aus die Frage nach einem verbindenden ethischen Ideal – einem „transkulturellen humanum“ im Sinne Ernst Blochs8 – gestellt werden kann. Die kritische Auseinandersetzung mit hegemonialen Diskursen und ihre Dekonstruktion sowie die kritische Auseinandersetzung mit der potenziellen Inhumanität des Menschen spielen allerdings auch hier eine wichtige Rolle.

Schließlich lässt sich auf der Grundlage der Literatur über „Hybridität“ 9 und „multiple Modernen“ 10 die Annahme ableiten, dass normative Ordnungen sowohl kontingent als auch durchlässig sind. Normative Ordnungen sind stets kontingent, weil sie Ausdruck »gewordener« historischer Bedingungen sind. Dies hat schon Dieter Senghaas in seinen Arbeiten unterstrichen.11 Sie sind aber auch durchlässig, weil sie historisch stets in Auseinandersetzung mit, Abgrenzung von oder Wechselwirkung mit anderen Ordnungen und Vorstellungen entstehen. Insofern sollte eher von einer relativen Differenz bei gleichzeitigem Wettbewerb der Ideen ausgegangen werden, damit die Pluralität von Werteorientierungen ernst genommen und gedanklich die Grundlage dafür geschaffen wird, Unterschiede und Gemeinsamkeiten präziser zu beschreiben und mit ihnen umzugehen.

Wie weiter in der Friedenspolitik?

Wie lassen sich diese entgegengesetzten Sichtweisen nun in friedenspolitische Ordnungsversuche übertragen? Was heißt all das für europäische Friedenspolitik? Unbestritten scheint, dass Europa seine Friedenspolitik überdenken muss. Allein: Wie könnten die Eckpunkte einer solchen Friedenspolitik aussehen? Wie kann Europa der Normenvielfalt in friedenspolitischer Hinsicht begegnen? An dieser Frage sollte zukünftige Forschung unseres Erachtens ansetzen.

Ausgehend von der Kritik an der liberalen Friedensidee müssen empirisch diejenigen konzeptionellen Lücken identifiziert werden, die an den Bruchstellen der Globalisierung entstehen. Solche Lücken bestehen z.B. hinsichtlich der Blindheit »klassischer« Friedensstrategien für lokale Ordnungen und ihren Friedensgehalt trotz möglicherweise fehlender friedenspolitischer Rahmung auf nationaler Ebene. Daran anschließend formulieren wir Fragen wie die folgenden: Wie lässt es sich friedenstheoretisch abbilden, wenn Akteure, die auf nationaler Ebene nicht friedlich sind, lokal zu einer als friedlich wahrgenommenen Ordnung beitragen? Wie passt es in ein liberales Friedensverständnis, wenn autoritäre, nicht partizipative Herrschaft effektiv Frieden herstellen kann? Wie kann Friedenspolitik mit der Stratifikation von Friedensordnungen umgehen, also damit, dass Friedensordnungen möglicherweise immer nur in spezifischen Feldern ent- und bestehen können?

Zur Annäherung an diese und ähnliche Fragen ist eine Forschungsperspektive notwendig, die lokale, nationale, regionale und inter- bzw. transnationale Dynamiken in den Blick nimmt, die jeweils und in ihrer Verflechtung friedliches Zusammenleben begünstigen oder verhindern. Dabei müssen normative Überlegungen darüber, wie ein Staat zu sein hat – demokratisch, rechtsstaatlich, kooperativ usw. – zunächst in den Hintergrund treten, damit alle Akteure, die Friedensordnungen beeinflussen, berücksichtigt werden können. Erst in einem zweiten, komparativen Schritt kann dann die Frage beantwortet werden, ob tatsächlich eine Art »Restnormativität« existiert, die zeit-, kultur- und ortsgebundene Vorstellungen und Paradigmen von friedlicher Ordnung transzendiert. Eine solche Konzeptionalisierung horizontaler und vertikaler Wirkachsen friedlicher Ordnung, die das traditionelle liberale Friedensverständnis an realen Bedingungen misst und in einem zweiten Schritt auch an sie anpasst, könnte dann die Grundlage für zukünftige friedenspolitische Schritte und die (Neu-) Ordnung normativer Vielfalt sein.

Anmerkungen

1) Ausgehend von Klassikern der postkolonialen Theorie, wie Edward Saids »Orientalism« (London: Routledge 1978) oder Gayatri Chakravorty Spivaks »Can The Subaltern Speak?« (in: Patrick Williams P.; Chrisman, L. (eds.) (1988): Colonial Discourse and Post-Colonial Theory. Hemel Hemstead: Harvester Wheatsheaf, S. 66-111), aber auch in Auseinandersetzung mit Werken feministischer Kritik und Studien der Intersektionalität (etwa Kimberlé Crenshaw (1991): Mapping the Margins – Intersection­ality, Identity Politics, and Violence Against Women of Colour. Stanford Law Review 43(6), S. 1241-1299) entwickelte sich auch die Kritik an liberaler Friedenspolitik, siehe etwa Newman, E; Paris, R.; Richmond, O. (eds.) (2010): New Perspectives on Liberal Peacebuilding. Basingstoke: Palgrave; Richmond, O. (20015): The transformation of peace. Basingstoke: Palgrave; MacGinty, R. (2011): International Peacekeeping and Local Resistance – Hybrid Forms of Peace. Basingstoke: Palgrave.

2) Z.B. Engelkamp S.; Glaab, K.; Renner, J. (2012): In der Sprechstunde – Wie (kritische) Normenforschung ihre Stimme wiederfinden kann. Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 19. Jg. Heft 2, S. 101-128; Deitelhoff, N.; Zimmermann, L. (2013): Aus dem Herzen der Finsternis – Kritisches Lesen und wirkliches Zuhören der konstruktivistischen Normenforschung. Eine Replik auf Stephan Engelkamp, Katharina Glaab und Judith Renner. Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 20. Jg. Heft 1, S. 61-74.

3) Goldstein, B. (2015): Emanzipation und »höheres Chinesentum« – Was ist kritisch an der kritischen Normenforschung in den Internationalen Beziehungen? Zeitschrift für Politikwissenschaft 62(2), S. 140-158.

4) Antweiler, C. (2011): Mensch und Weltkultur – Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung. Bielefeld: transcript, hier S. 24.

5) Ebd. S. 8.

6) Ebd. S. 12.

7) Ebd. S. 22. Hier finden sich erneut Bezüge zur postkolonialen Theorie, insbesondere zu Homi K. Bhabhas Idee eines »dritten Raumes«; Bhabha, H. (1994): The Location of Culture. London and New York: Routledge.

8) Ernst Bloch (1970): Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 144.

9) Einen Überblick bietet Papastergiadis, N. (2000a): Tracing Hybridity in Theory. In: Werbner, P.; Tariq, M. (eds.): Debating Cultural Hybridity – Multi-Cultural Identities and the Politics of AntiRacism. London & New Jersey: Zed Books, S. 257-281. Speziell zu Hybridität in Bezug auf Frieden siehe z.B. MacGinty, R. (2010): Hybrid peace – The interaction between top-down and bottom-up peace. Security Dialogue, Vol. 41, Nr. 4, S. 391-412.

10) Eisenstadt, S.N. (2000): Multiple Modernities. Daedalus 129(1), S. 1-29.

11) Senghaas, D. (1952): Frieden als Zivilisierungsprojekt. In: Senghaas, D. (Hrsg.): Den Frieden denken – si vis pacem, para pacem. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 196-223.

Dr. Christiane Fröhlich ist Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (christianefroehlich.de).
Dr. Regina Heller ist Wissenschaftliche Referentin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.