Ist der liberale Frieden tot?

Ist der liberale Frieden tot?

Überlegungen zum europäischen Friedensprojekt

von Christiane Fröhlich und Regina Heller

Westlicher Interventionismus auf der Grundlage einer liberalen Friedensidee ist zu Recht in die Kritik geraten. Der Beitrag lotet mögliche Alternativen aus.

Die liberale Friedensidee, die europäische Politik auf der Basis eigener historischer Erfahrungen normativ anleitet, geht davon aus, dass kollektive Gewaltanwendung weltweit durch Demokratisierung, wirtschaftliche Verflechtung, Rechtsstaatlichkeit und Verteilungsgerechtigkeit verhindert werden kann. Sie wird in zunehmendem Maße durch andere, z.T. aufstrebende und daher hinsichtlich ihres weltpolitischen Gestaltungspotenzials wichtiger werdende Weltregionen herausgefordert. So wird auch der der liberalen Friedensidee zugrundeliegende, universalistische Gedanke infrage gestellt, dass die Rezepte, die für den Frieden in Europa gesorgt haben, auch global ihre Wirkung entfalten könnten. Kritiker des liberalen Friedens (etwa Oliver Richmond und Roger MacGinty) führen die in der post- bzw. de-kolonialen Literatur hervorgebrachte Skepsis gegenüber der im Globalen Norden dominanten liberalen Friedensidee und der epistemischen Macht westlicher Sozialwissenschaft fort. Ein zu westlicher Ansatz und die Vernachlässigung der paradoxen Effekte des Liberalismus, konkret seiner inhärenten Neigung, Frieden durch Gewalt zu konstituieren, sowie die negativen Folgen der politischen Ökonomie liberaler Friedensprozesse unter den Bedingungen einer zunehmenden globalen Verflechtung, sind hier zentrale Kritikpunkte.1

Aber auch in Europa selbst gerät die Idee liberaler Friedensstiftung massiv unter Druck, sei es durch die Zunahme an Systemkrisen, die Persistenz demokratieabträglicher Ordnungspraktiken oder durch ordnungspolitische Spannungen mit Russland. Auch vor dem Hintergrund der sehr aktuellen Frage, wie die Integration von »Anders-Sein« in westlich-liberalen Demokratien gelingen kann, ist die Debatte darüber, wie Frieden trotz bestehender Differenzen erhalten bzw. erreicht werden kann, absolut grundlegend. Wie kann also angesichts der Krise des liberalen Friedens aus Europa heraus bzw. für Europa selbst friedliche oder dem Frieden zuträgliche Ordnung hergestellt werden? Ist friedens­politisch grundlegend neues, normatives Orientierungswissen gefragt, oder gibt es, allen identifizierten Schwierigkeiten zum Trotz, etwas »Transzendentes« in der liberalen Friedensidee, das jenseits von zeit-, kultur- und ortsgebundenen Vorstellungen und Paradigmen von Ordnung existieren und auch in den schwierigen Fahrwassern der Globalisierung bestehen kann?

Zwischen radikaler Differenz und normativer Durchlässigkeit

Für die Beantwortung dieser Fragen erscheint es sinnvoll, zunächst zu den Wurzeln der aktuellen Ordnungszerfallsprozesse vorzudringen. Als ursächlich für das Auseinanderfallen bestehender Friedensordnungen bzw. für Probleme bei der Herstellung globaler friedenspolitischer Ordnungsstrukturen gilt vor allem das Aufeinanderprallen einer Vielzahl unterschiedlicher normativer Ordnungsvorstellungen weltweit. Doch eigentlich wissen wir noch nicht sehr viel über diese normativen Unterschiede, geschweige denn darüber, wie das Wirkungsverhältnis zwischen normativer Vielfalt einerseits und Frieden anderseits tatsächlich aussieht. Unklar ist vor allem, ob diese Unterschiede tatsächlich so gravierend sind, dass sie gesellschaftliche Gegensätze unüberbrückbar machen und damit auch sicherheits- und friedenspolitische Interessen unvereinbar werden.

In der aktuellen wissenschaftlichen Debatte existieren unterschiedliche Sichtweisen auf das Problem. Zum einen existieren Positionen, die von einer »radikalen Differenz« ausgehen. Sie sehen gesellschaftliche Gegensätze als unüberbrückbar und damit auch die Möglichkeit einer globalen, einheitlichen Friedensordnung, wie sie noch in den 1990er Jahren für möglich gehalten wurde, als Chimäre an. Nach dieser Lesart ist die Idee eines liberal inspirierten Friedens in einer pluralistischen Weltgesellschaft nichts weiter als ein westlich-hegemonialer Diskurs, der historische Machtstrukturen reproduziert. Ihr Argument speisen die Vertreter der »Radikalen Differenz«-These aus einer normativ zurückgenommenen, kontext-sensiblen, empirischen und vor allem kritischen De- und Rekonstruktion politischer und gesellschaftlicher, lokaler, regionaler und globaler Strukturen. Neben den bereits oben erwähnten Kritikern der liberalen Friedensidee wären auch Arbeiten zu nennen, die im Rahmen der »kritischen Normenforschung« in Deutschland entstanden sind.2

Auf der anderen Seite stehen jene Neo-Humanisten, die die Vorstellung eines Werteuniversalismus trotz gegensätzlicher Kulturen nicht vollends verwerfen wollen, und die die postmoderne Beliebigkeit der »Radikalen Differenz«-Debatte und ihre normative Zurückgenommenheit kritisieren. Björn Goldstein zum Beispiel spricht sich dafür aus, im „Multiversum“ unterschiedlicher Weltkulturen explizit nach einem gemeinsamen, kulturübergreifenden normativen Gehalt („normativen Guten“ ) zu suchen.3 Der Kulturtheoretiker Christoph Antweiler spricht von einem „inklusiven Humanismus“,4 der uns helfen könnte, die „Achtung anderer Kulturen […] durch [die] Achtung des Menschen [zu] ergänz[en]“,5 und empfiehlt, „kulturell Trennendes und Verbindendes zusammen zu denken“ 6 und auf dieser Grundlage die Möglichkeit zu schaffen, nach nicht-eurozentrischen „Kulturuniversalien“ 7 zu suchen. Allen gemeinsam ist, dass sie dezidiert für die Einnahme eines eigenen normativen Standpunktes werben, der der Untersuchung vorausgehen muss und von dem aus die Frage nach einem verbindenden ethischen Ideal – einem „transkulturellen humanum“ im Sinne Ernst Blochs8 – gestellt werden kann. Die kritische Auseinandersetzung mit hegemonialen Diskursen und ihre Dekonstruktion sowie die kritische Auseinandersetzung mit der potenziellen Inhumanität des Menschen spielen allerdings auch hier eine wichtige Rolle.

Schließlich lässt sich auf der Grundlage der Literatur über „Hybridität“ 9 und „multiple Modernen“ 10 die Annahme ableiten, dass normative Ordnungen sowohl kontingent als auch durchlässig sind. Normative Ordnungen sind stets kontingent, weil sie Ausdruck »gewordener« historischer Bedingungen sind. Dies hat schon Dieter Senghaas in seinen Arbeiten unterstrichen.11 Sie sind aber auch durchlässig, weil sie historisch stets in Auseinandersetzung mit, Abgrenzung von oder Wechselwirkung mit anderen Ordnungen und Vorstellungen entstehen. Insofern sollte eher von einer relativen Differenz bei gleichzeitigem Wettbewerb der Ideen ausgegangen werden, damit die Pluralität von Werteorientierungen ernst genommen und gedanklich die Grundlage dafür geschaffen wird, Unterschiede und Gemeinsamkeiten präziser zu beschreiben und mit ihnen umzugehen.

Wie weiter in der Friedenspolitik?

Wie lassen sich diese entgegengesetzten Sichtweisen nun in friedenspolitische Ordnungsversuche übertragen? Was heißt all das für europäische Friedenspolitik? Unbestritten scheint, dass Europa seine Friedenspolitik überdenken muss. Allein: Wie könnten die Eckpunkte einer solchen Friedenspolitik aussehen? Wie kann Europa der Normenvielfalt in friedenspolitischer Hinsicht begegnen? An dieser Frage sollte zukünftige Forschung unseres Erachtens ansetzen.

Ausgehend von der Kritik an der liberalen Friedensidee müssen empirisch diejenigen konzeptionellen Lücken identifiziert werden, die an den Bruchstellen der Globalisierung entstehen. Solche Lücken bestehen z.B. hinsichtlich der Blindheit »klassischer« Friedensstrategien für lokale Ordnungen und ihren Friedensgehalt trotz möglicherweise fehlender friedenspolitischer Rahmung auf nationaler Ebene. Daran anschließend formulieren wir Fragen wie die folgenden: Wie lässt es sich friedenstheoretisch abbilden, wenn Akteure, die auf nationaler Ebene nicht friedlich sind, lokal zu einer als friedlich wahrgenommenen Ordnung beitragen? Wie passt es in ein liberales Friedensverständnis, wenn autoritäre, nicht partizipative Herrschaft effektiv Frieden herstellen kann? Wie kann Friedenspolitik mit der Stratifikation von Friedensordnungen umgehen, also damit, dass Friedensordnungen möglicherweise immer nur in spezifischen Feldern ent- und bestehen können?

Zur Annäherung an diese und ähnliche Fragen ist eine Forschungsperspektive notwendig, die lokale, nationale, regionale und inter- bzw. transnationale Dynamiken in den Blick nimmt, die jeweils und in ihrer Verflechtung friedliches Zusammenleben begünstigen oder verhindern. Dabei müssen normative Überlegungen darüber, wie ein Staat zu sein hat – demokratisch, rechtsstaatlich, kooperativ usw. – zunächst in den Hintergrund treten, damit alle Akteure, die Friedensordnungen beeinflussen, berücksichtigt werden können. Erst in einem zweiten, komparativen Schritt kann dann die Frage beantwortet werden, ob tatsächlich eine Art »Restnormativität« existiert, die zeit-, kultur- und ortsgebundene Vorstellungen und Paradigmen von friedlicher Ordnung transzendiert. Eine solche Konzeptionalisierung horizontaler und vertikaler Wirkachsen friedlicher Ordnung, die das traditionelle liberale Friedensverständnis an realen Bedingungen misst und in einem zweiten Schritt auch an sie anpasst, könnte dann die Grundlage für zukünftige friedenspolitische Schritte und die (Neu-) Ordnung normativer Vielfalt sein.

Anmerkungen

1) Ausgehend von Klassikern der postkolonialen Theorie, wie Edward Saids »Orientalism« (London: Routledge 1978) oder Gayatri Chakravorty Spivaks »Can The Subaltern Speak?« (in: Patrick Williams P.; Chrisman, L. (eds.) (1988): Colonial Discourse and Post-Colonial Theory. Hemel Hemstead: Harvester Wheatsheaf, S. 66-111), aber auch in Auseinandersetzung mit Werken feministischer Kritik und Studien der Intersektionalität (etwa Kimberlé Crenshaw (1991): Mapping the Margins – Intersection­ality, Identity Politics, and Violence Against Women of Colour. Stanford Law Review 43(6), S. 1241-1299) entwickelte sich auch die Kritik an liberaler Friedenspolitik, siehe etwa Newman, E; Paris, R.; Richmond, O. (eds.) (2010): New Perspectives on Liberal Peacebuilding. Basingstoke: Palgrave; Richmond, O. (20015): The transformation of peace. Basingstoke: Palgrave; MacGinty, R. (2011): International Peacekeeping and Local Resistance – Hybrid Forms of Peace. Basingstoke: Palgrave.

2) Z.B. Engelkamp S.; Glaab, K.; Renner, J. (2012): In der Sprechstunde – Wie (kritische) Normenforschung ihre Stimme wiederfinden kann. Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 19. Jg. Heft 2, S. 101-128; Deitelhoff, N.; Zimmermann, L. (2013): Aus dem Herzen der Finsternis – Kritisches Lesen und wirkliches Zuhören der konstruktivistischen Normenforschung. Eine Replik auf Stephan Engelkamp, Katharina Glaab und Judith Renner. Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 20. Jg. Heft 1, S. 61-74.

3) Goldstein, B. (2015): Emanzipation und »höheres Chinesentum« – Was ist kritisch an der kritischen Normenforschung in den Internationalen Beziehungen? Zeitschrift für Politikwissenschaft 62(2), S. 140-158.

4) Antweiler, C. (2011): Mensch und Weltkultur – Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung. Bielefeld: transcript, hier S. 24.

5) Ebd. S. 8.

6) Ebd. S. 12.

7) Ebd. S. 22. Hier finden sich erneut Bezüge zur postkolonialen Theorie, insbesondere zu Homi K. Bhabhas Idee eines »dritten Raumes«; Bhabha, H. (1994): The Location of Culture. London and New York: Routledge.

8) Ernst Bloch (1970): Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 144.

9) Einen Überblick bietet Papastergiadis, N. (2000a): Tracing Hybridity in Theory. In: Werbner, P.; Tariq, M. (eds.): Debating Cultural Hybridity – Multi-Cultural Identities and the Politics of AntiRacism. London & New Jersey: Zed Books, S. 257-281. Speziell zu Hybridität in Bezug auf Frieden siehe z.B. MacGinty, R. (2010): Hybrid peace – The interaction between top-down and bottom-up peace. Security Dialogue, Vol. 41, Nr. 4, S. 391-412.

10) Eisenstadt, S.N. (2000): Multiple Modernities. Daedalus 129(1), S. 1-29.

11) Senghaas, D. (1952): Frieden als Zivilisierungsprojekt. In: Senghaas, D. (Hrsg.): Den Frieden denken – si vis pacem, para pacem. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 196-223.

Dr. Christiane Fröhlich ist Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (christianefroehlich.de).
Dr. Regina Heller ist Wissenschaftliche Referentin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Die Diffusion der Zivilisationen

Die Diffusion der Zivilisationen

von Peter Nitschke

Die Dimensionen und Funktionen von Zivilisationen sind seit dem Bestseller »Kampf der Kulturen« von Samuel P. Huntington (2002) in der internationalen Debatte. Dabei rückt die Bedeutung von Wertvorstellungen in den Blick, insbesondere von denen, die sich scheinbar unverrückbar durch religiöse Werte ergeben. Die einzelnen Zivilisationen ordnen Politik, Staaten und Gesellschaften als Kulturkreise, und zwar in Abgrenzung voneinander. Daraus ergeben sich Konflikte, insbesondere dann, wenn Raumordnungsansprüche mit einer kulturellen Hegemonialvorstellung verbunden werden.

Eine »Zivilisation« ist nach dem Verständnis im angelsächsischen Raum ein Kulturkreis, der aus mehreren Teilkulturen bzw. Kulturen besteht. Dieser kann, muss aber nicht mit einer einzelnen Nation identisch sein. In der Regel ist dies auch nicht der Fall. Im Gegensatz zur deutschen Tradition, die seit Herder und Goethe die Zivilisation als »Kultur« betrachtet, ist im heutigen globalen Verständnis die angelsächsische Interpretationslinie die ausschlaggebende Version. Ein Kulturkreis (= Zivilisation) ist dann so etwas wie eine Hochkultur.

Diese Interpretation geht u.a. auf Oswald Spengler zurück, der im »Untergang des Abendlandes« (1923) die Zivilisationen im Sinne von Hochkulturen als grundlegende Erscheinungsformen quer durch die Epochen der Menschheit stilisiert hat (Spengler 2007). Mehr noch aber hat dann die Interpretation des englischen Historikers und Diplomaten Arnold J. Toynbee in seinem mehrbändigen Werk »A Study of History« (1934-54 u. 1959/61) zur Systematik in der Terminologie beigetragen (vgl. dt. in Auszügen Toynbee 1970), auf die sich dann insbesondere die englischsprachige Forschung nach 1945 in immer neuen Ansätzen stützte. Eine Zivilisation ist demzufolge durch kulturelle Handlungspraktiken gekennzeichnet, die raum- und zeitübergreifend bei Völkern existieren – und zwar in einem nachhaltigen, mitunter sogar über Jahrtausende reichenden Identitätsformat. Toynbee rechnete hierzu vor allem das Christentum, den Islam, die konfuzianische Gesellschaft Chinas und den Hinduismus in Indien.

Huntingtons »Clash of Civilizations«

Auf diese Tradition bezog sich der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington (1927-2008), als er 1993 in der renommierten Fachzeitschrift »Foreign Affairs« einen Aufsatz veröffentlichte, der unter der Überschrift »The Clash of Civilizations?« die Frage nach dem Sinn und den Funktionen von Zivilisationen in den Mittelpunkt der Erörterungen über die Gestaltung der Internationalen Beziehungen rückte. Das war neu; Huntington vollzog damit einen kulturalistischen Paradigmenwechsel für die Lehre von den Internationalen Beziehungen, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Schwierigkeiten hatte, die Lage der Welt am Ende des 20. Jahrhunderts mit den Chiffren der Nachkriegszeit und der Blockbildung zwischen den Supermächten realistisch zu deuten. Statt weiterhin Ideologien und Ökonomiestrukturen als Kriterien für die Analyse der Beziehungen zwischen den Staaten und den Völkern heranzuziehen, plädierte Huntington für die nahe Zukunft (d.h. für das 21. Jahrhundert) für ein anderes Erkenntnismodell. Bei diesem solle die Kulturfrage im Mittelpunkt stehen, da er das Aufeinanderprallen unterschiedlicher zivilisatorischer Standards und damit unterschiedlicher Kulturkreise als neuen Faktor für das Entstehen von Konflikten verstanden wissen wollte.

Diese paradigmatische Empfehlung in seinem Aufsatz von 1993 rief (auch international) ein derart starkes Echo in der Fachwelt hervor, dass sich Huntington wegen massiver Kritik und Zustimmung veranlasst und ermutigt sah, seine Diagnose zu konkretisieren und auszuweiten und sie 1996 in einem voluminösen Buch unter dem gleichen Titel (allerdings nun ohne Fragezeichen) zu publizieren. »Kampf der Kulturen« (so die deutsche Titelfassung) wurde erst recht zum weltweiten Bestseller und bestimmt seitdem in immer neuen Interpretationswellen die internationale Debatte (Nitschke 2014a).

Religion als Kern von Zivilisation

Furore hat Huntingtons Diagnose vor allem deshalb gemacht, weil sie im Kern auf etwas verweist, was als identitäre Einheit für die Sinnbildung von Hochkulturen (= Kulturkreisen = Zivilisationen) für diese selbst nicht hintergangen werden kann. Alle üblichen Interpretationen sehen in der ökonomischen Struktur, der damit verbundenen Wirtschaftskraft sowie dem ideologischen Sinnzusammenhang, den ein politisches System für seine Anhänger bereitstellt, den Identitätsbezug von Menschen in ihrer jeweiligen Ordnung. Demgegenüber favorisiert Huntington die Kultur als Zivilisationsfrage.

In seinem Modell entscheidet nicht die Wirtschaftskraft über die Nachhaltigkeit (politischer) Ordnungen auf der Welt, auch nicht der über Ideologien hergestellte Macht- und Herrschaftsanspruch. Entscheidend ist vielmehr die Matrix der Zivilisation, die als Hochkultur alle Normierungen und Funktionen des täglichen Lebens für die Bürger ordnet und damit erst den Sinn und die Dauerhaftigkeit der Ordnung selbst vermittelt. Eine Zivilisation kann aus allen möglichen Normierungen bestehen, aber sie hat stets einen Identitätskern, der kulturell nicht austauschbar ist. Im Gegensatz zu vielen traditionellen Deutungen von Kultur und Zivilisation sieht Huntington diesen Identitätskern nicht in der Sprache oder etwa in der Auslegung des nationalen Rechts, sondern in der Religion begründet. Denn Religion besteht (in der jeweiligen Formulierung des Heilsanspruchs) im Glauben an einen absoluten Wahrheitsanspruch, der als solcher nicht verhandelbar ist. Gerade weil dieser Hoheitsanspruch der religiösen Botschaft so weltlich umfassend ist, gehen hieraus substanzielle ethische und funktionale Standardisierungen für den Lebensbezug in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hervor. In dieser Hinsicht lassen sich Zivilisationen dann auch deutlich voneinander abgrenzen.

Das Zivilisationsmodell in der Globalisierung

In Anlehnung an Toynbee geht Huntington von einem Schema aus, demzufolge sich die Welt am Ende des Kalten Krieges und im Hinblick auf das 21. Jahrhundert in insgesamt neun Kulturkreise formatiert. Dies sind im Einzelnen:

1. der Westen (mit dem transatlantischen Wertemodell von Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Demokratie und Christentum),

2. die islamische Welt (mit der Bevorzugung eines Supremats der religiösen Botschaft vor jeglicher säkularen Politik­auffassung),

3. die sinische Welt (womit das konfuzianische, weitgehend auf China ausgerichtete Ethikmodell mit der Bevorzugung des Kollektivs vor dem Individuum gemeint ist),

4. die hinduistische Welt Indiens (mit einer theologisch-dogmatischen Ausrichtung sozialer Schichtenzugehörigkeit im Kastensystem),

5. die buddhistische Welt Südostasiens (mit einer religiösen Betonung der Gemeinschaft vor dem Individuum),

6. der orthodoxe Osten des Christentums (der sich gegenüber dem lateinischen Westen in der Bewertung des Individualismus unterscheidet),

7. die japanische Zivilisation (die sich aufgrund der Insellage historisch bedingt weitgehend als ein kultureller Sonderfall darstellt),

8. die afrikanische Welt (mit ihrer traditionalen Orientierung auf Stammesverbände) und

9. die lateinamerikanische Welt (die sich als Erbe europäischer Kolonialsysteme aufgrund einer hybriden Mischung mit indianischen Ureinwohnern und als Sklaven auf den Kontinent gelangten Afrikanern vom Westen und vom orthodoxen Osten unterscheiden lässt).

Auffällig an dieser Einteilung ist, dass Huntington nur bedingt der Religion als Leitlinie einer Hochkultur folgt. Afrika (südlich der Sahara) und Lateinamerika werden von ihm vielmehr über eine ethnische Klassifikation als Kulturkreise abgegrenzt. Auch China ist nicht durch einen religiösen Kern definiert, sondern durch das ethische Programm des über Jahrhunderte erfolgreich existierenden Konfuzianismus (vgl. auch Paul 2014). Wäre die Religion wirklich der zentrale Indikator, dann hätte die jüdische Kultur mit in die Klassifikation einmünden müssen.

Ganz offensichtlich folgt Huntington vielmehr einem geopolitischen Verständnis, das sich für den Bereich der Zivilisationen an großen Raumordnungskonzepten (also eigentlich an Imperien) orientiert. Nicht zufällig findet die Imperiumsdiskussion über Sinn und Zweck großer Reiche auch etwa zeitgleich zu Huntingtons Modellierung der Zivilisationen statt (vgl. hier u.a. Münkler 2013). Die oben aufgelisteten Zivilisationen umfassen jeweils mehrere nationale Kulturen, nur bei Japan stimmen Staatlichkeit, Nation und Kultur mit dem Zivilisationsbegriff überein. Huntington ordnet den einzelnen Kulturkreisen überdies jeweils ein Machtzentrum zu, von dem quasi die Deutungshoheit über die spezifischen zivilisatorischen Standards ausgeht.

Wenig überrascht in diesem politikwissenschaftlichen Ansatz dann, dass das jeweilige zivilisatorische Machtzentrum zugleich auch über eine hegemoniale In­frastruktur an ökonomischen und militärischen Mitteln verfügt. Für den Westen sind dies die USA, für den orthodoxen Osten ist es Russland mit Moskau in der sakralen Überhöhung als dem »Dritten Rom« (vgl. auch Kozyrev 2011). Peking ist zweifellos das Epizentrum der sinischen Welt und verweist, wenn auch verklausuliert, mit seinem historischen Leitbild vom »Reich der Mitte« auf eine universale Ordnungsvorstellung als Zivi­lisation. Indien ist unstrittig das Zentrum des Hinduismus und Tokio für die japanische Welt. Die übrigen Zivilisationen in diesem System bereiten allerdings massive Ordnungsprobleme. Die anderen Hochkulturen (2, 5, 8 und 9) zeichnen sich in der Gegenwart dadurch aus, dass sie gerade nicht über ein eindeutiges Machtzentrum für den jeweiligen Kulturkreis verfügen, oder aber, dass verschiedene nationale Kulturen (im Sinne von Staaten) sich untereinander in einer massiven Konkurrenz befinden. Das gilt ganz besonders für die islamische Welt, in der Ägypten und Saudi-Arabien, aber auch die Türkei, im Wettbewerb um die Deutungshoheit (zumindest) für die sunnitische Glaubensgemeinschaft rivalisieren, während Teheran für die Schiiten das hegemoniale Zentrum darstellt, damit aber insgesamt auch ein Problem für den islamischen Heilsauftrag anzeigt.

Zivilisationen im Dauerkonflikt?

Für Huntington sind Zivilisationen „die ultimativen menschlichen Stämme, und der Kampf der Kulturen ist ein Stammeskonflikt im Weltmaßstab“ (S. 331). Diese grundsätzlich an einem kriegerischen Format orientierte Sicht auf die Zivilisationen rief auch jenseits ihrer strukturellen Ungenauigkeiten hinsichtlich der schematischen Einteilung massive Kritik hervor (vgl. u.a. Mokre 2000). Dies gilt besonders für die Beurteilung der Rolle des Islam in der globalen Konstellation, wie sie Huntington darstellt. Von allen anderen Zivilisationen hebe sich der Islam gegenüber dem Westen in besonderer Weise ab, weil er die einzige Zivilisation sei, „die das Überleben des Westens hat fraglich erscheinen lassen“ (S. 336). Mit dem historischen Verweis auf die Jahrhunderte währenden Kriege zwischen einem imperialen Islam und einem ebenso imperialen Christentum aus dem lateinischen Westen sieht diese Diagnose den zivilisatorischen Grundkonflikt für das 21. Jahrhundert vorgezeichnet. Denn im Kern geht es hierbei nicht um ökonomische Güter, sondern um kulturelle Bestimmungsmuster, die ihren Ursprung in den sich widersprechenden religiösen Grundauffassungen haben. In der programmatischen Zuspitzung bei Huntington lautet dies Koran versus Menschenrechte bzw. Theokratie versus Demokratie.

Dieses Modell ist jedoch keineswegs islamfeindlich ausgelegt. Huntington ging es darum, ein analytisches Bewusstsein für kulturell kodierte Wertvorstellungen zu schaffen, die ganze Gesellschaftssysteme scheinbar über Nacht in Aufruhr und in eine global betrachtet gefährliche existentielle Konkurrenzsituation bringen können. Angesichts der Terrorformate islamistischer Gruppierungen, die tatsächlich einen Krieg im Weltmaßstab gegen alle Ungläubige propagieren, existiert für diese Deutung eine empirische Plausibilität. Aber Huntingtons Diagnose trifft auch auf alle übrigen Zivilisationen zu. Eine vordergründig geopolitische, letztlich aber kulturell auf Werte bezogene Rivalität besteht im Grundsatz auch zwischen der sinischen und der hinduistischen Welt, ebenso zwischen der hinduistischen und der islamischen.

Diffusion der Zivilisationen

Mit dem diagnostischen Abstand von nunmehr 20 Jahren erweist sich die Programmatik vom »Kampf der Kulturen« einerseits als richtig, was die Bedeutung kultureller Identität angeht, andererseits aber auch als zu schematisch, was die ordnungspolitischen Raumzuweisungen betrifft.

Tatsächlich ist der »Clash« nicht notwendigerweise ein Kampf, sondern eher durch das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Wertvorstellungen gekennzeichnet. Diese Konfrontation ergibt sich in der globalisierten Welt nicht nur zwischen den Zivilisationen, sondern als Konfliktkonstellation auch innerhalb der Zivilisationen selbst. Zum einen ist der jeweilige ordnungspolitische Zivilisationsraum hegemonial nicht eindeutig, zum anderen ergeben sich genau daraus Überlappungen, Verschiebungen und Verschmelzungen zwischen den Zivilisationen in Bezug auf ihre scheinbar festgefügten Wertepräferenzen. Der Kollektivismus, der sich im Wertekern von Zivilisationen andeutet, wird zugleich durch den Individualismus, der mit den technischen Möglichkeiten der Globalisierung einhergeht, relativiert bzw. verändert (Nitschke 2014b). Insofern ist heute eher die Diffusion der Zivilisationen das vorherrschende Erscheinungsbild auf der Welt.

Literatur

Huntington, S.P. (1993): The Clash of Civilizations? Foreign Affairs, Vol. 72, No. 3 (Summer), S. 22-49

Huntington, S.P. (1996); The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon & Schuster. Deutsche Ausgabe 1996: Kampf der Kulturen – Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Europa-Verlag; die Zitate in diesem Artikel wurden der 7. Auflage von 2002 (Goldmann-Verlag) entnommen.

Kozyrev, I. (2011): Moskau – das dritte Rom. Eine politische Theorie mit ihren Auswirkungen auf die Identität der Russen und die russische Politik. Göttingen: Cuvillier.

Mokre, M. (Hrsg.) (2000): Imaginierte Kulturen – reale Kämpfe. Annotationen zu Huntingtons »Kampf der Kulturen«. Baden-Baden: Nomos.

Münkler, H. (2013): Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Köln: Anaconda.

Nitschke, P. (2014a): Zivilisationskonflikte – Samuel P. Huntingtons »Clash of Civilizations« in der Retroperspektive. In: Nitschke, P. (Hrsg.): Der Prozess der Zivilisationen – 20 Jahre nach Huntington. Analysen für das 21. Jahrhundert. Berlin: Frank & Timme, S. 13-44.

Nitschke, P. (2014b): Formate der Globalisierung – Über die Gleichzeitigkeit des Ungleichen. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2. aktualisierte u. erweiterte Ausgabe.

Paul, G. (2014): Konfuzianismus im 21. Jahrhundert und Huntingtons These vom »Clash of Civilizations«. In: Nitschke, P. (Hrsg.): Der Prozess der Zivilisationen – 20 Jahre nach Huntington. Analysen für das 21. Jahrhundert. Berlin: Frank &Timme, S. 253-281.

Spengler, O. (2007): Der Untergang des Abendlandes – Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Düsseldorf: Albatros.

Toynbee, A. J. (1970): Der Gang der Weltgeschichte – Aufstieg und Verfall der Kulturen, 2 Bde. München: dtv.

Prof. Dr. Peter Nitschke lehrt Politikwissenschaft an der Universität Vechta.

Weltordnungskriege im Ost-West-Konflikt?

Weltordnungskriege im Ost-West-Konflikt?

von Jost Dülffer

Kommunismus versus Kapitalismus oder Demokratie versus Diktatur? Wenn das die einzigen Ordnungsmuster der Weltpolitik über fast fünfzig Jahre gewesen wären, könnte man sich den folgenden Beitrag sparen. Gezeigt werden soll vielmehr, dass Kriege dieser Zeit (und danach) komplexeren Mustern auf mehreren Ebenen folgten. Nur so kann man zu annähernd hinreichenden Erklärungen kommen.

Der »Kalte Krieg« wurde im Laufe der Jahre zunehmend zum globalen Krieg. Er machte sich nicht nur im Norden, sondern auch im Globalen Süden in allen Bereichen von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur bemerkbar. Die Entwicklungen, deren Dynamiken durch die bipolare Konfliktordnung des Kalten Krieges überlagert und bisweilen erst auf Dauer gestellt wurden, wiesen aber auch eine eigene lokale und regionale Logik auf, und zwar keineswegs nur im Globalen Süden. Dies traf bereits seit den imperialen Eroberungen des 19. Jahrhunderts zu, galt aber auch für die Dekolonisation nach den beiden Weltkriegen.

Eine längerfristige Sicht auf die regionalen Konflikte im 20. Jahrhundert könnte lohnend sein, die diese genuinen und z.T. verdeckt gehaltenen Strukturen internationaler Subsysteme in den Blick nimmt und damit auch die Möglichkeit schafft, die in den letzten Jahrzehnten wichtig gewordenen Konflikte und Kriege als neue Erscheinung älterer Problemlagen zu erkennen. Es könnte sein, dass die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die einen entscheidenden Ausgangspunkt und Austragungsort in Europa hatten, so in längerer Perspektive weniger wichtig erscheinen und den bislang üblichen Blick von der nördlichen Halbkugel in den Süden verschieben.

Die beiden Weltführungsmächte USA und Sowjetunion und ihre Verbündeten trafen 1945 nur als Folge des sonst nicht zu stoppenden deutschen Hegemonial- und Rassenkrieges mitten in Europa aufeinander und schufen so die Voraussetzungen für die Entwicklung zum Kalten Krieg. Dieser Ost-West-Konflikt führte zur Bildung zweier Integrationsblöcke mit sehr unterschiedlichen Strukturen: „Das eine Imperium […] entstand durch Einladung, das andere durch Auferlegung“, formulierte John Lewis Gaddis.1 Zugleich luden beide Seiten mit zumindest propagandistischer moralischer Disqualifikation die jeweils andere Seite als »Reich des Bösen« auf – nicht erst durch Ronald Reagan.

Ich ziehe es vor, diese jahrzehntelange Auseinandersetzung (die sich, wenn auch in gewandelter Form, nach 1991 weiter beobachten lässt) als »Ost-West-Konflikt« zu bezeichnen, weil so dessen Intensivphasen mit dem Eindruck hoher Kriegsgefahr deutlicher hervortreten. Er beschränkte sich nicht auf Europa, sondern erstreckte sich von Beginn an auch auf Südost- und Ostasien (z.B. Indochina); in diesem Rahmen gab es etliche heiße Konflikte. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass zu einer Zeit, als man einen großen Krieg befürchtete, die eigentlichen »Kalten Kriege« an anderer Stelle stattfanden. Sie umfassten die Berlin-Blockade und den Koreakrieg 1948 bis 1951 – letzterer ein »heißer Krieg«, der auf Europa überzugreifen drohte –, die Berlin- und Kuba-Krisen 1959-1962 sowie die »Nachrüstungskrise« zwischen 1979 und 1984.2

Der Ost-West-Konflikt

Worum ging es im Ost-West-Konflikt, der von zahlreichen interpendenten Konfliktfeldern auf den Achsen Ost-West und Nord-Süd durchzogen war? Es war sicher ein ideologischer Konflikt, er lässt sich aber nicht darauf reduzieren. Umfassendere Interpretationen3 betonen zwei Modernisierungsstrategien, die sich in Ost und West verschiedener Methoden des Werbens und der aggressiven Ausbreitung bedienten. Fasst man unter die Ausbreitung auch Bereiche wie Wirtschaft, Kultur, Technologie und vor allem die militärische Aufrüstung, lässt sich annähernd das gesamte (in sich pluralistische) Muster von Lebensweisen erfassen.

Weitere Differenzierungen sind angebracht, um den vielschichtigen, ordnungsrelevanten Konfliktlagen näher zu kommen. Erstens verfolgte die Länder des »Westens«, voran die USA, das umfassende Ziel, die Weltwirtschaft zu rekonstruieren und zum eigenen Vorteil zu organisieren. Aber das multinationale Wirtschafts- und Finanzsystem, das immer stärker die globalen Strukturen der Welt bestimmte, wurde nur noch bedingt durch staatliche Institutionen gestaltet oder gar kontrolliert.4 Transnationalität auch zivilgesellschaftlicher Provenienz entwickelte sich quer zu den bisherigen staatlichen Ordnungen, wurde aber auch zum Vehikel der Durchdringung von »Zweiter« und »Dritter Welt« durch die »Erste«.5 Zweitens waren die USA und die Sowjetunion zwar die entscheidenden internationalen Mächte, im Westen gab es aber mit den ehemaligen Kolonialmächten, allen voran Großbritannien und Frankreich, zwei Subzentren, die sich – zumal in Fragen der Dekolonisierung – nur mühsam den tendenziell antikolonialen USA unterordneten. Die Sowjetunion wiederum hatte seit den späten 1950er Jahren mit der massiven Konkurrenz der Volksrepublik China zu rechnen, die sich seither in allen regionalen Konflikten des Südens bemerkbar machte. Die relative Autonomie der Regionalmächte zeigte sich schon bei den Konflikten um Griechenland und Jugoslawien 1944 bis 1949.

Daher muss man bei vielen Konflikten, die nach 1945 zu Kriegen führten, die verschiedenen Akteure auf unterschiedlichen Ebenen und ihr Verhältnis zueinander berücksichtigen. Dazu zählten neben lokalen, ggf. ethnischen Gruppen, vor Ort auch Nachbarländer in der jeweiligen Region mit eigenen Führungsansprüchen und bisweilen auch die weltpolitischen Ordnungsmächte.6 Einer seriösen Forschung zum Ost-West-Konflikt sollte es also darum gehen, Konflikte und Kriege in einem Mehrebenensystem7 zu verorten und die darin enthaltenen divergenten Binnenlogiken in den Blick zu nehmen.

Verlagerung der Konflikte in den Globalen Süden

Im Ost-West-Konflikt fanden konventionelle Kriege ganz überwiegend im Globalen Süden statt, wobei zwischenstaatliche und innerstaatliche Kriegsformen sehr häufig ineinander übergingen.8 Zwischen 1945 und 1990 gab es etwa 20 Millionen kriegsbedingte Tote, 99 % davon in der »Dritten Welt«.9 Der Globale Norden – von »nur« ca. 200.000 Kriegsverlusten betroffen – muss im Vergleich damit als relativ friedlich gelten Die Gründe lassen sich hier nur anreißen: Die Teilung Europas entwickelte sich langsam, in der Regel situativ und ungeplant. Auf der einen Seite gab es die Tendenz, die auch nach 1945 weiter bestehenden lokalen und europäischen Gewaltkonflikte im Osten der Sowjetunion zu überlassen.10 So ließ der Westen die Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR 1953 zu und entlarvte die noch im US-Wahlkampf 1952 vertretene Politik des »Roll back«, der Befreiung, als Illusion. Diese Akzeptanz der militärischen Herrschaftssicherung im gegnerischen Block setzte sich 1956 in Ungarn/Polen und 1968 in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) fort, führte jedoch bereits 1980/81 nicht mehr zur militärischen Niederschlagung der polnischen Solidarnosc-Bewegung.

Was sich schon im Zweiten Weltkrieg abgezeichnet hatte und von Winston Churchill und Josef Stalin informell anerkannt worden war, nämlich die Abgrenzung von Interessensphären, sicherte letztlich den Frieden in Europa. Am Verhandlungstisch wurden Entscheidungen getroffen, die einen weiteren großen Krieg nach den Verlusten des Zweiten Weltkrieges verhinderten. Spätestens mit dem atomaren Patt der frühen 1960er Jahre stabilisierte die Gefahr eines bewusst herbeigeführten Nuklearkrieges auf beiden Seiten den weiter aggressiv aufgeladenen Konflikt. Das war die europäische Ordnung des Kalten Krieges, die kriegsvermeidend wirkte.11 Weder die Sowjetunion noch die USA akzeptierten jedoch Parität im rüstungstechnischen Sinne, was ein groteskes Wettrüsten mit Trägersystemen und nuklearen Sprengköpfen zur Folge hatte; sie beachteten aber den territorialen Status quo.12 Die USA und die Sowjetunion machten Politik unter der Prämisse, dass ein notwendig eskalierender Nuklearkrieg nicht zu führen sei, drohten dennoch wiederholt verbal, zumal in der Doppelbeschlusskrise der 1980er Jahre, mit Krieg, was mehrmals zu fast fatalen Fehlinterpretationen führte. Die Methoden der Auseinandersetzung blieben daher auf die – im Osten und Westen je andere – Subversion und medial-kulturelle Einflussnahme beschränkt; es war aber gerade die westliche, auch an Menschenrechten orientierte Informations- und Kulturpolitik, die nachhaltig subversiv wirkte.

Die drohenden und akuten Kriege selbst verlagerten sich seit den 1950er Jahren stärker in die »Dritte Welt«. Dieser Terminus – ursprünglich einer des Aufbruchs13 – entwickelte sich bis heute zur Metapher für Abhängigkeit, Zerstörung und fortgesetzte Ausbeutung. Die Modernisierungsstrategien der »Ersten« und »Zweiten Welt« konkurrierten nun auch in diesen »Entwicklungsländern«, die geographisch nur zum Teil in der südlichen Hemisphäre liegen. Hier waren die Kalte-Kriegs-Imperien nicht schroff voneinander abgegrenzt, und hier engagierte sich die Sowjetunion wesentlich häufiger als im Norden »durch Einladung«, die USA stärker »durch Auferlegung«. Die USA, teilweise in Kooperation, häufig aber auch in Konkurrenz zu den (vormaligen) Kolonialmächten bzw. in deren Nachfolge, hatten sich zugleich mit ihrem Bestreben, die Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg wieder anzukurbeln und sich Rohstoffquellen, vor allem Öl, zu erschließen, frühzeitig zum Aufbau eines Kranzes von maritimen Stützpunkten entschlossen, die ihnen starke Positionsvorteile einbrachten.14 Die Sowjetunion konnte sich demgegenüber auf in ihrem Sozialismus angelegte antiimperialistische Strategien stützen, die in der Dekolonisierung zum Wettbewerb mit der westlich-demokratischen Unterstützung (post-) kolonialer Eliten führte.

Es gab nur einen Krieg, in dem die Sowjetunion und die USA zwar unabhängig voneinander, aber unisono die antiimperialistische Karte zogen: Das war der 1956 von Frankreich, Großbritannien und Israel angezettelte Suezkrieg gegen Ägypten. Bei einem anderen, dem indisch-pakistanischen Krieg von 1966, agierte die Sowjetunion gar als von den USA erwünschter Friedensvermittler.15

Zumeist waren Konflikte weitaus antagonistischer. Sie begannen 1946 um den Iran oder die türkischen Meerengen und eskalierten erstmals im Koreakrieg 1950 bis 1953. Schon hier kann man kaum von einem »Stellvertreterkrieg« oder einem Krieg um die Weltordnung sprechen, andernfalls müsste der geographisch-hegemoniale Aspekt stärker betont werden. Der Koreakrieg hatte mehrfache Ursachen. So etablierten die beiden Großmächte nach 1945 zunächst sowjet- bzw. US-freundliche Machthaber im Norden bzw. Süden der Halbinsel, deren Alleinvertretungsanspruch von den Führungsmächten zunächst im Zaum gehalten wurde. Erst nach dem Sieg Mao Zedongs im chinesischen Bürgerkrieg 1949 erhielt der nordkoreanischen Präsident Kim Il-sung die sowjetische und zugleich die chinesische Unterstützung. Das war der Punkt, als die USA primär aus geostrategischen Gründen intervenierten und mit einem Mandat der Vereinten Nationen eine große »Koalition der Willigen« zustande brachten.16 Der hier und später noch oft gebrauchte Begriff des »Stellvertreterkrieges« trifft den Kriegsanlass und -grund nur unzureichend. Vielmehr müsste der geographisch-hegemoniale Aspekt stärker betont werden, wenn man von einem Ordnungskrieg sprechen will. Die USA erwogen in Korea mehrfach den Einsatz von Atomwaffen, stimmten aber letzlich im Juli 1953 einem ( bis heute anhaltender) Waffenstillstand auf der territorialen Basis der damaligen Kampflinien zu.

Lösungen nach Kriegen

Nach drei wichtigen kriegerischen Konflikten mit nachfolgender Teilung der Länder zeigten sich unterschiedliche nationale Friedenslösungen.

1. In Korea überdauerte die Existenz zweier Staaten das Ende des bisherigen Ost-West-Konflikts auch deshalb, weil die Volksrepublik China ein Interesse an der Stützung der spätkommunistischen Diktatur bewahrte. China hatte sich von einer weltrevolutionären Führungsmacht zu einer politisch-militärischen Weltmacht entwickelt, welche sich in den regionalen wie generellen Konflikten der Gegenwart auch als Militärmacht artikuliert. Ebenso wichtig wie dieser regionale Rahmen erscheint die Etablierung zweier sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Organisationsformen, von denen sich der Norden seither mit offenen, auch nuklearen, Kriegsrüstungen und -drohungen seiner Existenz versichert.

2. In der deutschen Frage, an der gefährlichsten Nahtstelle des Kalten Krieges angesiedelt und mit einer sonst kaum erreichten Militärdichte in beiden deutschen Staaten, fiel mit dem Entzug der sowjetischen Unterstützung und damit der Preisgabe eines wesentlichen Elements bisherigen hegemonialen Einflusses in Osteuropa die Teilung weg und führte zur Vereinigung von 1990 mit den bekannten Folgen bis heute.

3. In Indochina erlangte Frankreich 1945 seine Kolonialherrschaft militärisch zurück, konnte sich jedoch trotz US-Hilfe nicht überall im Lande durchsetzen, sodass das Land nach der französischen militärischen Niederlage von 1954 bis 1975 in Vietnam geteilt war (daneben gehören Laos und Kambodscha zu Indochina). Trotz des Pariser Friedensvertrages von 1973 mussten sich die USA zwei Jahre später schmachvoller als zuvor bereits die Franzosen geschlagen geben. Das war singulär und führte zur Wiedervereinigung beider Teile Vietnams. Der Vietnamkrieg folgte der Logik nationaler Befreiungskriege und wurde, obwohl von der Sowjetunion und der Volksrepublik China unterstützt, entscheidend von der Regionalmacht selbst gegen das US-geführte Bündnis gewonnen.17 Nach einigen regionalen Anschlusskriegen zur Erlangung eine regionalen Machtbalance konsolidierte sich das vom Norden her vereinigte Vietnam, das inzwischen guten Austausch mit dem Westen pflegt.

Die Entwicklung dieser drei durch Krieg geteilten Staaten gibt also drei unterschiedliche Verlaufsformen wieder: erstens eine andauernde feindliche Teilung, zweitens den friedlichen Kollaps einer Seite und drittens einen siegreichen Vereinigungskrieg. Man wird daher nicht von einer »Ordnung« des Kalten Krieges sprechen können.

Gegenüber der »Dritten Welt« verfolgten Westen und Osten unterschiedliche Entwicklungspfade, die sie z.T. militärisch unterstützten. Gerade die USA ließen sich dabei von einer Strategie der Glaubwürdigkeit tragen und intervenierten bisweilen nur, um künftige Vorteile der Gegenseite auszuschließen. Die von der Eisenhower-Administration für Südostasien entwickelte Domino-Theorie bildete ein Modell, das angesichts einer weltweit wahrgenommenen kommunistischen Gefahr auf viele Konflikte übertragen wurde. Auf sowjetischer Seite gab es bisweilen ähnliche Perzeptionen18 oder zumindest verbreitete sie propagandistisch Feindbilder von US-imperialistischen Verschwörungen, die bis zu einem bedrohlichen westdeutschen Neofaschismus reichten. Das sowjetische Äquivalent für die US-Niederlage in Vietnam wurde der Afghanistankrieg von 1979 bis 1989. Er wurde von Moskau nicht als Expansionskrieg für eigenen Einfluss und Ordnung geführt, sondern aus einer grundsätzlich defensiven Position, um nicht jeden Einfluss in der Region zu verlieren – mit dem bekannten negativen Resultat.19

Befreiungs- und Staatenbildungskriege im Globalen Süden

Die Kriege im Globalen Süden waren in der Zeit des Ost-West-Konflikts zumeist Befreiungs- und postkoloniale Staatsbildungskriege. Die USA wie die Sowjetunion boten den vielfach europäisch sozialisierten Eliten mit der Berufung auf liberalkapitalistische oder sozialrevolutionäre Ansätze einen Referenzrahmen für eigene politische Programme, die ihrerseits dazu dienten, die jeweilige Unterstützung der Supermächte in regionalen Kriegen zu erlangen. Walt W. Rostows »Stages of Economic Growth« von 1960 trug bereits den Untertitel »An Anticommunist Manifesto«. Er konstruierte im Hinblick auf die »Dritte Welt« fünf Stufen normativ gedachter Entwicklung im westlichen Sinn bis hin zum sich selbst tragenden Wachstum. Rostow stieg in den späten 1960er Jahren im politischen Apparat bis zum Nationalen Sicherheitsberater der Vereinigten Staaten auf, seine »ordnende« Blaupause scheiterte aber schon in ihren Ansätzen bei den Aufbauprogrammen für Vietnam, die – da von Anfang an militärisch begleitet – die USA letztlich in den Krieg schlittern ließen.20

Tatsächlich verlief die Konkurrenz der zwei von den Weltmächten betriebenen Entwicklungspfade chaotisch, gewaltförmig und letztlich kontraproduktiv für ihre jeweiligen Ziele. Wie der Krieg um die Unabhängigkeit des Belgischen Kongo zeigte, reichte noch 1960/61 die sowjetische militärische Unterstützung der Regierung Lumumba nicht zu deren Absicherung, was die Ermordung Lumumbas im belgischen Interesse mit CIA-Unterstützung ermöglichte. Danach und vor allem seit den 1970er Jahren intensivierte sich aber das sowjetische Engagement in afrikanischen Kriegen von der Unterstützung in Stellvertreterkriegen bis hin zu direktem militärischem Eingreifen.

Am Horn von Afrika sowie in Mo­zambique und Angola wurden Kriege unterschiedlicher Befreiungsbewegungen von der Sowjetunion wie vom Westen auch militärisch durch Berater, Geld und Soldaten unterstützt. Bei der jeweils durchaus vorhandenen Absicht, die soziale Lage der Bevölkerung zu verbessern, ging es primär um die Ausweitung des Einflusses, nicht um territoriale Gewinne.21 Hinzu kam, dass sich die Volksrepublik China z.B. in Angola seit den 1970er Jahren gegen die Sowjetunion militärisch positionierte. Da die USA unter der Reagan-Administration intensiver gegen den sowjetischen Einfluss überall auf der Welt vorgingen, nahmen besonders die afrikanischen Kriege an Zerstörungskraft zu. „Es sieht so aus, dass Afrika unter dem hohen geopolitischen Einsatz der Supermächte und ihrer ideologischen Konfrontation gegen Ende des Kalten Krieges schwere Kollateralschäden erleiden musste.“ 22 Das scheint mir jedoch eine Beschreibung zu sein, die eher für die in Kauf genommenen Folgen als für die gezielten Absichten der Sowjetunion23 und/oder der USA galten.

Sicherung der Einflusssphären

Ein »grand design« zur Ausbreitung der eigenen Ordnungen durch Krieg spielte eine geringere Rolle als das Bestreben, nur nicht an Einfluss zu verlieren, gestützt durch den Glauben an die je eigene welthistorische Überlegenheit und ökonomische Interessen. Dabei gerieten die Supermächte häufig in ein regionales Machtsystem, das sie mit ihrem militärischen Führungsanspruch zu überwinden oder doch zumindest nach dem eigenem Sieg von der Sinnhaftigkeit von Krieg zu überzeugen hofften. Das ging und geht bis heute fast immer schief – unter den krachenden Misserfolgen der G.W. Bush-Administration zur Etablierung einer solchen Ordnung24 leidet nicht nur der Mittlere Osten bis heute.

Anmerkungen

1) Gaddis, J.L. (1997): We Now Know – Rethinking Cold War History. Oxford: Oxford University Press, S. 52.

2) Dülffer, J. (2004): Europa im Ost-West-Konflikt 1945-1991. München: Oldenbourg.

3) Westad, O.A. (2005): The Global Cold War – Third World Interventions and the Making of Our Time. Cambridge: Cambridge University Press. Auch insgesamt im Folgenden zum Globalen Süden.

4) Ferguson, N. et al. (ed.) (2011): The Shock of the Global – The 1970ies in Perspective. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

5) Iriye, A. et al. (2012): The Human Rights Revolution – An International History. Oxford: Oxford University Press.
ders.; Osterhammel, J. (Hrsg.) (2013): Geschichte der Welt 1945 bis heute – Die globalisierte Welt. München: C.H. Beck.

6) Für andere Zeiten entwickelt bei: Dülffer, J. u. a. (1986): Inseln als Brennpunkte internationaler Politik – Konfliktbewältigung im Wandel des internationalen Systems 1890-1984: Kreta, Korfu, Zypern. Köln: Wissenschaft und Politik.

7) Damit ist etwas anderes als das viel diskutierte Mehrebenensystem der europäischen Integration gemeint.

8) Typisierungen m Anschluss an Istvan Kende: Gantzel, K.J.; Schwinghammer, T. (1995): Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg 1945-1992 – Daten und Tendenzen. Münster: LIT.

9) Painter, D.S. (1995): Explaining U.S. Relations with the Third World. In: Diplomatic History 19, Nr. 3, S. 525-548, hier S. 525.

10) Lowe, K. (2014): Der wilde Kontinent – Europa in den Jahren der Anarchie 1943-1950. Stuttgart: Klett-Cotta.

11) Das ist der Sinn des Titels von Gaddis, J.L. (1987): The Long Peace – Inquiries in the History of the Cold War. Oxford: Oxford University Press.

12) Maddock, S. (2010): Nuclear Apartheid – The Quest for American Atomic Supremacy from World War II to the Present. Chapel Hill: The University of North Carolina Press.

13) Dinkel, J. (2015): Die Bewegung Bündnisfreier Staaten – Genese, Organisation und Politik (1927–1992). Berlin/München/Boston: De Gruyter Oldenbourg.

14) Leffler, M.P. (1991): A Preponderance of Power – National Security, the Truman Administration and the Cold War. Stanford: Stanford University Press.
Als Einstieg zu Öl u.a.: Painter, D.S. (2010): Oil, Resources and the Cold War, 1945-1962. In: Leffler, M.P.; Westad, O.A. (eds.): The Cambridge History of the Cold War. Cambridge: Cambridge University Press, 3 Bände, hier I, S. 486-507.

15) Dülffer, J. (2006): »Self-sustained conflict« – Systemerhaltung und Friedensmöglichkeiten im Ost-West-Konflikt 1945-1991. In: Hauswedell, C. (Hrsg.): Deeskalation von Gewaltkonflikten seit 1945. Essen: Klartext, S. 33-60; für den indisch-pakistanischen Krieg S. 55-59.

16) Stueck, W.S. (2002): Rethinking the Korean War – A New Diplomatic and Strategic History. Princeton: Princeton University Press.

17) Frey, M. (2004): Die Geschichte des Vietnamkrieges. München: C.H. Beck, 7. Auflage.

18) Hilger, A. (Hrsg.) (2009): Die Sowjetunion und die Dritte Welt – UdSSR, Staatssozialismus und Antikolonialismus im Kalten Krieg 1945–1991. München: De Gruyter Oldenbourg.

19) Kalinovsky, A. (2011): A Long Goodbye – The Soviet Withdrawal from Afghanistan. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

20) Rostow, W.W. (1960): The Stages of Economic Growth – An Anticommunist Manifesto. Cambridge, Mass.: Cambridge University Press.

21) Westad, O.A. (Fußnote 4), S. 5.

22) Byrne, J.J. (2013): Africa’s Cold War. In: Robert McMahon (ed.) (2013): The Cold War in the Third World. Oxford: Oxford University Press, S. 101-123, hier S. 115.

23) Hilger, A. (Fußnote 18).

24) The White House (2002/2006): The National Security Stategy of the United States of America. Washington, D.C.

Prof. Dr. Jost Dülffer lehrte als Professor für Internationale Geschichte und Historische Friedens-und Konfliktforschung an der Universität zu Köln.

Der Autor dankt Claudia Kemper und Gottfried Niedhart für anregende Diskussionen zu diesem Beitrag.

Imaginierte Ordnungen mit Konfliktpotential

Imaginierte Ordnungen mit Konfliktpotential

von Malte Lühmann

Beim Blick auf die aktuelle Weltlage scheint vielerorts Chaos zu herrschen. Auf der einen Seite sind in zahlreichen Ländern (Bürger-) Kriege und bewaffnete Konflikte an der Tagesordnung. Als zurzeit seltener zitierte Beispiele seien nur Südsudan, Mali, Libyen, ­Afghanistan oder auch Mexiko genannt. Auf der anderen Seite nehmen wir eine verschärfte Konfrontation zwischen Großmächten, wie der NATO und Russland in der Ukraine, Osteuropa und in Syrien oder zwischen China und den USA im Südchinesischen Meer, wahr. Diese Konfrontationen gehen mit einer massiven Aufrüstungswelle einher, die nicht zuletzt in Deutschland und der EU steigende Militäretats und wachsende Zerstörungspotentiale bedeutet. All diese Konflikte werden in der interessierten Öffentlichkeit und auch in dieser Zeitschrift diskutiert. Dabei stehen in jedem Einzelfall zunächst konkrete Akteurs­konstellationen und Interessenlagen im Vordergrund. Zuweilen werden aber auch größere Zusammenhänge angedeutet, etwa wenn von den geopolitischen Interessen Frankreichs in Mali die Rede ist oder vom US-amerikanischen Vorherrschaftsanspruch im Nahen und Mittleren Osten. Und auch die politischen Protagonist*innen selbst betonen größere weltpolitische Dimensionen ihres Handels, etwa wenn Bundespräsident Gauck von der Verantwortung Deutschlands in der Welt spricht.

Was hier angedeutet wird, ist eine grundlegende Dimension vieler Konflikte, die auf unterschiedlichen Vorstellungen der beteiligten Parteien darüber beruht, wie die Welt als Ensemble von Gesellschaften oder Staaten eingerichtet ist und insbesondere, wie sie eingerichtet sein sollte. Mit anderen Worten spielen neben den oft genannten unmittelbaren Interessen – vom persönlichen Machterhalt bis zur Kontrolle bestimmter Rohstoffe – und anderen Faktoren oft auch unterschiedliche Weltordnungskonzepte, die dem Handeln beteiligter Akteure zugrunde liegen, eine Rolle für den Verlauf von Konflikten. Darüber hinaus haben neben den imaginierten auch die real existierenden Machtstrukturen der aktuellen Weltordnung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Konflikte und auf die Chancen für Frieden.

In der aktuellen Situation ist der Blick auf Konzepte der Weltordnung gerade im Zusammenspiel mit den real existierenden globalen Machtstrukturen interessant, denn diese sind immer weniger eindeutig von der vorübergehend einzigen Supermacht USA bestimmt. Der Aufstieg Chinas und anderer Schwellenländer zu gestaltenden Kräften der globalen Ökonomie und das wachsende Unvermögen der USA, Europas und ihrer Verbündeten, für »Stabilität« in der Peripherie zu sorgen, sind hierfür deutliche Zeichen. Im Rahmen dieser neuen Verhältnisse spielen auch konkurrierende Weltordnungskonzepte eine wichtige Rolle. Während die im Wandel begriffenen Strukturen der Weltordnung regelmäßig in W&F thematisiert werden, haben wir daher in diesem Heft schwerpunktmäßig Beiträge versammelt, die sich mit den teils widerstreitenden Weltordnungskonzepten und ihrer Rolle für die Frage von Krieg und Frieden befassen. Diese Perspektive mag zuweilen etwas abstrakt erscheinen. Sie kann aber gerade dadurch hilfreich sein, um zumindest gedanklich etwas Ordnung in das eingangs angesprochene weltpolitische Chaos zu bringen.

Auf der theoretischen Ebene gibt Hans-Jürgen Bieling einen Überblick zu aktuellen politischen und (politik-) wissenschaftlichen Debatten rund um das Thema Weltordnungen. Ingar Solty stellt ergänzend zu diesem Überblick die aktuelle Situation der Weltordnung und die Rolle der USA darin dar. Weitere konkrete Analysen vergangener und bestehender Weltordnungen liefern Jost Dülffer in seiner Diskussion des Charakters von Stellvertreter- oder Weltordnungskriegen im Rahmen des Ost-West-Konflikts und Jenny Simon, die sich mit der Rolle Chinas als gestaltender Macht in der Welt auseinandersetzt. Auf begrenzterem Terrain bewegt sich die Untersuchung der Münchner Sicherheitskonferenz und ihrer Funktion zur Weiterentwicklung herrschender Weltordnungskonzepte von Thomas Mohr. Alan Schink analysiert in seinem Text über die Bedeutung der »Neuen Weltordnung« für Verschwörungstheorien und Bewegungsideologien eine andere Sphäre, in der Weltordnungskonzepte direkt politisch wirksam sind. Von der Darstellung des Bestehenden lösen sich Christiane Fröhlich und Regina Heller, wenn sie Überlegungen dazu anstellen, wie die ramponierte Idee einer liberalen Friedensordnung gerettet werden könnte. Das Potential für eine friedliche Weltordnung im Austausch zwischen Kulturen verteidigt Peter Nitschke in seiner Relativierung der weit verbreiteten These von Samuel Huntington über den »Kampf der Kulturen«. Einen utopischen Ansatzpunkt in diese Richtung diskutiert schließlich Dirk Hannemann in seiner Auseinandersetzung mit der Idee eines Weltstaates.

Ihr Malte Lühmann

Weltordnungsdebatten

Weltordnungsdebatten

Theorien und Zeitdiagnosen

von Hans-Jürgen Bieling

Phasen der Krise oder des Umbruchs stimulieren das Verlangen nach zeitdiagnostischer Zuspitzung. Sie stiftet Sinn, gibt Orientierung und zugleich Anleitung zum politischen Handeln unter Bedingungen der Verunsicherung. Viele Zeitdiagnosen beziehen sich in erster Linie auf gesellschaftliche Veränderungen, haben mithin vor allem soziologischen Charakter. Nicht selten rücken aber auch die inter- und transnationalen Beziehungen, d.h. die erschütterten Verhältnisse im europäischen und globalen Raum, in den Blick. Hierauf bezogen untersuchen Sozialwissenschaftler die Ursachen und Verlaufsformen des internationalen Wandels und unterbreiten spezifische Zeitdiagnosen. Diese adressieren die Entwicklungsperspektiven und das Machtpotenzial einzelner Akteure oder Akteursgruppen, aber auch insgesamt den Charakter regionaler oder globaler Ordnungsstrukturen, also der Weltordnung.

In der Vergangenheit kreisten die Diskussionen häufig um die Frage, ob und in welchem Maße sich die USA als westliche hegemoniale Ordnungsmacht im relativen Abstieg befänden. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus und der Auflösung der bipolaren Weltordnung ging es darum, den erneuten Machtzuwachs des Westens, insbesondere der USA, – der amerikanische Wissenschaftler Charles Krauthammer (1989) sprach vom „unipolar moment“ – auf seine Tragfähigkeit abzuklopfen (Deppe 1991; Arrighi und Silver 1999). Die öffentlich-mediale Debatte neigte dabei nicht selten zu starken Vereinfachungen. So verkündete Francis Fukuyama (1989) das „Ende der Geschichte“, also den unwiderruflichen Siegeszug der globalen Marktwirtschaft und der liberalen Demokratie, um als Kontrastprogramm nur wenige Zeit später von Samuel Huntington (1993) den Clash of Civilizations“ entgegengehalten zu bekommen.

Die politökonomische Weltordnungsdiskussion war dagegen differenzierter angelegt, nicht zuletzt deswegen, weil sie den Blick nicht allein auf den Wandel macht- und sicherheitspolitischer oder ideologisch-diskursiver Konstellationen lenkte. Vielmehr versuchte sie, diese Konstellationen innerhalb des Beziehungsgeflechts längerfristiger ökonomischer, sozialstruktureller, soziokultureller und politisch-soziologischer Prozesse zu verorten und als Dimensionen des ungleich globalisierten – durch alte und neue soziale, ökologische und friedenspolitische Widersprüche und Interessengegensätze charakterisierten – Kapitalismus zu begreifen.

Denkschulen und ihr Verständnis von Weltordnung

Die akademische Diskussion ist sehr stark durch die Konkurrenz zweier prominenter Denkschulen geprägt: des liberalen Internationalismus oder der idealistischen Schule auf der einen Seite und des Realismus auf der anderen. Beiden Denkschulen liegt jeweils eine eigentümliche Ontologie, d.h. ein Ensemble von Annahmen über die politische Beschaffenheit der Welt, zugrunde, die überzeitliche, aber auch historisch spezifische Komponenten enthält. Zum Zwecke der allgemeinen Orientierung lassen sich die Grundaussagen der genannten Denkschulen oder Paradigmen wie folgt zusammenfassen (vgl. Krell 2009, S. 140 ff.):

Die realistische Schule geht davon aus, dass die Weltordnung angesichts des Fehlens eines Weltstaates oder einer globalen politischen Autorität einem Hobbes’schen Universum gleicht, also durch ein grundsätzlich anarchisches internationales Staatensystem gekennzeichnet ist. Unter den Bedingungen der internationalen Anarchie sind die Nationalstaaten als die zentralen politischen Akteure vor allem darauf bedacht, ihre relative ökonomische und militärische Macht gegenüber konkurrierenden Staaten zu stärken, um zugleich ihre Unsicherheit und Verwundbarkeit zu minimieren. Wie sie diese Ziele angehen, ist maßgeblich durch ihre Position im Staatensystem bestimmt. Während mächtige Staaten aktiv bestrebt sind, internationale Allianzen zu formen (Balancing), um innerhalb der bestehenden Anarchie die Spielregeln der Weltordnung im eigenen Interesse zu gestalten, bleibt schwächeren Staaten zumeist nur die Option, sich den stärkeren Partnern anzuschließen (Bandwaggoning).

Im Unterschied zum Realismus richtet die idealistische Schule oder der liberale Internationalismus den Blick auf die gesellschaftlichen und internationalen Strukturen der Interdependenz und Kooperation. Das Handeln der staatlichen Akteure ist demzufolge nicht einfach durch die internationale Anarchie, sondern zugleich durch gesellschaftliche Kooperations- und Kommunikationsformen und die Prozesse der grenzüberschreitenden ökonomischen, politisch-institutionellen und rechtlichen Verflechtung bestimmt. Innerhalb der Weltordnung entfalten sich mithin vielfältige Interaktionen, die über die realistische Handlungslogik eines Nullsummenspiels hinaus drängen und ein Positivsummenspiel entstehen lassen. Dies gilt für die Wohlstandsmehrung durch den internationalen Handel, ebenso aber auch für die friedenssichernde Wirkung internationaler Verträge, Institutionen und anderer Formen der transnationalen Verständigung.

In Anlehnung, Fortentwicklung und Kritik dieser beiden Denkschulen haben sich weitere Paradigmen herausgebildet, die ihrerseits ebenfalls spezifische Verständnisse und Konzeptionen der Weltordnung nahe legen (zum Überblick Schieder und Spindler 2010). Hervorzuheben sind dabei vor allem institutionalistische Ansätze, die innerhalb der politikwissenschaftlichen Diskussion allgemein sehr einflussreich sind. So lenkt z.B. die Regime-Theorie die Aufmerksamkeit darauf, dass in unterschiedlichen internationalen Politikfeldern – Handel, Friedenssicherung, Menschenrechte oder Klimawandel – jeweils besondere institutionelle oder vertragliche Arrangements vereinbart wurden, die nach Maßgabe weithin anerkannter Prinzipien (Überzeugungen), Normen (Verhaltensstandards), Regeln (Handlungsvorschriften) und Verfahren (Mechanismen der Entscheidungsfindung) die internationale Kooperation von Staaten und nicht-staatlichen Akteuren unterstützen (Krasner 1983). Wie weit diese Kooperation reicht und durch welche Interessen und Überzeugungen sie bestimmt ist, ist in der akademischen Diskussion zwischen eher realistisch oder aber idealistisch orientierten Wissenschaftler*innen nach wie vor umstritten. Erstere betonen die staatliche Kontrolle und den instrumentellen Umgang mit Vereinbarungen. Letztere sehen in der Zunahme von Verträgen, Institutionen und Regimen, oft auch nur freiwilligen Selbstverpflichtungsvereinbarungen, einen allgemeinen Trend hin zu Formen des »Global Governance« (Zürn 2005), die jenseits der Kontrolle der Nationalstaaten eine neue Qualität der Institutionalisierung und Verrechtlichung anzeigen und der Herausbildung einer Weltinnenpolitik den Weg bahnen.

Kontexte weltordnungspolitischer Handlungsanleitungen

Den hier nur kursorisch gestreiften theoretischen Perspektiven liegen nicht nur jeweils besondere ontologische Annahmen und Problemdiagnosen zugrunde, sie formulieren – teils explizit, teils implizit – zugleich auch spezifische normative Vorstellungen darüber, wie die Weltordnung gestaltet werden sollte. Die Vertreter der realistischen Schule sind mit Blick auf die politischen Gestaltungsmöglichkeiten eher skeptisch, gehen sie doch vom grundsätzlichen Fortbestand der zwischenstaatlichen Rivalität unter allenfalls modifizierten Bedingungen der internationalen Anarchie aus. So können eigentlich nur hegemoniale Staaten oder Staatengruppen einige übergreifende Spielregeln und Verhaltensweisen definieren. Deren Geltung bleibt jedoch prekär und wird durch rivalisierende Herausforderer immer wieder in Frage gestellt. Für Realisten sind weltordnungspolitische Strategien durch geopolitische Erwägungen, also den Kampf um internationale Einflusssphären, geprägt (vgl. Brzezinski 1998; Kissinger 2016).

Es ist kein Zufall, dass diese Sichtweise in den außenpolitischen Beratungszirkeln der USA – etwa dem Council on Foreign Relations oder der Zeitschrift »Foreign Affairs« – relativ einflussreich ist. Auch die Forschung und Lehre an US-Universitäten und die Policy-Papers vieler Think-Tanks orientieren sich überwiegend am (neo-) realistischen Paradigma. Ähnliches lässt sich auch für die politischen Diskussionen vieler anderer Großmächte – etwa für Frankreich und Großbritannien in Europa oder für die sog. BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) – sagen, deren Geschichte oder mutmaßliche Zukunft sehr stark auf die Sicherung, Festigung und Ausweitung nationaler Souveränität fokussiert ist und die bestehenden oder angestrebten Formen der zwischenstaatlichen Kooperation in internationalen Organisationen oder Regimen dieser Zielsetzung unterordnen.

Wie bereits angedeutet, befindet sich der realistische weltordnungspolitische Diskurs infolge der nicht nur ökonomischen, sondern auch politisch-institutionellen, rechtlichen und kulturellen Globalisierung auch in den genannten Ländern seit geraumer Zeit in Konkurrenz zu regimetheoretischen oder an der Konzeption des »Global Governance« orientierten Überlegungen und Ordnungsvorstellungen. Diese stehen in der Tradition des liberalen Internationalismus, d.h. der Vision einer friedlichen wirtschaftlichen und diplomatischen Kooperation zwischen Staaten, die ihren Bürgern zivile Freiheiten und repräsentative demokratische Beteiligungsformen gewähren, weisen zugleich aber über diesen hinaus (vgl. Gowan 2001). Während die liberal internationalistische Perspektive die Funktionsweise des Westfälischen Staatensystems, d.h. die Prinzipien der vertragsrechtlichen Kooperation formal gleichberechtigter, souveräner Staaten (vgl. Menzel 2004, S. 152 ff.), grundsätzlich anerkannte, geht es in den neueren Konzeptionen darum, die globalen umwelt-, sicherheits- und friedenspolitischen Herausforderungen im Rahmen einer neu zu schaffenden Weltordnung zu bearbeiten und dabei die Grenzen der nationalen Souveränität zu erweitern. Die neue Weltordnung soll – im Kontrast zu den uni- oder multipolaren Modellen des realistischen Denkens – demzufolge nicht nur multilateral, d.h. mit einer starken Rolle der Vereinten Nationen, angelegt sein, sondern zugleich auch liberal-kosmopolitische Prinzipien – etwa weltbürgerliche Freiheitsrechte und rechtsstaatliche, vertraglich vereinbarte Garantien (z.B. Investitionsschutz) für global agierende Wirtschaftsakteure – implementieren.

Diese Konzepte spielen vor allem in kleineren, weltwirtschaftlich stark verflochtenen Staaten und in vielen Ländern der Europäischen Union eine prominente Rolle. Die Charakterisierung dieser Länder und Regionen als „Handels-“ oder „Zivilmacht“ (Maull 2002) oder als „normative Macht“ (Manners 2002) weist deutlich in diese Richtung.

Kritische politökonomische Reflexionen

Die angesprochenen länder- oder regionenspezifischen Kontexte deuten darauf hin, dass sich die relative Prominenz der konkurrierenden Denkschulen und Weltordnungsvorstellungen zum Teil aus den jeweiligen Positionen der Staaten in der Weltpolitik, den historischen Erfahrungen und den hierauf bezogenen öffentlichen Selbstvergewisserungen, also der vorherrschenden politischen Kultur, erklären. Gleichzeitig fällt aber auf, dass diese Zusammenhänge in den meisten Diskussionen nicht oder nur unzureichend thematisiert und reflektiert werden. Die theoretischen und wissenschaftlichen Debatten kommen häufig in sich selbst, im eigenen Theoriemodell, nicht vor. Entsprechend fällt es den Debattierenden schwer, die erlangten Erkenntnisse mit Blick auf die eigenen Erkenntnisinteressen kritisch-reflexiv zu diskutieren. Außerdem sind sie oft wenig sensibel für die »blinden Flecken« – die empirisch-analytischen Ausblendungen und normativen Engführungen – der von ihnen geführten theoretischen und strategischen Debatten. Inwiefern dies der Fall ist, soll nachfolgend kurz anhand von Überlegungen illustriert werden, die von Vertretern einer kritischen Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ) angestellt werden.

Die kritische IPÖ geht allgemein davon aus, dass die Strukturen der Weltordnung nicht allein durch die zwischenstaatlichen Machtbeziehungen, sondern auch durch die Organisation und Vernetzung der Produktionsbeziehungen, die sozialen Strukturen und zivilgesellschaftlichen Konflikte sowie die Prozesse der kulturellen und ideologischen Bedeutungsproduktion geprägt sind (vgl. Cox 1998; van der Pijl 1998). Der analytisch-konzeptionelle Blick auf die genannten Handlungssphären unterscheidet sich deutlich von den vorherrschenden realistischen und liberal-internationalistischen Perspektiven. Betrachten diese die Ökonomie primär als Arena der Generierung politischer Handlungsressourcen (Realismus) oder der marktvermittelten Interdependenz und Wohlstandmehrung (liberaler Internationalismus), so geht die kritische IPÖ von einem weiten Verständnis kapitalistisch geprägter Beziehungen der sozialen (Re-) Produktion aus, unter Einschluss der durch diese konstituierten Machtbeziehungen, Ausbeutungsverhältnisse und Krisenprozesse. Die Beziehungen der sozialen (Re-) Produktion strukturieren zugleich – vermittelt über Verbände, soziale Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen, Parteien oder Medien – maßgeblich die Operationsweise der nationalen Staaten – besser: der Staat-­Zivilgesellschaft-Komplexe – und die darüber hinausweisende transnationale Kommunikation.

Letztlich ergibt sich auf diese Weise auch ein verändertes Verständnis von Weltordnung als einer politökonomisch geprägten, durch zivilgesellschaftliche wie zwischenstaatliche Kämpfe ausgefochtenen internationalen Organisationsstruktur, die in manchen Phasen einen hegemonialen Charakter annimmt. Der kanadische Politikwissenschaftler Robert W. Cox (1998, S. 83) hat dies sehr prägnant zusammengefasst:

„Hegemonie auf internationaler Ebene ist nicht nur eine Ordnung zwischen Staaten. Sie ist eine Ordnung innerhalb der Weltwirtschaft mit einer dominanten Produktionsweise, die alle Länder durchdringt und sich mit anderen untergeordneten Produktionsweisen verbindet. Sie ist auch ein Komplex internationaler sozialer Beziehungen, der die sozialen Klassen der verschiedenen Länder miteinander verbindet. Welthegemonie lässt sich so beschreiben als eine soziale, eine ökonomische und eine politische Struktur. Sie kann nicht auf eine dieser Dimensionen reduziert werden, sondern umfasst alle drei. Welthegemonie drückt sich ferner in universellen Normen, Institutionen und Mechanismen aus, die generelle Regeln für das Verhalten von Staaten und für diejenigen zivilgesellschaftlichen Kräfte festlegen, die über die nationalen Grenzen hinweg handeln – Regeln, die die dominante Produktionsweise abstützen.“

Die komplexe, durch Machtbeziehungen und Ausbeutungsverhältnisse gekennzeichnete Einbettung der Weltordnung in die (trans-) nationale politische Ökonomie, d.h. in die Strukturen der sozialen (Re-) Produktion und zivilgesellschaftlicher Netzwerke, wird in den verschiedenen Strängen der kritischen IPÖ zuweilen etwas unterschiedlich gefasst. Nicht wenige, vor allem geographische Arbeiten betrachten insbesondere die spezifische räumlich-zeitliche Bearbeitung kapitalistischer Krisendynamiken, die zuweilen mit geopolitischen Strategien und Konzeptionen der Weltordnung korrespondiert (Harvey 2003; Dicken 2011) und darüber hinaus auf die grundlegenden Prozesse einer ungleichen, aber aufeinander bezogenen kapitalistischen Entwicklung verweist. Mithilfe des Theorems der ungleichen Entwicklung lässt sich erklären, warum sich im Zuge der fortwährenden Umwälzung und Modernisierung der sozialen (Re-) Produktion von Zeit zu Zeit die Kräfteverhältnisse zwischen den Weltregionen verschieben. Die Verweise auf die asymmetrisch strukturierten Interdependenzen in den transnationalen Wirtschaftsbeziehungen thematisieren, dass kapitalistische Aufholprozesse oder Entwicklungsschübe durch die spezifischen Muster der Weltmarktintegration nicht nur gefördert, sondern häufig auch blockiert werden (vgl. Overbeek 2008).

Machtverschiebungen – aber welcher Art und wohin?

In der kritischen IPÖ-Diskussion werden die weltordnungspolitischen Problemwahrnehmungen von (neo-) realistisch, idealistisch oder liberal-kosmopolitisch orientierten Wissenschaftler*innen und Politiker*innen keineswegs einfach beiseite geschoben. Im Gegenteil, es besteht eine breite Übereinstimmung, dass wir uns in einer unübersichtlichen Umbruchkonstellation befinden. Die Realisierung unterschiedlicher Weltordnungskonzepte ist zunehmend umkämpft. Für die einflussreichen Denkschulen sind die Ursachen und der Verlauf der Konflikte entweder sehr stark durch die Akkumulation ökonomischer und militärischer Ressourcen und hierauf bezogener Interessenlagen (so die neo-realistische Perspektive) oder aber durch die Konkurrenz unterschiedlicher Werte, Normen und Kulturen bestimmt (so der liberale Internationalismus).

Im Unterschied hierzu sind die weltordnungspolitischen Zeitdiagnosen der kritischen IPÖ komplexer und zugleich fokussierter. Sie gehen zum einen davon aus, dass die westlichen, sich im Spannungsfeld von US-Hegemonie und liberalem Kosmopolitismus bewegenden Vorstellungen von Weltordnung vermehrt in Frage gestellt werden – etwa durch staatsinterventionistische Kapitalismusmodelle in den BRICS-Staaten oder religiöse Kräfte in der arabischen Welt – und demzufolge auch die Prozesse der Globalisierung an ihre Grenzen stoßen (Bieling 2011). Zum anderen betrachten sie diese Infragestellung als Ausdruck globaler Machtverschiebungen in den asiatischen Raum (vgl. van der Pijl 2006; Schmalz 2015). Hierfür lassen sich einige stützende Indikatoren finden:

  • Erstens ist die wirtschaftliche Entwicklung in China, Indien, aber auch den ASEAN-Staaten über einen relativ langen Zeitraum sehr dynamisch verlaufen. Dies betrifft nicht nur das Wirtschaftswachstum und die Produktivität, sondern auch die Handelsbeziehungen, Direktinvestitionen und die Akkumulation von Devisenreserven.
  • Zweitens korrespondiert mit dieser Entwicklung ein inzwischen relativ dichtes Netzwerk internationaler Regime und Institutionen unter weitgehendem Ausschluss der OECD-Welt. Offenkundig gibt es nicht nur eine global stärkere Rolle Asiens – etwa in der Welthandelsorganisation (WTO) oder im Kontext der G20 –, sondern auch vielfältige Impulse einer neuen Süd-Süd-Kooperation.
  • Drittens haben sich die wirtschaftlichen Strategiedebatten in vielen Weltregionen von der neoliberalen Agenda des so genannten »Washington Consensus« verabschiedet. Die Rede vom »Beijing Consensus« ist zwar überzogen, doch im Sinne einer stärker staatlich regulierten Weltwirtschaft wird allgemein den Kriterien nationaler Souveränität und Entwicklung größeres Gewicht beigemessen.

Angesichts des umkämpften Charakters und einer partiellen Unbestimmtheit (Kontingenz) der umrissenen Entwicklungen wird in der IPÖ kontrovers diskutiert, wie nachhaltig die globalen Machtverschiebungen sind und welche ordnungspolitischen Konzeptionen hierdurch gefördert werden. Stark vereinfacht lassen sich in der konzeptionellen Debatte im Spannungsdreieck von Unilateralismus (USA) versus Multilateralismus (Europäische Union) versus Multipolarität (BRICS-Staaten) einige Fixpunkte identifizieren (Bieling 2014). Diese verweisen durchaus auf einen Prozess mit beträchtlichem Konfliktpotenzial. Gleichzeitig wird dieses Konfliktpotenzial durch wechselseitige Abhängigkeiten und ökonomische, soziale, rechtliche und institutionelle transnationale Kooperationsformen moderiert und politisch bearbeitet. Ob durch diese Bearbeitung die Gefahr einer Gewalt­eskalation gebannt wird, ist keineswegs gewiss. Letztlich wird viel davon abhängen, ob es transnationalen Akteuren gelingt, hegemoniale, auf weitreichende Akzeptanz und Zustimmung basierende Strukturen zu etablieren, d.h. den Wandel der Weltordnung durch attraktive Leitbilder und tragfähige Kompromisse strategisch anzuleiten.

Literatur

Arrighi, G.; Silver, B.J. (1999): Chaos and Governance in the Modern World System. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Bieling, H.-J. (2011): Internationale Politische Ökonomie – Eine Einführung. Wiesbaden: VS-Verlag, 6.Aufl.

Bieling, H.-J. (2014): Die BRIC(S)-Staaten in der globalen politischen Ökonomie – weltordnungspolitische Perspektiven der Europäischen Union. In: Nölke, A.; May, C.; Claar, S. (Hrsg.): Die großen Schwellenländer – Ursachen und Folgen ihres Aufstiegs in der Weltwirtschaft. Wiesbaden: VS Springer, S. 357-373.

Brzezinski, Z. (1998): The grand chessboard – American primacy and its geostrategic impera­tives. New York: basic books.

Cox, R. (1998): Weltordnung und Hegemonie – Grundlagen der »Internationalen Politischen Ökonomie«. Marburg: Forschungsgruppe Europäische Gemeinschaften, FEG-Studie Nr. 11.

Deppe, F. (1991): Jenseits der Systemkonkurrenz – Überlegungen zur neuen Weltordnung. Marburg: VAG.

Dicken, P. (2011): The Global Shift – Mapping the Changing Contours of the World Economy. London: Sage, 6.Aufl.

Fukuyama, F. (1989): The end of history? The ­na­tional interest, 16, S. 3-18.

Gowan, P. (2001): Neoliberal Cosmopolitanism. New Left Review, Second Series, No. 11, S. 79-93.

Harvey, D. (2003): The New Imperialism. Oxford: Oxford University Press.

Huntington, S.P. (1993): The clash of civilizations. Foreign affairs, 72(3), S. 22-49.

Kissinger, H. (2016): Weltordnung. München: Pantheon.

Krauthammer, C. (1991): The Unipolar Moment. Foreign Affairs, 70(1), S. 23-30.

Krasner, S.D. (Hrsg.) (1983): International ­re­gimes. Ithaka: Cornell University Press.

Krell, G. (2009): Weltbilder und Weltordnung – Einführung in die Theorie der internationalen Beziehungen. Baden-Baden: Nomos, 4. Aufl.

Manners, I. (2002): Normative power Europe – a contradiction in terms? Journal of Common Market Studies, 40(2), S. 235-258.

Maull, H.W. (2002): Die »Zivilmacht Europa« bleibt Projekt – Zur Debatte um Kagan, Asmus/Pollack und das Strategiedokument NSS 2002. Blätter für deutsche und internationale Politik, 47(12), S. 1467-1478.

Menzel, U. (2004): Paradoxien der neuen Weltordnung – Politische Essays. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Overbeek, H. (2008): Rivalität und ungleiche Entwicklung – Einführung in die internationale Politik aus der Sicht der Internationalen Politischen Ökonomie. Wiesbaden: VS.

Schieder, S.; Spindler, M. (Hrsg.) (2010): Theorien der internationalen Beziehungen. Leverkusen: Barbara Budrich/UTB, 3. Aufl.

Schmalz, S. (2015): An den Grenzen des American Empire – Geopolitische Folgen des chinesischen Aufstiegs. Prokla, 45(4), S. 545-562.

Van der Pijl, K. (1998): Transnational Classes and International Relations. London/New York: Routledge.

Van der Pijl, K. (2006): Global Rivalries – From the Cold War to Iraq. London: Pluto Press.

Zürn, M. (2005): Regieren jenseits des Nationalstaates – Globalisierung und Denationalisierung als Chance. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2. Aufl.

Hans-Jürgen Bieling ist Professor am Institut für Politische Wissenschaften der Universität Tübingen und Mitherausgeber der Buchreihe »Globale Politische Ökonomie« des VS-Verlages.

Braucht Frieden Ordnung?

Braucht Frieden Ordnung?

AFK-Jahreskolloquium 2016, 3.-5. März 2016, Bonn

von Lisanne Lichtenberg und Christine Schnellhammer

Das 48. Jahreskolloquium der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) fand im Gustav-Stresemann-Institut in Bonn statt und wurde in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Villigst und dem Gustav-Stresemann-Institut e.V. organisiert. Auch in diesem Jahr förderte die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) die wissenschaftliche Tagung finanziell.

Im Mittelpunkt des AFK-Kolloquiums stand die Frage nach dem Beziehungsgeflecht zwischen Frieden und Ordnung. Hier wurde unter anderem diskutiert, welchen Beitrag Ordnung zur Überwindung von Konflikten leisten kann und welchem bzw. wessen Frieden bestimmte Ordnungssysteme dienen. In der Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen wurden verschiedene Begriffe und Konzepte herangezogen, die sich sowohl mit staatlichen als auch mit gesellschaftlichen Formen von Ordnung und Unordnung beschäftigen. Aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Perspektiven stellten die Vortragenden empirische Analysen mit Fallbeispielen aus Vergangenheit und Gegenwart vor, um relevante ordnungs- und friedensstiftende Faktoren aufzuspüren.

Im Fokus der Diskussionen stand häufig die Frage nach den Adressaten bzw. Garanten von Sicherheit, Stabilität und Ordnung, sowohl auf der nationalen als auch auf der internationalen Ebene. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass staatlichen Akteuren und internationalen Organisationen immer noch die Hauptverantwortung für die Herstellung von öffentlicher Ordnung sowie für Staatsbildungs- und Friedensprozesse zugeschrieben wird. Zugleich bestehen jedoch auch Forderungen danach, eine offene, pluralistische Perspektive einzunehmen und gesellschaftliche Akteure stärker einzubeziehen.

Die nachfolgenden Abschnitte geben einen inhaltlichen Überblick über ausgewählte Panels und Themen.

Alltägliche Praktiken von Friedensordnungen

Prof. Dr. Séverine Autesserre (Columbia University, New York/USA) eröffnete die Tagung mit einer Keynote zum Thema »Peaceland: Conflict Resolution and the Everyday Politics of International Intervention«. In ihrem Vortrag stellte sie eine Perspektive auf internationale Friedensmissionen vor, die die bestehenden Routinen und Alltagspraktiken der intervenierenden Akteure in den Blick rückte. So wurden Narrative und Handlungsmuster sichtbar, die externen Intervenierenden angesichts ihrer Befremdung Orientierung in Nachkriegsgesellschaften bieten. Derartige Praktiken würden jedoch Begegnungen mit Einheimischen erschweren und lokale Wissensbestände abwerten, anstatt lokale Expertise systematisch mit einzubeziehen und den darin liegenden Nutzen für die Herstellung von Frieden und Ordnung zu erkennen. Die Kritik der Referentin richtete sich daher insbesondere auf diese alltäglichen Handlungspraktiken, die von externen Intervenierenden als selbstverständlich und zweckmäßig angesehen werden, obwohl sie dem eigenen Anspruch zur Friedensschaffung und der Effektivität von Peacebuilding-Interventionen diametral entgegen stehen. Als zentrale Ordnungskräfte fungieren folglich häufig externe Intervenierende, die keine ausreichenden Kenntnisse über die Gegebenheiten und Strukturen vor Ort besitzen – mit weitreichenden Konsequenzen für den Erfolg friedenschaffender Missionen.

Auch einige Panels beschäftigten sich mit internationalen Peacebuilding-Interventionen und durch externe Akteure angestoßenen Statebuilding-Prozessen. Ein Vortrag untersuchte beispielsweise historische Konstanten des State- und Peacebuilding anhand verschiedener treuhänderischer Übergangsverwaltungen. Durch die Auswahl der Fallbeispiele Kamerun, Kosovo und Timor-Leste wurden sowohl die Gegenwart als auch die späte Kolonialzeit in den Blick genommen. Ein anderer Beitrag beleuchtete hingegen die Rolle, Funktion und Ziele von Intermediären, die im Rahmen internationaler Interventionen eine Mittlerfunktion zwischen externen Akteuren und lokaler Bevölkerung einnehmen. Zwar seien Intermediäre von zentraler Bedeutung für die Handlungsfähigkeit externer Akteure, der Einfluss mächtiger lokaler Interessengruppen wirke sich jedoch nicht zwingend positiv auf Friedens- und Staatsbildungsprozesse aus.

Im Laufe der verschiedenen Diskussionen über Staatsbildungs- und Friedensprozesse wurde mehrfach kritisiert, dass internationale Interventionen mit ihren auf Stabilität und Ordnung abzielenden Einsätzen häufig nur eine vorübergehende Pazifizierung der Konfliktsituation anstelle einer nachhaltigen Friedenskonsolidierung erreichen würden.

In anderen Panels stand die Beziehung zwischen Formationen politischer Ordnung und deren Anfälligkeit für Konflikte im Vordergrund. Dadurch wollten die Vortragenden Erkenntnisse darüber gewinnen, welche politischen Ordnungen und Staatsformen eher konfliktverstärkende oder aber friedensstiftende Tendenzen aufweisen. In diesem Zusammenhang wurden neben historischen Analysen auch unterschiedliche Möglichkeiten der Konfliktaustragung und der Umgang mit Widerstand thematisiert. Basierend auf zentralen Texten aus der Friedensforschung widmete sich ein weiteres Panel der theoretischen Diskussion über die Bedingungen eines Weltfriedens.

Räumliche Ordnungen von Frieden

Daneben beschäftigten sich mehrere Beiträge mit Fragen räumlicher Ordnung(en). Während ein Vortrag räumliche Aspekte der Gewalt in Kenia und die konfliktverschärfenden Auswirkungen einer sozialen Sortierung nach Ethnie und Territorium beleuchtete, untersuchte ein anderer Beitrag »sichere Räume« in Krisen- und Kriegsgebieten, die den Menschen vor Ort eine gewisse Ordnung und Sicherheit bieten. Auch die Flüchtlingsproblematik war zentraler Untersuchungsgegenstand einiger Vorträge und wurde u.a. aus raumsoziologischer Perspektive untersucht, um (begrenzte) Handlungsspielräume sowie Inklusions- und Exklusionsmechanismen aufzuzeigen. Hierbei wurde deutlich, dass sich Flüchtlinge in Räumen der Ungleichheit bewegen. Dies spiegelt sich auch in den Asylverfahren wider, deren Unordnung und Techniken ebenfalls analysiert wurden. Flucht als Herausforderung für Ordnung war außerdem Gegenstand eines Panels, das sich im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen vor allem mit den Maßnahmen der Zielländer und deren Auswirkungen auf die Herkunfts- und Transitländern beschäftigte.

Als weiterer Themenkomplex wurden Ressourcenkonflikte aufgegriffen, die in gewissen Regionen ein hohes Konfliktpotenzial aufweisen und somit eine Gefährdung für Frieden, Stabilität und Sicherheit darstellen. Anhand ausgewählter Fallbeispiele wurden sowohl gewaltgeprägte als auch gewaltfreie Ressourcenkonflikte aus raumtheoretischer, politischer und entwicklungspolitischer Perspektive analysiert.

Ordnungen jenseits des Staates

Während im Rahmen der Panels insbesondere konkrete Fallbeispiele untersucht wurden, konzentrierten sich die beiden Podiumsdiskussionen auf die Makroebene und diskutierten die derzeitige Weltordnung sowie Zukunftsmodelle für Frieden und Ordnung.

Die erste Podiumsdiskussion mit Prof. em. Dr. Dieter Senghaas, Prof. Dr. Ursula Schröder und Dr. Jörn Grävingolt zum Thema »Friedensordnung in einer zerklüfteten Welt« legte den Fokus auf aktuelle Entwicklungen und die Frage nach zukünftigen Modellen für eine friedliche neue Weltordnung. Die Redner*innen stimmten überein, dass sich auf globaler Ebene eine zunehmende Heterogenität an Ordnungssystemen herausbilde – sowohl innerhalb wirtschaftlich und gesellschaftlich ähnlich strukturierter Ländergruppen als auch durch die wachsende Zahl von Staaten, die von Zerfallsprozessen geprägt sind. Gleichzeitig würden Staaten in ihrer zentralen Funktion für die Herstellung von Sicherheit und Ordnung zunehmend von nicht-staatlichen Akteuren und von lokalen Formen der Konfliktlösung unterhalb der Staatsebene abgelöst. Im Hinblick auf die derzeitige Erosion der internationalen Ordnung müsse zukünftig die Frage nach alternativen Ordnungsmodellen jenseits des westlichen Staatensystems diskutiert werden, hob Prof. Dr. Schröder hervor.

Den Abschluss der Tagung bildete das Plenum »Hegemonie, Anarchie oder Weltgesellschaft? Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert«. Auf dem Podium diskutierten Prof. a.D. Dr. Ulrich Menzel, Dr. Corinna Hauswedell und Prof. Dr. Dirk Messner über die Frage nach einer neuen internationalen Ordnung vor dem Hintergrund aktueller Zerfallsprozesse. Als Kennzeichen der derzeitigen Phase eines tiefgreifenden Umbruchs der Weltordnung wurden der Niedergang der USA, die Ausbreitung von Gewaltökonomien, Chinas Aufstieg sowie die Entstehung einer »post-westlichen« Welt genannt. Im Hinblick auf zukünftige Ordnungsstifter wurde ein radikaler Perspektivwechsel von der staatlichen Ebene auf Akteure jenseits des Staates gefordert. Zudem seien neue Ordnungen, Prinzipien und Normen nötig.

Verleihung des Christiane-Rajewsky-Preises 2016

Einen Höhepunkt der Tagung stellte die Verleihung des Christiane-Rajewsky-Preises 2016 dar. In diesem Jahr wurden zwei herausragende Arbeiten geehrt, die eine juristische Perspektive auf die Friedens- und Konfliktforschung eröffnen, indem sie sich mit Rechtsvorstellungen und Rechtskonstruktionen befassen. Dr. Evelyne Schmid erhielt den Christiane-Rajewsky-Preis für das aus ihrer Dissertation an der Universität Basel hervorgegangene Buch »Taking Economic, Social and Cultural Rights Seriously in International Criminal Law«. Dorte Hühnert wurde der Preis für ihre Masterarbeit mit dem Titel »New Kind of War – New Kind of Detention? How the Bush Administration Introduced the Unlawful Enemy Combatant« (Goethe-Universität Frankfurt am Main) verliehen.

Aus der AFK

Die Mitgliederversammlung der AFK beinhaltete unter anderem die Wahl eines neuen Vorstands für die kommenden zwei Jahre: Prof. Dr. Conrad Schetter (BICC) wurde als Vorsitzender der AFK bestätigt; als stellvertretende Vorsitzende wurde Prof. Dr. Bettina Engels (FU Berlin) gewählt. Hauptthema der Mitgliederversammlung war die Suche nach einem neuen Standort für die Geschäftsstelle ab 1. Juli 2016.

Das Netzwerk Friedensforscherinnen und die Arbeitskreise (AK) der AFK – AK junge Wissenschaftler*innen und AK Curriculum & Didaktik – nutzten die Tagung für den Austausch über inhaltliche Themen und zukünftige Projekte. Der AK Herrschaftskritische Friedensforschung und der AK Natur, Ressourcen, Konflikte boten darüber hinaus inhaltliche Panels zum Tagungsthema an. Außerdem wurde ein Arbeitskreis für Empirische Methoden der Friedens- und Konfliktforschung gegründet.

Lisanne Lichtenberg und Christine Schnellhammer

Transforming Worldviews

Transforming Worldviews

Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll,
12.-13. Februar 2016

von Mauricio Salazar

Die Tagung »Transforming Worldviews – Gesellschaftliche und soziokulturelle Friedensansätze in Afrika« in der Evangelischen Akademie Bad Boll sollte zu einem Perspektivenwechsel bei der Betrachtung von Konflikten in der Region Horn von Afrika und Burundi anregen.

Weltweit nimmt die Intensität von Konflikten zu, die auf internationaler Ebene oft nur dann wahrgenommen werden, wenn sich zivile Betroffen auf den Weg machen, um anderswo Zuflucht zu finden. In der Berichterstattung der Medien werden die Konfliktursachen in der Regel stark vereinfacht und die systemische, durch unterschiedliche Interessen gekennzeichnete Komplexität der Konflikte vernachlässigt.

Die Antworten der internationalen Gemeinschaft auf diese Konflikte sind von den strategischen Interessen in der jeweiligen Region abgeleitet, und oft werden zur Befriedung militärische Einsätze auf den Weg gebracht. Werden gewisse Konflikte aber nicht gezielt geschürt, um Interessenspolitik zu bedienen, und werden dann als religiöse oder ethnische Konflikte etikettiert, obwohl sie damit gar nichts zu tun haben?

Strategische Interessen

Die Region, die bei der Tagung im Fokus stand, war schon immer kriegsträchtig, nicht zuletzt aufgrund ihrer geostrategischen Lage: gegenüber der Arabischen Halbinsel gelegen, an der Schnittstelle zwischen Rotem Meer, Arabischem Meer und Indischem Ozean. Diese Region ist für mächtige internationale Akteure seit der Eröffnung des Suezkanals im Jahre 1869 von großem Interesse; die oberste Prämisse war und ist die Sicherung der Schifffahrtsrouten und die Ölversorgung der reichen Länder. Während des Kalten Krieges war das Horn von Afrika neben dem Südlichen Afrika der zweite große Brennpunkt des Ost-West-Konfliktes in Afrika. Und heute kommt der Region im Kontext der so genannten Terrorismusbekämpfung große Bedeutung zu.

Die Einbeziehung des Horns von Afrika in globale Interessenszusammenhänge führt also zu einer häufig destruktiven Verknüpfung lokaler und regionaler Konfliktformationen mit den Interessen- und Machtpolitiken fremder Mächte. Und obwohl es sich in der Regel um einen lokalen, regionalen und internationalen Wettbewerb um die in vielen Fällen immer knapper werdenden Ressourcen handelt, werden die Konflikte nur allzu oft mit dem Etikett »ethnischer« oder »religiöser Krieg« versehen, und es werden katastrophale Interventionsmaßnahmen ergriffen.

Die Rolle der traditionellen Gesellschaften

Ein wichtiger Aspekt in der Region ist die Rolle der traditionellen Gesellschaften, die aus vielschichtigen, oft sehr kleinen Gemeinschaften, Ethnien, Clans, Sippen, Religionsgemeinschaften und anderen Zusammenschlüssen bestehen und für die Menschen in der Region die alltägliche Organisationsstruktur darstellen. Es gibt zwar auch staatliche Strukturen, die spielen im täglichen Überlebenskampf aber eine untergeordnete Rolle.

Vor allem wenn Konflikten auftreten, sorgen die örtlichen sozialen Strukturen, z.B. in Form von Ältestenräten, für eine gewisse Stabilität. Lokale Gegebenheiten werden so lange besprochen, bis gemeinsam eine annehmbare Lösung gefunden ist. Mit solchen Mechanismen regeln traditionell sowohl nomadische als auch sesshafte Völker die Verteilung und den Zugang zu Ressourcen bzw. Wirtschaftsgütern, wie Land und Wasser. Im Idealfall bleiben die Dorfgesellschaften dann selbst bei häufig extremer Armut und trotz des Einflusses unterschiedlicher Armeen in sich stabil – und gewaltfrei. Damit sind sie möglicherweise Modelle für Friedenserhaltung und Friedensbildung, für »Friedensräume«.

Die traditionellen Strukturen werden von den westlichen Medien und Forschern oft fehlinterpretiert. Ihnen gelten zuallererst die modernen staatlichen Institutionen europäischer Prägung, die von einem starken Gewaltmonopol ausgehen, als Garanten von Frieden. Für deren Förderung werden erhebliche Ressourcen bereitgestellt, die jedoch mehr destabilisieren als stabilisieren. Bedeutet die Förderung der Staatsinstitutionen doch oft die Bevorzugung der Interessen von Machteliten, so z.B. in Äthiopien und Somalia, wo mit ausländischen Finanzhilfen und mit Waffenkäufen die traditionellen lokalen Strukturen der Stabilität zerschlagen wurden.

Friedensräume

Manche Regionen bleiben hingegen trotz Konflikten und Ressourcenknappheit recht stabil. Ein Beispiel hierfür ist die Provinz Tigray im Norden Äthiopiens, wo sich lokale Strukturen mit eigenen politischen Handlungsspielräumen herausgebildet haben, die wirtschaftliche und politische Gerechtigkeit organisieren und damit einen hohen Grad an innerer Stabilität erreichen. Diese Friedensräume sind charakterisiert durch ein Netz der Solidarität und ein sehr hohes Verpflichtungsgefühl gegenüber der örtlichen Gemeinschaft. Die ausgeprägte Solidarstruktur sorgt in den einzelnen Dörfern dafür, dass sich niemand der Notwendigkeit entzieht, zur Versorgung des Gemeinwesens beizutragen.

Solche Friedensräume sind zwar lokal sehr effektiv, es mangelt aber an Kompetenzen für die Austragung darüber hinausgehender öffentlicher Konflikte. Mit Blick auf die staatlichen Institutionen würde dringend eine verbindende Komponente zwischen den lokalen Mechanismen der Konfliktbeilegung durch Dialog und der öffentlichen Konfliktbeilegung mit institutionellen Regulativen gebraucht.

»Erfolgreiches Scheitern« staatlicher Institutionen?

Aus entwicklungspolitischer Perspektive stellt das Horn von Afrika schon seit Langem ein »Armenhaus« dar, das immer wieder von katastrophalen Hungersnöten heimgesucht wird. Darüber hinaus machen etliche systemische Problemlagen, wie der Zugang zu Ressourcen in seiner lokalen und globalen Dimension, das Horn von Afrika zur chronischen Krisenregion. Und tatsächlich gehen immer wieder Menschen, die jahrhundertelang miteinander gelebt haben, plötzlich aufeinander los – zugunsten der strategischen Interessen fremder Mächte. Die mit diesem »erfolgreichen Scheitern« der staatlichen Institutionen verbundene Polarisierung wird dann dazu genutzt, Konflikte kurzerhand mit dem Etikett »ethnisch« oder »religiös« zu versehen.

Die derzeitige »Realpolitik« in der Region ist durch anhaltende Gewaltkonflikte, hochgradige Militarisierung, autoritär-repressive Herrschaftsformen, tiefsitzendes Misstrauen sowie gegenseitige und externe Einmischungspolitik gekennzeichnet. Aufgrund der demographischen Entwicklung und des Klimawandels mit der damit einhergehenden ökologischen Degradation, der strukturellen Ernährungsunsicherheit und einer wachsenden Konkurrenz um knappe natürliche Ressourcen werden sich die Konflikte am Horn von Afrika in Zukunft wohl eher noch verschärfen. Dem ist für diese Region die Forderung nach einer umfassenden Sicherheitsarchitektur auf der Basis des Konzepts »menschlicher Sicherheit« gegenüberzustellen. Eine Umsetzung dieser Vision ist momentan allerdings nicht in Sicht.

Mauricio Salazar

Zurück voran?

Zurück voran?

Die Idee eines Mächtekonzerts für das 21. Jahrhundert

von Lothar Brock und Hendrik Simon

Dass die Welt aus den Fugen gerät, ist eine inzwischen weit verbreitete Einschätzung der weltpolitischen Lage. Aber was tun, um sie doch noch zusammenzuhalten und auf einen besseren Kurs zu bringen? Noch bevor Russland und der Westen sich so richtig entzweiten, bemühte sich eine Forschergruppe aus Frankfurt zusammen mit Kollegen aus Russland und den USA darum, Licht in das Halbdunkel dieser Frage zu bringen. Ein Ergebnis ihrer Beratungen war der Vorschlag, nach dem historischen Vorbild des frühen 19. Jahrhunderts ein »Konzert der (Groß-) Mächte« einzurichten. Läuft der Rückgriff auf frühere Kooperationsansätze auf einen Rückfall hinter die Bemühungen der vergangenen 25 Jahre hinaus, das Gebot der kollektiven Friedenssicherung gegen einen hegemonialen Unilateralismus zu verteidigen? Bietet das 19. Jahrhundert in dieser Hinsicht Anlass zu (verhaltenem) Optimismus? Oder sprechen die historischen Erfahrungen eher gegen den Versuch, die vorhandenen Kakophonien unter Leitung der Großmächte in einem globalen Konzert zusammenzuführen?

In einem viel zitierten Aufsatz prophezeite John Mearsheimer, Exponent des Neorealismus in der Lehre von den internationalen Beziehungen (IB), Anfang der 1990er Jahre, die internationale Politik würde sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts „zurück in die Zukunft“ entwickeln. Gemeint war damit, dass sich die Zukunft der internationalen Politik nach dem Intermezzo des Ost-West-Konflikts wieder ihrer Vergangenheit annähern, die Staatenpolitik also zu den alten Agenden machtgestützter Interessendurchsetzung zurückkehren würde. Das verursachte einen Aufschrei all jener, die von der Möglichkeit eines substantiellen Fortschritts in den internationalen Beziehungen ausgingen und gerade im friedlichen Ende des Ost-West-Konflikts den Beleg für diese Möglichkeit sahen. Die Hoffnungen, die daran geknüpft wurden, blieben angesichts immer neuer kriegerischer Gewalt stets prekär. Heute sind sie einer Belastungsprobe ausgesetzt, die alle Zweifel der vergangenen Jahre in den Schatten stellt.

Wenn Mearsheimer Recht hat, bewegt sich die Weltpolitik in strukturell vorgegebenen Bahnen, die man nur um den Preis der Selbstaufgabe verlassen kann, denn jedes Land wird mit Machtverlust bestraft, wenn es die Verhaltenszwänge, die sich aus der Struktur des internationalen Systems ergeben, ignoriert. Aus dieser Perspektive muss man sich also um der eigenen Zukunft willen den Lehren der Vergangenheit stellen und sich den durch sie vermittelten strukturellen Gegebenheiten des internationalen Systems unterwerfen.

Nagelt uns die Geschichte wirklich auf eine solche Weltsicht fest? Oder bietet gerade die historische Erfahrung Anhaltspunkte für die Möglichkeit, Staatenwelt und Weltgesellschaft in ein neues, konstruktives Verhältnis zu bringen und zumindest die Gefahr großer Kriege zu bannen, wenn es schon nicht gelingen sollte, alle »kleinen« zu beenden? Könnte zu diesem Zweck ausgerechnet ein Blick in das 19. Jahrhundert weiterhelfen, obwohl es als Projektionsfläche für unsere Vorstellungen von klassischer Staatenpolitik und klassischen Staatenkriegen dient? Oder riskieren wir, auf diesem Wege zwischenzeitliche Fortschritte der internationalen Politik (namentlich in Gestalt des Völkerrechts und der Vereinten Nationen) noch weiter zu gefährden, als das gegenwärtig ohnehin schon geschieht?

Blaupause für ein neues »Konzert der Mächte«

Harald Müller, Konstanze Jüngling, Daniel Müller und Carsten Rauch (alle Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung/HSFK in Frankfurt) sind im Rahmen eines international ausgerichteten Forschungsprogramms der Frage nachgegangen, ob ein Rückgriff auf die Geschichte des 19. Jahrhunderts neue (Denk-) Möglichkeiten für einen konstruktiven Umgang mit den Krisen und Konflikten des 21. Jahrhunderts eröffnen kann (Müller et al. 2014; Müller und Rauch 2015). Es handelt sich um den Entwurf einer „Blaupause für eine von Großmächten getragene multilaterale Sicherheitsinstitution“, der sich in Gegenwart und Zukunft die Aufgabe stelle, den Machtübergang von der US-amerikanischen Hegemonie zu einer multipolaren Ordnung in friedliche Bahnen zu lenken.

Eine zentrale Annahme der Überlegungen besteht darin, dass sich im Zeichen der Globalisierung zwar die allgemeine Interdependenz zwischen den Staaten verstärke, diese Entwicklung aber nicht mit einem Abbau bestehender internationaler Machtdisparitäten einhergehe; vielmehr würden die Großmächte weiterhin eine dominierende Rolle im internationalen System spielen. Unter dieser Annahme liegt es nahe, die Chancen der Kooperation von Großmächten auf dem Gebiet der kollektiven Friedenssicherung in den Blick zu nehmen und dabei – soweit möglich – die Geschichte selbst gegen Vorstellungen von der Wiederkehr des ewig Gleichen zu mobilisieren, wie sie der in der Politikwissenschaft so genannte Realismus1 vetritt. Zu diesem Zweck bezieht sich das Autorenteam auf das »Konzert der Großmächte« des 19. Jahrhunderts als Referenzrahmen für eine Neustrukturierung der kollektiven Friedenssicherung im 21. Jahrhundert2

Dieses Unterfangen verdient eine gründliche Auseinandersetzung. Hier wollen wir auf zwei Aspekte eingehen: die Brauchbarkeit des historischen Konzerts als Bezugspunkt für eine Neustrukturierung der kollektiven Friedenssicherung und die Bedeutung einer von Großmächten getragenen Sicherheitsinstitution für die Zukunft der Vereinten Nationen und das Völkerrecht.

Der historische Referenzrahmen: Wofür steht das »Konzert der Mächte«?

Der Autorengruppe der HSFK geht es nicht darum, das Zustandekommen des Konzerts zu erklären, sondern jene Faktoren zu identifizieren, die dazu beigetrugen, einen Krieg zwischen den Großmächten für mehr als eine Generation zu verhindern. Als zentraler Aspekt wird die friedensstiftende Wirkung gemeinsam geteilter Normen herausgearbeitet (Müller und Rauch 2015, S.36). Ausgehend vom Wiener Kongress 1814/15 zur Neuordnung Europas nach den napoleonischen Kriegen habe sich „eine permanente Praxis“ (ebenda, S.63) der Konsultation und Gleichbehandlung etabliert. Konflikten seien die Großmächte im Sinne der militärischen Zurückhaltung, der Akzeptanz des geopolitischen Status quo und der gegenseitigen Nichteinmischung begegnet (ebenda, S.55f).

Diese Einschätzung wird von großen Teilen der jüngeren Forschung geteilt (Schulz 2009). Mehr noch: Den europäischen Großmächten sei es demnach gelungen, zwischen 1815 und 1914 einen gesamteuropäischen Krieg zu verhindern (Schulz 2009, S.4f.). Diese optimistische Interpretation stützt auch die These, das 19. Jahrhundert sei das „friedlichste Jahrhundert der Neuzeit“ gewesen (Levy 1983, S.90f). Insofern könnte das Konzert der Großmächte im 19. Jahrhundert nicht nur als „historisches Vorbild“ (Müller und Rauch 2014, S.36), sondern geradezu als „Prototyp“ der institutionalisierten Zusammenarbeit von Großmächten zur gemeinsamen Gestaltung und Wahrung der internationalen Ordnung angesehen werden (Müller et. al. 2014, S.7).

In der Tat steht das Europäische Konzert für ein Krisenmanagement durch Konferenzdiplomatie. Außerdem waren die Kongresse und Konferenzen der »Wiener Ordnung« politische Katalysatoren für eine Institutionalisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen (Koskenniemi 2002). Die kollektive Handlungsfähigkeit der Großmächte im Rahmen des Konzerts stieß jedoch dort an ihre Grenzen, wo es um die Einschränkung eigenmächtiger Gewaltanwendung durch die Großmächte selbst ging. In dieser Hinsicht blieben die direkten Verrechtlichungseffekte des Konzerts begrenzt. Dass die Staatenwelt gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein völkerrechtliches Kriegs- und Gewaltverbot zu diskutieren begann, was sich auch in der Einberufung der Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 niederschlug, war nicht unmittelbarer Ausfluss der zuvor praktizierten Konferenzdiplomatie, sondern Folge der Schwächen dieser Diplomatie mit ihren informellen Verfahrensweisen, die darauf ausgerichtet waren, Konflikte zu managen, ohne die Handlungsfreiheit der Großmächte einzuschränken (Simon 2016).

Das »Doppelantlitz« des Konzerts

So gelang es zunächst nur, Regeln für den Krieg (ius in bello), nicht aber Regeln gegen den Krieg zu formulieren; Der 1899 eingerichtete und 1907 modifizierte Haager Schiedsgerichtshofs konnte lediglich als administrative Verfahrensform der friedlichen Schlichtung, nicht aber als obligatorische, völkerrechtlich bindende Autorität institutionalisiert werden (Dülffer 1981). Diese mangelnde normative Einhegung einzelstaatlicher Handlungsfreiheit drückte sich nicht nur in zahlreichen »kleinen Kriegen«, sondern auch in Kriegen zwischen Großmächten aus: Am Krimkrieg 1853-56 nahmen mit England, Russland und Frankreich gleich drei Großmächte teil. Preußen setzte sich in drei (Einigungs-) Kriegen gegen Dänemark 1864, Österreich 1866 und Frankreich 1870/71 über nahezu alle Konzertnormen der Zurückhaltung und Bewahrung des Status quo (Müller und Rauch 2015, S.63) hinweg.

Das Konzert entfaltete sich unter den Bedingungen eines Gleichgewichts zwischen den Großmächten, konnte aber nicht verhindern, dass das Deutsche Reich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die bestehende Ordnung in Frage stellte (Zamoyski 2007, S.556f). Damit war eine „bilaterale Duell-Situation“, die das Konzert gerade verhindern sollte (Müller und Rauch 2015, S.63), wahrscheinlicher geworden (Wette 2014, S.60). Eine Zivilisierung der Machtpolitik im Rahmen des Konzerts gelang also nur dort, wo keine als essentiell eingestuften Interessen der Großmächte dem entgegenstanden (Schulz 2015, S.97).

Einer der gravierendsten Konstruktionsfehler des Konzerts lag in der mangelnden Normierung des Interventionsrechts (Schulz 2009, S.74-76; Vec 2010). Man kann diese Problematik zwar zur Entlastung des Konzerts überwiegend der »Heiligen Allianz« zuschreiben, zu der sich Russland, Preußen und Österreich nach dem Sieg über Napoleon zusammenschlossen, um die monarchischen Herrschaftsansprüche gegen die neuen national-liberalen Strömungen des frühen 19. Jahrhunderts zu verteidigen. (Der Allianz trat nach der Restauration der Monarchie auch Frankreich bei). Aber die unzulängliche normative Einhegung unilateraler Interventionen wirkte auf das Konzert zurück. Die militärische Intervention stellte das gewaltsame Mittel der Großmächte dar, um die im Wiener Frieden zugrunde gelegte Trennung von Außen- und Innenpolitik (Müller und Rauch 2015, S.56) im Bedarfsfall aufzuheben (Osterhammel 2001, S.168). Militärisches Vorgehen gegen Aufstände und Revolutionen konnte der Stabilität der Großmächteordnung durchaus dienlich sein, erhöhte aber letztlich das Konfliktpotential zwischen ihnen, wie sich mit Beginn des Ersten Weltkrieges zeigte.

In der Gleichzeitigkeit von (teilweisem) Frieden zwischen den Großmächten und ausgeübtem Zwang durch die Großmächte zeigt sich das „Doppelantlitz der internationalen Beziehungen“ im 19. Jahrhundert (Schlichte 2010, S.161): Dem Fortschritt des modernen Statebuilding und des Handels in den europäischen Hauptstädten standen Krieg, Intervention, Überwachung, informeller Imperialismus und Kolonialerwerb gegenüber (Zamoyski 2007, S.568 f.). Mittlere bzw. kleine Mächte in Europa sowie „un-“ bzw. „halb-civilisirte“ Staaten oder politische Ordnungen in Europa, in Übersee und in Afrika wurden unter Einsatz und Androhung von militärischer Gewalt zur „Verfügungsmasse der Großmächte“ degradiert (Langewiesche 1993, S.12).

Die Marginalisierung und aktive Bekämpfung progressiver Stimmen war Nährboden für gesellschaftliche Unzufriedenheit in Europa, für politische Opposition, aber auch für internationale Geheimbünde, Aufstände und politisch motivierte Attentate, die die Krisenmanagementkapazitäten der Großmächte (in Gestalt des Konzerts) tendenziell überforderten. Die Logik der exklusiven Großmächtediplomatie und seine Orthodoxie in der Behandlung soziopolitischer Entwicklungen in Europa säten damit selbst „Keime seiner Selbstzerstörung“ (Zamoyski 2007, S.569).

Der Befund ist also gemischt: Einerseits gelang es dem Konzert, auf der Grundlage gemeinsam geteilter Normen eine Kommunikationspraxis zu entwickeln, die die Konflikte zwischen den Großmächten für eine gewisse Zeit einhegte. Realistische Erklärungsangebote zum Konzert greifen also zu kurz (Müller und Rauch 2015, S.43), denn sie erfassen die Komplexität der Verbindung zwischen Normen und Macht nicht. Das herauszuarbeiten, ist eines der Verdienste des Frankfurter Autorenteams. Andererseits standen dem angestrebten „Machtübergangsmanagement“ der Großmächte (ebenda, S.36) nicht nur zwischen- und innerstaatliche Krisen und Kriege, sondern auch ein Missmanagement der sozialen Konflikte in den europäischen Staaten gegenüber. Nationalismus und Chauvinismus bestimmten das politische Klima in Europa am Ende des 19. Jahrhunderts.

Aber nicht nur diese Dimension des Krisenmanagements durch das Konzert gilt es zu berücksichtigen, sondern auch das gesellschaftliche Konfliktpotential innerhalb der Großmächte selbst – sowohl bezogen auf die politischen Eliten als auch auf die jeweiligen sozialen Auseinandersetzungen, die etwa in Russland nach dem Dritten Pariser Frieden von 1856 oder in der Julikrise von 1914 kriegsfördernd wirkten (Wette 2014). Das Mächtekonzert steht für beides, Frieden und Zwang. Es offenbart die möglichen negativen Folgen eines exklusiven Großmächtekonzerts, die ihrerseits auf die Funktionsfähigkeit des Konzerts zurückwirken. So hatte sich unter dem Konzert ein enormes Konfliktpotential angesammelt, das sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bahn brach.

Konstruktive Blaupause oder Aushöhlung der internationalen Rechtsordnung?

Die Frankfurter Forschergruppe ist sich bewusst, dass ein Konzert der Großmächte heute in einem vollkommen anderen institutionellen Umfeld operieren würde als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zu diesem anderen Umfeld gehört ein dichtes Netz internationaler Einrichtungen und völkerrechtlicher Regelungen, die heute fast jeden Aspekt des kollektiven Handelns erfassen. Wie soll das Konzert in diesem Geflecht von Institutionen und rechtlichen Regelungen verortet werden?

Aus sicherheitspolitischer Perspektive besteht ein zentrales Problem des heutigen Multilateralismus in der institutionellen Schwäche des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen als höchstem Organ der kollektiven Friedenssicherung. Die Forschergruppe der HSFK geht von der Möglichkeit aus, die Entscheidungsprozesse im Sicherheitsrat zu verbessern, ohne die Privilegien der fünf Ständigen Mitglieder und Vetomächte als Vorbedingung für eine neue Verfahrensweise aufgeben zu müssen. Das angedachte Konzert könnte sozusagen als eine dem Sicherheitsrat vorgelagerte Instanz zur Konsensfindung fungieren und helfen, die Bedeutung des Vetos im Sicherheitsrat abzuschwächen, indem die Vetomächte sich außerhalb des Sicherheitsrates mit anderen Großmächten beraten oder Vetostaaten von anderen Mitgliedern des Konzerts durch »naming and shaming« unter Druck gesetzt werden, auf Obstruktion zu verzichten (Müller et al. 2014, S.23; Müller und Rauch 2015, S.62).

Es geht so gesehen also nicht um die Ausschaltung der Vereinten Nationen, sondern um eine Verbesserung ihrer Funktionsweise. Dementsprechend grenzt sich die Frankfurter Forschergruppe auch dezidiert gegenüber der Vorstellung ab, eine »Liga von Demokratien« könne als Alternative zu den Vereinten Nationen den sich vollziehenden Machtübergang von der hegemonialen zu einer pluralen Weltordnung bewerkstelligen. Eine solche Liga, so wird überzeugend argumentiert, würde zur Bildung von Gegenallianzen führen, so dass sich im Ergebnis die Probleme des Machtübergangs verschärfen würden (ebenda, S.48). In diesem Sinne kann man die »Blaupause« der Forschergruppe als ein Angebot für die Bearbeitung gegenwärtiger Weltordnungsprobleme verstehen, das im Gegensatz zu der Idee der Liga die Einheit des Völkerrechts wahrt und das System der Vereinten Nationen respektiert.

Insofern soll das Konzert mit der bestehenden Völkerrechtsordnung und den Vereinten Nationen kompatibel sein. Ob diese Kompatibilität aber gewahrt bleibt, hängt nach dem Urteil der Frankfurter Autoren davon ab, ob „das Konzert Selbstbeschränkung“ übt (Müller et al. 2014, S.23). Hier stellt sich jedoch die Frage, weshalb eine solche Selbstbeschränkung im Konzert besser funktionieren soll als im Sicherheitsrat, zumal den Entscheidungen im Sicherheitsrat ohnehin Konsultationen zwischen den Großmächten (und zwar auf verschiedenen Ebenen) vorgelagert sind. Eine Form der Selbstbeschränkung wäre natürlich der Ausschluss missliebiger Mitglieder (wie bei der G7/G8), aber gerade das gälte es ja zu vermeiden, soll das Konzert als solches nicht ad absurdum geführt werden.

Eine weitere Frage ergibt sich aus Folgendem: Für das 19. Jahrhundert kann man nur dann von einer Selbstbeschränkung des Konzerts sprechen, wenn man es zu heuristischen (analytischen) Zwecken von der Heiligen Allianz trennt, wie es die Autoren tun. In der Praxis hat es diese Trennung aber insofern nicht gegeben, als die Interventionspolitik der »Heiligen Allianz« auf das Konzert zurückwirkte (s.o.). Auch für die heutige Zeit wäre davon auszugehen, dass ein Großmächte-Konzert immer auch als Herrschaftsallianz fungieren würde, und zwar im doppelten Sinne: zur Kontrolle kleinerer Staaten und zur Kontrolle missliebiger sozialer Bewegungen im Namen der internationalen Sicherheit. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Wie sich heute in beklagenswerter Weise zeigt, ist nicht alles, was sich im Widerspruch zum etablierten Staatensystem auf innerstaatlicher oder transnationaler Ebene tut, als emanzipatorisch zu werten. Das Gegenteil kann der Fall sein (und das ist es im Falle des Terrorismus auch). Aber Selbstbeschränkung und Selbstermächtigung liegen eng beieinander und dürften sich, wie die historische Erfahrung zeigt, in der Praxis immer wieder in die Quere kommen.

Könnte das Konzert über die Kompatibilität mit der bestehenden Völkerrechtordnung in Gestalt der Vereinten Nationen hinaus zu deren Stärkung und Weiterentwicklung beitragen (Müller et al. 2014, S.23)? Bekanntlich hat Jürgen Habermas 1999 räsoniert, die unilaterale Intervention der NATO im Kosovo könnte sich unter bestimmten Bedingungen als Vorgriff auf eine angemessen institutionalisierte Weltordnung erweisen (Habermas 1999). Man hat heute nicht den Eindruck, dass es sich bei der Kosovo-Intervention tatsächlich um einen solchen Vorgriff gehandelt hat, sonst müsste man jetzt nicht über Alternativen wie die hier diskutierte nachdenken.

Andererseits hat sich die Verhandlungspolitik als Mittel des Krisenmanagements inzwischen weiterentwickelt, nicht trotz, sondern wegen der Zuspitzung gefährlicher Konflikte (Iran, Ukraine, Syrien). Würde Verhandlungspolitik zur Routine, wäre das durchaus ein gewisser Fortschritt im Umgang mit laufenden und kommenden Krisen und Konflikten (Staack 2015, 250). Das gedachte Konzert könnte in diesem Sinne den Raum für einen konstruktiven Umgang mit dem sich vollziehen Machtwechsel erweitern. Das ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Weiterentwicklung der bestehenden Völkerrechtsordnung.

Es besteht die Gefahr, dass eine solche Weiterentwicklung durch die Fixierung auf eine konzertante Großmächtepolitik gänzlich von der Tagesordnung der Weltordnungspolitik verschwinden würde. Es waren, wie bereits gesagt, die Funktionsschwächen des historischen Konzerts, die zu dem Unterfangen führten, die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Ermessen der Einzelstaaten zu entziehen und in ein System positiv-rechtlicher Regelungen zu überführen (Völkerbund, Vereinte Nationen). Die Fokussierung auf ein Konzert könnte diese Entwicklung umdrehen und wieder verstärkt auf die informelle Kooperation von Großmächten setzen. An Stelle einer rechtlichen Einschränkung einzelstaatlicher Handlungsfreiheit träte dann wieder die kluge Politik, von der schon Kant wusste, dass sie sich nicht von alleine einstellt, sondern unbedingt der positivrechtlichen Begleitung bedarf. Ohne eine solche Politik der Klugheit geht es nicht. Gefragt ist also eine Balance zwischen formellen und informellen Verfahren (Daase 2009), die durch die Einrichtung des Konzerts noch weiter zugunsten des Informellen verschoben würde und damit das völkerrechtliche Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten als Wendepunkt der Völkerrechtsentwicklung (Art. 2, Ziff. 1 UN-Charta) noch weiter aushöhlen würde (Fassbender 2004).

Fazit

Die Lehren des 19. Jahrhunderts für die kollektive Friedenssicherung sind gemischt. Einerseits zeigt die damalige Entwicklung, dass es Chancen einer multilateralen Kooperation zur Vermeidung großer Kriege gibt, die so von den Realisten nicht erkannt werden (können). Auf diese Chancen kann und muss man bauen. Andererseits zeigt sich im historischen Konzert ein Ineinandergreifen von Kriegsverhütung im Großen und Kriegstreiberei im Kleinen, die das Konzert von innen zerstörte. Die Errichtung einer positiv-rechtlichen Ordnung, die das freie einzelstaatliche Ermessen bei der Anwendung von Gewalt aufhebt, soll dem entgegenwirken. Ohne Ausbau des Völkerrechts kann man sich Mearsheimers Logik einer strukturell vorgegebenen Machtpolitik schwer entziehen.

Das Motto für alle Konzert-Partituren muss also lauten: „Zurück zum Völkerrecht!“ (Brock 2016) Denn eine grundlegende Verschiebung der Gewichte von der formellen auf die informelle Ebene der internationalen Politik (von der kollektiven Friedenssicherung zum »gerechten Krieg«) würde letztlich ins 19. Jahrhundert zurückführen. Aus dem »Zurück voran« würde dann doch ein »Voran zurück«, wenn auch nicht im Sinne Mearsheimers.

Anmerkungen

1) Politikwissenschaftliche »Realisten« stehen einem Fortschritt internationaler Ordnung durch Bindung einzelstaatlicher Handlungsfreiheiten an Rechtsnormen skeptisch gegenüber. Zentraler Fokus ist hingegen (wenn auch nicht ausschließlich) Politik als »ewiger« Streit um Macht und Sicherheit.

2) Beim »Konzert der Mächte« handelt es sich um eine mehr oder minder stark institutionalisierte, »konzertierte« Kooperation zwischen den europäischen Großmächten zur Gestaltung der europäischen Friedensordnung, die zunächst als Defensivbündnis gegen das revolutionäre Frankreich mit dem Vertrag von Chaumont am 1. März 1814 gegründet worden war und sich durch unregelmäßige diplomatische Treffen während des 19. Jahrhunderts verstetigte. Frankreich wurde nach dem endgültigen Sieg über Napoleon in das »Konzert« aufgenommen.

Literatur

Lothar Brock (2016): Zurück zum Völkerrecht – Friedensarchitekturen in kriegerischer Zeit. Blätter für deutsche und internationale Politik, 61(1), S.47-58.

Christopher Daase (2009): Die Informalisierung internationaler Politik – Beobachtungen zum Stand der internationalen Organisation. In: Klaus Dingwerth (Hrsg.): Die organisierte Welt – Internationale Beziehungen und Organisationsforschung. Baden-Baden: Nomos, S.290-308.

Jost Dülffer (1981): Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 in der internationalen Politik. Frankfurt am Main: Ullstein.

Bardo Fassbender (2004): Die souveräne Gleichheit der Staaten – ein angefochtenes Grundprinzip des Völkerrechts. Aus Politik und Zeitgeschichte, 15.10.2004.

Jürgen Habermas (1999): Bestialität und Humanität – Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral. DIE ZEIT, 29. April 1999.

Michael Jonas, Ulrich Lappenküper und Bernd Wegner (Hrsg.) (2015): Stabilität durch Gleichgewicht – Balance of Power im internationalen System der Neuzeit. Paderborn: Ferdinand Schöningh.

Martti Koskenniemi (2002): The Gentle Civilizer of Nations – The Rise and Fall of International Law 1870-1960. Cambridge: Cambridge University Press.

Dieter Langewiesche (1993): Europa zwischen Restauration und Revolution – 1815-1849. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 3. Aufl.

Ulrich Lappenküper und Reiner Marcowitz (Hrsg.) (2010): Macht und Recht – Völkerrecht in den internationalen Beziehungen. Paderborn: Ferdinand Schöningh.

John J. Mearsheimer (1990): Back to the future – Instability in Europe after the Cold War. International Security, 15(1), S.5-56.

Harald Müller et. al. (2014):, Ein Mächtekonzert für das 21. Jahrhundert – Blaupause für eine von Großmächten getragene multilaterale Sicherheitsinstitution. HSFK-Report Nr. 1/2014.

Harald Müller und Carsten Rauch (2015): Machtübergangsmanagement durch ein Mächtekonzert – Plädoyer für ein neues Instrument zur multilateralen Sicherheitskooperation. Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung, 4(1), S.36-73.

Jürgen Osterhammel (2001): Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats – Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich. Bonn: Vandenhoeck & Ruprecht.

Klaus Schlichte (2010): Das formierende Säkulum – Macht und Recht in der internationalen Politik des 19. Jahrhunderts. In: Lappenküper und Marcowitz 2010, op.cit., S.161-177.

Matthias Schulz (2009): Normen und Praxis – Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat – 1815-1860. München: De Gruyter Oldenbourg.

Matthias Schulz (2015): Mächterivalität, Rechtsordnung, Überlebenskampf – Gleichgewichtsverständnis und Gleichgewichtspolitik im 19. Jahrhundert. In: Jonas et. al. 2015, op.cit., S.81-99.

Hendrik Simon (2016): The Myth of Liberum Ius Ad Bellum in 19th Century International Legal Discourse. Manuskript.

Michael Staack (2015): Von der »Pax Americana« zur multipolaren Konstellation – Perspektiven einer neuen Weltordnung zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Jonas et. al. 2015, op.cit., S.225-254.

Miloš Vec (2010): Intervention/Nichtintervention – Verrechtlichung der Politik und Politisierung des Völkerrechts im 19. Jahrhundert. In: Lappenküper/Marcowitz 2010, op.cit., S.135-160.

Wolfram Wette (2014): Der Erste Weltkrieg – nur noch Geschichte? In: Bruno Schoch et al. (Hrsg.): Friedensgutachten 2014. Münster: LIT, S.59-71.

Adam Zamoyski (2007): Rites of Peace – The Fall of Napoleon and the Congress of Vienna. New York: HarperCollins; deutsche Ausgabe 2014 erschienen unter dem Titel »1815: Napoleons Sturz und der Wiener Kongress« bei C.H. Beck.

Lothar Brock ist Seniorprofessor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität und Gastforscher am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, beide Frankfurt am Main.
Hendrik Simon, Dipl.-Pol. und M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main und promoviert zur Rechtfertigung von Gewalt und Frieden in den internationalen Beziehungen.

Kolonialismus auf Samtpfoten

Kolonialismus auf Samtpfoten

Die Handelspolitik der Europäischen Union

von Guido Speckmann

Die Verhandlungen über die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zwischen den USA und der EU geraten derzeit immer stärker in die Kritik – zu Recht. Allerdings besteht die Gefahr, dass die europäischen Bestrebungen, mit anderen Ländern vergleichbare Übereinkünfte abzuschließen, nicht genügend kritische Öffentlichkeit erhalten. Denn derzeit versucht die EU, ihre Handelsbeziehungen nicht nur mit den USA und aufstrebenden Schwellenländern, wie Indien, sondern auch mit ökonomisch deutlich schwächeren Ländern aus Afrika, der Karibik und dem Pazifik – den AKP-Staaten – neu zu verhandeln. Dies soll in Gestalt von »Wirtschaftspartnerschaftsabkommen« (Economic Partnership Agreement, EPA) geschehen. Im Kern läuft dies auf die Ausweitung des Freihandels hinaus – und damit auf die Ausübung von struktureller Gewalt in Gestalt einer Perpetuierung von Unterentwicklung.

Bis zum Jahr 2000 regelte das Lomé-Abkommen die Handelsbeziehungen zwischen Europa und den AKP-Staaten. Dieses hatte zum Ziel, die ehemaligen, zumeist britischen und französischen, Kolonien wirtschaftlich zu fördern, und gewährte ihnen daher einseitige Handelsvorteile. Die Welthandelsorganisation (WTO) sah darin jedoch einen Widerspruch zu ihren Freihandelsprinzipien und strengte neue Verhandlungen zur Liberalisierung des Handels an. Die »Doha-Runde« der WTO musste jedoch im Jahr 2008 ohne Ergebnis abgebrochen werden: Die »Entwicklungsländer«, vor allem das Schwellenland Indien, weigerten sich, ihre Schutzzölle auf Agrargüter abzubauen, da sie befürchteten, ihre einheimische Agrarproduktion würde durch die Importe aus den hoch industrialisierten Staaten zerstört – angesichts zahlreicher Beispiele, etwa in Ghana und Kamerun, eine sehr berechtigte Furcht.1 Ob die Einigung auf der 9. WTO-Ministerkonferenz im Dezember 2013 in Bali der Doha-Runde neuen Schwung einhaucht, bleibt abzuwarten.2 Die EU wie auch die Vereinigten Staaten sind ohnehin schon längst dazu übergegangen, bilateral mit Staatengruppen und einzelnen Ländern Handelsabkommen zu verhandeln und abzuschließen. Das Besondere an dieser Strategie ist, dass die Ziele noch viel weitreichender sind als die innerhalb der WTO. Nicht nur beim Handel mit Gütern, sondern auch bei Dienstleistungen, Investitionsbedingungen und geistigen Eigentumsrechten, beim öffentlichen Auftragswesen und der Wettbewerbspolitik fordert die EU Liberalisierungsschritte von den Ländern des globalen Südens.3

Die wirtschaftlichen Folgen solcher Wirtschaftspartnerschaftsabkommen dürften für die betroffenen Staaten negativ ausfallen: Ein Ausschuss der Französischen Nationalversammlung prognostizierte in einem Bericht vom Juli 2006, eine Marktöffnung führe bei den AKP-Staaten erstens zu einem Haushaltsschock wegen der zu erwartenden Einnahmeverluste aufgrund der entfallenden Importzölle, zweitens zu einem Außenhandelsschock durch sinkende Wechselkurse, drittens zu einem Schock für die im Aufbau befindlichen Industriesektoren und viertens zu einem landwirtschaftlichen Schock, da lokale Produzenten mit den Billigimporten aus der EU nicht konkurrieren könnten.4

Der Gewerkschafter und Koordinator des Programms »Alternativen zum Neoliberalismus in Südafrika«, Timothy Kondo, befürchtet sogar, die betroffenen Staaten würden zum „Teil eines Plans der EU zur Rekolonisierung“.5 Auch aufgrund der Proteste sozialer Bewegungen pochen die betroffenen AKP-Staaten darauf, die Hoheit über ihre wirtschaftspolitischen Räume und damit die Chance zur »Entwicklung« behalten zu können. Die meisten AKP-Staaten willigten daher bislang nur in so genannte Interimsabkommen ein, die ausschließlich die Handelsliberalisierung von Handelsgütern betreffen. Lediglich die karibischen Staaten haben bisher EPA-Abkommen unterzeichnet. Die ausstehenden Abschlüsse beabsichtigt die EU bis zum Oktober 2014 auszuhandeln.6 Die Zustimmung zu den Abkommen will sie im Notfall mit der Streichung von Entwicklungshilfegeldern durchsetzen. Zudem überlegt sie, jenen Staaten, die zwar über die EPAs verhandeln, allerdings noch keines abgeschlossen haben, den Zugang zum EU-Markt zu verwehren. Zuletzt gab es Meldungen über einen Kompromiss zwischen der EU und den westafrikanischen Staaten, während sich eine Einigung mit den ostafrikanischen Staaten noch nicht abzeichnet. Das Economic Justice Network kritisierte diesen Kompromiss als „unbegreiflich“, weil seine Umsetzung enorme Steuerausfälle und den Verlust von Jobs zur Folge hätte.7 Überdies dürfte der Umstand, dass die EU mit einzelnen Staaten anstatt mit Staatengruppen in Afrika und den pazifischen Staaten verhandelt, diese mächtig unter Druck setzen. Denn die EU ist so in der Lage, ihre weit höhere Ausstattung mit Geld, Kompetenz und Personal voll auszuspielen – und damit regionale Integrationsprozesse zu torpedieren.

Ablassé Ouédraogo, der ehemalige stellvertretende Generaldirektor der WTO, fasst den Stand und die Problematik der EPA-Verhandlungen wie folgt zusammen: „Nach sieben Jahren vergeblicher Diskussionen versucht Europa nun, die EPAs mit Zwang statt Dialog durchzusetzen. Wenn die Abkommen in ihrer derzeitigen Form endgültig in Kraft treten würden, würden sie den AKP-Staaten die wichtigsten politischen Instrumente, die sie für ihre Entwicklung benötigten, verwehren.“ 8

Knackpunkt Ausfuhrsteuern

Insbesondere die Ausfuhrsteuern sind ein Knackpunkt bei den Verhandlungen zwischen der EU und den AKP-Staaten. Für viele Staaten des globalen Südens sind Ausfuhrsteuern ein wichtiges wirtschafts- und entwicklungspolitisches Instrument. Die Erhebung von Steuern beim Export von Rohstoffen stellt zum einen eine wichtige Einnahmequelle für den Staatshaushalt dar; des Weiteren trägt sie dazu bei, dass im eigenen Land weiterverarbeitende Industriezweige entstehen können, und nicht zuletzt können Ausfuhrsteuern auch dem Ressourcen- und Umweltschutz dienen. Sie sind sicher kein Allheilmittel, aber Beispiele belegen, dass sie zur Förderung von Weiterverarbeitung und Fertigung sowie damit verbundener Dienstleistungen beitragen können – eine Voraussetzung für »Entwicklungsländer«, sich aus ihrer Rolle als Rohstofflieferant zu befreien. Mit einem EPA indes müsste die Ausfuhrsteuer drastisch gesenkt werden.9 In dem bisher einzigen unterzeichneten umfassenden EPA – das mit den karibischen Staaten – sind Ausfuhrsteuern bis auf wenige Sonderfälle verboten (ebenso in dem im Dezember 2012 unterzeichneten und im Mai 2013 in Deutschland ratifizierten Freihandelsabkommen der EU mit Kolumbien und Peru). Auch das Interim-EPA beispielsweise mit Kamerun erlaubt Exportsteuern nur im Falle massiver Störungen der Staatsfinanzen und zum Zweck des Umweltschutzes, nicht jedoch zum Schutz von lokaler Produktion oder zur Erhöhung von Staatseinnahmen.10

Dabei verstoßen Ausfuhrsteuern keineswegs gegen WTO-Regeln, und auch völkerrechtlich ist es der so genannten Prinzipienerklärung der Vereinten Nationen von 1970 zufolge zulässig, dass Staaten ihren Wirtschaftsraum durch protektionistische Maßnahmen schützen, dass sie Export- und Importbeschränkungen, Schutzzölle und Warenkontingentierungen einführen, sich ihre Handelspartner frei auswählen oder mitunter auf Handel ganz verzichten.11

Droht eine neokoloniale Weltordnung?

Angesichts der zu befürchtenden negativen Auswirkungen der EPAs für die Ökonomien der Länder des globalen Südens sprechen einige Autoren daher bereits von einer neokolonialen Weltordnung. Der nigerianische Ökonom Soludo etwa vergleicht die von Brüssel vorangetriebenen EPA-Verhandlungen mit der Berliner Konferenz von 1884-85, auf der die europäischen Großmächte Afrika unter sich aufteilten12 – im Nachhinein vielleicht das Symbol des historischen Kolonialismus schlechthin.

Doch sind es nicht vielmehr die normalen Funktionsprinzipien des kapitalistischen Weltsystems, die im Süden der Wahrnehmung einer neokolonialistischen Weltordnung Vorschub leisten? Zu diesem Schluss kommt der Politikwissenschaftler Aram Ziai: „Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die betreffenden Phänomene oft nichts weiter sind als die »ganz normalen« Auswüchse der aus einem globalisierten Kapitalismus und Staatensystem bestehenden Weltordnung.“ Die legitime marktwirtschaftliche und liberaldemokratische Normalität der einen sei somit der Neokolonialismus der anderen.13 Demzufolge handelt es sich um eine Wahl der Perspektive: Der privilegierte Norden nennt es – affirmativ – »liberale Marktwirtschaft« oder kritisch einen »Auswuchs des globalisierten Kapitalismus«, der unterprivilegierte Süden »Neokolonialismus«.

In letzterem Fall würde der Begriff Kolonialismus dann freilich sehr weit angewandt, nämlich auf beinahe alle Formen asymmetrischer Beziehungen. Die Spezifik des Begriffs – gerade in Abgrenzung zur historischen Epoche des Kolonialismus – ginge verloren, weil zentrale Merkmale des klassischen Kolonialismus, wie die direkte staatliche Beherrschung eines anderen Landes und das Überlegenheitsgefühl gegenüber »Andersartigen«, gegenwärtig fehlen. Vielleicht wäre daher heute besser von einem »Kolonialismus auf Samtpfoten« zu sprechen. Eines jedoch steht fest: Eine Jahrhunderte überdauernde Kontinuität lässt sich unbestritten ausmachen: der Versuch der Europäer (und anderer industrialisierter Staaten), sich die Ressourcen und Reichtümer fremder Länder und Meere14 anzueignen.

Der europäische Rohstoffraub

Vor dem Hintergrund der knapper und damit teurer werdenden Rohstoffe und der aufstrebenden Konkurrenz aus Indien, China, Brasilien und Russland, die ebenfalls Anspruch auf begehrte Bodenschätze erheben, bemüht sich die EU darum, den in ihnen beheimateten Großkonzernen eine gute Geschäftsgrundlage, sprich: unbegrenzten und billigen Zugang zu Rohstoffen, zu sichern. Viele der Ressourcen befinden sich in Afrika – aufgrund des europäischen Imperialismus einer der wirtschaftlich am wenigsten entwickelten Kontinente der Welt. Die Handelspolitik der EU ist dabei eingebettet in die so genannte Global-Europe- und Lissabon-Strategie der EU-Kommission. Diese verfolgt das Ziel, aus Europa den „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt“ 15 zu machen. Im Jahr 2010 wurde diese Strategie in das Konzept Europa 2010 überführt.

Im Kontext der Global-Europe-Strategie ist auch die 2008 vorgestellte »Rohstoffinitiative« der EU zu verorten, deren vorrangiges Ziel die „faire und nachhaltige Versorgung mit Rohstoffen aus globalen Märkten“ 16 ist. Das Wörtchen »fair« kann dabei unter postkolonialer Rhetorik verbucht werden, entscheidend ist der Anspruch der EU auf Befriedigung des kapitalistischen Wachstumszwangs, der ohne den permanenten Nachschub an Rohstoffen nicht möglich ist. Ungeachtet der kolonialen Vergangenheit Europas wird hier gleichsam die Ausübung neokolonialer Praktiken eingefordert. Neokolonial deshalb, weil die Rohstofflieferanten im Unterschied zur klassischen Epoche des Kolonialismus formal souverän sind und die neokolonialen Praktiken in der Regel in einem rechtlichen Rahmen, sei es innerhalb der WTO oder besagter Freihandelsabkommen, erfolgen – und das mit Unterstützung moderner bürgerlicher Klassen in den Ländern des globalen Südens.

Die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) medico international und Attac kritisieren die EU-Rohstoffinitiative daher auch als »Rohstoffraub«. Der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen verpflichtet, so die Kritik, nehme die Rohstoffinitiative der EU billigend in Kauf, dass den armen Ländern ihr natürlicher Reichtum entwendet werde. Zwar handelt es sich in Abgrenzung zum klassischen Kolonialismus nicht primär um gewaltsam erzwungenen Raub bzw. um die Öffnung von Märkten mit Kanonen. Die Anwendung von kriegerischen Mitteln ist jedoch auch nicht ausgeschlossen. Ein Blick in die verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundesrepublik vom Mai 2011 zeigt, dass kriegerische Gewalt zur Aufrechterhaltung des Zugangs Deutschlands und Europas zu Rohstoffen erneut als Aufgabe definiert wird.

Doch gegenwärtig üben die Staaten des globalen Nordens in erster Linie strukturelle Macht aus – etwa über die Wirtschaftspartnerschafts- oder Freihandelsabkommen. Was das aber für die Lohnabhängigen, Kleinbauern und informell Beschäftigten der betroffenen Länder bedeutet, zeigt ein Blick in die jüngste Vergangenheit: Eine Studie der britischen NGO »War on Want« zufolge haben Millionen Menschen in Afrika und Lateinamerika im Zuge der vom Internationalen Währungsfond und der Weltbank durchgesetzten Liberalisierungen mittels der berüchtigten Strukturanpassungsprogramme ihren Job verloren und sind in (extreme) Armut abgerutscht.17 Ähnliche Konsequenzen befürchten die NGOs Oxfam und WEED auch für die Zukunft. Die EU-Strategie führe im schlimmsten Fall zu einem Ressourcenraub, „der Teil eines neuen Kampfes um Afrika und andere Regionen ist und der Entwicklungsländer in eine neue Spirale der Armut treiben wird“.18

Was sind die Alternativen?

Was aber sind die Alternativen? Aus Sicht der »Entwicklungsländer« ist ein wesentliches Element die Beibehaltung bzw. Einführung einer so genannten protektionistischen Politik. So plädiert Timothy Kondo mit Blick auf Südafrika für eine solche, „bis die technische, institutionelle und wissensbasierte Kluft zwischen den Entwicklungsländern und den industrialisierten Ländern geschlossen ist“.19

Protektionismus ist nämlich mitnichten Teufelszeug, wie die gegenwärtigen Verfechter des Freihandels immer wieder behaupten. Im Gegenteil: Heute führende kapitalistische Länder wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder die USA und jüngst auch südostasiatische Staaten haben ihre im Entstehen befindlichen Industriezweige einst selbst mit Importkontrollen und Schutzzöllen vor der Weltmarktkonkurrenz geschützt. Protektionismus war oftmals sogar die Voraussetzung für Industrialisierung und wirtschaftliche »Entwicklung«, wie der südkoreanische Wirtschaftswissenschaftler Ha-Joon Chang in seinem Buch »Bad Samaritans«20 zeigt. England etwa habe 150 Jahre lang auf Protektionismus gesetzt, bevor es zum Freihandel überging. Chang fasst dieses Phänomen mit dem auf Friedrich List zurückgehenden Ausdruck „kicking away the ladder“ zusammen: Das Mittel Protektionismus, mit dem die »Erste Welt« ihren ökonomischen Aufstieg geschafft hat, wird den anderen vorenthalten und stattdessen ein freier Markt, Deregulierung und Liberalisierung gepredigt und durchgesetzt.

Auch heute noch betreiben führende kapitalistische Staaten, wie die USA oder die Mitglieder der EU, still und heimlich in bestimmten Sektoren eine subventionsprotektionistische Politik. Das Musterbeispiel dafür ist der Agrarbereich, den sie durch milliardenschwere Hilfen vor der Konkurrenz aus anderen Staaten schützen.

Wann protektionistische Maßnahmen eingesetzt werden, um bestimmte Wirtschaftsbereiche zu schützen, und wann nicht, hängt dabei von der Stärke der einzelnen wirtschaftlichen Sektoren ab. Solange bestimmte Konzerne und Industriezweige nicht reif für den rauen Weltmarkt sind, werden sie geschützt. Sobald sie indes den globalen Wettbewerbsbedingungen standhalten und Konkurrenten ausschalten können, wird Freihandel gepredigt und praktiziert. Das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie spricht daher von einer im real existierenden Freihandel allenthalben waltenden Doppelmoral:21 Der globale Norden verordne dem globalen Süden offene Märkte, sei aber selbst noch weit davon entfernt, seine eigenen Märkte zu öffnen. Der Politikwissenschaftler Jeremy Leaman hält die Forderung nach Freihandel für einen Ausdruck der Stärke der »Ersten Welt«. „Rhetorisch wirbt man für die Akzeptanz des Freihandels, indem man nach Ricardo den eigenen Vorteil als einen Gewinn für alle Beteiligten verabsolutiert – wohl wissend, dass die Vorteile bestenfalls asymmetrisch verteilt sein werden.“ 22

Kurz: Beim Freihandel geht es im Kern um die Absicherung von Macht und Herrschaft und um ein Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnis, das den entwickelten kapitalistischen Staaten und ihren global operierenden Konzernen weiterhin Absatzmärkte und Profite sichern soll. Hinter der Verteufelung des Protektionismus verbirgt sich letztendlich vor allem die Furcht der herrschenden Klasse, in ihrer ökonomischen und politischen Machtstellung angegriffen zu werden. Dass für die Repräsentanten der Nordhalbkugel die sozialen Folgen ihrer Politik auf der Südhalbkugel zweitrangig sind, zeigt ein Zitat Vital Moreiras, des Vorsitzenden des EU-Ausschusses für internationalen Handel. Auf die Kritik von »Dritte-Welt-Gruppen«, die ihn auf die Gefahren des Freihandels für indische Kleinbauern aufmerksam machten, erwiderte er: „Ich repräsentiere die Interessen der Europäischen Union, der Wirtschaft, der Konsumenten, der Beschäftigten. […] Die wirtschaftlichen und sozialen Interessen Indiens sollten von Ihrer Regierung wahrgenommen werden.“ 23

Dennoch: Bei der Suche nach Alternativen zum Freihandel allein auf Protektionismus zu setzen, würde der komplexen Realität des globalen Marktes nicht gerecht; die Diskussion um Freihandel versus Protektionismus ist zu grob und zu eng gesteckt. Vielmehr müssten protektionistische Maßnahmen mit einer Importsubstitution verbunden werden, denn tatsächlich, so betont etwa der Professor für politische Ökonomie an der London School of Economics, Robert Hunter Wade, liege „die zentrale Herausforderung für die nationale Entwicklungspolitik nämlich darin, durch die entsprechende Kombination des Prinzips des komparativen Vorteils mit dem Prinzip der Importsubstitution eine Höherentwicklung und Erweiterung der nationalen Produktion zu erreichen“.24 Das müsse nicht unbedingt mit Protektion einhergehen. Strategisches Wirtschaften verlange Freihandel oder Protektion oder Subventionen oder eine Kombination von alledem, je nach den Umständen und dem Industrialisierungsniveau eines Landes.

Darüber hinaus sollte sich die Diskussion um Alternativen noch mit einer weiteren Frage auseinandersetzen, nämlich der, wie die Nord-Süd-Beziehungen zukünftig insgesamt gerechter gestaltet werden könnten, wie etwa ein „alternatives de-globalisiertes System der Global Governance“ (Walden Bello) aufzubauen wäre.25 Folgende Prinzipien und Fragen wären hier zu nennen: fairer Handel, Binnen- statt Exportorientierung, Re-Regulierung der internationalen Finanz- und Warenmärkte, Demokratisierung von Investitionsentscheidungen, Subsidiaritätsprinzip in der Ökonomie und Streichung der Schulden für die Länder des globalen Südens. Schließlich muss auch die Frage aufgeworfen werden, wie insbesondere (aber nicht nur) die schlimmsten, an die Ära des Kolonialismus erinnernden Auswüchse des globalisierten Kapitalismus überwunden werden können – das indes wäre ein Kapitel für sich.

Anmerkungen

1) Structural Adjustment Participatory Review International Network (SAPRIN) (2002): The Policy Roots of Economic Crisis and Poverty. A Multi-Country Participatory Assessment of Structural Adjustment. Washington D.C.

2) Tobias Reichert: Die WTO übt sich in neuer Balance. Überraschungspaket aus Bali. Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, 11-12/2013. Francisco Mari: Die WTO der Konzerne ist zurück. Brot für die Welt online, 9.12.2013.

3) Mark Curtis (2010): Die neue Jagd nach Ressourcen: Wie die EU-Handels- und Rohstoffpolitik Entwicklung bedroht. Berlin: Oxfam e.V. und WEED e.V..

4) Annette Groth und Theo Kneifel (2007): Europa plündert Afrika. Der EU-Freihandel und die EPAs. Hamburg. VSA, AttacBasisText 24, S.62.

5) Timothy Kondo (2012): Alternatives to the EU’s EPAs in Southern Africa. The case against EPAs and thoughts on an alternative trade mandate for EU policy. Hrsg. von Comlámh, AITEC and WEED, Dublin: Comhlámh.

6) Patrick Jaramogi: EU sets deadline for October. New Vision, 3.3.2014.

7) EE seals free trade deal with West Africa. euractiv.com, 5.2.2014. EJN cautions ECOWAS over EPA. SpyGhana. com, 6.2.2014.

8) Zit. nach Curtis, a.a.O., S.13.

9) Ebd., S.5.

10) Ebd., S.25.

11) Vgl. Norman Paech und Gerhard Stuby (2013): Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen. Hamburg: VSA, aktualisierte Ausgabe, S.731.

12) Chukwuma Charles Soludo: From Berlin to Brussels. Will Europe Underdevelop Africa Again? ThisDayLive, 19.3.2012.

13) Aram Ziai: Neokoloniale Weltordnung? Brüche und Kontinuitäten seit der Dekolonisation. Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 44-45/2012, S.23-30.

14) Jean-Sébastien Mora: Europas Raubzüge zur See. Le Monde diplomatique, 11.1.2013, S.1.

15) Europäischer Rat: Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 23. und 24. März 2000, Lissabon.

16) Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Umsetzung der Rohstoffinitiative. Brüssel 2013, S.6.

17) War on Want (ed.) (2009): Trading Away Our Jobs. How free trade threatens employment around the world. London.

18) Curtis, a.a.O., S.4.

19) Kondo, a.a.O., S.9.

20) Ha-Joon Chang (2008): Bad Samaritans. The guilty secrets of rich nations & the threat to global prosperity. London: Cornerstone Digital.

21) Wuppertal Institut (Hrsg.) (2005): Fair Future. Begrenzte Ressourcen und globale Gerechtigkeit, Lizenzausgabe, Bonn, S.207 (Original erschienen in München: C.H. Beck).

22) Jeremy Leaman: Hegemonialer Merkantilismus. Die ökonomische Doppelmoral der Europäischen Union. Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2/2008, S.76-90, hier S.77.

23) Zit. nach Dominik Müller: Die Handelsinvasoren kommen, Eine Geschichte aus Indien von Gewinnern und Verlierern. Deutschlandradio, 19.3.2013, S.21.

24) Robert Hunter Wade: Welche Strategien bleiben den Entwicklungsländern heute? Die Welthandelsorganisation und der schrumpfende »Entwicklungsraum«, In: Ahalini Randeria und Andreas Eckert (2009): Vom Imperialismus zum Empire. Nicht-westliche Perspektiven auf Globalisierung. Frankfurt a.M.:, Suhrkamp, S.260.

25) Walden Bello (2005): De-Globalisierung. Widerstand gegen die neue Weltordnung. Hamburg: VSA Verlag. Vgl.: Alternativen zur Tyrannei der neoliberalen Globalisierung. Manifest von Porto Alegre vom 29.1.2005 (Wortlaut). Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 5/2005, S.382-384.

Der vorliegende Artikel ist eine leicht gekürzte und aktualisierte Fassung aus:
Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2013, S. 59-66.

Guido Speckmann ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er lebt in Hamburg und Berlin.

Australien zwischen Asien und Europa

Australien zwischen Asien und Europa

Wohin geht die Reise?

von Daniel Lambach

Die australische Außen- und Sicherheitspolitik wird von der Frage geprägt, ob Australien eine europäische oder eine multikulturelle Nation ist. Während konservative Parteien die europäische Vergangenheit betonen, heben Labor und ihre Verbündeten die asiatisch geprägte Zukunft des Landes hervor. Daraus ergeben sich unterschiedliche Sichtweisen auf die regionale Politik, in der Australien seinen Platz zwischen etablierten und aufstrebenden Mächten sucht.

Australiens Außen- und Sicherheitspolitik erfährt wegen seiner Rolle in der Region und seiner Allianz mit den USA zunehmend an Aufmerksamkeit. Zwei brisante Aspekte, die in Fachkreisen diskutiert werden, sind bspw. die Rolle der militärischen US-Basen in Australien sowie seine ambivalente Atomwaffenpolitik, die zwischen Ablehnung (siehe die Berichte der »Canberra Commission on the Elimination of Nuclear Weapons« 1996 sowie der »International Commission on Nuclear Non-Proliferation and Disarmament« 2009) und Akzeptanz (Schutz durch den US-amerikanischen Nuklearschirm, Uranhandel mit Indien) schwankt. Der nachstehende Beitrag fokussiert gleichwohl auf einen anderen Aspekt: die ständige Auseinandersetzung der australischen Gesellschaft mit ihrer Identität.

Diese befindet sich seit ihrer Gründung als Strafkolonie des britischen Empire in einem beständigen Prozess der Selbstfindung. Nach der Unterwerfung und Verdrängung der einheimischen Bevölkerung wurde die angelsächsisch geprägte Gesellschaft nach dem Goldfund 1851 mit einer Einwanderungswelle aus Asien konfrontiert, auf die sie abwehrend reagierte. Australische Gewerkschaften protestierten außerdem gegen den »Import« von Arbeitskräften aus den Inselkolonien im Südpazifik, die als so genannte Vertragsknechte (indentured servants) auf Plantagen eingesetzt wurden. Ende des 19. Jahrhunderts hatten die meisten australischen Territorien Gesetze erlassen, die die Zuwanderung aus Asien und Ozeanien deutlich einschränkten.

Mit der Unabhängigkeit des australischen Commonwealth 1901 wurden die Regelungen vereinheitlicht und verschärft. Dies markierte den Beginn der »Politik des weißen Australiens« (White Australia Policy), welche die asiatische Einwanderung nahezu verbot und insbesondere die Bevorzugung angelsächsischer EinwanderInnen ermöglichte. Australien verstand sich politisch und kulturell als untrennbarer Teil des britischen Commonwealth.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geriet diese Politik ins Wanken. Die japanischen Luftangriffe auf das nordaustralische Darwin hatten die Verwundbarkeit des dünn besiedelten Landes demonstriert. Die Chifley-Regierung (1945-1949) argumentierte, Australiens Bevölkerung müsse wachsen, um seine Sicherheit zu garantieren, und empfahl ein jährliches Bevölkerungswachstum von 1%, das vor allem durch Zuwanderung erreicht werden sollte. Beschränkte sich diese zunächst vor allem auf Ost- und SüdeuropäerInnen, wurden auch die Hürden für AsiatInnen nach und nach gesenkt. Zwischen 1973 und 1975 beseitigte die Regierung Whitlam die letzten Spuren rassistischer Diskriminierung aus den Einwanderungsgesetzen und setzte der Politik des weißen Australiens ein Ende.

Identitätskonflikte der politischen Lager

In dieser historischen Entwicklung wird die zentrale Konfliktlinie der australischen Gesellschaft deutlich: Inwieweit versteht man sich kulturell der »Anglosphäre« zugehörig, inwieweit versteht man Australien als Teil Ozeaniens und Asiens? Diese Positionen lassen sich den beiden wichtigsten Parteien des Landes zuordnen: der liberalkonservativen Liberal Party of Australia und der sozialdemokratischen Australian Labor Party. Während sich die Liberalen stärker der europäischen Tradition verhaftet fühlen, waren Labor-Regierungen seit Whitlam eher bereit, Australien als multikulturelle Einwanderungsgesellschaft anzuerkennen.

Tabelle 1: Australische Regierungen seit den 1970er Jahren

Zeit Premierminister Partei
1972-1975 Gough Whitlam Labor Party
1975-1983 Malcolm Fraser Liberal Party
1983-1991 Bob Hawke Labor Party
1991-1996 Paul Keating Labor Party
1996-2007 John Howard Liberal Party
2007-2010 Kevin Rudd Labor Party
2010-2013 Julia Gillard Labor Party
2013 Kevin Rudd Labor Party
2013-… Tony Abbott Liberal Party

Da Liberale und Labor ihre Selbstbilder über Konstruktionen von Zugehörigkeit und Fremdheit erzeugen, ist es kein Wunder, dass Unterschiede in der Außen- und Sicherheitspolitik stark hervortreten. Der Vergleich verschiedener, in Tabelle 1 aufgeführter Regierungen der vergangenen Jahrzehnte macht das deutlich. (Frasers Außenpolitik war sehr moderat und wich nicht allzu sehr von der Whitlams ab.)

Die Regierungen Hawke und Keating folgten einem Rollenverständnis von Australien als »gutem Weltbürger« (good international citizen). Entscheidend geprägt wurde dies von Außenminister Gareth Evans (1988-1996). Dieser verstand Weltbürgertum als gemeinschaftsorientiertes Handeln aus Eigeninteresse: Durch ein beispielhaftes Verhalten in der internationalen Diplomatie sollte das weltweite Ansehen Australiens verbessert werden, um dadurch wiederum Unterstützung für die eigenen Ziele zu erhalten. In einer zunehmend interdependenten Weltgesellschaft könne sich Australien nicht von grenzüberschreitenden Problemen isolieren, sondern sollte sich an deren Bewältigung beteiligen. Konkret bedeutete das ein klares Engagement für humanitäre Positionen, Multilateralismus, insbesondere die Vereinten Nationen, Menschenrechte sowie Entwicklungshilfe und eine Absage an Rassismus und Apartheid.

In dieser Phase war Australien sehr aktiv in der Schaffung und Stärkung internationaler Allianzen und Organisationen. Die Gründung der asiatisch-pazifischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit (Asia-Pacific Economic Cooperation, APEC) 1989 ging auf eine Initiative von Hawke zurück. Gleiches gilt für die 1986 gegründete »Cairns-Gruppe«, eine aus 19 Ländern bestehende Allianz großer Agrarproduzenten, die bei GATT/WTO-Verhandlungen zur Liberalisierung der Agrarmärkte gemeinsame Interessen vertritt. Die Regierung verteidigte andererseits aber auch die indonesische Annexion Osttimors 1975. Zwar war diese bereits von der Fraser-Regierung anerkannt worden, dennoch schlossen die Labor-Regierungen aus strategischen Gründen wichtige Verträge mit Indonesien und hielten sich mit Kritik an den andauernden Massakern und Menschenrechtsverletzungen zurück.

Die Howard-Regierung orientierte ihre Außenpolitik an anderen Maßstäben. Sie kritisierte, dass Labor die nationalen Interessen Australiens zu wenig beachtet habe, verschärfte die Einwanderungsgesetze und setzte auf eine vorbehaltlose Unterstützung der USA im »globalen Krieg gegen den Terror«. Den Wendepunkt markierte die australische Leitung von INTERFET, einer multilateralen Friedensmission im Auftrag der UN, die Gewaltausbrüche nach dem Unabhängigkeitsreferendum in Osttimor 1999 eindämmen sollte. Zwar konnte das Engagement noch im Sinne des alten Multilateralismus gesehen werden, der Tonfall der Howard-Regierung ließ es jedoch in einem anderen Licht erscheinen. Howard hatte nach seinem Amtsantritt 1996 bei jeder Gelegenheit die europäische Identität Australiens betont, auch wenn er hinzufügte, dass dies einer produktiven Zusammenarbeit mit asiatischen Ländern nicht im Wege stehe (Leaver 2001). Die Betonung kultureller Distanz, kombiniert mit dem forschen militärischen Engagement in Osttimor, ließ jedoch Warnsignale in mehreren südoasiatischen Ländern schrillen, am meisten natürlich in Indonesien.

Diese Position wurde in den Folgejahren ausgebaut. Australien trat gegenüber seinen Nachbarstaaten machtbewusster auf. Höhepunkt waren die Jahre 2003 und 2004, als Australien die regionale Eingreiftruppe RAMSI (Regional Assistance Mission to Solomon Islands) aufstellte, um im Bürgerkrieg auf den Salomonen zu intervenieren. Zwar geschah dies mit Zustimmung der salomonischen Regierung und vieler Inselstaaten, dennoch erzeugte es als nicht von den Vereinten Nationen mandatierte Intervention eine Unsicherheit darüber, inwieweit das ein Präzedenzfall für das künftige Verhältnis von Australien zu seinen Nachbarn sein könnte. Verschärft wurde die Unsicherheit durch die angespannten Beziehungen mit Papua-Neuguinea, bei der beide Seiten in den Verhandlungen um ein Entwicklungshilfepaket einiges diplomatisches Porzellan zerschlugen und in (neo-) koloniale Rhetorik verfielen, sowie mit Osttimor, als beide Länder eine offene Auseinandersetzung um die Ziehung ihrer Seegrenze führten (Lambach 2006). Ferner setzte die Howard-Regierung stark auf ihre Allianz mit den USA und beteiligte sich an der Irakinvasion 2003. Dies basierte auf Howards Überzeugung, dass Australien Teil einer globalen »Anglosphäre« sei, die die durch die angelsächsische Kultur geprägten Länder miteinander verbinde. Bald zirkulierte ein Slogan, der dem Premierminister (anscheinend fälschlicherweise) zugeschrieben wurde, wonach Australien der »Hilfssheriff« der USA in Südostasien sei (Leaver 2001, S.16).

Mit dem Labor-Wahlsieg 2007 setzte Premierminister Kevin Rudd neue Akzente. Rudd ist ein ehemaliger Diplomat und studierter Sinologe – deutlicher hätte der Wandel der australischen Außenpolitik kaum personifiziert werden können. Seine Regierung, ebenso wie die seiner zwischenzeitlichen Nachfolgerin Julia Gillard, besann sich auf die Tradition des »guten Weltbürgers« und begann die Beziehungen zu Indonesien, China und anderen südostasiatischen Ländern wieder zu stärken. Diese Hinwendung nach Asien verdeutlicht das 2012 erschienene Weißbuch der Regierung, »Australia in the Asian Century«. Darin wird Australien als Teil der asiatisch-pazifischen Region und als multikulturelle Einwanderungsgesellschaft dargestellt. Die Beziehungen zu den asiatischen Nachbarn werden als tiefgehend beschrieben, dennoch sieht das Weißbuch auf australischer Seite Entwicklungsbedarf: „Wir müssen unsere starken sozialen Fundamente, inklusive unserer nationalen Institutionen, unserer kulturellen Vielfalt und unserer nach außen blickenden Gesellschaft, verstärken.“ (Australian Government 2012, S.2) Dazu soll die Asien-Kompetenz der gesamten Bevölkerung durch eine prominentere Platzierung asiatischer Sprachen, Geschichte und Kulturen in den Curricula der Bildungseinrichtungen verbessert werden. Australien sieht sich in dem Weißbuch als Garant regionaler Stabilität, aber nicht mehr vorbehaltlos an Amerikas Seite, sondern durch bilaterales und multilaterales Engagement unter Einbeziehung der USA und Chinas.

Gleichwohl gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den politischen Lagern (Baringhorst 2010, S.29). Beide teilen die Unterstützung für Freihandel, insbesondere für landwirtschaftliche Güter, deren Export für Australien eine wichtige Einnahmequelle ist. Beide möchten die enge Allianz mit den USA bewahren, wenngleich die Gewichtung unterschiedlich ausfällt. Auch stimmt man überein, dass die Handelsbeziehungen zu Ostasien ausgebaut werden sollten. Nicht zuletzt räumen beide Lager Indonesien eine Sonderstellung in der Außenpolitik ein; allerdings wird dieses bevölkerungsreiche Land von den Liberalen eher als latente Bedrohung verstanden, während Labor es eher als potenziellen Partner begreift.

Australische Sicherheitspolitik

Die australische Sicherheitspolitik baut auf zwei Schwerpunkte: Australien in seinen Beziehungen zu Asien sowie Australien als Hegemon im Südpazifik. Beide Schwerpunkte auszutarieren birgt die Gefahr von Gegensätzlichkeit, wie auch die aktuellen Rüstungspläne der Regierung zeigen.

2013 hat das Verteidigungsministerium ein neues »Weißbuch« herausgegeben. Darin richtet es die australische Verteidigungsstrategie auf die »indo-pazifische« Region aus – ein Neologismus, der die Region zwischen Ostafrika, Südasien und den pazifischen Inselstaaten südlich des Äquators beschreibt (Medcalf 2012). Von besonderer Bedeutung sei der Bogen, der Indien, Südostasien und Nordostasien verbindet. Der »Indo-Pazifik« wird als Region im Wandel dargestellt, die stark durch das amerikanisch-chinesische Verhältnis geprägt ist, was durch die sicherheitspolitische Hinwendung der USA zum asiatisch-pazifischen Raum verstärkt wird. Auch Indien wird als aufstrebende Regionalmacht wahrgenommen. Im Indo-Pazifik gibt es keine übergreifende Sicherheitsarchitektur, sondern eine Ansammlung subregionaler Arrangements. Die Interaktion in dieser Region zeigt sowohl Kooperation (z.B. in der ASEAN) als auch Konflikte (z.B. über Seegrenzen im Südchinesischen Meer). Das erzeugt ein komplexes Umfeld, auf das die australische Sicherheitspolitik nur begrenzten Einfluss ausüben kann.

Die australische Regierung ist daran interessiert, dass der regionale Wandel friedlich verläuft und dass die vorhandenen Interdependenzen zwischen den verschiedenen Nationen ausgebaut werden. Hier hat die Sicherheit des Schiffsverkehrs Priorität. Der Indische Ozean ist der wichtigste Schifffahrtskorridor weltweit (Australian Government 2013, S.13). Dazu setzt Australien auf eine Intensivierung seiner Beziehungen mit allen regionalen Mächten sowie eine Stärkung multilateraler Foren. Die Regierung sieht keinen Widerspruch zwischen ihrer Allianz mit den USA und einem guten Verhältnis mit China (Australian Government 2013, S.11). Besonderes Augenmerk gilt dem Inselarchipel in Südostasien, insbesondere Indonesien, da es der einzig realistische Ausgangspunkt für militärische Angriffe auf australisches Territorium ist und sieben der zehn größten Handelspartner Australiens in dieser Region liegen. Während Indonesien in früheren Berichten mehr oder weniger deutlich als Risiko dargestellt wurde, hebt das aktuelle Weißbuch stärker die Möglichkeiten zur kooperativen Sicherheit hervor.

In Ozeanien ist Australien die unumstrittene Hegemonialmacht. Lange Zeit war es nicht Willens, diese Rolle offen anzunehmen, und agierte zurückhaltend im Umgang mit den Inselstaaten. INTERFET und RAMSI stellten einen Kulturbruch dar. Seither wird die Region stärker als Gefahrenquelle gesehen und als potenzielle Operationsbasis von Terroristen, Kriminellen und Menschenschmugglern bezeichnet. Insbesondere zu Zeiten der Howard-Regierung kursierte der Begriff eines »Krisenbogens« („arc of instability“, vgl. Ayson 2007), der Australien umgebe. Unter der Labor-Regierung ist die Rhetorik gegenüber Ozeanien weniger konfrontativ geworden, die Bereitschaft zu militärischen Interventionen hat nachgelassen. Gleichwohl hebt das Verteidigungsweißbuch weiterhin die Risiken in der Region hervor, warnt vor dem wachsenden Einfluss anderer Mächte und fordert ein kontinuierliches Engagement: „[W]ir werden weiterhin eine Quelle wirtschaftlicher, diplomatischer und nötigenfalls militärischer Unterstützung sein müssen.“ (Australian Government 2013, S.15)

Dies stellt unterschiedliche Anforderungen an das australische Militär. Einerseits soll die Territorialverteidigung Priorität haben, andererseits möchte es Streitkräfte für Interventionen in Krisenstaaten der Region bereithalten. Ersteres erfordert der Geographie Australiens wegen eine weitreichende Luft- und Seeaufklärung sowie entsprechende Kapazitäten, um eventuelle Angriffe zu stoppen, letzteres erfordert bewegliche, mobile und flexibel ausgebildete Bodentruppen und Transportkapazitäten. So ist es wenig verwunderlich, dass es unterschiedliche Lager in der australischen Sicherheitspolitik gibt: Während die Traditionalisten die territoriale Verteidigung für wichtiger halten, fordern die Transformationalisten einen weiteren Umbau der Streitkräfte (Hirst 2007). Den Widersprüchen im Verteidigungsweißbuch merkt man die unterschiedliche Handschrift dieser beiden Lager an.

Neue Regierung – wohin geht die Reise?

Am 7. September 2013 wurde in Australien gewählt. Die Labor-Regierung verlor gegen eine Koalition von Oppositionsparteien unter Führung der Liberalen. Neuer Premierminister ist Tony Abbott. Im Wahlkampf hatte die Außen- und Sicherheitspolitik kaum eine Rolle gespielt. Zwar hatten beide Parteien eine Erhöhung des Verteidigungsetats in Aussicht gestellt, um die teuren Anschaffungen neuer Rüstungsgüter (z.B. U-Boote) zu finanzieren. Es ist jedoch unklar, ob dies angesichts anderer Wahlversprechungen umgesetzt wird.

Dennoch wird diese Wahl richtungsweisend für die australische Außenpolitik sein. Der bisherige Oppositionsführer Tony Abbott hat sich bislang nicht auf diesem Feld profiliert, ist aber ein ausgewiesener Konservativer; es ist zu erwarten, dass er sich an Howards Politik orientiert, um sich darüber das nötige Ansehen zu erarbeiten. Dies bedeutet eine bedingungslose Unterstützung der USA und eine vorsichtigere Position gegenüber China und anderen asiatischen Ländern. Nach ersten Äußerungen aus dem Kabinett wird auch mit einer härteren Linie in der Flüchtlingspolitik und einer Kürzung der australischen Entwicklungshilfe zu rechnen sein. In manchen Fragen wird sich zwar wenig ändern – beispielsweise legt auch der neue Verteidigungsminister David Johnston eine Priorität darauf, die freien Handelswege auf dem offenen Meer zu sichern. Dennoch hat sich die australische Wahlbevölkerung offenbar dafür entschieden, sich wieder stärker seiner europäischen Vergangenheit zu besinnen.

Karte Australien u.a.

Literatur

Australian Government (2012): Australia in the Asian Century. White Paper. Canberra: Commonwealth of Australia.

Australian Government (2013): Defence White Paper 2013. Canberra: Commonwealth of Australia.

Ayson, Robert (2007): The »Arc of Instability« and Australia’s Strategic Policy. Australian Journal of International Affairs, Vol. 61, Nr. 2, S.215-231.

Baringhorst, Sigrid (2010): Australien. In: Andreas Dittmann/Wolfgang Gieler/Matthias Kowasch (Hrsg.): Die Außenpolitik der Staaten Ozeaniens: Ein Handbuch. Paderborn: Schöningh, S.23-40.

Hirst, Christian (2007): The Paradigm Shift: 11 September and Australia’s Strategic Reformation. Australian Journal of International Affairs, Vol. 61, Nr. 2, S.175-192.

Lambach, Daniel (2006): Security, Development and the Australian Security Discourse. Australian Journal of Political Science, Vol. 41, Nr. 3, S.407-418.

Leaver, Rod (2001): The Meanings, Origins and Implications of »The Howard Doctrine«. Pacific Review, Vol. 14, Nr. 1, S.15-34.

Medcalf, Rory (2012): A Term Whose Time Has Come: The Indo-Pacific. The Diplomat, 4. Dezember 2012.

Dr. Daniel Lambach ist Vertretungsprofessor für Internationale Beziehungen an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte sind fragile Staatlichkeit, Territorialität sowie Sicherheits- und Entwicklungspolitik.