Was ist Geopolitik? Ein Streifzug

Was ist Geopolitik? Ein Streifzug

von Rainer Rilling

Für die zwischen 1920 und 1960 in Deutschland geborenen Jahrgänge ist die Vorstellung von Geopolitik durch die Geopolitik des Faschismus geprägt. Sie steht für die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Nationalstaaten um territoriale Herrschaft, »Lebensräume«, Kolonien und Rohstoffe. Die Tabuisierung der »Geopolitik« nach 1945 war zwiespältig: Distanzierung und Verschweigen der gewalttätig-expansiven Seite der Politik des Faschismus verschränkten sich. Geopolitik wurde damit zu einer Sache der Vergangenheit. In der postfaschistischen Bundesrepublik Deutschland gäbe es keine Kolonien, Kriege, Rohstoffkämpfe und geostrategisch-imperialen Kalküle, also auch keine Geopolitik mehr. Ein Irrtum – aus Interesse.

Hintergrund der klassischen Geopolitik war das Verständnis des Mensch-Natur-Verhältnisses in der Geographie als Wissenschaft, wonach die geographische Anordnung der Natur Kultur, Gesellschaft und Politik bestimme. Ihre Prägung erhielt sie durch die Verknüpfung der langwierigen Entstehung des bürgerlichen Nationalstaates und des ausgreifenden Kapitalismus in Europa. Ihre prominenten Repräsentanten waren weiße Männer, die in imperialen Denk- und Handlungsräumen dachten und handelten. Ihre politisch-strategischen Schlüsselthemen und -begriffe waren und sind bis heute Staatenkonkurrenz und Machtdominanz, Imperialität und zentraler Ort.

Männer und Mächte: die klassische Geopolitik

1899 verwandte der völkische, schwedische Staatswissenschaftler Rudolf Kjellén in der Zeitschrift »Ymer« erstmals den Begriff »Geopolitik«. Durch die Einführung von »Geo« als Kausalbegriff in das »Politische« entstand ein Terminus, der angesichts der Wirrnis der Politik Orientierung, Zukunftsgewissheit und Durchsetzungskraft versprach. Kjellén war beeinflusst durch den deutschen Zoologen und Geographen Friedrich Ratzel, der in seinem Buch »Politische Geographie oder die Geographie der Staaten, des Verkehrs und des Krieges« (1897) die Grundidee von der primären Bestimmung des Politischen durch die Natur zur biologistisch-organizistischen Theorie von Staaten als »Lebensformen« ausarbeitete, die entweder wachsen oder untergehen müssten. Das Konzept der »Lebensräume« und sein »Gesetz der wachsenden Räume« stehen für die Idee einer sozialdarwinistisch-imperialistischen Überlebenskonkurrenz der großen Nationalstaaten. Bei Ratzel rückten die Quellen und Technologien der Macht der Territorialstaaten ins Zentrum der Politik und des imperialen Blicks. Mächtige Schlüsselcodes geopolitischen Denkens entstehen: Die Staatsgrenzen unterscheiden zwischen »innen« und »außen«. Das Maß der Macht sind die Größe des Territoriums und die Bevölkerungszahl. Die Kriege zwischen souveränen Staaten sind Agenten des imperialen Wandels und letzte Entscheider. Die Fähigkeit, anderen Staaten den eigenen Willen aufzuerlegen und das eigene Territorium als Grundlage der Macht zu erweitern, ist das Ziel der Politik.

Die geopolitischen Diskurse und großen strategischen Orientierungen entstanden im Milieu der Imperial- und Kolonialstaaten der Jahrhundertwende. Als die übergreifenden zentralen Orte und Medien strategischer Machtanhäufung wurden »Land« und »Meer« wahrgenommen.

»The Influence of Sea Power on History« (1890) des US-amerikanischen Admirals und Marinehistorikers Alfred T. Mahan machte aus der Analyse der englisch-französischen Rivalität die Überlegenheit der See- über die Landmacht als Schlüssel zur Weltmacht aus. Der aufsteigende US-Kapitalismus benötige zur Erschließung der neuen ausländischen Märkte eine durch die Navy gesicherte Handelsflotte und geschützte Kolonien.

Für den britischen Geographen Sir Halford Mackinder dagegen lag der zentrale Ort der machtpolitischen Ambitionen auf dem Festland. In seinem berühmten Londoner Vortrag vor der Royal Geographic Society, »The Geographical Pivot of History« (1904), erklärte er das ressourcenreiche »Kernland« des eurasischen Kontinents (der größten Landmasse der Erde) zum potentiellen Macht- und Gravitationszentrum und damit zum »Herzland« der politischen Machtgeographie der Welt. Später führt er den Gedanken wie folgt aus: „Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland: Wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel (Eurasien): Wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.“1

Mackinders trizonale globale Geographie unterschied zwischen einem vom Meer her unzugänglichen eurasischen »Heartland« (Zentralasien, das westliche Sibirien und der Norden Irans und Pakistans), einem inneren Bogen (das »World-Island« – die europäische Peripherie, Naher- und Mittlerer Osten, Indien, China) sowie einem äußeren Bogen (England, Amerika, Afrika, Australien, Ozeanien, Japan). Da die Seemacht Großbritannien den zentralen Ort des Großkontinents Eurasien, das »Herzland«, nicht kontrollieren könne, warnte Mackinder vor einem Niedergang der Macht Englands und einem Aufkommen kontinentaler Mächte wie Russland (etwa im Bündnis mit Deutschland) oder dem Mittleren Osten, welche zukünftig den Planeten beherrschen könnten.

Mackinders Sicht auf die Machtbeziehung zwischen See und Land war geprägt von der Krise des britischen Empire. Er repräsentierte eine konservative und kolonial-territoriale Linie der imperialistischen Geopolitik. Für ihn ging die Zeit der raumerschließenden Expansion (das »Zeitalter des Kolumbus«) zu Ende, die im Zeichen der Seemächte gestanden hatte. Diese planetare Schließung veränderte das geopolitische Denken: Die Räume der Politik wurden endlich. Ins Zentrum der Raumpolitik rückte nun die Neuaufteilung eines Planeten. Staatenrivalität, Staatskonflikte und Staatskriege standen im Mittelpunkt.

Ihre disziplinäre und vor allem politische Zuspitzung vor einem revisionistischen, völkischen, später faschistischen Hintergrund fand die Geopolitik in der Weimarer Republik und im deutschen, italienischen, spanischen und japanischen Faschismus. Dafür standen die Gründung des Münchner Instituts für Geopolitik (1922), des Geopolitischen Seminars an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin (1924) und der »Zeitschrift für Geopolitik« (1924) u.a. durch den Generalmajor, Hochschullehrer und Geographen Karl Haushofer. Haushofer trug wesentlich dazu bei, dass die Geographie zu einer Staatswissenschaft des Faschismus avancierte. In der Geopolitik sah er „die Wissenschaft von der politischen Lebensform im natürlichen Lebensraum, die sie in ihrer Erdgebundenheit und ihrer Bedingtheit durch geschichtliche Bewegungen zu erfassen sucht“.2 Er forderte die Revision der Versailler Verträge und die Rückgabe der „geraubten“ Territorien. Für eine „Zeit geopolitischer Flurbereinigung“ und „der Neuverteilung der Macht auf der Erde“ entwickelte er antiliberale und antiwestliche Großraumkonzepte (»Reich«) und knüpfte dabei an den durch die Mittellage Deutschlands begünstigten Expansionismus und die Lebensraumidee an. Die eurasische Landmasse sollte unter deutscher oder deutsch-russisch-japanischer Kontrolle stehen. Der terroristische Rassismus des Faschismus schlug einen anderen, den Weg der Ausrottung ein, um Platz für ein arisches »Volk ohne Raum« zu schaffen.

Anders als die zeitgleiche Politik- und Raumtheorie von Carl Schmitt verblieben freilich Haushofers geopolitischen Orientierungen und raumwissenschaftlichen Konzepte vollständig im völkisch-faschistischen Ideologieraum. Nach 1945 blieb die Wirksamkeit dieser geopolitischen »Schule« trotz der Wiedergründung der »Zeitschrift für Geopolitik« (1951) und einer weitgehend ungestörten Rückkehr ihrer Anhänger in die bundesdeutschen Hochschulen und Wissenschaftsszene randständig. In den rechtsextremen und neofaschistischen Organisationen der 1950er Jahre und deren wachsenden Publizistik waren sie jedoch durchaus präsent. Auch die kurzzeitig einflussreiche »Neue Rechte« machte sie (und die geopolitischen Tradierungen Carl Schmitts) stark. Letztlich setzte die fast ein halbes Jahrhundert dominierende politische Geographie der Systemkonkurrenz und des Kalten Krieges trotz vieler Modifikationen die gewaltgeneigten, binären und etatistischen Traditionen der klassischen Geopolitik fort – »Freiheit oder Sozialismus« (Franz-Josef Strauß) war die Unterscheidung. Der Begriff »Geopolitik« selbst jedoch wurde erst im Konflikt um die Westbindung der Bundesrepublik bzw. im Historikerstreit in den 1980er Jahren allmählich zu einem verbreiteten, gleichsam normalisierten Bestandteil der politischen Sprache.

Mit dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Länder 1989-1991 und den damit verbundenen ungeheuren Optionen für Territorialgewinn und Kapitalakkumulation nach Osten wurden Geopolitik und Geostrategie endgültig zu einem stark expandierenden strategischen Politikfeld auch in der Bundesrepublik Deutschland, ohne als solches in offiziellen Orientierungs- und Leitdokumenten kommuniziert zu werden. Die 2010/11 beginnende Debatte um die „unausweichliche Führungsrolle“ der BRD als „Hegemonialmacht Europas“ 3 hat dieser Entwicklung erneut einen dramatischen Impuls gegeben. Freilich: Im Spiel war nun eine andere Geopolitik. Ihr Zentrum lag in den USA.

Der »liberale Internationalismus«

Aus welcher historischen Konstellation entstand diese andere Variante der Geopolitik? Zunächst folgte die Entstehung der USA gleichsam gewohnten geopolitischen Bahnen. In einer einzigen Generation okkupierten die unabhängig gewordenen US-Amerikaner mehr Land auf »ihrem« Kontinent als sich das britische Empire in der gesamten Zeit seines Bestehens aneignete. Diese Eroberung des kontinentalen Westens war ein funktionales Substitut der imperial-kolonialen Eroberungen Europas oder des zaristischen Russland. Sie betrieb »landgrabbing«, war rassistisch und gewalttätig, ignorierte die Ansprüche der Bewohner, praktizierte Völkermord, marginalisierte die indigenen Völker. Die Bildung eines Nationalstaats ging einher mit der Entstehung eines kapitalistischen, kontinentalen Territorialimperiums.

Diese innere Landnahme lief in den 1890er Jahren aus. Eine sich anbietende, dem klassischen geopolitischen Muster des europäischen Imperialismus folgende äußere Landnahme war kräftepolitisch riskant, wenn nicht unmöglich. Im Zusammenhang mit den überseeischen Eroberungen war zwar vom »American Empire« die Rede, doch die USA hatten jenseits ihrer Dominanz über die amerikanische Hemisphäre keine externe territoriale Einflusssphäre und kein transkontinentales, noch nicht voll kapitalisiertes Empire, in welches sich ihr dynamischer Kapitalismus hätte nachhaltig ausdehnen können. Erst recht wäre eine frontale Attacke gegen die faktische Aneignung und Aufteilung der gesamten Oberfläche der damaligen Welt durch den europäischen Imperialismus und seine starken Kolonialmächte England, Frankreich, Deutschland, Holland, Italien, Belgien in jeder Hinsicht aussichtslos gewesen. Eine neue geopolitische und geoökonomische Strategie war notwendig.

Diese neue Geographie und Geopolitik wurde zum zentralen Thema der neuen Außenpolitik der USA. An die Stelle unmittelbarer territorialer Einverleibung, der Schaffung von Kolonien und formeller, zumeist rassistisch geprägter Herrschaft trat nun ein anderer strategischer Ansatz, der an ein kurzzeitig in den 1860er Jahren von Großbritannien praktiziertes Muster europäischer Kolonialherrschaft anknüpfte. Die Schlüsselidee war die Politik der »Open Door« (geprägt durch den US-amerikanischen Außenminister John Hay 1898), also die Öffnung der ökonomischen und rechtlichen Ordnungen und damit der Zugang zu den Märkten, Arbeitskräften und Rohstoffen der Welt für das amerikanischen Kapital. Im Mittelpunkt der Idee eines von den USA geprägten, abhängigen oder kontrollierten »Großraums« (Neal Smith) standen nicht die Annexion von Territorien (im Sinne von Einverleibung) und die Überwältigung territorial basierter Souveränität (im Sinne der Okkupation), sondern der Gedanke der Raumhoheit als Container informeller Herrschaft.

Eine ganze Skala von Praxen aufschließender indirekter und informeller Kontrolle entstand. Länder und Territorien sollten zugänglich und durchlässig werden, ihre territoriale Integrität und formelle Souveränität aber behalten. Die Welt musste nicht US-amerikanisch sein, aber offen für US-amerikanische Produkte, Investitionen und Ideologien, für ein entsprechendes internationales/nationales Recht als Rahmen für Privateigentum, Wettbewerb und Vertragswesen und für politischen Liberalismus. Es ging nicht um Kolonien, sondern um Märkte, aus denen vorzugsweise amerikaaffine Marktgesellschaften entstehen sollten. Die ursprünglich auf Asien abzielende »Open Door Policy« sollte dem amerikanischen »imperialen« Kapital die ganze Welt erschließen, die auf die westliche Hemisphäre zielende Monroe-Doktrin sollte nun „als die Doktrin der Welt“ globalisiert werden, und die USA sollten „die Führung der Welt“ (US-Präsident Wilson) beanspruchen. Der »liberale Internationalismus« Wilsons war die erste präsidiale »liberalimperiale« Vision.4 Praktisch mündete sie seit den 1940er Jahren ein in ein liberales „Projekt, den Kapitalismus global zu machen“.5

Nach der Ausbildung ihrer kontinentalen Form transformierten sich die USA von einem Territorialimperium in ein regionales post- oder »nichtterritoriales« Empire (Bruce Cumings). Seitdem fielen die formellen kontinentalen Grenzen des Nationalstaates USA und die der imperialen Raumhoheit der USA immer mehr auseinander – ein Prozess, der sich lange als Streit zwischen »Isolationismus« und »Internationalismus« widerspiegelte. Während die USA schon frühzeitig und andauernd an ihren Territorialisierungstechniken zur Befestigung ihrer nationalstaatlichen Grenzen arbeiteten, trieben sie zugleich die Universalisierung ihrer imperialen Grenzen voran. Bei diesen ging und geht es nicht um die Fixierung eindeutiger territorialer Grenzziehungen, die für die Geopolitik klassischer Landimperien eine zentrale Rolle spielten, sondern es geht (vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg) um die Internationalisierung des imperialen Staates mit verstreuten, beweglichen, unscharfen Grenzen: um Zonen der Aneignung (auch der Kontrolle der Produktions- und Verteilungsketten von Waren oder Daten durch extraterritoriale Außenposten in Schiffs- und Flughäfen und Speicheranlagen oder durch Rechtsnormen), um Zonen der Interaktion mit Konkurrenten, um verteilte Orte der Machtprojektion, um Verhinderung der Schließung von Räumen für die kapitalistische Akkumulation. Innen und Außen, Zugehörigkeit und Ausschluss, De- und Reterritorialisierung – also die ständige Veränderung des Raumes – gehören zum Wesen dieser Geopolitik.

Imperien sind nicht, sie werden. Maßlosigkeit ist ihr einziges Maß. Logiken der Ausdehnung und Aneignung sind ihnen eigen, gleichgültig welche Basis und Technologien der Macht sie ins Spiel bringen.

Diese geostrategische Option des post- oder nichtterritorialen imperialen Raums entfaltete sich seit Beginn des letzten Jahrhunderts, hatte ihren ersten Höhepunkt nach dem Ersten Weltkrieg und wurde in der Zeit der 1930er Jahre und dann des Zweiten Weltkrieges langsam dominant. Der neue Hegemon des 20. Jahrhunderts entstand im Konflikt und zugleich in Kooperation mit dem klassischen formellen Imperialismus und vor allem mit dem militaristisch-terroristischen Projekt des faschistischen »Reichs«. Entschieden wurde, welches imperiale Projekt die folgenden Jahrzehnte dominieren sollte. Insofern war die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts auch von einem neuen »dreißigjährigen Krieg« zwischen den USA und Deutschland um die Nachfolge des britischen Empire als dominierender Macht geprägt.

In der Zeit zwischen der Oktoberrevolution 1917 bis 1942/43, als sich der Ausgang des Zweiten Weltkriegs entschied, konkurrierten jedoch drei in den Festungen »ihrer« Nationalstaaten verankerte imperiale Projekte mit globalem Anspruch. Mit der Sowjetunion war ein weiteres Projekt großräumlicher Neugestaltung aufgestiegen, das den Gedanken des Imperialen keineswegs ignorierte, sondern sich explizit als postimperial und daher antiimperial(istisch) verstand und etikettierte – tatsächlich aber zugleich als zentralistische, formelle und oft gewaltförmige Macht agierte und ein eigenes geopolitisches und nicht-kapitalistisches geoökönomisches Projekt der Durchsetzung eines staatssozialistischen Großraums verfolgte.

1945 war das völkisch-terroristische Projekt besiegt. Der US-Politikwissenschaftler Nikolas J. Spykman publizierte zwischen 1938 und 1944 zwei Bücher und Aufsätze, deren unmittelbar an Mahan und vor allem Mackinder anknüpfendes geostrategisches Plädoyer für eine mit Hilfe der USA aufzubauende Balancemacht gegen die Macht des »Heartland« allgemein als frühes Votum für eine Politik angesehen wurde, die in den folgenden Jahrzehnten »containment« (Eindämmung) des staatssozialistischen Raums und seines zentralen Herzlandes genannt wurde. Knapp ein halbes Jahrhundert später war auch dieser Grundkonflikt entschieden.

So blieb als gegenwärtig keineswegs alleinige, aber vorherrschende Form der Imperialität – also des Ordnungsmodus und der Zielgestalt kapitalistischer Großräume – die »postterritoriale« des informellen Empire, bei der die Kapitallogik über die Territoriallogik (David Harvey) triumphiert, »der Markt die Macht bestimmt« und deren persuasive Geopolitik auf Raumhoheit aus ist, die statt mit Okkupation und Annexion mit Durchdringung und transformativer Assimilation operiert.

Zusammenspiel und Konkurrenz

Schon aus macht- und ressourcenpolitischen Gründen müssen Imperien auch eine territoriale (nationalstaatliche) Basis haben, die sich durch Größe auszeichnet. Die Skalierung der Macht ist ein Schlüsselfaktor imperialer Geopolitik. Dabei hängt es vom Charakter der Arena ab, ob ein Akteur im globalen Spiel der Geopolitik imperialen Zuschnitt bekommt: Imperien haben im Unterschied zu anderen Ordnungen immer einen Bezug zu dem, was »Welt« ist: „Das Geschäft von Imperien ist es, Weltordnung zu schaffen.“6 Zur Bestimmung des Imperialen gehören die Absicht und die wirkliche Fähigkeit zur Welt-Ordnung, also ein Transformations- und Hegemonialanspruch, der auf die politische Geographie des Globalen zielt. Das macht sie aus.

Sich im Weltordnungsgeschäft zu halten, vermögen aber nur jene, die alle Töne in der geopolitischen Klaviatur spielen können – gerade auch die militärischen. Das militärische Kerngeschäft ist es, durch Disziplinierung, Gewalt und die technisch hochwertige Projektion militärischer Macht über quasikoloniale Überseeterritorien und zahllose Militärstützpunkte Raumhoheit zu erreichen, zu sichern und auszuweiten. In der Zeit des Kalten Krieges war der Jargon der herrschenden »realistischen« Schule der »Internationalen Beziehungen« davon geprägt: Bipolare Weltordnung, Dominotheorien, nukleares Eskalationsdenken u.ä. umrissen das geostrategische Feld – und vermieden dabei allzu starke Bezüge auf Begriff und Geschichte der »Geopolitik«. Personal, Theorie, Narrativ und Versprechen machten freilich in aller Regel kaum einen Unterschied. Zudem waren oftmals zeitgleich zahlreiche Militärakademien und Think-Tanks der USA und Russlands – dann auch Europas, Indiens und Chinas und zur Zeit der Militärregime auch Chiles, Argentiniens und Brasiliens – mit Abteilungen für »Strategic Studies«, »Politische Geographie« und »Geopolitik« ausgestattet, die ihre geopolitischen oder imperialstaatlichen Projekte strategisch untermauerten. Seit Anfang der 1970er Jahre waren es die nationalen Sicherheitsberater Nixons (Henry Kissinger) und Carters (Zbigniew Brzeziñski), die im strategischen Diskurs der US-Eliten die Terminologie und »realistischen« Traditionen der Geopolitik und Eurasien als »zentralen Ort« des Kampfes um globale Hegemonie und »Kernzone globaler Instabilität« hoffähig und populär machten.

Es gibt ein Traditionsmassiv der klassischen rechtsimperialen Geopolitik und ihrer oftmals militärischen Problemlösungen, die bis hinein in das »Zeitalter der Globalisierung« überlebten. In den neoklassischen »realistischen« Blockbustern der Ära Bush und danach in Thomas P. M. Barnetts »The Pentagon’s New Map« (2004) oder Robert Kaplans »The Revenge of Geography« (2012) werden Großraumkonzepte variiert und die Schlüsselrolle der Geographie betont. Brzeziñski schreibt in seinem letzten Buch, die „globale Suprematie des Westens ist vorbei“, ein „dramatischer Niedergang in Amerikas globalem Standing gegenüber der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts“ und sein „Rückzug von seiner Rolle als Weltpolizist“ seien offensichtlich. Die USA müssten in den nächsten zwei Jahrzehnten ihre Positionen in Ostasien ausbauen und Russland, die Ukraine sowie die Türkei mithilfe der EU und der NATO zum Bestandteil eines „expandierten“ und „vergrößerten Westens“ machen.7 So könne Stabilität durch die erneuerte Hegemonie des Westens gesichert werden – gegen den Hauptkonkurrenten China. Die Sprache der klassischen Geopolitik also.

Demgegenüber die Sprache der liberalimperialen Geopolitik bei John Ikenberry: „Die heutige Transition der Macht repräsentiert nicht die Niederlage der liberalen Ordnung, sondern den Abschluss ihres Aufstiegs. Brasilien, China und Indien sind alle wohlhabender geworden und imstande, innerhalb der bestehenden internationalen Ordnung zu handeln […] sie haben ein tiefes Interesse daran, dieses System beizubehalten. […] Obwohl das letzte Jahrzehnt bemerkenswerten Aufruhr im globalen System gebracht hat […], gibt es keine Konkurrenten der liberalen internationalen Ordnung.8

Die »andere« Geopolitik

In den USA etablierte sich seit Ende der 1980er Jahre die »kritische Geopolitik«, die zunächst überwiegend auf die diskursanalytischen Traditionen der postmodernen Sozialwissenschaft zurückgriff. Sie betrieb die Dekonstruktion der politischen und wissenschaftlichen Rhetorik der vorherrschenden geopolitischen Welt-Anschauungen und fragte danach, wie über Räume gesprochen wird und wie sie gebildet werden – schließlich müssten etwa die strategische Qualität einer Meerenge oder des erdnahen Raums erst gesellschaftlich definiert, also kommunikativ aktiviert werden. Demnach ist Geographie kein »objektives« Ensemble von Sachverhalten und Strukturen, sondern wird konstituiert, konstruiert und kommuniziert.

Die kritische Geopolitik bearbeitete daher die Vorstellungen über räumliche Aufteilungen und Arrangements in populären Massenmedien, Filmen, Erzählungen oder Cartoons und in den Texten, Bildern und Karten der geopolitischen Akteure und Institutionen (Militärs, Bürokratien, politische Eliten, Think-Tanks). Im Mittelpunkt der Präsentation von Welt oder internationaler Politik standen dabei die klassischen geopolitischen Codes (also Unterscheidungen von und Grenzziehungen zu Räumen und Temporalitäten) und einige wenige entsprechende politische, soziale und kulturelle Bedeutungs- und Identitätszuschreibungen: »Osten:Westen«, »Nord:Süd«, »Hier:Dort«, »Land:See«, »Ich:Die«, »Wir:Sie«, »Okzident:Orient«, »Barbarei:Zivilisation«, »National:International«, »Freund:Feind« oder »Zukunftsfähig:Zurückgeblieben«, »Aufstieg:Niedergang«. Keine »grand strategy« oder strategische Erzählung kommt ohne solche binär strukturierte Narrative aus. Auch gegenwärtig sind sie hochwirksam, wie ein Blick auf die krasse Veränderung der Bilder vom »Orient« oder von »Russland« im letzten Jahrzehnt zeigt.

Neben Diskursanalyse und Ideologiekritik thematisierte die kritische Geopolitik sehr rasch die Frage, wie Herrschafts- und Machtbeziehungen in bestimmten Orten oder Räumen wirken: ob an der Grenze, auf der Straße, in der Mietwohnung, der Stadt, dem Betrieb, der Region, einer Gefängniszelle, in der Kampfzone. Vielfältige Debatten zu »alter-geopolitics« (Sara Koopman 2011), »geography and gender« (Joanne Sharp 2009) und »subaltern geopolitics« (Joann Sharp 2011) oder die Analysen der Geographie der Gewalt und der Furcht, der Affekte, der Krise und des Klimawandels, der Superreichen, der Finanzmärkte oder der Religionen haben diesen Nexus von Raum und Macht als Grundthema in den Vordergrund gestellt. Damit rückte die kritische Geopolitik vom hergebrachten Staatszentrismus und seinem Fokus auf Territorialität ab. Das Gesamtspektrum des Zusammenhangs von Politik und Raum bis hin zum Alltagswissen und der Alltagserfahrung der einzelnen Individuen, sozialen Bewegungen und Akteure geriet in Blick.

Freilich fehlte der kritischen Geopolitik lange der Brückenschlag ihrer Diskurs- und Machtanalyse zu einer radikalen politischen Ökonomie, die mittlerweile in der Wallersteinschen Weltsystemtheorie, der Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ) und der breiteren marxistischen Kapitalismusanalyse einen neuen Aufschwung nahm und marxistische TheoretikerInnen wie Rosa Luxemburg, Nikolaj Bucharin, Karl Wittvogel oder Henri Lefèbvre wieder in Erinnerung rief. Vor allem David Harvey brachte in »Social Justice and the City« (1973) die Kapitalismus- und Gesellschaftsanalyse und die Frage der Gerechtigkeit neu in die Geographie ein.

Eine kritisch-materialistisch inspirierte Idee von Geopolitik hat seitdem argumentiert, dass Territorialität nicht nur eine spezifische Form der politischen Organisation wäre, sondern ebenso als ein produzierter Raum ständiger Inwertsetzung auch entfernter Orte anzusehen sei, der ununterbrochen an einzelnen Punkten günstige lokale geografische, soziale, agrikulturale, stoffliche oder energetische Produktivitätsvorteile oder politische Stabilität biete und daher gleichsam als geographischer »Pivot« der Kapitalakkumulation und Machtkonzentration fungiere.9 Die Bewegung des Kapitals verknüpft lokale, regionale und globale Räume, verkörpert sich als Geld, Ware, Eigentum, Maschinerie und Erwerbsarbeit an konkreten Orten wie Fabriken, Büros oder Medien und drückt zudem diesen Räumen und Orten den Stempel der Produktion, Konsumption und Zirkulation auf. Nicht umsonst ist in der politischen Geographie viel von Produzenten-, Konsumenten- und Transitstaaten oder -regionen die Rede. Die territoriale Fragmentierung des Staatensystems und deren Logik der politischen Macht und zwischenstaatlichen Konkurrenz geraten somit ständig in Konflikt mit der Wettbewerbslogik der räumlichen Ausdehnung und Landnahme im Zuge der zwingend maßlosen Kapitalakkumulation.

Den widersprüchlichen und konfliktreichen Logiken der Geopolitik, also der Interaktion zwischen Raum, Macht und Produktion (Akkumulation) sind jedoch nicht nur zentrale Effekte wie Wachstum (Expansion), Ungleichheit und Abhängigkeit eingeschrieben – es gibt auch die Seite der anderen, alternativen Geopolitik, die im Alltag und in der ganzen Landschaft der Politik zu finden ist: in Seattle, Porto Alegre, Kairo, Mahalla, Athen und anderswo.

Literatur

Geschichte

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F. Ciuta, I. Klinke: Lost in conceptualization: Reading the „new Cold War“ with critical geopolitics. Political Geography 6/2010, S. 323-332.

A. Colás, G. Pozo: The Value of Territory: Towards a Marxist Geopolitics. Geopolitics 1/2011, S. 211-220.

S. Dalby: Critical Geopolitics and the Control of Arms in the 21st Century. Contemporary Security Policy 1/2011, S. 40-56.

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Anmerkungen

1) Halford Mackinder (1919): Democratic Ideals and Reality. London: Constable and Company, S.194.

2) Zitiert nach nach Hans-Adolf Jacobsen: Karl Haushofer (1979) – Leben und Werk. Band I, Lebenweg 1869-1946 und ausgewählte Texte zur Geopolitik. Boppard am Rhein: Harald Boldt Verlag, S.508.

3) Christoph Schönberger (2012): Hegemon wider Willen. Zur Stellung Deutschlands in der Europäischen Union. In: Merkur 1/2012, S.1.

4) Vgl. Joachim Krause (2008): Liberaler Imperialismus und imperialer Liberalismus als Erklärungsansätze amerikanischer Außenpolitik. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 1/2008, S.68-95.

5) Leo Panitch/Sam Gindin (2012): The Making of Global Capitalism. The Political Economy of American Empire. London/New York: Verso, S.7.

6) Charles S. Maier (2002): An American Empire? In: Harvard Magazine 6/2002, S.28-31. Zur Debatte vgl. Wolfgang Fritz Haug (2012): Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise. Hamburg: Argument-Verlag, S.131ff.; Rainer Rilling (2008): Risse im Empire. Berlin: Dietz, Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 50, S.47ff.

7) Zbigniew Brzeziñski (2012): Strategic Vision. America and the Crisis of Global Power. New York: Basic Books, S.35, 70, 102, 115 und 132.

8) John Ikenberry (2011): The Future of the Liberal World Order. Internationalism after America. In: Foreign Affairs 3/ 2011, S.57f. Gemäß dieser Einschätzung ist China weit voran auf dem Weg zur liberalen Marktgesellschaft.

9) David Harvey hat skizziert, welcher Widerspruch hier entsteht: „Als Gesamtresultat strebt der Kapitalismus in seinem ständigen Durst nach unendlicher Kapitalakkumulation stets die Errichtung einer geographischen Landschaft an, die seine Aktivitäten zu einem gegebenen Zeitpunkt erleichtert, nur um sie zu einem späteren zerstören und eine ganz andere Landschaft aufbauen zu müssen. Solcherart ist die Geschichte der schöpferischen Zerstörung eingeschrieben in die Landschaft der tatsächlichen historischen Geographie der Kapitalakkumulation.“ (David Harvey (2005): Der neue Imperialismus. Hamburg: VSA, S.102)

Rainer Rilling ist apl. Professor für Soziologie in Marburg und Research Fellow der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin. Er publizierte zu diesem Thema u.a. »Risse im Empire«, Berlin 2008.

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Ein imperiales Raumkonzept für die Weltmacht EUropa

von Jürgen Wagner

Im folgenden Beitrag wird argumentiert, dass die europäische außen- und sicherheitspolitische Debatte von verschiedenen »Versatzstücken« dominiert wird, die eine geostrategische Expansionspolitik unterschwellig anleiten. Um dies zu verdeutlichen, wird das aus der europäischen Debatte abgeleitete imperiale Raumkonzept der »Group on Grand Strategy« vorgestellt und mit der praktischen EU-Politik verglichen. In seinen Schlussfolgerungen fordert der Autor Politikwissenschaft und Friedensforschung auf, dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Als Geostrategie wird im Folgenden der Einfluss der Geografie auf die Politik (Geopolitik) sowie die Androhung und Anwendung militärischer (und anderer) Mittel zur Erreichung bestimmter interessengeleiteter Ziele (Strategie) verstanden. Solche Begrifflichkeiten stehen für harte Machtpolitik und das Denken in Einflusssphären. Aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte wurde die Politik der Europäischen Union daher mit ganz anderen Begrifflichkeiten belegt: „Die Gründungsphilosophie der [Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft], aus der die [Europäische Gemeinschaft] und dann die EU wurden, richtete sich nach innen und entwickelte ein Gegenkonzept zu Geopolitik und zu geostrategischen Dimensionen: Befriedung, Aussöhnung und politische Kooperation durch wirtschaftliche Verflechtung als Antithesen zur Geopolitik und zum Imperialismus.“ 1 Die Europäische Union als eine Art geopolitischer Abstinenzler – dieses Bild wird bis heute sorgsam gehegt und gepflegt, wenn etwa der polnische Außenminister Radek Sikorski erklärt: „Die EU ist inhärent unfähig, strategisch zu denken. Denn wir sind wohl oder übel eine Gemeinschaft des Rechts und des Handels, nicht der Geopolitik.“ 2

Demgegenüber legen die Arbeiten der »Group on Grand Strategy« (GoGS) nahe, dass geostrategische Überlegungen innerhalb der EU durchaus eine wichtige Rolle spielen, womöglich im Hintergrund sogar handlungsleitend wirken. Offiziell gegründet wurde dieser Zusammenschluss europäischer Geopolitiker erst im Sommer 2011. Allerdings wurden erste Publikationen bereits im August 2009 auf der eng mit der Gruppe verbundenen Internetseite »European Geostrategy« (EUGeo)3 veröffentlicht. Im GoGS-Beirat finden sich prominente Vertreter zahlreicher einflussreicher EU-Denkfabriken,4 wobei im Folgenden vor allem die Publikationen der beiden GoGS-Direktoren, James Rogers und Luis Simón, näher betrachtet werden, da sie als repräsentativ für die Positionen der gesamten Gruppe gelten können.5 Sowohl Rogers als auch Simón arbeiteten u.a. für die wichtigste hauseigene EU-Denkfabrik, das European Union Institute for Strategic Studies (EUISS), sowie im Auftrag der Generaldirektion für Außenbeziehungen des EU-Rates (DG EXPO). Dass es sich bei beiden keineswegs um Hinterbänkler handelt, zeigt auch ihre Einladung als Sachverständige für den EU-Unterausschuss Sicherheit und Verteidigung (SEDE) sowie ihre Beratertätigkeit für die schwedische EU-Ratspräsidentschaft. Die »Group on Grand Strategy« ist also bestens vernetzt und in der Lage, den EU-Strategiediskurs teils mitzubestimmen.

Keineswegs soll hier aber der Eindruck erweckt werden, diese Gruppe würde »im stillen Kämmerlein« die Geschicke der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik lenken. Vielmehr ist sie so interessant, weil sie aus den wesentlichen Elementen der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Debatte ein machtpolitisches Anforderungsprofil ableitet, diese Einzelelemente zu einer – zumindest aus ihrer Sicht – in sich kohärenten Geostrategie zusammengeknotet und in ein imperiales EU-Raumkonzept überführt.

Bestandsaufnahme und Prognosen

Aus einer Reihe von Befunden postulieren Rogers und Simón die Notwendigkeit für eine Weltmachtrolle EUropas. Auf dieser Basis wird dann wiederum ein Anforderungsprofil abgeleitet, das seinerseits als Grundlage für die Ausarbeitung eines detaillierten geostrategischen Raumkonzeptes dient.

Bedrohte westliche Vormacht

Rogers und Simón teilen wie viele andere die Auffassung, dass die jahrhundertelange Vorherrschaft des Westens inzwischen ernsthaft gefährdet sei: „Da mittlerweile neue Mächte aufsteigen, ist der amerikanische und europäische Einfluss bedroht.“ 6 Für sie handelt es sich hierbei um ein Phänomen von wahrhaft historischer Tragweite: „Die Abnahme der westlichen Macht in den letzten Jahren könnte nicht nur das wichtigste Ereignis des vergangenen Jahrzehnts, sondern möglicherweise der letzten vier Jahrhunderte darstellen.“ 7

(Teil-) Rückzug der Vereinigten Staaten

Der Machtverlust der Vereinigten Staaten werde EUropa in besonderer Weise betreffen, so ein weitere Befund: „Für die Europäer ist es zentral, dass die aufkommende multipolare Ordnung unweigerlich die Macht der USA noch mehr verringern wird. Dies wird die Amerikaner dazu veranlassen, ihre Kapazitäten stärker auf Regionen zu fokussieren, die für ihre eigenen Interessen von strategischer Bedeutung sind. […] Die USA werden bereit sein, manchmal auszuhelfen, aber lediglich bis zu einem gewissen Grad: Sie sind nicht mehr in der Lage, die Europäer den ganzen Weg mitzuschleppen.“ 8 Dabei wird allerdings keinesfalls für einen Bruch mit den USA plädiert – im Gegenteil. Ein enges Bündnis mit den Vereinigten Staaten wird auch künftig als unerlässlich erachtet, um EU-Interessen effektiv durchsetzen zu können. Aus der prognostizierten abnehmenden US-Unterstützung wird jedoch die Notwendigkeit (oder: die Gelegenheit) abgeleitet, dass die Europäische Union auf militärischem Gebiet handlungsfähiger und eigenständiger wird, um die entstehende Lücke zu schließen.

Neue Großmachtkonflikte und Rückkehr der Machtpolitik

Vor allem die aufstrebende Supermacht China (mit Abstrichen auch Russland) wird als eine ernsthafte Gefahr für die vom machtpolitischen Abstieg bedrohte Europäischen Union eingestuft. So wird etwa vor „potenziell räuberischen Autokratien“ 9 und einem China gewarnt, „das künftig im politischen und wirtschaftlichen Bereich aggressiver werden wird“.10 Auf dieser Grundlage werde Machtpolitik künftig wieder an Bedeutung gewinnen: „Wir sollten uns an Folgendes gewöhnen: Ohne eine größere politische Entschlossenheit und Führungsfähigkeit Europas wird die Zukunft möglicherweise mehr wie Europas eigene Vergangenheit aussehen. Eine Welt, in der schiere Macht wichtiger wird und in der die etablierten Regeln gebrochen werden, falls oder wenn sie den nationalen Interessen der neuen Mächte ins Gehege kommen sollten.“ 11

Anforderungsprofil an eine »Weltmacht EUropa«

Die zuvor beschriebenen Befunde sind kein Selbstzweck, sie stecken den Rahmen für ein alarmistisches Bedrohungsszenario ab und liefern damit die Rechtfertigung, um ein eigenes expansiv-gewaltgestütztes Vorgehen zu legitimieren.

Abstieg vermeiden – Weltmacht werden – Pazifismus überwinden

Ungeachtet der zuvor beschriebenen eher pessimistischen Aussichten für die Europäische Union ist aus Sicht der GoGS noch nicht alles verloren: „[W]ir sind sicher, dass der europäische Niedergang nicht unausweichlich ist.“ 12 Um aber in die Riege der Supermächte aufsteigen zu können, sei die Forcierung des europäischen Einigungsprozesses unabdingbar: „Kurz gesagt, die Europäische Union muss ein Superstaat und eine Supernation werden, was sie dann wiederum in die Lage versetzt, eine Supermacht zu werden. 13 Die wesentlichen weiteren Stolpersteine auf dem Weg zur Weltmacht sind ebenfalls schnell ausgemacht: Es gelte, die „europäische Risikoscheu“ ebenso zu überwinden wie den „wachsenden europäischen Widerstand gegenüber dem Einsatz militärischer Macht“.14 Der Europäischen Union wird (fälschlicherweise) vorgeworfen, sie verfolge eine „Reinform des ungezügelten Pazifismus“.15

Militarisierung der Europäischen Union

Es ist nicht verwunderlich, dass die EU-Entscheidung aus dem Jahr 1999, eine EU-Eingreiftruppe im Umfang von 60.000 Soldaten aufzubauen, als entscheidender Schritt in die »richtige« Richtung erachtet wird: „Kurz gesagt: Seit den späten 1990er Jahren ist die Europäische Union von der »Zivilmacht« (oder »normativen Macht«) mit ihrem Fokus auf die innere Entwicklung abgerückt und begann, eine »globale Macht« zu werden […]. 16 Um diese Entwicklung weiter voranzutreiben, beschäftigen sich zahlreiche GoGS-Publikationen damit, wie die militärische Schlagkraft weiter »verbessert« werden kann. So werden etwa ein EU-Rüstungshaushalt, ein EU-Hauptquartier und ein einheitlicher EU-Rüstungsmarkt (der wiederum die Herausbildung eines europäischen militärisch-industriellen Komplexes befördern soll) sowie ein einheitlicher Geheimdienst für das europäische In- wie Ausland gefordert.17 Auch der Soldatenpool für die EU-Eingreiftruppe soll mehr als verdoppelt werden.18 Grundsätzlich sei es erforderlich, „eine neue Ära der europäischen Integration auf Grundlage militärischer Zusammenarbeit einzuleiten“.19

Machtmaximierende Geostrategie entwickeln

Im Juni 2011 forderte der ehemalige britische Premier Tony Blair die Europäische Union dazu auf, ihr Selbstverständnis grundlegend zu überdenken: „Für Europa ist es wesentlich, zu verstehen, dass die einzige Möglichkeit, heute Unterstützung für Europa zu erhalten, nicht auf einer Art Nachkriegssicht basieren kann, gemäß der die EU notwendig für den Frieden ist. […] Beim Grundprinzip von Europa geht es heute um Macht, nicht um Frieden. [… I]n einer Welt, in der sich vor allem China zur dominierenden Macht des 21. Jahrhunderts entwickelt, ist es für Europa vernünftig, sich zusammenzuschließen und sein kollektives Gewicht einzusetzen, um Einfluss zu erlangen.“ 20

Genau solch eine grundlegende Neuausrichtung strebt auch die »Group on Grand Strategy« an. Das Gerede von der „Zivilmacht Europa“ sei Schnee von gestern, „diese alte Vision spricht die Herzen der jungen Europäer nicht mehr an“.21 Aus diesem Grund sei es dringend erforderlich, diese „ideologische Leerstelle“ 22 aufzufüllen und das Zusammenspiel von Geografie und Macht in Form einer in sich kohärenten Geostrategie ins Zentrum zu rücken. James Rogers macht keinen Hehl daraus, worin er die Hauptaufgabe einer Geostrategie sieht – in militärgestützter Machtakkumulation: „Das ultimative Ziel einer Geostrategie ist es, Geografie und Politik miteinander zu verknüpfen, um die Macht und die Einflusssphäre des heimischen Territoriums zu maximieren […] Ein solcher Ansatz muss von subtilen, aber beeindruckenden militärischen Fähigkeiten unterstützt werden, die darauf abzielen, das Auftauchen möglicher Rivalen zu vereiteln […].“ 23

Imperiales Raumkonzept: »Grand Area«

Führt man sich die Konsequenzen vor Augen, so wird klar, dass es keine kleinen Brötchen sind, die von der »Group on Grand Strategy« gebacken werden: „Über eine europäische Geostrategie nachzudenken bedeutet, Neuland zu betreten. [… Hierfür] muss die EU vermeintlich »nationale« Interessen überwinden und diese europäisch definieren. Zum anderen muss die EU bereit sein, interessenpolitisch zu denken und gemeinsame außenpolitische Interessen durchzusetzen. Damit verließe die EU endgültig ihre Nische als »Zivilmacht«, um zum machtpolitisch bewussten Akteur mit internationaler Verantwortung zu werden.“ 24 Mit genau diesem Anspruch legte James Rogers im Januar 2011 eine Studie mit dem Titel »New Geography of European Power?«25 vor, die in bislang wohl einzigartiger Form aus einer Definition europäischer Interessen ein imperiales Raumkonzept ableitet.

Die Kartografie des EU-Imperiums

Bei dem von James Rogers definierten europäischen Großraum – der „Grand Area“ – handelt es sich um nicht weniger als um eine Kartografie eines »Imperium Europa«. Es umfasst große Teile Afrikas, die ölreiche kaspische und zentralasiatische Region und den Mittleren Osten, reicht aber auch bis weit nach Ostasien, wo es gilt, die Schifffahrtsrouten zu kontrollieren (siehe Abb.)

A New Geography of European Power?

Nachweis: Rogers, James: A New Geography of European Power?, Egmont Paper Nr. 42, January 2011

„Aus einem geopolitischen Blickwinkel muss diese Zone fünf Kriterien genügen: Sie muss

1. über alle grundlegenden Ressourcen verfügen, die notwendig sind, um die europäische Industrieproduktion und künftige industrielle Bedürfnisse zu decken;

2. alle wesentlichen Handelsrouten, insbesondere Energiepipelines und maritime Transportrouten, aus anderen Regionen ins europäische Heimatland umfassen;

3. möglichst wenige geopolitische Problemfälle einschließen , die zu einer Desintegration der Region führen und damit die künftige wirtschaftliche Entwicklung Europas schädigen könnten;

4. bezogen auf ihre Bedeutung für die Wirtschaft und die geopolitischen Interessen Europas die geringste Wahrscheinlichkeit signifikanter Übergriffe durch mächtige ausländische Akteure aufweisen;

5. eine Region sein, die die Europäische Union am kosteneffektivsten durch eine Ausweitung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik […] verteidigen kann.“ 26

Imperium der Militärbasen

Die »Grand Area« soll mit einem dichtmaschigen Netz aus europäischen Militärbasen überzogen und so unter Kontrolle gebracht werden: „[D]as Konzept der »Grand Area« würde versuchen, diese Länder in ein beständiges System unter Führung der EU zu integrieren, das durch Militärbasen, bessere Kommunikationsverbindungen und engere Partnerschaften untermauert wird – eine europäische »Vorwärtspräsenz« –, um die Notwendigkeit sporadischer Interventionen zu reduzieren.“ 27 Mit diesem Militärbasennetz soll vor allem folgenden beiden Zielen Nachdruck verliehen werden: „Erstens, um ausländische Mächte davon abzuhalten, sich in Länder in der weiteren europäischen Nachbarschaft einzumischen, und zweitens, um Halsstarrigkeit und Fehlverhalten auf Seiten der lokalen Machthaber vorzubeugen“.28 Konkret wird daraufhin die Errichtung einer ganzen Reihe neuer Basen vorgeschlagen: „[N]eue europäische Militäranlagen könnten im Kaukasus und in Mittelasien, in der Arktis und entlang der Küstenlinie des indischen Ozeans benötigt werden. Das Ziel dieser Einrichtungen wäre es, […] innerhalb der »Grand Area« eine latente aber permanente Macht auszuüben“.29

In zwei viel beachteten Studien für das EUISS und die DG EXPO präzisierten James Rogers und Luis Simón diese Überlegungen für den Bereich einer maritimen EU-Geostrategie und schlugen gleichzeitig eine Europäisierung bislang nationalstaatlicher Anlagen vor, um so die Fähigkeiten zur globalen Machtprojektion zu vergrößern: „Die Europäische Union muss die kontinentale Vorherrschaft anstreben, indem sie von Militärstützpunkten innerhalb des EU-Territoriums Luft- und Seemacht in die maritimen Randgebiete an den EU-Küstengebieten projiziert. [Hierfür] müssen die Europäer ihre überseeischen Militärbasen integrieren, um so eine umfassende globale Präsenz der Europäischen Union zu gewährleisten und ihre Vorwärtspräsenz zu maximieren und so zum Weltfrieden beizutragen.“ 30

Geostrategie: Realitätscheck

Die »Group on Grand Strategy« ist der Auffassung, dass sich aufgrund der geostrategischen Diskussion innerhalb der EU allmählich ein „strategischer Konsens“ herausbildet, zu dem sie wesentlich beigetragen habe.31 Und tatsächlich ist es frappierend, wie omnipräsent die Einschätzungen und Politikempfehlungen der Gruppe im europäischen Strategiediskurs sind.32 Doch auch was die praktische Politik anbelangt, wurde mit der Expansion der EU-Einflusssphäre und der Etablierung eines imperialen Großraums bereits längst begonnen. Ursächlich hierfür ist, dass die Kontrolle des südlichen und östlichen Nachbarschaftsraums als notwendige Bedingung für EUropas Aufstieg zur Weltmacht erachtet wird, wie etwa GoGS-Beirat Thomas Renard betont: „Selbstverständlich muss die EU sich zuerst als Macht in ihrer eigenen Region etablieren, wenn sie eine globale Macht werden will.“ 33

Hierfür wurde im Jahr 2003 die »Europäische Nachbarschaftspolitik« (ENP) ins Leben gerufen, die sich auf 16 Staaten südlich und östlich der EU-Grenzen erstreckt. Ihr Ziel ist es, die umliegenden Länder fest an die EU zu binden (sprich: zu kontrollieren), ohne ihnen allerdings eine Beitrittsperspektive zu eröffnen. Mit dieser „Expansion ohne Erweiterung“ (Georg Vobruba) hat die Europäische Union einen wesentlichen Schritt hin zur Etablierung eines imperialen Großraums im Sinne der »Grand Area« von James Rogers unternommen. Die ambitionierte ENP-Agenda wurde kurz nach ihrem Start von der damaligen EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner folgendermaßen beschrieben: „Um die politischen und wirtschaftlichen Vorteile der Erweiterung mit unseren neuen Nachbarn zu teilen, haben wir die Europäische Nachbarschaftspolitik konzipiert. Mit dieser Politik etablieren wir einen »Ring von Freunden« entlang der Grenzen der erweiterten EU. Das ist ein geostrategisches Schlüsselprojekt für Europa. Diese Zone der Stabilität und des Wohlstandes soll von Osteuropa über den Kaukasus und den Nahen Osten quer durch den gesamten Mittelmeerraum reichen.“ 34

Dass dabei mittlerweile immer offener gefordert wird, die »Freunde« notfalls mit Gewalt an die Kandare zu nehmen, sollten sie aus der Reihe tanzen, entspricht ebenfalls ganz dem »Grand Area«-Konzept. Es entbehrt allerdings nicht einer gewissen Ironie, wenn dies ausgerechnet von jemandem wie dem eingangs zitierten polnischen Außenminister Radek Sikorski getan wird, der einerseits der EU geostrategische Inkompetenz attestiert, andererseits aber unmissverständlich betont, dass Gewalt zur Aufrechterhaltung des imperialen Großraums einen integralen Bestandteil der Europäischen Nachbarschaftspolitik darstellt: „Wenn die EU eine Supermacht werden will – und Polen befürwortet dies –, dann benötigt sie die Kapazitäten, um Einfluss in der Nachbarschaft auszuüben. […] Manchmal müssen wir Gewalt anwenden, um unsere Diplomatie zu unterstützen.“ 35

Auch wenn sie augenscheinlich eine wichtige Rolle spielen, tun sich Spitzenpolitiker wie Sikorski derzeit wohl noch schwer, offen auf geostrategische Strategien und Erklärungsmuster zu rekurrieren. Es stellt sich allerdings die Frage, ob dies noch lange so bleiben wird. Im Juli 2012 riefen die Außenminister Polens, Spaniens, Italiens und Schwedens das »European Global Strategy Project« aus.36 Sein Ziel ist es, bis Mai 2013 eine EU-Globalstrategie vorzulegen – und bei der Ausarbeitung spielen Mitglieder der »Group on Grand Strategy« eine sehr prominente Rolle.

Die Debatte um die Zukunft der EU-Globalstrategie ist also in vollem Gange: Dass dabei große Teile der Politikwissenschaft und Friedensforschung der Auffassung zu sein scheinen, Begriffe wie Geostrategie, Macht- und Expansionsstreben seien allenfalls für Historiker von Belang, als Erklärungsmuster für die aktuelle EU-Politik jedoch irrelevant, ist ebenso blauäugig wie verantwortungslos. Die Augen hiervor zu verschließen und sich aus einer kritischen Auseinandersetzung um Macht und Interesse zu verabschieden, bedeutet, Geopolitikern wie der »Group on Grand Strategy« das Feld zu überlassen – mit allen Folgen, die dies nach sich ziehen wird.

Anmerkungen

1) Guérot, Ulrike/Witt, Andrea: Europas neue Geostrategie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 17/2004), S.6-12, S.6f.

2) Führen heißt nicht dominieren. Interview in: Internationale Politik, Mai/Juni 2012, S.8-13, S.13.

3) europeangeostrategy.ideasoneurope.eu.

4) Dazu gehören u.a. Sven Biscop und Jo Coelmont vom belgischen Egmont Institute; Giovanni Grevi von der spanischen Foundation for International Relations (FRIDE); Eva Gross vom Institute for European Studies (IES); Jolyon Howorth (Jean Monnet Professor of European Politics) und Stefani Weiss von der Bertelsmann Stiftung.

5) So stellt etwa das »Manifest« (grandstrategy.eu/manifesto.html) der Gruppe, dem die einzelnen Beiratsmitglieder augenscheinlich zustimmen, eine Zusammenfassung der Positionen der beiden Protagonisten Rogers und Simón dar.

6) Rogers, James/Simón, Luis: The new »long telegram« – Why we must re-found European integration. GoGS, Long Telegram No. 1/Summer 2011, S.4.

7) Rogers, James/Simón, Luis: The top ten geopolitical events of the last decade. EUGeo, 05.01.2011.

8) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit. S.3, S.5.

9) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.8.

10) Rogers, James/Simón, Luis: Forecasting the next decade, EUGeo, 06.01.2010.

11) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.4.

12) Group on Grand Strategy: Manifesto. o.J.; grandstrategy.eu/manifesto.html.

13) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.8.

14) Group on Grand Strategy: Manifesto, op.cit.

15) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.2.

16) Rogers, James: A diagram of European »grand strategy«. EUGeo, 14.09.2011.

17) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.12.

18) Biscop, Sven/Coelmont, Jo: Europe Deploys Towards a Civil-Military Strategy for CSDP. Egmont Paper 49, June 2011, S.26.

19) Rogers/Simón: The top ten geopolitical events of the last decade, op.cit..

20) Hough, Abdrew: Tony Blair: EU needs elected president, former PM says. The Telegraph, 09.06.2011.

21) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.5.

22) Ebd.

23) Rogers: A New Geography of European Power?, op.cit, S.16.

24) Guérot/Witt: Europas neue Geostrategie, op.cit., S.6.

25) Rogers: A New Geography of European Power?, op.cit.

26) Ebd., S.21.

27) Ebd., S.5.

28) Ebd., S.4.

29) Ebd., S.23.

30) Rogers. James: From Suez to Shanghai. EUISS Occasional Paper No. 77/2009; Rogers, James/Simón, Luis: DG EXPO Briefing Paper, February 2009. Das Zitat stammt aus einer im Unterausschusses für Sicherheit und Verteidigung (SEDE) des Europäischen Parlamentes von James Rogers verwendeten Präsentation, die dem Autor vorliegt.

31) Balogh, István: Crafting a »grand design«. GoGS, Strategic Snapshot No. 1/July 2011, S.3f.

32) Siehe hierzu ausführlich Wagner, Jürgen: Die EU als Rüstungstreiber. IMI-Studie 2012/08.

33) Renard, Thomas: Libya and the Post-American World: Implications for the EU. Egmont Security Policy Brief No. 20, April 2011, S.5.

34) Ferrero-Waldner, Benita: Europa als globaler Akteur. Berlin, 24.01.2005.

35) Five EU countries call for new military »structure«. EUobserver, 16.11.2012.

36) euglobalstrategy.eu.

Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) und in der Redaktion von W&F.

Renaissance der deutschen Geopolitik?

Renaissance der deutschen Geopolitik?

von Jürgen Oßenbrügge und Sören Scholvin

Der Begriff Geopolitik beschreibt allgemein das Zusammenspiel zwischen Geographie und Politik oder zwischen Raum und Macht. Konkreter wird der Begriff, wenn auf die mögliche Renaissance dieses Denkens eingegangen wird, denn geopolitische Denkfiguren und Legitimationen für politische Interessen sind in Deutschland bekanntlich bereits früher sehr wirkmächtig gewesen – und sie sind es heute wieder, wie im folgenden Beitrag ausgeführt wird.

Die »Glanzzeit« der Geopolitik in Deutschland ist zwischen den frühen 1920er Jahren und dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu datieren. Wenn wir ihre damalige Außenwahrnehmung als Maßstab nehmen, kann man ihre Bedeutung kaum überschätzen: Die Westalliierten hielten die von Karl Haushofer nach dem Ersten Weltkrieg aufgebaute geopolitische Schule für die intellektuelle Grundlage der nationalsozialistischen Expansionspolitik und betrachteten das von ihm geleitete Institut für Geopolitik in München als den wichtigsten »Thinktank« im Umfeld der Nationalsozialisten (Dodds 2007: S.23f). Eine genauere historische Analyse würde diesen Eindruck zwar relativieren, dennoch ist Geopolitik im Vorfeld und während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland gleichzusetzen mit Großmachtpolitik »alter Art«, also mit Expansionismus, territorialer Kontrolle und Beherrschung inklusive Unterdrückung derjenigen, die nicht als Träger oder Unterstützer der Großmachtidee angesehen wurden.

Obgleich diese zu Recht diskreditierte Version der Geopolitik auch heute wieder eine Rolle spielt, bildet sie dennoch eine besondere (deutsche) Geschichte ab. Möchte man die Frage beantworten, inwieweit tatsächlich von einer Renaissance der deutschen Geopolitik gesprochen werden kann, so muss der Begriff deutlich breiter gefasst werden.

Geopolitik: ein schillernder Begriff

Jenseits des deutschen Sprachraums sind Analysen und Strategien auch nach dem Zweiten Weltkrieg relativ unvoreingenommen als Geopolitik bezeichnet worden. Unter dem Einfluss des »Kalten Krieges« ging es im internationalen Kontext um die Einfluss sphären der großen Machtblöcke und um die territoriale Kontrolle der nach Unabhängigkeit drängenden Staaten der »Dritten Welt«. Wichtige amerikanische Politikberater wie Zbigniew Brzeziñski und Henry Kissinger äußersten sich beispielsweise explizit geopolitisch und entwarfen Raumbilder über die vitalen Interessen der USA und des Westens.

Im deutschen Sprachraum verschwand der Begriff Geopolitik in der Nachkriegszeit dagegen aus Wissenschaft und Politikberatung. Erst nach der Auflösung der Blocklogik und angeregt durch die Wiedervereinigung nahmen Autoren auch hier wieder geopolitische Argumentationsmuster auf. Ausgangspunkt war ein vermeintliches »Machtvakuum«, das der Warschauer Pakt hinterlassen hätte und das nach einer räumlichen Neuordnung verlange. Auch regte die Wiedervereinigung Gedankenspiele über eine neue Rolle Deutschlands in der Weltpolitik an. Immer mehr Stimmen beziehen sich seitdem direkt und indirekt auf geopolitische Konzepte aus der Vergangenheit.

Daneben gibt es ein weiteres Spektrum von Beiträgen, das weniger darauf angelegt ist, Wege aufzuzeigen, wie ein besseres Raumverständnis Machtinteressen unterstützt. Vielmehr wird die Frage gestellt, ob naturräumliche Eigenschaften, Ressourcenbestände oder Bevölkerungsbewegungen einen relevanten Rahmen für Politik bilden. Gegenwärtig ist der Zugang zu Ölreserven ein typisches Beispiel für diese Form des Geodeterminismus. Aber auch andere Rohstoffe wie »seltene Erden« werden mit Blick auf Rohstoffsicherung untersucht. Weiterhin gibt es zahlreiche Spekulationen darüber, ob der Klimawandel eine veränderte Ressourcenverfügbarkeit sowie umweltbedingte Migrationsbewegungen und unkontrollierbare Verstädterungsprozesse befördert, somit möglicherweise Sicherheitsprobleme oder gar »Klimakriege« erzeugt.

Tab. 1: Typische Formen äußerer und innerer Geopolitik

Äußere Geopolitik Innere Geopolitik
Territorialitätsansprüche von Staaten einschließlich der Seerechtszonen Durchsetzungsformen und – probleme des staatlichen Gewaltmonopols im Staatsterritorium
Reichweite/Ausdehnung der Einflusszonen von Welt-, Groß- und Regionalmächten Sezessionistische und regionalistische Bewegungen, die die bestehende Staatlichkeit in Frage stellen
Zusammenschluss verschiedener Staaten zu regionalen Verbänden Konflikte zwischen Stammesgesellschaften, Clans oder Banden um die territoriale Kontrolle in Teilräumen eines Staates
Ausbreitung und räumliche Diffusion von politischen und religiösen Ideologien Nutzung natur- und kulturräumlicher Eigenschaften zur Legitimation von Machtansprüchen
Festlegung staatlicher Grenzen, die im Konflikt mit kultur- und naturräumlichen Gegebenheiten stehen Raumordnungs- und regionalpolitische Intervention des Staates
Sicherung der Rohstofflager und Handelswege (Geoökonomie) Wahlgeographische Gliederung demokratisch repräsentativer Staaten
nach Lacoste 1990, erweitert

Insgesamt besteht aber keine Klarheit über das Thema Geopolitik, die für die Konstitution einer wissenschaftlichen Perspektive hilfreich wäre. Lediglich die Dominanz räumlicher Konfigurationen für politische Prozesse kann als einendes Moment erkannt werden. Yves Lacoste, Gründungsmitglied und Herausgeber der Zeitschrift »Hérodote«, die seit 1976 die wichtigste Zeitschrift zum Thema darstellt, versteht unter Geopolitik zudem nicht nur naturräumliche und geostrategische, sondern auch die Vielzahl lokalspezifischer Einflussgrößen für Machtrivalitäten, Konflikte und Interaktionen zwischen globalen und lokalen Faktoren. Entscheidend ist für Lacoste die territoriale Perspektive (Lacoste 1990), die er als äußere und innere Geopolitik beschreibt (vgl. Tab. 1).

Auf eine umfassende Darstellung der damit verbundenen Themen muss an dieser Stelle verzichtet werden. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf zwei Aspekte: Als erstes zeigen wir die Argumentationsstränge auf, die sich mit der »alten« Geopolitik in der Tradition Haushofers in Verbindung bringen lassen und ein nationalistisch gefärbtes Großmachtdenken repräsentieren. Sodann gehen wir auf ressourcenpolitische Themen ein, die auf unterschiedlichen Wegen zu Empfehlungen für territoriale Kontrollregime führen und die wir in einen Zusammenhang mit dem »Krieg gegen den Terror« bringen. Dieses Vorgehen bildet sicher nicht das gesamte geopolitische Spektrum ab, soll jedoch zumindest die wichtigen Diskurse aufnehmen, die im deutschen Sprachraum zu finden sind.

Geopolitik als Machtpolitik des wiedervereinigten Deutschland

Die Renaissance der Geopolitik in Deutschland begann mit solchen Beiträgen, die unmittelbar nach der Wiedervereinigung ein selbstbewussteres, an eigenen Interessen orientiertes Auftreten Deutschlands forderten. In Analogie zu den Arbeiten von Haushofer nach dem Ersten Weltkrieg wurden auch in den 1990er Jahren Argumente zur Begründung einer veränderten außenpolitischen Praxis Deutschlands mit dem Ziel bemüht, geopolitisches Wissen als Fundament der so genannten vitalen Interessen einzusetzen. Beispielsweise legte der Historiker und Berater der Kohl-Regierung, Hans-Peter Schwarz, 1994 ein Werk mit dem Titel »Die Zentralmacht Europas« vor, in dem er aus Deutschlands Lage, Größe und ökonomischer und kultureller Potenz ein „natürliches Streben“ nach einem Großmachtstatus ableitete (Schwarz 1994, ähnlich Schöllgen 1993). Auch Arnulf Baring war der Auffassung, Deutschland müsse über die „provinziell verengte Perspektive“ der Bonner Republik hinauswachsen. Wie vor 1945 falle dem wiedervereinigten Deutschland die „Aufgabe“ zu, sich „als relative Vormacht Europas zu etablieren“ (Baring 1992, S.29-36). Der Unterschied zur alten Geopolitik besteht bei diesen Autoren lediglich in der Aufgabe der Autarkieoption. So solle durch die feste Einbindung Deutschlands in europäische und transatlantische Bündnissysteme den etwaigen Vorbehalten anderer gegen den Machtzuwachs Deutschlands entgegengewirkt werden (Schöllgen 1993, S.127-133).1

Derartige Positionen sind nicht in Unkenntnis der Konzepte und Wirkungsgeschichte der alten Geopolitik entstanden. Eher ist vom Gegenteil auszugehen, denn mit Hans-Adolf Jacobsen (1994, S.39-40) fordert einer der besten Kenner des Lebens und des Werkes Haushofers, dass seitens politischer Entscheidungsträger die „unverkennbaren Herausforderungen eines jeden Staates durch seine geographische Umwelt“ und die „Wechselwirkungen zwischen politischer Lebensform und geographischem Milieu“ berücksichtigt werden müssten. Wie Haushofer nach Ende des Ersten Weltkrieges sah auch Jacobsen (ebd., S.40) Geopolitik als wissenschaftliche Politikberatung an, die sich auf geographische Konstanten wie beispielsweise die Mittellage Deutschlands bezieht.

Näher an der völkischen Tradition deutscher Geopolitik stehen Beiträge, die auch den „Beginn einer an deutschen Interessen ausgerichteten Außenpolitik“ einfordern, diese jedoch mit Hinweisen auf „Dichteräume“ und ein „deutsches Psychogramm“ verbinden und damit direkt an die pseudowissenschaftliche Geopolitik der Zwischenkriegszeit anknüpfen (Detlefs 1998). Auch Felix Buck betonte den Wert geopolitischer Kenntnisse und Standpunkte, um – geleitet von deutschen Interessenlagen – „die Gestaltung, die Beeinflussung, vornehmlich aber die Beherrschung von Räumen“ umzusetzen (Buck 1996, S.11). Zudem sei geopolitisches Wissen notwendig, um dem deutschen Volk „ein umfassendes und wirklichkeitsgerechtes Weltbild“ zu vermitteln, welches „unerlässliche Voraussetzung für die erfolgreiche Gestaltung“ der Zukunft Deutschlands sei (Buck 1996, S.69-70).

Als Zwischenbilanz sind zwei Gesichtspunkte nach unserer Meinung bedeutungsvoll: Zum einen wird seit einigen Jahren eine Neubelebung alter geopolitischer Denkstile sichtbar. Sie beschäftigen sich wie in der Entstehungsphase der deutschen Geopolitik in den 1920er Jahren mit dem Verhältnis von Macht und Raum in Europa vor dem Hintergrund des aufgelösten Ost-West-Gegensatzes und der europäischen Integration. Haushofers damalige Motivation war revisionistisch, geprägt durch deutsche Territorialverluste im Versailler Vertrag. Die modernen Formen sehen durch die Wiedervereinigung Deutschlands neue Möglichkeitsräume für territoriale Machtspiele, deren Nutzung empfohlen wird. In dieser Form dürfte sich auch in Zukunft ein machtorientierter Geopolitikdiskurs präsentieren und ein Streben nach einer eindeutigen Führungsrolle in Europa ausdrücken.

Zum anderen sollten die bisherigen geopolitischen Revitalisierungsversuche nicht überschätzt werden. Bislang taugt der Hinweis auf vermeintliche geopolitische Logiken nicht unbedingt, um Politiker und die politische Öffentlichkeit zu bewegen. Angesichts zunehmender globaler Vernetzungen und darin liegender Probleme scheint ein territoriales, primär auf das Gewicht und den Einflussbereich eines Nationalstaats ausgelegtes Machtkonzept nur ansatzweise zu überzeugen, um wirksam politische Meinungen und Handlungsweisen zu strukturieren. So zeigt eine Auszählung des Begriffs als Substantiv oder Adjektiv in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen zwar kontinuierlichen, aber keineswegs häufigen Gebrauch (Abb. 1). Es kommt hinzu, dass die Verwendung in den 1990er Jahren sich oft auf die Besprechung der oben genannten Literatur bezog, während in den letzten zehn Jahren zunehmend geopolitische Aspekte der Mensch-Umwelt-Beziehungen in den Vordergrund getreten sind, auf die wir im Folgenden eingehen.

Abb. 1: Der Begriff Geopolitik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Der Begriff Geopolitik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

(Nennungen pro Jahr)

Geopolitik und globale Kontrolle

Auch wenn der Geopolitik »alter Art« derzeit keine besondere Rolle zuzuschreiben ist, bildeten sich wirkmächtige »neue« Formen heraus. Mit der Bezeichnung »ungoverned territories« werden solche Räume bezeichnet, die sich einer staatlichen Kontrolle entziehen und damit ein Bedrohungspotential bilden. In großräumiger Perspektive hat Thomas Barnett bereits 2003 von der „nichtintegrierten Lücke“ gesprochen, die sich aus zusammenhängenden Regionen mit schwachen, zerfallenen Staaten und gravierenden Entwicklungsproblemen zusammensetzt (Barnett 2003). Dieser Raum wäre ein Rückzugs- und Operationsgebiet für terroristische Gruppen und daher eine latente Gefahr für den Westen. Der Krieg gegen den Terror müsse daher mit Anstrengungen verbunden werden, diese Teilräume unter Kontrolle zu bringen. Einige Jahre später legte die Rand Corporation in einer Studie für die US-Armee eine vertiefte Auseinandersetzung zum Thema »unregierbare Territorien« vor (Rabasa u.a. 2007; Schetter 2010). Danach liegen die »hot spots« der »nichtintegrierten Lücke« in schwer zugänglichen Gebieten (Gebirge, Wüsten, tropische Wälder), deren Erreichbarkeit durch große Distanzen und fehlende Infrastruktur erschwert wird. Inzwischen dehnt sich dieser Diskurs auch auf Megastädte aus, die als unregierbar gelten.

Die damit angedeutete neue geopolitische Sicherheitsdebatte wird seit einiger Zeit durch einen weiteren Faktor angereichert: den zunehmenden Bevölkerungs- und Umweltstress, der zu gewaltsamen Konflikten und umweltbedingter Migration führen könne. Die unkontrollierbaren Räume erweitern sich danach durch natur- und sozialräumliche Transformationsprozesse. Damit kehren wir zum deutschsprachigen geopolitischen Diskurs zurück, den wir am Beispiel des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU 2007) illustrieren.

Aufbauend auf ältere Arbeiten zum Syndrom-Ansatz wird in einem aufwendigen Gutachten das Argument entwickelt, dass der Klimawandel ein Auslöser für gesellschaftliche Destabilisierung und zahlreiche Konflikte sei. Nahrungsmittelknappheiten, Degradierung von Süßwasserreserven, der Meeresspiegelanstieg, Sturmgefahren sowie die umweltbedingte Migration stünden nicht nur für Krankheitsbilder des Erdsystems (Syndrome), sondern indizierten mögliche Konfliktkonstellationen. Sie erzeugten regionale Krisen und gesellschaftliche Destabilisierung, führten zu politischen Unruhen und beinhalteten einen weiteren staatlichen Kontrollverlust über das jeweilige Territorium. So mutieren die als »Sahel-Syndrom« angesprochenen Prozesse der Desertifikation (durch menschliche Nutzungsformen verstärktes Wachstum der Wüstenbildung) im Kontext der Klimadebatte und vor dem Hintergrund der Konflikte u.a. im Dafur, in Mali oder im Norden Kenias zu ersten Klimakriegen.

Folgt man dem WBGU und anderen sicherheitspolitisch motivierten Klimaforschern, dann wächst derzeit die desintegrierte Lücke und es entstehen neue Potentiale, die Gewaltformen auslösen oder verstärken. Eine besondere Bedeutung wird in diesem Zusammenhang den »Klimaflüchtlingen« beigemessen, deren Größenordnung in mehrstelliger Millionenhöhe geschätzt wird. Das verstärkte Aufkommen dieser Migrationsform wird, so das Argument, die Land-Stadt-Wanderung beschleunigen und die bestehenden Probleme in den sehr schnell wachsenden Städten verstärken. Es wundert daher nicht, dass hier die neuen Orte der Unregier- und Unkontrollierbarkeit vermutet werden (Liotta, Miskell 2012). Auch könnten Klimaflüchtlinge große internationale Migrationsströme verstärken und ein zunehmendes Sicherheitsproblem für den globalen Norden darstellen.

Dieses bereits beängstigende Szenario wird durch eine anders gelagerte Perspektive auf Ressourcen weiter befeuert. Weltweit steigt nach wie vor die Nachfrage nach mineralischen, energetischen und biotischen Ressourcen. Die sich verstärkenden Konkurrenzbeziehungen auf den Rohstoffmärkten, gekoppelt mit neuen ressourcenbezogenen Sicherungsstrategien sowie der Erfahrung, dass Ressourcenextraktion häufig mit gewaltförmigen Auseinandersetzungen verbunden ist, verstärkt die Forderungen nach territorialer Kontrolle solcher Rohstoffgebiete, die strategische Bedeutung für die eigene Wirtschaft aufweisen. Dabei spielen Erdöl, einige mineralische Rohstoffe und landwirtschaftliche Nutzflächen derzeit die größte Rolle und prägen geopolitische Debatten der letzten Jahre in den USA, in Europa und in den Schwellenländern (Oßenbrügge 2013).

Zusammenfassend lassen sich also zwei Prozesse unterscheiden, die den Umweltwandel als Sicherheitsfrage erscheinen lassen: Einerseits werden noch vorhandene Ressourcenvorkommen derzeit durch eine steigende Nachfrage schnell abgebaut, was neben höheren Rohstoffpreisen auch zu einem Wettlauf um die verbliebenen Lagerstätten führt. Andererseits können Veränderungen im Klimasystem bei bereits knapper Verfügbarkeit von Ressourcen der dort lebenden Bevölkerung die Lebensgrundlage entziehen und als Folge Marginalisierung, Konflikte und Migration auslösen. Beide Prozesse werden in geopolitischen Debatten als »Krieg um Rohstoffe« oder »Klimakriege« aufgeladen.

Allerdings sind »harte« Belege für ein vermehrtes Auftreten solcher Umweltkonflikte bisher rar und umstritten. Daher wird in der Friedens- und Konfliktforschung auch vom Vorgang der „securitization“ gesprochen (Brzoska, Oels 2011/12). Danach würde der Verweis auf mögliche gesellschaftliche Destabilisierungen, die auf demographische und ökologische Transformationen bezogen werden, auch eine Rechtfertigung für militärische Einsätze darstellen. Sie beziehen sich auf die Bereitschaft und Fähigkeit zur Übernahme territorialer Kontrollfunktionen, um die Orte und Räume, die als »hotspots« der Konfliktkonstellationen erkannt worden sind, zu sichern. Neben der Eindämmung möglicher ressourcenbezogener Konflikte geht es auch um die Rechtfertigung von Maßnahmen zur räumlichen Abschottung unerwünschter Migrationsformen.

Fazit

Der vorgelegte Beitrag gibt Hinweise auf die verschiedenen Wege, die eine Auffassung bestärken, es gäbe eine Renaissance der Geopolitik. Angesichts der Geschichte der Geopolitik sollte aber ein abschließendes Urteil sorgfältig zwischen einer ungebrochenen Wiederaufnahme des geopolitischen Denkens und modernisierten Formen unterscheiden. Eine Renaissance der Version einer Geopolitik, die Karl Haushofer in Deutschland begründete, ist nur ansatzweise zu erkennen. Auch wenn diese neueren Arbeiten kritisch kommentiert und eingeordnet werden müssen, ist eine Bedeutungszunahme nicht zu befürchten, da diese Art geopolitischer Argumentation zu unterkomplex ausgelegt ist. Angesichts heutiger globaler Verflechtungen überzeugen Konzepte nicht mehr, die den Nationalstaat als isoliert handelnden Akteur konzipieren und seine Macht mit dem Vermögen zur territorialen Kontrolle gleichsetzen. Selbst die USA haben gegenwärtig Schwierigkeiten, ihre Hegemonialstellung überall und zu jeder Zeit durchzusetzen. Zwar verweist das aktuell diskutierte deutsche Konzept der „Gestaltungsmächte“ (Kappel 2012) auf die Möglichkeit, gestufte hierarchische Systeme zu konzipieren, um eine Welt-Raumordnung umzusetzen. Jedoch würde so das Streben nach territorialer Kontrolle nur noch indirekt vermittelt, es wäre multilateral zu verhandeln und damit schwieriger durchsetzbar.

Wichtiger erscheint uns derzeit die vertiefte und kritische Auseinandersetzung mit ressourcenbezogenen Zukunftsfragen zu sein, die durch zunehmende Nachfrage nach Rohstoffen oder den Klimawandel gesteuert werden. In diesem Zusammenhang werden als geopolitisch einzustufende Ansätze empfohlen, die auf Rohstoffsicherung und Eindämmung bestehender oder potentieller Ressourcenkonflikte abzielen. In der Summe regen diese Formen des Umgangs mit Ressourcen allerdings eine verstärkte Suche nach territorialen Kontrollregimen an, denen ein neoimperialer Charakter zuzuschreiben ist. Damit wird gleichzeitig der Bedarf nach einer »kritischen Geopolitik« unterstrichen, um territoriale und ressourcenbezogene Machtansprüche von Staaten und Gewaltakteuren auf ihre Motivationsgrundlage und strukturelle Einbettung sichtbar und kritikfähig zu machen.

Anmerkungen

1) Dieser Diskurs wurde auch durch die Bundeszentrale für Politische Bildung verbreitet, die beispielsweise Heinz Brills »Geopolitik heute« anpries.

Literatur

Baring, Arnulf (1992): Eine neue deutsche Interessenlage? Stuttgart.

Barnett, Thomas (2003): Die neue Weltkarte des Pentagon. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2003, S.554-564.

Brill, Heinz (1994): Geopolitik heute: Deutschlands Chance? Frankfurt.

Brzoska, Michael, Oels, Angela (2011/12): »Versicherheitlichung« des Klimawandels? Die Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung und ihre politischen Folgen. In: Brzoska u.a. (Hrsg.): Klimawandel und Konflikte. Baden-Baden (AFK Friedensschriften), S.27-50.

Brzezinski, Zbigniew (1997): The Grand Chessboard: American Primacy and its Geostrategic Imperatives. New York.

Buck, Felix (1996): Geopolitik 2000: Weltordnung im Wandel. Frankfurt.

Detlefs, Gerhard (1998): Deutschlands Herausforderungen im Zeitalter der Globalisierung: Geopolitik für das 21. Jahrhundert. Tübingen.

Dodds, Klaus (2007): Geopolitics. A very short introduction. Oxford.

Jacobsen, Hans-Adolf (1994): Geopolitik im Denken und Handeln deutscher Führungseliten: Anmerkungen zu einem umstrittenen Thema. In: WeltTrend 4/1994, S.39-46.

Kappel, Robert (2012): Deutschland und die neuen Gestaltungsmächte. GIGA Focus, 2-2012.

Lacoste, Yves (1990): Geographie und politisches Handeln. Perspektiven einer neuen Geopolitik. Berlin.

Liotta, Peter, Miskell, James (2012): The Real Population Bomb. Megacities, Global Security & the Map of the Future. Washington.

Oßenbrügge, Jürgen (2013): Kontinuität der Ressourcenkonflikte und kommende Klimakriege? In: B. Korf u.a. (Hrsg.): Geographien der Gewalt. Stuttgart (im Erscheinen).

Rabasa u.a. (2007): Ungoverned territories: understanding and reducing terrorism risks. Santa Monica.

Schetter, Georg (2010): »Ungoverned territories«: eine konzeptuelle Innovation im »War on Terror«. In: Geogr. Helv. 65 (3), S.181-188.

Schöllgen, Gregor (1993): Angst vor der Macht: Die Deutschen und ihre Außenpolitik. Berlin.

Schwarz, Hans-Peter (1994): Die Zentralmacht Europas: Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne. Berlin.

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) (2007): Sicherheitsrisiko Klimawandel. Berlin, Heidelberg.

Prof. Dr. Jürgen Oßenbrügge arbeitet im Fachgebiet Politische Geographie und Klimaforschung an der Universität Hamburg. Sören Scholvin ist Doktorand der »Hamburg International Graduate School for the Study of Regional Powers« am German Institute of Global and Area Studies (GIGA).

Geopolitik und Grenzüberschreitung

Geopolitik und Grenzüberschreitung

von Jürgen Scheffran

Im Unterschied zur Politischen Geographie, die die Wirkung von Politik auf die Kulturlandschaft untersucht, will Geopolitik politisches Handeln im Raum geographisch begründen. Räumliche Grenzen erlauben die Ausgrenzung des Fremden bei gleichzeitiger Kontrolle ferner Territorien. Damit konnte Geopolitik historisch anknüpfen an das religiös geprägte Programm, sich die Erde untertan zu machen, und das wissenschaftliche Paradigma, die Grenzen zum Unbekannten zu überschreiten.

Angesichts der Instrumentalisierung der Geographie im deutschen Faschismus weckt der Begriff »Geopolitik« hierzulande negative Assoziationen. Auch wenn der Geograph Friedrich Ratzel in seinem Werk »Politische Geographie« von 1897 ohne diesen Begriff auskam, waren seine »Grundgesetze des räumlichen Wachstums der Staaten« ideologisch instrumentalisierbar. Mit Karl Haushofer wurde Geopolitik zur Staatsdisziplin, die die deutsche Kriegsmaschinerie darauf ausrichtete, den Lebensraum des »Volkskörpers« zu expandieren, fremde Territorien »einzuverleiben« und in eine Todeszone für »unwertes Leben« zu verwandeln. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren geopolitische Ambitionen in Deutschland diskreditiert und erlebten erst nach 1990 wieder Bedeutung, nun im europäischen Gewand. Eine wachsende geopolitische Rolle Europas wird von einigen Vordenkern angestrebt, bleibt aber umstritten.

Im angelsächsischen Raum sind dagegen geopolitische Traditionen von Mackinder bis Brzeziñki, Huntington und Kaplan ungebrochen. Die Ergebnisse der beiden Weltkriege und des Kalten Krieges werden positiv verbucht. Mit der Festlegung nationaler Grenzen verlor die Geopolitik von Räumen allerdings an Bedeutung gegenüber der Geoökonomie von Märkten, die wenig Rücksicht auf nationale und natürliche Grenzen nimmt. Zum Gegenstück der Globalisierung wurde die Fragmentierung sozialer und politischer Strukturen in fragilen Räumen, in denen der Kampf um Macht und Herrschaft gewaltsam ausgetragen wird. Während geographische Distanzen durch Transport und Kommunikation schrumpfen, bleiben politische Distanzen und Bruchlinien bestehen. Die Armutsgürtel in Washington liegen den Zentren der Macht auch nicht näher als die Slums der Dritten Welt.

Geopolitik war immer auch mit der Ausbeutung der Natur verbunden. Im Zeitalter des Anthropozän werden natürliche Ressourcen knapper, vor allem Land, dessen Erwerb über nationale Grenzen hinweg vor allem eine Frage des Geldes ist. Durch den Klimawandel entstehen neue Hochrisikozonen, die in Weltkarten der Verwundbarkeit erfasst werden. Mit der Entfaltung erneuerbarer Energien im Rahmen einer grünen Ökonomie werden jene Orte wertvoller, die eine hohe Sonneneinstrahlung und Biomasse-Produktivität, starke Flüsse für Wasser, Wind, Geothermie, Gezeiten und Ozeanströmungen aufweisen. In solchen Energielandschaften verschieben sich Kontrollansprüche, Widerstände und Konfliktpotentiale auf die lokale Ebene. Je mehr die natürlichen Grenzen des Wachstums erreicht werden, umso mehr wachsen auch Bestrebungen, die widerspenstige Natur unter Kontrolle zu bekommen. Dies zeigt das Konzept des Geoengineering, das an den Steuerschrauben des Klimasystems drehen will, um es in akzeptablen Grenzen zu halten.

Das Gedankengut der Geopolitik breitet sich auch in technisch konstruierten Räumen aus. Neues Terrain wird nicht nur in fernen Weltgegenden oder im Weltraum beansprucht, sondern auch in den Räumen des Cyberspace, im biologischen Mikrokosmos oder in der Nanowelt. Während im geographischen Atlas Distanzen verdichtet werden, um Lebenswelten abzubilden, werden sie im genetischen Atlas aufgebläht, um Claims für die Patentierung neuen Lebens abzustecken. Durch Satelliten und geographische Informationssysteme wird eine Verbindung aller Natur- und Lebensbereiche global und in Echtzeit möglich. Mit den vernetzten Welten von Facebook, Google Maps und iPhone sind viele überall erreichbar und verortbar. Das Webcam-Fenster zur Welt wird zum Fenster der Welt ins eigene Wohnzimmer. Der Anspruch des umfassenden Zugriffs rund um den Erdball eröffnet so die Möglichkeit der totalen Kontrollierbarkeit.

Kritische Ansätze zur Geopolitik bezweifeln, dass menschliches Verhalten durch geographische Faktoren determiniert wird, und kritisieren, dass Grenzen in politische Diskriminierung umgemünzt werden, etwa gegenüber Frauen oder ethnischen und religiösen Gruppen. Aus feministischer Perspektive dient Geopolitik der Durchsetzung patriarchalischer Strukturen und der Vorherrschaft des weißen Mannes. Ob eine alternative Geopolitik, die auf lokalen Kontexten und partizipativen Ansätzen basiert und Widerstände zur Schaffung von Freiräumen betrachtet, angesichts der vorbelasteten Geschichte erfolgversprechend ist, sei dahin gestellt. Indem die Geographie Schnittstellen zu allen andere Disziplinen entwickelt, eröffnet sie die Möglichkeit ihrer integrativen Verschmelzung. Dies wäre eine andere »Rache der Geographie«, als Robert Kaplan dies in seinem jüngsten Werk gleichen Namens vorhergedacht hat.

Ihr Jürgen Scheffran

Das moderne Seerecht –

Das moderne Seerecht –

Ein Zukunftsmodell für das Völkerrecht?

von Hans-Joachim Heintze

Gewisse Sphären auf und um die Erde unterliegen nicht der Verfügungsgewalt und Rechtsprechung von Nationalstaaten. Neben dem Weltraum, der von der Völkergemeinschaft als »gemeinsames Erbe der Menschheit« eingestuft wurde, trifft dies auch auf die »hohe See» zu. In der Präambel der Seerechtskonvention bekräftigen die Unterzeichnerstaaten, „daß es wünschenswert ist, durch dieses Übereinkommen unter gebührender Berücksichtigung der Souveränität aller Staaten eine Rechtsordnung für die Meere und Ozeane zu schaffen, die den internationalen Verkehr erleichtern sowie die Nutzung der Meere und Ozeane zu friedlichen Zwecken, die ausgewogene und wirkungsvolle Nutzung ihrer Ressourcen, die Erhaltung ihrer lebenden Ressourcen und die Untersuchung, den Schutz und die Bewahrung der Meeresumwelt fördern wird“. Der Autor beschreibt den Weg bis zum Abschluss dieses völkerrechtlichen Übereinkommens, die wichtigsten Regelungen und seinen Beispielcharakter für ein »Völkerrecht der Solidarität«.

Das Völkerrecht ist nach wie vor ein Rechtszweig, der von der Souveränität der Staaten geprägt ist. Das verwundert nicht, da die Staaten die Schöpfer des Völkerrechts sind. Anders als staatliches Recht wird Völkerrecht nicht gesetzt, sondern durch die Staaten vereinbart. Folglich gibt es kein zentrales Rechtsetzungsorgan der Staatengemeinschaft, dem sich die Staaten unterordnen müssten, denn dies widerspräche ihrer Souveränität. Der Charakter eines Konsensrechtes macht die Ausarbeitung und Fortentwicklung des Völkerrechts jedoch zu einer langwierigen und komplizierten Angelegenheit.

Freilich gibt es aber allerorts Regelungsbedarf, denn das Zusammenleben der Staaten und ihre Interaktion erfordern Vereinbarungen, auf die sich die Staaten verlassen können. Deshalb greifen sie neben politischen Vereinbarungen immer wieder auf völkerrechtliche Verträge oder Gewohnheitsrecht zurück. Die Rechtsform hat den Vorteil der Verbindlichkeit und dient somit der Stabilität von Beziehungen. Gleichwohl erfolgt die Vereinbarung von Völkerrecht auf der Basis der Freiwilligkeit, und Staaten schließen nur dann Verträge, wenn es ihren Interessen entspricht. Demgemäß erfolgt auch die Einhaltung des Völkerrechts grundsätzlich freiwillig.

Es gibt allerdings Räume, die keiner Souveränität unterstehen, da sie keinem Staat zugerechnet werden können. Das betrifft beispielsweise den Weltraum, der ein hoheitsfreier Raum ist. Über Jahrhunderte war dies nicht nur ein luftleerer, sondern auch ein rechtsfreier Raum. Erst mit Beginn der Raumfahrt im Jahre 1957 und ihrer militärischen Bedeutung stellte sich die Frage nach der völkerrechtlichen Regelung des Zugangs und der Nutzung des Alls. Am 27.1.1967 wurde daraufhin der Weltraumvertrag abgeschlossen, der bereits am 10.10. 1967 in Kraft trat. Demnach darf der Weltraum von allen Staaten gleichberechtigt zu friedlichen Zwecken und zum Wohle der gesamten Menschheit erforscht und genutzt werden. Diese Bestimmung hat sich bewährt; der Umstand, dass Astronauten aus vielen Staaten und nicht nur Russen und Amerikaner an Weltraummissionen teilnahmen, ist auf diese Vereinbarung zurückzuführen.

1970er Jahre: Rechtsordnung der Weltmeere gerät aus den Fugen

Während der Weltraum unzweifelhaft keiner nationalen Aneignung unterliegt, stellen sich hinsichtlich der Weltmeere kompliziertere Probleme. Teile der Weltmeere gehören zum Staatsgebiet der Küstenstaaten und werden auch von diesen beansprucht. Gleichwohl sind die Meere größtenteils ein hoheitsfreier Raum und stehen allen Staaten zur Erforschung und Nutzung zu. Die Koexistenz von nationalen Ansprüchen und dem Gemeinschaftsraum fand im Völkerrecht in zwei Konzeptionen ihren Niederschlag, der vom »mare liberum« und der vom »mare clausum«. Unterstrich die erste den freien Zugang aller zum Meer, sprach sich die zweite für einen Vorrang der küstenstaatlichen Rechte aus.

Besonders die schifffahrttreibenden Staaten waren seit jeher Anhänger der freien Nutzung, und so überrascht es nicht, dass der Holländer Hugo Grotius 1609 das seinerzeit grundlegende völkerrechtliche Werk »De mare libero« veröffentlichte und darin vehement für die freie Nutzung der Weltmeere plädierte. Dem lag die Idee zugrunde, dass die Meere Handelsstraßen sind, die ihrer Natur nach herrschaftsfrei sind. Freilich bezog sich dies nur auf die Hohe See, während die Küstengewässer als Staatsgebiet angesehen wurden. Allerdings stellte sich seit jeher die Frage, wie breit diese der Freiheit des Meeres entzogenen Seegebiete sein sollten. Im Laufe der Zeit kam man zu einer pragmatischen Lösung, indem die seinerzeit moderne Kriegstechnik zum Maßstab gemacht wurde. Die Kanonen der führenden Seemacht England konnten drei Seemeilen schießen, folglich konnte der Anspruch auf dieses Gebiet militärisch durchgesetzt werden.

Allerdings entwickelten sich die Technik und die Nutzung der Meere weiter, so dass die Regeln, die sich im Wege des Völkergewohnheitsrechts herausgebildet hatten, immer stärker infrage gestellt wurden. Damit entstand die Notwendigkeit der Kodifizierung, d.h. der vertraglichen Vereinbarung. Dies erwies sich als kompliziert, ging es doch vorrangig um Fragen staatlicher Hoheitsrechte in den Küstengewässern. Ein erster Versuch scheiterte 1930, da sich die einberufene Konferenz nicht über die Breite dieser staatlichen Küstengewässer einigen konnte. Erst 1958 auf der I. UN-Seerechtskonferenz wurden vier Seerechtsübereinkommen vereinbart (über das Küstenmeer und die Anschlusszone, über die Hohe See, über die Fischerei und über den Festlandsockel). Durch die Verträge, die recht bald in Kraft traten, wurde größere Rechtssicherheit hinsichtlich aller Formen der Nutzung der Weltmeere erreicht. Ein Problem blieb allerdings offen: Es wurde keine definitive Festlegung über die maximale Breite der Küstengewässer erreicht. Angenommen wurde lediglich eine »Soll«-Bestimmung, wonach zwölf Seemeilen (sm) nicht überschritten werden sollten.

Mit der zunehmenden Überfischung und der Ausbeutung von Rohstoffen vom küstennahen Meeresgrund wuchs das Interesse der Anliegerstaaten, ihre Küstengewässer auszudehnen und damit souverän über diese Meeresschätze zu verfügen. Schrittweise dehnten Staaten ihre Territorien aus; so reklamierte Island 1958 eine Erweiterung auf zwölf sm, um seine Fischgründe vor der Überfischung durch die hochmodernen britischen Fabrikschiffe zu schützen. Daraufhin entsandte England Kriegsschiffe, um den traditionellen Zugang britischer Trawler zu erzwingen. Erst der isländische Protest vor dem NATO-Rat zwang Großbritannien schließlich, die Erweiterung anzuerkennen.

Nach dem weiteren Rückgang der Fischbestände vergrößerte Island Anfang der 1970er Jahre sein Küstengewässer erneut, und zwar auf 50 sm, so dass es 30% der Grundfischbestände im Nordatlantik beanspruchte. Großbritannien und Deutschland wollten dies nicht hinnehmen, und ihre Flotten fischten weiter. Island reagierte darauf, indem es die Fanggeräte fremder Fischerboote kappte, die sich innerhalb der beanspruchten 50-Seemeilen-Schutzzone befanden. Erst nach Intervention der USA, die ihre Luftwaffenbasis in Island gefährdet sahen, wurde der Streit beigelegt, indem England Sonderfangrechte erhielt. Dennoch sank der Fischbestand weiter, worauf Island 1974 seine Gewässer auf 200 sm ausdehnte. Wiederum kam es zu Auseinandersetzungen und zur Entsendung britischer Kriegsschiffe. Die Lage verschlechterte sich so weit, dass die Presse von einem »Kabeljaukrieg« sprach. Sogar die diplomatischen Beziehungen zu Großbritannien wurden abgebrochen. Erst 1976 akzeptierte die britische Regierung in einem Interimsvertrag die 200-Seemeilen-Zone.

Selbst zwischen NATO-Staaten sorgte die beständige Ausdehnung der Küstengewässer also für erhebliche Spannungen. Aber auch andere Staaten erkannten die Möglichkeiten zur Erweiterung ihrer Hoheitsgebiete. So proklamierten beispielsweise Peru und Chile 1974 Territorialgewässer von 200 sm. Diese Entwicklung brachte die Supermächte auf den Plan: Nun ging es nicht mehr nur um Fisch und Bodenschätze, sondern um die Freiheit der Schifffahrt, und zwar der militärischen. Das juristische Problem der Großmächte ergab sich daraus, dass die Küstengewässer Staatsgebiet sind und die Ein- und Ausreise durch die Küstenstaaten geregelt werden kann. Für zivile Schiffe gilt zwar das Recht auf friedliche Durchfahrt, das diese ermächtigt, ohne weitere Genehmigung fremde Küstengewässer ohne Unterbrechung und zügig zu durchfahren, um einen Hafen anzulaufen oder in andere Teile der Hohen See zu gelangen. Umstritten ist aber, ob diese Regel auch für Kriegsschiffe gilt. Damit behinderte die einseitige Ausdehnung der Küstengewässer die Bewegungsfreiheit der Flotten der Großmächte, die ihr nukleares »Abschreckungspotential« zu einem guten Teil seegestützt, d.h. auf U-Booten vorhalten. Daher forderten die Sowjetunion und die USA in ungewohnter Einigkeit eine neue Kodifikation.

Es war von vorneherein klar, dass sie für ihre militärischen Interessen einen Preis bezahlen müssten, denn die Welt hatte sich in den 1980er Jahren gewandelt. Vor allem waren seit 1958 viele neue Staaten entstanden, die souverän ihre Interessen vertraten. Auch die Technik hatte sich gewandelt, es waren neue Formen der Meeresnutzung und der Ausbeutung von Bodenschätzen möglich. So forderte Malta bereits 1967 eine Regelung des Zugangs zu den Bodenschätzen der Tiefsee, die nicht dem Prinzip »der Erste mahlt zuerst« folgen sollte, sondern der Gleichberechtigung. Überhaupt hatten die neuen Fischfangmethoden und die Verfahren zur Ausbeutung von Bodenschätzen erhebliche Auswirkungen auf den Ressourcenbestand und die Umwelt. Und schließlich forderten die geographisch benachteiligten Staaten ihren Anteil, denn die Hohe See und ihr Untergrund waren als gemeinsames Erbe der Menschheit anzusehen. All diese Aspekte machten ein neues Herangehen notwendig: ein Völkerrecht der Solidarität. Dass dessen Erarbeitung kein widerspruchsfreier Prozess sein würde, war von Anbeginn bekannt und bestätigte sich auch. Während alle US-Regierungen letztlich bereit waren, sich der Seerechtskonvention zu unterwerfen, scheiterte die Ratifikation bislang im konservativ beherrschten Senat. Er hängt nach wie der Idee der Deregulierung und des Unilateralismus an, die Seerechtskonvention strebt aber gerade den Multilateralismus an.

Die Seerechtskonvention von 1982: Ausdruck der Interessenabstimmung

Das Meer bedeckt rund zwei Drittel der Erdoberfläche, und schon 1980 wurden mehr als drei Mrd. Tonnen Güter über die See transportiert. Bereits damals wurden rund 30% des Öls aus dem küstennahen Meeresboden gefördert. Vor 1980 kam es zu einer enormen Steigerung des Fischfangs: Betrug der Fang 1970 noch rund 65 Mrd. t, so war die Vergleichszahl 1979 bereits 71,3 Mrd. t. Ein gewaltiges Anwachsen des Transports, des Fischfangs, der Rohstoffförderung und vor allem der militärischen Nutzung machten eine Neuregelung unumgänglich. Offenkundig war aber, dass sie nur durch einen fairen Kompromiss erreichbar war, der in Betracht zog, dass an der Ausarbeitung des Seerechtsübereinkommens von 1958 nur 47 Entwicklungsländer teilgenommen hatten. In den 1970er Jahren stellten diese aber die Mehrheit der Staaten und hatten folglich ein größeres politisches Gewicht. Damit wurde die Einigung auf neue Regeln nicht leichter.

Bereits im Dezember 1973 einigte sich die UN-Generalversammlung darauf, eine III. UN-Seerechtskonferenz einzuberufen, die alle mit den Meeren zusammenhängenden Rechtsfragen in einem »Paket« behandeln sollte. Diese Konferenz, an der schließlich 163 Staaten teilnahmen, gestaltete sich zu einem mühsamen Verhandlungsmarathon und ging als die teuerste Versammlung überhaupt in die Geschichte ein. Sie wurde von 1973 bis 1983 in elf Sitzungsperioden durchgeführt und brachte zeitweise 5.000 Diplomaten und Experten nach New York. Das Ergebnis war ein Übereinkommen mit 320 Artikeln, neun Anhängen und fünf Resolutionen.

Als das wichtigste Ergebnis ist anzusehen, dass die Freiheit des Offenen Meeres erhalten blieb, indem eine maximale Breite des Küstenmeeres von 12 sm festgeschrieben wurde. Dies kann man als Erfolg der seefahrttreibenden Nationen und der Staaten mit großen Kriegsflotten (also der entwickelten Staaten) ansehen.

Worin liegt dann der Gewinn für die Entwicklungsländer, wie wurde das Konzept der Solidarität verwirklicht? Die Antwort auf diese Frage ist komplex. Zum einen wurde insofern ein Kompromiss erreicht, als die Küstenstaaten zwar ihre Küstengewässer nicht über 12 sm ausdehnen durften, ihnen aber gleichzeitig ein Recht eingeräumt wurde, im Anschluss daran eine Wirtschaftszone von bis zu 200 sm zu beanspruchen. Die Wirtschaftszone ist Bestandteil der Hohen See, so dass sie von allen Staaten weiterhin uneingeschränkt für die Seefahrt genutzt werden kann. Auch der Überflug bedarf keiner Genehmigung. Allerdings stehen die wirtschaftliche Ausbeutung der Bodenschätze und der Fischfang ausschließlich dem Küstenstaat zu. Natürlich kann er gegen Bezahlung Lizenzen für die Nutzung an andere Staaten und Unternehmen vergeben. Für die Fischerei werden Fangquoten festgelegt, die die Überfischung verhindern sollen. Wenn der Küstenstaat diese Quoten nicht selbst abfischt, muss er geographisch benachteiligten Staaten (Binnenstaaten) und Staaten, die traditionell in diesen Gebieten gefischt haben, die Nutzung gegen Zahlung eines Entgelts weiterhin gestatten. Die Gewinner dieser Regelung sind unabhängig von ihrem wirtschaftlichen Entwicklungsstand die Langküstenstaaten. So haben die USA 81,4% ihrer Landfläche als Wirtschaftszone hinzugewonnen, Australien 91%, Indonesien 284,7%, Neuseeland 179,5%, Kanada 46,9%, Mexiko 144,6%, die Philippinen 630% und Portugal 192,4%. Auch zwischen den Industriestaaten kam es zu Verschiebungen; so umfasst die schwedische Wirtschaftszone 45% der Ostsee.

Ähnliche Auswirkungen hatte die Neuregelung zu den Festlandsockeln. Dabei handelt es sich um die unterseeische Fortsetzung der Kontinente, die von großer wirtschaftlicher Bedeutung ist, da hier umfangreiche Rohstoffvorkommen lagern. Nach harten Debatten einigte man sich auf zwei Berechnungsmethoden: entweder 350 sm von der Küste an gemessen oder 100 sm jenseits der der 2.500 m-Wassertiefenlinie. Durch diese Vereinbarung konnten die Ansprüche der Breitschelfstaaten (USA, Kanada, Australien, Argentinien), vor deren Küste der Festlandsockel erst bei 600 sm zum Tiefseeboden abfällt, beschränkt werden. Die genaue Festlegung erfolgt durch eine UN-Kommission, die prüft, ob die Staaten die richtigen Methoden zur Abgrenzung vorgenommen haben. In der Praxis ist es auch zur gemeinsamen Bewirtschaftung des Festlandsockels gekommen, um Streitigkeiten beizulegen (z.B. der Timorgraben-Vertrag zwischen Australien und Indonesien von 1989).

Angesichts dieser Regelungen könnte man den Eindruck gewinnen, dass tatsächlich die Küstenstaaten die wirtschaftlichen Gewinner des Seerechtsübereinkommens von 1982 sind und dass wenig von einem Solidaritätsvölkerrecht gesprochen werden kann. Der Anschein trügt, denn das Übereinkommen garantiert einerseits die internationale Schifffahrt für alle Staaten. Andererseits geht es davon aus, dass es sich beim wirtschaftlich ebenfalls interessanten Tiefseeboden um ein „gemeinsames Erbe der Menschheit“ handelt, d.h. kein Staat oder Unternehmen darf sich Teile davon aneignen.

Um diesem solidarischen Ansatz zum Durchbruch zu verhelfen, wurde mit dem Inkrafttreten des Übereinkommens 1994 die Internationale Meeresbodenbehörde (International Seabed Authority mit Sitz in Kingston/Jamaika) geschaffen. Sie soll sicherstellen, dass insbesondere die geographisch benachteiligen Binnen- oder Kurzküstenstaaten bzw. die Entwicklungsländer an den Vorteilen der Ausbeutung der Festlandsockel und Tiefsee beteiligt werden. So haben die Staaten, die ihren äußeren Festlandsockel (außerhalb der 200 sm-Zone) ausbeuten, eine Gebühr an die Behörde abzuführen. Will ein Staat oder ein Unternehmen den Tiefseeboden ausbeuten – insbesondere scheint der Abbau von Manganknollen aus 5.000 m Tiefe vermittels der Hochtechnologie wirtschaftlich interessant –, so wird dafür eine Lizenz bei der Behörde beantragt. Diese teilt dann zwei Gebiete zu, die durch den Antragsteller erforscht werden müssen. Die Forschungsergebnisse müssen der Behörde mitgeteilt werden, die auf dieser Grundlage eine Abbaugenehmigung für ein Gebiet erteilt. Das andere erforschte Gebiet kann durch das eigene (und im Seerechtsübereinkommen auch so bezeichnete) »Unternehmen« der Behörde genutzt werden. Alle anfallenden Gewinne des »Unternehmens« sollen schließlich durch die Behörde unter den benachteiligten Staaten verteilt werden. Dieses komplizierte Verfahren trat mit einigen Abschwächungen hinsichtlich der Kompetenzen der Behörde 1996 durch einen gesonderten Vertrag in Kraft, nachdem 67 Staaten (darunter sieben Pionierinvestoren, unter ihnen Deutschland) diesen ratifiziert hatten.

Auf dem Weg zu einem Völkerrecht der Solidarität

Das Meeresbodenregime wurde in der Literatur vielfach wegen seines dirigistischen Ansatzes kritisiert, da es so gar nicht in ein Zeitalter der »Marktfreiheit« und »Deregulierung« passen wollte. Dennoch beugten sich die westlichen Staaten letztlich dem Druck der Staatenmehrheit, die das Prinzip »wer zuerst kommt, mahlt zuerst« nicht mehr akzeptieren wollte. Diese Entwicklung ist aus Sicht des Völkerrechts zu begrüßen, denn sie entspricht der Auslegung, die mit der UN-Charta 1945 vereinbart wurde. Dort spricht man nicht mehr vom Souveränitätsprinzip, sondern vom Prinzip der souveränen Gleichheit. Dies bedeutet, dass die Staaten praktisch ungleich, juristisch aber gleich sind. Diese Gleichheit hat zur Folge, dass sie ihre Rechte auf Beteiligung am gemeinsamen Erbe der Menschheit auch wahrnehmen können müssen. Das wurde mit der Schaffung der Meeresbodenbehörde erreicht.

Insofern bilden sich Konturen eines Solidaritätsvölkerrechts heraus, die auch für andere Bereiche beispielhaft sein können. Zu denken ist hier u.a. an die globale Erwärmung, die einzelne Staaten in ihrer Existenz bedroht, aber nur durch die Staatengemeinschaft als Ganzes bearbeitet werden kann. Gerade die Beispiele Umweltschutz und Klimaveränderung stimmen aber nachdenklich, denn die Bereitschaft der wichtigsten Umweltsünder-Staaten zur Regelung der Konsequenzen im Sinne der Solidarität scheint gering entwickelt. Immer noch geben die Staaten dem Wirtschaftswachstum die Priorität. Vor diesem Hintergrund kommt dem Seerecht, das eine sinnvolle Abwägung zwischen nationalstaatlichen und Staatengemeinschaftsinteressen vornimmt, eine große Bedeutung zu.

Leider sind die Kenntnisse über diesen historischen Kompromiss, der für die entwickelten Staaten deutliche wirtschaftliche Nachteile mit sich bringt, wenig verbreitet. Somit ist die Friedenswissenschaft aufgefordert, das Modell der Nutzung hoheitsfreier Räume im Interesse der gesamten Menschheit weiter zu studieren und in Forderungen der Zivilgesellschaft an die Politik umzuarbeiten.

Literatur

Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Auflage, Berlin 2010, S.418-443.

Holger Hestermeyer et al. (eds.), Law of Sea in Dialogue, Berlin 2011, S.91-136.

Website der International Seabed Authority unter isa.org.jm.

Seerechtsüberinkommen von 1982; deutsche Fassung unter eur-lex.europa.eu.

Hans-Joachim Heintze ist Professor für Völkerrecht am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der Ruhr-Universität Bochum.

Globalisierung und maritime Sicherheit

Globalisierung und maritime Sicherheit

von Michael T. Klare

Die »Hohe See« geriet in jüngerer Zeit wieder verstärkt in den Fokus der Politik, und zwar sowohl als Interessenssphäre wie als mögliches Aufmarschgebiet militärischer Operationen. Ein Grund dafür ist die unübersehbare Abhängigkeit der modernen, globalisierten Welt vom Schifftransport zur Aufrechterhaltung von Rohölversorgung, Industrieproduktion und bequemem Konsumleben. Daneben kristallisiert sich zunehmend die Relevanz von Rohstoffvorkommen außerhalb der nationalen Hoheitsgewässer heraus, die zu einem Wettlauf zahlreicher Unternehmen und Staaten auf Ausbeutemöglichkeiten führt und ein hohes Konfliktpotential birgt. Der Autor beleuchtet die entsprechenden Dynamiken in den USA wie in einigen anderen Ländern.

Für die Vereinigten Staaten, eine Seemacht und große Handelsnation, sind die Kontrolle der globalen Schifffahrtsstraßen und der Schutz des Seehandels schon seit langem von höchster Bedeutung. Dominanz über die Meere wurde für die US-Regierung zu einer Priorität, als den USA durch ihren Sieg im Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 ein globales Imperium zufiel, und blieb auch während des ganzen 20. Jahrhunderts ein hochrangiges strategisches Ziel. Heute sind die USA zwar stark auf Lufttransport und elektronische Kommunikation angewiesen, die Seemacht rückt aber erneut in das Zentrum ihres Interesses. 2004 verabschiedete die Regierung Bush die National Security Presidential Directive 41 (NSPD-41) »Maritime Sicherheitspolitik«, in der die „maritime Domäne“ zu einem Schauplatz von strategischem Interesse erklärt und ein erheblicher Ausbau der US-Seemacht angekündigt wurde.1 Entsprechend einigten sich die drei am direktesten von NSPD-41 betroffenen Organisationen – die Navy (Marine), das Marine Corps (Marineinfanterie) und die Coast Guard (Küstenwache) der USA – auf ein neues strategisches Konzept. »A Cooperative Strategy for 21st Century Seapower« (Eine kooperative Strategie für Seemacht im 21. Jahrhundert) zielt darauf ab, die US-Dominanz der globalen Schifffahrtsstraßen sicher zu stellen.2 Andere wichtige Seehandelsnationen wie Brasilien, China und Indien ziehen nach.

Woher kommt dieses wachsende Interesse an Seemacht? Hauptfaktor ist fraglos die Globalisierung, aufgrund derer die Abhängigkeit der großen Volkswirtschaften der Welt vom Seehandel erheblich gewachsen ist. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds stieg der Anteil des internationalen Handels am weltweiten Bruttoinlandprodukt zwischen 1980 und 2005 von 41% auf 57%.3 Mit den Im- und Exportsteigerungen wächst natürlich auch die Abhängigkeit vom Meer. „In den letzten vier Jahrzehnten hat sich der seewärtige Handel mehr als vervierfacht“, stellten die maritimen Seestreitkräfte der USA in ihrem Strategiepapier fest. „Neunzig Prozent des Welthandels und Zweidrittel des Öls werden zur See befördert.“ Folglich stellen die globalen Schifffahrtsstraßen und die unterstützende Infrastruktur an Land „die Lebensadern der modernen globalen Wirtschaft dar“.4

Seit etlichen Jahrhunderten sind die Abhängigkeit vom Außenhandel und die wachsende Abhängigkeit von Energieimporten, insbesondere von Öl, Kohle und Erdgas, eng miteinander verwoben. Insbesondere die Vereinigten Staaten, Japan, China und die Länder der Europäischen Union sind hochgradig auf importiertes Erdöl angewiesen – und das wird zumeist per Schiff transportiert. Die Vereinigten Staaten beziehen etwa 50% ihres Rohölbedarfs aus dem Ausland, das entspricht 9,6 Mio. Barrel am Tag.5. Die Ölimporte werden aufgrund des steigenden Marktanteils von Biotreibstoffen und anderen Ersatztreibstoffen in den kommenden Jahren zwar sinken, aber auch in Zukunft muss ein beträchtlicher Teil der Importe aus Unruheregionen in Afrika und dem Nahen Osten eingeführt werden.

Die USA und andere Regierungen reagieren auf diese Entwicklungen, indem sie die »maritime Sicherheit« stärker in den Vordergrund rücken, also den Schutz des globalen Seehandels gegen Behinderungen und Angriffe. Das ist das erklärte Ziel der NSPD-41 und vergleichbarer Strategiedokumente anderer Länder. Idealerweise könnte sich daraus eine engere internationale Zusammenarbeit beim Kampf gegen Terrorismus, Piraterie und ähnliche Bedrohungen ergeben, allerdings besteht ein beträchtliches Risiko, dass diese Strategie stattdessen vermehrt Rivalität und Konkurrenz zwischen den großen Seemächten heraufbeschwört und so das Risiko von Krisen und Konflikten zur See wächst.

Die »Mahan’sche Seemachtdoktrin«

Seestreitkräfte zur Sicherung des Zugangs zu überseeischen Ressourcen und zum Schutz des Seehandels einzusetzen, ist wahrlich kein neues Konzept. Viele Historiker glauben, dass sich England deshalb so lange als größte europäische Imperialmacht halten konnte, weil das Land großen Nachdruck auf den Aufbau und den Unterhalt einer überlegenen Seemacht legte. Der US-Marineoffizier und Historiker Alfred Thayer Mahan (1840-1914) beispielsweise verwies auf das historische Beispiel Englands, als er die US-Führung von der überragenden Bedeutung von Seemacht für die Förderung des nationalen Wohlstands in der zunehmend interdependenten Welt des späten 19. Jahrhunderts zu überzeugen suchte. In seinem zum Klassiker gewordenen Text »The Influence of Sea Power upon History, 1660-1783« (Der Einfluss der Seemacht auf die Geschichte) schrieb er, dass Englands Triumph über seine Rivalen zum Teil auf seinen überragenden Führungsqualitäten beruhe, größtenteils aber auf „der Überlegenheit seiner Regierung, insofern sie die furchtbare Waffe ihrer Seemacht gebrauchte“.6

Mahan, der viele Jahre Präsident des Naval War College in Newport (Rhode Island) war, hielt es für unerlässlich, dass die Vereinigten Staaten vom Beispiel Englands lernen und ihrerseits eine schlagkräftige Marine aufbauen. Mahans Überlegungen hatten starken Einfluss u.a. auf Theodore Roosevelt, der 1897-1898 stellvertretender Marineminister war. Nach der Übernahme der Präsidentschaft im Jahr 1901 setzte Roosevelt viele von Mahans Empfehlungen für den Ausbau und die Modernisierung der US-Seestreitmacht um. „Als glühender Anhänger der Mahan’schen Seemachtdoktrin legte Roosevelt größten Wert auf die US-Marine als erste Verteidigungslinie und als wichtigstes Instrument der amerikanischen Außenpolitik“, schrieb Matthew Oyos im »Oxford Companion to American Military History«.7

Was Oyos die »Mahan’sche Seemachtdoktrin« nennt, dominiert seit Theodore Roosevelts Tagen das militärische Denken in den USA. Ein anderer Anhänger von Mahan (und Theodors Cousin fünften Grades), Franklin D. Roosevelt, setzte die Doktrin in seiner eigenen Zeit als stellvertretender Marineminister (1913-1920) und später als US-Präsident weiter um. F.D. Roosevelt stützte sich im Zweiten Weltkrieg in hohem Maße auf die Seestreitkräfte, sowohl als die USA Truppen nach Europa verlegten als auch als sie Japan die Kontrolle des Pazifiks entrissen. Im Kalten Krieg stand die US-Marine zu einem gewissen Grad im Schatten der Langstreckenbomber und Raketen der US-Luftwaffe, behielt aber immer noch erhebliche Relevanz. Die Seestreitkräfte spielten auch bei der Durchsetzung des Handelsembargos gegen Irak 1991-2003 und beim Schutz der Öltransporte im Persischen Golf eine kritische Rolle.

Infolge des Abzugs der US-Truppen aus Irak und Afghanistan steht zu erwarten, dass die US-Streitkräfte sich insgesamt neu ausrichten werden, d.h. dass anstelle von groß angelegten, konventionellen Bodenkämpfen in Zukunft eher von einer »Offshore«-Strategie mit amphibischen Operationen und der Kontrolle der Weltmeere auszugehen ist. Dabei werden sich die USA voraussichtlich stärker auf Luft- und Seestreitkräfte stützen, die auf weit weg liegende Krisenherde Druck ausüben können und das Risiko, in langwierige Bodenkriege verwickelt zu werden, reduzieren. Das ist genau der Ansatz, den US-Präsident Obama in der neuen Nationalen Verteidigungsstrategie verfolgt, die im Januar 2012 verabschiedet wurde. Ein Schlüsselziel von »Sustaining U.S: Global Leadership: Priorities for 21st Century Defense« (Globale Führerschaft der USA erhalten: Prioritäten für die Verteidigung im 21. Jahrhundert) ist es, „den freien Zugang zu sämtlichen Gemeinschaftsgütern [global commons] [zu] schützen“, insbesondere zu den Weltmeeren.8

Abhängigkeit der USA von Ressourcenimporten als Dauerthema

Für die USA rückt also das Thema Seemacht vor dem Hintergrund einer erheblichen Abhängigkeit von Rohstoffimporten und einer wachsenden Bedrohung des sicheren Seehandels stärker in den Fokus. Ein Teil des Öls wird über Pipelines von Kanada eingeführt, der größte Teil aber –mehr als acht Mio. Barrel am Tag – wird per Schiff in amerikanischen Häfen angelandet. Kurz nach seiner Amtsübernahme verkündete Präsident Obama ehrgeizige Pläne, die Abhängigkeit der USA von Rohölimporten zu verringern. Seine Pläne sehen u.a. Maßnahmen vor, um die Kraftstoffeffizienz amerikanischer Fahrzeuge zu steigern und mehr alternative Energiequellen verfügbar zu machen, darunter fortgeschrittene Biokraftstoffe, Windenergie und Solarenergie. Trotz guter Absichten werden die Vereinigten Staaten aber auf Jahre hinaus einen erheblichen Teil ihrer Energieversorgung mit Rohölimporten decken müssen.

Wie alle Industriestaaten hängen die USA überdies hochgradig vom Import wichtiger Minerale ab, die in den USA entweder nicht vorkommen oder in so geringem Umfang abgebaut werden, dass sie den nationalen Bedarf bei weitem nicht decken. 2006 führten die USA z.B. 100% ihres Bauxitbedarfs ein, 93% der Platingruppenmetalle, 82% des Kobalts, 75% des Chroms und 60% des Nickels.9 Einige dieser Minerale können aus Kanada, Mexiko oder anderen Ländern der westlichen Hemisphäre bezogen werden; andere, wie Chrom, Kobalt und die Platingruppemetalle, kommen überwiegend in Afrika oder Eurasien vor. Buchstäblich alle diese Rohstoffe werden per Schiff transportiert, so dass hier Konflikte und Piraterie ebenso eine Bedrohung sind wie bei seewärtigen Öllieferungen.

Das gleiche trifft auf andere Industriemächte zu (mit Ausnahme von Russland, das über riesige Energie- und Mineralvorkommen verfügt), insbesondere auf China mit seinem enormen Wirtschaftswachstum. Schon heute führt die Volksrepublik 49% des Rohöls aus dem Ausland ein, und es wird ein Anstieg auf 69% im Jahr 2035 prognostiziert,10 Entsprechend kommt der Sicherheit seiner unverzichtbaren Schifffahrtsstraßen größeres Gewicht zu.11 Darüber hinaus muss China zahlreiche wichtige Industrieminerale importieren, darunter Kupfer, Kobalt und Eisenerz. Und auch Indien wird bei anhaltendem Wirtschaftswachstum seinen ständig wachsenden Bedarf an Energie und Industriemineralen nur durch Importe decken können.

Wachsende Bedrohung der maritimen Sicherheit

Es scheint aber nicht nur die internationale Abhängigkeit vom Seehandel mit wichtigen Rohstoffen zuzunehmen, sondern auch die Bedrohung des seewärtigen Handels – durch Piraterie, Terrorismus, territoriale Streitigkeiten um Offshore-Gebiete und Auswirkungen regionaler Konflikte. So berichtete z.B. das International Maritime Bureau im April 2009: „Ein dramatischer Anstieg der Aktivitäten somalischer Piraten führte im ersten Quartal des Jahres gegenüber dem Vergleichszeitraum im Jahr 2008 fast zu einer Verdoppelung von Angriffen auf Schiffe.“ 12 Die Piraten nutzen zudem immer ausgefeiltere Taktiken und ein primitives, aber äußerst effektives Aufklärungssystem.13

Noch größere Sorge als die Piraterie bereitet die Aussicht, dass Terroristen vermehrt Angriffe auf Öltanker und Ölverladeanlagen durchführen könnten.14 Diese Gefahr geriet zum ersten Mal ins Blickfeld, als im Oktober 2002 in den Gewässern außerhalb des Jemen ein kleines, mit Sprengstoff gefülltes Boot neben den französischen Öltanker Limburg manövrierte und in die Luft gejagt wurde. Die Explosion riss ein Loch in den Schiffsrumpf, und es liefen 100.000 Barrel brennendes Öl ins Meer.15 Dieser Angriff, der von den meisten Kommentatoren al Kaida zugeschrieben wurde, galt als Eröffnungssalve in einem Feldzug, in dem der Westen durch Angriffe auf exponierte Glieder der globalen Ölnachschubkette bestraft und geschwächt werden soll.16

Der globale Handel mit Öl und anderen wichtigen Stoffen könnte noch durch einen weiteren Typus maritimer Konflikte gefährdet sein: Streitigkeiten um umstrittene Offshore-Gebiete, in denen wertvolle Rohstoffvorkommen der einen oder anderen Art vermutet werden. In jüngerer Zeit gab es zwar nur noch selten innerstaatliche Konflikte um Grenzziehung und Hoheitsgebiete an Land, hingegen immer mehr zwischenstaatliche Streitigkeiten über die Zugehörigkeit umstrittener Offshore-Bereiche, vor allem im Südchinesischen Meer, dem Ostchinesischen Meer und dem Kaspischen Meer, wo große unterseeische Öl- und Erdgasvorkommen vermutet werden.17 Solche Streitigkeiten haben schon wiederholt zu bewaffneten Auseinandersetzungen zur See geführt, gelegentlich auch zu Angriffen auf Handelsschiffe. Im Juli 2011 drohte z.B. ein iranisches Kanonenboot mit dem Beschuss eines Ölexplorationsschiffs von BP, das sich in einer Region des Kaspischen Meeres befand, die sowohl von Aserbaidschan als auch vom Iran beansprucht wird.18 Und im Südchinesischen Meer wurden immer wieder Fischerboote einer der verschiedenen Streitparteien durch Seestreitkräfte einer anderen Streitpartei beschlagnahmt oder bedrängt. Streitigkeiten dieser Art könnten in den kommenden Jahren weiter zunehmen, da sich die Öl- und Gasvorkommen zu Land immer mehr erschöpfen und der Offshore-Rohstoffausbeute damit größere Bedeutung zukommt.

Und schließlich kann der seewärtige Transport auch von den Auswirkungen lokaler oder regionaler Konflikte betroffen sein. Besondere Sorge bereitet die Aussicht auf einen möglichen Zusammenstoß der Vereinigten Staaten und des Iran über der scheinbaren Absicht Teherans, Atomwaffen zu bauen. Während der Präsidentschaft von George W. Bush warnten hochrangige Regierungsmitglieder immer wieder vor Militäraktionen im Persischen Golf als Antwort auf die iranische Unnachgiebigkeit im Nuklearstreit und bei anderen Themen, die für Washington von besonderem Interesse sind. Präsident Obama betonte zwar mehrfach, dass er diesen Konflikt mit diplomatischen Mitteln lösen will, er hat aber klar gestellt, dass er im äußersten Fall auch militärisch eingreifen würde, sollten alle anderen Versuche, Iran vom Erwerb von Atomwaffen abzuhalten, scheitern.19 Auf solche Aussagen von Obama oder seinem Vorgänger ließen die Iraner wiederholt wissen, dass sie im Falle eines Angriffs durch die USA den Seehandels in der Straße von Hormus blockieren würden – dies hätte eine globale Wirtschaftkrise zur Folge.20

Maritime Sicherheit in der Ära Obama

Die Vorgabe, die Dominanz der USA über die großen Schifffahrtsstraßen sicherzustellen, die George W. Bush mit den Strategiedokumenten von 2004 und 2007 machte, erneuerte US-Präsident Obama: Das neue strategische Konzept vom Januar 2012 bezeichnet die US Navy als wichtigstes Instrument zur Aufrechterhaltung der Macht und des Einflusses der USA in der Welt. Obama betonte, diese Rolle sei besonders im westlichen Pazifik und in Südostasien wichtig, wo die Vereinigten Staaten die wachsende Macht von China eindämmen wollen.21

Ähnliche Entwicklungen sind auch in anderen Ländern zu beobachten, besonders in China. Angesichts der steigenden Abhängigkeit vom Außenhandel macht sich China natürlich verstärkt Gedanken über die Sicherheit seines Seehandels und den maritimen Konkurrenten USA. Daher hat Beijing seine Marine erheblich ausgebaut, die People’s Liberation Army Navy (Marine der Volksbefreiungsarmee). „Die zentrale Führung der Partei fordert, dass die Marine die militärische Kampfbereitschaft zur See zu einer Priorität der nationalen Sicherheits- und Militärstrategie macht“, erklärte Admiral Wu Shengli im April 2009. „Wir brauchen raschere Fortschritte bei der Entwicklung wichtiger Waffensysteme für diesen Zweck“, ergänzte er und nannte ausdrücklich große Kriegsschiffe, Stealth-U-Boote mit großer Reichweite, Überschall-Kampfjets und Langstreckenraketen mit hoher Zielgenauigkeit. Wu ist Mitglied der Zentralen Militärkommission Chinas und gilt bei der strategischen Planung der chinesischen Marine als maßgebliche Stimme.22

Andere aufstrebende Mächte, die in vergleichbarer Weise von Rohstoffimporten abhängen, bauen ebenfalls ihre maritimen Fähigkeiten aus. Im Mai 2007 veröffentlichte die indische Marine ihren eigenen strategischen Masterplan, »Freedom to Use the Seas«. „Neben weiteren Faktoren hängt der wirtschaftliche Wiederaufstieg Indiens direkt vom Überseehandel und der Deckung des Energiebedarfs ab, und die meisten Transporte erfolgen per Schiff“, ist in dem Dokument zu lesen. „Die wichtigste Aufgabe der Indischen Marine bei der Bewahrung der nationalen Sicherheit ist es daher, vor externen Störungen zu schützen, so dass die wichtige Förderung von Wirtschaftswachstum und Entwicklungsaktivitäten in einer sicheren Umgebung vonstatten gehen kann.“ 23 Das indische Konzept begrenzt zwar den Aktionsradius auf den Indischen Ozean, fordert aber den Ausbau von vielen der Fähigkeiten, die auch im US-Dokument »Cooperative Strategy«vom Oktober 2007 hervorgehoben wurden.

Es wäre zu hoffen, dass diese Aktivitäten (und andere gleichartige überall in der Welt) zur engeren internationalen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Terrorismus, ethnischen Streitigkeiten und Regionalkonflikten führen. Der U.S. National Intelligence Council deutete 2008 in seinem Bericht »Global Trends 2025« auf eine solche Möglichkeit hin: „Wachsende Sorgen über die maritime Sicherheit könnten Möglichkeiten zur multinationalen Zusammenarbeit beim Schutz kritischer Schifffahrtsstraßen eröffnen.“ Das Gremium warnte aber davor, dass die laufenden maritimen Programme im Kontext des wachsenden Wettbewerbs um Ressourcen auch den gegenteiligen Effekt haben könnten: „Gegenseitige Verdächtigungen hinsichtlich der Absichten hinter dem Ausbau der Seestreitkräfte durch potentielle regionale Rivalen oder der Zusammenschluss von Allianzen, die wichtige Spieler außen vor lassen, […] untergraben Bemühungen um internationale Kooperation.“ 24

Eine größere Rolle der Streitkräfte als politisches Instrument zur Einschüchterung potentieller Gegner in Form von »Muskelspielen« in einer Krise oder bei der Durchführung von »Polizei«-Aktionen der einen oder anderen Art birgt das Risiko von gezielten oder versehentlichen Zusammenstößen mit Kriegsschiffen anderer Länder. Das könnte u.a. bei der Überwachung von Handelsembargos oder bei Streitigkeiten über den genauen Verlauf von Offshore-Grenzen der Fall sein. So ließen z.B. die Vereinigten Staaten wissen, dass sie den Versuch einer anderen Macht, die freie Bewegung im Südchinesischen Meer zu behindern, mit Gewaltanwendung beantworten würden, obwohl China klar gestellt hat, dass es diese Gewässer als Teil seines nationalen Hoheitsgebiets betrachtet und seine Schiffe das Recht hätten, dort den Schiffsverkehr zu überwachen und zu kontrollieren.25

Setzt sich der aktuelle Trend fort, dann besteht das Risiko eines neuen Wettrüstens zur See und einer potentiellen Eskalation bei nicht intendierten Zusammenstößen auf See. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass diese Risiken in dem Maß proportional steigen, in dem Seestreitkräfte und Kanonenbootdiplomatie zum bevorzugten Instrument von Militärpolitik werden – und viele Länder haben diesen Weg bereits eingeschlagen. Damit soll nicht gesagt sein, dass ein stärkerer Fokus auf Bodentruppen unbedingt vorzuziehen wäre, aber die Implikationen einer seezentrierten Militärpolitik, die vor allem den Schutz des Zugangs zu wichtigen Ressourcen im Ausland im Blick hat, verdient viel größere Aufmerksamkeit als bisher.

Anmerkungen

1) The White House: National Security Presidential Directive NSPD-41 – Maritime Security. 21. Dezember 2004.

2) U.S. Coast Guard, U.S. Marine Corps und U.S. Navy: A Cooperative Strategy for 21st Century Seapower. Oktober 2007.

3) Martin Parkinson: The Role of the G-20 in the Global Financial Architecture. Vortrag für Lowy Institute und Monash Faculty of Business and Economics in Melbourne, 9. Oktober 2006.

4) U.S. Coast Guard et al., op.cit., S 5.

5) U.S. Department of Energy, Energy Information Administration: Annual Energy Outlook 2012 Early Release; www.eia.doe.gov.

6) Alfred Thayer Mahan: The Influence of Sea Power Upon History, 1660-1783. Charleston, S.C.: BiblioBazaar, n.d.), S.358. Diese Ausgabe ist ein Nachdruck der Originalausgabe von 1890. Dt. Übersetzungdes Zititas nach: A.T. Mahan: Der Einfluss der Seemacht auf die Geschichte. 1896 hrsg. von der Redaktion der Marine-Rundschau, Berlin.

7) Matthew Oyos: Theodore Roosevelt. In: John Whiteclay Chambers III (1999): The Oxford Companion to American Military History. Oxford and New York: Oxford University Press, S.624.

8) U.S. Department of Defense: Sustaining U.S. Global Leadership. Priorities for 21st Century Defense. Washington, D.C., Januar 2012, S.3.

9) U.S. Census Bureau: Statistical Abstract of the United States 2008. Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, 2007, Tabelle 869, S.561.

10) U.S. Department of Energy, Energy Information Administration: International Energy Outlook 2011. Washington, DC, Tabellen A5 und E1.

11) Vlg. Michael T. Klare (2008): Rising Powers, Shrinking Planet – The New Geopolitics of Energy. New York: Metropolitan Books.

12) International Maritime Bureau: Piracy Attacks Almost Doubled in 2009 First Quarter. 12. April 2009.

13) Vlg. Jeffrey Gettleman: Long Scourge of Somali Seas, Pirates Provoke World Powers. New York Times, 27. September 2008. Vgl. auch: Jeffrey Gettleman: Pirates in Skiffs Still Outmaneuvering Warships Off Somalia. New York Times, 16. December 2008.

14) Mehr Hintergrundinformationen dazu in: U.S. Government Accountability Office: Maritime Security. Federal Efforts Needed to Address Challenges in Preventing and Responding to Terrorist Attacks on Energy Commodity Tankers. Washington, D.C., Dezember 2007.

15) Ibid., S.25.

16) Vgl. Justin Blum: Terrorists Have Oil Industry in Cross Hairs. Washington Post, 27. September 2004.

17) Zu den Streitigkeiten im Südchinesischen Meer siehe: U.S. Department of Energy, Energy Information Administration: South China Sea – Country Analysis Brief. März 2008. Siehe auch: Michael T. Klare (2001): Resource Wars. New York: Metropolitan Books, S.109-37. Zum Ostchinesischen Meer siehe: Michael T. Klare (2008): Rising Powers, Shrinking Planet, op.cit.

18) Iran is Accused of Threatening Research Vessel in Caspian Sea. New York Times, 25. Juli 2001.

19) Vgl. z.B.: Mark Landler: Obama Says Iran Strike Is an Option, but Warns Israel. New York Times, 2. März 2012.

20) Vgl. z.B.: Iran Threat to Close Oil Strait. Sydney Morning Herald, 30. Juni 2008.

21) Vgl. Obamas Vorwort in: U.S. Department of Defense: Sustaining U.S. Global Leadership. Priorities for 21st Century Defense, op.cit. Vgl auch Berichte über Obamas Pazifikreise im November 2001, z.B.: Jackie Calmes. A U.S. Marine Base for Australia Irritates China. New York Times, 16. November 2011.

22) Vgl.: China’s Navy Spells Out Long-Range Ambitions. Reuters, 15. April 15, 2009.

23) Integrated Headquarters Ministry of Defence (Navy): Freedom to Use the Seas. India’s Maritime Military Strategy. New Delhi, Mai 2007, S.10.

24) U.S. National Intelligence Council (NIC): Global Trends 2025. Washington, D.C., 2008, S.66.

25) Vgl. Michael T. Klare: Resource Wars, op.cit., S.109-137.

Michael Klare ist Professor für Peace and World Security Studies am Hampshire College in Amherst, Massachusetts, und Autor mehrerer Bücher, die sich mit Themen der nationalen Sicherheit befassen, darunter »Resource Wars. The New Landscape of Global Conflict« (New York: Metropolitan Books, 2001), »Blood and Oil. The Dangers and Consequences of America’s Growing Dependency on Imported Petroleum (The American Empire Project)« (New York: Metropolitan Books, 2004) und »Rising Powers, Shrinking Planet. How Scarce Energy is Creating a New World Order« (London: Oneworld Publications, 2008). Sein neuestes Buch, »The Race for What’s Left: The Global Scramble for the World’s Last Resources« (New York: Henry Holt) wurde im März 2012 veröffentlicht. Einschließlich sämtlicher Zitate übersetzt von Regina Hagen

Streit ums Meer

Streit ums Meer

von Regina Hagen

Das Meer ist für die Menschheit von höchster Relevanz: Es bietet Zugriff auf große Fisch- und andere Nahrungsvorkommen; es ermöglicht seit Jahrtausenden Migration und Handel über große Distanzen und zwischen Kontinenten; es ist wichtig für Tourismus und Sport; in jüngster Zeit lockt es in großer Tiefe mit neu entdeckten Spezies ebenso wie mit riesigen Rohstoffvorkommen; es erlaubt die Flucht vor Not, Krieg und Gewalt – und wird dabei für viele zum Grab. Kein Wunder also, dass das Meer auch Ort für zahlreiche Aktivitäten des Militärs ist.

Küsten und Häfen waren und sind Anlass für Kriege und als Kriegsbeute begehrt. Dass sie ein Schlüssel für Einflusssphären sind, konnten wir in den letzten Monaten am Beispiel Syrien sehen: Die russische Regierung stützt das Assad-Regime nicht nur als letzten Verbündeten im arabischen Raum, sondern zugleich als Garant für ihren einzigen Stützpunkt im Mittelmeer. Deshalb war im syrischen Tiefseehafen Tartus, der mit russischer Hilfe u.a. als Basis für nuklear getriebene Kriegsschiffe ausgebaut wird, der einzige russische Flugzeugträger »Admiral Kusnetzow« stationiert. Deshalb verlegt Russland aktuell weitere Marineeinheiten in diese Region.

Die Beiträge in dieser Ausgabe von W&F zeigen auf, genauso wie tägliche Nachrichtenmeldungen, dass das Meer in den militärischen Planungen weltweit ein zentraler Faktor ist und Auswirkungen auf viele andere Lebensbereiche hat. Denken wir nur an die Drohung Irans, im Falle eines israelischen Angriffs auf seine Nukleareinrichtungen die Straße von Hormus zu blockieren. Eine Schreckensvision für unsere Rohöl basierte Wirtschaftswelt, geht durch die Meerenge (gerade mal 50 km breit) doch ein beträchtlicher Teil des globalen Rohöltransports. Militärexperten sagen, Iran bräuchte dazu nicht einmal wirklich militärisch einzugreifen, schon die Drohung mit dem Einsatz würde Reedereien aus versicherungsrechtlichen Gründen davon abhalten, ihre Tanker dann noch auf diese Route zu schicken. So wird Abschreckung ganz ohne Atomwaffen buchstabiert.

Oder am anderen Ende der Welt, im Südchinesischen Meer, wo sich der globale Kampf um Ressourcen an den Spratly-Inseln festmacht (siehe dazu Beitrag von A. Seifert in diesem Heft): 7.000 philippinische und US-amerikanische Soldaten führten dort jüngst groß angelegte Manöver durch. „Kriegsspiele in rohstoffreicher See“ titelte »tagesschau.de«. US-Brigadegeneral Padilla erklärte dazu, das Manöver diene der Stärkung der bilateralen Beziehungen und sei eine gute Gelegenheit, sich auf Naturkatastrophen vorzubereiten. Sehr glaubwürdig ist das nicht, standen sich doch just dort wenige Tage zuvor die philippinische und die chinesische Marine im Streit um Fischereirechte gegenüber. Und damit nicht genug: Russland und China führten gleichzeitig Seemanöver durch. „Kalter Krieg zwischen Korallen“ fiel dem »Spiegel« dazu ein. Vier Kriegsschiffe, einen Raketenkreuzer und drei Schiffe zur U-Boot-Abwehr schickte Moskau von Wladiwostok auf den Weg ins Südchinesische Meer– nach Piratenabwehr klingt das nicht.

Zunehmende Bedeutung bekommt das Meer auch für die Raketenabwehr. Das Erfolg versprechendste System des Pentagon ist das schiffgestützte Aegis-System (siehe »Raketenabwehr in Europa« in W&F 1-2012). Die Stationierung auf dem Meer bietet unvergleichliche Flexibilität. Je nach Krisenbarometer können die Einheiten in Nordostasien, im Mittel- bzw. vorübergehend im Schwarzen Meer, im Nordmeer oder im Atlantischen Ozean stationiert werden. Über die europäische Komponente ist die NATO bei Aegis mit im Boot.

»Aegis« zeigt exemplarisch auf, wie eng die Sphären Land, Wasser, Luft und Weltraum in der Logik des Militärs miteinander verknüpft sind: Aegis ist schiffbasiert, zur notwendigen Infrastruktur gehören Einrichtungen auf dem Festland und Satelliten im All. Abschießen soll das System anfliegende Sprengköpfe auf ihrem Flug durch den Weltraum Dort fand auch der bislang einzige vollumfänglich realistische erfolgreiche »Test« des Systems statt – allerdings gegen einen außer Kontrolle geratenen Satelliten, nicht gegen einen Sprengkopf.

Die Teilstreitkräfte des Militärs streben in der Regel im militärischen Gefüge ihres jeweiligen Landes (und darüber hinaus) eine Vorrangstellung an. Da geht es um Prestige, um Ausstattung und um möglichst hohe Budgets. „Einsatzbereit – jederzeit – weltweit“ ist das Motto der Divison Spezielle Operationen der Bundeswehr. „Space – the ultimate high ground“ erklärte das US-Weltraumkommando schon vor 15 Jahren. Ein Blick auf die Teilgefüge wie in diesem Heft tut Not, der Gesamtblick darf dabei aber nicht verloren gehen. Dazu gehört auch, dass das Militär in der Regel die Vorgaben der Politik erfüllt. Dort liegt folglich auch der Ansatzpunkt für zivilgesellschaftliches Engagement für eine fairere, Ressourcen schonende und friedliche Welt.

Ihre Regina Hagen

Internationale Migration

Internationale Migration

Perzeptionen – Realitäten – Wirkungszusammenhänge der Globalisierung

von Franz Nuscheler

Internationale Migration wird in den Ländern des Nordens häufig in erster Linie als Bedrohung von Besitzständen wahrgenommen; tatsächlich handelt es sich um ein Phänomen, das im Zuge der Globalisierung an Bedeutung gewonnen hat, von dem andere Teile der Erde jedoch viel massiver und nachhaltiger betroffen sind als die »OECD-Welt«.

1. Der »globale Marsch«: Von »low politics« zu »high politics«

Migration ist ein konfliktreiches Bewegungselement der Weltgeschichte. Ohne die weltumspannenden Bevölkerungsbewegungen, die der Kolonialismus in Gang setzte, sähen die Staatenwelt und Kulturenlandschaft völlig anders aus. Migration und Flucht, die durch den Grad des Zwanges unterschieden werden können, sind Begleit- und Folgeerscheinungen von Kriegen, Eroberungen, Verfolgung, Ressourcenkonflikten und unsicheren Lebensbedingungen. Neben diesen existenzbedrohenden Schubfaktoren gab und gibt es zwar auch eine freiwillige Migration, aber die große Mehrheit von Migranten verlässt ihre Heimatgebiete, weil sie hier nicht mehr findet, was Heimat ausmacht: Sicherheit vor Existenzbedrohungen vielfältiger Art.

Migration schafft auch in den Zielländern Konflikte und liefert häufig den Nährboden für ausländerfeindliche und rassistische Abwehrreaktionen. Sie ist zu einem globalen Struktur- und Ordnungsproblem geworden, weil immer mehr Länder als Herkunfts- oder Zielländer in das internationale Migrationsgeschehen einbezogen und mit verschiedenartigen Problemen und Konflikten konfrontiert werden.

Obwohl dem 20. Jahrhundert die Hypothek von mindestens 250 Mio. Flüchtlingen angelastet werden muss, wurde das Weltflüchtlingsproblem lange zuvörderst als ein völkerrechtliches und humanitäres Problem behandelt. Solange nach der Bewältigung der Fluchttragödie, die der Zweite Weltkrieg verursacht hatte, nur etwa 10% der weltweit registrierten Flüchtlinge die westlichen Länder erreichten und der »Eiserne Vorhang« eine größere Ost-West-Wanderung blockierte, blieb die internationale Migration ein Thema von »low politics«, das nur beim Überschwappen größerer Flüchtlingswellen nach Europa in Gestalt von Asylsuchenden innenpolitische Brisanz erhielt.

Dies änderte sich, mehr in der Perzeption denn in der Dimension des Problems, nach der weltpolitischen Zeitenwende von 1989/90 und schlagartig nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Internationale Migration avancierte nun zu einem Kernbereich von »high politics« und zu einem Gegenstand der Friedens- und Konfliktforschung (vgl. Nuscheler/Rheims 1997). Sie wurde nun auf die Liste »neuer Risiken« oder »neuer Bedrohungen« gesetzt und in das Problembündel der »erweiterten Sicherheit« einbezogen.

Nun beschäftigten sich nicht nur Migrationsforscher aus verschiedenen Disziplinen, sondern auch sicherheitspolitische Denkfabriken mit Bedrohungsszenarien, die sie besonders an den Nahtstellen zwischen dem Norden und Süden ausmachten. Die Dramaturgie des Filmes »Der Marsch«, die Peter J. Opitz (1997) zum Bühnenbild eines »globalen Marsches« erweiterte, nährte auch in seriösen Medien Halluzinationen eines unkontrollierbaren »Sturms auf Europa« und in der Politik Bemühungen, Mauern um die »Festung Europa« hochzuziehen.

2. Verwirrung von Begriffen, Zahlen und Realitäten

Solche Bedrohungsszenarien entstehen auch, weil die Diskussion über das internationale Migrationsgeschehen unter der Verwirrung von Begriffen und Zahlen und noch mehr unter verzerrten Wahrnehmungen der Realität leidet. Viele Publikationen reden vom »Weltflüchtlingsproblem« und meinen damit häufig andere Menschen als der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR), der auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 nur solche Personen als Flüchtlinge anerkennt, die sich aus „wohl begründeter Furcht vor Verfolgung“ im Ausland aufhalten.

Der World Migration Report 2006 schätzte die Zahl der internationalen Migranten – also der Personen, die nicht in dem Land leben, wo sie geboren wurden – auf rund 200 Millionen. Dies sind zwar nur 2,7% der Weltbevölkerung, aber immerhin das Zweieinhalbfache der deutschen Bevölkerung. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kamen jährlich weltweit etwa drei Millionen neue Migranten (beiderlei Geschlechts) zum sog. »Migrationssockel« hinzu. Diese Zahl umfasst allerdings nur Personen, die legal in ein anderes Land eingereist sind oder nachträglich mit legalisierenden Dokumenten ausgestattet wurden – und nicht die weit größere Zahl von »irregulären Migranten«, die auf verschiedenen Wegen, Umwegen und Irrwegen in einem anderen Land ankamen.

Die Grauzone der »irregulären Migration« lässt eine große Bandbreite der Schätzungen über das Volumen der internationalen Migration zu. Die Behörden vieler Entwicklungsländer wissen nicht, wie viele Ausländer irgendwo in den Grenzregionen oder im Dschungel der Großstädte untertauchen. Aber auch gut organisierte Staatswesen haben solche Lücken in den Bevölkerungsstatistiken. So kann die Einwanderungsbehörde der USA nur schätzen, dass jedes Jahr zusätzlich zu den rund 700.000 mit legalisierenden Dokumenten ausgestatteten Zuwanderern etwa 275.000 »Illegale« über die lange Südgrenze zu Mexiko oder mit Booten aus der Karibik ins Land kommen und sich zu den rund 12 Millionen »Illegalen« gesellen, die sich bereits in dem großen Land aufhalten. Für Deutschland schwanken die Schätzungen zwischen 600.000 und einer Million, in der gesamten EU um acht Millionen.

Das Wachstum der »irregulären Migration«, das auch der Verengung der legalen Migrationspfade geschuldet ist, stellt mehr als das Weltflüchtlingsproblem die eigentliche globale Herausforderung dar. In dieser Grauzone findet auch statt, was auf den Begriff der Umweltflucht gebracht wurde. Zu Beginn des neuen Millenniums veröffentlichten verschieden internationale Organisationen geradezu furchterregende Prognosen über den drohenden Zuwachs von »Umweltflüchtlingen« im Gefolge sich häufender Umweltkrisen und des Klimawandels.

3. Irreguläre Migration: Kriminalisiert – toleriert – ausgebeutet

Die Verengung der legalen Migrationspfade in die »OECD-Welt«, die Verschärfung des Asylrechts, die auch »echten« Flüchtlingen den Zugang durch die »Hintertür« des Asyls erschwerte, und der Frauenhandel auf dem internationalen Prostitutionsmarkt machten das Phänomen der illegalen bzw. »irregulären Migration« zum eigentlichen Migrationsproblem. Sie unterläuft einerseits den Kontrollanspruch der Staaten über Einreisen und Aufenthalte von Ausländern und versetzt andererseits die Betroffenen in einen prekären Zustand der Unsicherheit.

Die »irreguläre Migration« über Kontinente hinweg brachte auch internationale Schlepperorganisationen ins Geschäft und machte den Menschenschmuggel (Trafficking) zu einem lukrativen Element der transnational organisierten Kriminalität, also zu einer Begleiterscheinung der Globalisierung. Die Menschenhändler sind häufig mit modernster Logistik, großer Skrupellosigkeit und krimineller Energie ausgestattet.

In der gesamten »OECD-Welt« wurde die »irreguläre Migration« nicht nur zu einem politisch-administrativen Ordnungsproblem, sondern unter dem Druck steigender Arbeitslosigkeit auch zu einem Problem des Arbeitsmarktes, auf der Seite vieler Unternehmer allerdings zu einem lukrativen Geschäft. In Italien und Spanien ernten die »Illegalen« mit Wissen der Polizei auf Plantagen weit unter Tariflohn Orangen, Zitronen oder Tomaten, in Frankreich waren sie in großen Scharen am Bau von Autobahnen beteiligt, in Deutschland hätten ohne sie die Bauten in der neuen Hauptstadt Berlin nicht so schnell vollendet werden können, in den USA wäre es längst zu einem Pflegenotstand gekommen.

Die Theorie des dualen Arbeitsmarktes geht davon aus, dass moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften einen ständigen und flexibel verfügbaren Bedarf an Arbeitsmigration haben, bei restriktiven Einwanderungsbedingungen auch an »irregulärer Migration«, weil einheimische Arbeitskräfte unsichere und schlecht bezahlte Tätigkeiten vermeiden, die aber besonders »Illegale« bereitwillig übernehmen. Die Politik lässt verlauten, ihre Einwanderungspolitik nicht an solchen betriebswirtschaftlichen Bedarfskalkulationen, sondern an übergeordneten gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohlinteressen und sicherheitspolitischen Notwendigkeiten zu orientieren. Sie tut deshalb etwas anderes: Sie toleriert, was sie offiziell verbietet. Der Migrationsforscher Klause Bade (2000a) attackierte deshalb die Scheinheiligkeit vieler westlicher Regierungen, die unter dem Druck der Öffentlichkeit lauthals der irregulären Zuwanderung den Kampf ansagen, sie aber stillschweigend dulden, weil ein Bedarf besteht.

4. Der »globale Marsch« findet auf vielen Wegen und in viele Richtungen statt

Der World Migration Report 2000 fasste kurz und bündig zusammen: „Internationale Migranten kommen aus allen Teilen der Welt und gehen in alle Teile der Welt“. Die öffentliche Wahrnehmung einer »Invasion der Armen« geht jedoch davon aus, dass der »globale Marsch« nur eine einzige Richtung kennt: Vom Süden gen Norden und nach dem Abbruch des Eisernen Vorhangs auch aus dem Osten gen Westen, also aus den Armutsregionen in die reiche »OECD-Welt«. Gelegentlich wird dieser Wanderungsbewegung wie in einem anscheinend plausiblen System kommunizierender Röhren ein Automatismus des Wohlstandsgefälles zugrunde gelegt: Die Armen gehen dorthin, wo sie sich bessere Lebensbedingungen versprechen. Sie würden, wenn sie könnten.

Entgegen allerlei Befürchtungen spielt sich aber das internationale Migrationsgeschehen weiterhin größtenteils innerhalb und zwischen Ländern der Dritten Welt ab: zu rund einem Drittel allein in dem von Krisen und Katastrophen heimgesuchten subsaharischen Afrika, zur Hälfte im bevölkerungsreichen Asien. Auch der Großteil der Flüchtlinge verbleibt in den jeweiligen Herkunftsregionen. Nicht die reichen Industrieländer, sondern die afrikanischen und asiatischen Nachbarländer von Krisenregionen nehmen die meisten Flüchtlinge auf. Hier endet der angeblich »globale Marsch« meistens in überfüllten und notdürftig von Hilfsorganisationen versorgten Flüchtlingslagern in den Grenzregionen der Krisengebiete. Die »OECD-Welt« finanziert die weltweiten Einsätze des UNHCR und anderer Hilfsorganisationen, um die Flüchtlinge von den eigenen Grenzen fern zu halten (vgl. Nuscheler 2002).

Es sind inzwischen vor allem junge, gut ausgebildete und zahlungsfähige Angehörige der Mittelschichten, die das Wagnis einer interkontinentalen Wanderung mit ungewissem Ausgang eingehen. Sie können am ehesten Mittel für teure Schlepperdienste aufbringen, wenn ihnen legale Wege versperrt sind. Die meisten sog. »Wirtschaftsflüchtlinge« stammen nicht aus den ärmsten Entwicklungsländern, sondern vielmehr aus Ländern mit mittlerem Einkommen. Armen Bevölkerungsgruppen in entfernten Entwicklungsländern fehlt es an Ressourcen, Informationen und Verbindungen, um in andere Kontinente auszuwandern. Wenn sie wandern, dann in aller Regel im eigenen Land oder in die näherliegenden Regionen.

Ob und auf welchen Wegen die Migranten aus dem Süden, die nicht in das Beziehungsgeflecht der Elitenmigration eingebunden sind, ihr Ziel im Norden erreichen: Hier erleben sie selten, was sie sich erhofft hatten. Ihre Migration bleibt vielfach in einem aussichtslosen Asylverfahren stecken, das mit der Abschiebung endet, oder in einem höchst prekären Leben in der Illegalität, die keinen Rechtsschutz und keine soziale Sicherheit bietet.

5. Globalisierung und Migration: Entgrenzung von Arbeitsmärkten und Lebenswelten

Die Geschichte der internationalen Migrationen lehrt, dass sie einerseits durch politische und sozio-ökonomische Erschwernisse in den Herkunftsländern in Gang gesetzt wurden, andererseits auf dem »Weltmarkt für Arbeitskraft« die Funktion hatten, möglichst billige Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Sowohl Binnenwanderungen als auch die grenzüberschreitenden Arbeitsmigrationen waren eng mit wirtschaftlichen Strukturveränderungen in den Herkunfts- und Zielregionen verbunden. Ohne den transkontinentalen Sklavenhandel wären der Aufbau von Plantagenökonomien in der »neuen Welt«, ohne die großräumige koloniale Arbeitsmarktpolitik nicht die Besiedlung von Kolonialterritorien und die Versorgung der Metropolen mit agrarischen und mineralischen Rohstoffen, ohne Urbanisierung und den Nachschub von billigen Arbeitskräften aus dem ländlichen Raum nicht ihre Industrialisierung und ohne Arbeitsmigranten aus Südeuropa, der Türkei, Jugoslawien, dem Maghreb und den ehemaligen Kolonien die Entwicklung der EWG zu einem florierenden Wirtschafts- und Sozialraum nicht möglich gewesen.

Die bereits von der »Europäisierung der Welt« eingeleitete und in den letzten Jahrzehnten beschleunigte Globalisierung hat die Ursachen, Formen und Folgen der internationalen Migration verändert. Sie bedeutet die zunehmende Entgrenzung der nationalen Ökonomien, die Vermehrung und Verdichtung transnationaler Interaktionen und Interdependenzen sowie die durch das Regelwerk der WTO (World Trade Organization) forcierte Öffnung der Grenzen für Güter, Kapital, Dienstleistungen und Kommunikationsmedien. Obwohl das WTO-Regime den politisch sensiblen Bereich des Arbeitsmarktes ausklammerte und sich nicht daran wagte, auch der Freizügigkeit der Arbeitskräfte (mit Ausnahme des Führungspersonals von multinationalen Unternehmen) Bahn zu brechen, haben die vieldimensionalen Globalisierungsprozesse auch Auswirkungen auf das Migrationsgeschehen.

Erstens verengte die Revolutionierung des Verkehrswesens die Räume, vergrößerte die Mobilität der Menschen auch über größere Entfernungen und beförderte damit eine »Entregionalisierung« der internationalen Migration, allerdings nur für Gruppen, die sich weite Reisen auch leisten können. Niemals zuvor in der Weltgeschichte konnten so viele Menschen in kurzer Zeit so weite Wege zurücklegen. Dennoch fand der Großteil der grenzüberschreitenden Migration innerhalb der Regionen statt.

Zweitens hat die Auslagerung von Produktionsstätten in die »Billiglohnländer«, die neben niedrigen Arbeitskosten in den »Weltmarktfabriken« auch die zunehmende Freizügigkeit von Kapital und Gütern nutzen kann, nicht nur Binnenwanderungen, sondern auch – wie wie beispielhaft in Südostasien – intraregionale Migrationsschübe ausgelöst. Die Globalisierung verstärkt die Marginalisierung peripherer Regionen, »Entbäuerlichung« und Urbanisierung.

Drittens hat die Globalisierung der Produktions- und Arbeitsmarktstrukturen neben der Formenvielfalt auch eine soziale Klassendifferenzierung der Migration hervorgebracht. Manager und Ingenieure zirkulieren als hoch bezahlte Beschäftigte von multinationalen Unternehmen, Wissenschaftler als Angehörige der zunehmend internationalisierten scientific community, Diplomaten als Mitglieder der Vielzahl von internationalen Organisationen und das Führungspersonal der zunehmend transnational organisierten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) rund um den Globus. Migranten mit geringen Qualifikationen finden als billige Arbeitskräfte Beschäftigung in privaten Haushalten oder als Saisonarbeiter in Gastronomie und Landwirtschaft. Am unteren Ende der sozialen Leiter stehen die »neuen Heloten« der internationalen Arbeitsteilung: rechtlose irreguläre Arbeitsmigranten und die Opfer des internationalen Frauenhandels.

Viertens fördert die Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung die Elitenmigration. Die Industrieländer, bisher allen voran die USA, picken sich aus allen Weltregionen die besten Köpfe heraus, fördern sie durch kapitalkräftige Stiftungen und Universitäten und können sich sogar erlauben, das eigene Bildungswesen zu vernachlässigen. Es zeichnet sich ein weltweiter Wettbewerb um diese »besten Köpfe« ab. Auf der anderen Seite der Medaille steht der »Brain Drain«, der in den Herkunftsländern zu einem schwerwiegenden Substanzverlust an Humankapital führen kann.

Fünftens bewirkte die Globalisierung der Telekommunikation eine kommunikative Vernetzung der Welt. Sie erzeugt neben gewollten Wirkungen des Wertetransfers und der Konsumanreize auch ungewollte Migrationsanreize, weil sie die Bilder vom besseren Leben anderswo bis in die letzten Slumhütten transportiert und das internationale Wohlstandsgefälle sichtbar macht. Je schlechter die Lebensbedingungen sind, desto größer ist die Sogwirkung solcher Bilder, die alle Schwierigkeiten der Migration und des Lebens in den medial konstruierten Scheinwelten verschweigen.

Sechstens erzeugt die Globalisierung durch die ungleiche Verteilung ihrer Risiken und Wohlfahrtsgewinne negative Interdependenzketten: in den marginalisierten Peripherien eine weitere Verarmung, größere Verwundbarkeiten der Gesellschaften und politische Instabilitäten, eine Vermehrung und Brutalisierung von Verteilungskonflikten und im Gefolge von Gewalteruptionen Fluchtbewegungen.

Siebtens hat die Globalisierung die Herausbildung von transnationalen Netzwerken befördert, zu denen auch das international organisierte Schlepperwesen gehört, das zu einem wichtigen Steuerungsinstrument der irregulären Migration wurde. Der Soziologe Ludger Pries (1997, 35) entdeckte das qualitativ Neue der Globalisierung in der Lockerung der Kongruenz von Territorialstaat und Lebensraum und im Anwachsen von »transnationalen sozialen Räumen«. Viele Migrationsforscher gehen davon aus, dass die Globalisierung in den nächsten Jahrzehnten Ausmaß und Richtung von Wanderungsbewegungen maßgeblich beeinflussen wird:

die Einbeziehung von immer mehr Ländern, sei es als Herkunfts- oder Zielländer, in das Migrationsgeschehen;

eine weitere Zunahme der Migrationsströme aufgrund der Verschärfung von strukturellen Schubfaktoren;

eine weitere Differenzierung der Migration in Gestalt neuer Migrationsformen und Migrationspfade;

eine zunehmende Feminisierung der Migration, die zwar schon immer viele Fluchtbewegungen kennzeichnete, aber zunehmend auch zu einem Phänomen der legalen und illegalen Arbeitsmigration wurde.

6. Feminisierung der Migration

Der wachsende Anteil von Frauen, nicht nur unter Flüchtlingen, sondern auch innerhalb der regulären und irregulären Arbeitsmigration, ist eine Folge der globalisierten Nachfrage nach frauenspezifischen Dienstleistungen in Haushalten, Pflegeberufen und auf dem Prostitutionsmarkt sowie nach billigen Arbeitskräften in Hunderten von »Weltmarktfabriken«. Die »globalisierte Frau« gehört zur Reservearmee globalisierter Arbeitsmärkte (vgl. Wichterich 1998). Für Migrantinnen gibt es eine Vielzahl von Motiven und Chancen zur internationalen Migration: Sie reichen von der Überlebenssicherung der Familien durch temporäre Arbeit im Ausland über den Willen, aus familiärer Bevormundung und gesellschaftlicher Diskriminierung auszubrechen, bis zur Partnersuche in fernen Landen.

Zur häufig irregulären Migration von Frauen gehört auch der von international operierenden Schleuserbanden organisierte Frauenhandel auf dem globalisierten Prostitutionsmarkt. Hier geht es nach Schätzungen von UNIFEM (UN Development Fund for Women) um Hunderttausende oder gar Millionen von Frauen und Mädchen, die – als moderne Form der Sklaverei – wie Waren gehandelt werden. Wie die meisten Wanderungsbewegungen verlaufen auch die internationalen Schlepperrouten, auf denen der Frauenhandel stattfindet, von armen zu reichen Ländern bzw. zu Ländern im Süden (wie am Golf oder in Südostasien), wo eine kaufkräftige Nachfrage besteht oder durch Touristen hergestellt wird.

7. Neue Einsichten und Perspektiven: Vom Sicherheitsproblem zum Entwicklungspotenzial?

Der 2005 vorgelegte Bericht der Global Commission on International Migration (GCIM) dokumentierte die im Migrationsdiskurs wachsende Einsicht, dass die internationale Migration nicht nur ein unaufhaltsamer Prozess der sich herausbildenden Weltgesellschaft ist, sondern sowohl für die Herkunftsregionen als auch für die Zielregionen neben Risiken auch Chancen eröffnen kann, sofern es gelingt, die Migrationsprozesse durch internationale Kooperationen zu steuern und durch Schutzregime zu humanisieren.

Zu diesem Paradigmenwechsel trugen – neben der von demographischen Fakten diktierten Einsicht, dass die an Alterssklerose leidenden Industriegesellschaften zur eigenen Wohlstandssicherung Zuwanderung brauchen – auch Berechnungen der Weltbank bei, die mit einigen statistischen Unsicherheiten nachwiesen, dass die Geldüberweisungen (remittances) der legalen und irregulären Arbeitsmigranten/innen an die zurückgebliebenen Familien mehr als das Doppelte der internationalen ODA (Official Development Assistance) betragen. Sie leisten damit einen wirksameren Beitrag zur Armutsbekämpfung als staatliche Transferleistungen, die häufig im Gestrüpp der Korruption versickern.

Auch die Perzeption der internationalen Migration als ein Sicherheitsproblem eröffnet Chancen für kooperatives Denken und Handeln: Zwar erwächst aus ihrer Einbindung in Bedrohungsszenarien die Gefahr, dass militärisch gestützte Abwehrmaßnahmen, wie sie bereits an den Ost- und Südgrenzen der EU und am Rio Grande zwischen Nord- und Südamerika ergriffen werden, zum bestimmenden Faktor der Problembearbeitung werden und eine präventive Friedens- und Entwicklungspolitik zur Eindämmung der Migrationsursachen gar nicht mehr versucht wird.

Die sicherheitspolitische Problemperzeption enthält aber auch die Chance, dass aus der Erkenntnis der eigenen Verwundbarkeit und aus der Wahrnehmung gemeinsamer Gefährdungen neue internationale Kooperationsformen zur konstruktiven Problem- und Konfliktbearbeitung erwachsen. Die Konzepte der »erweiterten Sicherheit« und »human security« lassen solche Einsichten durchaus erkennen (vgl. BAKS 2001). Verschiedene Mitteilungen der EU-Kommission und Resolutionen des Europäischen Parlaments setzten, aufgeschreckt durch die Fluchttragödien am und auf dem Mittelmeer, nicht nur auf eine nur begrenzt wirksame militärische Absicherung der »Festung Europa«, sondern auch auf pro-aktive Vorwärtsstrategien mittels einer umfassenden Kooperationspolitik mit den Herkunfts- und Transitländern. Es fand ein migrationspolitischer Lernprozess statt, der zwar weiterhin auf die Aufrüstung der Grenzsicherung setzt, aber auch Lehren aus der Erfolglosigkeit militärischer Abschottungspolitik zog. Die migrationspolitischen Einsichten und Absichtserklärungen müssen allerdings noch den Implementationstest bestehen.

Literatur

Bade, Klaus J. (2000): Europa in Bewegung, München.

ders. (2000a): Pfade in die Festung, in: Süddeutsche Zeitung vom 13./14. Mai 2000.

BAKS (Bundessicherheitsakademie für Sicherheitspolitik) (Hrsg.) (2001): Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen. Kompendium zum erweiterten Sicherheitsbegriff, Hamburg.

Butterwegge, Christoph/Gudrun Hentges (Hrsg.) (2006): Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung, 3. Aufl., Wiesbaden.

Castles, Stephen/Mark J. Miller (1993): The Age of Migration. International Population Movements in the Modern World, New York.

Global Commission on International Migration (2005): Migration in einer interdependenten Welt: neue Handlungsprinzipien, Berlin.

Husa, Karl/Christof Parnreiter/Irene Stacher (Hrsg.) (2000): Internationale Migration. Die globale Herausforderung des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/Main.

Kennedy, Paul (1993): In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, Frankfurt/Main.

Nuscheler, Franz (2004): Internationale Migration. Flucht und Asyl, 2. Aufl., Wiesbaden.

ders. (2002): Nord-Süd-Migration: ein »globaler Marsch?«, in: Klaus J. Bade/Rainer Münz (Hrsg.), Migrationsreport 2002, S.99-118.

Nuscheler, Franz/Birgit Rheims (1997): Migration und Sicherheit: Realitäten und Halluzinationen, in: Ludger Pries, S.317-328.

Opitz, Peter J. (Hrsg.) (1997): Der globale Marsch. Flucht und Migration als Weltproblem, München.

Pries, Ludger (Hrsg.) (1997): Transnationale Migration. Soziale Welt/Sonderband 12, Baden-Baden.

Wichterich, Christa (1998): Die globalisierte Frau, Reinbek.

Dr. Franz Nuscheler war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2003 Professor für Internationale und Vergleichende Politik an der Universität Duisburg-Essen und leitete von 1990 bis Mai 2006 als Direktor das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF).

Vom Irak- zum Nahostkrieg?

Vom Irak- zum Nahostkrieg?

von Jürgen Nieth

Am 10. Januar hat US-Präsident Bush die Verstärkung der
US-Truppen im Irak um 21.000 GIs angekündigt. Damit ignoriert Bush nicht nur
die Empfehlungen der Baker-Kommission, er stößt national und international auch
auf immer stärkeren Widerstand.

Verfall des politischen Kurswertes

„Der politische Kurswert der amerikanischen Regierung
sank ins nahezu Bodenlose,“
schreibt der Spiegel (15.01.07, S.100). „70
Prozent der Amerikaner, so zeigten Blitzumfragen, lehnen den Bush-Plan ab…
Regierungen in aller Welt, selbst treueste Koalitionspartner, die dem
amerikanischen Präsidenten 2003 in den Irak gefolgt waren, zeigten – bis auf
den Getreuen Tony Blair – kaum verhülltes Entsetzen über diesen »letzten
Versuch«, eine verfahrene Situation militärisch zu lösen, die sich nach
vorherrschender Meinung allenfalls noch mit politischen Mitteln kalmieren
lässt.“

Bushs Hintermänner

Bush „ignoriert alles, was Experten, Oppositionsmehrheit
und US-Öffentlichkeit wollen,“
meint auch Bernd Pickert in der TAZ
(12.01.07). „Nun ja, fast alles“, fährt er fort. Bush „hält sich
ziemlich genau an ein Papier, das in der vergangenen Woche vom neokonservativen
»American Enterprice Institute« vorgestellt wurde. Es trägt den Titel »Den Sieg
wählen. Ein Erfolgsplan für den Irak« und skizziert relativ genau, was Bush
jetzt vorhat. Zur Beruhigung der Öffentlichkeit sind die Neocons aus den Ämtern
verschwunden. Tatsächlich bestimmen sie weiter den politischen Kurs.“

Nachträgliche Kriegseinschätzungen

„Dieser Krieg war falsch, von Anfang an,“ stellt
Christian Wernicke in der Süddeutschen Zeitung (12.01.07) fest. „Den meisten
Amerikanern dämmert diese Einsicht. Nur der Präsident sträubt sich.“
Die Mehrheit der Deutschen war von Anfang an gegen diesen Krieg. Und die
Mehrheit der Medien (s.o.) zeigt sich auch heute kritisch gegenüber der
US-Politik. Mit Ausnahmen!
Fast hilflos wirkt z.B. der Kommentator der FAZ (12.01.07), wenn er feststellt:
„Präsident Bush war vorsichtig genug, seine Ankündigung, zusätzliche Truppen
in den Irak zu entsenden, nicht mit dem Versprechen zu verbinden, damit könne
man der Gewalt Herr werden oder einen Bürgerkrieg abwenden.“

Die Bild verweigert sich gleich jeder Einsicht. Sie fragt am
12.01.07 „5 kluge Köpfe“, die »zufällig« alle von Bushs Politik
überzeugt zu sein scheinen. Unter ihnen Michael Wolfsohn, Prof. an der
Bundeswehr-Uni in München: „Die Intervention der Amerikaner im Irak 2003 war
richtig, das wird auch die Geschichte beweisen
;“ und Prof. Michael Stürmer,
Berlin: „Anzuerkennen ist, das sich Bush nicht… davonschleicht, sondern mit
weiteren Truppen Ordnung und Demokratie im Irak durchsetzen will.“
Die Lage im Irak spricht eine andere Sprache.

Krieg gegen die Bevölkerung

„Sieben von zehn Irakern billigen laut Umfragen
inzwischen Anschläge auf US-Truppen. Zum Vergleich
: 2003 hegten nur 14
Prozent solch klammheimliche Freude über tote GIs,“ so Christian Wernicke in
der Süddeutschen Zeitung (12.01.07). Diese Veränderung könnte damit
zusammenhängen, dass die Zahl der getöteten Zivilisten im Irak viel höher ist
als bisher angenommen. Die SZ berichtet in derselben Ausgabe über die
Forschungsergebnisse eines amerikanischen Teams von der John Hopkins School of
Medicine in Baltimore. Danach kamen „zwischen März 2003 und Sommer 2006 im
Irak 654.965 Menschen in Folge des Krieges ums Leben… Das wären etwa 6oo
Todesopfer an jedem Tag… Die amerikanische Regierung spricht hingegen von
30.000 toten Zivilisten“,
Menschenrechtsgruppen sind bisher von etwa 60.000
ausgegangen.

Steigende Kriegskosten

In derselben Ausgabe der SZ berichtet Tomas Avenarius, dass
der Bush-Plan nach Berechnungen von US-Haushaltsexperten „den amerikanischen
Steuerzahler sehr viel Geld kosten (wird). Hat der Krieg den US-Haushalt bisher
mit 300 Milliarden Dollar belastet, so könnten in den kommenden zehn Jahren
weitere 400 Milliarden Dollar hinzukommen. Darin… eingeplant
: Die täglichen
Kriegskosten von 150 Millionen US-Dollar, die Waffen für die Armee, der Aufbau
des Irak und sogar die Hinterbliebenen- und Witwenrenten der gefallenen
Soldaten. Die zusätzlichen Kosten für die neue Strategie sollen sich allein auf
mehr als sechs Milliarden Dollar belaufen – fürs Erste.“
Nicht eingeplant die Kosten einer weiteren Eskalation, die heute in nicht wenigen
Kommentaren als möglich erachtet wird.

Drohende Eskalation

„Statt des erhofften – und von
einer Kommission unter Führung des früheren Außenministers Baker dringend
empfohlenen – Gesprächsangebots an Iraks Nachbarn, drohte Bush Syrien und Iran
unverblümt mit militärischer Intervention“ ,
heißt es im Spiegel (15.01.07).
Eine Eskalationsgefahr, die auch Karl Grobe in der Frankfurter Rundschau
(16.01.07) hervorhebt: „Flugzeugträger, Marschflugkörper und
Patriot-Raketen, wie sie gerade in die Gewässer vor der iranischen Küste
gebracht werden, sind für einen Landkrieg ja auch denkbar ungeeignet, helfen
den USA auch nicht, … Gewalt ausübende Gruppen in dem Irak zu bekämpfen. Der
Aufmarsch lässt eher vermuten, das so genannte chirurgische Schläge gegen Atomanlagen,
Flugplätze und Militäranlagen des Teheraner Regimes vorgesehen sind.“

Auf zum »Endkampf«

Von einer wahrscheinlichen Eskalation spricht auch Torsten
Krauel in der Welt (12.01.07): „Die Demokraten haben recht, wenn sie von
einer Eskalation des Krieges sprechen… Bushs Kurs erinnert an Nixons Einmarsch
in Kambodscha 1970
: Ausweitung des Kampfes unter Abzugsschwüren. Die
Drohung an Teheran und Syrien ist nicht zu überhören, die Konsequenz aus
solchen Worten kaum zu überblicken. Bush verstärkt seine Truppen nicht gegen
irakische Bombenleger, sondern gegen deren iranische Hintermänner, und da ist
die Eskalationsleiter nach oben offen.“ Doch im Gegensatz zu den vorher
Zitierten scheint Krauel dieser Entwicklung Positives abzugewinnen: „Niemand
sollte Illusionen darüber hegen, worauf die Lage zuzusteuern beginnt – auf
einen großen Endkampf um den nahen Osten, auf den Regimewechsel in Damaskus und
Teheran, um den Regimewechsel in Bagdad abzusichern. Es ging von Anfang an nie
um Saddam allein, so wenig, wie es nach dem 8. Mai 1945 um Deutschland allein
ging.“

Falken im Aufwind

Falken im Aufwind

von Jürgen Nieth

Zwei Personalentscheidungen des US-Präsidenten haben in den
letzten Wochen selbst unter befreundeten Regierungen der USA zu Irritationen
geführt, bei anderen zeigt sich blankes Entsetzen: Mit John Bolton nominierte
die Bush-Regierung einen ausgesprochenen UN-Gegner zum neuen US-Botschafter bei
den Vereinten Nationen und mit Paul Wolfowitz, den »Irakkriegsarchitekten« zum
neuen Chef der Weltbank.

Bolton – der »wohl undiplomatischste Hardliner«

Der Mann, der neuer US-Botschafter bei den Vereinten
Nationen werden soll, hat sich in den letzten 20 Jahren nicht nur als
ausgesprochener Hardliner hervorgetan, sondern auch als scharfer Kritiker der
UN. So schreibt die TAZ (09.03.05): „Er war es, der in den 90er Jahren dafür
warb, dass die USA die Zahlung ihrer Mitgliedsbeiträge an die Vereinten Nationen
einstellen. Die UNO ist für ihn ein »großes rostendes Wrack einer
bürokratischen Superstruktur«, die sich um unwichtige Dinge kümmert.“
Die
Frankfurter Rundschau (09.03.05) bezeichnet Bolton als den „wohl
undiplomatischsten Hardliner“
, für den die UN ein Debattierclub ist, „der
sich bestenfalls für amerikanische Interessen einspannen lässt, den man
ansonsten links liegen lassen muss.“

Störfeuer als Programm

In den 1980er Jahren half John Bolton bei der Finanzierung
der nicaraguanischen Contras, in den 1990er Jahren versuchte er , die
Untersuchungen des US-Kongresses über die Iran-Contra-Affäre und die
Verwicklung in Waffen- und Drogenschmuggel zu unterbinden. Er zählt zu den
exponiertesten Falken, wenn es darum geht, internationale Abkommen zu unterbinden,
die die USA auch nur im Ansatz einschränken könnten. „Bolton hat als
Staatssekretär für Fragen der Rüstungskontrolle die Verhandlungen zur Stärkung
der Biowaffen-Konvention sowie die mit Nordkorea torpediert. Im Atomstreit mit
dem Iran lehnt er den europäischen Gesprächsansatz ab.“
(FR 09.03.05)
Bolton „schrieb jenen Brief, mit dem die USA ihre Unterschrift unter das
Rom-Statut zur Einrichtung des internationalen Strafgerichtshofes zurückzogen,
und beschrieb das später als »den glück­lichsten Moment meines Dienstes für
diese Regierung«. Bei der UN-Kleinwaffenkonferenz 2001 brachte er den Versuch
eines Abkommens zu Fall, in dem er erklärte, die USA würden sich jedem Versuch
widersetzen, den Handel mit Schusswaffen zu regulieren, der »das verfassungsgemäße
Recht zum Waffen tragen« außer Kraft setzen könnte.“
(TAZ 09.03.05)

Wolfowitz: Irakkriegsarchitekt…

Wolfowitz ist seit Jahren einer der herausragenden
neokonservativen Vordenker in den USA. Sein Name taucht in fast allen
konservativen US-Think-Tanks auf (siehe R. Rilling in W&F 4-2004). Den
bisherigen Vize-Verteidigungsminister betrachten zahlreiche Kommentatoren als
»Drahtzieher« des Irakkrieges. So schreibt die TAZ (18.03.05). „Er brachte
eine Militäraktion (gegen den Irak) ins Spiel, als selbst Bush noch nicht daran
dachte.“
Wolfowitz sei unzufrieden gewesen, als Bush nach dem 11.09.2001
den Plan für den Afghanistankrieg vorgelegt habe. Für ihn war Saddam Hussein
der Hauptfeind, der „Massenvernichtungswaffen besitze… (und) auch bereit
sei, sie an Terroristen zu verkaufen. Sein Rat
: Ein Militärschlag gegen den
Irak.“

…ohne Erfahrung in der Entwicklungspolitik

Entwicklungspolitik ist die zentrale Aufgabe der Weltbank,
die der größte Geldgeber für Entwicklungsprojekte weltweit ist. 184 Länder sind
Mitglieder. Vom Chef der Weltbank müssten also eigentlich Erfahrungen in der
Entwicklungspolitik erwartet werden. Bis auf drei Jahre als Botschafter in
Indonesien und einer kurzen Zeit im Außenministerium der USA hat Wolfowitz aber
den größten Teil seiner Karriere im US-Verteidigungsministerium verbracht, von
1977 – 1980 als Beauftragter für die Golfregion, später als Staatssekretär
unter Georg Bush, sen. und dann als stellvertretender Verteidigungsminister
unter Georg Bush, jun.

Der Leiter des UN-Millennium-Projekts zur Bekämpfung von
Hunger und Armut, Jeffrey Sachs, übte dementsprechend deutliche Kritik: „Es
wird Zeit, dass sich andere Kandidaten melden, die Erfahrung auf dem Gebiet der
Entwick­lung haben… Das ist eine Position, von der das Leben hunderter
Millionen Menschen abhängt,“
dazu sei eine professionelle Führung
notwendig. (zitiert nach FR 18.03.05)

Entwicklungshilfe nur noch für Freunde

„Entwicklungshilfe nur noch für Freunde der USA?“,
titelt der Bonner Generalanzeiger (18.03.05). Weiter heißt es: Experten glauben
nun, „dass der Kriegsfalke Wolfowitz die Mittelvergabe weniger an den
finanziellen Bedürfnissen der Entwicklungsländer ausrichten wird, sondern
vielmehr deren Loyalität zu den USA während des Irakkriegs als Kriterium gelten
wird… Die größte Sorge gilt dem möglichen Missbrauch von Weltbankgeldern zur
Finanzierung des Wiederaufbaus des Irak sowie der indirekten Subventionierung
der amerikanischen Militärpräsens.“
Der Generalanzeiger zitiert dann Moises
Naim, ein früheres Mitglied des Weltbankdirektoriums: „Der Mythos, es
handele sich um eine Welt-Bank, gehört jetzt der Vergangenheit an. Sie wird unter
Wolfowitz zu einer rein »amerikanischen« Bank, einer Art Unterabteilung des
Pentagons und des Außenministeriums.“

Eine Zumutung

„Paul Wolfowitz als Präsident der Weltbank ist eine klare
Provokation,“
schreibt der Züricher Tages-Anzeiger (17.03.05). „Präsident
Bush weiß, dass der neokonservative Hardliner nicht nur für die Europäer kaum
akzeptabel ist, sondern auch für die Schwellen- und Drittweltländer eine
Zumutung darstellt. Wenn Bush seine Wahl trotzdem durchdrückt, dann
signalisiert er klar und deutlich, dass er der Welt nach der Irak-Invasion eine
weitere Lektion erteilen will.“

Kooperation à l‘a Bush

„Mit Wolfowitz bei der Weltbank und dem gerade erst zum
neuen Un-Botschafter nominierten John Bolton macht Bush sein Versprechen war –
auf seine Art. Die zweite Amtszeit, so hat er verkünden lassen, werde weniger
von einsamen Beschlüssen geprägt sein, als vielmehr im Zeichen der Kooperation
mit der Weltgemeinschaft stehen. Und genau deshalb schickt er seine loyalsten
Mitstreiter an die Schaltstellen internationaler Politik. Ihre Aufgaben
:
der Welt die Bedingungen beizubringen, unter denen der Präsident zur
Zusammenarbeit bereit ist.“ (Spiegel 12/2005, S. 120)