Von Bretton Woods zum »Casino-Kapitalismus« – und zurück?

Von Bretton Woods zum »Casino-Kapitalismus« – und zurück?

Zur Reform der internationalen Finanzarchitektur

von Rainer Falk

Das Thema dieses Beitrags verweist auf die entscheidende Zäsur in der Entwicklung des internationalen
Finanzsystems nach dem Zweiten Weltkrieg: den Zusammenbruch des sogenannten Systems von Bretton Woods Anfang der 70er Jahre, also jenes Systems der zum US-Dollar fest fixierten Wechselkurse, das 1944 auf der Konferenz von Bretton Woods in den USA aus der Taufe gehoben worden war. Seither, d.h. seit Beginn der 70er Jahre, hat sich faktisch ein Laissez-faire der Währungs- und der Geldmärkte etabliert, verbunden mit einer quantitativen Explosion dieser Märkte und einer Spaltung des Finanzsektors in ein nichtstaatliches Segment und ein mit den nationalen Ökonomien verflochtenes Segment.1

In seinem World Economic Outlook vom Frühjahr 1997 bezeichnete der Internationale Währungsfonds (IWF) den Finanzsektor als den Bereich, in dem die Globalisierung der Weltwirtschaft wahrscheinlich am weitesten fortgeschritten sei. In unmittelbarer Reaktion auf politische Veränderungen könne das Geld heute schnell in ein gegebenes Land hinein- und genauso schnell wieder aus diesem herausfließen und auf diese Weise einen viel größeren Druck auf die Regierungen als früher ausüben, damit diese ihre Politik in Ordnung bringen (“to get policies right“). Der IWF begrüßte diese Entwicklung, weil die Welt dadurch noch näher an sein eigenes Ideal der fiskalischen Sparsamkeit und der Marktliberalisierung herangeführt werden könne.2

Das Beispiel illustriert recht plastisch eine Dimension des Verhältnisses von Ökonomie und Politik, die in der Diskussion über Globalisierung und (tatsächliche oder vermeintliche) weltwirtschaftliche Sachzwänge oft vergessen wird: Wenn wir die IWF-Autoren richtig verstehen, so betrachten sie die globale Liberalisierung der Kapitalmärkte keineswegs nur als Zustand, sondern als willkommenen Hebel, um in aller Welt Gesetze durchzusetzen, die als volkswirtschaftliche Sachgesetze ausgegeben werden, in Wirklichkeit aber die Gesetze des Kapitalmarkts sind. Wer diese nicht befolgt, wird von den Kapitalmärkten »bestraft«.

Die Medaille hat jedoch noch eine andere Seite: Die weltweit liberalisierten Kapitalmärkte von heute sind kein per se gegebener Naturzustand, sondern Ergebnis eines politischen Prozesses seit Beginn der 70er Jahre, der von den herrschenden politischen Akteuren, den G7-Regierungen und nicht zuletzt dem IWF selbst, zielstrebig vorangetrieben wurde. Die Geschichte dieser Entwicklung ist zugleich die Geschichte der politischen und institutionellen Herstellung eines wahren Treibhausklimas der neoliberalen Globalisierung. Gerade bei der Betrachtung des Finanzsektors und seiner institutionellen Entwicklungsbedingungen wird klar, wie radikal sich diese Ordnung (oder besser: Unordnung) von den Verhältnissen der durch die Beschlüsse von Bretton Woods geprägten Nachkriegsordnung unterscheidet.

Das Bretton Woods-System …

Als Keynes und sein amerikanischer Kollege Harry Dexter White sich daran machten, das Design für die internationale finanzielle Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg zu entwerfen, herrschte – ungeachtet aller späteren Meinungsdifferenzen – insofern Übereinstimmung zwischen ihnen, als die Kontrolle der internationalen Kapitalbewegungen eine notwendige Voraussetzung für ökonomische Prosperität in der Nachkriegswelt sei. Das Instrument der Kapitalverkehrskontrollen fand so schließlich Eingang in das Bretton-Woods-Abkommen.

Für unsere heutige Debatte ist es interessant, dass die ursprünglichen, weitreichendsten Vorschläge auch damals schon auf die wütende Opposition der (New Yorker) Bankenwelt stießen. Verbindliche Kontrollvorschriften, so argumentierten sie, liefen auf die Einmischung in einen profitablen Geschäftszweig hinaus, der sich mit der Aufnahme internationalen Fluchtkapitals in New York seit den 30er Jahren herausgebildet hatte. Zwar gelang ihnen die Durchsetzung weniger scharfer Formulierungen; aber immerhin war dann das gesamte »Goldene Zeitalter«, also die Zeitspanne bis Anfang der 70er Jahre, dadurch gekennzeichnet, dass buchstäblich alle Staaten außer den USA intensive Kapitalverkehrskontrollen praktizierten.3

Ähnlich wie in der Frage der Kapitalverkehrskontrollen, war das auf der Konferenz von Bretton Woods beschlossene Finanzsystem insgesamt – gemessen an den ursprünglichen Intentionen von Keynes und seinen Freunden – ein bereits um wesentliche Elemente amputiertes Gebilde. Statt des von Keynes als Weltgeld geforderten »Bancor« wurde ein System etabliert, in dessen Zentrum der US-Dollar stand, der seinerseits durch Gold gedeckt war. Die Wechselkurse aller anderen Währungen waren in einer festen Relation zum US-Dollar definiert, die nur mit Zustimmung des IWF geändert werden durfte. Erst mit der Schaffung der Sonderziehungsrechte Ende der 60er Jahre, einer Art internationalem Kunstgeld, wurde die ursprüngliche Weltgeldidee doch noch verwirklicht, allerdings nur in höchst verkrüppelter Form.

Bereits mit dem Stabilierungsfonds-Konzept des amerikanischen Delegierten White, das mit der Gründung des IWF verwirklicht wurde, war nicht jenes Maß an internationaler Liquidität geschaffen worden, das Keynes in seiner Clearing-Union-Idee für erforderlich gehalten hatte, um künftige Zahlungskrisen zu vermeiden. Die faktische Struktur und Größe des IWF lief vielmehr auf eine glatte Verkehrung der ursprünglichen Pläne von Keynes hinaus. Hatte dieser für einen großen Fonds mit (wenn überhaupt) »weicher« Konditionalität plädiert, so hatte die Welt jetzt einen kleinen Fonds mit harter Konditionalität bekommen (was vor allem später im Zeitalter der Strukturanpassungspolitik verhängnisvolle Konsequenzen haben sollte). Und dieser Fonds konnte obendrein – aufgrund des Dollar-Leitwährungsmodells – zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung der US-Hegemonie in der Weltwirtschaft genutzt und instrumentalisiert werden.

Das in Bretton Woods errichtete System der festen Wechselkurse wurde schon nach relativ kurzer Zeit wieder abgelöst; streng genommen existierte es nur eine historisch kurze Spanne von 15 Jahren, von der Herstellung voller Konvertibilität 1958 bis zum Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems 1973. Immerhin jedoch war dies eine Periode beispielloser Prosperität in der Geschichte des Kapitalismus, mit hohen Wachstumsraten, relativer oder annähernder Vollbeschäftigung und beachtlichen sozialen Sicherungssystemen in den Zentren, was eben viele erst im Nachhinein zur Rede vom »Goldenen Zeitalter« veranlasst hat.

… und sein Zusammenbruch

Bei vielen Autoren herrscht Einigkeit darüber, dass wir seit den 70er Jahren in einer bis heute anhaltenden globalen Strukturkrise leben, deren Herausbildung einem Bruch in der kapitalistischen Entwicklung, einem tiefen Einschnitt in der Nachkriegsentwicklung, gleichkam. Es ist keineswegs zufällig, dass dieser Einschnitt eng mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems verknüpft war, der seinerseits durch diverse Währungskrisen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre vorangekündigt wurde.4 Seither wird die Entwicklung durch zwei zentrale Widerspruchskomplexe geprägt:

  • Erstens durch einen wachsenden Überschuss an Kapital im Verhältnis zu profitablen Investitionsmöglichkeiten im produktiven Sektor; und
  • zweitens durch eine zunehmende Inkonsistenz zwischen wachsender Internationalisierung einerseits und der (zum großen Teil politisch erzeugten und erwünschten) Beschränkung nationalstaatlicher Steuerungsmöglichkeiten gegenüber der Ökonomie andererseits.5

Der erste Widerspruchskomplex findet seinen Ausdruck in einem deutlichen Wandel des privatwirtschaftlichen Investitionsverhaltens: Gewinnsteigerungen werden zum einen immer stärker über Rationalisierungen, Kostensenkungen und Flexibilisierungen angestrebt (demgegenüber nimmt die Bedeutung echter Erweiterungsinvestitionen relativ ab). Auch die Vornahme von Direktinvestitionen im Ausland sowie der Übergang zu neuen Formen der internationalen Unternehmensorganisation werden zur Gewinnmaximierung immer wichtiger, sei es durch Expansion auf bislang unerschlossenen Märkten, sei es zur Einsparung von (Lohn-) Kosten durch Produktionsverlagerungen.

Zum anderen nimmt das überschüssige Kapital in dem schnell wachsenden Sektor der internationalen Finanzinvestitionen Zuflucht (Spekulation und Kreditgeschäfte). Auch wenn es dort eine außerordentliche internationale Mobilität (mit exorbitanten Akkumulationsraten) entwickelt und zu einer »Spaltung des Finanzsektors« in ein nichtstaatliches und ein mit den nationalen Ökonomien verflochtenes Segment geführt hat, bleibt es doch, wie der Hamburger Ökonom Joachim Bischoff argumentiert, „auf die Rückverwandlung in gesamtwirtschaftliche Verwertungszusammenhänge der diversen Nationalkapitale angewiesen“.6

Zur Krisentendenz des heutigen Finanzsystems

Viele Merkmale der empirischen Entwicklung sprechen für die u.a. von Rudolf Hickel vertretene These, dass wir es bei der Internationalisierung der Finanzmärkte mit einem Quantensprung zu tun haben, aus dem sich beträchtliche Gefahren für Produktion und Arbeitsplätze ergeben.7 Seit Ende der 70er Jahre und einhergehend mit der Durchsetzung einschlägiger Maßnahmen der Kapitalmarktliberalisierung, sind die Kapitalmärkte in der Tat geradezu explodiert. Wie die verfügbaren empirischen Daten zeigen, hat sich der Devisenumsatz allein zwischen Ende der 70er und Ende der 80er Jahre mehr als verzehnfacht; die Expansion hielt aber auch in den 90er Jahren mit unvermindert hohem Tempo an. Eine Gegenüberstellung der Umsätze an den internationalen Finanzmärkten mit den Umsätzen im Welthandel macht deutlich, dass tatsächlich lediglich ein Bruchteil der Finanzumsätze erforderlich wäre, um den internationalen Handel zu finanzieren. Nach den zuletzt verfügbaren Angaben für Anfang 1995 betrug der im Handel mit den sog. Finanzderivaten sowie mit Devisen- und Zinsdifferenzgeschäften erzielte Umsatz nahezu zwei Billionen US-Dollar täglich – gegenüber noch rund einer Billion vor etwa zwei Jahren (zwei Billionen, das ist eine Zahl mit zwölf Nullen: 2.000.000.000.000). Davon wurden am Stichtag 1,1 Billionen offiziell an den Börsen und 839 Milliarden im sogenannten Freiverkehr (OTC) gehandelt – in der Tat eine beeindruckende Summe.8

Verbunden mit dieser internationalen Aufblähung des Finanzsektors ist die Entstehung einer internationalen »Rentiers-Klasse«, also einer gesellschaftlichen Gruppe, die im wesentlichen von der Verzinsung ihres Geldvermögens leben, woraus sich ihrerseits wachsende Ansprüche an die Politik entwickeln: „Mit den Geldvermögensbesitzern“, schreibt Elmar Altvater, „ist neben Lohnarbeit und Kapital eine (neue) Klasse entstanden, die im wesentlichen von Zinseinkünften lebt. Der Anteil der Vermögenseinkommen an den Einkommen aus Unternehmertätigkeit ist in der Bundesrepublik von 7% im Jahre 1960 über 41% in 1980 auf 50% in 1990 angestiegen. Mehr als 10% der Einnahmen der öffentlichen Haushalte gehen inzwischen für Zinszahlungen an Geldvermögensbesitzer drauf.“9 Die beiden englischen Theoretiker James Crotty und Gerald Epstein interpretieren diese Entwicklung als Neuauflage der Allianz einer erstarkten Rentiers-Klasse mit dem Industriekapital bei Dominanz ersterer. Das erste Anzeichen für ihr Erstarken sei die Entstehung des Euro-Dollarmarkts seit den 60er Jahren am Finanzplatz London gewesen; er gestattete Banken und Industriekapitalen gleichermaßen den Zugang zu Marktkapital, ohne die Zahlungsbilanz der USA zu belasten. Mit ihm entschwand das »Gespenst der Globalisierung« aus der Flasche und machte sich in Form der neoliberalen Deregulierungspolitik in der 70er und 80er Jahren überall an die Arbeit.10

Die Tendenz zur »Monetarisierung« ist zugleich selbst noch als Ausdruck und Modus eines kapitalistischen Krisenmanagements zu begreifen, das allerdings keine Lösung der Krise bedeutet, sondern diese in ziemlich weite Ferne rückt.11 Den neuen Dimensionen der Finanzmarktentwicklung sind destabilisierende Rückwirkungen eigen, die in wachsendem Maße die gesamtwirtschaftliche Entwicklung gefährden. Zwar sind die modernen Finanzgeschäfte zum Teil eine notwendige Folge der zunehmenden Währungsschwankungen, die Absicherungsgeschäfte (z.B. hedging) in größerem Ausmaß erforderlich machen als zur Zeit fixer Wechselkurse. Unabweisbar ist jedoch, dass mit der Zeit aus dem Risikoschutz eine Vermehrung von Risiken geworden ist. Schon Karl Marx schrieb (im 3. Band des Kapitals): „Der Marktwert dieser Papiere ist zum Teil spekulativ, da er nicht nur durch die wirkliche Einnahme, sondern durch die erwartete, vorweg berechnete bestimmt ist.“12

So hat sich denn die Entwicklung der Finanzmärkte von heute als eine ausgesprochen janusköpfige Angelegenheit herausgestellt: „Derivate ermöglichen nicht nur eine bessere Verteilung der Risiken, sie sind selbst zum Grund von spekulativen Entwicklungen geworden und tragen zum Überschießen der Anpassungsprozesse auf den Finanzmärkten bei. Der Gedanke ist nicht mehr wegzuwischen, dass die Derivate ein Gewicht erreicht haben, das zu einer weiteren Gefährdung der Weltfinanzen führt. So heißt es in einer Kapitalmarktstudie der G-10-Notenbankchefs: »So willkommen das Wachstum der internationalen Finanzmärkte im Hinblick auf ihre Größe, Integration und Beweglichkeit gesamtwirtschaftlich auch sein mag, so hat es doch zu einem Anwachsen des Drucks geführt, der auf einen Wechselkurs ausgeübt werden kann, wenn sich die Stimmung ändert.«“13

Was dies im einzelnen konkret bedeuten kann, zeigte sich in der mexikanischen Pesokrise Ende 1994/Anfang 1995, die die G-7-Chefs und den IWF fast zwei Jahre lang in Atem hielt und zu einer »fieberhaften Suche« (FT) nach geeigneten Daten für ein Frühwarnsystem führte, um aktuelle und künftige Finanzkrisen einzudämmen – wie man heute weiß, ohne Erfolg. Inzwischen ist die Mexikokrise in ihrer Dimension und internationalen Bedeutung durch die Asienkrise weit übertroffen worden. Dies hat sich nicht zuletzt im Umfang der Finanzmittel niedergeschlagen, die in kürzester Zeit zu ihrer Bewältigung aufgebracht wurden und die die Dimension der mexikanischen »Rettungsaktion« bei weitem übertreffen.

Ein neues Bretton Woods als Alternative?

Seit der Mexikokrise und verstärkt noch seit dem Ausbruch der Asienkrise im Sommer 1997 wurde eine Fülle von Maßnahmen erwogen oder beschlossen, mit denen den zunehmenden Erschütterungen im internationalen Finanzsystem begegnet werden sollte. Doch keine dieser Maßnahmen zielte auf die Beseitigung der von den Finanzmärkten ausgehenden Destabilisierungsgefahren bzw. auf die Bekämpfung der Ursachen der Krise, die in der hohen Volatilität des Geldkapitals auf den internationalen Finanzmärkte liegen. Finanzielle Interventionen nach Art der bail-outs für Mexiko oder die asiatischen Krisenländer fanden immer erst dann statt, wenn die Krise offen ausgebrochen war und nicht mehr vertuscht werden konnte. Die Finanzmittel, die für dieses ex-post-Krisenmanagement erforderlich sind, – wenn man so will: die Kosten der Systemstabilsierung – werden immer höher, während der Erfolg ihres Einsatzes umstritten bleibt.14

Auch bessere Informationssysteme, eine andere Ebene, auf die sich die offiziellen Anstrengungen konzentrierten, können Krisen grundsätzlich allenfalls abkürzen oder in ihrem Verlauf abmildern. Die diesbezüglichen Bemühungen zielen bislang zudem ausschließlich auf die makro-ökonomische Politik der Länder und gehen davon aus, dass den internationalen Finanzmärkten die Rolle eines legitimen »Abstrafungs- und Disziplinierungsmechanismus« gegenüber den Ländern zukommt. Dabei haben selbst die exzellentesten Informationssysteme keine per se spekulationsvermeidende Wirkung: Sie verschieben lediglich den Zeitpunkt, an dem die spekulativen Blasen platzen und die Herde der Spekulanten in einer Richtung davon läuft.

So notwendig und unumstritten eine Verbesserung des Aufsichtswesens im Bankensektor der Krisenländer ist, um die Banken vom Eingehen außergewöhnlicher Risiken abzuhalten, so unzureichend ist dies: Weder kann sich ein Land ohne zusätzliche aussenwirtschaftliche Steuerungsmöglichkeiten (z.B. Kapitalverkehrskontrollen) gegen die negativen Auswirkungen übermäßiger Kapitalzuflüsse aus dem Ausland schützen, noch greift die interne Bankenaufsicht, wenn (wie in den Krisenländern Asiens der Fall) die Industriekonzerne direkt zur Kreditaufnahme im Ausland übergehen können.15

Einige der derzeit diskutierten oder eingeleiteten Schritte waren zudem eher zur Programmierung künftiger Krisen als zu ihrer Verhinderung geeignet. So sollte dem IWF – trotz Erfahrungen der Asienkrise – das zusätzliche Mandat zugesprochen werden, auf die schrittweise Beseitigung nationaler Kapitalverkehrskontrollen, also die weitere Deregulierung der Finanzmärkte, zu drängen (capital account liberalisation). Dies mutete so an, als wollte man die Krankheit mit demselben Mittel bekämpfen, das maßgeblich zu ihrem Ausbruch beigetragen hat.16

Zu lange bestand die in den G7-Ländern vorherrschende Reaktionsweise darin, die potentiellen Vorteile »freier« internationaler Kapitalmärkte zu loben, statt deren Regulierungsdefizite ins Visier zu nehmen. Nicht zuletzt deshalb ist der IWF zu Recht ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Für ihn stellte sich die Asienkrise als »goldene Gelegenheit« dar, sein eigenes Machtpotential weiter zu stärken und seine neoliberalen Standard-Rezepturen auch in solchen Ländern durchzusetzen, die bis dahin einen eigenen und eigenständigen wirtschaftspolitischen Kurs verfolgt haben:

  • Statt sich auf die kurzfristige Überbrückung von Zahlungsproblemen und eine schnelle Stabilisierung der Situation zu konzentrieren, hat der IWF die Bereitstellung von Finanzmitteln mit makro-ökonomischen »Reformprogrammen« verknüpft, deren rezessiver Charakter zu einer Verschärfung der Krise beigetragen hat.
  • Statt dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Krise vor allem Ausdruck eines Versagens der in- und ausländischen Märkte ist, wurden die Regierungen zu einschneidenden wirtschaftspolitischen Kursveränderungen gezwungen (Importliberalisierung, Privatisierung, Zulassung von Auslandskapital in bis dahin Einheimischen vorbehaltenen Industriezweigen, Zulassung von ausländischen Banken im Finanzsektor).

Trotz (oder gerade wegen) dieser Unzulänglichkeiten hat die Asienkrise insgesamt ein neues Kapitel in der Diskussion um eine Re-Regulierung der Weltwirtschaft und insbesondere zur Stabilisierung und Reform des internationalen Finanzsystems aufgestoßen. Dazu mangelt es nicht an sinnvollen Vorschlägen. Ihre Umsetzung scheitert meistens nicht an mangelnder Praktikabilität, sondern an mangelndem politischen Willen. Ob es jedoch zu der von vielen Seiten geforderten »Neuen Internationalen Finanzarchitektur« kommt, muss als offen gelten. Neben dem objektiv bestehenden Problem- und Handlungsdruck kann nicht übersehen werden, wie stark die Interessen und wie tief verankert die (neoliberale) Ideologie sind, die den Widerstand gegen fundamentale Reformen des internationalen Finanzsystems speisen und am Leben erhalten.

Angesichts der bislang praktizierten Politik der Ergebenheit gegenüber den Kapitalmärkten nehmen sich einige Vorschläge zur Re-Regulierung des internationalen Finanzsystems, die derzeit zur Diskussion stehen, geradezu wohltuend aus. So plädiert die französische Regierung für die partielle Rückkehr zu Kapitalverkehrskontrollen. Der neue deutsche Finanzminister Lafontaine hält die Einrichtung von währungspolitischen Zielzonen für ein geeignetes Mittel zur Stabilisierung des Finanzsystems. Der britische Premier Blair ist hingegen vor allem für eine Effektivierung und Stärkung des Internationalen Währungsfonds.

Die Crux besteht freilich gerade darin, dass zwei sehr unterschiedliche Aufgaben fast gleichzeitig erledigt werden müssen: effektive Feuerwehraktionen, um eine weitere Ausbreitung der aktuellen Krisen zu stoppen, und eine gründliche und radikale Neudefinition der Rolle der internationalen Finanzinstitutionen, insbesondere des IWF. Gerade im Bereich des IWF sind die bisherigen Vorschläge von offizieller Seite jedoch besonders dürftig.

Wie bereits angedeutet, müssen die aktuellen Reformvorschläge letztlich daran gemessen werden, ob sie sich auf die Bekämpfung der Ursachen der Finanzkrisen, die in der hohen Volatilität des Geldkapitals zu suchen sind, konzentrieren oder aber ob sie lediglich auf eine modifizierte Fortschreibung des bisherigen Krisenmanagements hinauslaufen. Von zentraler Bedeutung dürften zunächst die folgenden vier Maßnahmekomplexe sein:

  • Wenn Länder sich gegen den Aufbau spekulativer Blasen wirklich schützen wollen, muss ihnen ermöglicht werden, im Zweifelsfall auf Kapitalverkehrskontrollen zurückzugreifen. Es wäre besonders verhängnisvoll, wenn man – wie geplant – dem IWF auch noch das Mandat zur Durchsetzung der völligen Liberalisierung des Kapitalverkehrs gäbe.
  • Nach wie vor gibt es starke Argumente für die Besteuerung grenzüberschreitender Kapitalflüsse (Tobin Tax), um das hohe Tempo internationaler Kapitalbewegungen zu entschleunigen und die kurzfristige Arbitrage-Spekulation zu entmutigen.
  • Bis auf weiteres werden kurzfristige Umschuldungen und zügige Entschuldungsmaßnahmen notwendig sein. Diese dürfen jedoch nicht wie bisher mit den neoliberalen Auflagen der IWF-Strukturanpassungspolitik verknüpft werden, sondern müssen schnell und unbürokratisch erfolgen.
  • Für bestimmte Fälle bedarf es darüber hinaus eines internationalen Insolvenzmechanismus, um überschuldeten Ländern einen wirtschaftlichen Neuanfang zu ermöglichen.

Vieles läuft angesichts der aktuellen Finanzkrisen auf das Projekt eines »neuen Bretton Woods« hinaus.17 Entscheidend wird jedoch sein, ob ein solches Abkommen unter gleichberechtigter Teilnahme aller Betroffenen oder in einem undemokratischen und exklusiven Club wie den G7 oder G8 ausgehandelt werden wird. Entscheidend wird ferner sein, ob ein solches Abkommen gleiche Regeln für Gläubiger und Schuldner festlegt oder ob die bisherige Asymmetrie, die stets einseitig die (privaten) Gläubiger bevorzugte, beibehalten wird.

Der IWF steht in diesem Zusammenhang für ein veraltetes System, das – wenn überhaupt – nur auf Kosten der schwächeren Glieder der Weltwirtschaft funktionierte. Sicher wären vom Fonds mehr Transparenz bei der Durchführung seiner Operationen oder eine Aufwertung der Position von armen und Schwellenländern zu verlangen. Dennoch lassen sich die grundlegenden Zweifel an der Reformierbarkeit des IWF – gerade angesichts seines Agierens in den jüngsten Finanzkrisen – wahrscheinlich nicht ausräumen. Sollte der IWF also schlicht abgeschafft werden, wie heute selbst Vertreter des wirtschaftspolitischen Mainstreams häufig fordern?

Es wäre kein Fehler, den IWF selber »gesundzuschrumpfen«, wie seine Vertreter regelmäßig von den krisengebeutelten Ländern fordern. Dennoch wäre es der falsche Weg, ihm einfach neue Finanzmittel oder die Weiterfinanzierung schlechthin zu verweigern, wie es bis vor kurzem die Rechte im US-Kongreß versucht hat. Dies verkennt den Liquiditätsbedarf, den es angesichts der Steuerungserfordernisse in der Weltwirtschaft gibt. Auf der anderen Seite wäre jedoch auch eine finanzielle Bestandsgarantie für den IWF nicht angemessen.

Nichtregierungsorganisationen wie WEED (Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung) haben deshalb anläßlich der Jahrestagung der Bretton-Woods-Institutionen im Oktober 1998 die Auflösung des IWF in ein System dezentraler Regionalfonds ins Gespräch gebracht.18 Dies wäre den Regionalisierungstendenzen der Weltwirtschaft angemessener als ein zentralistischer Moloch. Regionalfonds könnten den Interessen der einzelnen Länder mehr Berücksichtigung schenken und darüber hinaus flexibler als die derzeitigen Mechanismen auf Krisentendenzen reagieren.

Ganz verschwinden müßte der heutige IWF freilich nicht von der internationalen Bühne: Er könnte die Regionalfonds koordinieren und die Finanzmittel für sie aufbringen, und er könnte sich ansonsten zu einem politischen Mechanismus weiterentwickeln, der die wirtschafts- und finanzpolitische Zusammenarbeit der Mitgliedsländer organisiert. Letzteres ist übrigens auch eine Funktion, die die »Gründungsväter« dem Fonds zugedacht hatten, die er aber nie ausgefüllt hat. Wer künftig ausschließen will, dass sich das internationale Karussell der Finanzkrisen stets von neuem dreht, wird nicht zuletzt im Norden ansetzen müssen. Er wird die von hier aus agierenden Banken einer stärkeren internationalen Kontrolle unterwerfen, die Finanz- und Investitionsströme wieder verstärkt auf die Realökonomie orientieren und die Ökonomie insgesamt wieder dem Primat der Politik unterwerfen müssen.

Anmerkungen

1) Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine stark gekürzte und aktualisierte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser im Juni 1998 an der Universität Trier gehalten hat.

2) Zit. nach: Financial Times (FT), 24.4.1997.

3) Zur Problematik der Kapitalverkehrskontrollen siehe auch: Jörg Huffschmid, Kapitalverkehrskontrollen: Die Realität hinter der Rhetorik, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), 09/1998.

4) Vgl. dazu: Elmar Altvater, Die Weltwährungskrise, Frankfurt/M.-Wien 1969.

5) Vgl. dazu auch: Rainer Falk, Globalisierung, Weltmarktkonkurrenz und Abhängigkeit: Soziale Rutschbahn oder internationale Regulierung?, in: Kai-Eicker-Wolf u.a. (Hg.), Wirtschaftspolitik im theoretischen Vakuum? Zur Pathologie der Politischen Ökonomie, Marburg 1996, S. 205-233,

6) Joachim Bischoff, Globalisierung. Zur Analyse des Strukturwandels der Weltwirtschaft, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Nr. 1/1996,
S. 7.

7) Vgl. Rudolf Hickel, Globalisierung der Finanzmärkte, in: IMSF (Hg.), Internationalisierung, Finanzkapital, Maastricht II, Frankfurt/M. 1996.

8) Vgl. The Economist, 13.1.1996.

9) Elmar Altvater, Wettlauf ohne Sieger. Politische Gestaltung im Zeitalter der Geo-Ökonomie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 2/195, S. 192-202, hier: S. 199.

10) Vgl. James Crotty/Gerald Epstein, In Defense of Capital Controls, in: Leo Panitch (ed.), Socialist Register 1996 (Are There Alternatives?), Merlin Press: London 1996, S. 118-149; bes.
S. 122ff.

11) Vgl. Samir Amin, Die Zukunft des Weltsystems. Herausforderungen der Globalisierung, Hamburg 1997, S. 53ff.

12) Karl Marx, Das Kapital, 3. Band, MEW 25,
S. 485.

13) Joachim Bischoff, Globalisierung, a.a.O., S. 27f.

14) Einen etwas anderen Akzent wollte man offensichtlich mit dem jüngsten Hilfspaket für Brasilien setzen, das bewußt schon vor dem Ausbruch der Krise geschnürt wurde. Allerdings konnte auch dieser eher präventiv gedachte Ansatz den Ausbruch einer Finanzkrise (mit einer Währungsabwertung des Real von inzwischen 40%) nicht verhindern.

15) Vgl. dazu vor allem: UNCTAD (ed.), Trade & Development Report 1998: Financial Instability/Growth in Africa, Genf-New York 1998.

16) Inzwischen scheint der Vorschlag allerdings nicht mehr aktuell zu sein, da sich die Durchsetzungschancen angesichts der Dramatik der Asienkrise verringert haben.

17) Vgl. dazu auch: Dirk Messner, Ein »Neues Bretton Woods«. Ein Regelsystem für den Weltmarkt gehört auf die internationale Tagesordnung, in: Entwicklungs und Zusammenarbeit (E + Z), Nr. 12/1998.

18) Vgl. dazu auch: Heribert Dieter, Die Asienkrise. Ursachen, Konsequenzen und die Rolle des Internationalen Währungsfonds, Marburg 1998, S. 111ff.

Rainer Falk, Wirtschaftspublizist, ist verantwortlicher Redakteur des Informationsbriefs Weltwirtschaft und Entwicklung, Bonn.

Der IWF und Russland

Der IWF und Russland

von Roland Götz

Nachdem Russland 1992 Mitglied des IWF geworden war, erhielt es zunächst nur geringe Kredite im Gesamtumfang von 4 Mrd. US-Dollar. Erst nachdem die Zentralbank zu einer ausgeprägten Antiinflationspolitik übergegangen war und die direkte Kreditierung des Staatshaushaltes einstellte, wurden Russland in den Jahren 1995 bis 1997 weitere rund 17 Mrd. mittelfristige Kredite zugesagt. Mitte 1998 versuchte der IWF mit seinem Anteil von 11 Mrd. $ innerhalb eines Stützungsprogramms, an dem die Weltbank und Japan teilhatten, die sich zuspitzende Währungskrise abzufangen. Nach dem Regierungswechsel bemüht sich das Kabinett Primakow bislang vergeblich, die Auszahlung bereits bewilligter Mittel zu erreichen und legte zu diesem Zweck einen reichlich unrealistischen Haushaltsentwurf für 1999 vor. Gleichwohl ist es möglich, dass der IWF die erwünschten Mittel gewährt, um die Zahlungsunfähigkeit des Landes abzuwenden. Da die Vergabe von Krediten an Russland, dem noch jahrelange wirtschaftliche Stagnation droht, wirtschaftlich wenig Sinn ergibt, sollte über Alternativen nachgedacht werden. Dies gilt insbesondere für die mittelfristigen Kredite des IWF, die auf die Behebung vorübergehender Zahlungsbilanzschwierigkeiten gerichtet sind. Ein Schuldenerlass, die Einrichtung eines Währungsrates (Currency board) oder ein Hilfsprogramm ähnlich dem Marshallplan kommen in Frage, wobei jede dieser Alternativen ihre eigene Problematik aufweist.

Das postulierte Ziel des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist die Förderung der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Währungspolitik und die Förderung des Welthandels.1 Dieser hatte seine Aufgabe ursprünglich darin gesehen, Zahlungsbilanzdefizite zu überbrücken, die im System der festen Wechselkurse immer wieder auftreten konnten. Die Ursache dieser Zahlungsbilanzprobleme sah der IWF in einer zu großen Binnennachfrage, welche die Importe stark ansteigen ließ und die Exporte schmälerte, wenn die einheimischen Preise stärker als die Weltmarktpreise stiegen. Die Kredite des 1946 gegründeten IWF sollten dem Staat Luft verschaffen, um notwendige Ausgaben tätigen zu können, ohne den Kapitalmarkt zu stark zu belasten. Als Gegenleistung erwartete der Fonds, neben der pünktlichen Tilgung der ausgegebenen Kredite, die Verpflichtung der Regierung des Kreditnehmerlandes zu bestimmten wirtschaftspolitischen Maßnahmen, was »Konditionalität« genannt wird.

Das Engagement des IWF in Osteuropa

Schon 1982 war der IWF zu dem (allerdings fragwürdigen) Ergebnis gekommen, dass seine Empfehlungen für Planwirtschaften ebenso wie für Entwicklungsländer anwendbar seien. Umgekehrt begrüßten auch die ehemaligen sozialistischen Länder Ostmitteleuropas das Engagement des IWF, weil ihnen durch die Vorreiterrolle des Fonds die Tür zu langfristigen Krediten der Weltbank und privater Kreditgeber geöffnet und Umschuldungsverhandlungen erleichtert wurden. Nicht zuletzt deshalb erhofften sich die R_former in den Oststaaten die Unterstützung des IWF bei der Durchführung marktwirtschaftlicher Reformen. Die ersten Ergebnisse der Zusammenarbeit mit dem IWF waren aber nur teilweise ermutigend gewesen. Im Falle Rumäniens wurden die Kontakte sogar ganz abgebrochen, nachdem sich das Land zu den indirekten Steuerungsmitteln des IWF, die auf die Drosselung der Gesamtnachfrage hinausliefen, nicht bereit erklärte, sondern indirekte Importrestriktionen vorzog.

Als die Transformation der ehemaligen Planwirtschaften zu den Markt- und Geldwirtschaften anstand, stellte sich heraus, dass keine Strategie für deren Wirtschaftstransformation existierte.2 Auch der IWF machte hierbei keine Ausnahme, sondern empfahl, nachdrücklich unterstützt durch die in Aussicht gestellten Kredite, die Maßnahmen, die seiner auf Entwicklungsländer zugeschnittenen Konzeption entsprachen (»Standardmodell« bzw. »Washingtoner Konsens«).3 Es ergab sich, dass die Kredite und Ratschläge des IWF zwar im Baltikum und in Ostmitteleuropa, wo die Erinnerung an marktwirtschaftliche Traditionen und Institutionen sowie die Verbindung zum Westen noch vorhanden war, verhältnismäßig gute Resultate zeigten, jedoch nicht in den Kernländern der ehemaligen UdSSR (Russland, Ukraine, Weißrussland, Kasachstan), wo seit den dreißiger Jahren das sowjetische Modell der Wirtschaftslenkung alle anderen Formen wirtschaftlicher Betätigung verdrängt hatte.

Das Engagement des IWF in Russland bis 1997

Das Engagement des IWF in Russland begann, nachdem Russland im April 1992 Mitglied des Fonds geworden war, zunächst recht zögerlich. Erst im Juli 1992, also ein halbes Jahr nach Einsetzen der mit dem Namen Gaidar verknüpften Wirtschaftsreform, genehmigte der IWF einen Beistandskredit in Höhe von einer Mrd. US-$, der ab Jahresanfang 1993 zur Verfügung stehen sollte. Dies kontrastierte scharf mit den vollmundigen Versprechungen der G7-Staaten, die Jelzin auf ihrem Apriltreffen 1992 immerhin 25 Mrd. US-$ Wirtschaftshilfe in Aussicht gestellt hatten. Große wirtschaftliche Bedeutung hatten weder dieser erste Kredit noch die 1993 und 1994 gewährten Systemtransformationskredite im Umfang von jeweils 1,5 Mrd. US-$. Denn bis einschließlich 1994 besorgte sich die russische Regierung das im Staatshaushalt fehlende Geld bei der eigenen Zentralbank, die unter ihrem damaligen (und heutigen) Leiter Geratschenko gerne dazu bereit war, obwohl sie dadurch eine Hyperinflation auslöste. Die Bedeutung der IWF-Kredite lag vor allem in ihrer psychologischen Signalwirkung auf andere öffentliche und private Kreditgeber, weil sie das Vertrauen des IWF in die Unumkehrbarkeit der marktwirtschaftlichen Reform dokumentierten. Erst ab 1995, als die russische Wirtschaftspolitik dem Ziel der Preisstabilität Priorität eingeräumt hatte und zu einer marktkonformen Finanzierung seiner Budgetdefizite auf dem Kapitalmarkt übergegangen war, war der IWF zu höheren Krediten bereit. Im April 1995 wurden 6,8 Mrd. US-$ und im April 1996 weitere 10,1 Mrd. US-$ zugesagt. Zurückgezahlt hat Russland bislang nur rund 100 Mio. US-$ des ersten Kredits von 1993. Ab 1999 sind dann Tilgungs- und Zinszahlungen im Umfang von jährlich mehreren Milliarden US-$ zu leisten.

Russland und der IWF seit der Augustkrise 1998: Mission impossible?

Im Falle Russlands wie der anderen Transformationsländer sah sich der IWF dazu veranlasst, umfassende Ratschläge für die Durchführung reformpolitischer Maßnahmen zu machen und seine Kredite als Druckmittel einzusetzen. Dieses Zuckerbrot- und Peitschen- Spiel funktionierte aber im Falle Russlands nur in begrenztem Umfang, da der IWF auf Druck der USA keine allzu strengen Maßstäbe anlegen wollte, weil man „Russland nicht fallen lassen durfte.“ Besonders deutlich wurde dies 1996 im Vorfeld der russischen Präsidentschaftswahl, als die fälligen Kreditbeträge ausbezahlt wurden, obwohl der Staatshaushalt keineswegs in einer den IWF zufriedenstellenden Verfassung war; nach von Jelzin gewonnener Wahl wurde prompt die nächste fällige Kredittranche suspendiert. Dass die Hilfe des IWF in gewissen Phasen politisch motiviert war, wird nicht bestritten. Auf russischer Seite bemühte man sich, dem IWF zumindest formal entgegen zu kommen, indem die von diesem geforderten Reformschritte zugesagt wurden, man sich mit der Einhaltung der Versprechen jedoch Zeit ließ.

Im Zusammenhang mit dem Kredit von 1996 enthielt der Katalog des IWF mehr als 100 Punkte. Darunter war die Forderung nach einer Verschärfung des Gesetzes über Unternehmensbankrotte sowie die Weisung, Staatskredite nur noch auf dem Anleihemarkt zu hohen Zinsen aufzunehmen und keine direkte Kreditierung durch die Notenbank mehr zuzulassen; dies führte allerdings letztlich zu der Schuldenkrise des Jahres 1998, als der russische Staat nicht mehr in der Lage war, seine Rückzahlungsverpflichtungen durch Ausgabe neuer Staatsanleihen zu finanzieren. Nicht ganz zu Unrecht kommentierten dies die Journalisten mit den Worten: „Wozu brauchen wie eigentlich eine eigene Regierung?“

Als sich Mitte 1998 eine Währungskrise nach ostasiatischem Muster auch in Russland abzeichnete, beschlossen auf Druck der USA IWF, Weltbank und Japan eine Stützungsaktion für den Rubel, wofür insgesamt 17 Mrd. US-$ mobilisiert wurden. Der Anteil des IWF betrug 11 Mrd. US-$, wovon innerhalb weniger Tage 3,8 Mrd. US-$ auf dem Devisenmarkt ausgegeben wurden. Dann gab die Regierung Kirienko den Rubelkurs frei, was ihre Entlassung durch Präsident Jelzin zur Folge hatte. Seither weigerte sich der IWF, weitere Tranchen seines 1998 zugesagten Kredits auszuzahlen, was zur Folge hat, dass auch die von der Weltbank und Japan zugesagten Mittel eingefroren wurden. Russland wiederum ist auf die Kredite dringend angewiesen, da ansonsten die Deckung seines Budgetdefizits für 1999 nur durch inflationstreibende Geldemissionen möglich ist.

Von den 17,5 Mrd. US-$, die Russland im Jahre 1999 eigentlich für Zinsen und Tilgung von ausländischen Krediten aus dem Staatshaushalt aufbringen müsste, will es auf jeden Fall 4,6 Mrd. US-$ an den IWF bezahlen. Aber selbst dafür reichen die Staatseinnahmen nicht aus. So will die Regierung Primakow alles tun, um die Auszahlung der von IWF und Weltbank in Aussicht gestellten Kredittranche im Umfang von 4,5 Mrd. US-$ zu erreichen. Der IWF wiederum verlangt als Grundlage dafür die Verabschiedung eines »harten« Budgets, das eine niedrige Inflationsrate erwarten lässt, denn nur bei geringer Inflation kann der Rubelkurs vor dem Absturz bewahrt werden und damit auch die Rückzahlung der (auf Dollar lautenden) Auslandsschulden aus dem föderalen Budget erfolgen.

Prompt wurde von der Regierung ein optimistischer Budgetentwurf zurecht geschneidert. Das primäre Budget (d.h. ohne Berücksichtigung der Schuldentilgung) weist einen Überschuss in Höhe von 1,7% des für 1999 vorausgeschätzten Bruttoinlandsproduktes (BIP) aus, sowie ein Gesamtdefizit des föderalen Budgets in Höhe von 2,5% des BIP. Unter Einbeziehung der Schuldentilgung ergibt sich ein Emissionsbedarf von nur 32,7 Mrd. Rubel (rund 3,5 Mrd. DM). Die Inflation wird dem entsprechend für 1999 mit 30% angenommen (nach 80% in 1998), der Wechselkurs zu 21,5 Rubel pro Dollar angesetzt. Für das zweite Halbjahr 1999 wird bereits wieder ein Wirtschaftswachstum erwartet.

Doch darf dieses Budget getrost als nicht realistischer als die vorhergehenden bezeichnet werden: Bereits die von der russischen Regierung geplante Senkung der Steuersätze lässt Einnahmeausfälle wahrscheinlich werden; die im Budgetentwurf enthaltene Zunahme des Steueraufkommens von gegenwärtig 8-9% des BIP auf 12% des BIP wird wohl Illusion bleiben; die Emission wird somit weit mehr als den geplanten Umfang haben und entsprechend wird auch die Inflationsrate eher bei 100-200% als bei 30% liegen. Während der für 1999 vorgesehene Rubelkurs bereits Ende 1997 überschritten wurde, liegt ein Kursverfall auf 50 Rubel pro Dollar durchaus im Bereich des Möglichen. Damit würde erneut monetäre Instabilität drohen, die jegliche Aussichten auf Wirtschaftswachstum hinfällig werden ließe. Das von der Duma in erster Lesung (nach Rücktrittsdrohungen Primakows) angenommene Budget für 1999 hat offenbar das Ziel, dem IWF die Entscheidung für die Mittelfreigabe möglichst leicht zu machen. Hierbei wird von seiten der russischen Regierung in der Sache genau die Politik weiterverfolgt, die man den vorhergehenden Regierungen Tschernomyrdin und Kirienko ankreidete; auch der IWF wird, wenn er auf dieses Spiel eingeht, seinen Kurs der Unterstützung Russlands beibehalten, um die völlige internationale Zahlungsunfähigkeit des Landes zu vermeiden.

Alternativen zum IWF?

Ob die Kreditierung einer Volkswirtschaft, deren gesamtwirtschaftliche Leistung Jahr für Jahr abnimmt, sinnvoll ist, kann grundsätzlich bezweifelt werden. Zwar kann der IWF auch dann von der fristgerechten Verzinsung und Tilgung seiner Kredite ausgehen (selbst wenn der russische Staat dafür weitere Krediten aufnehmen muss), doch geschieht dies unter Hintansetzung anderer wichtiger Staatsaufgaben. Wenn auch keine Einigung unter den Experten darüber bestehen dürfte, ob und warum das Konzept des IWF in Russland gescheitert ist, hat es doch offenbar seine Grenzen erreicht und die Frage stellt sich, wie es weitergehen soll.

Schuldenerlass

Wenn sich die wirtschaftliche Lage Russlands 1999 nicht bessert, könnte auch für dieses Land ein letztes Mittel erwogen werden müssen, das sonst nur bei den ärmsten oder von Naturkatastrophen heimgesuchten Ländern in Frage kommt: der Schuldenerlass (für die Altschulden der UdSSR bzw. die seit 1992 aufgehäuften staatlichen Schulden Russlands). Ob sich dem dann, entgegen seinen Grundsätzen, auch der IWF anschließen würde, muss allerdings offen bleiben. (Immerhin will der Fonds gegenüber Nicaragua und Honduras auf 80% seiner Forderungen verzichten.) Für einen Schuldenerlass, der das Föderationsbudget Russlands erheblich entlasten würde, spricht aus westlicher Sicht, dass die Eintreibung der russischen Staatsschulden in den nächsten Jahren faktisch ausgeschlossen ist und bestenfalls mit dem Arrest der russischen Auslandsguthaben enden würde. Für einen Schuldenerlass müssen aber bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden. Es muss gewährleistet sein, dass eine Entschuldung nicht einer erneuten Fehlentwicklung Vorschub leistet, indem der Krediterpressung eine neue Tür geöffnet wird. Da die Notwendigkeit eines Schuldenerlasses – außer im Falle von Naturkatastrophen – nicht nur der bisherigen Politik des Schuldners, sondern auch derjenigen der Kreditgeber ein vernichtendes Zeugnis ausstellt, sollte außerdem damit eine radikale öffentliche Selbstkritik sowohl Russlands als auch der internationalen Kreditgeber verbunden werden.4

Currency board

Wenn auf neue Kredite, außer zur Ablösung alter, verzichtet werden soll, so stellt sich die Frage, wie die Stabilität der russischen Währung künftig gesichert werden soll, die durch den niedrigen Erdölpreis und die damit verbundene negative Handelsbilanz gefährdet ist. Zwar verlangt ein völlig flexibler Wechselkurs keine Devisenstützung, doch ist damit im Falle einer starken Abwertung der »Import« von Inflation verbunden, da sich die Verteuerung der Importe auf das heimische Preisniveau auswirkt. Als radikale Maßnahme bietet sich die Einführung eines »Währungsrates« (currency board) an, wie er z.B. in Bulgarien, Estland und Litauen besteht. In diesem System wird die eigene Währung, hier der Rubel, gesetzlich an
einer andere Währung (oder einen Währungskorb) gebunden. Zwar sind die rein »technischen« Fragen eines derartigen Währungsrates für Russland lösbar, offen muss allerdings bleiben, ob Russland die damit verbundene Aufgabe seiner geldpolitischen Souveränität langfristig durchhalten kann und will. Es bedürfte schon einer drastischen Kehrtwendung der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzpolitik, wenn mit dem Währungsrat ein geldpolitisches Regime installiert würde, das noch weit rigider ist als der viel gescholtene angeblich monetaristische Kurs der dem Kabinett Primakow vorausgegangenen Regierungen.

Ein neuer Marshall-Plan?

Die weitere Unterstützung Russlands könnte sich, wenn von Auslandskrediten abgegangen werden sollte, das Modell des Marshall-Plans (European Recovery Plan, ERP) zum Vorbild nehmen, wobei 90% der Hilfen aus nicht rückzahlbaren Übertragungen bestand. Dabei wurden keine Devisen transferiert, sondern die Hilfslieferungen wurden vom Geberland (damals waren es nur die USA) direkt an die Exporteure bezahlt, während die Importeure in den Empfängerländern einen Gegenwert in einen nationalen Fonds (ERP-Sondervermögen) entrichteten, der im Lande verbliebe und später zur Finanzierung von Investitionen diente (Wiederaufbaudarlehen). Dieses Modell vermeidet sowohl den Begehrlichkeit weckenden Zufluss von Dollarmilliarden (die weithin das Land als Fluchtkapital wieder verlassen), als auch das Jahre später unter unvorhersehbaren außenwirtschaftlichen Bedingungen auftretende Problem des Rücktransfers fremder Währungen. Praktisch würde eine derartige Hilfskonzeption allerdings eine präzise Zusammenarbeit zwischen Geber- und Empfängerland bei der Ausführung von Hilfslieferungen und damit einen bürokratischen Aufwand erfordern, bei dem sich fragen lässt, ob er gegenwärtig von den Geberländern gewünscht und von Russland zu leisten ist. Wie die IWF-Kredite war auch die Marshallplanhilfe an Konditionen geknüpft und schon damals waren Probleme bei deren Einhaltung aufgetreten.

Als Fazit ist festzuhalten, dass der IWF, wie auch die Weltbank und die anderen internationalen Finanzinstitutionen, nur in begrenztem Umfang zur Hilfestellung bei der Transformation der russischen Wirtschaft in der Lage war. Er musste voraussetzen, dass ein großer Teil der Reformarbeit außerhalb seiner Zuständigkeit vollbracht wurde. Da dies nicht der Fall war, konnte auch die Kreditvergabe durch den IWF einen Erfolg der Wirtschaftsreformen in Russland nicht garantieren. Ebenso stellen auch die oben diskutierten Möglichkeiten keine Allheilmittel dar, sondern erfordern die Einbettung in einen Gesamtzusammenhang reformerischer Maßnahmen.

Anmerkungen

1) Zu einer nicht auf Russland bezogenen kritischen Beurteilung des IWF siehe z. B. Peter Körner u.a.: Im Teufelskreis der Verschuldung, Der Internationale Währungsfonds und die Dritte Welt, Hamburg, 1984.

2) Zum gegenwärtigen Transformationsprozess in Russland siehe auch Roland Götz: Von der Abwertung des Rubels zum Macht-, Programm- und Politikwechsel in Russland, in: Osteuropa, 1/1999.

3) Der Begriff »Washingtoner Konsens« bezog sich ursprünglich auf ein Abkommen zwischen IWF und Weltbank über die Abgrenzung der Zuständigkeiten, wird aber heute zur Bezeichnung der allgemeinen Grundsätze der makroökonomischen Strategie der internationalen Finanzinstitutionen benutzt. Siehe Marie Lvigne: Die Rolle der G7-Staaten und der internationalen Finanzorganisationen bei der Wirtschaftstransformation Mittel- und Osteuropas, in : BIOst (Hg): Der Osten Europas im Prozess der Differenzierung, München 1997, S. 300-312.

4) Renate Wilke-Launer: Vorsicht Entschuldungsfalle!, in: Der Überblick, 4/1998, S. 2-3.

Dr. Roland Götz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln.

Wirtschaft unter Wachstumszwang?

Wirtschaft unter Wachstumszwang?

von Hans-Jürgen Fischbeck

Das Stabilitätsgesetz der Bundesrepublik von 1967 verpflichtet die Wirtschafts- und Haushaltspolitik des Bundes, für ein stetiges reales Wirtschaftswachstum zu sorgen. Prinzipiell ist in einer endlichen Welt ein stetiges (immerwährendes) Wirtschaftswachstum nicht möglich. Noch mehr gilt dies für ein Wachstum mit (mehr oder weniger) konstanter prozentualer Wachstumsrate, das allgemein als erforderlich angesehen und angestrebt wird, obwohl ein solches exponentielles Wachstum gleichbleibende Verdoppelungsraten bedeutet. Deshalb enthält das Stabilitätsgesetz einen fundamentalen Widerspruch: Etwas ständig Wachsendes kann nach elementaren Naturgesetzen nicht stabil bleiben.

Das Stabilitätsgesetz der Bundesrepublik Deutschland meint freilich eine Stabilität anderer Art, nämlich strukturelle Stabilität, d.h. die Stabilität von Strukturen, die ständiges Wachstum produzieren. Andererseits versteht es sich von selbst, dass diese Wachstumsstrukturen nur so lange stabil bleiben können, wie Wachstum möglich ist und die »Grenzen des Wachstums« noch nicht erreicht sind. Sie sind freilich insofern schon längst erreicht, als der Wohlstand der »Wachstumsökonomien« des Westens prinzipiell nicht allen zugänglich gemacht werden kann, da sonst die endlichen Ressourcen erschöpft werden und die Ökosphäre ruiniert wird. Er kann nur aufrecht erhalten werden, indem es der großen Mehrheit der Weltbevölkerung vorenthalten wird. Diese Exklusion wird durch die Abschottung der Wohlstandsinseln gegen die Armutsmigration (Asylkompromiss) und militärisch durch die neue NATO-Strategie zur Aufrechterhaltung der »Stabilität« und des Zugangs zu »strategischen Rohstoffen« befestigt, denn die Wohlstandsregionen mit etwa 16 % der Weltbevölkerung benötigen für ihr Wirtschaftswachstum ca. 80 % der Welt-Ressourcen.

Auf die fundamentale ökologische und weltpolitische Unzuträglichkeit des Wirtschaftswachstums hat Kurt Biedenkopf wiederholt hingewiesen. Zugleich hat er das Dilemma klar erkannt, dass die »strukturelle Stabilität« unseres Systems die eigentliche Begrenzungs- und Ungerechtigkeits-Instabilität programmiert. Er sagt 1: „Ich sehe voraus, dass sich unsere moderne westeuropäische Entwicklung einem vergleichbaren Konflikt2 nähert. Das politische System unseres Landes beruht auf Annahmen, die mit der Lebenswirklichkeit nicht länger vereinbar sind; auf der Annahme nämlich, dass ein stetes exponentielles Wachstum der materiell verfügbaren Ressourcen, des materiellen Bruttosozialproduktes, dauerhaft möglich ist. Sämtliche seiner wesentlichen Grundlagen, Strukturen, Verhaltensweisen und Erwartungen sind durch diese Annahme inhaltlich geprägt. Sein Geldsystem und die Marktwerte der Güter- und Dienstleistungen beruhen auf ihr. Es sieht seine Legitimation durch die Zustimmung seiner Bürger zur demokratischen Ordnung und zum Parteienstaat nur unter der Bedingung eines stetigen und angemessenen Wirtschaftswachstums gesichert. Stetiges und exponentielles Wirtschaftswachstum und Machterhaltung im bestehenden politischen System bedingen einander. Wer die Möglichkeit dauerhaften exponentiellen Wachstums leugnet, gefährdet deshalb das gegenwärtig reale demokratische Herrschaftssystem ebenso wie die Beweise Galileis das damalige Herrschaftssystem der Kirche gefährdeten.“

Qualitatives Wachstum als Ausweg?

Das Wachstumsdilemma wird natürlich nicht erst heute gesehen. Meist wird jedoch versucht, ihm mit der Forderung zu entkommen, quantitatives Wachstum müsse mehr und mehr in sogenanntes qualitatives Wachstum übergehen. Das Wachstum des Produktionssektors müsse abgelöst werden durch das Wachstum des Dienstleistungssektors, der Ressourcen und Umwelt nicht notwendig proportional belasten muss. Tatsächlich hat der Anteil dieses Sektors am BSP beträchtlich zugenommen. Eine Lösung des Dilemmas ist dies jedoch nicht, denn der Dienstleistungssektor kann nur wachsen, wenn er einen wachsenden Produktionssektor bedient, eben damit dieser noch besser wachsen kann. Zudem ist auch im Dienstleistungsbereich ein ständig steigender Kapitaleinsatz und Ressourcenverbrauch zu beobachten.

An Forderungen, die Wachstumsideologie aufzugeben, und an Appellen, zu einem bescheideneren Lebensstil zurückzukehren, fehlt es nicht. Sie werden immer häufiger und drängender erhoben, übersehen aber fast immer, dass es nicht eine Sache des guten Willens ist, vom Wachstum Abstand zu nehmen. Wachstum ist nicht nur eine Ideologie, von der man sich befreien kann, sondern auch ein systemischer Zwang.

Marktwirtschaft und Kapital

Wäre Wachstum ein Zwang der Marktwirtschaft als solcher, so gäbe es keine Alternative, denn die strukturelle Alternative zur Marktwirtschaft ist die Planwirtschaft, die die dezentrale Selbstregulation der Wirtschaft durch die zentralistische Allmacht einer Einparteien-Hierarchie zu ersetzen versucht hat. Sie ist historisch mit dem sogenannten Staatssozialismus gescheitert. Somit ist in einer auf Arbeitsteilung beruhenden Wirtschaft ein marktförmiger Austausch zwischen selbständigen Wirtschaftssubjekten, der sich durch Angebot und Nachfrage selbst regelt, unumgänglich. Dieser multilaterale Austausch wird durch Geld als Wertäquivalent für Waren und Dienstleistungen ermöglicht. Der bloße Austausch von Waren und Dienstleistungen, deren monetäre Wertäquivalente sich durch Angebot und Nachfrage konkurrierender Wirtschaftssubjekte einstellen, erzeugt aber noch keinen Wachstumszwang.

Wachstumszwang als solcher entsteht erst in einer bestimmten Form der Marktwirtschaft, die allerdings derzeit so dominiert, dass sie weithin als die Marktwirtschaft schlechthin und somit unausgesprochen als die einzig mögliche angesehen wird. Diese Form der Marktwirtschaft kann als »kapitalistisch« bezeichnet werden, sofern damit die bestimmende Rolle des knapp gehaltenen, unter Rentabilitätszwang stehenden Kapitals indiziert wird.

Zu unterscheiden sind Geldkapital, Grund und Boden sowie Anlagenkapital und sog. geistiges Kapital oder intellectual property. Charakteristisch ist, dass aus Kapitalbesitz leistungslose Einkommen erzielt werden. Einkommen, die den Besitzenden permanent von den Arbeitenden her zufließen. Dies sei hier kurz an der beherrschenden Form des Geldkapitals aufgezeigt.

Geldkapital hat den Vorteil der Universalität und Liquidität. Es kann da eingesetzt (angelegt) werden, wo es die höchsten Renditen verspricht. Diesen Vorteil gibt man auf, wenn man liquides Kapital durch Verleihen anlegt, und läßt sich das bezahlen – durch Zinsen. Genauer gesagt ist die Liquiditätsverzichtsprämie nur ein Anteil des nominalen Zinses. Dazu kommen noch eine Risikoprämie und als Sockel die Inflationsrate. Empirisch liegt der Mindestzinssatz bei Null-Inflation auf dem Kapitalmarkt bei etwa 6%. Sinkt er darunter, wird das Geldangebot zögerlicher. Die Kapitalgeber beginnen dann damit, den Liquiditätsvorteil höher zu schätzen und Geld auf Girokonten und in barer Form verstärkt zurückzuhalten (zu verknappen), was ein weiteres Sinken des Zinssatzes verhindert und ihn schließlich wieder steigen läßt.

Die Zinseinkünfte aus dem Liquiditäts- und Universalitätsvorteil der Geldvermögen führen dazu, dass ca. 90% aller Haushalte Netto-Zinsverluste zugunsten der 10% Wohlhabenden erleiden. Weil Fremdkapitalkosten (d. h. Zinsen) auf die Preise umgelegt werden, sind in allen Preisen Zinsanteile von 30-40% enthalten, die jeder zahlen muss. Bei 90% der Haushalte ist dies mehr als die eigenen Zinseinkünfte aus Bankguthaben und anderen Kapitalien ausmachen. Dies ist eine immerwährende und automatische Umverteilung der Einkommen von denen, die sie vorwiegend für eigene Arbeitsleistung erhalten, zu denen, die sie vorwiegend aus Besitztiteln ziehen.

Diese fundamentale Ungerechtigkeit wiederholt sich auf makroökonomischer Ebene zwischen den armen und reichen Ländern. Sie trägt den Namen Schuldenkrise und führte zur Umkehr des Kapitaltransfers. Es fließt mehr Kapital aus dem Süden in den Norden als umgekehrt.

Leistungslose Einkommen, also solche, die aus bloßen Besitztiteln fließen und nicht aus Arbeitsleistung stammen, können unter drei Gesichtspunkten beurteilt werden.

  • Gesamtwirtschaftlich: In ihrer Eigenschaft als Liquiditätsverzichtsprämie saugen die Zinsen Geldvermögen als Investitionskapital in den Wirtschaftskreislauf. Somit gelten die daraus fließenden leistungslosen Einkommen als unvermeidlich. Jedoch ist, wie weiter unten gezeigt wird, gerade die exponentielle Selbstvermehrung der Geldvermögen ein wesentlicher und selbstlaufender Antriebsfaktor der Wachstumsspirale.
  • Politisch: Selbsttätig wachsende Kapitaleinkommen, die aus Besitztiteln und nicht aus Arbeitsleistung fließen, verleihen in erster Linie Macht, eine Macht, die nicht demokratisch legitimiert ist.
  • Moralisch: Dass Geldvermögen sich ohne eigene Arbeitsleistung selbst vermehren, widerspricht elementaren Kriterien der Gerechtigkeit. Die Bibel und die mittelalterliche Kirche, Aristoteles und Martin Luther stimmen darin überein, dass das Verleihen von Geld gegen Zins verwerflich und leistungsloses Einkommen unrechter Gewinn ist. Die Kirchen sind an diesem Punkt inzwischen sehr schweigsam geworden.

Zwei Modi der kapitalistischen Marktwirtschaft

Die unter diesen Gegebenheiten von den Kapitalbesitzern in gegenseitiger Konkurrenz veranstaltete »kapitalistische« Marktwirtschaft – deren eigengesetzliche Kapitalakkumulation übrigens durch staatliche Mittel (Kartellgesetz) begrenzt werden muss, um freie Konkurrenz aufrecht zu erhalten – ist ein Prozess, der in der Geschichte im wesentlichen in zwei Modi verlaufen ist.

Der anfängliche, noch unausgereifte Modus war der der zyklischen Krisen, bei dem die Spitzen des exponentiellen Wachstums durch »Überproduktionskrisen«,3 die man auch als Kapitalvernichtungskrisen ansehen kann, abgeschnitten wurden. Die wohl wirkungsvollste Form von Kapitalvernichtung aber ist der Krieg. Die »Grenzen des Wachstums« lagen noch nicht in den Belastungsgrenzen des Ökosystems, sondern in der Aufnahmefähigkeit des Marktes und zuweilen wohl auch in Beschränkungen der Rohstoffzufuhr.

Der zweite, fortgeschrittene Modus ist der Wachstumsmodus, der durch eine ständige Produktions- und Verbrauchssteigerung gekennzeichnet ist. Er entwickelte sich und gelang nach dem Zweiten Weltkrieg in dem Bestreben, die zyklischen Krisen mit ihren sozialen und politischen Erschütterungen zu vermeiden. In der Bundesrepublik nahm er die Form der sog. »Sozialen Marktwirtschaft« an und ist nur durch das Zusammenwirken von Staat, Wirtschaft und Gewerkschaft möglich. Das Wesentliche ist die tarifvertraglich vereinbarte und staatlich organisierte partielle Umverteilung der Wachstumsgewinne zur Erhaltung und Steigerung der Massenkaufkraft, um so der ganzen Gesellschaft (wenn auch in scharf hierarchisch strukturierter Form mit beträchtlichen Unterschieden) Anteil am Wachstum zu geben, sie dadurch zu stabilisieren und das stetige Wachstum zugleich erst zu ermöglichen. In dieser »sozialen« Form der »kapitalistischen« Marktwirtschaft entsteht der eigentliche makroökonomische Wachstumszwang aus der Notwendigkeit, die zyklischen Begrenzungskrisen und die damit verbundenen sozialen Erschütterungen zu vermeiden und durch Leistungssteigerung die überproportional anwachsenden Zinsansprüche des Kapitals, die sonst zu einer Minderung der Wohlfahrt der Massen führen würde, auszugleichen.

Wachstumszwang

Der Wachstumszwang entsteht also aus dem Zusammenwirken mehrerer Faktoren, so dass man wohl besser von einer Wachstumsspirale spricht.

Da ist zuerst die exponentielle Selbstvermehrung der Geldvermögen durch den Zinsmechanismus. Wachsende Geldvermögen bedeuten zugleich als verzinste Kredite noch stärker wachsende Schulden. Solche Schulden werden gemacht und müssen in erster Linie gemacht werden, um kapitalintensiv (d.h. in Anlagenkapital) zu investieren. Die Investitionen müssen Überschüsse erbringen durch Rationalisierung, Kapazitätserweiterung und/oder Innovationen, um sowohl die Rückzahlung der Schulden einschließlich ihrer Zinsen als auch Dividende und die ständige Erhöhung von Löhnen und Gehältern zu ermöglichen. Letzteres ist notwendig, um mit der Warenflut auch die Kaufkraft zu deren Konsum wachsen zu lassen, soweit sie nicht über den Außenhandel abfließen kann. Mit den Einkommen und den Umsätzen wachsen auch Sozialabgaben und Steuern, die zum einen Kaufkraft in die nicht produktiven Bereiche der Gesellschaft lenken und zum anderen dem Staat die Möglichkeit zum ständigen Ausbau einer wachstumsfördernden Infrastruktur geben (Bildung, Verkehr, Telekommunikation etc.). Wachstum ist auch notwendig, um die durch ständige Rationalisierung freigesetzten Arbeitskräfte entweder durch Kapazitätserweiterung oder durch neue Produktionen und Dienstleistungen zu beschäftigen, damit Kaufkraft entsteht und die Soziallast der Arbeitslosigkeit nicht zu groß wird.

Es ist eines der deutlichsten Krisensymptome unserer Zeit, dass dies nicht mehr gelingt, obwohl das Wachstum weitergeht (jobless growth). Dies führt zu einem Kaufkraftverteilungsdilemma, d.h. das System beraubt sich selbst der zu seiner Funktion notwendigen Massenkaufkraft.

Ein starker Faktor der Forcierung des Wachstums ist der marktwirtschaftliche Wettbewerb, der unter den beschriebenen »kapitalistischen« Bedingungen wesentlich ein Wettbewerb um Wachstumsraten ist. Wer nicht wächst, kommt unter den Rückzahlungszwängen in Liquiditätsschwierigkeiten, die sich oft durch weitere Kredite nicht mehr auffangen lassen. Höchst gefährlich sind Kredite, die konsumptiv und nicht investiv (d.h. wachstumsorientiert) verwendet werden, weil so deren zinsbelastete Rückzahlung nicht gewährleistet ist. Des Pudels Kern der Wachstumsproblematik ist also der Zwang, Kredite vorwiegend investiv zu verwenden.„Wer nicht wächst, stirbt“ – so heißt die Devise unter diesen »kapitalistischen« Bedingungen.

Ohne Wissenschaft und Technik kann sich die Wachstumsspirale nicht drehen, denn sie sind die Lieferanten für patentiertes »geistiges« Kapital, das Innovationen sowohl zur Rationalisierung der Produktion als auch zur Entwicklung neuer Produkte ermöglicht. Genau dies ist wiederum der Grund, warum Forschung und Entwicklung von der Industrie finanziert werden. Aber auch staatliche Forschungsförderung ist bestrebt, im »vorwettbewerblichen Bereich« Wachstumsvoraussetzungen für die Wirtschaft zu schaffen, wo es nur geht.

Für neue Produkte ist oft der Bedarf gar nicht vorhanden. Er muss durch Werbung und Reklame erst künstlich erzeugt werden, damit weiteres Wachstum möglich wird. Modetrends werden erzeugt, um eigentlich noch brauchbare Güter künstlich veralten zu lassen. Werbung und Reklame – wieder eine Wachstumsbranche – erzeugen zudem einen allgemeinen Geist des Konsumismus, der in Ermangelung anderer Werte und Lebensziele immer neuen Konsum als immer neues Erlebnis anpreist und so Versäumnisangst zum konsumistischen Motor macht.

Eine wesentliche Begleiterscheinung der »kapitalistischen« Marktwirtschaft im Wachstumsmodus ist die schleichende Geldentwertung (Inflation) in der Größenordnung von einigen Prozent. Aufgabe der Notenbanken ist es, die Inflation durch Knapphaltung der umlaufenden Geldmenge möglichst niedrig zu halten. Schon diese Aufgabe zeigt, dass es einen Inflationsdruck gibt, dem gegengehalten werden muss und den es in einer zum Gleichgewicht befähigten Wirtschaft nicht geben dürfte. Eine einfache, monokausale Ursachenanalyse scheint allerdings für dieses komplexe Phänomen nicht möglich zu sein. Ein wesentlicher Grund dafür kann darin liegen, dass der Zinsanteil (Kapitalkosten) in fast allen Preisen im Wachsen begriffen ist. Wachsende Preise aber erfordern mehr Geld, damit sie bezahlt werden können.

Zinsen und Inflation sind die Faktoren, die verfügbares Geld in den Austauschkreislauf saugen. Beide sind destruktiv, weil Inflation das Geld entwertet und Zinsen Arbeit schaffende Investitionen verhindern und die sozialen Diskrepanzen ständig vergrößern.

In jüngster Zeit verstärkt sich der Eindruck, dass die materielle Seite der Weltwirtschaft dem Wachstum der Geldvermögen und Verschuldungen nicht mehr folgen kann und letztere sich in eigenen Kreisläufen (z.B. Devisenspekulation) z.T. verselbstständigt haben. Es mangelt offenbar an Investitionsmöglichkeiten in Anlagenkapital, deren Renditeaussichten über dem derzeit erzielbaren Zinssatz am Kapitalmarkt liegen. Aus diesem Grunde sind beispielsweise die Gewinne der westdeutschen Wirtschaft aus dem Einigungsboom bei weitem nicht vollständig reinvestiert worden, schon gar nicht in Ostdeutschland.

Der inhärente Wachstumszwang der »kapitalistischen« Marktwirtschaft führt zu einem Expansionszwang. Die ursprüngliche, primitive Form der Expansion war die kolonialistische Landnahme. Mit der Einsicht, dass es viel effizienter ist, statt der Territorien die Märkte zu beherrschen, folgte die »Landnahme« der Märkte. Nun erstreckt sich die »Landnahme« auf ganz andere »Territorien«, nämlich auf Felder von Forschung und Entwicklung, die von großen Konzernen durch Patente geradezu besetzt werden. Hier, so meint der technologische Fortschrittsglaube, besteht Aussicht auf nahezu unbegrenzte Expansion.

Der unbestreitbaren Ressourcenbegrenzung hofft man durch eine Effizienzrevolution des Material- und Energieeinsatzes begegnen zu können. So wünschenswert eine Steigerung der Rohstoff- und Energieproduktivität ist, so deutlich ist doch, dass bestenfalls eine Abkoppelung des Wirtschaftswachstums vom Wachstum des Energie- und Rohstoffverbrauchs und damit auch vom Wachstum der Müllproduktion und des Verkehrsaufkommens erreicht werden kann. Schon jetzt aber ist, wie die drohende Klimakatastrophe exemplarisch zeigt, die Entropieproduktion allein des reichen Fünftels der Menschheit in Gestalt der Abgas-, Abwärme-, Abwasser- und Müll-Exkremente viel zu hoch, um mit einem dauerhaften Zusammenleben von Mensch und Natur vereinbar zu sein. Die andere Seite dieser Medaille ist, dass das Wirtschaftswachstum der Reichen die Armen immer ärmer und die globale Ungerechtigkeit immer unerträglicher werden läßt.

Anmerkungen

1) Festvortrag auf der 56. Physikertagung 1992 in Berlin, Phys. Bl. Juli/Aug 1992.2) Verglichen wird mit dem Galilei-Konflikt.3) Eigentlich sind dies »Unternachfragekrisen« als Folge gestörter Geldkreisläufe.

Dr. Hans Jürgen Fischbeck, Physiker, ist Studienleiter an der Evangelischen Akademie Mülheim/Ruhr.

Editorial

Editorial

von Margitta Matthies

Im Juni 1999 steht Köln mit zwei internationalen Gipfeltreffen im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Am 3./4. Juni treffen sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zum EU-Gipfel und vom 18. bis 20. Juni kommen die Regierungschefs der sieben führenden westlichen Industrienationen und Russlands – das seit 1998 vollwertiges Mitglied ist – zum Weltwirtschaftsgipfel der G8 zusammen.

Gipfeltreffen, die für eine Politik stehen, die für das Zusammenleben der Menschheit diskriminierende Spuren hinterlassen hat:

  • Während der letzten zwanzig Jahre haben die politisch Verantwortlichen zunehmend Monetarisierung, Deregulierung, freien Warenaustausch, uneingeschränkten Kapitalfluss und Privatisierungen im großen Ausmaß gefördert. Gleichzeitig wurde die Entscheidungskompetenz hinsichtlich Investitionen, Beschäftigung, Gesundheitsförderung, Kultur und Umweltschutz vom öffentlichen Sektor auf transnational operierende Konzerne verlagert. Diese Multinationalisierung der Wirtschaft hat dazu geführt, dass das Geschäftsvolumen der 200 größten Konzerne mehr als ein Viertel der globalen Wirtschaftstätigkeit umfasst aber nicht einmal ein Prozent der weltweit vorhandenen Arbeitskraft bindet.
  • In dem Vakuum, das durch die Entwertung sozialistischer Theorien und Politiken nach dem Ende des Ost-West-Konflikts entstanden ist, konnten radikale neoliberale Wirtschaftsstrategien noch ungehinderter eingesetzt und im Namen der Sachzwanglogik mit sozialen, rassistischen und sexistischen Ausgrenzungen und Diskriminierungen unterstützt werden.
  • Die absolute ökonomische Vormachtstellung der industrialisierten nördlichen Welt gegenüber dem Süden und Osten verstärkt die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit. Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer.

Diese Politik führt zu einem Anwachsen des sozialen Elends und zu zunehmender Umweltzerstörung im Norden und Süden, sie führt zum Entstehen neuer Konfliktpotentiale. Weltweit sind 100 Millionen Menschen auf der Flucht vor Armut, Krieg, Unterdrückung und Umweltzerstörung. Gegen sie errichteten die EU- und G7-Staaten nicht nur Mauern und Zäune an ihren Grenzen, sie schrecken auch vor der Androhung und Anwendung von Gewalt nicht zurück.

Gegen das »Primat der Profitmaximierung« wehren sich immer mehr Menschen. Unter dem Motto »Das Ende der Bescheidenheit – Gipfel stürmen« haben sich nationale und internationale Friedens-, Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen zusammengeschlossen um anlässlich des Doppelgipfels in Köln ihren alternativen Positionen Gehör zu verschaffen. Mit Demonstrationen, Aktionen und einem alternativen Weltwirtschaftsgipfel protestieren sie gegen die »Willkür der Finanzmärkte«, für ein Leben ohne Hunger, Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung.

Neben der Kritik an der bestehenden Weltordnung bedarf es – auch angesichts der vielen Finanzkrisen – einer umfangreichen Reform des internationalen Finanzsektors, der die völlige Bewegungsfreiheit des internationalen Privatkapitals durch Kapitalverkehrskontrollen sowie die Besteuerung sämtlicher grenzüberschreitender Transaktionen (Tobin-Steuer) erschwert. Darüber hinaus geht es um einen weitreichenden Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Erde.

In der Diskussion über eine ökologisch und sozial angepasste Weltwirtschaft ist der Pfad einer rein ökonomischen Logik, der auf das Leitbild des »freien Marktes« vertraut, zu verlassen und zu Gunsten eines anderen Erklärungstyps, der eine ökologisch und sozial verträgliche Organisation der Weltwirtschaft als Grundlage und Rahmenbedingung für das Funktionieren des Marktes sieht, zu ersetzen. Hierbei muss die Kategorie »Verantwortung« eine besondere Rolle spielen, insbesondere für die Bewohner der industrialisierten Welt, die ihren Ressourcenverbrauch drastisch einschränken müssen.

Allerdings kann die Verantwortung des Einzelnen nicht losgelöst von der individuellen Existenz in Verbindung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen gesehen werden. Es ist an der Zeit, einen neuen Gesellschaftsvertrag einzufordern, der über die vielfältigen Behinderungen individueller Lebenschancen und Erlebnismöglichkeiten unter fremdbestimmten Bedingungen aufklärt, der die Zivilisierung und Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ziel hat, und in diesem Sinne »vor Ort« lokale Autonomien initiiert, die ein selbstbestimmtes und -organisiertes, soziales Leben ermöglichen.

Frieden braucht Entwicklung – Entwicklung braucht Entschuldung!

Ihre Margitta Matthies

Gastkommentar: Neuer Anlauf in der Außenpolitik?

Gastkommentar: Neuer Anlauf in der Außenpolitik?

Zur Konzeption der rot-grünen Koalition

von Ulrich Albrecht

Das Koalitionsabkommen ist das einer Regierung, die sich nach innen wendet. Elf der zwölf Kapitel des Vertrages gelten innenpolitischen Themen. Es geht los mit Arbeitslosigkeit und der Bewältigung der Folgen der deutschen Einheit (deutlich sozialdemokratische Handschrift, deswegen ist Schröder ja auch gewählt worden), an dritter und vierter Stelle gefolgt von Kapiteln zur ökologischen Steuerreform und zur ökologischen Modernisierung (deutlich die Handschrift des grünen Partners). Die Außen- und Friedenspolitik ist die Schlußnummer in diesem Koalitionspakt. Hernach folgt, im Abgesang, lediglich ein Kapitel über die Zusammenarbeit der beiden Parteien in der Koalition.

Das elfte Kapitel, überschrieben mit dem Omnibus-Titel „Europäische Einigung, internationale Partnerschaft, Sicherheit und Frieden“, ist vergleichsweise lang ausgefallen. Das sagt dem Analytiker zunächst einmal zweierlei. Entweder werden hier eine Anzahl von Prioritäten ausformuliert. Das ist die optimistische Variante. Oder es mußten wortreich Kompromisse formuliert werden – die pessimistische Variante. Eine inhaltliche Durchsicht führt eher zu der erstgenannten Wertung.

Der Text zur Außenpolitik der neuen Regierung setzt ein mit dem Satz „Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik“. Das hätten Kohl/Kinkel nicht anders formuliert. Nun wird man den Text des Koalitionsabkommens nicht wegen der Formelsprache, der schönen Bezeigungen, lesen. Dienen doch solche Äußerungen der Signalisierung von Intentionen an multiple Rezipienten. Zuvörderst steht die Selbstvergewisserung der vertragschließenden Parteien, was man denn gemeinsam vorhabe. Es folgt die Information für die Öffentlichkeit (genauer: die Wähler), danach die Mitteilung an das skeptische Ausland und irgendwo dazwischen die Instruktion an die Ministerialstäbe, die ihre Wendehälse schon eifrig wiegen, und die zu wissen begehren, was nunmehr Sache ist.

Alle werden rückfragen: »Where is the beef?« Was sind die Fleischstücke der Koalitionsvereinbarung?

Wie im Wahlkampf auch (aber der ist doch vorbei) betonen Schröder/Fischer Kontinuität („Die neue Bundesregierung wird die Grundlinien bisheriger deutscher Außenpolitik weiterentwickeln“, heißt es im Auftakt unmittelbar nach dem angeführten Satz zur Friedenspolitik). Eine solche Floskel ist das Gegenteil von Neuerung. Sie ist allenfalls zur Pazifizierung skeptischer ausländischer Eliten hinnehmbar. Die Rot-Grünen müssen aufpassen, ob sie außenpolitisch nicht zu staatstragend, zu pro-NATO geraten.

Im selben Absatz steht eine Formel, die vom Sessel hochjagt. Zur Weiterentwicklung der besagten »Grundlinien« wird „die besondere Verantwortung für Demokratie und Stabilität in Mittel,- Ost- und Südosteuropa„ aufgezählt.

Generalpause. Man stelle sich einen Augenblick vor, die neue Bundesregierung beanspruche eine „besondere Verantwortung für Demokratie und Stabilität“, sagen wir mal, in den westlichen Nachbarstaaten Frankreich und England. Eine angemessene Antwort wäre dort, die Atomwaffen scharf zu machen.

Ich weiß nicht, wie Polen und Tschechen, die mit der Wahrnehmung einer „besonderen Verantwortung“ der Deutschen für ihre inneren Verhältnisse so ihre eigenen Erfahrungen haben, auf diese Passage reagieren. Vielleicht cool, den Teilsatz als unbeholfene Sympathiekundgebung wertend. Das ist der zweite Einwand gegen das Außenpolitikkapitel im Koalitionsvertrag: ist ja alles (schrecklich) gut gemeint. Nur, das reicht nicht.

Die neue Regierung tritt im ersten Halbjahr 1999 sogleich eine Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union an. Es hat sich eingebürgert, vom jeweiligen Präsidentschaftsland besondere Anstrengungen zur Förderung der Union zu erwarten, zur Abwehr von »Eurosklerose«. Da dieses Stichwort besonders für die Jahre der SPD-geführten Bundesregierung Schmidt galt, ist man bei den europäischen Nachbarn gespannt, wie die rot-grüne Koalition hier vorgehen wird. Diese verspricht im Koalitionsabkommen tapfer, „die deutsche Ratspräsidentschaft im 1. Halbjahr 1999 zu nutzen, um der Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union neue Impulse zu verleihen.“ Mithin beide Dimensionen der Entwicklung der EU, Vertiefung und Erweiterung – recht ehrgeizig.

Robin Cook als neuer britischer Außenminister hat eine solche Ratspräsidentschaft im vorigen Jahr genutzt, um den allfälligen Anti-Gipfel von Nicht-Regierungsorganisationen anzusprechen und über die Kasse der EU gar mit 125.000 Pfund fördern zu lassen. Er kam zur Schlußsitzung dieses Anti-Gipfels, um sich dessen Ergebnisse anzuhören. Es wird interessant sein zu beobachten, wie der grün-alternative neue deutsche Außenminister Fischer solche Vorlagen aufnimmt. Es gibt eine Vorbereitungsgruppe für einen erneuten Anti-Gipfel, und besonders die NGOs aus Ostmitteleuropa, die an einer Teilnahme brennendes Interesse hätten, wären auf eine bescheidene Förderung angewiesen. Als Clearing-House wirkt die Helsinki Citizens’ Assembly, die in den neuen Demokratien eine besondere Reputation genießt.

Ansonsten klingen die europa<->politischen Vereinbarungen im Koalitionsvertrag verführerisch. Die Koalition will sich „für mehr Demokratrie in der Europäischen Union und die Stärkung des Europäischen Parlaments einsetzen.“ Da fällt einem der Aufstieg des Parlamentarismus in Europa als Leitbild ein: die parlamentarische Verantwortung von Ministern/Kommissaren, die Entscheidung über den Haushalt durch das Parlament, die Kompetenz zur Gesetzgebung.

Die Idee, „den europäischen Verträgen eine Grundrechtscharta voranzustellen“, verdient in dem patch-work, das ein solcher Vertrag immer sein wird, eine besondere Hervorhebung. Eine großartige Idee. Sie verleiht dem außenpolitischen Programm der Regierung jenseits von Apellen und Deklarationen Linie: es geht darum, die Herrschaft des Rechts umfassend wirksam werden zu lassen, um einen anderen Umgang mit Konflikten anzubahnen.

Appelle und Deklarationen zur Erweiterung der europäischen Institutionen, die sich wohlfeil in diesem Koalitionsvertrag finden („die historische Chance der Erweiterung der Europäischen Union…„, „Stabilisierung der mittel- und osteuropäischen Länder„), werden scharf zurückgestutzt durch die nachfolgenden Politikankündigungen. Diese überschreiten gar die Legislaturperiode: „Für den Finanzplanungszeitraum von 2000 bis 2006 muß die bisher geltende Obergrenze für den EU-<->Haushalt in Höhe von 1,27 % des BSP unter Einschluß der Kosten der Osterweiterung beibehalten und möglichst unterschritten werden.“ Mit anderen Worten: Die innenpolitisch orientierte Koalition will für die Osterweiterung keine Mark mehr ausgeben als für die bisherige EU insgesamt. Während für die Osterweiterung der NATO Dutzende von Milliarden als Mehraufwand konzipiert werden, schon aufgrund amerikanischen Drucks, sollen die Transformationsökonomien Mittelosteuropas in einen würdelosen und für sie nachteiligen Verteilungskampf um den vorhandenen EU-Topf gezogen werden.

Keine Begeisterung auslösen kann ferner, was der Koalitionsvertrag zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU besagt. Zum einen erfährt der verdutzte Leser, daß die neue Regierung „die Europäische Union auf dem Feld der internationalen Politik handlungsfähig“ machen will. Wie denn, war die dies bisher nicht? Die Handlungsfähigkeit der EU etwa im vormaligen Jugoslawienkrieg war beklagenswert, hatte aber Wirkungen.

Im Folgenden findet sich manches Innovative, etwa wenn die „rechtliche Basis der OSZE“ gestärkt werden soll oder „besondere Bedeutung … der Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen“ zugemessen wird. In Aufnahme der Inaugurationsrede von Gustav Heinemann aus dem Jahre 1969 ist von einer neuerlichen „Förderung der Friedens- und Konfliktforschung“ die Rede, ebenso von der Schaffung von Ausbildungsmöglichkeiten „im Bereich von Peacekeeping und Peacebuilding“. Wenn die Bundesregierung durch die Änderung von Vorschriften für die Einstellung so Ausgebildeter auch dafür Sorge trägt, daß diese tatsächlich ihre Aufgabe ausüben können, wäre viel gewonnen.

Im Abrüstungskapitel fehlt bei den Atomwaffen das Entscheidende. Da ist etwa die Rede davon, daß „sich die neue Bundesregierung für die Absenkung des Alarmstatus der Atomwaffen“ einsetzen wolle. Sicher richtig, aber da hat Deutschland keine direkte Mitwirkung. Es steht die Entnuklearisierung der europäischen NATO an, die Beseitigung mehrerer hundert amerikanischer atomarer Fliegerbomben auf europäischen Flugbasen (sieht man von den französischen und britischen Kernwaffen ab, aber für die eigenen hat Blair eben ein solches De-alerting beschlossen). Der Direktor des angesehenen Friedensforschunsgsinstitutes der amerikanischen Notre Dame-Universität, Raimo Väyrynen, hat am entschiedensten dafür plädiert, die verbleibenden amerikanischen Nuklearwaffen auf deutschem Boden abzuziehen – und er meint kess, die Deutschen sollten hierbei die Initiative ergreifen.

Nach den Landminen steht ein weiteres Thema auf der internationalen Agende oben an: sogenannte Kleinwaffen. Hinter dieser Bezeichnung verbergen sich Infanteriewaffen aller Art, zumeist Sturmgewehre und Maschinenpistolen. In den Weltkriegen, aber auch in den für die europäischen Erfahrungen neuartigen ethnopolitischen Kriegen wie etwa im vormaligen Jugoslawien, starben die meisten Opfer durch solche Waffen. Die neue Regierung kündigt „eine Initiative zur Kontrolle und Begrenzung von Kleinwaffen“ an. Sicher verdienstvoll.

Mut zeigen die Koalitionäre – mit Blick auf vergangene Streitereien über out-of-area Einsätze der Bundeswehr, die ja bis zum Bundesgerichtshof in Karlsruhe gingen – mit der Festlegung, daß „den Vereinten Nationen … eigenständige Einheiten für friedenserhaltende Maßnahmen (peacekeeping) als »stand by forces« angeboten“ werden sollen. Gewiß ein richtiger Schritt. Was der Generalsekretär der UNO noch lieber hätte (und was für seine Aufgaben beim »peacekeeping« noch dringlicher wäre), sind deutsche Polizi<->sten. Aber über die verfügt die Bundesregierung nicht.

Kanzler Kohls UN-Projekt, ein ständiger Sitz im Sicherheitsrat mit allen Rechten, einschließlich dem zum Veto, findet sich im Koalitionsvertrag mehrfach an Bedingungen rückgebunden. Der neue Außenminister Fischer hat mittlerweile wissen lassen, daß sein Ministerium an diesem Ziel nicht mehr festhält.

Eine Reform der Bundeswehr steht an, und deswegen ist im Koalitionsvertrag auch erneut eine »Wehrstrukturkommission« vorgesehen. Hier schlägt der abgeschlagene SPD-Vorsitzende Scharping voll durch. Der alte sozialdemokratische Slogan „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“ ist heute abgelöst durch die Forderung Scharpings, am Haushalt der Bundeswehr keinerlei Abstriche zu machen. Scharping hat auch erreicht, daß die neue Kommission eine des Ministers – und nicht etwa eine des Parlaments – wird. Das wird zumindest die Verfassungsrichter in Karlsruhe verdrießen, hatten diese doch mit ihrem Urteil zu den out-of-area-Einsätzen der Bundeswehr und der regelmäßigen Zustimmungspflicht des Bundestages die Spur zum »Parlamentsheer« festigen wollen.

Neu ist in Deutschland die von den Koalitionären vereinbarte jährliche Vorlage eines Rüstungsexportberichtes. Über die deutsche Waffenausfuhr hat es in der Vergangenheit in Bonn viel Geheimniskrämerei gegeben. Sehr spektakulär ist der Schritt der neuen Regierung heute nicht mehr. Die US-Abrüstungsbehörde veröffentlicht seit Jahr und Tag die Waffeneinfuhr- und Ausfuhrdaten aller Herren Länder, Erkenntnisse der CIA nutzend, und die alte Bundesregierung hat den Vereinten Nationen in neuerer Zeit für deren »reporting instrument« diese Daten freiwillig angegeben. Diese Angaben waren bislang vor allem Fachleuten zugänglich. Die Veröffentlichung als Regierungsbericht wird vor allem für die Innenpolitik Bedeutung haben, im Sinne der Einrichtung von mehr Transparenz von Regierungshandeln.

Zum Schluß des außenpolitischen Teils des Koalitionsabkommens werden einzelne europäische Nachbarländer angesprochen, in bemerkenswerter Reihung. Zwar will die neue Regierung die „Beziehungen zu allen Nachbarn“ Deutschlands intensiv pflegen, aber im besonderen „der deutsch-französischen Freundschaft neue Impulse geben.“ Daß die Rot-Grünen das Verhältnis zu Frankreich nicht sonderlich pflegen würden, war im Wahlkampf von Seiten der Christdemokraten eine vernehmbare Befürchtung – insofern mag es sich um eine Pflichtbekundung handeln. Neu ist, daß gegenüber dem an zweiter Stelle genannten Polen „eine besondere historische Verantwortung“ festgestellt wird, „der die neue Bundesregierung mit dem Angebot einer immer engeren Partnerschaft zwischen Polen und Deutschen gerecht werden wird.“ Eine aktive Ostpolitik ist sozialdemokratisches Erbe, hier ist gegenüber der Regierung Kohl Neues erwartbar. Als Ansatzpunkt wird das »Weimarer Dreieck« zwischen Polen, Frankreich und Deutschland angeführt. – Mit dem nachfolgend genannten Tschechien gebe es „noch bestehende Probleme“, die „abzubauen“ seien. Dann folgt ein Passus über Israel („besondere Verpflichtung„), ehe schließlich die Rede von Rußland ist.

Entwicklungspolitische Organisationen wie VENRO (hinter dieser Abkürzung verbirgt sich der Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungsorganisationen) haben den einschlägigen Schlußabschnitt im internationalen Kapitel deutlich begrüßt („…läßt auf frischen Wind in der Entwicklungspolitik hoffen„). VENRO salutiert der neuen Leitung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit nachgerade überschwenglich: „Ihre Berufung hat bei uns Freude und Zuversicht ausgelöst, die großen Herausforderungen einer sozial und ökologisch zukunftsfähigen Entwicklungspolitik in einem offenen und konstruktiven Dialog zwischen Staat und entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen sichtbar voranzubringen.“ Von diesem schönen Amtsdeutsch abgesehen: Man kommt sich fast gemein vor, wenn man zweifelt, ob diese Regierung wirklich das alte Ziel erreichen will und gar kann, die öffentlichen Zahlungen an die Dritte Welt auf 0,7 Prozent des Sozialprodukts zu steigern. Die angekündigte stärkere Förderung von NGOs in der Entwicklungszusammenarbeit macht sich optisch gut, liegt aber eh im Trend: nach drei fehlgeschlagenen Entwicklungsdekaden erscheinen auch konservativen Regierungen die NGOs als rettender Strohhalm, um aus der Misere der Dritten Welt herauszukommen.

Die Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder hat – in verkürzender Form – die Festlegungen des Koalitionsabkommens bestätigt. In seiner zweistündigen Rede kam der Kanzler unter dem 16. (von insgesamt 20 Punkten) auf Nicht-Deutsches, auf Außenpolitik zu sprechen. Zuvor dominierte der im Auftakt dieser Erklärung ohne Abstriche vorgetragene Leitsatz: „Wir wissen: Ökonomische Leitungsfähigkeit ist der Anfang von allem.„

Kanzler Schröder setzt den Außenpolitikteil an mit deutschen Sorgen: Krieg „vor unserer Haustür in Europa„ und „in den Ländern des Südens.“ Es folgt, nach der erwartbaren Beschwörung des Verhältnisses zu den USA, ein ungewöhnliches Bekenntnis: „Etliche, die heute in diesem Deutschen Bundestag sitzen – auch manche, die jetzt Mitglied der Regierung sind – waren nicht immer mit allem einverstanden, was unsere amerikanischen Partner, vor allem in der Hochrüstungsphase des Kalten Krieges getan und vorgeschlagen haben.“

Der Kanzler erwähnt in einer tour d’horizont Kernaussagen des Koalitionsabkommens („Deutsche Außenpolitik ist und bleibt Friedenspolitik„), die Stärkung der OSZE und die Beteiligung der Bundesregierung an der Friedenswahrung im Kosovo. Etwas überraschend stellt er in diesem Zusammenhang fest: „Wir liefern damit auch eine hochmoderne Definition vom Wirken der Bundeswehr.“ Begründung: „Unsere Soldaten setzen heute ihr militärisches Know-how in immer mehr Bereichen zivil ein.“ Man liest gespannt weiter – wie agiert denn diese Zivil-Bundeswehr konkret? Schröder: „Das reicht von der Eindämmung von Naturkatastrophen bis hin zu aktiver Demokratisierungshilfe.“

Spätestens hier wird der good will des Lesers enorm strapaziert. Von „Demokratisierungshilfe“ war im Koalitionsabkommen mit bezug auf die neuen Demokratien östlich des Landes die Rede. Der Gedanke ist zu absurd, um gedacht werden zu dürfen, daß dieser Schröder zur Demokratieförderung dort die Bundeswehr out-of-area einzusetzen gedenkt. Bloß: Wo dann sollen diese Demokratisierungshelfer in Uniform tätig werden?

Der Satz in der Kanzlerrede: „Die Bundesregierung hält an dem Ziel der vollständigen Abschaffung der Massenvernichtungswaffen fest“ gerät unverhoffterweise zum ersten Prüfstein für das tatsächliche Verhalten der Regierung. In der Vollversammlung der Vereinten Nationen steht die Abstimmung an über eine Resolution mit dem Titel und Inhalt „Hin zu einer atomwaffenfreien Welt“. Aus Bonn melden Zeitungsnachrichten, daß die neue Regierung mit einem schallenden »Jein« votieren wird, der Enthaltung bei der Stimmabgabe. Das gilt aus NATO-Gründen in Fischers Außenministerium als das Frechste, was man sich erlauben kann.

Zusammengefaßt: diese Gutmenschen, die heute die Bundesrepublik regieren, haben sich in der internationalen Politik viel vorgenommen, auch wenn dies deutlich gegenüber der Innenpolitik hintenansteht. Sie formulieren ihre Absichten mitunter in einer Weise, die ihre ausländischen Partner auf ihren Stühlen unruhig werden läßt. Ein Teil der wohlklingenden Absichtsbekundungen, wie die UN-Abstimmung über die Abschaffung der Kernwaffen zeigt, wird nicht einmal die Gnadenperiode der ersten hundert Regierungstage überleben. Die Umsetzung weiterer Ankündigungen hängt nicht nur von der Regierung ab – es wird an den Bürgern liegen, zuzugreifen und einen anderen Schritt in die deutsche Politik zu bringen als in der Ära Kohl.

Prof. Dr. Ulrich Albrecht lehrt am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung.

Friedensvisionen

Friedensvisionen

Thesen für eine Zivilisierung der Weltgesellschaft

von Wolfgang R.Vogt

Abschied von Utopien – Bedarf an Vision

In Zeiten historischer Umbrüche, in denen das Alte nicht mehr und das Neue noch nicht gilt, sind konstruktive Zukunftsentwürfe zur Friedensentwicklung besonders wichtig. Am Ende des 20. Jahrhunderts – das viele Kennzeichen einer krisenhaften Übergangsperiode aufweist – gibt es diesbezügliche Defizite, es fehlt an Mut zu neuen Visionen vom Frieden.

Das Verblassen bzw. Zerfallen der Utopien klassischer Art ist durch eine Reihe von Gründen bedingt, so vor allem

  • durch den historischen Konkurs des revolutionär in Szene gesetzten Experiments des (Staats-) Sozialismus. Dadurch ist, ob zu Recht oder nicht, zumindest zunächst einmal allen utopischen Großversuchen, denen ein geschlossener Gesellschaftsentwurf zugrundeliegt und die eine umfassende Geschichtssteuerung zum Ziel haben, eine nachhaltige Absage erteilt worden;
  • durch die anhaltende »Krise der Moderne«. Vor dem Hintergrund struktureller Massenarbeitslosigkeit, sozialer Desorganisationstendenzen, gesellschaftlicher Polarisierungseffekte und der ökologischen Zerstörung gerät der Utopiegehalt des westlich-abendländischen Zivilisationsmodells zunehmend unter Druck;
  • durch die unberechenbare Eigendynamik geschichtlicher Entwicklungen und die rapide Beschleunigung gesellschaftlicher Veränderungen, die die Planbarkeit und Beeinflußbarkeit historischer Prozesse und gesellschaftlicher Verhältnisse von Grund auf in Frage stellen. Die offenkundige Rat- und Hilflosigkeit der gegenwärtigen Politik bei der Bewältigung der anstehenden Probleme und Herausforderungen resultiert nicht zuletzt aus der generellen Überforderung politischer Reaktionsweisen, die vollauf damit beschäftigt sind, aktuelle Krisen und Probleme durch ad hoc-Entscheidungen und Sofort-Maßnahmen zu bearbeiten;
  • durch die unverhoffte Rückkehr historischer Krisenmuster und Konfliktlinien im Zuge des (Wieder-) Aufbrechens von Nationalismus, Rassismus, Ethnizismus und religiösem Fanatismus mit den Folgen von barbarischen Bürgerkriegen, atavistischen Gewaltexzessen und Mißachtung jeglicher Zivilisationsnormen. Fatal ist in diesem Zusammenhang, daß radikale Utopien im Sinne einseitig überzogener Idealvorstellungen, die das absolute »Gute, Wahre und Gerechte« zum Ziel haben, bei der Wahl ihrer Mittel nicht selten den Einsatz von Gewalt (scheinbar) legitimiert haben;
  • durch das Bestehen bzw. Heraufziehen globaler Gefährdungen unbekannten Ausmaßes. Die anhaltenden Umweltzerstörungen, die rapide wachsende Weltbevölkerung, die gravierenden Ungleichheiten der Wohlstandsniveaus zwischen Nord und Süd, Ost und West, die bestehende Anhäufung bzw. (Weiter-) Verbreitung der Waffenarsenale sowie die große Zahl der Krisenzonen und Bürgerkriege, verdüstern die zukünftigen Entwicklungshorizonte.

Fazit: Insgesamt bewirken diese Entwicklungen und deren Einschätzungen durch die Öffentlichkeit und die Politik eine skeptische oder gar ablehnende Haltung gegenüber klassischen Utopien im Sinne umfassender Idealentwürfe von einer »besseren« Gesellschaft, einer »friedlichen« Zukunft. Das bedeutet aber nicht, daß politisches Handeln und menschliches Streben generell auf realisierbare Visionen und davon abgeleitete Zielprojektionen verzichten kann. Im Gegenteil, weil die großen Heilslehren sich als politische Irrwege und Sackgassen erwiesen haben, sind pragmatische Visionen von um so aktuellerer Bedeutung für die Entwicklung von Frieden und die Gestaltung der Zukunft.

Ohne Friedensvisionen keine Friedensgestaltung

Friedensvisionen sind wichtig, um die Defizite zwischen den diagnostizierten (Gewalt-) Zuständen in der Gegenwart und den projektierten (Friedens-) Verhältnissen für die Zukunft zu ermitteln. Ohne Visionen vom Frieden lassen sich keine politischen Strategien und keine konkreten Programme zur Gewaltreduzierung und zur Friedensgestaltung entwickeln.

Wir müssen unser Denken und Handeln durch einen Paradigmenwandel, d.h. durch eine Modernisierung unserer Welt(an)sichten fit für die zukünftigen Chancen und Herausforderungen und offen für die positiven Visionen einer Friedens- und Zukunftsentfaltung durch eine umfassende und nachhaltige Zivilisierung machen.

War es das Ziel moderner Sozialwissenschaft, unser Wissen über die Welt zu organisieren, so besteht die Aufgabe gegenwärtiger postmoderner Sozialwissenschaft darin, die Prozesse nachzuzeichnen, in denen die Welt von denen, die sie bevölkern, konstruiert und interpretiert wird.

Die postmoderne Diskussion hinterfragt die Mythen der Moderne – und insoweit ist sie auch für die friedenswissenschaftliche Diskussion anregend und weiterführend. Postmodernes Denken unterscheidet zwischen subjektiv und objektiv, real und ideal, Verstand und Gefühl und – am wichtigsten – zwischen erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt. Die Theorie des »Post-Modernismus« hat ein Bündel von kritischen Forschungsstrategien herausgebildet, die alle eine bestimmte philosophische Orientierung teilen, derzufolge Realität nicht als eine objektive, externe Identität interpretiert wird, sondern als eine Vielfalt von konstruierten, veränderbaren und provisorischen Praxen, deren Grenzen inhärent anfechtbar sind. Die universalistischen Ansprüche solcher organisierender Vorstellungen wie Mensch, Gott, Wissenschaft und Souveränität sind damit ihrer vermeintlichen Unabhängigkeit von menschlicher Praxis entkleidet.

Fazit: So sehr die postmoderne Betonung der Verschiedenheit, der Uneindeutigkeit der Verhältnisse sowie der Gleichzeitigkeit ungleicher Bedingungen und Entwicklungen in den verschiedenen Regionen der Welt zu respektieren ist, so wenig vermag der Habitus der Beliebigkeit im Sinne eines »anything goes«, der für einige Strömungen des postmodernen Denkens typisch ist, als eine adäquate Sicht- und Denkweise für die Friedens- und Konfliktforschung zu überzeugen. Auch die Skepsis postmoderner Denker gegenüber umfassenden Theoriekonzepten, globalen Entwicklungsvisionen und politischen Gestaltungsstrategien widerspricht dem Selbstverständnis einer kritisch-reflexiven Friedenswissenschaft. Entsprechend ihrer normativ begründeten Erkenntnis-Interessen (Friedensmodellierung – Konfliktregulierung – Gewaltreduzierung) kann die kritisch-reflexive Friedenswissenschaft ihren Anspruch auf die Entwicklung komplexer (Friedens-, Konflikt- und Gewalt-) Theorien und visionärer Entwürfe für die »bessere«, d.h. friedlichere Gestaltung der Zukunft nicht aufgeben.

Funktionen von Friedensvisionen

Visionen enthalten einen Vorstellungsüberschuß, der dem (noch) Bestehenden gedanklich entflieht und ihm eine vorauseilende Phantasie in der Absicht entgegenstellt, das gegenwärtige Ist mit dem zukünftigen Soll in eine produktive Spannung zu setzen.

Visionen sind »aufgeklärte Utopien« ; sie sind eine »mögliche Realität«, die durch zielbewußtes Handeln herbeigeführt werden kann. Visionen vom Frieden sollen als konkrete Vorstellungen von den realisierbaren Möglichkeitsbedingungen eines nachhaltigen Friedens und zukünftiger Lebensverhältnisse ohne existentielle Bedrohung durch Gewalt verstanden werden.

Friedenspolitische Visionen erfüllen wesentliche Funktionen für die Konzeptualisierung einer umfassenden Friedenstheorie und -politik:

  • Sie sollen der konstruktiven Konfrontation des bestehenden Hier und Jetzt mit dem zukünftigen Sein und Sollen dienen;
  • sie sind Orientierungsmaßstäbe zur ideologiekritischen Analyse und Bewertung gegebener Zustände und verfehlter Entwicklungen;
  • sie erschließen Handlungsalternativen und Möglichkeitsräume, die über die historischen Erfahrungen hinausreichen und sich von den gedanklichen Fesseln tradierter Muster befreien;
  • sie skizzieren Vorstellungen über eine bessere Zukunft und illuminieren den Horizont der Möglichkeiten, für die es sich einzusetzen lohnt;
  • sie wecken Hoffnungen auf ein besseres Leben, eine friedlichere Zukunft, ein soziales Glück, ohne jedoch die Menschen durch übertriebene Glücksverheißungen zu verführen;
  • sie richten den Blick in die Zukunft, ermöglichen Zielprojektionen, aktivieren potentielle Kräfte und definieren Lösungs-alternativen;
  • sie setzen kreative Energien frei und schützen vor Apathie, Resignation oder einem realitätsverweigernden Escape in verführerische Ideologien mit Heilsversprechen;
  • sie stimulieren Friedens- und Reformbewegungen und verleihen ihnen Dynamik und Orientierung, die notwendig sind, um die oft miserablen Istzustände in Richtung visionärer Sollzustände abzubauen.

Fazit: Für die Konzeptualisierung einer Friedenspolitik, die ebenso problemlösend, realitätstauglich und zukunftsfähig sein soll, bedarf es einer gelungenen Synthese zwischen historischem Wirklichkeitsdenken und visionärem Möglichkeitsdenken. Damit Visionen nicht zu reinen Phantasiegebilden und naiven Utopien werden, wie oftmals in der Geschichte der Utopien geschehen, sind eine kritische Prüfung und eine realistische »Erdung« mit den harten Fakten der bestehenden Wirklichkeit angezeigt. Friedenspolitische Visionen beinhalten erreichbare Optionen und ermutigende Orientierungen über zukünftige Möglichkeiten der Gestaltung gewaltloser bzw. gewaltärmerer Lebensverhältnisse.

Keine Friedensvisionen ohne Friedenstheorie

Visionen vom Frieden, die mehr als nur die Sehnsucht nach Frieden zum Ausdruck bringen, bedürfen der Fundierung durch eine kritisch-reflexive Friedenstheorie.

Der kritisch-reflexive Friedenstheorie-Ansatz

  • mißt die westlichen Gesellschaften an ihren eigenen Ansprüchen und Verfassungen und stellt die vielfältigen, teilweise wachsenden Diskrepanzen zwischen der Verfassungsnorm und der Gesellschaftswirklichkeit zur Kritik;
  • beschränkt sich nicht auf die Darlegung idealtypischer Bedingungen, normativer Standards, politischer Verheißungen, demokratischer Prinzipien und Werte westlicher Zivilisationen, sondern deckt deren Ambivalenzen und Paradoxien auf;
  • analysiert die negativen Nebenwirkungen und Spätfolgen und setzt sie in Relation zu den positiven Errungenschaften westlicher Zivilisationsentwicklung, um eine Gesamtbilanz der Zivilisierung zu ziehen;
  • forscht nach den Ursachen und Dynamiken destruktiver zivilisatorischer Folgeprobleme;
  • stellt die Errungenschaften und Fehlentwicklungen westlicher Zivilisationen in einen kritischen Vergleich zu den Stärken und Schwächen anderer Zivilisationen, um Maßstäbe und Perspektiven für die Entwicklung einer multikulturellen Welt(zivil)-Gesellschaft zu gewinnen;
  • begreift barbarische Erscheinungsformen in den Zivilisationen westlicher Gesellschaften nicht lediglich als Rückfälle, sondern fasst sie als zivilisationsbedingte Merkmale der Moderne auf
  • jagt keinen unerfüllbaren Utopien nach, sondern stellt unpathetische Ideale in Form konkreter, erreichbarer Visionen auf;
  • tritt dafür ein, die sattsam bekannten Diskrepanzen zwischen den wissenschaftlich zur Genüge erfaßten Krisenphänomenen und einem handlungsfähigen Krisenbewußtsein durch ein krisenorientiertes Politikverhalten zu überwinden.

Der kritisch-reflexiven Friedenstheorie liegt ein weiter (positiver) und differenzierter Friedensbegriff zugrunde. Frieden wird definiert als Prinzip einer gewaltfreien Konfliktbearbeitung, als Prozeß zur Verhinderung von Gewaltandrohung und -anwendung, als Produkt einer gelungenen Zivilisierung.

Fazit: Der Friedensbegriff ist nicht a priori auf die Verhütung militärischer Gewalt im Sinne von »nur« Nicht-Krieg beschränkt, sondern er wird vor allem als ein anzustrebender Sollwert definiert. Frieden ist insofern als ein Prozeß zu interpretieren, in dessen Verlauf diese Strukturbedingungen nach und nach mit Hilfe von Friedensstrategien in die Praxis implementiert werden. Im Verlaufe dieses Friedensprozesses ist immer wieder zu überprüfen, in welchem Zustand sich der Frieden als ein Produkt friedenspolitischer Anstrengungen befindet. Alle drei Aspekte des Friedensbegriffes – Prinzip, Prozeß, Produkt – werden für differenzierte Friedensanalysen benötigt und sind für kritisch-reflexive Untersuchungen in einer jeweils problemadäquaten Kombination zu nutzen.

Friedensvisionen brauchen Strategien der Zivilisierung

Die Ziel-Variablen des Zivilisierungsprozesses beinhalten den »inneren« und den »äußeren« Schutz der Individuen und Gesellschaften vor Gewalt und Krieg, Not und Armut, Verfolgung und Unterdrückung sowie vor Anomie und Identitätsverlust.

Als friedenswissenschaftliche Basiskategorie bezeichnet der Begriff der Zivilisierung das Geflecht jener Bedingungen und Entwicklungen, die dazu beitragen,

  • personale, strukturelle und kulturelle Gewalt in jedweder Form (insbesondere in der des Krieges) zu minimieren und möglichst zu eliminieren;
  • praktikable Prozeduren und strukturell-funktionale Mechanismen ziviler, nicht-militärischer Konfliktbearbeitung auszubauen und anzuwenden;
  • strukturelle (politische, ökonomische, soziale, ökologische) Bedingungen für die friedliche Bearbeitung von Konflikten und damit für die Gestaltung eines stabilen, gerechten und nachhaltigen Friedens herzustellen, zu erhalten und zu optimieren.

Wenn Visionen für eine positive Friedensentwicklung und einen konsequenten Zivilisierungsprozeß nutzbar sein sollen, dann müssen sie eine Reihe von Bedingungen erfüllen:

  • Sie müssen glaubhafte Antworten auf die gegenwärtigen Krisentendenzen und die absehbaren Herausforderungen sein, d.h. als bessere Alternativen zur bestehenden Realität angesehen werden;
  • sie dürfen, anders als dieses oft bei Ideologien der Fall ist, nicht mit dem Anspruch auftreten, die Entwicklung der Menschheit auf das von ihnen entworfene Zukunftsbild dogmatisch festzulegen, sondern sie müssen sich als Angebote verstehen, die überzeugend verdeutlichen, wie die Welt von morgen aussehen könnte;
  • sie müssen im Hinblick auf ihre Prinzipien nicht nur grundsätzlich ethisch zustimmungsfähig sein, sondern in ihren normativen Vorgaben auch empirische Befunde zur Kenntnis nehmen und berücksichtigen;
  • sie müssen die konkreten Anstrengungen und realen Bedingungen benennen, die für ihre Realisierung erforderlich sind;
  • sie müssen eine basisdemokratische Unterstützung erfahren, damit eine breite Akzeptanz in der Öffentlichkeit gewinnen und zu mehrheitsfähigen Reformentwürfen werden;
  • sie müssen Eingang in die Programmatik politischer Parteien und in offizielle Regierungspolitik finden, weil nur diese über die erforderlichen Mittel und Methoden zur Umsetzung von Visionen in politische Strategien und praktische Maßnahmen verfügen;
  • sie müssen sich Schritt um Schritt umsetzen lassen, was nicht nur ihre pragmatische Realisierbarkeit und ihre Finanzierbarkeit voraussetzt, sondern auch einen langen Atem der Handelnden und deren Enttäuschungsfestigkeit gegenüber unvermeidlichen Rückschlägen oder Verzögerungen;
  • sie müssen selbstreflexive Qualitäten besitzen, d.h. lernfähig sein, um sich unvorhersehbaren Veränderungen flexibel anpassen zu können und in ihrer Weiterentwicklung nach vorne offen zu sein.
  • Sie haben nur dann eine Chance zur Verwirklichung, wenn sie möglichst allen Beteiligten einen Vorteil gegenüber dem alten Zustand bieten.

Fazit: Nur wenn diese Bedingungen weitgehend erfüllt sind, haben friedenspolitische Visionen eine Chance, von sog. »Realisten« nicht einfach als Tagträume von unverbesserlichen Optimisten abgetan, sondern als politische Handlungsalternativen ernstgenommen zu werden.

Strategie präventiver Gewaltvermeidung

Bisher wird der Entstehungsphase von gewaltträchtigen Konflikt- und Krisenlagen in vielen Lebensbereichen nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit gewidmet. Dringlich ist die Entwicklung von Strategien der Gewaltprophylaxe, damit es zur Verhinderung oder Eindämmung von Gewalt kommt.

Im friedens- und konfliktwissenschaftlichen Nexus soll unter Prävention die Minderung bzw. Beseitigung struktureller Ursachen potentieller Gewalt verstanden werden. Hauptanliegen der Prävention ist die Etablierung von Vorkehrungen der zivilen Konfliktbewältigung. Wesentlich dafür sind die Einräumung und Wahrung von Minderheitenrechten, ökonomische und soziale Prosperität, Abrüstung und Vertrauensbildung, der Schutz natürlicher Lebensgrundlagen sowie die demokratische Verfassung von Staaten.

Die Forderung nach einer Früherkennung und Prävention von Gewaltkonflikten zu erheben ist jedoch leichter, als sie zu erfüllen. Erfolgreiche Prävention erfordert zudem eine große Bereitschaft von Staaten und Gesellschaften, langfristig zu denken und vorab Ressourcen zur Konfliktbeilegung zur Verfügung zu stellen. Diese Bereitschaft war und ist jedoch eher gering, obwohl Früherkennung und Prävention insgesamt kostengünstiger sind als jede andere Form der Konfliktintervention. Zeiten relativen Friedens, die die Gelegenheiten bieten, erkannte Probleme zu lösen, müssen konsequenter, als dies bisher in der Regel geschieht, zur Beseitigung krisen- und gewaltträchtiger Ursachen genutzt werden.

Fazit: Auf einer allgemeinen Ebene läßt sich sagen, daß die Förderung und Unterstützung demokratischer, sozial- und rechtsstaatlicher Verhältnisse der beste Weg ist, um zu verhindern, daß Konflikte gewaltsam ausgetragen werden. Doch kann vermutlich auch eine noch so perfektionierte Prävention nicht immer den Ausbruch und die Eskalation von Konflikten sowie ihre gewalttätige Entgleisung verhindern. Dieser Hinweis soll nicht die hohe Bedeutung der Prävention in Abrede stellen; über die dringliche Notwendigkeit, die Prävention durch »early warning« und »early action« auszugestalten, besteht unter Friedens- und KonfliktforscherInnen breiter Konsens. Dabei mag es nützlich sein, die Ansätze, Methoden und Erfahrungen der Präventiv-medizin und auch der Kriminalprävention zu analysieren, um sie für die Verbesserung der Konzepte und Mittel friedenspolitischer Gewaltprävention einzusetzen.

Strategie ziviler Konfliktbearbeitung

Konflikte sind Urtatbestände des menschlichen (Zusammen-) Lebens, sie sind die Normalität im Alltag. Konflikte haben, wenn sie nicht gewalttätig und nicht unfair ausgetragen werden, eine Reihe positiver Funktionen. Dynamische Demokratien leben von Konflikten, die die »Fronten« klären, Alternativen zur Entscheidung stellen, Ideen generieren und die Anpassung der Menschen und Gesellschaften, Organisationen und Programme an die Veränderungen ermöglichen. Das Ziel kann also nicht darin bestehen, die Konflikte zu beseitigen, sondern Wege zu finden, um mit ihnen konstruktiv und vor allem gewaltfrei umzugehen.

Zivilisierung zielt darauf, Moral, Vernünftigkeit und Gewaltlosigkeit real werden zu lassen. Diese Wertedimensionen der Zivilisierung sind der zentrale Analysefocus der »Friedensethik«, die sich nicht nur mit den einzelnen Prinzipien und Werten (Frieden, Sicherheit, Freiheit etc.) befaßt, sondern vor allem Prozeduren und Kriterien für die Bewältigung von stets vorhandenen Wertkonflikten und immer wieder erforderlichen Güter- und Übelabwägungen erarbeitet.

Die nach wie vor dominierende Realismus-Schule der »Macht- und Militärlogiker« geht davon aus, daß Kriege eine letztlich nicht abschaffbare Form der Konfliktbearbeitung darstellen. Auch der angeblich neuen Sicherheitspolitik der NATO nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes liegt das uralte Paradigma zugrunde, wonach Macht- und Interessenpolitik notfalls mit Hilfe von Militärgewalt (wenigstens im Sinne von Gegengewalt) gegen Aggressionen und rechtswidrige Widerstände durchzusetzen ist.

Dagegen argumentieren die »Zivil- und Friedenslogiker«, daß Militärgewalt generell nicht taugt zur Lösung politischer, ökonomischer, ökologischer oder kultureller Konflikte. Sie verschlechtert in der Regel nur deren langfristige, grundlegende und dauerhafte Befriedung, weil jede durch Gewalt erreichte Vorteilnahme oder erzwungene »Ordnung« zwangsläufig die Antriebe zu ihrer gewaltsamen Überwindung und Rückgestaltung in sich trägt. Mit modernen Waffen geführte Kriege kennen zudem keine echten Sieger und Helden, sondern ausschließlich Verlierer und Opfer.

Potentiell und tendenziell stehen militärische Gewalt und zivilisatorische Entwicklung in einem historischen Verhältnis strukturell-funktionaler Unvereinbarkeit. Diese zivil-militärische Inkompatibilität ist das Ergebnis des Industrialisierungsprozesses. Er hat einerseits die strukturelle Verwundbarkeit entwickelter Risiko-Gesellschaften bis zu ihrer Selbstgefährdung (z.B. durch Atom- und Chemieanlagen) bewirkt und andererseits zugleich eine existenzgefährdende Steigerung der Destruktivitätskraft militärischer Gewalt zur Folge gehabt. Auch die sog. (Bürger-) Kriege stellen einen kollektiven Selbstmord auf Raten dar.

Vor dem Hintergrund der globalen und epochalen Entwicklungen und Bedingungen mit ihren vor allem nicht-militärischen Risiken und Herausforderungen sind nationale Streitkräfte inzwischen zu »historical-lag«-Institutionen geworden. Sie weisen zunehmend mehr Merkmale von Dysfunktionalität auf, weil sie den neuen Erfordernissen von Schutz und Sicherheit aufgrund der veränderten, nicht-militärisch bedingten Risikoentwicklungen immer weniger gerecht zu werden vermögen.

Friedenstheoretisch betrachtet, liegt national organisierte Militärgewalt in vielerlei Hinsicht »quer« zum Zivilisierungsprozeß, die Diskrepanzen zwischen den »neuen« Risikobedingungen und den »alten« Militärapparaten sind offenkundig, und sie verschärfen sich. Nationale Streitkräfte stehen einer Internationalisierung, Kollektivierung und Zivilisierung der Friedenssicherung und -gestaltung tendenziell und potentiell im Wege. Je mehr Europa zu einer politischen Einheit zusammenwächst, desto paradoxer ist die Existenz nationaler Streitkräfte in Europa.

Fazit: Die existentiellen Gefährdungen von Sicherheit und Frieden, Entwicklung und Überleben können ursächlich nur mit Hilfe politischer Konzepte und Strategien entschärft bzw. bewältigt werden. Würde der Großteil der immensen Mittel und Energien, die noch immer für das Militär mit dem fixierten Blick auf den »Ernstfall« aufgewendet werden, für zivile Lösungen der vielfältigen Krisen und Konflikte eingesetzt, und das heißt, zur Beseitigung der ihnen zugrundeliegenden Ursachen verwendet, müßten die Krisen nicht mehr in ihren letzten, gewaltförmigen Auswirkungen militärisch bekämpft werden.

In der Regel besteht ein schiefes Verhältnis zwischen den Aufwendungen an Ressourcen (Kapital, Material und Personal), die für militärische (Schutz-) Aktionen oder Präsenz eingesetzt werden, und jenen, die für zivile (Hilfs-) Aktionen zur Verfügung gestellt werden. Überdies sind die Kosten für zivile Leistungen von Militärkontingenten, die sie in Konkurrenz zu gesellschaftlichen Hilfsorganisationen durchführen, nicht nur oft um ein Vielfaches höher, sondern in der Regel auch von geringerer Professionalität. Statt weiterer Aufwendungen für die Unterhaltung und Modernisierung nationaler (Über-) Rüstungen sind zuallererst deshalb neue politische, nicht-militärische Instrumente und Verfahren zur vorsorglichen Verhütung, Erkennung, Beilegung und Regelung von Konflikten sowie zur friedlichen, kooperativen internationalen Bearbeitung der neuen Risiken gefragt und zu »erfinden«.

Strategie nachhaltiger Friedensgestaltung

Neben der aktuellen Gewaltregulierung und der zivilen Konfliktregulierung sind – längerfristig gesehen – strukturelle Bedingungen erforderlich, damit nachhaltiger Frieden entsteht und erhalten bleibt.

Aufgrund einschlägiger Untersuchungen der Friedens-, Konflikt- und Gewaltforschung sind folgende Strukturen und Variablen von besonderer Bedeutung:

  • Demokratie und Demokratisierung: Es besteht eine positive Korrelation zwischen Friedensstiftung und Demokratieentwicklung. Pluralistische Demokratien fördern die Friedfertigkeit nach innen und nach außen im Umgang mit anderen Demokratien. Auch wenn der schwer erklärbare Widerspruch bleibt, daß demokratische Staaten zwar nicht übereinander herfallen, gleichwohl aber regelmäßig andere nicht demokratische Staaten bekriegt haben.
  • Nicht-Regierungsorganisationen: Unter den heutigen Bedingungen ist es zweckmäßig, zwischen einer »Zivilisierung top down« durch die politischen, ökonomischen und kulturellen »Eliten«, Funktionäre und deren Apparate und einer »Zivilisierung bottom up« durch die Basis, die Bürger, die NGO’s, die »civil society« zu unterscheiden. Eine nachhaltige, bedürfnis- und menschengerechte Zivilisierung kommt nur zustande, wenn die beiden Strategien »von oben« und »von unten« sich nicht wechselseitig blockieren, sondern durch demokratische Kooperation zu einer konstruktiven Synthese gelangen.
  • Menschenrechte und Rechtsstaat: Rechtsstaatlichkeit bedeutet, daß die Ausübung staatlicher Macht nur auf der Grundlage der Verfassung und von formell und materiell verfassungsgemäß erlassenen Gesetzen mit dem Ziel der Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zulässig ist. Die Zivilisierung der Politik besteht somit in der Verrechtlichung der Herrschaftsausübung. Es geht darum, die Herrschaft des/der Stärkeren in eine Herrschaft des Rechts umzuformen. Und zwar nicht nur innerhalb der Staaten und Gesellschaften, sondern vor allem durch einen konsequenten Ausbau der internationalen Rechtsordnung inklusive der Instrumentarien zur Rechtsdurchsetzung.
  • Versorgungssicherheit und Verteilungsgerechtigkeit: Das Modell der Sozialen Marktwirtschaft ist der Versuch, Profitlogik und Sozialbindung, wirtschaftliche Dynamik und soziale Gerechtigkeit zu versöhnen. Im Zuge der Globalisierung scheint jedoch der moderne (Turbo-) Kapitalismus universale Gültigkeit zu erlangen. Die Wirtschaft hat nicht nur das Primat über die Politik gewonnen, sondern sie dominiert, penetriert und instrumentalisiert inzwischen alle Gesellschaftsbereiche und Alltagskulturen.

Tiefe Einschnitte in die sozialen Netze (Sozialabbbau) verschärfen die bestehenden Ungerechtigkeiten. Um den sozialen Frieden in einer Gesellschaft langfristig zu erhalten, ist ein hinreichendes Maß an Verteilungsgerechtigkeit bezüglich der zentralen Güter und Lebenschancen geboten.

  • Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit: Ein stabiler Frieden setzt die dauerhaft umweltverträgliche Erhaltung oder (Wieder-) Herstellung der natürlichen Lebensbedingungen und -räume sowie die naturgerechte (Wieder-) Eingliederung menschlichen Handelns in die vorgegebenen Kreisläufe und Gleichgewichte der Natur voraus. Es geht um eine Versöhnung von Ökonomie und Ökologie. Zur Realisierung einer ökologischen Friedensstrategie sind »Marshallpläne für die Umwelt« nach den Maßgaben der Beschlüsse bzw. Richtlinien der Rio-Umwelt-Konferenz aufzustellen und unter Einhaltung konkreter Zeitpläne und niedriger Emissionskriterien überprüfbar umzusetzen. Da die Natur ein Gemeinschaftsgut ist, dessen Inanspruchnahme in vielen Bereichen (noch) weitgehend gratis ist, müssen zukünftig Kosten für den Umweltverbrauch erhoben werden. Fazit: Es kommt darauf an, die im Prinzip unaufhebbaren Dilemmata nicht durch Entweder-/Oder-Entscheidungen abschaffen zu wollen, sondern sie durch prinzipienorientierte Sowohl-als-auch-Balancen sowie durch »Und«-Strategien angemessen zu regulieren. Die entscheidende Herausforderung aller Zivilisierungsbemühungen liegt deshalb nicht in einer endgültigen Überwindung der gegebenen Dilemmata, sondern in ihrer intelligenten, d.h. in einer optimalen, Entschärfung und Ausbalancierung der das Dilemma ausmachenden Widersprüche.

Vision von einer Kultur des Friedens

Die Realisierbarkeit von Friedensvisi-onen ist in entscheidener Weise von den Kompetenzen der Akteure und deren Friedensfähigkeit abhängig. Friedens-wissenschaftlich ist auf der Handlungsebene vor allem zu untersuchen, wie es generell um die anthropologische (Aggressivitäts-) Ausstattung der Menschen bestellt ist und unter welchen gesellschaftlichen bzw. alltagsweltlichen Bedingungen und Entwicklungen es zur Einhegung oder aber zur Entladung aggressiver Potentiale in gewalttätiges Verhalten kommt. Von besonderer Relevanz ist dabei die Frage nach den Chancen und Möglichkeiten einer friedenspädagogischen Optimierung des Erlernens von Friedenskompetenzen. Dazu ist die Entwicklung einer Kultur des Friedens eine wesentliche Voraussetzung.

Von einer Kultur des Friedens kann konkret gesprochen werden, wenn die Kultur einer Gesellschaft durch folgende Merkmale charakterisiert ist:

  • Durch ein allgemeingültiges Werterepertoire und Normenensemble, das die (größtmögliche) Bändigung von Gewalt als allgemein verbindliches Verhaltensprinzip vorgibt (normativer Aspekt);
  • durch die strukturelle Verankerung von Werten und Normen in Institutionen mit friedensbildender Wirkung, die durch Absprachen, Anreize und Kontrollen sichergestellt wird;
  • durch die Dynamik friedensstiftender Prozesse und Prozeduren, die zur Einübung friedfertigen Verhaltens in Alltagssituationen und Lebenswelten führen;
  • durch friedensfördernde Effekte und Funktionen, die einen stilbildenden Beitrag zur Zivilisierung einer Gesellschaft leisten.

Kurzum: Eine Kultur des Friedens ist gegeben, wenn die Menschen – die miteinander in Kontakt stehen – in der Lage sind, mit Konflikten auf friedvolle Art und Weise umzugehen.

Fazit: »Zivilität« setzt den Erwerb bzw. die Nutzung von generellen und speziellen Friedenskompetenzen voraus. Eine nachhaltige Zivilisierung der Einstellungsmuster und der Verhaltensweisen läßt sich allerdings nicht per Dekret verordnen, sondern sie ist nur in kommunikativen und demokratisierten Diskursverfahren und langwierigen Sozialisationsprozessen zu erlernen. Dabei können geeignete Techniken, Methoden und Programme zur konstruktiven Konfliktbearbeitung und Gewaltvermeidung wertvolle Hilfen geben. Dazu gehört u.a. auch eine konsequente Unterbindung jeglicher Formen kultureller Gewalt und der unreflektierten, kritiklosen Gewaltdarstellung, insbesondere der Gewaltverherrlichung in den Medien.

Westliche Kultur als globale Friedenskultur?

Das Zivilisationsmodell der Moderne, das den westlichen Gesellschaften in Varianten als Entwicklungsfolie dient, befindet sich in einer fundamentalen Krise des Übergangs. Es taugt nicht als Muster für die Gestaltung der Weltgesellschaft, sondern bedarf der kritisch-reflexiven Reformen und der Ausrichtung an zukunftsfähigen Friedensvisionen.

Die moderne Zivilisation abendländischer/westlicher Prägung ist janusgesichtig. Zieht man eine überschlägige Gesamtbilanz, so stehen den unbezweifelbaren Zivilisierungsgewinnen nicht übersehbare Zivilisierungsverluste gegenüber. Einerseits werden durch Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Wachstum und Wohlstand zwar Gewaltpotentiale gezähmt und reguliert. Andererseits sind aber durch die Technisierung der Kriegsführung, die Erfindung der Massenvernichtungswaffen, die Konzentration der Macht, die kapitalistische Wirtschaftsweise und Ressourcenausbeutung und durch die Entwurzelung und Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile die Destruktions- und Desintegrationspotentiale in bisher nicht bekannter Weise gesteigert worden. Der Erfolg der westlichen Zivilisation kehrt sich in der Spätphase mehr und mehr gegen sich selbst, so daß eine Implosion nicht mehr ausgeschlossen werden kann.

In ihrer Gesamtheit deuten die Krisenindikatoren darauf hin, daß sich in den entwickelten, westlichen Industriegesellschaften ein Systemwechsel vollzieht. Historisch betrachtet, weisen diese Symptome auf einen sich anbahnenden bzw. vollziehenden Epochenwandel hin. Insgesamt ist deshalb von der Einsicht auszugehen, daß eine fundamentale Hinterfragung und Überwindung des Paradigmas der westlichen Moderne dringend erforderlich ist. Das einst in Europa ersonnene Modell der Zivilisation hat sich zwar als konkurrenzlos dynamisch und erfolgreich erwiesen. Doch für die Gestaltung der Zukunft ist es nicht geeignet.

Vor dem Hintergrund europäischer (und vor allem deutscher) Geschichte (Kolonialismus, Weltkriege, Holocaust, Kapitalismus) und der gegenwärtigen Krise der Moderne haben die Europäer – und insbesondere die Deutschen – keine moralische Berechtigung, in der Attitüde eines Lehrmeisters oder Wegweisers aufzutreten. Angemessener ist eine Haltung der Offenheit und Toleranz, der Empathie und Akzeptanz gegenüber den anderen Kulturen. Gemeinsame Schnittflächen und Ankopplungen zwischen den Weltkulturen auszumachen, ohne die eigene Identität aufzugeben, wäre ein friedensstiftendes Konstitutionsprinzip für die Entwicklung einer zugleich flexiblen wie authentischen Multi-Identität.

Fazit: Das alte Modell der westlichen Moderne ist mitnichten der »Exportschlager« für die Befriedung der Welt, als der er von verschiedenen Seiten propagiert wird. Bevor ein Gesellschafts-, Politik- und Wirtschaftssystem als Folie für die Strukturierung der Weltgesellschaft dienen kann, ist es selbst einer kritischen Inventur und Reform zu unterziehen. Durch eine »Aufklärung der Aufklärung«, die deren Schieflagen und Fehlentwicklungen kritisch reflektiert und praktisch korrigiert, könnten Visionen und Optionen für den Aufbruch in eine »Zweite Moderne« gewonnen werden. Ein weiterführender Beitrag der Europäer zur Entwicklung einer globalen Friedenskultur ist nur aus der Einstellung und Sicht einer europäischen Selbst-Reflexivität zu leisten. Konkret bedeutet dies, Europa zu einer weitgehend demilitarisierten »Friedensmacht« umzugestalten, die eine konstruktive Weltpolitik zivilisierter, nicht-militärischer Friedensgestaltung zu ihrem Politikkonzept macht.

Die Thesen wurden für W&F sehr stark gekürzt. Sie erscheinen Mitte September in der Originalfassung mit umfangreichen Literaturangaben in den »Beiträgen zur Friedenswissenschaft« der IWIF und können für DM 4,- plus Porto bei der Redaktion angefordert werden.

Dr. Wolfgang R. Vogt., Dozent, Vorsitzender des Trägervereins von W&F

Frieden durch Freihandel und Demokratie

Frieden durch Freihandel und Demokratie

Zur Genesis des liberalen Modells der Friedenssicherung

von Gottfried Niedhart

Der Weltkriegsgeneral und spätere Reichswehrminister der Weimarer Republik Wilhelm Groener beobachtete 1927, als die internationale Friedensordnung von Locarno noch nicht gescheitert war, widerstreitende Tendenzen in der Weltpolitik: auf der einen Seite „Bestrebungen der Regierungen, durch politische Friedensaktionen kriegerischen Entladungen vorzubeugen;“ auf der anderen Seite fortgesetzte Anstrengungen „die Völker für den Krieg zu organisieren.“ Dabei wollte er nicht ausschließen, daß sich das Interesse an Friedenswahrung durchsetzen und „die Menschheit“ an einem „Wendepunkt ihrer Geschichte stehen könnte“. Er führte dies nicht auf einen Bewußtseinswandel der Menschen nach dem Schock des Ersten Weltkriegs oder auf die Überzeugungskraft von Pazifisten zurück. Vielmehr glaubte er, einen strukturell wirkenden Damm gegen kriegerischen Konfliktaustrag entdeckt zu haben. Die Regierungen seien infolge globaler Interdependenzen wirtschaftlicher und finanzieller Art in ihrem politischen Handlungsspielraum eingeengt. Die moderne Wirtschaft, die mit ihren globalen Verzweigungen und Verflechtungen nicht mehr nur Sache der Nationalstaaten und ihrer Volkswirtschaften sei, übe möglicherweise „einen unwiderstehlichen Zwang zum Frieden“ aus. „Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen werden oftmals mächtiger sein als kriegerische Bestrebungen.“  1

In unserem Zusammenhang kommt es nicht auf den historischen Kontext der Äußerungen von Groener an, die er als Randbemerkungen zu einem Vortrag über die »Bedeutung der modernen Wirtschaft für die Strategie« machte, sondern auf das Argumentationsmuster, Krieg könne angesichts der grenzüberschreitenden Dynamik und internationalen Verflechtung der modernen Wirtschaft interessenwidrig sein. Handel und mehr noch finanzielle Verflechtungen ließen die Neigung der souveränen Nationalstaaten zur Anwendung militärischer Gewalt zurücktreten. Auch in dieser Zeitschrift wurde kürzlich die Überzeugung geäußert, kriegerische Konflikte seien in Mitteleuropa nicht zu erwarten, denn: <-2>„Die wirtschaftliche Verflechtung ist hochentwickelt und knüpft sich jeden Tag fester.“2

Der Glaube an die friedensstiftende Kraft der Wirtschaft datiert in der modernen Welt aus der Entstehungsphase einer zunehmend arbeitsteilig und global angelegten Industrie- und Dienstleistungswirtschaft im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, wenn man so will, aus der Globalisierung vor der Globalisierung unserer Tage. Die liberale ökonomische Theorie forderte in ihrer Kritik an der vorindustriellen Wirtschaftspolitik des Merkantilismus, in der der Staat den Außenhandel regelte, eine weitgehende Liberalisierung nicht nur, weil erst dadurch wirtschaftliches Wachstum in Gang kommen könne, sondern auch, weil der Markt – im Unterschied zum Staat – den gewaltfreien Interessenausgleich nach sich ziehe. Als Vorreiter der Industrialisierung war Großbritannien der Ort, wo eine breit entwickelte liberale Publizistik die Orthodoxie des Merkantilismus in Frage stellte, internationale Wirtschaftsbeziehungen seien als Nullsummenspiel zu verstehen und der eigene Gewinn könne am Verlust gemessen werden, den andere Volkswirtschaften erleiden. Die moderne Wirtschaft, so wurde dem entgegengehalten, entfalte sich in einem internationalen Austauschsystem. Mehr noch: Der moderne Handelsstaat basiere auf der wirtschaftlichen Variante von Machtpolitik, so daß die militärische Variante als zu kostenträchtig und die Institution des Krieges als unproduktiv einzustufen seien. Krieg erschien als Ergebnis nicht funktionierender und durch staatlichen Dirigismus gelenkter Marktbeziehungen, Frieden dagegen als notwendige Konsequenz des Freihandels und zunehmender Waren- und Finanzströme.

Autoren wie David Hume oder Adam Smith setzten auf die regulierende Kraft des Marktes, wenn dem Staat auch eine wesentliche Ordnungsrolle erhalten bleiben sollte. Es liege auch im eigenen britischen Interesse, wenn sich die Wirtschaft der Konkurrenten günstig entwickle. Mit dem Blick auf den Hauptgegner um die Vormachtstellung in der Welt plädierte man für eine neue Wahrnehmung Frankreichs, das nicht mehr in erster Linie als zu bekriegender natürlicher Feind, sondern als normaler Konkurrent perzipiert werden müsse. Als Freihandel werde Handel, so Adam Smith 1776, nicht nur zu größerem Wohlstand führen, sondern auch das »Band der Freundschaft« zwischen den Staaten herstellen. 3

Damit war ein Thema angeschlagen, das in Verbindung mit weiteren Elementen zum Kernbestand liberal-aufklärerischer Friedensplanung gehörte und bis heute seine Wirkung entfaltet. Unabhängig davon, ob man im Anschluß an Francis Fukuyama das Ende der Geschichte in Erfüllung liberaler Ziele gekommen sieht, in Übereinstimmung mit Ernst-Otto Czempiel die Stunde der Gesellschaftswelt angebrochen wähnt oder mit Dieter Senghaas auf das zivilisatorische Hexagon setzt – der Ausgangspunkt ist in der liberalen Kritik am Staat des Ancien Régime zu sehen, für den Krieg ein legitimes Mittel seiner Interessenverwirklichung darstellte. Wie relevant diese Kritik noch heute ist, hat sich 1995 gezeigt, als anläßlich des 200. Jahrestags der Publikation von Immanuel Kants Schrift »Zum ewigen Frieden« zahlreiche Kongresse und Veröffentlichungen zu verzeichnen waren, in denen Kants Überlegungen und Forderungen im Licht gegenwärtiger Fragen diskutiert wurden.

Auch Kant erwartete vom Ausbau internationaler Handelsbeziehungen eine Eindämmung des kriegerischen Konfliktverhaltens der Staaten: „Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann und der früher oder später sich jedes Volkes bemächtigt.“ 4 Für Kant mußten darüber hinaus weitere Bedingungen gegeben sein, um Frieden »stiften« zu können. Im Innern der Staaten sollte ein höheres Maß an politischer Partizipation der Bevölkerung gegeben sein, und nach außen sollte der anarchische Naturzustand der internationalen Politik durch eine »föderative Vereinigung“_5 der Staaten überwunden werden. Mit Kants Friedensschrift war das liberale Modell der Friedenssicherung als Kern bürgerlichen Friedensdenkens ausformuliert, auch wenn zentrale Elemente wie Demokratie, Abrüstung, Soveränitätsverzicht zugunsten internationaler Organisationen erst später zur Entfaltung kamen.

Was an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert noch weiter entfernt war als Freihandel, war die Demokratie. Selbst in Großbritannien, dem Mutterland des Parlamentarismus und des organisierten Pazifismus, dauerte es bis 1928, ehe das Wahlrecht (fast vollständig) demokratisiert war. Es ist aber bemerkenswert, daß verschiedene prominente Vorkämpfer des Freihandels nicht nur für den Abbau von Zöllen, sondern auch – in den sechziger Jahren – für die Ausdehnung des Wahlrechts eintraten. Im Vordergrund stand freilich die Wirtschaft als Vehikel des reformerischen Wandels. Als 1846 eine für England historische Weichenstellung mit dem Abbau der Getreidezölle anstand, stellte der Textilunternehmer Richard Cobden aus Manchester die Liberalisierung des Außenhandels nicht nur als egoistisches Interesse der Baumwollindustrie dar, das sie ohne Zweifel auch war. Er war auch davon überzeugt, „daß der Freihandel das Gesicht der Welt verändern wird … Ich glaube, daß das Verlangen nach großen und mächtigen Weltreichsbildungen, nach gigantischen Armeen und großen Flotten aufhören wird, das Verlangen nach all den Dingen, die benutzt werden, um Leben zu zerstören und die Früchte menschlicher Arbeit zu verwüsten. All das wird aufhören, wenn die Menschheit eine Familie wird und jeder die Früchte seiner Arbeit mit seinem Mitmenschen frei austauschen kann. Ich glaube, daß in einer fernen Zeit die Welt wie eine städtische Gemeinde regiert wird. Und ich glaube, daß man in tausend Jahren die größte Revolution in der Weltgeschichte auf den Tag datieren wird, an dem das Prinzip des Freihandels sich durchsetzt, für das wir hier eintreten.“ 6

International erhielt das liberale Modell seine eigentliche Schubkraft mit dem Anspruch der USA, es zur Grundlage der internationalen Beziehungen zu machen. In seiner bekannten Erklärung vor dem Kongreß im April 1917 anläßlich des amerikanischen Kriegseintritts bestand Präsident Wilson auf dem Zusammenhang von Demokratie und Frieden: „Die Welt muß sicher gemacht werden für die Demokratie.“ Nur die „Partnerschaft demokratischer Nationen“ garantiere ein „beständiges Zusammenspiel für den Frieden“. In Wilsons Vision war der Anfang eines neuen Zeitalters gekommen, in dem demokratisch verfaßte Staaten sich ohne Überrüstung und Krieg in einem „Konzert der freien Völker“ würden begegnen können. Vorbei sollten die „alten unglücklichen Zeiten“ sein, „als die Völker nirgendwo von ihren Herrschern zu Rate gezogen und Kriege provoziert wurden im Interesse von Dynastien oder kleinen Gruppen ehrgeiziger Leute.“ 7 Eine Abrundung erfuhren diese Punkte mit dem amerikanischen Kriegszielprogramm der »Vierzehn Punkte« vom Januar 1918, die zum einen innenpolitischen Wandel in Deutschland als Voraussetzung für Friedensverhandlungen implizierten, die sich zum anderen mit der Forderung nach „Freiheit der Schiffahrt“ und „Aufhebung sämtlicher wirtschaftlicher Schranken“ 8 aber auch gegen Großbritannien richteten. Darüber hinaus sollten sie dem sozialistischen Modell Lenins, das Frieden durch Revolution verwirklichen wollte, den Rang ablaufen.

Die amerikanischen Maximalziele wurden nach Ende des Ersten Weltkriegs nicht erreicht. Aber es ist nicht zu leugnen, daß sich die USA mit ihrem Verlangen nach Liberalisierung tief in die Angelegenheiten anderer Staaten einmischten und daß mit der von Wilson betriebenen Gründung des Völkerbunds ein neues Kapitel in den internationalen Beziehungen begann. Spätere Grundsatzerklärungen wie die Atlantik-Charta von 1941 führten die von Wilson eingeschlagene Linie fort. Gestützt auf ihre überragende Wirtschaftskraft verfolgten die USA das Ziel der liberalen »One World« mit den USA als Führungsmacht, aber auch als in weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Fragen Verantwortung tragende Steuerungsinstanz. Die westeuropäische Nachkriegsentwicklung und die Schaffung des »OECD-Friedens« sind ohne die amerikanische Durchsetzung des liberalen Modells nicht denkbar und belegen die »Relevanz von Friedenstheorien“_9 für die praktische Politik.

Die historische Bedeutung des liberal-aufklärerischen Modells der Friedenssicherung bestand darin, daß der Krieg nicht mehr als naturwüchsig und schicksalsverordnet angesehen wurde. Daß Kriege »ausbrechen«, hat sich andererseits bis heute in der Alltagssprache gehalten. Daß sie ein Mittel der Politik sind und Frieden also ebenfalls hergestellt werden kann, war ein Neuansatz politischen Denkens, der sich mit der politisch-ökonomischen Doppelrevolution an der Schwelle zur Moderne verband. Der Sturz des Ancien Régime in der amerikanischen und französischen Revolution und der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft in der Industriellen Revolution waren die neuen Rahmenbedingungen für friedenspolitisches Denken. Frieden erschien nicht länger als Utopie, sondern als Werk der Politik und wurde im 20. Jahrhundert schrittweise zur politischen Norm.

Zugleich war das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert extremer Gewalt und millionenfachen Todes infolge von Kriegen. Das liberale Modell war fraglos kein Allheilmittel für die Krankheit Krieg. Dies hat es mit anderen Modellen gemeinsam. Die Ursachen liegen einerseits in der »Dialektik der Aufklärung«, zu der ganz wesentlich gehört, daß Gewaltverzicht keineswegs durchgängig zur bestimmenden Norm in Modernisierungsprozessen geworden ist. Die Grenzen des liberalen Modells liegen aber auch in ihm selbst begründet, insofern es einer historischen Konstellation entsprang, in der das Eintreten für den Frieden mit spezifischen Interessen liberaler Industriegesellschaften zusammenfiel, gleichzeitig aber zu einem allgemeinen Menschheitsinteresse erhoben wurde. Was als Verheißung daherkam, war materiell in den Bedürfnissen der »bürgerlichen« Internationale verankert, deren Weltbild westlich zentriert war.

Auch demokratische Handelsstaaten sind Machtstaaten. Die liberale »One World« schafft das internationale System der hierarchisch positionierten Mächte nicht ab. Mit anderen Worten: die Attraktivität des Wirtschaftsfriedens und die Anziehungskraft liberaler Gesellschaften westlicher Prägung sind keineswegs so automatisch gesichert, wie dies aus der Sicht derjenigen erscheint, die den liberalen Frieden wollen. Die Ausstrahlungskraft des liberalen Modells hängt von seiner Leistungsfähigkeit ab. Seine Verfechter können immerhin darauf verweisen, daß liberal-demokratische „Gesellschaften Kriege gegeneinander nicht führen.“ 10

Literatur

Ceadel, M. (1996): The Origins of War Prevention, The British Peace Movement and International Relations 1730-1854, Oxford.

Czempiel, E.-O. (1986): Friedensstrategien, Systemwandel durch Internationale Organisationen, Demokratisierung und Wirtschaft, Paderborn u.a..

Czempiel, E.-O. (1993): Weltpolitik im Umbruch, Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, 2. Aufl. München.

Dülffer, J. und Niedhart, G. (1997): Das internationale System und das Problem der Friedenssicherung (= Historische Friedensforschung, Kurseinheit 3), Hagen, FernUniversität.

Fetscher, I. (1972): Modelle der Friedenssicherung, München.

Höffe, O. (Hrsg.) (1995): Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (= Klassiker Auslegen, Bd. 1). Berlin.

Holl, K. (1997): Pazifismus und Friedensbewegungen (=Historische Friedensforschung, Kurseinheit 2), Hagen, FernUniversität.

Lutz-Bachem, M. und Bohman, J. (Hrsg.) (1996): Frieden durch Recht, Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, Frankfurt am Main.

Niedhart, G. (1984): Das liberale Modell der Friedenssicherung: allgemeine Grundsätze und Realisierungsversuche im 19. und 20. Jahrhundert, in: Schlenke, M. und Matz, K.-J. (Hrsg.): Frieden und Friedenssicherung in Vergangenheit und Gegenwart, München, S. 67-83.

Menzel, U. (1996): Weltinnenpolitik, Perspektiven und Grenzen eines idealistischen Projekts in weltbürgerlicher Absicht, in: Merkur (1996), S. 578-591.

Rosecrance, R. (1987): Der neue Handelsstaat, Frankfurt am Main.

Spillmann, K.R. (1984): Amerikas Ideologie des Friedens. Ursprünge, Formwandlungen und Geschichtliche Auswirkungen des amerikanischen Glaubens an den Mythos von einer friedlichen Weltordnung, Bern u.a.

Anmerkungen

1 Publiziert in: Weltwirtschaft 15 (1927), S. 68-70, auch in Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 19 (1971), S. 1170-1177. Zurück

2 Till Bastian in seinem Gastkommentar: Geloben? Öffentlich? in: Wissenschaft und Frieden 2/98, S. 5. Zurück

3 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Aus dem Englischen von H.C. Recktenwald, München 1978, S. 410 Zurück

4 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: ders., Werke, Bd. 9, Darmstadt 1983, S. 226. Zurück

5 Ebd. S. 212. Zurück

6 N. McCord (Hg.), Free Trade. Theory and Practice from Adam Smith to Keynes, Newton Abbot 1970, S. 73 f. Zurück

7 Zitate bei Gottfried Niedhart, Internationale Beziehungen 1917-1947, Paderborn u.a. 1989, S. 13, 15. Zurück

8 Ebd. S. 18. Zurück

9 Dieter Senghaas, Die Relevanz von Friedenstheorien für die Neugestaltung Europas, in: Manfred Knapp (Hg.), Konzepte europäischer Friedensordnungen, Stuttgart 1992, S. 27-52. Zurück

10 Dieter Senghaas, Hexagon-Sünden. Über die Kritik am „zivilisatorischen Hexagon“, in: Jörg Calließ (Hg.), Wodurch und wie konstituiert sich Frieden? Das zivilisatorische Hexagon auf dem Prüfstand (= Loccumer Protokolle 74/96), Loccum 1997, S. 327. Zurück

Professor Dr. Gottfried Niedhart lehrt am Historischen Institut derUniversität Mannheim

Editorial

Editorial

von Paul Schäfer

Die Gesellschaft kann auf Dauer nicht mit den Mitteln zu ihrer Vernichtung leben.“

Vor fünfzehn Jahren, in der ersten Ausgabe des »Informationsdienstes Wissenschaft und Frieden«, prägte Professor Werner Dosch diesen Satz. Dies war im Raketenherbst 1983 vor allem auf die Atomwaffen gemünzt. Doch es ging um mehr. „Rüstung tötet – täglich“, lesen wir im selben Heft. Mit der Friedensbewegung begann die Einsicht in die Funktion der Rüstung als gesellschaftlicher Destruktivkraft. Gerade haben Forscher errechnet, daß die USA für das nukleare Wettrüsten zwischen 1940 bis 1996 5,8 Billionen Dollar ausgegeben haben – mehr als für Gesundheit, Straßenbau, Bildung und Wissenschaft zusammengenommen. Es gilt weiterhin: Was für Tötungsmaschinen aufgebracht wird, fehlt bei der Bekämpfung von Not und Elend.

Die Friedensbewegung hat zugleich damit angefangen, die jahrhundertelang gewachsene »Kultur des Krieges« aufzuarbeiten, die im 20. Jahrhundert in zwei Weltkriegen eskalierte und die die Menschheit in Gestalt des atomaren Over-kills an den Rand des Abgrundes geführt hatte. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich damals in großer Zahl für Frieden und Abrüstung engagierten, verstanden sich als Teil einer Gegenkultur. „Das Umdenken in der Wissenschaft ist Bestandteil einer neuen Kultur, die an den Zielen Frieden, Humanität, Gerechtigkeit orientiert ist.“ So zu lesen in der Ausgabe 3/4-1986.

Die Visionen eines positiven Friedens wurden durch die Umbrüche in der Sowjetunion und das »Neue Denken« Gorbatschows kräftig genährt. Die Agenda der späten 80er Jahre lautete: Überwindung der Konfrontationsära; internationale Kooperation zur Bewältigung der globalen Überlebenskrise. Endlich schien es möglich, die gesellschaftlichen Ressourcen auf die eigentlichen Fragen – soziale und demokratische Entwicklung, Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen – zu konzentrieren. Im Editorial 2/89 findet sich der prophetische Satz: „Eine Neue Europäische Friedensordnung kann nur entstehen und langfristig bestehen, wenn allseits eine konsequente Entmilitarisierung und Zivilisierung betrieben wird.“

Doch der »wind of change«, der den Umbruch 1989/90 begleitete, hat sich wieder gedreht.

Der politische und öffentliche Diskurs ist durch die Kriege am Golf und auf dem Balkan grundlegend verändert. Der Antibellizist Kant erscheint nunmehr moralisch fragwürdig und realitätsuntauglich, der Theoretiker des Krieges Clausewitz erlebt seine zweite Renaissance.

Es mag zutreffen, daß die Konflikte, die in den 90er Jahren zusehends virulent wurden, andere Antworten als die einfach-pazifistischen erfordern. Die differenzierte Debatte darüber muß weitergehen. Aber die Doktrinen der wiederbelebten Militärkultur führen nicht weiter. Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter. Im Kongo wie im Kosovo. Neue Antworten werden gebraucht.

Eine »Weltordnungspolitik«, die auf Abschreckung und Militärdominanz gegründet ist, ist auf Dauer zum Scheitern verurteilt. Das aktuelle Scheitern der atomaren Nichtweiterverbreitungspolitik ist Indiz dafür.

Der »Interventionismus«, der gegenwärtig wieder die Militärapparate wachsen läßt, hat seinen Preis. Während allenthalben der Aufbau sogenannter Krisen-Eingreiftruppen forciert wird, geraten die eigentlichen Programme zur Bekämpfung der Konfliktursachen ins Hintertreffen.

Die »innergesellschaftliche Re-Legitimierung des Militärischen«, die hierzulande schon wieder den Kotau vor dem Soldatentum zur Staatsräson verklärt (siehe den Streit um die öffentlichen Gelöbnisse), beschädigt auch die zivilgesellschaftliche Demokratie. Und: Wo der Weg zur Mystifikation von Macht und Gewalt nicht weit ist, wird die Fähigkeit zur friedlichen Konfliktaustragung beeinträchtigt.

Eine globale politische Ökonomie, die für den Krieg keinen Raum läßt, erfordert … eine neue Kultur der menschlichen Beziehungen“ (John Keegan, Die Kultur des Krieges). Für eine solche Kultur ohne Krieg steht »Wissenschaft und Frieden«. Und dies seit genau 15 Jahren. Für uns ist das Anlaß, dieses Heft dem Thema »Friedenskonzepte« zu widmen. Entmilitarisierung und Zivilisierung sind heute in die Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften eingebettet. »Wissenschaft und Frieden« hat dem in den neunziger Jahren zusehends Rechnung getragen und wird sich auch künftig daran orientieren. Es hat ein erhebliches Durchstehvermögen gekostet, dieses Projekt über all die Jahre zu betreiben. Dies war sinnvoll. Die Zeitschrift wird weiter gebraucht.

Ihr Paul Schäfer

Editorial

Editorial

von Jürgen Scheffran

Zu Beginn des Jahres 1998 dokumentieren fünf Millionen offiziell gemeldete Arbeitslose in Deutschland, daß die soziale Marktwirtschaft weniger denn je in der Lage ist, allen Menschen Wohlstand und Glück zu bringen. Immer mehr Menschen fallen durch das »soziale Netz«, werden ausgegrenzt und entwurzelt. Es entwickelt sich ein Teufelskreis aus persönlichen Problemen und sozialem Abstieg, der für eine Million Menschen bereits in der Obdachlosigkeit endete.

Dabei ist Deutschland kein Sonderfall. In den OECD-Ländern sind offiziell mehr als 36 Millionen Menschen erwerbslos, weltweit mehr als 1 Milliarde Menschen unterbeschäftigt oder ohne Erwerbsarbeit. In Europa und den USA sinken die Realeinkommen seit den siebziger Jahren, die Einkommensverteilung wird zunehmend ungleich. Während die Industrieländer auf dem Weg in die Zwei-Drittel-Gesellschaft sind, hat sich zwischen Nord und Süd die Ein-Fünftel-Gesellschaft etabliert, in der ein Fünftel der Menschheit vier Fünftel der Ressourcen in Anspruch nimmt.

Zunehmend wird offenkundig, daß nach einem Jahrhunderte währenden Siegeszug die Grenzen des wachstumsorientierten Entwicklungsmodells erreicht sein könnten. Dessen Prinzip, die permanente Grenzüberschreitung, läßt sich nicht beliebig fortsetzen. Dennoch wird nun mit der Globalisierung und Liberalisierung der Weltökonomie der Versuch unternommen, die weltumspannenden Ströme von Gütern, Kapital, Finanzen, Technologie und Kommunikation weiter zu beschleunigen, weil nur durch mehr Wachstum das Wirtschaftskarussell sich weiter dreht.

In wenigen Jahrzehnten werden in diesem Karussell die Reichtümer, die die Natur in Jahrmillionen geschaffen hat, aufgebraucht. Die Produktion verwandelt Naturressourcen in konsumierbare Waren. Je mehr produziert und konsumiert wird, desto mehr wird vernichtet; je mehr vernichtet wurde, desto mehr muß wieder produziert werden. Auf immer größeren Massenmärkten wird nahezu alles dieser Produktions- und Konsumlogik unterworfen. Der »Standort Deutschland« ist nur ein Feld im Schachbrett transnationaler Konzerne, die ihren Wettkampf längst in die Dritte Welt verlagert haben, wo die Produktion zu niedrigeren Löhnen zu haben ist. Der technische Fortschritt tut ein Übriges, um die Arbeitskraft in den Industrieländern zu ersetzen. Dem enormen Tempo der Innovation sind soziale und ökologische Systeme nicht gewachsen. Arbeitslosigkeit und Sozialabbau sind ebenso die Folge des Strebens nach höheren Renditen wie Umweltzerstörung und Überlastung der noch verbleibenden Beschäftigten. Die jüngste Wirtschaftskrise in Asien und die durch Preiserhöhungen bedingten Krawalle machen deutlich, welches Konfliktpotential damit einhergeht. Hier wird Gewalt produziert, gerät der »soziale Frieden« in Gefahr.

Es scheint, daß sich die Regierungen der westlichen Länder Sorgen um die Stabilität ihrer staatlichen Ordnungen machen. Werden die ausgegrenzten Bevölkerungsteile stillhalten oder wie in Frankreich auf den Putz hauen? Zahlreiche Regime der Dritten Welt zeigen, daß Hunger, Elend und wirtschaftliche Not die staatliche Autorität untergraben, Demokratisierung behindern und den Ruf nach dem »starken Mann« provozieren können. Wenn der Wettkampf um knapper werdende Ressourcen sich verschärft, besteht die Gefahr, daß Staaten auf die wahrgenommenen Risiken mit einem gesteigerten Sicherheitsapparat reagieren.

Die Dialektik von Bedrohung und Selbstbedrohung bestimmt besonders die USA. Nur schwer nachvollziehbar ist, wie die Militär- und Wirtschaftsmacht USA selbst in den kleinsten und entferntesten Gegnern noch Feinde des »American Way of Life« identifizieren kann. Dabei sind die USA sich selbst ihr größter Feind. Die Spaltung in Arm und Reich ist hier so ausgeprägt wie in keinem anderen Industrieland. Während die Spitzen der Gesellschaft nicht wissen, wohin mit ihrem Vermögen, sind immer mehr Menschen gezwungen, für einen Hungerlohn einen oder mehrere Jobs anzunehmen. Eine Kehrseite ist die hohe Gewaltbereitschaft, die sich nicht nur in der Kriminalität von unten ausdrückt, sondern auch in einem ausgefeilten Sicherheits- und Gewaltapparat von oben, an dessen Spitze die staatlich legitimierten Hinrichtungen stehen. Ein Gewaltpotential, das auch nach außen weitergegeben wird, so in der jüngsten Irak-Krise.

Das amerikanische Modell kann kein Vorbild für die BRD sein. Der soziale Frieden, auf den die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft so stolz war, steht auf schwachen Füßen. Eine Lösung ist nur möglich, wenn die Gesellschaft sich um die (Re-)Integration aller bemüht und bereit ist, den Reichtum gerecht zu teilen. Welche Alternativen zum wachstumsorentierten Wirtschaften bestehen, zeigt die 1996 erschienene Studie des Wuppertal-Instituts für ein »Zukunftsfähiges Deutschland«. Sie macht deutlich, daß Lebensqualität erreicht werden kann, ohne die Umwelt zu zerstören und entfernt lebende Menschen und zukünftige Generationen zu schädigen. Die Realisierung eines solchen Weges könnte eine Vielzahl neuer Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen, die Umwelt schonen, Konfliktpotentiale abbauen und den sozialen Frieden sichern. Dies wäre ein geeigneter Prüfstein für das Wahljahr 1998.

Ihr Jürgen Scheffran

Das Absägen einer Vision

Das Absägen einer Vision

Zum Verhältnis zwischen USA und UN

von Alice Slater • Christopher McCavitt

Als der Zweite Weltkrieg sich dem Ende näherte, bildete Präsident Franklin Roosevelt eine Sonderarbeitsgruppe, die die Grundlagen für eine internationale Organisation als Priorität amerikanischer Nachkriegspolitik legen sollte. Roosevelt und sein Nachfolger Harry Truman mobilisierten die ganze Breite amerikanischen Einflusses für dieses Projekt, und 1945 wurden in San Francisco die Vereinten Nationen (UN) mit der Erwartung gegründet, daß unter ihrem Dach die Nationen gemeinsam für eine gerechte und friedvolle Welt auf der Grundlage der zuerst in der amerikanischen Verfassung verkündeten und jetzt in die UN-Charta eingebrachten universellen Werte zusammenarbeiten sollten. Die Unterstützung der USA für die UN markierte eine dramatische Wende in der US-Politik, weil die USA damit ihre vorherige isolationistische Politik aufgaben. Ausschlaggebend für diese Wende waren die Erfahrung des Krieges sowie die Überzeugung, daß das Kriegsende den alliierten Mächten eine geschichtliche Chance zur Neugestaltung der Welt eröffnet hatte.

Tragischerweise kam der Kalte Krieg dazwischen, und US-Politiker verloren die visionären Ziele der UN aus dem Blickfeld. Die Organisation, durchsetzt mit den Idealen der Menschlichkeit, wurde in vieler Hinsicht auf eine Bühne diplomatischer Konfliktaustragung reduziert. Obwohl die UN weiterhin durch ihre verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Unterorganisationen funktionieren konnte und herausragende Leistungen wie die Ausrottung der Pocken durch die Weltgesundheitsorganisation und weltweite Unterstützung für das Ende der Apartheid erreichte, verblaßte der Traum eines dauerhaften Weltfriedens, der bei ihrer Entstehung im Mittelpunkt gestanden hatte.

Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung der Sowjetunion finden sich die USA wieder allein als die dominierende Nation auf dem Globus, und eine neue Generation amerikanischer Politiker sieht sich vor die Herausforderung einer in Bewegung geratenen Welt gestellt. Wie bei ihren Vorgängern 50 Jahre zuvor suggerieren ihre Reden ehrgeizige Pläne für die UN. Eine erweitere Rolle für eine zu einem gewichtigen Faktor in den internationalen Beziehungen erneuerte UN ist Präsident Clintons erklärtes Ziel seit seinem Wahlkampf 1992. Doch in der Praxis stellt sich heute die Frage, ob wieder eine Gelegenheit ausgelassen wird. Letztlich wird die Politik eines Staates von seinen Handlungen bestimmt und nicht von Worten. Und hier muß gesagt werden, daß die USA vom Nichtbezahlen ihrer Schulden bei der UN über die Steuerung der UN-Reform bis hin zur Neubestimmung der Rolle der UN ihrer Rolle nicht gerecht geworden sind.

Die Zahlungskrise

Die Clinton-Administration kann mit Recht sagen, daß die UN-Finanzkrise nicht ihre Schuld ist. Die gegenwärtigen Beitragsaußenstände der USA haben ihre Wurzeln in den späten 70er Jahren, als die politische Rechte in den USA, mißtrauisch gegenüber dem Einfluß der Dritte-Welt Staaten auf den UN-Haushalt, die US-Beitragszahlungen zu kritisieren begann. Insbesondere die Reagan-Ära war eine schwierige Zeit, weil die Administration in einer Reihe von Fällen Beitragszahlungen zurückhielt, um die UN zum Einlenken auf US-Positionen zu bewegen.

Abgesehen von diesem geschichtlichen Erbe, vernachlässigen die USA auch heute noch ihre finanziellen Verpflichtungen. Präsident Clinton hatte im Wahlkampf versprochen, eine Lösung der Zahlungskrise zu finden, aber bis zu diesem Tag sind die USA größter Schuldner der UN mit Außenständen von ca. 900 Millionen US-Dollar. Gegenwärtig gibt es im Ausschuß für internationale Beziehungen des Repräsentantenhauses zwar keine konkreten Pläne zur Anwendung der Resolution 934, aber das Gesetz, das Zahlungen an die UN verbietet, bis angebliche Zuvielzahlungen den USA gutgeschrieben werden, existiert weiter. Es besteht die Möglichkeit, daß dieses Gesetz auch in der Zukunft als Druckmittel gegen die UN benutzt wird.

Einen Großteil der Verantwortung an der Zahlungskrise trägt sicherlich der uneinsichtige US-Kongreß, aber Schuld liegt auch bei der Regierung, die in diesem Bereich generell nicht bereit ist, sich für die UN einzusetzen. Dabei stellen die US-Schulden bei der UN, verglichen mit dem Haushalt der USA, nur eine verschwindend geringe Summe dar. Der jährliche Beitragsanteil der US am UN-Budget ist sogar noch geringer, er beträgt lediglich 312 Millionen US-Dollar. Das gesamte UN-Budget ist mit einer Höhe von 1,2 Milliarden US-Dollar geringer als der Haushalt der New Yorker Feuerwehr. 4

Das Scheitern der Reform

Die Handlungsfähigkeit der UN ist von der finanziellen Krise ernsthaft bedroht. Die UN mußte sich von Peacekeeping-Konten Geld leihen, um ihre regulären Ausgaben decken zu können. Sie konnte deshalb die Kosten von Peacekeeping-Operationen den beteiligten Ländern nicht zurückerstatten. Der gegenwärtige Haushalt zwingt die UN, mit 252 Millionen US-Dollar weniger zu arbeiten als ihr im vergangenen Zweijahreszyklus zur Verfügung standen.

Der steigende Bedarf an UN-Missionen, insbesondere im Bereich des Peacekeeping, hat die Situation noch verschlimmert. Aber die UN-Krise geht weit über den praktischen / finanziellen Bereich hinaus. 1995 erklärte der damalige UN-Generalsekretär Boutros-Ghali in seiner Eröffnungsansprache vor der Generalversammlung, daß die Finanzmisere nur das Symptom eines viel ernsthafteren Problems sei: „Mitgliedsstaaten sehen die UN einfach nicht als Priorität an.“1

Obwohl Meinungsumfragen in den USA regelmäßig große Mehrheiten für ein Lösen der internationalen Probleme durch die UN ergeben, behält die isolationistische Fraktion im Kongreß einen unverhältnismäßigen Einfluß auf die Haushaltsplanung und streicht Mittel für die Zurückzahlung der US-Schulden. Der Historiker Arthur Schlesinger argumentiert, daß das Verhältnis zwischen USA und UN an einem Wiedererstarken des tiefverwurzelten Isolationismus leide, der seit der Gründung der USA eine der Determinanten der US-Außenpolitik gewesen sei. Weil die derzeitigen Bewohner des Weißen Hauses nicht bereit sind, in die Bresche zu springen, ist es den amerikanischen Gegnern der UN gelungen, die Eckpunkte der Auseinandersetzung abzustecken. So ist zur Streitfrage geworden, ob die USA überhaupt Beiträge an die UN zahlen sollen, und wenn ja, um wieviel der US-Anteil gekürzt werden soll. Weiterreichende Fragen nach der Reform der UN und nach der Entwicklung eines neuen strategischen Konzepts für das nächste Jahrhundert wurden und werden unterdrückt.

In vieler Hinsicht ist der Mangel an Visionen bloß ein weiterer Ausdruck der Unfähigkeit amerikanischer Politiker, die Dynamik des Umbruchs, der sich gegenwärtig in der Welt vollzieht, nachzuvollziehen oder dazu Position zu beziehen. Unglücklicherweise scheint es nicht, als ob die Geschichte auf sie warten wollte. Beunruhigende Entwicklungen, besonders das Zunehmen von Bürgerkriegen und aggressivem Nationalismus, bedrohen die internationale Stabilität. Diese Probleme erfordern globale Lösungen, die nur von einer aufgewerteten UN erwartet werden können.

Mit dem Scheitern von Boutros Boutros-Ghalis »Agenda für den Frieden«-Reforminitiative wurde die Chance auf eine wirkliche Reform der UN vertan. Das Programm von Boutros-Ghali war ein ernstzunehmender und vorwärtsdenkender Versuch, die UN am Aufbau einer neuen Weltordnung zu beteiligen. Das Ende des Kalten Krieges nutzend und der Gründungsvision der UN folgend, meldete es den Anspruch der UN auf eine führende Rolle in der zukünftigen Sicherheitspolitik an. Es versuchte, einen Rahmen zu finden, in dem sich die beiden potentiell destruktiven Prozesse der Globalisierung und Fragmentierung konfrontieren ließen.

Traurigerweise spielte es auch in die Hände der Republikaner. Boutros-Ghalis Überlegungen, z.B. über die Notwendigkeit einer stehenden UN-Armee und über die abnehmende Rolle des Nationalstaats in der internationalen Politik wurden als Beweis ausgelegt, daß die Vereinten Nationen unter seiner Führung außer Kontrolle geraten seien. In einem Beitrag für die einflußreiche Zeitschrift Foreign Affairs ging Jesse Helms, Republikanischer Senator aus North-Carolina, so weit zu behaupten, daß sich „zur Jahrtausendwende der Virus der Zentralisierung global ausbreitet, und die UN ist ihr Träger.2

In diesem Fall unterließ es die Clinton-Administration nicht nur, sich der Republikanischen Demagogie als wirkungsvolles Gegengewicht entgegen zu stellen, sie setzte sich sogar 1996 vehement gegen eine zweite Amtszeit von Boutros-Ghali ein. Davon ausgehend, daß Boutros-Ghali in den Augen der US-Öffentlichkeit über die Grenzen des Erlaubten hinausgegangen war, ließ sie ihn zugunsten des annehmbareren und nachgiebigeren Koffi Annan fallen.

Annans eigene Reformpläne, enthusiastisch von den USA und den anderen westlichen Staaten begrüßt, sind bis jetzt sehr viel bescheidener geblieben. Das Programm, das Maßnahmen zu Haushalt, Organisation und Management der UN beinhaltet und das wichtigere Fragen wie die Reform des Sicherheitsrates aufschiebt, mag helfen, die Arbeitsweise der UN zu »begradigen« und die Effizienz der Organisation zu steigern, aber in seiner Summe ähnelt es mehr der Verkleinerung eines Unternehmens als einer institutionellen Erneuerung. In vielen Fällen stellen sich die Maßnahmen lediglich als kosmetisches Herumgeschiebe von Abteilungen und als Umbenennungen heraus. Anscheinend sind sie schon mit den Forderungen der wirtschaftsorientierten Republikanischen Rechten im Hinterkopf ersonnen worden. Und sie helfen Präsident Clinton, sich in seiner Lieblingsrolle als »Reformer« darzustellen, ohne freilich dabei ein Risiko einzugehen.

Unnötig zu sagen, daß diese Kombination aus Drücken vor Verantwortlichkeit und Unbeholfenheit nicht wenig Zorn in den Reihen der Generalversammlung ausgelöst hat. Das zeigt sich auch an der jetzt stattfindenden Debatte über den Plan, eine neue Abteilung für Abrüstung und Rüstungskontrolle einzurichten, die das Center für Abrüstungsangelegenheiten ersetzen soll. Offenbar sollte die Reorganisation eine Struktur schaffen, die der wachsenden Besorgnis der Mitgliedsstaaten über die gegenwärtige Abrüstungspolitik besser Rechnung tragen kann. Aber der Plan ist Gegenstand einer bürokratischen Schlacht geworden, die die Länder außerhalb des westlichen Blocks gegen die USA aufgebracht hat. Teilweise stammt die Unzufriedenheit der ersteren daher, daß das Reformpaket als nicht verhandelbare Einheit präsentiert wurde, aber es geht auch um Sachfragen. Wesentlicher Bestandteil der neuen Abteilung ist ein einseitiger Fokus auf Non-Proliferation, es fehlt eine Erklärung, die die atomare Abrüstung als das wichtigste Thema der Abrüstungsbemühungen der Vereinten Nationen hervorhebt. Dieser Ansatz begünstigt eindeutig die diskriminierende Unterscheidung des Non-Proliferation-Treaty, der zwar atomare Abrüstung verspricht, aber bis jetzt noch zu keiner wirklichen Bewegung des »nuklearen Clubs« in diese Richtung geführt hat. Es gibt heute weltweit 40.000 Atomwaffen, Zehntausende mehr als 1970, als das Versprechen gemacht wurde, sie abzuschaffen. Die Großmachttaktik der USA, die sich an ihr Atomwaffenarsenal klammert und die nicht bereit ist, darüber zu diskutieren, wie dieses unrühmliche Kapitel des Kalten Krieges beendet werden kann, kommt kaum verhohlen in Annans umstrittenen Vorschlag zum Ausdruck.

Eine neue Weltordnung – ohne die UN

Obwohl viele der Fehler im Umgang der USA mit der UN entweder auf Schwäche oder auf Inkompetenz zurückzuführen sind, sind auch nationale Interessen von Belang. Es gibt zwar über die zukünftige Rolle der USA in der Welt keinen allgemein anerkannten Konsens innerhalb der politischen Klasse der USA, aber es läßt sich der alarmierende Trend feststellen, US-Hegemonie anzustreben und unter dem Deckmantel »einzig verbliebene Supermacht« gewaltige Militärprojekte wie zu Zeiten des Kalten Krieges in Auftrag zu geben. Währenddessen wird die Rolle der Vereinten Nationen, der einzigen global akzeptierten Institution, die internationale Konflikten vermeiden und lösen kann, untergraben.

Diese Haltung der USA spiegelt sich in der Größe des UN-Peacekeeping-Budgets wieder. Obwohl es seit 1988 über 30 Peacekeeping-Operationen gegeben hat (einige von ihnen sehr erfolgreich), sind die bereitgestellten Mittel gemessen am Bedarf verschwindend gering. 1996 beliefen sich die Peacekeeping-Ausgaben auf gerade mal 1,6 Milliarden US-Dollar – bei einem US-Verteidigungshaushalt von 268 Milliarden US-Dollar. Die Peacekeeping-Fähigkeiten der UN bleiben ernsthaft unterentwickelt. Die UN befinden sich in einem Teufelskreislauf, in dem das Ausbleiben von Beitragszahlungen das Zurückgreifen auf Peacekeeping-Gelder nach sich zieht, was wiederum zur Folge hat, daß Mitgliedsstaaten nicht für ihre Peacekeeping-Ausgaben entschädigt werden können und diese Staaten sich dann unvermeidlich bei zukünftigen Peacekeeping-Aktionen zurückhalten werden.

Eine Wiederholung von tragischen Fiaskos, wie kürzlich in der Zentralafrikanischen Republik, wo der Westen wegsah, als Hunderttausende abgeschlachtet wurden, wird ohne finanziell abgesicherte UN Peacekeeping-Einsätze schwer zu vermeiden sein. Einige afrikanische Staaten haben den Versuch gemacht, ein eigenes Peacekeeping-Kontingent aufzustellen, aber fehlende Mittel und Interessengegensätze schmälern die Wirksamkeit dieses Unternehmens.

Die andere Seite der Meinungsverschiedenheiten zwischen UN und USA betrifft Gebiete, in denen die USA ihre Vorherrschaft nicht aufgeben wollen. In Europa zum Beispiel verhindern die USA die Bildung einer effektiven Sicherheitsorganisation, sei es unter dem Dach der UN oder anderweitig, denn solche Entwicklungen würden den Einfluß der NATO, in der die USA eine führende Rolle spielen, vermindern.

Wieder könnte die Politik der USA desaströse Folgen haben. Die kürzlich auf US-Betreiben gefallene Entscheidung, mit der Erweiterung der NATO zu beginnen, hat bereits tiefsitzendes Mißtrauen in Rußland erzeugt. Die Duma sträubt sich gegen die Ratifizierung des START<0> <>II-Vertrags, so daß weitere Reduzierungen der gewaltigen Atomwaffenarsenale aus der Zeit des Kalten Krieges blockiert sind. Das Versprechen von nuklearer Abrüstung, mit so vielen Hoffnungen beladen, mündet in einer Sackgasse.

Zusammenfassung

Nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Politik der USA gegenüber der UN bislang kurzsichtig gewesen und hat die großen Hoffnungen auf Weltfrieden und Wohlstand betrogen. Trotz der überwältigenden Unterstützung der US-Bürger (83% sagen, daß die USA ein »aktives Mitglied« der UN sein sollten, und eine Mehrheit glaubt, daß die USA mehr Geld an die UN zahlen sollten)3, haben die, die es besser wissen müßten, isolationistischen Kräften erlaubt, die Kontrolle über die Debatte zu gewinnen anstatt die Bürger zu mobilisieren. Das Fenster der Gelegenheit, die Gründungsvision der UN endlich zu verwirklichen, könnte sich schnell wieder schließen. Wenn die USA in dieser Situation nicht Führungsstärke zeigen und die Chance ungenutzt vorbeigehen lassen, wird die jetzige Generation amerikanischer Politiker sehr viel ungünstiger von der Geschichte beurteilt werden als die Generation von 1945, die die UN als eine Institution gründeten, die die höchsten Hoffnungen der Menschheit verwirklichen sollte.

Alice Slater ist Präsidentin des Global Resource Action Center for the Environment (GRACE), ein Gründungsmitglied des Abolition 2000 Networks für die Abschaffung von Atomwaffen; Christopher McCavitt ist Kommunikationsdirektor von GRACE.

Anmerkungen

1) Rede von Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali anläßlich der Eröffnung der UN-Generalversammlung am 22. Oktober 1995 Zurück

2) Foreign Affairs, Oktober-September 1996, V75:5 Zurück

3) Crisis and Reform in United Nations Financing, UNA-USA Report, 1992, p.2 Zurück

Übersetzung aus dem Englischen: Lutz Hager