Vorwärts ins 19. Jahrhundert?

Vorwärts ins 19. Jahrhundert?

Japan soll interventionsfähig werden

von Eiichi Kido

Nach der Wahl zum Unterhaus im Dezember 2012 gewann die Liberal-Demokratische Partei in Japan im Juli 2013 auch die Wahl zum Oberhaus mit deutlichem Vorsprung. Ministerpräsident Shinzô Abe hat damit für die nächsten drei Jahre eine klare Mehrheit in beiden Häusern, und der Rechtsnationalist will diese nicht nur nutzen, um Sozialleistungen zu kürzen; ihm geht es vor allem um eine Verfassungsänderung, damit Japan auch offiziell weltweit militärisch operieren kann.

Die von Ministerpräsident Abe angekündigte Politik hat, wenn sie denn wie geplant durchgesetzt wird, weitgehende Folgen nicht nur für die japanische Bevölkerung, sondern auch für die gesamte Region:

  • Da geht es zum Ersten um die Wiederaufnahme des Betriebs von Atomkraftwerken im Land und um den Export japanischer AKW-Modelle ins Ausland. Und das, obwohl aus dem Kernkraftwerk Fukushima Daiichi noch immer hoch radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer läuft, die Ursache der Katastrophe weiterhin nicht vollständig geklärt ist und etwa 150.000 Menschen auf absehbare Zeit weit weg von ihrer Heimat leben müssen. Völlig unbeeindruckt davon macht Abe in anderen Ländern Reklame für japanische AKWs. Außerdem verständigte er sich am 7. Juni 2013 mit dem französischen Präsidenten François Hollande über eine nukleare Zusammenarbeit.
  • Die Regierung beabsichtigt einen bisher beispiellosen Sozialabbau. So sollen die Sozialhilfe drastisch gekürzt und weitere Sozialleistungen abgebaut werden. Der Arbeitsmarkt soll noch stärker dereguliert werden, mit der Folge, dass die prekäre Erwerbstätigkeit weiter anwachsen wird. Die Mehrwertsteuer soll erhöht werden, und Japan soll am TPP-Freihandelsabkommen (Trans-Pacific Strategic Economic Partnership Agreement) teilnehmen. Dabei weisen Kritiker des TPP darauf hin, dass dieses Abkommen ausschließlich den (ursprünglich US-amerikanischen) multinationalen Unternehmen dient. Mit dem »Investor-State Dispute Settlement« würden diese die Investitionsschiedsgerichtsbarkeit – die z.B. US-Konzernen Klagen gegen die japanische Regierung aufgrund der von ihr erlassenen sozialen und ökologischen Standards ermöglicht – in ihre Hände bekommen, die nationale Souveränität würde dadurch weitgehend eingeschränkt.
  • Größten Wert legt die Regierung Abe auf eine Verfassungsänderung, die die bisher festgeschriebene militärische Zurückhaltung beseitigt.

Abschied vom modernen Konstitutionalismus

Anders als in seiner ersten Regierungszeit von September 2006 bis September 2007 muss Abe sich nicht beeilen, sein Ziel, die Abschaffung des pazifistischen Verfassungsartikels 9, zu erreichen.1 Er plädiert dafür, man solle zuerst Artikel 96 ändern. Dieser bestimmt das Verfahren zu einer Verfassungsänderung. Eine Änderung der Verfassung bedarf nämlich bisher der Initiative des Parlaments mit Zustimmung von mindestens zwei Dritteln aller Mitglieder in jedem Haus. Die Änderung ist dann dem Volk vorzulegen und bedarf dessen Zustimmung. Abe hat die Absicht, die Zustimmung für die Parlamentsinitiative auf eine einfache Mehrheit abzusenken, um eine Verfassungsänderung wesentlich leichter durchsetzen zu können.

Das bedeutet praktisch den Abschied vom modernen Konstitutionalismus, der den Regierenden Willkür verbietet und sie bei der Ausübung der Staatsgewalt den Bindungen der Verfassung unterwirft. Seit den bürgerlichen Revolutionen im 18. Jahrhundert (Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg und Französische Revolution) ist das ein wesentliches Prinzip für die Verfassung eines hoch entwickelten Staates. In der japanischen Verfassung, die auf dem Konstitutionalismus basiert, sind Volkssouveränität, Menschenrechte und Gewaltenteilung entsprechend deutlich formuliert, um die Staatsmacht einzuschränken. Auch Artikel 99, der den Tennô oder Regenten, die Minister, die Parlamentsmitglieder, die Richter und die übrigen öffentlichen Bediensteten verpflichtet, diese Verfassung zu achten und zu schützen, zeugt von der Absicht, die Menschenrechte vor willkürlicher Herrschaft der Machthaber zu schützen.

Die Art und Weise, wie Abe & Co das Prinzip des Konstitutionalismus aushöhlen wollen, um eine Verfassungsänderung in ihrem Sinne zu erleichtern, erinnert an das NS-Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, das es möglich machte, dass die von der Regierung beschlossenen Gesetze von der Verfassung abweichen konnten.2

Laut Victor Klemperer soll Adolf Hitler im März 1936 gesagt haben: „Ich bin kein Diktator, ich habe die Demokratie nur vereinfacht.“ 3 Eine solche Vereinfachung der Demokratie fordert vor allem Tôru Hashimoto, einer der Ko-Vorsitzenden der Restaurationspartei Japans. Diese Partei wurde im September 2012 von der Regionalpartei »Verein zur Restauration Osakas« gegründet. Eine federführende Rolle spielte dabei Hashimoto, ehemaliger Gouverneur von Osaka und amtierender Oberbürgermeister der Stadt Osaka, der die Parteigründung zusammen mit Abgeordneten des nationalen Parlaments betrieb. Neben Hashimoto ist Shintarô Ishihara, ehemaliger Gouverneur von Tokio, Parteivorsitzender. Im Parteiprogramm vom 30. März 2013 wird die japanische Verfassung beschimpft als „Wurzel allen Übels, die Japan zur Isolation und zum Gegenstand der Geringschätzung verdammt und ihm die unrealistische Kollektivillusion des absoluten Friedens aufgezwungen hat“. Die ideologische Position der Restaurationspartei ist derjenigen von Abe damit sehr ähnlich. Für eine Verfassungsänderung hat der rechtsnationale Ministerpräsident also auch in der »Opposition« Verbündete.4

Menschenrechte als Gnade der Obrigkeit

Im April 2012 veröffentlichte die LDP ihren Verfassungsentwurf. Seit ihrer Gründung fordert die Partei, dass Japan von der durch die Alliierten »aufgezwungenen« Verfassung befreit werden und eine »eigene« bekommen muss. Wenig überrascht daher, dass im LDP-Entwurf eine international-universale Sichtweise gänzlich fehlt. In der Präambel der heutigen Verfassung steht z.B. „Wir erkennen an, dass die Völker auf der ganzen Welt das Recht haben, ohne Unterschied frei von Furcht und Not in Frieden zu leben“ und „Wir glauben, dass keine Nation sich nur ihren eigenen Angelegenheiten widmen und die anderen Nationen unbeachtet lassen darf“. Der LDP-Verfassungsentwurf widmet sich hingegen gerade nur den eigenen Angelegenheiten und definiert Japan narzisstisch als einen „Staat, der eine lange Geschichte und ganz eigene Kultur hat und dankenswerterweise den Tennô als Symbol des nationalen Zusammenhaltes“.

Der Fokus der Verfassungsänderung liegt natürlich auf Artikel 9, der auf die »Abschaffung des Krieges« abzielt. Die LDP hat die Absicht, die »Abschaffung des Krieges« abzuschaffen und stattdessen die »Sicherheit« in den Vordergrund zu stellen. Laut der heutigen Verfassung ist es dem japanischen Staat untersagt, Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie andere Kriegsmittel zu unterhalten. Die LDP will die faktische Existenz der Landesverteidigungstruppen (Kokubô-Gun) verfassungsrechtlich klar festschreiben.5

Der LDP-Verfassungsentwurf beinhaltet darüber hinaus eine grundlegende Einschränkung der modernen Volkssouveränität und der Menschenrechte. Symbolisch ist, dass der vorgeschlagene Text den heutigen Verfassungsartikel 97 („Die Grundrechte der Menschen, die diese Verfassung dem japanischen Volk gewährleistet, sind der Erfolg des jahrhundertelangen Kampfes der Menschheit um die Erlangung der Freiheit: Diese Rechte haben in der Vergangenheit vielfache Proben bestanden und sind dieser und künftigen Generationen des Volkes als unverletzliche ewige Rechte anvertraut.“) überhaupt nicht mehr enthält. Der Begriff »natürliche und unveräußerliche Menschenrechte« ist der LDP offensichtlich völlig fremd.

Stattdessen sind im LDP-Entwurf verschiedene Pflichten des Volks festgeschrieben, wie „Das japanische Volk verteidigt selber mit Stolz und Mut das Land und die Heimat“ (Präambel), „Das japanische Volk muss die Nationalflagge und die Nationalhymne achten“ (Art. 3), „Die Familienmitglieder müssen einander helfen“ (Art. 24), „Jeder muss bei einer Erklärung des Ausnahmezustands […] den Anweisungen des Staates und der anderen öffentlichen Einrichtungen folgen“ (Art. 99-3) und „Jeder Staatsbürger muss diese Verfassung achten“ (Art. 102).

Man muss die Aufmerksamkeit darauf richten, dass dabei auch das »Individuum« verschwindet. Artikel 13 der geltenden Verfassung lautet: „Jeder Bürger wird als Einzelpersönlichkeit geachtet.“ Jedes Individuum gilt als gleichwertig. Es hat das Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück. Das ist der Grundtenor der Verfassung. Deshalb muss die Staatsgewalt die Menschenrechte der Individuen möglichst weitgehend achten. Natürlich darf kein Bürger Freiheiten und Rechte missbrauchen; jeder ist ständig verpflichtet, sie zum allgemeinen Wohl zu nutzen (Art. 12). Aber das bedeutet nicht, dass der Staat wesentliche Vorrechte vor dem Individuum besitzt.

Im LDP-Verfassungsentwurf heißt es: „Jeder Bürger wird als Mensch geachtet.“ Die Bürger werden nicht mehr als Individuen mit all ihren Unterschieden, sondern als Ganzes behandelt. Es geht um die Homogenität der Menschen. Überdies wird das Recht des Bürgers auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück geachtet, „soweit es den öffentlichen Interessen und der öffentlichen Ordnung nicht entgegen steht“. Offensichtlich denkt die LDP, dass »die öffentlichen Interessen und die öffentliche Ordnung« über den Menschenrechten und der Staat über dem Individuum steht.

Wenn die Obrigkeit der Auffassung ist, dass Äußerungen »den öffentlichen Interessen und der öffentlichen Ordnung« entgegen stehen, wird die Äußerungs- und Meinungsfreiheit des Individuums nicht mehr erlaubt. So könnten die für die LDP unbequemen Bewegungen gegen AKWs und Militärstützpunkte mundtot gemacht werden.

Das erinnert an die Meiji-Verfassung von 1889. Damals konnten japanische Untertanen nur „im Rahmen des Gesetzes“ die Freiheit der Rede, der schriftlichen Äußerung, der Veröffentlichung, der Versammlung und der Vereinsbildung genießen. Unter dieser Verfassung wurden verschiedene Freiheiten eingeschränkt und unterdrückt. Für die geschichtsrevisionistische LDP, die den japanischen Angriffskrieg bis 1945 als „Selbstverteidigung“ und „Befreiung Asiens“ rechtfertigt, scheint es attraktiv zu sein, die Verfassung als Mittel zur Kontrolle des Volkes zu instrumentalisieren.

Diese Top-Down-Kommunikation gilt auch für die lokale Selbstverwaltung. Der LDP-Entwurf reduziert ihren Zweck auf die „bevölkerungsnahe Verwaltung“ (Art. 92). Es wäre einer lokalen Selbstverwaltung dann nicht mehr möglich, einen Beschluss zu fassen, der den Richtlinien der Regierung zuwider läuft. Sie müsste vielmehr brav Militärstützpunkte der US-Amerikaner oder der Landesverteidigungstruppen, AKW-Anlagen oder Atommülllager aufnehmen.

Die LDP will also drei Prinzipien der heutigen Verfassung widerrufen: Volkssouveränität, Menschenrechte und Pazifismus. Artikel 99 der heutigen Verfassung verbietet Politikern und öffentlichen Bediensteten, bei Gesetzgebung und Administration die Rechte des Bürgers zu verletzen. Die LDP sieht es genau umgekehrt: „Jeder Bürger muss diese Verfassung achten.“ Der Tennô soll nun als Staatsoberhaupt von der Pflicht, die Verfassung zu achten, befreit werden. Hat die LDP die Absicht, im Namen des Tennô willkürliche Machtdemonstration und Gewaltanwendung zu unternehmen?

Der Weg zum Kriegsstaat

Laut dem LDP-Verfassungsentwurf ist der Zweck der Erhaltung der Landesverteidigungstruppen nicht nur Selbstverteidigung, sondern auch „Sicherung des Friedens und der Sicherheit der internationalen Gesellschaft in internationaler Zusammenarbeit“ und „Erhalt der öffentlichen Ordnung bzw. Schutz des Lebens und der Freiheit des Volkes“. Das bedeutet praktisch, dass Japan in Zukunft selbst ohne UNO-Mandat an der Seite der USA ständig und global militärisch präsent sein könnte. Außerdem hat die LDP die Absicht, das Militär im Inland einzusetzen.

Für die LDP scheint die zivile Kontrolle über das Militär nicht besonders wichtig zu sein. Nach ihrem Verfassungsentwurf dürften der Ministerpräsident und die Minister nur „keine Militärs im aktiven Dienst“ sein, während die heutige Verfassung regelt, dass sie Zivilisten sein müssen. Theoretisch könnte man Minister werden, wenn man einen Tag vorher aus dem Militär entlassen worden ist.

Im LDP-Verfassungsentwurf ist die Idee des bedingungslosen Gehorsams gegenüber der Befehlsgewalt offensichtlich. Für die Landesverteidigungstruppen soll ein Militärgericht eingerichtet werden. Im Wahlkampf 2013 zum Oberhaus sagte der LDP-Generalsekretär, Shigeru Isawa, unmissverständlich, dass Befehlsverweigerer dann möglicherweise zum Tode verurteilt würden.

In Kapitel 9 hat die LDP den »Notstand« neu definiert. Der Ministerpräsident soll den Notstand erklären können bei „einem bewaffneten Angriff von außen gegen unser Land, Verwirrung der gesellschaftlichen Ordnung, wie Bürgerkrieg, und großen Naturkatastrophen, wie Erdbeben“. Gab es in Japan bei der dreifachen Katastrophe 2011 etwa einen Aufstand gegen die »öffentliche Ordnung«? Ein Bürgerkrieg oder eine bewaffnete Revolution ist in Japan ebenfalls undenkbar. Die Änderung des Pazifismus-Artikels 9 und die Einführung einer Notstandsregelung gemäß Kapitel 9 sollen es Japan ermöglichen, wieder Krieg zu führen.

Die Notstandsregelung bereitet nämlich die Generalmobilisierung vor. Wenn einmal der Notstand erklärt ist, bekommt das Kabinett außerordentlich große Macht. Es kann einen Regierungserlass anordnen, der die gleiche Wirksamkeit hat wie ein Gesetz. Die Obrigkeit kann dann ohne Zustimmung des Parlaments die Rechte der Bürger einschränken. Dabei muss jeder „den Anweisungen des Staates und der anderen öffentlichen Einrichtungen folgen“. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist dann keine grundlose Spekulation.

Fazit

Es ist wohl falsch, den LPD-Verfassungsentwurf nur als anachronistisch zu kritisieren. Die durch die Austeritätspolitik bedingte gesellschaftliche Diskrepanz ist inzwischen so groß geworden, dass die LDP versucht, die Gesellschaft durch den Ausbau der Staatsgewalt zusammen zu halten.

Mitte der 1990er Jahre wurde in Japan der Meilenstein gesetzt für einen neoliberal-neonationalistischen Weg. Die Arbeitgeber gaben damals die Grundsätze des japanischen Nachkriegskapitalismus wie Anstellung auf Lebenszeit und Bezahlung nach (Dienst-) Alter auf. Der Staat hat sich aus bestimmten Politikbereichen wie Sozialfürsorge und Bildung zurückgezogen. Es gab einen kulturellen Rückschlag, nachdem die Regierung, wenn auch zögerlich, versucht hatte, die historische Kriegsschuld anzuerkennen.

Als Folge der Deregulierung des Arbeitsmarkts waren in Japan laut einer Regierungsstatistik, die im Juli 2013 veröffentlicht wurde, im Jahre 2012 20,43 Millionen Menschen prekär beschäftigt. Das waren 38,2% aller Beschäftigten.

Angesichts der verschlechterten Arbeitsverhältnisse wächst die Kluft zwischen Arm und Reich; bittere Armut nimmt stark zu. Laut dem OECD-Bericht »Growing Unequal?« von 2008 lag Japan bei der Armutsquote auf Platz vier, d.h. 14,9% der Japaner lebten in Haushalten mit einem Einkommen unterhalb der Hälfte des Durchschnittseinkommens. Laut einer UNICEF-Studie zur Kinderarmut vom Mai 2012 hat diese ebenfalls auf 14,9% zugenommen – in Deutschland liegt sie bei 8,5%.

Japanische Kinder und Jugendliche sind ohnehin extrem konkurrenzbetonten Lebensumständen und den traditionellen Ansichten, die Kinder nicht als Menschen mit eigenen Rechten respektieren, ausgesetzt.6 Fast die Hälfte der jungen Generation befindet sich in prekären Verhältnissen. Die geringe Arbeitsplatzsicherheit und das niedrige Einkommensniveau macht ihnen eine langfristige Lebensperspektive unmöglich. Aber auch das Arbeitsleben der Vollzeitbeschäftigten ist sehr hart: lange Arbeitszeit, unbezahlte Überstunden usw.

Angesichts der tief greifenden Klassenspaltung in der japanischen Gesellschaft ist der Verlust des Gefühls, Menschen vertrauen zu können, immer spürbarer. Laut einer Umfrage, die 2002/2003 durchgeführt wurde,7 stimmten nur 31,5% der befragten StudentInnen in Japan der These „Die meisten Menschen sind im Grunde aufrichtig und freundlich“ zu (in Finnland waren es 82,6%). 79,7% von ihnen meinen „In dieser Gesellschaft wird man von jemandem ausgenutzt, wenn man nicht aufpasst“ (in Finnland 25,4%).

Die neoliberale Ideologie der Eigenverantwortung hat besonders junge JapanerInnen stark indoktriniert. Wenn bei ihnen etwas schief läuft, meinen sie, sie seien selbst daran schuld. Aber diese Selbstzüchtigung kann man nicht für immer ertragen. Irgendwann braucht man etwas, an dem man die Unzufriedenheit auslassen kann.

Die Feindbilder China und Nordkorea, die z.T. durch Aufrüstung (Chinas) und Raketenschlag-Drohungen (Nordkoreas) befördert werden, sind gut geeignet, um mit Hilfe eines Neonationalismus von den Widersprüchen des Neoliberalismus abzulenken. Auch ist eine wachsende Intoleranz zu verzeichnen, d.h. Versuche, Andersdenkende und Andersartige mit Gewalt zu unterwerfen und das Recht der Stärkeren durchzusetzen.8

Initiativen gegen die (Re-) Barbarisierung des Staates und der Gesellschaft Japans kann man vom Parlament nicht erwarten, die überwiegende Mehrheit seiner Mitglieder ist auf die Änderung der auf Krieg verzichtenden Verfassung fixiert. Für Friedenspolitik bedarf es eines Netzwerkes in der Zivilgesellschaft, und zwar nicht nur in der japanischen, sondern auch der globalen.

Nachdem die erste globale Artikel-9-Konferenz zur Abschaffung des Krieges mit TeilnehmerInnen aus 42 Ländern und Regionen im Mai 2008 stattfand,9, gibt es eine zweite Tagung im Oktober 2013 in Osaka.10

Am 13. Juni 2013 hat sich der UN-Menschenrechtsrat dafür ausgesprochen, das Recht auf Frieden als Menschenrecht anzuerkennen und ihm als internationale Norm Geltung zu verschaffen.11 Die japanische Verfassung hat dabei eine gewisse Rolle gespielt. In einer Welt, in der ein bewaffneter Konflikt nach dem anderen entsteht, Waffen massiv produziert werden und die Umweltzerstörung fortschreitet, ist die Idee des japanischen Verfassungsartikels 9, nämlich »Frieden schaffen ohne Waffen«, hoch aktuell.

Anmerkungen

1) Artikel 9 lautet in dt. Übersetzung laut der Website »Japanische Verfassungsgeschichte« von Prof. Dr. Andreas Kley, Lehrstuhl für Staatsrecht und Verfassungsgeschichte an der Universität Bern: (1) „In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten. (2) Um das Ziel des vorhergehenden Absatzes zu erreichen, werden keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel unterhalten. Ein Recht des Staates zur Kriegsführung wird nicht anerkannt.“

2) In der Tat lobte Vize-Regierungschef Tarô Asô (Vize-Premier und Finanzminister) acht Tage nach der Wahl zum Oberhaus die politische Taktik der Nationalsozialisten bei der Umsetzung der Verfassungsreformen, was natürlich zu internationaler Kritik geführt hat. Siehe: Simon Wiesenthal Center: Simon Wiesenthal Center to Japanese Vice Prime Minister: Which »Techniques« of the Nazis Can We »Learn From«? July 30, 2013.

3) Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945. 8 Bände. Eintrag vom 23. März 1936. Berlin: Aufbau.

4) Obwohl die Restaurationspartei bei der Wahl zum Unterhaus drittstärkste Partei wurde, hatte sie bei der Wahl 2013 keinen sensationellen Erfolg. Schuld daran waren die jüngsten Äußerungen von Hashimoto, der in Bezug auf die »Trostfrauen« im Zweiten Weltkrieg davon sprach, dass Prostitution notwendig gewesen sei, um die Disziplin in der Truppe aufrecht zu erhalten. In diesem Kontext schlug er sogar dem Befehlshaber der in Okinawa stationierten US-Truppen vor, die US-amerikanischen Soldaten auf die Möglichkeiten der Sexindustrie hinzuweisen, „um die sexuelle Energie der starken Marineinfanteristen zu kontrollieren“. Angesichts heftiger Kritik im In- und Ausland schob er anschließend die Schuld den Massenmedien zu, die seine „wahre Absicht“ nicht wiedergegeben hätten.

5) Die japanischen »Selbstverteidigungsstreitkräfte« (Self-Defence Forces), die im Juli 1954 gegründet wurden, verfügen heute über insgesamt 247.172 Mann (Stand 31. März 2013). Nach Angaben von SIPRI stellen sie mit 59,271 Mrd. Dollar etatmäßig die fünftgrößte Streitmacht der Welt dar. Von Januar 2004 bis Ende 2008 waren japanische Truppen ohne UN-Mandat in den Irak entsandt.

6) United Nations Committee on the Rights of the Child, fifty-fourth session: Consideration of reports submitted by States parties under article 44 of the Convention. Concluding observations: Japan. Dokument CRC/C/JPN/CO/3 vom 20. Juni 2010.

7) NIRA policy research, December 2005, S.31.

8) Vgl. Eiichi Kido: Neuer Graswurzel-Chauvinismus in Japan. In: Antifaschistisches Infoblatt, Nr. 94 (1/2012).

9) Article-9.org/whynot9/index_en.html.

10) 9jou-kansai.com/uttae02.html.

11) Dafür waren 30 Länder, dagegen waren neun (darunter die EU, die USA und Japan); acht Enthaltungen.

Eiichi Kido ist seit 1994 Assistenzprofessor an der Osaka School of International Public Policy (OSIPP), Universität Osaka. Von 2000 bis 2001 war er DAAD-Lektor am Institut für Politikwissenschaften der Universität Leipzig.

Konflikt, Kooperation und Konkurrenz

Konflikt, Kooperation und Konkurrenz

Indiens China-Perspektiven

von Herbert Wulf

China und Indien, die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Erde, beide mit einer dynamischen, jüngst aber etwas stotternden Wirtschaft ausgestattet, werden in den nächsten Jahrzehnten vermutlich nicht nur die asiatische, sondern die globale Politik entscheidend mitgestalten. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern, über Jahrzehnte sehr schwankend und widersprüchlich, sind geprägt von Konflikten und Konkurrenz, aber auch durch Kooperation. Wenn sich das Verhältnis zwischen beiden Ländern kooperativ gestaltet, könnte dies positive Folgen für die Weltpolitik haben, gleichzeitig aber auch die Vormachtstellung der USA und des alten Europa weiter in Frage stellen. Bleibt es aber bei ernster Rivalität, möglicherweise gar verbunden mit einem Wettrüsten, dürften die globalen Herausforderungen eher negativ beeinflusst werden.

Die guten indisch-chinesischen Beziehungen des „hindi-chini bhai bhai“ (Inder und Chinesen sind Brüder) der frühen Jahre unter Jawaharlal Nehru und Mao Tsedong sind längst vorbei. 1954 hatten die beiden Regierungen ein Abkommen unterzeichnet, das in fünf Prinzipien die friedliche Koexistenz und die territoriale Integrität zwischen beiden Ländern regeln sollte. Doch das Abkommen verhinderte nicht den Krieg von 1962 um eine Grenzregion im Himalaya, der für Indien mit einer militärischen Niederlage endete – einem Trauma, das die indische Elite bis heute nicht überwunden hat. Seither prägen Spannungen und Misstrauen die Beziehungen, gelegentlich unterbrochen von Perioden der Annäherung. Es dauerte nach der militärischen Auseinandersetzung Jahrzehnte, bis vorsichtige Schritte zu einer Normalisierung der Beziehungen unternommen wurden.1

Belastende Konflikte – komplizierte Beziehungen

Mindestens drei Konflikte mit China irritieren indische Außen- und Sicherheitspolitiker seit Langem. Trotz vieler Bemühungen und Verhandlungen sowie der Einsetzung zahlreicher bilateraler Arbeitsgruppen bleibt der Grenzkonflikt bis heute ungelöst, weil keine der beiden Seiten den eigenen Anspruch auf die umstrittenen Territorien aufgibt. Zeitweise beanspruchte China Teile von oder sogar den gesamten indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh für sich und bezeichnete dieses Gebiet als Südtibet.2 Damit zusammenhängend bestehen bislang unüberbrückbare Differenzen zur Rolle Chinas in Tibet. Die Anwesenheit von mehr als einer Million tibetischer Flüchtlinge und vor allem des Dalai Lama in Indien veranlasst die chinesische Führung immer wieder zu Kritik. Schließlich beunruhigt Indiens Außen- und Sicherheitspolitiker Chinas Politik in einigen indischen Nachbarländern: die Unterstützung Chinas für Pakistan,3 unter anderem auch für die pakistanischen Streitkräfte, aber auch die chinesischen Ambitionen in Nepal, Myanmar und Sri Lanka.

Aus chinesischer Perspektive wird dagegen die Wiederannäherung zwischen Indien und den USA, nach Jahrzehnten der Distanz, mit Argwohn betrachtet. Der Abschluss des indisch-amerikanischen Nuklearabkommens im Jahr 2005, trotz des indischen Atomwaffenprogramms, war die Grundlage für die Verbesserung der Beziehungen der beiden Länder. Es war Teil einer Strategie der damaligen Bush-Regierung zur Eindämmung des chinesischen Einflusses in Asien. Und auch die Obama-Regierung folgt mit ihrer Asienstrategie einem Muster, in dem Indien eine wichtige Rolle spielt.4

Diese Annäherung ist aus chinesischer Perspektive ebenso Besorgnis erregend wie das indische Atomwaffenprogramm. Indien wird dabei von den USA als Gegengewicht und als politischer, wirtschaftlicher und vielleicht sogar militärischer Konkurrent zu China in der Region und darüber hinaus gesehen. Vom Kampf des „Elefanten gegen den Drachen“ ist die Rede5, und im Westen wird Indien, die größte Demokratie der Welt, als strategischer Partner betrachtet, der Chinas Expansionsdrang in Asien neutralisieren könnte.6

Wettrüsten und militärische Konkurrenz?

Besonders der indisch-pakistanische Konflikt, in dem China eindeutig Pakistan unterstützt, und die territorialen Streitigkeiten haben alle indischen Regierungen in den letzten fünf Jahrzehnten veranlasst, verstärkt in die Streitkräfte zu investieren. Mit einer Personalstärke von 1,2 Millionen, ausgerüstet mit modernen Waffen, gehört Indiens Armee zu den größten der Welt.

Neuerdings werden die diplomatischen, wirtschaftlichen und maritimen Ambitionen Chinas im Indischen Ozean von Strategen in Indien als Bedrohung wahrgenommen.

China hat seit Jahren konsequent aufgerüstet und vor allem deutlich gemacht, eine Seemacht werden zu wollen. Während die Konflikte im Südchinesischen Meer zwischen China und Japan sowie den Philippinen und Vietnam weltweites Interesse weckten, sorgten Chinas Aktivitäten im Indischen Ozean in Indien für Ängste. China baut die Häfen in Gwadar (Pakistan), Hambantota (Nord-Sri-Lanka), Chittagong (Bangladesch) sowie Hafen- und Kommunikationsanlagen in Myanmar aus.7 Kategorisch dementiert die chinesische Regierung, dass sie damit auch militärische Ziele verfolgt.

Indiens Marine baut ihrerseits die Marinebasis auf den Andamanen und Nicobaren aus und verfolgt eine Strategie gutnachbarschaftlicher Beziehungen mit den Anrainern der Straße von Malakka, einer wichtigen Wasserstraße für die Öllieferungen Chinas. General Deepak Kapoor, der ehemalige Stabschef der indischen Streitkräfte, unterstellt China, eine „Perlenkette“ entlang der Küste des Indischen Ozeans zu schaffen.8 Indische Strategen sprechen in klassischer geopolitischer Terminologie alarmistisch von einem deutlichen Fußabdruck in Indiens Interessensphäre und gar von Einkreisung, der nur mit dem Ausbau einer hochseefähigen Marine begegnet werden könne.9 Tatsächlich investiert auch Indien kräftig in seine Marine und beschafft moderne Flugzeugträger, Fregatten und U-Boote. In den letzten zehn Jahren war Indien der größte Rüstungsimporteur der Welt.10 Die Regierung verfolgt mit ihrer Militärdiplomatie, mit Rüstungskooperation, Marinemanövern und Flottenbesuchen in asiatischen Ländern (und in Zusammenarbeit mit der US-Marine) eine Politik, die Chinas Aktivitäten etwas entgegen setzen soll.11

Die Konsequenz ist klar: ein maritimes Wettrüsten der beiden größten asiatischen Länder, das auf indischer Seite wegen jüngst erfolgter wirtschaftlicher Einbrüche etwas gebremst wurde. Der Vergleich des militärischen Kräfteverhältnisses weist deutlich die chinesische Vormachtstellung aus. Beide Länder haben die Militärausgaben in den letzten 15 Jahren rasant gesteigert, doch die chinesischen sind mit rund US $ 130 Milliarden viermal so hoch wie die indischen12 (siehe Abb. 1).

Abb. 1: Trend der Militärausgaben in Indien und China (1996-2011)

Trend der Militärausgaben in Indien und China (1996-2011)

Quelle: SIPRI Military Expenditure Database

Kooperation statt Konkurrenz und Konflikt?

Manche außenpolitischen Berater interpretieren die indisch-chinesischen Beziehungen ausschließlich als geopolitische Konkurrenz und glauben, Indien müsse unbedingt in einer Machtbalance zu Beijing stehen, um als gleichwertig anerkannt zu sein.13 Neben der wirtschaftlichen und der sich anbahnenden militärischen Konkurrenz existieren aber auch politische und wirtschaftliche Felder der Kooperation. Der bilaterale Handel ist seit der Liberalisierung der Wirtschaft Indiens zu Beginn der 1990er Jahre beträchtlich gestiegen. China ist inzwischen der wichtigste Handelspartner Indiens und hat die USA von ihrem Spitzenplatz verdrängt.14 Allerdings ist Indien nur der zehntgrößte Handelspartner Chinas. Die wirtschaftliche Kooperation bietet beiden Ländern ein großes Potenzial. Doch angesichts des großen Energiebedarfs der beiden rasch wachsenden Volkswirtschaften ist die Energieversorgung ebenfalls ein Feld großer Rivalität. Beide Länder sind auf absehbare Zeit vom Import von Öl und anderen Rohstoffen abhängig und machen sich vor allem in den Öl exportierenden Ländern des Mittleren Ostens Konkurrenz.

Politisch bieten sich viele Felder der Kooperation, nicht nur bilateral und regional, sondern vor allem auch global. Im Rahmen der BRICS-Initiative (einem losen Zusammenschluss der aufstrebenden Länder Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) kooperieren Indien und China, u.a. auch mit dem Ziel, die westlich dominierte Governance-Architektur in den großen globalen Foren zu verändern (Entscheidungen zur Finanzkrise, die Rolle des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, Klimaverhandlung usw.). BRICS repräsentiert ungefähr 40% der Weltbevölkerung. Doch BRICS ist keine homogene Gruppe, und die Regierungen sind längst nicht immer einig bei Schlüsselentscheidungen. Angesichts der unterschiedlichen Prioritäten der BRICS-Mitglieder, der unterschiedlichen ökonomischen Ausrichtungen und Potenziale sowie der unterschiedlichen politischen Regime wundert es nicht, dass ökonomische Dynamik allein noch kein Garant für eine einheitliche Politik ist. Darüber hinaus hat sich die chinesische Regierung bislang eher gegen als für eine Änderung der Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrates ausgesprochen, in dem Indien seit Langem erfolglos einen Platz fordert.

Die chinesisch-indischen Beziehungen sind heute von widersprüchlichen Faktoren geprägt. Neben den Konflikten und der wirtschaftlichen und der sich anbahnenden militärischen Konkurrenz pflegen die beiden großen Nachbarn auch die Kooperation. Die beiden aufstrebenden Mächte könnten die globale Kräftebalance nachhaltig verändern. In diesem von Konflikten, Konkurrenz und Kooperation geprägten Verhältnis ist China ökonomisch dynamischer und militärisch stärker. Indiens »soft power« jedoch – die funktionierende Demokratie, der politische Pluralismus, die freie Presse, die Kultur und religiöse Vielfalt – zählt als Aktivposten langfristig ebenso.

Das wiedererwachte Selbstvertrauen der politischen Elite Indiens und die Forderung nach mehr Mitsprache in globalen Fragen mögen durch das Wirtschaftswachstum befördert worden sein, doch die eigentlichen Gründe für Indiens neue außenpolitische Ansprüche liegen tiefer. Indien verfügt über ein beachtenswertes Maß an »soft power«.15 »Soft power« ist das, was eine Gesellschaft für andere attraktiv macht. Anerkennung wird nicht durch Nötigung, Druck oder Bezahlung erzielt, sondern durch die Kultur und die politischen Werte. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Potenzial indischer »soft power« parallel zur wirtschaftlichen Liberalisierung diskutiert wird. Der Liberalismus hebt hervor, dass für das Funktionieren eines Staates Ideen, Kultur und das Governance-System bedeutender sind als Macht. Die indische Kultur, das Regierungssystem, das Nebeneinander verschiedener Religionen, die Vielfalt des Landes machen es zu einem attraktiven Partner, wenn auch das Image Indiens als unterentwickeltes Land mit einem korrupten politischen System, dem Kastenwesen, mit einem miserablen Ruf der Politiker, mit laxer Rechtsanwendung und mit einem hohem Gewaltpotenzial der »soft power« Abbruch tut. Dennoch leisten so unterschiedliche Aspekte wie Gandhis Gewaltfreiheit, die indische Küche, Bollywood-Filme, Musik, Literatur und Wissenschaft, Ayurveda und Yoga einen Beitrag zu Indiens Ansehen in der Welt. Politische Ideale, Bildung und Wissen sind Teil dessen, was »soft power« ausmacht.16 Es ist das moralische und ideologische Kapital des Landes, das die Regierung für ihre globalen Ambitionen nutzen will.

Stehen sich damit in Asien zwei konkurrierende oder gar gegensätzliche Gesellschaftsmodelle gegenüber: hier das demokratische Indien, dort das autoritäre China? Dies ist eine im Westen, vor allem in den USA, gepflegte Perspektive und entspricht nicht der Wahrnehmung in Indien. Über Jahrzehnte haben sich die verschiedenen indischen Regierungen geweigert, das demokratische Indien als Modell für andere Länder zu empfehlen oder gar exportieren zu wollen. Indiens Regierung hatte beispielsweise keine Probleme, mit dem Militärregime in Myanmar zu kooperieren. Die unterschiedlichen politischen Regime in China und Indien sind aus indischer Sicht kein Grund für eine indisch-chinesische Konkurrenz. Sollte es gelingen, die territorialen Konflikte zwischen den beiden Mächten beizulegen, dann scheint der Weg für eine intensivere ökonomische und auch politische Kooperation möglich.

Anmerkungen

1) Malone, David M. (2011): Does the Elephant Dance? Contemporary Indian Foreign Policy. Oxford: Oxford University Press, S.129-152.

2) Bai, Leon (2012): Resolving the India-China Boundary Dispute. New Delhi: Observer Research Foundation, ORF Occasional Paper #33, Mai.

3) Mohan, C. Raja (2012): Managing Multipolarity: India’s Security Strategy in a Changing World. In: C. Raja Mohan und Ajai Sahni: India’s Security Challenges at Home and Abroad. The National Bureau of Asian Research, Special Report No. 39, Mai, S.48.

4) Goswami, Namrata (2013): Limits to Encirclement in the Indian Ocean. United States Institute for Peace.

5) Chachavalpongpun, Pavin (2011): Look East meets Look West: India-Southeast Asia Evolving Relations. In: Gaur, Mahendra (ed.): Focus: India’s Look East Policy. Foreign Policy Research Centre Journal, Nr. 8, S.66-67.

6) Baral, J. K. (2012): Cooperation and Conflict in India-China Relations. Journal of Defence Studies, Vol. 6, Nr. 2, S.78.

7) Baral, a.a.O.

8) Kapoor, Deepak (2012): India’s China Concern. Strategic Analysis, Vol. 36, Nr. 4, Juli-August 2012, S.663-679.

9) Kumar, Rajiv und Santosh Kumar (2010): In the National Interest. A strategic foreign policy for India. New Delhi: BS Books, S.79. Vasan, R.S. (2012): India’s Maritime Core Interests. Strategic Analysis, Vol. 36, Nr. 3, S.413-423.

10) SIPRI Arms Transfer Database.

11) Jha, Pankaj Kumar (2011): India’s Defence Diplomacy in Southeast Asia. Journal of Defence Studies, Vol. 5, Nr. 1, S.47-63. Parmar, Sarabjeet Singh (2012): The Maritime Dimension in India’s National Strategy. In: Krishnappa Venkatshamy und Princy George (eds.): Grand Strategy for India 2020 and Beyond. New Delhi: Institute for Defence Studies and Analyses, S.83-92. Athawale, Yogesh V. (2012): Maritime Developments in the South Western Indian Ocean and the Potential for India’s Engagement with the Region. Strategic Analysis, Vol. 36, Nr. 3, S.424-439.

12) Nach Auskunft von SIPRI hatte China im Jahr 2011 die zweithöchsten Militärausgaben. Indien lag auf Rang 7, ungefähr auf dem gleichen Niveau wie Deutschland.

13) Mohan a.a.O, S.37-38.

14) Government of India, Department of Commerce (2013): Export-Import Data Bank; commerce.nic.in.

15) Wagner, Christian (2010): India’s Soft Power. Prospects and Limitations. India Quarterly, Vol. 66, Nr. 4, S.333-342.

16) Kumar und Kumar a.a.O., S.45.

Prof. Dr. Herbert Wulf lebte vier Jahre in Indien. Er ist Senior Expert Fellow am Käte Hamburger Kolleg (Global Cooperation Research Centre), Universität Essen/Duisburg, wo er ein Projekt zur globalen Rolle Indiens durchführt.

Der Drache im »Hinterhof«

Der Drache im »Hinterhof«

Umbrüche und Konflikte im Südpazifik

von Roland Seib

Die Volksrepublik China hat im vergangenen Jahrzehnt international massiv an Gewicht gewonnen. Ihr global beständig wachsendes wirtschaftliches, außen- und entwicklungspolitisches Engagement wird mit dem Aufstieg einer neuen Weltmacht verbunden, die schon heute die verbliebene Großmacht USA hinsichtlich ihrer Führungsrolle herausfordert. Auch in der Region des Südpazifiks baut die VR ihren Einfluss kontinuierlich aus, obwohl diplomatische Beziehungen nur zu acht der 14 unabhängigen Inselstaaten bestehen. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit den Auswirkungen dieser Entwicklung.

Während die regionale Stabilität und Sicherheit im Südpazifik seit Ende des Zweiten Weltkriegs von den USA und ihren Alliierten Australien, Neuseeland und Frankreich gewährleistet wurde, wird heute vor den langfristigen strategischen Absichten der VR in der Region gewarnt, die von Beijing bereits als eigener »Hinterhof« auserkoren sei. Manche Beobachter sehen die USA bereits jetzt als unipolaren Hegemon herausgefordert und einen neuen Kalten Krieg heraufziehen. Die USA unter Obama haben auf diese Herausforderung reagiert und 2011 den Schwerpunkt ihrer Sicherheitspolitik vom Atlantik in den asiatisch-pazifischen Großraum verlagert („pivot to the Pacific“). Dies beinhaltet neue verteidigungspolitische Kooperationen und einen Ausbau militärischer Strukturen vor Ort (Guam, Amerikanisch-Samoa, Australien).

China spielt in den Inselstaaten wirtschaftlich eine immer größere Rolle. Die von Asien ausgehende Wirtschaftsdynamik in den bis Ende des letzten Jahrtausends eher beschaulichen, zumeist von Stagnation und Armut gekennzeichneten Staaten bleibt aber nicht auf China begrenzt. Große Rohstoffressourcen und Infrastrukturprojekte haben vor allem im Flächenland Papua-Neuguinea zu Konkurrenz geführt: Hier agieren nicht nur westliche und chinesische Unternehmen, sondern auch Konzerne aus Indien, Indonesien, Thailand, Israel und anderen Staaten. Die VR hat zudem seit 2006 eine diplomatische Charmeoffensive gestartet. Beijing behandelt die Staaten mit Respekt und Generosität. Auch entwicklungspolitisch ist China in der Region zu einem wichtigen Geberland aufgestiegen.

Der Konflikt Australiens mit dem seit 2006 amtierenden Militärregime in Fidschi hat ebenfalls zu deutlichen Brüchen im politisch-institutionellen Regionalgefüge geführt. Neue sub-regionale Organisationen der Entwicklungsländer sollen nicht nur für eine Abgrenzung zum Westen sorgen. Konzepte für alternative Kriseninterventionsmechanismen und Freihandelsregime zielen auf mehr Eigenständigkeit von Australien, Neuseeland und der Europäischen Union (EU). Hinzu kommen neue politische Akteure wie Indien, Russland, Israel, die arabischen Staaten, Kuba, Iran und selbst Nordkorea (die letzteren vier jeweils bezüglich Fidschi), die sich Vorteile aus einer Annäherung an einzelne Inselstaaten versprechen und damit neue Handlungsoptionen eröffnen. Im Folgenden werden die mit dem Aufstieg Chinas verbundenen Machtverschiebungen und Konfliktpotentiale thematisiert. Dabei stehen die Wirtschaft und Entwicklungskooperation im Vordergrund. Anschließend wird die die Sicherheitskonstellation beleuchtet.

Der Südpazifik: Komplizierte Gemengelage

Der Südpazifik umfasst die zwischen Asien und dem amerikanischen Doppelkontinent auf einer Meeresfläche von 70 Mio. km2 gelegenen 14 unabhängigen Inselstaaten, von denen zwölf den Vereinten Nationen (UN) angehören. Sie unterscheiden sich von anderen Regionen der Erde sowohl durch ihre geographische Isolation als auch ihre kulturelle Vielfalt. Zudem variieren sie in Größe, Bevölkerungszahl, Ressourcenausstattung und Entwicklungsstand. Das größte Land ist Papua-Neuguinea, auf das allein knapp 88% der gesamten südpazifischen Landfläche und mit über sieben Mio. Einwohnern drei Viertel der pazifischen Gesamtbevölkerung von 9,2 Mio. entfallen. Am anderen Ende des Spektrums befinden sich die Klein- und Kleinststaaten wie etwa Tuvalu, dessen Festlandterritorium lediglich 9.500 Bürger auf 26 km2 aufweist. Sind Landmasse und Bevölkerung zumeist verschwindend klein, sind die exklusiven maritimen Wirtschaftszonen hingegen enorm. So verfügt Kiribati mit seinen 93.000 Einwohnern auf 811 km2 über ein Meeresgebiet von 3,6 Mio. km2, ein Drittel mehr als Indien.

Alle 14 Staaten des Südpazifiks zählen zu den Entwicklungsländern. Das Pro-Kopf-Einkommen in der Region reicht von 1.194 US-Dollar in den Salomonen bis zu 35.320 US$ im zu Frankreich gehörenden Neukaledonien. Während die größeren Länder über Rohstoffe verfügen, sind die Kleinstaaten von Tourismus, Fischereieinkünften, Heimatüberweisungen und Entwicklungshilfe abhängig. Die Inselstaaten weisen eine hohe Verletztlichkeit gegenüber natürlichen Katastrophen und den gravierenden Auswirkungen des Klimawandels auf, der die Existenz ganzer Inselstaaten bedroht. Die unterschiedlichen Kulturgebiete des Südpazifiks werden als Melanesien, Polynesien und Mikronesien bezeichnet; diese Aufteilung spiegelt die in der Kolonialzeit gewachsenen Einflusssphären und die bis heute begrenzte Auflösung kolonialer Herrschaft wider.

Die Südpazifikstaaten gehören zur letzten Gruppe Kolonien, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Unabhängigkeit entlassen wurden. Bis heute üben die USA und Japan starken Einfluss auf Mikronesien aus. Washington hat weitreichende Zugriffsrechte in den Staaten Marshall-Inseln, Palau und Föderierte Staaten von Mikronesien sowie die volle Kontrolle über die US-Territorien Guam und Nördliche Marianen. Während Australien sich auf seine benachbarten melanesischen Staaten und Nauru konzentriert, hält Neuseeland, das selbst zu den pazifischen Inselstaaten zählt, enge Bindungen zu den polynesischen Ländern Cook-Inseln, Samoa, Niue, Tuvalu und Tokelau. Frankreichs Einfluss besteht über Neukaledonien, Französisch-Polynesien sowie Wallis und Futuna. Die 14 Pazifikstaaten sind mit Ausnahme des Königreichs Tonga und des Militäregimes in Fidschi parlamentarische Demokratien. Sie formen gemeinsam mit Australien und Neuseeland die wichtigste Regionalorganisation Pacific Islands Forum mit Sitz in Fidschi.

Wirtschaftliche Inwertsetzung der Region

Die Region Asien-Pazifik stellt heute mit einem Anteil von 36% des weltweit produzierten Bruttoinlandprodukts die dynamischste Wirtschaftsregion der Welt dar. Der Hunger der aufstrebenden Schwellenländer nach Rohstoffen wie Öl, Gas, Erzen und Edelmetallen hat dazu geführt, dass der Südpazifik innerhalb eines Jahrzehnts massiv an Attraktivität für ausländische Staaten und Unternehmen gewonnen hat. China ist als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt in nur wenigen Jahren zu einem wichtigen Akteur aufgestiegen, auch wenn Beijings ökonomisches Engagement in der Region im Vergleich zum afrikanischen Kontinent (Handel 2011: 160 Mrd. US$) moderat ausfällt. So stieg der Warenhandel Chinas mit den Staaten des Südpazifiks von 133 Mio. US$ (1997) auf 2,1 Mrd. US$ (2012). 80% des chinesisch-pazifischen Handels entfallen allein auf Papua-Neuguinea, das nach Australien (Handel 2012: 114 Mrd. US$) der wichtigste Wirtschaftspartner der VR in der Region ist. Chinas größte Einzelinvestition stellt die 1,5 Mrd. US$ teure Ramu-Nickel-Mine in Papua-Neuguinea dar. Dass China im Bergbau aber nur ein Konkurrent unter vielen ist, zeigt ein Flüssiggasprojekt des US-amerikanischen Ölmultis ExxonMobil, das derzeit für 19 Mrd. US$ in Papua-Neuguinea gebaut wird.

Hohe Erwartungen hegen die Inselstaaten an den Tiefsee-Bergbau, von dem sie sich mehr wirtschaftliche Selbständigkeit versprechen. Die EU erweist sich diesbezüglich als Türöffner für multinationale Konzerne. Brüssel realisiert im Zeitraum 2011-2014 gemeinsam mit dem in Fidschi ansässigen Sekretariat der Pacific Community das 4,4 Mio. Euro teure Projekt »Deep Sea Minerals in the Pacific«, das den Kleinstaaten den rechtlichen und fiskalischen Rahmen des Offshore-Bergbaus nahe bringen soll. Das weltweit erste Tiefsee-Bergbauprojekt wird derzeit in Papua-Neuguinea realisiert. Zuvor hatte die EU die gesamten Rohstoffressourcen Papua-Neuguineas kartographiert. Über die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Verwerfungen durch derartige Großprojekte ist dagegen aus Brüssel oder anderen Metropolen nichts zu vernehmen. Dabei ist der Rohstoffboom in Papua-Neuguinea mit Entwicklungsdisparitäten, sozio-ökonomischen Spannungen und gravierender Umweltzerstörung verbunden. Staatliches Missmanagement und Korruption herrschen vor.

Eine harte Konkurrenz besteht auch bei den Fischbeständen, um die sich Handelsflotten von China über Japan und den USA bis zur EU streiten. Der Thunfischfang, für viele Kleinstaaten die wichtigste Einnahmequelle, wird auf jährlich fünf Mrd. US$ geschätzt, die Hälfte des weltweiten Ertrags. 40% des industriellen Fischfangs gelten als illegal gefischt.

Es sind aber nicht nur Konzerne, die sich in wachsendem Umfang im Südpazifik engagieren, sondern vor allem Festlandchinesen und chinesisch-stämmige Migranten, die mittlerweile den Groß- und Einzelhandel der meisten Inselökonomien monopolisieren. Die massiven Migrationsströme verändern die lokalen Wirtschaftsstrukturen in den bevölkerungsschwachen Inselstaaten. Nicht nur werden einheimische Unternehmer verdrängt, die mit der konfuzianischen Arbeitsethik und den internationalen Netzwerken chinesischer Unternehmer nicht konkurrieren können. Sie dringen auch in Wirtschaftsbereiche vor, die seit Abzug der Kolonialmächte gesetzlich einheimischen Bürgern vorbehalten waren.

Das wirtschaftliche Engagement von Asiaten hat in den Inselbevölkerungen zu erheblichen Ressentiments und Abwehrreaktionen geführt. Dies zeigen die Zerstörungen chinesischer Geschäftsviertel im Jahr 2006 in Tonga und den Salomonen sowie die gewalttätigen Unruhen, Plünderungen und Morde an chinesischen Geschäftsleuten in Papua-Neuguinea in den Jahren 2009 und 2010. Die schnelle wirtschaftliche Asianisierung der gering entwickelten Inselökonomien, die fehlende Schaffung von lokalen Arbeitsplätzen, die Konzentration der Investitionen auf die Rohstoffgewinnung und die Überschwemmung der Länder mit Handelswaren legen eine einseitige Interessenrealisierung Chinas nahe, die wenig mit der von Beijing gebetsmühlenartig apostrophierten »win-win«-Situation zu tun hat. Insofern entbehrt das Süd-Süd-Modell (Beijing Consensus) als Alternative zu westlichen Entwicklungskonzeptionen zumindest im Südpazifik der empirischen Grundlage. Eigeninteressen stehen für China im Vordergrund – durchaus vergleichbar mit anderen wirtschaftlichen Akteuren und in einem ambivalenten Spannungsverhältnis zu der oben erwähnten Generosität Beijings.

Entwicklungszusammenarbeit

Die VR ist mit ihrer bilateralen Entwicklungszusammenarbeit seit deren Unabhängigkeit in zahlreichen Pazifikstaaten präsent. Seit den 1990er Jahren bestimmte allerdings die destruktive Konkurrenz um diplomatische Anerkennung zwischen der VR und der Republik China (Taiwan) die Region (Stichwort »Scheckbuch-Diplomatie«), bis diese mit der Wahl des taiwanesischen Präsidenten Ma Ying-jeou 2008 zu Gunsten eines einvernehmlichen »Waffenstillstandes« beendet wurde. Von den 23 Ländern, die weltweit Taipeh anerkennen, liegen sechs im Südpazifik (Kiribati, Marshall-Inseln, Nauru, Palau, Salomonen und Tuvalu). Entgegen der von Beijing behaupteten Gültigkeit des Grundsatzes der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheit anderer Staaten (»Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz«), war zuvor jahrelang massiv und verdeckt in die Innenpolitik zahlreicher Länder interveniert worden. Die Einflussnahme beider Staaten destabilisierte die nur schwach institutionalisierten Entwicklungsländer und speiste die endemische Korruption.

Chinas wachsendes Engagement im Südpazifik hat seit 2006 zu einem schnellen Anstieg der Zusagen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit geführt. Offizielle Angaben dazu gibt es nicht, da diese als Staatsgeheimnis gelten. Im April 2013 wurde erstmals eine Zahl bekannt: 6,4 Mrd. US$ für mehr als 100 Empfängerländer. Davon gingen im Zeitraum 2006-2011 geschätzte 850 Mio. US$ an die acht Beijing anerkennenden Pazifikstaaten. Im Vergleich dazu bleibt der Beitrag für offizielle Zusammenarbeit der westlichen Gebergemeinschaft weiterhin überwältigend. Australien steht hier in einer mit weitem Abstand dominierenden Position: Über den genannten Fünfjahreszeitraum gingen 4,8 Mrd. US$ an die Inselstaaten. Es folgen die USA (1,27 Mrd.), Neuseeland (899,3 Mio.) und Japan (868,8 Mio.). Hinzu kommen Frankreich (718 Mio.) und die EU (595,8 Mio.) als größter multilateraler Geber. Nach den letzten OECD-Angaben für 2011 entsprach Canberras Beitrag 62% der bilateralen und 55% der Gesamthilfe für die Region.

Obwohl die Region seit 1970 die mit Abstand weltweit höchsten Entwicklungstransfers pro Kopf aufweist, hat sich diese Kooperation bisher kaum in nennenswerten Entwicklungserfolgen und einer verbesserten sozialen Lage der Menschen niedergeschlagen. In der Kritik der Nehmerländer steht vor allem Canberra und dessen »boomerang aid«, die australische Unternehmen und Berater begünstige und so zu einem Rückfluss der Mittel führe. Aber auch die Entwicklungszusammenarbeit Chinas steht massiv in der Kritik. Angestammte bi- und multilaterale Geber monieren nicht nur die Intransparenz der Vergabe, die lokale Unangepasstheit der Maßnahmen und die Verschuldungsintensität der gewährten Hilfe, sondern fordern auch seit Jahren eine regionale Kooperation und Koordination ein, die Beijing bis heute ablehnt.

Höchst willkommen ist Beijings Hilfe dagegen in den Pazifikstaaten, da diese jenseits der »Ein-China-Politik« vermeintlich ohne jegliche Konditionalitäten und ohne die sonst übliche Korruption gewährt wird. Etwa 40% der Hilfe geht in prestigeträchtige, die urbanen Eliten unterstützende Bauprojekte wie Regierungsgebäude, Stadien oder den Wiederaufbau von Tongas Hauptstadt Nuku’alofa nach den Plünderungen und Bränden von 2006. Die Vorhaben werden von kommerziell orientierten chinesischen Unternehmen und Arbeitskräften ausgeführt. Die kostspielige Instandhaltung der Großprojekte obliegt mit der Schlüsselübergabe dann den Empfängerländern. Als die Chatham-Analystin Cleo Paskal auf der Klimakonferenz in Kopenhagen die tonganische Delegation nach ihrem Abstimmungsverhalten fragte, bekam sie zur Antwort: „Was immer China sagt, wir schulden ihnen Hunderte von Millionen.“

Bedeutsam ist der Handel der Inselstaaten mit so genannten Souveränitätsrechten. Der Verkauf von 1.400 Aufenthaltsvisa an reiche Chinesen brachte Vanuatu Staatseinnahmen von 4,3 Mio. US$. Erfolgreich war auch die finanzielle Unterstützung durch die Arabische Liga: Zahlreiche Pafifikstaaten sprachen sich dafür aus, dass die Zentrale der International Renewable Energy Agency statt in Deutschland in Abu Dhabi angesiedelt wurde. Russland engagierte sich finanziell, um die völkerrechtliche Anerkennung Abchasiens und Südossetiens zu befördern. Kiribati erkannte den Kosovo an. Israel dagegen zeigte sich im November 2012 enttäuscht, als der UN-Botschafter der Salomonen (entgegen der Anweisung seiner Regierung) für den UN-Beobachterstatus der Palästinensergebiete stimmte.

Wandel der regionalen Sicherheitsstruktur?

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten die USA Großbritannien als globale Hegemonialmacht abgelöst. Kernelement der regionalen Sicherheitsordnung ist bis heute der 1952 in Kraft getretene »Security Treaty between Australia, New Zealand and the United States of America« (ANZUS), der vergleichbar dem Nordatlantikpakt eine gegenseitige Beistandsverpflichtung enthält. Im Kalten Krieg bestand dessen Aufgabe darin, die Sowjetunion auf Distanz zu halten. Mit der Implosion der UdSSR verlor der Westen das Interesse an der Region. Der 11. September 2001 stellt dann mit dem »war on terror« eine Zäsur in der internationalen Sicherheitspolitik dar, der in Australien eine »nationale Sicherheitsdekade« folgte. Canberra übernahm als selbst ernannte Mittelmacht die Führungsrolle als »Hilfssheriff« der USA, der Stabilität im Südpazifik und in Timor-Leste (Südostasien) gewährleisten sollte.

Anlässe zur Konfliktbearbeitung gab es genug. Der Bürgerkrieg auf der zu Papua-Neuguinea gehörenden Kupferinsel Bougainville (1989-1998) mit mindestens 15.000 Toten, bisher vier Coups d’État in Fidschi, die ethnische Gewalt zwischen Milizen und Regionen in den Salomonen ab 1999, der Zusammenbruch von Recht und Ordnung im Hochland von Papua-Neuguinea, dem über die Jahrzehnte weit mehr Opfer zuzurechnen sind als auf Bougainville, zahlreiche Meutereien der Streitkräfte sowie teilweise gescheiterte Parlamentswahlen in Papua-Neuguinea, der Staatsbankrott Naurus (ab 2004) und Unruhen in Tonga (2006) haben zu Interventionen unter australischer Leitung geführt, um Recht und Ordnung wiederherzustellen. Derzeit werden wieder australische Polizisten nach Papua-Neuguinea entsandt. Die innere Fragilität, die Staats- und Nationbildung sowie die Demokratisierung dieser Länder bleiben zentrale Herausforderungen.

Spätestens seit Mitte des letzten Jahrzehnts ist der Aufstieg Chinas zur Kampfansage an das bisherige Mächteensemble geworden. Canberra versucht den prekären Interessenausgleich aus der sicherheitspolitischen Anbindung an den Alliierten USA und der wirtschaftlichen Verflechtung mit China, das zum wichtigsten Handelspartner und bedeutenden Rohstoffinvestor und damit zum Garanten langjähriger Prosperität avanciert ist. Hinzu kommt der virulente politische Konflikt mit der Militärjunta in Fidschi, das wegen nicht abgehaltener Wahlen 2009 vom Pacific Islands Forum suspendiert und mit Sanktionen belegt wurde. Canberra verhinderte die Kreditvergabe internationaler Organisationen an Fidschi, worauf Beijing einsprang. Auch der Versuch, Fidschis 1.250 Soldaten von UN-Blauhelmeinsätzen auszuschließen, scheiterte. 531 fidschianischen Soldaten wurden im Juli als Ersatz für die abgezogenen Österreicher auf die syrischen Golanhöhen entsandt. Reguläre Armeen besitzen nur Papua-Neuguinea, Tonga und Fidschi; alle beteiligen sich auch an UN-Einsätzen.

Hinzu kommt der Trend der Inselstaaten hin zu separaten sub-regionalen Gruppierungen (die Melanesian Spearhead Group, der Council of Micronesian Chief Executives sowie die neu geformte Polynesian Leaders Group und das von Fidschi als Alternative zum Pacific Islands Forum forcierte Pacific Islands Development Forum), wodurch Canberra und Wellington an Einfluss auf die kollektive Entscheidungsfindung verlieren. Als die Beziehungen belastend gilt auch die UN-Dekolonisierungsagenda, gegen die sich die westlichen Staaten vehement wehren. Auf der Liste der zu dekolonisierenden Territorien stehen momentan die Pazifikstaaten Neukaledonien und Französisch-Polynesien (Frankreich), Pitcairn (GB), Tokelau (Neuseeland) sowie Guam und Amerikanisch-Samoa (USA), also sechs von insgesamt 17 Ländern. Hinzu kommt der außerhalb der UN angesiedelte Konflikt um die beiden indonesischen Provinzen in West-Papua. Schwere Menschenrechtsverletzungen und wirtschaftliche Ausbeutung werden dort mit Unterstützung einiger Pazifikstaaten den Guerillakampf um Unabhängigkeit weiter anfeuern.

Perspektiven

Die oben beschriebene Konstellation erlaubt mehrere Schlussfolgerungen. Danach kann als sicher gelten, dass der Südpazifik als alleinige Einflusssphäre des Westens der Vergangenheit angehört. Der Westen verliert damit weiter an globaler Gestaltungs-, Steuerungs- und Ordnungsfähigkeit. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die VR im Südpazifik derzeit weder eine politische noch eine militärstrategische Führungsrolle beansprucht oder anstrebt. Trotz des gewaltigen Wachstums im Reich der Mitte wird hier eine Machtverschiebung nur langsam vor sich gehen. Daher wird die »Pax Americana« wohl noch für Jahrzehnte Geltungshoheit beanspruchen können. Zudem besteht in Beijing weiterhin kein Interesse an einer multilateral orientierten Entwicklungszusammenarbeit mit den tradierten Geberländern. Auch an einer Bereitstellung öffentlicher Güter (z.B. Sicherung von Handelswegen, Einsatz bei Krisen oder Katastrophen etc.) zeigt China kein Interesse, was darauf hindeutet, dass die eigenen innenpolitischen Prioritäten hinsichtlich Frieden, Stabilität und Prosperität (Präsident Xi Jinping) fortgesetzt Vorrang genießen.

Der schnelle sozio-ökonomische und außenpolitische Wandel der Region wird in den kommenden Jahren zu mehr Konkurrenz, Instabilität und Krisenlastigkeit führen, die durch den Aufstieg Chinas mittel- bis langfristig noch verschärft werden. Infolgedessen werden Australien und Neuseeland weiterhin eine ordnungspolitische Rolle spielen (müssen), auch wenn Canberras Auftreten in den Inselstaaten sowie im Pacific Islands Forum zunehmend diskreditiert erscheint. Obwohl Australien in punkto Investitionen, Handel und Entwicklungskooperation mit großem Abstand das dominierende Land bleibt, erodiert seine selbst gewählte Führungsposition. Separate regionale Unterorganisationen erhalten mehr Gewicht. Papua-Neuguinea sieht sich erstmals nach 38 Jahren Unabhängigkeit als kommende regionale Wirtschaftsmacht mit internationalem Gewicht, deren Gemeinsamkeiten mit Fidschis Militärjunta trotz aller melanesischen Solidarität schon heute begrenzt sind. Generell ist davon auszugehen, dass die sino-amerikanischen Beziehungen im Großraum Asien-Pazifik nicht nur dort den Schlüssel zu fortgesetztem Frieden darstellen. Die Bewältigung der von Beijing zunehmend ruppiger ausgetragenen Territorialkonflikte in Ost- und Südostasien wird sich auf die globale strategische Stabilität der kommenden Dekaden auswirken.

Literatur

Jenny Hayward-Jones (2013): Big enough for all of us: Geo-strategic competition in the Pacific islands. Sydney: Lowy Institute for International Policy.

Richard Herr und Anthony Bergin (2011): Our near abroad. Australia and Pacific islands regionalism. Canberra: Australian Strategic Policy Institute..

Roland Seib (2009): China in the South Pacific: No New Hegemon on the Horizon. Frankfurt/M.: Peace Research Institute Frankfurt.

David Shambaugh (2013): China Goes Global. The Partial Power. Oxford: Oxford University Press.

Dr. Roland Seib ist unabhängiger Politik- und Verwaltungswissenschaftler mit dem regionalen Schwerpunkt Südpazifik, insbesondere Papua-Neuguinea.

Ein Europäischer Pivot?

Ein Europäischer Pivot?

von Jürgen Wagner

Er ist in aller Munde, der US-amerikanische »Pivot« (inzwischen »Rebalancing« genannt), die Schwerpunktverlagerung nach Ostasien. Sie erfolgt vor dem Hintergrund profunder machtpolitischer Verschiebungen, insbesondere zugunsten Chinas, denen Washington mit einer gesteigerten Präsenz in der Region begegnen will. Mit dieser Entwicklung gehen beträchtliche Risiken einher, warnte Avery Goldstein unlängst in der renommierten »Foreign Affairs« (September/Oktober 2013): Es „existiere eine reale Gefahr, dass Peking und Washington in eine Krise schlittern könnten, die schnell zu einem militärischen Konflikt eskalieren könnte.“ Hierzu tragen auch die sich verschärfenden regionalen Konfliktdynamiken bei. Dies betrifft nicht allein die »Großbaustellen«, die chinesisch-japanischen und chinesisch-indischen Spannungen, sondern eine Reihe weiterer Konflikte in der Region, denen sich diese Ausgabe von W&F widmet.

Unterdessen hat der »Pivot« auch die europäische Strategiedebatte befeuert, wobei sich grob zwei Denkschulen unterscheiden lassen. Da wären einmal diejenigen, die argumentieren, die US-Schwerpunktverlagerung mache es notwendig – oder eröffne die Chance, je nach Blickwinkel –, sich nun endgültig als regionale Ordnungsmacht im europäischen Nachbarschaftsraum zu etablieren. Hierfür sei aber ein stärkeres, auch militärisches, Engagement erforderlich, wie etwa Patrick Keller von der Konrad-Adenauer Stiftung im Reader Sicherheitspolitik (27.03.2013) schreibt: „Angesichts der strategischen Neuausrichtung der Amerikaner wird Europa seine Interessen in dieser Region – und auch auf dem Balkan, im Kaukasus und im Hohen Norden – selbst durchsetzen müssen. Das geht in erster Linie durch politische und wirtschaftliche Kooperation, kann als äußerstes Mittel aber auch den Einsatz militärischer Gewalt erfordern.“

Doch manchen geht dies noch nicht weit genug: Sie plädieren dafür, angesichts der wachsenden Bedeutung Ostasiens müsse die EU dort auch sicherheitspolitisch Flagge zeigen. Besonders im Institute für Security Studies (ISS), der strategischen Denkfabrik der Europäischen Union, wurde hierüber lebhaft debattiert. So argumentiert Nicola Casarini, schon seit etwa einem Jahrzehnt sei ein »europäischer Pivot« im Gange, der sich aber primär auf nicht-militärische Aspekte erstrecke: „Der Fokus des europäischen »Pivot« liegt primär auf ökonomischen, finanziellen, technologischen, generell auf »soft power«-Fragen und weit weniger darin, die Militärpräsenz auszubauen und Sicherheitsbündnisse zu schmieden. Er schließt Elemente mit Verteidigungsbezügen ein, aber eher in Form militärischer Dialoge, Austauschprogramme, gemeinsamer Übungen und Waffenverkäufe.“ (ISS Alert, März 2013)

Einige prominente Sicherheitspolitiker drängen derzeit aber darauf, eine Änderung des bisherigen Kurses zu erwirken. So fordert etwa James Rogers, der vom ISS mit der Ausarbeitung des Vorschlagskatalogs für den »Rüstungsgipfel« der EU-Staats- und Regierungschefs im Dezember 2013 beauftragt wurde: „Europa könnte seine Bereitschaft unter Beweis stellen, Kriegsschiffe in unsichere Regionen zu entsenden, um bestimmten Staaten zu zeigen, dass illegitime Souveränitätsansprüche im südchinesischen Meer von den Europäern nicht anerkannt werden.“ (South China Sea Monitor, August 2012)

Ähnlich ambitioniert heißt es im Berichtsentwurf des Europäischen Parlaments »über maritime Aspekte der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik«, der im Frühjahr 2013 unter der Ägide der sozialdemokratischen Europaabgeordneten Ana Gomes vorgelegt wurde: „[Das Europäische Parlament] fordert die HV/VP [EU-Außenbeauftragte] auf, potenzielle Bedrohungen für den Frieden, für die Sicherheit der maritimen Verkehrswege und den offenen Zugang zu benennen, denen europäische Schiffe, Handelsinteressen und Bürger im Falle einer Eskalation von Spannungen und bewaffneten Konflikten im Ost- und Südchinesischen Meer ausgesetzt sein könnten; fordert die umgehende Benennung der Mittel und Ressourcen (insbesondere Flotten), die die EU für einen Einsatz in der Region benötigen würde, um Bürger der EU und anderer Staaten zu evakuieren, die Interessen der EU und die internationale Rechtsordnung zu bewahren und zu verteidigen, an internationalen Bemühungen zur Eindämmung gefährlicher Politik teilzunehmen, Aggressionen einzudämmen und die Sicherheit der Schifffahrt im Ost- und Südchinesischen Meer und in der Straße von Malakka zu garantieren.“

Die Tatsache, dass dieser Passus in der schlussendlich vom Parlament am 12. September 2013 verabschiedeten Fassung fast vollständig gestrichen wurde, deutet darauf hin, dass es für derlei ambitionierte Positionen derzeit (noch) keine Mehrheit zu geben scheint. Erkennbar ist dennoch, dass aus friedenswissenschaftlicher Perspektive der Region Asien/Pazifik künftig mehr Aufmerksamkeit gezollt werden muss – und zwar nicht allein aufgrund der Aktivitäten der USA und regionaler Akteure, sondern auch vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten in der Europäischen Union.

Ihr Jürgen Wagner

Obamas »Pivot«

Obamas »Pivot«

Neuausrichtung der USA auf Asien und den Pazifik

von Joseph Gerson

Vor einem Jahr machte US-Präsident Obama unmissverständlich klar, die USA verstünden sich als pazifisches Land und hätten vor, militärisch abgestützt in der asiatisch-pazifischen Region langfristig eine Schlüsselrolle zu spielen. Damit knüpfen die USA an eine Politik an, die ihnen wirtschaftlich und militärisch die Dominanz auch in diesem Teil der Welt sichern soll. Die USA sind in ihrem Bestreben aber nicht allein, sondern sehen sich hierbei in Konkurrenz zu China, der sie mit einer Mischung aus Einbindung und Eindämmung begegnen wollen.

US-Außenministerin Hillary Clinton kündigte im Januar 2011 eine deutliche Änderung der Außen- und Militärpolitik der Vereinigten Staaten an. In der renommierten Zeitschrift »Foreign Policy« schrieb sie gleich zu Beginn ihres in der Folge breit rezipierten Artikels, es sei „[e]ine der wichtigsten Aufgaben der US-amerikanischen Staatskunst im nächsten Jahrzehnt, sich auf beträchtlich gesteigerte Investitionen – diplomatische, ökonomische, strategische und andere – im Raum Asien-Pazifik festzulegen“. Das wachsende Engagement solle durch „den Aufbau einer breiten militärischen Präsenz“ abgesichert werden.1

Wenig später veröffentlichte das US-Verteidigungsministerium seine neuen „strategischen Richtlinien“.2 Hier benannte Washington den asiatisch-pazifischen Raum und den Persischen Golf als seine zwei geostrategischen Prioritäten. Zur Bestätigung besuchten Außenministerin Clinton, Verteidigungsminister Robert Gates und Präsident Obama die Regierungen verbündeter asiatischer und pazifischer Länder. Dabei kündigte Präsident Obama an, dass „[d]ie Vereinigten Staaten als ein pazifisches Land in Zukunft bei der Gestaltung dieser Region und seiner Zukunft eine größere und langfristige Rolle spielen werden“ und dass die im asiatisch-pazifischen Raum stationierten US-Truppen in Zukunft „breiter verteilt [… und] flexibler“ sein sollen – „mit neuen Fähigkeiten, die sicherstellen, dass unsere Truppen frei agieren können“.3

Seit der ersten Ankündigung dieses »Pivot«,4 der seither in »Rebalancing« (Neujustierung) umbenannt wurde, legte sich das Pentagon darauf fest, 60% seiner Luft- und Seekräfte in Asien und dem Pazifik zu stationieren. Und das Verteidigungsministerium nahm eine »Air-Sea Battle Doctrine«5 an, um seine regionale Militärmacht zu verstärken und gleichzeitig die Risiken zu vermeiden, die mit einem Bodenkrieg in Asien verbunden wären. Weiterhin hat die Regierung Obama ihre militärischen Bündnisse in der Region ausgebaut, den Neu- und Umbau von Militärbasen vorangetrieben, simulierte Atombombenangriffe gegen Nordkorea geflogen und mit Krieg gegen China gedroht. Auch die Verhandlungen für eine Transpazifische Partnerschaft und ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU haben zum Ziel, die Macht und den Einfluss Chinas einzudämmen.

Der »Pivot« beschränkt sich jedoch nicht auf den Ausbau der militärischen Präsenz. Die Regierung Obama befasst sich auch mit den Verflechtungen, die sich aus der konkurrenzbetonten wechselseitigen Abhängigkeit mit China ergeben. Präsident Obama und seine Berater sind sich durchaus bewusst, dass die USA und China erhebliche gemeinsame Interessen haben und dass ein Krieg zwischen den beiden Mächten zu unvorstellbarer Zerstörung führen würde; deshalb bemühen sie sich auch um Kontakte zur chinesischen Führung. Auch wenn es nicht gelang, durch ein Abkommen mit China eine »G2« ins Leben zu rufen und die Machtverhältnisse im asiatisch-pazifischen Raum neu zu ordnen, legt die US-Regierung großen Wert auf den alljährlichen strategischen Dialog mit China zu militärischen, ökonomischen und diplomatischen Themen. Der Dialog zwischen US- und chinesischen Militärs wurde intensiviert, ebenso die Zusammenarbeit gegen Terroristen/Jihadisten und gegen die Piraterie. Die ohnehin schon massiven Investitionen in die jeweils andere Wirtschaft steigen weiter rasch an. Und das »hemdsärmlige« Gipfeltreffen zwischen US-Präsident Obama und dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping im Juni 2013 war Ausdruck für die Bemühungen beider Seiten, die Spannungen, die sich aus der Wettbewerbssituation ergeben, im Griff zu behalten.

Manche Beobachter machen sich trotzdem Sorgen, dass angesichts der strukturellen Spannungen zwischen den aufstrebenden und den sinkenden Mächten schon ein Funke reichen könnte, um einen verheerenden Krieg auszulösen.

Der »Pivot« vor dem »Pivot«

Schon vor 170 Jahren äußerte US-Außenminister William Seward, wenn die USA Großbritannien als dominierende Weltmacht ablösen wollten, müssten sie zuerst Asien dominieren. (Damals mangelte es den USA allerdings noch an Seestreitkräften, die es mit denen der europäischen Kolonialmächte aufnehmen konnten, und die pazifischen Inseln, die als Sprungbrett Richtung Asien gebraucht würden, wurden bereits von europäischen Mächten beherrscht.)

Bis 1890 hatte Washington es geschafft, seine Kriegsflotte so auszubauen, dass die USA die Herrschaft Großbritanniens über die Meere anfechten konnten. Gleichzeitig wurde der chinesische Markt vor dem Hintergrund einer Wirtschaftskrise und damit einhergehender innerer Unruhen in den USA für politische Entscheidungsträger in Washington zum Heiligen Gral des Kapitalismus. Sie glaubten, Millionen potentielle chinesische Konsumenten würden den Arbeitslosen in den USA wieder zu ihren Fabrikarbeitsplätzen verhelfen. »Sozialer Friede« und wachsende Unternehmensgewinne wären die Folge. Im Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 besetzten US-Truppen Guam und die Philippinen. Hawaii wurde annektiert und sicherte den USA damit die Bekohlungsstationen, die sie für die Schiffspassagen nach China brauchten.

Ein weiteres halbes Jahrhundert später kulminierten als Antwort auf die Ausdehnung des japanischen Imperiums und den Angriff auf Pearl Harbor die Inselschlachten des US-Militärs in der bedingungslosen Kapitulation Japans – der Pazifische Ozean wurde zu einer »Amerikanischen See«. Die USA errichteten neben den bestehenden Basen auf den Philippinen, Guam und Hawaii Hunderte neuer Militärbasen in Korea, Japan, Australien sowie in zahlreichen Pazifikländern und US-Kolonien. Diese Basen und eine Vielzahl unsymmetrischer Militärbündnisse dienten im Kalten Krieg einerseits der »Eindämmung« von Beijing und Moskau, andererseits als Startbahnen für den Korea- und den Vietnamkrieg sowie für Militärinterventionen und politische Umstürze von den Philippinen und Indonesien bis hin zum Persischen Golf.

Um die Eindämmung Chinas zu verstärken, wurde die Besetzung Japans von den USA dazu genutzt, die Inselnation in das umzugestalten, was Premierminister Koizumi später als „unsinkbaren Flugzeugträger für die Vereinigten Staaten“ bezeichnete. Ein erheblicher Teil von Tokios Kriegselite wurde wieder an die Macht gebracht, und im Zentrum der neuen Beziehung stand das US-japanische Sicherheitsabkommen (US-Japan Mutual Security Treaty). Japan wurde heimlich zur Unterzeichnung gezwungen. Das Abkommen war Voraussetzung dafür, dass die USA formal ihre militärische Besetzung des Landes aufgaben. In Südostasien war die US-Hegemonie gekennzeichnet durch US-gestützte Umstürze in vielen Ländern, dem Lostreten des Indochinakrieges und wiederholter Drohungen der USA, gegen China und Vietnam Atomwaffen einsetzen zu wollen.

Obamas »Pivot«

Jeffrey Bader, ehemaliger Abteilungsdirektor für ostasiatische Angelegenheiten des Nationalen Sicherheitsrates der Obama-Regierung, widmet den Anfang seiner kürzlich erschienen Memoiren einem Rückblick auf das Erbe der Asien-Pazifik-Politik der Regierung Bush-Cheney, insbesondere deren Festlegung auf eine »Diversifizierung« der US-Basen im asiatisch-pazifischen Raum. Ziel war damals, die Anzahl der Basen in Nordostasien zu reduzieren und sie strategischer an der Peripherie Chinas zu verlegen. Die Angriffe vom 11. September 2001 lenkten zwar die Aufmerksamkeit der Bush-Regierung von diesen Plänen ab, der »Krieg gegen den Terror« wurde aber auch auf Indonesien, die Philippinen und Südthailand ausgedehnt, und mit Indien wurde ein Nuklearabkommen ausgehandelt.

Bader benennt die damaligen Prioritäten der Bush-Regierung wie folgt: „Dem asiatisch-pazifischen Raum höhere Priorität einräumen. Ausgewogen auf den Aufstieg Chinas reagieren. Bündnisse stärken und neue Partnerschaften aufbauen. Die US-Präsenz im Westpazifik insgesamt ausbauen und die regionale Vorwärtsstationierung aufrecht erhalten […] und regionalen Institutionen beitreten.“ 6 General Martin Dempsey, Vorsitzender des Generalstabs, drückte es weniger elegant aus: „[D]as US-Militär könnte gezwungen sein, China offen die Stirn zu bieten, so wie wir auch die Konfrontation mit der Sowjetunion nicht scheuten.“ 7

Von zentraler Bedeutung für die US-Strategie ist die Analyse von Joseph Nye, stellvertretender Verteidigungsminister der Clinton-Ära und seit mehr als einer Generation einer der wichtigsten Berater für die US-Politik im asiatisch-pazifischen Raum. Nye warnt vor den potentiellen Gefahren von Konflikten zwischen aufstrebenden und sinkenden Mächten. Er argumentiert, die USA und Großbritannien hätten es im 20. Jahrhundert zweimal versäumt, Deutschland und Japan in ihre Weltordnung zu integrieren, was in zwei katastrophalen Weltkriegen gemündet sei. Um eine apokalyptische Wiederholung dieses Unheils zu vermeiden, drängt Nye die USA zu einer Politik, die China sowohl einbindet als auch eindämmt.

Einige Monate, bevor der »Pivot« vom Stapel gelassen wurde, schrieb Nye: „Asien wird wieder seinen historischen Status einnehmen, mit mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung und der Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung. Amerika muss dort präsent sein. Märkte und Wirtschaftsmacht basieren auf politischen Rahmensetzungen, und die Militärmacht der USA bietet diesen Rahmen.“ 8 Ander sausgedrückt: Ohne die massive militärische Präsenz der USA in Asien und in der Pazifik-Region und ohne die inhärente Drohung mit massiver Zerstörung können die USA sich nicht darauf verlassen, dass sie auch weiterhin vom internationalen Währungssystem und ihrem damit verbundenen privilegierten Zugang zu den asiatischen Märkten und Ressourcen profitieren können.

Die Regierung Obama geht ganz mit Nye d’accord, dass Beijing durch die Einbindung Chinas dazu gebracht werden kann, eine „konstruktive[re] Rolle zu spielen, als wenn sie außerhalb dieses Systems verbleiben“ und dass „ein florierendes China gut ist für Amerika“.

Nichtsdestotrotz sichert sich die Regierung Obama militärisch ab, denn sie hat beschlossen, besser keine „Politik der Nachsicht und des Hinnehmens von forschem Auftreten der Chinesen“ zu verfolgen, die „schlechtes Benehmen ermutigen und Alliierte und Partner der USA“ in Tokio, Seoul oder Südostasien „ängstigen könnte“.9

Die Obama-Regierung hat sich vom Unilateralismus der Ära Bush jr. abgewandt. Zentrale Bedeutung haben jetzt Militärbündnisse zur Stärkung der »Full Spectrum Dominance«-Doktrin. Es geht um die Fähigkeit, jedes Land zu dominieren, und zwar auf allen Ebenen der Macht, überall in der Welt und jederzeit. Daher wurden die Militärbündnisse mit Japan, Südkorea, Australien, den Philippinen und Thailand bekräftigt, die als „Dreh- und Angelpunkt für unseren strategischen Schwenk hin zum asiatisch-pazifischen Raum“ 10 dienen. Mit der Ausweitung und Diversifizierung der Truppenstationierungen nahmen auch die regionalen Militärübungen zu. Und im Kontext der Verhandlungen über die Transpazifische Partnerschaft und das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union setzt Washington sich selbst an die Spitze der „zwei riesigen Wirtschaftsblöcke“ (Nordamerika und EU), um so „Washingtons Führungsrolle in einem polyzentrischen System internationaler Beziehungen zu gewährleisten“. China und Russland sollen damit auf die zweiten Plätze verwiesen werden.11

Damit untermauern die USA das, was die chinesische Führungsspitze als „umgedrehte Große Mauer“ ansieht, „mit Wachtürmen, die sich von Japan bis Australien erstrecken und alle potentiell Chinas Zugang zum Pazifischen Ozean blockieren“ – eine »Große Mauer«, die der Umsetzung von Washingtons »Air-Sea Battle Doctrine« dient.

Robert D. Kaplan beschreibt die Situation so: „China ist eine aufstrebende und noch unreife Macht, besessen von der territorialen Erniedrigung, die es im 19. und 20. Jahrhundert erlitt. [Es] entwickelt asymmetrische und den Zugang verhindernde Nischenfähigkeiten, um den Seestreitkräften der USA den einfachen Zugang zum Ostchinesischen Meer und anderen Küstengewässern zu versagen. […] China ist nicht im Entferntesten fähig, die USA militärisch direkt herauszufordern. Ziel […] ist […,] dass es sich die U.S. Navy in Zukunft zwei Mal überlegt, ob sie expandiert, und drei Mal, ob sie in das Meer zwischen der ersten Inselkette und der chinesischen Küste eindringt.“ 12

Die nationale Sicherheitselite der USA ist kein monolithisches Gebilde. Es gibt viele, die Nye mit seiner Analyse nicht überzeugen konnte und die die strategische Konkurrenz zwischen den USA und China als Nullsummenspiel ansehen. Während Präsident Obama zugleich auf Einbindung wie auf Eindämmung drängt, halten manche einflussreiche Persönlichkeiten einen Krieg zwischen den USA und China für unvermeidlich. Wieder andere, einschließlich des Defense Science Board (wissenschaftliches Beratergremium) des Pentagon drängen darauf, dass Washington auch bereit sein sollte, Cyberattacken mit dem Einsatz von Atomwaffen zu beantworten.

Die USA und China sind zwar die treibenden Kräfte bei der Aufrüstung in der Region, am Wettrüsten sind aber auch Japan, Korea und andere asiatische und pazifische Länder beteiligt. Zwar sucht keines der Länder Krieg, aufgrund des nationalistischen Drucks könnten die Spannungen im Südchinesischen Meer – insbesondere zwischen China und Vietnam und der militarisierte Streit zwischen Japan und China um die Senkaku-/Diaoyu-Inseln – aber dennoch außer Kontrolle geraten. In der Tradition des strategischen Theaters wird knapp unterhalb der Kriegsschwelle ein militarisiertes Schattenspiel aufgeführt, während neue Bündnisse geschmiedet, neue Basen gebaut, neue Waffen stationiert, noch provokantere Militärübungen durchgeführt und neue Militärdoktrinen verkündet werden. Zweck des Spiels ist es, den Rivalen vor Augen zu führen, dass man ihnen unkalkulierbaren Schaden zufügen kann, und sie auf diese Weise einzuschüchtern.

Auswirkungen

Außer dem wachsenden Risiko eines Krieges, einschließlich eines Atomkrieges, und dem Anheizen eines regionalen Wettrüstens, hat der »Pivot« auch unmittelbar einen Preis für die Menschen in der Region. Ausländische Militärbasen führen notwendigerweise zu dem, was die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten als „Missbräuche und Übergriffe“ bezeichnet; sie unterminieren die Souveränität, die demokratischen Gepflogenheiten und die Menschenrechte in den Gastländern. Oft werden Militärbasen auf zwangsenteignetem Land gebaut, sind eine Quelle von Verbrechen, einschließlich der gewalttätigen und unmenschlichen Behandlung von Frauen und Mädchen, tragen zu schwerer Umweltverseuchung und lebensgefährlichen Unfällen bei. Außerdem entziehen sie begrenzt vorhandene nationale Geldmittel, die dringend für die Deckung menschlicher Bedürfnisse gebraucht würden. Diese Dynamiken haben sich insbesondere in Japan und Korea, auf Guam und den Philippinen bewahrheitet.

In Japan hat der »Pivot« zur Intensivierung des nuklearen Bündnisses und der erdrückenden Präsenz des US-Militärs auf Okinawa und im übrigen Japan geführt. 2012 fühlte sich Premierminister Noda durch das US-japanische Bündnis ermutigt, China mit der Nationalisierung der von beiden Ländern beanspruchten Senkaku-/Diaoyu-Inseln zu provozieren. Gleichermaßen gibt das Militärbündnis Nodas Nachfolger im Amt, Shinzo Abe, die Rückendeckung, mit Krieg zu drohen, um die japanische Souveränität über die unbewohnten Felsen abzusichern und Anspruch auf 400 weitere Felsen-Inseln anzumelden.

Anregungen aus den USA, doch die „anachronistischen Einschränkungen“ der japanischen, den Krieg untersagenden Verfassung zu überwinden, ermutigen Abe, die »Friedens«-Verfassung noch stärker umzuinterpretieren bzw. zu ändern.13

Für die Koreaner ändert sich mit dem »Pivot« nicht so viel, da sie schon seit Langem in einem hochgerüsteten Land leben. Seit August 1945 unterhalten die USA Militärbasen in Korea und gaben sämtlichen südkoreanischen Regierungen Rückhalt (den Militärdiktatoren genau so wie den seit 1993 unter demokratischeren Umständen gewählten). Da der Koreakrieg nie formell beendet wurde, haben die USA überdies bis heute das Recht, im Kriegsfall den Oberbefehl über das südkoreanische Militär zu übernehmen.14

Schon die Regierung Bush-Cheney begann mit der »Diversifizierung« der US-amerikanischen Basen im Raum Asien-Pazifik, insbesondere in Südkorea. Einige besonders große Militärbasen wurden aus Großstädten in ländlichere Gegenden verlegt, wo der Bevölkerungs- und damit der potentielle politische Druck nicht so stark ist. Momentan wird bei Gangjeong auf Jeju Island, in der Nähe etlicher UNESCO-Kulturerbestätten, ein monströser, vorgeblich koreanischer Flottenstützpunkt gebaut, „in dem U-Boote und bis zu 20 Kriegsschiffe andocken können, darunter auch Aegis-Zerstörer der USA mit Raketenabwehrsystemen“.

In Südostasien heizt die Regierung Obama den Kampf um Hegemonie über das öl- und rohstoffreiche sowie geostrategisch wichtige Südchinesische Meer an. Viele Beobachter befürchten, dass hier das gefährlichste Pulverfass der nächsten Jahre oder Jahrzehnte entsteht. Mit ihrer Einmischung in den Streit um Hoheitsgebiete und Handelsrouten (mehr als 40% des Welthandels und vor allem das für die ostasiatische Wirtschaft unverzichtbare Erdöl aus dem Nahen Osten werden durch diese Region transportiert), beförderten die USA einen regionalen Streit zu einer Auseinandersetzung zwischen Großmächten.

Die USA bestärken die Philippinen in ihrem Anspruch auf das von ihnen als »Westphilippinisches Meer« bezeichnete Gebiet. Das Pentagon steigert den Waffenexport an Manila, führt mehr gemeinsame Militärübungen durch und überlegt sogar, wieder auf den jetzt angeblich philippinischen Flottenstützpunkt »Subic Naval Base« zurückzukehren. Unter Verletzung der philippinischen Verfassung hat das US-Militär im Rahmen des »Visiting Forces Agreement« außerdem wieder Zugang zum ganzen Land.

Für den »Pivot« intensivieren die USA auch die militärische Zusammenarbeit mit Indonesien, Singapur, Malaysia, Brunei und Vietnam, bis hin zu gemeinsamen Militärmanövern mit Vietnam und Andockrechten im Tiefseehafen der Cam Rahn Bay im Südchinesischen Meer. Weiter im Western erneuerte Washington seine militärischen Kontakte zu Myanmar und bedroht damit den Zugang Chinas zum Indischen Ozean sowie die ökonomischen Entwicklungspläne Beijings für einen Großteil Zentralchinas.

Die Einkreisung Chinas komplettiert die US-Regierung mit einem neuen Flottenstützpunkt im Indischen Ozean bei Darwin/Australien, einem impliziten Bündnis mit Indien, der erweiterten »Partnerschaft« mit Neuseeland und der Mongolei und dem Abkommen über eine weitere Truppenstationierung in Afghanistan bis 2024.

Näher am US-Festland liegt Guam, wo das Volk der Chamorro unter der Besatzung leidet. Schon jetzt breitet sich die USA-Basis auf einem Viertel der nur knapp 550 Quadratkilometer großen Insel aus. Jetzt soll die Basis nochmals um ein Drittel erweitertet werden, damit dort mehr Kriegsschiffe, mehr Kampfflugzeuge und 5.000 zusätzliche Marinesoldaten stationiert werden können. Auch in Hawaii werden Umsiedlungen erzwungen, um Platz zu schaffen für weitere Kampfhubschrauber des Typs Osprey und 3.000 weitere Marinesoldaten.

Herausforderungen für soziale Bewegungen

Das ist wahrlich keine schöne Entwicklung. Wahr ist aber auch: Imperiale Strukturen, egal ob amerikanische, chinesische oder japanische, wandeln sich im Laufe der Zeit entweder unter dem Druck der Öffentlichkeit oder aufgrund ihrer eigenen internen Dynamiken und Widersprüche. Alle von uns, die sich gegen Krieg und für mehr Frieden und Gerechtigkeit einsetzen, stehen zwar vor einer gewaltigen Aufgabe, die Geschichte lehrt uns aber auch, dass Wandel möglich ist und dass wir am Ende siegen können.

Angesagt ist Solidarität mit Friedens- und Anti-Bases-Gruppen – auf Graswurzel-, Akademiker- und auch Regierungsebene. Die Proteste gegen die Transpazifische Partnerschaft und das Freihandelsabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union müssen weitergehen. Wir müssen uns intensiver darum kümmern, Alternativen zum imperialen Kriegssystem und Strategien für die menschliche und gemeinsame Sicherheit zu entwickeln. Eines ist allerdings klar: Unsere sozialen Bewegungen dürfen sich nicht länger auf ihre jeweiligen Themen konzentrieren, seien dies nukleare Abrüstung, Drohnen, Militärbudgets, Klimawandel oder Fürsorge. All diese Themen sind miteinander verwoben – und deshalb sollten auch unsere Bewegungen für Frieden, Gerechtigkeit und das menschliche Überleben miteinander verwoben sein.

Anmerkungen

1) Hillary Clinton: America’s Pacific Century. Foreign Policy, November 2011.

2) US Department of Defense: Sustaining U.S. Global Leadership. Priorities for 21st Century Defense. January 2012.

3) The White House, Office of the Press Secretary: Remarks By President Obama to the Australian Parliament, Parliament House, Canberra, Australia. November 17, 2011.

4) »Pivot« bezeichnet im Englischen u.a. einen Dreh- und Angelpunkt oder einen Schwenkpunkt; im Kontext dieses Artikels könnte es in etwa als »Neuausrichtung« oder «Umorientierung« übersetzt werden. [die Übersetzerin]

5) Die Ausarbeitung dieser Doktrin war von US-Verteidigungsminister Gates im »Quadrennial Defense Review Report 2010« in Auftrag gegeben worden. Die Doktrin wurde im November 2011 vorgestellt (siehe z.B. US Department of Defense: Background Briefing on Air-Sea Battle by Defense Officials from the Pentagon, November 09, 2011; defense.gov. Siehe auch: Air-Sea Battle Office: The Air-Sea Battle Concept Summary, 11/9/2011; navy.mil) und orientiert sich laut U.S. Naval Institute „an der vor einer Generation gültigen »Army-Air Force Air-Land Battle Doctrine«“ (usni.org). [die Übersetzerin]

6) Jeffrey A. Bader (2012): Obama and China’s Rise. An Insider’s Account of America’s Asia Strategy. Washington D.C.: The Brookings Institution.

7) Simon Tisdale: China syndrome dictates Barack Obama’s Asia-Pacific strategy. The Guardian, January 6, 2012.

8) Joseph S. Nye: Has Economic Power Replaced Military Might? cnn.com, June 6, 2011.

9) Jeffrey A. Bader, op.cit.

10) Hillary Clinton, op.cit

11) Sergey Rogov: U.S. foreign strategy to create new global order. Russia Behind the Headlines, April 22, 2013.

12) Robert D. Kaplan: The Revenge of Geography. What the Map Tells Us About Coming Conflicts and the Battle Against Fate. New York:Random House.

13) Siehe dazu ausführlicher »Vorwärts ins 19. Jahrhundert?« von Eiichi Kido auf Seite  in dieser Ausgabe von W&F.

14) Siehe dazu ausführlicher »Kollateralschaden des Koreakriegs« von Christine Ahn auf Seite  in dieser Ausgabe von W&F.

Dr. Joseph Gerson ist Geschäftsführer des Programms für die Nordostregion des American Friends Service Committee (Friedensdienst der Quäker) und leitet sowohl das Programm für Frieden und ökonomische Sicherheit als auch die Arbeitsgruppe für Frieden und Demilitarisierung in Asien und im Pazifik des ASFC.
Übersetzt von Regina Hagen

Geschlechtlich codierte geopolitische Raumbilder

Geschlechtlich codierte geopolitische Raumbilder

von Anke Strüver

Eine Beschäftigung mit den geschlechtlichen Codierungen von geopolitischen Raumbildern bezieht sich auf die Dekonstruktion und Rekonstruktion von sozialräumlichen Repräsentationen, die geopolitische Raumbilder explizit mit Menschenbildern verknüpfen. Im Mittelpunkt der empirischen Illustration dieses Textes stehen strategische Regionalisierungen von nichtstaatlichen Hilfsorganisationen. Thematisiert werden die in den Kampagnen von Entwicklungs- und Flüchtlingshilfeorganisationen enthaltenen Raum- und Menschenbilder sowie die ihnen zugrunde liegenden soziokulturellen und räumlichen Stereotypisierungen. Mit Fokus auf die Funktionen von geschlechtlich codierten Stereotypen in Raumbildern geht es dabei um die Frage, inwieweit geopolitische Ordnungsmuster (wie »Nord-Süd« oder »Europa-Afrika«) in den Kampagnen von »wohlmeinenden« zivilgesellschaftlichen Organisationen (re-) produziert werden.

Die Dekonstruktion von geschlechtlich codierten Raumbildern ist in der geographischen Geschlechterforschung verankert, die (Geschlechts-) Identitäten als durch den soziokulturellen und räumlichen Kontext produzierte versteht und die das konstitutive Wechselverhältnis von Raum- und Subjektidentitäten – sowie von Raum- und Menschenbildern – untersucht. Dabei sind die Bedeutungszuweisungen auf konkrete Räume und einzelne Menschen abhängig von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und wurden von Doreen Massey (1994) als »Power-Geometries of Space« beschrieben. Im Kontext der geographischen Geschlechterforschung wird für unterschiedliche Maßstabsebenen anhand zahlreicher Beispiele dargelegt, dass und vor allem wie sich Identitätskategorien wie Geschlecht sowie Räume und ihre jeweiligen Bedeutungen co-konstituieren, wie Raum- und Menschenbilder in ihren Verschränkungen funktionieren (vgl. Bauriedl et al. 2010; Wastl-Walter 2010). So wirkt einerseits die Kategorie Geschlecht als sozialer und räumlicher »Platzanweiser« (klassisches Beispiel: »Haus-Frau«), andererseits geht es längst nicht nur um die Feststellung, dass Frauen und Männer unterschiedliche Raumausschnitte zugewiesen bekommen. Vielmehr geht es um das wechselseitige Bedingungs- und Bestätigungsverhältnis zwischen den Kategorien Geschlecht und Raum und um an Geschlechterkonstruktionen gebundene Raumproduktionen.

Geopolitische Imaginationen – kritische und feministische Zugänge

Der Ansatz der »Critical Geopolitics« beschäftigt sich mit der Produktion von geopolitischen Raumbildern in unterschiedlichen Formen von Repräsentationen. Im Fokus steht zumeist die Dekonstruktion geopolitischer Leitbilder in Diskursen, die im Rahmen staatlicher Politik – aber auch in populärkulturellen Medien – transportiert werden und die dominante geopolitische Vorstellungen im Alltagsleben konstruieren (vgl. O Tuathail 1996; für zahlreiche Beispiele, Dzudzek et al. 2011). In den empirischen Arbeiten der »Critical Geopolitics« geht es also im Unterschied zu den realpolitisch angelegten Konzeptionen der Internationalen Beziehungen und der (klassischen) Geopolitik weniger um eine möglichst exakte Analyse geopolitischer Konstellationen und Kräfteverhältnisse, als um die Entstehung geopolitisch relevanter Konstruktionen und Weltbilder und deren massenmediale Verbreitung in textuellen und visuellen Repräsentationen. Grundlage für diesen Ansatz ist u.a. Saids »Orientalismus« (1978), in dem er die Konstruktion von »imaginierten Geographien« durch die Abgrenzung eines »Eigenen« von einem »Fremden« einschließlich ihrer räumlichen Bezüge thematisiert.

Das Konzept der »Feminist Geopolitics« wiederum erweitert die de- und rekonstruktiven Lesarten geopolitischer Diskurse um verkörperte Menschen(leben), um „den Körper als die lokalste geopolitische Dimension“ (Hyndman 2001, S.216). Mountz (2004) untersucht bspw. den Umgang mit chinesischen Bootsflüchtlingen in Kanada und legt offen, wie geopolitische Grenz- und Sicherheitsdiskurse die migrantischen Körper instrumentalisieren: Einerseits werden Migrant_innen als verkörperte Bedrohung stigmatisiert, andererseits als billige Arbeitskörper benötigt.

Geschlechtlich codierte geopolitische Imaginationen

Innerhalb dieses konzeptionellen Rahmens ist die Analyse der geschlechtlichen Codierungen von geopolitischen Imaginationen platziert: Am empirischen Beispiel wird das wechselseitige Bedingungs- und Bestätigungsverhältnis von Raum- und Menschenbildern über Afrika in den visuellen Repräsentationen von vier ausgewählten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) untersucht. Denn auch diese Akteure greifen auf Diskurse zurück, die auf räumlichen und vergeschlechtlichten Stereotypen basieren.1 Die Auswahl der NGOs zielt dabei auch auf den vergleichenden Aspekt der Analyse ab: Zum einen konzentriert sie sich auf die regionalisierten und geschlechtlich differenzierten Repräsentationen von Armut und Unterentwicklung in (Schwarz-) Afrika und zum anderen auf die Kampagnen-Bilder, die im Zusammenhang mit der Flucht von Afrikaner_innen nach Europa verbreitet werden.2 Dabei ist von Interesse, ob sich die Diskurse und Kampagnen von Organisationen aus den Bereichen Entwicklungs- und Flüchtlingshilfe in ihren Regionalisierungen ergänzen oder ob sie sich in ihrer »sozialgeographischen Konnotationsmatrix« grundlegend unterscheiden. Grundlage dafür bietet die »sozialgeographische Matrix« von Ziai zur Analyse der ökonomischen und politischen Interessen des Nordens im Süden. Dabei geht es um die Analyse der Strategien, mit denen die »Erste Welt« ihre Interessen verfolgt und dadurch die Situation und Bedürfnisse von „unterentwickelten Regionen als sozialgeographische Matrix“ (Ziai 2006, S.91) konstruiert.

Im hier behandelten Beispiel setzt eine solche »sozialgeographische Konnotationsmatrix« an der dichotomen Einteilung in »Erste« und »Dritte« Welt an, in der der »Ersten Welt« Attribute wie »modern«, »rational« und »technologisch« zugeschrieben wurden, während die »Dritte Welt« mit negativ besetzten Attributen wie »traditionell«, »unvernünftig/emotional« und »unterentwickelt« assoziiert wird. Diese Konnotationen werden in einem kontinuierlichen Prozess der Beschreibung von Räumen und Menschen als geopolitische Imaginationen verfestigt.

Auch Nichtregierungs-Hilfsorganisationen sind in ihren Kampagnen auf eine hohe mediale Präsenz angewiesen, um menschliches Leid anschaulich darzustellen bzw. um Mitleid für weltweite Ungerechtigkeiten zu erregen. Oftmals werden allerdings genau dadurch Vorstellungen von der »Dritten Welt« bzw. einzelner Regionen zum unhinterfragten »Allgemeinwissen«. So beruhen etwa Darstellungen Afrikas in den Kampagnen globaler Hilfsorganisationen auf Erzählungen und Raumbildern von Afrika, die sich über lange Zeit entwickelt haben und verfestigen konnten (vgl. – gleichermaßen ironisch wie exemplarisch – Wainaina 2006). Sie stellen somit konventionalisierte Vorstellungs- und Deutungsmuster dar, die durch gesellschaftliche Kommunikation manifestiert und versinnbildlicht werden. Clifford Bob (2005) spricht in diesem Zusammenhang von der „Vermarktung humanitärer Krisen“ – davon, wie NGOs durch ihre finanziellen wie visuellen Ressourcen beeinflussen, welchen humanitären Krisen Aufmerksamkeit zukommt und welches dominante Bild einer Krisenregion als »Standbild« hängen bleibt.

Die Kampagnen von Hilfsorganisationen eignen sich für die Analyse von geopolitischen Imaginationen, da sie sehr viele Menschen im Alltagsleben erreichen (z.B. über Plakatierungen im Straßenraum oder als Werbebanner im Internet) und da ihre Programme immer ein über territoriale Semantiken abgebildetes Ziel (Regionen, Nationen etc.) beinhalten. In den Kampagnen kommt es somit zur Verknüpfung von humanitärer Hilfe mit einer konkreten Region, zu einer diskursiven »Territorialisierung der Not«. Dabei werden in den Afrika-Kampagnen von NGOs der letzten Dekade zentrale Elemente des Orientalismus-Diskurses reproduziert, insbesondere die Bilder von Entwicklungshilfe, die mit den Konnotationen »Passivität« und »Schwäche« arbeiten. So beschreibt der Vorsitzende des Verbandes für Entwicklungspolitik deutscher NGOs (VENRO), Jürgen Lieser (2007), dass die NGOs „zwischen Macht und Moral“ den Mythos vom omnipotenten weißen Helfer pflegen (müssen), dem das Stereotyp des schwarzen, hilflosen Opfers gegenübersteht. Auf theoretisch-konzeptioneller Ebene wiederum hat Mike Davis (2004) dies in seiner historischen Rekonstruktion der »Geburt der Dritten Welt« gezeigt: Er macht deutlich, dass die »Dritte Welt« einen – im Foucaultschen Sinne – Macht-Wissens-Komplex darstellt, der durch das Zusammenspiel von Raumbildern, Weltordnungsstrategien und Hilfsinterventionen funktioniert (ausführlicher vgl. Strüver 2007).

Divergenzen oder Konvergenzen in den NGO-Diskursen?

In der Untersuchung der Kampagnen international agierender Entwicklungshilfeorganisationen im Hinblick auf ihre geopolitischen Regionalisierungen ist festzustellen, dass die verwendeten Repräsentationen vornehmlich auf koloniale Vorstellungen zurückgehen, die den Norden gegenüber dem Süden als progressiv abgrenzen. Die zugrundeliegenden dominanten gesellschaftlichen Vorstellungen beziehen sich dabei auf eine binäre Strukturiertheit des »Eigenen« und »Fremden« und verfestigen die damit verbundenen räumlichen Imaginationen im Allgemeinen und die geschlechtlich codierten geopolitischen Imaginationen im Besonderen: In Konzentration auf vergeschlechtlichte Repräsentationen von Armut, Unterentwicklung und Unsicherheit in Afrika wird deutlich, dass sich die Kampagnen auf ein Archiv von stereotypisierten Repräsentationen »des Südens« wie auch »des Weiblichen« stützen, die die Konnotationsreihe »unterentwickelt – schwarz – weiblich – schutzbedürftig« bemüht und darunter nicht zuletzt eine attraktive Weiblichkeit versteht bzw. abbildet. Die Repräsentationen von Afrikanerinnen (und ihren Kindern) sind vor allem mit Armuts-, Hunger- und Kriegszuständen in ihren jeweiligen Herkunftsregionen als »mitleiderregende Sympathieträger« verbunden und symbolisieren zudem Schwäche, Passivität und Immobilität.

Der zweite Teil der Analyse konzentriert sich hingegen auf die geschlechtlich codierten geopolitischen Repräsentationen in den Kampagnen von Flüchtlingshilfeorganisationen. Seit Einführung der mit dem Schengener Abkommen verbundenen Einreiserestriktionen versuchen afrikanische Migrant_innen vor allem, irregulär in die EU zu gelangen. Die diesbezügliche politische und mediale Aufmerksamkeit ist durch Berichte über afrikanische Flüchtlinge gestiegen, die versuchen, in kleinen Booten von Nord- oder Westafrika aus auf die Kanarischen Inseln bzw. die europäischen Mittelmeerinseln und -küstenregionen zu gelangen. Die Berichterstattung über afrikanische Flüchtlinge ist dabei mit einer subtilen Ab- und Ausgrenzungsrhetorik versehen, die eine umfassendere Abschottung der EU-Mitglieder gegen den »Flüchtlingsansturm« aus Afrika impliziert, um die »Gefahren« durch Armut, Flucht und Migration abzuwehren.3

Zu den Motiven in den Kampagnen von Hilfsorganisationen gehören auch Bilder von Bootsflüchtlingen, die versuchen, nach Europa zu gelangen. In diesen Bildern ist »der Flüchtling« meist männlich visualisiert und wird diskursiv zu einem »Standbild« verfestigt – und der räumliche Herkunftskontext (»Schwarzafrika«) ist Teil dieses Standbildes. Das Bild vom Flüchtling verweist dabei weniger auf reale Einzelpersonen, als vielmehr auf soziale Positionen innerhalb der Herkunfts- als auch der Zielgesellschaften. „Das Flüchtlingsregime, in dem Staaten, suprastaatliche und nicht-staatliche Organisationen sowie die Massenmedien zusammenwirken, hält die Flüchtlinge mit allen, auch visuellen und narrativen Mitteln, an ihrem Platz.“ (Holert/Terkessidis 2006, S.78)

Was im Bereich der Entwicklungshilfe durchaus auf mitleiderregende Unterstützung abzielt, wendet sich im Feld der Flüchtlingshilfe somit gegen die Betroffenen. Im einen Fall sind Repräsentationen »Schwarzafrikas« als unterentwickeltem, krankheits- und krisengeplagtem Teilkontinent Ausgangspunkt für die Akquise von Spenden und die Bereitstellung humanitärer Hilfe, im anderen Fall werden sie zu genau den Bedrohungsszenarien, mit denen in den westlichen Ländern eine restriktive Einwanderungs- und Asylpolitik legitimiert wird. „Der »TV-Migrant« tritt an der geographischen Grenze zur »Festung Europa« als ein männlicher über-sichtbargemachter, vom Repressionsapparat erfasster, als passives Objekt caritativer Behandlung vorgezeigter Körper auf.“ (Kuster 2007, S.188)

Die Ergebnisse der Analyse entwicklungspolitischer Diskurse lassen somit geschlechtlich codierte geopolitische Imaginationen erkennen, die in dualistischer Manier als Äquivalenzketten funktionieren, in denen ein »weißer Mann« als »dominanter Ursprungssignifikant« zum Referenzpunkt wird. Dieser Signifikant wird mit der »positiven Norm« von Modernität, Technologie und Rationalität assoziiert, der die Devianz Unterentwicklung, Irrationalität und Emotionalität gegenübersteht. Zudem knüpfen diese Äquivalenzketten an traditionelle Dualismen von Männlich- und Weiblichkeit sowie von »Erster« und »Dritter Welt« an.

Tabelle 1: Sozialgeographische Konnotationsmatrix

Entwicklungshilfe Flüchtlingshilfe
schwarz, weiblich, unterentwickelt schwarz, männlich, unterentwickelt
schwach, schutzbedürftig stark, gefährlich, kriminell
attraktiv aggressiv
emotional, privat (Alltagssituation) rational, öffentlich (Ausnahmezustand)
passiv, immobil aktiv, mobil
bedroht → Mitleid, Sympathie bedrohend → Abschreckung, Abgrenzung
Sozialgeographische Konnotationsmatrix der geschlechtlich codierten Menschenbilder in den Kampagnen von Entwicklungs- und Flüchtlingshilfe-NGOs

In der Gegenüberstellung mit den Kampagnenbildern der Flüchtlingshilfe verschiebt sich diese Äquivalenzkette, und es wird deutlich, dass sie sich hinsichtlich ihrer strategischen Regionalisierungen, der ihnen zugrundeliegenden geschlechtlich codierten Repräsentationsprozesse und hinsichtlich ihrer »sozialgeographischen Konnotationsmatrix« grundlegend unterscheiden (siehe Tab. 1). Es kann hier von einer »Instrumentalisierung« geschlechtlich codierter Identitäten in den Repräsentationsprozessen gesprochen werden, da über die ihnen zugeschriebenen klassischen Genderattribute Raumbilder manifestiert werden (ausführlicher zur Analyse des Bildmaterials siehe Strüver 2010).

Im Anschluss an Hyndman (2001) und die »Feminist Critical Geopolitics« lässt sich somit eine Nord-Süd »Geopolitik der (Im-) Mobilität« konstatieren, die neben der räumlichen und sozioökonomischen Abgrenzung eines »Eigenen« von einem »Fremden« bzw. von »Nord« und »Süd« einerseits auf »Gendered Power Geometries of Space« basiert und sich andererseits zu wenig für das (Über-) Leben konkreter Menschen interessiert und engagiert.

Schlussbemerkung

Wenn die »Dritte Welt« nicht als objektive Realität, sondern als geopolitisches Konzept und geopolitischer Raum verstanden wird, dann kann das verräumlichte »Andere« über die Mittel der Konstruktion des »Eigenen« und des »Anderen/Fremden« analysiert werden. Dabei wird deutlich, dass das Wechselverhältnis von Raum- und Menschenbildern vor allem auch auf der Konstruktion von räumlichen und sozialen, insbesondere vergeschlechtlichten und ethnisierten, Unterschieden und Hierarchien beruht.

Die in den Kampagnen von NGOs aus den Bereichen Entwicklungs- und Flüchtlingshilfe enthaltenen Raum- und Menschenbilder sind nicht beliebige Abbildungen, sondern stellen geopolitische Ordnungsmuster dar. Dieses Ergebnis schließt auch an die postkoloniale Kritik an, dass zwar im Global-Governance-Diskurs die Hegemonie des Nordens durch internationale Staatengemeinschaften und zivilgesellschaftliche Akteure ersetzt wird, dass diese Hegemonie jedoch ähnlich wie die koloniale funktioniert, in der sich ein »entwickeltes Europa« gegenüber einem bedrohten (hilfsbedürftigen) und zugleich bedrohlichen (abschreckenden) Afrika abgrenzt. Dies gilt zunächst für den Bildfundus, der offensichtlich auf einen kolonialen Repräsentationsapparat rekurriert, einschließlich der geschlechtlich codierten »Power-Geometries of Space«. Der Bildfundus der »Vermarktung humanitärer Krisen« sowie der »Territorialisierung von Not« in den aktuellen Hilfskampagnen stellt damit ein Repertoire bereit, mit dem Menschen in und aus Afrika repräsentiert und »angeschaut« werden und das auf einer Abgrenzung von einem vermeintlich progressiveren Europa basiert.

Anmerkungen

1) Die hier präsentierte Zusammenfassung basiert auf Teilergebnissen eines Forschungsprojektes der Autorin zu »Gender, Space and Global Governance«, das im 6. Forschungsrahmenprogramm der EU zu »Global Governance, Regionalisation and Regulation« gefördert wurde (siehe auch Strüver 2007, 2010).

2) Es handelt sich um die Entwicklungshilfeorganisation »Brot für die Welt«, die Flüchtlingshilfeorganisation »Pro Asyl« sowie die NGOs »Cap Anamur« und »Ärzte ohne Grenzen«, die beide sowohl in der Entwicklungs- als auch in der Flüchtlingshilfe tätig sind.

3) Im Hinblick auf die Repräsentationen von Geschlechterrollen in der medialen Kriegsberichterstattung finden sich ähnliche Assoziationsketten, die Frauen mit Passivität und Männer mit Aktivität verknüpfen (vgl. Kassel 2002).

Literatur

Bauriedl, Sybille/Schier, Michaela/Strüver, Anke (Hrsg.) (2010): Geschlechterverhältnisse, Raumstrukturen, Ortsbeziehungen: Erkundungen von Vielfalt und Differenz im Spatial Turn. Münster.

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Davis, Mike (2004): Die Geburt der Dritten Welt. Berlin.

Dzudzek, Iris/Reuber, Paul/Strüver, Anke (Hrsg.) (2011): Die Politik räumlicher Repräsentationen. Münster.

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Kassel, Susanne (2002): Schöne Flüchtlingsmädchen und Vergewaltigungslager. Wie Medien Geschlechterstereotype zur Kriegslegitimation nutzen. In: Wissenschaft & Frieden 20,2, S.19-22.

Kuster, Brigitta (2007): »Die Grenze filmen«. In: Transit Migration Forschungsgruppe (Hrsg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld, S.187-201.

Lieser, Jürgen (2007): Zwischen Macht und Moral. Humanitäre Hilfe der Nichtregierungsorganisationen. In: Treptow, Rainer (Hrsg.): Katastrophenhilfe und Humanitäre Hilfe. München, S.40-56.

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Strüver, Anke (2007): The Production of Geopolitical Regionalizations and Gendered Images through Global Aid Organizations. In: Geopolitics 12, 4, S.680-703.

Strüver, Anke (2010): Gendered Geographical Imaginations in Global Governance Diskursen. In: Ernst, Waltraud (Hrsg.): Grenzregime. Geschlechterkonstellationen zwischen Kulturen und Räumen der Globalisierung. Münster, S.49-65.

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Wastl-Walter, Doris (2010): Gender Geographien. Geschlecht und Raum als soziale Konstruktionen. Stuttgart.

Ziai, Aram (2006): Zwischen Global Governance und Post-Development. Münster.

Anke Strüver ist Professorin für Sozial- und Wirtschaftsgeographie an der Universität Hamburg.

Kriege, Krisen, Konflikte … und Karten

Kriege, Krisen, Konflikte … und Karten

Ein neuer Blick auf die Welt

von Benjamin D. Hennig

Karten kommt bei Fragestellungen rund um Geopolitik und Konflikte seit jeher eine besondere Bedeutung zu. Dies liegt nicht zuletzt an der symbolhaften Wirkungskraft von Bildern, die oftmals prägnanter sind und räumliche Realitäten vermeintlich objektiver vermitteln als Worte. Den Anspruch der Objektivität konnten Karten allerdings noch niemals erfüllen, da eine kartographische Abbildung des Raumes immer mit einer Verzerrung der Realität verbunden ist und der beabsichtigte Einsatzzweck die jeweilige Abbildungstechnik determiniert. Hinzu kommt die Bildsprache innerhalb der gewählten Abbildungsmethode, die gleichfalls manipulierend wirken kann. Karten können Realitäten also mindestens ebenso bewusst falsch vermitteln – und aufgrund ihrer visuellen Wirkung oftmals nachhaltiger – wie bewusst manipulierende Worte. Dieser Beitrag stellt eine alternative kartographische Visualisierungsform vor, mit der jegliche quantitative Dimension, die die Erde prägt, in neuer Form dargestellt werden kann. Die so erstellten Karten sollen einen Beitrag dazu leisten, die soziale Dimension der Erde durch auf den ersten Blick ungewöhnliche Darstellungsformen besser verständlich zu machen und so ein Problembewusstsein für Fragestellungen rund um das Wirken des Menschen auf diesem Planeten zu schaffen.

Die Visualisierung sozialwissenschaftlicher Daten nahm ihren Anfang in den frühen Tagen der Industrialisierung in Europa. Alle wichtigen Methoden der statistischen Analyse und ihrer aussagekräftigen graphischen Darstellung wurden im 19. Jahrhundert entwickelt und bilden bis heute das Fundament in sozialwissenschaftlicher Forschung und politischer Anwendung.

Die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Globalisierung und die zunehmende Vernetzung und Digitalisierung in der heutigen Zeit erinnern an die radikalen Umbrüche beim Übergang zur Industriegesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert. Die Methoden, diese Veränderungen in visueller Form darzustellen, haben sich seit damals jedoch kaum verändert. Die Welt wird bis heute auf Karten gezeigt, die auf Techniken basieren, bei denen der physische Raum zentrale Bedeutung hat. Die Orte menschlichen Handelns sind jedoch auf wenige physische Räume begrenzt: Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt mittlerweile in Städten, und 95% der Weltbevölkerung lebt auf nur 10% der Landoberfläche.

Die Karten in einem konventionellen Atlas stellen somit nur eine Dimension des Raumes dar, der die heutige globalisierte Welt prägt. Als Alternative wurden anamorphe Kartendarstellungen, in denen andere Raumdimensionen als der rein physische Raum in den Vordergrund rücken, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt (wenngleich erste konzeptionelle Überlegungen für solche Karten bereits im 18. Jahrhundert angestellt wurden).

Kartenanamorphote der Weltbevölkerung im Jahr 2015

Karte 1 Kartenanamorphote der Weltbevölkerung im Jahr 2015

Mit anamorphen Kartendarstellungen arbeitet z.B. das Worldmapper-Projekt (worldmapper.org). Die Worldmapper-Karten zeichnen sich durch ihre simple Gestaltung aus. Eine Karte macht Aussagen zu genau einem Thema, und eine durchgängige visuelle Gestaltung erlaubt den raschen optischen Zugang zu den Karten, in denen die Darstellung jedes Landes der Welt gemäß eines Indikators, wie Bevölkerung, Armut, Gesundheit oder Wirtschaftskraft, in seiner Größe verändert wird. So sind in der Weltbevölkerungskarte China und Indien die dominierenden Elemente – wesentlich größer als beispielsweise ein flächengroßes Land wie Russland, das nur eine geringe Bevölkerung aufweist (Karte 1).

Grundprinzip der anamorphen Kartendarstellungen (Kartenanamorphote, im Englischen »cartogram«) ist eine bewusst Verzerrung des Raumes. Die Distanzen in der Kartendarstellung sind dabei nicht an physischen Distanzen orientiert, sondern proportional zu einem beliebig gewählten Indikator. Damit sind die Verzerrungen nicht willkürlich oder die Realität verfälschend, sondern basieren auf realen Daten und sind somit auch objektiv nachvollziehbar.

Welt der Krisen und Konflikte

Mit anamorphen Kartendarstellungen lassen sich neue Sichten auf die Welt von Krisen und Konflikten erzeugen; sie stellen bestehendes Wissen auf ungewöhnliche und manchmal überraschende Weise dar. Einige Beispiele verdeutlichen, wie anamorphe Karten einen neuen Einblick in die Welt der Kriege geben können, indem die statischen Zahlen in geographische Darstellungen übertragen werden. Die nachfolgende Kartenserie erzählt die Geschichte einer Welt, deren Bevölkerung Krisen, Kriegen und Konflikten in vielfältigen Facetten ausgesetzt ist.

Kartenanamorphote der Militärausgaben im Jahr 2010

Karte 2 Kartenanamorphote der Militärausgaben im Jahr 2010

Kartenanamorphote der Verbreitung von Nuklearwaffen im Jahr 2011

Karte 3 Kartenanamorphote der Verbreitung von Nuklearwaffen im Jahr 2011

Kartenanamorphote der Waffenexporte im Jahr 2003

Karte 4 Kartenanamorphote der Waffenexporte im Jahr 2003

Kartenanamorphote der Waffenimporte im Jahr 2003

Karte 5 Kartenanamorphote der Waffenimporte im Jahr 2003

Dass Kriege ein anhaltendes Phänomen sind, zeigt ein Blick auf die Militärbudgets der Staaten. Kaum ein Land der Erde kommt ohne eine eigene Armee aus; von den größeren Flächenstaaten gehört Costa Rica zu den wenigen Ausnahmen. Und noch weniger Länder investieren nicht in der einen oder anderen Form in die Landesverteidigung und andere Formen militärischer Sicherung, wie die Verteilung der Militärausgaben im Jahr 2010 in der Karte 2 zeigt.

Die Regionen, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges selbst nicht von Kriegen betroffen waren, gehören dabei zu den Gebieten, in denen die höchsten Militärausgaben getätigt werden. Dies lässt sich nicht alleine mit dem Bedrohungspotential dort erklären, auch wenn die Nachwirkungen des Kalten Krieges – in der Karte 3 exemplarisch anhand der Verteilung der Nuklearwaffen 2011 dargestellt – sich bis heute in den geostrategischen Entscheidungen der globalen Verteidigungsbündnisse widerspiegeln.

Zweifelsohne ist der Handel mit dem Krieg längst zu einem Wirtschaftsfaktor geworden. Im Jahr 2003 betrug das Volumen der weltweiten Rüstungsexporte über 19 Mrd. US-Dollar. Exporte der Rüstungsindustrie (Karte Abb. 4) spielen eine wichtige Rolle in den Handelsbilanzen der großen Industrienationen. Während die Exporte in den letzten Jahren bei stark wachsendem absoluten Volumen (1985: 85 Mrd. US-Dollar) weitgehend gleich verteilt geblieben sind, ist die Verteilung der waffenimportierenden Länder je nach geopolitischer Lage stärkeren Schwankungen unterworfen. Die in der Karte 5 dargestellte Verteilung der Waffenimporte im Jahr 2003 zeigt den bis heute wichtigen Handel mit den arabischen Ländern und den weltpolitisch immer wichtiger werdenden Ländern Ostasiens, verdeutlicht aber auch den Handel mit damals entstehenden Krisengebieten in Teilen Afrikas sowie den Ländern, die unlängst im so genannten Arabischen Frühling nicht unwesentlich militärisch gegen die eigene Bevölkerung vorgingen. Hervor sticht auch die Größe Griechenlands, das 2003 mit China und Indien zu den größten Waffenimporteuren gehörte – importiert wurden nicht zuletzt Waffen aus deutscher Produktion.

Kartenanamorphote der Todesopfer durch Landminen im Jahr 2010

Karte 6 Kartenanamorphote der Todesopfer durch Landminen im Jahr 2010

Kartenanamorphote der Kriegsopfer im Zeitraum 1945 bis 2000

Karte 7 Kartenanamorphote der Kriegsopfer im Zeitraum 1945 bis 2000

Kartenanamorphoten der Herkunfts- (oben) und Zielländer (unten) von Flüchtlingsströmen im Jahr 2011

Karte 8 Kartenanamorphoten der Herkunfts- (oben) und Zielländer (unten) von Flüchtlingsströmen im Jahr 2011

Kartenanamorphote der Teilnehmer an Irak-Antikriegsdemonstrationen 2002/03

Karte 9 Kartenanamorphote der Teilnehmer an Irak-Antikriegsdemonstrationen 2002/03

Die Folgen von Kriegen drücken sich – neben dem materiellen Schaden – in der tragischen Zahl von Kriegsopfern aus. Opfer von Waffen gibt es dabei nicht nur während der kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern zum Teil Jahre und Jahrzehnte darüber hinaus. Die Karte 6 zeigt die Verteilung der 4.191 Landminenopfer, die für das Jahr 2010 nachgewiesen sind.

Noch viel höher sind die Opferzahlen in den Kriegen und Konflikten selbst. Es wird geschätzt, dass zwischen 1945 und 2000 über 51 Millionen Menschen Opfer von Kriegen wurden. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist Europa – abgesehen vom früheren Jugoslawien – dabei von der Weltkarte der Kriegsopfer verschwunden (Karte Abb. 7).

Eine oft direkte Folge von Konflikten sind internationale Flüchtlingsströme, die eine sehr dynamische Komponente dieses Themenfeldes darstellen. Statistiken für das Jahr 2012 zeigen, dass mit mehr als 4,3 Millionen neuen Flüchtlingen die Zahl der betroffenen Menschen so hoch wie nie in den letzten zehn Jahren war. Neu entstandene Krisenherde wie die Elfenbeinküste, Libyen, Somalia und Sudan trugen zu einem erheblichen Anstieg von Flüchtlingsströmen bei; sie sind zu den bestehenden Konfliktgebieten wie Afghanistan hinzugekommen. Vielfach sind die Flüchtlingsströme auf die benachbarten Länder ausgerichtet, wie die Gegenüberstellung der Herkunfts- und Zielländer in der Karte 8 zeigt.

Doch auch die wohlhabenderen Staaten sind an kriegerischen Handlungen beteiligt – wenn sie nicht sogar Auslöser von neuen Konflikten sind. Die zuvor erwähnten hohen Investitionen in die Militärhaushalte werden in diesen Fällen nicht (nur) zur Verteidigung der eigenen Hoheitsgebiete, sondern (auch) für internationale Interventionen eingesetzt. Dies stößt jedoch nicht immer auf Zustimmung in der eigenen Bevölkerung. Besonders groß war der internationale Widerstand gegen den Irakkrieg 2003, gegen den global geschätzte 15,9 Millionen Menschen demonstriert haben – vornehmlich in den über 25 an dem Krieg beteiligten Ländern (siehe Karte 9).

Als Referenz für die hier gezeigten Karten bietet die konventionelle Vorstellung der Welt in ihrer Verteilung von Land und Wasser eine ungeeignete Grundlage. Vielmehr ist die Karte 1 der Weltbevölkerung eine korrektere Basis für die dargestellten Themenfelder.

Die Welt der Menschen

Kartenanamorphote der Weltbevölkerung im Jahr 1950

Karte 10 Kartenanamorphote der Weltbevölkerung im Jahr 1950

Kartenanamorphote der Weltbevölkerung im Jahr 2100

Karte 11 Kartenanamorphote der Weltbevölkerung im Jahr 2100

Die Verteilung der Weltbevölkerung verändert sich langsam, aber stetig. Sie wächst (noch) nicht nur in absoluten Zahlen, sondern zeigt dabei ganz spezifische geographische Muster. Eine Betrachtung auf jährlicher Basis würde dabei nur geringe Veränderungen aufzeigen, während man in einer Betrachtung über mehrere Jahrzehnte diese Schwerpunktverlagerung auch im Kartenbild deutlich erkennen kann – mit entsprechenden Auswirkungen auf die globalen Machtgefüge und die daraus entstehenden Krisenpotentiale. Während die Karte 1 den gegenwärtigen Stand zeigt, zeigen die Karten 10 und 11 die Bevölkerungsverteilung für 1950 und (nach Schätzungen der Vereinten Nationen) für 2100.

Bevölkerung ist also ein wesentliches Element für die Grundlage des Verständnisses der heutigen Welt. Die Worldmapper-Karten können dieses in einfacher und gleichzeitig eindrucksvoller Weise auch in ihrer zeitlichen Dynamik darstellen (siehe animierte Beispiele auf worldmapper.org). Die Simplizität ist jedoch auch ein Problem der hier vorgestellten Worldmapper-Karten: Der Detailgrad, der in den Karten dargestellt werden kann, ist auf Länderebene limitiert. Somit bieten diese Karten keine sinnvolle Basis für die Darstellung anderer Themen als des gewählten Indikators. Es sind vielmehr immer noch relativ beschränkte Karten, denen bestimmte Grundeigenschaften von Karten fehlen (wie etwa die Darstellung weiterer Informationen und Raumelemente).

Ein Schritt zur Optimierung anamorpher Darstellungen ist demgemäß die Entwicklung einer Methode, mittels derer die Karten auch als Basis für die Darstellung weiterer räumlicher Informationen geeignet sind. Dies kann erreicht werden, indem anstatt der Daten für eine spezifische administrative Einheit (wie eines Landes) ein gleichmäßiges (und somit gleichzeitig objektives) Raster an Bevölkerungsdaten zur Transformation verwendet wird. Jede einzelne Rasterzelle wird bei der Kartenerstellung mit jeder anderen Rasterzelle gegengerechnet, um daraus die korrekte Relation der Verzerrung abzuleiten und zu berechnen. Karten können sowohl global als auch auf jeder beliebigen regionalen Ebene generiert werden, so dass mit der gleichen Datenbasis unterschiedliche Maßstabsebenen realisierbar sind. Der zugrundeliegende Computeralgorithmus ist zudem so gestaltet, dass die Verformung der einzelnen Rasterzellen möglichst gleichmäßig vorgenommen wird, so dass die quadratische Form jeder Rasterzelle weitestmöglich beibehalten wird. Bei hoher Auflösung der Basisdaten können dabei Zusatzinformationen wie Grenzen mittransformiert und -visualisiert werden. Damit können diese Bevölkerungskarten auch als Grundlagenkarte für weitere thematische Informationen dienen und gehen somit weit über die Visualisierungskapazitäten früherer Kartenanamorphote hinaus.

Die daraus resultierenden so genannten Rastertransformationskarten (gridded cartograms) zeichnen ein neues Bild der Welt, in dem erstmals ein objektiver Raum für eine andere Dimension als den physischen Raum geschaffen wird. Während jede Rasterzelle eine physisch identische räumliche Einheit darstellt, repräsentiert in den neuen Rastertransformationskarten die Größe der Zellen die reale Bevölkerungsverteilung innerhalb des jeweils gewählten Gebietes: Die größten Rasterzellen stellen die höchsten Bevölkerungswerte in ihrer tatsächlichen Relation zu den übrigen Gebieten dar, während bevölkerungsleere Gebiete so weit verkleinert werden, dass sie – wie dicht gedrängte Isolinien in Landkarten – kaum noch erkennbar sind. Den dicht bevölkerten Gebieten wird in diesen Karten somit der meiste Platz eingeräumt.

Bevölkerungsrastertransformationskarte der Welt

Karte 12 Bevölkerungsrastertransformationskarte der Welt

Auf der Weltkarte (Karte 12) werden die dicht besiedelten megaurbanen Regionen Ostasiens sichtbar. Sie zeigt beeindruckend die Dominanz der Bevölkerung in diesen Gebieten – z.B. den Ostprovinzen Chinas und weiten Teilen Indiens –, wohingegen das flächengrößte Land der Erde, Russland, kaum noch wahrzunehmen ist. Die durch das zugrunde liegende Raster entstehenden Muster ermöglichen zudem eine weitere Interpretation der Bevölkerungsverteilung: So ist in Russland mit der Bündelung der Bevölkerung im Westen des Landes auch das Macht- und Bevölkerungszentrum Moskau zu erkennen. Die entvölkerten Gebiete Westchinas oder die menschenleeren Wüstenregionen Nordafrikas, die nahezu den Verlauf der Wendekreise nachzeichnen, sind ebenfalls deutlich zu erkennen.

Rastertransformationsdarstellung der Bevölkerung Deutschlands

Karte 13 Rastertransformationsdarstellung der Bevölkerung Deutschlands

Verändert man den Maßstab auf die nationale Ebene, so lassen sich sogar regionale Unterschiede visualisieren, was die Sichtweise auf die räumlichen Realitäten stark beeinflusst. So können diese Darstellungen auch bei für uns vermeintlich bekannten Ländern zu neuen Einblicken beitragen – und das in einer ganz anderen Dimension, als dies in üblichen Kartenprojektionen möglich ist. Betrachtet man Deutschland mit dieser Methode (Karte 13), werden nicht nur die Bevölkerungsunterschiede zwischen Ost und West sofort erkennbar, sondern auch die große Dominanz von Ballungsräumen wie dem Rhein-Ruhrgebiet. Die hier gezeigte Karte projiziert wie in einer konventionellen Kartendarstellung zudem das Relief Deutschlands auf die Bevölkerungskarte und vermittelt so eine Vorstellung davon, welche Geländehöhen wie dicht besiedelt sind. So verschwinden die dünn besiedelten Mittelgebirgszüge nahezu, während etwa die Ebenen am Niederrhein und im Rheinland durch ihre dichte Besiedlung stark hervorgehoben werden. Dies mag den landeskundlich bewanderten Betrachter kaum verwunderten, kann aber zum Verständnis der demographischen Strukturen weniger bekannter Regionen der Erde bedeutend beitragen.

Überträgt man das Prinzip auf Themen wie Krisen und Konflikte, wird die Darstellung allerdings dadurch erschwert, dass eine verlässliche Datenbasis oftmals nicht vorliegt. Bewusste Fehlinformationen, aber auch das Fehlen von Informationen über die Kriege unserer Zeit, machen eine objektivere Betrachtung und Bewertung schwer. Wo derartige Daten existieren, können alternative Betrachtungsweisen zu neuen Einblicken führen – und wo keine neuen Einblicke entstehen, so zumindest zu ungewöhnlichen neuen Darstellungen, die den Blick auf das Thema neu fokussieren.

Karten der Kriegsopfer im zweiten Irakkrieg (konventionelle Karte links, Bevölkerungsrastertransformationskarte rechts)

Karte 14 Karten der Kriegsopfer im zweiten Irakkrieg (konventionelle Karte links, Bevölkerungsrastertransformationskarte rechts)

Die Auswertung der über Wikileaks veröffentlichten Daten des letzten Irakkrieges ergibt ein Bild der geographischen Verteilung von fast 110.000 Kriegstoten. Die Zahl, die auch über 66.000 zivile Opfer beinhaltet, war weit höher als offizielle Angaben des US-Militärs, und die Veröffentlichung der Dokumente im Jahr 2010 hatte eine erneut kontroverse Debatte um den Irakkrieg zur Folge. Ein kartographischer Blick auf die veröffentlichten Daten zeigt die deutliche Konzentration der Kriegstoten entlang der zentralen Flussläufe des Landes (Karte 14), ein Punkt entspricht dabei 100 Kriegsopfern). Eine entsprechende Rastertransformationskarte, basierend auf der Bevölkerungsverteilung, bestätigt dabei, dass das resultierende Muster in weiten Teilen den dicht besiedelten Gebieten des Landes entspricht, wohingegen – kaum verwunderlich – in den unbesiedelten Regionen eher wenige Kriegstote registriert wurden. Die alternative Darstellung zeigt aber auch, dass eine große Anzahl von Opfern in den weniger dicht besiedelten Regionen nördlich von Bagdad konzentriert ist.

Dieses alternative Bild des Krieges zeigt im Ansatz, dass Karten unterschiedliche Geschichten erzählen können. Es liegt in der Verantwortung des Kartenerstellers, mit den Informationen verantwortungsvoll umzugehen, aber auch in der Verantwortung des Kartenbetrachters, die dargestellten Informationen kritisch zu bewerten und die Art der Darstellung zu hinterfragen.

Ausblick

Die hier vorgestellten Kartenbeispiele zeigen, dass die Verwendung von Kartenanamorphoten neues Potential bietet, den Menschen und sein Handeln auf der Erde in einer alternativen Weise zu zeigen. Es handelt sich bei anamorphen Karten nicht um eigenwillige willkürliche Verzerrungen, sondern um neue Projektionsmethoden, die im Beispiel der Rastertransformationskarten auf äußerst detaillierten Bevölkerungsdaten basieren. Die daraus resultierenden Karten sind nicht weniger objektiv als konventionelle Kartendarstellungen und fördern ein neues Verständnis von globalen wie regionalen Realitäten. Zudem können die Rastertransformationskarten durch eine Kombination mit weiteren Daten zu multithematischen Karten erweitert werden, was bislang nur in konventionellen Karten zu verwirklichen war. Diese Darstellungmethode ermöglicht es, der Relevanz des Menschen in der Visualisierung der sozialen Realitäten erstmals ausreichend Raum zu geben.

Bevölkerungsrastertransformationsdarstellung der Erde bei Nacht

Karte 15 Bevölkerungs­raster­transformations­darstellung der Erde bei Nacht

Krisen, Konflikte und Kriege sind in der heutigen Welt nicht mehr nur das Ergebnis des Strebens nach mehr Macht und Einfluss, sondern oftmals auch das Ergebnis einer Welt, in der ungleiche Lebensbedingungen zur Entstehung von Spannungen führen. Eine Welt, in der Menschen allerorts gleiche Lebenschancen haben, gab es zwar nie, doch nie zuvor waren Armut und Reichtum so ungleich verteilt. Das Sehen und Verstehen dieser Realitäten ist der erste Schritt, um Lösungen zu finden für eine gerechtere und weniger konfliktgeladene Welt.

Ein Blick auf die Erde bei Nacht, die viele Menschen seit ihrer ersten Veröffentlichung fasziniert hat, zeigt, wie stark der Kontrast zwischen Wohlstand und Armut ist (Karte 15): Dargestellt in einer Bevölkerungsprojektion zeigt die Erde bei Nacht ein Bild von den Orten, an denen es sich die Menschen leisten können, den Nachthimmel mit Licht zu bestrahlen, während ein Großteil der Menschheit in Afrika, Asien und Südamerika in Dunkelheit lebt.

Literatur

Hennig, B.D. (2013). Rediscovering the World: Map Transformations of Human and Physical Space. Heidelberg/New York/Dordrecht/London (Springer).

Dr. Benjamin D. Hennig promovierte zum Worldmapper, ist Research Associate am Department of Geography der University of Sheffield in Großbritannien und unterhält die Website viewsoftheworld.net.

Geopolitik im Ausnahmezustand?

Geopolitik im Ausnahmezustand?

Carl Schmitt und seine Konjunkturen

von David Salomon

Es muss nicht überraschen, dass angesichts der tiefen Krise, in der sich nicht nur die Europäische Union, sondern auch das hergebrachte Modell der Nachkriegsdemokratien befinden, selbst in den Feuilletons großer bürgerlicher Zeitungen verstärkt Diskussionen über den Formwandel von Staatlichkeit und Souveränität geführt werden. Die Sprache (und, mehr noch als sie, der Gestus) lässt jedoch mitunter aufhorchen: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Carl Schmitts (1922/2004, S.11) gleichermaßen berühmte wie berüchtigte Definition steht im Zentrum eines politischen Denkens, das seine normative Option für Formen autoritärer Herrschaft stets in vermeintlich neutrale Aussagen über die Funktionsweise des Politischen selbst zu kleiden wusste. Seit je war der »Schmittianismus« auch ein Gegenentwurf zu marxistischen Theorien. Die Wiederkehr schmittscher Formulierungen sowohl im innen- als auch im außenpolitischen Kontext kann als strategischer Versuch gedeutet werden, begriffspolitische Weichen in der Krise neu zu stellen.

Rainer Hank diagnostizierte im August 2012 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« den Krisenzustand der Europäischen Union: „Europa lebt im Ausnahmezustand. Die Regeln der europäischen Verträge (Maastricht) gelten nicht mehr; ein europäischer Souverän, der neue Regeln aufstellen und mit Macht durchsetzen könnte, ist nicht in Sicht.“ Neben dem „»Putsch« einer sich die Macht des Souveräns anmaßenden Institution“ und „ein[em] evolutionäre[n] Prozess, der langwierig über Volksabstimmungen und/oder verfassungsgebende Versammlungen in den Mitgliedsländern am Ende die »Vereinigten Staaten von Europa« zuwege bringt und einen Bundesstaat mit geregelter Volkssouveränität und entsprechenden fiskalischen Transferregeln schafft“, nennt Hank als weiteren möglichen Weg der Krisenbewältigung die „Stärkung der nationalen Souveränität, verbunden mit einer strikt eingehaltenen Rechtsstaatlichkeit, in deren Zentrum das Nichtbeistandsgebot (No-Bailout) wieder strikt durchgesetzt wird“ (Hank 2012). Es ist diese dritte Möglichkeit, die Hank präferiert.

Bereits ein knappes Jahr zuvor bezog Jörg Kaube (2011) in derselben Zeitung eine Gegenposition zu Hanks Ausführungen: „Souverän ist, wer den Normalzustand finanziert“, heißt es lapidar gleich zu Beginn. Nicht in der Rückkehr zum »No-Bailout«, sondern in der aktiven Gestaltung des finanziellen Transfers sieht er die Chance zu einer Herausbildung wirklicher europäischer Souveränität. Im Schlussabsatz fasst Kaube die Konsequenzen zusammen: „Die Nation und ihr ganzer semantischer Anhang von Selbstbestimmungsphrasen sind nur unsachliche Gesichtspunkte in einem Kampf um soziale Freiheiten, der ökonomisch entschieden werden wird. Die politischen Freiheiten werden davon mehr als in Mitleidenschaft gezogen. Sie waren seit je der Preis des Wachstums. Es wird nicht viel von ihnen übrig bleiben.“ Dies liest sich wie eine programmatische Ausbuchstabierung der merkelschen »marktkonformen Demokratie«. Von »Volkssouveränität« ist hier freilich längst nicht mehr die Rede. Was Kaube, das sich herausbildende europäische Währungsregime vor Augen, „absolutistische Demokratie“ nennt, wurde von anderen Autoren als „Postdemokratie“ klassifiziert (Crouch 2008).

Auch wenn Hank und Kaube keine Schmittianer im engeren Sinne sind, erweist sich das Spielen mit Schmittianismen doch keineswegs als zufällig. Wann immer Krisen diagnostiziert und Umbrüche konstatiert werden, lassen sich Schmitt-Renaissancen beobachten – zumeist mit strategischer Schlagseite.1

Nicht nur bezogen auf demokratiepolitische Fragen in ihrem Inneren, auch im Kontext der weltpolitischen Bedeutung der EU als »Wirtschaftsraum« und politisches Integrationsprojekt wurde immer wieder auf Schmitt rekurriert. Als sich im Kontext des Krieges der USA und ihrer damaligen Verbündeten gegen den Irak Stimmen mehrten, die „[e]in transatlantisches Schisma“ (Müller 2003) zwischen dem „alten Europa“ (Rumsfeld) und der »neuen Welt« ausmachten, schrieb der – übrigens keineswegs konservative oder »rechte« – italienische Philosoph und Schmitt-Übersetzer Angelo Bolaffi (2003): „Verfassungen werden auf dem Schlachtfeld geschrieben. Deswegen ist der Krieg im Irak fatalerweise dazu bestimmt, das Schicksal der europäischen Verfassung zu beeinflussen. Die von der militärischen Intervention der Alliierten hervorgerufene Spaltung des Planeten hat neue, unvorhergesehene Feindschaften entstehen lassen. Der Konflikt über den künftigen Nomos der Erde hat nämlich nicht nur die beiden Ufer des Atlantiks noch weiter voneinander entfernt […], sondern auch den alten Kontinent in zwei feindliche Lager gespalten.“

Auch Hank sind solche geopolitischen Überlegungen keineswegs fremd. Mit „euromantischen“ Träumereien, so seine Bilanz, könne das Souveränitätsproblem und mit ihm das Problem des europäischen Rangs in der sich neu herausbildenden Weltordnung, in der die „großen Flächenstaaten Asiens“ eine entscheidende Rolle spielen könnten, kaum gelöst werden. In einer Stärkung der Nationalstaaten sieht jedoch auch Hank eher einen Weg zur weiteren Integration als die Aufgabe dieses Ziels (Hank 2012).

Geopolitisch bedeutsam ist insbesondere das Denken in konkurrierenden Blöcken. Gerade die Konzeption einer »multipolaren« Weltordnung – im Gegensatz zur unumstrittenen Hegemonie der USA – kann sich mit einigem Recht auf Carl Schmitt berufen. Wenn die Notwendigkeit solcher Blockbildungen – wie immer sie sich vollziehen mögen – jedoch aus internationalen Machtverhältnissen und Selbstbehauptungsinteressen abgeleitet wird, ist die Zentralstellung demokratischer Legitimation längst aufgegeben.

Antagonismus, Souveränität und Staat

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ (MEW 4, S.462) Zurecht gilt der Anfangssatz des »Manifests der Kommunistischen Partei« als Herzstück nicht allein einer materialistischen Theorie der Geschichte, sondern zugleich der politischen Theorie des Marxismus. Im Widerstreit sich antagonistisch gegenüberstehender Klassen auf der Basis bestimmter, jeweils historisch genau zu spezifizierender Produktionsbedingungen sahen Marx und Engels nicht allein die Ursache für sozialen Wandel, sondern das Prinzip des Politischen selbst. Wer dem modernen Staat analytisch auf die Spur kommen oder ihn gar politisch überwinden wolle, stehe demnach vor der Aufgabe, die sozialen (in erster Linie die politisch-ökonomischen) Verhältnisse zu analysieren, als deren Ausdruck die im engeren Sinn politischen Institutionen und die sie begründenden juristischen Formen zu begreifen seien.

Die Staatsrechtslehre Carl Schmitts wiederum ist ohne die Herausforderung der bürgerlichen Theorie durch den Marxismus nur schwerlich zu verstehen. Wie ein Kommentar auf die Theorie des Klassenkampfes liest sich Schmitts Bestimmung der „spezifisch politischen Unterscheidung“ als der „Unterscheidung von Freund und Feind“ (Schmitt 1932/2009, S.25). Tatsächlich ist es nicht unplausibel, Schmitts Ziel darin zu sehen, die in marxistischer Tradition ausformulierte Theorie antagonistischer Verhältnisse und aus ihnen resultierender politischer Institutionen von den Füßen auf den Kopf zu stellen. Auch Schmitt denkt historischen Wandel und politische Form in der Dimension grundlegender Antagonismen. Anders als die marxistische Tradition gibt Schmitt jedoch keine gesellschaftstheoretische Erklärung für das Entstehen antagonistischer Konfliktkonstellationen, sondern betont stattdessen die vollständige „Selbstständigkeit“ der Freund-Feind-Unterscheidung gegenüber allen anderen Sphären der Gesellschaft – auch und gerade gegenüber der ökonomischen Sphäre (ebd., S.26). Explizit verweigert Schmitt in diesem Kontext eine „erschöpfende Definition oder Inhaltsangabe“ (ebd., S.25).

In spezifischer Weise wiederholt sich diese Argumentationsfigur auch in Bezug auf die oben angeführte Definition der Souveränität als Entscheidung über den Ausnahmezustand: „Der Ausnahmefall, der in der geltenden Rechtsordnung nicht umschriebene Fall, kann höchstens als Fall äußerster Not, Gefährdung des Staates oder dergleichen bezeichnet, nicht aber tatbestandsmäßig umschrieben werden.“ (Schmitt 1922/2004, S.13f.) Auch hier wird folglich eine gesellschaftstheoretische Konkretisierung vermieden. Zugleich wird jedoch deutlich, dass der schmittsche »Dezisionismus« keineswegs so beliebig ist, wie ihm mitunter unterstellt wird: Im Ausnahmefall ereignet sich nichts Geringeres als eine Offenbarung der Wahrheit »des Politischen«. Nicht zufällig heißt die Schrift, in der Schmitt seine Souveränitätslehre entfaltet, »Politische Theologie« (Salomon 2010). Dass die von Schmitt ausformulierte Lehre der Freund-Feind-Konstellation überdies weit eher den permanent möglichen Krieg zwischen Staaten vor Augen hat und keineswegs die Institutionalisierung innergesellschaftlicher Konflikte im Sinne etwa ihrer demokratischen Bewältigung,2 macht er mehr als einmal deutlich: „Daß der Staat eine Einheit ist, und zwar die maßgebende Einheit, beruht auf seinem politischen Charakter. Eine pluralistische Theorie ist entweder die Staatstheorie eines durch einen Föderalismus sozialer Verbände zur Einheit gelangenden Staates oder aber nur eine Theorie der Auflösung oder Widerlegung des Staates. […] In Wahrheit gibt es keine politische »Gesellschaft« oder »Assoziation«, es gibt nur eine politische Gemeinschaft.“ (Schmitt 1932/2009, S.41/42) Erodiert diese »Gemeinschaft« durch innere Konfliktlagen, so schlägt die Stunde des Souveräns. Seine Aufgabe besteht nicht zuletzt darin, die Einheit zu restaurieren.

Bereits diese beiden Schlaglichter auf konstitutive Elemente der schmittschen »Großtheorie« sollten eines gezeigt haben: Politische »Einheiten« sind für Schmitt niemals auf sozialen oder ökonomischen Verhältnissen gegründet, vielmehr beruhen soziale und ökonomische Verhältnisse stets auf politischen Entscheidungen. Als »politisch« können jedoch nur solche (souveränen) Entscheidungen gelten, die nach innen Homogenität und nach außen Pluralität schaffen. Die – wie immer begründete – Vision eines universalen Friedenszustands weist Schmitt folgerichtig scharf zurück.

Weltordnung à la Schmitt?

Diesen theoretischen Prämissen bleibt sich Schmitt auch treu, als er seit den späten 1930er Jahren den hauptsächlichen Fokus seiner Arbeit von der Staatstheorie auf Fragen der Geopolitik verlagert. Dass diese Schwerpunktverlagerung recht genau mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs zusammenfällt, muss nicht überraschen. Auch wenn Schmitt zu diesem Zeitpunkt – nach dem Streit um sein Buch »Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes« – in Nazideutschland an Einfluss verloren hatte, zeigt doch spätestens die Abhandlung »Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte« (1939), dass Schmitt auch weiterhin bereit war, die Politik des deutschen Faschismus mit programmatischen Schriften zu begleiten.

Die seinerzeit – nicht nur in Nazideutschland – breit geführte geopolitische Diskussion konnte bereits auf eine lange Geschichte zurückblicken. Reichten die Vorläufer klassischen geopolitischen Denkens bereits ins frühe 19. Jahrhundert zurück (Opitz 1994), so wurden die Fragen ökonomischer und politischer Einflusssphären zu einem konstitutiven Bestandteil der politischen Ideologie des Imperialismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Als wissenschaftliches Paradigma war »Geopolitik« nicht zuletzt ein Gegenentwurf zur mehrheitlich marxistischen Imperialismustheorie. An die klassisch geopolitische Tradition, im Gegensatz von Land und Meer den wesentlichen Motor internationaler politischer Entwicklung auszumachen, knüpft auch Schmitt an, wenn er etwa in einer kleinen – eher erzählerischen als wissenschaftlichen – Schrift schreibt: „Die Weltgeschichte ist eine Geschichte des Kampfes von Seemächten gegen Landmächte und von Landmächten gegen Seemächte.“ (Schmitt 1942/2011, S.16)

Der klassische geopolitische Gehalt wird allerdings bei Schmitt, der hier fraglos bewusst mit dem oben zitierten Satz aus dem Manifest von Marx und Engels spielt und nun auch eine inhaltlich gefüllte Gegenthese zum Klassenantagonismus zu geben versucht,3 mit einer bedeutungsvollen Variation vorgetragen. Anders als der für die deutsch-faschistische Geopolitik ebenfalls bedeutsame Karl Haushofer verfällt Schmitt an keiner Stelle einem geographischen Determinismus. Die politischen Entscheidungen im geographischen Raum sind bei ihm weit weniger durch den Raum selbst bestimmt als in einer spezifischen machtpolitischen – aber auch andere Sphären der Gesellschaft einschließenden – historischen Praxis begründet: „In dem Wort Großraum spricht sich für uns der Wandel der Erdraumvorstellungen und -dimensionen aus, der die heutige weltpolitische Entwicklung beherrscht. Während »Raum« neben den verschiedenen spezifischen Bedeutungen einen allgemeinen, neutralen, mathematisch-physikalischen Sinn behält, ist »Großraum« für uns ein konkreter, geschichtlich-politischer Gegenwartsbegriff. Herkunft und Ursprung des Wortes »Großraum« liegen, soweit ich bisher feststellen kann, bezeichnenderweise nicht im staatlichen, sondern im technisch-wirtschaftlich-organisatorischen Bereich.“ (Schmitt 1941/1995, S.270)

Das derart diagnostizierte politische und staatsrechtliche Desiderat zu beheben, ist Schmitts Ziel – nicht nur im »Großraum«-Text von 1939, sondern auch in seinem vielleicht bedeutendsten Spätwerk über den »Nomos der Erde«. Detailliert zeichnet Schmitt darin nach, wie sich in der Moderne durch eine „planetarische Raumrevolution“ – auch aufgrund technischer Innovationen wie der Perfektionierung der Schifffahrt und schließlich der »Eroberung des Luftraums« – das Mensch-Raum-Verhältnis grundlegend gewandelt habe. Der »Nomos der Erde« versucht nichts Geringeres als eine völlige Neubegründung des Völkerrechts in einer Zeit, in der das klassische Staatengleichgewicht der westfälischen Ordnung seine Bindungskraft eingebüßt habe.

Dass der erste Text, in dem Schmitt seine Geopolitik entfaltet, ausgerechnet eine Abhandlung ist, die aufs engste mit dem deutschen Faschismus verknüpft ist, ist jedoch alles andere als eine Nebensächlichkeit. In den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs, in denen der Naziterror sich in einem »Blitzkrieg« nach dem anderen Europa unterwerfen konnte, musste Schmitts Argumentation als besondere Anmaßung wirken. Das »deutsche Reich« erscheint – der Funktion nach – beinahe als ein (temporärer) Weltsouverän, der mit seinem Krieg über den globalen Ausnahmezustand entscheiden und in der Folge ein neues Raumordnungsprinzip hervorbringen werde.

Die schmittsche Alternativerzählung zur marxistischen Imperialismustheorie ist in ihrer tagespolitischen Dimension unschwer als eine offen partikularistische Legitimationsideologie für einen besonders reaktionären Imperialismus (Deppe/Salomon/Solty 2011, S.116) zu dechiffrieren. In legitimatorischer Absicht erklärt Schmitt den faschistischen Raub- und Vernichtungskrieg zu einer Maßnahme gegen den universalistisch ausgreifenden Imperialismus britischer Provenienz. Noch 1950 – im vollen Bewusstsein über den Verlauf des Krieges und den Blutzoll, den die Zivilbevölkerungen, nicht zuletzt die europäischen Juden, unter deutscher Besatzung zu zahlen hatten – schreibt Schmitt: „Zwar werden auch im Land- und im Seekrieg Kampfmittel von gleicher Vernichtungskraft verwendet, wie im Luftkrieg. Aber der Landkrieg schließt es nicht aus, daß seine Mittel und Methoden der Okkupation des feindlichen Landes dienen. […] Der Seekrieg enthält in weit höherem Grade Elemente des reinen Vernichtungskrieges. Wenn die Mittel des Seekrieges gegenüber dem Lande zur Anwendung kommen, so führt das zu einer Blockade und nicht zur Okkupation. Die blockierende Seemacht hat, zum Unterschied von einer okkupierenden Landmacht, nicht das geringste Interesse daran, daß im blockierten Gebiet Sicherheit und Ordnung herrschen.“ (Schmitt 1950/2011, S.294)

Der Haupttitel »Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte« postuliert nicht nur ein Rechtsprinzip, das genau dem seinerzeitigen Interesse der deutschen Außenpolitik zu einer Nichteinmischung der USA in den (bei der Erstauflage freilich noch unmittelbar bevorstehenden) Zweiten Weltkrieg entsprach, sondern konnte zugleich an die US-amerikanische Monroe-Doktrin (1823) anknüpfen, die eine beiderseitige Nichteinmischung der USA und Europas in die Sphäre des jeweils anderen forderte. Darüber hinaus weist auch der Untertitel »Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht« eine doppelte Bedeutung auf: Zum einen ist mit »Reich« tatsächlich das deutsche gemeint, das sich gerade anschickte, Europa zu besetzen. Zum anderen aber – und hier schließt Schmitt unmittelbar an den geopolitischen Argumentationsbestand der Zeit an – steht für Schmitt der Reichsbegriff (beinahe synonym mit Landmacht) für eine zeitgemäße Reformulierung des Gedankens einer pluralen Weltordnung.

Schmitt akzentuiert den (deutsch konnotierten) Reichsbegriff scharf gegen den (englisch und amerikanisch konnotierten) Begriff des »Empire«, das er als „Weltreich“ bezeichnet: „Universalistische, weltumfassende Allgemeinbegriffe sind im Völkerrecht die typischen Waffen des Interventionismus. […] Hier soll zunächst eine mit der Monroedoktrin oft in Parallele gesetzte »Doktrin« behandelt werden: die der »Sicherheit der Verkehrswege des britischen Weltreichs«. Sie ist das Gegenteil dessen, was die ursprüngliche Monroelehre war. Diese hatte einen zusammenhängenden Raum, die amerikanischen Kontinente, im Auge. Das britische Weltreich dagegen ist kein zusammenhängender Kontinent, sondern eine auf die entferntesten Kontinente, Europa, Amerika, Asien, Afrika und Australien, verstreute, räumlich nicht zusammenhängende, politische Verbindung von Streubesitz. […] Die juristische Denkweise, die einem geographisch zusammenhanglosen, über die Erde verstreuten Weltreich zugeordnet ist, tendiert von selbst zu universalistischen Argumentationen.“ (ebd., S.285f.) Hier schließt Schmitt unmittelbar an jene (keineswegs völlig unberechtigte) Kritik des liberalen Universalismus und Interventionismus an, die ihn im »Begriff des Politischen« die Pluralität der Staatenwelt als Notwendigkeit so scharf hatte hervorheben lassen. Eine alternative Konzeptionierung universalistischer Rechtsverhältnisse kennt Schmitt freilich nicht.

Fazit

Wie soll nun die gegenwärtige Schmitt-Renaissance gedeutet werden? Ein Grund für die Konjunkturen schmittschen Denkens ist fraglos auch ein rhetorischer: Mit dem »Kronjuristen des Dritten Reiches« lässt sich trefflich dramatisieren und gleichwohl der Eindruck vermitteln, die eigene Zeitdiagnose sei der Ausfluss realistischer Nüchternheit. Sobald die Begriffe »Ausnahmezustand« oder »Nomos der Erde» in einem Text vorkommen, erscheint die Analyse – wie kurz gesprungen sie auch immer daherkommen mag – von einer Aura des Grundsätzlichen umgeben. Dennoch wäre es verkürzt, die Schmitt-Konjunktur lediglich als postmodernes Spiel zu begreifen. Gerade im Kontext der europäischen Integration erscheint der Rückgriff auf Schmitts Konzeption einer Großraumordnung durchaus plausibel – zumindest dann, wenn die ökonomischen Strukturen des (Finanzmarkt-) Kapitalismus und die durch ihn induzierte Weltordnung selbst nicht in Frage gestellt werden sollen. In ihrem Dreischritt von der Staats- über die Großraum- zur Weltordnungstheorie des »Nomos der Erde« erscheint die schmittsche »Großtheorie« tatsächlich als strenge Alternative zur marxistischen Erklärung des Zusammenhangs von antagonistischer Gesellschaft und kapitalistischem Weltsystem. Eine demokratische und friedliche Weltordnung allerdings lässt sich mit ihr sicherlich nicht begründen.

Anmerkungen

1) Zu den Schmitt-Renaissancen der 1980er Jahre vgl. Römer 2009.

2) In diesem Sinn modifiziert etwa Chantal Mouffe (2007, S.29ff.) Schmitt explizit.

3) 1981 wird Schmitt der Neuauflage der Schrift »Land und Meer« eine Schlussbemerkung hinzufügen, in der er zunächst eine Passage aus Hegels »Grundlinien der Philosophie des Rechts« zitiert: „Wie für das Prinzip des Familienlebens die Erde, fester Grund und Boden, Bedingung ist, so ist für die Industrie das nach außen sie belebende Element das Meer.“ Schmitt fügt hinzu: „Ich überlasse es dem aufmerksamen Leser, in meinen Ausführungen den Anfang eines Versuches zu finden, diesen § 247 in ähnlicher Weise zur Entfaltung zu bringen, wie die §§ 243-246 im Marxismus zur Entfaltung gebracht worden sind.“ (Schmitt 2011, S.108)

Literatur

Bolaffi, Angelo (2003): Politik ohne Macht – Europa hat eine Niederlage erlitten. FAZ, 19.5.2003.

Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt/Main.

Deppe, Frank/Salomon, David/Solty, Ingar (2011): Basiswissen Imperialismus. Köln.

Hank, Rainer (2012): Schuldenkrise: Der Ausnahmezustand Europas. FAZ, 12.8.2012.

Kaube, Jörg (2011): Europas Zukunft: Die absolutistische Demokratie. FAZ, 27.9.2012.

MEW = Marx, Karl/Engels, Friedrich (1956ff.): Werke. Berlin.

Mouffe, Chantal (2007): Über das Politische. Frankfurt/Main.

Müller, Harald (2003): Ein transatlantisches Schisma. Frankfurter Rundschau, 4.12.2003.

Opitz, Reinhard (1994): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945. Bonn.

Römer, Peter (2009): Tod und Verklärung des Carl Schmitt. In: ders.: Wolfgang Abendroth und Carl Schmitt, Köln. S.126-167.

Salomon, David (2010): Von Regeln und Ausnahmen – Über Recht, Gewalt und Hegemonie. In: Das Argument Nr. 288, S.81-90.

Salomon, David (2012): Basiswissen Demokratie. Köln.

Schmitt, Carl (1922/2004): Politische Theologie – Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin.

Schmitt, Carl (1932/2009): Der Begriff des Politischen. Berlin.

Schmitt, Carl (1941/1995): Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte – Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht. In: ders.: Staat. Großraum. Nomos – Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hrsg. v. Günter Maschke. Berlin.

Schmitt, Carl (1942/2011): Land und Meer. Stuttgart.

Schmitt, Carl (1950/2011): Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Berlin.

Dr. David Salomon ist Politikwissenschaftler und vertritt die Professur für Politische Bildung an der Universität Siegen.

In alter deutscher Tradition

In alter deutscher Tradition

Außenpolitik im Verständnis der extremen Rechten

von Mark Haarfeldt

Auch wenn in der Öffentlichkeit die extreme Rechte nicht durch ihre außenpolitischen Positionen auffällig erscheint, nimmt das Thema innerhalb ihrer verschiedenen Strömungen erheblichen Raum ein. Hierbei handelt es sich nicht nur um die Auseinandersetzung und Positionierung zu aktuellen Themen, sondern gleichzeitig um eine theoretische Debatte, wie eine deutsche Außenpolitik idealtypisch auszusehen habe. Die Ausgangsthese, die außenpolitische Praxis eines Staates spiegle die Stärke bzw. Schwäche einer Nation, ist dabei ebenso maßgeblich wie die Überzeugung, dass nicht zwischen Außen- und Innenpolitik unterschieden werden darf.

In der Weltanschauung der extremen Rechten führt »nationale Stärke« automatisch dazu, dass geopolitische Ziele, wirtschaftliche Interessen und machtpolitische Ambitionen erfolgreich umgesetzt werden können. Wenngleich die extreme Rechte mit dieser Ansicht keine exklusive Position einnimmt, ist diese grundlegende Vorstellung von Außenpolitik immer eng mit ihren autoritären Gesellschaftsvorstellungen verknüpft.

Vorbilder der extremen Rechten

Außenpolitische Theorien, die eng mit rassistischen bzw. völkischen Vorstellungen verbunden sind, entwickelten sich in Deutschland im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Ausgehend von der Evolutionstheorie Charles Darwins sowie des Sozialdarwinismus entstanden an den Universitäten die Disziplinen »Politische Geographie« und »Anthropogeographie«. Fachlich wurden Geographie und Humanbiologie in ein scheinbar logisches Verhältnis gesetzt, um damit eine Gesetzmäßigkeit zur Entstehung von Staaten zu kreieren, die abhängig von rassistischen Kriterien seien (vgl. Müller 1996). In diesem Kontext entwickelte der schwedische Wissenschaftler Rudolf Kjellén den Begriff »Geopolitik«, der heute noch von großer Bedeutung für die extreme Rechte ist und die grundlegende Bewertung außenpolitischer Vorstellungen markiert.

Gleichzeitig wurde der Begriff »Raum« in die Überlegungen eingeführt, der in diesem Zusammenhang keine geographische Definition besitzt, sondern eine gesellschaftliche Programmatik, aus der sich eine globale Ordnung ableitet. Besonders in den 1920er und 1930er Jahren entstanden verschiedene geopolitische Theoreme im Umfeld des national-völkischen Milieus. Autoren wie Karl Haushofer und Carl Schmitt sorgten maßgeblich dafür, dass die Raumtheorie Grundlage der deutschen Außenpolitik wurde.

Karl Haushofer konstruierte ein Abhängigkeitsverhältnis von Innen- und Außenpolitik. Innenpolitische Kämpfe, die Haushofer zufolge in einem liberalen Gesellschaftsmodell automatisch entstehen, schwächten demzufolge auch die Außenpolitik. Die Bildung eines diktatorischen Systems, das eine homogene Gesellschaft durchsetzt, sei daher unverzichtbar, um außenpolitisch »frei« agieren zu können (vgl. Haushofer 1937).

Legte der Münchner Professor Haushofer besonderen Wert darauf, die Korrelation von innerer Verfasstheit eines Raumes und außenpolitischer Aktivität zu belegen, so pointierte der Staatsrechtler Carl Schmitt in seiner immer noch populären Schrift »Völkerrechtliche Großraumordnung« die Beziehungen zwischen den verschiedenen Räumen. Für Schmitt war entscheidend, dass eine staatsrechtliche Regelung existieren müsse, die potentielle Konflikte zwischen diesen Räumen regelt. Mit seinem »Interventionsverbot raumfremder Mächte« ersann er ein völkerrechtliches Instrumentarium, das die Einmischung nicht-europäischer Mächte in ein von Deutschland beherrschtes Europa für illegitim erklärte. Dass Streitigkeiten dennoch nicht immer friedlich ausgetragen würden, war für ihn absehbar. Besonders Konflikte zwischen zwei angrenzenden Räumen könnten durchaus auch mit kriegerischen Mitteln gelöst werden (vgl. Blasius 2001).

Schmitts Position, die er 1938 als Beitrag zur nationalsozialistischen Außenpolitik publizierte, stieß auf erhebliche Kritik im Reichssicherheitshauptamt. Vor allem der promovierte Jurist und Stellvertreter Reinhard Heydrichs, Werner Best, lehnte Schmitts Konzept aus strukturellen Gründen ab. Entgegen Schmitts Ansatz, der das Verhältnis zwischen den Räumen völkerrechtlich formalisieren wollte, forderte Best schlicht, die Umsetzung des »Prinzips des Stärkeren«, wie es angeblich in der Natur vorkomme, auch auf das Verhältnis zwischen Räumen anzuwenden. Gemäß dem Dogma, dass sich der stärkere automatisch gegen den schwächeren Staat durchsetzen würde, wäre eine völkerrechtliche Regelung vollkommen überflüssig (vgl. ebd., S.192-195).

In den Überlegungen der Raumtheoretiker vor dem Zweiten Weltkrieg nahm das »Reich«, das als überstaatliche Institution fungieren müsse, eine zentrale Position ein. Die historische Bezugnahme auf das »Heilige Römische Reich deutscher Nation« sollte den deutschen Führungsanspruch in Europa untermauern. Das »Reich« war somit eine Mischung aus nostalgischer Verklärung eines Führungsanspruchs und zukunftsweisendem Begründungsmodell für kommende Expansionsansprüche. Die Bedeutung des Reiches als idealtypische staatliche Gesellschaftsform für einen von Deutschland dominierten Raum spielte auch nach 1945 in der extremen Rechten eine zentrale Rolle (vgl. Virchow 2006), besonders als Alternativmodell zur Europäischen Union.

Die raum-theoretischen Überlegungen aus der Zeit vor 1945 waren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zwar für die deutsche Außenpolitik nicht mehr relevant, behielten jedoch in der extremen Rechten weiterhin ihren fundamentalen Stellenwert. Theoretische Modifikationen wurden kaum vorgenommen. Stattdessen tritt die extreme Rechte für eine Wiederbelebung dieses geopolitischen Prinzips ein, das notwendig sei, um Deutschlands globale Stellung wieder herzustellen.

Nationale Souveränität

Im historischen Bewusstsein der extremen Rechten wird das Ende des Zweiten Weltkrieges als Niederlage eingestuft. Insbesondere die Einbindung in supranationale Strukturen habe der Kontrolle und Niederhaltung Deutschlands gedient; weltpolitisch sei es darum gegangen, den Konkurrenten Deutschland langfristig auszuschalten.

Die These, dass Deutschland unterdrückt werde, erlangte in Bezug auf die Europäische Union besondere Relevanz. Die extreme Rechte formulierte seit dem Entstehen der Europäischen Gemeinschaft immer wieder Kritik, die sich seit dem Beginn des Einigungsprozesses in den 1990er Jahren stark radikalisierte. Die Ablehnung der Europäischen Union wird mit dem Argument begründet, der Souveränitätsverlust der Nationalstaaten zerstöre ein natürliches Gesellschaftsprinzip. Die EU wird zur Antipoden einer national(istisch)en Politik mystifiziert, die sich massiv in die inneren Angelegenheiten der Staaten einmische und spezifische Charakterzügen der Nationen und Völker unterdrücke. Gleiches gelte für das Subventionsprinzip, das die extreme Rechte als Einmischung in die Innenpolitik der jeweiligen Staaten bzw. als Unterwerfung unter fremde Interessen ansieht (vgl. Langenbacher 2011). Im Falle Deutschlands komme noch hinzu, dass es aufgrund seiner ökonomischen Stärke und demographischen Größe als führende Nation Europas gelte. Hier meint die extreme Rechte eine historische Kontinuität zu erkennen, nach der die EU insbesondere gegenüber Deutschland als disziplinierende und gestaltende Instanz auftritt, die etwa in der Frage der Migration das völkische Prinzip missachte.

Hauptfeind USA

In einem ähnlichen Rahmen bewegt sich die Kritik an der Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in der NATO. Hielt ein Großteil der extremen Rechten die NATO vor 1990 noch für ein sinnvolles militärisches Bündnis, um eine für wahrscheinlich gehaltene Invasion des Warschauer Paktes zu verhindern, wird der Nordatlantikpakt nach der Aufhebung des Eisernen Vorhanges als gefährlich bewertet. Die NATO wird als Bündnis angeprangert, das einzig die Umsetzung der US-Interessen garantieren soll. Nach dieser Lesart mutierte die NATO zu einer multinationalen Struktur, deren Mitglieder nur die außenpolitischen Ambitionen der USA stärken. Dies gehe damit einher, dass eine von »nationalen Interessen« geleitete »deutsche Außenpolitik« verhindert bzw. unterdrückt werde.

Als entlarvend gilt der extremen Rechten insbesondere der »Global War on Terror« seit 2001. Die USA hätten die politischen und militärischen Ziele alleine formuliert und die anderen Mitglieder der NATO genötigt, an den Kriegen teilzunehmen. Somit sei Deutschland zwangsweise in dem Konflikt positioniert worden und nicht mehr in der Lage gewesen, außenpolitisch andere Optionen auszuloten. Wie im Falle der EU folgt auch diese Interpretation des außenpolitischen Engagements Deutschlands der Vorstellung, die nationale Souveränität der Deutschen werde unterminiert und die Bündnisintegration stabilisiere ein Abhängigkeitsverhältnis zu den USA (vgl. Pfahl-Traughber 2005).

Doch nicht nur die unterstellte systematische Unterdrückung Deutschlands, die vor allem mit der Stationierung von US-Truppen aufrecht erhalten werde, beweist die Antipathie der extremen Rechten gegen die USA. Der Rekurs auf antisemitische Stereotype, die seit der Gründung Israels immer wieder vorgetragen werden und sich in Form eines imaginierten finanzstarken »Ostküstenjudentums« artikulieren, spielt gleichfalls eine Rolle (vgl. Virchow 2006, S.166-175).

Das Bündnis zwischen Israel und den USA gilt hierbei als Konstante – und richte sich zwangsläufig gegen Deutschland. Dabei wird mit der Vokabel »Schuldkult« impliziert, Israel nutze im Verbund mit den USA die Shoah als moralischen Anklagepunkt, um Deutschland weiterhin zu desavouieren. Deutschland werde infolgedessen in seiner nationalen Souveränität eingeschränkt. Ziel: Die USA wollten global ohne deutsche Konkurrenz agieren. Dass Israel schon aus diesem Grund als Partner der deutschen Außenpolitik abzulehnen ist, manifestiert sich noch mehr, wenn z.B. die NPD sich mit »den von Israel unterdrückten Völkern« solidarisiert, weil die Deutschen ein ähnliches Schicksal teilten. »USrael« gilt für die extreme Rechte somit als natürlicher Feind einer deutschen Außenpolitik – ein Anknüpfungspunkt an die Theorie Carl Schmitts, dem die USA als »raumfremde Macht« galten.

Ein weiterer Grund für die massive Ablehnung der USA ist die ideologische Verortung der extremen Rechten. Sie bestreitet strikt, dass die deutsche Politik in der Tradition einer westlich-liberalen Ordnung steht, sondern knüpft nahtlos an nationalistische Konzeptionen an, die vor 1945 existierten. Deutschland sei, in Anlehnung an Karl Haushofer, weder kulturell noch politisch Bestandteil der Hemisphäre der westlichen Demokratien gewesen. Gleiches gelte gegenüber dem »östlichen Bolschewismus«, der von der extremen Rechten häufig als »barbarisch und unzivilisatorisch« beschrieben wird. Stattdessen formulierte der deutsche Nationalismus seit dem Kaiserreich eine eigenständige Position, derzufolge Deutschland sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts in einem Konkurrenzkampf mit den anderen Modellen befand. Es ist deshalb, ausgehend von einem rassistischen Prinzip, für die extreme Rechte »unnatürlich«, das Deutschland sich in das westliche System einbinden lässt. Insbesondere die USA mit ihrem völkische Dimensionen ablehnenden Selbstverständnis wird als Gegenpol angesehen (vgl. Schwab 1999).

Supranationale Ansätze

Trotz der starken Akzentuierung des »nationalen Prinzips«, das eben nationalstaatliche Homogenität und Souveränität impliziert, wurden in den letzten Jahren in der extremen Rechten verstärkt Debatten geführt, die sich mit Konstruktionen jenseits des Nationalstaates beschäftigten. Besonders das »Reich« nimmt eine prominente Rolle als Alternative zur EU ein. Das »Reich« gilt als machtzentriertes Gesellschaftsmodell, das in seiner Existenz weit über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus Wirkung entfalte. Dabei wird bruchlos an vor 1945 existierende Theorien angeschlossen. Carl Schmitts Ausführungen zur »völkerrechtlichen Großraumtheorie« dienen als Vorlage. Wie bei Schmitt werden hierbei die innergesellschaftlichen Strukturen eines zukünftigen Reiches nur rudimentär entworfen.

Ähnlich verschwommen werden in der extremen Rechten auch andere Projekte supranationaler Strukturen diskutiert und als Gegenpol zur Europäischen Union präsentiert. Dies gilt vor allem für das Projekt »Eurosibirien«. Eurosibirien gilt als eine Antwort auf den globalen Machtverlust gegenüber kontinentalen Mächten wie den USA und China. Die Vereinigung aller christlichen Staaten der nördlichen Hemisphäre zu einem gemeinsamen Block diene zum Schutz der Region, die durch andere Großmächte bedroht sei. Diese Vertreter befürworten nicht nur einen ökonomisch und militärisch starken Verbund, um gegen die globale Konkurrenz handlungsfähig zu sein, sondern wollen außerdem eine Homogenität innerhalb Eurosibiriens schaffen, die rassistisch und auch religiös definiert ist. Die Ausgrenzung anderer Gruppen und die Uniformierung der Gesellschaft nach einem strikten Muster gehören zum außenpolitischen Konzept, da innere Homogenität als Voraussetzung außenpolitischer Stärke angesehen wird.

Als weiteres außenpolitisches Planspiel ist das Eurasien-Konzept verbreitet; auch hier geht es darum, die Dominanz der USA zu brechen. Anders als beim Eurosibirien-Entwurf ist Religion kein entscheidendes Merkmal, um diesen multinationalen Block zu bilden. Nur die offene Feindschaft zu den USA soll ausschlaggebend sein. Innerhalb der NPD hat diese außenpolitische Doktrin durchaus eine Wirkungskraft und wird häufig in Verbindung mit Solidaritätsbekundungen für »unterdrückte Völker« propagiert. Wenn sich etwa der Fraktionschef der NPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, Udo Pastörs, mit einer iranischen Flagge ablichten lässt und in aggressivem Ton gegen den »US-Imperialismus« wettert, ist dies nur geheuchelte Solidarität, denn es geht nur um die Schwächung der USA. Gleiches gilt für die Sympathie mit dem autoritären Regime in Weißrussland und den zunehmenden Austausch mit russischen Nationalisten, die ebenfalls eine kategorisch antiamerikanische Außenpolitik befürworten (vgl. Whine 2005).

Keine Werte, nur Interessen

Besonders bedeckt bleiben die Strömungen der extremen Rechten in Deutschland, wenn es um die Frage einer möglichen militärischen Durchsetzung »nationaler Interessen« geht. Der traditionsbewusste Militarismus, der in fast allen Richtungen zelebriert wird, ist nur ein Indiz, dass militärische Interventionen zur Durchsetzung politischer oder ökonomischer Interessen befürwortet werden. Dennoch gibt es keine öffentlichen Stellungnahmen, die zum Beispiel eine territoriale Revision der ehemaligen deutschen Ostgebiete mit militärischen Mitteln fordern, auch wenn dieses Ziel seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zentral in der Propaganda der extremen Rechten verankert ist.

Eine Mehrheit der extremen Rechten kritisiert seit 1991 vehement die militärische Interventionspraxis der Bundesrepublik. Mag der Slogan der NPD »Bundeswehr raus aus Afghanistan« auf den ersten Blick eine kriegsnegierende Haltung implizieren, wird erst durch seinen Begründungszusammenhang deutlich, dass dieser keine Ablehnung von kriegerischen Handlungen per se oder eine grundsätzliche Kritik imperialen Auftretens bedeutet. So wird nicht die humanitäre Ineffektivität der Bundeswehr und aller anderer Staaten kritisiert, sondern die Frage gestellt, welches »nationale Interesse« der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan verfolge. Im Zusammenhang mit der These, dass die NATO einzig als Bündnis zur Durchsetzung von US-Interessen existiert, wird daraus gefolgert, es handele sich beim Einsatz der Bundeswehr nicht um deutsche, sondern einzig und allein um US-amerikanische nationale Interessen.

Gleiches gelte auch auf dem Parkett der Diplomatie: Kontakte, die aus Sicht der extremen Rechten potentielle Partnerländer Deutschlands verärgern könnten, werden kategorisch abgelehnt, da sie das »nationale Interesse« Deutschlands untergraben würden. So wurde ein Gespräch des Dalai Lama mit Bundeskanzlerin Angelika Merkel durch die neokonservative Wochenzeitung »Junge Freiheit« dahingehend kritisiert, dass Merkel die chinesische Regierung irritieren würde und dies das Wirtschaftsverhältnis zwischen beiden Staaten negativ beeinflussen könnte (vgl. Braun/Vogt 2007). Auch Entwicklungshilfsprojekte oder militärische Einsätze zur Sicherung eines Waffenstillstandes werden nach ähnlichem Muster abgelehnt. Es gehe auf dem Gebiet der Außenpolitik nicht um die Vermittlung moralischer Wertvorstellungen, sondern um Interessen. Zu deren Durchsetzung möchte die extreme Rechte auch auf Atomwaffen zurückgreifen können. Ihre aktuelle Anti-Kriegs-Rhetorik verliert so allerdings jegliche Glaubwürdigkeit.

Literatur

Blasius, Dirk (2001): Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich. Göttingen.

Braun, Stephan/Vogt, Ute (Hrsg.) (2007): Die Wochenzeitung »Junge Freiheit«. Kritische Analyse zu Programmatik, Inhalten, Autoren und Kunden. Wiesbaden.

Greven, Thomas/Grumke, Thomas (Hrsg.) (2005): Globalisierter Rechtsextremismus? Die extremistische Rechte in der Ära der Globalisierung. Wiesbaden.

Haushofer, Karl (1937): Weltpolitik von heute. Berlin.

Langenbacher, Nora (2011): Ist Europa auf dem »rechten« Weg? Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Europa. Berlin.

Müller, Gerhard H. (1996): Friedrich Ratzel – Naturwissenschaftler, Geograph, Gelehrter. Neue Studien zu Leben und Werk und sein Konzept der »Allgemeinen Biogeographie«. Stuttgart.

Pfahl-Traughber, Armin (2005): Globalisierung als Agitationsthema des organisierten Rechtsextremismus in Deutschland. Eine Analyse zu inhaltlicher Bedeutung und ideologischen Hintergründen. In: Greven, Thomas/Grumke, Thomas (Hrsg.), op.cit., S.30-51.

Schmitt, Carl (1991): Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Berlin: Duncker & Humblot (unveränderte vierte Auflage von 1941 mit Erweiterung um das Kapitel »Raumbegriff in der Rechtswissenschaft«).

Schwab, Jürgen (1999): Deutsche Bausteine. Grundlagen nationaler Politik. Stuttgart.

Virchow, Fabian (2006): Gegen den Zivilismus. Internationale Beziehungen und Militär in den politischen Konzeptionen der extremen Rechten. Wiesbaden.

Whine, Michael (2005): Eine unheilige Allianz. Internationale Verbindungen zwischen Rechtsextremismus und Islamismus. In: Greven, Thomas/Grumke, Thomas (Hrsg.), op.cit., S.181-202.

Mark Haarfeldt ist Historiker an der Universität Konstanz und arbeitet im Arbeitskreis Rex im Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung.

Geopolitik à la Huntington

Geopolitik à la Huntington

von Fabian Virchow

Der im Dezember 2008 verstorbene US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington übt mit seinen Veröffentlichungen, die sich nach dem Ende der West-Ost-Konfrontation mit der Erarbeitung eines neuen Paradigmas zum Verständnis globaler Politik und internationaler Beziehungen befassten, bis heute großen Einfluss aus. Das von ihm popularisierte Konzept des »Clash of Civilizations«, dessen grundlegende Perspektiven, Begriffe und Interpretationen in die Diskurse zentraler gesellschaftlicher und politischer Gruppen eingeflossen sind und das Alltagsverständnis vieler Menschen hinsichtlich globaler Entwicklungen und aktueller Konflikte und deren Dynamiken beeinflusst haben, greift auf geopolitische Denkfiguren zurück.1

Die von Huntington zunächst in der Zeitschrift »Foreign Affairs«, einige Jahre später dann umfänglich in Buchform ausgearbeitete These vom »Clash of Civilizations« besagt, dass nach dem Ende der Blockkonfrontation die zentralen weltpolitischen Konfrontationen mit zunehmender Gewaltsamkeit an den Berührungslinien von Zivilisationen bzw. Kulturkreisen ausgetragen würden (vgl. Huntington 1993; 1996).

Den zentralen Unterschied zur Phase des »Kalten Krieges« sieht Huntington darin, dass nicht mehr politische Ideen- und ökonomische Interessendifferenzen als wichtigste Konfliktgeneratoren gelten können, sondern das unterschiedliche kulturelle Profil der jeweiligen »Kulturkreise«. Mit der Betonung der Aggregationsebene »Kulturkreis« sieht Huntington in der »Kultur« bzw. in »kultureller Identität« den entscheidenden identitätsstiftenden Faktor, durch den sich die verschiedenen Akteure einer Agglomeration als Teil eines gemeinsamen »Kulturkreises« verstehen. Elemente, die Huntington zufolge »kulturelle Identität« konstituieren, sind Familie, Verwandtschaft, Abstammung („blood“), Sprache, geteilte geistige Vorstellungen, Werte, Bräuche und Institutionen. Besondere Betonung findet die Religion, die er wiederholt als das „principal defining characteristic“ (Hauptcharakteristikum) von Kultur markiert (Huntington 1996, S.21, 66, 253). Die Zentralität des Faktors Religion wird daran deutlich, dass die von Huntington zur Bezeichnung der »Kulturkreise« gewählten Begrifflichkeiten und charakterisierenden Beschreibungen stark auf Religion verweisen. Er nennt wahlweise sieben oder acht »Kulturkreise«: den sinischen, den japanischen, den hinduistischen, den islamischen, den westlichen (katholisch-protestantisch), den christlich-orthodoxen, den lateinamerikanischen und – möglicherweise – den afrikanischen.2

Für Huntington stellen die »Kulturkreise« primordiale und stabile Bezugssysteme dar, deren kulturelle Attribute wenig wandlungsfähig sind. Die Konstruktion essentialistisch bestimmter »Kulturkreise« verknüpft Huntington mit Grundfragen menschlicher Existenz (Wer sind wir? – Wer ist nicht »wir?«) und dem geopolitischem Determinismus folgenden Gegensatz-Paar »wir« und »die«. Auch wenn geographischen und territorialen Faktoren als solchen keine konstituierende Bedeutung für die »kulturelle Identität« der einzelnen »Kulturkreise« zugebilligt wird, so werden diese doch als geographisch abgrenzbare Entitäten präsentiert – nicht zuletzt in einer vielfach an den Schulunterricht erinnernden plakativen Visualisierung als tektonische Einheiten, deren Zusammenprall immer wieder zu gewaltigen Erschütterungen führt.

Die Art der Beziehungen zwischen einzelnen »Kulturkreisen« ist variativ – sie reichen von Allianzbildung bis hin zu erbitterter Feindschaft. Der »westliche Kulturkreis« befinde sich insbesondere mit dem Islam und China in einer Konfrontation. Huntington unterstreicht die Relevanz, die er der Unausweichlichkeit des »Zusammenpralls der Kulturkreise« zuschreibt, nicht nur mit dem Hinweis auf die Revolution im Iran im Jahr 1979, sondern auch mit der These, dass der Konflikt zwischen »dem Islam« und »dem Westen« bereits seit 1300 Jahren andauere. Die Konflikte an den Bruchlinien („fault line wars“) träten periodisch auf, seien endlos und tendierten zu besonderer Gewaltförmigkeit (Huntington 1996, S.252).

Theoretische Evidenz

Die Sozialwissenschaften blicken auf eine lange Tradition der Konzeptualisierung von »Zivilisation« zurück. Die Ausbreitung des Terminus war verknüpft mit einer Pluralisierung des Verständnisses vom Kern der »Zivilisation« (Cox 2000; Arnason 2001). Verstanden einige darunter einen auf Rationalität und Vernunft beruhenden europäischen Entwicklungsweg, der zum Vorbild und Maßstab aller anderen Gesellschaften erklärt wurde, so betonten andere die Pluralität der »Zivilisationen« und der ihnen je spezifischen Rationalitäten und Ziele. Auch die Konturierung eines Konzepts von »Kultur«, welches einer als mechanisch, universalistisch und aufklärerisch-rationalistisch gekennzeichneten »Zivilisation« gegenübergestellt wurde, war Teil des sich entwickelnden Diskurses, in dem manche Interpretation von »Kultur« völkisch-biologistische Grundzüge aufwies. Diese betonten das je Spezifische von »Kultur«, ja gelegentlich die exklusive Verfügung über »Kultur«.

Zwar verweigert sich Huntington der modernisierungstheoretischen Annahme des »einen« Entwicklungsweges, zugleich impliziert seine Konzeptualisierung freilich eine eindeutige Hierarchie, in der der »Westen« als moralisch überlegen, wenn auch als gefährdet bestimmt wird. Huntington affiziert den Kern der »westlichen Zivilisation« als europäisch und sieht diese hinreichend beschrieben durch die Elemente Erbe der Klassik, Katholizismus und Protestantismus, Sprachenvielfalt, Trennung religiöser und weltlicher Autorität, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Pluralismus, Repräsentationsorgane und Individualismus (Huntington 1996, S.69). Den Wesenskern der »westlichen Zivilisation« in der Magna Charta, einem Spezifikum Englands im Mittelalter, zu verorten, verabsolutiert allerdings einen der Entwicklungswege in Europa, kann jedoch angesichts so unterschiedlicher Varianten wie dem bürokratischen Preußen oder dem patrimonialen Frankreich nicht als prototypisch für die »westliche Zivilisation« gelten (vgl. Melleuish 2000, S.117-118).

Von zentraler Bedeutung ist, dass Huntington die verschiedenen »Kulturkreise« als abgeschlossene stabile Entitäten begreift, ohne freilich zu bestimmen, wie und warum verschiedene auf den Gesamtkomplex »Kultur« bezogene Faktoren wie Religion, Ethnizität oder Sprache zur Konstituierung eines »Kulturkreises« beitragen. Zugleich werden in den »Kulturkreisen« recht disparate Gesellschaften subsumiert. So hat etwa Senghaas skeptisch gefragt, ob es tatsächlich erklärungstüchtig sei, so unterschiedliche Varianten islamisch geprägter Gesellschaften wie die Theokratie Irans, den aufgeklärten Absolutismus des jordanischen Königshauses, das post-koloniale Regime Ägyptens oder die opportunistische Indienstnahme des Islam im Irak unter Saddam Hussein gemeinsam einem islamischen »Kulturkreis« zuzuordnen (Senghaas 1998. S.74).

Auch eine theoretisch stringente Bestimmung der Verwerfungen zwischen den »Kulturkreisen« bleibt nur vage angedeutet; warum etwa wird von einer »civilizational difference« zwischen Japan und China, nicht jedoch zwischen Vietnam und China gesprochen? Warum wird das vielfach fragmentierte subsaharische Afrika ebenso als kulturell einheitlich betrachtet wie Japan? Warum wird die Bruchlinie zwischen der Orthodoxie und dem westlichen »Kulturkreis« veranschlagt, nicht jedoch zwischen Katholizismus und Protestantismus? Was grenzt Lateinamerika angesichts des starken europäischen Einflusses vom westlichen »Kulturkreis« ab?

Hinsichtlich der Homogenitäts- bzw. Impermeabilitätsannahme Huntingtons wurden zahlreiche Einwände formuliert. Die mit einem kulturalistischen Determinismus verbundene Perspektiveneinschränkung übersieht, dass – um in der verwendeten Terminologie zu bleiben – »Kulturkreise« niemals exklusiv und undurchlässig bzw. gar geographisch exakt zu bestimmen waren. Tatsächlich finden sich zahlreiche Beispiele für die wechselhaften Interaktionsprozesse zwischen den verschiedenen Weltregionen (Zolberg/Woon 1999; Akhavi 2003), wobei deren Identifizierung als identitär und territorial abgrenzbare »Kulturkreise« historisch vergleichsweise junge Konstruktionen sind. So nahm die Vorstellung eines »Europa« und von »Europäern« im politischen Diskurs erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts systematisch Gestalt an, während zuvor die Kategorie des Christentums den wirkmächtigen Marker darstellte. Dessen geographische Grenzen waren jedoch angesichts christlicher Gemeinden in Anatolien und der Kreuzzüge keineswegs auf »Europa« beschränkt. Während Huntington in den »Kulturkreisen« stabile Muster der Weltinterpretation ausmacht, die sich gegenüber Veränderungen und äußeren Einflüssen als resistent erweisen und etwa das Verlassen der einem »Kulturkreis« originär zugeschriebenen Religion nicht vorsehen, entspricht diese Annahme keineswegs den realhistorischen Prozessen.

Zu den zentralen Annahmen des »Clash of Civilizations«-Paradigmas gehört die These, dass der Bedeutungszuwachs von Kultur als Differenzierungs- und Diskriminierungsmerkmal zu einer Zunahme der Konflikte zwischen (Gruppen aus) den verschiedenen »Kulturkreisen« führt. Obwohl diese Schlussfolgerung für das Paradigma zentral ist, bleibt bei Huntington offen, warum es zu einem Zusammenstoß der »Kulturkreise« kommen soll; aus der schlichten Bedeutungszunahme von kulturellen bzw. religiösen Faktoren ergibt sich dies jedenfalls nicht: Zum einen besteht keine Zwangsläufigkeit, dass sich ein kulturelles Revival auf der Aggregationsebene »Kulturkreis« statt etwa im Kontext von Ethnie, Nation oder Tribalismus manifestiert (Rajendram 2002). Die schlichte Extrapolation individueller Einstellungs- oder Verhaltensmuster – etwa das Bekenntnis zu einer Religion – auf höhere Aggregationsebenen bleibt jedenfalls ein problematisches Unterfangen. Auch wenn jede Gruppe durch die Konstituierung als Gruppe Ein- und Ausschlüsse entlang bestimmter Kriterien oder Merkmale vornimmt, so muss dies jedoch nicht notwendig zur Verfeindung oder gar Gewalt führen.

Empirische Evidenz

Mit der Formulierung des »Clash of Civilizations«-Paradigmas Anfang der 1990er Jahre hatte Huntington explizit die prognostische Aussage verbunden, dass die Konflikte zwischen den »Kulturkreisen« an Zahl, Dauer und Grad der Gewaltförmigkeit zunehmen würden. Diese angenommene Entwicklung globaler Politik ist aufgrund des inzwischen verstrichenen Zeitraums auch einer empirischen Überprüfung zugänglich. Unterschiedlich fokussierte, meist quantitativ angelegte Untersuchungen haben dies inzwischen geleistet.

Ted R. Gurr, Gründer und Direktor des »Minority at Risk Project«, mit dessen Datensätzen Huntington gearbeitet hatte, kam in zweifacher Hinsicht zu anderen Schlussfolgerung als Huntington; danach sind so genannte »ethno-politische« Konflikte zwischen Gruppen verschiedener »Kulturkreise« nicht zuerst durch kulturelle Faktoren und deren Aufwertung nach dem Ende des West-Ost-Konflikts zu erklären, sondern durch politische Transformationsprozesse. Außerdem habe die Zahl solcher Konflikte nach dem Ende des »Kalten Krieges« nicht zugenommen (1994).

Wie ethnische Konflikte aufgrund kultureller Verschiedenheit (civilizational conflicts) im und nach dem »Kalten Krieg« lediglich eine Minderheit darstellen, so stellen die von Huntington als bedeutendste Konfliktkonstellation prognostizierten Konflikte zwischen dem »Westen« einerseits und dem sinischen/konfuzianistischen bzw. dem islamischen »Kulturkreis« andererseits lediglich eine kleine Minderheit dar. Die meisten Konflikte finden innerhalb der jeweiligen »Kulturkreise« statt. Schließlich zeigt die Untersuchung auch, dass von einer generellen Zunahme der Gewalt bei Konflikten zwischen Akteuren aus verschiedenen »Kulturkreisen« keine Rede sein kann (vgl. Fox 2005).

Huntington hat gegen einige der ersten Arbeiten, die sich der empirischen Überprüfung seiner Prognose mit quantitativen Methoden widmeten, eingewandt, dass sie aufgrund der Wahl des Untersuchungszeitraums eine empirische Überprüfung der Entwicklung der Konfliktkonstellationen und seiner Thesen für die Zeit nach dem Ende des »Kalten Krieges« gar nicht haben leisten können. Errol A. Henderson (2005) hat sich daraufhin den intra-staatlichen Konflikten zugewandt; seine Auswertung zeigt zwar eine Zunahme der ethnisch bzw. religiös einzuordnenden innerstaatlichen Gewaltkonflikte. Sobald er jedoch die Codierung der einzelnen Konfliktakteure in Orientierung an Huntingtons Zuordnung zu »Kulturkreisen« vornimmt, verliert sich dieser Effekt. Auch hier zeigt sich, dass ein erheblicher Teil dieser Konflikte innerhalb dessen ausgetragen wird, was Huntington als »Kulturkreisen« bestimmt hat, so etwa die Konflikte in Ruanda und Burundi oder der Konflikt zwischen den Krahn und den Gio in Liberia (Henderson 2005).

Weitere empirische Studien haben sich mit der von Huntington gesetzten Unterschiedlichkeit der einzelnen »Kulturkreise« befasst. Mungiu-Pippidi/Mindruta (2002) haben hinsichtlich der Gesellschaften Rumäniens, Bulgariens und der Slowakei, die der huntingtonschen »Kulturkreis«-Logik zufolge distinkten »Kulturkreisen« angehören, gezeigt, dass in allen drei Gesellschaften trotz unterschiedlicher kulturell-religiöser Profile mit dem »populistischen Syndrom« eine durchaus vergleichbare Reaktionsform auf die Verwerfungen des Systemwechsels entstanden ist. In einer weiteren Arbeit haben White, Oates und Miller (2003) repräsentative Individualdaten aus den postkommunistischen Ländern Ukraine und Bulgarien dahingehend untersucht, inwiefern sich die Einstellungen der Mehrheitsbevölkerung zu wirtschaftlichen und politischen Ordnungsformen (z.B. »starker Führer« oder »Marktwirtschaft«) von denen der muslimischen Minderheiten unterscheiden. Denn gemäß des »Clash of Civilizations«-Paradigmas wäre zu erwarten, dass hier Religion im Unterschied zu Alter, Einkommen oder Bildungsniveau ein signifikanter Faktor ist. Dies Ergebnis stellte sich jedoch nicht ein. In den meisten Fällen gab es keine signifikante Differenz zwischen den Gruppen, d.h. es gab beispielsweise große Gemeinsamkeiten zwischen älteren Muslimen und Nicht-Muslimen; die Vermögenden in beiden Gemeinschaften waren enthusiastischer gegenüber der Marktwirtschaft eingestellt als diejenigen mit weniger Einkommen. Die hier über Sprache, Nationalität und Religion bestimmte Zugehörigkeit zu einem »Kulturkreis« hat wenig Einfluss auf die politische Bewertung gesellschaftlicher Strukturen.

Der im Verlauf der 1990er Jahre stattfindende Desintegrationsprozess Jugoslawiens und die ihn begleitenden gewaltförmigen Konflikte sind ebenfalls als Bestätigung des »Clash of Civilizations«-Paradigmas interpretiert worden – zunächst als Konflikt zwischen dem katholischen Kroatien und dem orthodoxen Serbien, dann zwischen dem orthodoxen Serbien und den Menschen muslimischen Glaubens aus dem Kosovo. Gerade das Beispiel des jugoslawischen Zerfallsprozesses macht jedoch deutlich, wie in Zeiten der Krise und der Transformation Distinktions- und Verfeindungsprozesse von Agenturen der Nationalisierung, Ethnisierung und Religionisierung befördert werden (vgl. z.B. Coakley 2004), die so in vielen Fällen die subjektive Vereindeutigung von Identitäten und die Vorstellung essentiellen Anders-Seins erst mit herbeiführen.3

Schließlich stellt die kriegerische Eskalation des Jugoslawien-Konfliktes einen Einwand gegen die These Huntingtons bereit, dass sich die einzelnen Staaten bevorzugt mit den anderen Staaten des als geteilt betrachteten »Kulturkreises« alliieren („bonding“). Während noch argumentiert wurde, »der Westen« habe sich aufgrund historischer Verbindungslinien sowie kultureller und religiöser Gemeinsamkeiten zur Unterstützung Kroatiens entschlossen, widerspricht das militärische Eingreifen zugunsten der mehrheitlich muslimischen kosovo-albanischen Bevölkerungsgruppe der »Clash of Civilizations«-Prognose des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers. Würde das huntingtonsche Paradigma des Bedeutungsgewinns der »Kulturkreise« zutreffen, so wäre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 eine Frontenbildung entlang der von Huntington konstruierten »Kulturkreise«zu erwarten gewesen. Tatsächlich jedoch wurden die von Al Kaida verantworteten Aktionen auch von zahlreichen islamischen Staaten verurteilt, und keiner von diesen eilte den Taliban zu Hilfe.

Fazit

Huntington konzeptualisiert geopolitisches Denken insbesondere über die räumliche Verortung von »Religion« als dem zentralen Marker von »Kulturkreisen« und versteht Konfliktgeschehen damit weiterhin als territorial gebundenes und an Grenzen ausgetragenes Handeln. Trotz der unzureichenden theoretischen Fundierung und ausbleibender empirischer Evidenz erfreut sich die Vorstellung vom »Clash of Civilizations« weiterhin medialer Aufmerksamkeit und alltagswissentlicher Zustimmung.

Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bedeutung von Faktoren wie »Kultur«, »Religion« oder »Ethnizität« in aktuellen wie historischen Konflikten muss jedoch deren soziale Konstruiertheit und historische Gewordenheit anerkennen sowie die tatsächliche Heterogenität als geschlossen und uniform interpretierter »Kulturkreise« wahrnehmen – etwa hinsichtlich der islamischen Debatte um Demokratie oder des Vorhandenseins fundamentalistischer Strömungen in allen Weltreligionen. Schließlich bedarf es neben der Kritik und Überwindung eines gesellschaftlich tief eingelassenen kulturalistischen Essentialismus (Bielefeldt 2000) auch der Infragestellung in gesellschaftliche Wissensbestände sedimentierter, identitätsstiftender kultureller Praxen (Sayyad 2005), um der huntingtonschen »Geopolitik der Macht« entgegenzuwirken.

Anmerkungen

1) Der vorliegende Beitrag geht auf Virchow (2010) zurück. Dort auch weitere Literaturverweise.

2) Das Judentum gilt ihm nicht als kulturkreisprägend, den Buddhismus führt er in späteren Veröffentlichungen als eigenständigen »Kulturkreis« an, und für den japanischen »Kulturkreis« bleibt eine Spezifizierung (Shintô, Buddhismus, Konfuzianismus) aus.

3) Während sich 1985 nur knapp 40% der kroatischen Bevölkerung als katholisch bezeichnete, 60% hingegen als nicht religiös, so bot sich vier Jahre später ein völlig anderes Bild: Knapp 90% bezeichneten sich als katholischen Glaubens, während nur noch gut 10% sich als nicht religiös bezeichneten (Kunovich/Hodson 1999, S.651).

Literatur

Akhavi, Shahrough (2003): Islam and the West in world history. In: Third World Quarterly 24 (3), S.545-562.

Arnason, Johann P. (2001): Civilizational Patterns and Civilizing Processes. In: International Sociology 16 (3), S.387-405.

Bielefeldt, Heiner (2000). »Western« Versus »Islamic« Human Rights Conceptions? In: Political Theory 28 (1), S.90-121.

Coakley, John (2004): Mobilizing the Past. Nationalist Images of History. In: Nationalism and Ethnic Politics 10, S.531-560.

Cox, Robert W. (2000): Thinking about Civilizations. In: Review of International Studies 26 (3), S.217-234.

Fox, Jonathan (2005): Paradigm Lost: Huntington’s Unfulfilled Clash of Civilizations Prediction into the 21st Century. In: International Politics 42 (4), S.428-457.

Gurr, T.R. (1994): Peoples against states: ethnopolitical conflict and the changing world system. In: International Studies Quarterly 38 (3), S.347-377.

Henderson, Errol A. (2005): Not Letting Evidence Get in the Way of Assumptions: Testing the Clash of Civilizations Thesis with More Recent Data. In: International Politics 42 (4), S.458-469.

Huntington, Samuel P. (1993): The Clash of Civilizations. In: Foreign Affairs 72 (3), S.22-49.

Huntington, Samuel P. (1996): The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon & Schuster..

Kunovich, Robert M./Hodson, Randy (1999). Conflict, Religious Identity, and Ethnic Intolerance in Croatia. In: Social Forces 78 (2), S.643-674.

Melleuish, Gregory (2000): The Clash of Civilizations: A Model of Historical Development? In: Thesis Eleven No. 62, S.109-120.

Rajendram, Lavina (2002): Does the Clash of Civilisations Paradigm Provide a Persuasive Explanation of International Politics after September 11th? In: Cambridge Review of International Affairs 15 (2), S.217-232.

Sayyid, S. (2004). Mirror, mirror. Western democrats, oriental despots? In: Ethnicities 5 (1), S.30-50.

Senghaas, Dieter (1998): Zivilisierung wider Willen. Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Virchow, Fabian (2010): Kulturkonflikte – Zur theoretischen und empirischen Reichweite des »Clash of Civilizations«-Paradigmas. In: Wilhelm Berger/Brigitte Hipfl/Kirstin Mertlitsch/Viktorija Ratkovic (Hrsg.): Kulturelle Dimensionen von Konflikten. Bielefeld: transcript, S.16-30.

White, Stephen/Oates, Sarah/Miller, Bill (2003). The »Clash of Civilizations« and Postcommunist Europe. In: Comparative European Politics 1, S.111-127.

Zolberg, Aristide R./Woon, Long Litt (1999): Why Islam Is Like Spanish: Cultural Incorporation in Europe and the United States. In: Politics & Society 27 (1), S.5-38.

Fabian Virchow ist Professor für Theorien der Gesellschaft und Theorien politischen Handelns an der FH Düsseldorf.