Welche Weltordnung wollen wir?

Welche Weltordnung wollen wir?

von Paul Schäfer

Der französische Historiker Emmanuel Todd hat in den siebziger Jahren den Niedergang des »sowjetischen Imperiums« vorausgesagt. Nun hat er einen Nachruf auf die Weltmacht USA verfasst. Gegenwärtig könne studiert werden, „wie zuverlässig negative Gegenreaktionen erfolgen, wenn ein strategischer Akteur ein Ziel ansteuert, das zu groß für ihn geworden ist.“

Und tatsächlich, was als Machtvollkommenheit erscheint, gleicht einer Flucht nach vorne – ohne große Erfolgsaussicht:

Der Nahe und Mittlere Osten droht immer mehr außer Kontrolle zu geraten, nun soll eine usurpatorische Neuordnung den Weg zu einer regionalen Stabilisierung bringen. Der Weg dazu kann nur über eine gerechte Lösung des Palästina-Problems, über die Förderung nachhaltiger Entwicklung und über die Unterstützung eines demokratischen Emanzipationsprozesses von innen her, führen. All dies soll eine Besatzungsmacht leisten, die bisher eine eher gegenteilige Politik verfolgt hat und die mit weiteren Kriegen droht?

Der Krieg soll aus dem krisenhaften Zustand der Weltökonomie herausführen. Von der Verbilligung des Erdöls erhofft man sich einen neuen Wachstumsschub – vor allem in den USA selbst. Doch an den strukturellen Merkmalen der Krise, die durch eine sozial polarisierende Globalisierung und innergesellschaftlichen Sozialabbau, beständig verschärft wird, ändert sich nichts. Die Kosten des Krieges und seiner Folgen tragen eher dazu bei, die Lage zu verschlechtern.

Die mittels neuer entsetzlicher Zerstörungswaffen dem Irak zugedachte »Schocktherapie«, gilt auch der übrigen Welt. Diese Abschreckungslogik wird nicht dazu führen, dass alle anderen Nationen die Waffen strecken. Sie wird im Gegenteil das Streben, sich mit modernen Waffen mehr Selbständigkeit zu erkämpfen, verstärken. Von der Zunahme terroristischer und fundamentalistischer Gewalt gar nicht zu reden.

Die Mobilisierung für den Krieg soll die Dominanz der westlichen Führungsmacht befestigen; und hat doch bereits zur weiteren Erosion ihrer Stellung beigetragen. Die UNO scheint desavouiert, aber noch nie nahmen so viele Menschen an den Beratungen in New York Anteil und konnten die Blamage der Kriegstreiber verfolgen. Und wer hätte noch vor einiger Zeit eine »Achse Paris-Berlin-Moskau-Peking« für möglich gehalten, oder dass sich ein kleines Land wie Belgien innerhalb der NATO derart renitent zeigen würde?

Dass die USA selbstherrlich in den Krieg gegen den Irak ziehen und diesen Krieg gewinnen können, zeigt ihre Stärke. Dass sie nahezu isoliert sind und ihre »Koalition der Willigen« nur durch Bestechung, Erpressung und Manipulation zusammenfügen konnten, zeigt ihre Schwäche.

Der im geostrategischen Denken geübte Zbigniew Brzezinski hat formuliert, dass es gegenwärtig nicht um den Irak gehe, sondern um die globale Rolle der USA im 21. Jahrhundert. Die »eine Weltmacht« möchte die »günstige Gelegenheit« nach ElevenNine nützen, um diese Position auf Dauer zu halten. Doch den moralischen Kredit, den sie nach dem Terroranschlag geltend machen konnte, hat sie schon aufgebraucht. Nur einmal in ihrer jüngeren Geschichte – in der Endphase des Vietnam-Krieges nämlich – standen die USA in der Weltöffentlichkeit derart isoliert da. Es ist ein Krieg, der die Weltordnung definieren soll und dies auch tut. »Weltordnung« ist vor allem eine historisch spezifische Machtkonstellation. Es zeigt sich, welche Dominanz die USA noch auszuüben in der Lage sind, aber auch, welche »gegenhegemonialen« Kräfte auf den Plan treten – die zur Veränderung dieser Machtkonstellation beitragen werden. Die Auseinandersetzung um das »US-Empire« wird in diesem Jahrzehnt zur Schlüsselfrage – und sie wird geführt werden müssen, nicht zuletzt in Amerika selbst.

Für uns muss es um eine Weltordnung gehen, die strikt auf dem Gewaltverbot des geltenden Völkerrechts und gestärkten Vereinten Nationen gründet, eine Weltordnung, die den »sustained war« hinter sich lässt und stattdessen auf »sustained development«, also auf Gerechtigkeit, setzt.

Machtfragen ist der Titel dieses Hefts. Als wir die Ausgabe planten und fertigstellten, hofften wir noch auf eine Vermeidung des Krieges und hatten keine Vorstellung von dem Ausmaß Verwerfungen, das die Irak-Krise hervorrufen wird. Nahezu alle Fragen der künftigen Weltordnung sind auf dem Prüfstand. Was wird aus den Vereinten Nationen? Was aus der NATO? Wird es in absehbarer Zeit eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU geben, die Europa zu einem wirklichen Machtfaktor werden lässt? Wie wird die arabisch-muslimische Welt auf die Besetzung des Irak reagieren? Das vorliegende Heft kann nur einen Einstieg in diese Debatte darstellen. Friedensforschung und Friedensbewegung sind durch die neue Lage herausgefordert.

Paul Schäfer

Game Over?

Game Over?

Macht, Wahrheit und Demokratie im Irakkonflikt

von Jürgen Scheffran

„The Game is Over – Das Spiel ist aus“ Mit dieser Botschaft versuchte US-Präsident George W. Bush im Februar 2003 der Welt zu signalisieren, das Spiel des irakischen Diktators Saddam Hussein sei vorbei. Es gebe nichts mehr zu diskutieren, weitere Verhandlungen und Inspektionen seien überflüssig, die Kriegsmaschine sei nicht mehr zu stoppen. Das für beendet geglaubte Spiel entwickelte sich jedoch für die US-Regierung anders als erwartet. Zwischen den beiden Kontrahenten entwickelte sich die Weltgemeinschaft zu einem dritten Spieler, der die Bedingungen des Spiels zunehmend mitbestimmte. Statt seine Kritiker zu isolieren, geriet Bush durch sein kompromissloses Vorgehen zunehmend selbst in die Defensive. Bei Redaktionsschluss dieses Artikels, am 10. März 2003, ist nicht abzusehen, ob das Zusammenspiel weltweiter Proteste mit diplomatischen Initiativen reicht, um den Krieg tatsächlich zu verhindern oder ob die Bush-Administration gegen die »Weltmeinung« den Krieg startet. Wie die Entwicklung auch aussehen mag, wichtige politische Parameter haben sich in diesen Wochen verschoben: Der Versuch der USA, über den Hebel des Irakkrieges eine globale Hegemonie zu errichten, kann in das Gegenteil umschlagen, den Widerstand dagegen beflügeln und den Machtspielen der USA Grenzen setzen.
Seit George W. Bush das Weiße Haus in seine Gewalt gebracht hat, gilt ein einfaches Prinzip: Der Stärkste entscheidet allein nach Maßgabe der eigenen Interessen und wenn nötig unter Einsatz aller verfügbaren Machtmittel. Da der Starke und Siegreiche zugleich der Gute ist, wird das eigene Handeln per Definition für legitim erklärt. Das Beharren auf Rechtsnormen, die den Machteinsatz beschränken, wird dagegen als unzulässige Einengung der eigenen Handlungsfähigkeit diskreditiert. Verhandeln darf moralisch gutes Handeln nicht in Frage stellen, allenfalls rechtfertigen. Abweichende Ansichten sind Ausdruck von Schwäche, im schlimmsten Falle ein Indiz für offene Feindseligkeit gegenüber den USA.

Unipolare versus multipolare Weltordnung

Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, sagt Bush, und er meint dies ernst. Das bekommen nicht nur Terroristen und Schurkenstaaten zu spüren, die zur Achse des Bösen gerechnet werden, sondern auch jene Freunde aus dem »Alten Europa«, die offen Kritik üben und daher in einem Atemzug mit Kuba und Libyen genannt werden (so Verteidigungsminister Donald Rumsfeld).

Doch trotz massiven Drucks durch die US-Regierung ließ sich die Diskussion nicht per Machtwort beenden. Der Widerstand gegen den Irakkrieg entwickelte sich mit der Serie von Friedensdemonstrationen am 15. Febuar 2003 zum Flächenbrand, der Millionen von Menschen erfasste. Das »Große Spiel« um Macht und Öl auf den Schachbrettern des Nahen Ostens und Zentralasiens, von dem Zbigniew Brzezinski geschwärmt hatte, geriet für die USA politisch außer Kontrolle, im Sicherheitsrat kam es wochenlang zu einer Pattsitution.

Es geht dabei nur vordergründig um einen Kampf zwischen der von Hobbes geprägten starken Kriegsmacht USA und einer sich auf Kant berufenden schwachen Friedensmacht Europa, wie der US-Politologe Robert Kagan suggeriert.1 Im Kern stehen sich zwei widerstreitende Politikkonzepte für die Zukunft der Menschheit gegenüber, die auf allen Kontinenten Anhänger und Gegner haben:

  • Das Konzept einer unipolaren, auf globale Vorherrschaft eines Hegemons setzenden Weltordnung, in dem ein »wohlwollender Diktator« (benevolent dictator) aufgrund seiner überlegenen Macht für Ordnung sorgt;
  • und das Konzept eines eher multipolaren Systems internationaler Beziehungen, in dem widerstreitende Interessen in Verhandlungen und Regimen einen Ausgleich finden und wechselnde Koalitionen zu bestimmten Fragen ein Korrektiv zur Eindämmung hegemonialer Machtansprüche bilden. Dies gilt insbesondere für die Verteidigung und Durchsetzung elementarer völkerrechtlicher Normen, um ungezügelter Gewaltausübung Einhalt zu gebieten.

Spiele der Macht

Um die »Machtspiele« um den Irak einzuordnen, kann die Spieltheorie als Bezugsrahmen dienen, die sich seit der ersten Veröffentlichung durch den ungarischen Mathematiker John von Neumann von 1929 als Theorie strategischer Interaktionen etabliert hat. Angestoßen durch den Zweiten Weltkrieg und verstärkt durch den Kalten Krieg erlebte die Spieltheorie in den fünfziger und sechziger Jahren eine Blüte in den militärisch geprägten Think Tanks der USA, in denen Kriegsszenarien aller Art »durchgespielt« wurden, vor allem der Atomkrieg der beiden Supermächte.

Dass die Spieltheorie zunächst auf Zwei-Personen-Spiele beschränkt war, liegt nicht nur in der historischen Situation des Ost-West-Konflikts begründet, sondern auch darin, dass das mathematische Handwerkszeug nicht ausreichte, um komplexere Situationen mit mehr als zwei Akteuren (Spielern) und zwei Handlungsoptionen zu beschreiben. So beschäftigt sich ein großer Teil der Literatur mit vergleichsweise einfachen Spielen, allen voran mit dem Nullsummenspiel, in dem der Gewinn des einen Spielers automatisch zu einem Verlust für den zweiten Spieler führt (womit ein Kompromiss ausgeschlossen ist). Besonders populär wurde das Gefangenendilemma, bei dem zwei Spieler sich wie Kriminelle gegenüber dem Sheriff gegenseitig beschuldigen, eine Tat begangen zu haben, statt dicht zu halten, also miteinander zu kooperieren und damit der Strafverfolgung zu entgehen. Bekannt wurde das Chicken-Spiel (engl. für Feigling) durch den Film »…denn sie wissen nicht was sie tun« mit James Dean. Hier rasen zwei Jugendliche mit ihren Autos auf eine Klippe zu, und derjenige verliert, der als erster anhält.

Während das Nullsummenspiel als Vorbild dient für die Verteilung einer knappen Ressource, die nur eine einzige Person am Leben hält, wurde das Chicken-Spiel auf traurige Weise berühmt in der Kuba-Krise, als die Militärmaschinerien der atomar gerüsteten Supermächte scheinbar blindlings aufeinander zurasten und keiner als erster anhalten wollte, um nicht das Gesicht zu verlieren. Zum Atomkrieg kam es glücklicherweise nicht, weil die Regierungschefs die Automatik durch Kommunikation in letzter Sekunde außer Kraft setzten.

Kommunikation und Lernen – Wege zur Kooperation

Das Gefangenen-Dilemma wurde dagegen zum Paradigma für das Wettrüsten des Kalten Krieges, in dem die einseitige Aufrüstung (also die Nichtkooperation) einen individuellen Vorteil erwarten ließ gegenüber beiderseitiger Abrüstung. Ein Ausweg eröffnete sich erst nach der Kuba-Krise durch die Einsicht, dass eine durch Absprachen gegenseitig kontrollierte Rüstungsdynamik billiger und weniger riskant ist als das freie Spiel der Kräfte. Trotz weiterhin erbitterter Systemkonkurrenz konnte das Gefangenendilemma in Richtung Kooperation partiell überwunden werden durch Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge.

Die Vereinten Nationen verkörpern den Versuch, durch Kommunikation und Verhandlungen, durch Völkerrecht und die mit Sanktionen versehene Kontrolle im System internationaler Beziehungen Kooperation durchzusetzem, die allen Staaten zugute kommt. Bislang fehlen der UNO allerdings geeignete Kontroll- und Sanktionsmittel und die erforderliche Macht zur internationalen Durchsetzung von Völkerrecht. Neben dem Entscheidungsinstrument Sicherheitsrat, in dem das Vetorecht der fünf Atommächte einen Konsens in wichtigen Fragen erfordert, bedürfen der internationale Strafgerichtshof und vor allem die Schaffung einer internationalen Polizei noch der weiteren Entwicklung. Solange dies nicht der Fall ist können die Mächtigen Recht setzen bzw. wieder beseitigen.

Weitere Bedingungen für die Evolution von Kooperation hat der amerikanische Politologe Robert Axelrod untersucht. Zu Beginn der achtziger Jahre organisierte er ein Computerturnier, in dem Wissenschaftler das Gefangenendilemma wiederholt gegeneinander spielten und dabei am Ende ausgewert wurde, welche interaktive Spielstrategie den größten Erfolg erzielte. Bemerkenswerterweise erwies sich die einfachste als die erfolgreichste, die von dem kanadischen Konfliktforscher Anatol Rapoport eingesetzte Strategie »Tit for Tat« (Wie Du mir so ich Dir). Demnach ahme ich das Verhalten meines Gegenspielers nach: Ich kooperiere beim ersten Mal und tue dann genau das, was der Gegner beim letzten Mal getan hat. Eine Voraussetzung dieser Strategie ist die Reaktion auf das beobachtete Verhalten des Mitspielers, was eine gewisse Lernfähigkeit voraussetzt. Wenden beide Spieler diese Strategie an und hat ein Spieler einmal mit der Kooperation begonnen, bleiben beide auf dem Pfad der Tugend. Allerdings ist das Wechselspiel instabil: wenn einer der beiden auch nur einmal nicht kooperiert oder auch nur den anderen dessen verdächtigt, kippt die Lage um und die Freundschaft ist am Ende.

Bei Abwandlungen der Spielsituation anfang der neunziger Jahre hat sich gezeigt, dass in anderen Konstellationen solche Strategien auf Dauer erfolgreicher sind, die adaptiver und lernfähiger sind, eine gewisse Geduld und Fehlertoleranz aufweisen. Stures Beharren auf einer Position, die nicht in Frage gestellt wird und keinen Lernbedarf sieht, wie Bush in der Irakkrise, ist auf Dauer nicht erfolgreich. In der Selektion gibt es kein Verhaltensmuster, dass in allen sozialen Situationen immer das beste ist. Am erfolgreichsten ist derjenige, der aus der Interaktion mit anderen den größten Vorteil zieht, was zum gegenseitigen Vorteil, aber auch zur Ausnutzung anderer führen kann.2

Herrscher und Diener

Die US-Regierung versuchte den Eindruck zu erwecken, es ginge in der Irakfrage um einen Konflikt zwischen der irakischen Führung und dem Rest der Welt, wobei die USA sich lediglich zur Durchführung von Strafmaßnahmen anbieten. Der Konflikt sollte als Nullsummenspiel erscheinen, indem jedes Zugeständnis an Saddam automatisch als Verlust für die Welt dargestellt wird. Dabei gibt es durchaus Szenarien, unter denen die Abrüstung des Irak (das vorgebliche Ziel der USA) vereinbar wäre mit einem Fortbestehen des existierenden Regimes (dem Interesse Saddams) und den Forderungen der Weltgemeinschaft nach Kriegsverhinderung und Abrüstung im Irak. Eine solche Win-Win-Win-Situation, die bei Fortführung der Inspektionen denkbar wäre, wird jedoch von den USA kategorisch abgelehnt. Dies lässt vermuten, dass andere Motive eine größere Rolle spielen.

Anstelle der genannten symmetrischen Spieltypen erscheint im aktuellen Irakkonflikt ein asymmetrischer Spieltyp adäquater zu sein, der das eklatante Missverhältnis zwischen der Übermacht der USA und der Schwäche des Irak besser repräsentiert. Demzufolge wäre ein Spieler absolut dominant, während der andere nur die Wahl hat, dem ersten Spieler zu Diensten zu sein und damit dessen Wohlwollen zu erringen, oder aber den Dienst zu verweigern, mit dem Risiko eines inakzeptablen Verlusts (im schlimmsten Fall des eigenen Todes). In diesem Herrscher-Diener-Verhältnis gibt es jeweils eine kooperative Verhaltenskombination (Belohnung für Dienst) und eine nicht-kooperative (Strafe für Dienstverweigerung).

Das Verhältnis zwischen Saddam Hussein und den USA kam einem Herrscher-Diener-Verhältnis zeitweise recht nah. Seit Saddams Machtergreifung im Irak wurde er von den USA unterstützt und als Verbündeter in der Golfregion aufgebaut, vor allem um das Chomeini-Regime im Iran militärisch in Schach zu halten. Schon damals hatten US-Politiker, die heute wieder in der Regierung sitzen, wie Donald Rumsfeld, zum Irak ein enges Verhältnis und vermittelten der US-Rüstungsindustrie wie auch der Ölindustrie lukrative Aufträge. Ein Nebeneffekt war, dass Saddam zunehmend an Einfluss gewann und den USA ins Gehege kam. Die militärische Strafaktion erbrachte einen Sieg für George Bush Sen. über Saddam und den Kräften hinter Bush enorme Gewinne: Einen gewaltigen Rüstungsschub, ein dauerhaftes militärisches Standbein in der Golfregion und ein vorzeitiges Ende der Diskussion über eine Friedensdividende nach dem Zerfall des Warschauer Paktes. In den folgenden Jahren durfte Saddam als Feindbild für die Achse des Bösen herhalten, um nun in einem letzten Akt Bushs Sohn mit einem Angriffskrieg zu erlauben, die neue nationale Sicherheitsstrategie der USA zu exekutieren. Paradox erscheint, dass Saddam den USA nicht nur im kooperativen Falle zu Diensten war, sondern selbst noch mit seinen Untergang der Bush-Regierung einen Gefallen tut, allerdings ohne dies zu wollen.

Wahrheitsfindung – Die Welt als dritter Spieler

Anders als von den USA erwartet blieb das Katz-und-Maus-Spiel mit Saddam nicht auf zwei Akteure beschränkt. Da ein Teil der US-Regierung an einer Legitimierung des Krieges durch den Sicherheitsrat interessiert war, um einer Kritik in den USA entgegenzuwirken, kamen weitere Akteure ins Spiel, die den Gang der Dinge beeinflussten: Zum einen die dem Sicherheitsrat angehörenden Regierungen, zum anderen die Weltöffentlichkeit, die diese Regierungen unter Druck setzen konnte.3 Indem die USA so von den Handlungen anderer Akteure abhängig wurden, war das Herrscher-Diener-Spiel nicht mehr einfach durchzusetzen. Für den Irak eröffneten sich neue Möglichkeiten, durch Abrüstung den Kriegskurs der USA in Schwierigkeiten zu bringen. Hätte der Irak nicht die Chance gesehen, einen Krieg noch zu verhindern, hätte er auch keinen Anreiz zur Beseitigung seiner Waffen gehabt, die er im Kriegsfalle ja braucht. Allein die Drohung mit Waffengewalt hätte Saddam wohl nicht zum Einlenken gebracht.

Argumentativ konnten die USA die Weltöffentlichkeit nicht überzeugen. Für die von Bush über Wochen wiederholten Behauptungen, dass der Irak über Massenvernichtungswaffen verfüge und eine massive Bedrohung darstelle, konnten keine Beweise erbracht werden. Auch gelang es der US-Regierung nicht, mit der geforderten »Umkehrung der Beweislast« ein Rechtsprinzip zu internationalisieren, das im Zweifel gegen den Angeklagten spricht. Da ein Nachweis vollständiger Abrüstung von niemandem absolut sicher erbracht werden kann, auch nicht vom Irak, kam dies einer sicheren Vor-Verurteilung durch die USA gleich, was auch immer der Irak letztlich tun würde.

Nachdem auch die Inspektoren im Irak keine Beweise für einen Bruch der Resolution 1441 erbringen konnten, versuchte die US-Regierung die Wahrheit den Machtverhältnissen anzupassen. Verschiedene Mitglieder der Bush-Administration warfen dem Irak über Wochen hinweg Verstöße vor, ohne hierfür Belege vorzulegen, die von den UN-Inspektoren überprüfbar gewesen wären.

So blieb auch dem Leiter des UN-Inspektionsteams im Irak, Hans Blix, nichts anderes übrig, als in seinem Bericht vom 7. März die bisherigen Erfolge der Inspektionen deutlich zu machen und den Wert der von den USA vorgelegten Informationen anzuzweifeln. Der Vertreter der internationalen Atomenergiebehörde, Mohammed ElBaradei bezeichnete gar das von den Geheimdiensten übermittelte Material zur Überführung des Irak als weitgehend gefälscht.4

Macht und Kontrolle

Der Irakkonflikt zeigt aufs Neue, dass politisches Handeln ohne die Dimension der Macht nicht hinreichend zu verstehen ist. Trotz seiner großen Bedeutung ist der Machtbegriff in der Politikwissenschaft aber vieldeutig geblieben.5 Nach der oft zitierten Definition von Max Weber bedeutet Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.‘‘6 Häufig wird das Wort »auch« vernachlässigt, womit dann all jene Fälle ausgeschlossen sind, in denen der eigene Wille nicht nur gegen, sondern mit anderen Akteuren gemeinsam und kooperativ durchgesetzt werden kann. Entsprechend wird Macht oft auf Zwang, Kontrolle oder gar Gewalt reduziert, wie etwa bei Hans Morgenthau, wonach Macht alles umfasst, was die „Kontrolle des Menschen über den Menschen“ bewirkt.7 Eine wichtige Voraussetzung von gesellschaftlicher Macht ist die Fähigkeit zur Veränderung, „das Vermögen von sozialen Akteuren, auf die Welt verändernd einzuwirken bzw. einwirken zu können.“ Dafür sind Machtmittel erforderlich, also „die Gesamtheit aller Kräfte und Mittel, die einer Person oder Sache gegenüber anderen zur Verfügung stehen.“8 Bei aller Vielfalt haben viele Machtbegriffe einen gemeinsamen Kern, der vielleicht so zusammengefasst werden kann: Macht ist die Fähigkeit in einem sozialen Kontext etwas tun zu können, wenn man es will, aber es nicht tun zu müssen. Die Fähigkeit zur Macht und die Freiheit von der Macht gehören zusammen.

Die Fähigkeit eines Akteurs A, einen anderen Akteur B dazu zu bringen, etwas zu tun, was A will und B sonst nicht tun würde, kann nach Bueno de Mesquita auf verschiedenen Wegen erreicht werden:9 durch Überzeugungskraft, durch Belohnung und Strafe, oder aber durch direkten Zwang. Nachdem es der US-Regierung argumentativ nicht gelungen war Mehrheiten für einen Irakkrieg zu bekommen, verlagerte sie sich zunehmend darauf, die anderen Wege zu verstärken und mit einer Kombination von Zuckerbrot und Peitsche (Belohnung und Strafe) Regierungen auf ihre Seite zu ziehen bzw. in die Enge zu treiben. Die deutsche Bundesregierung wurde massiv unter Druck gesetzt, unterstützt durch Helfershelfer aus Politik und Medien, die Schröder eine internationale Isolierung vorwarfen, obwohl er international wohl noch nie so angesehen war wie zur Zeit. Auch Frankreich geriet unter Beschuss, der Boykott französischer Produkte wurde im US-Kongress diskutiert. Erfolgreich war die massive »Lobbyarbeit« der USA bei den europäischen Staaten, die sich von einer Solidaritätsaddresse an die USA wohl mehr versprachen als von einer gemeinsamen europäischen Position. Für ein ähnliches Vorgehen der USA gegenüber anderen Mitgliedern des Sicherheitsrates gibt es deutliche Anzeichen, einige werden womöglich einen hohen Preis zahlen müssen, wenn sie gegen die USA stimmen.10

Koalition und Gegenkoalition

Die Spieltheorie tut sich mit der Frage der Macht schwer, denn Macht kann direkt in die Interessenstruktur von Menschen eingreifen, um sie zu einer gewünschten Handlung zu veranlassen, die sie ohne den Machteinsatz nicht wählen würden. Durch Machteinsatz oder -androhung kann die Position von Akteuren soweit in eine bestimmte Richtung verschoben werden, dass diese eine dem Mächtigen zuträgliche Koalition bilden oder eine von diesem gewünschte Handlung ergreifen, die ihrem ursprünglichen Interesse zuwider läuft. Dies wäre etwa der Fall, wenn sich Kriegsgegner im Sicherheitsrat genötigt sehen, für einen Waffengang zu stimmen, weil sonst ihre volkswirtschaftliche Existenz auf dem Spiel steht. Wenn also der Einsatz von Machtmitteln Handlungsoptionen blockieren oder schaffen kann und die Gewinne oder Verluste beeinflusst, können Spiele nach Belieben manipuliert und gesteuert werden, einschließlich der Spielregeln. Das Spiel würde angesicht der Vielfalt der Optionen hochkomplex.

Da Macht situationsabhängig ist, tut sich die Wissenschaft schwer, den Machtbegriff klarer zu fassen. Zwar wurden eine Reihe mathematischer Machtindizes definiert, doch gelten diese (wie der Shapley-Wert) nur für ganz spezielle Abstimmungssituationen, repräsentieren aber in vielen Fällen nicht die reale Macht.11 Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Handlungsmacht der Akteure, also ihren Eingriffsmöglichkeiten in der Welt, und ihrer Macht in Verhandlungen und Abstimmungen, bei denen eine Gruppe von Akteuren eine gemeinsame Entscheidung treffen soll. Zwischen beiden gibt es eine enge Kopplung, denn der Einsatz oder die Androhung von Handlungsmacht kann die Positionen von Akteuren in Verhandlungen beeinflussen. Hier geht es vor allem darum, eine hinreichend starke Koalition für einen Konsens zu finden, die sich gegenüber konkurrierenden Koalitionen durchsetzt.12 Eine Koalition ist dann nicht stabil, wenn ihrer Mitglieder durch Koalitionswechsel einen Vorteil erzielen bzw. von der Macht einer anderen Koalition stärker angezogen werden.

Im Falle des Irak ging es den USA um die Schaffung einer Koalition, die den Krieg legitimiert. Die Ausgangsbedingungen verschlechterten sich, als Frankreich, Deutschland und Russland eine Gegenkoalition eröffneten, so dass nun nicht mehr nur die USA im Verbund mit Großbritannien und Spanien um die verbleibenden Mitglieder des Sicherheitsrates buhlten. Der Streit entwickelte sich zunehmend zu einer Prestigefrage und verselbständigte sich vom ursprünglichen Anlass des Irakkonflikts. Alle Akteure pokerten hoch und riskierten dabei ihre eigene politische Existenz, wie etwa Tony Blair, der im eigenen Land unter massiven Beschuss geriet. Das größte Versagen von Bush besteht darin, dass er die nach dem 11. September weltweite Solidarität mit den USA, die in der Anti-Terror-Koalition ihren Ausdruck fand, im Irak verspielt hat.

Gewalt und Schwäche

Während für George W. Bush der Einsatz von Gewalt ein Zeichen von Stärke ist, lässt sich umgekehrt argumentieren, dass die physische Zerstörung von Gegenspielern kein legitimes Machtmittel ist, dass Krieg eher Ausdruck des Scheiterns politischer Macht ist, ja ein Zeichen von Schwäche, weil Ziele auf anderem Wege nicht mehr erreicht werden können. Dies trifft etwa auf den Diener zu, der seinem Herrn in einem geeigneten Moment den Kopf einschlägt, um sich für dessen ungerechtfertigte Machtausübung zu rächen, selbst wenn er dafür den eigenen Tod in Kauf nimmt. Wäre dies schon ein Zeichen von Macht, dann hätte jedes Individuum enorme Macht, weil es als Selbstmordattentäter den Tod von hunderten von Menschen verursachen kann. Hier ist es wichtig, nicht allein auf die Mittel zu schielen, sondern die Ziele des Machteinsatzes im Blick zu behalten, also das eigene Wollen. Es geht darum, Situationen entgegenzuwirken, in denen Menschen ihre eigene Vernichtung oder die Vernichtung anderer wollen.

Aus der Tatsache, dass die USA ein Land wie den Irak militärisch besiegen oder vernichten können, folgt noch nicht die Notwendigkeit es zu tun. Wenn allerdings die USA immer mehr Gewaltmittel anhäufen, steigt mit den Möglichkeiten auch die Neigung, diese einzusetzen. Die Zwecke passen sich den Mitteln an. Wer nur über das Instrument des Schwertes als Machtmittel verfügt, versucht damit jedes Ziel zu erreichen, ob es nun zur Zielerreichung geeignet ist oder nicht. Adäquat ist das Mittel des Krieges weder zur Abrüstung des Irak noch zur Durchsetzung der Demokratie in Nahost.

Im Falle der USA ist der Griff zur Gewalt im Irak kein Zeichen von Stärke. Nicht zufällig wurde als Ziel eines Militärschlags der Irak ausgesucht, ein militärisch geschwächtes und ökonomisch ausgeblutetes Land. Bei anderen stärkeren Gegnern (wie Nordkorea) sind die USA zurückhaltender, allein schon weil hier höhere Opfer erwartet werden müssen.

Es spricht manches dafür, dass der Anspruch auf globale Kontrolle nach innen und außen, der unter Bush zum Vorschein dringt, ein Ausdruck der Verunsicherung in der US-Gesellschaft ist. Das Streben nach totaler Kontrolle und absoluter Sicherheit, das Heilsversprechen, mit dem Mittel der Gewalt das Böse aus der Welt zu schaffen und dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen, führt in einen dauerhaften Krieg, der kein Ende finden kann, weil das Ziel grundsätzlich unerreichbar ist. Die Grenzen der Macht werden dort offenkundig, wo das Unmögliche versucht wird.

Demokratischer Krieg oder demokratischer Frieden?

Die Machtfragen, die sich am Irakkonflikt entzündet haben, sind von existenzieller Bedeutung für die Zukunft der Demokratie. Wenn die älteste und mächtigste Demokratie der Erde sich anschickt, einen Anspruch auf globale Hegemononie zu erheben, setzt sie demokratische Prinzipien außer Kraft. Der gewaltsame Export der Demokratie westlichen Musters wird das Vertrauen in die Demokratie nicht stärken. Die Grenzen der nationalen Demokratien werden da deutlich, wo ein Land in ein anderes hineinregiert. Wenn mit Hilfe einer immer stärker konzentrierten Macht Mehrheiten manipuliert oder erzwungen werden können, wird Demokratie zum Hüter partikulärer Interessen. Wenn parlamentarische Entscheidungen wie die des türkischen Parlaments gegen die Stationierung von US-Truppen im eigenen Land zur politischen und ökonomischen Destabilisierung führen und nur über die erforderlichen Finanzmittel geredet wird, um eine Zustimmung durchzusetzen, wird das Dilemma deutlich.

Anstelle des demokratischen Krieges muss das normative Konzept eines demokratischen Friedens treten, dass den Demokratien nicht einfach eine prinzipielle Friedlichkeit bescheinigt, sondern die Vorausetzungen für ihre strukturelle Friedensfähigkeit entwickeln hilft. Nur so kann an die Stelle von dauerhaften Kriegen (sustained wars) ein nachhaltiger Frieden (sustainable peace) treten.

Anmerkungen

1) R. Kagan: Macht und Schwäche – Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinander treibt, Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, 10/2002. Siehe auch die Debatte dazu in: Blätter 11/2002.

2) Siehe weiteres in J. Scheffran: Konflikt und Kooperation, Wissenschaft und Frieden, 1/99, S. 31-41.

3) Zu den politischen Konstellationen zu Anfang 2003 siehe B.W. Kubbig (Hrsg.): Brandherd Irak, Campus, 2003.

4) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 9. März 2003.

5) Zur Rolle der Macht in den internationalen Beziehungen siehe: David A. Baldwin: Power and International Relations, Stichwort in: W. Carlsnaes, T. Risse, B. Simmons (Hrsg.): Handbook of International Relations, London et.al.: SAGE, 2001, S. 177-191.

6) M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Auflage, Tübingen, 1980 (zuerst 1921).

7) H. J. Morgenthau: Politics Among Nations: The Struggle for Power and Peace, Fifth Edition, Revised, New York: Alfred A. Knopf, 1978, pp. 4-15.

8) D. Nohlen: Lexikon der Politik, Band 2: Politikwissenschaftliche Methoden, München: Beck, 1994.

9) B. Bueno de Mesquita: Principles of International Politics, CQ Press, 1999.

10) Zum Vorgehen der USA gegenüber abweichenden Meinungen im Sicherheitsrat siehe: H. von Sponeck, A. Zumach: Irak – Chronik eines gewollten Krieges, Kiepenheuer und Witsch, 2003.

11) Zu den mathematischen Machtindizes siehe etwa M. J. Holler (Hrsg.): Power, Voting, and Voting Power. Würzburg/Wien: Physica, 1982; M. J. Holler etal. (Hrsg.): Power and Fairness, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Mohr Siebeck, 2002. Eine Anwendung des Shapley-Index in Hinblick auf die Vetomacht im UN-Sicherheitsrat siehe W. Kerby, F. Göbeler: The distribution of voting power in the UN, Nova Journal of Mathematics, Game Theory and Algebra, 6 No.1, 1996, S. 55-63.

12) Zur Untersuchung solcher Fragen siehe die Ansätze in: J. Scheffran: Power Distribution, Coalition Formation and Multipolar Stability in International Systems: The Case of Southeast Europe, in: G. M. Dimirovski (Ed.): Conflict Management and Resolution in Regions of Long Confronted Nations (Proc. IFAC/SWIIS 2000 Workshop in Skopje/Ohrid, Macedonia), Oxford: Pergamon Elsevier Science, 2001, 37-48; F. Göbeler, J. Scheffran: Extended Power Values and Coalition Formation, L. Petrosjan et.al. (eds.): Conference Proceedings der International Society of Dynamic Games (St. Petersburg, 8.-11.7.2002).

Dr. Jürgen Scheffran, Berlin, ist Redakteur von Wissenschaft & Frieden und Mitbegründer des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation.

Empire, amerikanisch

Empire, amerikanisch

von Rainer Rilling

Der Krieg der USA gegen den Irak hat mit Öl, regionaler und globaler Machtprojektion zu tun. Die dominierenden Akteure in den USA gehen von einer qualitativ neuen Disparität der globalen Machtstruktur aus, die Tony Judt in der »New York Review of Books« vom 15.8.2002 als eine neue globale Ungleichheit beschrieb: „Unsere Welt ist in vielfacher Weise geteilt: Zwischen arm und reich, Nord und Süd, westlich / nichtwestlich. Aber mehr und mehr ist die Spaltung, die zählt jene, welche Amerika von allem anderen trennt.“ Und für manche befindet sich so gar Europa plötzlich in einer anderen Situation: „Willkommen beim Rest der Welt“ (Walden Bello). Um diese Position des Abstandes zu allen anderen Mächten der Erde zu sichern, ist nach 1989 eine neue große global ansetzende Doktrin entwickelt, unter der zweiten Regierung Bush dann auch im innenpolitisch legitimierenden Windschatten des »Kampfes gegen den Terror« schrittweise und hörbar expliziert und schließlich in der Form der am 17. September 2002 veröffentlichten »National Security Strategy of the United States of America« offizialisiert worden. Dabei geht es nur sekundär um den Kampf gegen terroristische Gruppen oder Staaten. Das übergreifende Doppelziel dieser Strategie ist der Erhalt und der Ausbau der Ungleichheit zwischen den USA und dem »Rest der Welt« und die Vollendung der weltweiten Durchsetzung des amerikanisch dominierten Kapitalismusmodells. Alle anderen politischen Zielsetzungen treten demgegenüber zurück. Gewinnt diese Strategie machtpolitischen Bestand, dann positionieren sich die USA gegen den »Rest der Welt«.
Diese Strategie hat drei Elemente. Das zentrale Mittel zum Erreichen dieses Ziels ist die Sicherung konkurrenzloser militärischer Überlegenheit. „America has, and intends to keep, military strengths beyond challenge“ (Bush). Eine USA beyond challenge ist der Gedanke. Intern erfordert dies den Aufbau des eigenen Potentials. Extern geht es darum, die Entstehung militärischer und politischer Konkurrenz mit allen notwendigen Mitteln zu verhindern. Wenn Einflussnahme bereits in der Phase der Konkurrenzentstehung möglich sein soll, dann gewinnt der Gedanke der Prävention Raum. Es findet eine Zielverkoppelung statt: der Zweck präventivkriegerischer Aktion ist die Verhinderung von Terror und die Entstehung einer konkurrierenden Machtstruktur.

Es geht um Machtkonkurrenz, nicht um Friedenssicherung. Die Strategie des Präventivkrieges (Präemption), bedeutet schließlich den Übergang zu einer Politik der souveränistischen Prävention. Der Gedanke der globalen Souveränität meint, dass die USA international unilateral Regeln (z.B. über Allianzen und Blockbildungen) setzen, den Krisenfall (»Notstand«) bestimmen und die Unterscheidung zwischen Freund und Feind wie die damit verknüpfte Entscheidung über den Einsatz von Gewalt treffen. Die Fähigkeit zum Gewalteinsatz überall in der Welt liegt allein bei den USA. Sie allein ist zur Disziplinierung des neoliberalen Globalkapitalismus imstande. Das ist das dritte Element der neuen Grand Strategy.

Die konzeptiven und politischen Akteure

Unmittelbar getragen wurde dieser Prozess der Herausbildung des machtpolitischen Selbstverständnisses und der daraus folgenden Grand Strategy einer Weltordnungspolitik der gegenwärtigen amerikanischen Regierung von einer Gruppe neokonservativ-reaganitischer konzeptiver Ideologen aus Think-Tanks und strategischen Planungseinrichtungen sowie Militärpolitikern, die in den 80er Jahren unter Reagan ihren Aufstieg begann, sich in der ersten Regierung Bush eine Minderheitsposition in der Militärexekutive sichern konnte und schließlich mit Hilfe und im Bündnis mit der religiösen Rechten, den radikalen Marktideologen und der klassischen, eher sozialkonservativen Mainstream-Rechten in der zweiten Bush-Regierung und dann in der republikanischen Partei eine hegemoniale Mehrheitsposition erreichte. Im Laufe des Jahres 2002 bestimmte diese zunehmend neokonservativ dominierte Allianz den außenpolitischen Diskurs der USA. Sie skizzierte die militärpolitischen Kernelemente der neuen großen Strategie, band sie in eine optimistische Sicht auf den Stand der US-Ökonomie ein und etablierte sich 2002 als Avantgarde der neuen parteiübergreifenden Kriegspartei. In kurzer Zeit versammelte sie fast vollständig die außenpolitische Elite der USA und – in einer politischen Allianz ohnegleichen – die parlamentarische Opposition hinter ihr Projekt, wobei sie allerdings die Dynamik der außerparlamentarischen Opposition und die Gefahr der Dissidenz im Militärapparat unterschätzte. Innenpolitisch ging mit dieser Verschiebung einher eine deutliche Machtverlagerung von der Legislative zur Exekutive und eine Reakzentuierung der »inneren Sicherheit« (homeland security).

Rethorik, Konzeption und Strategie dieser Gruppe sind radikal. Ihr Ziel ist ein Ausbruch aus dem bisherigen, jahrzehntealten strategisch-politischen Konsens der herrschenden US-Eliten. Ihre Dynamik zieht sie aus der zielgerichteten Kriegsmobilisierung – „We are in a world war, we are in World War Four.“ (James Woolsey, ehem. CIA-Direktor am 24.7.2002). Der dynamische politische Kern dieser Gruppe ist ein Bündnis aus reaganistisch geprägten Militärs und nationalistischen Neokonservativen. Zu ihr gehören:

  • Paul Wolfowitz als intellektueller Vorspieler (damals Under Secretary of Defense for Policy des späteren Vizepräsidenten Dick Cheney, heute Deputy Secretary of Defense bei Verteidigungsminister Donald Rumsfeld), Wolfowitz studierte im neokonservativen Milieu der Universität Chicago; sein Mentor war Albert Wohlstetter, der als „Gottvater der entspannungsfeindlichen Schule im Kalten Krieg“ (New York Times) galt; er arbeitete dann in der Arms Control and Disarmament Agency und in den Clinton-Jahren als Dekan der School of Advanced International Studies an der John Hopkins Universität. Wolfowitz gehörte zum außenpolitischen Wahlkampfteam von George W. Bush.
  • Dick Cheney, Vizepräsident, der seine Karriere unter Rumsfeld zu Nixons Zeiten begann, aus der Kultur der „corporate Washington-insider class“ (J. M. Marshall), kommt und daher geübt ist in oligopolistischen Industriestrukturen wie in staatlicher Spitzenbürokratie. Seine Frau Lynne Cheney (positioniert im neokonservatoven Think Tank American Enterprise Institute [AEI]) hatte von 1994 bis 2001 eine Spitzenposition beim US-Rüstungskonzern Lockheed Martin inne, der die erste Stelle unter den Rüstungsauftragnehmern der USA einnimmt. Auch Wolfowitz, Libby, Zakheim und Feith (s.u.) hatten Verträge oder bezahlte Beratungspositionen beim drittgrößten Auftragnehmer Northrop.Nach einer Analyse von Hartung / Rheingold vom World Plicy I nstitute hatten 21 der von Bush ernannten Spitzenpolitiker Beziehungen zur Erdölindustrie, aber 32 zur Rüstungsindustrie.
  • Richard Perle, der dem Defense Policy Board vorsteht. Perle arbeitete 1969-1980 im US-Senat, war Protegé und Schwiegersohn von Wohlstetter und von 1981 bis 1987 im Pentagon als Verantwortlicher für Rüstungskontrolle tätig. Als Resident Fellow ist er dem mächtigen American Enterprise Institute for Public Policy Research (AEI) verbunden. Auch Perle gehörte zum außenpolitischen Wahlkampfteam von George W. Bush. Er gilt wie Rumsfeld, der übrigens seit der Nixon-Präsidentschaft eng mit Cheney befreundet war, als harter Verfechter des Aufbaus eines Raketenabwehrsystems.
  • William Kristol, Sohn des einflussreichen neokonservativen Theoretikers Irving Kristol und einst Stabschef von Reagans Vizepräsident Dan Qualye, Herausgeber des von Rupert Murdoch verlegten neokonservativen Frontblatts »The Weekly Standard«. Kristol gehörte wie Wolfowitz, Justizminister John Ashcroft oder Francis Fukuyama zum Umkreis der neokonservativen Chicagoer Philosophenschule um Strauss und Bloom. Die »Washington Post« hat die große netzwerkbildende Rolle von Kristol hervorgehoben und gezeigt, dass diese Struktur weit über den engeren Bereich des Militär-, Sicherheits- und Rüstungsapparats hinausgeht: „Shattan, who worked for Kristol when he was Vice President Dan Quayle‘s chief of staff, will join Bush speechwriter Matthew Scully and Cheney speechwriter John McConnell, both of whom also worked under Kristol on the Quayle staff. Fellow Bush speechwriter Peter Wehner worked for Kristol when he was chief of staff to then-Education Secretary William Bennett, while National Security Council speechwriter Matthew Rees worked for Kristol at the Standard. Nor is it just the wordsmiths. Energy Secretary Spencer Abraham is a Kristol acolyte from the Quayle days, while drug control policy chief John Walters worked under Kristol at the Education Department. Jay Lefkowitz, the new director of Bush‘s Domestic Policy Council, was Kristol‘s lawyer. Other Kristol pals include NSC Senior Director Elliott Abrams, Cheney Chief of Staff I. Lewis »Scooter« Libby, Deputy Defense Secretary Paul Wolfowitz, Undersecretary of State John Bolton and Leon Kass, the head of Bush‘s bioethics panel. The tentacles reach into the kitchen cabinet, too: Al Hubbard, a close Bush friend, was Kristol‘s deputy on the Quayle staff.“ (Washington Post 19.3.2002)
  • I. Lewis Libby, der in der ersten Bush-Regierung unter Cheney Deputy Undersecretary of Defense for Policy und in der zweiten Bush-Regierung der Chief of Staff von Vizepräsident Cheney wurde.
  • Zalmay Khalilzad, der spätere US-Gesandte in Afghanistan. Er war unter Reagan Mitglied im Planungsstab des Außenministeriums und arbeitete schon damals mit Wolfowitz, zusammen, was sich unter George Bush im DoD fortsetzte; im Übergangsteam für George W. Bush war er Beauftragter für Verteidigungspolitik, im Mai 2001 wurde er als Beauftragter für die Golfregion und Zentralasien in den Nationalen Sicherheitsrat berufen, wo er seither als rechte Hand von Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice tätig ist; als Sonderbeauftragter für Afghanistan wurde er dort bald als »Vizekönig von Kabul« bezeichnet. Eine ähnliche Rolle spielt er jetzt bei den Planungen Washingtons für die Nach kriegsordnung im Irak. (FAZ v. 1.3.2002)
  • John R. Bolton, vormals Vizepräsident des American Enterprise Institute und im Beirat des Jewish Institute of National Security Affairs, als Under-Secretary for Arms Control and International Security im Außenministerium.
  • Elliott Abrams, vormals Reagan`s Assistant Secretary of State for Human Rights und dann Assistant Secretary for Inter-American Affairs, als Senior Director for Near East and North African Affairs im National Security Council.
  • Douglas Feith als Under Secretary of Defense for Policy.
  • Stephen J. Hadley (Deputy National Security Advisor im Weißen Haus), arbeitete als Assistant Secretary of Defense für Wolfowitz, als dieser im DoD unter Dick Cheney tätig war. Er gehört dem DoD Policy Board an.
  • Eliot Cohen, der in der ersten Bush-Regierung im Planungsstab des DoD war und dann Mitglied in Rumsfeld`s Defense Policy Board unter Perle wurde.
  • Dov Zakheim, der wichtigste »Haushälter« (Under Secretary for Comptroller) des DoD.
  • Peter Rodman, Assistant Defense Secretary for International Security Affairs.
  • Stephen Cambone, der in der ersten Bush-Regierung für die strategische Verteidigungspolitik zuständig war und in der zweiten Regierung Bush dann das Office of Program, Analysis and Evaluation des Pentagon leitete.
  • Thomas Donnelly, (Project for the New American Century [PNAC]), der mittlerweile vom Rüstungskonzern Lockheed Martin eingestellt wurde.

Dieses Netzwerk institutionalisierte sich in einer Reihe von Think-Tanks, politischen Aktionsgruppen und Medienprojekten, unter denen das 1997 im „reaganistischen Geist“ gegründete »Project for the New American Century« herausragt. Zu den Unterzeichnern der Gründungserklärung des PNAC („We aim to make the case and rally support for American global leadership“) gehörten Wolfowitz, Bolton, Cheney, Khalilzad, Cohen, Libby, Zakheim, Rodman, Cambone und Donnelly sowie Jeb Bush, William J. Bennett, Midge Decter, Steve Forbes, Francis Fukuyama, Fred C. Ikle, Donald Kagan, Zalmay, Norman Podhoretz, Dan Quayle, Stephen P. Rosen und Donald Rumsfeld. William Kristol war 2002 Vorsitzender des Think-Tanks, zu dessen Leitung gehörten weiter Bruce Jackson vom Rüstungskonzern Lockheed Martin, der am Entwurf des proamerikanischen Schreibens der Staaten des »Neuen Europa« mitgewirkt haben soll und eine Schlüßelposition beim Aufbau der Machtpositionen der USA in Osteuropa spielt sowie Robert Kagan, der u.a. Redenschreiber für George Shultz war und als einer der einflussreichsten Promotoren der Konzeption vom »American Empire« gilt. Der geschäftsführende Direktor des PNAC ist Gary Schmitt, der u.a. als Geheimdienstoffizier in Reagans Weißem Haus enge Verbindungen zu dieser Szene hatte.

Über das Projekt wurde im Januar 1998 ein Brief von 18 Neokonservativen an den Präsidenten organisiert, in dem der Sturz Husseins gefordert wurde. Unterzeichner wie Richard Armitage (Staatssekretär im Außenministerium), Bolton, Rumsfeld, Dobriansky, Khalilzad, Rodman, Wolfowitz oder Zoellick gehörten später zur Bush-Administration. Ein zweites Schreiben u.a. von Rumsfeld, Wolfowitz und Kristol vom 29.5.1998 an die Fraktionsführer Gingrich und Lott forderte explizit, Hussein mit militärischen Mitteln aus der Macht zu entfernen. Kurz nach »Nineleven« folgte am 20.9. 2001 ein weiteres Schreiben der „Kreuzzugsneokonservativen“ (Hirsh), das diese Forderung erneuerte und u.a. gezeichnet war von William Kristol, Richard V. Allen, Gary Bauer, William J. Bennett, Midge Decter, Donnelly, Aaron Friedberg, Francis Fukuyama, Robert Kagan, Jeane Kirkpatrick, Charles Krauthammer, Perle, Norman Podhoretz und Rosen. Damit wurde eine politische Zielsetzung aktiviert, die im Falle des Irak bereits im 1998 vom US-Kongress verabschiedeten »Iraq Liberation Act« expliziert wurde, für den ein »Offener Brief« den Ton vorgab. Vor allem seit Anfang 2003 häuften sich Stimmen, welche die „imperial oversight“ (Max Boot) der USA nicht mehr bloß auf Irak begrenzten, sondern Saudi-Arabien, Iran, Syrien (Boot) und Lybien (Bolton) einschlossen. Perle plädierte für einen »regime change« in Syrien und Iran (durch innere Aufstände) sowie Lybien (wo äußerer Druck notwendig sei).

Charakteristisch für dieses Netzwerk ist die starke Präsenz bekannter Autoren in einigen nationalen Medien wie dem Wall Street Journal, den Fox News, der Washington Times, dem National Review, der Washington Post, der New York Post, dem Commentary Magazine und der New Republic, weiter die Unterstützung durch eine Reihe großer Thinktanks: Hoover, Heritage, Hudson Institute, American Enterprise Institute(in dessen Gebäude das PNAC residiert), das Center for Security Policy (CSP – mit dem Zakheim, Rumsfeld, Gaffney, Perle, Woolsey oder Feith liiert waren), das Center for Strategic and International Studies (CSIS), das Jewish Institute for Security Affairs, das National Institute for Public Policy (das u.a. im Januar 2001 ein Konzept zur Nuklearpolitik entwickelte, das große Bedeutung für die Bush-Regierung bekam), politische Aktionskommittes wie dem »Committee for the Liberation of Iraq« (CLI – u.a. Shultz, Gingrich, Hoffa, Bruce Jackson, Robert Kagan, Kirkpatrick, William Kristol, Bernard Lewis, Lieberman, McCain, Perle, Schmitt, Ruth Wedgwood, Woolsey), neokonservative Hochschuleinrichtungen wie z. B. Paul Nitze School of Advanced International Studies (SAIS – z.B. Perle, Wolfowitz, Woolsey, Cohen, Donnelly) oder Stiftungen (Bradley Foundation, Scaife, Olin).

Mitglieder dieses reaganistischen Netzwerks kooperierten bereits in früheren neokonservativen, militaristischen Kommittes wie dem »Committee on the Present Danger« (späte 70er) oder dem »Committee for the Free World« in den frühen 80ern, dem z.B. Decter und Rumsfeld vorsaßen. Perle war einer der Vorsitzenden des »Committee for Peace and Security in the Gulf«, dem auch Rumsfeld, Wolfowitz und Feith angehörten und das 1990-91 für den ersten Irak-Krieg warb,. Die Stoßrichtung gegen den Irak hatte auch mit der Bindung dieser Gruppe an Israel zu tun – so forderte ein u.a. von Feith und Perle mitverfasster Report aus dem Jahr 1996 für den neuen Premierminister Binyamin Netanyahu (»A Clean Break«) zum Krieg gegen den Irak auf. In »Present Dangers«, einem im Jahr 2000 vom PNAC publiziertem Sammelband, finden sich zahlfreiche Autoren aus dieser Gruppe wieder (u.a. Perle, Reuel Marc Gerecht, Rodman, Abrams, Fredrick Kagan, William Bennett und Wolfowitz.) Geradezu eine Blaupause der neuen Politik stellt der im Jahr 2000 publizierte Report »Rebuilding America`s Defense« des PNAC dar, zu dessen Autoren neben Wolfowitz und Bolton u.a. auch Cohen, Libby, Zakheim, Rodman, Cambone und Donnelly gehörten. Alle verbindet natürlich die Forderung nach massiver Aufrüstung – so plädierte ein Brief des PNAC an Bush vom 23. Januar 2003 für eine Steigerung des Rüstungshaushalts um 100 Mrd. $.

American Empire

Der „neue Unilateralismus“ (C.Krauthammer) der USA wird seit gut anderthalb Jahren begleitet von einer politischen und politikwissenschaftlichen Grammatik, die mit dem Begriff des »American Empire« operiert. Vom »Empire« oder »American Empire« sprachen Kissinger („Amerika am Höhepunkt: Imperium oder Anführer?“) ebenso wie der liberale Dissident Gore Vidal („Das letzte Empire“), die Literaten Tom Wolfe (das heutige Amerika sei jetzt „die größte Macht auf Erden, so omnipotent wie …Rom unter Julius Cäsar“) oder Norman Mailer („to build a world empire“), Science Fiction Autoren wie Jerrry Pournelle („…empires…have been the largest, longest-lasting and most stable form of political organization for most of the world through recorded history“), der Kulturkritiker Rothstein in der New York Times („An old idea transformed. Call it Empire“), der Kolumnist Michael Lind („Ist Amerika das neue Römische Reich?“), Maureen Dowd von der New York Times („The Empire Strikes First“) oder der Demokrat Nye („Seit Rom gab es keine Nation, die so hoch über den anderen Nationen stand“), Patrick J. Buchanan („A Republic, not an Empire“), die Historiker Schlesinger (die USA „would never be an empire“), Gaddis („We are now even more so an empire, definitely an empire“) oder Michael Hirsh („relatively benign power“), Jay Tolson in einer Titelgeschichte »The American Empire« des Magazins U.S.News & World Report („Are we witnessing a smart-bomb imperium?“) oder die Neokonservativen Dinesh D`Souza („Die Amerikaner müßen letztlich erkennen dass die USA ein Empire geworden ist“), Deepak Lal vor dem AEI („In Defense of Empires“), Thomas Donnelly vom PNAC („Ob die Vereinigten Staaten es gewollt haben oder nicht, irgendwie haben sie ein Imperium aufgebaut und können sich den daraus ergebenden Folgen nicht mehr entziehen“) und Charles Krauthammer: „Es ist eine Tatsache, dass seit dem Römischen Reich kein Land kulturell, ökonomisch, technologisch und militärisch so dominierend gewesen ist wie die USA heute.“ Und vom Empire sprach schließlich der Präsident der USA und fand ein ungehörtes Echo in den zehntausendfachen Beschreibungen der United States, die in den Demonstrationen am 15. Februar varriiert wurden. Andere wie Senator Edward M. Kennedy, von denen man es eher nicht erwartet hätte, sprachen von „einem amerikanischen Imperialismus des 21. Jahrhunderts“.

Die Stellung der USA im System internationeler Beziehungen ist auf unterschiedliche Weise interpretiert worden: als „imperiale Überdehnung“ (Paul Kennedy), als gleichsam „verdeckter Imperialismus“ (Chalmer Johnson), als „Empire by invitation“ (Charles S. Meier) oder als „gütige Hegemonie“ (Brzezinski). Und die Behauptung einer Konstanz der Dominanzposition der USA, der gegenüber wir es bloß mit wechselnden Rethoriken zu tun haben, deren Ehrlichkeits-, Wahrheits- oder Wirklichkeitsgehalt variiert, ist natürlich ebenso verbreitet. Seit Max Boot vom Wall Street Journal im Herbst 2001 in einem Aufsatz, »The Case for an American Empire«, die militärische Besetzung von Afghanistan und Irak mit der stabilisierenden Wirkung begründete, welche die Britische Herrschaft im 19. Jahrhundert in dieser Region hatte, breitet sich zur Charakterisierung eines »globus americanus« die Empire-Idee schnell aus. Nye diagnostizierte gar die „USA im Griff einer heiklen Metapher“ (Süddeutsche Zeitung v. 15.10.2001). Ihre historisch – geopolitische Referenz findet diese Debatte in einem immer mehr oder weniger präsenten Bezug auf das eigene Herkunftsland – das britische Empire – und an die eigene Kolonialgeschichte vor, womit sie sich vorwiegend auf die ersten zwei Zyklen des Versuchs bezieht, ein amerikanisches Empire zu schaffen (1898-1919 bzw. zu Zeiten Roosevelts »New Order«). Ihre Anhänger findet sie dabei keineswegs nur im publizistischen und wissenschaftlichen Lager der Neokonservativen. Während die neokonservativen Diskurse die Rede vom American Empire als politisch-rechtliche Konsequenz einer neuen militärisch-politischen Selbststärkung der ökonomisch wie kulturell uneinholbar dem Rest der Welt davongezogenen USA interpretieren, sehen Linke in der Debatte eher den Ausdruck einer »Hegemonie im Abschwung« oder gar einer posthegemonialen Situation. War die Referenz auf das römische Imperium bislang eher eine Sache der isolationistischen Rechten oder der Linken, so ist sie mittlerweile in die Mainstream-Publizistik, die Diskurse der politischen Thinktanks und vor allem in die Kultur der Macht eingewandert.

Die Empire-Rethorik versucht insgesamt, die Unvermeidlichkeit, Sinnhaftigkeit und Besonderheit der Ausbildung eines Empires neuer Art auszuweisen. Jenseits politischer Rhetorik häufen sich Versuche einer wissenschaftlichen Auslegung des Begriffes auch jenseits historischer Vergleiche, etwa von dem PNAC-Mitbegründer und Direktor des neokonservativen Olin Institute for Strategic Studies ander Harvard University Stephen, Peter Rosen, sowie von Charles S. Meier Mitte 2002 im Harvard Magazin, von Deepak Lal im Oktober 2002 vor dem American Enterprise Institute oder von Michael Ignatieff Anfang 2003 im New York Times Magazine. Im Kern versucht die Rede vom American Empire zu fassen, dass Amerika nicht mehr bloß exzeptionelle Super-, Hyper- oder Hegemonialmacht sei. Solche Begriffe aus der Zeit des Kalten Krieges und der Konkurrenz der Systeme sind jetzt definitiv überholt. Gebraucht wird ein „Gorilla unter den geopolitischen Bezeichnungen“ (Friedland) – eben das Empire. Die »Empire-Gelehrten« (E. Eakin in der New York Times) konzedieren zwar, dass Amerika heute nicht nur mit roher Gewalt operiert, sondern ihre „wohlwollende Herrschaft“ (Wolfowitz) auch mit ökonomischen, kulturellen und politischen Mitteln realisiert. Man möchte andere Völker lieber zu Konsumenten oder gar Amerikanern machen als sie mit Krieg zu überziehen. Doch mit der von ihnen praktizierten begrifflichen Verschiebung von »Hegemonie« über »Dominanz« zu »Empire« schiebt sich die klassische Vorstellung von einer direkten politischen Kontrolle durch ein imperiales Zentrum in den Vordergrund. An die Stelle der Kontextsteuerung des Königreichs Saudi-Arabiens tritt das US-Protektoratsregime über den Irak. Hegemonie durch Zwang (coercion) wird aktzentuiert gegenüber der Hegemonie durch Führung (leadership) bzw. Korruption und Konsensorganisation. Der Krieg gegen Afghanistan – bzw. »gegen den Terror« – operierte mit Begriffen wie „unendliche Gerechtigkeit“ oder „grenzenlose Freiheit“. Tatsächlich aber geht es um indefinite dominance: der „unipolare Moment“ nach 1989 soll in eine „unipolare Ära“ (Krauthammer) übergehen. Das American Empire kann dabei nicht mehr auf die übliche territorialpolitische Weise gefasst werden: im Unterschied zu den Imperien der Geschichte kennt es kein Außen mehr. Es ist von Allem betroffen und macht sich Alles zu eigen. Es ist ein neue Ordnung, deren Integration durch die »Hubs« globaler Netzwerke vermittelt wird, deren Gouvernmentalität aber aus einem Zentrum kommt. Das American Empire als Wille und Vorstellung ist – noch – nur ein Versuch, aus der bisherigen strategischen Konstellation auszubrechen: Breakout. Rethorik, Konzept, Strategie und Politik des Empire-Lagers sind nicht neu. Aber die Macht ist mit ihnen – jetzt.

Eine ausführliche Analyse des »American Empire«: Outbreak. Let`s take over. American Empire als Wille und Vorstellung (Marburg / Berlin 2003) unter: www.rainer-rilling.de/texte/american empire.pdf

Prof. Dr. Rainer Rilling ist Hochschullehrer an der Universität Marburg und arbeitet als wissenschaftlicher Referent bei der Rosa Luxemburg Stiftung (Berlin).

Schild Europas oder Schwert Amerikas?

Schild Europas oder Schwert Amerikas?

Unterschiedliche Interessen in der Außen- und Militärpolitik

von Egon Bahr

Die USA haben nach dem11. September ein neues beispielloses Hochrüstungsprogramm beschlossen. Gleichzeitig haben sie ihren Macht- und Einflussbereich in einem Maße erweitert, wie das vor einem Jahr noch unvorstellbar gewesen ist. Militärtechnisch gelten sie als uneinholbar und die Differenz zu allen anderen Staaten der Welt wird mit jedem Monat größer. Wie muss unter diesen Bedingungen die europäische Außen- und Sicherheitspolitik aussehen? Geht es darum »nachzurüsten«, damit die eigenen Armeen mit den Amerikanern kompatibel einsetzbar bleiben oder braucht Europa eine eigene Rolle, bei der der politische Faktor wichtiger ist als der militärische? Egon Bahr zu den Gemeinsamkeiten und unterschiedlichen Interessen zwischen den USA und Europa.
Neben anderen wichtigen und wünschbaren Elementen lassen sich als vitale Interessen zwei Ziele deutscher Außenpolitik definieren: Die Selbstbestimmung Europas und eine stabile gesamteuropäische Friedensordnung. Beide Themen ergänzen sich und entsprechen definierten Interessen auch unserer Nachbarn. Beide Ziele sind gefährdet.

Das ergibt sich durch den Blick auf unseren wichtigsten Verbündeten und seine neue Position. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts war dem Gleichgewichtsdenken, das Kissinger vollendet hat, der Boden entzogen. Seither galt, was die erwähnte Kommission als vitales Interesse definiert hat, nämlich die einzigartige Führungsrolle der USA zu sichern und zu erweitern. Das ist militärtechnisch in einem Ausmaß gelungen, das die Uneinholbarkeit zu allen anderen Staaten der Welt mit jedem Monat vergrößert.

Der Gipfel der amerikanischen Zielvorstellungen war im letzten Sommer erreicht, als Paul Wolfowitz, stellvertretender Verteidigungsminister, vor dem Streitkräfteausschuss des Senats ein gigantisches Rüstungsprogramm vorstellte, das zu Lande, auf See, in der Luft und im Weltraum durch die kontinuierliche Einführung neuer zum Teil exotischer Waffen durch ihre bloße Existenz jedes Land entmutigen soll, sich auf einen Wettlauf überhaupt einzulassen. Zu der atemberaubenden Dimension dieses Programms der Großen Abschreckung gehören neue kleine und kleinste Atomwaffen, Raketenabwehrsysteme und Waffen im Weltraum, die durch Laser jeden Punkt auf dem Globus angreifen können.

Die Selbstsicherheit für eine solche Pax Amerikana mit ihrem Traum der Unangreifbarkeit wurde durch den 11. September erschüttert. Washington passte sich schnell an, erklärte: „Wir brauchen die Vereinten Nationen“ und schuf eine globale Allianz gegen den Terror. Dieses Bündnis ohne Vertrag wird durch das gemeinsame Interesse aller Staaten zusammengehalten, die zurecht fürchten, dass die entstaatlichte Gewalt gegen das bisher unbestrittene Gewaltmonopol der Staaten, jeden Einzelnen von ihnen destabilisieren kann. Unter dieser Gefährdung lebt auch Deutschland. Mit allen sich daraus ergebenden Risiken.

Während die Welt sich durch diese neue Priorität verändert hat, sind die alten Prioritäten unverändert geblieben, nur zurückgestuft auf ein Niveau, das nicht mehr alarmieren soll. In dem Augenblick, in dem der Krieg die Taliban zerschlagen hatte, wurde der ABM-Vertrag als »Relikt aus dem überwundenen Kalten Krieg«, aber hinderlich für Weltraumwaffen, gekündigt. Gleichzeitig wurde das gigantische Rüstungsprogramm der Großen Abschreckung in Form des entsprechenden Haushaltsantrags eingebracht. Mit seinen Auswirkungen wird sich Europa auseinander zu setzen haben.

Sollte Amerika kleine Atomwaffen hier stationieren wollen, natürlich ohne sie den europäischen Armeen zu geben, oder einen europäischen Finger an die atomaren Knöpfe zu lassen, würden Verträge berührt, auf die alle stolz waren und sind, und die delikate Frage aufwerfen, ob auch die neuen NATO-Mitglieder einbezogen werden, damit innerhalb dieser qualitativ neuen Sicherheitsglocke in Europa Deutschland kein Sonderprotektorrat wird.

Die Raketenabwehr wirft für Europa fundamentale Fragen auf. Es geht nicht um die weitreichenden Systeme, die zwischen Washington und Moskau behandelt werden, sondern um Kurz- und Mittelstreckenabwehr gegen Raketen, die Schurkenstaaten unbestritten in den nächsten 10 – 15 Jahren entwickeln könnten. Der amerikanischen Aufforderung an die NATO-Verbündeten, sich mit dem Gedanken zu befreunden, mitzumachen und wenn die Technik reif ist, solche Systeme zu stationieren oder stationieren zu lassen, hat die Bundesregierung zutreffend beantwortet: Die Voraussetzungen für eine Entscheidung sind nicht gegeben. Aber sich rechtzeitig Gedanken zu machen, ist empfehlenswert.

Raketenabwehrsysteme stellen eine neue militärische Qualität dar. Sie sind umso sinnvoller, je weiter sie gegen potenzielle Angreifer vorgeschoben stationiert werden, also auch in Staaten, in denen es bisher keine amerikanischen Stützpunkte gibt, wie Polen und Tschechien. Die bisherige Diskussion lässt nicht erwarten, dass Europa auf diesen amerikanischen Vorschlag eine einheitliche geschlossene Antwort geben wird. Wenn aber einige Länder, etwa England, Italien, die Türkei, vielleicht auch Polen positiv votieren, andere negativ, dann würde die Raketenabwehr zu einem Spaltpilz europäischer Gemeinschaftsbestrebungen werden. Wenn die Antworten aus Paris und Berlin auseinanderfallen, würde das tiefgreifende Folgen mit Langzeitwirkung haben; denn die Raketenabwehr hat eine weiter reichende politische und strategische Dimension.

Installierte amerikanische Raketenabwehr wäre ein neues Element militärischer Dominanz in Europa. Daneben würden Bestrebungen einer europäischen Identität mit einer Verteidigungskomponente zur Lächerlichkeit schrumpfen. Geostrategisch würde es für Washington zu einer ziemlich untergeordneten Frage werden, ob Paris und Berlin ihre Antriebskräfte für die europäische Union bündeln. Wann und wie es Europa gelingt, mit einer Stimme zu sprechen, wäre relativ unerheblich angesichts der amerikanisch kommandierten Spitzentechnik der NATO, die kurzfristig nicht wieder abgebaut werden kann.

Das neue Instrument amerikanischen Protektorratsdenkens geht logisch nur bis an die Grenzen der NATO. Es bezieht außerhalb liegende Staaten nicht ein und vertieft also die sicherheitspolitische Grenze in Europa. Es ist das Gegenteil einer gesamteuropäischen Struktur. Es gibt einen russischen Vorschlag, bisher auch nicht verhandlungsreif, der das europäische Wissen bündeln und unter amerikanischer Beteiligung eine gesamteuropäische Raketenabwehr bringen soll. Falls die Europäer darauf bestehen, diesen Vorschlag ernsthaft zu prüfen, würde sich herausstellen, ob die Amerikaner nur ihre Streitkräfte und Verbündeten schützen und damit die Herrschaft über ihren Teil Europas wollen oder ob sie bereit sind, den Schutzschirm vor Raketen über ganz Europa aufzuspannen.

Die Sicherheits-Analyse ergibt: Wo die NATO bestimmt, kann Europa nicht bestimmen. Wenn die Große Abschreckung die NATO in Europa zu ihrem Instrument gewinnt, werden gesamteuropäische Überlegungen, europäische Selbstbestimmung, NATO-Russland-Akte und OSZE zu Fragen nachgeordneter Spielfelder, und zwar umso mehr, je mehr die NATO erweitert wird. Helmut Schmidt hat die NATO-Erweiterung für die europäische Union als „eher schädlich“ bezeichnet, „weil sie den Amerikanern nicht ein Mitsprache-recht, sondern ein Übersprach-Recht über die europäischen Dinge beschert“.

Nach amerikanischen Überlegungen könnten im Herbst dieses Jahres in Prag nicht nur Slowenien und die Slowakei neue Mitglieder der NATO werden, sondern auch die drei baltischen Staaten, Bulgarien und Rumänien. Ein solcher großer Schritt hätte den Vorteil, dass man den Wünschen dieser Länder entspräche, Russland es nicht verhindern könnte und man den Ärger mit Moskau nur einmal hätte. Nach einer derartigen Arrondierung der NATO taucht dann phantasieanregend das Ostufer des Schwarzen Meeres auf. Dort liegt Georgien.

Nach dem atomaren und dem Raketenabwehr-Aspekt der Großen Abschreckung für Europa muss noch der konventionelle Sektor betrachtet werden. Die neue Generation von Waffen auf diesem Gebiet wird die Frage stellen, wie weit die Europäer ihre Armeen »nachrüsten«, damit sie mit den Amerikanern kompatibel einsetzbar bleiben. Von der üblichen Modernisierung abgesehen, der sich keine Armee entziehen kann, wird die Kluft ständig größer, wenn die amerikanischen Soldaten mit Waffen ausgerüstet werden, die für ihre globale Verwendung entwickelt wurden, für Europa weder gedacht noch erforderlich sind. Die europäischen Armeen könnten anders aussehen, wenn sie auf die Bedürfnisse der europäischen Verteidigung ausgelegt sind, hier jedem konventionellen Angriff überlegen, oder wenn sie mit und neben den Amerikanern global einsetzbar sein müssen. Dieses Problem wird sich schon für die 60 000 Mann der europäischen Eingreiftruppe stellen, die bis Ende 2003 aufgestellt werden sollen.

Amerika kann nicht erwarten, dass Europa die Voraussetzungen schafft, um die amerikanischen globalen Interessen unterstützen zu können. Europa braucht die Große Abschreckung nicht. Es kann sie nicht verhindern, aber es muss sie nicht mitmachen.

Zuweilen gewinnt man den Eindruck, als hätten einige Europäer es eilig, Amerika ähnlicher oder gleicher zu werden, in der Hoffnung, damit verstärkte Mitsprache zu erhalten. Von dieser Illusion sollte Europa endlich Abschied nehmen. Wir hatten sie nicht, als die Bundeswehr stärkere Panzerstreitkräfte als die USA unterhielt. In den zurückliegenden Jahrzehnten haben die Amerikaner nur die vorletzte Technik weitergegeben und ihren Vorsprung ständig vergrößert. Sie denken auch heute keine Sekunde daran, das Wissen zu teilen, das ihnen die Überlegenheit garantiert. Das kann doch auch niemand übel nehmen. Was sie weitergeben und was woanders der letzte Schrei ist, stärkt ihre Wirtschaft, schafft Abhängigkeiten, aber ist natürlich für Amerikas Uneinholbarkeit ganz ungefährlich. Ein Tor ist, wer glaubt, mehr Mitsprache kaufen zu können. Die Technik für Raketenabwehr, Marschflugkörper, Tarnkappen oder Vakuumbomben steht nicht zum Verkauf. Das gilt für die ganze NATO. Die besten Waffen unserer Freunde bekommt sie nicht; die besten Waffen unserer Freunde braucht sie nicht zur Verteidigung; sie soll rüsten, um global besser einsetzbar zu werden. Nicht gleichwertig, aber zuweilen ganz nützlich.

Die erkennbare und beschlossene amerikanische Rüstungs-Politik stellt einen fundamentalen Angriff gegen die erklärten europäischen Interessen dar. Dieser Angriff ist nicht böse gemeint, sondern nur die Fortsetzung der Selbstverständlichkeit, mit der Amerika auch künftig seiner erklärten Politik folgen wird. Das ist kein unfreundlicher Akt, aber er wird Europa nicht vor der Entscheidung bewahren, ob es seine Streitkräfte als Schild Europas oder als Schwert Amerikas auslegen will. Ob es sicherheitspolitisch Protektorat bleiben oder selbstbestimmt werden will; ob nicht nur Amerika, sondern auch Europa seinen Interessen folgt; ob der Emanzipation des EURO die Emanzipation Europas folgt. Vasallen erstreben das Lob der Protektoratsmacht, Partner respektieren und berücksichtigen die unterschiedlichen Rollen.

Jeder junge Mensch wird mit seiner Volljährigkeit selbstverantwortlich für sein Tun oder Unterlassen. Er muss sich von seinen Eltern emanzipieren, ohne deshalb zum Feind seiner Eltern zu werden. Volljährigkeit wird bei Staaten Souveränität genannt. Deutsche Emanzipation bedeutet keine Feindschaft zu Amerika. In mehr als 50 zurückliegenden Jahren haben sich freundschaftliche Gefühle entwickelt, kulturelle und persönliche Bindungen, Lebensgewohnheiten, nicht identische aber doch ähnliche Wertvorstellungen. Das wird ein starkes und bleibendes Fundament der Transatlantischen Beziehungen bleiben.

Dieses Fundament ist auch nicht dadurch erschüttert worden, dass Amerika schon seit Jahren immer deutlicher seine von Europa differierenden Interessen verfolgt hat. Das gilt nicht nur für die unterschiedlichen Auffassungen von der sozialen Rolle des Staates, für die es eine europäische Tradition gibt, oder die Gefährdung der Umwelt, des Weltklimas oder des Energieverbrauchs, wo Amerika sich internationalen Konventionen entzieht. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat Amerika das Gewicht seiner Interessen verlagert. Geostrategisch ist die Türkei wichtiger geworden als Deutschland. China, Indien und Japan beschäftigen in Washington ungleich mehr als der alte Kontinent, der sicherheitspolitisch zu Recht als Protektorat betrachtet wird. Die europäische Union erscheint als ein großes und zänkisches Kaufhaus, in dem sich die Händler streiten, während die Politiker, wie seit 40 Jahren, fortfahren, die Einstimmigkeit zu suchen, während sie das Warenhaus vergrößern wollen. Damit will und kann Amerika sich nicht aufhalten. Lasst die Europäer ihre Identität suchen, wir haben sie und handeln nach unseren Werten, die uns an die Spitze der Welt geführt haben. Die Chance Europas im neuen Jahrhundert ist ein Ordnungssystem statt der Androhung von Gewalt.

Nach dem 11. September ist das alles noch krasser geworden. Klagen der Europäer über das Nachlassen von Aufmerksamkeit und Zuneigung werden weniger ernst genommen und wirken zum Teil komisch. Amerika blickt nach vorn, Europa muss das auch tun. Amerika handelt, wie es ihm seine Verantwortung geraten erscheinen lässt. Europa hängt seiner Nachkriegspolitik nach. Amerika fühlt sich nicht mehr an das Angebot an Deutschland von Präsident Bush, dem Älteren gebunden, zur »Partnership in Leadership«; es ist auch nicht Europa gegenüber wiederholt worden. Amerika hat kühl und richtig analysiert, dass im Krieg gegen den Terrorismus der politische Faktor Moskau wichtiger ist, als der militärische Faktor NATO.

Hierzulande wird für den fortgesetzten Schulterschluss mit Amerika beschwörend geworben; dabei fehlt die Klarheit, dass die europäische Eigenständigkeit mit dem deutsch-französischen Motor unerreichbar wird, wenn Deutschland im Zweifel immer die amerikanische Position vertritt. Wenn Paris und Berlin nicht fähig zu einem strategisch politischen Durchbruch sind, weil dort die Präsidentschaftswahlen und hier die Bundestagswahlen das verhindern, so darf und wird Amerika nicht darauf warten.

Der Schulterschluss wird schwieriger werden: Der Widerspruch zwischen vertiefter Dominanz Amerikas über Europa und Handlungsfähigkeit Europas nach eigenem Recht ist unübersehbar. Deutschland muss beim Abkommen zur Verbannung der Landminen bleiben, auch wenn Amerika nicht mitmacht, bei der Ausweitung der Konvention über biologische und chemische Waffen, auch wenn Amerika sie ablehnt, bei der Gründung eines internationalen Gerichtshofs, auch wenn Amerika sich verweigert und seinen Präsidenten sogar ermächtigen will, Amerikaner zu befreien, die wegen möglicher Verbrechen vor ihn gestellt würden. Deutschland muss für die Stärkung der UN wirken, Amerika lässt sich durch den Sicherheitsrat nicht binden, soweit es nicht seinen Interessen dient. Das alles und mehr kann sich Amerika leisten. Es entscheidet, wann es sich »im Krieg befindlich« erklärt. Es proklamiert als Ziel »Unbegrenzte Gerechtigkeit« und korrigiert auf »Dauerhafte Freiheit«. Führende Intellektuelle und Wissenschaftler begründen den »Gerechten Krieg«, ohne ihr Land zu mahnen, den selbstgesetzten Regeln auch selbst zu folgen. Aber Kritik an der amerikanischen Stärke ist die Kritik der Schwäche. Die Sprache der Macht findet den Widerspruch der Machtlosen. Die Warnung, Amerika überschätze das Militärische, kommt von den Kleinen; die haben es leichter, weise zu sein als die Großen. Fehler können sie beide machen, aber die Mächtigen können sie leichter durch Gewalt zudecken.

Ein Vorschlag, Amerika sollte einen Vertrag zum Gewaltverzicht unterschreiben, würde heute absurd wirken, um es milde zu sagen. Gerade das ist vor einem viertel Jahrhundert geschehen. Das deutsche Konzept, mit der Sowjetunion und den Staaten des Warschauer Pakts einen Gewaltverzichtsvertrag zu verhandeln und abzuschließen, wurde 1970 von Präsident Nixon gedeckt. Es konnte ja nichts passieren. Amerika garantierte mit seiner Macht, dass diese Idee nicht gefährlich werden konnte. Sie war überaus erfolgreich. Und 1975 hat Amerika in Helsinki die bilaterale Formel des Moskauer Vertrages auf die europäische Ebene übertragen und den Gewaltverzicht unterschrieben. Er wurde 1989 in der Charta von Paris zum europäischen Grundgesetz.

Gewaltverzicht war die vertragliche Umsetzung der Erkenntnis: Die Stärke des Schwachen ist das Recht, das auch für Stärkere verbindlich ist, die Mittel sind Diplomatie und Verhandlungen. Durch kontrollierbare Bindungen eine Stabilität zu schaffen, in der das Gewicht des Militärischen geringer wird, das ist der europäische Weg. Auf die Gegenwart übertragen könnte daraus eine Doktrin werden: Europa versucht präventiv und politisch zu erreichen, dass etwaige Schurkenstaaten nicht schurkisch handeln, ähnlich wie in der Ostpolitik gedeckt durch die amerikanische Macht. Während Amerika seine militärische Kulisse entwickelt, sollte Europa seine Politische entfalten, damit die Militärische möglichst nicht genutzt werden muss. Es wäre eine Arbeitsteilung, die Amerika nichts von seiner Stärke nimmt, vielleicht einen Krieg erspart, und den Schwächeren, also den meisten Ländern, die Chance gibt, die Stärke des Rechts zu fördern.

Eine solche Rolle berücksichtigt, dass die Selbstbestimmung Europas schrumpft, wenn Spannungen wachsen, sein Gewicht sich bei Konfrontation verringert und bei Ausbruch offener Gewalt weitgehend verschwindet. Krieg ist der Feind Europas. Amerika kann auf Kriegsgewinn setzen. Es hat die Mittel dafür.

Die Versuchung ist groß, wie wir wissen. Die Bilanz des 11. September enthält nicht nur die mehr als 3.000 Unschuldigen, die umgebracht wurden, sondern eine Macht- und Einflusserweiterung, die vor einem Jahr unvorstellbar gewesen ist. Amerika hat sich in Zentral-Asien politisch und militärisch etabliert. Ob und wann es seine Stützpunkte nicht nur in Usbekistan sondern in anderen Republiken am Südrand der früheren Sowjetunion aufgeben will, ist offen. Es hat natürlich auch nicht das Buch »Die einzige Weltmacht« vergessen, in dem der angesehene Sicherheitsberater Präsident Carters, Zbig Brzezinski, befunden hat, Amerika müsse den asiatischen Kontinent kontrollieren, auf dem sich das Wesentliche wie in den letzten 2000 Jahren auch künftig abspielen werde. Die Gelegenheit scheint günstig, den berechtigten Krieg gegen den Terrorismus mit den Interessen der Einflusserweiterung zu kombinieren. Da könnten Grenzen neu gezogen werden, böse oder unliebsame Regime beseitigt werden. In einer Region Ordnung zu schaffen, wo viele Tiger und Hammel versammelt, aber auch große Reichtümer an Energiereserven vorhanden sind, das ist eine Chance, die auch Risiken lohnt. Vorwürfe der Impotenten gegen den Potenten sind witzlos.

Wichtiger ist die Frage: Wo bleibt Europa? Für den Spannungsbogen vom mittleren Osten über die Kaukasus-Region bis nach Zentral-Asien gibt es keine europäische Politik. Für die neuen Republiken von Georgien bis an die chinesische Grenze gibt es aber vertragliche Bindungen. Alle sind der Organisation für Sicherheit Zusammenarbeit in Europa beigetreten, als die Sowjetunion zerfiel. Alle haben sich auf die Kriterien der OSZE verpflichtet. Es ist in Deutschland kaum bewusst geworden, dass damit auch unser Land ein Engagement eingegangen ist. Bisher wurde den Russen dort freie Hand gelassen, nun auch den Amerikanern, wobei die eine oder andere Republik es längerfristig vorziehen könnte, seine auf Europa gerichtete Orientierung überhaupt aufzugeben. Der 11. September hat Afghanistan hinzutreten und das Problem komplexer werden lassen. Auch dafür könnte Europa versuchen, aus seiner Schwäche eine Stärke zu machen. Gerade weil es in diesem Raum keine unmittelbaren Machtinteressen hat, ist es glaubwürdig, wenn es sich dort für Ausgleich, für Zusammenarbeit, für Verhandlungen, für Abkommen, also für Stabilität einsetzte.

Es würde damit zugleich glaubwürdig deutlich machen, dass sein Schwerpunkt in Europa liegt, auch militärisch. Hier stellt sich die historische Aufgabe des Jahrhunderts, eine stabile Ordnung zu schaffen, die Kriege zwischen seinen Staaten unmöglich macht. Napoleon und Hitler sind gescheitert. Ohne Amerika geht das nicht mehr, ohne Russland auch nicht. Europa kann das schaffen. Wenn nicht, wird es marginalisiert werden.

Aus dieser Sicht wächst unser überragendes Interesse an einem Gelingen der Reformen in Russland. Präsident Putin hat mit seiner Rede vor dem Bundestag deutlich gemacht, dass er für eine Westorientierung nicht erst gewonnen werden muss. In der Geschichte bleiben Fenster der Gelegenheit nicht unbegrenzt offen. Das gemeinsame Interesse an der Erhaltung der globalen Allianz gegen den Terror hat eine bemerkenswerte Konstellation geschaffen. Die NATO ist weniger wichtig geworden, der NATO-Russlandrat kann – endlich – entscheidungsfähig gemacht werden, Russland kann Mitsprache in der NATO bekommen, seine künftige Mitgliedschaft ist nicht mehr undenkbar. Das kann eine NATO-Erweiterung heute erträglicher für Russland machen.

Deutschland sollte im NATO-Russlandrat, in dem die vier Atommächte vertreten sind, beantragen, die Strategie der Abschreckung für alle Staaten dieses Gremiums abzuschaffen. Dieses Relikt aus dem »überwundenen Kalten Krieg« hat keinen Sinn mehr. Dieses Argument ist auch Präsident Bush vertraut. Russland ist kein Gegner mehr. Partner, die an einem Tisch sitzen und nicht aufgeben, sich atomar zu bedrohen, wären Dummköpfe oder Betrüger. Von der Drohung des Ersteinsatzes gegeneinander sollten sich die Staaten dieses Gremiums jedenfalls befreien. Der große Atomschirm, den Washington und Moskau aufgespannt lassen, reicht.

Das erweiterte Europa wird sich klarmachen, dass die NATO auf die Nationalstaaten ausgerichtet ist. Jeder von ihnen behält das Recht zur Entscheidung. Das ist unvereinbar mit dem Ziel zu einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Die Ausrichtung auf eine Union widerspricht dem Prinzip einer nationalstaatlichen Interessenvertretung. Wenn Europa wirklich selbst handlungsfähig werden will, ist seine politische Volljährigkeit nicht zu verhindern. Der heutige Zustand wird jedenfalls beendet werden müssen, dass der Union, sofern sie einig ist, die Mittel fehlen. So lange machtpolitisch die NATO entscheidet, kann die EU nicht selbständig handeln, so lange sie die NATO fragen muss und sie kann nicht fragen, so lange sie uneinig ist.

Der letzte amerikanische Botschafter in Berlin hat lapidar festgestellt: „Deutschland hat seine Rolle noch nicht gefunden“. Er hätte dasselbe auch für Europa sagen können. Wie lässt sich aus diesen Überlegungen eine deutsche Konzeption seiner Außen- und Sicherheitspolitik zusammenfassen? Die europäische Handlungsfähigkeit erreichen zu einer neuen Ostpolitik mit dem Ziel gemeinsamer Sicherheit. Jedes Stück gesamteuropäischer Stabilität ist ein Stück wachsender europäischer Unabhängigkeit. Aus schnellen Eingreiftruppen eine europäische Armee entwickeln, die unseren Kontinent konventionell verteidigungsfähig macht, aber darüber hinaus im Einzelfall nur eingesetzt wird, wenn ein Mandat der UN oder ein Wunsch der OSZE vorliegen. Und schließlich: Eine kooperative Partnerschaft mit Amerika für eine Weltordnung, in die unser mächtigster Verbündeter uns führt und deren Regeln es sich selbst unterwirft.

Ob sich der Blick auf den inneren Zustand unseres Landes richtet oder auf seine Möglichkeiten nach außen: Falls es zu einer solchen Gruppe kommt, die dann wohl Kommission genannt werden wird und den Sommer bis zur Wahl nützen könnte, sie wird unserem Land nur helfen können, wenn ihre Vorschläge die alte Epoche hinter sich lassen, die unser Denken mitsamt den alten Feindbildern geprägt hat und uns bewusst machen: Die Vergangenheit darf die Zukunft nicht behindern.

Ein zweites Grundelement der europäischen Entwicklung muss dazu überlegt werden. Wir haben von der Westverschiebung des Kontinents gesprochen. Für lange Jahrzehnte stimmte das. Die deutsche Einheit, d.h. die Integration der DDR in den Westen hat diese Beobachtung bestätigt. »Deutschlands langer Weg nach Westen« ist der Titel eines renommierten Zeithistorikers. Nun gilt es, die Gegenbewegung in den Blick zu nehmen. Die neue Ostpolitik bedeutet eine Verschiebung der Gewichte nach Osten. Erweiterung der EU und Erweiterung der NATO verlagern Europa nach Osten. Die Einbeziehung Russlands in NATO-Entscheidungen wird diese Entwicklung verstärken. Natürlich ist gewollt und willkommen, wenn westliche Zivilisationskriterien, Lebensstandard und Wertvorstellungen nach Osten wandern. Sie treffen dort auf andere Traditionen, andere Mentalitäten; sie werden dort der Kraft, der Geografie und der Geschichte ausgesetzt sein. Einige Analogien zu den Problemen der deutschen Einheit kann es dabei durchaus geben, bei aller Unvergleichbarkeit.

Wenn es gelingt, dass die EU dabei nicht verfehlt, ihre internationale Handlungsfähigkeit zu erreichen, und wenn die NATO sich dabei in die Richtung eines kollektiven Sicherheitssystems entwickelt, dann wäre das für das wachsende Selbstvertrauen und das Gewicht Europas nur zu begrüßen. Das sind zwei bedeutende, einschränkende Voraussetzungen, die nicht einzuschätzen sind. Nicht weniger relevant könnte die gleichzeitige geostrategische Dominanz Amerikas sein, die auch nach Osten wandert. Welche dieser Elemente sich letztlich durchsetzen werden, wird spannend zu beobachten sein.

Professor Egon Bahr, Bundesminister a. D., Mitglied im Kuratorium der Stiftung Entwicklung und Frieden
(Der vorstehende Artikel dokumentiert den Redebeitrag von Egon Bahr während der »Potsdamer Frühjahrsgespräche 2002« der Stiftung Entwicklung und Frieden am 18. April).

Zur strukturellen Ungleichheit im internationalen System

Zur strukturellen Ungleichheit im internationalen System

von Rainer Falk

Mit dem Vorbereitungsprozess für die UN-Konferenz »Finanzierung für Entwicklung« im März 2002 in Monterrey/Mexiko war die Hoffnung verknüpft auf einen Einstieg in eine wirkliche Reform der internationalen Finanzarchitektur, auf den Beginn des Aufbaus eines Systems der internationalen Besteuerung (Tobin Tax; CO{sub}2{/sub}-Steuer), auf ein Ende des langjährigen Abwärtstrends in der öffentlichen Entwicklungshilfe und eine Steigerung derselben. Keine dieser drei Hoffnungen hat sich erfüllt. Als gewisser (prozeduraler) Fortschritt kann allenfalls gewertet werden, dass nunmehr erstmals nach langer Zeit wieder internationale Wirtschaftsfragen (und nicht nur die berühmten »soft issues«) auf einem Forum der Vereinten Nationen erörtert wurden. Da es an Substanz mangelte, ist dies freilich nur ein schwacher und formaler Trost. Unser Autor sieht die Ursachen für diesen erneuten »backlash« für die Nord-Süd-Politik in einem systemisch verfestigten Neoliberalismus, der seinerseits durch ungleiche internationale Machtverhältnisse gestützt wird.
Die neue Globalisierung unterscheidet sich von früheren Wellen der Globalisierung zweifellos auch dadurch, dass globale Organisationen und Institutionen stark an Bedeutung zugenommen haben. Am prägnantesten wird dies vielleicht durch die Trinität von Bretton Woods zum Ausdruck gebracht. Diese »Dreifaltigkeit« wurde traditionell durch den IWF und die Weltbank sowie das GATT repräsentiert und 1995 mit der Gründung der WTO vollendet; sie bildet – zusammen mit der G7er Gruppe – das Zentrum realexistierender global economic governance. Längst haben sich diese Institutionen über ihre ursprüngliche Rolle als währungspolitische Aufsichtsbehörde (z.B. der IWF als Wächter über die Stabilität der Wechselkurse), als bloße Entwicklungsagentur (z.B. die Weltbank als Instrument zur Mobilisierung und auch Umverteilung von Kapital für die Entwicklungswelt) oder als Forum des Zollabbaus (z.B. das GATT) hinaus entwickelt. Sie wurden zu institutionellen Grundpfeilern eines neuen globalen »Konstitutionalismus« transformiert und aufgewertet. Dessen wesentlicher Inhalt kann als »disciplinary neoliberalism« bezeichnet werden, der den Vorrang von Marktsteuerungsprinzipien und privaten Eigentumsrechten international garantiert (Gill, 2000):

Der Funktionswandel der ursprünglichen Bretton-Woods-Zwillinge zeigt sich – nach einem vorübergehenden Bedeutungsverlust für den IWF nach der Abkehr vom festen Wechselkurssystem – vor allem in der nahezu flächendeckenden Durchsetzung neoliberaler Strukturanpassungsprogramme seit Beginn der 1980er Jahre gegenüber den Schuldnerländern im Süden des Globus (Bello, 1994). Sie waren und sind nicht nur auf die Absicherung der Gläubigerinteressen im internationalen Kreditsystem („Schuldendienstfähigkeit“) gerichtet, sondern erwiesen sich als erstrangiger Mechanismus der gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Disziplinierung der Schuldnerländer.

Auch der WTO kommt – über die Setzung handelspolitischer Regeln und die Regulierung diesbezüglicher Interessenkonflikte hinaus – eine konditionierende und disziplinierende Funktion gegenüber den Mitgliedsländern mit Blick auf die Globalisierung zu. Da Marktsteuerungselemente und Eigentumsgarantien (z.B. geistige Eigentumsrechte, Gleichstellung in- und ausländischer Investoren etc.) bereits in die Gründungsdokumente der WTO eingegangen sind, dürfte sich die disziplinierende Funktion einer WTO-Mitgliedschaft langfristig sogar als wirkungsvoller erweisen als die der (zeitlich grundsätzlich befristeten) Strukturanpassungskredite von IWF und Weltbank (Khor, 2000).

Zur Grundstruktur des herrschenden internationalen Settings

Den Kerninstitutionen der global economic governance kommt nicht nur selbst eine große Machtfülle zu; auch innerhalb der Institutionen sind Machtpositionen zumeist ungleich verteilt. Ungleichgewichte im internationalen System sind deshalb vor allem Machtungleichgewichte. Diese Machtungleichgewichte lassen sich an Hand der gegebenen internationalen institutionellen Infrastruktur leicht konkretisieren. Im globalen Machtsystem gibt es drei Typen bzw. Ebenen institutioneller Strukturen: erstens multilaterale Organisationen/Institutionen, zweitens globale Klub-Strukturen und drittens regionale Integrationsprozesse bzw. -strukturen. Als Kriterien können dabei der Grad ihrer Repräsentativität, die globale Reichweite und Relevanz ihrer Beschlüsse und die Symmetrie bzw. Asymmetrie ihrer Strukturen genommen werden:

Multilaterale Organisationen auf internationaler Ebene zeichnen sich in der Regel durch eine globale Repräsentation aus, aber diese ist zumeist auf die staatliche Ebene beschränkt. Wenngleich global, kann die Repräsentation wie im Falle der UNO und ihrer Sonderorganisationen annähernd symmetrisch organisiert sein. Oder aber wie im Falle der Bretton-Woods-Institutionen weitgehend asymmetrisch mit eingebauten Mehrheiten für die Industrieländer.

Globale Klubstrukturen wie die G7 oder auch das Davoser Weltwirtschaftsforum sind demgegenüber global nicht repräsentativ, aber von globaler Relevanz: ihre Beschlüsse stellen entscheidende Vorgaben beispielsweise für die Bretton-Woods-Institutionen dar (wie sich u.a. an der Rolle der G7 bei der Gestaltung des internationalen Schuldenmanagements zeigt). Ein Spezifikum von »Klubs« ist ihre extrem geringe Offenheit: In einen Klub kann man nicht ohne weiteres eintreten, man wird eingeladen oder berufen. So wurde Russland im Rahmen der Geostrategie der »Neuen Weltordnung« zum Mitglied der »politischen G8« gemacht.

Seit einiger Zeit gibt es Konsultationsmechanismen zwischen der G7/8 und den Entwicklungsländern, wobei afrikanische Staatschefs auf dem Gipfel in Genua sogar für ein paar Stunden im Kreise der Großen Acht zu Gast sein durften: Es ging um die sog. New Partnership for African Development (Nepad). Wie die »Financial Times« am 5.2.2002 süffisant kommentierte, enthält diese Initiative jedoch nichts Neues, was nicht vorher schon gesagt worden wäre: „The difference is that African leaders are saying it, not western institutions.“

Auch NGOs werden seit ein paar Jahren im Gipfelvorfeld von G8-Regierungen konsultiert – irgendeinen signifikanten Einfluss auf die Beschlussfassung hat dies jedoch nicht.

Regionale Organisationen nehmen in jüngster Zeit an Zahl und Bedeutung zu. Sie sind in der Regel regional repräsentativ, meistens (tendenziell) symmetrisch, aber in ihren Entscheidungsstrukturen mehr oder weniger auf die staatliche Ebene beschränkt. In diesem Zusammenhang ist auf eine wichtige Besonderheit EU-Europas hinzuweisen: Als einziges regionales Integrationsgebilde auf der Welt trägt EU-Europa supranationale und suprastaatliche Züge und funktioniert nicht ausschließlich als »gemeinsamer Markt«, sondern – zumindest dem Anspruch nach – als »soziales Meganetzwerk«, als „Sammelbecken für Ressourcen und Initiativen und als einheitlicher Rechtsraum mit einem umfangreichen Regelwerk, das von einer europäischen Judikative selbst gegenüber den Nationalstaaten wachsam und energisch umgesetzt wird“ (Therborn, 2000: 13).

Internationale Demokratiedefizite und die Nationalstaaten

Allen drei Ebenen sind mehr oder weniger große Demokratiedefizite gemein. Diese Machtungleichgewichte sind nicht zufällig, sie sind funktional in Bezug auf das System: Sie sind dort am größten, wo die globale Bedeutung der Institutionen für die Funktionsweise des Systems am höchsten ist. Am krassesten ist die Exklusivität bei der G7/8. Selbst in den Bretton-Woods-Institutionen gibt es demgegenüber Elemente der Repräsentation des Südens. Allerdings sind die Stimmenverhältnisse extrem ungleich verteilt: Das systematische Machtungleichgewicht im IWF wird im wesentlichen durch ein Stimmrechtssystem konsolidiert, das den Industrieländern gesicherte Mehrheiten und den USA in den meisten Fragen eine Sperrminorität sichert. Mit einem Stimmenanteil von 17,5 Prozent können letztere in allen zentralen Fragen Entscheidungen blockieren. Da wichtige Fälle, wie die Entscheidungen über Quotenerhöhungen, die im IWF einer Mehrheit von 85 Prozent bedürfen, in den USA nicht nur in die Zuständigkeit der Regierung, sondern auch des Kongresses fallen, werden derartige Entscheidungen letztlich vom Parlament eines einzigen IWF-Mitgliedslandes gefällt (Mohammed, 2000). Da die Stimmrechte der Mitgliedsländer auf der Verteilung der Quoten im IWF beruhen, aber auch eine Änderung der Quotenverteilung einer Mehrheit von 85 Prozent bedarf, gehört es zweifellos zu den schwierigsten Aufgaben einer konsequenten Reform der global economic governance, die strukturelle Macht-Asymmetrie innerhalb des IWF aufzubrechen.1

Die überragende Rolle der G7/8 innerhalb der Struktur globaler ökonomischer Governance verweist im übrigen darauf, dass die Nationalstaaten, wenngleich ihre Kompetenzen im Rahmen des neuen globalen Konstitutionalismus unterminiert werden, keineswegs schlechthin zur Bedeutungslosigkeit verurteilt sind; vielmehr erhöht sich vor allem das Gewicht der mächtigsten unter ihnen, wodurch der ungleiche Charakter des globalen Machtsystems weiter akzentuiert wird. Ein Musterfall für den Missbrauch des Multilateralismus zur Durchsetzung unilateraler Ziele stellt die Politik der USA dar. (Auch die seit dem 11. September verstärkten Bemühungen um eine Einbeziehung von Verbündeten in den »Anti-Terror-Krieg« kann bestenfalls als hegemonialer Multilateralismus klassifiziert werden).

Die Bedeutung alternativer Governance-Modelle

Es gibt verschiedene denkbare Modelle, die an die Stelle der ungleichen internationalen Machtstrukturen im Bereich der global economic governance treten könnten: ein Weltwirtschaftlicher Sicherheitsrat statt des G8-Direktoriums; ein nach dem PPP-Modell neu moduliertes Stimmrechtsmodell im IWF (Griffith-Jones/Kimmis, 2001) oder auch ein erweitertes Stimmrechtsmodell, das neben der ökonomischen Potenz auch die Bevölkerungszahlen und qualitative Kriterien, wie die Bewertung im Rahmen des Human Development Index (HDI) berücksichtigt (Falk, 2001). Eine diesbezügliche Reform des IWF muss sich nicht unbedingt am UN-Modell »Ein Land – eine Stimme« orientieren. Denkbar sind auch gemischte Governance-Modelle, etwa nach dem Muster des Montreal-Fonds oder der Globalen Umweltfazilität (GEF); diese schließen gegenseitige Majorisierungen aus und stützen sich dennoch auf ein wesentlich symmetrischeres Repräsentationsmodell als die traditionellen Bretton-Woods-Institutionen.

Da die internationalen Machtungleichgewichte jedoch funktional in Bezug auf das System sind, reicht zu ihrer Überwindung der bloße »Wettbewerb« demokratischerer Modelle nicht aus. Ebenso verkürzt wäre die Beschränkung auf die Identifikation von Funktionsmängeln der existierenden Governance-Strukturen im Rahmen des herrschenden Paradigmas und die bloße Effizienzsteigerung im internationalen System, wie dies für die bisherige Debatte um eine »Neue Internationale Finanzarchitektur« der Fall war. Die Alternative liegt in einem Konzept demokratischer und pluralistischer Global Governance. Ein solches Konzept schließt die Überwindung ungleicher Machtstrukturen und des herrschenden, neoliberalen Paradigmas ein. Es bleibt dabei insbesondere auf die globale Mobilisierung von unten angewiesen.

Neue Rolle für globale soziale Bewegungen

In der gewachsenen Bedeutung internationaler Organisationen liegt bei aller Kritik auch eine wichtige Chance zur Veränderung. In dem Maße wie eine wachsende Zahl von Menschen dies erkennt, wächst auch der Wille, die Politik dieser Institutionen zu beeinflussen; es entsteht so etwas wie ein „contest over global governance“ (O‘Brien/Goetz/Scholte/Williams, 2000): Seit den 80er Jahren können wir eine zunehmende Interaktion zwischen internationalen Wirtschaftsorganisationen und globalen sozialen Bewegungen (GSB) beobachten. Darin spiegeln sich erste Anfänge des Übergangs vom alten (exklusiv staatlichen) zu einem neuen Multilateralismus, der anerkennt, dass auch nichtstaatliche Akteure, z.B. NGOs, öffentliches Interesse zum Ausdruck bringen. Gegenstand der Auseinandersetzung ist in aller Regel die spezifische Form, in der der Globalisierungsprozess organisiert wird. Institutionen wie G7, IWF, Weltbank und WTO „treiben einen Prozess der Liberalisierung der Weltwirtschaft voran, in dem mehr und mehr gesellschaftliche und ökonomische Bereiche der Disziplin und den Imperativen der Marktkräfte unterworfen werden. GSBs engagieren sich oft als defensive Bewegungen gegenüber derartigen Zwängen. Dabei fordern sie die neoliberale Philosophie und die materiellen Interessen heraus, die hinter der Politik der multilateralen Institutionen steht. In der Tat gibt es Elemente innerhalb der GSBs, die wir untersuchen, die anti-systemisch insofern sind, als sie die Prinzipien, auf denen der existierende Multilateralismus beruht, herausfordern.“ (O‘Brien et al., 2000: 18f)2 Gramcianisch ausgedrückt: Es entsteht auch auf internationaler Ebene ein »vorstaatliches« Terrain, in dem um die Hegemonie gerungen wird: Global Governance wird zu einem »Feld« (Pierre Bourdieu) der Entfaltung sozialer Kämpfe.

Institutionelle ohne paradigmatische Veränderungen?

Veränderungen sind bis heute im wesentlichen auf institutionelle Modifikationen beschränkt, substantiell jedoch hat sich noch keine explizit neue politische Agenda durchgesetzt:

Während das Verhältnis der Bretton-Woods-Institutionen gegenüber den Vereinten Nationen jahrzehntelang durch eine Art einseitiger Unabhängigkeitserklärung ersterer gekennzeichnet war (obwohl diese formal immer Bestandteil des UN-Systems waren), hat im Nachgang zum Weltsozialgipfel ein (allerdings sehr bescheidener) Wandel eingesetzt. Inzwischen treffen die Führungsspitzen des IWF und der Weltbank regelmäßig mit dem UN-Generalsekretär zusammen und erstatten einmal pro Jahr auch dem UN-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) Bericht.

Gewisse Fortschritte konnten auch die NGOs mit ihren Forderungen nach der Veröffentlichung wichtiger Dokumente, etwa der »Letters of Intent«, zentraler Programmevaluierungen oder der Berichte über die Kapitel-IV-Konsultationen (wobei letzteres allerdings an die Zustimmung der betroffenen Mitgliedsregierungen gebunden bleibt) sowie in Bezug auf die Schaffung regelmäßiger Konsultationsmechanismen erreichen.

Gleichwohl spiegelt sich in diesen Veränderungen ein Dilemma, das besonders für NGOs von Bedeutung ist: Unter dem Aspekt wünschenswerter Korrekturen der Weltgemeinschaft an der politischen Ausrichtung der Bretton-Woods-Institutionen ist beispielsweise eine Berichtspflicht des IWF vor der UNO dann von beschränktem Wert, wenn sich auch dort – wie in jüngster Zeit zu beobachten – die Maximen der Marktgläubigkeit, der Privatisierung und Deregulierung verstärkt durchsetzen (Brühl/Debiel/Hamm/Hummel/Martens, 2001). Und auch die Durchschlagskraft von sozialen Bewegungen und NGOs gegenüber den Institutionen der globalen ökonomischen Governance bleibt letztlich von einem politischen und gesellschaftlichen Paradigmenwechsel abhängig. Bleibt dieser aus, können institutionelle Reformen, wie die Einbeziehung von NGOs, die überkommene Politik sogar noch stärken, indem über ihre Kooptation Ressourcen (z.B. Expertise) abgeschöpft und die Durchsetzungsstrukturen der herrschenden Politik sogar noch effektiviert werden.

Literatur

Bello, Walden (1994): Dark Victory. The United States, Structural Adjustment, and Global Poverty, London.

Brühl, Tanja/Tobias Debiel/Brigitte Hamm/Hartwig Hummel/Jens Martens (Hg.) (2001): Die Privatisierung der Weltpolitik. Entstaatlichung und Kommerzialisierung im Globalisierungsprozess, Bonn.

Falk, Rainer (2001): Die Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF). Zwischenbilanz und Perspektiven der internationalen Debatte, WEED Arbeitspapier, Bonn.

Gill, Stephen (2000): The Constitution of Global Capitalism, Paper presented to a Panel. The Capitalist World, Past and Present at the International Studies Association Annual Convention, Los Angeles.

Griffith-Jones, Stephany/Jenny Kimmis (2001): The Reform of Global Financial Governance Arrangements, Report prepared for the Commonwealth Secretariat, Institute of Development Studies/University of Sussex.

Khor, Martin (2000): Globalization and the South. Some Critical Issues, UNCTAD Discussion Paper, No. 147/April.

Mohammed, Aziz Ali (2000): The Future Role of the IMF. A Developing Country Point of View, in: Teunissen 2000.

O‘Brien, Robert/Anne Marie Goetz/Jaan Aart Scholte/Marc Williams (2000): Contesting Global Governance. Multilateral Economic Institutions and Global Social Movements, Cambridge.

Teunissen, Jan Joost (ed.) (2000): Reforming the International Financial System. Crisis Prevention and Response, The Hague.

Therborn, Göran (2000): Europa im 21. Jahrhundert: das Skandinavien der Welt, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Heft 12/2000.

Anmerkungen

1) Wie das Tauziehen um die »Auswahl« des Nachfolgers von Michel Camdessus auf dem Posten des Geschäftsführenden Direktors des IWF gezeigt hat, ist von dieser Asymmetrie der Machtverhältnisse allerdings keineswegs ausschließlich die »Dritte Welt« betroffen, sondern auch die europäischen Mitgliedsländer, die bislang keineswegs in der Lage sind, mit einer Stimme im Fonds zu sprechen. Ein bescheidener Ansatzpunkt in diese Richtung kann in der Idee von Bundesfinanzminister Eichel gesehen werden, künftig eine gemeinsame Vertretung mit Frankreich im IWF anzustreben. Ein genuin »europäischer« Ansatz sollte jedoch wesentlich stärker die Bündnismöglichkeiten mit dem Süden zur Änderung der Kräfteverhältnisse im IWF ausloten.

2) „are engaged in a process of liberalizing the world economy and subjecting more social and economic areas to the discipline and imperative of market forces. GSMs are often engaged in a defensive movement against such coercion. In many cases, they challenge the underlying neoliberal philosophy and material interests behind MEI policy. Indeed, elements of the GSMs we are examine are anti-systemic in that they challenge the principles upon which existing MEI multilateralism is built“

Rainer Falk, Wirtschaftspublizist, ist verantwortlicher Redakteur des Informationsbriefs Weltwirtschaft und Entwicklung, Bonn

Zauberformeln für eine friedliche Weltordnung?

Zauberformeln für eine friedliche Weltordnung?

Internationale Zivilgesellschaft, lokale Partizipation, Global Governance

von Lutz Schrader

In immer schnellerer Folge werden Rezepte zur Stiftung von Ordnung in den inter-/transnationalen Beziehungen vorgeschlagen und verschlissen. Gegen den spätestens seit Anfang der 1990er Jahre hegemonialen neoliberalen Ökonomismus wurden nacheinander Ideen und Leitbilder aufgeboten. Der erste Kandidat war das Zivilgesellschaftskonzept. Mit dem Rückenwind der demokratischen Revolutionen in den Staaten Mittel- und Osteuropas wurde es von jenen propagiert, die das »Establishment« im Westen mit kapitalismus- und staatskritischem Habitus herausforderten. Aktivisten neuer sozialer Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen fanden im Konzept der Zivilgesellschaft einen identitätsstiftenden Bezug. Wurde hier doch ein Ort »zwischen Staat und Markt« ausgemacht, wo »alternative« Projekte erdacht und umgesetzt werden und von dem aus eine neue emanzipatorische Logik in »die Politik« und »die Wirtschaft« hineingetragen werden sollten.
Angesichts zunehmend grenzüberschreitender Problemlagen und transnationaler Vernetzung von neuen sozialen Bewegungen (NSB) und Nichtregierungsorganisationen (NRO) entstand – zusätzlich stimuliert durch das Aufkommen des neoliberalen Globalisierungsdiskurses – das Bedürfnis nach einem integrierenden und mobilisierenden Leitbild. Was lag da näher, als die Zivilgesellschaftsidee, die es inzwischen zu einiger Reputation und Strahlkraft gebracht hatte, zu internationalisieren?

Von den Verheißungen der »internationalen Zivilgesellschaft«…

In der Idee von der »internationalen Zivilgesellschaft« artikuliert sich eine bestimmte Vorstellung von Weltordnung. Darin stehen »die Weltbürger« – organisiert in neuen sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen, zusammengeschweißt durch weltweite Protestaktionen und unterstützt von einer globalisierungskritischen transnationalen Öffentlichkeit – den internationalen Zusammenschlüssen der Staaten und den transnationalen Unternehmen gegenüber.

So analytisch plausibel und politisch mobilisierend das Zivilgesellschaftskonzept auf den ersten Blick erscheint, so problematisch sind seine tatsächlichen Effekte. Dies hat hauptsächlich mit der Konfusion von Konzept und Leitbild zu tun. Das auf Mobilisierung zielende Leitbild »internationale Zivilgesellschaft« bezieht gerade seine Attraktivität aus der pauschalisierenden Dreiteilung der inter-/transnationalen Politik: »Wir« bürgerbewegten AktivistInnen versus »die« Politiker und Multis.

Doch analytisch-konzeptionell sucht man vergeblich nach einer solchen eindeutigen Unterscheidbarkeit. Politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Problemlagen sind aufs engste, ja bis zur Unentwirrbarkeit miteinander verwoben. Mehr noch: Jenseits souverän-verfasster Staaten stellt die »Weltbürgergesellschaft« ein Unding dar (Kleger 1994: 307). Das Engagement der »Weltbürger« setzt immer auch voraus, dass diese zugleich auch Staatsbürger sind. Ihre Wirksamkeit hängt nicht zuletzt von der »Weltgeselligkeit«, den Handlungsmöglichkeiten und den Machtpotenzialen »ihres« Staates ab. Nur unter dieser Voraussetzung sind die Grenzen der Staaten im Sinne einer zivilisierenden Transnationalisierung der nationalen Politikräume zu überschreiten (ebd.: 313).

Leitbilder dürfen nicht mit rationaler Analyse verwechselt werden. Sie müssen zuspitzen und dramatisieren. Erst durch ihre affektive Aufladung wird es möglich, soziale Kollektive zu mobilisieren. Doch bei aller Eigentümlichkeit ihrer Konstruktion ist ihre Wirkmächtigkeit an einen rationalen Kern – an ein Konzept – gebunden, das ein Minimum empirisch überprüfbarer Informationen und Interpretationen des adressierten Ausschnitts der Wirklichkeit enthalten muss. Eine Spannung zwischen Leitbild und Konzept ist unvermeidlich, ja sogar notwendig. Doch darf die Spannung nicht so groß sein, dass der Zusammenhang zwischen beiden Polen verloren geht.

Auf Grund seiner Unschärfe und Beliebigkeit wurde der Begriff der »internationalen Zivilgesellschaft« zu einem Container für ganz unterschiedliche Vorstellungen. Angefangen von der neuen Internationale der Unterdrückten über die Gesamtheit aller grenzüberschreitend agierenden NSB und NRO bis hin zu einer im Entstehen begriffenen kritischen globalen Öffentlichkeit wurden mit dieser Idee ganz unterschiedliche Vorstellungen verknüpft. Es war deshalb nur folgerichtig, dass sich früher oder später die anfänglichen Hoffnungen und Aktivitäten in einer Art babylonischer Sprachverwirrung selbst blockierten.

Man mag sich damit trösten, dass eine realitätsferne und deshalb eher kraftlose Utopie nur wenig Schaden anzurichten vermag. Doch hieße das, die indirekten Wirkungen der Rede von der »internationalen Zivilgesellschaft« zu unterschätzen. So ist die darin zum Ausdruck kommende romantische Sicht auf die inter-/transnationale Wirklichkeit eher geeignet, die Logik der neoliberalen Globalisierung zu bedienen als dieser entgegenzuwirken. Die in der Idee von der »internationalen Zivilgesellschaft« angelegte Überzeugung, die wichtigen sozialen Kämpfe würden künftig auf der globalen Ebene stattfinden, spielt dem Argument von der Überforderung der Nationalstaaten durch die Globalisierungsprozesse und vom »disembedding« wirtschaftlicher Akteure in die Hände. Der entdifferenzierende Blick auf die »Weltzivilgesellschaft« begünstigte westliche Politikkonzepte und birgt das Risiko der Vernachlässigung der lokalen Ebene.

Bei der Überarbeitung von Konzept und Leitbild ist zu berücksichtigen, dass nationale Zivilgesellschaften ebensowenig wie ihr internationales Pendant friedliche und herrschaftsfreie Oasen sind, wie sie sich mitunter in idealisierten Selbstentwürfen zivilgesellschaftlicher Akteure spiegeln. Die symbolische Grenzziehung gegenüber »den Staaten« und »den Unternehmen« verstellt den Blick auf die interne politische, wirtschaftliche und kulturelle Heterogenität. Angezeigt ist deshalb die aufmerksamere Untersuchung der Wahrnehmung und Handhabung von Problemen je nach Region und Akteur. Es gibt eben keine objektiven Problemlagen, die überall und jederzeit in gleicher Weise als bedrohlich empfunden werden (Heins 2001: 17).

…zur Realität der »lokalen Partizipation«

Nach der Rückkehr vom ernüchternden Ausflug in die Ortlosigkeit der Weltzivilgesellschaft richtete sich nun die Aufmerksamkeit auf handfestere Lösungen und Konzepte. Wie in einer Pendelbewegung geriet nach den hochfliegenden Utopien wieder das Sicht- und Machbare in den Blick. Das Problemlösungs- und Integrationspotenzial lokaler Partizipation wurde nun zum Hebel für die Eindämmung globaler Unordnung. Das Umdenken manifestierte sich in der Wiederentdeckung des Subsidiaritätsprinzips und im Übergang vom hierarchischen Mehrebenen- zu Netzwerkkonzepten. Stichwörter, die den Politikwechsel beschreiben, sind z.B. »local ownership« in der Entwicklungszusammenarbeit, »peace constituencies« in der Konfliktbearbeitung und der Agenda-Prozess. Auf der Akteursebene fand der Wandel nicht zuletzt seinen Niederschlag in der Renaissance eher lokal verankerter sozialer Bewegungen und in zunehmender Skepsis gegenüber »professionalisierten«, »bürokratisierten« und eher global agierenden NRO.

Die Trendwende zum Lokalen ordnet sich in einen weit umfassenderen Kontext ein. Dahinter steht die Wieder(er-) findung des Politischen innerhalb des Staates. Die Illusionen von der Herstellbarkeit stabiler Ordnung »jenseits des Nationalstaates« waren mit den Weltwirtschaftskrisen der 1990er Jahre und dem weltweiten Phänomen reihenweise implodierender Staaten zerstoben. Der Staat wurde wieder zum Thema der Bewältigung globaler Probleme und der Steuerung der wirtschaftlichen Globalisierung. Unter dem Rubrum »Funktions- und Gestaltwandel des Staates« wurde und wird Staatlichkeit nun nicht mehr auf die Problemlösungsfähigkeit der nationalen Regierungen beschränkt.

Die Betonung der lokalen Dimension globaler Ordnungsentwürfe bildet – bewusst oder unbewusst – einen Kontrapunkt zur z.T. bis ins Absurde gesteigerten Emphase des Globalisierungsdiskurses. In der Zuspitzung dieses Gegensatzes liegt ein Großteil des subversiven Potenzials der »Glokalisierung« (Swyngedouw 1992: 61). Denkansätze, die über pragmatische Losungen wie »Global denken und lokal handeln« und säuberlich sortierte Mehrebenen-Modelle hinausgehen, gruppieren sich um das Subsidiaritätkonzept und die Regulationstheorie.

Entgegen der in der Politikwissenschaft immer noch vorherrschenden »Kompetenzvermutung zugunsten des Staates« ist mit dem Subsidiaritätsprinzip nicht etwa gemeint, dass „die unteren Einheiten – Familien, Wohlfahrtsverbände, Kommunen … – in den Dienst der oberen genommen [werden dürfen], weil diese allein nicht mehr zurechtkommen“. (Höffe 1999: 130). Vielmehr müssen „die oberen Einheiten ihre Zuständigkeit nach unten, letztlich vor den betroffenen Individuen rechtfertigen“ (ebd.). Dies bedeutet freilich nicht, dass „grundsätzlich die kleinere und lebensweltlich vertrautere Gemeinschaft, sondern diejenige zu stärken [ist], die jeweils am meisten dem Individuum dient“ (ebd.: 132). Damit wird in das Subsidiaritätsprinzip gleichsam eine Öffnungsklausel hin zur städtisch-regionalen, nationalstaatlichen oder globalen Ordnung eingebaut. Zugleich bleibt aber unbestritten, dass sich jegliche (globale) Ordnung am Grad ihrer Rückbindung an das Individuum messen lassen muss.

Der Zugang der Regulationstheorie ist ein gänzlich anderer. Er versucht die Restrukturierung der verschiedenen Orte, Ebenen und Räume im Zuge der Globalisierung abzubilden. Dabei fällt auf, dass die Schichttorten-Metapher gänzlich ungeeignet ist, die Komplexität und Dynamik der Veränderungen zu erfassen. Besonders der Platz der großen Städte lässt sich in einem Mehrebenen-Modell nicht angemessen darstellen. Dagegen kann die Regulationstheorie zeigen, dass im Handlungsraum der Städte jeweils mehrere Ebenen wie in einem Knoten zusammenlaufen. Auf der lokalen Ebene angesiedelt werden die großen Städte als regionale Ballungsräume zu Schaltstellen der Globalisierung (vgl. z.B. Brenner 1997).

Von der Handlungsfähigkeit der Städte ist in hohem Maße die globale Wettbewerbsfähigkeit der Staaten und Unternehmen abhängig. Staat und Wirtschaft haben darum allen Grund, die Ausformung der großen Städte zu globalen Akteuren aktiv zu unterstützen. Anders als es der Globalisierungsdiskurs nahelegt, behalten Raum und Territorium nicht nur eine zentrale Bedeutung. Die globale Ebene der Kooperation und Konkurrenz zwischen Städten wird durch das horizontale Netzwerk lokaler Akteure konstituiert (ebd.).

Gerade auf der sog. lokalen Ebene wird deutlich, was es bedeutet, eine friedliche und nachhaltige Weltordnung zu stiften. Hier kommen alle relevanten Ingredienzen – von den Ansprüchen jedes einzelnen Menschen bis hin zu den politischen und wirtschaftlichen Machtkomplexen – in den Blick. Alle sog. globalen Probleme setzten sich aus unzähligen lokalen Problemlagen zusammen. Diesseits des Ablenkungsdiskurses über Globalisierung, Globalismus und Globalität ist das Lokale der Ort, wo der Bau einer tragfähigen Weltordnung beginnen und wo er sich bewähren muss.

Im Unterschied zur Rede von der »internationalen Zivilgesellschaft« haben wir es bei primär aufs Lokale bezogenen Ordnungsentwürfen eher mit tiefsinnigen analytischen Konzepten als mit mobilisierenden Leitbildern zu tun. Die Losung »Small is beautiful« hat nicht wirklich verfangen, und selbst der Agenda-Prozess hat seine besten Tage längst hinter sich. Das Aufrufen der Symbolik des Lokalen, des alltäglichen Nahbereiches eignet sich offenkundig nicht als völkerumspannende Mobilisierungsressource. Vielleicht manifestiert sich hier ja auch ein für die Linke charakteristisches Widerstreben, das aus ihrer internationalistischen Tradition und der Geringschätzung von »Kirchturmpolitik« herrührt.

Bei der Suche nach Ursachen muss man wohl noch etwas weiter ausholen. Die Unterschätzung des Lokalen scheint in tief verwurzelten Ängsten vor einer außer Kontrolle geratenden Fragmentierung des Politischen, vor der Auflösung jeglicher Ordnung zu liegen. Nicht zufällig werden bereits Warnungen vor einem »neuen Mittelalter« (Alain Minc) laut. Mit dem Lokalen wird nicht die vermeintliche Idylle des »globalen Dorfes« assoziiert, sondern der globale Bürgerkrieg der Dörfer. Das Unvermögen, von lieb gewordenen Ordnungsvorstellungen Abschied zu nehmen, hat kulturelle Gründe. Doch die eigentliche Ursache ist der Kontrollzwang nationaler und globaler Eliten, die sich – ob nun linker oder rechter Provenienz – schwerlich eine Welt vorstellen können, in der sie nicht das Sagen haben.

Dieser Befund darf das Weiterdenken über den Platz des Lokalen in einer friedlichen und nachhaltigen globalen Ordnung nicht entmutigen. Konzepte wie »human developmen« und »human security« bieten dafür eine Reihe von Anregungen. Sie begreifen den einzelnen Menschen nicht nur als Opfer von Krieg, Flucht, Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung, sondern vor allem als Handelnden bei der Bewältigung und nachhaltigen Prävention von Gefährdungen. Ausgehend davon werden alle anderen Aspekte der Gewährleistung von Entwicklung und Sicherheit, wie Institutionenbildung und Demokratisierung, Menschenrechts- und Umweltschutz, wirtschaftliche Entwicklung und Kooperation thematisiert. Ein Desiderat besteht darin, die in dem Konzept angelegte Nord-Süd-Trennung zu überwinden und die Sicherheits-, Menschenrechts-, Wohlstands-, Umwelt- und Partizipationsprobleme der Menschen in den Ländern des Nordens in das Konzept zu integrieren.

»Global Governance« – ein integrierendes Konzept?

Was zu erwarten war, ist Mitte der 1990er Jahre auch geschehen. Mit dem Global Governance-Konzept erblickte ein Entwurf das Licht der Welt, der für sich in Anspruch nimmt, die weltweit kursierende Vielfalt von Ansätzen zu einer kohärenten globalen Struktur- bzw. Ordnungspolitik zu integrieren: Multilateralismus, Regionalismus, Zivilgesellschaft, Nachhaltigkeit, Weltethik … und lokale Partizipation (Kennedy et al. 2002). Dies ist unbestreitbar sinnvoll. Ein globaler Ordnungsrahmen muss ebenso vielschichtig und komplex sein, wie sich die grenzüberschreitenden und globalen Aufgaben und Regelungsmaterien in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit darstellen. Es bedarf also eines differenzierten analytischen und politischen Instrumentariums, um das gesamte Spektrum von wirtschaftlichen, Umwelt-, Menschenrechts-, Sicherheitsproblemen usw. von der lokalen bis zur globalen Ebene konstruktiv und nachhaltig bearbeiten zu können.

Doch so dringlich die wissenschaftliche und politische Nachfrage nach einem solchen konzeptionellen Alleskönner ist, so vage und unbefriedigend fällt das vorliegende Angebot aus. Nicht nur seine Tauglichkeit als mobilisierendes Leitbild ist begrenzt, auch die analytische Reichweite scheint dem Anspruch nicht angemessen. Wo liegen die Ursachen für das Spannungsverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit? Sind diese dem Ansatz selbst anzukreiden oder liegen sie ganz einfach in dem sisyphos-gleichen Vorhaben, ein Passepartout für alle weltordnungspolitischen Konstellationen liefern zu wollen?

Was den Leitbild-Aspekt angeht, so fällt auf, dass sich der Global Governance-Ansatz hauptsächlich an die politischen Eliten wendet. Entsprechend moderat fällt der Modus der Ansprache aus. Gesetzt wird weniger auf Kritik und Protest als auf Einsicht und Überzeugung. Der Tenor ist konsens- und reformorientiert. Eine technokratische, der Steuerungstheorie entlehnte Sprache mischt sich mit einem emphatischen, an Verantwortung und Gewissen appellierenden Duktus. Der weich gespülte Bedrohungs-, Risiken- und Kosten/Nutzen-Diskurs erinnert nur noch entfernt an die katastrophischen Beschwörungen der 1980er Jahre. Kurz, die Physiognomie des Global Governance-Leitbildes entspricht dem post-utopistischen Zeitgeist.

Während sich die Anhänger des Ansatzes auf diese Weise vielleicht bei politischen (und wirtschaftlichen?) Entscheidungsträgern Zugang und Gehör verschaffen, nehmen sie bestenfalls Skepsis oder Indifferenz bei den sozialen und politischen Milieus in Kauf, die »von unten« Druck machen und auf diese Weise auf die Veränderung der vom Global Governance-Konzept kritisierten Zustände hinarbeiten. Darauf deutet zumindest die Kritik hin, die aus den Kreisen der neuen sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen und von diesen nahestehenden Wissenschaftlern geäußert wird (vgl. z.B. Brand et al. 2000).

Die Global Governance-Autoren und -Propagandisten befinden sich in einem Dilemma: Entweder sie beschränken sich auf die Politikberatung und auf den langen Weg durch die Institutionen und kümmern sich nicht um die »Gutmenschen« und »Sandalistas« in den Bewegungsorganisationen, oder sie spitzen ihre Analyse und ihre Rezepte auf das aktive, globalisierungskritische Segment in der bundesdeutschen, europäischen und vor allem auch globalen Öffentlichkeit zu. Ein Mittelweg scheint nur schwerlich denkbar. Doch vielleicht wäre es ja gerade deshalb reizvoll, eine solche Quadratur des Kreises zu versuchen!?

Was den Konzept-Aspekt des Global Governance-Ansatzes angeht, liegt dessen Wert unbestreitbar darin, einen ganzheitlichen Zugriff auf den gesamten Problemkomplex der Globalisierung zu wagen. Er bietet einen für Weiterentwicklungen offenen Forschungsrahmen, der system- und akteurstheoretische Perspektiven zusammenführt. Mit seiner Hilfe läßt sich vor dem Hintergrund beschleunigter Ausdifferenzierung und Transnationalisierung von Gesellschaften die Notwendigkeit der Entwicklung neuer Formen inter-/transnationaler politischer Steuerung und Problemlösung plausibel begründen. Durch das Aufbrechen der Staatszentriertheit traditioneller Paradigmen wird es möglich, die Partizipation nichtstaatlicher Akteure (z.B. NRO und TNCs) an transnationalen Politikprozessen steuerungs- und demokratietheoretisch zum Thema zu machen.

Zugleich weist der Global Governance-Ansatz – gerade auch aus friedenswissenschaftlicher Sicht – eine Reihe substanzieller Defizite und Inkohärenzen auf (Brand et al. 2000). So wird der Politikbegriff durch eine funktionalistische Verengung auf den Steuerungsaspekt und einen vagen Entgrenzungsdiskurs zu einer technokratischen Residualkategorie. Das überwiegend steuerungstheoretische Konzept bildet die Herrschaftsstrukturen in den internationalen Beziehungen nur unzureichend ab und ist gänzlich blind für die immer noch strukturmächtigen patriarchalischen Gender-Prägungen.

Ein Desiderat der Global Governance-Forschung ist folglich die Integration einer zeitgemäßen Staatstheorie, die unter der Oberfläche subnationaler Dezentralisierung, internationaler Kooperation und trans-/supranationalen Regierens die herrschafts- und demokratiepolitischen Implikationen sichtbar macht. Zugleich könnte ein so geschärfter analytischer Blick unrealistische Hoffnungen bezüglich der Leistungsfähigkeit nationaler und übernationaler Staatlichkeit bei der Wiedereinbettung von dereguliertem Wirtschaftshandeln zurückschrauben. Gebraucht wird ein theoretisches Konzept, das den Gestalt- und Funktionswandel des Staates im Norden, die Auflösung und (Neu-)Formierung von Staatlichkeit im Süden und die Herausbildung von Elementen von Staatlichkeit auf der trans-/supranationalen Ebene schlüssig und produktiv miteinander verbindet.

Fazit

Beim Entwurf einer nachhaltigen und friedlichen Weltordnung ist zu bedenken, dass ein auf Wirkung und Akzeptanz zielender Ansatz den Doppelcharakter von Konzept und Leitbild zu berücksichtigen hat. Beide verweisen im Idealfall aufeinander. Eine besondere Herausforderung besteht darin, unterschiedliche Zielgruppen mit ein und demselben Leitbild anzusprechen. Wichtige Merkposten eines kooperativen globalen Ordnungsentwurfs sind:

  • die Akzeptanz des Subsidiaritätsprinzips als zentralen ordnungs- und demokratiepolitischen Maßstab;
  • die vorrangige Berücksichtigung des „Lokalen“ mit seinen je konkreten kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Besonderheiten sowie seiner Verwobenheit mit dem Regionalen, Nationalen und Globalen;
  • die Zusammenführung der Nord- und der Süd-Perspektive in einem kohärenten Ansatz;
  • die Konzeptualisierung der Rolle von Macht- und Herrschaftsbeziehungen bei der Herstellung und Abgrenzung von Ordnungen;
  • die Thematisierung staatlicher und wirtschaftlicher Akteure sowohl als Konkurrenten wie auch als Kooperationspartner zivilgesellschaftlicher Akteure bei Gewährleistung einer nachhaltigen und friedlichen Weltordnung.

Literatur

Brand, Ulrich/Brunnengräber, Achim/Schrader, Lutz/Wahl, Peter (2000): Global Governance. Alternative zur neoliberalen Globalisierung? Westfälisches Dampfboot, Münster.

Brenner, Neil (1997): Globalisierung und Reterritorialisierung: Städte, Staaten und die Politik der räumlichen Redimensionierung im heutigen Europa, in: WeltTrends, Heft 17, Winter, S. 7-30.

Heins, Volker (2001): Der Neue Transnationalismus. Nichtregierungsorganisationen und Firmen im Konflikt um die Rohstoffe der Biotechnologie, Campus Verlag, Frankfurt/M., New York.

Höffe, Otfried (1999): Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, C.H. Beck: München.

Kennedy, Paul/Messner, Dirk/Nuscheler (2002): Global Trends & Global Governance, Pluto Press, London, Sterling, Virginia.

Kleger, Heinz (1994): Reflexive Politikfähigkeit. Zur Verschränkung von Bürger- und Staatsgesellschaft. In: Gebhardt, Jürgen / Schmalz-Bruns, Rainer (Hg.): Demokratie, Verfassung und Nation. Die politische Integration moderner Gesellschaften, Baden-Baden, S. 301-319.

Swyngedouw, Eric, (1992): The Mammon quest: »glocalisation«, interspatial competition and the monetary order – the construction of new scales, in: Dunford, Mick/Kafalas, Grigoris (Hrsg.): Cities and regions in the new Europe, Belhaven Press, New York, S. 39-67.

Dr. Lutz Schrader, Institut Frieden und Demokratie an der FernUniversität Hagen

Unordnung statt Unterordnung?

Unordnung statt Unterordnung?

von Jürgen Nieth

Fast ein halbes Jahrhundert war die Weltordnung stabil. Nach den Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges hatten allen voran die Alliierten mit den Vereinten Nationen eine Instanz geschaffen, die den Frieden sichern sollte und den Krieg als Mittel der Politik verdammte. Die ökonomisch mächtigen und hochgerüsteten Länder führten keine Kriege mehr gegeneinander. Das lag sicher nicht nur an den Vereinbarungen, es war vor allem der Tatsache zuzuschreiben, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt der atomaren Hochrüstung die direkte militärische Konfrontation zwischen den Staaten der NATO und denen des Warschauer Paktes die Gefahr des eigenen Untergangs beinhaltete.

Trotzdem war diese Zeit nicht kriegsfrei. In der »eigenen« Hemisphäre operierte jede der beiden Supermächte fast nach Belieben: Kaum ein Land Lateinamerikas, das in den 50er und 60er Jahren von US-amerikanischen Militär- und Geheimdienstoperationen verschont blieb, die Sowjetunion zeigte in Ungarn, Polen und der CSSR, dass sie bereit war, alle Mittel zur Sicherung ihres Einflussgebietes einzusetzen. Im Rest der Welt gab es nur wenige bewaffnete Konflikte, bei denen die Exponenten der beiden Lager nicht ihre »Finger im Spiel« hatten. Die Weltordnung war aber nur gefährdet, wenn ein Konflikt die Machtbalance zu verschieben drohte, so während des Korea-Krieges, der Kuba-Krise, der Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa.

Die Nachkriegsordnung, das war Stabilität auf einem Pulverfass! Keiner weiß, wie oft und nah wir an der Katastrophe vorbeigeschrammt sind. Mit dem Ende der »Nachkriegzeit« verbanden sich viele Hoffnungen auf Abrüstung, auf eine Friedensdividende, einsetzbar zur Beseitigung sozialer Ungerechtigkeit, des Nord-Süd-Gefälles usw. Doch die Nach-Nachkriegsordnung sollte anders aussehen.

Bereits Anfang der 90er Jahre formulierten ostdeutsche »Wendeskeptiker«: „Der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist nur übriggeblieben.“ Sie hatten miterlebt, wie nach dem Abtritt des »Sozialistischen Weltsystems« die Chancen für eine neue zivile und auf soziale Gerechtigkeit und Ausgleich bedachte Ordnung vertan wurde: Kohl verwechselte die Ausdehnung des eigenen Machtbereichs mit Wiedervereinigung, und auf der internationalen Bühne nutzten die USA die Gunst der Stunde und starteten zur Durchsetzung ihrer Interessen den Golfkrieg II.

Das Denken der Herrschenden blieb militärisch dominiert. So wundert es dann auch nicht, dass die NATO, deren Existenz fast 50 Jahre lang mit der Bedrohung aus dem Osten begründet wurde, auch nach Auflösung der Warschauer-Vertrags-Organisation bestehen blieb, dass nach dem Wegfall des Gegners nicht umfassend abgerüstet, sondern der Zweck der NATO umdefiniert, der Einsatzraum erweitert und nach neuen Gegnern gesucht wurde.

„Nach dem 11. September ist die Welt nicht mehr die, die sie einmal war.“ Das hört man immer wieder. Aber was hat sich verändert für die »Weltordnung«? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus, dass die USA zum ersten Mal auf ihrem Territorium angegriffen wurde – nicht von einem Staat, sondern von Terroristen? Werfen wir jetzt unsere ganze Kraft in die Waagschale, um die existierenden Konflikte zu lösen, um politische, religiöse und soziale Diskriminierungen abzubauen, um die internationale Zusammenarbeit zu stärken? Verbessern wir die Vorrausetzungen, um mit zivilstaatlichen Methoden den Terrorismus zu bekämpfen? Es sieht nicht danach aus. Im Gegenteil: »Krieg gegen den Terror« – das ist Politik von vorgestern, die glaubt, dass politische Konflikte militärisch lösbar sind.

Bereits von der Clinton-Administration wurde 1997 im Rahmen der »Nationalen Sicherheitsstrategie« betont, dass „unsere Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen… unauflösbar miteinander verknüpft“ sind. Schon vor dem 11.09. hatten die USA militärtechnisch einen uneinholbaren Vorsprung. Trotzdem kündigten sie im Sommer 2001 ein gigantisches Rüstungsprogramm an, das nach dem 11.09. noch erhöht wurde. Im letzten halben Jahr konnten die USA in Gebieten Militär stationieren, die ökonomisch sehr interessant sind und von denen sie früher nur geträumt haben. Offensichtlich ist die Bush-Regierung davon überzeugt, sich aus dieser »Position der Stärke« heraus allen unbequemen internationalen Vereinbarungen widersetzen zu können: Rüstungskontrollverträge werden gekündigt, Umweltschutzabkommen blockiert und dem Internationalen Strafgerichtshof wird sogar gedroht.

Die alte Politik der Stärke war mitverantwortlich für zahlreiche Konfliktherde und die Verelendung ganzer Regionen, sie hat beigetragen zu dem Hass, der den USA in weiten Teilen der Welt entgegenschlägt, sie hat den Boden bereitet, auf dem Terrororganisationen heute ihre Kämpfer rekrutieren.

Die gegenwärtige US-Offensive zur umfassenden Alleinherrschaft löst keine der für unsere Zukunftsgestaltung wichtigen Fragen und sicher auch nicht das Problem des Terrorismus. Sie vergrößert die Distanz zu den armen Ländern und zu den engsten Verbündeten. Um nicht zu Vasallen zu werden, müssen sie eine eigenständige Politik betreiben im Widerspruch zu der Bush-Administration. Notwendige Unordnung statt Unterordnung!

Jürgen Nieth

Die Amerikaner als Nachfolger Roms?

Die Amerikaner als Nachfolger Roms?

Strategische Konfliktmuster auf dem Balkan / Interview mit Willy Wimmer

von Willy Wimmer, Karl D. Bredthauer und Margund Zetzmann

Die Redaktion der Blätter für deutsche und internationale Politik hat in ihrer September-Ausgabe ein Interview mit dem CDU-MdB und ehemaligen Staatssekretär im Verteidigungsministerium Willy Wimmer zur Lage auf dem Balkan geführt. Mit freundlicher Genehmigung von Redaktion und Verlag der »Blätter« drucken wir dieses Interview leicht gekürzt nach. In diesem Interview nimmt Willy Wimmer auch Bezug auf einen offenen Brief von ihm an Bundeskanzler Schröder vom Mai dieses Jahres, den wir gleichfalls dokumentieren.

Da hat die NATO massiv interveniert, Jugoslawien bombardiert, das Kosovo-Protektorat eingerichtet, Milosevic sitzt in Den Haag ein – aber auf dem Balkan geht es immer weiter. Wieso? Jetzt knallt es in Mazedonien – vorher hatten wir die albanischen Terroristen in der demilitarisierten Zone unter den Augen der NATO, davor die – man muss wohl sagen: – Farce einer Entwaffnung der UCK im Kosovo selbst und, ebenfalls unter den Augen der NATO, die Vertreibung der Serben, Roma, Juden, verschiedener Minderheiten, die Bedrängnis der katholischen Albaner und so weiter. Wie oft kann man in aller Unschuld den gleichen Fehler wiederholen? Die offiziellen Erklärungen zum Umgang mit Mazedonien und mit der geplanten Operation »Essential Harvest« beleidigen den gesunden Menschenverstand. Es stellt sich die Frage, ob hinter der Serie vermeintlicher Irrtümer und Versäumnisse, Fehltritte und Entgleisungen, Pech und Tragik auf dem Balkan vielleicht doch ein Muster steckt. Sie, Herr Wimmer, gehen davon aus, dass es, zumindest auf amerikanischer Seite, eine langfristige Strategie gibt, die Schritt für Schritt umgesetzt wird. – Eine gewagte These, mit der Sie sicherlich ungläubige Mienen und betretene Reaktionen ernten…

Um bei Letzterem anzufangen: Nein, überhaupt nicht. Die Reaktionen sind hochinteressant. Ich stoße keineswegs auf Ungläubigkeit und erstaunte Gesichter. Vielleicht sind die Leute heute – quer durch das öffentliche Bild – so aufgeschlossen, weil sie das Gefühl haben, dass man sie im Zusammenhang mit dem Jugoslawien-Krieg gnadenlos über den Tisch gezogen hat.

Welche Leute haben Sie im Auge?

Vor allem die Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag, aber auch viele aus den deutschen Medien.

Was lässt diese Leute positiv auf Ihre kritischen Thesen reagieren?

Das Bewusstsein dafür, dass Dinge, wie sie in den zurückliegenden Jahren abgelaufen sind, auf Dauer nicht ablaufen können, ohne uns alle zu gefährden. Man ist der Auffassung, wenn wir nicht zu der globalen Rechtsordnung zurückkehren, bekommen wir das Faustrecht. Das beunruhigt die Leute zunehmend, natürlich auch im Zusammenhang mit unserer Mitgliedschaft in der NATO. Man ist der NATO unter dem Gesichtspunkt eines klar umrissenen Auftrages beigetreten: Verteidigung. Und mit der klaren Aussage, dass es sich um eine Wertegemeinschaft handelt. Man ist ja keiner Gang beigetreten, die nach außen das Faustrecht praktiziert und wo der Stärkste auch intern dominiert. Aber die Entwicklung weist seit geraumer Zeit Dissonanzen auf und in Zusammenhang mit der aktuellen Entwicklung in Mazedonien sieht man, dass, jedenfalls nach der internationalen Berichterstattungslage, das amerikanische Tun und die strategischen Überlegungen, die dahinter stecken, in einem Gegensatz stehen zu dem, was die europäischen Staaten wollen…

Und wie sollen die Europäer, wie sollen Bundesregierung und Bundestag mit der entstandenen Situation umgehen?

Wir kennen die Verdrängungsmechanismen der letzten Jahre, aber vor wenigen Wochen ist für diese Verdrängungsphilosophien ein Schlusspunkt gesetzt worden: in der Verhandlung des Bundesverfassungsgerichtes über die vorliegende PDS-Klage.1 Man hätte sich in der deutschen politischen Diskussion der zurückliegenden Jahre die Sorgfalt gewünscht, die die Richter in Karlsruhe an den Tag gelegt haben. Ich finde, was das Bundesverfassungsgericht da gemacht hat, ist für das politische Bewusstsein unseres Volkes – man muss jetzt natürlich noch das Urteil abwarten – von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Egal, wo jemand in dieser Sache bisher gestanden hat: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass in Karlsruhe Fragen auf den Tisch gekommen sind, die vorher weggedrängt wurden. Auch unter einem anderen Aspekt: Es gibt bis heute viele Leute, die den Generalbundesanwalt veranlassen wollen, gegen diejenigen vorzugehen, die den Krieg gegen Jugoslawien auf deutscher Seite zu verantworten haben. Erstaunlicherweise präsentiert der Generalbundesanwalt diesen Leuten immer noch Erklärungen, die selbst der Außen- und der Verteidigungsminister, die diese Erklärungen damals abgegeben haben, heute nicht mehr verwenden. Diese Menschen bekommen also über den Krieg als solchen hinaus einen weiteren, wie ich finde, verheerenden Eindruck vom System der Bundesrepublik Deutschland. Der Generalbundesanwalt nimmt ihnen den Glauben in die Funktionsfähigkeit des Systems. Die Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht hat hier, aus meiner Sicht zum Glück, einen Halt gesetzt. Vor diesem Hintergrund kann man alles, was wir politisch in Deutschland und auch international zu erwarten haben, auf den Herbst vertagen, weil da die Bundesregierung und wer auch immer in Deutschland die Karten gelegt bekommen wird. Ich glaube, auch die Bundesregierung und alle, die an diesem Krieg in besonderer Weise beteiligt waren, sehen das so. Da kommt was auf uns zu.

Skizzieren Sie kurz die Substanz dessen, was an den Fragen der Karlsruher neu ist?

Es ging um all die Fragen, die in der Öffentlichkeit gestellt worden sind – vom Völkerrecht bis hin zu der tatsächlichen Situation, die den Anlass zum Kriegseinsatz gab, und ob das seinerzeitige Verhalten vor dem Hintergrund der rechtlichen Überprüfung Bestand hat. Das fängt mit der Frage an: Zu welchem Zweck gibt es die NATO eigentlich? Ist das ein Verteidigungsbündnis oder kann sie weltweit eingesetzt werden, je nach der Interessenlage eines wichtigen Mitgliedstaates. Hinzu kommt die Frage, wie Gewalt international überhaupt zu legitimieren ist, wenn ich sie anwende. Beachte ich das Regelwerk der Vereinten Nationen oder mache ich aus Opportunitätsgründen das, was ich will? Die Interessenlage der USA scheint offensichtlich eine andere zu sein als die europäischen Interessenlagen. Da fragt man sich natürlich im Nachhinein noch, welche Auswirkungen hat diese Interessendivergenz für den Krieg gegen Jugoslawien gehabt? Ist uns da was vorgemacht worden oder sind das stringente Abläufe gewesen? Und man kommt mehr und mehr zu der Fragestellung, ob nicht die Prozesse, die insgesamt seit 1990 auf dem Balkan abgelaufen sind, von vorneherein einer amerikanischen Überlegung gedient haben: eine Präsenz auf dem Balkan zu bekommen, die es seit 1945 nicht gegeben hat. Ich denke an strategische Überlegungen, die einmal mit der Situation in Europa zusammenhängen und auf der anderen Seite natürlich mit der Rolle der Vereinigten Staaten, erstens in dem Problemfeld Naher Osten und zweitens bei den bekannten Energiefragen, die um das Kaspische Meer und um die Pipelineverbindungen nach Europa usw. angesiedelt werden müssen.

Konzentrieren wir uns auf die USA und die unterstellte Strategie: Braucht man dafür tatsächlich Krieg? Man sollte im Übrigen nicht aus den Augen verlieren, dass auf dem Balkan zunächst einmal die deutsche Politik Vorreiter der Entwicklung zu ethnisch bestimmten Nationalstaaten war, mit der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens 1991/92. Bleibt zu fragen, aus welchen Gründen die Amerikaner, zu einem späteren Zeitpunkt, auf diese ethnische Strategie eingeschwenkt sind.

Es fragt sich, ob wir nicht vor dem Hintergrund der Dinge, die wir heute sehen, noch weiter zurückgehen müssen. Wir haben im Vorfeld des Krieges gegen Jugoslawien gesehen, dass es bei uns einen fast schon aggressiven Unwillen gab, sich mit der Situation zu beschäftigen, die in diesem Raum zwischen1945 und 1990 bestand – möglicherweise deshalb, weil dabei bequeme Feindbilder in Frage gestellt worden wären. Außer Zweifel steht, dass die Vereinigten Staaten sehr frühzeitig auf die albanische Karte gesetzt haben, in Zusammenhang mit ihrem (offiziell 1997) gegen den Willen der jugoslawischen Regierung in Priština eingerichteten Verbindungsbüro und den langjährigen Aktivitäten des ehemaligen republikanischen Fraktionsvorsitzenden im US-Senat Bob Dole.

Versäumnisse im Zweiten Weltkrieg

Ich habe selber Anfang Mai vergangenen Jahres an einer Konferenz in Bratislava teilgenommen, auf der höchstrangige amerikanische Repräsentanten sich über ihre Strategie zum Balkan ausgelassen haben. Die Veranstaltung war organisiert vom amerikanischen Außenministerium und der Denkfabrik der Republikanischen Partei, dem American Enterprise Institute. Zu den Teilnehmern gehörten Ministerpräsidenten, Außenminister, Verteidigungsminister, der persönliche Beauftragte des NATO-Oberbefehlshabers und, und, und – darunter auch jemand, der, wenn die Namensgleichheit stimmt, heute Staatssekretär im amerikanischen Außenministerium ist. Auf dieser Konferenz spielte im Prinzip all das, was uns zwischen 1992 und1999 berührt hat, keine Rolle mehr. Da wurde in aller Klarheit gesagt: Der Grund, warum wir auf den Balkan gegangen sind, liegt in den Versäumnissen des Zweiten Weltkrieges, als Eisenhower es unterließ, dort Bodentruppen zu stationieren. Das mussten wir unter allen Umständen nachholen. Warum? Aus den Gründen, die immer mit der Stationierung von Bodentruppen verbunden sind, nämlich Kontrolle über eine Region zu bekommen. Das lässt sich weder von Flugzeugen noch von Schiffen aus machen. Zweiter Punkt: Es wundert mich schon, wenn – wie in Bratislava – die Frage der europäischen sicherheitspolitischen Identität oder europäischer Verteidigungsstrukturen von amerikanischer Seite wie der leibhaftige Gottseibeiuns behandelt wird. Alles, was auf einen eigenständigen europäischen Willen ausgerichtet ist, wird in dieser Sicht als höchst kritisch bewertet. Ich beklage das nicht, ich sage nur, das wird deutlich ausgesprochen und ich muss mich als Europäer fragen, wie ich darauf antworte und ob ich solche Verlautbarungen als die »Gesetze Moses« ansehe oder mir Gedanken darüber mache, wie meine eigenen Interessen aussehen. Ein dritter Punkt in diesem Kontext: Die Amerikaner empfinden sich auf seltsame Weise als Nachfolger Roms. Nach dem Motto: Die Römer haben das Mittelmeer als Mare Nostrum und die nordafrikanische Gegenküste als ihr Betätigungsfeld betrachtet und wir, die Amerikaner, sehen den Atlantik als unser Mittelmeer, als unser Mare Nostrum, und Europa als unsere Gegenküste. Deswegen gelte es eine Linie zu ziehen von den Ostseezugängen nach St. Petersburg über die baltischen Staaten bis nach Odessa am Schwarzen Meer, von Odessa nach Istanbul und dann nach Anatolien. Alles, was östlich davon ist – das sage ich jetzt mit meinen Worten – interessiert uns nicht, alles, was westlich davon liegt, ist unser. Ziel müsse es sein, einen ungehinderten Zugang westlich dieser Linie Baltikum-Odessa-Anatolien zu haben, um eine durchgehende Landverbindung auf eigenem Territorium zwischen Anatolien und Polen sicherzustellen. Angesichts unserer heutigen Mazedonienerfahrung erweisen sich die Aussagen dieser Konferenz als höchst politisch. Das sind keine Spekulationen, das läuft auf praktische Politik hinaus. Wir hören gerade in diesen Tagen – das wird zwar dementiert, aber wir wissen auch, wie Dementis zu bewerten sind – , dass es Verhandlungen zwischen der NATO, der amerikanischen Seite und der jugoslawischen Zentralregierung über Stützpunktrechte auf dem Balkan gibt. Das betrifft die langfristige Legitimation von Camp Bondsteel im Kosovo und darüber hinaus die Bereitstellung eines Luftwaffenstützpunktes und einer Radarstation in Serbien. Wenn ich das sehe, kann ich nur sagen: Man hat mir und anderen in Bratislava offensichtlich nichts vorgemacht.

Wie haben denn die anderen Teilnehmer dort reagiert? Es waren ja wohl eine Reihe Ost- und Südosteuropäer darunter…

Na ja, die Osteuropäer erinnern sich noch an ihre Situation im Warschauer Pakt …

Das heißt?

Man nimmt hin, was der große Bruder sagt. – Ich habe jedenfalls den Ablauf dieser Veranstaltung und die Inhalte, die da präsentiert wurden, so ernst genommen, dass ich dem Bundeskanzler in einem Brief (siehe Kasten – d. Red.) darüber berichtet habe.

Ähnliche Szenarien, wie die von Ihnen hier skizzierten, hat man zu Beginn des Kosovokriegs aus ganz anderen politischen Richtungen gehört. Ich erinnere mich z. B. an eine Veranstaltung mit Jutta Ditfurth, die einem ungläubigen Publikum genau solche Vorstellungen klar zu machen versuchte: Die Amerikaner wollen den Zugang zum Kaspischen Meer, Öl- und Gaslieferungen usw.

Ich verstehe die Skepsis. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie es mir ging. Ich kam nach Bratislava im Bewusstsein der offiziellen Erklärungen der NATO und der Bundesregierung zum Kosovokrieg. Da war ja Humanität das oberste. Und dann sagt jemand in einem mit zahlreichen Landkarten illustrierten Vortrag – übrigens eingeleitet mit der Bemerkung: Dieser Vortrag richtet sich eigentlich an ein amerikanisches Publikum – , was die eigentliche Triebfeder der Entwicklung war.

Bleibt natürlich die Sinnfrage: Wieso Krieg führen oder schüren, um in Südosteuropa Truppen stationieren zu können? In der Region, die Sie umrissen haben, drängen ja Regierungen jeglicher Couleur in die NATO …

Was die Situation auf dem Balkan angeht, ist letzter Stand der Dinge, dass höchstrangige Gesprächspartner aus der gesamten Region auf folgendes aufmerksam machen: 1. Das, womit sich Belgrad im Augenblick beschäftigt, ist die Frage, werden die Pipelines für das Öl aus dem Kaspischen Meer nördlich von Belgrad verlaufen oder über Kosovo-Gebiet. Als ich vor zweieinhalb Jahren darauf aufmerksam gemacht habe, dass das eine Fragestellung sein könnte, bin ich von dem einen oder anderen sehr kritisch angegangen worden. Inzwischen ist das fast gesetztes Wissen. 2. Es spricht auch eine Menge dafür – so sehen das jedenfalls Gesprächspartner aus der Region – , dass die Situation auf dem Balkan eine Art Kompensation für den Konflikt im Nahen Osten darstellt, nach dem Motto: Letztlich wird ein Einvernehmen zwischen der israelischen und der palästinensischen Seite nicht zustande zu bringen sein und um das generelle Einvernehmen mit der islamischen Welt, das man braucht, nicht zu gefährden, versuchen die Amerikaner den Balkan zu einer Reservefläche zu machen. Kurz: Das Verständnis und die Einigung, die wir im Nahen Osten mit der islamischen Welt nicht bekommen, werden wir in jedem Fall auf dem Balkan sicherstellen. Es ist ja vielleicht mehr als ein Symbol – so wird das jedenfalls in der Region gesehen – , dass unmittelbar nach den letzten schweren Bombenangriffen gegen Bagdad, am Tag danach, die Albaner in der katholischen Kirche von Priština die Vereinigten Staaten zum Schutzherrn der islamischen Welt ausgerufen haben. 3. Wir wissen, seitdem es westliche Beteiligungen an Erdölkonsortien im Schwarzen Meer gibt, um die Interessenlage in dieser Region. Dazu zählt – aus der Sicht der Erdölkonsortien – , dass die Pipelines in Richtung Italien und Spanien laufen sollen. Im Wesentlichen natürlich zunächst mal über das Gebiet des NATO-Partners Türkei. Auf die Frage, warum nach Italien und Spanien, hat man geantwortet: Um das Verbundensein dieser Region mit dem libyschen und nigerianischen Erdöl zu konterkarieren. Das sind Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben, selbst der aserbaidschanische Präsident nicht, der mir immer wieder gesagt hat: Ich möchte eigentlich das Öl aus Aserbaidschan über Odessa und Warschau direkt nach Deutschland pumpen.

Wer braucht den Mazedonien-Konflikt?

Wechseln wir zum Thema Mazedonien: Wozu braucht man denn dort einen Konflikt – oder warum geht man so ungeschickt damit um – , obwohl doch die Dinge im Wesentlichen auf die Gleise gesetzt sind? Man hat neue Verhältnisse in Belgrad, man hat die Möglichkeit, im Kosovo Stützpunkte auszubauen, sei es künftig mit dem Segen von Belgrad, sei es mit dem Segen der UCK oder kosovo-albanischer Autoritäten. Warum jetzt dieser Konflikt? Das Einsickern lassen– oder das Nichtverhindern können – der mazedonischen UCK, dieses Aufmischen eines Landes, das bisher als Modell gepriesen wurde …

Ich habe schon bei der Formulierung »mazedonische UCK« Bedenken, denn alles, was wir wissen, bedeutet ja, dass die Anfänge dieser Entwicklung aus dem Kosovo heraus gesteuert worden sind. Es ist schon ein tolles Stück, dass im Kosovo 40.000 hochgerüstete Soldaten stehen und irgendwelche örtlichen Häuptlinge können sich, unter den Augen dieser Soldaten, wo im Prinzip keine Maus ungesehen von einem Loch ins andere kommen kann, bewaffnen und aus dem Kosovo heraus nach Mazedonien einsickern. Ein alter Völkerrechtsgrundsatz besagt, dass man für das Gebiet, in dem man die Macht hat, Verantwortung trägt. Kosovo ist heute ein KFOR/NATO-Protektorat mit der besonderen Verantwortung der Amerikaner für das Gebiet, in dem sie sich befinden …

Die an Mazedonien angrenzende Zone, in der auch Camp Bondsteel liegt …

Genau. Ich weiß nicht, wie man seiner völkerrechtlichen Verantwortung gerecht werden will, wenn man zulässt, dass ein benachbartes Territorium destabilisiert wird. Wenn ich sage, Völkerrecht interessiert mich nicht mehr und ich sabotiere das, wo ich kann, dann komme ich natürlich zu der Vorstellung, dass ich allmächtig bin oder werden will. Ein solches Verständnis zerstört mehr als nur die Situation auf dem Balkan. Es gibt eine durchgehende Linie einsamer Entscheidungen aus Washington, vom Kyoto-Protokoll bis zum ABM-Vertrag, wo man sich fragt: Wollen die denn alles beseitigen, was bisher Zusammenarbeit und völkerrechtliche Verbindlichkeit ermöglicht hat? Wir wissen eines – das habe ich in meinem Brief an Schröder im Zusammenhang mit Positionen, die in Bratislava vertreten worden sind, unterstrichen: Das, was wir Völkerrecht nennen, ist die Konsequenz aus schrecklichen Ereignissen, die nie mehr eintreten sollen. Wenn ich aber glaube, das Völkerrecht ignorieren zu können, wann immer es meinen Interessen im Wege steht, dann öffne ich Europa dem Krieg.

Die letzten beiden Jahre der Regierung Helmut Kohls waren von dieser Mahnung geprägt. Ich kann mich an kaum eine Fraktionssitzung erinnern, in der diese Warnung – Öffnung Europas für den Krieg – nicht eine Rolle spielte. Und ich will nicht bestreiten, dass damals viele in der Fraktion nicht verstanden, was damit gemeint war. Inzwischen haben wir alle die traurige Konsequenz vor Augen. Ich bin – vielleicht als Randbemerkung – Zeuge im Untersuchungsausschuss Leuna/»Fuchs« gewesen, weil ich damals – in der Zeit, als der »Fuchs« ein Thema wurde – parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium war. Als meine Aussage zuende ging, hat der Kollege Ströbele noch irgendetwas eingeworfen. Da habe ich ihm zur Antwort gegeben: Der nächste Untersuchungsausschuss, den es im Deutschen Bundestag geben wird, heißt Kosovo. Ich bin relativ sicher, dass der kommt.

Der demonstrative Unilateralismus aus Washington, auf den Sie eben hingewiesen haben, kennzeichnet ja ganz speziell die neue Administration, die ersten Monate …

Da muss ich heftigst widersprechen. George W. Bush kriegt jetzt ins Haus gekippt, was sich über Jahre hinweg unter Clinton, Holbrooke und Albright angesammelt hat. Das mündete letztlich in diese – schon starke – Formulierung von der »unverzichtbaren« Nation. Darunter können Sie alles andere subsumieren.

Wie beurteilen Sie denn, was Solana, als Vertreter der EU, und Robertson in Skopje bzw. Ochrid machen? Kann man so die Destabilisierung Mazedoniens stoppen?

Das sehe ich nicht. Nicht nur die mazedonische Öffentlichkeit reibt sich im Augenblick die Augen. Die sind jetzt acht Jahre lang Musterknaben gewesen, stets und ständig gelobt worden wegen ihrer inneren Situation, bei allen Schwierigkeiten, die es da gegeben hat. Und jetzt? Das Signal, was Europa und die Vereinigten Staaten gemeinsam Mazedonien und dem Rest Europas in diesen Stunden und Tagen geben, ist, dass sich Gewalt wieder lohnt. Wenn wir die Welt dem Faustrecht öffnen … Da kenne ich genügend Gebiete, wo wir uns betätigen können und aus meiner Sicht nicht dürfen.

Die Rhetorik klingt allerdings ganz anders – und scheint ein Stück weit auch anzukommen. Man sagt: Vertragt euch doch, ihr Albaner und ihr Mazedonier (als wären die Albaner in Tetovo keine Mazedonier). Man ruft: Dialog, keine Gewalt – und fällt dann einer gewählten Regierung in den Arm, die ihr Gewaltmonopol verteidigt.

Wir wissen doch ebenso gut wie die Mazedonier, dass das, was deren Land heute trifft, sich aus Kosovo und Albanien heraus entwickelt hat. Und da handelt es sich – jedenfalls im Kosovo – nun einmal um ein Protektorat unter unserer Ägide. Wenn wir unserer internationalen, völkerrechtlichen Verantwortung nicht gerecht werden und zulassen, dass aus dem Kosovo heraus Mazedonien destabilisiert wird, dann hat doch jeder den Eindruck: Die sind Partei und wollen unter der Überschrift Mazedonien eigentlich andere Ziele verwirklichen. Aber genau das hat inzwischen einen Umschwung in der deutschen politischen Diskussion bewirkt und dazu beigetragen, dass die Dinge, die man vor zwei Monaten oder sechs Wochen in Berlin noch glaubte hinbekommen zu können, inzwischen nicht mehr möglich sind.

Worauf spielen Sie an?

Auf die inneren Diskussionen, die in allen politischen Parteien in Berlin laufen. Das ist ja ganz ungewöhnlich, dass über eine Frage so kontrovers diskutiert wird wie über diese.

Sie denken an die rund 20 SPD-Abgeordneten um Harald Friese, die eine »Erklärung nach §31 GO« gegen die Beteiligung der Bundeswehr an einer Operation »Esential Harvest« in Mazedonien vorbereitet haben?

Fehlender Lernwille

Unter anderem. Man kann zu der Finanzdiskussion über die Bundeswehr, die die Unionsfraktion in diesem Zusammenhang angestoßen hat, stehen, wie man will. Vieles ist in diesem Zusammenhang Strategie und manches ist auch Taktik. Aber in Berlin kann keiner mehr so machen, was er will, wie das seit Herbst 1998 in Zusammenhang mit dem Krieg gegen Jugoslawien möglich war. Das geht nicht mehr.

Sehen Sie wirklich den politischen Willen, aus den Fehlern der letzten Jahre zu lernen?

Das können Sie sich, glaube ich, abschminken, so lange diejenigen am Ruder sind, die für den Krieg gegen Jugoslawien das grüne Licht gegeben haben. Das waren allerdings nicht nur diejenigen, die seit Herbst 1998 regieren, sondern auch jene, die zugelassen haben, dass die Regierung diese Verantwortung übernehmen konnte, also auch führende Kräfte aus der damaligen und heutigen Opposition. Aber die öffentliche Diskussion, die aus meiner Sicht der »inneren Hygiene« wegen unausweichlich ist, die kriegen wir. Ich rede ja mit diesem und jenem. Da höre ich auch Folgendes: Wir zählen zu der Generation, die mit ihren Eltern wenig zimperlich umgegangen ist wegen 1933. Nun müssen wir unser Urteil möglicherweise korrigieren. Und zwar wegen der Dinge, die sich jetzt in einem freien Land unter Missachtung des Rechts zugetragen haben. Das sind gewaltige Aussagen. Die Leute fühlen sich mitverantwortlich. Es bedrückt sie, dass sie zu einem Zeitpunkt, wo es ihnen mit geringeren Gefahren als ihren Eltern möglich gewesen wäre, auf Entwicklungen zuzugehen und einzugreifen, das nicht getan haben.

Deshalb noch einmal die Frage, wie man sich jetzt verhalten soll, wie die Europäer – angesichts des Verhaltens von Solana und Robertson – mit einer Situation umgehen sollen, in der Mazedonien als Spitze eines Eisbergs erscheint.

Man sollte sich überlegen, welche Leute man in europäische oder NATO-Spitzenjobs steckt. Die Herren Solana und Robertson vertreten Länder, die – mit dem Baskenland und Nordirland – ihre eigenen Probleme haben. Ich halte es nicht für glücklich, dass Leute, die aus Ländern mit derartigen Problemen kommen, in verwandten Problemfeldern für uns diese Verantwortung wahrnehmen sollen. Wir sehen ja auch, dass die Engländer im Zusammenhang mit Konflikten wie in Mazedonien oder Kosovo – da können Sie auch Tschetschenien einbeziehen – hinsichtlich ihrer NATO-Möglichkeiten ein allgemeines Verständnis dafür erwarten, dass das, was sie an Gewalt in Nordirland praktizieren, als die Norm angesehen wird, und alles, was darüber hinausgeht, als exzessive Gewaltanwendung. Ich habe mich oft gefragt, warum man, auch im NATO-Jargon, von »exzessiver« Gewalt spricht. Gewalt ist für mich immer exzessiv, vor allem, wenn sie mit Tod einher geht. Wir wissen aus den Verhandlungen, die zwischen der NATO und der jugoslawischen Seite vor dem Krieg geführt worden sind, und aus Verhandlungen zwischen der russischen Seite und der NATO hinsichtlich des Tschetschenien-Konflikts, dass man sogar Ausstattungs- und Ausbildungshilfe angeboten hat, um das nordirische Modell anderen an die Hand zu geben. Nach dem Motto, wenn ihr das Niveau haltet, werden wir euch keine Vorwürfe machen und nicht mehr mit dem Begriff exzessiver Gewalt kommen.

Aber welchen Schluss ziehen Sie daraus?

Den der massiven Einflussnahme. Ich komme an schwierigen Fragestellungen nicht dadurch vorbei, dass ich mich kleiner mache – in der Hoffnung, dass der Ärger an mir vorbei geht. All die Fragen, die wir im Zusammenhang mit dem Krieg gegen Jugoslawien nicht haben wollten, tauchen jetzt wieder auf. Deswegen müsste es verantwortliche deutsche Politik sein zu sagen und zwar in der EU, in der NATO und in den Vereinten Nationen: Wir lassen an unserem ursprünglichen Auftrag nicht rütteln. Da können Sie von mir aus noch die OSZE hinzunehmen. Mir fiel auf, dass der bayrische Ministerpräsident bei seinem kürzlichen Besuch in Moskau die OSZE unter diesem Gesichtspunkt besonders angesprochen hat; unter dem Motto: Hört auf, immer nur über Menschenrechte zu reden, redet mal wieder über Sicherheit in dieser Organisation. Ich habe doch als Mitglied des OSZE-Parlamentes vor dem Krieg gegen Jugoslawien – im Sommer 1998 in Stockholm – gesehen, dass 90% der OSZE-Parlamentarier sich dagegen aussprachen, irgendwo militärische Gewalt ohne Anbindung an die Regeln der Vereinten Nationen anzuwenden. Jetzt muss ich zwischen zwei Möglichkeiten wählen: das Gebäude, das mir bisher den Frieden gesichert und Handlungsmöglichkeiten gegeben hat, genauso einzureißen, wie es die Amerikaner, manchmal auch unter Beteiligung der britischen Hilfskräfte, seit Jahr und Tag betreiben – oder ich sage: Liebe Leute, wir müssen uns bemühen, zu den Regeln der Vereinten Nationen und der Vertragsgebundenheit der NATO zurückzukehren. Das wäre für mich eine Verantwortung, die hochpolitisch ist und von jeder Bundesregierung wahrgenommen werden müsste.

Dafür würden Sie auch Streit oder Konflikte mit anderen Bündnispartnern riskieren?

Ja, selbstverständlich. Ohne deutliche Ansprache von Problemen, geht es nicht. Nicht, wenn es sich um Substanzfragen handelt. Das machen wir zu Hause auch nicht.

Es fällt immer noch schwer zu glauben, dass man so viel Durcheinander jetzt, im Jahre 2001, braucht. Wir suchen ja nach möglichem Sinn im Unsinn: Könnte …

Das ist typisch deutsch.

… könnte dahinterstecken, dass manche Amerikaner so ähnlich denken wie Bismarck, der einmal befunden haben soll, es sei gut für die deutschen Interessen, wenn auf dem Balkan Unruhe herrscht, weil das Deutschlands Rivalen in Atem hält? Könnte es sein, dass die Europäer mit ihren unangenehmen Selbstständigkeitsambitionen durch anhaltende Unruhe auf dem Balkan gebunden werden sollen?

Gesprächspartner, die man hat – ich sage das so vorsichtig – weisen auf eine ähnlich gelagerte amerikanische Haltung hin. Und zwar vor folgendem Hintergrund: Die Dinge zwischen Westeuropa und der Russischen Föderation entwickeln sich eigentlich so, dass Fragen nach der dauerhaften Existenz der NATO unausweichlich sein werden. Wenn wir keine Verhältnisse auf dem europäischen Kontinent haben, die die Europäer von der Frage nach dem Sinn der NATO abbringen, steht die Fortexistenz der Allianz auf dem Spiel. Deswegen gibt es den Konflikt auf dem Balkan. Es gibt Leute in wichtigen Positionen, die in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam machen, dass es eine Linie der amerikanischen und möglicherweise auch der britischen Politik sei sicherzustellen, dass sich zwischen der Europäischen Union und der Türkei nichts entwickelt, was sich der unmittelbaren Einflussnahme der Vereinigten Staaten entzieht. Es ist vielleicht auch ein neuer Zug in der deutschen Politik, dass man, in Anbetracht der Schwierigkeiten, mit denen wir seit vielleicht zweieinhalb Jahren leben müssen, viele Dinge nur noch unter vier Augen abwickelt. Ich hätte nicht gedacht, dass es in diesem Land soweit kommen würde. Das hat es jedenfalls in der Zeit, als ich politisch groß geworden bin, nicht gegeben.

Wenn unser Gespräch veröffentlicht wird, haben wir möglicherweise gerade ein frisches Abkommen in Mazedonien und nach den bisherigen Deklarationen könnte dann eine 3.000 Mann starke Truppe der NATO einreisen und Waffen einsammeln. Kommt die zustande?

In Zusammenhang mit dem, was sich dann unter Umständen in Mazedonien bewegt, gibt es eine sehr ernste Fragestellung: 3.000 oder 30.000? Soweit wir wissen, soll eine solche Operation in der Verantwortung des NATO-Oberbefehlshabers Neapel laufen, ein amerikanischer Admiral. Und dem ist offensichtlich durch die bisherige Beschlusslage der NATO Handlungsfreiheit eingeräumt worden, so dass er ohne weitere Beschlussfassung Truppen nachfordern kann, wie er das für richtig hält. Das bedeutet natürlich: Wenn ich einmal reingehe, weiß ich nicht, ob ich mit 500 Mann reingehe oder ob ich dem nachher nicht 20.000 Soldaten zur Verfügung stellen muss.

Anmerkungen

1) Organstreitverfahren der PDS-Bundestagsfraktion gegen die Bundesregierung, in dem erstere beantragt, das Bundesverfassungsgericht möge feststellen: „Die Bundesregierung hat mit ihrer Zustimmung zu den Beschlüssen über das Neue Strategische Konzept der NATO auf der Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs in Washington am 23. und 24. April 1999, ohne das verfassungsmäßig vorgeschriebene Zustimmungsverfahren beim Deutschen Bundestag einzuleiten, gegen Art. 59 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetzverstoßen und damit Rechte des Deutschen Bundestages verletzt.“

(Das Gespräch führten Karl D. Bredthauer und Margund Zetzmann am 3. August 2001.)

Multilateralismus chinesischer Prägung

Multilateralismus chinesischer Prägung

Die Shanghaier Fünf auf dem Weg zum Regionalismus?

von Gudrun Wacker

Am 14. und 15. Juni 2001 fand in Shanghai das sechste Gipfeltreffen der sogenannten Shanghaier Fünf (im folgenden kurz: S-5) statt. Bei diesem Gipfel trat den S-5 (Russische Föderation, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und China) mit Usbekistan erstmals ein weiteres Vollmitglied bei und gleichzeitig formierten sich die S-5 unter der Bezeichnung »Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit« (chin.: Shanghai hezuo zuzhi, russ.: Šanchajskaja organizacija sotrudni…estva, im folgenden kurz: SOZ) neu. Weitgehend unbemerkt vom Westen ist damit im Laufe der 90er Jahre ein – zumindest der Form nach – multilaterales Gebilde entstanden, das von den beteiligten Staaten als Beitrag zur Multipolarisierung der Welt und als regionale Antwort auf die ökonomische und informationstechnologische Globalisierung präsentiert wird. Kernanliegen der SOZ aber ist regionale Sicherheit.1
Im folgenden wird die Entwicklungsgeschichte der S-5 von ihren Anfängen bis zur Gründung der SOZ vorgestellt. Leitfragen sind: Was waren die gemeinsamen Interessen, die zur Bildung der S-5 geführt haben? Worin bestehen ihre Erfolge? Welche Perspektiven hat die neu gegründete SOZ in den verschiedenen Bereichen der Kooperation? Lässt sich der S-5/SOZ-Prozess als »qualitativer Multilateralismus« (Martin 1992) bezeichnen? Und schließlich: Können von diesem Mechanismus Impulse für ein weiteres asiatisches Sicherheitsregime, eine Art asiatische KSZE ausgehen?

Durch die Initiative Gorbatschows, der China Verhandlungsbereitschaft bezüglich der drei Hindernisse2 signalisiert hatte, deren Beseitigung die chinesische Seite als Voraussetzung für eine wirkliche Normalisierung der bilateralen Beziehungen gefordert hatte, war es in den 80er Jahren zu einer schrittweisen Annäherung zwischen Sowjetunion und China gekommen. Im Rahmen dieses Prozesses hatten beide Staaten auch mit Gesprächen über den umstrittenen Grenzverlauf sowie über vertrauensbildende Maßnahmen und Truppenabbau entlang der gemeinsamen Grenze begonnen. Bis zur Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 waren diese Verhandlungen zwar nicht vollendet, jedoch hatten beide Seiten Einigung über die allgemeinen Prinzipien für den weiteren Prozess sowie über den mehr als 4000 km langen Ostabschnitt der chinesisch-sowjetischen Grenze (April 1991) erzielt.

Das Ende der Sowjetunion und die 4+1 Gespräche

Nach der Auflösung der Sowjetunion wurden die Gespräche über Grenzverlauf, vertrauensbildende Maßnahmen im militärischen Bereich und Truppenabbau entlang der gemeinsamen Grenzen unter den neuen politischen Vorzeichen weitergeführt, nämlich zwischen China und den direkt angrenzenden Staaten der ehemaligen Sowjetunion, also der Russischen Föderation und den zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan. Aus diesen „4+1“-Verhandlungen, die mehrmals im Jahr stattfanden, gingen verschiedene bilaterale Abkommen über den Grenzverlauf zwischen China und jeweils einem der benachbarten Staaten hervor. Dabei wurde nach dem Prinzip verfahren auch Teillösungen vertraglich zu fixieren. D.h. Grenzabschnitte, über die keine Einigung erzielt werden konnte, blieben aus den Abkommen ausgespart, um später nach einer für beide Seiten akzeptablen Lösung zu suchen. Auf diese Weise wurde bis zum Herbst 2000 der gesamte Grenzverlauf zwischen China und der ehemaligen Sowjetunion fixiert – mit Ausnahme von drei kleinen Inseln in den Grenzflüssen am Ostabschnitt der chinesisch-russischen Grenze und der Grenze zwischen China und Tadschikistan, für die erst ein Teilabkommen abgeschlossen werden konnte. (Xia 2001, p.36; Xinhua 1999)

Von Gipfel zu Gipfel: 1996 bis 2000

Im April 1996 trafen die Präsidenten aller fünf am 4+1-Prozeß beteiligten Staaten erstmals in Shanghai zusammen und unterzeichneten ein Abkommen über vertrauensbildende Maßnahmen im militärischen Bereich.3 Bereits zu diesem Zeitpunkt erklärten die beteiligten Präsidenten, ihre Gruppierung sei nicht gegen dritte Staaten gerichtet und grundsätzlich auch für weitere Mitglieder offen. Etwa ein Jahr später folgte in Moskau der Abschluss eines Abkommens über Truppenabbau entlang der gemeinsamen Grenzen. In ihren Kommentaren wiesen die fünf Präsidenten auf die Bedeutung beider Vereinbarungen hin: Diese hätten Vorbildcharakter für den gesamten asiatisch-pazifischen Raum und seien – im Gegensatz zur NATO mit ihren Erweiterungsplänen und der im April 1996 erneuerten amerikanisch-japanischen Sicherheitsallianz – nicht mehr dem Denken des Kalten Krieges verhaftet. Für die Implementierung und Überwachung der Abkommen wurde eine gemeinsame Kontrollgruppe eingerichtet.

Strenggenommen handelt es sich bei den beiden Dokumenten von 1996 und 1997 nicht um multilaterale Abkommen, denn sie wurden zwar von den fünf Präsidenten unterzeichnet, jedoch stellen die vier ex-sowjetischen Staaten gemeinsam eine Vertragsseite, die VR China die andere. Ihr Geltungsbereich bezieht sich ausschließlich auf eine Zone von 100 km diesseits und jenseits der ehemaligen sino-sowjetischen Grenze, nicht aber auf die Grenzgebiete zwischen den post-sowjetischen Republiken.

Auf den 1998 bis 2000 folgenden jährlichen Gipfeltreffen in Almaty, Bischkek und Duschanbe weitete die nun als »Shanghaier Fünf« bezeichnete Gruppe ihre Agenda schrittweise auf die Bereiche Wirtschaft und Handel, Verkehrs- und Infrastruktur (»neue Seidenstraße«), Kultur und Umweltschutz aus – zumindest bekundeten die S-5 ihren Willen zur Vertiefung multilateraler Kooperation auf all diesen Gebieten. Regelmäßige Zusammenkünfte auf Ministerebene sowie ein noch formell zu konstituierender »Rat nationaler Koordinatoren«, dessen Mitglieder von den einzelnen Regierungen benannt werden, sollen für die angestrebte Intensivierung der Zusammenarbeit sorgen.

In den jeweils bei den Gipfeln unterzeichneten Deklarationen demonstrierten die Präsidenten auch eine gemeinsame Haltung in Fragen der internationalen Beziehungen. Anti-westliche bzw. anti-amerikanische Untertöne waren darin unüberhörbar – die Dokumente enthalten Passagen gegen Hegemonismus, Machtpolitik, eine unipolare (d.h. von den USA dominierte) Weltordnung und gegen die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten (»neuer Interventionismus«, »humanitäre Intervention«). Darin kommen nationale Interessen der einzelnen S-5-Mitgliedstaaten zum Ausdruck: Insbesondere die ohne UN-Mandat durchgeführte NATO-Intervention in Jugoslawien Anfang 1999 hat zu der Befürchtung geführt, im Falle massiver ethnischer Konflikte oder Menschenrechtsverletzungen nicht nur mit Kritik und externem Druck, sondern möglicherweise auch mit einem militärischen Eingreifen des Westens rechnen zu müssen. Russland und China sehen ihr internationales Mitspracherecht durch die Nichtkonsultation des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen entwertet, leiten sie doch u.a. aus ihrem ständigen Sitz in diesem Gremium ihren Status auf der Bühne der Weltpolitik ab.

Eigentlicher Fokus der S-5 blieb aber die Sicherheitspolitik innerhalb der Region. Die beteiligten Staaten sehen ihre innere Stabilität in den letzten Jahren zunehmend durch Terrorismus, Separatismus und religiösen Extremismus (»drei Kräfte«) gefährdet. Dabei sind allerdings signifikante Unterschiede in den einzelnen Ländern festzustellen: Mit Sezessionsbestrebungen sind de facto nur Russland (Tschetschenien) und China (in Xinjiang, Tibet und Taiwan) konfrontiert. In den zentralasiatischen Republiken dagegen spielen separatistische Gruppierungen eigentlich keine Rolle. Usbekistan und Kirgistan haben sich seit Sommer 1999 mit terroristischen Anschlägen und Überfällen von Anhängern eines islamistischen Extremismus auseinander zu setzen, insbesondere seitens der »Islamischen Bewegung Usbekistans«, deren erklärtes Ziel der Sturz des usbekischen Präsidenten ist. Der Bürgerkrieg, der in Tadschikistan ab 1992 herrschte, wurde zwar 1997 mit Hilfe internationaler Vermittlungsbemühungen beigelegt, doch gelang es nicht, alle Kräfte der Opposition, darunter auch islamistische Gruppen, in das Friedensarrangement einzubinden. Der externe Faktor, der die Bedrohungsperzeptionen aller S-5/SOZ-Staaten miteinander verbindet, ist die Taliban-Regierung in Afghanistan, die als die destabilisierende Kraft für die Region betrachtet wird. In ihr hat man nicht nur den Verursacher grenzüberschreitender Kriminalität (Drogen- und Waffenschmuggel) identifiziert, sondern auch die Quelle ideologischer, logistischer und materieller Unterstützung für religiös-extremistische Vereinigungen. Zur koordinierten Bekämpfung der »drei Kräfte« beschlossen die S-5 in Duschanbe – dem Zusammentreffen im Juli 2000, an dem erstmals der Präsident Usbekistans als Beobachter teilnahm – die Einrichtung eines gemeinsamen Antiterrorismus-Zentrums mit Hauptquartier in Bischkek.

Moskau hat vor allem seit dem zweiten Tschetschenienkrieg (1999) die transnationalen Verflechtungen islamistischer Kräfte vom Kaukasus über Zentralasien bis nach Afghanistan in den Vordergrund der Argumentation gerückt. In Chinas Nordwesten, der Autonomen Region Xinjiang-Uighur, einem ressourcenreichen Gebiet mit überwiegend muslimischer Bevölkerung, gab es vor und nach Gründung der Volksrepublik immer wieder Unruhen, Proteste und Aufstände, die mit der Reformperiode in den 80er Jahren wieder an Häufigkeit und Heftigkeit zunahmen. Auch Beijing sieht dabei externe Unterstützung am Werk und bekämpft seit 1996 mit einer »strike hard«-Kampagne jede Form von nicht-autorisierter Ausübung des Islam in der Region (z.B. nicht zugelassene Koranschulen u.ä.). Wie stark islamistische Gruppierungen in den SOZ-Mitgliedstaaten tatsächlich sind, inwieweit sie miteinander verflochten sind und welchen Rückhalt sie in der Bevölkerung genießen, lässt sich aufgrund der betriebenen Informationspolitik nicht mit Sicherheit sagen, jedoch vertreten ausländische Beobachter überwiegend die Auffassung, dass es gerade das undifferenzierte Vorgehen Chinas und auch Usbekistans gegen jedwede Religionsausübung außerhalb staatlicher Kontrolle ist, das einen Solidarisierungseffekt bei breiteren Schichten der Bevölkerung auslösen und die »islamistische Bedrohung« zur self-fulfilling prophecy machen könnte.

Juni 2001: Gründung der SOZ

Drei Dokumente unterzeichneten die Präsidenten bei ihrem sechsten Treffen in Shanghai im Juni 2001: Erstens eine »Gemeinsame Erklärung«, deren wesentlicher Inhalt sich auf die formelle Aufnahme Usbekistans bezieht, zweitens die »Gründungserklärung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit«, in der die Ergebnisse und Prinzipien der vorangegangenen Gipfel bekräftigt werden, und drittens eine »Konvention über den Kampf gegen Terrorismus, Separatismus und religiösen Extremismus«.

Der volle Wortlaut dieser »Konvention«, die von den Parlamenten der einzelnen Staaten ratifiziert werden muss, wurde noch nicht publiziert; nach den offiziellen Kommentaren soll sie die rechtliche Grundlage für das im Jahr 2000 beschlossene Antiterrorismus-Zentrum in Bischkek bereitstellen, und sie definiert, was unter den »drei Kräften« (Terrorismus, Separatismus und religiöser Extremismus) zu verstehen ist. Die Zusammenarbeit sieht u.a. Informationsaustausch, Unterstützung bei Ermittlungen und die Ausarbeitung vorbeugender Maßnahmen vor. Noch weitgehend unklar ist offenbar, wie die Koordinierung bzw. Arbeitsteilung zwischen dem Antiterrorismus-Zentrum der S-5/SOZ – das noch eines eigenen Abkommens bedarf – und der gleichnamigen Einrichtung in Bischkek, die im Rahmen des Kollektiven Sicherheitsvertrages der GUS beschlossen wurde, aussehen soll.4

Perspektiven der SOZ

Wie schon bei den früheren Gipfeln der S-5 hat vieles, was in den im Juni 2001 unterzeichneten Dokumenten zur Sprache kommt, deklaratorischen Charakter. Der Wille zur Vertiefung der Zusammenarbeit in allen Bereichen wurde seit 1998 (Almaty) jedes Jahr wiederholt. In den Deklarationen des Jahres 2000 und 2001 werden erstmalig Gremien benannt, die mit der Schaffung eines institutionellen Rahmens für die SOZ betraut werden sollen. Die Festlegung der Aufgaben des »Rates nationaler Koordinatoren« obliegt den Außenministern; dieser Rat selbst wird die Ausarbeitung einer Charta für die Shanghaier Organisation übernehmen. Diese Charta, für die ein Entwurf bis zum nächstjährigen Gipfel in Sankt Petersburg vorliegen soll, wird Ziele, Bereiche, Aufgaben und die Richtung der künftigen Kooperation im Rahmen der SOZ und andere organisatorische Fragen umfassen. Um einen Plan für verstärkte Zusammenarbeit in Wirtschaft und Handel aufzustellen, werden im Herbst 2001 erstmals die Ministerpräsidenten der sechs Staaten gesondert zusammenkommen.

Was die Aufnahme weiterer Mitglieder in die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit betrifft, so kann man davon ausgehen, dass die beteiligten Staaten, nachdem Usbekistan nun beigetreten ist, diese Frage mit großer Vorsicht behandeln werden.5 Ein Antrag Pakistans war bereits im Vorfeld des Shanghaier Gipfels auf ziemlich einhellige Ablehnung gestoßen. Insbesondere Tadschikistan wies eine Mitgliedschaft Pakistans aufgrund der engen Beziehungen zwischen Islamabad und den Taliban rundheraus zurück. Russland wertete das Interesse anderer Staaten an einem Beitritt zu den S-5 zwar als Zeichen für die wachsende Bedeutung des regionalen Zusammenschlusses, scheint aber keineswegs auf seine Ausweitung zu drängen. China wird v.a. darauf achten, dass der regionale und thematische Fokus der neuen Organisation nicht verloren geht.

Die Aussichten der neuen SOZ sind für die einzelnen Ebenen Wirtschaft, regionale Sicherheit und Weltpolitik unterschiedlich zu beurteilen. Die S-5 hatte in der Vergangenheit Erfolge zu verzeichnen, wenn sie ein gemeinsames Interesse an der Lösung ganz konkreter Probleme teilten. Zu diesen Erfolgen gehören die schrittweise Lösung der Frage des Grenzverlaufs sowie die Abkommen von 1996 und 1997. Um diese Kooperation erfolgreich auch auf andere Bereiche übertragen und ausweiten zu können, sind nicht nur gemeinsame Absichtserklärungen notwendig, sondern dazu bedarf es konkreter Planungen sowie der Schaffung von einheitlichen Verfahrensregeln für deren Umsetzung.

Der SOZ als »regionale Antwort« auf die ökonomische Globalisierung stehen eine Reihe von Hemmnissen entgegen. Betrachtet man die Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und den übrigen SOZ-Mitgliedern, so sind nur die zu Russland (bilateraler Handel 2000: ca. 8 Mrd. US$) und Kasachstan (ca. 1,6 Mrd. US$) von einigem Gewicht. Zudem – darauf wurde in der russischen Presse kurz nach dem Shanghaier Gipfel verwiesen (Germanovi… 2001) – verfolgen die Staaten unterschiedliche Modelle und Projekte, die teilweise in direkter Konkurrenz miteinander stehen. So sieht z.B. Russland den von der EU geförderten TRASEKA-Transportkorridor von Europa durch Transkaukasus nach Zentralasien und China als Konkurrenz zur Transsibirischen Eisenbahnlinie. Angesichts der wirtschaftlichen Schwäche der SOZ-Staaten werden große gemeinsame Infrastrukturvorhaben wie der Bau von Öl- und Gas-Pipelines (»neue Seidenstraße«) jedenfalls kaum ohne massive Investitionen und Beteiligung ausländischer Firmen realisierbar sein. Beijing und Moskau versuchen seit Jahren, ihren Wirtschaftsbeziehungen durch Treffen auf Ministerpräsidenten- und Ministerebene mehr Leben einzuhauchen, jedoch blieb dieser Bereich bislang deutlich hinter den beiderseits formulierten Erwartungen und Zielen zurück. Eine Vielzahl von Großprojekten ist seit Jahren zwischen beiden Ländern in der Diskussion – die wenigsten davon sind auf dem Weg der Realisierung.

Auf der Ebene regionaler Sicherheitspolitik wird weiterhin an der Umsetzung der Abkommen von 1996 und 1997 gearbeitet. Die gemeinsame Kontrollkommission hat offenbar ihre Arbeit aufgenommen und wird gemeinsame Inspektionen durchführen (Xinhua 2001). Der Kampf gegen Terrorismus, Separatismus und religiösen Extremismus wird sich voraussichtlich nicht einfach gestalten, denn es gibt organisatorische, finanzielle und rechtliche Fragen zu lösen und zu überwinden, bis das Antiterrorismus-Zentrum der SOZ in Bischkek funktionsfähig wird. Würde die Mitgliedschaft Usbekistans in der SOZ dazu führen, dass künftig mehr Konsultation und Koordination in Sachen Grenzregime zwischen den zentralasiatischen Staaten stattfände, so wäre dies als Fortschritt zu werten.6 Allerdings ist davon auszugehen, dass sowohl China als auch Usbekistan an den harschen Mitteln festhalten werden, die sie gegen die Praktizierung von Formen des Islam, die außerhalb der staatlich gesetzten Grenzen liegen, einsetzen.

Eine nicht auszuschließende Perspektive der SOZ wäre die weitgehender Bedeutungslosigkeit. Dann würden zwar weitere Gipfel der Präsidenten und Treffen auf Ministerebene stattfinden und weitere Gemeinsame Deklarationen verabschiedet werden, ohne dass dies jedoch zu einer tatsächlichen Intensivierung der Kooperation führt. Vor einem solchen Schicksal warnte bereits ein russischer Presseartikel (Strokan‘ 2001). Im post-sowjetischen Raum existieren bereits zahlreiche, sich gegenseitig überlappende Arrangements, die in der Praxis wenig Wirkung entfalten.

Lateralismus und Vorbildfunktion für Asien

Bis zu ihrem 3. Gipfeltreffen 1998 in Almaty konnten die S-5 strenggenommen nicht als multilaterales Forum gelten. Die Phase zwischen 1998 und 2001 lässt sich als »nomineller« Multilateralismus charakterisieren, wenn dieser der Definition von Ruggie entsprechend{b} {/b}als „institutionelle Form, welche die Beziehungen{i} {/i}zwischen drei oder mehr Staaten auf der Basis allgemeiner Verhaltensregeln koordiniert“ (Hier ist irgendwas unvollständig) (Ruggie 1993, p.11), verstanden wird: Abgesehen von den beiden Abkommen über vertrauensbildende Maßnahmen und Truppenabbau entlang der Grenzen gab es in dieser Zeit keinerlei verbindliche Regeln, aus denen sich für einen der Mitgliedstaaten irgendeine Verpflichtung ergeben hätte. Vielmehr erschöpfte sich der S-5-Prozess weitgehend darin, dass die Präsidenten in ihren Gemeinsamen Deklarationen den Willen und die Absicht zur Vertiefung der Kooperation in allen möglichen Bereichen zum Ausdruck brachten. Eine Arbeitsebene für die Umsetzung dieser Erklärungen existierte nur in ersten Ansätzen in Form von unregelmäßigen Treffen auf Ministerebene.

Für eine mögliche Entwicklung hin zum »qualitativen« Multilateralismus, der sich durch unteilbare/allgemein verbindliche Regeln für einen bestimmten Handlungsbereich, und damit einhergehend mit Einbußen an Flexibilität sowie dem Verzicht auf kurzfristige Vorteile zugunsten mittel- und langfristigen Nutzens auszeichnet, sind Voraussetzungen erst mit dem Gipfeltreffen im Juni 2001 und der Gründung der SOZ geschaffen worden: Der Beschluss, aus den nationalen Koordinatoren ein festes Gremium zu bilden, der SOZ eine Charta zu geben, in der auch die Kriterien für die Aufnahme weiterer Mitglieder festgelegt werden{b}, {/b}kann jedenfalls als ein Schritt in Richtung Institutionalisierung gesehen werden. Entscheidend wird sein, mit welchen Befugnissen und Kompetenzen der Rat nationaler Koordinatoren ausgestattet sein wird.

In einem Aufsatz vom Sommer 2000 beleuchtet der amerikanische Politologe Miles Kahler (Kahler 2000) die existierenden Erklärungsansätze für den sogenannten »Asian/ASEAN way«, d.h. die Bevorzugung informeller Gesprächsforen, des Konsensprinzips und einer gradualistischen Vorgehensweise in den regionalen Organisationen (ASEAN, APEC und ASEAN Regionalforum) kritisch. Er kommt zu dem Schluss, dass fehlende oder schwache Institutionalisierung und Verrechtlichung nicht erschöpfend durch den Verweis auf kulturelle Besonderheiten (»asiatische Werte«, unterschiedliche Rechtstradition etc.), wie sie von den asiatischen Staaten selbst ins Feld geführt werden, erklärt werden können. Die Entscheidung für oder gegen die Festschreibung verbindlicher Regeln und eines Durchsetzungsmechanismus seien vielmehr von instrumentellen und strategischen Überlegungen der einzelnen Länder geleitet. D.h. ausschlaggebend ist zum einen die Frage, ob der Zugewinn für die nationalen Interessen deutlich höher ist als der dafür in Kauf zu nehmende Verlust (v.a. an nationaler Souveränität), zum anderen die der relativen Stärke der anderen in den Aushandlungsprozess involvierten Staaten und des sich daraus ergebenden eigenen Spielraumes bei der Festlegung der Regeln.

Die Volksrepublik China hat zwar im Laufe der letzten Jahrzehnte ihre grundsätzliche Haltung zum Multilateralismus verändert (Wang 2000), wie der bevorstehende WTO-Beitritt zeigt, bevorzugt aber nach wie vor gerade im sicherheitspolitischen Bereich bilaterale Lösungen. Für die S-5-Konstellation kann konstatiert werden, dass sie sich aufgrund sehr spezifischer Rahmenbedingungen gebildet hat: Zum Zeitpunkt der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 war der Normalisierungsprozess zwischen Moskau und Beijing zwar abgeschlossen, nicht jedoch waren alle Fragen der gemeinsamen Grenze und der Abrüstung geklärt. Für die gerade unabhängig gewordenen zentralasiatischen Republiken, die über die zu diesem Zeitpunkt noch nicht von Aufweichungserscheinungen geprägte GUS in einen gemeinsamen Rahmen mit Russland eingebunden waren und die eigene Armeen und Grenzschutztruppen noch aufbauen mussten, bedeutete eine gemeinsame Delegation mit Russland eine stärkere Position in den anstehenden Verhandlungen mit China. Beijing konnte umgekehrt nicht daran gelegen sein, durch bilaterale Regelungen mit den zentralasiatischen Republiken ohne Konsens mit Russland spätere Konflikte vorzuprogrammieren. Moskau betrachtete schließlich Zentralasien weiterhin als seine vitale Interessenssphäre (da wäre mir der ursprünglich Satz lieber!). Bei den Abkommen über vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung entlang der Grenzen von 1996 und 1997 konnten China und Russland als relativ gleichwertige Mächte die Regeln selbst bestimmen, d.h. diese wurden nicht von einer weit überlegenen Macht diktiert.

Da alle SOZ-Mitgliedstaaten nationale Souveränität und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten geradezu zu konstituierenden Prinzipien ihrer neuen Organisation erklärt haben, lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass eine Übertragung nationalstaatlicher Souveränität auf ein transnationales Gremium der SOZ auf absehbare Zeit nicht stattfinden wird.

Verschiedentlich machten S-5-Mitgliedstaaten Vorschläge, ihr Sicherheitsarrangement auf eine größere Region zu übertragen bzw. als Vorbild dafür zu nutzen. Von russischer Seite versuchte man, chinesische Unterstützung für ein Sicherheitsregime in Nordostasien zu bekommen, Kasachstan wirbt für eine »Versammlung für Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien«. In den S-5-Deklarationen wurde diese letztere Idee, die der kasachische Präsident bereits 1992 erstmals auf einer UNO-Vollversammlung eingebracht hatte, zwar begrüßt, jedoch scheinen aus der Initiative außer einigen Treffen in Almaty, an denen sich die S-5-Mitglieder sowie eine Reihe weiterer Staaten beteiligten, keine greifbaren Ergebnisse hervorgegangen zu sein. (Deklaraciju 16 gosudarstv, 1999) China reagierte auf solche Initiativen zwar verbal zustimmend, im Kern jedoch passiv bis ablehnend. Insofern sind starke Impulse vom S-5/SOZ-Prozess zur Bildung einer »asiatischen KSZE« nicht zu erwarten.

Literatur

Deklaraciju 16 gosudarstv (1999) [Deklaration von 16 Staaten]: SPB Vedomsti, 15.9.99 [o.S.].

Germanovi…, Aleksej (2001): Trudnye dorogi v Kitaj [Schwierige Wege nach China], 15.6.01, http://www.vedomsti.ru/stories/2001/06/15-02-03.html (download: 16.6.01).

Halbach, Uwe (2000): Sicherheit in Zentralasien. Teil 1, Köln 2000 (Berichte des BIOst, 24-2000).

Kahler, Miles (2000): Legalization as Strategy, The Asia-Pacific Case, International Organization, Vol.54, No.3 (Summer 2000), pp. 549-571.

Martin, Lisa L. (1992): Interests, power, and multilateralism, International Organization, Vol. 46, No. 4 (Autumn 1992), pp.765-792.

Ruggie, John Gerard (1993): Multilateralism: The Anatomy of an Institution, Multilateralism Matters, hg.v. John Gerard Ruggie, New York and Oxford, Columbia University Press, 1993, pp. 3-47.

Strokan‘, Sergej (2001): Bol’šaja Politika. Šanchajskaja gramota [Große Politik. Shanghaier Urkunde], Kommersant Vlast‘, 26.6.01, p. 28.

Wang Hongying (2000): Multilateralism in Chinese foreign policy, Asian Survey, Vol. 15, No. 3 (May/June 2000), pp. 475-491.

Xia Yixi (2001): Fazhan zhong de »Shanghai Wuguo« jizhi (Der »Shanghai Five«-Mechanismus in der Entwicklung), Guoji Wenti Yanjiu, 2001, No. 3, pp. 34-38.

Xinhua (2000): 30.3.00, zitiert nach SWB FE/3806, 4.4.00, pp. G/1-2.

Xinhua (1999): 5.8.99, zitiert nach Summary of World Broadcast, Part 3, Far East/3624 (27.8.1999), pp. G/1-2.

Anmerkungen

1) Text = Siehe dazu die Gründungsdeklaration der SOZ. Volltext in chinesischer Sprache auf der Homepage des chinesischen Außenministeriums (http://www.fmprc.gov.cn/chn/13552.html, download 24.6.01). Zusammenfassung siehe [o. Verf.] Podpisana Deklaracija o sozdanii Šanchajskoj organizacii sotrudni…estva [Deklaration über die Errichtung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit unterzeichnet], 15.6.01, http://www.strana.ru/state/foreign/2001/06/15/992574591.html (download 15.6.01).

2) Text = Die drei Hindernisse, deren Beseitigung die chinesische Seite als Voraussetzung für eine wirkliche Normalisierung der bilateralen Beziehungen gefordert hatte, waren: die massive sowjetische Truppenpräsenz an den gemeinsamen Grenzen im Osten und Westen sowie in der Mongolei, die sowjetische Unterstützung für die Besetzung Kambodschas durch Vietnam und schließlich die sowjetische Okkupation Afghanistans.

3) Text = Volltext in englischer Sprache unter http://russia.shaps.hawaii.edu/fp/russia/shanghai_19960426.html.

4) Text = Die Einrichtung dieses Zentrums sowie die Aufstellung einer »schnellen Eingreiftruppe« wurden in Eriwan im April 2001 beschlossen. Da Usbekistan 1999 aus dem Kollektiven Sicherheitsvertrag der GUS austrat, ist es hieran nicht beteiligt.

5) Text = Grundsätzlich haben neben Pakistan auch Indien, die Mongolei und Iran ihr Interesse an einer Beteiligung bekundet. Nach Angaben des russischen Botschafters in Beijing sind auch die USA an einem Beobachterstatus interessiert.

6) Text = Als Reaktion auf die Bedrohung durch Terroranschläge und Überfälle griff zunächst Usbekistan zu unilateralen Maßnahmen und verminte die Grenze zu Tadschikistan. (Halbach 2000, p.22).

Gudrun Wacker ist Sinologin und leitet seit 1.1.2001 die Forschungsgruppe Asien der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin (http://www.swp-berlin.org). Fachgebiete: chinesische Außen- und Sicherheitspolitik, Internet in China.

Raketenabwehr, Stabilität und präventive Rüstungskontrolle

Raketenabwehr, Stabilität und präventive Rüstungskontrolle

von SDI zu NMD

von Jürgen Scheffran

Trotz der Aufschiebung der NMD-Entscheidung durch den scheidenden US-Präsidenten Bill Clinton gilt es als wahrscheinlich, dass sein Nachfolger mit der Stationierung beginnen will. Zwar soll sich ein begrenztes Abwehrsystem lediglich gegen kleinere Raketenmächte richten, doch stellen sich Russland und China bereits auf eine NMD-Welt ein. Für sie geht es vor allem darum, ihre Abschreckungsfähigkeit gegenüber einer US-Dominanz zu sichern. Die sich abzeichnende Rüstungsdynamik ist jedoch keine Notwendigkeit. Bislang wurden die Möglichkeiten zur internationalen Kontrolle und Abrüstung von Atomwaffen und ballistischen Raketen, von Raketenabwehrsystemen und Weltraumwaffen kaum ausgeschöpft. Auch der Versuch, die Einführung von Raketenabwehr kooperativ zu stabilisieren, würde erhebliche Rüstungskontrollanstrengungen erfordern, ohne aber alle Risiken ausschließen zu können.
Das Verhältnis zwischen Raketenabwehr, Stabilität und Rüstungskontrolle spielte bereits in den achtziger Jahren eine Rolle. Im Frühjahr 1985 hatte ich Gelegenheit, an einem Symposium der Hanns-Seidel-Stiftung teilzunehmen, das der Debatte über die Strategic Defense Initiative (SDI) der USA gewidmet war. Per Satellit war Paul Nitze als hochrangiger Vertreter der Reagan-Administration zugeschaltet. Ausgehend von der Forderung Ronald Reagans vom 23. März 1983, Atomwaffen durch SDI „impotent und obsolet“ zu machen, fragte ich damals Nitze, ob der umgekehrte Weg nicht vernünftiger sei, also SDI durch die Abrüstung von Raketen und Atomwaffen obsolet zu machen. Nitze widersprach nicht grundsätzlich, hielt die Idee aber für politisch unrealistisch.

Die verpasste Chance von Reykjavik

In der vom Kalten Krieg geprägten Zeit war seine Skepsis berechtigt, doch schon bald veränderten sich die politischen Umstände dramatisch. Im Herbst 1985 begannen die Genfer Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR über eine Verhinderung des Wettrüstens auf der Erde und im Weltraum, und zu Beginn des Jahres 1986 legte Michail Gorbatschow seinen Plan zur Abschaffung aller Atomwaffen bis zum Jahr 2000 vor. Der vorläufige Höhepunkt einer neuen Entspannung war im Oktober 1986 der Gipfel zwischen Reagan und Gorbatschow in Reykjavik, bei dem die Führer beider Supermächte das für damalige Verhältnisse Unglaubliche diskutierten: Innerhalb von fünf Jahren sollten alle Atomwaffen halbiert, in zehn Jahren alle ballistischen Raketenwaffen abgeschafft werden. Während Reagan SDI als Versicherungspolice behalten wollte, befürchtete Gorbatschow, durch SDI könne der nukleare Abrüstungsprozess destabilisiert werden. Eine Einigung scheiterte an der Frage, in welchem Umfang SDI-Forschung und Entwicklung durch den Raketenabwehrvertrag (ABM-Vertrag) von 1972 beschränkt sei.

Die Sorge vor einer rüstungstechnischen Dominanz der USA wurde auch von sowjetischen Vertretern auf dem internationalen Wissenschaftler-Kongress »Ways Out of the Arms Race« im November 1986 in Hamburg geäußert, doch sie wich zunehmend einer nüchternen Betrachtung der technischen Probleme von SDI. Unter dem Beifall der etwa 4000 Konferenzteilnehmer fragte Valentin Falin, wozu SDI noch nötig sei, „wenn in zehn Jahren keine atomare Waffe mehr existieren wird.“1

Die sich abzeichnende Kompromissbereitschaft Gorbatschows bei SDI schlug sich ein Jahr später im INF-Vertrag von 1987 nieder, der eine ganze Kategorie nuklearer Waffen in Europa verschrottete, sowie in der Reduzierung der strategischen Kernwaffen im START I-Vertrag. Auch über einen »großen Kompromiss« bei der Festlegung zulässiger Grenzen im ABM-Vertrag wurde gesprochen sowie über stabile Mischungsverhältnisse offensiver und defensiver Waffen.2 Mit dem Zerfall des Ostblocks fanden solche Überlegungen jedoch ein jähes Ende. Es schien, als sei SDI durch das Ende des Kalten Krieges tatsächlich »obsolet« geworden. Auch Paul Nitze unterstützte 1992 den Vorschlag der Federation of American Scientists (FAS), in Anknüpfung an Reykjavik alle ballistischen Raketenwaffen abzuschaffen (Zero Ballistic Missiles, ZBM). Es entwickelte sich eine weltweite Bewegung für die Abschaffung aller Kernwaffen.

Rüstungskontrolle – ein Relikt des Kalten Krieges?

Die Anfangseuphorie über den beendeten Ost-West-Konflikt und die erhoffte Friedensdividende war jedoch bald verflogen. Die Sowjetunion hatte sich zwar aufgelöst, doch die USA nutzten das, um nun noch ungehinderter als zuvor Machtpolitik zu betreiben; Raketenabwehr erhielt eine neue Funktionsbestimmung. Bereits im April 1990 erschien in der renommierten Zeitschrift Nature ein Artikel von dem »Vater der Wasserstoffbombe« und Vordenker von SDI, Edward Teller, und dem Los Alamos-Wissenschaftler Gregory Canavan.3 Darin zeichnen sie das Bild einer Bedrohung aus dem Süden, gegen die nur Raketenabwehr helfen könne.

Den Durchbruch für die Re-Instrumentalisierung der Raketenabwehr brachte der zweite Golfkrieg 1991, der trotz des technischen Versagens der Patriot-Abwehr von George Bush Senior genutzt wurde, um einen globalen Schutz gegen begrenzte Raketenangriffe zu fordern.4 Bushs Nachfolger Bill Clinton benannte 1983 zwar das SDI-Programm um und stellte exotische Weltraumwaffen zurück, ließ aber das Budget intakt und integrierte Raketenabwehr in die Counterproliferationsstrategie der USA. Daran hat sich mit NMD nicht viel geändert.

Über alle weltgeschichtlichen Veränderungen hinweg hat die Raketenabwehr in den USA eine erstaunliche Eigendynamik gezeigt. Genau diese zu begrenzen ist das Ziel des ABM-Vertrages, der erstmals in der Geschichte das Wechselspiel zwischen Offensive und Defensive beenden soll. Deshalb ist er den NMD-Anhängern ein Dorn im Auge. In einem bemerkenswerten Umkehrschluss machen sie den ABM-Vertrag, und mit ihm das Konzept der Rüstungskontrolle, zu einem Relikt des Kalten Krieges, nicht jedoch die Atomwaffen, Raketen und Raketenabwehrsysteme, die dadurch kontrolliert werden sollen. Die USA, die keines ihrer Gewaltinstrumente beschränkt sehen wollen, widerlegen nicht die Notwendigkeit von Rüstungskontrolle, zeigen aber ihre Schwäche.

Sicherlich lässt sich das heutige USA-Russland-Verhältnis nicht mit dem Ost-West-Konflikt vergleichen, allein schon weil Russland sich das derzeitige Kernwaffenarsenal auf Dauer nicht leisten kann und für die USA in einem Wettrüsten kein gleichgewichtiger Gegner ist. Dennoch sind die angekündigten russischen Gegenmaßnahmen gegen NMD ebenso ernst zu nehmen wie Versuche, durch diplomatische Initiativen, durch Abrüstung und Rüstungskontrolle die Folgen abzuschwächen.

Stabilität und präventive Rüstungskontrolle

Auf beiden Seiten gibt es ein Interesse an Zusammenarbeit und Rüstungskontrolle, selbst wenn NMD weitergeht. Von Interesse sind hier die Vorschläge Putins vom 13. November 2000. Er bietet den USA an, die Zahl der nuklearen Sprengköpfe unter die Grenze von 1500 zu senken, also in einen Bereich, in dem eine begrenzte Abwehrfähigkeit der USA bedeutsam werden könnte. Der Kommandeur der russischen nuklearen Raketenstreitkräfte, General Wladimir Jakowlew, schlug als Gegengewicht zur US-amerikanischen Raketenabwehr vor, „einen konstanten allgemeinen Index für strategische Rüstung einzuführen, in den neben den nuklearen Offensivwaffen auch die Anti-Raketen-Abwehrsysteme aufgenommen werden''.5 Ein Land, das die Abwehrkomponente verstärken wolle, müsse somit zugleich die Bedrohung gegenüber anderen Staaten verringern.

Mit solchen Vorschlägen, befürchtete Instabilitäten durch NMD kooperativ abzumildern, wird der in Reykjavik angesprochene Zusammenhang zwischen Raketenabwehr, Rüstungskontrolle und Stabilität wieder aktuell. Damals wie heute stellt sich der Moskauer Führung die Frage: Soll Russland an seiner grundsätzlichen Ablehnung von NMD festhalten und dabei riskieren, dass die USA alleine agieren, oder soll Russland sich auf einen Deal mit den USA beim ABM-Vertrag einlassen, um als Akteur im Raketenabwehrspiel noch eine Rolle zu spielen?

Zwar richtet sich NMD offiziell gegen kleiner Raketenmächte aber das Verhältnis USA-Russland wäre unmittelbar betroffen, selbst dann, wenn die Führer beider Staaten sich auf ein kooperatives Management verständigen. Bei einem gleichzeitigen Prozess »Offensive runter – Defensive rauf« wird irgendwann der Zeitpunkt der Parität erreicht, an dem die Abwehr rechnerisch die Offensive unwirksam macht. Weder kann dann ein Angreifer sicher sein, strategische Ziele zu erreichen, noch die angegriffene Seite ihrer Zweitschlagkapazität. Eine solche Unsicherheit kann die Entscheidungsträger zur Vorsicht veranlassen, im Falle gegenseitigen Misstrauens jedoch das Gegenteil bewirken.

Hinzu kommt, dass die Vorstellung von definierbaren Offensivkapazitäten und Abwehrschwellen nicht haltbar ist. Zum einen gibt es große Unsicherheiten über die Rüstungspotenziale, zum anderen macht die durch Raketenabwehr vervielfachte Komplexität der Sicherheitspolitik eine Prognose nahezu unmöglich, zumal wenn Weltraumkomponenten ins Spiel kommen. Wenn schon eine durchdringende Rakete genügt, um New York in Schutt und Asche zu legen, nützt es den USA wenig, eine statistische Abwehrfähigkeit gegen 50 Raketen zu besitzen.

Der Ost-West-Konflikt ist vorbei, aber damit nicht notwendig die Furcht vor Atomwaffen oder die Anfälligkeit von Entscheidungsträgern gegenüber Word-Case-Szenarien. Wie würden die USA reagieren, wenn sie in einer Krise befürchten müssten, dass ihr komplexes Abwehrsystem durch Sabotage, Cyber War oder direkte Angriffe außer Kraft gesetzt wird? Wer will garantieren, dass Ängste vor einem Erstschlag, der die Zweitschlagfähigkeit unter die Abwehrschwelle schrumpfen ließe, keine Rolle mehr spielen? Ist es wirklich auszuschließen, dass in Moskau Kräfte an die Macht kommen, die glauben die russische Abschreckungsfähigkeit gegenüber den USA sichern zu müssen? Wie würde dann die Führungselite der USA reagieren, die schon heute zu überzogenen Bedrohungswahrnehmungen gegenüber vermuteten kleinen Raketenmächten neigt? Warum sollen sich die Führer anderer Staaten rationaler verhalten, obwohl bekannt ist, dass die USA sich das Recht zur militärischen Intervention und Counterproliferation herausnehmen?

Ob eine stabile Einführung der Raketenabwehr kooperativ abgesichert werden kann, hängt von der Fähigkeit der Kernwaffenmächte ab, die großen Unsicherheiten durch gegenseitige Überwachung und Informationsaustausch zu minimieren, und ihrer Bereitschaft, auf Worst-Case-Denken zu verzichten und den potenziellen Gegenspielern zu vertrauen. Diese »kooperative Rüstungssteuerung« bedeutet eher mehr Rüstungskontrolle als bisher und die Verständigung auf eine Zielperspektive. Wenn das Ziel ist, die Raketenbedrohung zu verringern oder gar die nukleare Abschreckung zu beenden, stellt sich die Frage, ob Raketenabwehr angesichts der Kosten und Risiken ein dazu geeigneter Weg ist oder nicht eher in die Sackgasse führt. Offenkundig gibt es die Alternative, die Bedrohung kooperativ und in überprüfbarer Weise herunterzufahren. Ein solcher Abrüstungsprozess müsste ebenfalls durch Rüstungskontrolle abgesichert werden, wäre aber einfacher zu realisieren als bei gleichzeitiger Einführung von Raketenabwehr.

Im Unterschied zur traditionellen Rüstungskontrolle, die vorwiegend auf die Stabilisierung, Risikominderung und Kostensenkung in der Rüstungsdynamik zielt, geht es beim Konzept der präventiven Rüstungskontrolle darum, rechtzeitig auf destabilisierende Rüstungsentwicklungen hinzuweisen und bereits im Frühstadium der rüstungstechnischen Forschung und Entwicklung geeignete Eingriffs- und Steuerungsmöglichkeiten aufzuzeigen.6 Folgende Bereiche der Rüstungskontrolle sind von NMD unmittelbar betroffen: die Kontrolle von Kernwaffen, ballistischen Raketen, Raketenabwehrsystemen und Weltraumrüstung. Zu allen vier Bereichen sollen kurz einige Optionen angesprochen werden, ohne hier ins Detail gehen zu können.

Nukleare Abrüstung

Die Kontrolle nuklearer Rüstung hatte nach dem zweiten Weltkrieg einen hohen Stellenwert in den internationalen Beziehungen, auch wenn konkrete Fortschritte lange auf sich warten ließen (Nichtverbreitungsvertrag, Kernwaffenfreie Zonen, SALT, INF, START, Teststopp-Vertrag). Während lange versucht wurde, die Gefahren eines Wettrüstens und die Risiken eines Atomkrieges zu minimieren, steht seit Mitte der neunziger Jahre die Beseitigung der Kernwaffen auf der internationalen Tagesordnung von Staaten (NVV-Konferenzen, Canberra-Komission, Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, New Agenda Coalition, UNO-Resolutionen) und Nichtregierungsorganisationen (Abolition 2000, Studien zur kernwaffenfreien Welt, Nuklearwaffenkonvention). Ein Streitpunkt betrifft das geeignete Verhältnis zwischen kurzfristig möglichen Schritten und dem längerfristigen Konzept einer kernwaffenfreien Welt. Mit der Vorlage eines Modellentwurfs für eine Nuklearwaffenkonvention wurde versucht, die Konkretisierung der Zielperspektive mit einzelnen Schritten zu verknüpfen.7 Unter anderem aufgrund der Kernwaffentests in Südasien und der Blockade durch den US-Kongress ist der Abrüstungsprozess ins Stocken geraten.

Ein kleiner Lichtblick auf der deklaratorischen Ebene ist die im November 2000 mit großer Mehrheit in der UNO-Generalversammlung verabschiedete Resolution der »New Agenda Coalition« für eine kernwaffenfreie Welt, die erstmals die Zustimmung aller NATO-Staaten erhielt, einschließlich USA, bei Enthaltung Frankreichs und Russlands. Auch die russische Ratifizierung von START II und Teststoppvertrag schafft günstigere Bedingungen, ist jedoch an die Einhaltung des ABM-Vertrages gekoppelt. Ein nächster Schritt wäre der in Genf verhandelte Produktionsstopp für spaltbare Materialien. Darüber hinaus muss auch über die Beseitigung aller Kernwaffen verhandelt werden, ein Ziel, das bei einer NMD-Stationierung noch schwieriger zu erreichen wäre. Das Stabilitätsproblem stellt sich auch bei der Abrüstung auf sehr niedrige Kernwaffenzahlen, wäre aber weniger brisant als mit Raketenabwehr und höheren Kernwaffenzahlen.

Internationale Kontrolle ballistischer Raketen

Bislang verfügen lediglich die fünf Kernwaffenmächte über Interkontinentalraketen, während andere Staaten nur Raketen kurzer und mittlerer Reichweite haben. Die Bedrohungseinschätzungen der US-Geheimdienste, die auch NMD zu Grunde liegen, sind bislang nicht eingetreten. Mit diplomatischen Initiativen, wie jüngst im Falle Nordkoreas, lassen sich möglicherweise selbst die als »irrational handelnd« angesehenen Mächte von einer Weiterentwicklung ihrer Raketen abbringen.

Bisher gibt es kein multilaterales Abkommen zur Begrenzung oder Abrüstung ballistischer Raketen. Für Raketen mittlerer und langer Reichweite wurden Verträge zwischen den USA und der UdSSR bzw. Russland unterzeichnet. Das Missile Technology Control Regime (MTCR) konnte die Verbreitung von Raketentechnik durch Exportkontrollen der Lieferländer zwar verlangsamen, aber nicht verhindern. Solange es keine internationale Norm gegen ballistische Raketen gibt, kann kein Staat einem anderen die Möglichkeit zu einer eigenständigen Raketenentwicklung verwehren.8 Ein Ausgangspunkt ist der schon erwähnte ZBM-Vorschlag der FAS, die 1992 nicht nur einen vollständigen Vertragsentwurf zur Beseitigung ballistischer Raketenwaffen vorlegte, sondern zugleich einen stufenweisen Prozess zum Ziel anvisierte.9 Das ZBM-Konzept benennt unterschiedliche Aufgabenteilungen zwischen Staaten, je nach Stand ihrer Raketenentwicklung, und schlägt die Einrichtung raketenfreier Zonen vor. Von wesentlicher Bedeutung wäre es, die Erprobung ballistischer Raketen zu beschränken oder ganz einzustellen (Raketenteststopp)10 und keine weiteren Raketen aufzustellen, um die Raketenentwicklung auf dem derzeitigen Stand einzufrieren (Freeze).

Ein Raketentest-Moratorium wäre am besten überprüfbar, denn ein Raketenstart ist ein weit sichtbares Ereignis. Bei umfassender Raketenabrüstung wäre der Aufbau eines internationalen Überwachungssystems erforderlich, das satelliten- und luftgestützte Aufklärung ebenso umfasst wie Radaranlagen und Sensoren am Boden, die in den Weltraum gerichtet sind.11 Um die Verwendung von Weltraumraketen als ballistische Fernwaffen zu verhindern, muss auch die Überprüfung vor Ort an wichtigen Weltraumanlagen erfolgen, unter Einsatz zerstörungsfreier Messverfahren. Der Austausch von Informationen, etwa über Raketenstarts und Startgelände, ist eine weitere Quelle, um gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. Vorschläge zur verbesserten Raketenfrühwarnung und -überwachung wurden von der russischen Regierung mit ihrem globalen Raketenkontrollsystem vorgelegt und auch bei einem Rundtischgespräch in Ottawa im März 2000 diskutiert.12

Kontrolle der Raketenabwehr

Der ABM-Vertrag untersagt beiden Staaten den Aufbau einer landesweiten Raketenabwehr (Art. I), einschließlich Entwicklung, Erprobung und Stationierung (Art. V), bis auf 100 Abschussvorrichtungen an einem Ort und ein bis zwei Versuchsgebiete. Weitere Paragraphen untersagen, Nicht-ABM-Systeme mit einer »ABM-Fähigkeit« auszurüsten (Art. VI) sowie den Transfer von ABM-Technologien in andere Staaten (Art. IX). Nach der gemeinsamen Interpretation D sollen spezifische Begrenzungen auch für ABM-Systeme mit „anderen physikalischen Prinzipien“ Gegenstand von Gesprächen sein.

Der Vertrag ist doppelt unter Druck. Auf der einen Seite versucht die US-Führung seit Jahren, diesen Vertrag aufzuweichen oder gar abzuschaffen. Zum anderen untergraben neue rüstungstechnische Entwicklungen die Wirksamkeit des Vertrages, insbesondere phasengesteuerte oder mobile Radaranlagen, taktische Raketenabwehrsysteme (TMD: Tactical Missile Defense), Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) und »exotische« Technologien wie Laserwaffen. Daher bedarf der ABM-Vertrag der Anpassung an veränderte Gegebenheiten, nicht im Sinne einer weiten Interpretation, die die Grenzen des Erlaubten überdehnt, sondern zur Konkretisierung und Stärkung der Vertragsbestimmungen.

Um definitorische Probleme zu minimieren hatte FAS-Wissenschaftler John Pike schon auf dem Hamburger Kongress 1986 quantitative und überprüfbare Grenzen für die verschiedenen ABM-Komponenten vorgeschlagen. Diese betreffen etwa die Höhe, Vorbeiflugdistanz und relative Geschwindigkeit von Abfangversuchen; die Zahl und den Ort für große phasengesteuerte Radaranlagen; Grenzen für die Helligkeit von Lasern oder die Öffnungsweite von Sensoren oder Laserspiegeln.13 Physikalische Betrachtungen über mögliche Grenzziehungen für Laserwaffen und taktische Raketenabwehr finden sich in zwei Studien von Jürgen Altmann.14 Mit dem Demarcation Agreement gab Russland dem Drängen der USA teilweise nach, ihr TMD-Programm zu legitimieren, was dem US-Senat aber noch nicht weit genug ging. General Wladimir Jakowlew wollte der FAZ vom 14.11.2000 zufolge ein weiteres Einlenken in der Frage des ABM-Vertrages nicht ausschließen, was aber umgehend dementiert wurde.

Rüstungskontrolle im Weltraum

Ein wichtiger Beitrag nicht nur zur Stärkung des ABM-Vertrages, sondern auch zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum wäre das Verbot von Weltraumwaffen. Ballistische Raketen langer Reichweite fliegen durch den Weltraum und Raketenabwehrsysteme nutzen zu ihrer Bekämpfung den Weltraum. Auch wenn in den Konzepten eines begrenzten Raketenabwehrsystems zunächst nur der Einsatz einzelner Komponenten (insbesondere Sensoren) im Weltraum geplant ist, ergeben sich völkerrechtliche Fragen. Zum Ersten steht die Erprobung und Stationierung solcher Komponenten im Weltraum in Konflikt mit Art. V des ABM-Vertrages. Zum Zweiten könnten weltraumgestützte Komponenten zur Zielscheibe von ASAT-Waffen werden. Bei einem weiteren Ausbau von NMD ist auch die Stationierung von Waffen in einer Umlaufbahn nicht mehr ausgeschlossen. Letztlich kann jede Waffe, die eine ballistische Rakete oberhalb der Atmosphäre treffen kann, auch Satelliten zerstören. Besondere Aktualität bekommt dies durch die Pläne des US Space Command, die Dominanz der USA im All auch militärisch zu festigen und missliebige Weltraumobjekte anderer Staaten bei Bedarf abschießen zu können.

Dies widerspricht den Interessen der Völkergemeinschaft. Grundpfeiler des Weltraumrechts ist der Weltraumvertrag von 1967, einschließlich der Zusatzabkommen. Darin verpflichten sich die Staaten zur friedlichen Nutzung des Weltraums, die im Interesse aller Staaten erfolgen soll. Militärische Einrichtungen auf Himmelskörpern sind ebenso verboten wie Massenvernichtungswaffen in der Erdumlaufbahn, andere Waffen jedoch nicht. Der Wunsch zur friedlichen Nutzung kommt auch in vielen Resolutionen der Vereinten Nationen zum Ausdruck, so in der 1999 ohne Gegenstimmen (bei Enthaltungen der USA und Israels) angenommenen UNO-Resolution »Verhütung eines Wettrüstens im Weltraum«. Diese betont, „dass zur Verhütung eines Wettrüstens im Weltraum weitere Maßnahmen mit geeigneten wirksamen Verifikationsbestimmungen notwendig sind.“

Trotz überwältigender Zustimmung zu diesen Zielen hapert es mit der Umsetzung, denn weder die Genfer Abrüstungskonferenz noch der UN-Ausschuss für die friedliche Nutzung des Weltraums wollen oder können sich angesichts des Widerstands der USA dieser Frage annehmen. Ältere Initiativen gegen eine Bewaffnung des Weltraums sind die 1983 und 1984 vorgelegten Vorschläge Frankreichs und der Sowjetunion zum Verbot von ASAT bzw. zur Begrenzung von Weltraumwaffen. Die Union of Concerned Scientists erarbeitete Anfang 1983 einen Vertragsentwurf zum Verbot von Anti-Satellitenwaffen, der von deutschen Wissenschaftlern zu einem »Vertragsentwurf zur Begrenzung der militärischen Nutzung des Weltraums« erweitert und im Juli 1984 anlässlich des Göttinger Naturwissenschaftler-Kongresses gegen die Weltraumrüstung der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.15 Der Entwurf war im Herbst 1984 auf Initiative der SPD Gegenstand einer Bundestagsdebatte und fand die Unterstützung der Grünen, stieß aber auf Ablehnung der damaligen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP.

Verboten werden sollen Waffen gegen Weltraumobjekte (ASAT) und weltraumgestützte Waffen gegen beliebige Ziele, einschließlich Entwicklung, Test und Stationierung. Mit dem Testverbot könnte die Herstellung fortgeschrittener Weltraumwaffen noch verhindert werden. Stabilisierende Funktionen von Satelliten sollen durch den Entwurf nicht eingeschränkt werden; vorgeschlagen wird lediglich, die Benutzung weltraumgestützter Systeme zur direkten Lenkung von Nuklearwaffen und die Errichtung bemannter militärischer Kommandozentralen zu verbieten. Auch wenn der Göttinger Vertragsentwurf ein Kind seiner Zeit ist, bleibt das Anliegen relevant: die Risiken einer Rüstungsdynamik im Weltraum in überprüfbarer Weise zu verhindern.16

Anmerkungen

1) V. Falin: Die sowjetische Sicht der Ereignisse des Reykjavik-Gipfels, in: W. Kerby, R. Rilling (Hrsg.): Wege aus dem Wettrüsten, Marburg, 1987, S. 38.

2) J. Scheffran: Strategic Defense, Disarmament and Stability, Doktorarbeit, Marburg, IAFA, 1989. Darin finden sich Modellrechnungen und eine Literaturübersicht.

3) G.H. Canavan, E. Teller: Strategic defence for the 1990s, Nature, Vol. 344, 19 April 1990, pp. 699-704.

4) Siehe J. Scheffran, J. Altmann, W. Liebert: Keine Mauer zwischen Nord und Süd – SDI kann das Proliferationsproblem nicht lösen, Dokumentation der Frankfurter Rundschau, 9.4.1992; eine längere Version mit G. Neuneck, B. W. Kubbig und K. Fuchs findet sich in: Von SDI zu GPALS, Dossier Nr. 10, Wissenschaft und Frieden, 2/1992.

5) Widersprüchliche Signale zum ABM-Vertrag, FAZ, 14.11.00.

6) Vgl. J. Altmann, W. Liebert, G. Neuneck, J. Scheffran: Preventive Arms Control as a Prerequisite for Conversion of Military R&D, in: J. Reppy, V. Avduyevsky, J. Rotblat (eds.): Conversion of Military R&D, Macmillan Press, 1999, S. 255-271.

7) M. B. Kalinowski, W. Liebert, J. Scheffran: Ist die Zeit reif für die Nuklearwaffenkonvention?, Sicherheit und Frieden (S+F) 2/98, S. 108-114; IALANA/INESAP/IPPNW: Security and Survival. The Case for a Nuclear Weapons Convention, Cambridge, MA, 1999 (auf deutsch: Berlin 2000).

8) J. Scheffran, G. Neuneck: Schritte zur Abschaffung ballistischer Raketen, in: Wissenschaft und Frieden 13, 1/95, S. 30, 49-51; J. Scheffran: Raketenkontrolle: Verteidigen ist gut – Kontrolle ist besser, Spektrum der Wissenschaft, Sept.2000, S. 94-99.

9) Revisiting Zero Ballistic Missiles – Reagan's Forgotten Dream, in: F.A.S. Public Interest Report, May/June 1992; A. Frye: Zero Ballistic Missiles, Foreign Policy, No. 88, Fall 1992, S. 12-17.

10) Siehe U. Schelb: Raketenzielgenauigkeit und Raketenteststopp, Marburg, 1988; L. Lumpe: A Flight Test Ban as a Tool for Curbing Ballistic Missile Proliferation, INESAP Information Bulletin, No.4, January 1995, pp. 15-18.

11) J. Scheffran: Ein internationales Überprüfungssystem für die Nicht-Verbreitung und Abrüstung ballistischer Raketen, in: J. Altmann, G. Neuneck (Hrsg.): Naturwissenschaftliche Beiträge zu Abrüstung und Verifikation, DPG/FONAS, 1996, S. 260-288.

12) Ballistic Missiles Foreign Experts Roundtable Report, March 30-31, 2000, Canadian Centre for Foreign Policy Development, April 7, 2000.

13) J. Pike: Quantitative Begrenzungen von Raketenabwehrsystemen, Wissenschaft und Frieden, 88/1.

14) J. Altmann: Laserwaffen, Marburg, IAFA-Schriftenreihe Nr. 2, 1986; J. Altmann: SDI for Europe?, Frankfurt, HSFK Research Report 3/1998.

15) Siehe H. Fischer, R. Labusch, E. Maus, J. Scheffran: Entwurf eines Vertrages zur Begrenzung der militärischen Nutzung des Weltraums, in: R. Labusch, E. Maus, W. Send (Hrsg.): Weltraum ohne Waffen, München, Bertelsmann, 1984, S. 175-187. Auf englisch: Treaty on the Limitation of the Military Use of Outer Space, in: J. Holdren, J. Rotblat (eds.): Strategic Defences and the Future of the Arms Race, New York, St. Martin's Press, 1987. Ein neu kommentierter Diskussionsentwurf wurde von mir anlässlich des Göttinger Naturwissenschaftler-Kongresses zur Raketenabwehr am 4.11.2000 vorgelegt.

16) Optionen finden sich in: J. Scheffran: Rüstungskontrolle bei Antisatellitenwaffen – Risiken und Verifikationsmöglichkeiten, Frankfurt, HSFK-Report, Nr. 6, Okt. 1986; J. Scheffran: Die Überprüfbarkeit eines Abkommens zur Begrenzung von Anti-Satelliten-Waffen, in: B. Kubbig (Hrsg.): Die militärische Eroberung des Weltraums, Bd. 1, Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 418-447.

Dr. Jürgen Scheffran ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Universität Darmstadt und Redakteur von W&F