Amerika, das Rom der Moderne?

Amerika, das Rom der Moderne?

Zur Frage des imperialen Charakters der Außen- und Sicherheitspolitik der USA in der Ära Clinton

von Jürgen Rose

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF e.V.)

Bei allem Respekt … Die Europäische Union könnte sich noch nicht einmal aus einer nassen Papiertüte freikämpfen.“

Jesse Helms, Vorsitzender des Außenpolitischen Senatsausschusses des US-Kongresses 1

Mit dem Ende des Kalten Krieges hatte der Ost-West-Konflikt seine prägende Funktion für die Außen- und Sicherheitspolitik im internationalen System verloren – die Zeit für einen Paradigmenwechsel in der internationalen Politik war angebrochen, wobei zunächst unklar schien, wodurch in Zukunft denn die weltpolitischen Strukturen bestimmt werden würden. Wurde in der ersten Euphorie nach dem Sieg im Kalten Krieg in den USA, die als einzige Supermacht auf dem Globus verblieben waren, schon vom „Ende der Geschichte“2 gesprochen, stellte sich spätestens mit der Invasion des Irak in Kuwait heraus, dass dieses auf absehbare Zeit noch auf sich warten ließ. Mit dem äußerst erfolgreichen Management des Konfliktes am Persischen Golf lieferte die US-amerikanische Diplomatie ein Meisterstück, indem sie einerseits die Chancen, welche die neue weltpolitische Konstellation bot, flexibel zur Durchsetzung vitaler US-Interessen nutzte, andererseits dabei auch auf die noch aus den Zeiten des Kalten Krieges stammenden Doktrinen, Ressourcen und Instrumentarien zurückgriff. In der Euphorie des Erfolges proklamierte der amerikanische Präsident George Bush 1991 eine »Neue Weltordnung«. Allerdings demonstrierten die Intervention im somalischen Bürgerkrieg und weit dramatischer noch das Desaster im ehemaligen Jugoslawien, dass von einer neuen und stabilen internationalen Ordnung (unter den Vorzeichen einer »Pax Americana«?) nicht die Rede sein konnte. Im Gegenteil, nach der Amtsübernahme durch den neuen Präsidenten Bill Clinton konzentrierten sich die USA zwei Jahre lang verstärkt auf ihre internen Probleme, isolationistische Tendenzen in der Außenpolitik wurden virulent, weltpolitische Orientierungslosigkeit griff um sich. „Mit dem NATO-Gipfel im Januar 1994 in Brüssel, auf dem Präsident Clinton den Westeuropäern einen sicherheitspolitischen Freibrief und den Plänen zur NATO-Osterweiterung eine Absage erteilt hatte, schien seine Außenpolitik zum Erliegen gekommen sein.“3

Erst als die Clinton-Administration einerseits innenpolitisch unter starken Druck geriet – da über das weitgehende Scheitern der sozial-, bildungs-, und gesundheitspolitischen Reformprojekte hinaus der Vorwurf laut wurde, dass der Präsident die amerikanische Führungsrolle verspiele4 und die Regierung dem Massenmorden auf dem Balkan tatenlos zusehe –, andererseits zu erkennen war, dass im Balkankrieg nicht nur das Ansehen internationaler Organisationen wie der UNO und der NATO auf dem Spiel stand, sondern damit einhergehend auch die Glaubwürdigkeit der USA zunehmend beeinträchtigt wurde,5 besannen sich die USA auf ihre weltpolitische Führungsrolle zurück, indem sie die NATO durch massiven Druck dazu bewegten, in Bosnien zu intervenieren um dem Schlachten dort ein Ende zu setzen. Mit dem unter ihrer Ägide ausgehandelten Friedensabkommen von Dayton im Dezember 1995 demonstrierten die USA deutlich, dass sie ihre internationale Führungsrolle auch in Europa wieder übernommen hatten.

Seitdem können sich die Europäer und der Rest der Welt über einen Mangel an Führungsbereitschaft der USA nicht mehr beklagen, was sich an nachfolgenden Beispielen unschwer illustrieren lässt:

  • Mit dem Beschluss, die NATO nach Osten auszudehnen, haben die Vereinigten Staaten den Rahmen für die sicherheitspolitische Neuordnung Europas abgesteckt, nicht etwa die Europäer, die in puncto der Aufnahme neuer Mitglieder in die Europäische Union keineswegs ungebührliche Eile an den Tag legen. Dass die Anzahl der neu aufzunehmenden Mitglieder auf drei beschränkt bleibt, haben ebenfalls die USA gegen die Vorstellungen ihrer europäischen Alliierten diktatorisch durchgedrückt.6

Auch bei anderen Gelegenheiten scheuen die USA nicht vor rüdem Umgang mit ihren europäischen Alliierten zurück: Als der NATO-Partner Norwegen nach dem Beitritt zum Internationalen Minenabkommen von den USA den Abzug ihrer auf norwegischem Boden gelagerten Anti-Personenminen verlangte, drohte US-Verteidigungsminister William S. Cohen an, sämtliche in Norwegen gelagerten Waffendepots komplett zu räumen.7

  • Der Einfluss der USA war entscheidend dafür, dass die NATO im März 1999 einen völkerrechtlich sehr zweifelhaften Angriffskrieg aus humanitären Gründen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien – ein souveränes Mitglied der Vereinten Nationen – eröffnete, nachdem die Vereinigten Staaten die Glaubwürdigkeit desjenigen Instruments in Gefahr gesehen hatten, das sie im Hinblick auf Europa traditionell als das wichtigste und entscheidende ihrer Diplomatie, ihrer Führung und ihres Einflusses sowie der Verteidigung gegen ideologische und militärische Bedrohungen betrachten.8 Zugleich versuchen die USA, im »Neuen Strategischen Konzept« der NATO, das am 24./25 April 1999 von den Allianzmitgliedern verabschiedet werden soll, die unter den europäischen Partnern mitnichten unumstrittene Kriseninterventionsrolle der Allianz auf Dauer festzuschreiben.9
  • Bei den Verhandlungen in Wien über die Anpassung des »Vertrages über die konventionellen Streitkräfte in Europa« an die veränderten sicherheitspolitischen Gegebenheiten blockieren die USA derzeit eine Regelung, da sie sich einerseits weigern, Russland größere Flexibilität im Hinblick auf Truppenverlegungen in seinen Flankenregionen einzuräumen, andererseits aber für die US-amerikanischen Stationierungsstreitkräfte in Europa ein Höchstmaß an Bewegungsfreiheit beanspruchen. Zeitweilige Überschreitungen der angestrebten territorialen Obergrenzen im Falle von Krisen oder im Rahmen friedenserhaltender Einsätze wollen Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Russland auf Brigadestärke begrenzen, während die USA (zusammen mit Italien, Spanien und Großbritannien) diese in Divisionsstärke zulassen wollen.10
  • Mit dem neuen Welthandelsabkommen vom Dezember 1997 haben die Vereinigten Staaten der Weltwirtschaft die Richtung für den globalen Freihandel gewiesen, wobei nach Angaben von Angehörigen der Welthandelsorganisation WTO alle Verhandlungen von den US-Amerikanern bestimmt wurden.11 Nichtsdestoweniger greifen die USA unverblümt zu protektionistischen Maßnahmen wenn es ihren ökonomischen Interessen dient. So weigert sich die US-Administration zum Beispiel, ein OECD-Abkommen über einen Subventionsstopp im Handelsschiffbau zu unterzeichnen,12 das die schärfsten Konkurrenten, Japan und Südkorea, längst signiert haben. Ausgerechnet die Prediger des freien Welthandels wollen mit kräftigen staatlichen Hilfen den Handelsschiffbau im eigenen Lande ankurbeln, der in den vergangenen Jahren praktisch zum Erliegen gekommen ist. Um dieses Ziel zu erreichen, wird in protektionistischer Manier verordnet, dass Waren im US-Binnenhandel nur mit in den Vereinigten Staaten gebauten Schiffen transportiert werden dürfen.
  • Der Teilnehmerkreis an den Gipfeltreffen der führenden Industrienationen, bekannt unter dem Signum »G 7«, wurde von Präsident Clinton anlässlich der Zusammenkunft in Denver im Juni 1997 im Alleingang, ohne Konsultation der anderen Teilnehmerstaaten, um den wirtschaftlichen Zwerg Russland erweitert.13
  • Was die Bekämpfung sogenannter »Schurkenstaaten« (Staaten welche die Menschenrechte missachten, den Drogenhandel fördern oder internationale Kriminalität und Terrorismus unterstützen) anbelangt, fordern die USA von ihren Verbündeten unbedingte Gefolgschaft und drohen im Falle der Verweigerung wirtschaftliche Sanktionen an. „Von Städten in Kalifornien über Kreise im mittleren Westen bis hin zu den Hallen des Senats in Washington ist Amerika vom Sanktionsfieber befallen.“14 So wurde unter Verweis auf nationale Sicherheitsinteressen das berüchtigte Helms-Burton-Gesetz verabschiedet, das ausländische Unternehmen in den Vereinigten Staaten mit Strafen bedroht, wenn sie in enteigneten US-amerikanischen Besitz auf Kuba investiert haben.15 Als die Europäische Union die USA wegen dieser extraterritorialen Ausweitung ihrer Gesetzgebung, die ganz evident gegen die eingegangenen Vertragsverpflichtungen verstößt, vor der Ende 1993 gegründeten Welthandelsorganisation WTO verklagte, weigerten diese sich, vor deren Schiedsgericht zu erscheinen.16 Dieses hegemoniale Gebaren stellt keinen Einzelfall dar: 1996 wurde vom US-Kongress das sogenannte »D'Amato-Gesetz« verabschiedet, das Sanktionen gegen ausländische Firmen oder Personen vorsieht, die im Erdöl- oder Erdgassektor Irans rsp. Libyens investieren.17 Dieses Gesetz trifft Freund und Feind gleichermaßen. Es nimmt keine Rücksicht auf Interessen von Verbündeten und auf multilaterale Handelsabkommen. Unstrittig ist, dass die extraterritoriale Wirkung auch dieses Gesetzes wiederum den Grundsätzen des Freihandels widerspricht18 und gegen internationale Verträge verstößt, die ohne die USA nie zustande gekommen wären.19 Erst im Dezember 1997 bekräftigte der amerikanische Präsident diese Politik, indem er keinen Zweifel daran ließ, dass er europäische Unternehmen bestrafen würde, die in diesen Ländern investierten.20

Zugleich zeigt die Clinton-Administration indes keinerlei Hemmungen, im Verhältnis zur Volksrepublik China Menschenrechtsfragen wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen unterzuordnen, obwohl die Menschen- und Bürgerrechte in China weiterhin mit Füßen getreten werden.21 Nichts vermochte dies eindrücklicher zu demonstrieren als der China-Besuch Clintons im Sommer letzten Jahres, als er gemeinsam mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Jiang Zemin die Ehrenformation der Volksbefreiungsarmee auf dem Tiananmen-Platz abschritt, wo das Militär am 4.Juni 1989 die studentische Demokratiebewegung massakriert hatte.

  • Wie die extensiven Raketenangriffe auf die Infrastruktureinrichtungen islamistischer Gruppen in Afghanistan und eine Chemiefabrik im Sudan am 20. August 199822 illustrieren, ignorieren die USA bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus mit ihrem unilateralen Handeln habituell die Regelungsmechanismen der Vereinten Nationen. Darüber hinaus stehen die durchgeführten Aktionen im Widerspruch zum gültigen Völkerrecht, insbesondere weil dadurch gegen das durch die Charta der Vereinten Nationen allen Staaten auferlegte Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen verstoßen wird.23
  • Auf dem Weltklimagipfel im Dezember 1997 blockierte die US-Delegation unter dem Druck der »Global Climate Coalition« (Koalition für das Weltklima) eine Einigung über eine weltweite Begrenzung des Ausstoßes klimaschädlicher Gase, ungeachtet der Tatsache, dass die USA der Welt größter Emittent von Treibhausgasen sind. Niemals werde man einer internationalen Institution die Autorität übertragen, das amerikanische Wirtschaftswachstum zu begrenzen und zu regulieren,24 lautete die Begründung. Auf dem schon erwähnten Treffen der G 8 in Denver bestätigte Präsident Clinton diese Haltung indem er deutlich machte, dass er gar nicht daran dächte, das Wirtschaftswachstum durch irgendwelche Umweltschutzauflagen zu bremsen.25
  • Selbst den Vereinten Nationen nötigen die USA mitunter in rücksichtsloser und arroganter Manier ihren Willen auf. So legte die Außenministerin Albright trotz erheblicher Proteste anderer Mitgliedstaaten ihr Veto gegen eine Wiederwahl des amtierenden Generalsekretärs Bouthros Bouthros-Ghali ein und sorgte dafür, dass dieser durch den ihr genehmen Kofi Annan ersetzt wurde. Gleichzeitig weigern sich die USA jedoch, ihre bei der Weltorganisation aufgelaufenen Schulden in Höhe von 1,3 Milliarden Dollar zu begleichen. Auch die Unterstellung US-amerikanischer Truppen unter ein Kommando der UNO kommt nach den Erfahrungen in Somalia und im ehemaligen Jugoslawien für die USA nicht mehr in Frage. Wenn Soldaten irgendwo hingeschickt werden, dann nur unter eigenem Kommando.

Ein Musterbeispiel für die oftmals von der Arroganz und Hybris der Macht geprägte Haltung gegenüber den Vereinten Nationen stellte das Verhalten der von David Scheffer geleiteten Delegation der USA während der Verhandlungen von Rom zur Schaffung eines Ständigen Internationalen Strafgerichtshofes dar.26 Am 17. Juli 1998 haben Vertreter von 160 Staaten mit 120 gegen 7 Stimmen, bei 21 Enthaltungen, die Statuten angenommen, nach denen zukünftig das Weltstrafgericht Völkermord, Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahnden können soll. Die Gegenstimmen kamen von den USA, China, Qatar, Mikronesien und Libyen – nicht eben die beste Gesellschaft für die Vereinigten Staaten wie der kanadische Außenminister Lloyd Axworthy nach der Abstimmung spitz bemerkte. Für die Annahme des Vertragsentwurfs, der bevor er in Kraft treten kann von mindestens sechzig Staaten ratifiziert werden muss, hatten von den Ständigen Sicherheitsratsmitgliedern Frankreich, Großbritannien und selbst Russland zugestimmt. Die Abstimmungsniederlage stellte um so mehr eine Ohrfeige für die Vereinigten Staaten dar, als sie sich mit einem Mal Seite an Seite mit dem von ihnen als »Schurkenstaat« apostrophierten Libyen wiederfanden, obwohl sie zuvor noch Verbündete mit der Drohung von Truppenabzügen auf ihre Seite zu zwingen versucht hatten. Auch der vor der endgültigen Abstimmung unternommene Versuch der US-Delegation, eine Straffreiheitsgarantie zugunsten US-amerikanischer Soldaten und Agenten herauszuhandeln, war vergeblich: Mit 113 zu 17 Stimmen war auch dieser Vorstoß, »double standards« zu setzen, kläglich gescheitert. Momentan hat Washington sich in die Schmollecke zurückgezogen, da dem Pentagon ein unabhängiger und starker Internationaler Strafgerichtshof als „dramatisch unvereinbar mit amerikanischen Interessen“ gilt, und droht damit, jenen aktiv zu bekämpfen.

Wenn es also Kriterien für hegemoniale Führung gibt, dann haben die USA sie, wie die zuvor aufgeführten Fälle demonstrieren, in den letzten Jahren mehr als erfüllt27 sowie obendrein „mitunter an außenpolitischer Zurückhaltung gespart und sich großzügig Anmaßungen gegenüber anderen Ländern erlaubt.“28 Die Frage, die sich an dieser Stelle aufdrängt lautet, ob der Gang dieser Ereignisse sich mehr oder minder zufällig vollzieht oder ob weiterreichende konzeptionelle Grundlagen in der Außen- und Sicherheitspolitik der USA existieren, die hierfür die Basis bieten. Im Folgenden soll deshalb der Frage nachgegangen werden, ob sich Konturen einer US-amerikanischen außen- und sicherheitspolitischen Globalstrategie nachweisen lassen und wenn ja, wie diese beschrieben werden können.29

1. Die politische Gesamtkonzeption

Einen wichtigen Ansatzpunkt im Hinblick auf die zuvor dargelegte Fragestellung lieferte der ehemalige US-Verteidigungsminister William J. Perry mit einer konzeptionellen Rede zur Sicherheitspolitik der USA am 13. Mai 1996 an der Harvard University.30 Ausgehend von der Diagnose einer Revolution, die sich in Politik, Wirtschaft und Technologie ereignet hätte, forderte er auch eine Revolution des Denkens auf dem Gebiet der Sicherheitsstrategie. Diese revolutionäre neue Konzeption der US-Sicherheitspolitik bezeichnete er mit dem Terminus »Präventive Verteidigung«.31 Zukünftig sollte »Präventive Verteidigung« die „erste Verteidigungslinie“ Amerikas bilden, Abschreckung die zweite und der militärische Konflikt die dritte und letzte Möglichkeit. Mit seiner Konzeption forderte Perry eine Außen- und Sicherheitspolitik unter militärischen Vorzeichen, wobei den USA selbstverständlich eine globale Führungsrolle bei der Definition und Schaffung des angestrebten Friedenszustandes zugedacht wurde.

Hinsichtlich des globalen Führungsanspruchs besteht sowohl in der Administration Bill Clintons als auch in der politischen Elite der Vereinigten Staaten insgesamt Konsens. Die Grundphilosophie US-amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik bringt Präsident Clinton auf den Punkt wenn er feststellt: „Wenn Interessen unserer nationalen Sicherheit bedroht sind, werden wir, wie es Amerika immer getan hat, uns diplomatischer Mittel bedienen, wenn wir können, jedoch auf militärische Gewaltanwendung zurückgreifen, wenn wir müssen.“32 Erneut bekräftigt wurde diese fundamentale Maxime durch die derzeit gültigen Grundlagendokumente »A National Security Strategy for a New Century« (Eine nationale Sicherheitsstrategie für das Neue Jahrhundert)33 und »National Military Strategy 1997« (Nationale Militärstrategie 1997).34

Die Strategie der »Präventiven Verteidigung« postuliert, dass „Frieden zu wichtig ist, um ihn allein den Politikern zu überlassen.“35 Infolgedessen wird dem Militär zum Zwecke ihrer Realisierung eine mit neuartigen Kompetenzen verbundene Schlüsselrolle übertragen. Indessen hatte das Ende der Blockkonfrontation des Kalten Krieges zunächst die Annahme nahegelegt, das Militär würde im Hinblick auf die Gestaltung der internationalen Beziehungen einen Funktions- und Bedeutungsverlust erfahren. Zukünftig, so schien es, würden die zivilen und vergleichsweise friedlichen Instrumente der Diplomatie, Wirtschaftskooperation und Entwicklungszusammenarbeit die internationale Politik prägen. Mit der »Präventiven Verteidigung« tritt jedoch das genaue Gegenteil ein: Das Militär in seiner vormals eher passiven Rolle als Instrument der Abschreckung tritt in den Hintergrund36 und bekommt neuerdings eine aktiv gestaltende und damit zugleich erheblich erweiterte Funktion zugewiesen. Gemäß der veränderten Strategie sollen die Militär- und Verteidigungsapparate der Welt zur weltweiten Verbreitung der Demokratie sowie zur Verständigung und Vertrauensbildung unter den Nationen beitragen. Dies soll vor allem durch Dialog und Kooperation geschehen. Allerdings kann der präferierte »sanfte« Weg, mittels der »Präventiven Verteidigung« US-Interessen weltweit durchzusetzen, auch scheitern. Für diesen Fall wird darauf verwiesen, dass die „oberste Priorität darin besteht, sowohl starke, einsatzbereite Streitkräfte als auch den Willen zu erhalten, diese einzusetzen, um Bedrohungen unserer Interessen abzuschrecken und abzuwehren.“37 Die Strategie der »Präventiven Verteidigung« leistet damit einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Aufrechterhaltung und darüber hinaus sogar zum weiteren – vornehmlich qualitativen – Ausbau des ohnehin gewaltigen militärischen Machtapparates der USA.

Der US-Verteidigungsminister William S. Cohen bestätigt den Kurs seines Vorgängers im Amt wenn er ausführt: „Unsere militärische Stärke wird weiterhin eine absolut zentrale Komponente starker Führung durch die Vereinigten Staaten darstellen. Wir können nicht als Weltpolizist fungieren, aber wir müssen erkennen, dass starke Führung durch die Vereinigten Staaten im Hinblick auf Stabilität und Demokratie in unserem ureigensten Interesse liegt.“38 Dezidiert betont er darüber hinaus den Willen der USA, gegebenenfalls auch unilateral zur Durchsetzung nationaler Interessen zu intervenieren: „Amerika muss darauf vorbereitet sein, nötigenfalls unilateral zu handeln – entschieden zu intervenieren, wenn vitale Interessen der Vereinigten Staaten auf dem Spiel stehen.“39 Den letzten Beweis für die unerbittliche Entschlossenheit, mit der diese Doktrin durchgesetzt wird, lieferten die oben erwähnten Raketenangriffe auf Afghanistan und den Sudan, die selbst innerhalb der USA auf Kritik stießen: „Indes, Raketenangriffe auf Länder zu starten, mit denen wir uns formell im Frieden befinden – und deren Bürger zu töten – bedeutet, dass die Vereinigten Staaten die Freiheit beanspruchen, ihre eigenen Regeln für den Umgang mit diesem internationalen Problem zu definieren.“40

Auch Außenministerin Madeleine Albright, die im Dezember 1996 ins State Department einzog, wahrt die konzeptionelle Kontinuität der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik. Sie pflegt eine betont bellizistische Rhetorik und ist militärischen Interventionen keineswegs abgeneigt.41 Dem damaligen Generalstabschef General Powell warf sie Lahmheit42 vor und fragte ihn, warum die Vereinigten Staaten denn solch großartige Streitkräfte hätten wenn er nur davon abriete, sie auch einzusetzen.43 Powell sah sich veranlasst, sie darüber zu belehren, dass GIs keine Zinnsoldaten seien, die beliebig auf einem weltumspannenden Schachfeld herumgeschoben werden könnten.

2. Nationale Interessen und Ziele

Um die zukünftig angestrebte Rolle, Funktion und Ausgestaltung des militärischen Dispositivs im Rahmen der bis hierher skizzierten US-Außen- und Sicherheitspolitik verstehen zu können, ist zunächst ein Blick auf die Definition der nationalen Interessen zu werfen, die auf dem »sanften« Weg der »Präventiven Verteidigung« oder aber auf dem eher brachialen Weg der Anwendung militärischer Gewalt gewahrt werden sollen.

In der schon genannten »National Security Strategy for a New Century« der USA werden drei strategische Kernziele identifiziert:

  • „Die Stärkung unserer Sicherheit durch effektive Diplomatie und mittels Streitkräften, die in der Lage sind, zu kämpfen und zu siegen.
  • Die Förderung der ökonomischen Prosperität Amerikas.
  • Die weltweite Verbreitung der Demokratie.“44

Hinsichtlich der nationalen Interessen wird zwischen vitalen Interessen, wichtigen nationalen Interessen und humanitären Interessen differenziert.45 Zur ersten Kategorie zählen „die physische Sicherheit sowohl unseres als auch des Territoriums unserer Alliierten, die Sicherheit unserer Bürger und unser ökonomisches Wohlergehen.“ Wichtige nationale Interessen umfassen diejenigen, die zwar nicht das Überleben der Nation betreffen, aber bedeutsam sind für „unser nationales Wohlergehen und die Beschaffenheit der Welt, in der wir leben.“ Humanitäre Interessen schließlich sind berührt im Falle natürlicher oder von Menschen verursachter Katastrophen sowie angesichts massiver Menschenrechtsverletzungen.

Sehr aufschlussreich sind Modus und Intensität möglicher Maßnahmen zur Wahrung der genannten Interessen: Was die vitalen Interessen betrifft, werden die USA „tun, was immer notwendig ist, um diese Interessen zu verteidigen, eingeschlossen – falls notwendig – den unilateralen und entschiedenen Gebrauch unserer militärischen Macht.“ Sind „wichtige nationale Interessen“ berührt, so gebrauchen die Vereinigten Staaten ihre „Ressourcen, um diese Interessen zu fördern, insoweit Kosten und Risiken in einem ausgewogenen Verhältnis dazu stehen.“ Die humanitären Interessen schließlich stellen das Aktionsfeld – oder wohl zutreffender: die Spielwiese – für multilaterales Vorgehen dar: „Wenn immer möglich, versuchen wir solche menschlichen Desaster mittels Diplomatie und Kooperation mit vielen Partnern, eingeschlossen andere Regierungen, internationale Institutionen und Nichtregierungsorganisationen zu verhindern.“

Äußerst bemerkenswert und wichtig ist in diesem Zusammenhang auch eine Grundsatzrede, die der vormalige Nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten, Anthony Lake, am 6. März 1996 an der George Washington University in Washington D.C. gehalten hat und in der er die Maximen amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik präzise und konzis auf den Punkt brachte.46

Ausgehend von dem schon erwähnten globalen Führungsanspruch der USA stellte er fest, dass zur Durchsetzung US-amerikanischer Interessen „unser Mittel der ersten Wahl Diplomatie und die Kraft unseres Beispiels bleiben, indes wir uns von Zeit zu Zeit auf das Beispiel unserer Macht werden verlassen müssen.“47

Als grundlegendes und dauerhaftes Prinzip der Außen- und Sicherheitspolitik der Vereinigten Staaten formuliert er: „Wir werden stets dazu bereit sein, Gewalt zur Verteidigung unserer nationalen Interessen anzuwenden. Solange bis die menschliche Natur sich ändert, werden Macht und Gewalt im Zentrum der internationalen Beziehungen stehen.“48

An anderer Stelle führt Lake aus: „Indes werden wir niemals ausschließlich qua Diplomatie sicher sein. Die Aufrechterhaltung unserer Abschreckungsstreitmacht – konventionell und nuklear – bleibt der beste Weg, um andere Staaten davon abzuhalten uns mit Massenvernichtungswaffen herauszufordern. Jeder potenzielle Feind muss wissen, dass unsere Antwort auf einen Angriff mit diesen Waffen absolut überwältigend und vernichtend ausfallen wird. Hierdurch haben wir den Frieden während der letzten 50 Jahre erhalten – und dies wird auch unsere beste Garantie für die nächsten 50 Jahre und darüber hinaus darstellen.“49 Abgesehen von der hiermit implizierten offenen Absage an die aus dem »Non-Proliferation Treaty« (sog. Atomwaffensperrvertrag) resultierenden Abrüstungsverpflichtungen betreffend die Nuklearwaffen, offenbart sich in diesen Ausführungen ein Denken in den Kategorien des Kalten Krieges. Letzteres illustriert besonders anschaulich die Tatsache, dass der Nationale Sicherheitsberater sich mit seiner Rede von der „überwältigenden und vernichtenden Reaktion“ der USA anno 1996 in bemerkenswerter Weise der Diktion der sowjetischen Militärstrategie aus dem Jahre 1987 angenähert hat, wo von der „vernichtenden Abfuhr“ die Rede ist, die der Warschauer Pakt einer eventuellen Aggression der NATO erteilen wollte.50

In seiner Rede an der George Washington University definierte Lake sieben Interessen welche die Anwendung militärischer Gewalt als notwendig und gerechtfertigt erscheinen lassen:

  • „Die Verteidigung gegen direkte Angriffe auf die Vereinigten Staaten, ihre Bürger und ihre Alliierten;
  • die Abwehr von Aggressionen;
  • die Verteidigung unserer ökonomischen Schlüsselinteressen, in der die meisten Amerikaner den Hauptanlass für unser internationales Engagement erblicken;
  • den Schutz, die Förderung und die Verteidigung der Demokratie zur Stärkung unserer Sicherheit und zur Verbreitung unserer Werte;
  • die Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, des Terrorismus, der internationalen Kriminalität sowie des Drogenhandels;
  • die Erhaltung unserer Zuverlässigkeit, denn wenn unsere Partnerschaften stark sind und das Vertrauen in unsere Führungsrolle groß ist, ist es einfacher andere dazu zu bewegen, mit uns zusammenzuarbeiten; schließlich
  • humanitäre Zwecke, wie den Kampf gegen Hungersnöte, Naturkatastrophen sowie massive Menschenrechtsverletzungen.“51

Bedeutsam an dieser Auflistung ist zum einen, dass damit der Rahmen für militärische Gewaltanwendung seitens der USA äußerst weit gesteckt wurde – für praktisch jede politische Situation, in der ein wichtiges Interesse der USA berührt ist, reklamierte der Nationale Sicherheitsberater die Möglichkeit und Legitimation zum Einsatz der US-Streitkräfte.

Zum anderen verdienen in diesem Zusammenhang zwei Zielsetzungen besondere Beachtung, die militärischer Gewaltanwendung seitens der USA zugrunde liegen können, nämlich einerseits die Verbreitung der Demokratie und andererseits die Durchsetzung ökonomischer Interessen. Auch damit befindet sich der Nationale Sicherheitsberater im Konsens mit seinem Präsidenten und der nach diesem benannten Clinton-Doktrin, die im »National Security Strategy Report« (Bericht zur Nationalen Sicherheitsstrategie) vom Februar 199552 definiert wurde. Dort wird ausgeführt, dass vitale US-Interessen wie die „Verteidigung des Territoriums der Vereinigten Staaten, ihrer Bürger, Alliierten sowie des ökonomischen Wohlergehens“ es gegebenenfalls erforderten, zu tun „was immer erforderlich ist, um diese Interessen zu verteidigen, eingeschlossen – falls notwendig – die unilaterale und entschiedene Anwendung militärischer Gewalt.“53 Immer wieder bringt Bill Clinton militärisches Dominanzstreben der USA und ökonomische Zielsetzungen in engen Zusammenhang, so beispielsweise in einer »Strategischen Vision«, die er am 22. Mai 1996 an der »Coast Guard Academy« in New London, Connecticut, verkündete. Zu den Elementen dieser »Strategischen Vision« Clintons gehört unter anderem: „Die Sicherstellung des leistungsfähigsten Militärs der Welt mit der besten Ausbildung, mit der besten Ausrüstung und der besten Logistik, die es gibt“ und „die Erschließung ausländischer Märkte, die Schaffung gut bezahlter Arbeitsplätze für Amerikaner sowie die Mehrung des Nutzens für die amerikanische Wirtschaft durch Abkommen wie das zur Schaffung der NAFTA.“54 Die unmittelbare Verknüpfung von sicherheitspolitischen und ökonomischen Belangen wurde erneut in der »National Security Strategy for a New Century« von 1997 niedergelegt, wo es unter der Überschrift »Förderung von Prosperität« heißt: „Unsere Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen sind unauflösbar miteinander verknüpft.“55 Politische Analysten in den USA charakterisieren die Politik der gegenwärtigen Administration kurz und knapp mit der Formel: „Die Clinton-Doktrin heißt Handel.“56

Unter der Prämisse der Aufrechterhaltung real existierender globaler militärischer Dominanz, über die in der Clinton-Administration ein unbestrittener Konsens besteht, sehen die USA inzwischen potenzielle Herausforderungen an ihre reklamierte Führungsposition unter dem Rubrum einer »neuen Außenpolitik« nicht mehr ausschließlich auf militärischem, sondern vor allem auch auf ökonomischem Gebiet, i. e. im Wettbewerb der Volkswirtschaften.57 In dieser Konkurrenz schrecken die USA, wie eingangs erwähnt, mitunter vor rüden Methoden und bellizistischer Rhetorik nicht zurück, der „Elefant der Weltwirtschaft stolpert immer wieder durch den Porzellanladen der Wirtschaftsdiplomatie.“58

Derartige Attitüden wie sie sowohl in den Äußerungen führender Repräsentanten der US-Administration als auch im politischen Gebaren der USA auf dem Feld der Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik zum Vorschein kommen, müssen als wenig geeignet erscheinen, dem in manchen Teilen der Welt verbreiteten Skeptizismus gegenüber dem von den Vereinigten Staaten propagierten freiheitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell entgegenzuwirken. Im Gegenteil, dadurch dürfte insbesondere der unter den so emphatisch auf ihrer nationalen, kulturellen und ökonomischen Eigenständigkeit beharrenden Staaten der islamischen Welt und Asiens latent vorhandenen Vorstellung, einem US-amerikanischen Kultur- und Wirtschaftsimperialismus ausgesetzt zu sein, noch Vorschub geleistet werden.59 Indikatoren hierfür liefern unter anderem die Kommentare der arabischen Welt zur Sanktions- und Interventionspolitik der USA gegenüber dem Irak: So war in der »Jordan Times« die Befürchtung zu lesen, dass die USA Saddam Hussein zum Märtyrer machten, der »Iran Daily« schrieb, dass die USA die Krisen nutzten, um den Golfstaaten neue Waffen verkaufen zu können, und die »Khaleej Times« in Dubai ließ verlauten, dass die Welt die seit dem Ende des Kalten Krieges gewachsene US-amerikanische Arroganz satt habe.60 Die empörten Reaktionen der islamischen Staaten auf die schon erwähnten Raketenangriffe der USA auf Afghanistan und den Sudan unterstreichen diesen Zusammenhang erneut.61 In Asien wurden neben den bekannten Invektiven des malaysischen Staatschefs Mahathir oder des früheren Präsidenten Singapurs, Lee Kuan Yew, selbst in Japan Stimmen laut, die dazu aufforderten „damit aufzuhören, zuzulassen, dass die Amerikaner uns »herumschubsen«“,da Grund zu der Annahme bestehe, dass „die Vereinigten Staaten heimlich japanische Wirtschaftsanlagen aufkaufen, Japans Finanzsystem zum eigenen Vorteil umstrukturieren sowie ihre militärische und ökonomische Hegemonie über die Welt ausbauen.“62

3. Die militärische Implementierung

Wie sollen nun die skizzierten Ideen, Kalküle, Zielsetzungen und Interessen, die das aktuelle außen- und sicherheitspolitische Denken der US-Administration prägen, in eine militärische Konzeption umgesetzt werden? Die »National Military Strategy 1997«63 definiert vier strategische Komponenten, nämlich »Strategische Agilität«, »Präsenz in Übersee«, »Machtprojektion« und »Entschiedene Stärke«. »Strategische Agilität« „bedeutet die rechtzeitige Konzentration, Dislozierung und Aufrechterhaltung amerikanischer Militärmacht weltweit, auf unsere eigene Initiative hin, und mit einem Tempo, mit dem unsere Gegner nicht mithalten können.“ »Präsenz in Übersee« „heißt die sichtbare strategische Positionierung amerikanischer Streitkräfte und Infrastruktur in der Nähe oder innerhalb von Schlüsselregionen.“ »Machtprojektion« „beruht auf der Fähigkeit, Streitkräfte der Vereinigten Staaten schnell und effektiv in unterschiedliche, entfernt voneinander liegende Gebiete oder aus solchen zu dislozieren und dauerhaft zu versorgen, solange bis ein Konflikt gelöst ist.“ »Entschlossene Gewaltanwendung« schließlich „bedeutet die Anwendung hinreichender militärischer Gewalt, um einen Gegner zu überwältigen, neue militärische Rahmenbedingungen zu setzen und eine politische Lösung zu erreichen, die vorteilhaft im Hinblick auf die nationalen Interessen der Vereinigten Staaten ist.“

Den ersten Schritt zur konkreten Umsetzung der Nationalen Militärstrategie der USA unternahm schon im Januar 1996 der damalige »Chairman of the Joint Chiefs of Staff« (Generalstabschef), General John M. Shalikashvili, als er die strategisch-operative Leitlinie mit dem Titel »Joint Vision 2010«64 (Teilstreitkraftübergreifende Vision für das Jahr 2010) erließ. Mittlerweile wurde diese zu einem »Concept for Future Joint Operations«65 (Konzept für zukünftige teilstreitkraftübergreifende Operationen) erweitert, in dem die anfänglichen Überlegungen des ehemaligen Generalstabschefs im Hinblick auf ihre Implikationen für die Weiterentwicklung der US-Streitkräfte detailliert und umfassend ausgeführt werden.

Das bereits explizierte Dominanzstreben der USA auf dem militärischen Sektor findet mittels dieser Konzeptionen, denen im Rahmen einer »Joint Doctrine Hierarchy« (Hierarchie teilstreitkraftübergreifender Doktrinen)66 mehr als einhundert »Capstone, Keystone, JTTP67 and Doctrine Publications« (Publikationen diverser Art) nachgeordnet sind, seine Umsetzung auf der operativen Ebene.

In ihrem strategischen Kern rekurriert die »Joint Vision 2010«auf die in der »National Military Strategy« formulierte Forderung nach der Fähigkeit zu globaler Machtentfaltung: „… Machtprojektion auf der Basis von Präsenz in Übersee wird sehr wahrscheinlich das fundamentale strategische Konzept unserer zukünftigen Streitkräfte darstellen.“68 Auf der Basis überlegener Kommunikations-, Informations- und Waffentechnologien soll ein „neues Niveau der Effektivität teilstreitkraftübergreifender Kriegführung“69 verwirklicht werden. Ziel ist, dass überlegene amerikanische Streitkräfte binnen Stunden an jedem Ort der Welt effektiv eingesetzt werden können und diese zugleich jederzeit präzise bei der Umsetzung der vorgegebenen politischen Zwecke durch militärische Aktionen gesteuert sowie strikt kontrolliert werden können.70

Die strategische Zielsetzung der Doktrin besteht darin, „Amerika mit der Fähigkeit auszustatten, einen Gegner in allen Bereichen militärischer Operationen zu dominieren. Diese Dominanz über das gesamte Spektrum stellt ein Schlüsselkriterium für unsere Streitkräfte im 21. Jahrhundert dar.“71 Einen entscheidenden Gesichtspunkt der neuen Doktrin bildet die Möglichkeit, durch die konsequente Nutzung des technologischen Vorsprungs militärische Überlegenheit mittels quantitativ erheblich begrenzterer Streitkräftedispositive als bisher erzielen zu können. Dies wiederum bietet unter den politischen Rahmenbedingungen einer post-heroischen Sicherheitspolitik72, wie sie in der sogenannten Powell-Doktrin73 formuliert wurde, die Chance, das Risiko personeller Verluste – die sich gegebenenfalls extrem kontraproduktiv auf die Akzeptanz und Durchführbarkeit militärischer Operationen auswirken können – zu minimieren.74

Glaubwürdigkeit gewinnt diese auf technologische Überlegenheit gestützte militärische Dominanzstrategie insbesondere auch dadurch, dass die Zahl potenzieller Gegner sehr gering, vor allem aber die Qualität deren militärischer Potenziale völlig minderwertig ist.75

Der vormalige Verteidigungsminister Perry unterstützte diese strategische Leitlinie seines Generalstabschefs voll und ganz, indem er sie in seine Konzeption der »Präventiven Verteidigung« integrierte: „Wir unterhalten die besten konventionellen Streitkräfte der Welt, von denen große Teile in Europa und im asiatisch-pazifischen Raum stationiert sind, und wir fahren fort, unsere technologische Überlegenheit über jeden potenziellen Feind zu maximieren, wodurch wir unsere Dominanz auf jedem Schlachtfeld der Welt sicherstellen.“76 Auch unter dessen Nachfolger William Cohen findet diese Doktrin unverändert volle Unterstützung wenn er ausführt: „Die Weiterentwicklung der Streitkräfte der Vereinigten Staaten erfordert die Implementation der »Joint Vision 2010«, unserer neuen Rahmenkonzeption, nach der die Streitkräfte der Vereinigten Staaten kämpfen und mittels derer sie sicherstellen, was wir als »Dominanz über das gesamte Spektrum« bezeichnen.“77

4. Die Umsetzung in Technolo- gieentwicklungsprogramme

Da Shalikashvilis Doktrin expressis verbis auf der Prämisse technologischer Überlegenheit basiert, die in manchen Bereichen erst noch realisiert werden muss, wurde seitens des »Director of Defense Research and Engineering« (Direktor für militärische Forschung und Entwicklung) im US-Verteidigungsministerium ein »Joint Warfighting Science and Technology Plan« (Teilstreitkraftübergreifender Plan für Forschung und Technologie im Bereich der Kriegführung)78 entwickelt, der die technologischen Voraussetzungen zu ihrer Realisierung schaffen soll.79 Dieser Plan wird jährlich fortgeschrieben und ist integraler Bestandteil der Gesamtstrategie für militärische Forschung und Entwicklung des DoD (US-Verteidigungsministerium).80 Der »Undersecretary of Defense for Acquisition and Technology« (Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium für Beschaffung und Technologie), Paul G. Kaminski, führte dazu in einem Statement vor dem »Senate Armed Services Committee« (Streitkräfteausschuss des Senats) des US-Kongresses aus, dass dieser Plan „eine Antwort auf die Vision des amerikanischen Generalstabschefs für das Schlachtfeld der Zukunft darstellt. Er zielt darauf ab, den rapiden technologischen Fortschritt auszunutzen sowie die Informationsüberlegenheit zu gewinnen, um fortschrittliche operative Konzepte zur dominanten Operationsführung, zur präzisen Zielbekämpfung, zum umfassenden Schutz der Streitkräfte sowie zur effizienzoptimierten Logistik zu ermöglichen.“81 Darüber hinaus werden im zuvor diskutierten »Concept for Future Joint Operations« für jedes der in der »Joint Vision 2010« umrissenen operativen Konzepte sogenannte »Defense Technology Objectives (DTO)« (Ziele für die Wehrtechnologie) spezifiziert. „Jedes dieser Ziele beschreibt einen spezifischen technologischen Fortschritt, der entwickelt und demonstriert wird, den voraussichtlichen Zeitpunkt, zu dem diese Technologie verfügbar sein wird, die spezifischen Vorteile, die aus dieser Technologie resultieren sowie die notwendigen Budgetaufwendungen zur Realisierung der neuartigen Fähigkeiten.“82

Diese Aktivitäten im DoD demonstrieren, dass die auf militärischem Dominanzstreben basierende Außen- und Sicherheitspolitik der Clinton-Administration sich nicht als bloße Rhetorik auf deklaratorischer Ebene interpretieren lässt, sondern dass konzise Schritte zu ihrer Realisierung unternommen werden. Dies belegen die Entwicklungs- und Beschaffungsprogramme für Luftwaffe, Marine, Heer und Marines sowie diejenigen im Bereich der Weltraumrüstung, strategischer Satellitenaufklärungs- und -kommunikationssysteme.83

Die Entwicklung des US-Verteidigungshaushalts in den letzten Jahren spiegelt den Konsens zwischen Weißem Haus und Kongress und auch den politischen Willen wider, die budgetären Voraussetzungen zur Finanzierung der High-Tech-Rüstung zu gewährleisten. Bereits im Dezember 1994 hatte Präsident Clinton entschieden, den Verteidigungshaushalt im Verlauf der folgenden sechs Jahre um 25 Mrd. US$ zu erhöhen. Der Anfang dieses Jahres vorgelegte Verteidigungshaushalt für 199984 sieht dementsprechend Ausgaben für Verteidigung in Höhe von insgesamt 270,6 Mrd. US$ vor, davon 48,7 Mrd. für militärische Beschaffungen. Für das Haushaltsjahr 2001 ist vorgesehen, den Beschaffungsetat auf 61,3 Mrd. $ zu steigern. Mit dem Haushalt für 1999 beginnt das DoD mit der planmäßigen Implementierung der im »Quadrennial Defense Review« (Vierjahresbericht zur Verteidigung) vom Mai 199785 formulierten Streitkräftestruktur gemäß der moderate Reduzierungen des Streitkräfteumfangs vorgesehen sind, um Mittel im investiven Bereich freizusetzen. Cohen kommentierte die primäre Zielrichtung seines Haushaltsplans mit den Worten: „Was die wichtigsten Modernisierungsprogramme betrifft, legt der neue Haushalt das Schwergewicht auf die Informationstechnologien, die zur Realisierung der »Joint Vision 2010« benötigt werden.“86 Damit ist evident, dass in der amerikanischen Administration auch unter dem Nachfolger William J. Perrys die notwendigen Schritte unternommen werden, um die budgetären Konditionen zur Verwirklichung von Shalikashvilis Vision zu garantieren und den einmal eingeschlagenen Weg fortzusetzen.

5. Schlussfolgerungen

Die Analyse der Aussagen führender Repräsentanten der gegenwärtigen US-Administration lässt – zumal im Kontext sicherheitspolitischer, militärstrategischer und technologiepolitischer Grundsatzdokumente – eine ziemlich stringente außen- und sicherheitspolitische Globalstrategie erkennen. Freilich könnte man die Existenz einer solchen dessenungeachtet negieren, lässt sie sich doch nicht schwarz auf weiß in einem einzigen Grundsatzdokument niedergelegt finden. Zweifellos aber existiert unter der politischen Elite der USA ein Konsens in puncto folgender Prämissen US-amerikanischer Außenpolitik:

  • Den USA kommt eine globale Führungsrolle zu,
  • die Welt wartet nur darauf, dass die USA die Rolle des wohlmeinenden Hegemonen übernehmen und
  • diese Rolle der USA kann für die Welt nur von Nutzen sein.87

Repräsentativ für das Establishment in den Vereinigten Staaten formulierte Robert Kagan von der »Carnegie Endowment for International Peace« erst Anfang Juli 1998, dass die Hegemonialstellung der USA ein Segen für die Welt sei, weil sie ein vernünftiges Maß an internationaler Sicherheit und Wohlfahrt garantiere.88

Charakteristisch für die innerhalb der US-Administration unumstrittene Strategie sind folgende Elemente: Unter einem globalen Führungsanspruch sollen weltweit nationale Interessen der USA durchgesetzt werden. Zu präferieren sind zu diesem Zwecke die Mittel der Diplomatie, allerdings nur solange hierdurch der angestrebte Erfolg sichergestellt werden kann. Zeitigen diplomatische Bemühungen oder auch wirtschaftliche Sanktionen nicht den gewünschten Effekt, wird regelmäßig auf militärische Gewaltanwendung zurückgegriffen. Multilaterales politisches Handeln im Rahmen von Bündnissen und internationalen Organisationen wird aus einer instrumentellen Perspektive betrachtet, die Clinton-Doktrin „wiederholt einerseits ständig die Bereitschaft zum unilateralen Handeln, konstatiert aber andererseits den Wunsch nach Kosten- und Lastenteilung mit anderen.“89 Mittlerweile gilt für die Außen- und Sicherheitspolitik der USA, dass „Unilateralismus ihr Hauptcharakteristikum darstellt.“90

Geradezu emphatisch wird das Militär als Mittel zur Durchsetzung nationaler Interessen hervorgehoben, gepaart mit der nachdrücklichen Bereitschaft, die Streitkräfte zur Durchsetzung von US-Interessen mit überwältigender Stärke einzusetzen, wann und wo immer nötig. Dabei wird es als unabdingbar betrachtet, militärische Überlegenheit über jeden potenziellen Gegner auch in Zukunft zu gewährleisten.91 Zur Sicherstellung militärischer – und übrigens auch ökonomischer – Dominanz in weltweitem Maßstab wird der Erhaltung technologischer Suprematie eine entscheidende Rolle zugewiesen.92

Das Maß potenzieller militärischer Gewaltanwendung ist hierbei in keiner Weise limitiert, sondern im buchstäblichen Sinne grenzenlos. Geradezu auffällig wird insbesondere die unverminderte Bedeutung und Notwendigkeit eines Nuklearwaffenpotenzials betont, das die strategische Triade – gebildet aus ICBMs, SLBMs und Bombern – sowie die sogenannten »Nonstrategic Nuclear Forces (NSNF)« (Nichtstrategische Nuklearstreitkräfte) umfassen müsse.93 Dessen fundamentaler Zweck besteht zum einen in der Abschreckung vom Gebrauch von Massenvernichtungswaffen, zum anderen in der Rückversicherung gegen die Entstehung einer überwältigenden konventionellen Bedrohung.94 Nach Auffassung der US-Administration verbieten weder das kodifizierte Völkerrecht noch das Gewohnheitsrecht den Einsatz nuklearer Waffen in bewaffneten Konflikten,95 so dass nach der zur Zeit gültigen »Doctrine for Joint Theater Nuclear Operations« (Doktrin für teilstreitkraftübergreifende, kriegsschauplatzgebundene nukleare Operationen) der Einsatz nuklearer Waffen sogar gegen Terroristengruppen (sogenannte »nicht-staatliche Akteure«) und ihre Infrastruktur vorgesehen ist: „Feindliche Kampftruppen und Einrichtungen, die als wahrscheinliche Ziele für Nuklearschläge in Frage kommen, umfassen Massenvernichtungswaffen und ihre Trägermittel, Kampftruppen am Boden, Luftverteidigungsanlagen, Marineeinrichtungen, Kriegsschiffe, nicht-staatliche Akteure sowie unterirdische Anlagen.“96

In der Quintessenz impliziert die von der Clinton-Administration formulierte Strategie einen globalen Dominanz-, ja Hegemonieanspruch der USA.97 Diese Politik der gegenwärtigen Administration ist indes mitnichten originell, im Gegenteil: „Bezüglich Zielen, Interessen und Allianzen verfolgen die Vereinigten Staaten immer noch dieselbe Gesamtstrategie wie von 1945 bis 1991, nämlich die Strategie der Vorherrschaft.“98

Aber selbst wenn die USA überwiegend als „sanfter Hegemon“99 in der Weltpolitik auftreten, erzeugt die enorme Asymmetrie der Machtverteilung im internationalen System zugunsten der USA problematische Effekte. Der erste lässt sich mit dem Begriff der »Modalisierung«100 internationaler Politik beschreiben. Darunter ist zu verstehen, dass Macht – ohne im konkreten Fall zur Anwendung gelangen zu müssen – als Möglichkeit erscheint und auch als solche wirkt. Dies bedeutet, dass die USA gar nicht ständig und überall mit der Anwendung ihrer Machtmittel drohen müssen – allein die Potenzialität genügt, um gegebenenfalls auch widerstrebende Regierungen zum Nachgeben zu bewegen oder – besser noch – schon antizipativ zur Berücksichtigung ihrer Wünsche und Interessen bei ihrem politischen Agieren zu motivieren. Der vormalige Nationale Sicherheitsberater Anthony Lake brachte dies im Rahmen der oben zitierten nationalen Interessendefinition elegant auf den Punkt, als er formulierte: „wenn das Vertrauen in unsere Führung hoch ist, ist es einfacher, andere dazu zu bewegen, mit uns zusammenzuarbeiten.“

Zweitens ist eine stark asymmetrische oder gar unipolare Machtkonzentration stets dazu geeignet, die Formierung von Gegenmacht zu provozieren, wie sich aus der Geschichte der internationalen Beziehungen unschwer belegen lässt: „Staaten, die nach Hegemonie streben, scheitern unvermeidlich.“101 Dies liegt vor allem darin begründet, dass derartige Macht auf andere Staaten bedrohlich wirkt und diese dazu anreizt, entweder allein oder in Allianzen dem Hegemon Paroli zu bieten.102 Bis dato lässt sich aus der Geschichte hegemonialer Machtentfaltung die paradoxe Erkenntnis gewinnen, dass „ein Staat verliert, wenn er zuviel gewinnt.“103 Die irregulären Terrorakte, denen sich die USA ausgesetzt sehen, stellen nur einen Indikator hierfür dar.104

Drittens schließlich besteht ein gravierendes Problem darin, dass die USA durchaus bereit sind, unilateral und ohne ausreichende völkerrechtliche Legitimation militärische Gewalt anzuwenden wenn sie dies als in ihrem nationalen Interesse liegend betrachten. Die letzte Intervention im Irak 1996, wo ohne Konsultation des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und ohne Grundlage einschlägiger Resolutionen 44 Cruise Missiles (Marschflugkörper) auf militärische Ziele abgefeuert worden waren, oder die Raketenangriffe auf Afghanistan und den Sudan im August 1998 illustrieren dies genauso deutlich wie der Druck auf die NATO für die Bombardierung Jugoslawiens. Verteidigungsminister William S. Cohen hat diese Maxime US-amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik kürzlich erneut bekräftigt, indem er ausführte, dass sich die Vereinigten Staaten durch aktive Maßnahmen wie Raketenschläge verteidigen und dabei, falls nötig, alleine handeln werden.105

Die Frage nach der Legitimation US-amerikanischer Machtausübung im internationalen System wird auch in den USA selbst durchaus als prekär betrachtet. So wurde beispielsweise Verteidigungsminister Perry nach seiner Rede zur »Präventiven Verteidigung« an der Harvard University von einem Zuhörer gefragt, ob die USA nach ihrem Sieg im Kalten Krieg nicht Gefahr liefen, eine imperiale Politik nach dem Muster des antiken Roms zu betreiben.106 Perry wies dies damals brüsk zurück, nichtsdestoweniger wurde die Frage in den USA nach den Cruise-Missile-Attacken vom August 1998 erneut artikuliert: „Greifen wir nicht in unserer verständlichen Frustration auf dieselbe »Kanonenboot-Politik« zurück, die sich für die moribunden europäischen Imperien am Ende des 19. Jahrhunderts als so kontraproduktiv erwiesen hat?“107 Eine derartige Politik muss auch deshalb als höchst problematisch erscheinen, weil sie die eigentlichen Fundamente US-amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik, auf die einzig sich ein Führungsanspruch stützen ließe, unterminiert, nämlich: „die Bindung an die Herrschaft des Rechtes, die Verpflichtung auf Gerechtigkeit und Unparteilichkeit bei der Beilegung internationaler Zwistigkeiten sowie die Reputation als menschenfreundlichste Nation der Welt.“108 Genau gegen diesen Imperativ einer klugen und gerechten Außen- und Sicherheitspolitik verstoßen die USA jedoch, da die gegenwärtige Administration augenscheinlich der Maxime folgt, „dass, weil die Vereinigten Staaten die einzige Supermacht darstellen, von der andere erwarten, dass sie für Ordnung im internationalen System sorgt, sie notfalls das Völkerrecht verletzen dürfen – in Ausübung des Dienstes sozusagen.“109

Trotz der berechtigten Kritik an der gegenwärtigen Außen- und Sicherheitspolitik der USA erheben so einflussreiche Vertreter des politischen Establishments wie der ehemalige Sicherheitsberater der US-Regierung Zbigniew Brzezinski sogar den Anspruch auf eine Welthegemonie nach dem Motto, was gut sei für die USA, sei eo ipso gut für Frieden und Wohlergehen in der Welt.110 In seinem 1997 erschienenen Buch »Die einzige Weltmacht«, das vorwiegend von militärisch-strategischen Denkansätzen bestimmt ist, spricht er unter anderem in Bezug auf die Europäer von „Vasallen der USA“ und von „tributpflichtigen Staaten“. Darüber hinaus birgt eine derartige Konzeption die Gefahr, dass dem von Samuel Huntington prognostizierten »Clash of Civilizations« dadurch Vorschub geleistet wird, dass der Westen den Eindruck erweckt, er strebe die Hegemonie über eine Milliarde Muslime, mehr als eine Milliarde konfuzianisch geprägter Menschen und Hunderte von Millionen Hindus an.111

Summa summarum stellt sich vom Standpunkt der USA aus betrachtet die Welt als sehr vorteilhaft dar: „Der Preis der Hegemonie Amerikas kann nicht länger als drückend bezeichnet werden. Für ungefähr 250 Mrd. Dollar jährlich erfreuen sich die Vereinigten Staaten einer globalen militärischen Dominanz, welche die transozeanische Reichweite der »Pax Britannica« mit der militärischen Stärke des imperialen Rom auf der Höhe seiner Macht kombiniert. Die Kosten hierfür betragen weniger als vier Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts, der niedrigste Anteil des Pentagons seit 1940, dem Jahr vor dem Angriff auf Pearl Harbour. … Die Weltwirtschaft arbeitet zur Zeit zum Vorteil Amerikas, die Vereinigten Staaten sind der Welt größter Exporteur, und es sieht nicht danach aus, als seien die militärischen Fähigkeiten Amerikas für mindestens die nächsten zehn Jahre und wahrscheinlich darüber hinaus einer ernsthaften Herausforderung ausgesetzt.“112

Aus einer europäischen Perspektive indessen lassen die gegenwärtige Struktur des internationalen Systems mit ihren gewaltigen Asymmetrien sowie der wachsende Eindruck, dass „die militärische Macht der Vereinigten Staaten, eine boomende Wirtschaft und der Sieg im Streit der Ideologien bei vielen Amerikanern ein Gefühl moralischer Überlegenheit erzeugt hat,“113 das Projekt einer Europäischen Union, die als gleichgewichtiger und gleichberechtigter Partner der USA auf der Bühne der Weltpolitik auftreten kann, als dringlicher denn je erscheinen. Einer der bekanntesten zeitgenössischen Schriftsteller der USA, Gore Vidal, fasste diese Herausforderung für Europa in die scharfzüngige Formulierung: „Für die Europäer ist jetzt die Zeit gekommen, sich von ihren amerikanischen Herren zu befreien. Es gibt Momente, wo Imperien ihre Energien verlieren und symbolisch werden.“114

Anmerkungen

1) Es handelt sich um eine Äußerung des Senators von North Carolina in der Debatte um die NATO-Osterweiterung; vgl. Harprecht, Klaus: Unterm Strich, in: Die Zeit, Nr. 24, 4. Juni 1998, S. 10.

2) Vgl. Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992.

3) Czempiel, Ernst-Otto: Global Leadership. Bill Clintons Wiederentdeckung der Außenpolitik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 6/1996, S. 707.

4) Vgl. Steel, Ronald: Ohne uns geht es eben nicht, in: Die Zeit, Nr. 45, 1. November 1996, S. 9 sowie Czempiel, Ernst-Otto: Global Leadership, a. a. O. (Anm. 3), S. 708.

5) Vgl. Steel, Ronald: a. a. O. (Anm. 4), S. 9.

6) Vgl. Schwelien, Michael: Bill Clintons starke Frau, in: Die Zeit, Nr. 28, 4. Juli 1997, S. 2; Buhl, Dieter: Die verwundbare Weltmacht, in: Die Zeit, Nr. 34, 13. August 1998, S. 2 sowie Steel, Ronald: a. a. O. (Anm. 4), S. 10.

7) Vgl. Dönhoff, Marion Gräfin: Harter Streit, in: Die Zeit, Nr. 52, 19. Dezember 1997, S. 4.

8) Vgl. Meier-Walser, Reinhard C./Lange, Klaus: Die Osterweiterung der NATO. Die Positionen der USA und Russlands, Aktuelle Analysen 3, München 1996, S. 12; Livingston, Robert Gerald: Die Ostküste bestimmt die Außenpolitik, in: Die Zeit, Nr. 6/1996, S. 10 sowie die Ausführungen Egon Bahrs in einem ZEIT-Interview unter dem Titel »Es wäre ein riesiger Fehler«, in: Die Zeit, Nr. 19/1997, S. 4.

9) Das Manuskript dieses Dossiers wurde vor dem NATO-Gipfel geschrieben, auf dem die Neue NATO-Strategie beschlossen wurde. Die „Vermeidung“ und „Beilegung“ von Krisen werden hierin zu neuen Kernaufgaben erklärt. Die NATO-Einsätze zur Krisenprävention und -beilegung sollen zwar „auf der Basis“ und in „Übereinstimmung mit den Prinzipien der UNO-Charta“ stattfinden – jedoch gegebenenfalls ohne UNO-Mandat (die Redaktion).

10) Vgl. Anonym: KSE-Anpassung: Verhandlungen in Wien stagnieren, in: Soldat und Technik, Nr. 6/1998, S. 360.

11) Vgl. Heuser, Uwe Jean/Schwelien, Michael/Vorholz, Fritz: Supermacht auf dem Egotrip, in: Die Zeit, Nr. 52, 19. Dezember 1997, S. 17.

12) Vgl. hierzu: Hauch-Fleck, Marie-Luise: Schiffe im Angebot, in: Die Zeit, Nr. 5, 24. Januar 1997, S. 27.

13) Vgl. Schwelien, Michael: Und Clinton hob den Zeigefinger, in: Die Zeit, Nr. 27, 27. Juni 1997, S. 2.

14) Vgl. Tenbrock, Christian: Knüppel aus dem Sack, in: Die Zeit, Nr. 34, 13. August 1998, S. 22. Seit dem Amtsantritt Bill Clintons 1992 haben die USA insgesamt 61 mal zum Knüppel von Boykott und Pression gegriffen, was zur Folge hatte, dass etwa 70 Staaten und die Hälfte der Weltbevölkerung von Sanktionen betroffen wurden. 30 weiteren Ländern hat der US-Kongress Strafmaßnahmen angedroht.

15) Vgl. Buhl, Dieter: Clinton steckt zurück, in: Die Zeit, Nr. 30, 19. Juli 1996, S. 6; ders.: Die verwundbare Weltmacht, a. a. O. (Anm. 6) sowie Tenbrock, Christian: Knüppel aus dem Sack, a. a. O. (Anm. 14).

16) Vgl. Anonym: Kuhhandel, in: Die Zeit, Nr. 10, 28. Februar 1997, S. 24.

17) Vgl. Lüders, Michael: Das neue Reich des Bösen, in: Die Zeit, Nr. 29, 11. Juli 1997, S. 13; Buhl, Dieter: Die verwundbare Weltmacht, a. a. O. (Anm. 6) sowie Tenbrock, Christian: Knüppel aus dem Sack, a. a. O. (Anm. 14).

18) Vgl. Lambsdorff, Otto Graf: Amerika nimmt keine Rücksicht, in: Die Zeit, Nr. 21, 17. Mai 1996, S. 8.

19) Vgl. Heuser, Uwe Jean: Gegen Feind und Freund, in: Die Zeit, Nr. 33, 9. August 1996, S. 15.

20) Vgl. Heuser, Uwe Jean/Schwelien, Michael/Vorholz, Fritz: a. a. O. (Anm. 11), S. 18.

21) Darüber hinaus wurde der Volksrepublik China für ihre Exporte in die USA der Status der Meistbegünstigung eingeräumt; vgl. hierzu Tenbrock, Christian: Gefällige Rhetorik. Handel geht vor Menschenrechten: Amerika gewährt China wieder die Meistbegünstigung, in: Die Zeit, Nr. 28/1997, S. 26 sowie Nelan, Bruce W.: Business First, Freedom Second, in: Time, Nr. 21/1994, S. 58-60.

22) Nach Angaben des Nationalen Sicherheitsberaters Samuel R. Berger wurden von U-Booten und Überwasserschiffen der Kampfgruppe USS Abraham Lincoln aus dem Roten und dem Arabischen Meer ungefähr 75 TLAM abgefeuert; vgl. Gellman, Barton/Priest, Dana: U.S. Attacks Sites in Afghanistan, Sudan, in: Washington Post, Friday, August 21, 1998, Page A01
(im Internet unter www.washingtonpost.com/
wp-srv/inatl/longterm/eafricabombing/
eafricabombing.htm).
Später wurde die Zahl 79 genannt; vgl. Peters, Ralph: Hard Target. We don't have the Stomach for this Kind of Fight, in: Washington Post, Sunday, August 30, 1998, Page C01 (im Internet unter www.washingtonpost.com/
wp-srv/WPlate/1998-08/30/130l-083098-idx.html).

23) Vgl. Nolte, Georg: Gewaltverbot missachtet, in: Die Woche, Nr. 35, 28. August 1998, S. 27 sowie Ulrich, Stefan: Staatliche Notwehr, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 192, 22./23. August 1998, S. 2. Der Völkerrechtler an der Universität Heidelberg Georg Nolte weist darauf hin, dass Gewaltanwendung zur Selbstverteidigung gemäß Art. 51 der UNO-Charta nur gegen einen bewaffneten Angriff in Form grenzüberschreitender Gewalt, die ein Staat gegen einen anderen Staat in größerem Umfang einsetzt, zulässig ist. Ein Terrorakt ist kein bewaffneter Angriff in diesem Sinne, was sich auch aus der Aggressionsdefinition (A/RES/3314) der Vereinten Nationen ergibt, welche die Generalversammlung am 14. Dezember 1974 verabschiedet hat.

24) Vgl. Heuser, Uwe Jean/Schwelien, Michael/Vorholz, Fritz: a. a. O. (Anm. 11), S. 18.

25) Vgl. Schwelien, Michael: Und Clinton hob den Zeigefinger, a. a. O. (Anm. 13) sowie Tenbrock, Christian: Präsident im Visier, in: Die Zeit, Nr. 39, 19. September 1997, S. 43.

26) Vgl. hierzu Stelzenmüller, Constanze: Schwert mit zwei Klingen, in: Die Zeit, Nr. 31, 23. Juli 1998, S. 4; dies.: Ausgehöhlt, in: Die Zeit, Nr. 30, 16. Juli 1998, S. 2; Buhl, Dieter: Die verwundbare Weltmacht, a. a. O. (Anm. 6) sowie Pfaff, William: America Can't Be Outside the Law, in: International Herald Tribune. Los Angeles Times Syndicate, July 30, 1998
(im Internet unter www.iht.com/IHT/WP/98/
wp073098.html).

27) Vgl. Czempiel, Ernst-Otto: Rückkehr in die Hegemonie. Zur Weltpolitik der USA unter Präsident Clinton, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. B 43/1996, S. 25.

28) Buhl, Dieter: Die verwundbare Weltmacht, a. a. O. (Anm. 7).

29) Zur Methodik der Vorgehensweise ist anzumerken, dass der folgenden Analyse vor allem Primärquellen, also Dokumente, Reden und Äußerungen führender Repräsentanten der gegenwärtigen US-Administration, zugrunde gelegt werden.

30) Vgl. hierzu Office of the Assistant Secretary of Defense (Public Affairs), American Forces Information Service (ed.): Fulfilling the Role of Preventive Defense, Prepared remarks of Defense Secretary William J. Perry to the John F. Kennedy School of Government, Harvard University, Cambridge, Mass., May 13, 1996, in: Defense Issues, Volume 11, Number 44 (im Internet unter www.dtic.mil/defenselink/
pubs/di_index.html«).
Gekürzter deutscher Redetext in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Stichworte zur Sicherheitspolitik,
Nr. 6/1996, S. 11-13.
Die anschließende Diskussion ist dokumentiert in: Anonym: Secretary of Defense William J. Perry, The Kennedy School, Harvard University, Question & Answers, Monday, May 13, 1996 (10 Seiten Transkription).

31) Damit knüpft er an eine Konzeption an, die unter dem Signum »Preventive Containment« seit 1994 in den USA diskutiert wird; vgl. hierzu: Brill, Heinz: Dimensionen der Sicherheitspolitik aus geopolitischer Sicht nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, Nr. 5/1996, S. 526.

32) Clinton, William J.: A National Security Strategy of Engagement and Enlargement, Washington, D. C., February 1995, p. ii. (Das vorliegende englische Originalzitat wurde, wie alle nachfolgenden, vom Autoren ins Deutsche übersetzt; Anm. d. Verf.).
Eine nahezu identische Formulierung gebraucht auch der Nationale Sicherheitsberater, vgl. Lake, Anthony: »Laying the Foundation for a Post-Cold War World National Security in the 21st Century«, Rede vor dem »Chicago Council on Foreign Relations« am 24. Mai 1996
(im Internet unter www.fas.org/spp/starwars/
offdocs/tl240596.htm). Gekürzter deutscher Redetext in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Stichworte zur Sicherheitspolitik, Nr. 7/1996, S. 2-7.

33) Vgl. Anonym: A National Security Strategy for a New Century, May 1997
(im Internet unter www.whitehouse. gov/
WH/EOP/NSC/Strategy/).

34) Vgl. Shalikashvili, John M.: National Military Strategy 1997 (im Internet unter www.dtic.mil/jcs/nms/index.html).

35) Perry, William J.: Fulfilling the Role of Preventive Defense, a. a. O. (Anm. 30).

36) Insbesondere die nukleare Abschreckung, zu Zeiten des Kalten Krieges an der Spitze der sicherheitspolitischen Agenda befindlich, stellt praktisch nur noch eine Residualfunktion dar. Zu diesem Befund passt auch, dass die Problematik nuklearer Rüstungskontrolle und Abrüstung, Fragen der Sicherheit von Nuklearwaffen und nuklearen Anlagen etc. aus der öffentlichen Debatte verschwunden sind und nur noch in Expertenzirkeln die angemessene Beachtung finden.

37) Perry, William J.: Fulfilling the Role of Preventive Defense, a. a. O. (Anm. 30).

38) Cohen, William S.: People, Readiness Top DoD Budget Request, in: Defense Issues, Volume 12, Number 13, p. 1 (im Internet unter http://www.defenselink.mil/speeches/1997/
di1213.html).
Es handelt sich um eine Rede des Verteidigungsministers vor dem »National Security Committee« des Repräsentantenhauses am 12. Februar 1997.

39) Cohen, William S.: People, Readiness Top DoD Budget Request, a. a. O. (Anm. 38), p. 1. Der US-Verteidigungsminister spricht hier auf der Grundlage der zuvor erwähnten »National Security Strategy for a New Century«, wo unter der Überschrift »Challenges and Opportunities« beispielsweise ausgeführt wird: „We must always retain our superior diplomatic, technological, industrial and military capabilities to address this broad range of challenges so that we can respond together with other nations when we can, and alone when we must.“ An anderer Stelle heißt es: „That is why we are continuing to strengthen our own capabilities: so we can more effectively lead the international community in responding to these threats, and act on our own when we must.“

40) Close, Raymond: Hard Target. We can't Defeat Terrorism with Bombs and Bombast, in: in: Washington Post, Sunday, August 30, 1998, Page C01 (Im Internet unter:
www.washingtonpost.com/wp-srv/
WPlate/1998-08/30/1281-083098-idx.html).
Raymond Close war von 1951-1977 Mitarbeiter der »Central Intelligence Agency (CIA)«. Siehe auch Pfaff, William: The U.S. Talk of 'War' Can Only Fuel Hatred, in: International Herald Tribune. Los Angeles Times Syndicate, September 1, 1998, p. 8 (im Internet unter www.iht.com/IHT/TODAY/TUE/ ED/
edpfaff.html).

41) Vgl. Schwelien, Michael: Die Frau fürs Grobe und der Dichter, in: Die Zeit, Nr. 51, 13. Dezember 1996, S. 3.

42) Vgl. Schwelien, Michael: Bill Clintons starke Frau, a. a. O. (Anm. 6).

43) Vgl. Schwelien, Michael: Die Frau fürs Grobe und der Dichter, a. a. O. (Anm. 41) sowie ders.: Bill Clintons starke Frau, a. a. O. (Anm. 6).

44) Vgl. Anonym: A National Security Strategy … a. a. O. (Anm. 32).

45) Vgl. Anonym: A National Security Strategy … a. a. O. (Anm. 33) sowie Shalikashvili, John M.: National Military Strategy 1997, a. a. O. (Anm. 34).

46) Vgl. hierzu Office of the Assistant Secretary of Defense (Public Affairs), American Forces Information Service (ed.): Defining Missions, Setting Deadlines, Prepared remarks of Anthony Lake, assistant to the president for national security affairs, George Washington University, Washington, March 6, 1996, in: Defense Issues, Volume 11, Number 14
(im Internet unter www.defenselink.mil/
speeches/1996/di1114.html).
Zur Definition der nationalen Interessen der USA vgl. auch Anonym: USA – Definition nationaler Interessen, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, Nr. 2/1996, S. 247.

47) Lake, Anthony: Defining Missions, Setting Deadlines, a. a. O. (Anm. 45). Im Original lautet das Zitat: „Our tools of first resort remain diplomacy and the power of our example, but sometimes we must rely on the example of our power.“

48) Lake, Anthony: Defining Missions, Setting Deadlines, a. a. O. (Anm. 46).

49) Lake, Anthony: »Laying the Foundation …«, a. a. O. (Anm. 32).

50) Vgl. Anonym: Über die Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages, in: Militärwesen, Nr. 8/1987, S. 4. Dieses Dokument wurde auf der Tagung des »Politischen Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages« im Mai 1987 in Ost-Berlin angenommen.

51) Lake, Anthony: Defining Missions, Setting Deadlines, a. a. O. (Anm. 44).

52) Clinton, William J: A National Security Strategy …, a. a. O. (Anm. 32).

53) Clinton, William J: A National Security Strategy …, a. a. O. (Anm. 32), p. 12.

54) Clinton, Bill: Meeting our Challenge to Maintain America's Leadership in the Fight for Freedom and Peace
(im Internet unter www.whitehouse.gov/WH/
dispatch/052296.html)

55) Anonym: A National Security Strategy …, a. a. O. (Anm. 33).

56) Walker, Martin: The New American Hegemony, in: World Policy Journal, vol. 13, no. 2, Summer 1996. Im Original lautet das Zitat: „The Clinton Doctrine is trade.“

57) Vgl. Bertram, Christoph: Der Beifahrer greift zum Steuer. Eine Analyse der US-Außenpolitik I, in: Die Zeit, Nr. 37, 8. September 1995, S. 4; ders.: Amerika, du kannst es besser, in: Die Zeit, Nr. 18, 26. April 1996, S. 1; Buhl, Dieter: Die verwundbare Weltmacht, a. a. O. (Anm. 6) und Anonym: USA – Definition …, a. a. O. (Anm. 46).

58) Heuser, Uwe Jean: Mit dem Holzhammer. Die Vereinigten Staaten liegen mit der halben Welt im Handelsstreit, in: Die Zeit, Nr. 21, 17. Mai 1996, S. 26.

59) Vgl. Walker, Martin: The New American Hegemony, a. a. O. (Anm. 56).

60) Vgl. hierzu das Editorial von Jürgen Nieth, in: W&F Wissenschaft und Frieden, Nr. 4/97, S. 2.

61) Der sudanesische Präsident Al-Bashir wird mit den Worten zitiert: „Der amerikanische Präsident hat das Völkerrecht verletzt. Er ist ein Kriegsverbrecher erster Ordnung“, während die ägyptische Fundamentalistenorganisation »Gamaa Islamiya« angedroht hat: „Dieses Verbrechen geht nicht ohne Bestrafung ab“; vgl. Die Zeit, Nr. 36, 27. August 1998, S. 4. Der ägyptische Philosophieprofessor Hassan Hanafi äußerte sich über die US-Angriffe im Sudan und in Afghanistan mit den Worten: „Tief in ihrer Seele sind sie noch immer Cowboys“, und warf den USA vor, auf individuellen Terrorismus ihrerseits mit Staatsterrorismus zu reagieren; vgl. Dieterich, Johannes (Interviewer): Wie Vietnam. Hassan Hanafi, ägyptischer Philosoph wirft den USA vor, den islamischen Terrorismus zu schüren, in: Die Woche, Nr. 35, 28. August 1998, S. 27. Vgl. zu den Reaktionen in der islamischen Welt insbesondere auch den sehr fundierten Kommentar von William Pfaff in der »International Herald Tribune«, a. a. O. (Anm. 40).

62) Sapsford, Jathon: Japan's Mr. No Has Fresh U.S. Charges – Author Ishihara Sees Threat of American Hegemony, in: Wall Street Journal, June 9, 1998, p. A15. Vgl. auch Walker, Martin: The New American Hegemony, a. a. O. (Anm. 56), der auf eine Rede des früheren japanischen Premierministers Morihiro Hosokawa verweist, die dieser im März 1995 in Seattle gehalten hat und in der er für eine besser ausbalancierte japanisch-amerikanische Sicherheitspartnerschaft plädierte.

63) Vgl. Shalikashvili, John M.: National Military Strategy 1997, a. a. O. (Anm. 34).

64) Vgl. Shalikashvili, John M.: Joint Vision 2010. America's Military: Preparing For Tomorrow, Washington D. C., January 1996.

65) Joint Warfighting Center (ed.): Concept for Future Joint Operations, Fort Monroe, VA, May 1997 (im Internet unter www.dtic.mil/
doctrine/jv2010/concept.htm).

66) Mit Stand vom 27. Juli 1998 umfasste diese 107 Joint Doctrine Publications; siehe im Internet unter www.dtic. mil/doctrine/docinfo/
pstatus/hierchart.htm.

67) Joint Tactics, Techniques, and Procedures (teilstreitkraftübergreifende Taktik, Technik und Verfahren).

68) Vgl. Shalikashvili, John M.: Joint Vision 2010, a. a. O. (Anm. 64).

69) Vgl. Shalikashvili, John M.: Joint Vision 2010, a. a. O. (Anm. 64).

70) Vgl. hierzu auch Ruhmann, Ingo: High-Tech für den Krieg. USA bauen ihren Vorsprung weiter aus, in: W&F Wissenschaft und Frieden, Nr. 4/97, S. 30.

71) Vgl. Shalikashvili, John M.: Joint Vision 2010, a. a. O. (Anm. 63).

72) Vgl. Koch, Jutta: Bitte keine toten US-Bürger. Zur sicherheitspolitischen Kultur der USA, in: W&F Wissenschaft und Frieden, Nr. 4/97, S. 49.

73) Vgl. hierzu Stevenson, Charles A.: The Evolving Clinton Doctrine on the Use of Force, in Armed Forces & Society, vol. 22, no. 4 (Summer 1996).
Die sogenannte Powell-Doktrin wurde von dem damaligen amerikanischen Chairman of the Joint Chiefs of Staff kurz vor seiner Pensionierung im Jahre 1993 unter der offiziellen Bezeichnung »Joint Pub 3-0, Doctrine for Joint Operations« in Kraft gesetzt und später von der Clinton-Administration nur wenig verändert im Lichte der Erfahrungen der Einsätze in Somalia, Haiti und Bosnien übernommen. In ihren Kernaussagen fordert die Doktrin im Fall der Verteidigung vitaler nationaler Interessen die Anwendung überwältigender militärischer Macht, um einen schnellen und entscheidenden Sieg mit nur geringen Verlusten an US-amerikanischen Menschenleben zu erzielen. Ist der Erfolg nicht garantiert, sollten militärische Machtmittel nicht zum Einsatz gelangen. Sind zwar wichtige, aber nicht lebenswichtige US-Interessen berührt und stehen die absehbaren Kosten und Risiken im Einklang mit diesen Interessen, so kann militärische Gewalt in begrenztem Umfang zur Durchsetzung derartiger begrenzter Ziele angewandt werden. In jedem Fall aber müssen für militärische Operationen folgende Voraussetzungen a priori erfüllt sein: ein klar definierter und realisierbarer Auftrag, nachprüfbare Erfolgskriterien für die Auftragserfüllung sowie Optionen für einen Rückzug der Streitkräfte als Absicherung gegen eine schleichende Ausweitung des Auftrages (»mission creep«).
Zudem ist die Unterstützung des Streitkräfteeinsatzes seitens der Öffentlichkeit, der Medien und des Kongresses sicherzustellen. Herausragendes Kriterium ist darüber hinaus, dass unter allen Umständen das Ansehen der Streitkräfte gewahrt bleiben muss.

74) Eine einschlägige Passage im »Concept for Future Joint Operations« lautet: „Mindful of public concern and expectation to minimize the unnecessary risk of casualties, the National Command Authorities (NCA) will continue to seek quick, focused, effective and decisive application of combat power when and where it is required“; vgl. Joint Warfighting Center (ed.): Concept for Future Joint Operations, a. a. O. (Anm. 65), S. 11.

75) Vgl. Ruhmann, Ingo: a. a. O. (Anm. 70), S. 41.

76) Perry, William J.: Fulfilling the Role of Preventive Defense, a. a. O. (Anm. 30).

77) Cohen, William S.: New Defense Strategy: Shape, Respond, Prepare. Prepared statement of Secretary of Defense William S. Cohen to the Senate Armed Services Committee, Feb. 3, 1998, in: Defense Issues, Volume 13, Number 13
(im Internet unter www.defenselink.mil/
speeches/1998/di1313.html«).

78) Vgl. Anonym: 1998 Joint Warfighting Science and Technology Plan (im Internet unter www.dtic.mil/dstp/ 98_docs/jwstp/jwstp.htm) sowie Anonym: 1997 Joint Warfighting Science and Technology Plan (im Internet unter www.dtic.mil/dstp/97_docs/jwstp/jwstp.htm).

79) Vgl. die Ausführungen des Undersecretary of Defense for Acquisition and Technology, Paul G. Kaminski, vor dem Acquisition and Technology Subcommittee des Senate Armed Services Committee am 20. März 1996 in: Kaminski, Paul G.: Dod's Fiscal 1997 Acquisition and Technology Program, in: Defense Issues, Volume 11, Number 32 (im Internet unter www.dtic.mil/defenselink/pubs/
di_index.html).

80) Vgl. Anonym: 1996 Defense Science and Technology Strategy (im Internet unter www.dtic.mil:80/dstp/ 96_docs/strategy/
strategy.htm) In diesem Kontext wird die militärische Forschungs- und Technologieentwicklungspolitik dann weiter ausdifferenziert, beispielsweise durch die Definition eines »Basic Research Plan« (im Internet unter www.dtic.mil/
dstp/97_docs/brp/brp.htm), eines »Defense Technology Area Plan« (im Internet unter www.dtic.mil/dstp/97_docs/dtap/dtaps.htm) oder von »Defense Technology Objectives« (im Internet unter www.dtic.mil/dstp/
98_docs/dtos/dtos.htm).

81) Kaminski, Paul G.: Dod's Fiscal 1997 …, a. a. O. (Anm. 79).
In einer Rede auf einem Symposion der »American Defense Preparedness Association« und der »Association of the U.S. Army« in Huntsville, Alabama, am 16. Januar 1996 prognostizierte Kaminski, dass „[t]he coming decade promise a quantum shift in the evolution of armed conflict“, wobei die amerikanischen Streitkräfte „are being designed to achieve dominant battlefield awareness and combat superiority through the deployment of fully integrated intelligence systems and technologically superior weapons systems“; Kaminski, Paul G.: 21st Century Battlefield Dominance, in: Defense Issues, Volume 11, Number 10
(im Internet unter http://www.dtic.mil/
defenselink/pubs/di_index.html).

82) Joint Warfighting Center (ed.): Concept for Future Joint Operations, a. a. O. (Anm. 65), S. 28.

83) Einen gerafften Überblick hierzu gibt
Ruhmann, Ingo: a. a. O. (Anm. 70),
S. 29 – 41.

84) Vgl. Department of Defense, Office of Assistant Secretary of Defense (ed.): News Release No. 026-98, February 2, 1998 (im Internet unter www.defenselink.mil/news/
Feb1998/b02021998_bt026-98.html).

85) Vgl. Cohen, William S (ed.).: Report of the Quadrennial Defense Review, May 1997 (im Internet unter www. dtic.mil/defenselink/
pubs/qdr/).

86) Cohen, William S.: New Defense Strategy …, a. a. O. (Anm. 77).

87) Vgl. Steel, Ronald: a. a. O. (Anm. 4), S. 10. Die Vereinigten Staaten müssen „retain the preeminent responsibility for addressing…those wrongs which threaten not only our interests, but those of allies or friends, or which could seriously unsettle international relations“, heißt es in einem Pentagon-Papier von 1992, das der New York Times zugespielt wurde, wie James Chace berichtet, der daraus im Hinblick auf die Clinton-Aministration den Schluss ableitet, „what is good for America, it seems, is good for the world“; vgl. Chace, James: An Empty Hegemony?, in: World Policy Journal, vol. 14, no. 2, Summer 1997. Vgl. zu dem zitierten Papier auch Buhl, Dieter: Einfach super, diese Macht. Ein Pentagon-Papier verlangt Amerikas Vorherrschaft, in: Die Zeit, Nr. 12, 13. März 1992, S. 8.

88) Vgl. Kagan, Robert: Ein Segen für die Welt, in: Die Zeit, Nr. 29, 9. Juli 1998, S. 11.

89) Stevenson, Charles A.: The Evolving Clinton Doctrine on the Use of Force, a. a. O. (Anm. 73), p. 519.
Eine gutes Exempel stellt der Golfkrieg gegen den Irak im Jahre 1990/91 dar.

90) Walker, Martin: The New American Hegemony, a. a. O. (Anm. 56). Vgl. auch Pitzke, Marc: Manöver erfolgreich, in: Die Woche, Nr. 35, 28. August 1998, S. 26.

91) Hier gilt immer noch die Forderung, dass die Vereinigten Staaten in der Lage sein müssen, zwei großangelegte militärische Auseinandersetzungen auf unterschiedlichen Kriegsschauplätzen gleichzeitig zu ihren Gunsten zu entscheiden; vgl. hierzu die einschlägigen Formulierungen in der »National Security Strategy for a New Century« von 1997, der »National Military Strategy 1997« sowie den Ausführungen des US-Verteidigungsministers William S. Cohen unter der Überschrift »New Defense Strategy: Shape, Respond, Prepare« von Anfang dieses Jahres.

92) Vgl. Ruhmann, Ingo: a. a. O. (Anm. 70), S. 41.

93) Vgl. die entsprechenden Ausführungen zu diesem Topos in: Anonym: A National Security Strategy for a New Century, a. a. O. (Anm. 33), Abschnitt Shaping the International Environment … through Military Activities; Shalikashvili, John M.: National Military Strategy 1997, a. a. O. (Anm. 34), Abschnitt Today's Force – Strategic Deterrence; Joint Warfighting Center (ed.): Concept for Future Joint Operations, a. a. O. (Anm. 65), S. 1 sowie Director for Strategic Plans and Policy, Joint Staff (ed.): Joint Pub 3-12, Doctrine for Joint Nuclear Operations, Washington, D. C., 15 December 1995, p. 5 (im Internet unter www.dtic.mil/doctrine/jel/c_pubs2.htm).

94) Vgl. Director for Strategic Plans and Policy,
Joint Staff (ed.): Joint Pub 3-12, Doctrine for Joint Nuclear Operations, a. a. O. (Anm. 92), p. v. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass während des Kalten Krieges die NATO, als ihre Strategie MC 14/3 »Flexible Response« in Kraft war, den Kalkül, die angebliche sowjetische Überlegenheit im Bereich der konventionellen Streitkräfte mittels Nuklearwaffen zu kompensieren, stets vehement zurückgewiesen hatte. Heute entspricht die Nuklearstrategie der USA, was die Bedrohung durch konventionelle Streitkräfte betrifft, der russischen, gemäß der die Nuklearstreitkräfte Russlands ebenfalls als Rückversicherung gegen die als überlegen perzipierten konventionellen Streitkräfte der NATO betrachtet werden.

95) Vgl. die eindeutigen Formulierungen in: Director for Strategic Plans and Policy, Joint Staff (ed.): Joint Pub 3-12, Doctrine for Joint Nuclear Operations, a. a. O. (Anm. 93), p. vi and p II-1 sowie ders.: Joint Pub 3-12.1, Doctrine for Joint Theater Nuclear Operations, Washington, D. C., 9 February 1996, p. v and p. I-1 (im Internet unter www.dtic.mil/ doctrine/jel/c_pubs2.htm).

96) Director for Strategic Plans and Policy, Joint Staff (ed.): Joint Pub 3-12.1, Doctrine for Joint Theater Nuclear Operations, a. a. O. (Anm. 93), p. viii (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch in derselben Publikation das Kapitel III »Planning and Employment«, wo unter Abschnitt 4 »Targeting Considerations« als mögliches Ziel für US-Nuklearwaffeneinsätze wiederum „Nonstate actors (facilities and operation centers) that possess WMD“ genannt sind (p. III-7).

97) Vgl. Czempiel, Ernst-Otto: Rückkehr in die Hegemonie, a. a. O. (Anm. 27), S. 33.

98) Layne, Christopher: Rethinking American Grand Strategy: Hegemony or Balance of Power in the Twenty-first Century, in: World Policy Journal, vol. 15, no. 2, Summer 1998, p. 8. Zur inneramerikanischen Debatte zur Rolle der USA als eines globalen Hegemons vgl. darüber hinaus: Walker, Martin: The New American Hegemony, a. a. O. (Anm. 55); Brilmayer, Lea: American Hegemony: Political Morality in a One-Superpower World, New Haven 1994; Taylor, Peter J.: The Way the Modern World Works: World hegemony to World Impasse, Chichester 1996 sowie Chace, James: An Empty Hegemony?, a. a. O.
(Anm. 87).

99) Vgl. Anm.1.

100) Zur Theorie der Macht und zum Begriff der Modalisierung vgl. Luhmann, Niklas: Macht, Stuttgart 1975, S. 24f.

101) Layne, Christopher: a. a. O. (Anm. 98), p. 14.

102) Vgl. Chace, James: An Empty Hegemony?, a. a. O. (Anm. 87) sowie Layne, Christopher: a. a. O. (Anm. 98), p. 14f.

103) Layne, Christopher: a. a. O. (Anm. 98), p. 15. Der frühere Verteidigungsminister James Schlesinger wird zu diesem Problem mit den Worten zitiert, dass „the historic tendency of great powers is to cut a leader down to size“; vgl. Chace, James: An Empty Hegemony?, a. a. O. (Anm. 87).

104) Der schon zitierte Hassan Anafi weist darauf hin, dass gerade in der islamischen Welt sich der Widerstand gegen die unipolare, von den USA dominierte Welt regt und sich dort ein starker Anti-Amerikanismus breit macht, der sich aus der als gegen den Islam und die gesamte islamische Welt gerichtet empfundenen Politik der USA speist. Die Ursachen für diese Perzeption liegen für ihn in der Doppelmoral US-amerikanischer Politik gegenüber Israel und den arabischen Staaten, in der Unterstützung konservativ-diktatorischer Regime, beispielsweise in Saudi-Arabien und Afghanistan, in dem Bemühen nach dem Fall der UdSSR im Islam einen neuen Feind zu finden sowie in der Missachtung der Souveränität arabischer Staaten durch staatsterroristische Akte der USA; vgl. Dieterich, Johannes (Interviewer): Wie Vietnam, a. a. O. (Anm. 61), S. 26f.

105) Vgl. Cohen, William S.: Wie werden uns zu wehren wissen, in: Die Zeit, Nr. 36, 27. August 1998, S. 13.

106) Vgl. Anonym: Secretary of Defense William J. Perry, The Kennedy School, Harvard University, Question & Answers, a. a. O. (Anm. 30).

107) Close, Raymond: Hard Target. We can't Defeat Terrorism with Bombs and Bombast, a. a. O. (Anm. 40).

108) Close, Raymond: Hard Target. We can't Defeat Terrorism with Bombs and Bombast, a. a. O. (Anm. 40).

109) Pfaff, William: America Can't Be Outside the Law, a. a. O. (Anm. 26).

110) Vgl. Schmidt, Helmut: Eine Hegemonie neuen Typs. Zbigniew Brzezinski formuliert den Anspruch der Vereinigten Staaten auf die globale Vormachtstellung, in: Die Zeit, Nr. 45/1997, S. 24.

111) Exakt diese Bedenken äußerte Graham Fuller, Mitarbeiter der RAND Corporation, im Hinblick auf die aktuelle Politik der Terrorismusbekämfung durch die USA, indem er konstatierte, dass diese „has »fueled huge animosity across the Muslim world« and that »unless Washington seeks to understand that anger, the whole clash of civilizations idea could become a self-fulfilling prophecy«“; zit. n. Pfaff, William: The U.S. Talk of 'War' Can Only Fuel Hatred, a. a. O. (Anm. 40).

112) Walker, Martin: The New American Hegemony, a. a. O. (Anm. 56).

113) Tenbrock, Christian: Knüppel aus dem Sack, a. a. O. (Anm. 14).

114) Vgl. Vidal, Gore: Amerika im »Mond der Pause«, in: Die Woche, 17. Juli 1998, S. 24.

Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er war viele Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter mehrerer Institute in Forschung und Lehre tätig. Nach mehreren kritischen Veröffentlichungen wurde er mittlerweile einer neuen Verwendung am Luftwaffenamt zugeführt.
Der Autor legt Wert auf die Feststellung, dass er in diesem Beitrag seine persönlichen Auffassungen vertritt.

Nach der Tragödie die Farce?

Japans Versuche, alte imperialistische Ziele unter den Rahmenbedingungen einer US-Vormundschaft zu verwirklichen

Nach der Tragödie die Farce?

von Eiichi Kido

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF e.V.)

Die englische Wochenzeitschrift »Economist« berichtete im Januar 2005, dass Japan mit dem Feuer spiele.1 Die Liberal-Demokratische Partei (LDP), die seit 1955 fast ununterbrochen das Land beherrscht, hatte eine baldige Änderung des Erziehungsrahmengesetzes auf die politische Agenda gesetzt, um den Schülerinnen und Schülern »Vaterlandsliebe« an zu erziehen. Das konservative Magazin mahnte, dass die LDP mit ihren ideologischen Spielen in den Nachbarländern Japans Antipathien schürt und tiefe innere Wunden wieder aufreißt.

Gefährliches Spiel

In der Tat betrachtet die LDP den Änderungsvorstoß als Vorstufe zur Verfassungsänderung. Das Erziehungsrahmengesetz vom 31. März 1947 sieht als Ziel der Erziehung an, Persönlichkeiten zu formen und eine sowohl körperlich als auch geistig gesunde Nation zu bilden, die als Gestalter eines friedlichen Staates bzw. einer friedlichen Gesellschaft Wahrheit und Gerechtigkeit liebt, den Wert des Individuums respektiert, auf Fleiß und Verantwortlichkeit Wert legt und den Geist von Selbständigkeit atmet. Für die LDP ist dies ein vaterlandsloses und unjapanisches Gesetz, ein Produkt der amerikanischen Besatzungspolitik, die vermeintlich auf die Zerrüttung der japanischen Seele zielte.

Die geistige Struktur der Liberaldemokraten von heute ist nicht sehr weit entfernt von der der damaligen Konservativen. Diese akzeptierten die angeblich von den Amerikanern aufgezwungene Verfassung vom 3. November 1946 mit ihren neuen Prinzipien wie Volkssouveränität, Menschenrechte, Friedens- und Wohlfahrtsstaat nur widerwillig, um eine Verfolgung des Kaisers Hirohito als Kriegsverbrecher und eine radikale politisch-gesellschaftliche Umwälzung zu verhindern.2 Die Chancen der LDP, ihr politisches Ziel einer »eigenständigen Verfassung«, für das sie seit ihrer Gründung 1955 eingetreten ist, endlich zu realisieren, sind recht hoch.

Denn nicht nur die LDP will das Erziehungsrahmengesetz und die Verfassung ändern. Die größte Oppositionspartei, die Demokratische Partei, zieht immer mehr rechte Kräfte an. Der Vorsitzende des Parlamentarierverbandes zur Förderung der Änderung des Erziehungsrahmengegesetzes, Shingo Nishimura, gehört denn auch zu dieser Partei. Bei der Gründungstagung des Verbandes am 25. Februar 2004 benannte er als Ziel der Gesetzesänderung ganz offen: „Japaner zu bilden, die willig das Leben für den Staat opfern.“3 Der ultranationalistische Politiker musste übrigens am 20. Oktober 1999 als parlamentarischer Staatssekretär für Verteidigung zurücktreten, weil er eine nukleare Streitkraft für Japan gefordert hatte.

Die Landschaft des japanischen Parlaments nähert sich amerikanischen Verhältnissen, wo es kaum noch eine echte Opposition gibt. Auch in der Verfassungsfrage hat sich gewissermaßen ein Parteienkartell herausgebildet. Das Hauptziel der Abgeordneten, die eine Verfassungsänderung befürworten, ist die Abschaffung des pazifistischen Artikels 9:

„(1) In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und die Androhung oder Ausübung von militärischer Gewalt als ein Mittel zur Regelung internationaler Streitigkeiten.

(2) Zur Erreichung des Zwecks von Absatz 1 werden Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie andere Kriegsmittel nicht unterhalten. Ein Kriegsführungsrecht des Staates wird nicht anerkannt.“4

Für eine Verfassungsänderung sind in Japan die jeweilige Zweidrittelmehrheit in den beiden Kammern und eine einfache Mehrheit bei einer Volksabstimmung notwendig. Lediglich die Kommunisten und Sozialdemokraten verteidigen im Parlament noch die so genannte »Friedensverfassung«. Sie halten jedoch insgesamt nur 15 Mandate im Unterhaus (von 480 ) bzw. im Oberhaus (von 242 ) und können somit die Verabschiedung einer Verfassungsänderung im Parlament kaum verhindern.

Diese Tendenz gilt auch für die Bevölkerung, allerdings nicht ganz so extrem wie im Parlament. Laut einer Zeitungsumfrage ist erstmals eine Mehrheit der Befragten für eine Verfassungsänderung.5 Aber interessanterweise will ebenfalls eine deutliche Mehrheit den pazifistischen Artikel 9 behalten (Tabelle 1).

Das Verhältnis der Japaner zur Verfassung
  April 01 April 04
Ich bin der Meinung, die Verfassung insgesamt zu ändern. 47% 53%
Ich bin der Meinung, die Verfassung nicht zu ändern. 36% 35%
Ich bin der Meinung, den Verfassungsartikel 9 zu ändern. 17% 31%
Ich bin der Meinung, den Verfassungsartikel 9 nicht zu ändern. 74% 60%

Das Jahr 2005 wird also höchstwahrscheinlich zu einem entscheidenden Jahr in der politischen Geschichte Japans. Im Folgenden werden die Hintergründe der heutigen Situation analysiert und die Aktivitäten der Friedensbewegung, die diesen Tendenzen entgegensteht, geschildert.6

Aushöhlung der Nachkriegswerte

Seit der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg sind Frieden und Gleichheit die zwei wichtigsten Grundwerte der japanischen Gesellschaft. 60 Jahre lang hat Japan keinen Krieg geführt. Für das Volk ist der Krieg mehr oder weniger das Böse schlechthin. Wenn das Militär großen Einfluss auf die Politik gehabt hätte, wäre der Rüstungsetat wesentlich größer gewesen, was das enorme wirtschaftliche Wachstum Japans gebremst hätte. In den 1960er und 1970er Jahren hätte Japan wie Südkorea seine Soldaten nach Vietnam schicken müssen, was die Einstellung gegenüber Japan in Asien weiter verschlechtert hätte.

Was die Gleichheit anbelangt, haben diejenigen konservativen Politiker, die vom Land stammen, eifrig versucht, den Unterschied des Lebensstandards zwischen Stadt und Land anzugleichen. Der Ausgangspunkt ihrer politischen Karrieren war die Armut in ihrer jeweiligen Heimat. Japan ist zwar, betrachtet man etwa Renten, Gesundheit, Pflege und Beschäftigung, kein Vorreiter in der Fürsorge, aber in den agrarischen Regionen wird die Beschäftigung immerhin durch »öffentliche Bauarbeiten« gesichert.

Dies hat aber auch eine negative Seite. Das Friedensbewusstsein der Japaner hat insoweit funktioniert, als sie sich ausschließlich als Kriegsopfer betrachtet haben. Die düstere Vergangenheit von Expansionspolitik und Angriffskrieg ist aber bisher nicht ernsthaft aufgearbeitet worden.

Der Militärpakt mit den USA hat natürlich die Authentizität des »Friedensstaates« in Frage gestellt.7 So war es nicht besonders überzeugend, als einzige Atombombenopfernation atomare Abrüstung zu fordern und gleichzeitig selber unter dem US-amerikanischen Atomschirm dahinzudämmern.

Die japanische Verfassung ist auch bestrebt, strukturelle Gewalt zu überwinden. In der Präambel heißt es: „Wir erkennen an, dass die Völker auf der ganzen Welt das Recht haben, ohne Unterschied frei von Furcht und Not in Frieden zu leben.“ Es ist aber sehr fragwürdig, ob Japan den Forderungen der Verfassung entsprochen hat, „dass keine Nation sich nur ihren eigenen Angelegenheiten widmen und die anderen Nationen unbeachtet lassen darf.“ Historisch gesehen hat Japan bei den Kriegen in Korea und Vietnam ökonomisch gewaltig profitiert. Der Widerspruch zwischen dem verfassungsrechtlichen Ideal und der Realität ist also sehr groß.

Die relative Gleichheit zwischen Großstadt und Land in Japan ist ein Produkt des Komplexes von Zentralismus und Plutokratie. Die Bürokraten haben Befugnisse und Einnahmequellen monopolisiert. Gleichzeitig konnten sie beliebige Interessen bedienen, da ihr Handeln kaum durch gesetzliche Regelungen eingeschränkt wird. Angesichts des intransparenten japanischen Verwaltungshandelns wiederum haben Politiker mit ihrer Vermittlerfunktion eine große Rolle gespielt. Die Unternehmer haben ihrerseits den Politikern viel Geld gespendet, um ihre Interessen durchzusetzen. Dadurch ist ein kaum mehr zu überschauendes Korruptionssystem entstanden.

Der kanadische Journalist Benjamin Fulford spricht denn auch von der japanischen Kleptokratie.8 Der Begriff bezeichnet eine staatliche Ordnung, bei der die Herrschenden willkürliche Verfügungsgewalt über Besitz und Einkünfte der Beherrschten haben und sich auf deren Kosten privat bereichern.9 Der Autor behauptet, dass über Japan eine Oligarchie der privilegierten Klasse herrsche. Diese Oligarchie bestehe aus Berufspolitikern, Bürokraten, Großunternehmern und Yakuza-Banden. Der Reichtum, den das Volk fleißig produziert habe, werde vom Staat mit allen möglichen Mitteln abgeschöpft.

Vertiefter Verbraucher-Konservatismus

Natürlich gibt es noch andere Elemente, die die Nachkriegsgrundwerte unterminiert haben. Das ungewöhnliche Hochwirtschaftswachstum hat das japanische Gemeinschaftsleben letztlich ruiniert. Ursprünglich war es die Handlungsnorm der Japaner, in einer Dorfgemeinschaft von jemandem gesehen werden zu können und sich deshalb anständig benehmen zu müssen. Durch die rasche Urbanisierung ist der Einzelmensch inzwischen aber atomisiert, ja sogar, so Zygmunt Bauman, regelrecht verflüssigt worden.10

Gleichzeitig hat sich ein extremer Konsumismus herausgebildet. Schon in der zweiten Hälfte der 70er Jahre war unter den japanischen Politikwissenschaftlern oft vom Verbraucher-Konservatismus der Bevölkerung die Rede.11 Der wirtschaftliche Erfolg Japans hat die Entwicklung selbstkritischer Positionen stark behindert. Es gibt nur vereinzelt kritische Kommentare zur Umweltverschmutzung, zur unbewältigten Vergangenheit und der Gefahr eines Atomkrieges.

Nach einer Untersuchung, die in den USA, den Niederlanden, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien und Japan durchgeführt wurde, haben die Japaner die am wenigsten ausgeprägte postmaterialistische Einstellung. Während der »postmaterialistische« Anteil der Bevölkerung z.B. in Deutschland 51% beträgt, liegt er in Japan bei nur 38%.12

Die 1990/1991 geplatzte Seifenblasenwirtschaft drückt die gesellschaftliche Stimmung. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Japans wird von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung heute negativ beurteilt, wie sich an folgenden Zahlen ablesen lässt.13 (Tabelle 2)

Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Japans ist
  sehr gut eher gut

eher schlecht

sehr schlecht
1973 25% 42% 19%

5%

1978 23% 43% 19% 5%
1988 42% 40% 10% 2%
1993 33% 46% 14%

3%

1998 4% 28% 42% 23%

Trotzdem sind die Japaner mit ihrem Lebensstandard zufrieden.14

Die Rolle von Sicherheit für die Japaner

Die überwiegende Mehrheit der Japaner (88%) empfindet zwar, dass die Sicherheit in der Welt zunehmend gefährdet ist. Werden sie aber nach eventuellen Gefahren und Bedrohungen gefragt, so haben sie mehr Angst vor einer Naturkatastrophe (24%) oder einem wirtschaftlichen Zusammenbruch (20%) als vor einem Atomkrieg (19%) oder vor Terrorismus (12%). Der Anteil der Bürger, die nachdrücklich befürworten, dass alle Länder einen Vertrag zum Verbot aller Atomwaffen unterschreiben, ist mit 77% geringer als bei Brasilianern (89%), Deutschen (88%), Kanadiern (83%) oder Russen (78%). Die Erwartung, dass Atomwaffen innerhalb des 21. Jahrhunderts von allen Ländern verboten werden, ist bei den Japanern (49%) gleichfalls deutlich niedriger als bei Russen (84%), Franzosen (73%), Deutschen (62%), Kanadiern und Engländern (je 61%).

Auch bei der Wahl zum Unterhaus vom November 2003 hat das Thema »Krieg und Frieden« kaum eine Rolle gespielt. Während die Wahlberechtigten die Konjunktur (45%) und die Rentenfrage (43%) als zentrales Wahlthema empfanden, war die Frage der Entsendung japanischer Truppen in den Irak nur für 4% von ihnen entscheidend.15

Die Wahl zum Oberhaus vom Juli 2004 verlief analog. Hier hat die Rentenreform eine zentrale Rolle gespielt.

Der Begriff »Frieden« ist in der japanischen Sprache eher auf die Seelenruhe orientiert.16 Diese Einstellung neigt dazu, Ungerechtigkeit auszublenden. Wenn die Japaner weiter auf den »Wohlstand« fixiert bleiben, ist es unvermeidbar, dass Japan zum Akteur direkter und struktureller Gewalt wird.

Je länger die ökonomische Flaute anhält, desto größer wird die Frustration und der Drang, sich mit einem starken Führer bzw. Staat identifizieren zu können. Nach dem Amtsantritt des Ministerpräsidenten Junichirô Koizumi im April 2001 ist diese Tendenz offensichtlich geworden.

Verzögerte Beteiligung an der Globalisierung

An dieser Stelle möchte ich aber zunächst die objektiven Daten und den historischen Hintergrund der heutigen Verhältnisse Japans analysieren.

Laut einer Statistik des japanischen Außenministeriums hat Japan mit 189 Staaten diplomatische Beziehungen (Stand: 1. März 2003).17 Unter den UN-Mitgliedstaaten hat Japan nur mit Nordkorea keine diplomatischen Beziehungen. Das Land hat 2001 mit 387.000 km2 nur 0,3% der Fläche und mit 127,5 Mill. Einwohnern 2,1% der Bevölkerung der Welt.18 Japan trägt 6,1% zum Welthandel bei. Beim Bruttonationaleinkommen (GNI = gross national income) liegt Japan nach den USA (9.901 Mrd. Dollar: 31,4%) mit 4.574 Mrd. Dollar auf Platz zwei (14,5%), gefolgt von Deutschland (1.948 Mrd. Dollar: 6,2%).19

Japan und die USA monopolisieren damit fast die Hälfte des Reichtums der ganzen Welt. Während die USA seit den 1920er Jahren die führende Industriemacht sind, hat sich die japanische Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg extrem schnell entwickelt. 1945 lag das Bruttosozialprodukt (BSP) Japans im Weltmaßstab noch bei weniger als 1%, aber schon Ende der 1970er Jahre erreichte es 10%.

Die Multinationalisierung der japanischen Unternehmen begann erst Mitte der 1980er Jahre. Bis dahin hatten die japanischen Unternehmer durch die als »Japanisches Management« bezeichneten Arbeitsbeziehungen über den internationalen Wettbewerb gesiegt. Die Arbeiter waren weitgehend rechtlos, zu militärischer Disziplin und Konkurrenzverhalten am Arbeitsplatz gezwungen und hatten lange Arbeitszeiten. Trotzdem oder gerade deshalb war ihre Anpassung an »meine Firma« stark. Die Gewerkschaften basierten auf dem Prinzip der Unternehmensgewerkschaft, nicht auf dem Industieverbandprinzip. Sie wirkten sozialpartnerschaftlich mit dem Kapital zusammen und schlossen »radikale« Arbeiter aus.

Seit den 1970er Jahren gibt es zwischen Japan und den Vereinigten Staaten immer wieder Handelskonflikte um Textil, Stahl, Fernseher, Autos und Halbleiter. 1982 erreichte das Handelsdefizit der USA gegenüber Japan 20 Mrd. Dollar. Wegen des enormen Handelsüberschusses haben die USA von Japan verlangt, den Markt zu öffnen. Ende der 1980er Jahre wurde die US-japanische Initiative zur Beseitigung der strukturellen Handelshemmnisse (US-Japan Structural Impediments Initiative) ins Leben gerufen.

Der so genannte Plaza-Akkord vom September 1985 führte zur Yen-Aufwertung.20 Der Yen wurde gegenüber dem Dollar von 280:1 (1985) auf ca. 110:1(1993) verteuert. Dadurch wurden japanische Exporte teuer. Obwohl der schwache Dollar amerikanische Exporte allgemein ankurbelte, blieben die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den USA und Japan weiter kritisch. Der japanische Überschuss lag 1993 bei 50 Mrd. Dollar. Nachdem der japanische Ministerpräsident Kiichi Miyazawa im April 1993 dem amerikanischen Präsidenten Bill Clinton ein neues US-japanisches Handelsgespräch vorgeschlagen hatte, begannen die Verhandlungen über Rahmenbedingungen des Handels (US-Japan framework talks).21

Auf die Yen-Verteuerung haben japanische Hersteller mit einer Verlagerung ihrer Produktion in die (süd-)ostasiatischen Länder reagiert. Indem Japan seine Kapitalexporte strategisch von Nordamerika in die asiatischen Nachbarländer umorientierte, haben die japanischen Direktinvestitionen in die ASEAN-Länder (einschließlich Vietnam) 33,1 Mrd. Dollar erreicht. Japanisches Kapital ist an 2.754 Joint Ventures in Südostasien beteiligt.22

Die Achillesferse der japanischen Wirtschaft ist der Rohstoffmangel. Die Energieversorgung hängt vom Import ab. 2000 hat Japan insgesamt 4.262.000 Barrel Rohöl pro Tag importiert, überwiegend aus dem Nahen Osten (aus den Golfstaaten 3.100.000, dem Iran 500.000 und dem Irak 105.000 Barrel). Es sind die USA, die den Japanern ihre Erdölversorgung garantieren.23

Wirtschafts- und Finanzkreise verlangten deshalb von der Politik zunehmend, die Stabilität in der Region zu sichern, die freie Handels- und Investitionstätigkeit der japanischen Unternehmen zu garantieren, und zwar am besten auf eigene Faust. Auch die politische Klasse Japans hält es inzwischen für erforderlich, dass Japan zur Absicherung der multinational operierenden Konzerne eine Mitverantwortung für die Sicherung der Weltordnung übernimmt.

Die japanischen Konservativen zwischen Antikommunismus und Antiamerikanismus

Das Credo der US-amerikanischen Japanpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg war ursprünglich die Demilitarisierung und die Demokratisierung des Landes. Aufgrund der Erfahrung der Besatzung in Deutschland wollten die USA den Einfluss anderer Länder auf ihre Besatzungspolitik ausschließen. Von vorneherein hatten sie die Absicht, zu diesem Zweck das japanische Kaisertum auszunutzen. Deshalb war es für die USA selbstverständlich, beim Kriegsverbrechertribunal in Tôkyô Kaiser Hirohito nicht anzuklagen.24

Die USA sorgten dafür, dass das besiegte Japan rasch eine neue Verfassung bekam, um sich komplizierte Verhandlungen mit anderen Alliierten zu diesem Thema zu ersparen. Die japanische Verfassung wurde am 3. November 1946 verkündet und ist am 3. Mai 1947 in Kraft getreten. Gleichsam im Austausch dafür, das Kaisertum in einer konstitutionellen Form überleben zu lassen, spricht sie Japan das Recht zur Kriegsführung ab und verbietet jegliche Kriegsmittel.

Obwohl der Kaiser nun als »Symbol« Japans und der Einheit des japanischen Volkes« eigentlich nur die in der Verfassung bestimmten Handlungen vornehmen darf, hat Hirohito mindestens zweimal eine für die Nachkriegspolitik entscheidende politische Rolle gespielt:

  • Im September 1947 schlug er dem Obersten Kommandanten der Alliierten, Douglas MacArthur, indirekt vor, durch einen Pachtvertrag über 25 oder 50 Jahre die Insel Okinawa in militärischen Besitz zu nehmen. Obwohl Okinawa nur 0,6 Prozent der Fläche Japans hat, liegen dort heute noch 75% aller US-Militärstützpunkte in Japan.
  • Im August 1950 schrieb er dem Berater des US-Außenministeriums John Foster Dulles persönlich Folgendes: Wenn erfahrene Japaner, die wegen der Kriegsschuld des Amtes enthoben worden sind, rehabilitiert würden, würden sie viel dazu beitragen, die Friedensfrage zu lösen, und zwar im dem Sinne, dass Japan freiwillig den Amerikanern Militärstützpunkte anbieten würde. Das führte zum Abschluss des US-japanischen Sicherheitsvertrags, der am 8. September 1951 gleichzeitig mit dem Friedensvertrag unterschrieben wurde.

Die »Überlebensstrategie« Hirohitos war, den amerikanischen Wunsch vorwegzunehmen und das wie einen freiwilligen Vorschlag japanischerseits gegenüber den Amerikanern aussehen zu lassen. Damit legte Hirohito den Grundstein zur Remilitarisierung Japans.

Nach der politischen Unruhe um die Revision des Sicherheitsvertrags 1960 bemühte sich die Regierung, das Interesse des Volkes auf das wirtschaftliche Wachstum zu konzentrieren. Unter dem amerikanischen »Atomschirm« konnte Japan die eigene Aufrüstung relativ beschränken. Im November 1971 hat das japanische Parlament die »Drei nicht-nuklearen Grundsätze« beschlossen: keine Nuklearwaffen zu produzieren, zu besitzen und einzuführen.25 Im Oktober 1976 beschloss das japanische Kabinett, die jährlichen Verteidigungsausgaben zu beschränken auf unter ein Prozent des Bruttosozialproduktes (BSP).26

Heute gibt es in Japan 39.691 amerikanische Offiziere und Soldaten (Stand: September 2003), insgesamt 134 US-Militäreinrichtungen auf einer Fläche von 1.010 km2. Die USA haben das Recht zur Errichtung von Militärbasen und zur unbeschränkten militärischen Nutzung. Außerdem zahlt Japan seit 1978 ungeheure Geldsummen als finanzielle Hilfe für die stationierten US-Truppen.27 Es finanziert nicht nur Personalkosten für Beschäftigte in US-Militärstützpunkten, Licht-, Heiz- und Baukosten innerhalb der US-Militärstützpunkte, sondern auch Pachtzinsen, Subventionen für die betroffenen Kommunen, Schallisolierungsarbeiten usw. Angesichts der Tatsache, dass Japan für die stationierten US-Soldaten mehr als 100.000 Euro pro Kopf bezahlt, kommentieren manche selbstironisch, das Land sei ein Gefangener, der die Gefängniswächter bezahlen müsste.

Laut eines Berichtes des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums aus dem Jahre 2003 brachte Japan 4,620 Mrd. Dollar für die im Lande stationierten US-Truppen auf. Das ist mehr, als die anderen 24 Länder, in denen US-Truppen stationiert sind, zusammen für die US-Truppen bezahlten (2,880 Mrd. US-Dollar). Darunter sind Deutschland mit 860 Mill. US-Dollar und Südkorea mit 850 Mill. US-Dollar.

Wegen der kritischen Wirtschaftsbeziehungen sind aber Missstimmung und Irritation sowohl auf der amerikanischen als auch auf der japanischen Seite gewachsen. In den USA wird immer wieder behauptet, dass Japan »Trittbrettfahrer« (free rider) des US-japanischen Sicherheitssystems ist. Aber es gibt auch Misstrauen gegenüber der japanischen Aufrüstung. Im März 1990 formulierte der Kommandierende General der 3. Marinedivision in Okinawa (1989-1991), Henry C. Stackpole, heutiger Präsident des amerikanischen Asia-Pacific Center for Security Studies (APCSS), die so genannte »Flaschenverschluss«-Theorie (»cap in the bottle« theory). Er sagte: „Wenn sich die amerikanischen Truppen aus Japan zurückziehen würden, würde Japan die schon starken Streitkräfte noch verstärken. Wir sind der Verschluss der Flasche.“ 1999 haben die Zeitung Asahi Shimbun und das Meinungsforschungsunternehmen Harris Poll eine aufschlussreiche US-japanische Umfrage zusammengestellt. Darin meinten fast die Hälfte der US-Amerikaner, dass US-Truppen in Japan stationiert seien, um eine Militärmacht Japan zu verhindern (Tabelle 3).28

Wozu sind die US-Truppen mit etwa 40.000 Mann in Japan stationiert?
 

Japan

USA
um Japan zu verteidigen 31% 12%
um der Globalstrategie der USA zu dienen 38% 34%
um zu verhindern, dass Japan zu einer Militärmacht wird 19% 49%

Es ist für die japanischen Konservativen ein großer Widerspruch, geschichtspolitisch antiamerikanisch zu bleiben und militär- und realpolitisch proamerikanisch sein zu müssen. Sie verteidigen zwar den Mythos, dass der Krieg gegen den Willen Hirohitos begonnen und geführt wurde. Aber zu jedem Anlass versuchen sie, die japanische Expansions- und Kriegspolitik zu rechtfertigen. Ihr Argument: Japan hatte keinen anderen Weg als Krieg zu führen, weil der amerikanische Druck so massiv war. Es ist natürlich nicht vergessen, dass die Amerikaner mit Brandbomben verschiedene japanische Städte total zerstört und mit Atombomben Hiroshima und Nagasaki vernichtet haben.29

Es ist das politische Ziel der japanischen Konservativen, die politische Ordnung, die die Amerikaner nach 1945 eingeführt haben, vor allem die »Friedensverfassung«, zu beseitigen. Sie wollen den Kaiser als Staatsoberhaupt und die »normalen« Militärkräfte wieder haben.

Seitdem Japan zwei Ölkrisen wirtschaftlich relativ stabil überstand und als »Nummer Eins« in den Himmel gehoben wurde,30 wird auch in Japan der ökonomische Nationalismus propagiert. Es war der Antikommunismus, der in der Zeit des Kalten Krieges den proamerikanischen und den antiamerikanisch-nationalistischen Flügel des japanischen Konservatismus verband. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und angesichts des unverblümten Hegemonialanspruchs der USA wird die Kluft zwischen den beiden Lagern potenziell größer.

Neonationalismus nach dem Ende des Kalten Krieges

Durch den Zusammenbruch des östlichen Lagers und den Wandel Chinas zum Kapitalismus hat sich der freie Markt buchstäblich global ausgedehnt. Um die Ordnung für die globale Marktwirtschaft aufrechtzuerhalten, verlangen die USA von Japan eine militärische Teilnahme. Beim Golfkrieg 1990/1991 zog sich Japan die Ungnade der USA zu, weil es aus verfassungsrechtlichen Gründen »nur« Kriegskosten von 9 Mrd. Dollar übernommen hatte. Auf der anderen Seite brauchen auch die japanischen Unternehmen eine Militärmacht Japan, um in der globalisierten Welt für sich Sicherheit und Privilegien zu garantieren. Eine Wirtschaftsorganisation, Keizai Dôyûkai (Japan Association of Corporate Executive), forderte deshalb nachdrücklich, Japan solle endlich den exklusiven »Ein-Land-Pazifismus« beenden.

Der Stolperstein für die Aufrüstungspolitik Japans ist die kritische Meinung in der asiatischen Öffentlichkeit. Die Stimmen der Kriegsopfer in Asien, die in der Zeit des Kalten Krieges unterdrückt waren, wurden in den 1990er Jahren hörbar. Der damals frisch gewählte Regierungschef der Nicht-LDP-Koalition, Morihiro Hosokawa, sagte im August 1993 deutlich, dass Japan im Zweiten Weltkrieg einen Angriffskrieg geführt hat. Er entschuldigte sich für den Krieg und die Kolonialherrschaft. Der sozialdemokratische Ministerpräsident, Tomiichi Murayama, äußerte am 15. August 1995, zum 50. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation, dass Japan in der nicht so fernen Vergangenheit durch Kolonialherrschaft und Angriffskriege den Menschen in Asien viel Leid angetan hat. Er sprach sich dafür aus, dass Japan sich selbstkritisch mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen und den selbstgefälligen Nationalismus überwinden müsse. Als verantwortungsbewusstes Mitglied der internationalen Gemeinschaft habe es die Völkerverständigung zu fördern und die Idee von Frieden und Demokratie zu verbreiten. Natürlich sei Japan als einzige »Atombombenopfernation« bereit, nach der Abschaffung aller Kernwaffen zu streben und die internationale Abrüstung voranzutreiben.

Die Nationalisten, die ohnehin die »Siegerjustiz« und die »aufgezwungene« Demokratie ablehnen, entwickelten angesichts dieser Ereignisse ein starkes Krisenbewusstsein. Sie versuchten mit allen Mitteln, die »Ehre des Vaterlandes« zu verteidigen. Ihr Angriffsobjekt war ein »selbstanklägerisches« Geschichtsbuch für den Schulunterricht. Das symbolische Ziel war neben dem Nanking-Massaker von 1937 die »Trostfrauen«-Problematik.

Dieses unbewältigte Vergangenheitsthema kam mit dem Ende des Kalten Krieges hoch. Vor und während des Zweiten Weltkrieges wurden unter der japanischen Kolonialherrschaft und Militärbesatzung bis zu 200.000 Frauen als Sexsklavinnen in japanische Militärbordelle gezwungen.31 Die meisten »Trostfrauen« kamen von der koreanischen Halbinsel. In der Regel wurde ihnen vorgelogen, dass sie einen guten Job bekämen. Unter dem Druck der Staatsgewalt bzw. der zwischenstaatlichen Beziehungen und aus Scham haben sie über ihre Erfahrungen den Mund gehalten. Erst im August 1991 hat Kim Hak Soon, eine 67-jährige Koreanerin, öffentlich gemacht, dass sie während des Zweiten Weltkrieges als Zwangsprostituierte festgehalten worden war. Danach wurde in Südkorea eine Hotline eingerichtet und es meldeten sich weitere betroffene Frauen. Seit 1991 gibt es in Japan insgesamt zehn Fälle, in denen ehemalige Opfer der sexuellen Gewalt von der japanischen Regierung Entschuldigung und Wiedergutmachung verlangen.

Die japanische Regierung verleugnete zuerst die staatliche Verantwortlichkeit. Am 13. Januar 1992 erkannte Regierungssprecher Kôichi Katô jedoch an, dass das japanische Militär die Zwangsprostitution damals mitorganisiert hat. Am 6. Juli 1992 gab er offiziell bekannt, dass die Regierung selbst durch die Werbung der »Trostfrauen« und die Verwaltung der Militärbordelle die Zwangsprostitution organisiert hat. Im Juli 1995 gründete der sozialdemokratische Ministerpräsident Tomiichi Murayama den »Asiatischen Friedens- und Freundschaftsfonds für Frauen« (Asian Women“s Fund), um die ehemaligen »Trostfrauen« zu entschädigen.

Der Fonds stieß in den betreffenden Ländern auf Kritik und Ablehnung, weil er nicht staatlich sondern privat organisiert wurde und die japanische Regierung keine eindeutige Haltung zur Verantwortung einnahm. Im September 2002 beendete der Fonds seine Tätigkeit, nachdem insgesamt nur 285 Frauen in den Philippinen, Südkorea und Taiwan Schadenersatz erhalten hatten.

Die »Trostfrauen«-Frage fand auch wiederholt internationale Resonanz. Am 6. Februar 1996 veröffentlichte die UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen, Radhika Coomaraswamy aus Sri Lanka, einen Bericht zu diesem Problem. In ihrem Report an die UN-Menschenrechtskommission forderte sie die japanischen Regierung auf, ihre rechtliche Verantwortung anzuerkennen, die Opfer zu entschädigen, Dokumente und Materialien zu dieser Frage an die Öffentlichkeit zu bringen, den Opfern offiziell eine schriftliche Entschuldigung zukommen zu lassen, durch verbesserten Geschichtsunterricht das Wissen um diese Problematik zu verbreitern sowie die Täter zu identifizieren und zu bestrafen.32

Im Gegenzug organisierten im Dezember 1996 japanische Nationalisten einen Verband, um ein geschichtsrevisionistisches Schulbuch zu publizieren und verbreiten. Im April 2001 erteilte das Erziehungsministerium diesem nationalistischen Schulbuch die Genehmigung.33 Nachdem im folgenden Schuljahr 2002/2003 weniger als ein Prozent der Schülerinnen und Schüler dieses problematische Schulbuch benutzt hatten, ordneten der Gouverneur von Ehime, Moriyuki Kato, im August 2002 und der Gouverneur von Tôkyô, Shintarô Ishihara, im August 2004 an, das Buch in ihren jeweiligen Präfekturen zu verwenden. Im November 2004 kommentierte Erziehungsminister Nariaki Nakayama öffentlich, es sei zu begrüßen, dass es in den Schulbüchern in letzter Zeit weniger Wörter wie Trostfrauen und Zwangsverschleppung gebe.

Erbpolitiker – der Krebs des japanischen Parlamentarismus

Als Koizumi im April 2001 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, gab es auch in Europa optimistische Bemerkungen, Japan habe endlich einen liberalen Reformpolitiker als Regierungschef. Koizumi ist zwar Anhänger des wirtschaftlichen Neoliberalismus, aber ideologisch ist er von erzkonservativer Gesinnung.34 Seine naive Begeisterung für »selbstlose« Kamikaze-Flieger zeigt deutlich, wie unkritisch er die japanische Vergangenheit betrachtet.

Koizumi hatte versprochen, er würde die LDP zerschlagen, wenn sie sich seiner Reformpolitik verweigern würde. Daher hofften viele Menschen, dass er das Land aus seiner Widersprüchlichkeit führen könne. Seine populistische »Politik der Phrasen« hatte viel Erfolg. Ende Mai 2001 sprachen 84% der Befragten ihre Unterstützung für die Regierung Koizumi aus, selbst 70% der Wählerschaft der Kommunistischen Partei Japans (KPJ).35

Erbpolitiker wie Koizumi – schon sein Großvater und Vater waren Minister – zeigen deutlich die personelle und ideologische Kontinuität des japanischen Konservatismus. Sie haben ihre Ressentiments gegen die staatliche Ordnung der Nachkriegszeit bewahrt, weil ihre Väter oder Großväter wegen ihrer Beteiligung an der Kriegsführung nach 1945 Schwierigkeiten hatten. Sie haben auch die expansionistisch-imperialistische Denkweisen der alten Generation übernommen.

Zum Beispiel Shinzô Abe. Sein Vater war Minister. Der Großvater, Nobusuke Kishi, war Kriegsverbrecher und nach seiner Freilassung Ministerpräsident. Trotz Massenprotesten hat Kishi 1960 die Revision des japanisch-amerikanischen Militärpaktes durchgesetzt.

Shinzô Abe übte als Vizesekretär des Kabinetts zusammen mit seinem politischen Freund Shôichi Nakagawa, seinerseits selbst Erbpolitiker, auf den Fernsehsender NHK starken Druck aus, als dieser im Januar 2001 eine kritische Sendung über das Volkstribunal zur Aufarbeitung der »Trostfrauen«-Problematik ausstrahlen wollte.36 Als Ergebnis dieses Drucks »neutralisierte« NHK die ursprünglich kritische Berichterstattung: Die Zeugenaussage eines ehemaligen japanischen Soldaten, der die Anklagen der »Trostfrauen« bestätigte, und der Kernteil des Urteils, der sich auf Kaiser Hirohito bezog, wurden gestrichen.

Im Mai 2002 erklärte Abe, dass es für Japan kein Problem sei, über Kernwaffen zu verfügen, wenn sie klein seien.37 Er wurde wegen des harten Kurses gegenüber Pjöngjang sehr populär und im September 2003 zum LDP-Generalsekretär ernannt.

Abes riskante Äußerung wurde von seinem Chef, Yasuo Fukuda, nicht dementiert. Dieser sagte sogar, dass sich das japanische Volk eventuell Atomwaffen wünschen könnte. Fukudas Vater, Takeo, versuchte 1977 als Ministerpräsident, Notstandgesetze durchzusetzen.

Der Staatsminister des Verteidigungsamtes des ersten Kabinetts von Koizumi hieß Shigeru Ishiba. Der Vater des Ultrafalken war auch schon Minister gewesen. Shigeru Ishiba macht aus dem Anspruch kein Hehl, dass Japan die Wehrpflicht wieder einführen soll. Seiner Meinung nach ist die Wehrpflicht verfassungsmäßig, weil sie keine sklavenähnliche Bindung sei, die die Verfassung verbietet. Mit dem Regierungschef teilt er überdies die Meinung, dass Japan das Recht habe, einen Präventivkrieg zu führen, weil die Verfassung nicht vom Volk verlangt, bei einer Bedrohung durch einen Feind schicksalsergeben auf den Tod zu warten.

Als das Kabinett Koizumi gebildet wurde, konnte fast niemand voraussehen, dass die Erbpolitiker in der Regierung eine wichtige Rolle dabei spielen würden, das Land hoch aufzurüsten. Das Interesse der Bevölkerung konzentrierte sich damals auf die Frage, ob Koizumi endlich seine Reformpolitik durchsetzen würde.

Der neoliberale und neonationalistische Grundton der Politik Koizumis

Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre hört man in Japan immer häufiger Reden über die Notwendigkeit einer »Strukturreform«. Nach dem Platzen der »Seifenblasenwirtschaft« lag die durchschnittliche Wachstumsrate in den 1990er Jahren nur knapp über 1%. Das Ziel der »Strukturreform«: durch Entlastung der Unternehmen und Deregulierung die Wettbewerbsfähigkeit der großen Unternehmen – die im globalen Wettbewerb (great competition) gesunken ist – wieder zu erhöhen.38

Koizumi versprach, eine radikale »Reformpolitik« durchzusetzen, die angesichts der Globalisierung angeblich unvermeidlich sei. Bereits zwischen Dezember 1992 und Juli 1993 hatte er als Postminister die Initiative ergriffen, um die Post zu privatisieren.

Koizumis »Strukturreform« hat aber verschiedene Probleme. Die Industrie verlegte immer mehr Produktionsstätten ins Ausland (vor allem nach China). Das führte zum Nachlassen der lokalen Wirtschaft und zu Massenarbeitslosigkeit. 2002 wurde mit 5,4% die höchste Arbeitslosigkeit registriert. Die Deregulierung hat die früher subventionierte bzw. geschützte Landwirtschaft und Kleinhändler geschwächt.

Demgegenüber konnten die Großunternehmen Rekordgewinne verzeichnen. Zum Beispiel Toyota. Der Autokonzern hat 2004 fast 10 Milliarden Euro Profit erwirtschaftet. Er hat seit drei Jahren die Erhöhung der Löhne abgelehnt und trotz des Riesenprofits fordert der Vorsitzende von Toyata, Hiroshi Okuda, jetzt sogar eine Lohnkürzung. Die Haltung trifft nicht nur ein einzelnes Unternehmens, Okuda ist gleichzeitig Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes Keidanren (Japan Business Federation).

Die »Reform« hat den gesellschaftlichen Zusammenhalt des japanischen Unternehmer-Staates beträchtlich beschädigt.39 Die Identifizierung der Bevölkerung mit »meiner Firma« wurde durch mangelnde Beschäftigungssicherheit und Lohnsenkungen fragwürdig. Im Zusammenhang damit haben sich die Unterschiede innerhalb der japanischen Gesellschaft, die ursprünglich (positiv oder negativ) ziemlich homogen war, drastisch vergrößert und gesellschaftliche Probleme wie Obdachlosigkeit, Jugendkriminalität, Selbstmord und Familienzerfall sind sehr ernst geworden.

Seit 1998 begingen in Japan mehr als 30.000 Menschen Selbstmord. Die Zahl der Selbstmörder ist vier bis fünf mal höher als die der Verkehrsunfalltoten. Mindestens 20% von ihnen sollen sich aus wirtschaftlichen Gründen das Leben genommen haben. Die mammonistische Denkweise hat sich so tief eingenistet, dass der Geist von gegenseitiger Hilfe und Solidarität verloren gegangen ist.

Nordkorea – der willkommene Erzfeind

Ein Teil der japanischen Öffentlichkeit hat den anglo-amerikanischen Angriffskrieg gegen den Irak unterstützt, akzeptiert oder geduldet. Die Befürworter konnten keine wesentlichen, sondern nur nebensächliche Begründungen nennen. 21% wiesen darauf hin, dass Japan im Fall Nordkorea die Zusammenarbeit mit den USA brauche. 12% begründeten ihre Unterstützung lediglich damit, dass die USA ein Bündnispartner Japans seien.40

Im September 2002 besuchte Ministerpräsident Koizumi Nordkorea. Der Pöngjang-Besuch gab Japan eigentlich die Chance, eigene Initiativen zur Friedenssicherung in Nordostasien zu entwickeln.

Diese Chance wurde aber durch eine hysterische Stimmung in Zusammenhang mit der »Entführungsfrage« vertan.41 Bei dem Gipfeltreffen gestand der nordkoreanische Diktator Kim Jong Il dem japanischen Regierungschef, dass nordkoreanische Agenten in den 1970er und 1980er Jahren mehrere Japaner entführt hätten. Das hat in Japan einen kämpferischen Nationalismus ausgelöst. Die Massenmedien verbreiteten zu jedem möglichen Anlass ein anti-nordkoreanisches Feindbild. Die Diplomaten, die das Gipfeltreffen vorbereitet hatten, wurden als »Staatsfeinde« diffamiert. Die Journalisten, die in Nordkorea die dort hinterbliebenen Familienangehörigen der am 15. Oktober 2002 nach Japan zurückgekehrten ehemaligen Entführten interviewt hatten, wurden als Pjöngjangs Helfershelfer beschimpft.

Die anti-nordkoreanische Stimmung in Japan eskalierte durch Pjöngjangs eigene Politik von »brinkmanship« (am Abgrund balancieren) weiter. Am 12. Dezember 2002 hob Nordkorea die Beschränkung der Entwicklung von Atomwaffen auf. Am 10. Januar 2003 kündigte es den Atomwaffensperrvertrag (Non-Proliferation Treaty = NPT).42 Am 24. April 2003 gab ein hoher Diplomat aus Pjöngjang bei einem amerikanisch-chinesisch-nordkoreanischen Treffen in Peking zu, dass das nordkoreanische Regime schon Atomwaffen besitze. Er deutete an, dass ein Atomwaffentest von der Einstellung Washingtons abhänge.

Der Fall Nordkorea liefert den japanischen Militaristen eine einmalige Rechtfertigung für die Militarisierungs- und Aufrüstungspolitik des Landes. Im November 2002 sagte der rechtspopulistische Gouverneur von Tôkyô, Ishihara, dass Japan wegen der Entführungsfrage einen Krieg gegen Nordkorea führen dürfe. Auch Politiker der jüngeren Generation, die selber keine Kriegserfahrung haben, betonen immer lauter das Recht auf Präventivkrieg und die Notwendigkeit einer atomaren Bewaffnung. Angeblich als Reaktion auf die Bedrohung durch Raketen aus Nordkorea entschied das Kabinett am 19. Dezember 2003, mit den USA ein Raketenschutzsystem (MD = Missile Defense) aufzubauen und dessen Entwicklung bis zum Haushaltsjahr 2007 anzustreben.

Die Bevölkerung hält es für denkbar, dass Nordkorea in einem Verzweiflungsakt Japan mit Atomwaffen attackieren könnte. Die relative Mehrheit glaubt, dass das Regime so gefährlich sei, dass Japan mit ihm keine diplomatischen Beziehungen aufnehmen sollte, und nicht umgekehrt, dass das Regime so gefährlich geworden sei, weil Japan mit ihm keine diplomatischen Beziehungen hat. Ein Jahr nach dem Pjöngjang-Besuch Koizumis sind 49% dagegen, mit Nordkorea diplomatische Beziehungen aufzunehmen (38% dafür).43

Auch 2004 sind die japanisch-nordkoreanischen Beziehungen recht frostig geblieben. Der zweite Pjöngjang-Besuch Koizumis vom 22. Mai 2004 führte nicht zu einer Normalisierung.

Am 8. Dezember 2004 erhob Tôkyô erneut Beschwerden gegen Pjöngjang. Es ging dabei um die sterblichen Überreste von Megumi Yokota. Megumi ist die Symbolfigur der von nordkoreanischen Agenten entführten Japaner. Sie wurde am 15. November 1977 als damals 13jähriges Mädchen verschleppt und soll sich nach nordkoreanischen Informationen im April 1994 in einem Krankenhaus das Leben genommen haben. Aber nach einer DNS-Analyse wurde deutlich, dass die Gebeine zu einem anderen Menschen gehören. Diese Täuschung hat die anti-nordkoreanische Stimmung in der japanischen Öffentlichkeit noch weiter verstärkt.

Ende 2004 unterstützen 63% der Japaner Wirtschaftssanktionen gegen Nordkorea (25% waren dagegen). 46% haben große und weitere 44% haben eine gewisse Angst vor einer atomaren Aufrüstung Nordkoreas.44 Das Thema Nordkorea ist in Japan inzwischen zu emotional geworden, um einen rationalen Dialog darüber zu führen.

Die USA nach den Terrorattentaten vom 11. September 2001 und Japan nach Koizumis Staatsbesuch in Nordkorea am 17. September 2002 weisen viele Gemeinsamkeiten auf. Beide Nationen betrachten sich einseitig als Opfer. Sie ergeben sich dem Selbstmitleid und vergessen darüber ihre Tätervergangenheit. Der engstirnige Ethnozentrismus wird so sublimiert, dass kein Raum für eine andere Meinung bleibt. Der naive Dualismus »Wir sind gut, die anderen sind böse« ist allgegenwärtig. Das Hass- und Rachegefühl wurde so massiv geschürt, dass die Emotion die Vernunft überwältigt. Die Massenmedien haben sich freiwillig gleichgeschaltet. Die starke Staatsgewalt wird verherrlicht. Die Obrigkeit nutzt die Gesamtsituation aus, rüstet das Militär auf, bereitet sich für den Krieg vor und baut das innere Überwachungssystem aus.

Die japanischen Massenmedien reagieren auf den Regierungskurs äußerst unkritisch. Entweder sie schüren das Ressentiment gegen Nordkorea oder lenken durch Manipulation das Interesse der Bevölkerung von wichtigen politischen Themen ab. Es ist schon absurd, dass die Medien noch nicht einmal auf einen Gesetzentwurf zur Medienregulierung besonders kritisch reagierten.45

Fortschreitende Kriegsvorbereitung

Die japanische Regierung unterstützte sofort nach dem 11. September 2001 die Politik der USA und ihre Militäraktionen. In diesem Land ist das »japanisch-amerikanische Bündnis« das Zauberwort, um Gedanken an eine andere Diplomatie zu verbieten und dem »Imperium« blindlings zu folgen.46 Obwohl die Bush-Doktrin vom September 2002 (The National Security Strategy of the United States of America) mit der Absicht von Präventivkrieg und Regimewechsel den Charakter der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik grundlegend änderte, fällt Tôkyô nichts anderes ein, als die Bündnistreue zu ritualisieren.

Nachdem Bush am 7. Oktober 2001 den Afghanistan-Krieg begann, verabschiedete das japanische Parlament 22 Tage später ein Sondergesetz mit Antiterror-Maßnahmen, um den »Kampf gegen den Terrorismus« logistisch zu unterstützen. Aufgrund dieses Gesetzes wurde im Dezember 2002 ein Aegis-Zerstörer der so genannten Selbstverteidigungsstreitkräfte (Self Defense Forces = SDF) in den Indischen Ozean entsandt. Für die anglo-amerikanische Kriegsführung in Afghanistan hat Japan tatsächlich eine wichtige Rolle gespielt, weil Japan 40% des Flugbenzins für die Bombenangriffe bereitgestellte.

Auch beim Irak-Krieg unterstützte die japanische Regierung den Krieg und die Militärbesatzung der US-Amerikaner vorbehaltlos. Schon drei Tage vor Kriegsbeginn erklärte Ministerpräsident Koizumi, dass Japan die amerikanische Gewaltanwendung gegen den Irak auch ohne UN-Mandat unterstützen würde.

Nach dem Irak-Krieg wurde das Sondergesetz zur Unterstützung des »Wiederaufbaus« des Iraks am 26. Juli 2003 im japanischen Oberhaus durch eine Mehrheitsentscheidung mit Unterstützung der LDP und ihrer beiden Koalitionspartner verabschiedet. Damit wurden zum ersten Mal japanische Soldaten in ein Krisengebiet unter Verwaltung einer Besatzungsmacht entsendet.

Auf der Geberkonferenz für den Irak, die am 23. und 24. Oktober 2003 in Madrid stattfand, erklärte Japan seine Bereitschaft, insgesamt 5 Mrd. US-Dollar für den »Wiederaufbau« zu zahlen.47 Japan ist damit nach den USA (20,3 Mrd. Dollar) der zweitgrößte Geber, gefolgt von der Weltbank (3-5 Mrd. Dollar für 2004-2008) und IWF (2,5-4,25 Mrd. Dollar für 2004-2007). Dieser Betrag entspricht fast 10 Prozent der für 2004-2007 als notwendig geschätzten 55 Mrd. Dollar. Es ist mehr als 20 mal so viel wie der EU-Beitrag in Höhe von 236 Mio. Dollar für 2004. Anders als die EU interessiert sich Tôkyô wenig dafür, ob das Geld u.U. dazu verwandt wird, die Stationierungskosten der Besatzungsmächte zu decken.

Die Mehrheit der japanischen Bevölkerung ist mit dieser Regierungspolitik nicht einverstanden. Der populistische Ministerpräsident wird als Schoßhund von Bush verspottet. Nach dem Afghanistan-Krieg waren 48% der Bevölkerung gegen die Entsendung des Aegis-Zerstörers (40% waren dafür).48 Gleich nach Beginn des Irak-Krieges lehnten 59% ihn ab. 31% befürworteten ihn. 10 Tage danach vergrößerte sich die Diskrepanz (65%: 27%).49 Auch eine Soldatenentsendung in den Irak lehnte die Mehrheit ab (Tabelle 4).50

Was meinen Sie zur japanischen Soldatenentsendung in den Irak?
  Mai 03

Aug. 03

Okt. 03 Dez. 03
Ich bin dafür 33% 31%

32%

34%
Ich bin dagegen 55% 58% 55%

55%

Die enorme Finanzhilfe haben nur 32% akzeptiert (56% nicht).51

Unbeindruckt von Bedenken und Kritik seitens der Mehrheit der Bevölkerung beschloss das Kabinett am 9. Dezember 2003 die Entsendung von japanischen Soldaten in den Irak. Am 26. Januar 2004 erteilte die Regierung den Marschbefehl an das Hauptkontingent der Bodenstreitkräfte der SDF zur Unterstützung des »Wiederaufbaus« des Iraks sowie an die Seestreitkräfte zum Transport von Personal und Ausrüstung der Bodentruppen. Nun rückten japanische Soldaten de facto zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg ins Feld.

Als das Geleitschiff Murasame im Februar 2004 aus Yokosuka nach Kuwait auslief, verabschiedete es Tokuichirô Tamazawa, von Juni 1994 bis August 1995 Staatsminister des Verteidigungsamtes, mit den Worten: „Es hängt von dieser Schlacht ab, ob das Kaiserreich aufsteigt oder untergeht.“ Diese Äußerung stammt ursprünglich vom Oberbefehlshaber der Vereinigten Flotte, Heihachirô Tôgô, der im Mai 1905 die russische Flotte in der Seeschlacht bei Tsushima vernichtete. Diese Worte widersprechen der durchsichtigen Äußerung Koizumis, dass sich die SDF-Truppen keineswegs am Krieg beteiligen.

Auch dass drei japanische Zivilisten, die als NGO-Aktivisten bzw. freier Journalist vor Ort arbeiteten, im April 2004 von irakischen Aufständischen als Geiseln genommen wurden, hatte keinen Einfluss auf die Regierungspolitik.52 Die Kidnapper hatten mit der Ermordung der drei Japaner gedroht, sollte Japan seine Truppen nicht innerhalb von drei Tage aus dem Irak abziehen. Tôkyô lehnte dies sofort ab. Ministerpräsident Koizumi stellte lautstark klar, dass sich Japan nicht den Forderung der Entführer beugen werde.

Die Geiselopfer wurden eine Woche später freigelassen. Als sie gegen ihren Willen kurz danach im Heimatland ankamen, machten sie einen verängstigten Eindruck. Von der Regierung und den regierungsfreundlichen Massenmedien wurden die Geiselopfer samt ihren Familienangehörigen als »Landesverräter« und »Nestbeschmutzer« verleumdet. Es wurde sogar behauptet, das Geiseldrama sei von ihnen selbst inszeniert worden.

Als wenige Wochen später, im Mai 2004, zwei japanische Journalisten von den irakischen Aufständischen ermordet und als im Oktober 2004 der 24-jährige Shôsê Kôda enthauptet wurde, zeigte der japanische Premier keinerlei Betroffenheit.

Auch nachdem offensichtlich wurde, dass der anglo-amerikanische Angriff gegen den Irak unbegründet war, betreibt Premier Koizumi eine unglaubliche Sophisterei, um ihn zu rechtfertigen. Besonders verblüffend war seine Äußerung im Parlament im November 2004, wonach das Gebiet, in dem die SDF-Truppen tätig sind, Nichtkampfgebiet sei, obwohl bereits Granaten im Lager der SDF in Samawa eingeschlagen waren.

Am 9. Dezember 2004 schließlich beschloss Kabinett, dass die im Irak stationierten SDF-Truppen vorerst bis zum 14. Dezember 2005 bleiben sollen. Premier Koizumi hat keinerlei Bedingungen für einen Rückzug genannt.

Die Mehrheit der Bevölkerung bleibt gegenüber der Verlängerung des SDF-Einsatzes im Irak sehr skeptisch.53 In dieser Frage ist Ministerpräsident Koizumi nach Ansicht von 76 % der von der Asahi Shimbun befragten Personen seiner »Erklärungspflicht« nicht nachgekommen.

Trotzdem oder deshalb gelang es dem Kabinett Koizumi, auch innenpolitisch wichtige Gesetze zur Kriegsvorbereitung, die früher völlig unmöglich schienen, rasch durch das Parlament zu bringen. Im 2003 bewilligte das Oberhaus ein Medienregulierungsgesetz. Im Namen von »Datenschutz« und »Schutz der Menschenrechte« ist die für die Staatsgewalt unangenehme Informationsbeschaffung deutlich schwieriger geworden.

Im Juni 2003 passierten die Notstandgesetze das Oberhaus. Sie ermöglichen bereits bei Annahme eines Eventualfalls die Aussetzung von Freiheits- und Menschenrechten sowie die Errichtung einer Militärregierung durch den Ministerpräsidenten. Widerstand gegen die Regierung wird hart bestraft.

Ministerpräsident Koizumi besucht weiterhin den Hort des japanischen Militarismus, den Yasukuni-Schrein. Dieser Schrein verherrlicht die Kriege Japans als heilig und die Gefallenen samt Kriegsverbrecher als »heilige Helden«. Obwohl er beim ersten Besuch vom August 2001 heftige Kritik und tiefes Misstrauen aus dem In- und Ausland erntete, besuchte er ihn im April 2002, im Januar 2003 und im Januar 2004 erneut. Es geht dabei nicht nur um die revisionistische Geschichtspolitik. Die japanische Obrigkeit pflegt ihre Ehrerbietung für die »für das Vaterland« gefallenen Soldaten, damit dieser Seelentrost auch künftigen Opfern winkt. Die Regierung rechnet schon damit, dass von künftigen Truppenentsendungen ins Ausland zahlreiche Soldaten als Gefallene rücktransportiert werden.54

Laut der Zeitung Asahi Shimbun vom 30. November 2004 sind die Lager der Befürworter und Gegner des Yasukuni-Besuches Koizumis zahlenmäßig ungefähr gleich groß (38%: 39%). Es ist bemerkenswert, dass von den 20-29-Jährigen und den über 70-Jährigen mehr als 40% die Handlung Koizumis unterstützen. Hieran sieht man den Erfolg der Geschichts- und Schulpolitik der Ewiggestrigen (Tabelle 5).55

Es ist offensichtlich, dass der Wissensstand der jungen Generation über die Geschichte ziemlich miserabel ist. Bei den 20-30-jährigen ist es einerseits eine Selbstverständlichkeit, in einer Wirtschaftsgroßmacht zu leben; andererseits aber empfinden sie die wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität nach dem Platzen der »Seifenblasenwirtschaft« als ziemlich frustrierend. Sie sind irritiert, dass Japan ihrer Meinung nach nicht richtig behandelt und von den »unterentwickelten« Asiaten herabgesetzt wird. Offensichtlich ist dabei die Gefahr, dass sie von der nationalistisch-chauvinistischen Propaganda leicht beeinflusst und für einen Krieg mobilisiert werden.

Drang nach Atomwaffen?

Japan baut unbeachtet der Verfassung seine Rüstung aus. Nach Angaben des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI liegt das Land, das nach dem Zweiten Weltkrieg als »Friedensstaat« seinen Neuanfang geschworen hatte, nun auf Rang 2 bezüglich der Militärausgaben; hinter den USA und vor Großbritannien, Frankreich und China.

Auch in den USA gibt es Stimmen, die sich für eine atomare Bewaffnung Japans aussprechen. So schrieb der neokonservative Publizist Charles Krauthammer im Januar 2003, Japan könne nicht lang ein atomar aufgerüstetes Nordkorea tolerieren. Wenn China nicht auf Pjöngjang Druck macht, den Marsch zur Atommacht zu stoppen, sollten die USA jeden japanischen Versuch unterstützen, ein eigenes atomares Abschreckungsarsenal zu schaffen. Wenn ein atomares Nordkorea für die USA ein Alpdruck wäre, sei ein atomares Japan für China ein Alpdruck. Es sei Zeit, die Alpdrücke zu teilen.57

Der Präsident der japanischen Wehrhochschule (Japan“s National Defense Academy), Masashi Nishihara, entwickelte ähnliche Gedanken.58 Würden die USA mit Nordkorea einen Nichtangriffsvertrag abschließen, so würde das dem US-japanischen Sicherheitsvertrag widersprechen, was eventuell eine atomare Aufrüstung Japans rechtfertigen könnte. Selbst wenn Pjöngjang auf Atomwaffen verzichte, bliebe dennoch die Gefahr eines Bio- und Chemiewaffenangriffs auf Japan weiter bestehen. Die USA wären auf Grund des Nichtangriffsvertrag mit Nordkorea nicht mehr in der Lage, Japan zu verteidigen, d.h. Japan könnte sich nicht mehr auf den Militärpakt mit den USA verlassen. Zur Abschreckung Nordkoreas müsste sich Japan also eventuell zur atomaren Aufrüstung entschließen.

Am 5. August 2003 billigte das Kabinett das »Verteidigungsweißbuch 2003«, das vom Staatsminister des Verteidigungsamtes, Shigeru Ishiba, vorgelegt worden war. In Bezug auf die künftige Wehrfähigkeit Japans betont das Weißbuch die Notwendigkeit, dass die Fähigkeiten, auf Terrorismus und Raketenangriffe antworten zu können, verbessert werden müssten. Das Weißbuch legt dar, dass Japan der Militärstrategie der einzigen Supermacht, der USA, weiter folgen solle und schlägt vor, sich an der amerikanischen Raketenabwehr zu beteiligen, aktiv Soldaten ins Ausland zu entsenden und ein ständiges Gesetz zu schaffen, das die Entsendung von SDF-Truppen ins Ausland erlaubt.

Im April 1967 hatte der Premier Eisaku Satô drei Prinzipien zum Waffenexport erklärt:

  • Japan exportiert keine Waffen an kommunistische Länder
  • Japan exportiert keine Waffen in Länder, in die Waffenlieferungen aufgrund der UN-Resolution verboten sind
  • Japan exportiert keine Waffen an (eventuelle) Parteien internationaler Konflikte.

Im Februar 1976 hatte Ministerpräsident Takeo Miki angeregt, den Waffenexport weiter zu drosseln. Am 10. Dezember 2004 hat die japanische Regierung beschlossen, diese Prinzipien zu lockern.

Um das Totalmobilisierungssystem durchzusetzen, steht ein neues Erziehungsrahmengesetz auf der Tagesordnung in der Hoffnung, dass junge Männer dann willig ihr Leben für den Staat opfern würden. Bei manchen Schulen wird im Zeugnis vermerkt, ob der/die SchülerIn patriotisch genug ist. Das Nachkriegscredo »Nie wieder Krieg!« hat in Japan offenbar keine Relevanz mehr.

Entwicklungshilfe im nationalen Interesse

Die staatliche Entwicklungshilfe Japans hat seit 1954 ihre eigene Geschichte: Sie war ursprünglich ein Ersatz für Kriegsreparationen.59

Der japanische Beitrag für Entwicklungshilfe belief sich 2001 auf 9,847 Mrd. US-Dollar. Das entsprach 19% der gesamten Beitragssumme aller Industriestaaten und 0,23% des japanischen Bruttosozialprodukts.60

Im selben Jahr stellte Japan für bilaterale Hilfe insgesamt 7,452 Mrd. Dollar bereit. Der größte Empfänger war Indonesien (860 Mio. Dollar), gefolgt von der Volksrepublik China (686 Mio. Dollar) und Indien (529 Mio. Dollar).61

Die japanische Entwicklungshilfe weist allerdings mehrere strukturelle Probleme auf. Erstens dient sie weniger zur Bekämpfung der Armut als der eigenen Exportoffensive.62 Sie wurde zweitens als Instrument benutzt, um die proamerikanisch-projapanischen Militärdiktaturen in Südkorea, den Philippinen, Indonesien und Birma zu unterstützen. Drittens werden manche Entwicklungshilfe-Projekte forciert, um japanischen und indonesischen Politikern und Bürokraten Bau- und Beratungsaufträge zugute kommen zu lassen, während die Existenzgrundlage der Einwohner dadurch gefährdet oder sogar vernichtet wird. Ein typisches Beispiel ist der Koto-Panjang-Damm in Indonesien, der 1996 auf der Insel Sumatra gebaut wurde.63

Um der Kritik entgegenzutreten, die japanische Entwicklungshilfe sei ideenarm und auf den eigenen Vorteil orientiert, erließ Tôkyô im Juni 1992 die »Richtlinien für öffentliche Entwicklungshilfe« (Official Development Assistance Charter). Sie verkündeten immerhin in ihrer Einleitung, dass die internationale Gemeinschaft nicht übersehen darf, dass in den Entwicklungsländern, die den größten Teil der Welt bilden, noch viele Menschen Hunger und Armut leiden.

Dieser humanitäre Gesichtspunkt ist inzwischen in den Hintergrund getreten. Im August 2003 beschloss das japanische Kabinett neue Richtlinien für die staatliche Entwicklungshilfe.64 Sie betonen unverkennbar den Nutzen der Entwicklungshilfe als ein dem »nationalen Interesse« dienendes Instrument. Erstes Ziel der Entwicklungshilfe ist es demnach, „zum Frieden und der Entwicklung der internationalen Gemeinschaft beizutragen und dadurch dem Erhalt der Sicherheit und des Wohlstandes unseres Landes zu dienen.“

Dieser Kurswechsel entspricht dem Wunsch der USA. Der amerikanische Botschafter, Howard H. Baker Jr., hatte schon zuvor appelliert, dass die USA und Japan bei der Entwicklungshilfe zusammenarbeiten sollten, um den Nährboden des Terrorismus auszutrocknen.65 Die beiden Länder seien verpflichtet, die Länder, die noch keine »gute Regierung« (good government) hätten, durch Entwicklungshilfe darauf hin zu orientieren.

Nun hat Japan offensichtlich die Absicht, Entwicklungshilfe als strategisch-machtpolitisches Mittel zu nutzen, um im Namen der »nationalen Interessen« dem globalen Kapital zu dienen. Das Stichwort ist »Friedensbildung« (Peace Building). Gemäß den neuen Richtlinien kann Entwicklungshilfe für aktive Interventionen in Konflikte eingesetzt werden. Das reicht von Maßnahmen zur Beendigung eines Konflikts über die Hilfe zur Friedensstabilisierung bis zum Wiederaufbau des Landes nach Beendigung eines Konflikts.

Die japanischen Steuergelder können folglich in der Konfliktregion dazu genutzt werden, durch Ausbau von Militär, Polizei und Spezialeinheiten sowie durch Einkauf von Waffen und Munitionen direkt die »Bekämpfung des Terrorismus« zu unterstützen. Als Beispiel werden Afghanistan, Aceh (Indonesien) und Mindanao (Philippinen) genannt.

Mit den neuen Richtlinien zielt die japanische Regierung darauf ab, auch in Zentralasien und im Kaukasus zu intervenieren. Die Öl- und Gasfelder in diesen Regionen sind sehr attraktiv. Immer mehr japanische Unternehmen beteiligen sich dort an der Erschließung der Energiequellen und am Bau der neuen Öl- und Gaspipelines. Das ist das »nationale Interesse«, das die neuen Richtlinien betonen.

Ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat?

Im September 2004 erklärte der japanische Ministerpräsident Koizumi vor der UN-Vollversammlung, dass sich Japan einen Ständigen Sitz im Sicherheitsrat wünscht. Am selben Nachmittag hatte er mit dem deutschen Außenminister Joschka Fischer, Brasiliens Präsident Luiz Inacio Lula da Silva und dem indischen Premier Manmohan Singhdem einen demonstrativen Händedruck vollzogen.

Japan scheint im wesentlichen vier Ziele zu verfolgen.

  • Die Streichung der Formulierungen von »Feindstaaten« aus der UN-Charta (Artikel 53 und 107). Es ist verständlich, dass Japan wie Deutschland es schon längst als ungerecht empfinden, als ehemalige Feindstaaten behandelt zu werden.
  • Finanzfairness. Japan ist der zweitgrößter Beitragzahler der UN. 2004 betrugt der UN-Haushalt etwa 1,5 Mrd. US-Dollar. Japan (19,5%) trägt wie Deutschland (8,7%) mehr zum Funktionieren der Weltorganisation bei als vier der fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats. Das uralte Verfassungsprinzip »Keine Steuer ohne Stimmrecht« muss aus Sicht Japans endlich auch für die Weltorganisation gelten.
  • Bruch des Informationsmonopols. Die Ständigen Mitglieder monopolisieren verschiedentlich Informationen. Japan fühlt sich hierdurch benachteiligt bei multinationalen Verhandlungen.
  • Mit dem Vetorecht eines Ständigen Mitgliedes will Japan seine Souveränität deutlicher zeigen.

Es fehlt aber eine Vision, was Japan als Ständiges Mitglied für die Weltgemeinschaft beitragen will. Hier ist es geboten, dies anhand der drei wichtigen Funktionen der UN zu überdenken. Erstens: Zusammenarbeit und Aktionen für den Erhalt von Frieden und Sicherheit; zweitens: einen Beitrag leisten zur Besserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage; und drittens: Verbreitung universeller Normen und Werte.

Selbstverständlich ist, dass Japan bei den beiden letztgenannten Aspekten Spielraum für einen eigenständigen Beitrag hat. Trotz der andauernden ökonomischen Flaute ist Japan immer noch eine Wirtschaftsgroßmacht. Seine Technologie ist Weltspitze. Japan kann seine Ressourcen vorzüglich zur Armutsbekämpfung, für Umweltschutz oder Gesundheitsfürsorge einsetzen. Trotz aller Vorbehalte ist Japan berechtigt, der nicht-okzidentalen Welt seine Errungenschaften bei universellen Normen wie Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte und Demokratie zu zeigen.

Es wäre auch nicht bedeutungslos, sollte die einzige »Atombombenopfernation« in der UN eine Führungsrolle übernehmen. Die Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat besitzen heute ausnahmslos Atomwaffen. Will die UN die weitere Ausbreitung der Atomwaffen mit größerer Legitimität verhindern, sollten Nicht-Atomwaffen-Mächte unter den neuen ständigen Sicherheitsratsmitgliedern vertreten sein. Als diejenige Organisation, die für den Weltfrieden große Verantwortung trägt, ist der Sicherheitsrat heute unausgewogen. Japan ist nicht nur Nicht-Atommacht, sondern auch das einzige Land, auf das Atombomben abgeworfen wurden. Die japanische Anti-Atombewegung, die nach dem amerikanischen Wasserstoffbombenversuch im Bikini-Atoll 1954 aktiv wurde, hat weltweite Bedeutung.66 Seit 1945 hat Japan (zumindest offiziell) keine kriegerische Auseinandersetzung geführt. Es ist weiterhin bemerkenswert, dass das Land seine Position als Wirtschaftsmacht ausschließlich durch die Zivilindustrie erreicht hat. Japan hat sich Jahrzehnte lang untersagt, vom Waffenexport zu profitieren.

Es scheint aber trotz dieser Tatsachen unwahrscheinlich, dass die japanische Regierung dieses politisches Kapital nutzen will. Statt dessen hat Japan durch den Militärpakt mit den USA den Charakter eines »Friedensstaates«, den es nach der bedingungslosen Kapitulation 1945 der Weltöffentlichkeit geschworen hatte, systematisch unterminiert.

Japans Position in Nordostasien

Japans Außenpolitik nach 1945 zeichnet sich durch drei Charakteristika aus. Erstens: Japan hat immer noch keine Versöhnung mit seinen Nachbarstaaten und ehemaligen Kriegsgegnern erreicht. Zweitens: Die japanische Diplomatie orientiert sich ausschließlich auf Washington und hat wenig Interesse an regionaler Integration. Drittes: Japan ist dem »Imperium« gegenüber ein treuer Vasall. Deshalb kling es nicht sehr überzeugend, wenn Tôkyô von der Partnerschaft mit Asien spricht.

Beim Gipfeltreffen Japan-ASEAN (Association of South East Asian Nations) im Dezember 2003 in Tôkyô erklärte der japanische Premier seine Bereitschaft, einen Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit in Südostasien zu unterschreiben.67 China und Indien sind diesem schon beigetreten. Der Vertrag schreibt die friedliche Lösung von Konflikten und den Verzicht auf die Anwendung von militärischer Gewalt fest.

Um Vertrauen auf einer gleichberechtigten Grundlage aufzubauen, muss Japan verschiedene Probleme angehen.

  • Japan muss seine Vergangenheit aufarbeiten. Um Versöhnung mit den anderen asiatischen Völkern zu erreichen, muss es die Fehler der Expansionspolitik aufrichtig einräumen und die Kriegsschuld anerkennen.
  • Trotz aller Sophistereien Koizumis widerspricht die Truppenentsendung in den Irak ganz offensichtlich dem Grundsatz der friedlichen Lösung von Konflikten. Die Militarisierungsphänomene in Japan stiften Unsicherheit bei seinen Nachbarstaaten.
  • Japan sollte bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit anderen Ländern auf Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit Rücksicht nehmen. Es darf auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass seine Absicht doch nur darin besteht, seine hegemoniale Wirtschaftssphäre auszubauen.

Die Transformation der US-Streitkräfte und Japan

Im Oktober 2000 legte das Institute for National Strategic Studies bei der US-amerikanischen National Defense University den Bericht vor: »Die USA und Japan: Auf dem Weg zu einer reifen Partnerschaft« (The United States and Japan: Advancing Toward a Mature Partnership). Hier wird die anglo-amerikanische »special relationship« als Modell für die japanisch-amerikanische Allianz genannt. Richard L. Armitage, Vize-Außenminister der ersten Bush-Administration, war Hauptautor dieses Berichts.

Im August 2004 kündigte US-Präsident George W. Bush einen weitreichenden und weltweiten Umbau der US-Streitkräfte an. 60.000 bis 70.000 Soldaten, die heute noch in Europa oder in Südkorea stationiert sind, sollen in den kommenden Jahren in die USA verlegt werden. Mit ihnen werden rund 100.000 Familienangehörige und Zivilangestellte in die USA zurückkehren.

Das bedeutet aber nicht, dass auch Japan, vor allem Okinawa, durch die Transformation der US-Streitkräfte von US-Militärstützpunkten entlastet wird, ganz im Gegenteil. Dies ergibt sich aus den »Neuen Richtlinien zur nationalen Verteidigung« und dem »Mittelfristigen Verteidigungsprogramm“«, welche das japanische Kabinett im Dezember 2004 bestätigte. Sie setzen die Politik einer „multifunktionalen, flexiblen und effektiven Verteidigung“ fort, um auf neue Bedrohungen wie Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und ballistische Raketen reagieren zu können.

Als Ziel der Sicherheit Japans definieren die Neuen Richtlinien „die Bekämpfung direkter Bedrohungen für Japan und die Verbesserung des internationalen Sicherheitsumfelds.“ Sie heben hervor, dass „Japan dieses Ziel, basierend auf der grundlegenden Aussage des japanisch-amerikanischen Sicherheitsbündnisses, u.a. durch die weitere Vertiefung der engen Zusammenarbeit mit den USA und die Schaffung eines effizienten Verteidigungspotentials, erreichen wird.“

Das bedeutet praktisch, dass Japan die Strategie der USA vorbehaltlos übernimmt und mitträgt. Zur „Verbesserung des internationalen Sicherheitsumfelds“ sollen SDF-Truppen weltweit vorrücken können, wenn die USA dies verlangen. Die US-Streitkräfte und die SDF-Truppen werden sich de facto vereinen und ihre Militärbasen eventuell gemeinsam nutzen.

Das gewaltige Erdbeben vor der Küste der indonesischen Insel Sumatra und die anschließende Tsunami-Katastrophe nutzte Japan, um die bislang größte Truppenentsendung von fast 1.400 Mann zu realisieren. Damit sind zum ersten Mal Land-, Luft- und Seestreitkräfte gemeinsam im Ausland im Einsatz. Sie sind aber keine reine Rettungsmission. Ihr Kommando befindet sich in Utapao (Thailand), wo auch die USA ihr Kommando haben.

Japan hegte schon lange den Wunsch, Truppen nach Indonesien zu schicken, das als Teil des »Bogens der Instabilität« betrachtet wird. Indonesien ist das Land, das bislang die größte Entwicklungshilfe von Japan erhalten hat. Ein Drittel des Erdgases, das Japan importiert, kommt von dort. Die Tanker mit dem Erdöl, das Japan aus dem Nahen Osten einführt, fahren durch die Malakkastraße.

Durch diese Region führt für Japan somit ein wichtiger Seeweg. Der Arbeitgeberverband Keidanren hat im Januar 2005 diese »Sea Lane« als die Lebensader unseres Landes bezeichnet und im gleichen Atemzug vorgeschlagen, den Verfassungsartikel 9 zu ändern, um SDF-Truppen ins Ausland schicken zu können. Die gegenwärtige SDF-Entsendung nach Indonesien kann also durchaus als Vorstufe von häufigeren Überseeaktivitäten betrachtet werden.

Vorwärts in die Vergangenheit? – Verfassungsvorschläge der LDP

Wie zu Beginn erwähnt, zeigt die Mehrheit der japanischen Bevölkerung Verständnis für eine Verfassungsänderung. Als Grund nennen die meisten (26%), dass sie in der heutigen Verfassung neue Rechte wie Umweltschutz und Privatsphäre vermissen. 14% wünschen sich eine »eigenständige Verfassung«.

Was den Verfassungsartikel 9 anbelangt, wollen 67% der Frauen ihn beibehalten, während 40% der Männer ihn ändern wollen. Zwischen den Generationen gibt es keinen wesentlichen Unterschied: etwa 60% wollen den Artikel 9 beibehalten und etwa 30% ändern.

Es ist kaum verwunderlich, dass die LDP versucht, die herrschende politische Stimmung auszunutzen, um ihr lang gehegtes politisches Ziel einer Verfassungsänderung endlich zu erreichen. Im November 2004 veröffentlichte der innerparteiliche Ausschuss die »Vorschläge zum Grundriss des Entwurfs einer Verfassungsänderung«. Der Vorsitzende des Ausschusses ist Gen Nakatani. Er war vom April 2001 bis September 2002 Staatsminister des Verteidigungsamtes.

Diese LDP-Vorschläge zielen darauf ab, SDF-Truppen zu jeder Zeit ins Ausland schicken zu können und eine Militärmacht Japan zu etablieren. Die Vorschläge messen dem Staat nicht nur ein individuelles, sondern auch ein kollektives Verteidigungsrecht zu, das die Regierung bisher immer als verfassungswidrig erklärt hat. Das japanische Militär soll sich aktiv an internationalen Militäreinsätzen beteiligen können. Um Widerstand gegen diese Politik der Militarisierung zu verhindern sollen die Bürgerrechte eingeschränkt werden. Gleichzeitig soll der Staat insgesamt autoritärer ausgerichtet werden. Dazu gehört:

  • dass wesentliche Entscheidungsbefugnisse vom Kabinett auf den Ministerpräsidenten übertragen werden,
  • dass das Oberhaus durch ein Ernennungssystem de facto machtlos wird,
  • dass der Kaiser wieder im patriachalischen Sinne souveräner Monarch wir,
  • dass sich Familie und Erziehung stärker an den traditionellen Werten – wie z.B. Vaterlandsliebe – orientieren.

Früher sprach die LDP von »Umweltrecht«, »Recht auf Privatsphäre« oder »Direktwahl des Ministerpräsidenten«, um möglichst breite Schichten der Bevölkerung für die Verfassungsdebatte zu gewinnen. In diesen Vorschlägen für eine Verfassungsänderung wird allerdings ihre wahre reaktionäre Grundposition sichtbar.

Als öffentlich wurde, dass Nakatani bei seiner »Verfassungsarbeit« von einem SDF-Offizier beraten wurde, hat die LDP ihre Vorschläge vorerst zurückgenommen. Die Partei ist aber weiterhin bereit, in der Verfassungsfrage mit der Demokratischen Partei einen Kompromiss einzugehen. In der größten Oppositionspartei gibt es, wie bereits erwähnt, ebenfalls genügend rechte Kräfte, die an einer grundlegenden Änderung der gültigen Verfassung interessiert sind.

Für die englische »Financial Times« ist der japanische Nationalismus schrill genug, um die Nachbarn des Landes zu beunruhigen. Für sie nehmen heute mehr und mehr japanische Politiker patriotische Themen auf, die früher Spezialgebiete der exzentrischen Rechten waren. Die pazifische Macht, die bereit sei, die Augen vor der ekelhaften Seite des japanischen Nationalismus zu verschließen, seien ironischerweise die USA, diejenige Nation, die Japan im Krieg besiegte und Japan eine pazifistische Verfassung diktiert habe. Japan und die USA kooperierten in der Annahme, dass die unmittelbare Gefahr aus Nordkorea und die langfristige Bedrohung aus China komme.68

Neue Tendenzen in der japanischen Friedensbewegung

Einen Tag nach Beginn des anglo-amerikanischen Angriffs gegen den Irak haben sich in Japan 50.000 Menschen an der Protestdemonstration gegen den Angriff beteiligt. Die Friedensbewegung in Japan war plötzlich wieder da. Am 15. Februar 2003, dem internationalen Aktionstag gegen den Irakkrieg, hatten in diesem Land nur 7.000 demonstriert.

Es war neu für Japan, dass vor allem junge Leute, oft Ehepaare mit Kindern, demonstrierten, die versuchten, den Aktionen einen optimistischen Charakter zu geben. Statt von Antikriegsdemonstration war von »Peace Parade« oder »Peace Walk« die Rede. Aber gegen diese »harmlosen« Friedensdemonstranten gibt es inzwischen zahlreiche Provokationen und Gewaltakte von Seiten der Polizei. Auch erleben wir immer mehr Willkürmaßnahmen gegen Friedensaktivisten.

Neben den Friedensdemonstrationen gibt es auch verschiedene langfristig angelegte Friedenskampagnen, wie z. B. die »Unverteidigte Orte«-Bewegung. »Unverteidigte Orte« ist ein Begriff aus Artikel 59 des Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zum Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Zusatzprotokoll I).69 Die Initiatoren wollen den Frieden von unten erzielen.

Die erste Unterschriftenaktion zur Petition für eine »Erklärung zu einer atomfreien und unverteidigten Stadt« fand in der Stadt Ôsaka statt. 53.657 Bürger unterschrieben die Petition an das Stadtparlament, doch dieses lehnte die Petition mit großer Mehrheit ab (13: 75).

Die »Unverteidigte Orte«-Bewegung gibt es in zahlreichen japanischen Städten, obwohl es sehr unwahrscheinlich ist, dass solch eine Petition von einem Parlament angenommen wird.

Ein weiteres Beispiel ist der »Verein für den Verfassungsartikel 9«, der im Sommer 2004 gegründet wurde.70

Im Gründungsaufruf des »Vereins für den Verfassungsartikel 9« vom Juni 2004 heißt es: „Aufgrund der Lehre des 20. Jahrhunderts und angesichts der heutigen Zeit, in der der Kurs des 21. Jahrhunderts festgelegt wird, ist es wiederum offensichtlich, wie wichtig der Verfassungsartikel 9 als Grundlage der Diplomatie ist. Es wird gefordert, aufgrund des Verfassungsartikels 9 Freundschaft und Zusammenarbeit mit den anderen Völkern vor allem in Asien zu vertiefen, eine Diplomatie, die nur im Militärbündnis mit den USA seine Priorität sieht, umzustellen und im Strom der Geschichte mit eigener Initiative realistisch zu handeln. Gerade der Verfassungsartikel 9 ermöglicht für dieses Land (Japan) friedliche Diplomatie, welche die Position anderer Länder respektiert und wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit möglich macht.“ Die neun Gründungsmitglieder appellierten damit an die Öffentlichkeit und an jeden Einzelnen, für eine friedliche Zukunft von Japan und der Welt, in diesem einen Punkt die japanische Verfassung zu verteidigen.

Innerhalb eines halben Jahres nach der Gründung des »Vereins für den Verfassungsartikel 9« wurden 1.000 entsprechender Gruppierungen gegründet. Es gibt z.B. einen »Verein der Bibliothekare für den Verfassungsartikel 9«, einen »Verein der Bankangestellten für den Verfassungsartikel 9«, einen Verein der Filmmacher, der Frauen usw. usf.

Schlussbetrachtungen

Japan versucht offensichtlich, im Zeitalter der Globalisierung der Hegemonialmacht USA gehorsam zu folgen. Einer Globalisierung, die »Freiheit und Demokratie« propagiert und bei der es um »freien Handel und freie Märkte« geht, die vor allem im Interesse eines Teils der multinationalen Unternehmen liegt und in der die Kluft zwischen Arm und Reich größer wird. Die USA sind bereit in diesem Globalisierungsprozess zur Sicherung ihrer Interessen militärische Gewalt anzuwenden – auch ohne Rücksicht auf das Völkerrecht, wie der Irakkrieg zeigt. Und Japan steht im Prozess der wirtschaftlichen und militärischen Globalisierung eindeutig an der Seite des »Imperiums«.

Das führt zu Beunruhigungen in den Nachbarländern. So schreibt die südkoreanische Tageszeitung Han“gyòre in ihrem Leitartikel vom 11. Dezember 2004, Japan verfolgt seine alte imperialistische Militärstrategie jetzt unter den neuen Rahmenbedingungen des US-japanischen Militärpaktes. Die Südkoreaner sind mit Sicherheit nicht die einzige Nation, die vor einer »entfesselten Militärmacht Japan« Angst haben.

Wird Japan aber tatsächlich zu einem Kriegsstaat? Einer der neun Initiatoren des »Vereins für den Verfassungsartikel 9«, Shûichi Katô, schrieb schon 1958 selbstironisch: „Die Japaner sind eine Nation, die immer wieder unermüdlich die Frage stellt: Was sind die Japaner?«71 Der Autor wies darauf hin, dass die Japaner diese Fragestellung wiederholen, weil sie selber nicht klar wissen, was sie als Nation wollen. „Während sie sich den Frieden wünschen, tolerieren sie, dass eine politische Partei, die trotz der Verfassung die Wiederbewaffnung vorantreibt und offene Aufrüstung durch eine Verfassungsänderung beabsichtigt, bei jeder allgemeinen Wahl die Mehrheit gewinnt“

Die zweideutige Einstellung der Bevölkerung ermöglicht es, dass das pazifistische Prinzip der Verfassung Schritt für Schritt ausgehöhlt wird. Die Gefahr ist real, dass Japan in nächster Zukunft seine Verfassung ändert und dann auch zu einer militärischen Großmacht wird.

Okinawa – Spielball von Militärstrategen?

Eine Ausstellung des Deutsch-Japanischen Friedensforums

Die Ausstellung zeigt mittels Fotos und Videos die Geschichte Okinawas vom friedlichen, waffenlosen Königreich Ryukyu zu einem der bedeutendsten Militärstützpunkte der USA in der Gegenwart.

Das Königreich Ryukyu verzichtete im 15. Jahrhundert bewusst auf militärische Macht und entwickelte sich zum Zentrum eines weitgespannten Handelsnetzes in Südostasien. 1609 wurde es gegenüber den Fürsten von Satsuma in Südjapan tributpflichtig und schließlich 1879 zur japanischen Präfektur Okinawa. Nach der Besetzung durch die US-Streitkräfte und der Kapitulation Japans 1945 bauten die Amerikaner Okinawa zu einem Luftwaffenstützpunkt aus. Durch den Sicherheitsvertrag zwischen den USA und Japan wurde Okinawa 1972 wieder eine japanische Präfektur; an seinem militärischen Status änderte sich jedoch nichts. Bis heute dient Okinawa als Ausgangsbasis für US-Kriegseinsätze, wie z.B. in Korea, Vietnam und am Golf und für Aufklärungsflüge über China.

Seit Kriegsende gibt es Proteste der einheimischen Bevölkerung gegen die Militärstützpunkte. Die Ausstellung zeigt die Gründe dafür auf und verdeutlicht die Gefahren für die Menschen, die vor allem Opfer von Verbrechen und Umweltbelastungen werden. Die Gegner der Militärstützpunkte befürchten, dass die Okinawaner durch die Unterstützung von militärischen Aktionen der USA in Ostasien von Komplizen zu Opfern werden könnten.

Es werden ökonomische und ökologische Projekte für die alternative Nutzung der Stützpunkte vorgestellt, die die Ausstellungsbesucher anregen sollen, am Beispiel Okinawas über unterschiedliche gesellschaftliche und kulturelle Konzepte des Zusammenlebens nachzudenken.

  • Technische Angaben: 47 Tafeln 95 x 95 cm mit Ausstellungssystem, wetterfestes Banner mit Hinweis auf die Ausstellung, Okinawa-Löwe aus Ton, Videofilme, Musik-CDs, Plakat, Katalog mit fast allen Tafeln.
  • Die Ausstellung kann unter www.djf-ev.de betrachtet und im Original ausgeliehen werden. Kontakt: Hans-Peter Richter, E-Mail: A-HPR@t-online.de

Anmerkungen

1) Playing with fire. Japan´s ruling party wants to inject patriotism into schools, in: The Economist, January 22, 2005, S. 62.

2) Vgl. Eiichi Kido, Der »Friedensstaat« Japan auf dem Weg zur Kriegsbereitschaft. Über die widerspruchsvolle Koexistenz der japanischen Verfassung und der Sicherheitsallianz mit den USA, in: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft, Vol. 10, 2003, S. 191.

3) Dabei verwendete Nishimura für »Staat« nicht den neutralen Begriff kokka, sondern o-kuni, was man übersetzen könnte als »geheiligter Staat« oder »ehrenwerter Staat«. Und man sollte nicht außer Acht lassen, dass eine Änderung des Erziehungsrahmengesetzes auch auf die Leugnung eines universellen Rechts auf Erziehung und statt dessen auf eine neoliberal-sozialdarwinistisch elitenorientierte Schulerziehung zielt. Shumon Miura, von April 1985 bis August 1986 Staatsminister des Kulturamtes, sagte ganz offen, dass es ausreiche, wenn man weniger Begabte zu einem einfachen und simplen Geist erziehe.

4) Zum Wortlaut der japanischen Verfassung siehe Wilhelm Röhl, Die japanische Verfassung, Frankfurt a.M./Berlin 1963.

5) Asahi Shimbun, 1. Mai 2004.

6) In dieser Studie bleiben allerdings aus Platzmangel die Verhältnisse in Okinawa, wo sich die Probleme der Militarisierung konzentriert darstellen, kaum erwähnt.

7) Eiichi Kido, Der »Friedensstaat« Japan auf dem Weg zur Kriegsbereitschaft, a.a.O.

8) Benjamin Fulford, The Iron Kleptocracy. The Sun Never Rises Again, Tôkyô 2004.

9) http://de.wikipedia.org/wiki/Kleptokratie

10) Vgl. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M. 2003.

11) Vgl. Tetsurô Katô, Der Neoetatismus im heutigen Japan, in: Prokla, Heft 66, März 1987, S.101f.

12) Kokuminsei Nanakakoku Hikaku (Sieben-Länder-Vergleich im Nationalcharakter), Tôkyô 1998, S.204.

13) The Institute of Statistical Mathematics, A Study of the Japanese National Character. The Tenth Nationwide Survey, March 1999, p.143.

14) Ebenda, S.144.

15) Asahi Shimbun, 2. November 2003

16) Vgl. Eiichi Kido, Der »Friedensstaat« Japan auf dem Weg zur Kriegsbereitschaft, a.a.O., S. 198-200.

17) Sekai no Kuni Ichiranhyô ( Liste der Länder der Welt), Tôkyô 2003, S. 9.

18) Ebenda, S. 38.

19) Die EU insgesamt 8.164 Mrd. Dollar (25,9%). Vgl. Le Monde diplomatique (Hrsg.), Atlas der Globalisierung, Berlin 2003, S. 46f.

20) Beim Wirtschaftsgipfel im September 1985 im New Yorker Plaza-Hotel haben sich die G5-Staaten (USA, Großbritannien, BR Deutschland, Frankreich und Japan) auf eine Aufwertung der übrigen Weltwährungen gegenüber dem Dollar geeinigt.

21) Vgl. Hans Jürgen Mayer, Die japanisch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen: Von der pazifischen Partnerschaft zur Rivalität, in: Manfred Pohl/Hans Jürgen Mayer (Hrsg.): Länderbericht Japan, 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Bonn 1998, S. 347-355.

22) Vgl. Wolfram Wallraf, Japan und Südostasion, in: Pohl/Mayer (Hrsg.), a.a.O., S. 392.

23) Vgl. Atlas der Globalisierung, a.a.O., S. 150-153.

24) Das Manko des Kriegsverbrechertribunals liegt nicht nur darin, die Kriegsschuld Hirohitos nicht in Frage zu stellen, sondern auch darin, sich nicht mit der Problematik der Kolonialherrschaft, der Zwangsarbeit, der »Trostfrauen«, des Einsatzes von Bio- und Chemiewaffen sowie Menschenversuchen zu beschäftigen.

25) Allerdings lies es die japanische Regierung von Anfang an zu, dass die USA Kernwaffen auf japanischem Boden lagerten. Vgl. Eiichi Kido, Die japanischen Nobelpreisträger und die Friedensfrage, in: Krieg und Literatur. Internationales Jahrbuch zur Kriegs- und Antikriegsliteraturforschung, Vol. VII, 2001, S. 36-38.

26) Der Premier Yasuhiro Nakasone hat für das Finanzjahr 1987/1988 diese Selbstbindung aufgegeben. Vgl. Tomohisa Sakanaka, Das japanische Verteidigungsbudget – ein politischer Zankapfel, in: Heinz Eberhard Maul (Hrsg.), Militärmacht Japan? Sicherheitspolitik und Streitkräfte, München 1991, S. 197-225.

27) Vgl. Eiichi Kido, Der »Friedensstaat« Japan auf dem Weg zur Kriegsbereitschaft, a.a.O., S. 200.

28) Asahi Shimbun, 13. April 1999.

29) Vgl. Ian Buruma, Erbschaft der Schuld. Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan, München/Wien 1994, S. 45-64.

30) Ezra F. Vogel, Japan as Number One. Lessons for America, Cambridge/London 1979. Kritische Bemerkung dazu: z.B. Kerr, op.cit., S. 140 und S. 167.

31) Mira Choi/Regina Mühlhäuser, »Wir wissen, dass es die Wahrheit ist…« Gewalt gegen Frauen im Krieg – Zwangsprostitution koreanischer Frauen 1936-1945, Berlin 1996.

32) Report of the Special Rapporteur on violence against women, Ms. Radhika Coomaraswamy, on the mission to the Democratic People“s Republic of Korea, the Republic of Korea and Japan on the issue of military sexual slavery in wartime, E/CN.4/1996/53/Add.1, 4.1.1996.

33) Vgl. Eiichi Kido, Die japanischen Nobelpreisträger und die Friedensfrage, a.a.O., S. 31.

34) Dies liegt weniger an seiner Persönlichkeit als am strukturellen Manko des japanischen »Liberalismus«. Unter »Freiheit« versteht er ausschließlich die Wirtschaftsfreiheit. Wenn man sich in die innere Freiheit vertiefte, müsste man dem Kaisertum widersprechen, weil der Kaiser nach der schintoistischen Lehre ein Abkömmling der Götter ist.

35) Asahi Shimbun, 29. Mai 2001.

36) Das Volkstribunal fand im Dezember 2000 in Tôkyô statt. Etwa 5.000 Menschen nahmen daran teil, darunter 64 ehemalige »Trostfrauen« aus acht Ländern. Zeitungsberichte über dieses Tribunal gibt es in Deutschland wesentlich mehr als in Japan. Vgl. z.B. Angela Köhler, »Trostfrauen« prangern Japans Kriegsverbrechen an. Frühere Zwangsprostituierte fordern Entschädigung, in: Berliner Zeitung, 8. Dezember 2000, S. 9.

37) Eiichi Kido, Japan: Auf dem Weg zur Atommacht? Anti-Kernwaffen-Prinzipien in Frage gestellt, in: Neues Deutschland, 28. Juni 2002.

38) Die OECD hat im Bericht vom 14. April 1999 festgestellt, dass die japanische Deregulierung nicht genügt. Vgl. Regulatory Reform in Japan, Paris 1999.

39) Vgl. Tetsurô Katô, Der Neoetatismus im heutigen Japan, in: Prokla, Heft 66, März 1987, S. 96.

40) Asahi Shimbun vom 31. März und 1. April 2003.

41) Vgl. Eiichi Kido, Angst und Hass geschürt. In Japan wächst die Kriegsstimmung gegen Nordkorea, in: Junge Welt, 10. Juni 2003.

42) Auf der anderen Seite darf man aber nicht vergessen, dass die offiziellen Atommächte, vor allem die USA, trotz des seit 1970 geltenden Atomwaffensperrvertrages ihrer Pflicht, nuklear vollständig abzurüsten, nicht nachgekommen sind.

43) Asahi Shimbun, 26. September 2003.

44) Asahi Shimbun, 21. Dezember 2004.

45) Die Situation erinnert an die Bemerkung der französischen Philosophin, Simone Weil: „Die niederen Beweggründe sind eine größere Energiequelle als die höheren. Problem: wie kann man die den niederen Beweggründen zugefallene Energie auf die höheren überleiten?« Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, München 1952, S. 11.

46) Vgl. Emmanuel Todd, Weltmacht USA. Ein Nachruf, München/Zürich 2003. Trotz der hervorragenden Analyse überschätzt der Autor die eigenständige Rolle Japans.

47) 1,5 Mrd. Dollar als Schenkung für 2004 und 3,5 Mrd. Dollar in Form von Darlehen für 2005-2007.

48) Asahi Shimbun vom 16. und 17. Dezember 2002.

49) Asahi Shimbun vom 22., 23. und 31. März und 1. April 2003.

50) Asahi Shimbun vom 22. und 23. Juli, 26. August, 24. Oktober und 12. und 13. Dezember 2003. Trotzdem ist die Bevölkerung im Grunde mit der Politik von Koizumi zufrieden. (im Juli: 42% dafür, 36% dagegen). Auch bei der Parlamentswahl vom 9. November 2004 wurde seine Amtsführung bestätigt.

51) Asahi Shimbun vom 24. Oktober 2003.

52) Vgl. Eiichi Kido, Treuer Handlanger des Imperiums. Japan: Als Alliierter der USA soll das Land in Asien eine Rolle wie Großbritannien in Europa spielen, in: Freitag, 7. Mai 2004, S. 2.

53) Asahi Shimbun, 30. November und 21. Dezember 2004.

54) Natürlich verspricht die Regierung den eventuellen Hinterbliebenen auch materielle Kompensation. Anfang November 2003 erhöhte die Regierung die Entschädigung für im Dienst getötete oder schwer behinderte Staatsbeamte (Offiziere, Soldaten, Diplomaten usw.) von 60 Mio. Yen auf 90 Mio. Yen (etwa 700.000 Euro).

55) Da spielen auch geschichtsrevisionistische Comics von Yoshinori Kobayashi eine große Rolle. Vgl. Eiichi Kido, Die japanischen Nobelpreisträger und die Friedensfrage, a.a.O., Anmerkung 1, und Ken Kurumisawa, Genocide Manga. Concerning the present relationship between »war and manga (comic book)«, in: Krieg und Literatur. Internationales Jahrbuch zur Kriegs- und Antikriegsliteraturforschung, Vol. VII, 2001, S. 45-64.

56) Asahi Shimbun Weekly AERA, 30. August 2004, S. 12-15.

57) Charles Krauthammer, The Japan Card, in: The Washington Post, 3. Januar 2003.

58) Masashi Nishihara, North Korea´s Trojan Horse, in: The Washington Post, 14. August 2003.

59) Offiziell hat Japan Kriegsreparationen nur an Birma, die Philippinen, Indonesien und Südvietnam bezahlt.

60) Es sei aber daran zu erinnern, dass die Vereinten Nationen vom September bis Dezember 1970 das Ziel formuliert haben, dass die Industrieländer 0,7% ihres Bruttosozialprodukts für öffentliche Entwicklungshilfe aufwenden sollten.

61) Sekai no Kuni Ichiranhyô, a.a.O., S. 38.

62) Vgl. Franz Nuscheler, Japans Entwicklungspolitik. Quantitative Superlative und qualitative Defizite, Hamburg 1990.

63) Im September 2002 brachten 3.861 Opfer in Tôkyô eine Klage zur Naturwiederherstellung (Abbau des 58m hohen und 258m langen Damms) und für Schadenersatz gegen die japanische Regierung und Unternehmen ein. Im März 2003 wurde von 4.535 Einwohnern und einer indonesischen Umweltschutzorganisation ein weiterer Prozess angestrengt.

64) Inoffizielle englische Übersetzung: http://www.mofa.go.jp/policy/oda/reform/revision0308.pdf.

65) Howard H. Baker, Jr., ODA is a vital diplomatic tool to fight terror, in: Asahi Shimbun, 7. Januar 2003; http://usembassy.state.gov/tokyo/wwwhamb20030108a1.html.

66) Vgl. Eiichi Kido, Die japanischen Nobelpreisträger und die Friedensfrage, a.a.O., S. 32f.

67) Den Vertrag unterschrieben 1976 zuerst Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur und Thailand. Dann schlossen sich Brunei (1984), Vietnam (1995), Burma und Laos (1997) und Kambodscha (1999) an.

68) Victor Mallet, There are dangers in Japan´s search for normality, in: Financial Times, 15. Februar 2005.

69) „Art. 59 Unverteidigte Orte 1. Unverteidigte Orte dürfen – gleichviel mit welchen Mitteln – von den am Konflikt beteiligten Parteien nicht angegriffen werden. 2. Die zuständigen Behörden einer am Konflikt beteiligten Partei können jeden der gegnerischen Partei zur Besetzung offen stehenden bewohnten Ort in der Nähe oder innerhalb einer Zone, in der Streitkräfte miteinander in Berührung gekommen sind, zum unverteidigten Ort erklären. Ein solcher Ort muss folgende Voraussetzungen erfüllen: a) Alle Kombattanten sowie die beweglichen Waffen und die bewegliche militärische Ausrüstung müssen verlegt worden sein, b) ortsfeste militärische Anlagen oder Einrichtungen dürfen nicht zu feindseligen Handlungen benutzt werden, c) Behörden und Bevölkerung dürfen keine feindseligen Handlungen begehen und d) es darf nichts zur Unterstützung von Kriegshandlungen unternommen werden…“

70) Gründungsmitglieder des Vereins waren neun Intellektuelle und Prominente: Mutsuko Miki (Jg.1917, Witwe des Ex-Premier Takeo Miki), Shûichi Katô (Jg.1919, Philosoph), Shunsuke Tsurumi (Jg.1922, Philosoph), Takeshi Umehara (Jg.1925, Philosoph), Yasuhiro Okudaira (Jg.1929, Verfassungsrechtler), Hisae Sawachi (Jg.1930, Schriftstellerin), Makoto Oda (Jg.1932, Schriftsteller), Hisashi Inoue (Jg.1934, Dramatiker) und Kenzaburô Ôe (Jg.1935, Schriftsteller/Nobelpreisträger).

71) Wieder aufgenommen in: Shûichi Katô, Nihonjin towa Nanika (Was sind die Japaner?), Tôkyô 1976.

Eiichi Kido ist seit 1994 Assistenzprofessor an der Osaka School of International Public Policy (OSSIP), Universität Osaka. Von 2000 bis 2001 war er DAAD-Lektor am Institut für Politikwissenschaften der Universität Leipzig

»Neue Kriege« als Wegbereiter des Euro-Imperialismus

Intellektuelle Brandstifter:

»Neue Kriege« als Wegbereiter des Euro-Imperialismus

von Jürgen Wagner

Seit jeher wird versucht die gewaltsame Durchsetzung ökonomischer und strategischer Interessen als selbstloses, moralisch gebotenes Unterfangen darzustellen. Als besonders effektiv hat sich diesbezüglich in jüngster Zeit die Theorie der »Neuen Kriege« erwiesen, auf deren wohl prominenteste Vertreter, Herfried Münkler und Mary Kaldor, sich in der Folge primär bezogen werden soll. Interessant ist, dass beide, ausgehend von einer weitgehend deckungsgleichen Analyse, die militärische Stabilisierung und langfristige Besetzung so genannter fehlgeschlagener Staaten befürworten, jedoch mit sehr unterschiedlichen Begründungen. Während Münkler hierfür primär sicherheitspolitische Motive anführt, geben für Kaldor vorwiegend moralisch-humanitäre Argumente den Ausschlag. Demgegenüber soll dieser Artikel darlegen, dass nicht nur die methodologischen und empirischen Grundlagen der Theorie, sondern auch die aus ihnen abgeleiteten Politikempfehlungen, sowohl in ihrer moralischen als auch sicherheitspolitischen Dimension, äußerst fragwürdig sind und sich aus friedenspolitischer Sicht hochgradig kontraproduktiv auswirken.

Um die Kernaussagen der »Neuen Kriege« darzustellen, ist eine Systematisierung hilfreich, bei der zunächst die grundsätzlichen Befunde, anschließend deren angebliche Ursachen und daraufhin die hieraus abgeleiteten politischen Forderungen beschrieben werden.

Befunde

Staatenkrieg als Auslaufmodell

Alle Vertreter der »Neuen Kriege« stimmen darin überein, es habe ein tief greifender Formwandel gewaltsamer Konflikte stattgefunden, ein „neuer Typus organisierter Gewalt“ sei entstanden,1 der sich wahlweise in Begriffen wie „Kriege der dritten Art“ (Holsti), „Privatkriege“ (Hobsbawm), „post-nationalstaatliche Konflikte“ (Duffield), „postnationale Kriege“ (Beck) oder etwa „neo-hobbessche Kriege“ (Trotha) niederschlägt. Die 1998 von Mary Kaldor in die Debatte eingeführten »Neuen Kriege« beendeten diese babylonische Sprachverwirrung und setzten sich in der Folge als Bezeichnung für das zu beschreibende Phänomen durch. „Gemeinsam ist den meisten dieser Studien, dass sie innerstaatliche Kriege thematisieren, deren Grundmerkmale herausstellen und zunächst auf die Unterscheidung zu dem als ‘alt’ angesehenen Typ des zwischenstaatlichen Krieges zielen. Das Attribut ‘neu’ soll diese Kriege von den für eine frühere Epoche typischen Kriegsformen abgrenzen.“2 Auf die gravierenden methodologischen Probleme dieser Herangehensweise wird weiter unten noch näher eingegangen.

Dem klassischen zwischenstaatlichen Krieg, der etwa seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zur vorherrschenden Form des Konfliktaustrags geworden war, werden verschiedene Merkmale zugesprochen. Betont wird dabei insbesondere die zentrale Rolle der Staaten als „Monopolisten der Gewalt“. Krieg war also lange „ein Geschöpf des zentralisierten, ‘rationalisierten’, hierarchisch geordneten modernen Flächenstaats.“3 Als besonderes Charakteristikum der klassischen Staatenkriege wird deren »Zivilisierung« durch das Kriegsvölkerrecht und damit die Begrenzung und Eindämmung der Gewalt hervorgehoben.4

Diese Staatenkriege seien nunmehr ein Relikt der Vergangenheit, sie seien, in den inzwischen häufig zitierten Worten Herfried Münklers, zu einem „historischen Auslaufmodell geworden.“5 Demgegenüber steige aber gleichzeitig die Zahl innerstaatlicher Konflikte rapide an, die sich zudem grundlegend von klassischen Kriegen unterscheiden würden. Insbesondere auf zwei angeblich neue Faktoren wird diesbezüglich aufmerksam gemacht: Die Privatisierung, Kommerzialisierung und damit Entpolitisierung sowie die Brutalisierung des Krieges.

Privatisierung und Entpolitisierung

Heutzutage, so die These, seien die Staaten als Monopolisten des Krieges abgelöst und durch privatwirtschaftlich organisierte Kriegsunternehmer ersetzt worden. Dabei habe der »Krieg aus Habgier« lange maßgebliche politisch-ideologische Motivationen fast vollständig verdrängt. Es gehe nicht mehr darum, einen Sieg davon zu tragen bzw. Territorium zu erobern, sondern vielmehr sei es nunmehr das Ziel, die Bedingungen für die Realisierung von Profiten – den Krieg – als Erwerbsquelle und Lebensform längstmöglich aufrecht zu erhalten. Dies trage zu einer Verselbstständigung und einer langen Dauer der Kriege bei, indem z.B.. Entscheidungsschlachten vermieden würden.6

Die Barbarisierung der Gewalt

Ein weiterer zentraler Befund ist, dass die postulierte Einhegung zwischenstaatlicher Kriege verloren gegangen sei. In den »Neuen Kriegen« wäre die frühere Unterscheidung in Kombattanten und Nicht-Kombattanten aufgehoben, es komme zu steigenden Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung, insbesondere im Kontext ethnischer und sexueller Gewaltexzesse, die teilweise systematisch angewandt würden. Zusammen mit der praktischen Bedeutungslosigkeit des Kriegsvölkerrechts habe somit eine dramatische Barbarisierung der Gewalt stattgefunden.7

Die Ursachen der »Neuen Kriege«

Gewandelte Finanzierungsformen

Eine Hauptursache für das Aufkommen der »Neuen Kriege« wird in den gewandelten Finanzierungsformen gesehen: Dass sich „Krieg wieder lohnt“ sei eine zentrale Motivation für nicht-staatliche Gewaltakteure, denn „ohne Rentabilität der Gewalt keine Privatisierung des Krieges.“ Diese Rentabilität sei vor allem deshalb gegeben, weil der »Neue Krieg« in der Dritten Welt „mit leichten Waffen, billigen Kämpfern und Anschlussmöglichkeiten an die großen Geschäfte der globalisierten Wirtschaft geführt werden kann.“8

Ethnisch-kulturell-religiöse Konfliktursachen

Zwar wird neben den gewandelten Finanzierungsformen ein ganzes Bündel von Konfliktursachen präsentiert, fast nirgendwo taucht dabei allerdings eine wie auch immer geartete Verantwortung westlicher Interessenspolitik auf. „Die neuen Kriege werden von einer schwer durschaubaren Gemengelage aus persönlichem Machtstreben, ideologischen Überzeugungen, ethnisch kulturellen Gegensätzen, sowie Habgier und Korruption am Schwelen gehalten.“9

Abwesenheit »robuster Staatlichkeit«

Die wichtigste und überragende Ursache für den Ausbruch »Neuer Kriege« erblicken Kaldor wie Münkler in der Erosion staatlicher Autorität: „Die Aushöhlung der Autonomie des Staates, in Extremfällen eine völlige Auflösung, bildet den Kontext, aus dem die neuen Kriege erwachsen.“10 Diese Gewaltkonflikte entstünden „am Sog einer wirtschaftlichen Globalisierung, die vor allem dort ihre destruktiven Wirkungen entfaltet hat, wo sie nicht auf eine robuste Staatlichkeit traf.“11

Krieg als moralisch-sicherheitspolitischer Imperativ

Mit den zuvor beschriebenen Kriegsursachen ist der Argumentationsteppich ausgebreitet, der eine moralisch-sicherheitspolitische Notwendigkeit westlicher Pazifizierungskriege nahe legt: Die »Neuen Kriege«, so Herfried Münkler, sind „reine Staatszerfallskriege, die zerstörte Gesellschaften ohne tragfähige Zukunftsperspektiven erzeugen. Diese Gesellschaften sind … nicht nur auf den Import von Nahrungsmitteln und medizinischer Hilfe, sondern mindestens ebenso auf den von Staatlichkeit angewiesen.“12 Es bedarf also des Westens, besser noch der Europäischen Union, um die Dritte Welt aus ihren selbstverschuldeten Konflikten zu befreien. Wie erwähnt gibt es hierfür zwei unterschiedliche Begründungen.

Krieg als militärischer Humanismus

Aus Kaldors Sicht ist der Westen aus humanitären Gründen gezwungen, den Konflikten in der Dritten Welt ein Ende zu setzen: „Die Analyse der neuen Kriege legt jedoch nahe, dass nicht Friedenssicherung, sondern die Durchsetzung kosmopolitischer Normen erforderlich ist, also die Durchsetzung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte.“13 Westliche Pazifizierungskriege sind also aus diesem Blickwinkel nicht mehr die Fortsetzung der (Interessens-) Politik mit anderen Mitteln, sondern der selbstlose Ausdruck für „eine neuartige, postnationale Politik des militärischen Humanismus, des Einsatzes transnationaler Militärmacht mit dem Ziel, der Beachtung der Menschenrechte über nationale Grenzen hinweg Geltung zu verschaffen.“14 Dieses moralische Argument wird von Münkler um eine sicherheitspolitische Komponente ergänzt.

Krieg als sicherheitspolitischer Imperativ

Da von den »Neuen Kriegen« eine „hohe Infektionsgefahr“ (Martin van Creveld) ausgehe, werden diese auch zu einem sicherheitspolitischen Problem. Dies gelte besonders „für den internationalen Terrorismus, dessen Ausbildungslager und Rückzugsgebiete vorzugsweise dort liegen, wo im Verlauf eines innergesellschaftlichen Krieges die staatlichen Strukturen zusammengebrochen sind. (Weshalb) es in einer globalisierten Welt keine Region mehr gibt, in denen die staatlichen Strukturen zusammenbrechen können, ohne dass dies schwer wiegende Folgen für die weltpolitische wie weltwirtschaftliche Ordnung hätte.“15 Hieraus leitet sich eine sicherheitspolitische Notwendigkeit zum militärischen Stabilitätsexport ab, der Westen müsse bereit sein, „sich auf bewaffnete Pazifizierungen ganzer Regionen einzulassen.“16 Selbstredend lägen dem keinerlei ausbeuterische Motive zugrunde, da „es sich – anders als die Theorien des Neokolonialismus und Imperialismus unterstellen – zumeist um defensive, nicht offensive Interessen handelt.“17

Wurde diese moralisch-sicherheitspolitische Kriegslegitimation, die nicht nur den politikwissenschaftlichen Mainstream, sondern auch die europäischen Strategiepapiere dominiert, erst einmal unhinterfragt übernommen, so ist der (Rück) Schritt zum Kolonialismus nicht mehr weit. Und auch diesen Weg gehen Vertreter der »Neuen Kriege« konsequent zu Ende.

Europas Imperium

„Was wäre schlecht an einem neuen Imperium?“, so die rhetorische Frage des Chefkolumnisten der Welt am Sonntag, der die moralisch-sicherheitspolitisch legitimierte Ausweitung der europäischen Einflusszone sogar zu einem »Modernisierungsprojekt« hochstilisiert: „Wenn aber Europa seine imperiale Bestimmung realisiert, so ist eben diese Ausdehnung einerseits schlicht und einfach notwendige Bedingung seiner Sicherheit, andererseits ein zivilisatorischer Auftrag, der Europas müde Eliten neu beleben könnte.“18

Integraler Bestandteil eines solchen imperialen Projekts ist es, Staaten solange unter westliche Schirmherrschaft zu stellen, bis sie wie gewünscht funktionieren: „Im Falle der ‘Failed States’ kann die Einrichtung von ‘liberalen Protektoraten’ erforderlich sein, um treuhänderisch das Gewaltmonopol herzustellen.“19 Mary Kaldor schlägt in dieselbe Kerbe: „Wo noch keine legitimen örtlichen Behörden existieren, können treuhänderisch Mandate oder Protektorate in Erwägung gezogen werden.“20 Letztlich bringt das Ganze wiederum Münkler präzise auf den Punkt: „Im Gefolge der ökonomischen Imperialismustheorien haben wir uns daran gewöhnt, Imperien mit Unterdrückung und Ausbeutung zu identifizieren. Genauso lassen sich Imperien aber auch als Friedensgaranten, Aufseher über politische und kulturelle Werte und Absicherer großräumiger Handelsbeziehungen und Wirtschaftsstrukturen begreifen.“21 Da Imperien grundsätzlich nichts vom staatlichen Souveränitätsrecht halten, sieht Münkler im Gewaltverbot der UN-Charta (Art. 2,4) und generell in den »Normen des Völkerrechts« konsequenterweise ein Auslaufmodell.22

Zur Kritik der »Neuen Kriege«

Inzwischen sind eine Reihe teils vernichtender Kritiken der »Neuen Kriege« erschienen. Ein erster Einwand besteht darin, dass insbesondere im Lichte ansteigender westlicher Militärinterventionen klassische Staatenkriege keineswegs bedeutungslos geworden sind und zudem das Bild vom »eingehegten« Konfliktaustrag eine stark idealisierte Sichtweise darstellt, die sich nicht mit der Realität deckt.23 Weder trifft das Bild vom »zivilisierten Staatskrieg« zu, noch stimmt die Analyseebene, wenn dieser mit »neuen« innerstaatlichen Kriegen verglichen wird. Um überhaupt zu sinnvollen Aussagen gelangen zu können, müssten alte und neue innerstaatliche Konflikte vergleichend untersucht werden.24

Darüber hinaus sind erhebliche Zweifel angebracht, inwieweit der zentrale empirische Befund, es habe ein signifikanter Anstieg innerstaatlicher Gewaltkonflikte stattgefunden, überhaupt zutreffend ist. Einzig das Datenmaterial des »Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung« scheint diese These zu bestätigen. Es beschreibt einen kontinuierlichen Anstieg der Gewaltkonflikte von 1945 (74) bis 2004 (230) bei einer erheblichen Zunahme von inner- und einem leichten Rückgang zwischenstaatlicher Kriege. Demgegenüber betonen aber zahlreiche andere Studien, dass innerstaatliche Kriege seit 1992 entweder eine stark rückläufige Tendenz aufweisen oder zumindest stagnieren. In diesem Kontext hat der 2005 veröffentlichte »Human Security Report« breite Aufmerksamkeit erlangt, der zu dem Ergebnis kommt, es habe einen dramatischen Rückgang innerstaatlicher Konflikte, deren Opfer und Vertriebene gegeben.25 Zumindest die Aussage, es habe eine »drastische « Zunahme innerstaatlicher Konflikte stattgefunden, erscheint also mehr als fraglich: Somit liegt in „Bezug auf die Behauptung des Phänomens neuer Kriege …schon in quantitativer Hinsicht eine Fehlperzeption vor.“26

Ebenso verhält es sich mit der These einer Brutalisierung der Gewalt: „Bürgerkriege … haben sich von jeher durch besondere Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit ausgezeichnet … Von einer ‘neuen’ Entwicklung kann also hier ebenfalls nicht gesprochen werden.“27 Weder was sexuelle noch was ethnische Gewalt anbelangt, scheint die jüngere Vergangenheit eine signifikante Ausnahme von der unbestritten grausamen, aber eben nicht neuen Regel innerstaatlicher Konflikte darzustellen.28

Eine moralische und sicherheitspolitische Bankrotterklärung

An dieser Stelle muss deutlich betont werden, dass mit den vorgebrachten Kritikpunkten in keiner Weise die grausame Realität heutiger Kriege verharmlost oder relativiert werden soll – im Gegenteil. Vielmehr geht es darum zu zeigen, wie sich die Vertreter der »Neuen Kriege« mithilfe empirisch schwach belegter Thesen zum Steigbügelhalter für die militärische Durchsetzung europäischer Interessen machen und diese zugleich legitimieren, was gleichzeitig friedens- wie sicherheitspolitisch katastrophale Folgen nach sich zieht.

Steigbügelhalter europäischer Interessenspolitik

Angesichts der vorliegenden Daten muss man sich fragen, wie zu dem Schluss gekommen werden kann, militärischer »Stabilitätsexport« sei überhaupt praktikabel. Denn um moralisch konsistent zu bleiben, müsste sich unterschiedslos mit den gravierend fehlgeschlagenen Staaten beschäftigt werden, was schlicht unmöglich ist, wie eine Studie des »Defence Science Board«, dem wichtigsten wissenschaftlichen Beratungsgremium des Pentagon, belegt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass für eine nachhaltige Stabilisierung fehlgeschlagener Staaten 20 Soldaten pro 1000 Einwohner für 5-8 Jahre stationiert werden müssen. Auf dieser Grundlage würden für den Kongo z.B. mehr als 1.2 Mio. Soldaten benötigt, allein der Gesamtbedarf zur Stabilisierung der 20 kritischsten Staaten beliefe sich auf ziemlich genau 10 Millionen Soldaten in Besatzungstruppen.29

Man kann sicher sein, dass die hierfür erforderlichen personellen wie materiellen Ressourcen niemals bereitgestellt werden. Damit kann der geforderte »Stabilitätsexport« zwangsläufig nur selektiv geschehen, was im Übrigen von Mary Kaldor offen eingeräumt wird. Während sie jedoch hierfür durchaus noble Kriterien anführt, insbesondere die Schwere der Menschenrechtsverletzungen, ist es nicht zu gewagt anzunehmen, dass in der Praxis primär ökonomische und strategische Gründe den Ausschlag für einen Einsatz geben werden. Die »Neuen Kriege« machen sich damit bewusst oder unbewusst zum Steigbügelhalter für die Durchsetzung einer immer offensiver formulierten europäischen Interessenspolitik, die eindeutig ausbeuterischen Charakter hat.30

Angesichts der mangelnden Begeisterung für derlei Auslandseinsätze in der Bevölkerung, stellt Klaus Jürgen Gantzel in diesem Kontext deshalb völlig zu Recht die Frage, „ob die ‘Neuentdecker’ – bewusst oder unbewusst, zumindest unbedacht – nicht einer tieferen Strömung zu Diensten sind. Ihre generalisierenden Darstellungen einer unmenschlichen Kriegswelt wecken diffuse Bedrohungsgefühle, die geeignet sind, einer sich bis in Privatzonen hineinfressenden Sicherheitspolitik den Weg zu ebnen, die letztlich zerstört, was zu schützen sie vorgibt: eine starke demokratische Gesellschaft. Solche Bedrohungsgefühle können aber auch dazu genutzt werden, einem bloßen Draufhauen Vorschub zu leisten, etwa auf eine erfundene ‘Achse des Bösen’.“31

(Un)Sicherheitsexport und die Fehlallokation von Ressourcen

Wenn Münkler meint, es sei notwendig, „stärker den Blick auf die sich mit den Mitteln militärischer Gewalt durchsetzenden ökonomischen Interessen zu richten“, so ist einzuwenden, schreibt Horst Großmann, „dass er im wesentlichen die Ökonomie auf die ökonomischen Interessen regional agierender Subjekte, Kriegsfürsten, Warlords u.s.w. reduziert und sie von den ökonomischen Interessen der kapitalistischen Großmächte abkoppelt.“32

Damit wird auch bewusst ausgeblendet, dass die westlichen Staaten wenig tun, um diese Konflikte und deren Finanzierung zu unterbinden, ja sie häufig, z.B. über Rüstungsexporte, sogar anheizen. Vor allem aber greifen Habgier und Staatszerfall als gewaltauslösende Faktoren deutlich zu kurz, da sie lediglich Symptome sind, die nicht mit Ursachen verwechselt werden dürfen. Inzwischen haben eine ganze Reihe von Studien, u.a. von der Weltbank, belegt, dass Armut der mit weitem Abstand bedeutendste Faktor für das gewaltsame Aufbrechen innerstaatlicher Konflikte ist.33 Unter diesem Blickwinkel ist es die von sämtlichen westlichen Staaten propagierte neoliberale Weltwirtschaftsordnung, in deren Folge weite Teile der Dritten Welt dramatisch verarmten, die entscheidend zur gewaltsamen Eskalation von Konflikten beiträgt.

Kaldor räumt diese konfliktverschärfende Wirkung neoliberaler Zwangsmaßnahmen zwar ebenso ein, wie die Tatsache, dass Armut ein wichtiger Eskalationsfaktor ist. Allerdings kommt sie zu dem Schluss, dass erst in Folge einer militärischen Besatzung tragfähige Ökonomien aufgebaut werden könnten, da Sicherheit die Vorbedingung für Entwicklung sei. Zur Armutsbekämpfung auf das militärische Pferd zu setzen heißt aber in die falsche Richtung zu galoppieren. Hierzulande mag es noch Illusionen über den altruistischen Charakter westlicher Protektorate geben, bei vielen Betroffenen ist die Ernüchterung schon längst in Wut und zunehmend auch in Hass auf die ausbeuterische Politik des Westens umgeschlagen. „Destroy and Profit“, benennt »Focus on the Global South«die Ziele westlicher Besatzungspolitik, „Afghanistan Inc.“, ist der ebenso viel sagende wie vernichtende Titel einer ausführlichen Studie der Afghanin Fariba Nawa, über den neoliberal ausgerichteten »Wiederaufbau« ihres Landes.34

Wer Sicherheit und Staatlichkeit herbeibomben will, um Länder anschließend so lange unter westliche Schirmherrschaft zu stellen, bis sie neoliberalen Spielregeln gehorchen, perpetuiert den Teufelskreis aus Armut und Gewalt und kann nicht glaubhaft die Moral für sich reklamieren. Genau das ist aber die traurige – nebenbei völkerrechtswidrige – Praxis, die sich hinter dem beschönigenden Begriff des Stabilitätsexports verbirgt. Exportiert wird nicht Stabilität, sondern lediglich mehr Armut, mehr Leid und letztlich auch weitere Konflikte, die es wiederum militärisch zu »befrieden« gilt. Für Herfried Münkler jedenfalls ist es der „Prozess der wirtschaftlich ausgelösten Erosion bestehender Ordnungen, der ihre machtpolitische Stabilisierung von außen erforderlich machte. (Deshalb) erscheinen die zahlreichen humanitären militärischen Interventionen des vergangenen Jahrzehnts – von der Verhinderung bis zur Beendigung von Bürgerkriegen – als Nachfolge der nicht intendierten Effekte des neuerlichen Globalisierungsprozesses. Der humanitäre Imperialismus, von dem einige Autoren sprechen, wäre dann nichts anderes, als die politische Nachbearbeitung der Spuren, die der sozioökonomische Prozess der Globalisierung hinterlassen hat.“35

Mit dieser militärischen Flankierung des Neoliberalismus, die Münkler keineswegs ablehnt, sondern für erforderlich hält, wird aus friedenspolitischer Sicht einer gigantischen Fehlallokation von Ressourcen Vorschub geleistet. Einerseits wird gefordert, Milliarden in die Rüstung zu pumpen, um für einen militärischen »Stabilitätsexport« gerüstet zu sein, der lediglich selektiv die Durchsetzung europäischer Interessen legitimiert und dessen stabilisierende Wirkung – gelinde gesagt – umstritten ist. Auf der anderen Seite aber werden gleichzeitig die Abermillionen Opfer der in unserem Wirtschaftssystem begründeten strukturellen Gewalt weitgehend ignoriert, für sie ist kein Geld da. Eine radikale Umschichtung von Rüstungsgeldern hin zur Armutsbekämpfung in Kombination mit einem grundsätzlichen Kurswechsel weg vom Neoliberalismus würde den effektivsten Beitrag für eine friedlichere Welt und damit die einzig moralisch vertretbare Position darstellen.

Rekrutierungshilfe für Terrororganisationen

Auch der von Münkler geforderte »Stabilitätsexport« im Sinne einer Anti-Terror-Maßnahme erweist sich als hochgradig kontraproduktiv. Robert Pape, einer der bekanntesten US-Politikwissenschaftler, fand in einer breit angelegten Studie heraus, dass praktisch sämtliche Selbstmordattentäter „kein religiöses, sondern ein eindeutig strategisches Ziel verfolgten: Die Demokratien dazu zu zwingen, ihre Truppen aus dem Land, das die Terroristen als ihre Heimat betrachten, abzuziehen.“36 Mehr und mehr Menschen in der Dritten Welt wird bewusst, dass sie es mit Okkupanten, nicht mit Wohltätern zu tun haben, weshalb sie die Besatzer lieber heute als morgen aus ihrem Land jagen wollen. Dabei steigt auch der Anteil derjenigen, die bereit sind, sich gewaltsam gegen den zunehmend als ausbeuterisch wahrgenommenen Westen zur Wehr zu setzen.

Nirgendwo zeigt sich dies deutlicher, als am Beispiel Afghanistan. Angesichts der Forderung der Friedensbewegung, die Besetzung des Landes sofort zu beenden und die deutschen Truppen abzuziehen, ging der sicherheitspolitische Sprecher der Grünen, Winfried Nachtwei, mit einer scharfen Anklage in die Offensive: „Völlig negiert wird, dass die Stabilisierung und Friedensförderung in Afghanistan von den Vereinten Nationen mandatiert und unterstützt wird und dass sich ein nicht unwichtiges VN-Mitglied wie die Bundesrepublik nicht einfach einseitig aus diesem Prozess verabschieden kann. Die Friedensverbände fordern das aber – und reden damit einer anderen Art von destruktivem Unilateralismus das Wort, ausdrücklich nichtmilitärisch, aber indirekt gewaltfördernd.“

Die Realität vor Ort stellt sich aber anders dar. Der US-Botschafter in Kabul, Ronald Neumann, prophezeit einen „blutigen Sommer“, der sich bereits durch vermehrte Anschläge ankündigt. Markus Kneip, Kommandoführer über ISAF-Nord, gibt an, die Lage sei „eindeutig nicht ruhig und nicht stabil.“ Der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, Bernhard Gertz, räumt offen ein: „Wir haben uns getäuscht in der Resonanz unserer Bemühungen. (Offenbar) ist die Annahme, die Masse der Bevölkerung stünde hinter Präsident Hamid Karsai und den Isaf-Truppen, nicht ganz zutreffend. Es sind nicht nur wenige entschlossene Terroristen, die uns bedrohen. Viele Afghanen stehen als Unterstützer zur Verfügung.“37

Die Entwicklung in Afghanistan und im Irak beweist täglich: Mit militärischer Besatzung werden weder die Probleme dieser Länder noch das des Terrorismus gelöst. Im Gegenteil, die mit der Besatzung verbundene Gewalt und ökonomische Ausbeutung sowie die offensichtlich im System liegenden Menschenrechtsverletzungen lassen die Gewalt eskalieren und treiben den Terroristen neue Rekruten in die Arme. Die Position der »Neuen Krieger« ist somit destruktiv und gewaltfördernd, sie ist eine moralische Bankrotterklärung.

Anmerkungen

1) Kaldor, Mary: Neue und alte Kriege, Frankfurt 2000, S. 7.

2) Matthies, Volker: Der vernachlässigte Blick auf den Frieden, in: Der Bürger im Staat, 4/2004, S. 185-190, S. 186.

3) Kaldor 2000, S. 27.

4) Vgl. Pradetto, August: Neue Kriege, in: S. Gareis und P. Klein (Hg.): Handbuch Militär und Sozialwissenschaft, Opladen 2004, S. 192-202, S. 192f.

5) Münkler, Herfried: Die neuen Kriege, Bonn 2002, S. 7.

6) Vgl. Kaldor 2000, S. 15ff; Münkler 2002, 33ff.

7) Vgl. Münkler 2002, S. 28, 145; Kaldor 2000, S. 8.

8) Münkler 2002, S. 161.

9) Münkler 2002, S. 16.

10) Kaldor 2000, S. 12.

11) Münkler 2002, S. 19.

12) Münkler 2002, S. 135. Auch für Kaldor 2000, S. 21 liegt der „Schlüssel“ in der „Wiederherstellung einer – sei es lokalen, nationalen oder globalen – öffentlichen Kontrolle der organisierten Gewalt.“

13) Kaldor 2000, S. 197.

14) Beck, Ulrich: Über den postnationalen Krieg, in: Blätter 8/99, S. 984-990, S. 987.

15) Münkler 2002, S. 227.

16) Münkler 2002, S. 221.

17) Münkler 2002, S. 226.

18) Posener, Michael: Empire Europa, in: IP (Januar 2006), S. 60-67, S. 60.

19) Menzel, Ulrich: Wenn die Staaten verschwinden, taz, 30.8.03.

20) Kaldor 2000, S. 211.

21) Münkler, Herfried: Das imperiale Europa, Die Welt, 29.10.04.

22) Münkler 2002, S. 240.

23) Chojnacki, Sven: Wandel der Kriegsformen?, in: Leviathan, 3/2004, S. 402-424, S. 407; Vgl. Pradetto 2004, S. 196.

24) Kahl, Martin/Teusch, Ulrich: Sind die ‘neuen Kriege’ wirklich neu?, in: Leviathan, 3/2004, S. 382-401, S. 400.

25) Vgl. HIIK: Konfliktbarometer 2004, Dezember 2004; Andrew Mack (ed.), Human Security Report 2005, New York/Oxford 2005; und ausführlich Kahl/ Teusch 2004, S. 386ff.

26) Pradetto 2004, S. 197f.; Kahl/ Teusch 2004, S. 388.

27) Kahl/ Teusch 2004, S. 393f.

28) Vgl. Chonjacki 2004, S. 412; Pradetto 2004, S. 196.

29) Preble, Christopher/Logan, Justin: Failed States and Flawed Logic, CATO Policy Analysis 560/2006, S. 18.

30) Vgl. hierzu die Beiträge in Pflüger, Tobias/Wagner, Jürgen (Hg): Welt-Macht EUropa: Auf dem Weg in weltweite Kriege, Hamburg 2006.

31) Gantzel, Klaus Jürgen: Neue Kriege?, in: Friedensgutachten 2002, S. 80-89, S. 88f.; Vgl. auch Pradetto 2004, S. 195.

32) Großmann, Horst: Die »neuen Kriege«, in: DSS-Arbeitspapiere Heft 70, S. 73-84, S. 80.

33) Vgl. World Bank, Breaking the Conflict Trap, Oxford 2003.

34) Nawa, Fariba: Afghanistan Inc., Oakland 2006; Destroy and Profit, FGS, January 2006.

35) Münkler, Herfried: Imperien, Bonn 2005, S. 48f.

36) Pape, Robert: The Logic of Suicide Terrorism, The American Conservative, July 18, 2005.

37) Alle Zitate in Wagner, Jürgen: Afghanistan steht vor einem »blutigen Sommer«, in: AUSDRUCK (Juni 2006), S. 9.

Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Informationsstelle Militarisierung und Mitglied des W&F Redaktionsteams

Fischers »strategische Dimension«

Fischers »strategische Dimension«

von Jürgen Nieth

Liebe Leserinnen, liebe Leser, der deutsche Außenminister ist schon per Amt einer der einflussreichsten in der EU und es ist auch kein Geheimnis, dass Joseph Fischer gerne EU-Außenminister werden möchte. Es ist also verständlich, dass sich keiner aus der deutschen Ministerriege so oft und so umfassend zu europäischen Zukunftsfragen zu Wort meldet wie er. Manchmal dabei auch Irritationen auslösend. So als er sich am 28.02.04 in einem Interview mit der Berliner Zeitung von der These eines Kerneuropas – einer EU der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, für die er seit vier Jahren gestritten hatte – verabschiedete.

In einem Interview mit der FAZ (»Die Rekonstruktion des Westens«, 06.03.04. Alle nicht anders gezeichneten Zitate sind diesem Artikel entnommen) und anderen Beiträgen werden die Gründe erkennbar, die zu diesen Kurswechsel führten: Fischer registriert eine neue Lage, in der ein Kerneuropa, das neben Deutschland und Frankreich nur wenige Länder umfasst hätte, nicht mehr reicht, um der Globalisierung und den Gefahren des Terrorismus zu begegnen. Gleichzeitig sieht er die Bereitschaft der meisten EU-Mitgliedstaaten mitzumachen. Die „Idee eines Gravitationszentrums oder einer Avantgardegruppe,“ möchte Fischer jedoch auf keinen Fall aufgeben, die Vorraussetzungen dafür sieht er sogar „im Verfassungsvertrag umgesetzt.“ Dafür spreche auch: „Nicht alle werden können, ganz wenige werden nicht wollen.“

Aus dem »Kerneuropa« ist ein Gravitationsfeld mit wechselnder Zusammensetzung geworden; natürlich immer mit Deutschland und Frankreich im Mittelpunkt, deren Macht damit gestärkt werden dürfte. Es geht um deutsche Macht in der EU und es geht um eine neue machtpolitische Positionierung der EU im weltweiten Kräftespiel.

Aus Fischers Sicht hat das „Projekt einer neuen europäischen Ordnung drei Dimensionen … : eine historische, eine pragmatische und nun auch eine strategische.“ 1989 kam für ihn diese dritte Dimension dazu. „Es zeigte sich, dass sich die Union nicht länger nur im Schlagschatten des Ost-West-Konflikts entwickeln konnte, wo die strategische Last in Amerika lag. Und die Ausrichtung dieser strategischen Dimension, die am 9.11. (1989) zutage trat, wurde durch den 11.09.(2001) wesentlich defeniert.“ Damals habe sich auch gezeigt, dass die EU für „diese strategische Dimension von Krieg und Frieden … noch nicht gebaut war.“

Dass die EU bis 1989 nur aus Geschichte und Pragmatismus bestanden haben soll, ist schon nicht nachvollziehbar, doch was versteht Fischer unter einer »strategischen Dimension« oder einer »strategischen Last«? Wenn wir im Duden (Mannheim, 2000) nachschlagen unter »Strategie« erfahren wir: „Genauer Plan des eigenen Vorgehens, der dazu dient, ein militärisches , politisches , psychologisches, wirtschaftliches o.ä. Ziel zu erreichen, und indem man die Faktoren, die in die eigene Aktion hineinspielen können, von vorneherein einzukalkulieren versucht.“ Und unter strategisch: „genau geplant einer Strategie folgend.“ Fischers Begriffsschöpfungen werden auch unter Zuhilfenahme des Dudens nicht verständlicher, ihnen kommt man näher, wenn man das Wort Strategie in seiner ursprünglichen Bedeutung nimmt: Kriegskunst.

Auch einige weitere Formulierungen Fischers erschließen sich dann, wenn man »strategisch« liest und »militärisch« denkt. Etwa wenn Fischer davon spricht, dass nach dem 11.09. „das mangelnde strategische Bewusstsein bei uns selbst … zur mangelnden strategischen Dialogfähigkeit mit dem Partner Amerika“ führte. Oder wenn er meint, dass die NATO erst dann „ein Instrument des 21. Jahrhunderts werden (wird), wenn die strategische Dimension Europas zu Bewusstsein kommt.“

Wie stark Fischer heute in militärischen Kategorien denkt, wird deutlich, wenn er formuliert, der Irak-Krieg habe bei den Europäern die Erkenntnis gefördert, „die strategische Dimension auszufüllen. Mit der neuen Strategie, dem »Solana-Papier«,haben wir jetzt erstmals die Voraussetzung dafür geschaffen. Die Entwicklung der europäischen Sicherheitspolitik, besonders auch der militärischen Fähigkeiten ist dabei ein ganz wchtiger Faktor.“

Der EU ist nach 1989 weltpolitisch gesehen eine größere Rolle zugefallen. Die Macht der EU wird weiter wachsen. Und Macht an sich ist ja nichts Schlechtes. Es kommt darauf an, wie und wofür sie eingesetzt wird und welche Machtinstrumente vorrangig entwickelt werden.

Eine starke EU ist in der Lage, Pflöcke zu setzen für einen gerechteren Welthandel, einen Nord-Süd-Ausgleich, beim Ausbau des internationalen Rechtssystems und für einen Dialog der Kulturen, bei der zivilen Bearbeitung von Konflikten usw. Doch wenn schon ein Politiker wie Joseph Fischer – mit einer solchen Vita – heute nicht mehr aus militärischen Denkkategorien rauskommt, wenn in einer EU-Verfassung eine Aufrüstungsverpflichtung festgeschrieben wird, dann wissen wir, wieweit wir von einer solchen Politik heute entfernt sind.

Dabei wäre eine Zivilmacht Europa in der Weltpolitik ein Schwergewicht. Eine Militärmacht Europa bleibt bestenfalls Juniorpartner der USA, im schlechtesten Fall wird sie in einem Rüstungswettlauf hinter dieser hinterher hecheln.

Jürgen Nieth

»Amerikas Mission«

»Amerikas Mission«

Liberaler Imperialismus und US-Außenpolitik

von Jürgen Wagner

In den Augen der neokonservativen Hardliner um Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney, den wirklich mächtigen Männern im Weißen Haus, ist der völkerrechtswidrige Angriffkrieg gegen den Irak nur eine Zwischenstation in einem groß angelegten Feldzug zur Absicherung der globalen US-Hegemonie. Allerdings geriet dieser Feldzug bereits im Vorfeld des Angriffs auf Bagdad erheblich ins Stocken. Die Begründungen für ein militärisches Eingreifen – irakische Verbindungen zu Terrornetzwerken und der Besitz von Massenvernichtungsmitteln – waren wenig glaubwürdig und damit innenpolitisch nur schwer und international überhaupt nicht vermittelbar. Die angeblich vom Irak ausgehende, akute Bedrohung der Vereinigten Staaten vermochte kaum jemand zu erkennen. Das gilt auch für die anderen in der Diskussion befindlichen Kriegsziele, von Nordkorea über Syrien bis zum Iran. Die Hardliner laufen damit Gefahr, dass durch die Anschläge des 11. September entstandene Momentum für ihre Kriegspolitik einzubüßen. Vor diesem Hintergrund sieht Jürgen Wagner in der gegenwärtigen Debatte über »Liberalen Imperialismus« den Versuch zur geschickteren Legitimation US-amerikanischer Kriegspolitik.
Max Boot, einer der einflussreichsten neokonservativen Ideologen, brachte es auf den Punkt: „Ein anderer Begriff, für dass was wir tun ist übrigens liberaler Imperialismus.“1 Dieser Schwenk zum »Liberalen Imperialismus« ist für die Neokonservativen aus mehreren Gründen überaus attraktiv: Erstens reaktiviert er das traditionell starke amerikanische Sendungsbewusstsein und verleiht somit der augenblicklichen imperialen Kriegspolitik den dringend benötigten moralischen Deckmantel. Zweitens findet er sowohl bei Konservativen als auch bei Liberalen Unterstützung. Und drittens legitimiert er ein zeitlich wie räumlich nahezu unbegrenztes militärisches Engagement zur Wahrung der US-Vorherrschaft, wie es von Neokonservativen seit Jahren gefordert wird.

Vom britischen zum amerikanischen Imperium

Nach einer gängigen Definition ist „ein »liberaler Imperialist« jemand, der glaubt, dass in einem mörderischen, fehlgeschlagenen Staat, die Ordnung langfristig nur wiederhergestellt werden kann durch eine Intervention, bei der liberale Werte wie Toleranz, Pluralismus und Demokratie durchgesetzt werden.“ Es gelte „ solche Staaten in der Rolle eines wohlwollenden Diktators zu kontrollieren, bis die örtlichen Gruppen fähig und willens sind von sich aus im Einklang mit diesen Werten zu handeln.“2

Die Kolonialpolitik des British Empire vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird von Historikern häufig als »Liberaler Imperialismus« beschrieben. Sehen wir näher hin, erkennen wir aber, dass in der Praxis von dem damaligen Slogan »Freihandel und Demokratie« nur ökonomische Ausbeutung, die Erschließung neuer Absatzmärkte und eine repressive Kontrollpolitik übrig blieb.3 Trotzdem strotzt die gegenwärtige Debatte nur so von diesbezüglichen Analogien.

In den Köpfen der meisten US-Strategen ist die Vorstellung vom US-Imperium als einziger Weltmacht und »Kraft des Guten« in Personalunion ebenso fest verankert, wie bei den damaligen Befürwortern des British Empire: „Im 19. Jahrhundert bekämpfte Großbritannien die Feinde der gesamten Menschheit, wie etwa Sklavenhändler und hielt die Weltmeere für den Freihandel offen. Heute sind die Vereinigten Staaten die einzige Nation, die eine ähnliche Rolle spielen könnten.“ 4 Deshalb plädiert Robert Kaplan für »Delegation« statt »Kooperation«: „Unser Preis für den Gewinn des Kalten Krieges ist nicht nur die Möglichkeit die NATO auszudehnen oder demokratische Wahlen an Orten abzuhalten in denen zuvor nie welche stattfanden, sondern etwas weit größeres: Wir und niemand sonst werden die Bedingungen der internationalen Gesellschaft diktieren.“5

Welche Bedingungen damit gemeint sind beschreibt George W. Bush im Vorwort der Nationalen Sicherheitsstrategie: Es gibt nur „ein einziges haltbares Modell für nationalen Erfolg: Freiheit, Demokratie und freies Unternehmertum.“

Wer hiergegen verstößt, so Edward Rhodes, hat die USA zum Feind. „Es gibt nur eine Wahrheit, die der USA. Alternative Modelle sozialer und politischer Organisation sind nicht nur moralisch falsch, sondern auch eine unzureichende Basis der Weiterentwicklung. […] Die spezielle Interpretation, der liberalen Religion, die der Präsident befürwortet, ist eine kreuzzüglerische. Die moralische Pflicht, den Liberalismus zu verteidigen und auszuweiten kennt keine Grenzen. Staatliche Souveränität bietet keine Sicherheit oder Ausrede. Gesellschaften und Staaten sind nicht berechtigt sich dem Liberalismus zu verweigern. Tatsächlich haben Staaten die moralische Pflicht nicht nur selber den Liberalismus zu befürworten, sondern ihren Nachbarn Liberalismus aufzuzwingen.“6

Dabei lassen die USA nichts unversucht, um die Ausweitung des neoliberalen Systems und die Kontrolle strategischer Ressourcen – denn hierum geht es in Wirklichkeit – als vollkommen selbstloses Unterfangen darzustellen.

The White Man‘s Burden

Bezeichnenderweise wurde der Begriff »Liberaler Imperialismus« durch David Rieff, einen eher linken Journalisten, im Zuge der Forderung nach humanitären Interventionen wieder in die neuere US-Debatte eingeführt7: „Es ist ein schöner und beruhigender Mythos, dass die Liberalen friedliebend und Konservative Kriegstreiber sind. Der Imperialismus der Liberalen könnte wegen seines endlosen Charakters gefährlicher sein – seiner Überzeugung, dass er eine überlegene Lebensweise repräsentiert.“8

Beispielhaft hierfür ist ein Artikel von Michael Ignatieff, Professor für Menschenrechte an der Harvard University, mit dem Titel »The Burden«. Die USA sollten selbstlos die imperiale Last zum Wohle der Welt auf sich schultern, was bedeute, „imperiale Aufgaben an Orten zu erfüllen, die Amerika von den untergegangenen Imperien des 20. Jahrhunderts geerbt hat – dem Türkischen, dem Britischen und dem Sowjetischen.“9

Obwohl Ignatieff seine ablehnende Haltung zum ausbeuterischen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts mehrfach betont, entlarvt die offensichtliche Anspielung auf das 1899 im McClure‘s Magazine erschienene Gedicht von Rudyard Kipling, »The White Man‘s Burden«, die Funktion solcher Forderungen als Steigbügelhalter imperialer Politik: „Obwohl Kiplings Gedicht Ermahnungen an das Imperium mit nüchternen Warnungen über die hiermit verbundenen Kosten vermischte, beriefen sich Imperialisten in den Vereinigten Staaten auf die Redewendung »White Man‘s Burden« als einem Euphemismus für Imperialismus, der diese Politik als ein nobles Unterfangen erscheinen ließ.“10 Dieser Gedanke ist auch heute allgegenwärtig. So genießt der schottische Historiker Niall Ferguson in den Vereinigten Staaten nahezu Kultstatus. Seine These: Das britische Empire sei für die kolonisierten Völker von großem Nutzen gewesen, deshalb müsse Amerika zum Wohle der Menschheit in dessen Fußstapfen treten.11

Neokonservative wie Max Boot greifen diese Steilvorlage bereitwillig auf: „Afghanistan und andere unruhige Gebiete schreien heute nach der Art aufgeklärter ausländischer Verwaltung, die einstmals von selbstbewussten Engländern in Reiterhosen und Tropenhelmen bereitgestellt wurde.“12 Die Antwort, was dies im Klartext bedeutet, bleibt er keineswegs schuldig: „Aufgrund der historischen Belastung des Begriffs »Imperialismus« gibt es für die US-Regierung keine Notwendigkeit ihn zu übernehmen. Aber er sollte definitiv die Praxis bestimmen.“ Für den Irak bedeute dies „Eigentumsrechte, Rechtssicherheit und andere Garantien durchzusetzen, wenn es sein muss mit Waffengewalt.“13

Auffällig ist heutzutage, die liberal-neokonservative Übereinstimmung an diesem Punkt, wodurch zuweilen seltsame Allianzen, wie beispielsweise zwischen Ronald Asmus, ehemals Staatssekretär unter Bill Clinton und dem neokonservativen Mitherausgeber des Weekly Standard, Robert Kagan, zu Stande kommen. In einem gemeinsamen Artikel forderten sie: Wir „müssen einen neuen, überparteilichen internationalistischen Konsens schaffen.“ Wir „haben die Pflicht gegenüber uns selbst und der Welt unsere Macht für die Verbreitung demokratischer Prinzipien zu nutzen und Feinde unserer Zivilisation abzuschrecken und zu besiegen.“14

Allerdings würde sich die hiermit begründete Interventionspolitik kaum durchsetzen lassen, wenn es nicht gleichzeitig gelänge, sie als eine aus dem Trauma des 11. September legitimierte Wahrung nationaler Interessen darzustellen, der sich auch Konservative nicht versagen können.

Liberaler Imperialismus und nationale Sicherheitsinteressen

Schon in der Bush-Doktrin wird die Abwesenheit demokratischer Strukturen als Ursache für das Entstehen von „Brutstätten des Terrors“ bezeichnet, was laut Foreign Affairs folgende Lösung erfordert: „Vom Sudan über Afghanistan nach Sierra Leone und Somalia. Wenn solche Machtvakuums in der Vergangenheit Großmächte gefährdeten, hatten diese eine schnelle Lösung parat: Imperialismus. […] Die Logik des Neoimperialismus ist für die Bush-Administration zu überzeugend, um ihr zu widerstehen. Das Chaos in der Welt ist zu gefährlich um ignoriert zu werden“.15 Eine ähnliche Schlussfolgerung zieht der britische Historiker Paul Johnson im Wall Street Journal: „Amerika hat keine andere Wahl, als Krieg gegen die Länder zu führen, die gewohnheitsmäßig Terroristen unterstützen. Präsident Bush warnte, dass der Krieg lange dauern könne, aber er hat vielleicht noch nicht verstanden, dass Amerika auch langfristige politische Verpflichtungen akzeptieren muss. Denn die wohl passendste historische Parallele – der Krieg gegen das Piratentum im 19. Jahrhundert – war ein wichtiges Element für die Ausdehnung des Kolonialismus. Vielleicht zeichnet sich eine neue Art Kolonie, der vom Westen verwaltete ehemalige Terroristenstaat, am Horizont ab.“16

Die von Bush in einer kürzlich gehaltenen Rede endgültig übernommene Forderung neokonservativer Kräfte nach einer »demokratischen Transformation« des gesamten Mittleren Ostens – unter Umständen auch mittels militärischer Gewalt – folgt genau dieser Logik.17

Da mit dieser Politik der Terrorismus nicht bekämpft, sondern eher gefördert wird, werden dahinter die eigentlichen Interessen des »Liberalen Imperialismus« deutlich. Die hiermit legitimierte Verbesserung der „Machtprojektion des US-Militärs in neue Regionen durch die Errichtung von Militärbasen […] dient immer der Förderung der ökonomischen und politischen Ziele des US-Kapitalismus.“18 Was dies in der Praxis heißt, verdeutlicht Richard N. Haass, Leiter der Abteilung für Politikplanung im US-Außenministerium: „Eine imperiale Außenpolitik zu befürworten bedeutet, eine Außenpolitik zu fordern, die die Welt entlang bestimmter Prinzipien bezüglich den Beziehungen zwischen und den Verhältnissen innerhalb von Staaten ordnet. Die amerikanische Rolle würde der Großbritanniens im 19. Jahrhundert ähneln. […] Zwang und die Ausübung von Gewalt waren normalerweise ein letztes Mittel. Was John Gallagher und Ronald Robinson über das Großbritannien vor hundertfünfzig Jahren schrieben, dass »die britische Politik dem Prinzip einer informellen Einflusserweiterung folgte, wenn möglich und formell wenn nötig«, könnte auch für die amerikanische Rolle am Anfang eines neuen Jahrhunderts zutreffen.“19

Das Transatlantische Projekt

Eine der unbeantworteten Fragen ist derzeit, ob die Vereinigten Staaten beabsichtigen ihr imperiales Projekt im Verbund oder gegen Europa zu verwirklichen. Auch in Europa gibt es für einen »liberalen Imperialismus« einflussreiche Befürworter. Robert Cooper, einer der engsten Berater des britischen Premiers Tony Blair und Büroleiter von Javier Solana, dem Vertreter der europäischen Außenpolitik, beschreibt dessen beide Komponenten: „Erstens ist das der freiwillige Imperialismus der globalen Ökonomie. Er wird normalerweise von einem internationalen Konsortium durch internationale Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank ausgeübt.“ Falls dies nicht die gewünschten Effekte zeitige, müsse die zweite Form des »postmodernen Imperialismus« zum Zuge kommen, nackte militärische Gewalt: „Die Herausforderung der postmodernen Welt ist es, mit der Idee doppelter Standards klarzukommen. Unter uns gehen wir auf der Basis von Gesetzen und offener kooperativer Sicherheit um. Aber wenn es um traditionellere Staaten außerhalb des postmodernen Kontinents Europa geht, müssen wir auf die raueren Methoden einer vergangenen Ära zurückgreifen – Gewalt, präventive Angriffe, Irreführung, was auch immer nötig ist, um mit denen klarzukommen, die immer noch im 19. Jahrhundert leben, in dem jeder Staat für sich selber stand. Unter uns halten wir uns an das Gesetz, aber wenn wir im Dschungel operieren, müssen wir ebenfalls das Gesetz des Dschungels anwenden.“20

Derzeit wird überlegt, ob die NATO für die Umsetzung der im »Liberalen Imperialismus« angelegten Interventionslogik geeignet ist. In einem überaus einflussreichen Artikel zweier ehemaliger Clinton-Berater wurde vor kurzem gefordert, die Allianz müsse sich einem „neuen Transatlantischen Projekt“ widmen. Von „Marrakesch bis Bangladesch“ solle dies „auf eine neue Form der Demokratie hinauslaufen, auf ein neues Wirtschaftssystem, das den Menschen in der Region zu Arbeit und Würde verhilft.“ Zwar würde dies „zweifellos auch eine militärische Komponente“ beinhalten, nur so sei aber dem Terrorismus beizukommen.21

Obwohl sie hiermit die zweifellos interessensgeleitete US-Politik im Mittleren Osten legitimieren, fallen auch in Deutschland einige, wie der Politikwissenschaftler Herfried Münkler oder der Grüne Spitzenpolitiker Ralf Fücks auf diese »Krieg für Demokratie Argumentation« herein. „Vor den Karren gespannt“, nennt dies Mohssen Massarrat.22

Irak – die liberal-imperialistische Praxis

In der Frankfurter Rundschau setzte sich Michael Lüders mit den Doppel-Standards der Bush-Administration auseinander: „Gäbe es im Irak nur Datteln, könnte Saddam Hussein seine Untertanen nach Belieben weiter ermorden, ob mit oder ohne Demokratie. […] Washingtons »liberaler Imperialismus«, und wäre er von den besten Absichten getragen, droht anti-westliche Gefühle zu nähren und terroristische Neigungen zu schüren. Die neokonservativen Machthaber und ihre publizistischen Apologeten vergessen, dass Demokratie das Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse ist.“23

Tatsächlich versuchen zahlreiche Neokonservative, aber auch der Liberale Richard Haass und Verteidigungsminister Powell, den Irakkrieg damit zu rechtfertigen, dass er die Demokratisierung des Landes einleite. In früheren Jahren haben sie solche Ideen als vollkommen Absurd verworfen.24 Selbst ein kürzlich erstellter „geheimer Bericht des Außenministeriums äußert Zweifel daran, dass die Installation eines neuen Regimes im Irak die Ausbreitung von Demokratie im Mittleren Osten befördern wird.“25Richard Haass selbst muss schließlich auch zugeben, dass »Demokratisierungskriege« ausschließlich dann geführt werden, wenn damit auch strategische Interessen gewahrt werden können.26

Da die Kluft zwischen Demokratisierungsanspruch und Besatzungswirklichkeit eklatant ist, begründen Liberale Imperialisten diesen offensichtlichen Widerspruch damit, dass ein demokratischer Übergang nur „sehr langsam“ zu bewerkstelligen sei. Prinzipiell sei es unklug „demokratische Wahlen in einem grundsätzlich illiberalen Umfeld durchzuführen. […] Dies legt es nahe, dass eine Periode quasi-imperialer und somit undemokratischer Kontrolle eine notwendige Bedingung für Demokratie sein könnte.“27

Die im Irak beobachtbare Praxis entlarvt das ganze Gerede von Demokratie als Heuchelei. So übernahm Washington inzwischen die Kontrolle über die irakische Ölindustrie. Noch in diesem Jahr soll mit deren Re-Privatisierung begonnen werden.28 Bechtel, Halliburton und Co. werden sich über die zügige Umsetzung des (neo)liberalen Programms freuen.

Da dies sicher ebenso wenig wie die inzwischen angekündigte dauerhafte Stationierung von US-Truppen die Unterstützung des irakischen Volkes finden wird, richtet man sich auf eine dauerhafte Kontrolle ein. „Was wird passieren, wenn wir erstmals eine Wahl im Irak abhalten und es sich ergibt, dass die Radikalen gewinnen?“ fragt Brent Scowcroft, nationaler Sicherheitsberater unter Bush Senior und antwortete sich selbst: „Wir werden sie sicher nicht die Regierung übernehmen lassen.“29 Auch Donald Rumsfeld unterstreicht, dass für ihn Demokratie nicht mit Selbstbestimmung eines Volkes gleichgestellt werden kann: „Wir werden es der demokratischen Transformation des irakischen Volkes nicht erlauben von denjenigen in Beschlag genommen zu werden, die eine weitere Form der Diktatur installieren könnten.“30 Es ist zu befürchten, dass als Demokrat nur akzeptiert wird, wer nach Washingtons Pfeife tanzt.

Anmerkungen

1) Boot, Max: Does America Need an Empire?, Lecture at UC Berkeley, 12.03.03.

2) McNamara, Robert S./Blight, James G.: Wilson‘s Ghost: Reducing the Risk of Conflict, Killing, and Catastrophe in the 21st Century, New York 2001, S. 153.

3) Vgl. Gupta, Partha: Power, Politics and the People: Studies in British Imperialism and Indian Nationalism, London 2002, S. 74-91.

4) Boot, Max: s.o.

5) Kaplan, Robert D.: Warrior Politics: Why Leadership Demands a Pagan Ethos, New York 2002, S. 144f.

6) Rhodes, Edward: Onward, Liberal Soldiers? The Crusading Logic of Bush‘s Grand Strategy and What Is Wrong with It, CIAO, December 2002, S. 8.

7) Vgl. Rieff, David: A New Age of Liberal Imperialism?, in: World Policy, Vol. XVI, No. 2 (Summer 1999).

8) Williams, Hywel: The danger of liberal imperialism, The Guardian, 04.10.01.

9) Ignatieff, Michael: The Burden, New York Times Magazine, 05.01.03.

10) Zwick, Jim: The White Man‘s Burden and Its Critics, in: Zwick, Jim (ed): Anti-Imperialism in the United States, 1898-1935, o. J., http://www.boondocksnet.com/ai (16.05.03).

11) Ferguson, Niall: Empire: The Rise and Demise of the British World Order and the Lessons for Global Power, New York, 2003.

12) Boot, Max: The Savage Wars of Peace, New York 2002, S. 28f.

13) Daalder, Ivo H/Lindsay, James M.: American Empire, Not „If“ but „What Kind“, New York Times, 10.05.03.

14) Eland, Ivan: The Empire Strikes Out, CATO Policy Analysis, No. 459, 26.11.02, S. 19.

15) Mallaby, Sebastian: The Reluctant Imperialist: Terrorism, Failed States, and the Case for American Empire, in: Foreign Affairs, March/April 2002, S. 2-7, S. 2, S. 6. Ähnlich argumentiert McFaul, Michael: The Liberty Doctrine, in: Policy Review, April-May 2002.

16) Mies, Maria: Von der Lizenz zum Plündern zur Lizenz zum Töten, Papier zum Attac-Kongress, Oktober 2001, S. 11.

17) President Discusses the Future of Iraq, Office of the Press Secretary, 26.02.03.

18) U.S. Military Bases and Empire, Monthly Review Editorial, Vol. 53, No. 10 (March 2002).

19) Haass, Richard N.: Imperial America, Paper at the Atlanta Conference, November 11, 2000.

20) Cooper, Robert: The new liberal imperialism, The Observer, 07.04.02.

21) Asmus, Ronald D./Pollack, Kenneth M.: The New Transatlantic Project, in: Policy Review, October-November 2002.

22) in: Freitag 09/03.

23) Lüders, Michael: Liberaler Imperialismus, Frankfurter Rundschau, 10.03.03.

24) Vgl. die sehr gute Zitatsammlung von Blecher, Robert: „Free People Will Set the Course of History“: Intellectuals, Democracy and American Empire, Middle East Report Online, March 2003, http://www.merip.org/mero/interventions/blecher_interv.html (04.05.03).

25) Miller, Greg: Democracy Domino Theory »Not Credible«, Los Angeles Times, 14.05.03.

26) Haas, Richard N: Guidelines for Humanitarian Interventions, in: RAND Review, Vol. 25, No. 1 (Spring 2001), S. 18-20.

27) Kurtz, Stanley: Democratic Imperialism: A Blueprint, in: Policy Review, April 2003.

28) Zand, Bernhard: Irak: Saudische Herrschaft brechen, Der Spiegel, 19/03.

29) Herbert, Bob: Who will profit from this war?, IHT 11.03.03.

30) Stount, David: U.S. will not allow new Iraqi tyranny, IHT, 26-27.04.03.

Jürgen Wagner ist Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI e.V.)

Regionale Sicherheitskonstellationen

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Brasilien auf dem Weg zur neuen Regionalmacht?

von Stefan Schmalz

Das oftmals als US-amerikanischer Hinterhof bezeichnete Südamerika schien nach dem Ende des Ost-West-Konflikts vorerst vom Reisbrett der CIA-Strategen verschwunden zu sein. Die Zeit, in der Guerillabewegungen unterschiedlichster Couleur den heimischen Oligarchen zusetzten und teilweise – wie mit der kubanischen Revolution (1959) und dem Aufstand der Sandinisten (1979) – gar die Systemfrage stellten, galt als beendet. Weiterhin aktive Guerillaorganisationen, etwa die kolumbianischen FARC-EP (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo) oder die ELN (Ejército de Liberación Nacional), bekamen nun das öffentliche Image von stalinistischen Relikten und Drogendealerringen, die den letzten Zug zur Demobilisierung verpasst hätten. Die Delegitimierung des bewaffneten Kampfes muss aber auch vor dem Hintergrund der Entwicklung seit den 1980er Jahren gesehen werden: dem Ende mehrerer Militärdiktaturen und dem daran anschließenden Machtantritt zumeist neoliberaler Präsidenten wie Fujimori, Menem und Collor de Mello. Nur wenige Jahre danach haben wir erneut eine veränderte Situation. In sechs Ländern Südamerikas regieren jetzt Präsidenten, die zumindest ihren Worten nach Gegner des Neoliberalismus sind.

Die »Linkswende« auf dem Kontinent hat neben den politökonomischen und sozialen Folgen auch eine sicherheitspolitische Dimension. Gerade die Wahl von Luiz Inácio »Lula« da Silva in Brasilien, das mit einer Bevölkerung von über 187 Mio. und einem BIP von rund einem Drittel der gesamten Wertschöpfung Lateinamerikas sehr gewichtig ist, zieht sicherheitspolitische Implikationen nach sich. Gelingt es im Cono Sur, dem südlichen Südamerika, ein Gegengewicht zur USA und der auch in Lateinamerika aktiver werdenden EU aufzubauen? Schickt sich Brasilien gar an, eine Regionalmachtsrolle zu übernehmen?

Zwischen Militarisierung und sicherheitspolitischem Vakuum

Zur Klärung dieser Fragen ist es unerlässlich, zunächst zwei zentrale Dynamiken in der geopolitischen Konstellation in Lateinamerika zu beleuchten. Zunächst ist mit den Angriffskriegen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten gegen Afghanistan (2001) und den Irak (2003) die Wahrscheinlichkeit einer direkten militärischen US-amerikanischen Invasion in Lateinamerika gesunken. Die neuen Regime in Lateinamerika haben auf den ersten Blick, was die externen sicherheitspolitischen Zwänge angeht, einen großen politischen Spielraum. Zwar bleibt der von den Regierungen der USA und Spaniens unterstützte Putschversuch gegen den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez im April 2002 unvergessen. Doch zur gleichen Zeit ist klar: Die Ressourcen der Vereinigten Staaten sind beschränkt. Es erscheint als äußerst problematisch, die Besatzungen im Irak (ca. 136.000 Soldaten) und Afghanistan (ca. 20.000 Soldaten) erfolgreich zu beenden, die Drohkulisse gegenüber dem Iran und Nordkorea aufrecht zuerhalten und gleichzeitig noch einen heißen Krieg in Südamerika zu beginnen.

Zudem haben sich die Konfliktlinien in Lateinamerika verschoben. Instabile politische Situationen finden wir heute besonders im Andenraum und in der Amazonasregion. Hier steht vor allem die Gefahr einer Internationalisierung des seit mittlerweile über 40 Jahre andauernden kolumbianischen Bürgerkriegs im Vordergrund. Aktivitäten der kolumbianischen Guerillaorganisationen, der paramilitärischen Einheiten aber auch staatlicher Akteure in den Grenzgebieten der Nachbarländer Ecuador und Venezuela und nicht zuletzt der zunehmende grenzüberschreitende Drogenhandel im schwer kontrollierbaren Amazonasgebiet machen die Auseinandersetzungen zu einem regionalen Problem. Die Vereinigten Staaten haben hierauf mit einer Teilfinanzierung des 7,5 Mrd. US$ umfassenden, im Jahr 1999 initiierten Plan Colombia und den Folgeprojekten Iniciativa Andina Regional und Plan Patriota reagiert. Die US-Amerikaner stützen zudem durch die Stationierung von 800 US-Soldaten und 600 in privaten Sicherheitsfirmen tätigen Militärberatern die Kriegspolitik der rechtskonservativen kolumbianischen Regierung Uribe. Sie haben ein Netzwerk von Militärbasen installiert, das von Manta (Ecuador), über Tres Esquinas und Leticia (Kolumbien) über Iquitos (Peru) bis zu den Karibikstützpunkten Beatrix (Aruba) und Hato (Curaçao) reicht.1

Wirtschaftliche Integration im Cono Sur

Der Versuch, den Anden- und Amazonasraum militärisch stärker in den US-amerikanischen Einflussbereich einzubinden, wird begleitet durch eine Politik der stärkeren wirtschaftlichen Durchdringung mittels Initiativen für Freihandelszonen und Investitionsabkommen. Neben dem die USA, Mexiko und Kanada umfassenden NAFTA-Abkommen (1994), dem bilateralen Vertrag mit Chile (2004) und dem bereits unterzeichneten CAFTA-DR-Abkommen, das Honduras, El Salvador, Guatemala, Nicaragua, Costa Rica und die Dominikanische Republik umfassen wird, sind Verhandlungen mit den Andenstaaten Kolumbien, Peru und Ecuador weit voran geschritten.2 Die Inhalte dieser Verträge kreisen meist um die Liberalisierung von Handel und Investitionen sowie um Vereinbarungen, die den Zugriff auf das staatliche Auftragswesen durch ausländische Unternehmen ermöglichen. Die US-Pläne für die bisher gescheiterte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA scheinen sich somit in Mittelamerika und dem nördlichen Südamerika in einer veränderten Form durchzusetzen.

Gleichzeitig hat sich in Südamerika mit dem Integrationsbündnis Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela) eine Keimzelle eines linkspolitischen Regionalblocks herausgebildet, der als ein Gegenprojekt zur US-amerikanischen wirtschaftlichen und militärischen Durchdringung des Subkontinents fungieren könnte. Der Mercosur umfasst jetzt weitere Mitgliedstaaten (vgl. Tabelle 1) und wurde durch die drei neuen Mitte-Links-Regierungen institutionell ausgebaut: Es wurde ein fester Gerichtshof und eine Kommission von permanenten Repräsentanten eingerichtet. Ein neues Mercosur-Parlament soll im Jahr 2007 seine Arbeit aufnehmen. Auch sozialpolitisch wurden erste Vorstöße unternommen, die sich u.a. in der Einführung von gemeinsamen Strukturfonds zeigen, die den kleinen Mitgliedstaaten Paraguay und Uruguay zu Gute kommen sollen. Ergänzt wird der Mercosur durch die Südamerikanische Staatengemeinschaft (Comunidad Sudamericana de Naciones), eine bisher wenig erfolgreiche Initiative, die als Dach für einen südamerikanischen Integrationsprozess dienen soll. Doch auch das Integrationsbündnis Mercosur bleibt aufgrund des geringen politökonomischen Gewichts und der Fortsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik auf der nationalen Ebene fragil und dient bisher nicht dazu, eine alternative Entwicklung in den Mercosur-Nationen einzuleiten.

Zusammenarbeit zwischen Kriegs- und Friedenspolitik

Der neue, immer wieder durch interne Konflikte gekennzeichnete Integrationsprozess besitzt ebenfalls eine wichtige strategische Komponente. Zunächst ein banales Argument: Die fortschreitende Integration verhindert einen Ausbruch weiterer Grenzstreitigkeiten in Südamerika, wie etwa zuletzt zwischen Peru und Ecuador im Jahr 1995. Durch die Verlagerung politischer Kompetenzen auf die Ebene supranationaler Institution werden kriegerische Auseinandersetzungen immer mehr zu einem Verlustgeschäft für alle beteiligten Staaten. So wurde das schwelende Rivalitätsverhältnis zwischen Argentinien und Brasilien durch die Gründung des Mercosur im Jahr 1991 zivilisiert. Eine Erweiterung des Mercosur um Bolivien als Vollmitglied könnte zusätzlich die alten Grenzstreitigkeiten zwischen Bolivien und Chile entschärfen. Eine weitere neue Ebene des Integrationsprozesses besteht in der energiepolitischen Zusammenarbeit, die durch den Beitritt Venezuelas an Bedeutung gewonnen hat. Der Abschluss eines Abkommens zwischen Argentinien, Brasilien und Venezuela über ein mehr als 16 Mrd. US$ schweres (Gas-)Pipelineprojekt und die Ankündigung, bei der Ausbeutung der Erdöl- und Gas-Abkommen vermehrt zusammenzuarbeiten, zeugt von ersten Schritten in diese Richtung. Als letzte offensichtliche Verschiebung in der sicherheitspolitischen Architektur ist die räumliche Veränderung des Integrationsprozesses durch den Beitritt Venezuelas zum Mercosur zu nennen. Neben der gemeinschaftlichen Kontrolle des Südatlantiks durch die Mercosur-Staaten ist nun der Amazonasraum als sicherheitspolitisches Thema auf die gemeinsame Agenda gerückt, was die politische Dominanz der USA in dieser Region ernsthaft herausfordert. Der Mercosur würde bei einer erneuten Erweiterung, z. B. um den potentiell nächsten Kandidaten Bolivien, ein regionaler Verbund, der in Südamerika ordnungspolitisch zentral wäre. Dem geostrategischen US-Großprojekt einer militärpolitischen Durchdringung des nördlichen Südamerika im Rahmen des Plan Colombia könnte somit perspektivisch eine Mercosur-Sicherheitsstrategie im Rahmen eines südamerikaweiten Integrationsprozesses gegenübergestellt werden.

Doch welches militärpolitische Gewicht bringen die Mercosur-Staaten auf die Waage? Betrachten wir zunächst einige nüchterne Zahlen (vgl. Tabelle 2). Es ist eindeutig, dass Brasilien mit einem Verteidigungshaushalt von rund 11 Mrd. U$ und einer 287.600 Menschen starken Armee eine zentrale Rolle auf dem Subkontinent spielt. Die Verteidigungsausgaben sind so hoch wie der Militärhaushalt der drei nachfolgenden Staaten zusammen: Das bedeutende Argentinien, das oftmals als »Preußen Südamerikas« bezeichnete Chile und das Bürgerkriegsland Kolumbien. Brasilien kann als einziges lateinamerikanisches Land zudem auf eine umfangreiche Rüstungsindustrie zurückgreifen. In der Phase der Militärdiktatur (1964-1985) wurden Investitionen in Flugzeug-, Raketen- und Fahrzeugtechnologie forciert. Allerdings stellte die Regierung mit der Demokratisierung des Landes einzelne Projekte, etwa das Atomwaffenprogramm, ein. Brasilien gilt heute mit Exportunternehmen wie Avibras Indústria Aerospacial als der fünftgrößte Waffenexporteur der Welt. Doch gemessen an dem Rüstungsetat der USA ist die brasilianische Militärmaschinerie ein Zwerg. Der Militärhaushalt der USA ist mit 370,3 Mrd. US$ fast halb so groß wie das BIP Brasiliens, er übersteigt die Militärausgaben Brasiliens um mehr als das Dreißigfache. Hinzu kommt, dass die brasilianische Rüstungsindustrie durch ausländische Investitionen und eine länderübergreifende Arbeitsteilung weitgehend in transnationale Produktionsnetzwerke eingebunden ist.3 Kurzum: Auf rein militärischer Ebene sind weder Brasilien noch andere lateinamerikanische Staaten in der Lage, den USA Paroli zu bieten.

Daran ändern auch die Versuche wenig, eine militärpolitische Kooperation auf die Beine zu stellen. Neben dem Aufbau bilateraler verteidigungspolitischer Arbeitsgruppen zwischen Argentinien, Brasilien und Chile, dem Aufbau eines subregionalen Zentrums für Polizeitraining und einem Zentrum für strategische Studien, dem Datenaustausch zwischen Brasilien und Kolumbien im Rahmen des brasilianischen Überwachungsprogramms SIVAM (Sistema de Vigilância da Amazônia) wurden auch einzelne Manöver gemeinsam abgehalten. Eine gemeinsame Mercosur-Verteidigungspolitik scheint jedoch bisher in weiter Ferne.

Allerdings kann in einzelnen Punkten durchaus ein koordiniertes sicherheitspolitisches Handeln ausgemacht werden. Die Regierungen von Argentinien, Brasilien, Chile, Paraguay und Venezuela verurteilten allesamt den Irakkrieg im Jahr 2003 und weigerten sich, trotz Drängens der US-amerikanischen Regierung, an dem Feldzug teilzunehmen. Allerdings lässt sich in diesem Punkt eine erneute Spaltung Lateinamerikas in zwei Lager feststellen. Die Dominikanische Republik, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Panama und Kolumbien traten offiziell der »Koalition der Willigen« bei, und andere Staatschefs, wie der ehemalige Regierungschef Jorge Battle aus Uruguay, begrüßten den Irakkrieg.4

Der entschiedenen Antikriegshaltung südamerikanischer Staaten im Falle des Irak steht jedoch ein selektiver Interventionismus in Lateinamerika gegenüber. Seit Juni 2004 sind Soldaten aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Paraguay, Peru und Uruguay in der UN-Mission MINUSTAH in Haiti aktiv. Brasilien übernahm sogar den Oberbefehl über die Truppen in Haiti, trägt somit zur Legitimation der De-facto-Invasion bei und entlastet die US-amerikanische Militärmaschinerie (vgl. Beitrag von Alexander King, d. R.). Das Ziel der Mission scheint eng mit dem Streben der brasilianischen Regierung nach einem UN-Sicherheitsratssitz verbunden zu sein und ist ein offensichtlicher Versuch, die Vereinigten Staaten für dieses Unterfangen auf ihre Seite zu ziehen. Gleichzeitig kann Haiti als Aufmarschplatz für die brasilianischen Regionalmachtsambitionen verstanden werden. Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Regierung Lula außenpolitisch aktiv engagierte. Doch bisher waren eher zivilgesellschaftliche Konfliktlösungsstrategien angesagt: Die Brasilianer weigerten sich, die FARC-EP und ELN als Terrororganisationen zu erklären, vermittelten in dem Konflikt zwischen Regierung und Opposition in Venezuela.

Fazit

Sowohl auf wirtschafts- als auch militärpolitischer Ebene droht eine Spaltung Lateinamerikas. Während die Vereinigten Staaten Mittelamerika und das nördliche Südamerika mit Militärbasen und Freihandelsabkommen überzogen haben, ist der Mercosur zum Zentrum eines fragilen Gegenprojekts einer südamerikanischen Integrationsprozesses unter brasilianischer Schirmherrschaft geworden, das auch eine verstärkte sicherheitspolitische Koordination mit sich bringt. Natürlich sind die südamerikanischen Staaten keineswegs fähig, die US-amerikanische militärpolitische Suprematie herauszufordern, aber das könnte sich als ein Vorteil herausstellen. Der MINUSTAH-Einsatz in Haiti hat gezeigt, dass auch ein lateinamerikanischer militärischer Interventionismus durchaus in einer Gewaltspirale enden kann. Als Gegenentwurf besitzt Brasilien in dieser Konstellation die einmalige Chance, die Rolle eines wohlwollenden Hegemons in Südamerika einzunehmen. Diese könnte sich durch eine sozial-, energie- und wirtschaftspolitische Kooperation, durch die Bildung gemeinsamer politischer Institutionen und durch eine Politik der zivilen Konfliktlösung auszeichnen. Ob dieser Weg zielstrebig gegangen wird, ist jedoch bisher ungewiss.

Tabelle 1: Mercosur Mitgliedsstaaten

Vollmitglieder
Argentinien 1991
Brasilien 1991
Paraguay 1991
Uruguay 1991
Venezuela (eingeschränkte Rechte) 2005
Assoziierte Mitglieder:
Bolivien 1997
Chile 1996
Ecuador 2004
Kolumbien 2004
Peru 2003
Venezuela 2004
Quelle: www.mercosul.org.uy

Tabelle 2: Streitkräfte und Militärausgaben

Land Streitkräfte: Aktive/ Reserve Militärausgaben (in US$) Militärausgaben (in % des BIP)
Argentinien 41.400 4,4 Mrd. 1,3%
Bolivien 35.000 132,2 Mio. 1,6%
Brasilien 287.600 (1.340.000) 11 Mrd. 1,8%
Chile 77.300 (50.000) 3,42 Mrd. 3,8%
Ecuador 59.900 (100.000) 655 Mio. 2,2%
Guayana 1.600 (1.500) 6,5 Mio. 0,9%
Kolumbien 200.000 (60.700) 3,3 Mrd. 3,4%
Paraguay 18.600 53,1Mio. 0,9%
Peru 100.000 (188.000) 829 Mio. 1,4%
Surinam 1.800 7,5 Mio. 0,7%
Uruguay 23.900 257,5 Mio. 2,0%
Venezuela 82.300 (8.000) 1,687 Mrd. 1,5%
USA 1.400.000 (1.320.000) 370,3 Mrd. 3,3%
Quellen: www.globaldefence.net; http://www.cia.gov/cia/publications/factbook/

Anmerkungen

1) Zudem unterhalten die Vereinigten Staaten Militärbasen in Puerto Rico (Vieques), Kuba (Guantánamo) und Honduras (Soto de Cano). Die Pläne, Militärbasen in Argentinien (Tierra del Fuego) und Brasilien (Alcântara) aufzubauen bzw. zu übernehmen, scheiterten bisher am Widerstand der Mitte-Links-Regierungen.

2) Auch die EU hat eine klare, in sich kohärente Außenhandelsstrategie gegenüber Lateinamerika formuliert. Sie will den gesamten Subkontinent mit Handelsverträgen überziehen: Abkommen mit Mexiko (2000) und Chile (2003) sind bereits in Kraft. Ein Vertrag mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten wird verhandelt, liegt aber infolge des Widerstands der Cono Sur-Länder seit Herbst 2004 auf Eis. Verhandlungen mit mittelamerikanischen Staaten und der Andengemeinschaft sind in Vorbereitung oder im Anlaufen. Mit dem Abschluss des Cotonou-Verhandlungsprozesses mit den AKP-Staaten Ende 2007 werden durch die EPAs (Economic Partnership Agreements) die karibischen Staaten ebenfalls in eine Freihandelszone mit der EU eingebunden.

3) Eine Entwicklung, die sich u.a. bei dem Verkauf von 36 brasilianischen Tucano-Kampfjets an Venezuela zu Beginn dieses Jahres zeigte. Der Deal wurde durch das Eingreifen der US-Regierung gestoppt, indem ein Lieferstopp auf in den USA produzierte Einzelteile verhängt wurde.

4) Die Dominikanische Republik beteiligte sich mit 42 Personen an der Invasion. Honduras stellte sogar 378 Soldaten auf. Beide Länder folgten jedoch 2004 dem spanischen Vorbild und zogen ihre Truppen ab.

Stefan Schmalz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politik, Philipps-Universität Marburg. Verschiedene Publikationen zu Lateinamerika und zur neuen Imperialismusdiskussion.

US- und EU-Sicherheitsstrategien contra UN-Gewaltmonopol

US- und EU-Sicherheitsstrategien contra UN-Gewaltmonopol

von Dr. Alexander Neu

Seit Jahren wird eine umfassende Reform der Vereinten Nationen (UN) diskutiert. Ein Gipfeltreffen im Herbst letzten Jahres sollte die UN fit für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts machen. Die geforderten Reformen blieben jedoch auf dem UN-Gipfel Mitte September letzten Jahres bereits im Anfangsstadium stecken. Der Autor dieses Artikels geht davon aus, dass internationale Regierungsorganisationen keine eigenständigen handlungstragenden Einheiten verkörpern, sondern lediglich Instrumente darstellen, deren Kompetenzen, deren finanzielle, materielle und personelle Ausstattung durch die sie tragenden Staaten – als die eigentlichen Akteure der internationalen Politik – bestimmt werden. Vor diesem Hintergrund geht er der Frage nach, wie im sicherheitspolitischen Sektor die tatsächliche Unterstützung der UN seitens der die UN tragenden Staaten aussieht.

Mit dem Beitritt zur UN haben sich die UN-Mitgliedstaaten zur Einhaltung der Normen der UN-Charta verpflichtet. Dass heißt:

  • Sie haben einen Teil ihrer Souveränität, das ius ad bellum in der Variante des Angriffskrieges, abgegeben. Damit haben sie das Gewaltmonopol an die UN delegiert.
  • Sie haben sich damit auch verpflichtet, die UN materiell, finanziell und personell (auch militärisch) so weit zu befähigen, dass diese schließlich das formale Gewaltmonopol auch durchsetzen kann.

Doch wie sieht es mit der Vertragstreue einiger für das Funktionieren der UN relevanter Staatengruppen, wie der NATO, der EU und den USA, tatsächlich aus? In welchem Verhältnis stehen das »Strategische Konzept des Bündnisses«, die »Nationale Sicherheitsstrategie« der USA sowie die »Europäische Sicherheitsstrategie« der EU zu den normativen Grundlagen des UN-Sicherheitskollektives?

Normative Grundlagen des UN-Sicherheitskollektivs

Eine der wichtigsten UN-Normen für das Funktionieren des UN-Systems ist die Vorrangklausel (Art. 103 UN-Charta). Sie stellt fest, dass im Falle internationaler Verpflichtungen und internationaler Verträge (z. B.: regionale Abmachungen), deren Normen im Widerspruch zur UN-Charta stehen oder aber sie relativieren, diese sich unterzuordnen haben bzw. keine Rechtsgültigkeit besitzen, da sie ansonsten UN-Recht brechen. Dieses Prinzip ist mit der innerstaatlichen Verfassungshierarchie vergleichbar. Es handelt sich hierbei nicht um ein Verbot von subsidiären Sicherheitsstrukturen wie regionale Organisationen (hierzu Kapitel VIII der UN-Charta), sondern lediglich um deren UN-rechtskonforme Einbindung bzw. Unterordnung.

Zur Erfüllung der Kernaufgabe, der Gewährung kollektiver Sicherheit, wird dem UN-Sicherheitsrat gemäß Art. 24 Abs. 1 der UN-Charta die „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ übertragen, sowie das ausschließliche Recht zuerkannt, eine „Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung“ festzustellen (Art. 39 UN-Charta), bzw. entsprechende Maßnahmen einschließlich der Anwendung von Gewalt (Art. 42 UN-Charta) gegen den Rechtsbrecher anzuordnen, woraus dem Sicherheitsrat das Gewaltmonopol erwächst. Ferner sollen dem UN-Sicherheitsrat militärische Kapazitäten – also das Schwert zur Durchsetzung seines kollektiven Schutzauftrages – seitens der UN-Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden (Art. 43 bis Art. 47 UN-Charta). Dieses Schwert wurde jedoch von Anfang an dem UN-Sicherheitsrat nicht in die Hand gegeben.

Stattdessen wurden zwei Ersatzklauseln (Art. 48 & Art. 53. Abs. 1 UN-Charta) formuliert, die es dem UN-Sicherheitsrat erlauben, einzelne Staaten oder regionale Einrichtungen mit deren Einverständnis „unter seiner Autorität in Anspruch“ zu nehmen.

Ungeklärt blieb hierbei die präzise Definition dieser »Autorität«, d.h., ob die Truppen für die militärischen Zwangsmaßnahmen unter internationalem Oberkommando (UN-geführt) oder unter nationalem Oberkommando (UN-mandatiert) operieren würden.

Die Antwort darauf lieferten alsbald die USA, als sie die irakische Besetzung Kuwaits mit einer multinationalen Truppe unter ihrem Oberkommando beendeten. Die UN verloren die komplette Kontrolle über die weitere militärische und politische Entwicklung hinsichtlich des Iraks, sie wurden de facto zum Mandatsbeschaffer degradiert.

Die Ersatzklauseln, die dem UN-Sicherheitsrat die militärische Handlungsfähigkeit quasi indirekt garantieren sollen, erweisen sich realiter als Axt gegen die Fundamente der UN selbst: Die indirekte militärische Handlungsfähigkeit der UN vermittelt über »willige Staaten« bedeutet nichts anderes als keine Kontrolle und somit keine militärische Handlungsfähigkeit der UN. Die operative Umsetzung wird von den »willigen Mandatnehmern« gemäß ihren strategischen und nationalen Interessen definiert. Letztlich werden damit auch die weiteren politisch-strategischen Entscheidungen über die Maßnahmen zur Gestaltung der Nachkriegsordnung in der betreffenden Region der UN faktisch entzogen und der Machtsphäre des »willigen Mandatnehmers« zugeordnet.

Der hierdurch stattfindende Substanzverlust des Multilateralismus bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung formaler multilateraler Mechanismen bedeutet eine Rückkehr des anarchischen Staatensystems auf besonders perfide Weise: Internationale Rechtsstaatlichkeit wird zunächst sinnentleert und kann sukzessive zum Knebelinstrument der Großmächte gegenüber schwächeren Staaten umfunktionalisiert werden.

Dass dieses Problem zeitverzögert – 45 Jahre nach Gründung der UN – erst so virulent wurde, erklärt sich durch die bipolare Ost-West Konfrontation: Diese verhinderte einen einseitigen Missbrauch durch die balancierende Kraft der jeweils anderen Seite, die das Vetorecht geltend machte.

Derzeit existiert keine ausreichend balancierende Gegenmacht, die die USA zur Respektierung internationalen Rechts bewegen könnte. Im Gegenteil, wie der Ingenuitätsprozess1 sich nach dem Ende der Bipolarität nicht nur in der praktischen internationalen Politik, sondern auch in völkerrechtlichen Dokumenten durchsetzte wird im folgenden ausgeführt.

Das Strategisches Konzept der NATO

Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung drohte die NATO Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden. 1991 verabschiedete die NATO ein Neues Strategisches Konzept in dem sie lediglich ihre verteidigungspolitische Funktion in „Übereinstimmung mit den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen“ wiederholte und ihre sicherheitspolitische Unabkömmlichkeit unterstrich.2

Diese Selbstrestriktion brachte das Bündnis jedoch in eine Identitätskrise. Es mussten neue Aufgaben, jenseits der klassischen Landes- und Bündnisverteidigung, gefunden werden, um der Verteidigungsorganisation eine neue sinnstiftende Identität zu geben. Zunächst empfahl man sich den UN als militärischer Arm in den Bürgerkriegswirren des auseinanderfallenden Jugoslawien. Schon bald manifestierte sich aber ein mangelnder Unterordnungswillen des Bündnisses unter das globale Sicherheitskollektiv UN.3

Im April 1999 verabschiedete die NATO eine Neuauflage ihres Strategischen Konzepts. Darin wird die »Autorität« des UN-Sicherheitsrates bei der Ausführung militärischer Operationen geltend gemacht.4 Allerdings wird diese »Autorität« in einen breiten Interpretationsansatz gerückt: Das Bündnis wird „bei der Erfüllung seines Ziels und seiner grundlegenden Sicherheitsaufgaben (…) die friedliche Beilegung von Streitigkeiten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen anstreben.“5 Die Wortwahl »anstreben« bedeutet jedoch keine definitive Unterordnung, sondern lediglich, wenn möglich mit, wenn nötig ohne UN. Damit wird das UN-Gewaltmonopol offen in Frage gestellt. Auch eine weitere Formulierung, die zwar sehr eng an die UN-Charta Art. 24 Abs. 1 angelehnt ist, zielt auf eine Relativierung des UN-Gewaltmonopols zu Gunsten der NATO: Das Strategische Konzept spricht hier von der „primären Verantwortung“, statt der Hauptverantwortung (Art. 24 Abs. 1 UN-Charta) der UN für die „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.“6 Ein Differenzierungsversuch beider Begriffe mag zunächst ein wenig theoretisch und irrelevant wirken. Betrachtet man indes den realpolitischen Kontext, dass nämlich das Strategische Konzept exakt zu jenem Zeitpunkt verabschiedet wurde, als die NATO Jugoslawien bombardierte, so gewinnt die Interpretation der Formulierung »primäre Verantwortung« Konturen: Sie wird als eine Art Reserveverantwortung der NATO für die Wahrung kollektiver Sicherheit beansprucht für den Fall, dass die UN ihrer Funktion – gemäß der Erwartung des Westens – nicht gerecht wird.

Die in Art. 24 UN-Charta gewählte Formulierung der Hauptverantwortung bedeutet hingegen nicht, dass den Staaten eine Reserveverantwortung für die Wahrung der kollektiven Sicherheit dergestalt zugewiesen wird, dass diese im Falle einer Handlungsblockade des UN-Sicherheitsrats die Verantwortung und das Handeln der UN eigenmächtig substituieren. Im Gegenteil: Zwar wird die Regelung sicherheitspolitischer Probleme gemäß Art. 52 UN-Charta auch subsidiären Strukturen ermöglicht, jedoch nur unter explizitem Ausschluss militärischer Maßnahmen (Art. 53 UN-Charta). Der Terminus Hauptverantwortung muss im Kontext des Art. 2 Abs. 3 & 4 der UN-Charta interpretiert werden: Demnach die Verantwortung der Staaten selbst, durch eine proaktive Haltung in Form des ausnahmslosen Verzichts auf das ius ad bellum als Angriffsvariante zur „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ beitragen müssen und „internationale Streitigkeiten durch friedliche Mittel“ beilegen sollen.

Das Strategische Konzept muss in seiner Gesamtheit und unter Berücksichtigung der realpolitischen Situation verstanden werden. Neben dem mangelnden Unterordnungswillen unter die UN bleibt auch der geographische Aktionsradius offen. Es werden der euro-atlantische Raum, die Peripherie desselben und schließlich der »globale Kontext«, genannt, indem die Sicherheitsinteressen, wie die „Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen“, berührt werden könnten.7

Insgesamt verweist das Konzept auf eine neue NATO, die sich nicht mehr als klassisches Verteidigungsbündnis unter der Maßgabe eines eng gefassten Verteidigungsbegriffs, der Landes- und Bündnisverteidigung, verstanden wissen will. Die neue NATO definiert sich über einen geographisch entgrenzten Verteidigungsbegriff (Stichwort: Deutschlands Verteidigung am Hindukusch), der das Verteidigungsbündnis im Ergebnis zu einem globalen Sicherheitskollektiv ohne völkerrechtliche Legitimation erhebt. Hierbei bricht die NATO UN-Recht materiell (Bruch des UN-Gewaltmonopols durch den Jugoslawien-Krieg) und formell (Bruch des Primats der UN bzw. des UN-Rechts gemäß Art. 103 UN-Charta).

Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA

Die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) wurde im September 2002 als neue Sicherheitsdoktrin der USA verkündet. Die NSS muss im Kontext des ein Jahr zuvor stattgefundenen Terroranschlags auf die USA verstanden werden. Die NSS verweist mit dem hohen Selbstbewusstsein einer Supermacht auf eine US-amerikanische Außenpolitik, die „neue, produktive internationale Beziehungen“ eingehe und die „bestehenden neu“ definiere.8 Es wird deutlich, dass nicht nur punktuelle Korrekturen der bestehenden, sondern der Prozess zu einer neuen Weltordnung nach US-amerikanischem Gusto eingeleitet werden soll. Die hierzu angewandte Methode der unilateralen Deregulierung der internationalen Beziehungen und der damit einhergehenden Renationalisierung sicherheitspolitischer Entscheidungen und sogar Rechtsetzungsansprüchen stellt nichts weniger als das gegenwärtige internationale Rechtssystem zur Disposition. Zu nennen ist hier beispielsweise die Weigerung der USA sich dem Internationalen Strafgerichtshof zu unterwerfen.

Die UN werden ganze zweimal in dem umfassenden Dokument genannt. Im Vorwort wird auf eine sehr allgemeine und unpräzise formulierte Verpflichtung der USA gegenüber multilateralen Institutionen, wie der UN verwiesen. Der zweite Hinweis devaluiert gar die UN zu einer Organisation unter vielen, mit der bei Bedarf kooperiert werden kann.9

Im Mittelpunkt der NSS steht der internationale Terrorismus als zentrale sicherheitspolitische Herausforderung. Die USA beanspruchen die globale Führerschaft im Kampf gegen die neuen sicherheitspolitischen Risiken. Die wesentlichen Konfliktlösungsmechanismen sind hierbei repressiver Art, d.h. militärische Maßnahmen, deren Nennung wie ein roter Faden die gesamte NSS durchzieht. Mit dem Anspruch der globalen Führerschaft unter Verwendung repressiver Mittel, stellen sich die USA in der Hierarchie über die UN. Hierbei pendelt die NSS zwischen einem scheinbaren Multilateralismus, selektivem Multilateralismus10 und einem dezidierten Unilateralismus.

  • Hinsichtlich des scheinbaren Multilateralismus wird das völkerrechtskonforme Präemptionprinzip (aktive Selbstverteidigung bei einem gegenwärtig zu erwartenden Angriff) um die Bedeutung der völkerrechtlich nicht zulässigen Prävention erweitert: „(…) desto zwingender das Argument für antizipatorische Selbstverteidigung, selbst wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind angreifen wird.“11 Der bislang gültige Unterschied zwischen Präemption und Prävention wird angesichts neuer Bedrohungsformen (internationaler Terrorismus) und unkonventioneller Kampfmethoden ohne Vorwarnzeiten, auf diese Weise verneint. Auch wird mit der räumlichen und zeitlichen Offenheit, dem Angriffskrieg Tür und Tor geöffnet.
  • Der selektive Multilateralismus exemplifiziert sich an Rüstungskontrollregimen und dem Nichtverbreitungsvertrag, die den USA einen Nutzen einräumen.12 Der selektive Multilateralismus ist gekennzeichnet durch punktuelle Kooperationen, die den nationalen Interessen förderlicher sind als eine rein unilaterale Vorgehensweise.
  • Der dezidierte Unilateralismus wiederum findet seine Anwendung für den Fall, das den USA die Unterstützung seitens internationaler Organisationen beim Kampf um die internationale Sicherheit verwehrt bleiben. Dann werden die USA „auch nicht zögern zu handeln, wenn es notwendig werden sollte, unser Recht auf Selbstverteidigung wahrzunehmen (…).“13Auch hier wird deutlich, dass den internationalen Organisationen, gemeint ist hier wohl insbesondere die UN ohne sie namentlich zu nennen, nicht die Hauptverantwortung, sondern bestenfalls eine kooperierende und schlimmstenfalls eine dienende oder gar irrelevante Funktion für die Wahrung der kollektiven Sicherheit zu Teil wird.

Die signifikante Abwertung der UN, manifestiert sich letztlich in Kapitel VIII der NSS, in der die „Entwicklung einer Agenda für die Zusammenarbeit mit anderen wichtigen Machtzentren der Welt“ skizziert wird. Dort werden neben den Großmächten und einigen besonders treuen Verbündeten, wie Japan, Südkorea und Australien, noch vier internationale Organisationen genannt: die NATO, die EU, die ASEAN und die APEC. Die UN wird nicht aufgeführt.14

Nicht nur das die UN und das UN-Völkerrecht keine Rolle in der NSS spielen. Es bleibt festzustellen, dass die NSS sich nicht nur nicht dem UN-Völkerrecht unterzuordnen gedenkt, sondern dass sie vielmehr auf deren Ablösung durch eine US-amerikanische Weltordnung abzielt.

Ein solcher Ansatz müsste eigentlich auf entschiedenen Widerstand der europäischen Partner stoßen. Wie die Reaktion der EU tatsächlich ausschaut, zeigt eine Analyse der Europäischen Sicherheitsstrategie.

Die Europäische Sicherheitsstrategie

Die Europäische Union gab sich im Dezember 2003 eine eigene Europäische Sicherheitsstrategie (ESS). Angesichts der zunehmenden Integration der EU – auch in sicherheitspolitischen Fragen – zeigte sich die Notwendigkeit der strategischen Positionierung eines im Werden begriffenen sicherheitspolitischen Akteurs auf der Weltbühne. Da die EU selbst eine regionale Organisation auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge darstellt, und sie zugleich der am stärksten verrechtlichte Raum der Welt mit bisweilen supranationalen Strukturen ist, weiß sie um die Relevanz implementierter und ausgeführter – kurzum gelebter – Normen wie kein anderer Akteur. Angesichts dessen müsste die ESS im besonderen Maße sich den UN-Normen und deren Umsetzung verpflichtet fühlen.

Tatsächlich bekundet die ESS eine proaktive UN-Politik, in dem sie deren „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ betont.15 Obgleich die ESS keine Bereitschaft bekundet, der UN Truppen unter UN-Befehl gemäß Art. 43 UN-Charta (UN-geführte Friedenserzwingung) zur Verfügung zu stellen, um das formale UN-Gewaltmonopol auch materiell zu unterfüttern, so erklärt sie dennoch, die UN in deren Kampf „gegen Bedrohungen des Friedens und der Sicherheit in der Welt“ zu unterstützen. Hierbei bekundet sie auch ihr Pflichtgefühl, zu einer „verstärkten Unterstützung“ der UN bei „kurzfristigen Krisenbewältigungseinsätzen.“16 Im Gegensatz zur NSS zielt die ESS nicht auf eine neue Weltordnung durch Eliminierung der gegenwärtigen internationalen Rechtsordnung ab, sondern fordert die „Wahrung und Weiterentwicklung des Völkerrechts“ im Einklang mit den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen.17

Aber exakt im Kontext der Handhabung der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen manifestieren sich Schnittmengen zwischen der ESS und der NSS. Die ESS fordert die Entwicklung einer Strategie-Kultur, „die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert“. Die Gefahren von Proliferation von Massenvernichtungswaffen sowie „humanitäre Krisen“ können durch „präventives Engagement“ reduziert werden.18

Allerdings kollidiert die Forderung nach präventiven militärischen Operationen zwecks Eindämmung neuer sicherheitspolitischer Gefahren mit der Selbstverpflichtung der Wahrung des Völkerrechts. Denn gemäß Art. 51 UN-Charta stellt die militärische Prävention kein Bestandteil des „naturgegebenen Rechts zur Selbstverteidigung“ dar, sondern fällt unter die Kategorie des absoluten Gewaltverbots (Art. 2 Abs. 4) und ist somit als klassischer Angriffskrieg zu klassifizieren. Dem Selbstverteidigungsbegriff der UN-Charta liegt ein restriktives territorial gebundenes Verständnis zu Grunde. Dieses wird jedoch von der ESS gleichsam der NSS mit Verweis auf die besondere Qualität der neuen sicherheitspolitischen Risiken unterminiert: „Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen.“19

Die ESS versucht diesen Widerspruch offensichtlich mit Verweis auf die Notwendigkeit, „dass das Recht mit Entwicklungen wie Proliferation, Terrorismus und globaler Erwärmung Schritt“ halten müsse, aufzulösen.20 Hierbei »übersehen« die Autoren der ESS, dass auf diese Weise das UN-Gewaltmonopol ungeachtet aller UN-treue Bekundungen nicht nur faktisch, sondern auch formal ausgehebelt wird.

Fazit

Weder in dem Strategischen Konzept des Bündnisses noch in den Doktrinen wird der Wille erkennbar, sich dem UN-System bedingungslos zu unterwerfen. Rhetorisch geschickt verpackte Formulierungen verbergen unilaterale Hintertürchen. Die allenthalben zu vernehmende Kritik an der mangelnden Funktionalität und Effizienz der UNO ist nicht ihr eigenes Versäumnis, da sie kein selbstständiger Akteur ist. Es ist eindeutig der fehlende Wille der sie tragenden relevanten Akteure, ihr die erforderlichen und Entscheidungskompetenzen zu verleihen. Darüber hinaus stellt die Kritik der Großmächte an der mangelnden Funktionalität der UNO einen Versuch dar, ihre unilateralen Maßnahmen als notwendige Ersatzmechanismen zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund sind die Reformbemühungen der UNO mit dem Ziel der Herbeiführung effektiverer Strukturen und erweiterter Kompetenzen zur Durchsetzung einer gerechteren Weltordnung, bestenfalls Wunschdenken.

Schlimmstenfalls dienen die Reformen dazu, den Handlungsspielraum der Großmächte zu erweitern (Interventionen mit Unterstützung der UN). Sollte das internationale Recht angesichts der neuen sicherheitspolitischen Risiken, wie von der ESS unter Berücksichtigung des Präventivinstituts gefordert, »modernisiert« werden, so liefe dies auf ein Ermächtigungsgesetz zur »weltweiten präventiven Selbstverteidigung« hinaus. Auf diese Weise würde das ius ad bellum, welches als Nicht-Selbstverteidigungsvariante ausschließlich dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten ist, wieder zu den Nationalstaaten zurückkehren, was unzweifelhaft einen zivilisatorischen Rückschritt bedeuten würde.

Anmerkungen

1) Der Politikwissenschaftler August Pradetto definiert den Begriff folgendermaßen: „Mit dem Begriff Ingenuität ist der beabsichtigte Zustand mit Hilfe einer Politik gemeint, die auf Abwehr von Restriktionen für die eigene Handlungsfreiheit und auf die Erlangung einer möglichst großen Variationsbreite eigener Handlungsoption gerichtet ist“.

2) The Alliance’s New Strategic Concept, Rom, 1991.

3) Nassauer, Otfried u.a.: NATO, Peacekeeping, and the United Nations, Berlin, 1994.

4) Das Strategische Konzept des Bündnisses, Washington, 1999, Abs. 31.

5) Das Strategische Konzept des Bündnisses…, Abs. 11.

6) Das Strategische Konzept des Bündnisses…, Abs. 15.

7) Das Strategische Konzept des Bündnisses…, Abs. 24.

8) The National Security of the United States of America, Sept. 2002, S. 7.

9) The National Security…, Vorwort und S. 7

10) Hippler, Jochen, Die unilaterale Versuchung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2003, S. 818 ff.

11) The National Security…, S. 15, 13, 22.

12) The National Security…, S. 14.

13) The National Security…, S. 6, 42.

14) The National Security…, S. 25 f.f

15) Ein sicheres Europa in einer besseren Welt – Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel, 12. Dezember 2003, S. 9.

16) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 11.

17) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 9f.

18) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 11.

19) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 7.

20) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 10.

Dr. Alexander Neu, Politologe, Mitglied der W&F Redaktion

Rückt Lateinamerika nach links?

Rückt Lateinamerika nach links?

von Jürgen Nieth

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Argentinien 1978: Fußballweltmeisterschaft. Seit zwei Jahren regiert eine Militärjunta. Brigadegeneral Merlo und ein Militärstab haben das sportliche Großereignis vorbereitet; die Militärs »sichern« die Spiele und während im Stadion von Buenos Aires die Menschen jubeln, werden im Schutz der Lärmkulisse direkt nebenan in der Mechanikerschule des Militärs Menschen gefoltert und erschossen. Als die argentinische Junta 1984 abtreten muss, stehen 30.000 Verschwundene und Zehntausende Gefolterte auf ihrem Konto.

Chile 1973: In den ersten Tagen der Pinochet-Diktatur wird das Fußballstadion in Santiago de Chile zum Konzentrationslager. Viele werden es nicht mehr lebend verlassen. Tausende werden unter Pinochet ermordet. Unter der neuen chilenischen Präsidentin, Michelle Bachelet, wurden erst jetzt – 2006 – die Akten von 28.000 Gefolterten der Pinochet-Diktatur veröffentlicht.

Argentinien und Chile waren nicht die einzigen Länder Lateinamerikas, die in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts unter der Gewalt diktatorischer Regime standen. Im Gegenteil: Brasilien, Paraguay, Uruguay, Kolumbien, Nicaragua, El Salvador, Haiti usw., kaum ein Land Lateinamerikas, dem das Militär – vielfach gestützt durch die USA – nicht seinen Stiefel ins Gesicht getreten hat.

In den letzten drei Jahrzehnten hat sich diese Situation grundlegend geändert: Alle Militärdiktaturen wurden abgelöst – in der Regel – durch neoliberale Systeme. Inzwischen ist auch der Neoliberalismus weitgehend in Verruf geraten, die Regierungen der größten und ökonomisch stärksten Länder Lateinamerikas betonen antineoliberale Positionen, bezeichnen sich selbst als Linke- oder Mitte-Links-Regierungen. Im Laufe des Jahres könnte sich diese »Linkstendenz« noch verstärken, denn in Peru und Mexiko stehen Wahlen an und es sieht so aus, als ob sich auch hier Präsidenten durchsetzten, die im Vergleich zu ihren Vorgängern links sind.

Wir erleben einen Veränderungsprozess. Auf der positiven Seite steht bisher:

die Beseitigung der Terrorregime und die Wiedererlangung demokratischer Rechte,

die Lösung einiger Länder aus der engen Anbindung an die USA, die die vorhergehenden Dekaden dominierte,

der Akzeptanzverlust des neoliberalen Herrschaftsmodells und damit die Chance für Alternativen, die zur Verbesserung der Lebenssituation der Verarmten führen,

die Reaktivierung alter sozialer Bewegungen und die Entstehung neuer sozialer Bewegungen und Protestformen.

Positiv ist sicher auch, dass in mehreren Ländern, wie z.B. Chile und Argentinien, verstärkt an der Aufarbeitung der Verbrechen der Militärjunta gearbeitet wird und mit der Verfolgung der Täter begonnen wurde.

Das Erreichte darf also nicht unterschätzt werden – und doch sagt es noch nichts aus über die weitere gesellschaftliche Entwicklung.

Die Politik der »linken« Regierungen in den verschiedenen Ländern und ihre Verankerung in der Bevölkerung – d.h. auch ihre Stabilität – sind sehr unterschiedlich.

Die Regierungen in Brasilien und Chile können sich auf Parteien mit einer langen Tradition stützen, sie haben enge Verbindungen zu den alten sozialen Bewegungen und in die Mittelschichten hinein. Das hat den Vorteil, dass z.B. Lula in Brasilien – trotz zahlreicher nicht eingelöster Wahlversprechen – auf eine Wiederwahl hoffen kann.

Chaves in Venezuela und Morales in Bolivien können auf eine solche stabile Basis nicht zurückgreifen. Als charismatische Persönlichkeiten setzen sie stark auf ihren Einfluss unter den Marginalisierten, und sie mobilisieren die Massen auch schon mal mit nationalistischen Tönen. Haben sie keine sichtbaren Erfolge – z.B. in der Armutsbekämpfung – besteht die Gefahr, dass ihre Basis auseinander bricht und sie von der politischen Bühne verschwinden.

Ohne Zweifel: Die letzten Jahrzehnte betrachtet, ist Lateinamerika nach links gerückt! Und es wäre schon ein Fortschritt, wenn sich die Mitte-Links-Regierungen stabilisieren könnten, wenn sie schnell zumindest einen Teil der Erwartungen einlösen würden, die die Wähler in sie haben, und wenn sie auch langfristig eine konsequente Politik für ihre soziale Basis machten, d.h. wenn sie sich nicht nur in Worten sondern auch im ökonomischen Handeln vom neoliberalen Modell lösen würden. Eine engere Kooperation untereinander könnte dabei helfen, gegenüber den USA und den internationalen Finanzinstitutionen die eigenen Interessen durchzusetzen.

Werden die sozialen Bewegungen – die alten und die neuen – in diesen politischen Prozess einbezogen und gelingt es, demokratische Strukturen zu festigen – auch mit Hilfe der Aufarbeitung der Vergangenheit, könnten die Voraussetzungen entstehen für die Entwicklung eines sozialen, demokratischen und zukunftsfähigen Gesellschaftssystems.

Jürgen Nieth

Die USA, der Iran und Israel

Die USA, der Iran und Israel

von Otfried Nassauer

John Bolton hat eine Mission. Der amerikanische UN-Botschafter will, dass der UN-Sicherheitsrat so scharf wie möglich gegen den Iran vorgeht. Sanktionen sollen so früh wie möglich auf die Tagesordnung kommen. Prophylaktisch droht er sogar dem Sicherheitsrat: Für den sei das Ganze ein »Test«. Der Test, ob der Sicherheitsrat den Anforderungen der USA genügt.

Doch Bolton hat auch ein Problem. Nicht alle denken so wie der Neokonservative. Als der Sicherheitsrat sich jüngst mit dem Iran befasste, einigte er sich auf eine Erklärung seines Präsidenten, nicht auf eine Resolution. Dreißig Tage gab das Gremium dem Iran Zeit, um seine Anreicherungsforschung wieder zu beenden und mit der Internationalen Atomenergiebehörde umfassend zusammen zu arbeiten. Aussagen darüber, was passiert, wenn die Iraner dieser Forderung nicht nachkommen, machte der Sicherheitsrat nicht. Darüber gibt es keine Einigkeit.

Bolton hat allerdings auch keinen leichten Stand. Er gilt als einer der wichtigsten Architekten der US-Begründung für den Krieg gegen den Irak. Er bog die Fakten in Sachen Irak so zurecht, wie es ihm gerade passte. Jeder traut ihm zu, dass er in Sachen Iran genauso vorgeht.

Bolton verkörpert damit jenes Dilemma, in das sich die Regierung Bush selbst gebracht hat: Sie führt einen weltweiten »Krieg gegen den Terrorismus«, in der moslemischen Welt aber wächst der Eindruck, in Wirklichkeit gehe es um einen Kreuzzug gegen den Islam. Sie marschierte in Bagdad ein und konnte die »Kriegsgründe« nicht belegen. An die Stelle einer brutalen Diktatur traten nicht Demokratie, Rechtssicherheit und Menschenrechte, sondern alltägliche Gewalt und Unsicherheit. Statt Stabilität entstanden Freiräume für militante und terroristische Gruppen. Die US-Armee ist für Folterexzesse verantwortlich, die es auf Jahre jedem amerikanischen Präsidenten unmöglich machen müssen, glaubwürdig von Menschenrechten und Demokratisierung zu reden.

Und nun also dasselbe Spiel noch einmal? Nur im Iran?

George W. Bush und seine Regierung haben derzeit allen Grund, vorsichtig zu agieren. Und tatsächlich deutet einiges darauf hin, dass die Parole in Sachen Krieg gegen den Iran »derzeit noch nicht« heißt. Ein übereilter Militärschlag ist von der Sache her für die US-Regierung nicht nötig und hinsichtlich seiner Auswirkungen momentan unkalkulierbar.

Der Iran liefert den USA international Pluspunkte auf dem Silbertablett. Er attackiert Israel und verteidigt ein wirtschaftlich zweifelhaftes Atomprogramm. Er verwickelt sich in Streit mit seinen europäischen und russischen Verhandlungspartnern und strapaziert deren Geduld.

Der Iran ist für George W. Bush ein dankbarer Gegner. Den diplomatischen Konflikt mit dem Iran zu eskalieren, bringt Vorteile: Da der Streit in den Sicherheitsrat eingebracht wurde, kann Washington nun mit seinem Veto verhindern, dass er für beendet erklärt wird. Wenn es Bush gelänge, den Iran unter internationale Sanktionen zu stellen, dann hätte er mehr erreicht als all seine Vorgänger. Washington geht es nicht vorrangig um das iranische Atomprogramm oder um eine iranische Unterstützung des irakischen Widerstandes sowie von Terrorgruppen, die USA wollen einen Regierungswechsel im Iran. Der Streit um das iranische Atomprogramm ist dafür ein gutes Vehikel. Im Iran ist das Atomprogramm zu einem Symbol dafür geworden, nationalen Stolz zu demonstrieren. Washington muss nur noch überzogene Forderungen stellen und mögliche Kompromisse ablehnen, damit auch der Iran sich kompromisslos zeigt. Washington braucht derzeit keine Kompromisse, sondern den Streit, um seinem Ziel einer Ablösung der Ajatollahs näher zu kommen. Eine Eskalation des Konfliktes schließt aber immer auch perspektivisch die Gefahr des Krieges ein. So zitiert Seymor Hersh im »New Yorker« (08.04.06) einen hohen Berater im US- Verteidigungsministerium: „Das Weiße Haus glaubt, dass der einzige Weg zur Lösung des Problems darin bestehe, die Machtstruktur im Iran zu ändern – und das bedeutet Krieg.“

Gefahr verschärfend kommt hinzu: Die USA sind nicht nur treibende Kraft der Eskalation, sie sind auch getriebene Supermacht. Israel droht damit, im Alleingang militärisch gegen den Iran vorzugehen. Die Israelis beharren darauf, dass schnell gehandelt werden muss, sonst könne Teheran schon bald der Weg zur Bombe nicht mehr verwehrt werden.

Sollte Israel aber den Iran angreifen, dann würde Washington politisch in der islamischen Welt mitverantwortlich gemacht. Da bleiben Bush nur zwei Alternativen: Druck auf Israel oder Aufbau glaubwürdiger militärischer Handlungsoptionen und die Betonung des Willens zu militärischem Handeln. Die Bush-Administration präferiert offensichtlich die zweite Variante, und in Israel weiß man, dass diese israelfreundliche US-Regierung nur noch bis 2008 im Amt sein wird. Beides prägt nicht nur die Bedrohungsanalyse, sondern auch die Zeitpläne.

Otfried Nassauer leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit, BITS (www.bits.de)

Eine Kriegserklärung: John Bolton und die UNO

Eine Kriegserklärung: John Bolton und die UNO

von Phyllis Bennis

Die Bush-Administration hat der Welt den Krieg erklärt. Die von Washington geforderten 750 Änderungen am Aktionsprogramm für das Treffen der Vereinten Nationen im September 2005 haben allesamt nichts mit einer UN-Reform, der Stärkung der Vereinten Nationen oder internationalem Recht zu tun. Der Gipfel sollte das Augenmerk auf die Stärkung und Reformierung der UN sowie Themen wie Entwicklungshilfe – mit einer besonderen Betonung auf der Umsetzung der fünf Jahre alten UN-Milleniumsziele (Millenium Development Goals, MDGs) – legen. Die Meisten erwarteten ein Forum, das, unter Beteiligung von Aktivisten der Zivilgesellschaft aus allen Teilen der Welt, die Regierungen des verarmten Südens und des reichen Nordens, ebenso wie die Vereinten Nationen selbst, dazu auffordert, eine brauchbare globale Kampagne gegen Armut und für Internationalismus auf die Beine zu stellen. Dann aber gab es eine andere, viel größere Herausforderung: Die Aussagen von John Bolton, Präsident George W. Bushs heftig umstrittenem aber dennoch neu ernanntem UN-Botschafter. Sie sind eine Demonstration des US-Unilateralismus, kompromisslos und vormachtheischend. Die Vereinigten Staaten haben damit eine offene Drohung gegenüber den 190 anderen UN-Mitgliedstaaten, den sozialen Bewegungen und den Menschen der ganzen Welt sowie der UNO selber ausgesprochen.

Das nach neun Verhandlungsmonaten im Vorfeld des Gipfels vorgeschlagene Reformpaket der Generalversammlung beginnt mit neuen Verpflichtungen, die Milleniumsziele umzusetzen, die im Jahr 2000 als eine Reihe internationaler Verbindlichkeiten etabliert wurden, mit dem Ziel die Armut bis 2015 zu reduzieren. Sie waren schon immer unzureichend, aber so dünn sie auch sind, sie müssen dennoch umgesetzt werden. Der 2005er „Millenium plus fünf Gipfel“ wollte auf die nicht erfüllten Verbindlichkeiten für diese Ziele aufmerksam machen. In seinen Reformvorschlägen vom März 2005 forderte UN-Generalsekretär Kofi Annan die Regierungen im Norden und Süden dazu auf, die Implementierung der MDGs als Mindestanforderung zu betrachten. Ohne wenigstens dieses geringe Maß an Armutsminderung, sagte er, könnten Konflikte innerhalb und zwischen Staaten so weit außer Kontrolle geraten, dass selbst eine gestärkte und reformierte künftige UN nicht in der Lage wäre, die Gefahren für den internationalen Frieden und die Sicherheit zu beherrschen.

Als John Bolton die Vorschläge der Vereinigten Staaten ankündigte, lag es nahe anzunehmen, er sei schlicht Amok gelaufen. Schließlich stellte Bolton, ein langjähriger Feind der UN, fest: „Es gibt keine Vereinten Nationen.“ Im Wall Street Journal schrieb er, die USA hätten keine gesetzliche Verpflichtung, internationale Verträge einzuhalten, selbst wenn diese unterzeichnet und ratifiziert wurden. Somit war es wenig verwunderlich, dass Bolton drei Wochen vor dem Gipfel mit einem Paket aufkreuzte, das 750 Änderungen in dem Dokument forderte, das fast ein Jahr lang sorgfältig ausgehandelt worden war.

Tatsächlich geht es hierbei aber nicht nur um Bolton. Diese Position wurde in einem „sorgfältigen zwischenbehördlichen Prozess“ überprüft und genehmigt, wie die US-Mission bei der UN prahlt, was soviel bedeutet wie, dass das Weiße Haus, das Außenministerium, das Pentagon und viele andere Agenturen sie durchgewunken haben. Es handelt sich also um ein eindeutiges Statement der offiziellen US-Politik – und nicht um die Wunschliste einiger marginalisierter extremistischer Fraktionen von Ideologen, die bald von den federführenden Realisten in ihre Schranken verwiesen werden. Diesmal waren die Extremisten federführend.

Die Geschichte der Quertreiberei

Dieser jüngste US-Anschlag gegen die UN steht in einer unrühmlichen Tradition. Es ist nicht das erste Mal, dass die USA eine groß angelegte Attacke auf die Vereinten Nationen starten. Von den Nachkriegsanfängen 1945, als die Vorläufer der CIA die Büros und Hotelräume aller 50 Delegationen während der UN-Gründungsversammlung in San Fransisco verwanzten, über die Gewährung des Vetorechts für die wenigen Auserkorenen im Sicherheitsrat und die Marginalisierung der UNO während des gesamten Kalten Krieges, bis hin zur unter Reagan begonnen und von da ab ständigen Gewohnheit, der globalen Organisation die US-Gebühren vorzuenthalten. Die Geschichte der Beziehungen zwischen den USA und der UN ist eine Geschichte der Dominanz und – zumindest in einigen Fällen – eine des Widerstands.

Nachdem die US-Delegation eine führende Rolle bei der Schaffung der Vereinten Nationen gespielt hatte, gab es in ihr immer zwei Strömungen. Auf der einen Seite gab es innerhalb des US-Teams brillante Internationalisten, die sich der Errichtung einer wirklich globalen Organisation verpflichtet fühlten, die die »Plage des Krieges beenden« und weltweit Menschenrechte und Freiheiten stärken wollten. Aber die meisten von ihnen bekleideten innerhalb der offiziellen Delegation unwichtige Posten oder wurden, wie Eleanor Roosevelt, vollständig in das parallele Zivilgesellschaftsteam verbannt, das neben, nicht innerhalb der offiziellen Delegation des Außenministeriums arbeitete. Die gleichzeitig kollaborative und konfrontative Beziehung zwischen diesen beiden Flügeln spiegelte die zwei Strömungen wider, die bald innerhalb der im Entstehen begriffenen Vereinten Nationen zu Tage traten: der permanente Konflikt zwischen Macht und Demokratie.

Während des Kalten Krieges blieben die UN weitestgehend paralysiert. Die US-amerikanisch-sowjetischen Spannungen und die Machtpolitik der Noch-Kolonialmächte verhinderten eine wichtige Rolle der UN bei der Eindämmung der ersten heißen Kriege im Zeitalter des Kalten Krieges, einschließlich der beiden indochinesischen Kriege. 1950 zwangen die USA die Vereinten Nationen auf ihre Seite, sie erreichten die Billigung des Korea-Krieges, schufen damit aber gleichzeitig einen Präzedenzfall, dem Vormachtstreben der USA und der anderen Großmächte etwas entgegenzusetzen.

Der unter dem Namen »Uniting for Peace«-Resolution bekannte Präzedenzfall fiel in die Zeit unmittelbar nach der chinesischen Revolution 1949, in der der Volksrepublik der Sitz Chinas im UN-Sicherheitsrat verwehrt wurde. Den besetzte die zu dieser Zeit besiegte nationalistische Exilregierung in Taiwan. Aus Protest dagegen, dass China sein rechtmäßiger Sitz verweigert wurde, boykottierte die Sowjetunion die Treffen des Sicherheitsrates. Die USA ergriffen die Gelegenheit, an die immer noch kleine, den weithin kolonisierten Teil der Welt nicht repräsentierende und von den USA dominierte Generalversammlung heranzutreten, um eine Resolution zu verabschieden, die den Krieg gegen Korea autorisierte. Die UN-Charta sah vor, dass eine Entscheidung bezüglich Krieg oder Frieden ausschließlich Sache des Sicherheitsrates war. Aber die Vereinigten Staaten zwangen der Versammlung, die erst im Zuge der Dekolonisierung zu einem demokratischen Element des UN-Systems wurde, ihren Willen mit dem Argument auf, dass angesichts eines handlungsunfähigen Sicherheitsrates die Versammlung einspringen müsse. Und tatsächlich, als die USA und einige wenige alliierte Truppen in Korea einmarschierten, trugen sie die blauen Helme der Vereinten Nationen.

Ironischerweise wird der »United for Peace«- Präzedenzfall, der die UN in den Krieg gegen Korea führte, heute immer wieder herangezogen, um innerhalb der UN-Mechanismen die US-amerikanische Vorherrschaft in anderen Bereichen in Frage zu stellen. Die Palästinenser waren dabei vielleicht am kreativsten, indem sie sich auf diesen Präzedenzfall beriefen, um eine Reihe von Sondersitzungen der Generalversammlung durchzusetzen, mit dem Ziel, Israels illegale Siedlungspolitik anzugreifen, als Washingtons Veto es dem Sicherheitsrat unmöglich machte, etwas zu unternehmen.

Während der 1990er, in der Zeit vorwiegend US-geführter »UN-Interventionen« nach dem Kalten Krieg, versteckte sich Washingtons Instrumentalisierung der Vereinten Nationen natürlich hinter der freundlichen Sprache von Bill Clintons Politik eines »durchsetzungsfähigen Multilateralismus«. Es gab aber Momente, in denen klar wurde, dass die angebliche US-amerikanische Unterstützung der Vereinten Nationen während dieser Jahre kein wirklicher Beweis für Washingtons Unterstützung des Multilateralismus und der Teilung globaler Ressourcen und Macht darstellte. Im Mai 1995 beispielsweise teilte die damalige UN-Botschafterin und spätere US-Außenministerin, Madeleine Albright, einer Gruppe Zeitungsjournalisten in Washington mit, dass „die UN ein Werkzeug amerikanischer Außenpolitik ist.“

Bushs Anschlag auf die UN

Diese ständige Demonstration US-amerikanischer Vorherrschaft, die manche als eine Art »intelligenten Imperialismus« bezeichnet haben, ist jedoch nichts im Vergleich zu der von Bush junior 2001 gestarteten unilateralistischen Offensive. Schon vor den Attacken des 11. September dieses Jahres startete das Weiße Haus in den ersten Monaten unter Georg W. Bush eine beispiellose Eskalation der Angriffe gegen internationale Organisationen und internationales Recht. Weltweit waren viele Menschen und Regierungen in Sorge angesichts der Aussicht, dass George W. Bush, der für seine Geringschätzung anderer Länder bekannt war, Präsident werden würde. Er war ein Mann, der trotz seiner wohlhabenden und privilegierten Kindheit so gut wie nie im Ausland war (die einzige Ausnahme war ein kurzer Besuch in China, während sein Vater dort Botschafter war, und ein kurzer Abstecher über die texanische Grenze nach Mexiko). Bevor jedoch die Anschläge des 11. September diplomatische Widerstände zum Erliegen brachten, hatten Regierungen rund um die Welt begonnen, sich gegen die Vorherrschaftspläne der USA zu wehren und die UN war hier einer der wichtigsten Schauplätze:

  • Im Mai 2001 lehnten es die Mitglieder der Gruppe der »Westeuropäischen und anderen Staaten« (WEOG) in der UN ab, die traditionelle US-Kandidatur für die Menschenrechtskommission zu unterstützen und ersetzten die USA durch Schweden.
  • Die USA verloren ihren Sitz in der UN-Agenda zur Drogenpolitik.
  • Im August scheiterte das US-amerikanische Vorhaben, internationale Unterstützung für den Versuch zu erhalten, die Durban-Konferenz gegen Rassismus zu ruinieren.

Der im Entstehen begriffene Widerstand brach zusammen, als nach dem 11. September die internationale Anteilnahme einsetzte. Aber mit der Vorbereitung des Krieges gegen den Irak schloss sich die UN, dieses Mal sogar weit intensiver, einer sich formierenden massiven globalen Mobilisierung an, um den US-Kriegszug zu stoppen. Diese Zeit der Herausforderung war kurz – sie dauerte nur bis Mai 2003, als die UN unter dem US-amerikanischen Druck kollabierte und einer Resolution zustimmte, die die USA und Großbritannien als Besatzungsmächte im Irak »anerkennt«. Trotzdem ist es wichtig, sich an diese Anti-Kriegs-Bemühungen zu erinnern, wenn man die jüngsten US-Bemühungen sieht, mit denen die UN-Armutsbekämpfungs- und Reformanstrengungen unterminiert werden sollen.

Das amerikanische Vorschlagspaket ist darauf ausgelegt, die Welt dazu zu nötigen, die US-Strategie als ihre eigene zu akzeptieren, verarmte Staaten und Menschen im Stich zu lassen, internationales Recht abzulehnen, rücksichtslose Marktkräfte gegenüber jeglicher Regulierung zu bevorzugen, die Rolle internationaler Institutionen außer IWF, Weltbank und WTO zu minimieren und die UN selbst, möglicherweise tödlich, zu schwächen.

Die systematische Streichung aller 35 speziellen Bezüge auf die Milleniumsziele bildet den Anfang. Jeder Hinweis auf konkrete Auflagen für die Umsetzung der Verpflichtungen wurde gelöscht. Das Planziel von 0.7% des Bruttosozialprodukts der reichen Länder für Entwicklungshilfe – gestrichen. Größere Unterstützung für die Landwirtschaft und Chancengleichheit beim Handel für die ärmeren Länder – gestrichen. Hilfe für die ärmsten Staaten, insbesondere jene in Afrika, die mit den Auswirkungen des Klimawandels zu kämpfen haben – gestrichen.

Die Vorschläge gefährden Verträge, die die USA bereits unterzeichnet haben, wie z.B. den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NPT). Der Gipfelentwurf der UN bezog sich auf die „drei Säulen [des NPT]: Abrüstung, Nichtverbreitung und die friedliche Nutzung der Atomenergie.“ Das bedeutet, dass Staaten ohne Atomwaffen zustimmen, nie welche zu bauen und zu beschaffen, ihnen aber im Gegenzug das Recht garantiert wird, Atomenergie für friedliche Zwecke zu nutzen. Als Gegenleistung verpflichteten sich die anerkannten Atommächte – die USA, Großbritannien, Frankreich, China und Russland – im Artikel VI des NPT, sich in Richtung „atomarer Abrüstung mit dem Ziel, all diese Waffen zu eliminieren“, zu bewegen. Die amerikanischen Änderungsvorschläge strichen alle Bezüge auf die drei Säulen und auf Artikel VI.

Die Aussage, dass „der Einsatz von Gewalt als ein letztes Mittel betrachtet werden soll“, wurde von den USA gestrichen. Angesichts des »interveniere zuerst und such dir deine Rechtfertigung später«-Ansatzes zur Krisenbewältigung der Bush-Administration war dies ebenfalls nicht überraschend.

Durch das ganze Dokument hinweg forderten die USA Änderungen, die universelle und bindende Rechte und Verpflichtungen neu definieren. In der deutlichsten Bezugnahme auf den Irak und Palästina engte Washington die Definition des »Selbstbestimmungsrechts der Völker« ein, indem diejenigen, die sich „unter Kolonialherrschaft und ausländischer Besatzung befinden“, ausgenommen werden.

Ein Großteil der amerikanischen Bemühungen zielt darauf ab, die Macht der UN zugunsten absoluter nationaler Souveränität zu untergraben – was aus Sicht Washingtons soviel wie uneingeschränkter Unilateralismus bedeutet. Bezüglich der Migration bezog sich beispielsweise die ursprüngliche Aussage auf die Verbesserung internationaler Kooperation, die Verknüpfung von Wanderarbeiterthemen mit Entwicklung und den Menschenrechten von Migranten. Die USA wollen das alles verschrotten und durch „das souveräne Recht der Staaten, ihre Migrationspolitiken zu gestalten und durchzusetzen“, ersetzen, wobei internationale Kooperation lediglich nationale Gesetze unterstützen soll. Menschenrechte wurden vollständig gestrichen.

In dem Abschnitt des Dokuments über die Stärkung der Vereinten Nationen löschten die USA alle Erwähnungen einer Erweiterung der Autorität der UN und konzentrierten sich stattdessen ausschließlich auf ihre Effizienz. Hinsichtlich der Generalversammlung, des demokratischsten Organs des UN-Systems, strichen die USA die Bezüge auf die Zentralität der Versammlung, ihre Funktion bei der Kodifizierung internationalen Rechts und schlussendlich ihre Autorität. Damit würde die Vollversammlung zu einer zahnlosen Quasselbude degradiert. Sie strichen selbst Bezüge auf die Rolle der Versammlung bei Washingtons eigenem Lieblingsprojekt, der Beaufsichtigung des UN-Sekretariats. Damit würde der US-amerikanisch dominierte und undemokratische Sicherheitsrat zusammen mit den Vereinigten Staaten selbst (in der Person eines Beamten des Außenministeriums, der vor kurzem zum Leiter des Managements in Kofi Annans Büro ernannt wurde) zum Wachhund.

Der Herausforderung begegnen

Die Bush-Administration geht davon aus, die Vereinten Nationen vor eine klare Wahl gestellt zu haben: Übernahme der US-amerikanischen Änderungen und Billigung der Tatsache, ein Anhängsel Washingtons und ein Werkzeug des Imperiums zu werden oder deren Ablehnung und damit Abstieg in die Bedeutungslosigkeit.

Aber die Vereinten Nationen könnten eine dritte Option wählen. Sie sollten nicht vergessen, dass sie selber einige Erfahrung im Umgang mit US-amerikanischen Drohungen haben. Präsident George W. Bush stellte die UN im September 2002 vor dieselben zwei Wahlmöglichkeiten, als er dem globalen Gremium mit »Irrelevanz« drohte, falls die UN seine Kriegserklärung gegen den Irak nicht übernahm. Doch die UN ergriff die dritte Option – sie besann sich auf ihre Charta und schloss sich weltweit mit den Menschen und Regierungen zusammen, die „Nein“ zum Krieg sagten. Es waren nicht nur die mächtigen Staaten wie Deutschland, Frankreich und Russland, die gegen den Krieg waren, der Widerstand erfasste auch kleine, schwache und verarmte Staaten, die früher sehr oft vor amerikanischen Drohungen eingeknickt waren, angesichts der Gefahr, dringend benötigte Hilfe, Handelsmöglichkeiten oder diplomatische Unterstützung zu verlieren. Die »Unentschlossenen Sechs« im Sicherheitsrat – Angola, Kamerun, Chile, Guinea, Mexiko, Pakistan – trotzten dem amerikanischen Druck, und der Sicherheitsrat, wie auch die UN als Ganzes, weigerte sich, klein bei zu geben. Es war der Beginn von acht Monaten des Triumphes, in denen Regierungen und Menschen sowie die UN zusammen standen, um sich dem amerikanischen Streben nach Krieg und Imperium entgegenzustellen. Dabei schufen sie das, was die New York Times „die zweite Supermacht“ nannte.

Damals wie heute haben die USA den Vereinten Nationen und der Welt Krieg angedroht und erklärt. Wie damals ist es Zeit aufzustehen, um die UN zu verteidigen und „Nein“ zum Imperium zu sagen.

Phyllis Bennis ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for Policy Studies in Washington DC und Autorin des Buches Challenging Empire: How People, Governments and the UN Defy U.S. Power (Interlink Publishing, October 2005). Der Artikel von P. B. wurde am 1. September 2005, also zwei Wochen vor dem Milleniumsgipfel, abgeschlossen. Übersetzung aus dem Englischen: Brigitte Keinath