Rüstungsindustrie und Hegemonie

Rüstungsindustrie und Hegemonie

von Michael Hennes

Die internationale Politik zu Beginn des 21.Jahrhunderts vollzieht sich im Rahmen einer Hegemonialordnung, bestimmt von den Vereinigten Staaten als einzig verbliebener Supermacht der Welt. Mit der Wiederwahl von US-Präsident George W. Bush hat die Mehrheit der amerikanischen Wähler der unilateralen Interessenpolitik ihres Präsidenten die Absolution erteilt. Die hegemoniale Machtpolitik der USA folgt den Interessen und Stimmungen einer neokonservativen Mehrheit im Land. Zu den diskreten Nutznießern dieser Politik zählt ein Militärisch-Industrieller Komplex, vor dem bereits 1961 der scheidende US-Präsident Dwight D. Eisenhower gewarnt hat.1

Laut Harry S. Truman waren die Repulikaner schon immer „die Partei der großen Wirtschaftsinteressen.“ 2 Doch überdeckt von den Feindbild-Fixierungen des Kalten Krieges wurde die industriepolitische Dimension der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik weithin übersehen. Wäre die Bipolarität das alles bestimmende Kennzeichen der internationalen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, hätte der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und der Sowjetunion zu einer nachhaltigen Absenkung der Militärausgaben führen müssen. Tatsächlich gelang dies der Clinton-Administration nur über wenige Jahre hinweg.

Die Bush-Administration vertrat umgehend nach ihrem Amtsantritt und noch vor den Terroranschlägen des 11. September 2001 die Geschäftsinteressen der amerikanischen Luft- und Raumfahrtindustrie, die ein zentrales Element der amerikanischen Hegemonie seit dem Zweiten Weltkrieg bildet. Mit den Rüstungsaufträgen des Weltkriegs wurde die amerikanische Luftfahrtindustrie zum größten Industriezweig des Landes.3 Zugleich zeigte der Weltkrieg ganz im Sinne von Keynes, dass sich mit einer Steigerung der Staatsausgaben das Wirtschaftswachstum der USA antreiben ließ. Im Korea-Krieg wurden die Verteidigungsausgaben von der Truman-Administration gezielt als Instrument des »deficit spending« eingesetzt.4 Durch die Demobilisierung nach dem Weltkrieg war die Luftfahrtindustrie allerdings zunächst in große Auftragsprobleme geraten. Während sie 1944 noch 96.000 Flugzeuge hergestellt hatte, sank die Produktion bis 1947 auf 1.800 Maschinen ab5, obschon noch 1948 rund 90 Prozent ihrer Aufträge militärischer Natur waren.6 Die Unternehmen starteten eine öffentliche Kampagne und Präsident Truman beantragte für 1949 deutliche Haushaltssteigerungen für die militärische Luftfahrt.7 Der Korea-Krieg trieb die Militärausgaben auf breiter Front in die Höhe und löste den »Korea-Boom« aus, ehe die Sparpolitik des republikanischen Präsidenten Eisenhower das Land 1954 in eine neue Rezession führte.8

Eisenhower war der letzte US-Präsident vor Bill Clinton, der das nominale Wachstum der US-Militärausgaben nachhaltig eindämmen konnte. Seit der Ära Kennedy stiegen die Militärausgaben kontinuierlich an, in der Ära Reagan gingen sie in ein rasantes Wachstum über. Rechnet man die Preissteigerungen heraus, ergibt sich ein aufschlussreiches Bild: Real stiegen die US-Militärausgaben nur mit dem Zweiten Weltkrieg, dem Korea-Boom, dem Vietnam-Krieg und in der Ära Reagan deutlich an, anschließend führten die US-Regierungen das Militärbudget wieder ungefähr auf das jeweils vor diesen Wachstumsschüben erreichte reale Ausgabenniveau zurück (vgl. Schaubild, S. 21). Alleine unter den Präsidenten Ronald Reagan ab 1981 und unter George W. Bush ab 2001 konnte das Pentagon und die Rüstungsindustrie ein reales Wachstum der Militärausgaben auch ohne bzw. vor aktuellen Kriegsanstrengungen durchsetzen.

Der Rüstungsboom des George W. Bush

Der wichtigste Indikator für die Bedeutung des Militärisch-Industriellen-Komplexes ist die Entwicklung von staatlichen Forschungs- und Beschaffungsausgaben, die im Gegensatz zu den Personal-, Verwaltungs- und Betriebskosten direkt in die Kassen der amerikanischen Rüstungsindustrie fließen. Auf Grund eines kontinuierlichen, preisbedingten Anstiegs der Betriebskosten und des tariflich bedingten Anstiegs der Personalkosten sinkt in Zeiten stagnierender Verteidigungsausgaben der Anteil der Rüstungsaufträge am Militärhaushalt kontinuierlich ab. Möglich waren Steigerungen der Rüstungsaufträge in den USA seit 1945 also nur durch eine Aufblähung des gesamten Pentagon-Etats. Vor der Ära Reagan gelang dies nur unter dem Druck der Kriege in Korea und Vietnam. Clinton nutzte das Ende des Kalten Kriegs in seinen ersten Amtsjahren für eine Friedensdividende. In der Ära Bush stiegen die Pentagon-Ausgaben für Beschaffung, Forschung und Entwicklung von 95,4 Mrd. Dollar im Haushaltsjahr 2001 auf 138,3 Mrd. Dollar im Haushaltsjahr 2004, also um nominal durchschnittlich 13 Prozent pro Jahr, an.9 Der Rüstungsboom begann unmittelbar nach dem Amtsantritt im Januar 2001.

Die Rüstungsunternehmen waren vital an Ausgabensteigerungen interessiert. Finanziert wird der amerikanische Rüstungsboom seit dem Haushaltsjahr 1999 durch wachsende Defizite im Bundeshaushalt. Zentraler Nutznießer dieser republikanischen Variante eines »deficit spending« ist das Oligopol der amerikanischen Rüstungsindustrie, die im bevölkerungsreichsten Bundesstaat der USA, in Kalifornien, sogar zum größten Industriezweig geworden ist. Der Militärisch-Industrielle-Komplex der USA ist heute eine durch finanzielle Interessen und langjährige Personalunion geschmiedete Verbindung aus den Spitzen der Verteidigungsbürokratie, aus zahlreichen Abgeordneten im US-Kongress mit den Führungsetagen der Rüstungsindustrie, die in den Vereinigten Staaten den Kern der Luft- und Raumfahrtindustrie mit 800.000 gut- bis hochbezahlten Mitarbeitern bildet.10 Das Pentagon kauft etwa ein Drittel aller Produkte dieser Branche, wodurch das seit dem 11. September 2001 in vielen Betrieben defizitäre Geschäft mit der zivilen Luftfahrt aufgefangen wird. Das zentrale Problem der amerikanischen Luft- und Raumfahrtindustrie ist ihre wachsende Konkurrenz aus Europa, die zu einem starken Verlust an Weltmarktanteilen im zivilen Flugzeuggeschäft geführt hat.11 Die Kompensation floss seit dem Amtsantritt von Bush aus den Kassen des Pentagon: Die Ausgaben des US-Verteidigungshaushaltes für Beschaffung, Forschung und Entwicklung liegen seit dem Haushaltsjahr 2002 im dreistelligen Milliardenbereich und erreichten im Jahr 2004 ein Volumen von 138 Mrd. Dollar.12 Der Rüstungsboom unter George W. Bush wurde bereits im November 1994, als die Halbzeitwahlen im US-Kongress zu republikanischen Mehrheiten in beiden Häusern des Kongresses führten, eingeleitet.13 Im Wahlkampf hatten die Republikaner explizit gefordert, dass die Verteidigungsausgaben wieder erhöht werden müssten.14

Heute verfügt der Militärisch-Industrielle Komplex über hochrangige Interessenvertreter in der US-Regierung. So wählte der Präsidentschaftskandidat Bush im Frühjahr 2000 den ehemaligen Verteidigungsminister seines Vaters, Richard B. Cheney, zum »running mate«. Mit der Nominierung des Halliburton-Präsidenten war die Aussicht auf ein Aufrüstungsprogramm verbunden: 1997 hatte sich Cheney mit anderen Neokonservativen der Reagan-Ära in einem Think Tank zusammengeschlossen, dem »Project for the New American Century«. Die Gründungserklärung am 3. Juni 1997 unterschrieben unter anderem Donald Rumsfeld und Paul Wolfowitz. Das neokonservative Projekt verkündete, dass die Vereinigten Staaten ihr Militärbudget wieder erhöhen müssten, um auch im 21. Jahrhundert die amerikanischen Interessen in der Welt wirksam sichern zu können.15 Die republikanische Botschaft wurde in der Rüstungsindustrie aufmerksam registriert. Nach den Fusionen der 1990er Jahre besteht die Branche im Kern aus nur noch fünf Großunternehmen: Lockheed-Martin, Boeing, Northrop-Grumman, Raytheon und General Dynamics. Der Vorstandsvorsitzende von General Dynamics, Nicholas D. Chabraja, warf der Clinton-Administration im Oktober 1999 ganz gegen die Gepflogenheiten der verschwiegenen Branche öffentlich vor, mit ihren Haushaltseinsparungen die nationale Sicherheit gefährdet zu haben.16 Für die von einem republikanisch beherrschten Kongress herbeigezwungene Trendwende fand Chabraja Worte des Lobes: „Der Verteidigungshaushalt, der letzte Woche unterzeichnet wurde, beginnt einige dieser Probleme anzugehen. Er beginnt, einen 13 Jahre langen Niedergang der Beschaffungsausgaben zu revidieren – und er erneuert die Verpflichtung der Nation, unseren Kriegern die Waffen zu geben, die sie brauchen. Es ist nur ein Anfang. Aber es ist eine Verpflichtung, die unsere Unterstützung verdient. Nicht nur in diesem Jahr – sondern im nächsten Jahr und in allen weiteren Jahren vor uns.“17

Seither steigen die Rüstungsaufträge stärker als die Inflationsrate an. Mit dem Amtsantritt der Bush-Administration begann ein neuer Rüstungsboom. Donald H. Rumsfeld, der sich nach dem Irak-Krieg deutlich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat, zeichnet als Verteidigungsminister alle Rüstungsprojekte ab und schleust sie mit einem engen Kreis von Mitarbeitern durch den Kongress. Die interne Planung und Budgetierung der Programme vollzieht sich im Verborgenen, denn die Details militärischer Projekte stehen bis zur Einführung der Waffensysteme unter Geheimhaltung. Der Rüstungsboom erhielt nach dem 11. September 2001 den »Krieg gegen den Terror« als programmatische Klammer. Doch schon unmittelbar nach seinem Amtsantritt erteilte Präsident Bush dem neuen Verteidigungsminister Rumsfeld den Auftrag, die amerikanischen Streitkräfte auf die neuen Bedrohungen des 21.Jahrhunderts vorzubereiten: „Sie reichen von Terroristen, die mit Bomben drohen, bis hin zu Tyrannen in Schurkenstaaten, welche die Absicht haben, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln.“18 Als militärische Supermacht sind die USA allen Staaten der Welt weit überlegen. Gegen terroristische Angriffe gibt es keine wirklich geeigneten Abwehrwaffen, solange Terroristen nicht den Fehler begehen, eine offene Feldschlacht mit den US-Streitkräften zu suchen. Terrornetzwerke wie El-Kaida nutzen die Möglichkeiten offener Grenzen und tauchen in der zivilen Gesellschaft unter, wie der 11.September 2001 schlagartig verdeutlichte. Für den Rüstungsboom der Bush-Administration gab es keine rationale sicherheitspolitische Begründung. Die groß angelegten Aufrüstungsprogramme sollten vielmehr das amerikanische Machtprestige in der Welt stärken und die nationale Luft- und Raumfahrtindustrie subventionieren.

Die Rüstungsindustrie in der Ära Bush

Verteidigungsminister Rumsfeld verstand sich von der ersten Stunde an als ein Modernisierer, der das Pentagon im Dienste des Hochtechnologiesektors umbauen sollte. Der Minister finanziert seither die Digitalisierung der US-Streitkräfte auf allen Ebenen, womit jedes Jahr Milliardenaufträge an amerikanische Zuliefererbetriebe in der Elektroindustrie und der Softwarebranche fließen. Die Hauptnutznießer sind die fünf Großunternehmen der Rüstungsindustrie:

Der in Bethesda/Maryland beheimatete Rüstungskonzern Lockheed-Martin ist der größte Rüstungshersteller der Welt und erzielt mit 130.000 Mitarbeitern19 über 90 Prozent seines Umsatzes (Geschäftsjahr 2003: 31,8 Mrd. Dollar) aus dem Verkauf militärischer Güter.20 Die wichtigsten Geschäftsfelder sind Kampfflugzeuge (F-16/22), militärische Transportflugzeuge (C-130), Satellitentransporte, Lenkwaffen und Verteidigungselektronik. Von den rückläufigen Beschaffungsaufträgen der Ära Clinton wurde das Unternehmen stark getroffen. In den Geschäftsjahren 1997 bis 2001 brach der Umsatz um 14,5 Prozent ein; durch den Rüstungsboom der Bush-Jahre kletterten die Umsätze in nur zwei Jahren wieder um 32,7 Prozent nach oben.21 Das Jahr des Irak-Kriegs schlug sich äußerst positiv in den Auftragsbüchern nieder, alleine 2003 zog der Umsatz um 19,7 Prozent an. Die Ertragsentwicklung des Unternehmens stellt sich bei Umsatzrenditen von 8,6 Prozent (Cash-Flow 2002) und 6,3 Prozent (Bilanzgewinn 2003) für die Verhältnisse eines Großunternehmens sehr positiv dar.22

Persönliche Verbindungen bis hinein in höchste Regierungskreise sichern den Geldfluss. Die Ehefrau des heutigen Vizepräsidenten der USA, Lynne Cheney, wurde 1994 in den Aufsichtsrat von Lockheed-Martin berufen. Als Cheney im Januar 2001 Vizepräsident wurde, legte seine Ehefrau ihr Mandat im obersten Aufsichtsorgan des Konzerns zwar nieder; bis dahin hatte sie allerdings durch Unternehmensaktien und Tantiemen über 500.000 Dollar verdient.23 Lockheed-Martin sichert seinen Einfluss nach wie vor auch durch direkte persönliche Verbindungen ab. Im Aufsichtsrat des Unternehmens sitzen z.B. der vormalige Pentagon-Staatssekretär für Rüstungsbeschaffung und ehemalige Staatssekretär der Luftwaffe, Edward C. Aldridge, sowie der frühere NATO-Oberbefehlshaber Gen. Joseph W. Ralston.

Dass amerikanische Rüstungsaufträge zu einem erheblichen Anteil den Charakter von Subventionen tragen, verdeutlicht vor allem das Beispiel Boeing. Das Weltunternehmen aus Chicago leidet seit der Jahrtausendwende unter einem rückläufigen Umsatz im zivilen Flugzeugbau, der sich mit der Krise der Luftfahrtbranche nach dem 11. September 2001 verschärft hat. Das Unternehmen konnte sich nur durch drastischen Personalabbau in den schwarzen Zahlen halten. Als Reaktion auf die Krise im zivilen Flugzeugbau wurde die Rüstungssparte stetig ausgebaut; im Geschäftsjahr 2003 erreichte der Rüstungsanteil am Konzernumsatz nach mehreren strategischen Übernahmen24 einen Wert von 54 Prozent.25 In Südkalifornien ist die Rüstungssparte von Boeing mittlerweile zum größten Arbeitgeber der Region geworden.

Alleine in den Monaten Mai bis August 2003 erteilte das Pentagon dem Luftfahrtriesen drei Multi-Milliarden-Aufträge. Durch gezielte Indiskretionen einzelner Abgeordneter im Kongress und des Wettbewerbers Lockheed-Martin wurden seither aufschlussreiche Details über den Lobbyismus des Konzerns bekannt. Im Mai 2003 beauftragte die US-Air-Force das Unternehmen, 100 Jumbos vom Typ 767 zu Tankflugzeugen umzubauen, die von der Luftwaffe über sechs Jahre geleast und anschließend gekauft werden sollten. Für das Lobbying im Weißen Haus hatte Boeing im Dezember 2001 den republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses, J. Dennis Hastert, gewonnen.26 Hastert, der für den Boeing-Heimatstaat Illinois im Kongress sitzt, soll Präsident Bush als Gegenleistung für den Auftrag zugesagt haben, die zweite Runde der Steuersenkungen im Repräsentantenhaus durchzusetzen.27 Nach Berechnungen des US-Bundesrechnungshofes war der Leasingpreis für die 100 Tankflugzeuge mit 26 Milliarden Dollar jedoch viel zu hoch angesetzt. Eine komplette Modernisierung der bestehenden Tankerflotte der Luftwaffe wäre um acht Milliarden billiger gewesen.28 Nach heftigem Widerstand im US-Kongress reduzierte Boeing den Gesamtpreis auf 21 Mrd. Dollar, wobei der Vertrag immer noch eine Gewinnspanne von bis zu 15 Prozent vorsah.29 US-Verteidigungsminister Rumsfeld schaffte es mit diesem Zugeständnis, das Projekt durch drei der vier zuständigen Ausschüsse im Kongress zu schleusen.

Im August 2003 machte die unabhängige Haushaltsbehörde des Parlaments publik, dass ein kompletter Neukauf von 100 Tankflugzeugen immer noch um 5,6 Mrd. Dollar billiger als der Leasing-Vertrag wäre.30 Einige Republikaner unter Führung des Bush-Gegenspielers John McCain probten den Aufstand. Am 4. September 2003 verweigerte der Streitkräfteausschuss des Senats die Zustimmung und beauftragte das Pentagon mit einer neuen Kostenanalyse.31 Senator McCain nutzte die Gelegenheit, um seinen Intimfeind Bush mit brisanten Details aus internen Unterlagen von Boeing in Schwierigkeiten zu bringen. Demzufolge verriet die stellvertretende Abteilungsleiterin für Rüstungsbeschaffung bei der US-Air-Force, Darleen Druyun, dem Unternehmen vertrauliche Details über die Konkurrenzangebote von Airbus. Boeing besserte das eigene Angebot nach und im Januar 2003 wechselte Darleen Druyun in das Topmanagement des Konzerns.32 McCain veröffentlichte auch Firmenkorrespondenz über Kontakte zwischen dem Boeing-Management und dem Staatssekretär der Luftwaffe, James G. Roche. Der enge Vertraute des Ministers hatte den Unterlagen zufolge versprochen, dass sich Rumsfeld persönlich für die Projektgenehmigung im Weißen Haus und im Kongress einsetzen werde.33 Am Rande des Skandals wurde zudem bekannt, dass der Flugzeughersteller und seine Angestellten während des Präsidentschaftswahlkampfs 2000 Spenden in Höhe von zwei Millionen Dollar an das Bush-Lager geleistet hatten.34

Mit den Veröffentlichungen schien das Projekt zunächst erledigt zu sein. Der Vorstandsvorsitzende von Boeing, Phil Condit, entließ Finanzvorstand Michael Sears sowie Darleen Druyun und trat später selbst zurück.35 Der Wissenschaftliche Beirat des Pentagon, das »Defense Science Board«, kam im Mai 2004 nach intensiver Analyse zu dem Ergebnis, dass es „weder überzeugendes Material noch überzeugende finanzielle Gründe“ für die neue Tankerflotte gäbe.36 Der geschäftliche Schaden für Boeing war groß, zumal der Hauptkonkurrent Lockheed-Martin im Juli 2003 einen Diebstahl interner Firmenunterlagen durch Boeing bekannt gemacht hatte. Das Pentagon sah sich daraufhin zu einer Vertragsstrafe in Höhe von einer Milliarde Dollar gezwungen.37 Trotzdem erhielt Boeing mit dem »Future Combat System« im Mai 200338 und der Entwicklung einer neuen Flugzeugbombe im August 200339 umgehend zwei neue Milliardenaufträge aus dem Verteidigungsministerium.

Ein aufschlussreiches Beispiel für die Pflege politischer Beziehungen bietet auch Northrop Grumman. Durch den Aufkauf von 16 Rüstungsfirmen zwischen 1994 und 2002 ist das Unternehmen mit Stammsitz in Los Angeles und Filialen in allen 50 Bundesstaaten der USA40 zum weltweit größten Produzenten von Verteidigungselektronik geworden.41 Das zweite Standbein des Unternehmens, das heute mindestens 55 Prozent seines Umsatzes mit Rüstungsgütern erzielt,42 ist der Schiffsbau. Northrop Grumman hat in den Geschäftsjahren 2000 bis 2003 Umsatz und Belegschaft mehr als verdreifacht.43 Der sensationelle Umsatzsprung um 52 Prozent alleine im Geschäftsjahr 2003 ist vor allem durch die bevorzugte Auftragsvergabe des Pentagon zu erklären.

Im Mai 2003 ersetzte Verteidigungsminister Rumsfeld den Staatssekretär der US-Army, Gen. Thomas White, nach wiederholten Differenzen durch den Staatssekretär der US-Luftwaffe, James G. Roche. Die Personalie Roche zeigt an herausgehobener Stelle, wie eng die Bush-Administration mit den Interessen der großen Rüstungskonzerne verflochten ist. Der heutige Staatssekretär James Roche wechselte als Marine-Kapitän 1985 zum Rüstungsproduzenten Northrop und arbeitete sich dort ins Topmanagement hoch; aus der Chefetage von Northrop Grumman berief ihn Rumsfeld 2001 direkt als Staatssekretär an die Spitze der Luftwaffe.44 Bei der US-Air-Force trieb der Experte für Verteidigungselektronik die Digitalisierung der Waffen- und Kommunikationssysteme voran. Die gleiche Aufgabe verfolgte er seit dem Mai 2003 als Staatssekretär des Heeres. Der weltweit wichtigste Produzent der neuen Verteidigungselektronik ist sein früherer Arbeitgeber, das Unternehmen Northrop Grumman.

Lediglich zwei weitere Großunternehmen komplettieren den Kern der amerikanischen Rüstungsindustrie. Raytheon in Massachusetts konzentriert sich seit dem Jahr 2000 ebenfalls immer stärker auf die Rüstungsproduktion und erreicht mittlerweile einen Rüstungsanteil am Geschäftsumsatz von mindestens 60 Prozent.45 Im Geschäftsjahr 2003 konnte das zuvor kriselnde Unternehmen ein deutliches Umsatzwachstum von 8,05 Prozent erzielen.46 Das wichtigste Produkt von Raytheon ist das Patriot-Raketenabwehrsystem. Das Unternehmen ist zugleich Hauptauftragnehmer beim NMD-Programm einer nationalen Raketenabwehr der USA (National Missile Defense). Bereits im Mai 2001 kündigte Präsident Bush den umfassenden Ausbau des Programms an. In den Fünfjahresplan 2003-2007 stellte die Administration ein Programmvolumen von 45,8 Mrd. Dollar ein, was gegenüber dem vorherigen Fünfjahresplan der Clinton-Administration eine Steigerung um 47 Prozent bedeutete.47 Bush drängte darauf, bereits im Oktober 2004 mit der Stationierung der von Raytheon entwickelten Abfangraketen in Alaska und Kalifornien zu beginnen, obschon zwischen 1999 und 2003 nur fünf von neun Testabschüssen unter vereinfachten Versuchsbedingungen stattgefunden hatten.48 Nach wie vor ist das System unausgereift und gilt der strategische Wert als äußerst zweifelhaft. Dem US-Konzern Raytheon aber bringt das Projekt Jahr für Jahr Pentagon-Aufträge in Höhe von mehreren Milliarden Dollar ein.

Seit 1997 baut General Dynamics in Falls, Virginia, seine Rüstungsproduktion kontinuierlich aus. Das Unternehmen ist auf die Herstellung von Kampffahrzeugen (z.B. Kampfpanzer M1-Abrams) und Kriegsschiffen spezialisiert. Für das Jahr 2000 wurde der Rüstungsanteil am Geschäftsumsatz auf über 60 Prozent geschätzt;49 alleine durch die Übernahme der Rüstungssparte von General Motors im Jahr 2002 stieg der Umsatz um 1,1 Mrd. Dollar50 und der Rüstungsanteil auf mindestens 70 Prozent an. Das Unternehmen steigerte im Geschäftsjahr 2003 seinen Umsatz um über 20 Prozent.51

Ein Oligopol der Aufrüstung

Die fünf Großunternehmen bilden ein Angebotsoligopol, das in direktem Zusammenspiel mit dem Nachfragemonopol des Pentagon den Wettbewerb weitgehend auszuschalten versucht. Im Geschäftsjahr 2003 erzielten die fünf Konzerne mit 542.000 Mitarbeitern mit Rüstungsgütern einen Umsatz von mindestens 93 Mrd. Dollar, was gegenüber dem Vorjahr eine Umsatzsteigerung von 19 Prozent bedeutete. Kalkuliert man mit einem Exportanteil von höchstens zehn Prozent des Geschäfts,52 ergibt sich eine aufschlussreiche Zahl: Im Haushaltsjahr 2003 flossen mindestens 70 Prozent der Beschaffungs- und Forschungsaufträge des US-Verteidigungsministeriums (121 Mrd. Dollar) in die Kassen der fünf Großunternehmen. Es handelt sich um eine gezielte Subventionierung eines Oligopols in der amerikanischen Luft- und Raumfahrtindustrie.

Die Rüstungsriesen betreiben einen massiven Lobbyismus in Washington. Sie haben ehemalige Berufsoffiziere auf ihre Lohnlisten übernommen und in die Aufsichtsräte werden regelmäßig pensionierte Generäle berufen. Die Konzerne verteilen ihre Waffenfabriken und –labors über das ganze Land und können dadurch auf die Unterstützung einer großen Zahl an Kongressabgeordneten setzen, die an die Arbeitsplätze in ihren Wahlkreisen denken müssen und auf Wahlkampfspenden hoffen. Streitkräfte, Rüstungsindustrie und ein Teil der Kongressabgeordneten leben diskret in einer Art von symbiotischer Beziehung. Der Militärisch-Industrielle Komplex ist heute ein fester Bestandteil der gesellschaftlichen Elite der USA. Hegemoniale Machtpolitik und wirtschaftliche Interessen der USA hängen bis hinein in die Mikrobeziehungen des Big Business eng zusammen. Das lässt sich nicht nur am Beispiel der Rüstungsindustrie zeigen – die Ölbranche in Kalifornien und Texas unterhält bekanntlich ähnliche Beziehungen.

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu auch Hennes, Michael (2003): Der neue Militärisch-Industrielle Komplex in den USA, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 46/03 (10.11.), S. 41-46.

2) Truman, Harry S. (1956): Memoiren, Bd. II: Jahre der Bewährung und des Hoffens (1946-1953), Stuttgart, S. 191.

3) Hooks, Gregory (1991): Forging the Military-Industrial Complex, Urbana/Chicago, S. 159.

4) Vgl. Note By the Executive Secretary to the National Security Council On the United States Objectives and Programs for National Security (NSC-68), Washington D.C., 14.4.1950. Dok. in: U.S. Department of State, 1977: Foreign Relations of the United States 1950, Bd.1, S. 282-286.

5) Yergin, Daniel (1979): Der zerbrochene Frieden, Lemgo, S. 328.

6) Ebd.

7) Ebd.: S. 328 f.

8) Van der Wee, Herman (1984): Der gebremste Wohlstand. Wiederaufbau, Wachstum und Strukturwandel der Weltwirtschaft seit 1945, München, S. 63-79.

9) Ebd.

10) Vgl. Douglas, John W.: President of the Aerospace Industries Association. Statement before the Subcommittee on Military Procurement. U.S. Congress. House Armed Services Committee, Washington D.C., 19.3.2002 (www.armedservices.house.gov), S. 1.

11) 1985 hielten US-Unternehmen noch 72 Prozent des Weltmarktes, heute nur noch 52 Prozent; vgl. ebd.

12) Ebd.

13) Czempiel, Ernst-Otto (1996): Rückkehr in die Führung: Amerikas Weltpolitik im Zeichen der konservativen Revolution. HSFK-Report 4/96, Frankfurt a.M., S. 5.

14) Ebd.: S. 7.

15) Project for the New American Century (1997): Statement of Principles, 3.6.1997 (www.newamericancentury.org).

16) Chabraja, Nicholas D. (1999): Rede vor dem Economic Club of Washington, 14.10.1999 (www.economicclub.org/pages/archive/fulltext/arch-chabraja.htm).

17) Ebd.

18) Bush, George W.: Address of the President to the Joint Session of Congress, Washington D.C., 27.02.2001, S. 4 (www.whitehouse.gov).

19) Lockheed Martin Reports 2003 Results, 27.1.2004 (www.lockheedmartin.com).

20) Im Geschäftsjahr 2001 erzielte der Konzern nur 6,2 % seines Umsatzes auf dem privaten Markt; vgl. Lockheed Martin 2001: United We Serve, 1.3.2002, S. 67 (ebd.).

21) Lockheed Martin 1999 Annual Report, 24.2.2000; Lockheed Martin Reports 2001 Earnings, 25.1.2002 (ebd.).

22) Ebd.

23) Nach: Vice president-elect’s wife steps down from Lockheed board, in: Washington Business-Journal, 5.1.2001 (www.washington.bizjournals.com).

24) Boeing erwarb 1997 den Flugzeughersteller McDonnell-Douglas und den Raketenbauer Rockwell sowie im Jahr 2000 Teile des Hubschrauber- und Raumfahrtkonzerns Hughes.

25) Der Bilanzgewinn schwankte in den Jahren 2000 bis 2003 zwischen 1,0 und 6,1 % des Umsatzes, der operative Cash-Flow zwischen 6,7 % und 11,6 % (vgl. Boeing Reports 1997, Full Year and 4<^>th<^*> Quarter Results, 27.1.1998 (www.boeing.com).

26) Vgl. Stan Crock/Lorraine Woellert u.a.: Inside Boeing’s Sweet Deal, in: Business Week, 7.7.2003, S. 33.

27) Ebd.

28) Vgl. Robert D. Novak: Pay Dirt For Boeing, in: Washington Post, 29.5.2003, S.A25.

29) Vgl. Stan Crock/Lorraine Woellert u. a.: Inside Boeing’s Sweet Deal, in: Business Week, 7.7.2003, S. 32.

30) Vgl. Leslie Wayne: Heat rises on U.S.-Boeing lease deal, in: International Herald Tribune, 28.8.2003, S. 13.

31) Renae Merle: Alternative to Boeing Tanker Deal Proposed, in: Washington Post, 5.9.2003, S. A4.

32) Peter Pae: Pentagon to Investigate Boeing Jet-Leasing Bid, in: Los Angeles Times, 4.9.2003, S. C4.

33) Vgl. Leslie Wayne: Boeing’s links with Pentagon face new scrutiny, in: International Herald Tribune, 4.9.2003, S. 13.

34) Stan Crock/Lorraine Woellert u .a.: Inside Boeing’s Sweet Deal, in: Business Week, 7.7.2003, S. 33.

35) Leslie Wayne: No need to replace U.S. air tankers, panel says, in: International Herald Tribune, 14.5.2004, S. 15.

36) Zit. n. Renae Merle: New Tankers Not Needed, Report Says, in: Washington Post, 13.5.2004, S. E1.

37) Boeing musste zur Entschädigung sieben Satellitentransporte an Lockheed-Martin abgeben; vgl. US-Air-Force banishes Boeing, in: International Herald Tribune, 26./27.7.2003, S. 10.

38) Das Zukunftsprojekt der US-Army zur digitalen Vernetzung des Heeres erstreckt sich über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren und ist vorläufig auf 14,92 Mrd. Dollar kalkuliert. Der Gesamtwert könnte auf bis zu 100 Milliarden steigen, wenn sich das Heer zur Einführung von unbemannten Kampffahrzeugen entscheiden sollte; vgl. Renae Merle: Boeing Wins Contract for Army Modernization, in: Washington Post, 16.5.2003, S. E1, E10.

39) Die US-Air-Force hat 25.000 Stück zu einem Gesamtpreis von 2,5 Mrd.Dollar in Auftrag gegeben; nach: BOEING CO.: $2,5 billion deal to deliver small bombs over 15 years, in: Chicago Tribune. Online edition, 29.8.2003 (www.chicagotribune.com).

40) Northrop Grumman Reports Record 2002 Fourth Quarter Results, 28.1.2003, S. 3 (www.irconnect.com).

41) Vgl. Seth Lubove, We See You, Saddam, in: Forbes, 6.1.2003, S. 102-108.

42) Berechnet nach Sköns, Elisabeth/Baumann, Hannes: Arms production, in: Stockholm International Peace Research Institute, SIPRI Yearbook 2003. Armaments, Disarmament and International Security, Oxford, S. 379.

43) Vgl. Northrop Grumman Reports Strong 2000, Year-End And Fourth Quarter Results, 24.1.2001; Northrop Grumman 2003 Annual Report (www.irconnect.com).

44) Vgl. Thomas E. Ricks, Air Force‘s Roche Picked to Head Army, in: Washington Post 2.5.2003, S. A29.

45) Angabe für das Jahr 2000 bei Sköns, Elisabeth/Baumann, Hannes: Arms production, in: SIPRI 2003 (Fn.43): S. 380.

46) Vgl. Raytheon 1998 Annual Report; Raytheon Reports 1999, Full Year and Fourth Quarter Results, 23.1.2000 (www.prnewswire.com).

47) Wolfowitz, Paul: Prepared Statement for the Senate Armed Services Committee Hearing On Military Transformation, Washington D.C., 9.4.2002, S. 2 (www.defenselink.mil).

48) Vgl. Paul Richter: Agency Faults Haste of Missile Defense Development, in: Los Angeles Times, 5.6.2003, S. A8; Bradley Graham: GAO Cites Risks in Missile Defense, in: Washington Post, 5.6.2003, S. A6.

49) Vgl. Sköns, Elisabeth/Baumann, Hannes: Arms production, in: SIPRI 2003 (FN. 43): S. 380.

50) Ebd.: S. 381.

51) Vgl. die Geschäftsberichte unter General Dynamics Fourth Quarter per Share Earning Increase 5 Percent, 27.1.1999 (www.generaldynamics.com).

52) Die gesamten Rüstungsexporte der USA beliefen sich im Jahr 2002 auf 10,241 Mrd. Dollar; vgl. International Institute for Strategic Studies. 2003: The Military Balance 2003-2004, Oxford, Tab.34, S. 341.

Dr. phil. Michael Hennes ist Lehrbeauftragter und Habilitand am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen

Dem Andrang der Hungernden hält kein Riegel stand

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Probleme der Globalisierung aus indischer Sicht

von Subhoranjan Dasgupta

Die Einsicht, dass es ohne soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit kein friedliches Zusammenleben von Menschen, Völkern und Staaten geben kann, wird seit Jahrzehnten von diversen Kanzeln und Kathedern herab verkündet, muss unter den Bedingungen der beschleunigten »raubtierkapitalistischen« Globalisierung aber neu durchbuchstabiert werden. In W&F 2-2004 hat sich deshalb Johannes Lauterbach mit den handelspolitischen Aktivitäten der EU auf der 5. Ministerkonferenz der WHO in Cancun befasst. In vorliegendem Beitrag erschließt der Autor aus der Sicht des »Schwellenlandes« Indien bemerkenswert konkrete neue Aspekte der alten Erkenntnis.

Unter Globalisierung ist Verschiedenes zu verstehen. So ist die Ausbreitung der Zivilisation, von Werkzeugen, Institutionen, Lebensstilen, von Information und Wissen, eine Form der Globalisierung, und zwar eine wünschenswerte. Um die geht es hier jedoch nicht. Hier geht es um die bewusste und gewollte Verbreitung bestimmter Institutionen, einer bestimmten Art und Weise, Handel zu treiben, Waren zu produzieren und auszutauschen und Dienstleistungen weltweit zu erbringen.

Zivilgesellschaftliche Herausforderungen

Einerseits spielen Finanzmärkte und Handelsbeziehungen (i.B. multinationale) eine entscheidende Rolle im Rahmen der Globalisierung in diesem zweiten Sinn. Andererseits ist zu erwarten, dass die Zivilgesellschaft eine ähnlich bedeutsame Funktion hat. Sie müsste vor allem den schädlichen Einfluss von Finanz- und Wirtschaftsinteressen bekämpfen und ihnen Widerstand entgegensetzen. Um nur ein Beispiel für solch einen absolut schädlichen Einfluss, der abgewehrt werden muss, zur Sprache zu bringen: Wenn ein völlig diskreditierter und korrupter Multi wie Enron, an den sich viele große Tiere der US-amerikanischen Administration buchstäblich verkauft hatten, uns in Indien immer noch zu exorbitant hohen Preisen Elektrizität zu verkaufen versucht, sollte die indische Zivilgesellschaft hartnäckig Widerstand lei sten.1

Man kann die Globalisierung nicht rückgängig machen. Unser Bedürfnis aber, ihre Ziele und weitere Gestaltung leidenschaftlich zu diskutieren, belegt als solches, dass einschneidende Veränderungen unabdingbar sind. In der Tat hat Joseph Stiglitz in seiner scharfen Globalisierungskritik gezeigt, dass auch die Weltbank sich dieses tiefgreifenden Reformbedarfs bewusst zu sein scheint, während der Internationale Währungsfonds unflexibel bleibt.2 Die dringende Notwendigkeit einer besseren Form der Globalisierung hat Amartya Sen, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, mit den Worten auf den Punkt gebracht: „Obwohl ich für die Globalisierung bin, danke ich Gott für die Antiglobalisierungsbewegung.“3 Diese Bemerkung bringt keinen kindischen Widerspruch zum Ausdruck, sondern unterstreicht unser schwerwiegendes Dilemma. Kein Wunder, dass der deutsche Bundespräsident, Johannes Rau, diese Äußerung in seiner Berliner Rede zur Globalisierung vor zwei Jahren zitiert und schlicht kommentiert mit: „Er hat Recht!“4

Selbstkritik

Erinnert man an den Raubzug von Enron in Maharashtra in Indien, liegt natürlich die Frage nahe: „Warum hat eure Regierung – genauer: die Zentralregierung in New Delhi und dann auch die Regierung von Maharashtra – es Enron erlaubt, in euer Land zu kommen und es auszubeuten?“ Eine legitime Frage, die uns zum nächsten wichtigen Punkt führt. Der heißt: Was sollte in diesem Kontext die Rolle von Bevölkerungen und Regierung in den Entwicklungsländern sein?

Ich möchte dieser delikaten Frage nicht ausweichen, weil ich sehr viel von Gandhis zentralem Prinzip halte: „Kritisiere und korrigiere dich selbst, bevor du andere kritisierst!“ Freilich erwarten wir in unserem Teil der Welt, dass die entwickelten Länder und die Welthandelsorganisation sich ebenso verhalten. Selbstkritik kann keine Einbahnstraße sein. Legen wir also ein paar skandalöse Fälle unseres Versagens als Inder auf den Tisch:

  • Experten, die das Kapitel Indien des Enron-Skandals analysiert haben, haben schlüssig gezeigt, wie sowohl die Zentralregierung in Neu Delhi als auch die Staatsregierung von Maharashtra jedwede noch so befremdliche Forderung von Enron akzeptiert haben. Anders gesagt: Unsere eigenen Regierenden haben die Plünderungen ermöglicht – und doch waren sie nicht groß genug, um den Kollaps von Enron im Mutterland USA abzuwenden. Die Unterwürfigkeit meiner eigenen Regierung legt eine andere Frage nahe: Wäre es Enron gelungen, China in ähnlicher Weise in den Schwitzkasten zu nehmen? China, das die Herausforderungen der Globalisation viel besser als mein eigenes Land angenommen hat, hätte Enron lange vorher hinausgeworfen!
  • Mein zweites Beispiel beinhaltet zahlreiche kleinere Versionen von Enron Indien. Fast alle indischen Großkonzerne – ausgenommen Tata House, das sich ob seiner Transparenz und seines Gemeinschaftsethos empfiehlt – haben Milliarden Rupien als Anleihen von Staatsbanken aufgenommen, um Industrien aufzubauen, aber keinen Penny zurückgezahlt. Staatsbanken funktionieren und operieren in meinem Land mit dem Geld der Bürger. Das bedeutet, diese Raffkes haben das Geld von Millionen einfacher Inder gestohlen. Das ist etwas anderes als die viel simplere Kapital- und Profitflucht in ein Steuerparadies wie Mauritius; auch hat kein Kreditnehmer-Konzern sich selbst für bankrott erklärt. Sie prosperieren alle, weigern sich aber zurückzuzahlen. Darüber hinaus sind ihre Macht und ihr Einfluss so enorm, dass die Regierung sie nicht einmal anfassen kann. Wo aber sind diese Milliarden hingekommen? Ein kleiner Teil davon wurde in demonstrativen Konsum gesteckt, sagen wir in vergoldete Waschbecken und Kommoden – wir haben in Indien viele Badezimmer dieser Art! Aber der größere Teil wurde auf Geheimkonten bei Schweizer Banken deponiert und ein noch größerer Teil vagabundiert in unserem Finanzmarkt als heißes Spekulationsgeld, das kleinen Anteilseignern schweren Schaden zufügt.

Ich denke, diese beiden einheimischen Beispiele unter vielen möglichen offenbaren hinreichend deutlich unser eigenes Verfehlen.

Die Kehrseite der Medaille

Das ist allerdings nur ein Teil der Geschichte, nur die eine Seite der Medaille. Als zweiten Teil müssen wir ein paar beispielhafte »globalisierte« Skandale in Erinnerung rufen, die mit den nationalen indischen nichts oder wenig zu tun haben. Beide ergänzen und vervollständigen sich. Bevor ich aber auf diese spezifischen Beispiele internationalen Mafiatums eingehe, möchte ich ein paar einschlägige Feststellungen zur Kenntnis bringen.

  • Feststellung 1: „Die Globalisierung gestalten kann nur, wer klare Wertvorstellungen jenseits des Wirtschaftlichen hat.“
  • Feststellung 2: „Freiheit und Gerechtigkeit – das sind Werte, an denen wir uns orientieren müssen, wenn wir die Globalisierung wirtschaftlich und politisch auf einen guten Weg bringen wollen.“
  • Feststellung 3: „Wir brauchen eine Insolvenzordnung für Staaten, mit dem die Überschuldungsprobleme gelöst werden können.“
  • Feststellung 4: „Heute haben neunzig Prozent der Gelder, die täglich um die Welt zirkulieren, nichts mehr mit dem Austausch von Gütern und Dienstleistungen zu tun. Über zwei Billionen Euro, über zweitausend Milliarden, wechseln täglich aus spekulativen Gründen immer wieder den Ort. Das kann ganze Länder sozial und politisch destabilisieren, ja das kann sie in den wirtschaftlichen Ruin treiben.“
  • Feststellung 5: „Es ist schon ein seltsames Verständnis von Ethik und Moral, wenn reiche Länder die technischen Eliten aus Entwicklungsländern anheuern, gleichzeitig aber den Produkten, die in diesen Ländern mit billiger Arbeit produziert werden, den Zugang versperren.“
  • Feststellung 6: „Die extremen Ungleichgewichte in der Verteilung des Wohlfahrtsgewinne werden mehr und mehr zu einer Bedrohung der politischen und sozialen Stabilität.“
  • Feststellung 7: „Die Entwicklungsländer müssen stärkeres Gewicht bekommen in den Entscheidungsgremien von Weltbank, Weltwährungsfonds und Welthandelsorganisation. Diese Organisationen sind den Menschen auf dem ganzen Globus verpflichtet und nicht wirtschaftlichen oder anderen Einzelinteressen.“

Wer hat diese Feststellungen getroffen? Ich kann versichern, weder Noam Chomsky, noch Naomi Klein, noch der Geist von Carlo Guiliani. Die ersten vier und die siebte stammen von dem deutschen Bundespräsidenten, Johannes Rau, die fünfte wurde von Ottmar Isssing, dem Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, geäußert, und die sechste von Horst Köhler, seinerzeit Chef des Internationalen Währungsfonds.5 Diese Feststellungen sind zu begrüßen, denn sie zeigen: Erstens, dass die Globalisierungskritik eine solide Grundlage hat, zweitens, dass das Bewusstsein des Reformbedarfs und der Antrieb zu politischen Reformen an Boden gewinnen, und drittens, dass wir, wenn wir uns wirklich anstrengen, eine andere Globalisierung haben können, eine Globalisierung mit einem warmen menschlichen Gesicht

Es erübrigt sich wohl nach diesen Zugeständnissen, spezifische Beispiele für den zutiefst inhumanen Charakter von Globalisierungsprozessen zu bemühen. In der Tat kann man schmerzhaftes Bedauern seit den 70er Jahren finden, als beispielsweise Willy Brandt mit der Intervention der Nord-Süd-Kommission sein Bestes versuchte, um die Ungleichheiten zu reduzieren. Ich hatte Gelegenheit, ihn zweimal zu interviewen. Als ich das eigene Versagen Indiens betonte, meinte er nur in bewegendem Tonfall: „Unsere eigenen Schränke sind so voller Gerippe, dass wir die in Euren nicht zu zählen brauchen.“6 Hier eine kurze Liste solcher im Bereich des Finanzmarkts, des Warenaustauschs und transnationaler Projekte umherklappernder Gerippe:

  • Die transnationalen Pharmakonzerne – oder sollten wir von einer Medizin-Mafia sprechen? – benutzen immer noch gerne die Entwicklungsländer als Testfeld für ihre risikoreichen Arzneien oder Ladenhüter-Medikamente, auch wenn diese in der »entwickelten« Welt längst verboten sind. Beispiel: Verwendung von Deprovera oder anderen gefährlichen Mitteln, um die Geburtenkontrolle in Ländern der »Dritten Welt« zu beschleunigen. Hunderte von Untersuchungsberichten auf der Grundlage solider Feldforschung haben das Unheil an den Tag gebracht, das von den Profit-Multis aus dem Westen und Norden angerichtet worden ist.
  • Seit dem Beginn der finanzwirtschaftlicher Liberalisierung in Indien, d.h. seit der Liberalisierung des Bankensystems 1991 und der Liberalisierung der Beteiligungsverfahren für ausländische Institute 1992 wurde der indische Aktienmarkt von einem Betrug nach dem andern in schockierender Abfolge getroffen. Diese Betrügereinen großen Stil machten Millionen von Anteilseignern aus der Mittelklasse über Nacht bettelarm. Gespeist von heißen Spekulationsgeldern kam es zunächst zu beispiellosen Aufschwüngen, dann zu den vorprogrammierten niederschmetternden Kurstürzen. Wer drehte an diesen Zusammenbrüchen, nicht ohne zuvor die Riesendifferenzen zwischen Kauf und Verkauf genau zu berechnen? Augenscheinlich kriminelle indische Makler wie Harshad Mehta and Ketan Parekh, unter einer Decke mit ausländischen Banken wie der First National City Bank, ANZ Grindlays, der Bank of America und größeren indischen Nationalbanken wie der National Housing Bank und der Bank of Baroda. Abermals wurde in Hunderten von Untersuchungen gezeigt, wie das dunkle Getriebe des indischen Finanzmarktes funktioniert, in einem geradezu kumpelhaften Zusammenspiel globaler und nationalen Partner, um die einfachen Leute zu beschwindeln.
  • »Terms of Trade«. Das Wirkprinzip in diesem Bereich ist beunruhigend einfach: Euer Markt ist unser Markt; unser Markt ist aber nicht euer Markt. Ihr senkt die Zolltarife, so dass wir euch mit unserem Zucker und unseren Äpfeln überschwemmen können, wir aber erhöhen weiter die Tarifschranken, damit euer Reis und die anderen Agrarprodukte nicht auf unseren Markt kommen. Wenn sie aber, wie der Kaffee, doch kommen, setzen wir die Preise herab – oder wir erwerben das Patent, wenn der Reis so gut schmeckt wie der Basmati.

Während die OECD-Länder die Subventionen in ihrem Agrarbereich von 300 Milliarden Dollar im Jahr 1980 auf 360 Milliarden 1999 steigerten, werden wir von der Welthandelsorganisation ständig unter Druck gesetzt, unsere Subventionen abzubauen. Während die USA ihren Farmern für jede Tonne Sojabohnen 193 Dollar Subventionen bieten, leiden unsere Farmer, da sie nicht in der Lage sind, es mit diesen massiven staatlichen Subventionen aufzunehmen, Hunger und begehen schließlich Selbstmord. Ist das ein freier Markt? Adam Smith müsste sich in seinem Grab umdrehen, wenn er von dieser Art von freiem Markt erführe, der den Reichtum nur einiger weniger Nationen mehrt. Um es kurz zu machen: Zwischen April 2001 und 2002 hat Indien unter Druck die Einfuhr von 852 Agrarprodukten, von Kartoffelchips bis Blumenkohl, gebilligt, und das hat zu einem unermesslichen Elend unserer Bauern geführt.7

Auch die entwickelte Welt hat mittlerweile realisiert, dass es so einfach nicht weitergehen kann. Um nochmals aus der Globalisierungsrede von Johannes Rau zu zitieren: „Deshalb ist es richtig, dass die Europäische Union ihre Export-Subventionen für Getreide in wenigen Jahren ganz abbauen will.“ Und er vergaß nicht, hinzuzufügen: „Ich weiß freilich, dass das zu Strukturproblemen in unserer eigenen Wirtschaft führt.“

Fazit

Was also ist zu tun? Die Antworten auf diese Fragen sind im Kern recht einfach:

  • Entwicklungsländer wie etwa Indien müssen ihren eigenen Augiasstall ausmisten. Auch wenn man beispielsweise im Agrarsektor gerechte »Terms of Trade« einführt, bleiben Millionen armer Bauern hierzulande arm – es sei denn, wir bringen auf dem flachen Land eine tiefgreifende Landreform zustande. Der semi-feudalistische Würgegriff in unserem Landwirtschaftssystem muss gelöst werden. Andernfalls kommen die Wohltaten eines wirklich offenen Agrarmarkts hauptsächlich der Sahneschicht der Großgrundbesitzer zugute.
  • Die Entwicklungsländer müssen in dieser Nach-Cancún-Phase eine gemeinsame und einheitliche Position einnehmen.8 Die indische Regierung hat einen Ansatz gemacht, die Entwicklungsländer von China bis Bangladesh zusammen zu bringen. Weiter müssen die anderen Länder von der Erfahrung Chinas lernen; denn China hat es verstanden, die Globalisierung in höchst beachtlicher Weise für seine nationalen Zwecke nutzbar zu machen. Selbst hinsichtlich der ausländischen Direktinvestitionen war China 50 mal erfolgreicher als Indien. In der Tat wird sich die nächste heikle Debatte um die Fragen drehen: Ist ein globales Investitionsprogramm überhaupt erforderlich und ist die Welthandelsorganisation das geeignete Forum zur Diskussion dieser Frage?
  • Während die ersten beiden Anregungen vornehmlich Sache der Entwicklungsländer sind, liegt die überaus bedeutsame dritte in den Händen der entwickelten Länder. Halten wir uns an Günter Grass, den kreativsten Autor, den Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht hat. Er hat diese dritte Anregung in glasklaren Worten zum Ausdruck gebracht. Als er gegen die anhaltende immense Ungerechtigkeit der Globalisierung vom Leder zog, berief Grass sich auf seinen Mentor Willy Brandt, um hervorzuheben, wie wichtig eine Entscheidungsinstanz von Gleichberechtigten ist. In einem Interview vor einiger Zeit sagte er mir: „Ich erwarte, dass eines Tages die Verteilung und Aufteilung der Reichtümer der Welt – Kapital, Technologie, Waren, menschliche Ressourcen – nicht unter Gesichtspunkten der Profitsteigerung, sondern nach Kriterien von Moral und Gerechtigkeit vorgenommen werden. Dazu muss die Majorität der Armen und Ausgebeuteten gleiche Macht und Autorität erhalten. An dem Tisch, an dem die Entscheidungen fallen, müssen zwei Stuhlreihen stehen, nicht nur eine.“9

Was aber, wenn es nicht dazu kommt? Grass schließt seine Nobelpreisrede mit der Warnung: „Mit der Globalisierung wurde die freie Marktwirtschaft dogmatisiert; von ihren schier unbegrenzten Möglichkeiten berauscht spielt sie verrückt, einzig, um den Profit zu maximieren… Der reiche Norden und Westen mag sich noch so sicherheitssüchtig abschirmen und als Festung gegen den armen Süden behaupten wollen; die Flüchtlingsströme werden ihn dennoch erreichen, dem Andrang der Hungernden wird kein Riegel standhalten.“10

Anmerkungen

1) Der korrupte amerikanische Multi Enron drang in den 90er Jahren in den indischen Einflussbereich ein und bürdete der Zentralregierung in Neu Delhi und der Bundesstaatsregierung von Maharashtra völlig unfaire Bedingungen auf. Unter dem Druck der US-Regierung musste Indien die harten Bedingungen von Enron akzeptieren.

2) Stiglitz, Joseph (2000): Globalisation and its Discontents. Harmondsworth: Penguin Books.

3) Zit. nach Rau, Johannes (2002): Chance, nicht Schicksal – die Globalisierung politisch gestalten. »Berliner Rede« von Bundespräsident Johannes Rau am 13. Mai 2002 im Museum für Kommunikation Berlin. Verfügbar unter: http://www.bundespraesident.de [14.05.05]

4) Ebd.

5) Alle in Rau, Johannes (2002): s. Anm. 3.

6) Aus einem Interview mit Willy Brandt im Jahr 1981.

7) Alle Zahlen und statistischen Angaben basieren auf der von Professor Amiya Kumar Bagchi herausgegebenen zweibändigen Aufsatzsammlung zur Globalisierung. Kalkutta, 2002.

8) Vom 10. bis 14.09.03 fand im mexikanischen Cancún die 5. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation statt. Ziel war es vor allem, die wirtschaftliche Liberalisierung weiter voranzutreiben. EU und USA versuchten, neue Themen einzubringen und bestehende Abkommen auf noch mehr Lebensbereiche auszuweiten, ohne Rücksicht auf die Interessen der Entwicklungsländer und auf Umweltbelange. Die Konferenz wurde ohne Ergebnis abgebrochen; erstmals hielt eine starke Gruppe von Entwicklungsländern dem Druck der mächtigsten Player stand.

9) Aus einem Interview mit Günter Grass im Jahr 2002.

10) Grass, Günter (1999). Nobelpreisrede. Verfügbar unter: http://www.nobel.se/literature/laureates/ [19.05.04]

Subhoranjan Dasgupta ist Associate Professor am Institute of Development Studies Kolkata. Forschungsgebiete: Marxistische Ästhetik, Teilung Bengalens, deutsche Zeitgeschichte und zeitgenössische Literatur. Übersetzung von Albert Fuchs. Zitate aus deutschsprachigen Quellen wurden aus diesen übernommen.

Der andere Kriegsschauplatz

Der andere Kriegsschauplatz

Aspekte der EU-Handelspolitik

von Johannes Lauterbach

Das Augenmerk vieler zivilgesellschaftlicher Gruppen richtet sich aus aktuellem Anlass auf die Entwicklung der gemeinsamen EU-Militärpolitik. In einem anderen Feld, der Handelspolitik, ist die Ausbildung einer zentralen EU-Kompetenz durch den Vertrag von Nizza bereits erheblich weiter fortgeschritten. Johannes Lauterbach gibt einen Überblick über die handelspolitischen Aktivitäten der EU, insbesondere im Rahmen der 5. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Cancun.

Diese Aussage: „Die WTO ist eine mittelalterliche Organisation. … Sie ist nicht in der Lage ihre Aufgabe zu meistern,“ stammt nicht etwa von einem Freihandelsgegner. Mit diesen Worten kommentierte Pascal Lamy, EU-Handelskommissar, den Ausgang der gescheiterten WTO-Ministerkonferenz in Cancun.1 Unisono versuchten Lamy und sein Kollege, der US-Handelsbeauftragte Zoellick, die Schuld für das Scheitern der Verhandlungen denjenigen Ländern in die Schuhe zu schieben, die sich dem Diktat der beiden großen Handelsblöcke verweigert hatten.

Von Doha nach Cancun

Noch zwei Jahre zuvor, im November 2001 bei der 4. Ministerkonferenz in Doha/Quatar, war es den großen Handelsmächten2 gelungen, die Mitgliedstaaten der WTO zur Verabschiedung eines umfangreichen Arbeitsprogramms zu bewegen, um das Flaggschiff der neoliberalen Globalisierung nach dem Desaster in Seattle 1999 wieder in Fahrt zu bekommen. Vor dem Hintergrund des 11.September, fern von welt-öffentlicher Aufmerksamkeit in einem Land in dem Demonstrationen verboten sind, wurde den Delegierten in nächtelangen Geheimverhandlungen und nach einer informell beschlossenen Verlängerung der Konferenz die Zustimmung zur Abschlusserklärung abgerungen. Das Arbeitsprogramm wurde als »Doha-Entwicklungs-Agenda« deklariert, es sollte angeblich die Probleme der so genanntenen Entwicklungsländer bei der Umsetzung der WTO-Abkommen lösen. Insbesondere sollten die Vereinbarungen in dem für die Entwicklungs- und Schwellenländer wichtigen Agrarsektor überarbeitet werden. Im Gegenzug gaben die Entwicklungsländer widerstrebend die Zustimmung, bei der 5. Ministerkonferenz in Cancun über die Aufnahme von Verhandlungen über neue Abkommen, die »new issues«, zu beschließen.

»New issues« – Investorenschutz durch die Hintertür

Bei der Gründung der WTO 1994 waren einige Bereiche aus den Abkommen ausgespart worden, die als »new issues« (neue Themen) oder »Singapur Themen« bezeichnet werden: Investitionen, öffentliches Beschaffungswesen, Wettbewerb und Handelserleichterungen. Multilaterale Abkommen über diese Bereiche bergen die Gefahr einer weitgehenden Entmündigung der gewählten Regierungen und Parlamente, bei der Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Insbesondere gegen ein Investitionsschutzabkommen regte sich starker Widerstand bei der Mehrzahl der WTO-Mitgliedsländer und in der globalen Zivilgesellschaft, auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit einem solchen Abkommen im Rahmen der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA. Es sind dort etliche Fälle dokumentiert, in denen Regierungen von Investoren zur Änderung von Gesetzen gezwungen wurden, die sich für den Investor als Profit mindernd herausstellten.3 Bei einem Abkommen zu öffentlichem Beschaffungswesen, oder Wettbewerbsregeln, befürchten viele Entwicklungsländer den Verlust der verbleibenden Möglichkeiten, die heimische Wirtschaft durch öffentliche Aufträge, oder wettbewerbsrechtliche Besserstellung, zu unterstützen.4

Den Verhandlungen über diese Themen wird vom EU-Handelskommissariat hohe Priorität eingeräumt, obwohl innerhalb der EU-Mitgliedstaaten hierzu keine einhellige Meinung existiert. Umfragen europäischer NGO´s ergaben, dass das deutsche Wirtschaftsministerium die Linie des Kommissariats unterstützt, während z.B. in England diesen Themen geringere Bedeutung beigemessen wird.

Aufgrund des starken Widerstandes gegen die »new issues«, versuchte die EU eine Strategie des niederschwelligen Einstiegs. Es wurden Vorschläge für die Verhandlungsmodalitäten unterbreitet, bei denen keine deutliche Aussage über den Verhandlungsumfang gemacht wurde und beim Investitionsthema wurde eine Beschränkung auf Direktinvestitionen angeboten. Die USA winkte dagegen ab – dort war man nur an einem der NAFTA ähnlichen Abkommen interessiert und zog es vor, die Verhandlungen gegebenenfalls zu verschieben.

Vor und während der Cancun-Konferenz gab die Mehrheit der WTO-Mitgliedstaaten zu Protokoll, dass sie Verhandlungen über diese Themen nicht wollen, zuletzt am 12. September in einem Brief von 70 Staaten an den Vorsitzenden der Verhandlungsrunde. Am 13. September wurde vom WTO-Sekretariat der Entwurf einer Ministererklärung herausgegeben, der die Aufnahme von Verhandlungen zu allen vier »new issues« vorsah und im wesentlichen dem Vorschlag der EU entsprach.

»WTO kills farmers«

Am 10. September, kurz nach der Eröffnungszeremonie der WTO-Konferenz, nahm sich der koreanische Aktivist Lee Kyung Hae, während der Kundgebung der Bauernbewegungen vor den Absperrgittern in Cancun, das Leben. Diese drastische Demonstration rückte das Schicksal der Menschen in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in den so genanntenen Entwicklungs- und Schwellenländern ins Rampenlicht. Nach der, durch die WTO und andere Freihandelsabkommen, erzwungenen Öffnung der Märkte, mussten sie mit hochsubventionierten Agrarprodukten aus Ländern mit industrialisierten Agrarstrukturen konkurrieren und gerieten dadurch in eine Abwärtsspirale, an deren Ende für viele der Verlust des eigenen Bodens und der Lebensgrundlage stand. Das Versprechen an die Entwicklungsländer, durch Beitritt zur WTO Marktzugang in den reichen Ländern zu erhalten und dadurch vom Weltmarkt zu profitieren, wurde ins Gegenteil verkehrt.5

Das Agrarabkommen, das bei der Gründung der WTO 1995 in Kraft getreten ist, erlaubte der EU bisher, die umfangreiche Subventionierung des Agrarsektors aufrechtzuerhalten. Im Vorfeld der 5. Ministerkonferenz hatten die EU und die USA ein gemeinsames Verhandlungspapier zu den Agrarverhandlungen vorgelegt, in dem die Differenzen zwischen den beiden Handelsblöcken auf Kosten der Entwicklungsländer ausgeglichen wurden. Anstelle eines Verhandlungsangebotes mit klaren Aussagen über den Abbau der eigenen Subventionen, enthielt dieser kryptische Text Formeln über den Abbau von Zöllen, die zur Verschlechterung der Situation der Entwicklungsländer geführt hätten.6

In Cancun sahen sich dann die EU und die USA einem neuen Staaten-Block, der »G-20« gegenüber, dem einige der großen agrarexportierenden Schwellenländer, aber auch einige der so genanntenen »Least developed Countries« angehören. Dieser Block konfrontierte sie mit einem eigenen Vorschlag zur Reform des Agrarabkommens und trat mit der Devise auf: „Besser kein Abkommen als ein schlechtes Abkommen“.

Aber obwohl das Verhandlungsangebot der EU und der USA bereits im Vorfeld auf breite Ablehnung der Mehrheit der WTO Mitgliedsstaaten gestoßen war und mit dem »G-20«-Papier ein Gegenvorschlag vorlag, fand sich nahezu der identische Wortlaut der EU/US-Position im Entwurf der Ministererklärung wieder.

Welchen Teil des Wortes »nein« verstehen sie nicht?

Die Versprechungen von der »Entwicklungsrunde« hatten sich ins Gegenteil verwandelt. Zusätzlich zu den Widersprüchen im Agrarsektor und bei den »new issues« lagen auch noch Forderungen der EU nach weiterer Öffnung der Märkte für Industrieprodukte in den Entwicklungs- und Schwellenländern vor, deren Umsetzung nach Einschätzung Martin Khors vom Third World Network die De-Industrialisierung des Südens bedeutet hätten. Auch diese umstrittenen Forderungen waren im Entwurf der Ministererklärung vertreten, ein weiterer Beleg für die undemokratischen und intransparenten Strukturen der WTO – das Zustandekommen der Textentwürfe ist undurchschaubar, nur am Ergebnis kann abgelesen werden, welche Kräfte sich hier hinter den Kulissen erfolgreich betätigt haben.7

Am planmäßig letzten Konferenztag galt zunächst eine Verlängerung der Konferenz um mindestens ein bis zwei Tage als sicher. In der Nacht hatte der so genannte green room-Prozess begonnen, Verhandlungen, bei denen im kleinen Kreis die großen Handelsblöcke mit gezielt eingeladenen Staaten eine Lösung vorbereiten, die dann der gesamten Versammlung vorgelegt wird.

Aber es kam anders. Der mexikanische Vorsitzende Derbes steuerte die Verhandlungen so, dass zunächst die umstrittensten Fragen, die »new issues«, diskutiert wurden und stellte dann fest, dass es hierzu keinen Konsens gäbe und die Verhandlungen gescheitert seien. Erst in letzter Minute, als das Tischtuch schon zerschnitten war, zog Pascal Lamy die Reißleine und bot einen Kompromiss bei den »new issues« an, der aber am Ausgang nichts mehr änderte.

Bei einem NGO-Briefing am Mittag des letzten Tages verteidigten Vertreter der deutschen Delegation die EU-Linie noch zu einem Zeitpunkt, zu dem die Verhandlungen bereits auf Messers Schneide standen. Auf die Frage, wie dies mit dem Bundestagsbeschluss vom Juli vereinbar sei, in dem die Bundesregierung explizit aufgefordert wurde die »new issues« erst einzufordern, wenn die Belange der Entwicklungsländer angemessen berücksichtigt seien, wurde lediglich geantwortet, der Bundetagsbeschluss sei der deutschen Delegation bekannt.8 In der Diskussion wurde deutlich, dass die EU-Kommission das Nein der Entwicklungsländer zu den »new issues« als rein verhandlungstaktische Position missverstanden hatte und auch den Forderungen der »G20-Staaten« in der Agrarfrage keine Nachhaltigkeit beimaß.9

Unbeschadet dieser Vorgänge hält die EU noch immer an den »new issues« fest. Die neuen Vorschläge, die einhergehen mit Überlegungen zur Reform der WTO, beinhalten die Möglichkeit, diese Verhandlungen auch im plurilateralen Rahmen nur mit den »Willigen« zu führen, mit der Möglichkeit für die übrigen Staaten zu einem späteren Zeitpunkt dem Abkommen beizutreten, das dann allerdings ohne sie ausgehandelt wird.10 Die Strategie ähnelt den Ideen vom Europa der zwei Geschwindigkeiten.

Gegenwärtig versucht die EU, im Einklang mit den USA, aber im Widerspruch zu den Regeln der WTO und dem Willen der andern Mitglieder, eine weitere Ministerkonferenz noch 2004 auf den Weg zu bringen, um das ursprünglich geplante Abschlussdatum des Doha-Arbeitsprozesses im Januar 2005 noch zu erreichen.

Andere handelspolitische Schauplätze

Neben den Cancun-Verhandlungen ist die EU auf anderen handelspolitischen Schauplätzen aktiv. In Cancun spielten die WTO-Verhandlungen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) keine Rolle, obwohl diese für erhebliche Aufregung sorgten, als es NGO-Netzwerken gelang, die geheimen Verhandlungsforderungen der EU zu veröffentlichen. In diesen Forderungen ist erheblicher Sprengstoff enthalten. Insbesondere die Forderung an einige Entwicklungsländer, ihre Märkte für Wasserversorgung dem Wettbewerb zu öffnen, gibt, angesichts der verheerenden Erfahrungen mit der Kommerzialisierung der Wasserversorgung in vielen Teilen der Welt, Grund zur Sorge. Die EU ist Sitz einiger der weltweit größten Wasserkonzerne – z.B. Vivendi, RWE, Thames Water, Suez Lyonnais – , die seit langem in internationalen Institutionen, wie dem World Water Council, Lobby-Arbeit für private-public-partnerships als Lösung für Infrastrukturprobleme machen.11

Ein weiteres Feld sind die so genanntenen Economic Partnership Agreements, die auf Grundlage des Cotonou-Abkommens mit den AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik) verhandelt werden. Ein Vergleich dieser Verhandlungen mit den EU-Vorhaben in der WTO zeigt, dass hier eine mehrgleisige Strategie gefahren wird. Was im multilateralen Rahmen der WTO nicht durchsetzbar ist, wird im Rahmen bilateraler Abkommen mit schwächeren Partnern weiterverhandelt. So finden sich in den EPA-Verhandlungen u.a. Forderungen der EU nach einem Investitionsabkommen.12

Diese bilateralen Abkommen werden auf Grund der aktuellen Schwäche des WTO-Systems an Gewicht gewinnen, auch wenn sie nicht die Präferenz der Konzerne darstellen, die ein überschaubares, multilaterales System bevorzugen.

Schlussfolgerungen

Die EU strebt an, bis 2010 der wettbewerbsstärkste Wirtschaftsraum zu werden. Dies ist eine Zielsetzung die u.a. auf weit zurückreichende Einwirkungen einflussreicher Wirtschafts-Lobbygruppen, wie z.B. dem European Roundtable of Industrialists, zurückgeht, die sich aufgrund noch bestehender Beschränkungen im Binnenmarkt auch im globalen Wettbewerb gegenüber den USA und den Ostasiatischen Konkurrenten benachteiligt sehen. Diesem Ziel soll in Zukunft auch der Dienstleistungssektor im Rahmen der EU-Binnenmarktstrategie untergeordnet werden.13

Dieser Zielsetzung entspricht die aggressive Handelspolitik, die auf eine Verschärfung des globalen Wettbewerbs und auf einen weitreichenden Abbau der Schranken für die Aktivitäten europäischer Konzerne auch im außereuropäischen Raum hinausläuft. Dabei werden allerdings berechtigte Belange der Menschen in den Entwicklungsländern missachtet, wie sich etwa im Umgang mit den Ungerechtigkeiten im Agrarhandel zeigt. Auch die Versuche zur Liberalisierung der Wasserversorgung, des sensibelsten Gutes überhaupt, lassen erwarten, dass in Zukunft weltweite soziale Belange von der EU-Politik noch stärker in den Hintergrund gedrängt werden. Eine friedliche Weltordnung ist auf diesem Weg nicht zu erreichen.

Anmerkungen

1) Pressekonferenz am Nachmittag des 14.09.03. Die 5. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) fand in Cancun/Mexico vom 10.-14.09.2003 statt. Die Ministerkonferenzen sind das höchste Gremium der WTO.

2) Die 15 bisherigen EU-Mitgliedstaaten, zusammen mit den USA, Kanada und Japan teilen sich 80% des Welthandels. Sie bilden in der WTO die »Quad« (Vier).

3) siehe. hierzu den Fall »S. D. Myers gegen Kanada«, deutsche Übersetzung unter www.uwkw.de/cancunmaterial

4) siehe Martin Khor: Singapur issues – neue Gefahren für Entwicklungsländer und Nachhaltigkeit, Third World Network 2003, zur Position der Entwicklungsländer siehe CAFOD-Studie: The Singapure issues – what do Developing countries say, unter www.uwkw.de/cancunmaterial

5) Dass diese Zusammenhänge Bauern das Leben kosten, belegen u.a. Studien von Vandana Shivas Organisation Navdanya in Indien, die die seit einigen Jahren sprunghaft gestiegene Selbstmordrate unter verschuldeten Kleinbauern dokumentieren, siehe www.diversewomen.org/pdf_files/agriculture.pdf

6) siehe hierzu Martin Khor: Comment on the EC-US joint paper on agriculture in WTO, 14.08.03, Third World Network, www.twnside.org.sg

7) Zu den Methoden der Interessendurchsetzung in der WTO siehe Aileen Kwa: Power Politics at the WTO, Focus on the Global South 2003 sowie Corporate Europe Observatory (Hrsg.): The cunning bully, EU-bribary and armtwisting at the WTO, 2003.

8) BT Drucksache 15/1317, Sitzung vom 03.07.03, Punkt 11a.

9) Was genau zu dem überraschenden Ende führte ist allerdings unklar. Es gibt auch Spekulationen, die USA hätten die Verhandlungen hinter den Kulissen torpediert, um Zugeständnisse im Agrarsektor zu vermeiden, die innenpolitisch nicht durchsetzbar gewesen wären. In diesem Fall wäre die EU mit ihrer unrealistischen Position in eine Falle getappt. Zu den Vorgängen am Ende der Konferenz siehe Marc Maes: What happened in Cancun, www.ourworldisnotforsale.org/cancun.asp

10) z.B. Note of the EU Comission to the 133 committee, 30.10.03, Ref. 514/03

11) siehe hierzu Maude Barlow/Tony Clarke: Blaues Gold – Das globale Geschäft mit dem Wasser, Kunstmann Verlag 2003.

12) siehe z.B. Klaus Schilder: Stillstand oder Fortschritt, Zwischenbilanz nach einem Jahr EU-AKP Verhandlungen, WEED-online Publikation 2003.

13) EU-Kommission: Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt, vorläufige Fassung, 2003.

Johannes Lauterbach ist beim globalisierungskritischen Netzwerk Attac in der Regionalgruppe Stuttgart und in der bundesweiten AG Welthandel & WTO aktiv, er war bei den WTO-Ministerkonferenzen 2001 in Doha und 2003 in Cancun als Journalist akkreditiert

Quo vadis Europa?

Quo vadis Europa?

Andreas Zumach im Interview

von Andreas Zumach und Regina Hagen

Die Europäische Union hat demnächst 25 Mitglieder und es sieht so aus, als ob mit der wachsenden Zahl auch die Differenzen zwischen den Regierungen der Mitgliedsländer zunehmen würden. Das zeigte sich besonders deutlich in den Auseinandersetzungen um den Irakkrieg, wird aber auch in der Diskussion um eine europäische Verfassung sichtbar. Gleichzeitig wächst die Konkurrenz zwischen der EU und den USA. In dieser Situation bekommt die Debatte über ein »Kern-Europa«, einen engeren Zusammenschluss der Länder, die »schneller vorangehen möchten«, eine neue Bedeutung. Andreas Zumach im Gespräch mit Regina Hagen über die transatlantischen und innereuropäischen Probleme sowie über den künftigen Weg Europas.

W&F: Aus Anlass des Irak-Kriegs wurden Differenzen sichtbar zwischen den Regierenden zahlreicher EU-Staaten und der großen Mehrheit der Bevölkerung einerseits und der US-Regierung andererseits …

Zumach: … Es ist zu differenzieren zwischen dem Widerspruch, der von bestimmten Regierungen formuliert wurde und dem der Friedensbewegung. Der Widerspruch der Regierung Schröder z.B. war kein grundsätzlicher zum Krieg als Mittel der Politik, es war ein Widerspruch zu diesem Krieg mit diesen US-Interessen; er kam auch erst zu einem Zeitpunkt, als der Bundeskanzler sich davon eine Hilfe für den Wahltag am 22. September versprach. Im Mai 2002 hatte Herr Schröder noch Herrn Bush signalisiert, dass man die Absichten der USA mit Blick auf Irak nicht kritisieren werde, solange die USA nicht von Deutschland die Entsendung von Bundeswehrsoldaten erwarte. Das hatte Bush damals zugesichert und von daher war die Positionierung Schröders Anfang August 2002 eine böse Überraschung für die Bush-Administration. Der Widerspruch, der sich am 15. Februar 2003 auf der Strasse manifestiert hat und der an die Friedensbewegung der 80iger Jahre erinnerte, ist der viel grundsätzlichere Widerspruch gegen den Krieg …

W&F: … trotzdem eine punktuelle Überweinstimmung.

Zumach: Ja, aber das beinhaltet auch Gefahren. Die Entwicklung zeigt, dass der Widerspruch der Straße inzwischen zum Teil instrumentalisiert und missbraucht wurde für einen Euronationalismus. Aus der positiv besetzten Absicht, sich von den USA ein Stück weit zu emanzipieren, wurde zunehmend »Honig gesogen« für die Militarisierung EU-Europas. Diese Brisanz hat die Friedensbewegung viel zu lange nicht erkannt. Ich erinnere an den großen Kongress der »Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg« im Dezember 2000. Damals habe ich auf einem Podium mit Egon Bahr, Richard von Weizsäcker und Ernst Otto Czempiel dieses Thema bewusst angesprochen, da ich vermutete, dass die anderen drei im Grunde dafür sind, dass sich EU-Europa auch militärisch emanzipiert. Es gab damals eine heftige Debatte, aber in der Friedensbewegung wurde das Thema nicht nachhaltig diskutiert. Inzwischen sind wir drei/vier Jahre weiter und es sind massive Fakten geschaffen worden, die ja weitgehend bekannt sind. Mit dem jetzt vorliegenden EU-Verfassungsentwurf wird noch mal eine neue Qualität im negativen Sinne erreicht, erstmals in der modernen Verfassungsgeschichte wird hier Aufrüstung als Verfassungspflicht festgeschrieben.

W&F: Sieht man sich die Spaltung innerhalb der Europäischen Union in der Irakkriegsfrage an, stellt sich die Frage nach der Handlungsfähigkeit. Welches Gewicht kann Europa auf absehbare Zeit in die Weltpolitik einbringen?

Zumach: Die Spaltung hat ja verschiedene Ebenen. Da sind zum einen die Differenzen zwischen dem so genannten Alten Europa und dem so genannten Neuen Europa. Aber auch zwischen den Ländern des »Alten Europa« und innerhalb dieser Länder gibt es deutliche Differenzen. Nehmen wir nur Deutschland: Ich habe es bereits angesprochen, zwischen dem grundsätzlichen Nein der Friedensbewegung zu diesem Krieg und dem opportunistischen Nein der Regierung Schröder/Fischer liegen Welten. Die Regierung hat schließlich alles, was Washington als Unterstützungsleistungen eingefordert hat, erfüllt: Logistische Unterstützung, Überflugrechte, Nutzung von militärischen Anlagen auf deutschem Boden, Lieferung von Patriot-Raketen an Israel und die Türkei, Belassung der Fuchs-Spezialpanzerverbände in Kuwait, Begleitschutz für amerikanische Kriegsschiffe durch die deutsche Marine usw. An Bundeswehrsoldaten hatte Washington nie Interesse, das war eine inszenierte Debatte für die Öffentlichkeit.

Spannender ist da schon, dass – erstmals, soweit ich weiß – eine Spaltung quer durch die deutsche Wirtschaft ging. Der Teil der Wirtschaft, der zum Teil aus früherer intensiver Wirtschaftstätigkeit im Irak noch Verbindungen hatte und der existierende Vorverträge nicht verlieren wollte, unterstützte die Linie des Kanzlers. Ein anderer Teil befürchtete durch das Nein des Kanzlers erhebliche Belastungen für das deutsch-amerikanische Verhältnis und wandte sich deshalb gegen den Regierungskurs.

W&F: Kommen wir zurück zur Frage nach den Differenzen zwischen den Ländern .

Zumach: Das, was viele Journalisten leichtfertig als die neue Achse Moskau-Berlin-Paris bezeichnet haben, war ein zeitlich befristetes Zweckbündnis. Es gab eine gewisse Schnittmenge gemeinsamer Interessen, aber das war kein auf Dauer angelegtes Friedensbündnis. Was die Differenzen zwischen der »Koalition der Willigen« und den Kriegsgegnern betrifft, so liegen diese auf der Hand. Ich denke, dieser Konflikt hat auch eine positive Seite: Das damit verbundene nicht einheitliche Handeln bremst zuerst einmal den Militarisierungszug. Allerdings ist die andere Dynamik schon sichtbar: Die Interessenkonflikte zwischen Gesamteuropa – zumindest der gesamten EU inklusive der Neuen – einerseits und den USA andererseits werden wachsen. Wenn wir uns nur das Thema Energiereserven anschauen und die bekannten Fakten wirklich ernst nehmen, wenn wir uns ansehen wie lange die Gas- und Ölvorräte noch reichen, wenn wir so weitermachen wie bisher, dann ist der Konflikt um den Zugriff auf diese Ressourcen vorprogrammiert. Wenn die Abhängigkeit von Öl und Gas nicht dramatisch reduziert wird, dann bewegen wir uns auf Konflikte zu, die möglicherweise noch zu unseren Lebzeiten zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen der EU und den USA führen können.

W&F: Ein Krieg um Energieressourcen zwischen Europa und den USA? Ist das wirklich denkbar?

Zumach: Ich denke nicht an direkte militärische Zusammenstöße sondern eher an Auseinandersetzungen in den Konfliktgebieten Kaukasus oder Naher Osten, die über örtliche Konfliktparteien geführt werden oder aber auch unter Verwicklung eines dritten Akteurs, z.B. Russlands.

W&F: Stehen dem nicht doch die zahlreichen transatlantischen Gemeinsamkeiten entgegen?

Zumach: Für mich gibt es fünf Grundpfeiler des transatlantischen Verhältnisses nach 1945: Erstens der gemeinsame Feind, die Sowjetunion. Ob zu Recht oder zu Unrecht lassen wir mal dahingestellt, dieses Feindbild war schließlich der Gründungskick für die NATO. Zweitens die gemeinsame Geschichte. Die Besiedlungsgeschichte der neuen Welt war wesentlich eine europäische Besiedlungsgeschichte. Drittens die gemeinsamen universellen Werte, wie sie nach dem zweiten Weltkrieg und dem Holocaust entstanden sind, etwa in Form der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte und der Genozidkonvention. Viertens die im engeren Sinne westlichen Werte. Dazu zähle ich unser westliches Demokratiemodell, aber vor allem natürlich auch das gemeinsame transatlantische Interesse an einer kapitalistischen Wirtschafts- und Wohlstandsordnung. Der fünfte Pfeiler, das ist jetzt der entscheidende, war das gemeinsame Bewusstsein, der Glaube und heute im Rückblick können wir sagen, die Naivität, dass es für diese kapitalistische Gesellschafts- und Wohlstandsordnung auf Dauer unbegrenzte und auch stets preiswerte Energiereserven gäbe.

Dieses Bewusstsein, oder dieser Glaube, ist während der so genanntenen Ölpreis-Krise von 1974 erstmals leicht angeknackst worden. Die Krise wurde aber hüben und drüben des Atlantiks unterschiedlich verarbeitet, und damit beginnen nach meiner Analyse die Haarrisse im transatlantischen Verhältnis: In den USA gab es – mit der Ausnahme einiger weniger Jahre während der Carter-Regierung – nicht einmal Ansätze in Richtung Energie sparen. Sie setzten und setzen auf das Militär zur Sicherung des Zugriffs auf die Energieressourcen. In Europa wurden die Weichen etwas anders gestellt. Heute verbrauchen die USA bei einen Weltbevölkerungsanteil von 4,3% etwa 25% des Öls. Europa mit einem Weltbevölkerungsanteil von 6,8% verbraucht knapp 11%. In Deutschland lag der durchschnittliche Benzinverbrauch pro Auto im Jahr 2003 bei etwa 8,1 Liter auf 100 km, in den USA lag er bei etwa 16,2 Liter, also das Doppelte. In beiden Fällen war die Schere in den 1970iger Jahren längst nicht so weit.

Damit sage ich nicht, dass wir grundsätzlich alles anders und besser gemacht haben. Bei einem grundsätzlichen Umsteuern wäre viel mehr drin gewesen, technisch ist ja z.B. auch das 4-Liter-Auto machbar.

W&F: Die Energiefrage als zentrale Frage für Krieg und Frieden? Wird da nicht die ökonomische Frage etwas zu sehr verabsolutiert?

Zumach: Ob wir die Abhängigkeit von Öl und Gas senken können, indem wir heute die notwendigen Weichen stellen in Richtung Förderung regenerativer Energien, das scheint mir die zentrale Frage zu sein, die Frage, die auch über Krieg und Frieden in den nächsten dreißig/vierzig/fünfzig Jahren entscheiden wird. Daneben gibt es natürlich noch viele andere Probleme, die gelöst werden müssen. Ich denke z.B. an unsere Wirtschaftsbeziehungen mit dem Süden. Wir brauchen eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung. Ich halte es auch für notwendig, dass die Europäer sich aus dem US-geführten »Krieg gegen den Terrorismus« zurückziehen und klar sagen, dass dieser Krieg das Problem des Terrorismus nicht löst sondern eher verschärft – mal ganz abgesehen von den damit verbundenen Verstößen gegen das Völkerrecht.

W&F: Welche Mittel, welche Kapazitäten, welches Wissen hat die EU, hat Deutschland zur zivilen Konfliktbewältigung?

Zumach: Wenn unser Außenwirtschaftsverhalten gegenüber bestimmten Staaten und bestimmten Regionen sich verändern würde, wäre das wahrscheinlich der wesentlichste Beitrag, um diese Länder zu stabilisieren. Nehmen wir z.B. die Agrarsubventionspolitik der EU. Jede EU-Kuh wird mit mehr als 2$ pro Tag subventioniert, das ist mehr Geld als über 3,3 Milliarden Menschen dieser Welt täglich zur Verfügung haben. Diese Subventionspolitik führt dazu, dass wir Überschüsse produzieren, die dann erneut subventioniert auf den Weltmarkt geworfen werden. Das zerstört dann u.a. die Lebensbedingungen von Bauern in afrikanischen Staaten, die mittellos in die großen Städte abwandern, was wiederum Überbevölkerung und Flüchtlingsströme zur Folge hat. Eine Korrektur unserer Agrarsubventionspolitik, natürlich auch der der Amerikaner und der Kanadier, ist also dringend notwendig. Oder nehmen wir die Entwicklungshilfepolitik. Sie zielt im Grunde darauf, die Absatzbedingungen für deutsche und andere EU-Unternehmen zu verbessern. Wir brauchen aber eine Politik, die diesen Ländern hilft, ihre eigene Wirtschaft zu entwickeln und mit ihren Produkten auf den Markt zu gehen.

W&F: Das ist langfristige Konfliktprävention, aber was ist mit den zahlreichen existierenden Konfliktherden?

Zumach: Wenn Konflikte bereits länger existieren, wenn es darum geht Konflikte zu deeskalieren, zu befrieden, möglicherweise sich auch mal in zugespitzten Situationen dazwischen zu stellen, dann braucht man dafür geschultes Personal. 1998 haben Herr Milosevic und Herr Holbrooke die Entsendung von 2.000 OSZE-Beobachtern in das Kosovo vereinbart. Wo der sofortige Einsatz notwendig gewesen wäre, dauerte es Wochen und Monate, und die beschlossene Zahl wurde nie erreicht. Es fehlte sicher in einigen Entsendestaaten die Einsicht in die politische Notwendigkeit, es fehlte aber auch geschultes Personal. Warum stellen wir uns nicht das Ziel, Deutschland bildet in den nächsten fünf Jahren 5.000 Menschen für Einsätze in Konfliktgebieten aus. Menschen mit verschiedenen Hintergründen, aus unterschiedlichen Berufen, die gut bezahlt werden und auch für die Zeit nach dem Einsatz abgesichert werden? Geschultes Personal, dass dann im Bedarfsfall der OSZE und der UNO oder auch für EU-Einsätze zur Verfügung gestellt werden kann. Das kostet natürlich Geld und man muss sich darüber im Klaren sein, man wird nicht eine hochmilitarisierte nationale- und EU-Außenpolitik finanzieren können und gleichzeitig wirklich wirksame Instrumente zur Früherkennung, zur Prävention, zur Bearbeitung und Überwindung und Deeskalation von Konflikten. Beides gemeinsam geht nicht, das ist eine entweder/oder-Entscheidung. Im Moment wird auch von dieser Regierung gesagt, wir machen zivile Konfliktbearbeitung. Wenn wir uns aber die Dimensionen ansehen, dann ist das nur ein »Tröpfchen auf dem heißen Stein« verglichen mit dem, was für den militärischen Bereich ausgegeben wird.

W&F: Sie haben die von den Friedensbewegung heftig kritisierte «Aufrüstungsverpflichtung« im EU-Verfassungsentwurf bereits angesprochen. In den Debatten um die Verfassung wird immer öfter von einem »Kern-Europa« gesprochen, auch und gerade, wenn es um die zukünftige militärische Zusammenarbeit in Europa geht. Fragmentiert sich Europa oder ist das der richtige Weg: Jeder in seinem eigenen Tempo und die anderen klinken sich dann nach und nach ein?

Zumach: Es ist der falsche Weg, weil das »Militärische« und nicht das »Zivile« dominiert. Er berücksichtigt lediglich, dass es Staaten gibt, die sagen, wir können noch nicht so schnell. Die Staaten, die sich möglicherweise jetzt ausgeschlossen fühlen aus diesem »Kern-Europa-Gedanken«, das sind ja keine Staaten, die grundsätzliche Widersprüche gegen die EU-Verfassung oder das »Solana-Papier« haben. Auch von den neutralen, den nicht NATO-Staaten in der EU, wie Österreich, Schweden und Finnland, wurde kein nennenswerter Widerspruch gegen die EU-Verfassung angemeldet, obwohl sie damit rechnen müssen, dass sie mit ihren eigenen, die Neutralität festschreibenden Verfassungen schwer unter Druck kommen.

W&F: Weil die EU-Verfassung dann Vorrang vor der nationalen Verfassung hat …

Zumach: … genau! Das heißt zwar nicht, das bei einem Kriegseinsatz der EU eines der Länder gezwungen werden kann, eigene Truppen zu stellen, aber ein solcher EU-Kriegseinsatz würde dann auch im Namen Österreichs oder Schwedens passieren. Auch das wäre natürlich ein Bruch mit der Neutralitätspolitik, da kann man sich drehen und wenden, wie man will.

W&F: Noch mal zurück zum »Kern-Europa«. Welche Rolle spielt die militärische Handlungsfähigkeit?

Zumach: Bei den USA sehen wir seit Jahren, wie sie sich eine Vielzahl von Optionen für militärische Einsätze schaffen : Im Idealfall handeln sie im Rahmen der UNO oder mit einem klaren UNO-Mandat, wenn das nicht geht, setzen sie auf die NATO, wenn das auch nicht geht, dann gibt’s eben eine »Koalition der Willigen«, die je nach konkretem Bedarf unterschiedlich aussehen kann. Bei einem »Kern-Europa« besteht die Gefahr, dass es auch als so eine Art »Koalition der Willigen« anfängt, zuerst mal mit vieren – ich glaub noch gar nicht dass Großbritannien von Anfang an dabei wäre –, dann kommt vielleicht irgendwann mal ein Fünfter dazu oder auch ein Sechster oder Siebter. Im Grunde ist das die ideale Situation: man zwingt kein EU-Mitglied bei irgendetwas mitzumachen, bei dem es unbedingt nicht will oder bei dem es innenpolitisch größere Probleme bekäme und man ist trotzdem handlungsfähig.

W&F: Handlungsfähig bei militärischen Einsätzen oder auch in Richtung Entwicklung eines »Zivilen Europa«?

Zumach: Dass darin die Chance für ein anderes Europa liegt, sehe ich nicht. Es gibt gegenwärtig keine Debatten, die Militäreinsätze grundsätzlich in Frage stellen. Bei diesem »Kern-Europa« geht es ja gerade darum, dass nicht alle 15 oder demnächst alle 25 Ja sagen müssen. Ich befürchte, dass das in der Praxis dazu führt, dass schneller militärisch gehandelt wird. Ein »Kern-Europa« – sagen wir mal Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg – wird nicht verhindern, dass die USA einen Irak-Krieg führen und es kann auch nicht verhindern, dass Polen in einem künftigen Konflikt sich wieder auf die Seite der USA schlägt. Wenn überhaupt, macht dieses »Kern-Europa« ja nur als Koalition Sinn, die eigenständig handelt, da wo andere noch nicht bereit, nicht willens oder nicht in der Lage sind. Das ist dann aber eher eine bedrohliche Entwicklung.

W&F: Eine EU, oder ein »Kern-Europa«, die weltpolitisch eine größere Rolle spielen will und deshalb forciert aufrüstet. Das erhöht das Konfliktpotential zwischen den USA und Europa und führt doch nicht zu einer neuen Machtbalance. Ich denke, wir stimmen überein, dass es undenkbar – und auch gar nicht wünschenswert – ist, dass Europa die USA militärisch einholt. Sehen Sie eine Chance für eine Kursänderung?

Zumach: Die Illusion,West-Europa oder später dann EU-Europa wäre die bessere Alternative zu den USA, hat es immer geben – auch und gerade bei den Linken und in der Friedensbewegung. Die Verhaltensweise einer vermeintlich übermächtigen Hegemonialmacht USA seit Ende des Kalten Krieges und vor allem seit dem letzten Irakkrieg, hat den Wunsch nach einer Emanzipation Europas noch einmal verstärkt.

Aber Europa ist nun mal nicht per se besser als die USA. Wenn der Grünen-Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit sagt, Europa wäre die global bessere Alternative zu den USA, dann ist es Propaganda. Und wenn Egon Bahr schreibt, der Unterschied zwischen den USA und Europa ist der Unterschied zwischen einer Hegemonialmacht, die ihre Dominanz ausdehnen will, und einem Kontinent, der friedliche Stabilität erstrebt, so kann ich nur zu seinen Gunsten annehmen, dass er das gern möchte. Tatsächlich ist Europa nur dann besser, wenn es eine andere Politik, eine andere Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik betreibt. Einige Punkte habe ich eingangs angeschnitten.

Ich denke, es ist sehr wichtig, dass sich Friedensbewegung und kritische Öffentlichkeit das klar machen. Nur dann können sie sich auch der Vereinnahmung durch gewisse offizielle Politiken erfolgreich widersetzten.

Ganz konkret denke ich, dass die EU-Verfassung sehr wichtig ist für den zukünftigen Weg der EU. Wir müssen den Streit um diese Verfassung entzünden. Das geht aber nur, wenn wir eine Kampagne starten zur vollständigen Ablehnung dieser Verfassung, die ja nicht nur in ihren militärischen Teilen problematisch ist, sondern auch in ihrem wirtschaftsliberalen und in ihrem durchgehenden Demokratiedefizit. Diesen Streit entzünden wir aber nicht, wenn wir hier einen Paragraphen und da ein paar Sätze ändern wollen.

Es wäre gut, wenn sich die globalisierungskritische Bewegung und die Friedensbewegung, die Umweltbewegung und die Nord-Süd-Solidaritätsbewegung darauf verständigen könnten, eine solche Kampagne los zu treten, in Deutschland und auch in den anderen EU-Staaten.

Eine Kampagne zur Ablehnung dieser Verfassung, verbunden mit der Forderung, dass über einen künftigen Entwurf in allen Mitgliedstaaten die Bevölkerungen abstimmen müssen, dann schließe ich nicht aus, dass wir eine Debatte bekommen, die zu Veränderungen führt. Der Wahlkampf zu den EU-Wahlen könnte dafür genutzt werden.

W&F: Vielen Dank für das Gespräch.

Andreas Zumach ist seit 1988 Korrespondent am UNO-Sitz in Genf für die Berliner taz und andere Zeitungen und Radiostationen im deutschsprachigem Raum. In den 1980er Jahren war er für die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste im Koordinationsausschuss der bundesweiten Friedensbewegung und zeitweise einer der Sprecher.

Europas Beitrag für eine multilaterale Weltordnung

Europas Beitrag für eine multilaterale Weltordnung

von Mohssen Massarrat

Die US-Außenpolitik ist unter Georg Bush, jun. aggressiver geworden und – wie vor, während und nach dem Irakkrieg deutlich wurde – treten damit auch die Differenzen innerhalb des westlichen Bündnisses stärker hervor. In Wissenschaft und Frieden 1-2004 hat Mohssen Massarrat das Zusammenwirken verschiedener hegemonialer Triebkräfte in der US-Politik untersucht, die grundlegend sind für den verschärften außenpolitischen Kurs der USA. Gleichzeitig hat er darauf hingewiesen, dass sich im Irak selbst die Grenzen der amerikanischen Expansionspolitik zeigen und dass immer mehr Amerikaner angesichts des Irak-Desasters für eine Abkehr vom eingeschlagenen Weg plädieren. Liegt hier die Chance für Schritte in Richtung einer anderen, multilateralen Weltordnung? Der Autor geht auf die verschiedenen Weltordnungsmodelle ein und der Frage nach, welche Rolle Europa im Ringen um eine humanere und gerechtere Weltordnung spielen kann.

Um es vorweg zu nehmen: Eine neue, humanitäre Weltordnung kann nicht gegen die USA durchgesetzt werden. Die USA sind und bleiben auch absehbar ökonomisch und erst recht militärisch mächtig genug, ihren Unilateralismus mit Hilfe einer Allianz der Willigen quer über den Globus für Jahre in der bisherigen bzw. in abgeschwächter Form fortzusetzen. Für eine multilaterale Ordnung entsteht letztlich erst dann eine reale Chance, wenn in den Vereinigten Staaten selbst die politische Legitimation des Unilateralismus abzubröckeln beginnt. Tatsächlich sind die Gegensätze zwischen US-Unilateralisten und Multilateralisten ohnehin größer und die Positionen vielfältiger als sie sich im US-außenpolitischen Erscheinungsbild widerspiegeln.1 Insofern täte Europa gut daran, alles zu unternehmen, was den in die Isolation geratenen Multilateralisten in den USA Auftrieb geben und alles zu unterlassen, was die US-Unilateralisten und ihre Verbündeten auch in Europa stärken könnte.2 Tatsächlich verläuft die Trennlinie für die konkurrierenden Weltordnungsmodelle nicht zwischen USA und Europa, auch nicht zwischen den Demokraten und Republikanern in den USA, sondern zwischen Unilateralisten und Multilateralisten in der ganzen Welt. Multilateral ausgerichtete Parteien und zivilgesellschaftliche Kräfte in Europa stehen vor der großen Herausforderung, Wege und Schritte aufzuzeigen, die mittel- und langfristig zu einer humaneren und gerechteren Weltordnung führen. Welche Leitbilder stehen aber für diese Perspektive zur Diskussion und welchen Beitrag haben Europas Multilateralisten dafür zu leisten? Um darauf im Ansatz einige Hypothesen zu formulieren, sollen zunächst im Folgenden die vier Hauptgruppen, die gegenwärtig im Ringen um die Weltordnungsmodelle einander gegenüber stehen, skizziert werden.

Die wesentlichen Weltordnungsmodelle

Erstens, die Unilateralisten wie George W. Bush bzw. Silvio Berlusconi, deren Weltbild stark konservative bis rassistische Züge aufweist, die Menschheit manichäisch ganz im Sinne der Hobbes’schen Welt in Gute und Böse, in Zivilisierte und Barbaren aufteilt, rechtliche Doubelstandards befürwortet, das Recht des Stärkeren zum Maßstab des politischen Handelns erhebt und insgesamt die Interessen der reichen Elite dieser Welt vertritt, die sich unter dem US-Hegemonialsystem am sichersten fühlt.3

Zweitens, die Empire-Protagonisten. Sie beschreiben das Empire als ein Frieden stiftendes Ordnungssystem, das im Grundsatz schon jetzt weltweit auf einer breiten Legitimationsgrundlage stünde und dessen Handlungen einschließlich der Kriege daher keinen Widerspruch zum Völkerrecht darstellten. Zu den wichtigsten Vertretern des Empires gehören Michael Hardt und Antonio Negri4 und der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler.5 Bei einer kritischen Betrachtung handelt es sich bei diesem Konzept jedoch um eine Konstruktion, die im Wesentlichen durch historische Analogien (z.B. mit dem Römischen Reich) bzw. Extrapolation republikanischer Ordnungsvorstellungen aus der Gründerzeit der Vereinigten Staaten auf die Gegenwart begründet wird. Die Realität von hegemonialpolitischen Interessen, die Triebkräfte und Handlungen, Brüche und Konflikte,6 werden ignoriert, verharmlost oder Empire-konform zurechtgebogen.7 Ungeachtet der unterschiedlichen Motive seiner Verfechter liefert das Empire-Modell eine ideologische Plattform für alle diejenigen, die aus verschiedenen Motivlagen den US-Unilateralismus nicht offen verteidigen, an den Pfründen der globalen Verteilungsstrukturen unter der US-Hegemonie jedoch quasi als Trittbrettfahrer mit partizipieren wollen. Auf dieser Grundlage ließe sich das Empire-Modell einerseits positiv und moralisch rechtfertigend auf ein in der chaotischen Welt angeblich Frieden und Freiheit stiftendes Ordnungssystem beziehen, andererseits gleichzeitig das real existierende unilateralistische Hegemonialsystem der USA durch verharmlosende Gleichsetzung mit dem Empire für europäische Transatlantiker akzeptanzfähig machen.

Drittens, die Befürworter eines militärisch starken Europas, die in der EU, in Deutschland und vor allem in Frankreich ganz stark vertreten sind. Stellvertretend für sie steht der ehemalige Chirac-Berater und Bestseller-Autor Emmanuel Todd, in dessen multilateraler Weltordnung nur ein emanzipiertes Europa denkbar ist, das durch Erhöhung seiner nuklearen Schlagkraft zu echter strategischer Unabhängigkeit gelangen würde.8 Derartige Vorstellungen leisten jedoch einem neuen weltweiten Wettrüsten unweigerlich Vorschub. Dabei wird Europa – wie David hinter Goliath – militärisch stets hinter dem nicht einholbaren Vorsprung der USA zurück bleiben, ökonomisch jedoch gleichzeitig verlieren, weil es seine zivilen Strukturen militarisiert und eine Umstrukturierung der eigenen Wirtschaft hin zum expansionistischen amerikanischen Pfad forcieren muss, bei dem die USA auch in Zukunft die Nase vorn haben dürften. Dieser Pfad würde zudem alle Ansätze zum Abbau globaler Ungleichgewichte, Aufbau einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung und ökologischem Umbau der Weltwirtschaft blockieren und die Spaltung in der Welt vertiefen. In diese Falle des US-Hegemonialsystems darf Europa nicht hinein tappen.

Viertens, die Verfechter eines Europa als Zivilmacht: Diese Strömung stellt grundsätzlich in Frage, dass militärische Logik und Perspektive zu mehr Stabilität und friedlichem Zusammenleben der Völker führen kann. Das Verharren im militärischen Denken lässt ohnehin den Trugschluss zu, dass Amerika wegen seines militärischen Vorsprungs alles und Europa nichts ist. Für Europa stünde demnach die Abkehr von der militärischen Logik auf der Tagesordnung, da nur so die Aussicht, dass auch in den Vereinigten Staaten die Legitimation des Militärischen als unzeitgemäß abbröckelt, wirkungsvoll verbessert werden kann. Amerikas gegenwärtige Militärmacht würde in sich zusammenfallen, sobald die Mehrheit der Amerikaner ihr die moralische und politische Legitimation entzieht. Genau in dieser Binsenweisheit liegt für das militärisch schwache Europa die Chance, moralische Macht und Handlungsstärke zu gewinnen.9 Diese Position wird in Deutschland und Europa durch die Pazifisten vertreten, die sich zwar in der Minderheit befinden, durch die großen, weltweiten Massendemonstrationen am 15. Februar jedoch neuen Auftrieb erhielten. Auf große Zustimmung stieß der Aufruf von Jürgen Habermas und Jacques Derrida »Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas«.10 Nach Habermas und Derrida „muss Europa sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren.“ Europas Gewicht besteht allerdings in der Stärke seiner Zivilmacht: einerseits bietet „die EU sich schon heute als eine Form des ‘Regierens jenseits des Nationalstaates‘ an, das in der postnationalen Konstellation Schule machen konnte“, andererseits waren auch „europäische Wohlfahrtsregime lange Zeit vorbildlich.“ Europa verfügt über ein beträchtliches moralisches Kapital, das es aus Verlusterfahrungen (Habermas) in der ersten Hälfte und den Integrationsleistungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schöpft. Das Nein von Schröder und Chirac zu Bushs Irak-Krieg – aus welchen Motiven es auch ausgesprochen wurde – und die überwältigend positiven Reaktionen bei den Kriegsgegnern in den USA selbst, in der arabisch-islamischen und in der Dritten Welt insgesamt haben einen Vorgeschmack davon geliefert, welches moralische Gewicht Europa als treibende Kraft einer gerechteren Weltordnung tatsächlich haben könnte, würde es sich vom selbst auferlegten Schattendasein und der amerikanischen Gängelung lösen und mutig mit nicht-militärischen Konzepten zur Bewältigung von Konflikten wie im Nahen Osten aufwarten.11

Habermas und Derrida plädieren vor dem Hintergrund der „historischen Erfahrungen, Traditionen und Errungenschaften“ für „eine attraktive, ja ansteckende ‘Vision‘ für ein künftiges Europa“, das allerdings „nicht vom Himmel fällt“ und eben aus der eigenen Geschichte heraus entwickelt werden muss.12 Ganz in dieser Perspektive braucht Europa Identität stiftende Projekte, die die Konturen einer auf die Zukunft gerichteten Vision nach innen und außen fühlbar und erlebbar machen. Im Folgenden seien einige an Gegenwartskonflikte angelehnte Bausteine einer von Europa voranzutreibenden multilateralen Weltordnung angeführt:

Bausteine einer multilateralen Weltordnung

Erstens: Das Desaster im Irak ist für Europa kein Anlass zur Gleichgültigkeit oder gar Häme, sondern eine wichtige Gelegenheit, konstruktive Alternativen einzubringen. Die US-Regierung ist außerstande, sich im Irak von hegemonialpolitischen Interessen zu lösen, deshalb bleibt sie für die Iraker unglaubwürdig und wird dort überwiegend als imperialistische Besatzungsmacht wahrgenommen. Angesichts der wachsenden Verluste von Soldaten ist es nur eine Frage der Zeit, dass die amerikanischen Truppen den Irak verlassen müssen. Jedweder Kompromiss, der den US-Führungsanspruch im Irak legitimiert, verlängert das Leid der Menschen – der Iraker und der Soldaten der US-Armee – und beschädigt die Autorität der UN. Deutschland und Frankreich müssten daher auf die absolute Zuständigkeit der Vereinten Nationen auch als Ordnungsmacht pochen. Für die Herstellung der Sicherheit der Bevölkerung sind nicht Anzahl der Soldaten und effiziente Kommandostrukturen entscheidend, unvergleichbar wirkungsvoller ist dagegen das Vertrauen in die Legitimität der Ordnungsmacht. Diesen Zweck könnte eine durch die UN autorisierte und aus Soldaten einiger islamischer Staaten (wie z.B. Saudi-Arabien, Ägypten, Pakistan und Jordanien) oder alternativ dazu aus neutralen europäischen Staaten (wie Schweden, Norwegen, Österreich) bestehende Ordnungsmacht trotz Inhomogenität und logistischer Ineffizienz viel wirkungsvoller erfüllen. Die Hauptaufgabe dieser Ordnungsmacht bestünde darin, den Irakern so rasch wie möglich durch eine Übergangsregierung, eine verfassungsgebende Versammlung und allgemeine Wahlen ihre Souveränität zurück zu geben. Ein kompromissloses Pochen auf ein derartiges Irak-Konzept wird zwar bei der US-Regierung auf massive Ablehnung stoßen, bei den Amerikanern jedoch – nicht zuletzt auch angesichts der steigenden Zahl toter US-Soldaten und steigender Kriegskosten – aller Wahrscheinlichkeit nach auf große Zustimmung stoßen. Und genau darauf kommt es für die Stärkung der multilateralen Perspektive auch an.

Zweitens: Der Irak-Konflikt, der Nahost-Konflikt, der Afghanistan-Konflikt, das iranische Atomwaffenprogramm, der Kurdistan-Konflikt, die unzähligen Kriege, die Millionen Gewaltopfer und die Zerstörungen in den letzten Jahrzehnten sind Symptome von komplexen Konfliktstrukturen in einer der sensibelsten Regionen der Welt. Nur ein friedenspolitisches Gesamtkonzept für den Großraum Mittlerer und Naher Osten böte die Chance, die Region mittel- und langfristig zu befrieden. Dies erfordert eine ernsthafte Initiative für die Neuauflage einer Helsinki-Konferenz mit dem Ziel der Errichtung einer Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (OSZMNO) als regionale Plattform für die Schaffung einer ABM-freien Zone, die dauerhafte Sicherheit Israels, die Gründung eines lebensfähigen Palästinenserstaates und die Regelung von ethno-kulturellen und grenzüberschreitenden Ressourcennutzungskonflikten. Europa hätte durch diese Gesamtperspektive die Gelegenheit, im Nahost-Konflikt endlich zu einer von den US-Interessen unabhängigen Position zu gelangen und die von Habermas und Derrida geforderte Gestaltungsbereitschaft und Kompetenz für eine Frieden stiftende Weltinnenpolitik im Rahmen einer neuen Weltordnung unter Beweis zu stellen.13

Drittens: Es ist auch an der Zeit, die OSZE aus dem Schatten der Nato zu lösen und sie zu revitalisieren. Die Nato passt ohnehin weder in Amerikas unilateralistische Ordnung noch in die Architektur einer multilateralen Weltordnung. Kooperative Strukturen sind dagegen tragende Pfeiler einer multilateralen Welt. Sie stellen die Grundlage für den Beginn einer neu zu initiierenden weltweiten Abrüstung von Massenvernichtungsmitteln dar. „Nach der US-Entscheidung zur Entwicklung von ballistischen Raketenabwehrsystemen … ist die Gefahr eines neuen nuklearen Wettrüstens äußerst real“, konstatiert Joseph Rotblat, Träger des Friedensnobelpreises und Symbolfigur der Pugwash-Bewegung. Die vollständige Abschaffung von Atomwaffen ist, wie Rotblat es in seinem alarmierenden Appell gefordert hat,14 eine der dringendsten Menschheitsaufgaben und gehört daher auf die Agenda der internationalen Politik. Die wirksamste Methode zur Nichtverbreitung von Atomwaffen ist deren vollständige Abschaffung, zu der sich alle Atommächte im nuklearen Nichtverbreitungsvertrag verpflichtet haben. Es ist nicht nur unglaubwürdig und moralisch verwerflich, sondern auch praktisch wirkungslos, die Nicht-Atomstaaten zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen verpflichten zu wollen, das Monopol von Atomwaffenstaaten jedoch nicht anzutasten. Europa verfügt weltweit über beste Voraussetzungen, aus Eigeninteresse und auch mit Blick auf eine gerechtere Weltordnung zum Wortführer eines neuen Abrüstungsprozesses zu werden. Mit den bestehenden Atomwaffenarsenalen und asymmetrischen Abhängigkeitsstrukturen auch für Europa wird die Lebensdauer des US-Hegemonialsystems nur noch verlängert. Europas Abrüstungsinitiative bedeutet aber, zunächst bei sich selbst anzufangen, die eigenen Atomwaffen, die ohnehin ihren sicherheitspolitischen Sinn längst verloren haben, einseitig abzurüsten. Dann wären die Politstrategen und der US-Militärindustrielle Komplex an der Reihe, den Amerikanern zu erklären, warum Amerika das Teufelszeug weiterhin benötigt.

Viertens: Eine neue nachhaltige, stabile und multilaterale Weltordnung kann nur durch den Abbau fossiler Abhängigkeitsstrukturen und auf der Basis einer regenerativen Weltenergieordnung entstehen. Dazu müssten – quer durch die bestehenden Blöcke und Regime – strategische Allianzen gebildet werden, in denen die heutigen Öl produzierenden Staaten eine wichtige Position einnehmen, und dadurch für sich auch die Perspektive sehen, Schritt für Schritt aus der fossilen Energieproduktion auszusteigen. Europa kann und muss dabei die Vorreiterrolle spielen. Auch die Vereinigten Staaten werden sich der Perspektive einer erneuerbaren Weltenergieordnung – ist sie einmal eingeleitet und erlebbar geworden – auf Dauer nicht verschließen können. Der Legitimationsdruck auf die Energie- und Klimapolitik der USA wäre um so stärker, würde Europa mit einem Teil der OPEC-Staaten, vor allem mit Iran, Venezuela, Indonesien, Algerien sowie mit Russland und Mexiko, in eine Allianz für eine zukunftsfähige neue Weltenergieordnung eintreten. Diese Allianz ist möglicherweise nötig, um den multilateral ausgerichteten Reformkräften in den USA neuen Auftrieb zu geben und den Blick der Gesellschaft auf ökonomische innen- und außenpolitische Innovationspotentiale des neuen Energiezeitalters zu lenken.15

Fünftens: Eine multilaterale Welt braucht eine gerechte Weltwirtschaftsordnung. Ein System, das die eigene Wohlstandsvermehrung dadurch institutionalisiert, dass es andere daran hindert, ihren Hunger zu stillen, verwirkt seine moralische Legitimation. Europa muss aufhören, die internen Wachstums- und Verteilungsprobleme mittels Handelsbarrieren und Subventionen vor allem im Agrarsektor zu Lasten der schwächsten Glieder in der Hierarchie der Weltwirtschaft, nämlich Hunderte Millionen Menschen in der Dritten Welt, zu bewältigen. Es muss auch in dieser Beziehung eine Vorreiterrolle übernehmen und die eigene friedens- und zivilmachtpolitische Glaubwürdigkeit wirtschafts- und sozialpolitisch untermauern.

Diese oben aufgeführten Initiativen sind einige aktuelle und konkrete Beispiele, den schwierigen politischen Prozess der Ausgestaltung einer multilateralen Weltordnung vorstellbar zu machen. Multilateralisten in Europa und Verfechter einer gerechteren Weltordnung in der ganzen Welt stehen vor der schwierigen, jedoch perspektivreichen Aufgabe, durch eine eigene Gerechtigkeits- und Friedensethik die Herzen von Milliarden Menschen zu gewinnen. Es gilt, die kulturelle Hegemonie der reichen Weltelite, des Militärindustriellen Komplexes, des Unilateralismus’ und des Neoliberalismus’ durch die kulturelle Hegemonie des Friedens und der Gerechtigkeit zu überwinden. Die weltweiten Antikriegsdemonstrationen am 15. Februar 2003 waren ein historisch wichtiger Meilenstein auf dem bevorstehenden langen Weg.

Anmerkungen

1) Vgl. Näheres dazu Hippler, Jochen, 2003: Unilateralismus der USA als Problem der internationalen Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31-32/2003.

2) „Wir müssen daran denken“ sagte Horst Eberhard Richter am Antikriegstag bei einer DGB-Veranstaltung in Frankfurt, „dass ohne einen Bewusstseinswandel innerhalb der USA durchgreifende friedenspolitische Fortschritte im Weltmaßstab unerreichbar bleiben.“ (Frankfurter Rundschau 03.09.2003)

3) Einer der Wortführer dieser Richtung, der die unilateralistische Perspektive am klarsten formuliert und offensiv vertritt, ist der US-Präsidenten-Berater Robert Kagan. Vgl. dazu seine Schrift : Macht und Schwäche, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 10/2002.

4) Vgl. dazu Hardt, Michael und Negri, Antonio, 2002: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/New York.

5) Münkler, Herfried, 2003: Im Kampf gegen die Unordnung. Was viele Europäer nicht verstehen : Im Irak ging es für das Imperium USA selbst um die Befriedung einer Peripherzone, in: Frankfurter Rundschau vom 28. August 2003.

6) Vgl. dazu Massarrat, Mohssen: Irak – Es ging nicht nur um Öl, in: Wissenschaft und Frieden Nr. 1/2004.

7) Ausführlichere Kritik vgl. Massarrat, Mohssen: Die Imperative des Imperiums. Über einen erstaunlichen Versuch, die Aggression gegen den Irak politisch und moralisch zu rechtfertigen, in: Freitag, 21. März 2003.

8) Todd, Emmanuel: Weltmacht USA. Ein Nachruf, München 2003, S. 217.

9) Näheres vgl. Massarrat, Mohssen: Friedensmacht Europa. Die neue Ordnung im Nahen und Mittleren Osten nach dem Irak-Krieg, in: Frankfurter Rundschau, 27. März 2003.

10) Veröffentlicht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 31. Mai 2003. Vgl. auch Habermas, Jürgen: Europäische Identität und universalistisches Handeln, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 7/2003.

11) Vgl. dazu auch Pradetto: Der Irak, die USA und Europa, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2/2003, S. 170.

12) Habermas und Derrida bleiben, was die konkreten Elemente dieser »Vision« betrifft, in ihrem Mai-Aufruf allerdings recht unpräzise und begnügen sich mehr oder weniger mit Allgemeinplätzen. Im Interview mit den Blättern für deutsche und internationale Politik wird Habermas jedoch konkreter. Die Identität stiftende Perspektive für Europa könne beispielsweise erreicht werden durch „Harmonisierung der verschiedenen sozialpolitischen Regime“, weil damit Umverteilungen verbunden sein werden, für die ein gehöriges Maß an Solidarität und „staatsbürgerlichem Zusammengehörigkeitsgefühl… nötig ist.“

13) Der Umgang mit dem aktuellen Problem des iranischen Atomprogramms gehört in den Rahmen eines regionalen Sicherheitskonzepts. Eine selektive Behandlung dieses Problems und einseitige Anwendung der Vorschriften des Atomwaffensperrvertrages auf Nicht-Atomwaffenstaaten beschädigt die Glaubwürdigkeit der EU und lässt sie in den Augen der Iraner als Komplize der USA und Israel erscheinen. Näheres dazu vgl. Massarrat, Mohssen: Irans Atomenergieprogramm – Motive und Alternativen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 4/2004. Dass sich die Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen im Mittleren und Nahen Osten nicht auf den Iran beschränken lässt, belegen die Bestrebungen Saudi-Arabiens, ebenfalls zu Atomwaffen zu gelangen. Vgl. dazu den Bericht in der Frankfurter Rundschau vom 19. September 2003: Saudi-Arabien denkt über eigene Atomwaffen nach.

14) Rotblat, Joseph: Es wächst die Gefahr, dass ein neues nukleares Wettrüsten beginnt, in: Frankfurter Rundschau vom 6. August 2003.

15) Vgl. ausführlicher dazu Massarrat, Mohssen: Strategische Allianz für den Einstieg in das Zeitalter erneuerbarer Energien, in: Solarzeitalter Nr. 4/2002.

Dr. Mohssen Massarrat ist Professor für Politik und Wirtschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück

Es ging nicht nur um Öl

Es ging nicht nur um Öl

Das US-Hegemonialsystem und der Irak-Krieg

von Mohssen Massarrat

Die Vereinigten Staaten führten nach dem zweiten Weltkrieg beinahe ein halbes Jahrhundert unangefochten die westliche Welt. Ihre Führungsposition beruhte auf ökonomischer, politischer, militärischer und auch kultureller Hegemonie. Europa und die gesamte westliche Welt orientierten sich am American way of life und legitimierten in Abgrenzung vom sowjetischen Lager aus Eigeninteresse und Überzeugung alle US-dominierten multilateralen Institutionen wie die Weltbank, den IWF, die WTO und die NATO. Doch seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion offenbart sich ein ganz anderes Amerika. Den historischen Wandel bringt der »Spiegel« (Nr. 30/2003) auf den Punkt: Der Irakkrieg „war der erste Krieg einer Weltmacht, die sich entschlossen hat, die Welt mehr mit dem American way of war zu beeindrucken als mit dem American way of life.“ Dieser Wandel ist nicht nur auf die neue US-Regierung zurück zu führen, das offensiv-missionarische und aggressiv-kriegslüsterne Auftreten der Neokonservativen darf über die Grundstrukturen des neuen Amerikas nicht hinweg täuschen.

Die USA stellen ein komplexes Hegemonialsystem dar mit vier, ihrem Wesen nach unterscheidbaren und voneinander unabhängigen, jedoch hegemonialpolitisch verschränkten Säulen: die innergesellschaftlichen, sicherheitspolitisch-militärstrategischen, geostrategischen und währungspolitischen Triebkräfte (siehe Abbildung auf S. 12).

Innergesellschaftliche Spaltung, Militärindustrieller Komplex und Hegemonialsystem

Die US-Gesellschaft war und ist eine multikulturell, multiethnisch, sozial und räumlich zutiefst gespaltene Gesellschaft. Die nicht-europäischen Einwanderergemeinden wie die Chinesen und Latinos leben neben den Schwarz-Amerikanern immer noch in Ghettos, eine Integration der in ihrer überwältigenden Mehrheit unterprivilegierten Farbigen hat immer noch nicht stattgefunden. Der Individualismus, die kommunale Basisdemokratie und der Dezentralismus stellen zwar eine tragfähige Grundlage der bewundernswerten kulturell-künstlerischen Errungenschaften dar, die Amerika für viele in der Welt attraktiv machen, sie stehen jedoch dem auf Grund der territorialen Ausdehnung des Landes besonders ausgeprägten Zentralismus in Washington und der damit einhergehenden Entpolitisierung der Menschen bei weltpolitischen Themen gegenüber. Die positiven Auswirkungen des American way of life und der kulturellen Hegemonie der USA in der westlichen Welt einerseits und die äußere Bedrohung durch den sowjetischen Feind andererseits reichten jedoch offensichtlich aus, um die innergesellschaftlich-soziokulturelle und territoriale Kluft über Jahrzehnte zu verdecken und eine breite gesellschaftliche Legitimation für die innen- und außenpolitischen Projekte der USA herzustellen. Doch der American way of life erhielt mit der Krise des fordistischen Konsummodells deutliche Kratzer, das Feindbild Kommunismus verschwand mit der Sowjetunion, der Neoliberalismus verstärkte die Ellenbogenmentalität und die kollektiven Ängste gerade angesichts des Fehlens eines angemessenen sozialen Netzes.1

Es ist durchaus kein Zufall, dass in den letzten zwei Jahrzehnten die Religion und religiöses Denken nach einer längeren Dominanzperiode radikal-liberaler Traditionen erneut in die US-Gesellschaft und -Politik Einzug gehalten hat. Nach Meinungsumfragen „bezeichnen sich 46 Prozent der US-Bürger – wie George W. Bush – als evangelikale Christen, das heißt als ‘wiedergeboren‘ ; 48 Prozent lehnen die Evolutionstheorie als Ketzerei ab, 68 Prozent glauben, sie seien schon einmal dem Teufel begegnet… Und Tom de Lay, der republikanische Fraktionschef im Repräsentantenhaus glaubt sich von Gott berufen, die ,biblische Weltanschauung‘ in der amerikanischen Politik zu stärken, wonach nur das Christentum lehre, wie man ,mit den Realitäten dieser Welt zurechtkommen‘ könne.“2 Noch deutlicher bekannte sich der Präsident selbst sich zu einer Religiosität. Die Rede ist von George W. Bushs „Mission, ‘die der göttlichen Vorsehung folgt‘, vom ‘demütigen Führer eines großen Landes‘, vom ‘Bruder in Christus‘ und von der Freiheit, ‘die nicht Amerikas Geschenk an die Welt … sondern ein Gottesgeschenk an die Menschheit sei‘“3 Horst Eberhard Richter spricht in diesem Zusammenhang von der „moralischen Krise der Amerikaner.“4

Besorgnis erregend ist dabei, dass der übermächtige Militärindustrielle Komplex (MIK) und das Pentagon samt der ihnen nahestehenden, mit den US-Massenmedien wirkungsvoll vernetzten »Denkfabriken«, wie dem American Enterprise Institut, es verstanden haben, diese »moralische Krise der Amerikaner« für die Zustimmung zu einer aggressiven Außenpolitik zu kanalisieren. Der MIK, der der US-Gesellschaft einen beträchtlichen Anteil der Ressourcen wegnimmt, hat im Unterschied zur Autoindustrie oder Ölindustrie keine sozialen Verbündeten in der US-Gesellschaft. Vor allem nach dem Wegfall des Feindbildes Sowjetunion ist er auf neue tatsächliche oder vermeintliche Bedrohungen, auf neue Feindbilder und Konflikte angewiesen, um seinen Fortbestand innenpolitisch zu legitimieren. Die innergesellschaftliche Konsensbildung jenseits der soziokulturellen Gegensätze und territorialen Divergenzen gerät so in die Abhängigkeit von neuen Bedrohungspotentialen jenseits der Vereinigten Staaten, die Suche nach neuen Feinden wird zu einem Wesensmerkmal des neuen Amerikas: „Ein halbes Jahrhundert lang standen die USA für politische und wirtschaftliche Freiheit“ schreibt Emmanuel Todd in der Einleitung seines »Nachrufes« auf die Weltmacht USA. „Aber heute“, konstatiert Todd „erscheinen sie immer mehr als ein Faktor der internationalen Unordnung, und wo sie können, fördern sie Instabilität und Konflikte.“5 Zahlreiche Ereignisse in den letzten zwei Jahrzehnten untermauern diese Beurteilung.

Die US-Intervention im Iran/Irak-Krieg zu Gunsten des Iraks in den achtziger Jahren hat die Konfliktstrukturen im Mittleren Osten vertieft, das Saddam-Regime gestärkt und dessen Überfall auf Kuwait gefördert. Auch in den neunziger Jahren haben die Vereinigten Staaten beim Bosnien- und Kosovo-Konflikt auf dem Balkan die Chancen nicht-militärischer Lösungen leichtfertig verspielt und Militärinterventionen eindeutig den Vorzug gegeben. Besonders folgenreich ist der Umgang der USA mit dem Nahost-Konflikt. Todd spricht offen aus, was viele in Europa und anderen Weltregionen denken. Sie verstehen nicht, konstatiert Todd, „warum Amerika den Konflikt zwischen Israel und Palästina nicht regelt, obwohl es dazu in der Lage wäre. Sie fragen sich allmählich, ob es Washington ins Konzept passen könnte, dass dieser ständig schwelende Konflikt im Nahen Osten existiert und dass die arabischen Völker wachsende Feindseligkeit gegenüber der westlichen Welt bekunden.“6 Die US-Nahost- und -Afghanistanpolitik hat die islamisch-fundamentalistischen Strömungen in der islamischen Welt gestärkt und dem internationalen Terrorismus den Nährboden geliefert.

Gewollt oder ungewollt hat sich eine unheilige Allianz zwischen dem Pentagon und dem internationalen Terrorismus herausgebildet, die sich gegenseitig hochschaukeln. Im Irak arbeiten offenbar Anhänger des alten Regimes inzwischen mit der Al Qaida sehr eng zusammen, der durch die US-Regierung konstruierte Kriegsgrund wurde erst durch den Irak-Krieg tatsächlich herbeigeführt. Die Schurkenstaaten-Theorie entstand in der Ära von Präsident Clinton, die neokonservativen Republikaner ergänzten diese Konstruktion durch die Erfindung der »Achse des Bösen«. Das Regime von Saddam Hussein, das zu dieser »Achse« gehörte, wurde inzwischen gestürzt. Unzählige Pläne gegen den Iran und Nordkorea – die anderen, zu dieser Achse gehörenden »Schurkenstaaten« – warten auf ihre Umsetzung, so z.B. der CIA-Plan, die iranischen Nuklearanlagen durch Militärschläge anzugreifen,7 und der »Plan 5030« des US-Verteidigungsministeriums zum Zweck gezielter und riskanter Provokationen an der Süd-Nordkoreanischen Grenze.8

US-Nuklearstrategie und Hegemonialsystem

Während der Ära des »Kalten Krieges« war der Hauptadressat des westlichen nuklearen Abschreckungssystems naturgemäß die Sowjetunion. In diesem System standen die europäischen Verbündeten der USA, aber auch Japan, unter dem nuklearen Schutzschirm der USA. Sie wurden sicherheitspolitisch damit de facto zu Protektoraten der USA und akzeptierten ihrerseits bereitwillig deren Hegemonialposition. Mit der Auflösung der Sowjetunion und der Bereitschaft der sowjetischen Führung unter Gorbatschow zur umfassenden Abrüstung auch bei den ABC-Waffen entstand für Europa und Japan historisch die reale Chance, sich von ihrem Protektorats-Status zu lösen und ihren außenpolitischen Handlungsspielraum im Rahmen einer multilateral ausgerichteten Weltordnung zu erweitern. Doch kam es aller Wahrscheinlichkeit nach auch aus demselben Grund nicht zu dieser allgemein erhofften Entwicklung. Bereits Ende der achtziger Jahre scheinen sich jene Kräfte in den USA durchgesetzt zu haben, die ganz im Sinne einer unilateralistischen Weltordnung die im Kalten Krieg entstandenen sicherheitspolitischen Abhängigkeiten Europas und Japans aufrecht erhalten wollten. Die begonnene Abrüstung von strategischen Trägersystemen und ABC-Waffen wurde bereits vor dem Ende des Kalten Krieges gestoppt, die Pläne für den Aufbau von Raketenabwehrsystemen im Weltraum aktualisiert.

Die US-Politikstrategen handelten schon damals nach Imperativen, die Brzezinski in seiner »Strategie der Vorherrschaft« präzise formuliert hat, nämlich „Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeiten in Fragen der Sicherheit zu bewahren.“9 Die neokonservativen Unilateralisten führten Brzezinskis strategische Ideen in ihrem Projekt »American Century« konsequent zu Ende. Präsident George W. Bush kündigte Ende 2001 endgültig Amerikas Rückzug von dem seit 1972 gültigen ABM-Vertrag an.10 Das Pentagon entwickelte neue Militärstrategien, die den Einsatz von Atomwaffen auch gegen Nicht-Atomstaaten ausdrücklich vorsehen,11 die US-Regierung weigert sich, den Vertrag über die nukleare Nichtweiterverbreitung von 1968 zu erfüllen und bewilligt Haushaltsmittel für die Entwicklung von neuartigen nuklearen Sprengköpfen.12 Ob es bei der Installierung von Raketenabwehrsystemen wirklich darum geht, die eigene Verwundbarkeit gegen atomare Bedrohungen auszuschließen, bleibt dahin gestellt. Erreicht wird auf jeden Fall die Aufrechterhaltung eines diffusen nuklearen Bedrohungspotentials, das quasi als nukleares Damoklesschwert die mächtigsten ökonomischen Rivalen der USA, Japan und die EU, davon zurückhält, sich von ihrem Protektoratsstatus zu lösen und die unilateralistische US-Hegemonie, wenn auch zähneknirschend, hinzunehmen. Die atomare Sicherheitsstrategie der USA ist insofern nicht allein gegen traditionell »feindliche« Atommächte wie Russland und China, sondern hegemonialpolitisch gesehen auch gegen eigene westliche Verbündete gerichtet.

Öl, Geostrategie und Hegemonialsystem

Das ökonomische Interesse der USA an Ölressourcen des Mittleren Ostens ist unbestritten. Dieses Interesse ist vielschichtig und zielt einerseits auf die US-Ökonomie selbst, somit ist es von innenpolitischer Relevanz ; andererseits zielt es auf die US-Außenpolitik und ist in der herausragenden Bedeutung begründet, die die mittelöstlichen Ölquellen im Hegemonialsystem der USA einnehmen. Für die US-Ökonomie sind wiederum zwei Funktionen der mittelöstlichen Ölquellen zu unterscheiden: Erstens als Öllieferant, wobei dieser Aspekt nicht der wichtigste ist, da die USA bisher nur ein Viertel ihres Importbedarfs aus dieser Region beziehen. Zweitens als Steuerungshebel der Öl- und Energieweltmarktpreise, da im Mittleren Osten 67% der weltweiten Ölressourcen mit den niedrigsten Produktionskosten vorkommen. Bei einer Preisdifferenz von beispielsweise 10 Dollar/Barrel sparen die USA bei einer Importmenge von jährlich 3,8 Mrd. Barrel Öl 38 Mrd. Dollar an Devisen, die US-Ökonomie als Ganzes spart bei einem Gesamtverbrauch fossiler Energien von 15 Mrd. Barrel Öläquivalent (Kohle, Öl, Erdgas) aus Eigenproduktion und Import ca. 150 Mrd. Dollar Energiekosten ein.13 Bei einer Preisdifferenz von 20 Dollar erhöhen sich diese Beträge auf das Doppelte.14 Die Einflussnahme auf die Öl- und Energiepreise und deren Regulierung auf ein der US-Ökonomie zuträgliches Niveau war vor allem auch aus innenpolitischen Gründen das Ziel aller US-Regierungen. Billigöl galt und gilt immer noch als Lebenselixier des American way of life und als Wachstumsmotor der US-Wirtschaft. Die mittelöstlichen Ölquellen könnten – sofern kein grundlegender Wandel auf regenerative Versorgungsstrukturen stattfindet – in Zukunft wegen der Knappheitstendenzen fossiler Energien in den USA und in anderen Weltregionen einen deutlich höheren Stellenwert erlangen. In der Vergangenheit dominierte jedoch das Interesse der USA, den Ölpreis im Rahmen einer umfassenderen Strategie der Kontrolle und Beherrschung der weltweiten Energieversorgung zu lenken. Diese Strategie sollte der zweifachen Interessenkonstellation der USA, nämlich den spezifisch innenpolitischen und den hegemonialpolitischen Interessen, Rechnung tragen. Innerhalb dieser Strategie kam einer engen Kooperation mit Saudi-Arabien als dem größten Ölproduzenten und -exporteur sowie Kuwait und den Arabischen Emiraten, die zusammen über einen Weltmarktanteil von 17,4% und 45% der OPEC-Produktion verfügen, die Schlüsselrolle zu.

Die USA verfügten darüber hinaus im letzten halben Jahrhundert über vielfältige ökonomische, geheimdiplomatische Instrumente, um die Ölweltmarktpreise über mehrere Jahrzehnte zu steuern.15 Die hegemonialpolitische Interessenkonstellation der USA beruht auf der Abhängigkeit ihrer traditionell sicherheitspolitischen Vasallen, nämlich der EU und vor allem Japan sowie darüber hinaus auch der asiatischen Schwellenländer von den mittelöstlichen Ölquellen.16 Die US-Hegemonie gegenüber diesen Staaten stützte sich während des »Kalten Krieges« außer auf die Säule des nuklearen Schutzschirmes auch auf die Säule der störungsfreien Ölversorgung zu niedrigen Preisen. Der Unilateralismus verlangt die Beibehaltung der nuklearen Säule und Verstärkung der Energieversorgungssäule. Letztere eignet sich hervorragend dazu, auch Indien und China als Atomstaaten und ökonomisch aufsteigende Großmächte, deren Ölnachfrage und Ölabhängigkeit von mittelöstlichen Energiequellen drastisch zunimmt, dem Hegemonialsystem unterzuordnen und gleichzeitig Russland als potentiell militärischen Rivalen mit eigenen energie- und geostrategischen Interessen an den Rand zu drängen. Dazu bedürfte es allerdings nicht nur einer verstärkten Kontrolle von Ölquellen der Persischen Golf-Region, sondern der Ausdehnung dieser Kontrolle auch auf die Kaspische Meer-Region.

Doch damit die öl- und geostrategische Säule im Hegemonialsystem die beschriebene Bedeutung erlangen kann, muss der Hegemon den gesamten Raum »Greater Middle East« militärisch, logistisch und ökonomisch direkt oder indirekt beherrschen. Dazu gehören:

  • ein dichtes Netz militärischer Stützpunkte und Präsenz der US-Armee an strategisch wichtigen Standorten,
  • eine möglichst große Zahl von Verbündeten und von den USA abhängiger Regime,
  • die totale Kontrolle der Versorgungsstrukturen und Transportrouten für Öl und der Gaspipeline sowie des Zugangs zu den Weltmeeren und
  • die Beteiligung einer möglichst großen Zahl von US-Konzernen im Energie- und Infrastrukturanlagen-Bereich.

Im Lichte dieser hegemonialpolitischen Geostrategie erscheinen der Sturz der Taliban in Afghanistan und des Regimes von Saddam Hussein im Irak sowie die Installierung von US-freundlichen Regimen in beiden Ländern als besonders wichtig. Ihnen kommt sogar die Schlüsselfunktion zu: Afghanistan wegen des Pipeline-Projekts für den Transport von Erdgas und Öl vom Kaspischen Meer zum Indischen Ozean, und Irak, um vor allem Saudi-Arabien bei Bedarf unter Druck setzen zu können.

Dollar und Hegemonialsystem

Als Leitwährungsland verfügen die USA über die Option, die inländischen Investitionen über Auslandsverschuldung zu finanzieren und diese über den Hebel der Notenpresse zu bedienen. Seit dem Zusammenbruch des Bretton-Wood-Systems entschieden sich die US-Regierungen verstärkt für den bequemen Weg eines durch den Rest der Welt mitfinanzierten Wachstumsmodells. Charles A. Kupchan, der Berater von Präsident Clinton, bringt das Wundermodell auf den Punkt: „Das Land muss seinen Way of life finanzieren, sein Handelsbilanzdefizit ausgleichen, es liebt den Konsum und hasst es zu sparen. Deshalb haben sich Investoren Amerika als Investitionsort ausgesucht, sie lieben den Dollar und seine Stabilität.“17 „Hass auf Sparen und Lust auf Konsum“, somit ein Leben über die eigenen Verhältnisse und auf Kosten aller anderen Nationen. Diesen Luxus können sich dank des Dollars als Leitwährung nur die Vereinigten Staaten leisten. Die Netto-Auslandsverschuldung der USA stieg als Folge der fremdfinanzierten Investitionspolitik von 250 Mrd. in 1982 auf 2.000 Mrd. US-Dollar in 2000, dies macht 22,6% des US-Bruttoinlandsproduktes aus.18 Dieser bequeme Weg der Wohlstandsvermehrung ist allerdings nur so lange möglich, wie der Dollar seine Leitwährungsfunktion beibehält. Verliert der Dollar diesen Status an den Euro, so könnte das „Staaten und Privatanleger veranlassen“, konstatiert Kupchan, „bei Rücklagen und Investitionen dem Euro den Vorzug vor dem Dollar einzuräumen. … Das hätte schwerwiegende Folgen für das Land, das extrem abhängig von ausländischem Kapital ist.“19 Anstatt dieser Perspektive durch umfassende sozial-ökologische Reformen vorzubeugen, zieht es die politische Führung der USA vor, die Leitwährungsfunktion des Dollars und den privilegierten Status der asymmetrischen Handels- und Kapitalflüsse trotz offensichtlicher Risiken hegemonialpolitisch aufrecht zu erhalten.

Dem Erdöl kommt in diesem Zusammenhang in zweifacher Hinsicht eine Schlüsselrolle zu. Zum einen, weil der Ölmarkt der größte Einzelprodukt-Markt ist und der weltweite Ölhandel auf Dollar-Basis daher einen wichtigen Stabilitätsfaktor der US-Währung darstellt. Zum anderen, weil die größten Ölexporteure Saudi-Arabien, Kuwait und Arabische Emirate bisher ihre Devisenüberschüsse – bis 1990 rund eine Billion Dollar – in erster Linie in den USA investierten.20 Saudi-Arabien steht unter massivem Druck, nicht nur den Ölverkauf weiterhin in US-Dollar abzuwickeln, sondern auch das eigene Kapitalvermögen – rund 400 Mrd. Dollar – nicht aus den USA abzuziehen. So gesehen werden Öl und Geostrategie auch währungspolitisch zu einem hegemonialpolitischen Faktor, Ölkriege werden gleichzeitig auch Währungskriege. Dies gilt auf besondere Weise gerade auch für den Irak-Krieg. Der Irak hatte schon Ende 2000 damit begonnen, die tägliche Ölförderung von 2,4 Mio. Barrel in Euro abzuwickeln. Auch der »Schurkenstaat« Iran verkauft sein Öl zum Großteil in Euro, damit drängt sich der Euro zum ersten Mal in eine klassische Dollar-Domäne.21 Als Besatzungs- und Hegemonialmacht mitten in der Persischen Golf-Region hoffen die USA, den für die eigene Volkswirtschaft lukrativen Kreislauf von Rüstungsgüter gegen Petro-Dollars nicht nur für die Zukunft am Leben zu erhalten, sondern zusätzlich auch die Position des Dollars durch umfangreiche Wiederaufbau-Aufträge an die US-Konzerne zu stärken.22

Grenzen des neuen Amerikas

Lange vor dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums war es absehbar: Die Welt bewegte sich unaufhaltsam auf eine multipolare Zukunft zu. Neue ökonomische Riesen, wie die EU, Japan und China, kündigten sich als eigenständige ökonomische und politische Zentren an. Auf diese Entwicklung reagierte das neue Amerika trotzig, rückwärtsgewandt und narzistisch. Die Repräsentanten Amerikas fürchten den endgültigen Verlust der historisch einmaligen Position mit der magnetischen Anziehungskraft für Menschen und für das Kapital auf dem gesamten Globus. Anstatt sich durch umfassende Reformen und einen sozialen, ökonomischen und ökologischen Strukturwandel der multipolaren Entwicklung anzupassen, hoffen sie darauf, den erlangten Status auf Grund des unerreichbaren militärischen Vorsprungs auch in Zukunft halten und gegebenenfalls sogar ausbauen zu können. Der gesamte Globus wird in militärische »Schutzzonen« aufgeteilt,23 die von den USA dominierten multilateralen Institutionen der Weltwirtschaft wie IWF, Weltbank und WTO werden immer offensiver in den Dienst der globalen Umverteilung zu Gunsten der eigenen Volkswirtschaft gestellt. Der Neoliberalismus liefert mit seinen Postulaten Liberalisierung, Privatisierung und Wachstum durch Verbilligung der Arbeits- und Naturressourcen die ideologische Rechtfertigung der globalen Reichtumsumverteilung. Die militärischen Kosten der amerikanischen Hegemonialordnung – mögen sie auch mehrere hundert Milliarden Dollar im Jahr betragen – dürften nur einen Bruchteil der Gewinne ausmachen, die Amerika dank seiner Hegemonialordnung gewissermaßen als »Hegemonialrente« aus der Weltwirtschaft abschöpft.

Im Irak-Krieg, dem vorläufigen Höhepunkt von Amerikas Hegemonialpolitik und dessen Strategie der Vorherrschaft, kamen wie in keinem anderen Krieg der USA in den letzten Jahrzehnten nahezu alle entscheidenden hegemonialstrukturellen Triebkräfte, wie sie oben analysiert wurden, zum Tragen. Der Irak-Krieg war nicht – wie überwiegend angenommen wurde – nur ein Ölkrieg, er war gleichzeitig ein innenpolitischer, ein rüstungs- und militärstrategischer, öl- und geostrategischer und ein währungspolitischer Krieg.

Doch in dem Land, in dem der politische Erfolg des neuen Amerikas vorexerziert werden sollte, zeigen sich auch die Grenzen eben dieses neuen Amerika. Die Iraker weigern sich – trotz ihrer bitteren Erfahrungen mit dem alten Regime – die militärische Besatzung Iraks als Befreiung zu legitimieren. Das Desaster im Irak führt dazu, dass immer mehr Amerikaner aus Politik und Wissenschaft sich zu Wort melden und für eine Abkehr vom eingeschlagenen Weg plädieren. Eine Chance, den Aufbau einer anderen, humaneren Weltordnung einzuleiten.

Anmerkungen

1) Vgl. dazu auch Nielebock, Thomas: Die amerikanische Krisen- und Kriegspolitik im Lichte innenpolitischer Motive, in: Frankfurter Rundschau, 26.02.1991; Krell, Gerd: Arroganz der Macht, Arroganz der Ohnmacht. Der Irak, die Weltordnungspolitik der USA und die transatlantischen Beziehungen, HSFK-Report I/2003, Frankfurt/M.

2) Lapham, Lewis H.: Die Faust des Gerechten. Der religiöse Faktor in der US-Politik, in: Le Monde diplomatique, Juli 2003. Vgl. ferner Lazare, Daniel: Die Glaubensgemeinschaft USA und ihre Ketzer. in: Le Monde diplomatique, August 2002.

3) Lapham 2003.

4) Richter, Horst Eberhard: Stillhalten ist tödlich. Eine Lehre des Krieges gegen Irak, in: Frankfurter Rundschau, 3.09.2003.

5) Todd, Emmanuel: Weltmacht USA. Ein Nachruf, München, 2003, S. 13.

6) Todd, 2003, S. 15.

7) Die Los Angeles Times berichtet diesbezüglich über einen »CIA-Eventualplan«. Vgl. dazu Neue Osnabrücker Zeitung, 3.08.2003.

8) Vgl. dazu Karl Grobe in der Frankfurter Rundschau, 09.09.2003.

9) Brzezinski, Zbignew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt/M., 1997, S. 65.

10) Vgl. dazu Kubbig, Bernd W.: Jetzt haben die USA den Freifahrtschein für unbegrenzte Aufrüstung, in: Frankfurter Rundschau, 14.06.2002, und Nassauer, Otfried: Die Rückkehr der Atomkrieger, in: Frankfurter Rundschau, 13.05.2003.

11) So beispielsweise im Nuclear Posture Review vom Januar 2002. Ferner in: Nationale Strategie zur Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen …, vgl. dazu Rotblat, Joseph: Es wächst die Gefahr, dass ein neues nukleares Wettrüsten beginnt, in: Frankfurter Rundschau, 06.08.2003.

12) Ebenda und Nassauer 2003.

13) Die Mengenangaben beziehen sich auf 2002. Eigene Berechnung nach British Petroleum, BP Statistical Review of World Energy, 2003, London.

14) Hierbei wird von einem hypothetischen Knappheitspreis für Öl ausgegangen, der sich auf den Weltmärkten frei herausbilden würde. Dieser Preis dürfte sich dann auf einem deutlich höheren Niveau – um ca. 50 Dollar/Barrel – bewegen. Beim aktuellen Ölpreis von ca. 25 Dollar/Barrel geht es in Wirklichkeit um Abschöpfung von Preisdifferenzen um ca. 25 Dollar/Barrel. Näheres dazu vgl. Massarrat: Das Dilemma der ökologischen Steuerreform. Plädoyer für eine nachhaltige Klimapolitik durch Mengenregulierung und neue politische Allianzen, Marburg, 2000, Kapitel 10.

15) Nur im Zeitraum 1974-1985 gelang es der OPEC in ihrer Gesamtheit, Saudi-Arabien, Kuwait und die Arabischen Emirate in eine auf Autonomie der OPEC zielende Öl- und Mengenpreis-Politik einzubinden, die zu den Ölpreissprüngen von 1974 und 1979 führte. Ausführlicher dazu siehe Massarrat, 2000 (Anm. 14), ebenda, Kapitel 7-9.

16) Die EU bezieht 35%, Japan 97% und asiatische Schwellenländer 96% ihrer Ölimporte aus dem Mittleren Osten.

17) Kupchan, Charles A.: Die USA brauchen Europa, Interview, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 6/2003, S. 686.

18) Le Monde diplomatique (Hrsg.): Atlas der Globalisierung, Berlin, 2003, S. 98.

19) Kupchan, 2003, S. 686.

20) Vgl. dazu auch Abdolvand, Behrooz/Adolf, Mathias: Verteidigung des Dollars mit anderen Mitteln, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2/2003, S. 181 f.

21) Abdolvand, Behrooz/ Adolf, Mathias, 2003, S. 182.

22) Über den währungspolitischen Hintergrund besteht bei den kritischen Analysen des Irak-Krieges inzwischen allgemeine Übereinstimmung, jedoch mit teilweise gegensätzlichen Begründungen. Vgl. dazu: Altvater, Elmar: Die Währung des schwarzen Goldes; sowie Massarrat, Mohssen: Anmerkungen zu Elmar Alvaters Beitrag. Beide Beiträge in: attac (Hrsg.): Kritik der Globalisierungskrieger. Arbeitspapier Nr. 1-2003 aus dem Wissenschaftlichen Beirat von attac Deutschland.

23) Vgl. dazu Nassauer, Ottfried: Eine neue militärische Aufteilung der Welt, in: Frankfurter Rundschau, 15.07.2002.

Dr. Mohssen Massarrat ist Professor für Politik und Wirtschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück

Globalisierte Gewalt

Globalisierte Gewalt

von Jürgen Scheffran

Die USA haben den Krieg gegen den Irak gewonnen. Wer hat anderes erwartet?

Doch welches Bild bietet sich uns, nachdem die Nebelwerfer des Krieges ihr Abenteuer im »Bett der Armee« weitgehend unbeschadet überstanden haben? Es dominieren Angst und Schrecken, Elend und Zerstörung, Chaos und Anarchie. Die Invasoren waren bestens gerüstet, um die Infrastruktur des Irak zu zerstören, doch völlig überfordert bei dem Versuch, im Land Recht und Ordnung, Sicherheit und Demokratie herzustellen. Wäre dies das Ziel gewesen, das Scheitern wäre offensichtlich.

Gewonnen haben die Besatzer da, wo sie es wollten: Bei der Sicherung der gewaltigen Ölvorräte des Irak. Wer argumentiert, dies könne angesichts der enormen Kriegskosten kein rationaler Kriegsgrund gewesen sein, übersieht, dass die Kriegsgewinne privatisiert, die Kriegskosten und -schäden jedoch sozialisiert werden. Gewinner sind die Firmen, die den Irak aufgerüstet haben, die die von den USA in den beiden Irakkriegen eingesetzten Waffen produziert haben, die jetzt die Ölreserven des Landes erschließen und dann den Irak wieder aufbauen und aufrüsten dürfen. In diesem Zyklus von Ausbeutung und Zerstörung bereichern sich einige US-Firmen gleich mehrfach, bestens bedient von führenden Repräsentanten der Bush-Administration

Der Irakkrieg war Teil jenes andauernden Krieges (sustained war), der der Globalisierung mit Gewalt zum Durchbruch verhelfen soll. Es geht den USA um die langfristige Absicherung ihrer Hegemonie, um die Schaffung eines von ihnen dominierten Weltmarkts und um die Privatisierung aller gewinnträchtigen Bereiche. Wer dagegen die Globalisierungsdynamik und damit verbundene Kriege als Kampf der Demokratien um mehr Demokratie begreift, übersieht die vorherrschende ökonomische Dimension und die Tatsache, dass im Rahmen der Globalisierung sich immer mehr Reichtum in den Händen weniger privater Akteure konzentriert, die durch keinerlei demokratische Strukturen kontrolliert werden.

Eng damit verknüpft ist die wirtschaftliche Privatisierung aller Lebensbereiche und öffentlichen Güter. Es gibt kaum noch etwas, was nicht privatisiert wird: Wasser, Energie, Müllbeseitigung, Genmaterial, Post, Eisenbahn und Flugverkehr, Renten- und Sozialversicherung, und schließlich Polizei und Militär. Nicht jede Privatisierung muss von Übel sein, gelegentlich bringen Effizienzzuwächse und Kosteneinsparungen Vorteile. Doch oft sind es gerade die lukrativen Bereiche, die in private Hände überführt werden, während die kostenintensiven Bereiche weiterhin Löcher in staatliche und kommunale Haushalte reißen.

Besonders problematisch ist die Privatisierung der Sicherheitsdienste, das Entstehen moderner Söldnerheere. Die Fraktionierung der Gewaltstrukturen bringt unermessliches Leid über die Zivilbevölkerung, sie zerstört – z.B. in zahlreichen Ländern Afrikas – soziale und politische Strukturen. Dauerkriege, verbunden mit Massenmord und millionenfacher Flucht und Vertreibung, sind die Folge.

An der gesellschaftlichen Basis wächst damit ein Potential der Verarmten und Verzweifelten, der Missachteten und Empörten heran, das einen Nährboden für jede Form der Radikalität bietet. Durch Vernetzung kann die Unzufriedenheit auf der lokalen Ebene in nationale, ja globale Netzwerke der Gewalt einbezogen werden. Verbrecher- und Terrornetze agieren weltweit, der Drogen- und Waffenhandel floriert und ist über eine Schattenwirtschaft mit der globalen Ökonomie verknüpft. Dass solche Netzwerke besonders im Umfeld und als Folge von Kriegen gedeihen, zeigt sich auf dem Balkan und in Afghanistan, vielleicht demnächst auch im Irak.

Wissenschaft und Technik spielen eine Schlüsselrolle in diesem Netz globalisierter Gewalt. Kommunikations- und Transportnetzwerke stellen Verbindungen her, überbrücken Distanzen als gäbe es weder Raum noch Zeit. Sie verknüpfen die Globalisierung der Gewalt mit der Miniaturisierung von Gewalt, was in den Informationskriegen auf unseren Computern ebenso zum Ausdruck kommt wie im Krieg der Mikroben oder Mini-Kampfroboter. Durch sie findet der Krieg Einzug in unseren Nahbereich, unsere Wohnung, ja unseren eigenen Körper. Die globale Unsicherheit schafft zugleich menschliche Unsicherheit und umgekehrt.

Sicherlich eröffnet das Wechselspiel von Mikro und Makro auch Chancen für die Friedenssicherung und die Entstehung demokratischer Strukturen. Jeder einzelne ist Knoten in dem globalen Netzwerk und kann sich die Strukturen als Machtverstärker zunutze machen, Hacker und Terroristen ebenso wie Friedensaktivisten. Die globale Protestbewegung gegen den Irakkrieg, die im millionenfachen Nein des 15. Februar ihren Höhepunkt fand, hat den USA eine politische Niederlage versetzt, die sie durch ihren Medienkrieg teilweise kaschieren konnte. Diese Bewegung hat im Ansatz gezeigt, dass es möglich ist eine politische Kultur zu schaffen, die die Möglichkeiten der Globalisierung nutzt und eine Gegenmacht aufbaut zu den destruktiven Tendenzen.

Jürgen Scheffran

Private Weltpolitik

Private Weltpolitik

Der Einfluss von Reformnetzwerken und Elitenkartellen

von Hartwig Hummel

Die Rio-Konferenz von 1992 dürfte als Einschnitt in die Geschichte der Weltpolitik eingehen. Hier bezog eine von den Staaten getragene Institution ganz offen private Akteure in den politischen Prozess ein. Private Unternehmen, zusammengeschlossen im »Business Council on Sustainable Development«, propagierten in Rio erfolgreich marktwirtschaftliche Lösungen für ökologische Probleme, während ein buntes Bündnis gemeinnütziger Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organizations, NGOs) nachhaltige Entwicklung mit der breiten Mobilisierung der Gesellschaften im Rahmen der Agenda 21 verknüpfen konnte. Einen der größten friedenspolitischen Erfolge erzielten private Netzwerke einige Jahre später, als sie im Verbund mit reformwilligen Staaten die Konvention zum Verbot der Anti-Personen-Minen durchsetzen konnten. Doch der Einfluss privater Akteure wird kontrovers beurteilt. Auf der einen Seite steht das Argument, dass durch Vernetzung und Partnerschaft staatlicher und nichtstaatlicher Akteure die Handlungsmöglichkeiten der Politik jenseits der Nationalstaaten erweitert werden. Auf der anderen Seite wird befürchtet, dass sich private Akteure ohne demokratische Legitimation – und möglicherweise zum eigenen Nutzen – in Weltpolitik einmischen und durch public-private partnership die staatlichen Akteure allzu leicht aus ihrer Verantwortlichkeit entlassen werden. Die hier vertretene These lautet, dass privates Engagement in der Weltpolitik eines öffentlichen Rahmens bedarf, damit die Beteiligung privater Akteure zu einer fairen und gerechten Weltpolitik führen kann. Da dieser Rahmen aber weitgehend fehlt, sind private Netzwerke in der Weltpolitik derzeit eher als neokorporatistische Elitenkartelle zu betrachten.
Es ist offenkundig, dass Weltpolitik längst nicht mehr nur eine Sache der durch Regierungen und internationale Organisationen vertretenen Staaten ist (Brühl et al. 2001). Private Akteure partizipieren an globalen Entscheidungsprozessen und an der Umsetzung von Weltpolitik auch dann, wenn es um Krieg und Frieden und damit um den Kernbereich staatlicher Souveränität geht. Bereits einer der Pioniere der privaten Weltpolitik, das »Internationale Komitee vom Roten Kreuz«, ein privater Schweizer Verein, engagierte sich für den Frieden, indem er sich für das humanitäre Kriegsvölkerrecht einsetzte. Heutzutage drängen miteinander vernetzte NGOs die Staaten dazu, globale Standards nicht nur durch die Ächtung von Anti-Personen-Minen zu setzen, sondern auch durch die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs oder die internationale Kontrolle von Kleinwaffen. Privatwirtschaftliche Akteure setzen jenseits staatlicher Politik selbst Standards, wenn sich z.B. Unternehmen durch Verhaltenskodizes zur Einhaltung menschenrechtlicher Standards verpflichten oder sich Konsumenten an »ethischen Produkten« orientieren. Auch an der Umsetzung der Weltpolitik beteiligen sich private Akteure, indem Privatpersonen Friedensschlüsse vermitteln, NGOs die Einhaltung der Menschenrechte überwachen und die Durchführung demokratischer Wahlen beobachten oder private Träger eine immer größere Verantwortung bei der Durchführung der Entwicklungs- und Nothilfe übernehmen.

Das Engagement nichtstaatlicher, privater Akteure in der Weltpolitik ist Teil eines umfassenderen Prozesses, der unter Begriffen wie Netzwerk-Politik, »Global Governance«, transnationale Beziehungen oder »public-private partnership« diskutiert wird. Dabei legitimieren NGO-Vertreter ihr weltpolitisches Engagement vorzugsweise als demokratische Partizipation einer globalen Zivilgesellschaft. Repräsentanten der Privatwirtschaft dagegen betonen die überlegene Effizienz des unbürokratischen Handelns und des Marktmechanismus. Die staatlichen Akteure schließlich behaupten, durch die Einbindung nichtstaatlicher Akteure globale Probleme besser lösen zu können. Kritiker dagegen lehnen die Privatisierung der Weltpolitik als Ausdruck eines zutiefst undemokratischen, neoliberalen Politikverständnisses ab. Die folgenden Überlegungen sollen dazu anregen, sich mit dem Phänomen privater Weltpolitik jenseits vorschneller Euphorie und Kritik genauer zu befassen.

Komplexe Geschichte der privaten Weltpolitik

Zunächst muss festgehalten werden, dass die Privatisierung der Weltpolitik keine völlig neue Erscheinung ist und auch nicht auf eine einzig Ursache zurückgeführt werden kann. Sie ist vielmehr Ausdruck einer längeren und komplexeren Geschichte, zu der fünf Entwicklungen beitragen:

  • Erstens ist Privatisierung Bestandteil der Entwicklung liberaler Gemeinwesen und Ausdruck der Befreiung der bürgerlichen Gesellschaft von obrigkeitsstaatlicher Bevormundung und ständischen Fesseln. Die Geschichte der transatlantischen Beziehungen zeigt, dass exklusive private Politiknetzwerke und »think tanks« – von den britischen Freimaurern bis hin zum Weltwirtschaftsforum in Davos – die Weltpolitik seit langem geprägt und verändert haben. Die Anfänge von Menschenrechts-NGOs gehen bis ins 19. Jahrhundert zurück, die Entstehung von entwicklungspolitischen Hilfswerken reicht in die Zeit der Weltkriege. Private Akteure beschränkten sich jedoch lange Zeit auf den nationalstaatlichen Raum. Ihre transnationale Vernetzung und globale Orientierung – in großem Umfang seit den 1990er Jahren – bedeutet eine neue Qualität.
  • Zweitens reflektiert die Privatisierung der Weltpolitik die Emanzipation der Zivilgesellschaft (zumindest im Norden) seit den 1960er und 1970er Jahren. Damals kam es beispielsweise zur Politisierung und Expansion der entwicklungspolitischen Hilfswerke, und die Zahl der Menschenrechts-NGOs nahm deutlich zu. Dieser Trend verstärkte sich in den 1980er und 1990er Jahren durch die Ausbreitung der neuen sozialen Bewegungen.
  • Drittens hängt die Privatisierung der Weltpolitik mit dem politischen Durchbruch neoliberaler Politikkonzepte zusammen. Die neoliberale Transformation zielt auf den Abbau staatlichen Engagements in der Wirtschafts- und Sozialpolitik (Wohlfahrtssysteme im Norden, aktive Entwicklungsplanung im Süden), bedeutet Deregulierung, forcierte Öffnung zum Weltmarkt und Privatisierung des Staatssektors. Mit dem Rückzug staatlicher Akteure nimmt die Bedeutung privaten, v.a. privatwirtschaftlichen Engagements zwangsläufig zu. Die neoliberale Privatisierungsoffensive betrifft inzwischen selbst Kernbereiche staatlicher Funktionen wie Militär, öffentliche Sicherheit oder Strafvollzug.
  • Viertens: Auch der Strukturwandel der Weltwirtschaft begünstigt die private Weltpolitik. Transnationale Konzerne und Investitionsfonds expandieren derart, dass ihnen nun mehr Macht zugeschrieben wird als den (meisten) Staaten. Die wirtschaftliche Entgrenzung unterläuft zudem staatlich gesetzte Standards; und die Durchsetzung sozialer Menschenrechte ist daher in wachsendem Maße auf die Selbstregulierung der Unternehmen durch freiwillige – oder auch von sensibilisierten Verbrauchern erzwungene – Verhaltenskodizes angewiesen.
  • Fünftens beschleunigt das Ende des Kalten Krieges die Privatisierung der Weltpolitik. Kommerzielle Orientierungen haben Auftrieb, seit sich Weltpolitik nicht mehr so sehr an ideologischen Kontroversen orientiert und privatwirtschaftliche Akteure nicht mehr gezwungen sind, ihre unmittelbaren Eigeninteressen der Vertretung gemeinsamer Interessen im Ost-West-Systemkonflikt unterzuordnen. Nach 1989 haben sich die Großmächte von der Alimentierung der Stellvertreterkriege im Süden zurückgezogen und die Versorgung der Krisenregionen im Rahmen der Nothilfe nun humanitären NGOs überlassen. Privatisierungstendenzen im Sicherheitsbereich wie das Söldnerwesen, die transnationalen terroristischen Netzwerke oder die globale Verbreitung von Kleinwaffen lassen sich auch auf die Entstaatlichung der Gewaltpotentiale des Kalten Krieges zurückführen.

Vor- und Nachteile privater Akteure in der Weltpolitik

Nun wird die Privatisierung der Weltpolitik nicht einfach hingenommen, sondern oft sogar positiv bewertet, zumal staatliche Leistungen und Verantwortlichkeiten tendenziell abgebaut werden, Regierungen und internationale Organisationen sich als nicht flexibel genug erweisen, angemessen auf neue Herausforderungen zu reagieren und nationale Interessenpolitik sachgerechte Problemlösungen blockiert. Bereits die Partizipation privater Akteure an politischen Entscheidungen scheint die Repräsentativität und Legitimität der Weltpolitik zu verbessern.

Die Analyse zeigt, dass zivilgesellschaftliche und privatwirtschaftliche Akteure durchaus über spezifische komparative Vorteile, aber auch über bestimmte Nachteile verfügen (Debiel/Hummel 2001). Der wichtigste komparative Vorteil vieler NGOs liegt in ihrer politischen Unabhängigkeit. Dies verleiht ihren Argumenten und Aktionen in der Öffentlichkeit eine hohe Glaubwürdigkeit. Die NGOs können diese Unabhängigkeit nutzen, um Kooperation zwischen misstrauischen Staaten oder Unternehmen zu ermöglichen, beispielsweise wenn es um Menschenrechtskonventionen, lokale Entwicklungsprojekte oder Unternehmensstandards geht. Die NGOs erweisen sich jedoch gerade wegen der Freiwilligkeit und Unabhängigkeit ihres Handelns als sehr widerspenstig gegenüber allen Bemühungen, ihre Aktivitäten zu koordinieren. Die NGOs wirken durch ihre Argumente auf weltpolitische Entscheidungen ein, soweit diese einem öffentlichen und rationalen Diskurs zugänglich sind. Sie können ihre öffentliche Reputation auch in politische und ökonomische Macht umsetzen, indem sie Wähler und die von ihnen abhängigen Parteien, Parlamente und Regierungen beeinflussen oder Verbraucher zu einem bestimmten Verhalten gegenüber privatwirtschaftlichen Unternehmen motivieren.

NGOs können auch Ressourcen mobilisieren, etwa um rasch und flexibel auf Notfallsituationen zu reagieren oder Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu unterstützen. Allerdings sind den NGOs hier organisatorische und finanzielle Grenzen gesetzt. Je mehr sich NGOs professionalisieren und an Effizienzkriterien orientieren und je mehr sie eigene Bürokratien entwickeln, desto mehr leiden freiwilliges Engagement und gleichberechtigter Diskurs, die Quellen ihrer Stärke. Solange sie ihrer Handlungslogik verbunden bleiben, werden NGOs gar nicht die Professionalität staatlicher Bürokratien oder die Effizienz privatwirtschaftlicher Unternehmen erreichen. Außerdem entwickeln bürokratische Apparate nicht zuletzt wegen ihres permanenten Finanzierungsbedarfs ein Eigenleben.

Einer zu großen Übernahme weltpolitischer Verantwortung durch NGOs sind dadurch Grenzen gesetzt. Außerdem verfügen nur wenige NGOs über eine breite Mitgliederbasis und können ihre Arbeit allein durch Mitgliedsbeiträge und Spenden finanzieren. Viele sind auf Fremdfinanzierung durch öffentliche oder private Stellen angewiesen. Die finanzielle Abhängigkeit kann die politische Unabhängigkeit der NGOs gefährden. Sie kann so weit gehen, dass NGOs faktisch zu Ausführungsagenturen staatlicher Bürokratien oder zu kommerziellen Dienstleistungsunternehmen werden. Damit verlieren sie aber gerade ihren Hauptvorteil und die Grundlage ihrer öffentlichen Reputation, nämlich ihre Unabhängigkeit. Hinzu kommt, dass NGOs auf die Medien angewiesen sind, nicht nur um ihre Anliegen an die Öffentlichkeit zu tragen, sondern auch um Spenden einzuwerben. Die NGOs müssen sich der Arbeitsweise der Medien anpassen und die damit häufig verbundenen kommerziellen Rücksichtnahmen in Kauf nehmen.

Die komparativen Vorteile privatwirtschaftlicher Akteure bestehen darin, dass sie über enorme Ressourcen verfügen. Außerdem stehen sie unter dem dauernden Druck der Märkte, effizient zu wirtschaften und sich immer wieder neu an veränderte Situationen anzupassen. Auch in der Debatte über die soziale Verantwortung von Unternehmen oder ethische Standards in der Ökonomie wird an die unternehmerische Rationalität appelliert und argumentiert, ein ethisches Verhalten liege auch im langfristigen Eigeninteresse der Unternehmen.

Die Rationalität von Marktmechanismen und unternehmerischem Handeln hat aber Grenzen. Die für Kosten-Nutzen-Kalküle notwendigen Bewertungen können oft gar nicht vorgenommen werden oder unterliegen kontroversen politischen Einschätzungen. Die Möglichkeiten einer »ethischen« Ökonomie werden ebenfalls oft überschätzt. Offen bleibt zum Beispiel, wie weit sich die ethische Verantwortung eines Unternehmens auf vor- und nachgelagerte Wirtschaftsprozesse erstreckt. Unklar bleibt auch, wie die Privatwirtschaft die Vielzahl konkurrierender Standards vereinheitlichen und ihre Einhaltung glaubwürdig garantieren will.

Globaler Korporatismus?

Es ist zwar notwendig, die allgemeine Handlungslogik der Zivilgesellschaft bzw. der Privatwirtschaft zu erkennen. Doch müssen beide Akteursgruppen weiter differenziert werden. Dabei wird die Vielzahl oft widersprüchlicher Interessen, Strategien und Ideologien privater Akteure sichtbar. Zu den NGOs zählen z.B. nicht nur angesehene humanitäre Organisationen wie amnesty international, Oxfam, Medecins sans frontières oder Greenpeace, sondern auch rechtsextremistische Organisationen, religiöse Sekten oder Gruppen, die enge Spezialinteressen vertreten. Auch die Wirtschaft besteht nicht nur aus multinationalen Megakonzernen, sondern aus einer Vielzahl von großen und kleinen Akteuren aus vielen Branchen, übrigens auch aus der informellen und kriminellen Ökonomie.

Last but not least stellt sich die Frage nach den macht- und herrschaftspolitischen Implikationen der Pluralisierung von Weltpolitik. Interessante Anregungen ergeben sich dabei aus der (kritischen) Pluralismusforschung, die sich freilich bislang nur mit innerstaatlicher Politik befasste. Betont wird, dass Interessen unterschiedlich organisierbar sind, weshalb die leichter organisierbaren (materiellen) Interessen gegenüber eher diffusen humanitären Anliegen im Vorteil sind. Auch haben private Interessen in unterschiedlichem Maße Zugang zum politischen Prozess. Wie das Beispiel des Weltwirtschaftsforums in Davos zeigt, finden Vertreter größerer privatwirtschaftlicher Akteure wesentlich leichter Zugang zu den zentralen politischen Entscheidungsträgern als beispielsweise amnesty international oder Greenpeace. Es gibt zudem auf der Weltebene so gut wie keine öffentlichen Kompensationen zur Herstellung gleicher Chancen für schwächere Akteure, die den naturwüchsig entstehenden Machtmonopolen und Exklusivitätsansprüchen entgegenwirken könnten.

Das Unbehagen über den naturwüchsigen globalen Pluralismus mit seinem Mit-, Gegen- und Durcheinander verschiedenster Akteure und dem Verwischen klarer Verantwortlichkeiten formulierte bislang am deutlichsten Marina Ottaway vom Carnegie Endowment for International Peace (Ottaway 2001). Sie bezeichnet diese Entwicklungen als globalen (Neo)Korporatismus. Ein solches System ist dadurch gekennzeichnet, dass funktionale Interessengruppen an demokratisch-repräsentativen Gremien vorbei direkten Zugang zum politischen Entscheidungsprozess erhalten. Dafür müssen sie aber den politischen Status Quo grundsätzlich akzeptieren und die korporatistischen Arrangements gegenüber ihrer Basis durchsetzen. Ottaway räumt durchaus ein, dass korporatistische Arrangements wie z.B. der Global Compact der UNO die klassische Diplomatie pluralistischer machen, den Informationsfluss verbessern, Spannungen zwischen den Akteuren abbauen und zur Kompromissfindung beitragen. Allerdings sei ein solcher globaler Korporatismus hoch selektiv und in keiner Weise für die Weltgesellschaft repräsentativ. Gut organisierte und kompromissbereite private Akteure würden in unverhältnismäßiger Weise bevorzugt, andere Gruppen – vor allem aus dem Süden – fänden dagegen kaum Gehör. Ottaway erwartet außerdem, dass die alteingesessenen privaten Akteure neuen Interessenten den Zugang zu weltpolitischen Entscheidungszentren verwehren, um sich ihre privilegierte Position zu bewahren.

Eine differenzierte Betrachtung ergibt somit, dass private Netzwerke unter gewissen Bedingungen die Kapazitäten und die Wirksamkeit einer global ausgerichteten Politik und insbesondere des Systems der Vereinten Nationen erweitern können. Insofern sind sie zu begrüßen. Die Legitimität von privater Weltpolitik, d.h. ihre allgemeine Anerkennung und kollektive Verbindlichkeit, kann aber nur durch gleichzeitige Demokratisierung und Verrechtlichung des privaten Engagements gewährleistet werden; mit anderen Worten: Privatisierung bedarf eines öffentlichen Rahmens, damit die Beteiligung privater Akteure zu einer fairen und gerechten Weltpolitik führen kann. Gegenwärtig existiert dieser Rahmen nicht. Das Legitimationsdefizit globaler Politik können neokorporatistische Elitenkartelle so jedenfalls nicht beseitigen.

Literaturverzeichnis

Brühl, Tanja / Debiel, Tobias / Hamm, Brigitte / Hummel, Hartwig / Martens, Jens (Hrsg.), 2001: Privatisierung der Weltpolitik. Entstaatlichung und Kommerzialisierung im Globalisierungsprozess. Bonn: Dietz.

Debiel, Tobias / Hummel, Hartwig, 2001: Weltpolitik in privaten Händen. Entstaatlichung und Kommerzialisierung im Zeitalter der Globalisierung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 46(5), 581-589.

Ottaway, Marina, 2001: Corporatism Goes Global: International Organizations, Non Governmental Organizations, and Transnational Business, in: Global Governance 7(3), 265-292.

Prof. Dr. Hartwig Hummel lehrt Europapolitik und Internationale Beziehungen an der Universität Düsseldorf und ist Vorstandsvorsitzender von WEED, einer globalisierungskritischen NGO.

Alternative Europa?

Alternative Europa?

Wer oder was stoppt den US-Unilateralismus?

von Johannes M. Becker

Ein seltsames Gespenst geistert durch Talk-Shows, ja auch durch die Überlegungen vieler nüchterner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen: Eine stark gerüstete Europäische Union sei notwendig, um dem Aufmarsch der USA (und der Briten) gegen den Irak, um der unverhohlenen Kriegstreiberei der dominierenden Kraft der »neuen Weltordnung« und ihrer Politik der »permanenten Intervention« Einhalt zu gebieten. Unter Verweis auf die Situation der Zeit vor der Auflösung der Warschauer-Vertrags-Organisation (WVO) wird in der krisenreichen Lage des Frühjahrs 2003 das Fehlen eines starken sicherheitspolitischen Faktors Westeuropa/Europäische Union beklagt.
In der Tat ist die Europäische Union (EU) in einer seltsamen Lage. Einerseits ist sie gerade dabei, durch ihre Erweiterung auf 25, später gar 28, Staaten zum größten politischen und wirtschaftlichen Bündnis der Erde zu werden – weitaus größer als die unmittelbaren Konkurrenten USA und Japan. Über 500 Millionen ProduzentInnen und KonsumentInnen werden in wenigen Jahren in einem gemeinsamen Markt leben, werden eine wachsende Reihe von Politikbereichen aufeinander abstimmen, werden sich weitgehend der Politik der Europäischen Zentralbank verpflichtet fühlen, werden die bereits heute erhebliche Einflusszone des EURO fortwährend ausweiten.

Andererseits tut sich diese EU schwer, eine gemeinsame Sprache in der Außen- und Sicherheitspolitik zu finden:

  • Der zu Beginn der 90er Jahre entfachte jugoslawische Bürgerkrieg machte zum ersten Mal diese Lage deutlich. Seinerzeit wurde in erster Linie von einem Manko an militärischen und sicherheitspolitischen Mitteln auf Seiten der EU gesprochen, in Wirklichkeit waren aber die unterschiedlichen Interessen der EU-Kernländer verantwortlich für die Nicht-Präsenz Brüssels auf dem Balkan: Frankreich und Großbritannien (wie im übrigen auch die USA und die UNO) widersetzten sich anfänglich vehement der Anerkennungs- und damit Separationspolitik der Kohl-Genscher-Regierung in Jugoslawien.
  • Beim NATO-Bombardement auf Jugoslawien 19991 war die EU dann in einer anderen Lage: Die EU-Staaten waren mehr oder weniger euphorisch auf der Seite der USA, die ihrerseits die neue Unilateralität in der Sicherheitspolitik erstmals in größerem Rahmen ausspielte. Im Verlauf dieses völkerrechtswidrigen Krieges mussten die europäischen Staaten jedoch spezifische Abhängigkeiten von den USA schmerzlich zur Kenntnis nehmen, die über die oben angesprochenen differierenden politischen Interessen hinausgingen. Diese Abhängigkeiten betrafen vor allem Truppentransport- und Informationskapazitäten. Der französische Verteidigungsminister Védrine bezichtigte die USA nach dem Ende des Krieges gegen Jugoslawien in selten gehörter Schärfe vor der französischen Nationalversammlung, einen Krieg „über weite Strecken an den Interessen ihrer Verbündeten vorbei“ geführt zu haben.

Ein Blick zurück in die Geschichte nach 1945

Die westeuropäischen Kernstaaten taten sich nach 1945 schwer, sich auf eine abgestimmte Sicherheitspolitik zu einigen. Nachdem Frankreich 1954/55 die bittere Pille der deutschen Wiederbewaffnung2 geschluckt hatte, begann ein Ringen um die Ausrichtung der europäischen Sicherheitspolitik.

  • Paris versuchte fortwährend, die 1948 gegründete WEU (Westeuropäische Union, seinerzeit gegen einen potentiell wiedererstarkten deutschen Militarismus gegründet!) als Instrumentarium einer von Frankreich geführten europäischen sicherheitspolitischen Identität aufzubauen. Die WEU hatte und hat den Vorteil, dass sie ohne US-Einfluss agieren kann.
  • Bonn favorisierte dagegen eindeutig eine US-Orientierung und legte den deutlichen Schwerpunkt der Sicherheitspolitik auf die US-geführte NATO. Deutlichster Ausdruck der bundesdeutschen Haltung waren die Verhandlungen um den »Deutsch-französischen Vertrag über Zusammenarbeit« (Elysée-Vertrag) von 1963. Das Frankreich de Gaulles hatte vergeblich versucht, die EWG zu einer politischen Union, freilich unter französischer Führung, zu entwickeln (u.a. Fouchet-Pläne). Die Bundesrepublik wollte unbedingt die USA- und NATO-Orientierung betonen, andere Staaten wollten nur wenig von ihrer Souveränität aufgeben; andere wiederum wollten Großbritannien in die EWG integrieren, um einer möglichen französisch-deutschen Hegemonie zu begegnen. Der in diesem Jahr 2003 so hochgelobte Elysée-Vertrag dokumentiert die Niederlage de Gaulles und der »Europäer«: Es wurde nämlich dem Vertrag eine Präambel hinzugefügt, in der die Priorität der US- und der NATO-Orientierung der BRD sowie die Einbeziehung Großbritanniens in den weiteren europäischen Einigungsweg bekräftigt wurden. Auch die USA hatten auf diese Präambel gedrängt.

Diese Interessendifferenz sollte bis zum Ende des Ost-West-Konfliktes andauern. Selbst Versuchsballons wie die Gründung der deutsch-französischen Brigade oder des Euro-Korps, beide nicht von großer militärischer Relevanz, unterstanden der Frage:

  • Wie weit ist Frankreich bereit, sich (nach dem Austritt aus der militärischen Integration der NATO, 1966) wieder dem US-dominierten Bündnis anzunähern? Versus:
  • Wie weit ist die Bundesrepublik bereit, von den USA und von der NATO unabhängige europäische Wege zu gehen?

Neue Konstellationen nach 1990

Der Zusammenbruch von UdSSR und WVO sowie die deutsche Einigung brachten Bewegung in das westeuropäische sicherheitspolitische Kräftespiel. In den politischen Klassen Frankreichs, Großbritanniens und der USA herrschte eine Zeitlang Ungewissheit über den weiteren, vor allem europapolitischen Kurs der nun – mit 82 Millionen Menschen – größten und wirtschaftlich leistungsfähigsten Nation der EU. »Großdeutschland« wurde für eine kurze Zeit zum geflügelten Wort in Pariser und Londoner Medien.

Wesentlich Frankreichs Staatspräsident Mitterrand ergriff die Initiative und band die Bundesrepublik über den

  • Vertrag von Maastricht im Jahre 1992 (»Maastricht II«) mit einer »Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP) als eigenständige Säule beim Bau des europäischen Hauses sowie
  • über die Pläne zur Einführung einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik (»EURO«)

stärker und endgültig an die EU. Vorausgegangen waren Fehlschläge Frankreichs und der übrigen Staaten der EU, via Treuhand stärker vom Integrationsprozess der DDR in die BRD zu profitieren.

Der Jugoslawienkrieg als Einschnitt

Der Jugoslawienkrieg des Jahres 1999 leitete eine qualitative Wende ein bei der sicherheitspolitischen Einigung und bei der Bewaffnung der Europäischen Union:3

  • Einige Länder (oder auch nur politische Fraktionen innerhalb einz. Länder) fühlten sich von den USA gegen ihren Willen in diesen Krieg hineingezogen.
  • Einige Länder (so u.a. Deutschland, Frankreich) beklagten die Informationspolitik der NATO-Führungsmacht USA während des Bombardements.
  • Einige Länder bezichtigten die USA gar eines „über weite Strecken an den Interessen ihrer Verbündeten vorbei“ geführten Krieges, so Frankreich.
  • Schließlich wurde in Jugoslawien wie im Golfkrieg gegen den Irak 1991 wieder die objektive Abhängigkeit der Europäischen Staaten von den USA deutlich – vor allem in der Informationsbeschaffung und im Transportwesen.

Als längerfristiges Konfliktpotential musste die US-Planung einer National Missile Defense (NMD), das wieder aufgreifen der alten Pläne zur Weltraummilitarisierung, angesehen werden.

Die EU zog auf ihrem Gipfel von Helsinki 1999 vielfältige Konsequenzen, u.a.:

  • Es wurde der Aufbau einer europäischen Eingreiftruppe beschlossen. Diese soll (ab Mitte des Jahrzehnts) 60.000 Soldaten umfassen und innerhalb weniger Wochen einsatzbereit sein. Der Aktionsradius soll 4.000 km um Brüssel herum betragen.
  • Die Forcierung des Baus des weltraumgestützten Helios-Systems soll die EU-Defizite in der Informationsbeschaffung beseitigen.
  • Das westeuropäische Konsortium AIRBUS wird nun einen militärischen Transporter, den A 400M, herstellen.
  • Das Prinzip der Einstimmigkeit innerhalb der EU in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik wird aufgeweicht. Insbesondere den neutralen Ländern wird dadurch die Möglichkeit der Nicht-Teilnahme an einzelnen Konflikten offengehalten.
  • Die EU sollte, so die Idee von Helsinki, ursprünglich weitgehend eigenständige Führungs-Strukturen neben denen der NATO aufbauen mit einen Militärstab, einen Militärausschuss mit den Generalstabschefs der EU-Länder und einem politischen Ausschuss.

Auch sicherheitspolitisch wurde damit der Wettbewerb mit den USA eröffnet. Wenn man z.B. berücksichtigt, dass die Planungen der GASP bis 1999 noch den Kauf US-amerikanischer Transportflugzeuge durch die EU-Staaten vorgesehen hatten, wird der Einschnitt Jugoslawienkrieg, die neue Konkurrenz auch in rüstungspolitischer Hinsicht, noch deutlicher.

USA drängt NATO ins EU-Konstrukt

In der zweiten Hälfte des Jahres 2002 überraschten die USA die EU-Staaten mit ihrer Forderung nach dem Aufbau einer »Schnellen Eingreiftruppe« der NATO. Auf „Abwehr des internationalen Terrors“ lautete die Begründung.

Die europäischen NATO-Partner stimmten zu. Das Problem für das Gros der beteiligten Staaten war und ist, dass ihre Truppen nicht ausreichen, um sich zum einen an den verschiedenen laufenden »Friedensmissionen«, zum anderen an der »Schnellen Eingreiftruppe« der EU (GASP) und nun auch noch der »Task force« der NATO gleichzeitig zu beteiligen.

Hinzu kamen Probleme im Verhältnis der NATO- ( aber nicht EU-)Partner Griechenland und Türkei. Die Türkei hatte verlangt, dass Zypern, demnächst EU-Mitglied, von der Kooperation in der EU-Truppe ausgeschlossen werden sollte.

Derzeitiger Stand (März 2003) ist, dass die Eingreiftruppe der NATO früher gebildet wird als die der EU und dass gleichzeitig die EU-Truppe, dies nicht ohne Druck von Seiten der USA, auf den Aufbau eigener Führungsstrukturen verzichtet. Die EU hat nun Zugriff auf die Führungsstrukturen der NATO bspw. im belgischen Mons, auf Aufklärungsmittel, die Mittelmeerflotte und die Treibstoffpipelines der NATO.

Im Zuge des EU-Reformkonvents wurden von EU-Kommissar Michel Barnier weitreichende Ziele für die GASP, neuerdings auch als ESVP (Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) bezeichnet, genannt: Barnier schlug eine militärische Beistandspflicht vor, die aber neben den neutralen EU-Mitgliedern (Finnland, Irland, Österreich und Schweden) auch von der NATO abgelehnt wurde;4 letztere pochte auf die in ihrem Statut bereits fixierte Beistandspflicht. Geeinigt hat sich die Arbeitsgruppe »Verteidigung« des EU-Reformkonvents unter Giscard d´Estaing auf eine »Solidaritätsklausel«, „…durch den Einsatz des gesamten notwendigen – militärischen und zivilen – Instrumentariums insbesondere den terroristischen Bedrohungen innerhalb der Union zuvorzukommen und auf sie zu reagieren.“ Und weiter heißt es in dem Entwurf der Kommission, diese Klausel wäre keine kollektive Verteidigungsklausel, die zum militärischen Beistand verpflichte.Die Vorstellungen Frankreichs und Deutschlands bei der Reform der EU gingen freilich weiter: Die Außenminister de Villepin und Fischer formulierten in einem gemeinsamen Beitrag für den Konvent5 ihren Vorschlag einer »Europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-Union«, die „die Sicherheit ihres Gebiets und ihrer Bevölkerungen gewährleisten und zur Stabilität ihres strategischen Umfelds beitragen“ solle. Unmittelbares Resultat der Vorschläge der beiden Außenminister ist die Aufnahme der Planung einer »Europäischen Agentur für Rüstung und strategische Forschung« in den Abschlussbericht der AG Verteidigung des EU-Reformkonvents.

Hier wird erneut eine Konkurrenzstellung der führenden EU-Länder gegenüber den USA sichtbar: Die EU-Staaten können mit einem Synergieeffekt in Höhe von jährlich 100 Mrd. Euro (FAZ vom 13.2.2003) bei einer koordinierten Rüstung rechnen – das Vierfache des jährlichen Rüstungshaushaltes der Bundesrepublik Deutschland. Derzeit kaufen viele EU-Staaten noch große Mengen Rüstung in den USA.

Noch in einem weiteren Punkt mischten sich die USA in EU-Geschicke ein: Sie animierten im Januar 2003 im Zusammenhang mit dem US-Kriegs-Aufmarsch gegen den Irak acht Länder zu einer interventionsfreudigen Erklärung, die den beiden kriegskritischen Kernstaaten der EU, Frankreich und Deutschland politisch in den Rücken fiel. Paris und Berlin fanden ihrerseits mit der russischen und chinesischen Regierung zwei US-kritische Partner. Michel Barnier kritisierte die Kriegsbefürworter unter den EU-Beitrittsländern mit dem Hinweis, diese könnten nicht Milliardenhilfen aus Brüssel beanspruchen, wenn sie gleichzeitig Rüstungsgüter in den USA kauften (FAZ v. 26.2.2003) und bestärkte damit die heftige Kritik von Seiten des französischen Staatspräsidenten Chirac. Die US-Regierung Bush ihrerseits unternahm große Anstrengungen, die nicht-ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates mit finanziellen Versprechungen für eine Kriegsresolution zu gewinnen.

Die Bundeswehr wird interventionsfähig

Auch wenn sich insbesondere die französische Seite fortwährend beklagt über Verzögerungen bei deutschen und bei deutsch-französischen Rüstungsvorhaben6, auch wenn der Rüstungshaushalt der Bundesrepublik nicht den Ansprüchen der Bundeswehrführung entspricht, so darf doch nicht übersehen werden, dass die für die Militarisierung der EU notwendige Umrüstung des deutschen Militärs in vollem Gange ist. Verteidigungsminister Struck sprach Mitte Februar (FAZ v. 24.2.2003) zum wiederholten Male von der „Wahrnehmung deutscher Interessen am Hindukusch“.

Die Bundeswehr wird zielstrebig umgebaut. Da eine hochmobile, interventionsfähige high-tech-Armee keine Truppen- und Panzermassen mehr braucht, werden Hunderte von Leopard-Kampfpanzern zur Zeit »verscherbelt«, u.a. an die Türkei und in Entwicklungsländer. Nicht mehr die Erwartung eines Massenangriffs aus dem Osten bestimmt das Selbstverständnis der quantitativ verkleinerten Bundeswehr (und der im Entstehen begriffenen Schnellen Eingreiftruppe der EU). Rasche Einsätze mit wenigen tausend Soldaten zur Sicherung bspw. »unserer« Öl- oder Erdgasquellen werden die Militärpolitik der Zukunft ausmachen.

Die Reduktion der deutschen Truppenstärke wird noch weitergehen, in wenigen Jahren wird die Bundeswehr eine professionelle Armee sein. Die Wehrpflicht wird derzeit einzig aufrecht erhalten, um für die dringend benötigten Zeit- und Berufssoldaten ein besseres Rekrutierungsfeld zu haben.

Vielleicht die wichtigste Aufgabe ist der politischen wie der militärischen Führung der Bundesrepublik, gleichwohl ob konservativ oder sozialdemokratisch dominiert, in den vergangenen 15 Jahren nahezu lautlos gelungen: Die Herstellung einer neuen Legitimationsbasis für die Bundeswehr nach dem Fortfall des Feindbildes »Sowjetunion/Sozialismus/Kommunismus«. Der Übergang von der weitgehend einer Zivillogik verpflichteten Sicherheitspolitik zur Interventionsfähigkeit, also zur Militärlogik, ist im Massenbewusstsein, unabhängig von der derzeitigen Opposition gegen den US-Krieg gegen den Irak, verankert. Der Gedanke der Verteidigung ist passé, die Wahrnehmung von Deutschlands Interessen, so scheint es, beginnt am Hindukusch.

Die neue Konkurrenz zweier »imperialer« Mächte

Ein Vergleich mit der Zeit des Kalten Kriegs und des atomaren Patts der 70er und 80er Jahre hinkt an einer entscheidenden Stelle: Die USA und EU sitzen politisch und ökonomisch in einem, dem kapitalistischen Boot. Beide Mächte verfolgen Hegemonieabsichten und unterstehen dem starken Druck gigantischer, heute supranational organisierter, privater Konzerne, die bspw. ein Interesse an der Erschließung von Öl- oder Gas-Feldern haben, ein Interesse an Rüstungsexporten, ein Interesse an der Abschottung ihrer Märkte gegen Importe aus den Entwicklungsländer u.v.m. In Paris bspw. heißt es in der politischen Klasse unverhohlen: Was haben die USA im Irak verloren? Wenn der Irak schon nicht russisches Einflussgebiet ist, dann doch bitte französisches!

Es bestünde also bei einer weiteren Militarisierung der EU die Gefahr einer ökonomischen und politischen Neuaufteilung der Erde unter den Führungsmächten der Welt des »freien« Handels. Wobei sehr in Frage zu stellen ist, ob eine derartige Neuaufteilung die Erde friedlicher machen würde.

Die möglichen Alternativen

Eine militärische »Gleichberechtigung« der EU mit den USA kann nicht das Ziel einer auf allseitigen Interessenausgleich angelegten europäischen Sicherheitspolitik sein. Die immer mächtiger werdende EU muss sich zügig von der Politikanlage der USA mit der »permanenten Intervention« und mit ihrem (oben nur an einem Beispiel aufgezeigten) Prinzip des »divide et impera« abgrenzen und eine neue Entwicklungs- und Handelspolitik (Entwicklungshilfe, fairer Handel, Entschuldung etc.), eine andere Logik in den internationalen Beziehungen vorgeben. Dies entspricht den Erfordernissen einer Erde, auf der täglich 60.000 Menschen verhungern und weitere 25.000 Menschen allein infolge verunreinigten Wassers ihr Augenlicht verlieren, eher als Hochrüstung und Hegemonialpolitik. Und die EU-Staaten sind mit ihren traditionellen Verbindungen zu einer Vielzahl von Entwicklungsländern hierzu geradezu prädestiniert.

Die EU-Staaten müssen die UNO oder besser noch: die OSZE animieren, eine Nah-Ost-Konferenz einzuberufen mit den drei Themen Irak, Kurdistan (d.h. das Irakisch-Türkische Problem) und Palästina-Israel. Einschließlich des Irak und mit Teilnehmern aus den Staaten des Nahen Ostens und der EU oder einem neutralen Staat (Finnland, wg. Helsinki 1973 ff.) als Mittler. Die aggressive Politik Israels gegen Palästina stabilisiert nämlich nicht unwesentlich die häufig autoritären Regime in den arabischen Staaten.

Mögliche anzustrebende Ergebnisse für den Irak wären:7

  • Eine Föderation des Irak in einen kurdischen, sunnitischen und schiitischen Staat (mit langen Übergangsfristen).
  • Ein dauerhaftes UN-Inspektionsregime für Massenvernichtungswaffen, das sich auch auf Israel erstreckt.
  • Aufhebung der Sanktionen, Nothilfemaßnahmen gegen den Hunger, gegen die Strahlenschäden infolge der DU-Munition etc.8

Eigenartig in diesem Zusammenhang: Die OSZE scheint nach ihrer wichtigen Rolle (damals als KSZE) im Kalten Krieg an Bedeutung verloren zu haben. Sie passt offenbar nicht in das interventionsbereite Denken der neuen westeuropäischen sicherheitspolitischen Identität hinein. Dabei wäre ihr Vorteil: Alle europäischen Staaten gehören ihr an, inklusive Russland sowie auch die USA. Die OSZE hat allerdings keine militärische Komponente.9

Statt militärisch innerhalb der EU aufzurüsten, sollten Deutschland und Frankreich die Initiative zur Initiierung einer internationalen Ölkonferenz ergreifen. „In ihr könnten Vorschläge für ein weltweit gerechtes Ölregime unterbreitet werden, das keiner anderen Gewalt als der UNO unterstünde.“ (»Freitag« vom 31.1.2003)

Die EU-Staaten sollten rasch ihre wirtschaftliche und diplomatische Präsenz im Irak steigern. Jeder Abrüstungsschritt des Irak, jeder Schritt zu einer Verbesserung der Achtung der Menschenrechte sollte mit Investitionen beantwortet, gleichsam »belohnt«, werden. Das Handelsembargo muss rasch abgebaut werden.10 Hingegen müssen die EU-Staaten alle Unternehmen strengstens verfolgen, die fortwährend Rüstungs- oder rüstungsrelevante Güter in Krisengebiete exportieren. Die Beendigung des Rüstungsexports und der Proliferation sind Schlüsselforderungen für eine neue, nicht-interventionistische Weltordnung!

In Europa muss schließlich nachgedacht werden über einen massiven Boykott von US-Produkten. Man sei erinnert an die Boykotte gegen das rassistische Regime in Südafrika, gegen die »Shell« in der Nordsee, gegen Frankreich bei den A-Waffenversuchen von 1995 etc. Der Boykott sollte Großbritannien mit einschließen. Anders als beim Irak-Embargo verhungerten hier keine Kinder.

Fazit

Es wäre zu wünschen, dass die Europäische Union, und in ihrem Kern Frankreich und Deutschland, ihr in einem langen Prozess entstandenes und fortwährend weiter wachsendes politisch und wirtschaftliches Gewicht einsetzen, um Konflikte mit nicht-militärischen Mitteln zu lösen. Dies gilt um so mehr vor dem Hintergrund, dass mehr als vier Fünftel der Konflikte aus der unterschiedlichen Verteilung des Reichtums auf der Erde entstehen. Die gerade erst gewonnene (und bislang tragende) deutsch-französische Einigkeit in der Frage des Irak-Krieges könnte genutzt werden zu einer grundsätzlichen Wende in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Leider ist diese Aussicht jedoch nicht sehr wahrscheinlich, denn zu den aufgezeigten ökonomischen Strukturen der kapitalistischen Konkurrenzmacht EU kommen zwei Faktoren erschwerend hinzu: Zum einen ist die französische Außen- und Sicherheitspolitik11 seit Jahrzehnten prinzipiell interventionistisch angelegt und ob bei der „Verteidigung deutscher Interessen am Hindukusch“ nur an gewaltfreie Mittel gedacht wird, daran lässt sich auch sehr zweifeln.

Anmerkungen

1) Siehe hierzu: Becker, J. M. / Brücher, G. (Hrsg.): Der Jugoslawienkrieg. Eine Zwischenbilanz, Münster, LIT-Verlag, 2. Aufl., 2001.

2) Siehe hierzu: Becker, J. M.: Die Remilitarisierung der Bundesrepublik Deutschland und das deutsch-französische Verhältnis, Marburg, Hitzeroth, Restex. beim Verf., 1987.

3) Siehe auch IMI-Analyse 2003/006 von Dirk Eckert: Europäische Kriegs-Union, www.imi-online.de

4) IMI-Analyse 2003/006 , s.o.

5) Zit. nach: IMI-Analyse von D. Eckert, s.o.

6) Ich empfehle hierzu den Informationsbrief und home-page der Französischen Botschaft: www.Frankreich-Botschaft.de. Siehe auch das Interview mit Verteidigungsministerin Alliot-Marie in FAZ v. 8.2.2003.

7) Siehe Johan Galtung in: ND vom 8./9.02.2003.

8) (steht oben im Text).

9) Der vielfach erklärte Wille, diese Organisation zu stärken, steht jedoch zunächst nur auf dem Papier. Zuletzt wurde dies deutlich im Jugoslawien-Krieg 1999. Hier sahen sich die Mitgliedsländer nicht in der Lage, 2.000 OSZE-MitarbeiterInnen nach Jugoslawien zu entsenden, dann jedoch war in Kürze eine große Armee zum Bombardement gegen die Republik Jugoslawien zusammengestellt…

10) Siehe auch Jan Oberg in junge Welt vom 4.12.2002.

11) Siehe hierzu aktuell: Becker, J. M. / Dubellé, P. u.a. (Hrsg.): Jugend, Streitkräfte und europäische Sicherheit. Arbeitstexte des Office Franco-Allemand pour la Jeunesse, Paris 2003, www.ofaj.org

PD Dr. Johannes M. Becker lehrt Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg, er ist Mitglied im Vorstand von W&F

Welche Weltordnung wollen wir?

Welche Weltordnung wollen wir?

von Paul Schäfer

Der französische Historiker Emmanuel Todd hat in den siebziger Jahren den Niedergang des »sowjetischen Imperiums« vorausgesagt. Nun hat er einen Nachruf auf die Weltmacht USA verfasst. Gegenwärtig könne studiert werden, „wie zuverlässig negative Gegenreaktionen erfolgen, wenn ein strategischer Akteur ein Ziel ansteuert, das zu groß für ihn geworden ist.“

Und tatsächlich, was als Machtvollkommenheit erscheint, gleicht einer Flucht nach vorne – ohne große Erfolgsaussicht:

Der Nahe und Mittlere Osten droht immer mehr außer Kontrolle zu geraten, nun soll eine usurpatorische Neuordnung den Weg zu einer regionalen Stabilisierung bringen. Der Weg dazu kann nur über eine gerechte Lösung des Palästina-Problems, über die Förderung nachhaltiger Entwicklung und über die Unterstützung eines demokratischen Emanzipationsprozesses von innen her, führen. All dies soll eine Besatzungsmacht leisten, die bisher eine eher gegenteilige Politik verfolgt hat und die mit weiteren Kriegen droht?

Der Krieg soll aus dem krisenhaften Zustand der Weltökonomie herausführen. Von der Verbilligung des Erdöls erhofft man sich einen neuen Wachstumsschub – vor allem in den USA selbst. Doch an den strukturellen Merkmalen der Krise, die durch eine sozial polarisierende Globalisierung und innergesellschaftlichen Sozialabbau, beständig verschärft wird, ändert sich nichts. Die Kosten des Krieges und seiner Folgen tragen eher dazu bei, die Lage zu verschlechtern.

Die mittels neuer entsetzlicher Zerstörungswaffen dem Irak zugedachte »Schocktherapie«, gilt auch der übrigen Welt. Diese Abschreckungslogik wird nicht dazu führen, dass alle anderen Nationen die Waffen strecken. Sie wird im Gegenteil das Streben, sich mit modernen Waffen mehr Selbständigkeit zu erkämpfen, verstärken. Von der Zunahme terroristischer und fundamentalistischer Gewalt gar nicht zu reden.

Die Mobilisierung für den Krieg soll die Dominanz der westlichen Führungsmacht befestigen; und hat doch bereits zur weiteren Erosion ihrer Stellung beigetragen. Die UNO scheint desavouiert, aber noch nie nahmen so viele Menschen an den Beratungen in New York Anteil und konnten die Blamage der Kriegstreiber verfolgen. Und wer hätte noch vor einiger Zeit eine »Achse Paris-Berlin-Moskau-Peking« für möglich gehalten, oder dass sich ein kleines Land wie Belgien innerhalb der NATO derart renitent zeigen würde?

Dass die USA selbstherrlich in den Krieg gegen den Irak ziehen und diesen Krieg gewinnen können, zeigt ihre Stärke. Dass sie nahezu isoliert sind und ihre »Koalition der Willigen« nur durch Bestechung, Erpressung und Manipulation zusammenfügen konnten, zeigt ihre Schwäche.

Der im geostrategischen Denken geübte Zbigniew Brzezinski hat formuliert, dass es gegenwärtig nicht um den Irak gehe, sondern um die globale Rolle der USA im 21. Jahrhundert. Die »eine Weltmacht« möchte die »günstige Gelegenheit« nach ElevenNine nützen, um diese Position auf Dauer zu halten. Doch den moralischen Kredit, den sie nach dem Terroranschlag geltend machen konnte, hat sie schon aufgebraucht. Nur einmal in ihrer jüngeren Geschichte – in der Endphase des Vietnam-Krieges nämlich – standen die USA in der Weltöffentlichkeit derart isoliert da. Es ist ein Krieg, der die Weltordnung definieren soll und dies auch tut. »Weltordnung« ist vor allem eine historisch spezifische Machtkonstellation. Es zeigt sich, welche Dominanz die USA noch auszuüben in der Lage sind, aber auch, welche »gegenhegemonialen« Kräfte auf den Plan treten – die zur Veränderung dieser Machtkonstellation beitragen werden. Die Auseinandersetzung um das »US-Empire« wird in diesem Jahrzehnt zur Schlüsselfrage – und sie wird geführt werden müssen, nicht zuletzt in Amerika selbst.

Für uns muss es um eine Weltordnung gehen, die strikt auf dem Gewaltverbot des geltenden Völkerrechts und gestärkten Vereinten Nationen gründet, eine Weltordnung, die den »sustained war« hinter sich lässt und stattdessen auf »sustained development«, also auf Gerechtigkeit, setzt.

Machtfragen ist der Titel dieses Hefts. Als wir die Ausgabe planten und fertigstellten, hofften wir noch auf eine Vermeidung des Krieges und hatten keine Vorstellung von dem Ausmaß Verwerfungen, das die Irak-Krise hervorrufen wird. Nahezu alle Fragen der künftigen Weltordnung sind auf dem Prüfstand. Was wird aus den Vereinten Nationen? Was aus der NATO? Wird es in absehbarer Zeit eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU geben, die Europa zu einem wirklichen Machtfaktor werden lässt? Wie wird die arabisch-muslimische Welt auf die Besetzung des Irak reagieren? Das vorliegende Heft kann nur einen Einstieg in diese Debatte darstellen. Friedensforschung und Friedensbewegung sind durch die neue Lage herausgefordert.

Paul Schäfer