Kein spektakulärer Erfolg, aber Spannungen reduziert

Kein spektakulärer Erfolg, aber Spannungen reduziert

Die OSZE in der Republik Moldova

von Stefan Troebst

Die sich mit der politischen Wende von 1989 von der »Konferenz« zur »Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« wandelnde KSZE/OSZE hat sich seitdem verstärkt den neu aufbrechenden Mehrheiten-Minderheiten-Konflikten in Osteuropa zugewandt. Stefan Troebst schildert die Instrumentarien und Bemühungen, Erfolge und Enttäuschungen, Möglichkeiten und Grenzen des internationalen Engagements zur Verhütung bzw. Beilegung dieser Konflikte am Beispiel der OSZE-Mission in Moldova.

Bei den Bemühungen der KSZE/ OSZE um eine Entschärfung ethnopolitischen Konfliktpotentials in der Osthälfte Europas kommen auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedliche Vorgehensweisen zur Anwendung. Im Bereich der Normsetzung auf zwischen- und binnenstaatlicher Ebene versucht die KSZE/OSZE, mit politischen Mitteln einer Durchsetzung minderheitenrechtlicher Mindeststandards den Weg zu ebnen. Im Rahmen ihrer ständigen Gremien sowie spezieller Foren ist die KSZE/OSZE bestrebt, latente wie akute interethnische Konflikte in den Mitgliedsstaaten sowie deren Nachbarländern öffentlich zu verhandeln sowie nach Möglichkeit einvernehmliche Regelungen herbeizuführen. Mit dem Amt eines Hochkommissars für Nationale Minderheiten hat die KSZE/OSZE 1992 ein bislang einzigartiges politisches Instrument eigens zur konfliktmindernden Intervention in interethnischen Spannungslagen geschaffen. Das Mandat des Hochkommissars beinhaltet weitreichende Vollmachten. Ebenfalls operativ, jedoch permanent vor Ort tätig, ist das Dutzend von Langzeitmissionen, das die KSZE/OSZE seit dem Sommer 1992 in zahlreiche, von ethnopolitischer Hochspannung gekennzeichnete Staaten und Regionen Osteuropas entsandt hat. (Die von langer Gewalttradition gekennzeichneten Mehrheiten-Minderheiten-Konflikte in Westeuropa – Ulster, Baskenland, Korsika – und in Zypern sind für die KSZE/OSZE und ihr Instrumentarium zur Konfliktminderung bislang noch tabu.) Die Mandate der Missionen variieren stark gemäß örtlichen Konfliktlagen. Sie reichen von bloßer Beobachtung zu Frühwarnzwecken über präventive bzw. nachsorgende Diplomatie und Vermittlungsangebote bis zur friedlichen Konfliktbeilegung.

Zusätzlich zu diesen Hauptaufgaben sollen die Missionen aus KSZE/OSZE-Sicht folgende Funktionen erfüllen:

  • als Ombudsmann für Gekränkte fungieren, Annahmestelle sein, wenn Konfliktparteien ihre Beschwerden über diejenigen, die örtlich oder landesweit die Macht ausüben, loswerden wollen,
  • <~>als die politischen Antennen der KSZE fungieren, die das leiseste Beben eines drohenden politischen Umsturzes oder einer militärischen Konfrontation registrieren,
  • <~>als Mittelsmann beim Herstellen von Kontakten zwischen den betroffenen Parteien sowie als Berater in verschiedenen Angelegenheiten wirken,
  • <~>Vermittler sein, die Konfliktparteien von den Vorteilen, dem Rahmen und den Details einer auf dem Verhandlungswege erreichten Konfliktregelung überzeugen. (Ugglas, 1994).

Mittlerweile liegen etliche Beschreibungen und Analysen zu Aufgabenstellung und Aktionsformen der KSZE/OSZE-Missionen in den ethnopolitischen Brennpunkten Osteuropas vor (vgl. Troebst 1997). Ihnen kann man entnehmen, daß die sehr hohen Erwartungen, die mit der Entsendung der ersten Missionen 1992/93 nach Serbien, Makedonien, Estland und Moldova verknüpft wurden, aus unterschiedlichen Gründen nicht zur Gänze erfüllt wurden. Aber auch die pessimistischen Prognosen, mit der seinerzeit diese Unternehmungen begleitet wurden, haben sich nicht bewahrheitet. Einen spektakulären Erfolg hat die KSZE/OSZE in keinem der ethnopolitischen Brennpunkte im Osten Europas vorzuweisen, doch ist gleichzeitig nirgendwo, wo eine ihrer Langzeitmissionen vor Ort ist, ein ethnischer Konflikt ausgebrochen oder weiter eskaliert.

Kein spektakulärer Erfolg der OSZE, doch ist gleichzeitig nirgendwo, wo eine ihrer Langzeitmissionen vor Ort ist, ein ethnischer Konflikt ausgebrochen oder weiter eskaliert.

Ganz besonders gut läßt sich dieses ambivalente Ergebnis anhand der Moldova-Mission demonstrieren: Hier zeichnet sich im Konflikt zwischen der Zentralregierung in der Hauptstadt Chisianau und der transnistrischen separatistischen Führung in Tiraspol auf dem östlichen Dnjestr-Ufer eine Lösung ab, die nicht zuletzt durch die Ko-Vermittlung der KSZE/OSZE-Mission in Moldova herbeigeführt wurde; aber gleichzeitig läßt der eben dadurch in greifbare Nähe gerückte entscheidende Durchbruch seit nunmehr drei Jahren auf sich warten.

Das Moldova-Engagement der KSZE/OSZE geht zurück auf das Frühjahr 1992, als die Spannungen zwischen der moldauischen Republiksführung und der selbsternannten Transnistrischen Moldavischen Republik« immer gewalttätigere Formen annahmen (vgl. Büscher, 1996). Eine Fact-finding-Mission der KSZE kam zu alarmierenden Ergebnissen (Rotfeld, 1994), was wiederum den Konfliktverhütungsmechanismus dieser internationalen Organisation auslöste. Sonderlich gut geölt war dieser Mechanismus damals noch nicht, so daß der Gang der Ereignisse, namentlich die militärische Eskalation im Dnjestr-Tal im Juni 1992, den noch im Beratungsstadium befindlichen Wiener Areopag der Diplomaten gleichsam überrollte. Erst nachdem die in Transnistrien stationierte 14. Rußländische Armee unter Generalleutnant Aleksandr Lebed im Juli den Konflikt mit Waffengewalt eingefroren hatte, konnte die KSZE wieder tätig werden. Am 4. Februar 1993 beschloß ihr »Ausschuß Hoher Beamter« (heute: »Hoher Rat«) die Entsendung einer achtköpfigen Langzeitmission nach Chisinau, Tiraspol und in den rechtsufrigen, aber von Transnistrien kontrollierten Spannungsschwerpunkt Bendery/Tighina. Am 25. April traf die aus Diplomaten, Militärs und Regionalfachleuten bestehende zivile »CSCE Mission to Moldova« in ihrer Einsatzregion ein.

Das bis heute gültige und formal unveränderte Mandat der Mission lautet in der durch die KSZE autorisierten deutschen Übersetzung wie folgt: „Die Mission (verfolgt) das Ziel, das Zustandekommen einer dauerhaften und umfassenden politischen Lösung des Konflikts … in all seinen Aspekten auf der Grundlage der KSZE-Prinzipien und -Verpflichtungen zu erleichtern…

Zu diesem Zweck wird die Mission …

  • den Konfliktparteien bei der Weiterführung von Verhandlungen über eine dauerhafte politische Lösung des Konflikts, der Festigung der Unabhängigkeit und Souveränität der Republik Moldau begleitet von einem Übereinkommen über einen Sonderstatus für die Region jenseits des Dnjestr behilflich sein,
  • <~>Informationen über die Lage in der Region, einschließlich der militärischen Situation, einholen und weitergeben, konkrete Zwischenfälle untersuchen und deren politische Auswirkungen beurteilen,
  • <~>die betroffenen Teilnehmerstaaten zur Weiterführung von Verhandlungen über ein Abkommen betreffend den Status und den ehestmöglichen geordneten und vollständigen Rückzug ausländischer Truppen ermutigen,
  • <~>in Teilaspekten einer politischen Lösung wie etwa der gewissenhaften Einhaltung internationaler Verpflichtungen betreffend Menschen- und Minderheitenrechte, dem demokratischen Wandel, der Rückführung von Flüchtlingen, der Festlegung eines Sonderstatus für die Region jenseits des Dnjestr Ratschläge erteilen und ihr Fachwissen einbringen sowie den Rahmen für anderweitige Beiträge bieten,
  • <~>in der Region für eine sichtbare KSZE-Präsenz sorgen und Kontakte zu allen Konfliktparteien, zu örtlichen Behörden und zur örtlichen Bevölkerung herstellen“. (Wiener AHB-Gruppe, 1993).

OSZE-Mandat setzt drei Schwerpunkte: Konfliktregelung, Truppenabzug, Menschenrechte und demokratische Reforme<14>n

Der Kölner Politologe und Osteuropafachmann Klemens Büscher hat die Möglichkeiten und Grenzen des OSZE-Konfliktmanagements in Moldova aufgrund dieses Mandates folgendermaßen interpretiert: „Inhaltlich setzt das Mandat drei Schwerpunkte: die Regelung des Transnistrienkonflikts, die Verhandlungen über den Abzug der russischen 14. Armee (auch wenn diese nicht explizit erwähnt wird) sowie Fragen der Menschenrechte und der demokratischen Reformen in Moldova. Die Aufgabenstellung hinsichtlich des Truppenabzugs wurde auch nach dem Abschluß des moldauisch-russischen Abkommens über den Rückzug der russischen Truppen (Oktober 1994) nicht modifiziert. Allerdings heißt es im Beschluß des Budapester KSZE-Gipfels vom Dezember 1994, die KSZE wird ‚die Dienste ihrer Mission in Moldova anbieten, um die Durchführung dieses Abkommens durch beide Seiten genau zu verfolgen‘, was einer bedingten Ergänzung des ursprünglichen Mandats nahekommt. Der dritte Schwerpunkt zielt auf die Aspekte der ,menschlichen Dimension`, die im OSZE-Rahmen insbesondere in den Aufgabengebieten des Hochkommissars für Nationale Minderheiten und des Warschauer Büros für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) zum Ausdruck kommen. Explizit wird hier die Einhaltung von Verpflichtungen im Bereich der ‚menschlichen Dimension‘ als Bestandteil der Konfliktregelung im konkreten Fall Transnistriens definiert.“ (Büscher, 1995)

Derselbe Autor moniert als eine zentrale Lücke im Mandat, daß „die Mission … zur politischen Beilegung des Konflikts beitragen, nicht jedoch die Konfliktursachen ermitteln oder beseitigen (soll). Die Zurückhaltung in dieser heiklen Frage ist dadurch motiviert, daß die Position eines unabhängigen Vermittlers durch Schuldzuweisungen an die Konfliktparteien, insbesondere an die aktuellen Verhandlungspartner, ernsthaft gefährdet wird. Eine auf Vertrauensbildung und guten Willen beider Seiten basierende Konfliktmediation kann sich kein öffentliches Aufrechnen vergangener und gegenwärtiger Fehlleistungen aller Beteiligten leisten. Hinzu kommt, daß auch aktuelle OSZE-Mitgliedsländer (außer Moldova vor allem Rußland und Rumänien) selbst kein Interesse am Aufdecken ihrer Verantwortung für die Entstehung und Eskalation des Transnistrienkonflikts haben.“ (Büscher, 1995)

K. Büschers Resümee lautet: „Bei der Umsetzung des Mandates durch die bisherigen Missionsleiter und -mitglieder ergaben sich naturgemäß unterschiedliche Schwerpunkte. Dennoch lassen sich fünf Elemente des OSZE-Konfliktmanagements in Moldova zusammenfassen:

  • Mediation bei den Verhandlungen um den Status Transnistrien in Moldova;
  • Diplomatie des Runden Tisches;
  • <~>Aktivitäten im Bereich der ,menschlichen Dimension`;
  • <~>Aufgaben im militärischen Bereich;
  • <~>Information und Berichterstattung.“ (Büscher, 1995)

Wie die Mission seit dem Frühjahr 1993 bestrebt ist, diese fünf Hauptelemente in ihrem Mandat praktisch umzusetzen, geht detailliert aus ihrer informellen Berichttätigkeit und überblicksartig aus einigen Erfahrungsberichten neueren Datums hervor (vgl. Büscher, 1995/Welberts, 1995/Troebst, 1995, 1997/Mark, 1995) Die Zwischenbilanz zum Jahresende 1996 sieht dabei, wie gesagt, teils ermutigend, teils enttäuschend aus:

  • In Sachen Mediation bei den Verhandlungen um den Status Transnistriens innerhalb Moldovas hat die Mission zwei unbestreitbare Erfolge vorzuweisen: Ihr (ausnahmsweise veröffentlichter) Entwurf eines Autonomiestatus (Missionsbericht Nr. 13, 1993) ist nicht zuletzt auf den Druck des zweiten Vermittlers, der Rußländischen Föderation, von Chisinau wie von Tiraspol im Dezember 1993 als Grundlage akzeptiert worden; und am 28. April 1994 kündigten der moldavische Präsident M. Snegur und sein selbsternannter transnistrischer Kollege I. Smirnov in Anwesenheit des KSZE-Missionsleiters die Einsetzung einer gemeinsamen Expertengruppe an, die informelle bilaterale Gespräche über den künftigen Status Transnistriens innerhalb Moldovas aufnehmen sollte. Seit ihrem ersten Treffen am 27. Juli 1994 hat diese Gruppe einschließlich verschiedener Untergruppen zu Bereichen wie Verkehr, Wirtschaft, Währungspolitik und Finanzen in mehr oder weniger größeren Abständen getagt (vgl. Welberts, 1995 und Büscher, 1995) und eine Übereinkunft über Transnistrien als »staatliches Gebilde in Form einer Republik innerhalb der Grenzen Moldovas« erzielt, die am 20. Juni 1996 von M. Snegur und I. Smirnov gebilligt wurde (FAZ, 1996). Jedoch wurde weder dieses Dokument unterzeichnet noch kam es zur Unterzeichnung eines flankierenden moldavisch-rußländisch-ukrainischen Abkommens am 1. Juli (FAZ, 1996b und Ionescu, 1996).

Wohl zur Erleichterung der Hardliner in Tiraspol verschob der damals im Wahlkampf befindliche B. El'cin die Unterzeichnung, gefolgt von einem taktischen Rückzieher seines transnistrischen Kollegen (Rüb, 1996). Die Abwahl des moldavischen Präsidenten am 1. Dezember 1996 und der Sieg seines stark auf die GUS orientierten Rivalen P. Lucinschi haben die Chancen für einen moldavisch-transnistrischen Ausgleich zwar wieder verbessert, doch ist in Tiraspol aus der mit großer Wahrscheinlichkeit manipulierten Präsidenschaftswahl vom 23. Dezember 1996 der Hardliner und Amtsinhaber I. Smirnov mit 71,9 Prozent der Stimmen als Sieger hervorgegangen (Hoischen, 1996b). Die höchst unübersichtliche Machtverteilung in Transnistrien (vgl. Ionescu, 1996b und Büscher, 1996) sowie das aus der katastrophalen wirtschaftlichen Lage resultierende soziale Konfliktpotential dort (vgl. Ionescu, 1996c) machen Prognosen über den Kurs der Führung Transnistriens so gut wie unmöglich. Ob es in absehbarer Zukunft zu einer moldavisch-transnistrischen Übereinkunft kommt, die die Außengrenzen der ehemaligen Sowjetrepublik Moldavien wiederherstellt, muß daher offen bleiben.

Diplomatie des »Runden Tisches« erbrachte gemischte Resultat<16>e

  • Der von der OSZE-Mission stipulierte Versuch des Herbeiführens eines direkten Dialoges zwischen Chisinau und Tiraspol auf mehreren hierarchischen und thematischen Ebenen, also die sogenannte Diplomatie des »Runden Tisches«, hat gleichfalls gemischte Resultate erbracht. Zwar beteiligte sich die transnistrische Führung an einer von der OSZE organisierten Chisinauer Konferenz über Dezentralisierung, Autonomie und Föderalismus im November 1994, doch die angestrebte Einbeziehung breiterer Berufsgruppen in den bilateralen Dialog wurde von Tiraspol torpediert. (vgl. Büscher, 1996) Vor allem der Versuch, die unter der wirtschaftlichen Selbstisolation leidende transnistrische Geschäftswelt in den politischen Diskurs mit einzubeziehen, stieß auf Mißtrauen und Ablehnung seitens I. Smirnovs. Folglich ist es noch immer ausschließlich die separatistische Führungsriege Transnistriens, die OSZE, Moskau und Chisinau als Dialogpartner zur Verfügung steht, und dementsprechend existiert als Grunddilemma fort, daß jeder Dialog eine politische Aufwertung eben dieser Gruppe bewirkt.
  • Was die Aktivitäten im Bereich der »menschlichen Dimension« betrifft, so hat die OSZE-Mission in Moldova Fortschritte, in Transnistrien eindeutig Rückschläge zu verzeichnen (zur Ausgangssituation von 1993-1994 siehe Welberts, 1996): In Moldova hat sich sowohl die Menschenrechtssituation insgesamt wie gerade auch der Stand der Minderheitenrechte positiv verändert. Dies trifft vor allem für die Sprachgesetzgebung, aber auch für den Minderheitenschutz im allgemeinen und für die Lage einzelner Minderheitengruppen zu (Hausleitner, 1995 und Troebst, 1995a). Zum einen hat Chisinau die Europäische Rahmenkonvention zum Schutz von Minderheiten nicht nur unterzeichnet, sondern als einer von ganz wenigen Mitgliedsstaaten des Europarates am 20. November 1996 auch ratifiziert, und zum anderen ist der 1990 aufgebrochene Konflikt mit der militanten Minorität der Gagausen im Süden des Landes mittels eines Status über eine überaus weitreichende Territorialautonomie für Gagausien Ende 1994 erfolgreich und gleichsam im Stillen gelöst worden (vgl. Mark, 1995b und King, 1994). Ganz anders die Lage in Transnistrien, wo ein demokratisch kaum legitimiertes Regime die Bevölkerung insgesamt unter Druck setzt und besonders die Rechte der romanischsprachigen Moldavier verletzt. Der noch zu Sowjetzeiten 1989 erfolgte landesweite Übergang von der Kyrilliza zur Lateinschrift ist von Tiraspol 1992 rückgängig gemacht worden; seitdem sind zahlreiche Schulen geschlossen worden, in denen Moldavisch weiterhin mit lateinischen Buchstaben gelehrt wurde. Massenproteste moldavischer Eltern im Herbst 1994 wurden zwar durch geringfügige Konzessionen beendet, doch ist das Problem keineswegs gelöst. Zugleich ist auch die politische Opposition in Transnistrien Fememaßnahmen des Regimes ausgesetzt, das überdies keine freie Berichterstattung durch Print- oder andere Medien duldet.
  • Fortschritte wurden bezüglich der Aufgaben im militärischen Bereich erzielt, doch ist man auch hier noch weit entfernt von einer erfolgreichen Umsetzung des Mandates (vgl. zu den Ausgangsbedingungen von 1993-1994 Welberts, 1995): Die noch ca. 7.000 Mann starke 14. Rußländische Armee, inzwischen wohl aus kosmetischen Gründen in »Operativgruppe der Bewaffneten Streitkräfte der Rußländischen Föderation« umbenannt, ist weiterhin in Transnistrien stationiert; die Gemeinsame Kontrollkommission über die im Sommer 1992 entlang des Dnjestr-Tals errichtete trilaterale moldavisch-rußländisch-transnistrische Sicherheitszone gewährt der OSZE-Mission auch weiterhin keine uneingeschränkte Teilnahme an ihrer Arbeit; die transnistrische Armee unterhält weiterhin illegale Stütz- und Kontrollpunkte innerhalb der Sicherheitszone; und die aus osmanischer Zeit stammende und weiterhin genutzte Festung im transnistrisch kontrollierten rechtsufrigen Bendery/Tighina, das eine »Zone erhöhter Sicherheit« innerhalb der Sicherheitszone darstellt, ist für die OSZE noch immer unzugänglich.
  • In den Bereichen Information und Berichterstattung hat die KSZE/OSZE-Mission von 1994 an eine insofern größere Breitenwirkung entfaltet, als seitdem die Zweiwochenberichte des Missionsleiters zwar nicht veröffentlicht, aber doch allen interessierten Instanzen in der Einsatzregion zugänglich gemacht werden. Nahezu gänzlich gescheitert ist die Mission indes mit ihrem Ziel, auch die Bevölkerung Transnistriens regelmäßig über ihre Aufgaben und Tätigkeit zu informieren. Die strikte transnistrische Zensur hat dem einen Riegel vorgeschoben.

Insgesamt muß die Zwischenbilanz von knapp vier Jahren KSZE/OSZE-Missionstätigkeit rechts und links des Dnjestr also durchwachsen ausfallen: Vieles, möglicherweise gar deutlich mehr als 1993 mit Fug und Recht zu erwarten war, ist erreicht worden; doch liegt das Endziel, nämlich die abschließende Beilegung des transnistrisch-moldavischen Konflikts, in mehr oder weniger weiter Ferne. Die sämtlich verhalten positiven Resultate, zu denen die drei Verfasser detaillierterer Untersuchungen zur Tätigkeit der »CSCE/OSCE Mission to Moldova« gekommen sind, sind aufgrund ihrer persönlichen Beteiligung an eben dieser Mission nur eingeschränkt aussagekräftig (Welberts, 1995, Büscher, 1995, Troebst, 1995). »Neutrale« Einschätzungen liegen bedauerlicherweise bisher nicht vor.

Nur partiell besser steht es um das Gesamturteil zum Instrument der Langzeitmission an sich. Immerhin ist mittlerweile nicht nur in Diplomatenzirkeln, sondern auch unter Politologen unbestritten, daß die OSZE durch hohe Bodenhaftung und Visibilität vor Ort, durch ungewöhnliche Flexibilität, innovative Methoden sowie moralisches Prestige in zahlreichen Nachfolgestaaten der UdSSR und der SFR Jugoslawien zur Reduzierung interethnischer Spannungen – oder doch zumindest zum Verhindern eines weiteren Anwachsens – beigetragen hat (vgl. OSZE-Jahrbuch, 1995, Lucas, 1993 und Troebst, 1997 sowie als zusätzliches Fallbeispiel Troebst: Präventive Friedenssicherung durch internationale Beobachtermissionen? Das Beispiel der KSZE-Spillover-Monitormission in Makedonien 1992-1993, in: Seewann, 1995). Mehr ist möglicherweise im immer noch starken Kräftefeld des Epochenjahrs 1989 auch gar nicht zu erwarten.

Literatur

Büscher, Klemens (1996): Separatismus in Transnistrien. Die »PMR« zwischen Rußland und Moldova. In: Osteuropa 46, H. 10, S. 860-875.

Büscher, Klemens (1995): Möglichkeiten und Grenzen des OSZE-Konfliktmanagements in Moldova. In: Ethnos – Nation 3, H. 2, S. 71-84.

FAZ (1996): Übereinkunft mit der »Dnjestr-Republik«. In: FAZ vom 21. Juni 1996, S. 2.

FAZ (1996b): Abkommen über den Status der Dnjestr-Republik. In: FAZ vom 1. Juli 1996, S. 5.

Hatschikjan, Margaditsch A./Peter R. Weilemann, Hrsg.(1995): Nationalismen im Umbruch, Ethnizität, Staat und Politik im neuen Osteuropa, Köln.

Hausleitner, Mariana (1995): Nationalitätenprobleme in der Moldaurepublik und die Beziehungen zu den Nachbarstaaten. In: Hatschikjan (1995), S. 105-121.

Hoischen, Oliver (1996): Weiter im Schatten Rußlands. Auch der nächste Präsident Moldovas bleibt auf enge Beziehungen zu Moskau angewiesen. In: FAZ vom 15. November 1996, S. 16.

Hoischen, Oliver (1996b): Smirnow als Präsident Transnistriens bestätigt. In: FAZ vom 24. Dezember 1996, S. 4.

Ionescu, Dan (1996): Playing the „Dniester Card“ In and After the Russian Elections. In: Transition, vol. 2, no. 17, 23 August 1996, S. 26-28.

Ionescu, Dan (1996b): Lethal Expansion in the Dniester Security Ministry. In: Transition, vol. 2, no. 22, 1 November 1996, S. 6-8.

Ionescu, Dan (1996c): Life in the Dniester „Black Hole“. In: Transition, vol. 2, no. 20, 4 October 1996, S. 12-14.

King, Charles (1994): Gagauz Yeri and the Dilemmas of Self-determination. In: Transition, vol. 1, no. 19, 20 December 1994, S. 21-25.

Lucas, Michael (Hrsg.) (1993): The CSCE in the 1990s: Constructing European Security and Cooperation. Baden-Baden.

Mark, Rudolf A. (1995): Moldova – Probleme mit der nationalen und staatlichen Selbstfindung. In: Ethnos – Nation 3, H. 1, S. 27-39.

Mark, Rudolf A. (1995b): Das Gesetz über die besondere Rechtsstellung von Gagausien (Gagauz-Yeri) in der Republik Moldova. In: WGO. Monatshefte für Osteuropäisches Recht 37 , S. 291-306.

Missionsbericht 13 (1993): Doklad No 13 missii SBSE v Moldove (13 nojabrja 1993 g.). In: Makler-Telegraf (Chisinau), Nr. 4 (32), 3. Februar 1994, S. 1 und 3-5.

Rotfeld, Adam Daniel (1994): In Search of a Political Settlement – The case of Conflict in Moldova. In: The Challenge of Preventive Diplomacy. The Experience of the CSCE. Ed. Staffan Carlson. Stockholm, S. 100-137.

Rüb, Matthias (1996): Zu Besuch in der »Schwesterrepublik«. Rumäniens Präsident Iliescu würdigt die Unabhängigkeit Moldovas. In: FAZ vom 8. Juli 1996, S. 5.

Seewann, Gerhard (Hrsg.) (1995): Minderheiten als Konfliktpotential in Ostmittel- und Südosteuropa. Vorträge der Internationalen Konferenz der Südosteuropa-Gesellschaft (München), des Südost-Instituts (München) und des österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung (Stadtschlaining, Burgenland) auf Burg Schlaining, 19.-22. Oktober 1993, München 1995, S. 282-331.

Troebst, Stefan (1995): Internationale Vermittlungsbemühungen zwischen Moldova und der selbsternannten »Transnistrischen Moldavischen Republik«. Als KSZE-Diplomat beiderseits des Dnjestr. In: Berliner Osteuropa Info, H. 5, S. 18-22.

Troebst, Stefan (1995a): Die bulgarische Minderheit Moldovas zwischen nationalstaatlichem Zentralismus, gagausischem Autonomismus und transnistrischem Separatismus (1991-1995). In: Südosteuropa 44 , H. 9-10, S. 560-584.

Troebst, Stefan (1997): Dicke Bretter, schwache Bohrer. Die Langzeitmissionen der OSZE. In: Frieden machen. Hrsg. Dieter Senghaas. Frankfurt/M., S. 147-165.

Ugglas, Margareta (1994): Conditions for Successful Preventive Diplomacy. In: The Challenge of Preventive Diplomacy. The Experimence of the CSCE. Ed. Staffan Carlsson. Stockholm, S. 11-32.

Welberts, Rolf, 1995: Der Einsatz der OSZE in der Republik Moldau. In: OSZE-Jahrbuch 1, S. 193-210.

Wiener AHB-Gruppe (1993), Journal Nr. 7, 11. März 93.

Dr. Stefan Troebst ist Privatdozent für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der FU Berlin sowie Gründungsdirektor des »European Centre for Minority Issues« in Flensburg. 1994-1995 war er im Auftrag des Auswärtigen Amtes deutsches Mitglied der CSCE Mission to Moldova.

»Soft-power« gegen Gewalt

»Soft-power« gegen Gewalt

Präventive Diplomatie im Streit um Minderheiten und ihre Rechte

von Hanne-Margret Birckenbach

Internationale Gewaltprävention kann funktionieren, sofern Regierungen es wollen. Das ist vielleicht die wichtigste Lehre, die aus den Erfahrungen mit dem Konzept der präventiven Diplomatie in den Konflikten um die Staatsbürgerschaft in Estland und Lettland gezogen werden kann. Nicht, daß eine Lösung für alle Probleme gefunden oder gar die innergesellschaftlichen und internationalen Spannungen beseitigt wären, aber eine Eskalation zur Gewalt wurde verhindert und irreversible Maßnahmen vermieden. Geschaffen wurde eine neue Konfliktformation: Das Verhalten aller Akteure ist kooperativer geworden, Einstellungen und Bewußtseinsformen haben Kompromisse ermöglicht, und die von den Konfliktparteien vertretenen Ziele sind nicht mehr unvereinbar, sondern verhandelbar. Reformen sind möglich geworden. Welchen Bedingungen ist dieser Erfolg zu verdanken und welche Schlußfolgerungen lassen sich daraus ziehen?

Wenn Staatsmänner über Grenzen verhandeln, haben die einzelnen Menschen in der Regel keinen Einfluß darauf, ob sie sich nach einem Ergebnis auf der Seite der Mehrheit oder auf der Seite einer Minderheit befinden. Sie sind Entscheidungen ausgeliefert, die gegenüber den Individuen gleichgültig und willkürlich sind. So erging es auch einem großen Teil der Bevölkerung Estlands und Lettlands, als beide Länder ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erstritten hatten und ein Teil der EinwohnerInnen nicht als StaatsbürgerInnen anerkannt wurde.

Zwischen dreißig und vierzig Prozent der Bevölkerung sahen sich über Nacht aus der Mehrheitsposition an den Rand des öffentlichen Lebens gedrängt. Ein neuer Typ von Minderheit war entstanden: »Nichtstaatsbürger mit Sonderstatus«. Betroffen sind Personen, die während der sowjetischen Herrschaft als BürgerInnen der Sowjetunion nach Estland und Lettland eingewandert sind sowie deren Nachkommen. Mit ihren Pässen müssen sie sich noch heute als Sowjetbürger ausweisen, also als Bürger eines Staates, der längst nicht mehr existiert. Im Laufe des Jahres 1997 sollen sie allerdings »Fremdenpässe« oder »Nichtstaatsbürger-Pässe« erhalten. Etwa zwei Drittel von ihnen sind russischer Herkunft, der andere Teil besteht aus Menschen, deren Wurzeln in Weißrußland, der Ukraine oder einem anderen baltischen Staat liegen. Eine Einordnung der daraus resultierenden Konflikte in herkömmliche Typologien ist schwer. So viel läßt sich jedoch mit Sicherheit sagen: Um einen »ethnischen Konflikt« handelt es sich nicht. Denn das gemeinsame Merkmal der NichtstaatsbürgerInnen, das zu ihrer politischen Ausgrenzung führt, ist nicht ihre Ethnizität, sondern die Zeit ihrer Zuwanderung.

Das Bild der Mehrheits- und Minderheitenverhältnisse im unabhängigen Estland und Lettland ist in der Tat verwirrend. Die Spaltung geht durch nahezu alle sozialen Gruppen. Die kleine jüdische Gemeinde in Estland zum Beispiel besteht zu etwa fünfzig Prozent aus NichtstaatsbürgerInnen, die kein Estnisch sprechen. Die Spaltung der Gesellschaft spiegelt sich auch in den Familien. So kommt es zum Beispiel im unabhängigen Lettland vor, daß ein Ehepartner lettischer Staatsbürger ist, während der andere in sowjetischer Zeit aus Estland zugezogene Teil NichtstaatsbürgerIn wurde. Da Lettland wie Estland Gesetze verabschiedet hat, die darauf abzielen, in sehr kurzer Zeit aus einem de facto zweisprachigen Land einen einsprachigen Staat mit Lettisch als einziger Nationalsprache zu machen, gehören beide Partner heute einer Sprachminderheit an, denn sie sprechen Russisch als Muttersprache, bis vor kurzem Lingua Franca auch in Estland und Lettland. Weil der eine Partner die lettische Staatsbürgerschaft nicht besitzt, muß er, sofern er es nicht schon kann, lettisch lernen, um eingebürgert zu werden, während der andere Partner auch ohne Kenntnis der lettischen Sprache sich an den Parlamentswahlen beteiligen kann. Viele der Nichtstaatsbürger haben inzwischen die russische Staatsbürgerschaft angenommen und/oder sind nach Rußland emigriert. Aber die Mehrheit beabsichtigt dauerhaft in Estland und Lettland zu bleiben. Gerade unter denen, die die Ziele der Unabhängigkeitsbewegung geteilt haben, ist die Enttäuschung über die politische Entwicklung ständig gewachsen.

Rasch wurden die Nichtstaatsbürger zum Streitpunkt internationaler Politik. Sie selbst müssen ihre Lage als Diskriminierung empfinden. Aus estnischer und lettischer Sicht handelt es sich um eine legitime Entscheidung im Interesse nationaler Sicherheit, aus russischer Sicht dagegen um eine schwere Menschenrechtsverletzung an einer Bevölkerungsgruppe, die russische Staatsbürger werden und nach Rußland einströmen könnten. Denn Rußland hält sich bislang – anders als Estland und Lettland – an die noch vor vollzogener Unabhängigkeit bilateral geschlossenen Abkommen, allen ehemaligen Bürgern nach freier Wahl die Option auf die russische Staatsbürgerschaft oder die des Aufenthaltslandes zu gewähren. Aus internationaler Sicht interessiert vor allem die diesem Streit inhärente Gefahr einer internationalen Destabilisierung.

Völkerrechtlich war, wie der Menschenrechtskommissar der Vereinten Nationen, Ibrahima Fall 1993 feststellte, ein solcher Fall „nicht vorgesehen“. Dennoch fand eine internationale Intervention im Rahmen des völkerrechtlich Zulässigen statt, und sie war erfolgreich. Besonders offensichtlich ist die Wirkung der Kommentare und Empfehlungen von KSZE/OSZE-Organen und des Europarates. Mindestens drei Mal haben sie zu einer Revision von provokativ diskriminierenden Gesetzen geführt, die vom Parlament bereits verabschiedet waren. Nichtsstaatsbürger haben heute Aufenthaltsrechte, Reisemöglichkeiten, können Sozialleistungen beziehen und erhalten eine Arbeitserlaubnis. Sie können sich um eine Einbürgerung bewerben und die Anforderungen an Kenntnis von Sprache und Geschichte wurden für alte und behinderte Menschen herabgesetzt. Auch russischsprachige EinwohnerInnen haben heute vor Gericht das Recht auf einen Dolmetscher. Die Einrichtung eines Runden Tisches zu Fragen der Minderheiten beim estnischen Präsidenten und eines ähnlichen »Rates« beim lettischen Präsidenten wäre nicht ohne internationales Drängen erfolgt. Welche Faktoren haben diese und ähnliche Fortschritte im Detail ermöglicht?

Prozeßhafte Intervention

In der theoretischen Literatur gilt der Zeitpunkt einer Intervention als ein Faktor, der über Erfolg und Mißerfolg entscheidet. Im konkreten Fall hat jedoch niemand entschieden, jetzt sei die Zeit für eine durchgreifende Aktion gekommen. Krisenintervention in Estland und Lettland hat keinen eindeutig identifizierbaren Anfang und besteht nicht aus einem einzigen Akt, sondern erfolgte in unzähligen, nur teilweise koordinierten Einzelschritten, die im Detail nicht bis in ihre Ursprünge zurückverfolgt werden können und an denen ganz unterschiedliche Akteure beteiligt waren. So viel ist jedoch richtig: Internationale Organisationen wurden früh mit dem Konfliktgeschehen in den baltischen Staaten befaßt und zwar bereits zu einer Zeit, als sich die Konflikte um die Staatsbürgerschaft noch im Latenzstadium befanden. Bevor die VN, KSZE/OSZE und schließlich auch der Europarat den Entschluß faßten, die Regie zu übernehmen, lag die Initiative bei transnational agierenden zivilgesellschaftlichen Kräften. Sie kommunizierten mit der baltischen Umweltbewegung, stellten transnational Kommunikation her und mobilisierten das Ausland mit wachsendem Erfolg für die Anliegen der baltischen Unabhängigkeitsbewegungen. Das gelang mit der nachhaltigsten Wirkung in Schweden. »Montagsdemonstrationen«, die in mehreren schwedischen Städten über etwa 75 Wochen durchgehalten wurden, motivierten die Regierung dazu, die Entwicklung der baltischen Republiken zunächst in der UN-Vollversammlung, dann auf dem KSZE-Gipfeltreffen in Paris zu thematisieren. Damit organisierte Schweden zunächst nur die politische Rückendeckung für die Unabhängigkeit der baltischen Staaten und schließlich für den Abzug der sowjetisch-russischen Truppen. Rückblickend gesehen hatte diese Politik aber auch den Effekt, daß die VN und die KSZE sich bereits mit der Entwicklung in Estland und Lettland befaßt und dort Vertrauen erworben hatten, bevor der Konflikt um die Staatsbürgerschaft manifest geworden war. Transnational agierende zivilgesellschaftliche Kräfte hatten also, vermittelt über die Außenpolitik einer Regierung, auf internationaler Ebene eine vorbereitende Phase eingeleitet, die es den internationalen Organisationen ermöglichte, in den manifest gewordenen Staatsbürgerschaftskonflikt einzugreifen.

Arbeitsteilung und Funktionsdifferenzierung

Trotz der hohen Akzeptanz, die auf diese Weise in Estland und Lettland erreicht worden war, hatten die internationalen Organisationen kein leichtes Spiel, die Zustimmung beider Länder dafür zu erhalten, die Tagesordnung mit den Themen »Unabhängigkeit« und »Abzug der russischen Truppen« um das Thema »Staatsbürgerschaft« zu erweitern. Dem Fürsprecher Schweden fiel es – angesichts der im eigenen Land entstandenen Symphatiewelle für das neue Lettland und Estland – schwer, eine kritische Position gegenüber der Staatsbürgerschaftspolitik zu beziehen. So war es Rußland, das – in Übereinstimmung mit den KSZE/OSZE-Mechanismen – die Aktivitäten dieser Institution im Staatsbürgerschaftskonflikt eingeleitet hat. Obwohl die Initiative von einem für Estland und Lettland in Menschenrechtsfragen unglaubwürdigen Land ausgegangen ist, haben beide Länder schließlich zugestimmt, daß sich die KSZE/OSZE mit dem Konflikt befaßt. Daß es zu dieser Einwilligung gekommen ist, belegt, welche politische Bindungskraft die KSZE/OSZE-Mechanismen heute erlangt haben. Sie entlasten die nationale Politik der Mitgliedstaaten vom Druck populistischer Strömungen im eigenen Land, sei es am Ort der Krise, sei es im Ausland. Ähnliches gilt für den Europarat. Seine Befassung mit dem Staatsbürgerschaftskonflikt wurde durch die Aufnahmeanträge Estlands und Lettlands ausgelöst, also dadurch, daß beide Staaten selbst aktiv geworden waren. Auch wenn sie damit nicht beabsichtigten Präventionsmaßnahmen im Staatsbürgerschaftskonflikt einzuleiten, war dies angesichts der vorhandenen Aufnahmemechanismen des Europarates eben doch eine unabdingbare Folge.

Erfolgreiche Konflikttransformation beruht also ganz offensichtlich auf dem Zusammenspiel unabhängiger und unterschiedlicher Akteure, die in unterschiedlichen Phasen eines Konfliktes eigene Rollen übernehmen. Ohne die Nichtregierungsorganisationen, UNO, KSZE/OSZE und Europarat wäre ein vergleichbares Ergebnis sicher nicht erreicht worden, und keine hätte alleine ausgereicht. Aber auch das Konfliktverhalten einzelner Staaten ist bedeutsam, weil es darüber entscheidet, ob es überhaupt zu einem Prozeß der Konfliktintervention durch internationale Organisationen kommen kann. Die Offenheit der schwedischen Regierung für die Anliegen zivilgesellschaftlicher Kräfte, die Fähigkeit als neutrales und an der Region interessiertes Land in der UNO und der KSZE/OSZE ausreichendes Gewicht zu entfalten und kompetent zu agieren, muß ebenso genannt werden, wie die Fähigkeit Rußlands, innenpolitischen Druck über die KSZE/OSZE zu kanalisieren. Auch die Einsicht Estlands und Lettlands, daß es im eigenen Interesse liegt, den Konflikt unter Aufsicht von UNO, KSZE/OSZE und Europarat auszutragen, ist bemerkenswert.

Pluralität der Perspektiven

Im Interesse der Einhegung von Konflikten muß das Vorurteil überwunden werden, Vielfalt und Uneinheitlichkeit internationalen Engagements blockierten Erfolge, und daher sei auf Vereinheitlichung zu drängen. Das Gegenteil ist der Fall, Pluralität hat sich als eine Erfolgsbedingung erwiesen.

Die NATO blieb unbeteiligt, aber die Spannweite der Organisationen, die sich mit jeweils eigenständiger Akzentsetzung am Interventionsprozeß beteiligt haben, ist sehr groß und umfaßt die VN, die KSZE/OSZE, wie den Europarat und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, ferner Menschenrechtsgruppen wie Helsinki Watch, KSZE-Helsinki-Gruppen, Minority Rights-Gruppen und die Féderation Internationale des Droits de L`Homme. Sie haben verschiedene Erfahrungen und Expertisen und genießen jeweils unterschiedliche Autorität bei unterschiedlichen Akteuren. Diese Pluralität der Perspektiven hat sich als Segen erwiesen. Vor allem hat sie gewährleistet, daß kontroverse Positionen nicht machtpolitisch eliminiert wurden, womit sie der Bearbeitung entzogen wären. Die Vielfalt der Fact-finding-Aktivitäten in Estland und Lettland hinsichtlich der menschenrechtlichen Bewertung der verweigerten Staatsbürgerschaft hat zum Beispiel dazu geführt, daß weder die russische noch die lettische und estnische Position bestätigt wurden. Selbst, wenn die eine oder andere Organisation so unparteiisch nicht sein konnte, wie sie zu sein vorgab, wurde durch die organisatorische Breite des internationalen Engagements auch eine Form von Unparteilichkeit gesichert.

Kontextabhängigkeit von Erfolgen

Stellt man nun zusammen, was im Rahmen der internationalen Organisationen tatsächlich unternommen wurde, um den Staatsbürgerschaftskonflikt zu beeinflussen, so stößt man auf eine Vielfalt von »Soft-power«-Aktivitäten. Alle Organisationen haben Missionen entsandt, Fact-finding betrieben, Briefwechsel und direkte Gespräche mit den Regierungen und Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen geführt, Politiker beraten, Seminare durchgeführt, die Lage erörtert, Diskussionsprozesse beobachtet und Stellungnahmen abgegeben – also dialogorientierte Methoden angewandt, deren Effektivität gemeinhin noch immer wenig Vertrauen findet. Warum konnten sie in beiden Fällen wirksam sein?

Niemand darf erwarten, man könne bei der Intervention in Minderheitenkonflikte in die Trickkiste gewaltfreier Methoden greifen und die Probleme lösten sich von selbst. Ob »Soft-power«-Aktivitäten greifen und welche Kombinationen wirksam sind, ist kontextabhängig. In Estland und Lettland stießen sie auf gesellschaftlicher Ebene auf eine Kultur der Gewaltfreiheit, die sich während der Unabhängigkeitsbewegung, der »singenden Revolution« herausgebildet hatte, und die auch deshalb weiter wirken konnte, weil menschenrechtsorientierte Argumentationsmuster bereits ein wenig eingeübt waren, bevor Rußland sie als Joker ins Feld führte. Diese kulturelle Verankerung ist vor allem eine Leistung der lokalen und transnationalen NRO. Auf politischer Ebene kam der Aufwind hinzu, den internationale Organisationen nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes für das Konzept erfahren haben, Konfliktintervention als Konfliktprävention zu konzipieren. Ihre kompetente Anwendung wurde auch dadurch begünstigt, daß Schweden mit der Außenministerin Margaretha af Ugglas 1992 den Vorsitz im KSZE-Rat übernahm und sowohl das Interesse wie auch die Kompetenz hatte, eine friedliche Entwicklung vor den eigenen Toren zu fördern. Die Angst vor einer Entwicklung nach jugoslawischem Muster war eine weitere Antriebskraft.

Wer also erfolgreiche Krisenintervention in Minderheitenkonflikten ermöglichen will, muß langfristig und umfassend denken, d.h., sich um die innergesellschaftliche und transnationale Verankerung einer Friedenskultur ebenso bemühen wie um eine vorausschauende Außenpolitik. Auch gilt es, internationale Organisationen auf Konflikteskalationen vorzubereiten, die ein Eingreifen erforderlich machen. Dabei spielt die Entwicklung und routinehafte Anwendung solcher Mechanismen eine hervorragende Rolle, die für Parteien auch dann konsensfähig bleiben, wenn sie untereinander in eine Eskalationsspirale geraten.

Problem: Konfliktautonomie

In Estland und Lettland schwärmt man von der EU und der NATO, nicht von den im Staatsbürgerschaftskonflikt engagierten internationalen Organisationen. Sie sind alles andere als beliebt und müssen täglich aufs Neue um ihre Anerkennung kämpfen. Man toleriert ihr Engagement nolens volens, denn es hat sich für alle beteiligten Akteure in je eigener Weise als nützlich erwiesen. Estland und Lettland haben die internationalen Organisationen geholfen, sich gegen Anschuldigungen Rußlands zu verteidigen, indem die Frage der Menschenrechtsverletzung immer erneut geprüft, teilweise zurückgewiesen und insgesamt offen gelassen wurde. Beiden Regierungen haben die internationalen Organisationen als Quelle von Sachverstand gedient, um Gesetze und Institutionen internationalen Standards anzupassen. Auch finanzielle Ressourcen zur Umsetzung von Reformen wurden mit Hilfe der internationalen Organisationen mobilisiert. Rußland haben sie mit ihrem eindeutigen Diktum, eine Rückführung der Nichtstaatsbürger nach Rußland sei eine Illusion, darin innenpolitisch unterstützt, Gerüchte um Vertreibungen oder Ausweisungen zu beenden. Dieses Diktum konnte auch die Nichtstaatsbürger weitgehend beruhigen, zumal viele der erzielten Kompromisse (Aufenthaltsrechte, Arbeitserlaubnis und Sozialfürsorge) für das schwierige Alltagsleben in einer nachkommunistischen Gesellschaft ungleich wichtiger empfunden werden, als die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechtes. Einzelne westliche Länder wie Schweden, aber auch die Bundesrepublik mit ihren nicht ganz eindeutigen Interessen am »Baltikum«, wurden durch die internationalen Organisationen von innenpolitischem Druck, wie auch von der Erwartung Estlands und Lettlands, entlastet, zum Konflikt um die Staatsbürgerschaft für die beiden Staaten gegen Rußland Partei ergreifen zu müssen. Alle Akteure, die beteiligten Staaten ebenso wie die entstehenden lokalen und transnationalen NRO wurden mit detaillierten und im Prinzip gleichen Informationen versorgt. Das hat Asymmetrien hinsichtlich der Informationszugänge sowie dem Entstehen von politisierbaren Gerüchten entgegengewirkt. Und schließlich diente das Engagement den Organisationen selbst dazu, sich als Präventionsspezialisten zu profilieren, was angesichts der im jugoslawischen Konflikt erlittenen Schmähungen auch dringend erforderlich war. Das gilt vor allem für die KSZE/OSZE.

Wenn das Engagement internationaler Organisationen für alle Akteure so nützlich ist, erhöht sich die Chance, daß sie von allen Seiten in ihrer Arbeit unterstützt werden. Aber es entsteht ein neues Problem, das heute auch in Estland und Lettland zu beobachten ist. Konfliktautonomie in dem Sinne, daß die Parteien ein Interesse daran entwickeln, selbständig ihre Probleme untereinander gütlich zu regeln, wird nicht gefördert, wenn die Beteiligung von »Drittparteien« für die Akteure »zu« nützlich wird. Dann entstehen Interessen daran, sich gleichzeitig vor Eskalation zu schützen und die Spannungen zu erhalten. Was sonst, außer dem Erhalt der Spannungen zwischen den als »Russen« stigmatisierten Nichtstaatsbürgern mit der Mehrheitsbevölkerung, könnte eine so große Aufmerksamkeit in der Welt für kleine Länder wie Estland und Lettland erheischen und gleichzeitig ihre politischen Klassen von dem Druck befreien, in wirklich allgemeinen Wahlen unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen zu bestehen?

Langfristigkeit von Engagement und Rückzug

Die Prognose über die Entwicklung beider Konflikte ist optimistisch, was die Chancen betrifft, eine Ausweitung der Konflikte über Estland und Lettland hinaus zu verhindern, verhalten optimistisch, was die Verhinderung einer inneren Eskalation hin zu Gewalthandlungen angeht und wenig optimistisch im Hinblick darauf, daß die zugrunde liegenden Probleme gelöst und der Konflikt friedlich und kreativ beigelegt wird. Im besseren Fall bleibt der Konflikt um die Staatsbürgerschaft dann auf Dauer deshalb erhalten, weil die Akteure den Eindruck gewinnen, daß sich mit ihm gut leben läßt, da die internationale Politik um die Interessen aller besorgt ist. Schlimmer wäre, wenn die erreichten Erfolge verspielt, die gestiegene Reformfähigkeit brachliegen und die Positionen der rivalisierenden Akteure sich erneut verhärten würden.

In der politischen Diskussion um präventive Diplomatie wird heute immer wieder darauf hingewiesen, daß Erfolge an die Bereitschaft zu langfristigem Engagement geknüpft sind, und dieses Argument ist auch sicher richtig. Aber was versteht man unter Langfristigkeit, wie lang ist langfristig? Wann müssen internationale Akteure bereit sein, aus einem Konflikt wieder auszusteigen, wie können sie sich und andere Akteure darauf vorbereiten? Wenn es keinen Anfang internationaler Krisenintervention gibt, gibt es dann ein Ende, wie könnte es eingeleitet werden und aussehen? Wird es eine friedensverträgliche Rückführung der Probleme in die Obhut zivilgesellschaftlicher Kräfte geben? Das müßte ein Ziel der Krisenintervention sein, seine Realisierung ist jedoch bislang nicht zu erkennen. Naturwüchsig wird sie sich nicht ergeben, sie bedarf der politischen Förderung. Ob Estland und Lettland auch Erfolgsbeispiele dafür liefern werden, wie eine solche Förderung auf den Weg gebracht werden kann, ist heute noch vollkommen offen.

Dr. Hanne-Margret Birckenbach ist Privatdozentin an der Universität Bielefeld und Wissenschaftliche Assistentin am Schleswig-Holsteinischen Institut für Friedenswissenschaften (SCHIFF) an der Universität Kiel

Konfliktberichterstattung zwischen Eskalation und Deeskalation

Konfliktberichterstattung zwischen Eskalation und Deeskalation

Ein sozialpsychologisches Modell

von Wilhelm Kempf

Massenmedien vermitteln Konfliktwirklichkeiten nicht im Verhältnis eins zu eins, sondern selektieren, akzentuieren und bewerten und beeinflußen eben dadurch ihrerseits Konfliktverläufe. Aufgrund der weitgehenden Orientierung an einem konkurrenzbetonten Konfliktverständnis tragen sie vielfach zur Eskalation bei. »Friedensjournalismus«, deeskalierende Berichterstattung, hat zur Voraussetzung, daß ein kritisch-kooperationsbetontes Konfliktverständnis zugrundegelegt wird.

In modernen Kriegen stellt absichtsvolle und systematische Propaganda ein zentrales Element der psychologischen Kriegsführung dar. So kommt bereits Lasswell (1927) zu dem Schluß, daß die psychologischen Widerstände gegen den Krieg in modernen Gesellschaften so groß sind, daß jedem Krieg der Anschein gegeben werden muß, ein Verteidigungskrieg gegen einen bedrohlichen, mörderischen Aggressor zu sein. Um dies zu erreichen, ist ein massiver Aufwand an Propaganda erforderlich, deren Ziel es ist, den Kriegswillen der eigenen Soldaten und der eigenen Zivilbevölkerung zu stärken, ihre Identifikation mit den Kriegszielen herzustellen, sich mit der Kriegslogik zu identifizieren und eine friedliche Streitbeilegung abzuwehren.

Seit dem Golfkrieg hat sich die friedenswissenschaftliche Diskussion zunehmend mit der Rolle der Massenmedien in diesem Prozeß auseinanderzusetzen begonnen und die Frage aufgeworfen, inwieweit ihre Kriegsberichterstattung die Medien zu Katalisatoren der Gewalt werden läßt. Die Steuerung der Kriegsberichterstattung durch die militärische Führung (Zensurmaßnahmen des Pentagon, Pool-System etc.) und die Aktivitäten von Public Relations Agenturen (z.B. Hill & Knowlton, Ruder & Finn), die jenseits der professionellen Richtlinien und berufsethischer Normen des Journalismus operieren, ließen den Ruf nach Etablierung einer neuen Profession laut werden: nach der Profession des Friedensjournalisten, der durch besondere Qualifikationen in die Lage versetzt werden soll, über Konflikte in einer Art und Weise zu berichten, die – im Unterschied zu herkömmlicher Kriegsberichterstattung – zu einer Deeskalation der Konflikte beiträgt oder zumindest ihre Eskalation nicht befördert.

Wenn Journalismus wie Propaganda aussieht, nach Propaganda riecht und wie Propaganda schmeckt, dann ist er tatsächlich zu Propaganda geworden. Dies kann mit Absicht oder aus Fahrlässigkeit geschehen sein. Propaganda und Journalismus sind oft kaum noch voneinander zu unterscheiden. Denn auch gut gemachte Propaganda will nicht nach Propaganda stinken, und sie hat die besten Chancen dazu, weil die von ihr unterstützten Prozesse der Wahrnehmungsverzerrung in eskalierenden Konflikten auch ohne systematische Propaganda – gleichsam naturwüchsig – ablaufen. Wenn man diese Prozesse kennt, kann man Propaganda jedoch schon sehen, riechen und schmecken, bevor sie zu stinken beginnt. Und man kann ihr das Modell eines kritischen Friedensjournalismus entgegenstellen, der der Propagandafalle entgeht, indem er sich gegenüber diesen naturwüchsigen Prozessen als widerständig erweist, ohne in Gegenpropaganda umzuschlagen.

Perspektivendivergenz

Kriegspropaganda produziert eine verzerrte Realitätswahrnehmung, welche die Kriegsparteien polarisiert, und den Krieg als gleichermaßen notwendig wie gerechtfertigt erscheinen läßt. Sie tut dies, indem sie naturwüchsige Tendenzen der Wahrnehmungsverzerrung der Konfliktparteien aufgreift und unterstützt. Diese Tendenzen haben ihren Ursprung in der systematischen Perspektivendivergenz zwischen den Konfliktparteien: Während man seine eigenen Handlungen vom Innenstandpunkt des Blicks auf die damit verfolgten Intentionen wahrnimmt, werden Fremdhandlungen von einem Außenstandpunkt, d.h. von den Handlungsfolgen her erfahren.

Gegenseitiges Verstehen der Handlungsweisen der Konfliktparteien erfordert daher einen aktiven Prozeß der Perspektivenübernahme. Wenn eine der Konfliktparteien jedoch in ihrer Perspektive verfangen bleibt, erscheint ihr die andere als Aggressor, welche Sichtweise sowohl die Notwendigkeit als auch die Rechtfertigung impliziert, sich gegen die Aggression zu verteidigen.

Je mehr die Konfliktparteien in eine solche aggressive Interaktion verwickelt werden, desto mehr werden sie zugleich an ihre je eigene Perspektive gebunden, die für Empathie mit der gegnerischen Partei keinen Raum läßt, und auch keinen Raum lassen darf, da sonst die Grundlage zerstört würde, auf welcher die Konfliktparteien meinen, die Situation unter Kontrolle zu haben (Kempf, 1995).

Ist diese Konstellation gegenseitiger Bedrohung erst einmal erreicht, so hat sich der Konflikt zu einem autonomen Prozeß verselbständigt, in dem jede der Konfliktparteien für sich selbst keine andere Handlungsmöglichkeit mehr sieht als die Verteidigung ihrer Ziele. Unabhängig davon, ob ihre Verteidigungshandlungen Erfolg haben oder nicht, werden sie von der gegnerischen Gruppe jedoch ihrerseits als Angriff wahrgenommen, durch welchen diese nun ihre Ziele bedroht sieht, wogegen sie sich verteidigen zu müssen glaubt…

Destruktive Konfliktverläufe

Welchen Verlauf ein Konflikt nimmt, hängt nach Deutsch (1976) wesentlich davon ab, ob der Konflikt als kompetitiver oder als kooperativer Prozeß begriffen wird.

Destruktive Konflikte haben die Tendenz, sich auszubreiten und hochzuschrauben. Sie verselbständigen sich und dauern auch dann noch an, wenn die ursprünglichen Streitfragen belanglos geworden oder vergessen sind. Parallel zur Ausweitung des Konfliktes vollzieht sich eine zunehmende Fixierung auf Machtstrategien, auf die Taktiken der Drohung, des Zwanges und der Täuschung.

Die Tendenz, den Konflikt hochzuschrauben, resultiert aus drei miteinander verbundenen Prozessen: aus der Konkurrenz, die aus dem Versuch resultiert, im Konflikt zu gewinnen, aus der Fehleinschätzung des gegnerischen Handelns und seiner Intentionen (Perspektivendivergenz, Feindbildkonstruktion) und aus dem Prozeß der sozialen Verpflichtung, der damit einhergeht, daß der Sieg über den Gegner zum vorrangigen Ziel der Innengruppe wird.

Der Konkurrenzprozeß bewirkt eine Verarmung der Kommunikation zwischen den Konfliktparteien. Die bestehenden Kommunikationsmöglichkeiten werden nicht ausgenutzt oder dazu benutzt, den Gegner einzuschüchtern oder irrezuführen. Aussagen des Gegners wird wenig Glauben geschenkt. Fehleinschätzungen von Informationen im Sinne bereits existierender Vorbehalte werden dadurch begünstigt.

Der Konkurrenzprozeß legt die Ansicht nahe, daß eine für die eigene Seite befriedigende Konfliktlösung nur auf Kosten des Gegners und gegen diesen durchgesetzt werden kann. Dadurch wird die Anwendung immer drastischerer und gewaltsamerer Mittel der Durchsetzung der eigenen Ziele begünstigt.

Der Konkurrenzprozeß führt zu einer argwöhnischen und feindseligen Haltung gegenüber dem Gegner, welche die Wahrnehmung von Gegensätzen zwischen den Konfliktparteien verschärft und die Wahrnehmung für Gemeinsamkeiten der Konfliktparteien vermindert.

Der Prozeß der Fehleinschätzung resultiert zunächst aus der Perspektivendivergenz der Konfliktparteien und schraubt den Konflikt infolge der entstehenden Asymmetrie von Vertrauen und Argwohn hoch, so daß die Bereitschaft der Konfliktparteien sinkt, das gegnerische Handeln (auch) aus der Perspektive des Gegners zu sehen. Die Fähigkeit der Konfliktparteien zur Aufnahme von Informationen, welche die vorurteilsbeladenen Interpretationen des gegnerischen Handelns korrigieren könnten, nimmt ab, und die Konfliktparteien neigen dazu, die eigenen Ziele und Handlungen für angebrachter und berechtigter zu halten als die der Gegenseite.

Durch die Verschärfung des Konfliktes entsteht eine erhöhte Spannung, durch welche die intellektuellen Möglichkeiten reduziert werden, andere Wege der Konfliktlösung zu gehen. Durch den Prozeß der sozialen Verpflichtung auf den Sieg über den Gegner wird die Konfliktlösungskompetenz im Falle von Konflikten zwischen Gruppen noch weiter eingeschränkt: Gruppenmitglieder, die sich im Kampf hervortun, gewinnen an Einfluß; Kompromißbereitschaft und Vermittlungsversuche werden als Verrat abgewehrt, und die andauernde Verstrickung in den Konflikt bindet die Gruppenmitglieder an die Konfliktstrategie, indem sie ihre bisherige Beteiligung rechtfertigt.

Eskalierende Konfliktberichterstattung

Erfolgreiche Propaganda beruht wesentlich auch darauf, daß sie nicht sofort als Propaganda durchschaut wird. Dies gelingt, indem die Propaganda nicht einfach ihre eigene Propagandawirklichkeit konstruiert, sondern indem sie naturwüchsige Prozesse der Wahrnehmungsverzerrung aufgreift, weiterträgt und verschärft.

In jedem Konflikt gibt es eigene Rechte, Intentionen etc. und fremde Handlungen, die damit interferieren und als Bedrohung erlebt werden. Zugleich gibt es Rechte und Intentionen der anderen Partei, mit welchen die eigenen Handlungen interferieren und die vom anderen als Bedrohung erlebt werden. Aber es gibt auch gemeinsame Rechte, Intentionen etc. und einen gemeinsamen Nutzen aus der Beziehung zwischen den Parteien, die Anlaß für gegenseitiges Vertrauen sind

Die systematische Perspektivendivergenz zwischen den Parteien behindert jedoch einen solch vollständigen Blick auf die Konfliktkonstellation. Der Blickwinkel ist auf die eigenen Rechte, Intentionen etc. und ihre Bedrohung durch die gegnerischen Handlungen verengt, die zugleich als Bedrohung der gemeinsamen Rechte und Intentionen sowie als Bedrohung des gemeinsamen Nutzens wahrgenommen werden.

Wird der Konflikt als Konkurrenzsituation interpretiert, so geraten auch die gemeinsamen Rechte, Intentionen etc. und der gemeinsame Nutzen aus dem Blickfeld. Das gegenseitige Vertrauen geht verloren. Man sieht nur noch die eigenen Rechte, Intentionen etc. und deren Bedrohung durch die gegnerischen Handlungen.

Eskaliert die Konkurrenz zum Kampf, so werden die Rechte des anderen bestritten und seine Intentionen dämonisiert. Eigene Handlungen, die mit gegnerischen Rechten, Intentionen etc. interferieren, werden gerechtfertigt und die eigene Stärke betont. An die Seite der Bedrohung durch den Gegner tritt die Zuversicht, den Kampf gewinnen und die eigenen Rechte, Intentionen etc. durchsetzen zu können. Eigene Rechte, Intentionen etc. werden idealisiert. Gegnerische Handlungen, welche damit interferieren, werden verurteilt und die Gefährlichkeit des Gegners wird betont. Die Bedrohung gegnerischer Rechte durch die eigenen Handlungen wird verleugnet. Die Angriffe des Gegners erscheinen ungerecht und lassen Argwohn gegen ihn entstehen.

Mit der weiteren Eskalation zum Krieg verengt sich die Konfliktwahrnehmung vollends auf die militärische Logik. Diesen Prozeß zu unterstützen, in Gang zu setzen und aufrechtzuerhalten ist Gegenstand und Ziel der Kriegspropaganda.

Die Alternative einer friedlichen Streitbeilegung wird zurückgewiesen, der Argwohn gegenüber dem Gegner geschürt. Gemeinsame Interessen, die Grundlage einer konstruktiven Konfliktbearbeitung sein könnten, werden bestritten. Die Möglichkeit der Kooperation mit dem Gegner wird ausgeschlossen. Die (gerechtfertigte) Empörung über den Krieg wird in eine (selbstgerechte) Empörung über den Feind umgewandelt: das gemeinsame Leid, das der Krieg für beide Seiten mit sich bringt, darf nicht gesehen werden; ebensowenig der gemeinsame Nutzen, den eine friedliche Streitbeilegung mit sich bringen könnte

Konstruktive Konfliktverläufe

In einer kooperativen Umgebung kann ein Konflikt dagegen als gemeinsames Problem angesehen werden, an dem die Konfliktparteien das gemeinsame Interesse an einer allseits zufriedenstellenden Lösung haben. Dies begünstigt eine produktive Konfliktlösung in dreierlei Hinsicht: Der kooperative Prozeß verhilft zu offener und ehrlicher Kommunikation. Die Freiheit, Informationen untereinander auszutauschen, ermöglicht es den Konfliktparteien, über die offenliegenden Streitfragen zu den dahinterliegenden Interessen der Konfliktparteien vorzudringen und dadurch erst eine angemessene Definition des Problems zu erarbeiten, dem sie gemeinsam gegenüberstehen. Zugleich wird jede Partei in die Lage versetzt, vom Wissen ihres Partners zu profitieren, so daß ihre Beiträge zur Lösung des Konfliktes optimiert werden. Nicht zuletzt verringert eine offene Kommunikation die Gefahr von Mißverständnissen, die zu Verwirrung und Argwohn führen können. Der kooperative Prozeß ermutigt die Anerkennung der Sichtweisen und Interessen des Partners und die Bereitschaft zur Suche nach Lösungen, die beiden Seiten gerecht werden. Er reduziert defensive Einstellungen und ermöglicht es den Partnern, das Problem so anzugehen, daß ihre besonderen Kompetenzen zum Tragen kommen. Der kooperative Prozeß führt zu einer vertrauensvollen, wohlwollenden Einstellung der Partner zueinander, welche die Sensitivität für das Erkennen von Gemeinsamkeiten erhöht und die Bedeutung von Unterschieden reduziert. Er regt eine Annäherung von Überzeugungen und Werten an.

Ebenso wie bei Konkurrenzprozessen treten charakteristische Formen der Fehlauffassung und des Fehlurteils auf – allerdings mit unterschiedlichem Vorzeichen. Die Kooperation neigt dazu, die Wahrnehmung für Widersprüche abzuschwächen und die Wahrnehmung für das Wohlwollen des Partners zu stärken. Diese typischen Veränderungen haben nach Deutsch (1976) oft die Wirkung, den Konflikt einzudämmen und eine Eskalation unwahrscheinlich zu machen, sie tragen aber auch die Gefahr in sich, daß Konflikgegenstände übersehen werden oder daß sich die Partner auf eine »verfrühte Kooperation« einlassen und deshalb zu keiner stabilen Übereinkunft kommen, weil sie sich nicht genügend mit ihren Widersprüchen beschäftigt oder mit den Streitfragen nicht gründlich genug auseinandergesetzt haben (Keiffer, 1968).

Deeskalierende Konfliktberichterstattung

Dieser Gefahr entgehen zu müssen, ist Teil des Dilemmas, in dem sich Konfliktberichterstattung befindet, sobald sie sich als kritischer Friedensjournalismus zu verstehen sucht, der weder mit Absicht noch aus Fahrlässigkeit Propaganda ist – weder Propaganda für den Krieg, noch Propaganda für eine Befriedung, welche die Menschen lediglich ihrer Widerständigkeit beraubt und wehrlos macht gegenüber Unrecht, Unterdrückung und Gewalt.

Ein so verstandener Friedensjournalismus darf weder die Übernahme gegnerischer Propaganda bedeuten (welche derselben Art von Wahrnehmungsverzerrungen und Fehlurteilen unterliegt, wie die Propaganda der eigenen Seite), noch darf er Friedenspropaganda sein (welche durch Wahrnehmungsverzerrungen und Fehlurteile mit umgekehrtem Vorzeichen charakterisiert ist). Er kann jedoch eine Infragestellung des Krieges und der militärischen Logik leisten, die Rechte des Gegners respektieren und seine Intentionen unverzerrt darzustellen versuchen. Er kann einen selbstkritischen und realistischen Bick auf die eigenen Rechtsansprüche und Intentionen üben und der Tatsache Rechnung tragen, daß auch der Gegner Anlaß hat, sich bedroht zu fühlen und sich in einer Verteidigungsposition zu befinden meint. Dazu bedarf es der kritischen Beurteilung eigener Handlungen, die mit generischen Rechten interferieren und einer unvoreingenommenen Beurteilung gegnerischer Handlungen – auch, wenn sie der eigenen Seite als bedrohlich erscheinen. Es bedarf des Abbaus eigener Bedrohungsgefühle und der Vermittlung von Einsicht in den Preis, der für einen militärischen Sieg zu zahlen ist.

Kritischer Friedensjournalismus erfordert schließlich auch die Einforderung friedlicher Alternativen. Er distanziert sich von beiden Seiten und übt Kritik an ihren Handlungsweisen. Er stellt die gemeinsamen Rechte in den Vordergrund und macht sich auf die Suche nach Ansätzen von Friedensbereitschaft auf beiden Seiten. Er berichtet über das gemeinsame Leid, welches der Krieg für beide Seiten hervorbringt, und thematisiert den gemeinsamen Nutzen, den beide Seiten aus der Beendigung des Krieges ziehen können. Er schenkt der Opposition gegen den Krieg auf beiden Seiten sein Augenmerk und eröffnet Perspektiven der Versöhnung.

Soziale Identifikation

Der entscheidende Punkt für die Aufrechterhaltung von Kriegsbereitschaft ist das gleichzeitige Bestehen von Gefühlen der Bedrohung durch den Feind und Zuversicht in den Ausgang des Krieges, Vertrauen in die eigene Führung etc. Um dies zu erreichen, muß der Feind so bösartig wie möglich und so gefährlich wie möglich erscheinen. Aber die Dämonisierung des Feindes darf nicht so weit gehen, die eigene Bevölkerung zu entmutigen und ihr den Glauben an den eigenen Sieg zu nehmen.

Man kann davon ausgehen, daß nicht nur direkt beteiligte Kriegsparteien diese Art von Manipulation nutzen, um einen militärischen Konfliktaustrag zu legitimieren. Auch dritte Parteien und unabhängige Journalisten sind nicht davor gefeit, massive Wahrnehmungsverzerrungen, die im Kriegsgebiet existieren, zu übernehmen, weiterzutragen und zu verschärfen.

Die Polarisierung der Kriegsparteien in den Medien verhilft den Rezipienten zur Orientierung in einer vertrauten Welt, wo Gut und Böse gegeneinander streiten. Sie reduziert Gefühle des Unbehagens über kriegerische Auseinandersetzungen. Sie verschärft den subjektiv erlebten Handlungsdruck (»es muß etwas geschehen«) und gibt ihm eine Richtung (»dem Bösen muß Einhalt geboten werden«). So kommt es, daß der Krieg per se nicht mehr als absurd erscheint, sondern in einem übergeordneten Sinnzusammenhang steht, dessen Auflösung nicht bloß ein kognitiver Akt ist, sondern ein sozialer Prozeß, der grundlegende Wertorientierungen berührt: wer sich der Logik des Krieges verweigert läuft Gefahr sich mangelnder Solidarität schuldig zu machen, unterlassener Hilfeleistung etc.

Im Unterschied zu Kriegspropaganda, die eine Parteilichkeit und Einseitigkeit der Konfliktwahrnehmung herzustellen sucht, zielt kritischer Friedensjournalismus auf eine differenzierte Abwägung der Argumente pro und contra ab. Auch dafür sind Prozesse der sozialen Identifikation von zentraler Bedeutung. Diese richtet sich jedoch nicht auf die partikulären Interessen der einen oder anderen Seite, sondern auf den Prozeß des Interessensausgleichs und der gewaltfreien Konfliktlösung. Emotionale Involviertheit, die auf eine Perspektive von außerhalb des Konfliktes verpflichtet, fördert eine kritische Auseinandersetzung mit beiden Seiten.

Literatur

Deutsch, M., 1976. Konfliktregelung. München: Reinhardt.

Keiffer, M.G., 1968. The Effect of Availability and Precision of Threat on Bargaining Behavior. Ph.D. Dissertation. Columbia University: Teachers College.

Kempf, W., 1995. Begriff und Probleme des Friedens. Beiträge der Sozialpsychologie. Kurseinheit 1: Aggression, Gewalt und Gewaltfreiheit. Hagen: Fernuniversität.

Lasswell, H.D., 1927. Propaganda Technique in the World War. London: Kegan Paul.

Dr. Wilhelm Kempf ist Professor an der Universität Konstanz

Konfliktprävention und Aussenwirtschaftspolitik

Konfliktprävention und Aussenwirtschaftspolitik

Am Beispiel der Beziehungen der EU zum südlichen Afrika

von Gottfried Wellmer

Die Kriege zur Befreiung von Kolonialismus und Rassismus im südlichen Afrika haben die Region wirtschaftlich erschöpft und sozial destabilisiert. Seit der Beendigung des Kontrakrieges in Mosambik (Okt.1992), den ersten allgemeinen demokratischen Wahlen in Südafrika (26.- 28.April 1994) und dem erneuten Anlauf für eine Friedensregelung in Angola gibt es verstärkte Bemühungen in der Entwicklungs-Gemeinschaft des südlichen Afrika (SADC), den fragilen Frieden in der Region wirtschaftlich zu untermauern. Das demokratische Südafrika ist Mitglied der SADC geworden und bemüht sich, die alten Dominanz-Abhängigkeitsverhältnisse zu den Nachbarländern in kooperative entwicklungspolitische Beziehungen zu gegenseitigem Nutzen umzuwandeln.

Gleichzeitig ist aber mit dem Ende des kalten Krieges das strategische Interesse des Nordens an der Region des südlichen Afrika merklich zurückgegangen. Anstelle einer Friedensdividende spürt das Südliche Afrika den scharfen Wind der neoliberalen Weltwirtschaft. Waren die siebziger Jahre der Schuldeninflation und die achtziger ein Jahrzehnt der Stagflation, so drohen die neunziger mit dem sozialen Desaster der Deflation:

Aufgeblähte Staatsapparate werden scharf zurückgestutzt, die Öffnung der Märkte zugunsten eines globalen Freihandels läßt bis dahin geschützte und auf dem Weltmarkt konkurrenz-unfähige Industrien zusammenbrechen; hundertausende von Arbeitsplätzen gehen verloren; Millionen neu auf den Arbeitsmarkt kommende Jugendliche finden keine Beschäftigung im formellen Wirtschaftssektor. Die schwindenden Staatseinnahmen erlauben keine Ausweitung von sozialen Programmen zur Grundbedürfnisbefriedigung. In sieben von zwölf Mitgliedern der SADC werden Strukturanpassungsprogramme durchgeführt.

In diesem Kontext untersucht der folgende Artikel die Frage, inwieweit die Außenwirtschaftspolitik der EU die spezifischen entwicklungspolitischen Erfordernisse der SADC-Region allgemein wie auch die des demokratischen Südafrika im besonderen in Rechnung stellt und berücksichtigt. Dabei entwickelt der Autor die These, daß die dem sogenannten Freihandel gewidmete Außenwirtschaftspolitik der EU (frei für wen?) entgegen aller geleisteten politischen Absichtserklärungen nicht das Ziel einer Prävention künftiger sozialer Konflikte verfolgt.

Aid or Trade?

Südafrika ist mit Namibia, Botswana, Lesotho und Swaziland in einer Zollunion, SACU. Für die Mitglieder der SACU stellen die Zolleinnahmen einen bedeutenden Anteil an den gesamten Staatseinnahmen dar. (siehe Tabelle 1)

Ein Verlust an Zolleinkünften, verursacht durch eine Liberalisierung der Import-Tarife, stellt daher für alle SACU-Staaten ein Problem dar, das nur schrittweise gelöst werden kann. Selbst wenn eine Erhöhung der Entwicklungshilfe seitens der EU als temporäre Anpassungsmaßnahme geplant wäre, was bisher nicht der Fall ist, müßte diese Erhöhung substantiell sein, um zu erwartende Verluste auszugleichen. Denn die Entwicklungshilfe ist erfahrungsgemäß allemal geringer als der Gewinn aus Warenexporten bzw. dem Zugang zu externen Märkten. (siehe Tabelle 2)

Keine soziale Wohlfahrt als Ersatz für Handelsprotektionismus

Entwicklungspolitisch stellt der Zugang zu externen Märkten die beste Chance für diese Länder dar, neue Arbeitsplätze zu schaffen und mögliche Verluste, die aus der Liberalisierung des Handels entstehen werden, durch den Aufbau stärkerer Netze sozialer Sicherheit auszugleichen. Schließlich leben in Afrika südlich der Sahara 54% der Bevölkerung in Armut; im Gold und Diamanten produzierenden Südafrika selbst sind es 52.8%. Der Aufbau eines tragfähigen Systems sozialer Wohlfahrt für alle Bürger muß in allen SACU-Staaten erst noch geleistet werden und braucht daher eine längere Frist zur Realisierung. Bei der Frage von »Aid or Trade« fällt daher die Antwort eindeutig zugunsten des Handels aus. Aufgrund der mangelnden Konkurrenzfähigkeit ihrer Industrien auf dem Weltmarkt erbitten sich aber die SACU-Staaten eine Angleichungsphase, innerhalb derer der Abbau von Zollschranken asymmetrisch verläuft, so daß ihre Industrie eine Chance zur regional durchgeführten Reorganisation hat. Deshalb beantragte Südafrika Zugang zum Lome-Abkommen. Aus der Sicht der Nachbarstaaten Südafrikas ist aber auch der Zugang zu Südafrikas Märkten besonders interessant. (siehe Tabelle 3)

Die Handelsbilanz zwischen Südafrika und seinen Nachbarn war seit der Kolonialzeit einseitig zu Südafrikas Gunsten gestaltet. Dies ist bis heute so geblieben. Nach 1990 expandierten Südafrikas Exporte in die SADC-Region um 20% und die regionalen Exporte nach Südafrika um 40%; gleichwohl bleibt die Handelsbilanz unausgewogen und liegt in einem Verhältnis von 4:1 zu Südafrikas Vorteil.

Pläne zur einer Reform regionaler Beziehungen: kooperative Entwicklung

Als im August 1994 Südafrika Mitglied der SADC wurde, war das Ziel der Aufbau einer neuen Beziehung: weg vom alten Hegemoniedenken des Apartheidstaates und hin zu dem Modus der Entwicklungskooperation. Man wollte einen regionalen Markt von 130 Millionen Menschen schaffen und so eine bessere Ausgangsposition für Verhandlungen mit den globalen Wirtschaftsmächten schaffen.

Im Idealfall hätten die SADC-Staaten erstens ausreichend Zeit gehabt, gemeinsam industrielle Entwicklung und Standortfragen zu klären, zweitens sich über ein neues regionales Handelsregime zu einigen und dieses zu etablieren und drittens würden die südafrikanischen Tarife für Importe aus der SADC-Region niedriger liegen als gegenüber Importen vom Rest der Welt – wenigsten solange, bis SADC Exportindustrien frei um Marktanteile konkurrieren könnten.

In der Tat hatte schon 1993 eine Forschungsgruppe des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) programmatisch erklärt, daß die Aussichten auf wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Südafrika und in der Region sich wechselseitig bedingen. Die Negativwirkungen der Destabilisierungspolitik des ausgehenden Apartheidregimes würden jetzt schon in der Form verstärkten Waffen- und Drogenhandels auf Südafrika zurückwirken und den Neuaufbau im demokratischen System behindern. Die historisch entwickelten Muster regionaler Hegemonie und Dependenz seien nicht länger aufrecht zu erhalten. Sie müßten durch neue Handelsmodelle ersetzt werden; gleichzeitig müsse die Infrastruktur der Region verbessert werden und die Region müsse gemeinsam über Industrie-Standorte entscheiden. Ebenfalls müßten Instrumente entwickelt werden, um benachteiligte Regionen für mögliche Verluste aufgrund verstärkter regionaler Kooperation und Marktintegration zu entschädigen bzw. sie entwicklungspolitisch aufholen zu lassen.4 Kooperative Beziehungen mit SADC wurden als integraler Bestandteil des ANC Wahlprogramms zu Wiederaufbau und Entwicklung angesehen. Innerhalb dieser neuen, positiv bewerteten Beziehung zur Region des südlichen Afrika rief der ANC auch zu einer Reform der Zollunion mit den SACU Mitgliedern auf. Im März 1994 – noch vor den Wahlen – kam es zu einer großen Konferenz über die Zukunft der SACU. Auf Wunsch der SACU-Mitglieder wurde beschlossen, die Zollunion aufrecht zu erhalten, sie aber zu demokratisieren: z.B. sollten die SACU-Tarife nicht mehr allein von Südafrika, sondern von allen Mitgliedern bestimmt werden. SACU-Mitglieder wollten nicht länger Kompensationen für verhinderte Industrialisierung erhalten, sondern zogen es vor, Einnahmen aus Zolleinnahmen entsprechend ihrem Handelsvolumen zu erhalten, dafür aber ungehinderte Industriepolitik führen zu können. Die Konferenz akzeptierte die Notwendigkeit einer gemeinsam formulierten Industriepolitik (Standortfragen, gemeinsame Qualitätsnormen, gleiche Steuern, Löhne und soziale Rechte). Im August 1994 wurde Südafrika formell SADC-Mitglied, gegen den Widerstand der südafrikanischen Industrie- und Handelskammer SACOB. In der Folge zeigten sich reale Probleme und Spannungen. Erstens wurde die Handelsbilanz zwischen Südafrika und der Region nicht schnell genug ausgeglichen. Zweitens profitierten südafrikanische Konzerne von Wirtschaftskrise und den Privatisierungen bei den Nachbarstaaten, die im Gefolge der IWF (Internationalen Währungsfonds) verordneten Strukturanpassungspolitik auf der Tagesordnung standen. Drittens gab es einen „brain drain“ der besser qualifizierten Techniker und Profis aus den SADC-Ländern nach Südafrika, wo höhere Löhne verdient werden konnten. Schließlich drängten externe Einflüsse Südafrika stark in Richtung des alten Konzepts „regionale Hegemonialmacht“.

Neoliberaler Gegenwind

Die Ansätze zu einer neuen entwicklungspolitischen Kooperation zwischen den SACU- und SADC-Staaten wurden durch externe Kräfte zunehmend in Frage gestellt. IWF und Weltbank destabilisierten den regionalen Handel durch die Abwertung der Währungen verschiedener SADC-Staaten und die Aufforderung an Länder mit SAPs, sog. Export Processing Zones anzulegen: Steuer-Exklaven, welche die regionale Planung von Industrie-Allokation in Frage stellen. Auch förderten Weltbank, IWF, EU verschiedene Studien, welche eine regionale Marktintegration nur als Zwischenstufe zum Abbau aller Handelsbarrieren und für die Öffnung der Region für den Außenhandel der globalen Wirtschaftsmächte betrachteten.5 Die Studie ging über SADC-Erfahrungen hinweg und ignorierte SADC-Vorschläge zur regionalen Handelsförderung. Statt dessen bot die EU an, jedes Land mit Beträgen von 30-50 Mio US $ zu belohnen, das sich dem neo-liberalen Aktionsprogramm der »Cross Border Initiative« verpflichten wolle. Zambia und Malawi öffneten daraufhin komplett ihre Grenzen und Märkte – mit katastrophalen Folgen für ihre lokalen Industrien und Lohnarbeitsplätze. Das EU / Weltbank / CBI-Aktionsprogramm versäumte es vor allem, regional ausgewogene Handels- und Investitions-Strategien von den regionalen Akteuren selbst entwickeln zu lassen. Keine Überlegungen wurden angestellt, wie die De-Industrialisierung der wirtschaftlich schwächer entwickelten Gebiete der Region – verursacht durch die Übermacht externer Industriemächte – durch zuvor vereinbarte Regulierungsmechanismen oder spezifische Förderprogramme aufgefangen werden könnte. (Die neue EU-Initiative, der Welt ein neues multilaterales Investitionsabkommen aufzudrücken, das die transnationalen Konzerne jeder sozialen oder steuerlichen Kontrolle durch Staaten entzieht, soll im Dezember dieses Jahres auf die Agenda der WTO-Konferenz kommen. Dies gilt es im Interesse der unterentwickelten Staaten zu verhindern). Noch vor den Wahlen in Südafrika machte die EU in der Luxemburg-Erklärung des Rates der Außenminister vom April 1994 das Angebot eines neuen Handels- und Kooperationsabkommens mit Südafrika. Dies hat den praktischen Effekt gehabt, die anstehenden Neuverhandlungen über die südafrikanische Zollunion und über ein neues SADC-Handels-Protokoll zu verzögern. Das Gewicht der EU als wichtigster Handels- und Investitions-Partner Südafrikas wirft seine Schatten auf die Neugestaltung regionaler Entwicklungskooperation.

Soziales Konfliktpotential in Südafrika

Die Stellvertreterkriege in der Region wurden mit dem Ende des Kalten Krieges eingestellt. Die politische Apartheid in Südafrika ist als System beseitigt. Aber die zerstörten Landschaften der Raubwirtschaft des Krieges sind in Angola und Mosambik die aktuelle Rahmen-Bedingung für einen neuen Anfang. In Südafrika selbst wird es Jahrzehnte dauern, bis die soziale Apartheid durch ein Programm der Befriedigung der Grundbedürfnisse, durch Landreform und die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen, durch verbesserte Erziehung und berufliche Ausbildung usw. beseitigt sein wird. (siehe Tabelle 4)

Nach empirischen Forschungen lag für 52.8 Prozent der Bevölkerung 1993 das monatliches Einkommen unter 92 US $ bzw. 301 Rand. Arbeitslosigkeit lag in dieser Bevölkerungsgruppe bei 43%. Für knapp 29% der Bevölkerung lag das Monatseinkommen unter 178 Rand. In diesem ärmsten Teil der südafrikanischen Bevölkerung liegt die Arbeitslosenrate bei 53,4 %.7 Das Bruttoinlandsprodukt ist äußerst ungleich verteilt. Gerade diese krasse Kluft zwischen reich und arm reizt zu sozialen Konflikten. In Abwesenheit eines tragfähigen und allgemeinen sozialen Wohlfahrtssystems wurde Armutsbekämpfung durch Grundbedürfnisbefriedigung zur sozialpolitischen Priorität der ersten demokratisch gewählten Regierung. Um dieses Sozialprogramm finanzieren zu können, muß Südafrika durch gesteigerte Exporte das Einkommen steigern und neue Arbeitsplätze schaffen. Am Billigsten geschieht dies in arbeitsintensiven Beschäftigungen (Landwirtschaft, Straßenbau, Baugewerbe). Daher das Interesse Südafrikas, mehr landwirtschaftliche Produkte in Europa zollfrei absetzen zu können, ohne seine Zölle auf Warenimporte aus der EU in gleichem Maße abbauen zu müssen. Das hätte Südafrika die Atempause gegeben, seine Industriesektoren neu zu strukturieren und wettbewerbsfähig zu machen, bevor es seine Importzölle reduziert und langfristig gänzlich eliminiert hätte. Dieser Typ des asymetrischen und nicht reziproken Handelsabkommens ist im Lomé-Abkommen möglich.

Lomé-Abkommen versus Freihandel

Mitgliedschaft im Lomé-Abkommen hätte Südafrika auf gleiche Ebene mit den anderen SADC-Staaten gestellt und die regionale Kooperation zwischen den SADC-Staaten wesentlich gefördert. Die SADC-Staaten und die übrigen AKP-Staaten im Lomé-Abkommen unterstützten Südafrikas Antrag. Die EU hatte sich ihrerseits frühzeitig selbst verpflichtet, Südafrika bei der Armutsbekämpfung und Projekten regionaler Integration zu unterstützen, so in einer Luxemburg-Erklärung der EU-Außenminister. Aber seit Mitte 1995 weigert sich die EU, Südafrikas besondere Entwicklungsproblematik zur Kenntnis zu nehmen. Südafrikas Antrag auf Aufnahme in die Lomé-Konvention wurde im Blick auf Handelsfragen abschlägig beschieden. Die EU-Komission schlug stattdessen vor, eine bilaterale Freihandelszone zwischen EU und Südafrika auszuhandeln.

Der Freihandel solle 90 Prozent des gesamten Handelsvolumens abdecken. Volle Reziprozität im beiderseitigen Zollabbau solle nicht nach (wie ursprünglich angenommen), sondern innerhalb einer zehnjährigen Gnadenfrist realisiert werden. Während die EU den größten Teil ihres vorgesehenen Zollabbaus innerhalb von vier Jahren vollziehen würde, müßte Südafrika, so der Vorschlag, nur die Hälfte des geplanten Zollabbbaus in dieser Frist realisieren.

Das klingt zunächst fair. Aber da die EU aufgrund des GATT-Abkommens ohnehin Zölle abbauen muß, sieht es konkret so aus, als müsse die EU nur bei weiteren 3% ihrer Warenimporte aus Südafrika Zölle beseitigen, um die 90% Marke zu erreichen, während Südafrika in vier Jahren die Zölle auf etwa 46% seiner Warenimporte aus der EU abbauen müßte. Südafrika müßte etwa sechs mal so viel an Handelsimporten liberalisieren wie die EU.

Die Anpassungskosten dieser kurzfristigen Liberalisierung wären extrem hoch für Südafrika. Zusätzlich hat die EU-Kommission gerade die südafrikanischen Waren a priori aus dem Freihandel ausgeschlossen, bei denen Südafrika sich Chancen für ein Export-Wachstum ausrechnete.

Der vorgeschlagene Freihandel ist also gar nicht so frei, wie er zuerst aussieht; er gibt Südafrika keine Gnadenfrist, in der es seine Industrie wettbewerbsfähig machen könnte; und er nimmt keine Rücksicht auf Südafrikas Partner in der Zollunion, die ihre Marktanteile in Südafrika an die europäische Konkurrenz verlieren würden. Eine ganze Serie von Industrien in Südafrika und seinen Nachbarstaaten würden mit großer Wahrscheinlichkeit zusamenbrechen, die Arbeitslosenrate im formellen Sektor der Wirtschaft würde rapide ansteigen. Die Fleisch- und Fischexporte Namibias an Südafrika z.B. würden zurückgehen, die Zuckerexporte Swazilands nach Südafrika wären stark gefährdet. Freihandel würde noch mehr Familien verarmen lassen. Darüberhinaus würden die Staaten der Zollunion mindestens ein Drittel ihrer Zolleinnahmen verlieren und große Schwierigkeiten haben, Defizite im Regierungsbudget zu vermeiden. Verluste bei Regierungseinnahmen würden zur Schließung von Schulen, Gesundheitsposten und anderen sozialen Dienstleistungen (Bereitstellung von sauberem Wasser, einer funktionierenden Kanalisation oder sozialem Wohnungsbau z.B.) führen.

Darüberhinaus weigert sich die EU, die Probleme, die aus dem vorgeschlagenen Freihandel mit Südafrika für die SACU- & AKP-Staaten hervorgehen, überhaupt mit den SACU- & AKP-Staaten zu verhandeln. Schließlich erklärt die EU, das Freihandelsabkommen mit Südafrika werde das Modell für alle zukünftigen Handelsabkommen mit anderen Ländern bzw. Wirtschaftsregionen werden. Den anderen SADC-Staaten eröffnet sich damit die Perspektive, daß sie die Vergünstigungen des Lomé-Abkommens nach 1999 verlieren werden und danach auch ein EU-Freihandelsabkommen zu akzeptieren hätten, das auch für ihre Industrie verheerende Folgen zeitigen würde.

Das kurzfristige Angebot der Allgemeinen Handelspräferenz

Neben den Verhandlungen über das langfristige Handels- und Kooperationsabkommen muß die EU auch noch über ihr kurzfristiges Angebot entscheiden, Südafrika zum Nutznießer des Standardsystems der Allgemeinen Handelspräferenz (APS) zu machen. Dies würde Südafrika in einzelnen Fällen Zollerleichterungen bis zu 15% im Vergleich zum gegenwärtigen Status gewähren. Wieder zeigten sich in den Vorverhandlungen die deutschen Landwirtschafts-Ministerialen als Bremsblock. Sie forderten, daß das APS dort außer Kraft treten solle, wo das EU-Mandat für die Freihandelszone a priori 40% der Agrarexporte Südafrikas vom Freihandelsabkommen mit der EU ausschließen soll. Nun ist dieses Mandat ja nur die Verhandlungsbasis der EU für das langfristige Abkommen, nicht aber beiderseitig beschlossene Sache. Im übrigen hat das bornierte Verhalten des deutschen Ministeriums für Landwirtschaft mehr mit der Angst vor dem Freihandel und dem Subventionsverlust zu tun, als mit dem spezifischen Abkommen mit Südafrika.

Schlußfolgerung

Die von der EU vorgeschlagene Handels- und Außenwirtschaftspolitik gegenüber Südafrika hat keinerlei innere Kohärenz mit den politischen Zielen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit der EU mit Südafrika. Was immer die Entwicklungspolitik an Armutsbekämpfung leisten möchte, wird von der sehr viel gewichtigeren Außenwirtschaftspolitik der EU a priori ausgehebelt und negiert. Entgegen aller geleisteten politischen Absichtserklärungen der EU-Außenminister verfolgt die EU-Außenwirtschaftspolitik gegenüber Südafrika nicht das Ziel, soziale Konfliktpotentiale einzudämmen und die Befriedigung von Grundbedürfnissen, die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Ausweitung der sozialen Dienstleistungen wie Gesundheit und Ausbildung zu ermöglichen. Im Gegenteil, derartige soziale Konflikte werden sich noch weiter zuspitzen und mit vermehrter Dynamik neu ausbrechen, sollte sich die gegenwärtige Handelspolitik der EU durchsetzen.

Tabelle 1:
SACU: Anteil der Zollerhebungen an Staatseinnahmen 1991
(in %)
Botswana 14,5 %
Lesotho 57,7 %
Namibia 43,8 %
Swaziland (91/92) 43,7 %
Südafrika (1995) 16,1 %1
Tabelle 2:
Vergleich SACU-Zolleinkünfte mit Entwicklungshilfe für SACU/AKP- Staaten
(in '000 Rand), 1992/93:
Länder Zolleinkünfte ODA (bilateral)
in Rand in Rand % zu Zolleinkünften
Botswana 1.341.965 322.050 24
Lesotho 547.680 404.700 74
Namibia 806.541 399.000 49,5
Swaziland 359.030 139.000 38,7
Summe 2.845.216 1.264.750 44,32
Tabelle 3:
Handel, Dienstleistungen und ausgewählte Transfers zwischen Südafrika und anderen SADC-Mitgliedern 1990
(in Mio Rand)
1. Sichtbarer Warenhandel
1.1 Exporte SA's an SADC-Länder 12.474,7
1.2 Importe von SADC-Ländern – 2.454,3
Handelsbilanz 10.020,4
2. Dienstleistungen und Transfers
2.1 Energielieferungen an SADC-Länder 127,9
2.2 Löhne an Migranten aus SADC-Länder – 650,8
2.3 Verteilung der Zolleinnahmen an SACU-Länder – 2.011,3
2.4 Importe von Elektrizität -10,5
Zwischenbilanz Dienstleistungen/Transfers – 2.544,7
3.Gesamtbilanz zu Gunsten Südafrikas 7.475,73
Tabelle 4:
Indikatoren Sozialer Apartheid
Weisse Schwarze
Reales BIP pro Kopf (US $) 15.670 1.800
Arbeitslosenrate 4,3 % 38,3 %
Lebenserwartung bei Geburt ( 1992, Jahre) 75 60
Alphabetisierungsrate (von Hdt. ,1992) 98,4 % 53,1 %
Telephonanschlüsse pro 100 Personen 60 1
Anzahl der Kinder pro Frau 1,7 4,9
Kindersterblichkeit 1987 (auf 1.000 Lebendgeorene) 7,0 80,0
Gesundheitsausgaben pro Kopf (1987, in US $) 293 68
Erziehungsausgaben pro Kopf (1989, in US $) 1.296 322
% erfolgreicher Schulabschlüsse (1989) 96,0 % 41,4 %
% der Kandidaten die Eintritt in Uni schaffen (1989) 42,4 % 9,7 %6

Anmerkungen

1) Quelle: SADC, Regional Relations and Cooperation Post-Apartheid. A Macro Framework Study Report, Gaberone 1993. Zurück

2) Quelle: SADC, Regional Relations, a.a.O. Zurück

3) Quelle: SADC, Regional Relations, a.a.O., Seite 23. Zurück

4)) MERG, Making Democracy Work: A Framework for Macroeconomic Policy in South Africa. A Report to members of the Democratic Movement of South Africa. UWC Kapstadt 1993, Seiten 277-281. Zurück

5))Worldbank, Regional Integration Initiative to Facilitate Cross Border Trade, Payments and Investment in Eastern and Southern Africa, 1992. Zurück

6) Quelle: Schweizer Bankgesellschaft, Hrs., South Africa. Now the Hard Part. Sept. 1994. Zurück

7))Ministry in the Office of the President: Reconstruction and Development Programme, Key Indicators of Poverty in South Africa. Cape Town October 1995. Zurück

Gottfried Wellmer ist freier Journalist und arbeitete viele Jahre im südlichen Afrika.

Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung

Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung

von Jörg Calließ

»Zivil handlungsfähig? Wissenschaft, Initiativen und Organisationen, Politik als Akteure in den neuen Konflikten«. Unter diesem Thema führte die Informationsstelle Wissenschaft und Frieden im Januar eine Veranstaltung mit Aktiven aus den o.a. Bereichen durch. J.Calließ stellte auf dieser Veranstaltung sein Konzept vor, nachdem für die zivile Konfliktbearbeitung drei Zentren aufgebaut werden sollten. Ihre Funktion bestünde darin, die an ziviler Konfliktbearbeitung beteiligten Organisationen und entsprechende Verwaltungs- und politische Organe zu koordinieren sowie wissenschaftliches Know-how zu integrieren und entsprechende Öffentlichkeits- und Transfer-Arbeit zu leisten.(Nachfolgender Artikel basiert auf diesem Vortragsmanuskript.)

Der Primat ziviler Konfliktbearbeitung ist vierfach gefordert:

Begründet ist er zunächst und vor allem ethisch. Der Konsens darüber, daß Frieden vorrangig unter Verwendung friedlicher Mittel bewahrt und wo nötig geschaffen werden sollte, ist in einem jahrhundertelangen Prozeß erstritten worden und gehört zu den unverzichtbaren Errungenschaften unserer Zivilisation.

Zweitens ist der Primat ziviler Konfliktbearbeitung im Völkerrecht verankert. Die in Artikel 2 (3) der Charta der Vereinten Nationen festgeschriebene allgemeine Friedenspflicht weist eindeutig in diese Richtung. Deshalb ist es konsequent, daß der Generalsekretär der Vereinten Nationen Budros Ghali im Juni 1992 eine »Agenda for Peace« veröffentlichte, mit der die Entwicklung von wirksamen Instrumenten friedlicher Gewalteindämmung, Streitschlichtung und Konfliktbearbeitung neu und nachdrücklich auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Daß die internationale Völkergemeinschaft darin eine vorrangige Aufgabe sieht, zeigen auch die Bemühungen, regionale Systeme der Friedenssicherung aufzubauen. Im Rahmen des KSZE-/OSZE-Prozesses etwa wurden über die Jahre hinweg Verhaltensnormen und Kooperationsformen etabliert, die jedweder Gewalt in der Austragung von Konflikten vorbeugen sollten.

Drittens ist der Primat ziviler Konfliktbearbeitung durch die historische Erfahrung gestützt, und zwar zumindest in zweifacher Hinsicht: Historische Erfahrung zeigt zum einen, daß jede gewaltsame Austragung von Konflikten Kosten verursacht, die durch nichts zu rechtfertigen sind. Zum anderen zeigt historische Erfahrung auch, daß zivile Konfliktbearbeitung erfolgreich sein kann. Gerade 200 Jahre nach dem Erscheinen von Kant's Schrift »Zum ewigen Frieden« ist es naheliegend, deutlich hervorzuheben, wie effektiv über ein dichtes Netz von Vereinbarungen, Verregelungen und Verrechtlichungen eine stabile Friedensordnung aufgebaut und gesichert werden kann. Der gesamte Prozeß der westeuropäischen Integration ist hierfür ein sehr ermutigendes Beispiel. Aber es gibt aus jüngster Zeit auch Beispiele dafür, daß es möglich ist, hoch brisante Konflikte, in denen lange und erbittert unter Einsatz von Gewaltmitteln gestritten wurde, in eine friedliche Bearbeitung überzuleiten.

Viertens schließlich ist der Primat ziviler Konfliktbearbeitung angesichts des Charakters der Konflikte, mit denen wir es heute hauptsächlich zu tun haben, unabweislich geboten. Die Mehrzahl der Kriege und bewaffneten Auseinandersetzungen, die nach 1989 stattgefunden haben und heute stattfinden, werden nicht zwischen Staaten, sondern innerhalb von bestehenden oder eben gerade zerfallenen oder sich erst konstituierenden Staaten ausgetragen. Sie haben ihren Ursprung in innergesellschaftlichen Gegensätzen und ihre Protagonisten sind gesellschaftliche Gruppen. Die Aufgabe der Sicherung und Gestaltung des inneren Friedens in solchen Gesellschaften, die latent und akut durch Bürgerkrieg bedroht sind, erfordert zunächst und vor allem, dauerhafte Formen konstruktiver gewaltfreier Konfliktbearbeitung zu institutionalisieren, auszufüllen und auszugestalten.

Das Bestehen auf dem Primat der zivilen Konfliktbearbeitung ist heute nicht länger allein Gegenargument gegen die alltägliche Praxis, in der angesichts von Konflikten immer zuerst darüber nachgedacht wird, wie mit militärischen Mitteln etwas bewirkt werden könnte. Zivile Konfliktbearbeitung ist heute eine konkrete Option und eine echte Chance. Bisher fehlt aber der notwendige organisatorische und institutionelle Unterbau für eine hochentwickelte kompetente und effektive zivile Konfliktbearbeitung. Allzulange haben sich die Staaten und die internationale Staatengemeinschaft darauf konzentriert, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß mit militärischen Mitteln in Konflikte interveniert werden kann. Im Interesse des Friedens in der Welt sind erhebliche Anstrengungen geboten, um endlich auch die Entwicklung von Konzepten und Instrumenten ziviler Gewalteindämmung, Streitbeilegung und Konfliktbearbeitung zu fördern und den Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur für die Zivilisierung der Konflikte voranzubringen. In dem Zusammenhange sind konzeptionelle und institutionelle Innovationen geboten.

Bezugspunkte für den Aufbau einer Infrastruktur

Bezugspunkte für den Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung sind

  • die Herausforderung durch akute und latente Konflikte,
  • die Möglichkeit einer zivilen Gewalteindämmung, Streitschlichtung und Konfliktbearbeitung von außen sowie
  • die Akteure und Akteursgruppen, die bereit und fähig sind, in der zivilen Konfliktbearbeitung mitzuwirken.

Dementsprechend läßt sich die gestellte Aufgabe klar umreißen: Der Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung erfordert die Schaffung von Kommunikations- und Kooperationsstrukturen, in denen und durch die effektiv und erfolgreich

  • in bestehenden und zu erwartenden Konflikten,
  • durch bereitstehende und bereitzustellende Akteure und Akteursgruppen,
  • mit entwickelten und zu entwickelnden Konzepten, Ansätzen und Instrumenten

Gewalt eingedämmt, Streit geschlichtet und zivile Konfliktbearbeitung gefördert wird.

Hinter dieser übersichtlichen Formulierung der Aufgabenstellung stehen leider höchst unübersichtliche und dringend klärungsbedürftige Verhältnisse. Betrachtet man die Bezugspunkte, von denen her der Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung entwickelt werden muß, so stößt man auf eine Reihe von offenen Fragen. Wir haben also die Situation, daß wir den Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung zu einem Zeitpunkt beginnen müssen, da viele Klärungen noch ausstehen:

  • Zwar können wir die Notwendigkeit ziviler Konfliktbearbeitung betonen und begründen, und wir können immerhin auch sagen, wo sie gefordert ist, aber wir verfügen nur über lückenhafte und noch unzureichend geordnete Kenntnisse über die Konflikte, ihre Bedingungen, Dynamiken und Verläufe. Um den Bedarf an ziviler Konfliktbearbeitung päzise beschreiben zu können, bedarf es einer differenzierteren Topografie und Typologie von Konflikten sowie einer systematischeren Kenntnis über Konfliktkonstellationen, Konfliktdynamiken und Konfliktverläufe.
  • Zwar haben wir bereits eine Vielzahl unterschiedlicher Möglichkeiten der zivilen Konfliktbearbeitung entwickelt und hier und da auch schon erprobt, aber die Angemessenheit und Leistungsfähigkeit der meisten Konzepte und Instrumente können wir noch nicht klar einschätzen. Um entscheiden zu können, in welchen Fällen welche Initiativen Aussicht auf Erfolg versprechen, brauchen wir eine gründlichere Evaluation der bisher entwickelten und erprobten Konzepte und Instrumente und die Entwicklung, Erprobung und Evalution weiterer Interventionsoptionen.
  • Zwar ist eine Vielzahl von Institutionen, Organisationen und Gruppen bereit, in der zivilen Konfliktbearbeitung mitzuwirken und viele von ihnen engagieren sich auch bereits ganz praktisch, aber die Klärung der Frage, wer was wie leisten kann, steht noch aus. Es gibt noch nicht einmal einen Konsens darüber, welche Fähigkeitsprofile Akteure haben müssen, die in Projekten der zivilen Gewalteindämmung, Streitschlichtung und Konfliktbearbeitung eingesetzt werden müßten, welche persönlichen Qualifikationen und welche fachlichen Kompetenzen für welche Art von Tätigkeiten erforderlich sind und wie geprüft werden könnte, wie geeignet die unterschiedlichen Akteure und Akteursgruppen für die Übernahme der einen oder der anderen Aufgabe sind.

Zivile Konfliktbearbeitung in Staat und Gesellschaft

Zivile Konfliktbearbeitung muß in der Staatenwelt und in der Gesellschaftswelt, auf der Makroebene und auf der Mikroebene stattfinden.

Waren bisher die Austragung von Konflikten, die Intervention in Konflikte und die Beendigung von Konflikten im wesentlichen Angelegenheiten, die in der „Staatenwelt“ – also durch einzelne Staaten oder durch Staatenbündnisse, durch Regionalzusammenschlüsse oder die Vereinten Nationen – geschahen, so ist unter den veränderten Bedingungen in zunehmendem Maße auch die „Gesellschaftwelt“ herausgefordert. Damit sind internationale und nationale Nichtregierungsorganisationen sowie ein breites Spektrum gesellschaftlicher Akteure und Akteursgruppen mit in die Verantwortung für zivile Konfliktbearbeitung hineingenommen. Insbesondere all die gesellschaftlichen Gruppen, Organisationen und Institutionen, die traditionell in ihrer eigenen Gesellschaft für Menschen- und Bürgerrechte, für Selbstbestimmung und Demokratie und für eine konsequente Durchsetzung von Normen und Regeln zur gewaltfreien Bearbeitung von Problemen und Konflikten eintreten können und sollten mithelfen, daß sich überall in der Welt Gesellschaften entwickeln können, die bereit und fähig sind, ihre Angelegenheiten eigenverantwortlich zu regeln und Konflikte friedlich auszutragen.

In der wissenschaftlichen Diskussion und in der praktischen Arbeit der letzten Jahre hat sich gezeigt, daß sowohl in der Staatenwelt als auch in der Gesellschaftswelt Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten sowohl auf der Mikroebene also auch auf der Makroebene bestehen. Sie weiter zu entdecken und zu operationalisieren und Perspektiven für ihre Bearbeitung zu entfalten, ist eine vordringliche Aufgabe. Dabei und darüber wird ein erheblicher Kommunikations- und Abstimmungsbedarf zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt entstehen. Bisher aber gibt es kaum eine Tradition des Dialogs zwischen beiden und schon gar nicht gibt es eine Praxis der Zusammenarbeit. Beides zu begründen und zu entwickeln, ist zugleich Bedingung und Aufgabe beim Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung.

Zivile Konfliktbearbeitung muß in allen Phasen des Konfliktverlaufs stattfinden.

Gebraucht werden deshalb Konzepte, Ansätze und Instrumente für

  • präventive und präemptive Einflußnahme,
  • deeskalierende Einflußnahme,
  • Vermittlung,
  • konflikttransformierende Einflußnahme,
  • konfliktlösende Einflußnahme,
  • »post-conflict-peace-making«.

In der einschlägigen Literatur der letzten Jahre sind unterschiedlich detaillierte Bilder vom Verlauf bzw. von den Verlaufsmöglichkeiten eines Konfliktes gezeichnet worden. In nahezu allen Phasen eines Konfliktverlaufes ist die Anwendung ziviler Mittel der Konfliktbearbeitung sinnvoll und deshalb geboten. Mit ihnen und durch sie kann präventiv, deeskalierend, gewalteindämmend und konfliktlösend gewirkt werden. Dazu ist es allerdings erforderlich, daß die für die spezifische Konfliktverlaufsstufe geeigneten Interventionen unternommen werden und daß sie nicht nur mit dem nötigen Engagement und der nötigen Hartnäckigkeit, sondern auch mit angemessener Kompetenz praktiziert werden.

Eine entscheidende Bedingung für die Wirksamkeit ziviler Konfliktbearbeitung dürfte zudem sein, daß sie möglichst früh ansetzt, oder genauer gesagt, zu einem Zeitpunkt, wo die Intervention noch greifen und die gesetzten Ziele befördern kann.

Entscheidend allerdings ist, daß keine Aufgabe nur auf einem Wege gelöst werden kann. Es bedarf also einer großen Vielfalt unterschiedlicher Maßnahmen. Wenn die nun von verschiedenen Akteuren und Akteursgruppen getragen werden, bedarf es einer intensiven Kommunikation, Abstimmung und Kooperation zwischen allen Beteiligten.

Aufbau einer Infrastruktur als Lernprozeß

Der Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung ist ein Lernprozeß, in dem Akteure und Akteursgruppen ihre Handlungs- und Wirkungsmöglichkeiten systematisch, synergetisch und nachhaltig auf die Anforderungen und Notwendigkeiten von Zivilisierungsprozessen hin entwerfen, miteinander abstimmen und gegebenenfalls verknüpfen.

In diesem Lernprozeß muß eine Spirale der Qualifizierung, der Professionalisierung und der Möglichkeitserweiterung aller beteiligten Akteure und Akteursgruppen in Gang gesetzt werden. Zugleich muß das Spektrum der beteiligten Akteure und Akteursgruppen verbreitert werden.

Der Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung ist ein Projekt, für das es keinen Bauplan gibt, und es macht auch keinen Sinn, in allen Details vorab festzulegen, wie eine solche Infrastruktur aussehen sollte. Vielmehr muß das Projekt als ein Lernprozeß angelegt und betrieben werden. Dieser Lernprozeß muß sowohl von den internationalen Organisationen und den staatlichen Regierungen und ihren Einrichtungen als auch von den internationalen und nationalen Nichtregierungsorganisationen mitgetragen werden. Dabei sollten nicht nur die großen Nichtregierungsorganisationen sondern auch die regionalen und lokalen Organisationen und Gruppen der Zivilgesellschaft, die Institutionen und Organisationen der Wissenschaft sowie die Medien einbezogen werden. Damit sind dann Akteure und Akteursgruppen beteiligt, die in unterschiedlichen Verantwortungs- und Handlungsfeldern tätig sind, deren Arbeit unter verschiedenen Rahmenbedingungen nach unterschiedlichen Leitbildern und mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen und Zielsetzungen geschieht. Dementsprechend sind sie auch mit verschiedenen Konzepten und Instrumenten und mit unterschiedlichen Wirkungsaussichten tätig. Im Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung geht es nicht um die Nivellierung dieser Unterschiede, sondern vielmehr darum, die je spezifischen – eigenartigen – Kompetenzen und Möglichkeiten der verschiedenen Akteure und Akteursgruppen richtig zum Tragen zu bringen und aus dem Nebeneinander ihres Tuns ein vernünftiges Miteinander zu gestalten.

Wenn es darum geht,

  • die Kräfte und Möglichkeiten für zivile Konfliktbearbeitung zu sammeln und zu bündeln,
  • die zivile Konfliktbearbeitung zu stützen, zu stärken und auszubauen,
  • ihr eine bessere Grundlage und neuere Träger zu gewinnen,
  • diese Träger konsequent zu professionalisieren und schließlich
  • die zivile Konfliktbearbeitung im Gesamtspektrum der Handlungsoptionen entschieden in den Mittelpunkt zu stellen,

dann brauchen wir Kommunikationsstrukturen, Abstimmungsmechanismen und Kooperationsstrukturen, in die alle denkbaren und notwendigen Akteure eingebunden sind und die bei aller Offenheit und Dezentralisierung doch Konzentration und Verbindlichkeit schaffen (die folgende These stellt einen Vorschlag hierfür zur Diskussion).

Eine übergreifende Dienstleistungsstruktur entwickeln

Der Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung sollte durch die Entwicklung einer übergreifenden Dienstleistungsstruktur eingeleitet werden, die so angelegt werden müßte, daß der Kommunikations-, Abstimmungs- und Kooperationsbedarf in bezug auf die strategisch bedeutsamen Aufgaben- und Funktionszusammenhänge gedeckt werden kann.

Strategisch bedeutsame Aufgaben- und Funktionszusammenhänge sind:

  • Beobachtung, Analyse und Frühwarnung,
  • Ausbildung,Training und Evaluation,
  • Maßnahmenplanung, Einsatzkoordination und Vermittlung.

Um der weiterführenden Diskussion über zivile Konfliktbearbeitung und über den Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung einen Anstoß für weitere Konkretionen und für die Entwicklung sozialer Phantasie zu geben, schlage ich die Einrichtung von drei Dienstleistungszentren vor. Ganz unglücklich aber wäre ich, wenn sich die weitere Debatte nun ausschließlich auf Namen und Organisationsformen, Statuten, Ausstattungen und Zuständigkeiten der vorgeschlagenen Einrichtungen konzentrieren würde. Deshalb sollten die vorgeschlagenen »Dienstleistungszentren« zunächst vor allem unter dem Gesichtspunkt gesehen und diskutiert werden, wie die Aufgabenkomplexe der Beobachtung und Analyse, der Ausbildung und des Trainings, der Einsatzkoordination und Vermittlung strukturiert werden könnten und wie bei der Bewältung dieser Aufgaben die Kommunikation, Abstimmung und Kooperation zwischen den unterschiedlichen Akteuren und Akteursgruppen gestaltet werden müßte.

Dienstleistungszentrum Beobachtung und Analyse

Das »Dienstleistungszentrum Beobachtung und Analyse« sammelt Informationen über die Entstehung, Zuspitzung, Eskalation, Austragung und Bearbeitung von Konflikten in unterschiedlichen Regionen. Hinweise und Informationen erhält es von internationalen Organisationen, von Regierungsstellen und unterschiedlichen staatlichen Einrichtungen, von internationalen und nationalen Nichtregierungsorganisationen, von den Wissenschaften und den Medien sowie von Einrichtungen für Beobachtung und Frühwarnung wie »international alert«, »amnesty international«, »human watch« usw. Verdichten sich Hinweise auf bedrohliche Entwicklungen, gibt das Zentrum eine Analyse und Bewertung der bisher gesammelten Informationen in Auftrag. Diese Analyse wird im wesentlichen wohl von einschlägig arbeitenden wissenschaftlichen Einrichtungen geleistet. Legen die ihre Analyse und Bewertung vor, so sorgt das Zentrum seinerseits für die Verbreitung der darin erarbeiteten Einsichten, um sicherzustellen, daß alle, die ihre Beobachtungen dem Zentrum gemeldet haben, ihrerseits auch Kenntnis von den anderen gesammelten Beobachtungen und von den danach erarbeiteten Analysen haben. Darüber soll eine Wahrnehmungsoptimierung aller beteiligten Akteure und Akteursgruppen gefördert und sichergestellt werden, daß alle auf dem gleichen Informationsstand sind und zwischen ihnen eine Abstimmung in bezug auf die Einordnung und Bewertung der Informationen möglich wird. Gibt es Grund zur Besorgnis über die Entwicklung eines Konfliktes, ist es Aufgabe des Zentrums, auf die Probleme und Gefahren hinzuweisen (Frühwarnung!) und zugleich einen Meinungsbildungs- und Entscheidungsvorgang zu katalysieren, in dem geklärt wird, wer wie und wann was unternimmt, um den Gefahren zu begegnen.

Das Dienstleistungszentrum muß nicht als eigene Einrichtung mit Haus, Stellenplan, Haushalt usw. ausgestattet sein. Denkbar wäre durchaus auch, es als Kontaktstelle zu betreiben, in der und über die die beteiligten Akteure und Akteursgruppen zusammenarbeiten. Eine bestimmte Zahl von kontinuierlich im »Dienstleistungszentrum Beobachtung und Analyse« arbeitenden Experten erscheint aber notwendig, um Professionalität und Kontinuität zu sichern. Sinnvoll dürfte aber sein, daß diese Experten teils aus staatlichen Einrichtungen und Institutionen, teils aus den Nichtregierungsorganisationen, teils aus den Medien und teils auch aus wissenschaftlichen Einrichtungen kommen, um zeitlich begrenzt an dem gemeinsamen Auftrag zusammenzuarbeiten.

Dienstleistungszentrum Ausbildung und Trainung

Das »Dienstleistungszentrum Ausbildung und Training« qualifiziert Personen für Einsätze in Missionen der zivilen Konfliktbearbeitung. Bei der Entwicklung von Ausbildungs- und Trainingsprogrammen kooperiert das Zentrum mit staatlichen Instanzen und Einrichtungen, mit den internationalen Organisationen, den Nichtregierungsorganisationen und den wissenschaftlichen Einrichtungen sowie mit internationalen oder ausländischen Einrichtungen, die sich auf Ausbildung und Training spezialisiert haben. Mit diesen Partnern kooperiert das Zentrum in der Regel auch bei der Durchführung der Programme. Nichtregierungsorganisationen und Staat, Wissenschaft und Medien entsenden aus ihren Bereichen geeignete Personen zur Ausbildung und zum Training an das »Dienstleistungszentrum Ausbildung und Training«.

Ob die Ausbildung und das Training in einem Dienstleistungszentrum, also in einer einzigen Institution durchgeführt werden, oder aber von verschiedenen Trägern und damit an verschiedenen Orten durchgeführt werden sollten, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt durchaus offen bleiben. Hier kommt es zunächst doch nur darauf an, deutlich zu machen, welcher Art der Kommunikations-, Abstimmungs- und Kooperationsbedarf im Felde von Ausbildung und Training ist, wer daran beteiligt werden sollte und wie er strukturiert werden müßte. Anstelle des hier eingesetzten Dienstleistungszentrums könnte also auch durchaus ein Verbund oder eine Arbeitsgemeinschaft von Einrichtungen treten, die Ausbildungs- und Trainingsprogramme anbieten. Ob es sinnvoll ist, die Qualifizierung für zivile Konfliktbearbeitung akteursgruppenübergreifend anzulegen – wie hier vorgeschlagen – oder ob sie aber lieber für Akteure aus dem staatlichen Bereich und aus dem Bereich der Nichtregierungsorganisationen getrennt durchgeführt werden sollte, bedarf gewiß noch weiterer Überlegung.

Dienstleistungszentrum für Einsatzkoordination und Vermittlung

Das »Dienstleistungszentrum Einsatzkoordination und Vermittlung« katalysiert und moderiert Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse darüber, wo und wann mit welchen Konzepten und Instrumenten in latente, eskalierende oder gewaltsam ausgetragene Konflikte interveniert werden soll. In diesem Zusammenhange arbeitet das Zentrum eng mit dem »Dienstleistungszentrum Beobachtung und Analyse« zusammen, um die Lücke zwischen Frühwarnung und Handeln so schnell wie möglich zu überbrücken.

Es macht wenig Sinn, davon auszugehen, daß sich immer alle Akteure und Akteursgruppen auf ein gemeinsames Vorgehen mit einer Reihe von gezielten Missionen und Interventionen verständigen. Vielmehr dürften sie jeweils in ihrem Verantwortungs- und Handlungsbereich ihre Unternehmungen in eigener Verantwortung und in eigener Regie betreiben. Gerade deshalb aber besteht ein erheblicher Bedarf an Kommunikation, wenn ein beziehungsloses Nebeneinander, ein unfruchtbares Konkurrieren oder gar ein gefährliches Gegeneinander vermieden werden soll und wenn die einzelnen Unternehmungen komplementär fruchtbar und womöglich synergetisch wirken sollen. Die Beratungs-, Steuerungs- und Koordierungsfunktionen des »Dienstleistungszentrums Einsatzkoordination und Vermittlung« wären deshalb am ehesten von einem Kontakt- und Steuerungskreis wahrzunehmen, der durch Delegierte aus dem staatlichen Bereich, dem Bereich der Nichtregierungsorganisationen und aus dem Bereich der anderen Akteure und Akteursgruppen beschickt wird.

Das Dienstleistungszentrum sollte neben der Aufgabe der Einsatzkoordination auch die Funktion haben, qualifizierte Fachkräfte für einen Einsatz in den unterschiedlichen Missionen und Unternehmungen zu evaluieren und zu vermitteln. Es sollte zu diesem Zwecke Dateien über qualifizierte Personen verwalten, unabhängig davon, ob die unterschiedlichen Akteure und Akteursgruppen auch ihre je eigenen »Pools« haben. Wichtig wäre gerade, daß das »Dienstleistungszentrum Einsatzkoordination und Vermittlung« Pools aufstellt, aus denen gerade Personen unterschiedlicher Kompetenz und Qualifikation, aus unterschiedlichen Verantwortungs- und Handlungsbereichen für Missionen gefunden werden können, die – unabhängig davon, wer sie verantwortet und trägt – nur sinnvoll arbeiten können, wenn in ihnen Experten aus unterschiedlichen Bereichen konstruktiv zusammenarbeiten. Genau das aber dürfte bei der Mehrzahl der Missionen und Projekte, in denen und über die zivile Konfliktbearbeitung gefördert werden soll, der Fall sein.

Anmerkung

Die Thesen 1 bis 4 fassen unter dem Gesichtspunkt des hier gestellten Themas Analysen, Überlegungen und Vorschläge zusammen, die in früheren Publikationen bereits detaillierter entfaltet und begründet werden. Vergleiche insbesondere:

Literatur

Hanne-Margret Bickenbach u.a. (Hrsg.): Jahrbuch Frieden 1995: Konflikte – Abrüstung – Friedensarbeit, München 1994.

Jörg Calließ: Friede kann nicht erzwungen werden. Plädoyer für zivile Konfliktbearbeitung; in: Berliner Debatte INITIAL 6.1995, S. 37-46.

Jörg Calließ, Christine M. Merkel (Hrsg.): Peaceful Settlement of Conflict – A Task for Civil Society, Loccumer Protokoll 7/93, Loccum 1993.

Jörg Calließ, Christine M. Merkel (Hrsg.): Peaceful Settlement of Conflict – A Task for Civil Society: „Third Party Intervention“, Loccumer Protokoll 9/94, Loccum 1994.

Jörg Calließ, Christine M. Merkel (Hrsg.): Peaceful Settlement of Conflict as a Joint Task for International Organizations, Governments and Civil Society, Loccumer Protokolle 24/95, Loccum 1995.

Ernst-Otto Czempiel: Weltpolitik im Umbruch. Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, 2. Aufl., München 1993.

Friedensgutachten, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, hrsg. von Reinhard Mutz u.a., Münster 1995.

Jutta Koch, Regine Mehl (Hrsg.): Politik der Einmischung: Zwischen Konfliktprävention und Krisenintervention, Baden-Baden 1994.

Volker Matthies: Immer wieder Krieg? Wie Eindämmen? Beenden? Verhüten? Schutz und Hilfe für die Menschen?, Opladen 1994.

Volker Matthies (Hrsg.): Frieden durch Einmischung?, Bonn 1993.

Christine M. Merkel: Zivile Konflikttransformation, Gutachten im Auftrag der Evangelischen Akademie Loccum, Loccum (forum loccum extra) 1995.

Norbert Ropers, Tobias Debiel (Hrsg.): Friedliche Konfliktbearbeitung in der Staaten- und Gesellschaftswelt, Bonn 1995.

Wolfgang R. Vogt (Hrsg.): Frieden als Zivilisierungsprojekt – Neue Herausforderungen an die Friedens- und Konfliktforschung, Baden-Baden 1995.

Klaus Dieter Wolf (Hrsg.): Ordnung zwischen Gewaltproduktion und Friedensstiftung, Baden-Baden 1993.

Dr. Jörg Calließ ist Studienleiter an der Evangelischen Akademie Loccum.

Humanitäre Intervention

Humanitäre Intervention

Zur ethischen Problematik eines neuen Typs militärischer Einmischung

von Hajo Schmidt

Die Weltgeschichte steckt voller Interventionen, und dieser Satz bleibt richtig auch dann, wenn wir uns auf militärische Interventionen beschränken. Wollte man sich – versuchsweise, es gibt hier kaum Einschlägiges – um eine Typologie historischer Interventionen bemühen, dann ließen sich mit Jürgen Osterhammel vier Formen unterscheiden: die besitzergreifende Intervention (zu Expansionszwecken), die Big-Stick-Intervention (zu Ordnungs- und Machtdemonstrationszwecken), die (meist eine Hegemonialmacht schwächen sollende) sezessionistische Intervention und die humanitäre Intervention.1)

Während an Belegen für die drei erstgenannten Interventionstypen (leider) kein Mangel besteht, müssen wir es wie Osterhammel und andere Bearbeiter dieser Problematik durchaus offen lassen, ob in den letzten Jahrzehnten (etwa: Indien in Ostpakistan, Tansania in Uganda, Vietnam in Kambotscha) echte, das heißt primär humanitär motivierte Interventionen stattgefunden haben, oder ob diese nur aus nachvollziehbaren Gründen als solche qualifiziert wurden. Ist der Sachverhalt heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, eindeutiger, wenn »humanitär« interveniert werden soll unter Führung der UNO und in Anerkennung allgemein verbindlicher völkerrechtlicher Normen? Schon die notorische Instrumentalisierung der UNO durch mächtige Staaten und Interessen wird uns an einer schnellen Zustimmung hindern. Doch sei dies, wie es wolle: Für eine normative Würdigung des Problems ist es letztlich unerheblich, ob wir es im Falle humanitärer Interventionen mit einer neuen politisch-militärischen Institution oder lediglich einem politisch-ethischen Anspruch zu tun haben. Denn auch dieser ist ein sozialer Fakt, der politische und gegebenenfalls rechtliche Konsequenzen hat und daher geschichtsmächtig werden kann.

Humanitäre Intervention – ihre Problematik und historische Verortung

Schon der Euphemismus des Begriffs »humanitäre Intervention« muß Vorbehalte wecken. Zum Schutz und zum Wohl fremder Menschen militärische Zwangsmittel auf fremden Territorien einzusetzen – sollte man in diesem Vorhaben nicht eher eine contradictio in adiecto, zumindest aber ein Hasardspiel erkennen, in dem die Gewaltätigkeit des Mittels jederzeit die Nobilität der Zwecke zu überwältigen droht? Aber nicht nur die materielle, auch die rechtliche Qualität des einzusetzenden Mittels provoziert Bedenken.Die Souveränität des modernen Staates bestätigt sich außenpolitisch und völkerrechtlich darin, daß in ihn nicht (militärisch) interveniert werden darf. Zunächst eine Frucht des Westfälischen Friedens, erfuhr der Zusammenhang von Staatssouveränität und Interventionsverbot nach dem Zweiten Weltkrieg globale Anerkennung und bestätigte im UNO-System gerade den vom Kolonialismus befreiten Ländern ihre völkerrechtliche Gleichstellung mit den Gründerstaaten. Verständlich, daß gerade diese Neugründungen – potentielle Interventionsobjekte der neunziger Jahre – sich gegen jede Aufweichung des Zusammenhangs von Staatssouveränität und Nichtintervention sperren; verständlich auch, daß selbst die oben als mögliche »humanitäre Interventen« qualifizierten Staaten kein Interesse an einer völkerrechtlichen Festschreibung ihres Tuns bzw. ihrer Motive zeigten. Notwendigerweise rüttelt die Legitimation eines bestimmten Interventionstyps an den Grundlagen des bestehenden Völkerrechts. Die ethische Fragwürdigkeit von Interventionen wird deutlich, anerkennt man die nicht rechtsqualitative, so doch strukturelle Ungleichheit der in einen Interventionsvorgang verwickelten Parteien. „Intervention ist in einem doppelten Sinne asymmetrisch: Zum einen setzt sie ein allgemeines … Machtgefälle voraus, ist also typischerweise eine Big-Brother-Verhaltensweise. Zum anderen hat sie in der Regel asymmetrische Folgen: Im Unterschied zu einem Krieg zwischen Staaten, der unter modernen Bedingungen von tendenziell totalem Krieg tiefgreifende Auswirkungen auf beide (oder alle) beteiligten Gesellschaften hat, trifft die Intervention in voller Schwere nur den Zielstaat, während sie dem intervenierenden Staat allenfalls Kosten verursacht 2). Wie selbstverständlich lokalisiert sich der Interventionsdiskurs in der Perspektive der (Über-) Macht und verleiht der anderen Seite zwingend den Charakter des Verfügbaren, eines Maßnahmeobjekts – was neue Ungerechtigkeiten geradezu herausfordert.

Fügen wir diesen Einwänden als letzten noch die ethisch bedeutsame Einsicht hinzu, daß die Anerkennung weder von Menschenrechten noch von moralischen Werten allgemein militärisch erzwungen werden könne; was in diesen Dingen nicht freiwillig übernommen werden könne, das werde zurecht als Octroi empfunden, als eine neue Drehung in einer Spirale der Gewalt.

Ohne Zweifel: Das sind gravierende Bedenken und Erinnerungen, Herausforderungen für jede seriöse Interventionsapologie. Gleichwohl wäre es zu kurz gegriffen, die Rede von humanitärer Intervention einfach als machtpolitisch motivierte Ideologie abzutun, anstatt die Dialektik der Geschichte wie gegenläufige Bewertungen zur Kenntnis zu nehmen.

Vieles spricht dafür, daß die Hoch-Zeit qua Globalisierung zugleich den beginnenden Abstieg des Prinzips der Staatssouveränität und seines Nicht-Interventionskorrollars markiert. „Normative claims for the role of human rights, the strategic logic of deterrence (which acknowledged that »defense« of territory and population were not possible), economic interdependence (including issues of the environment), and the process of »pooling« of sovereignty that marks European politics (home of the sovereign state) have all posed distinct challenges to the traditional concept of sovereignty.“ 3 Dramatischer noch stellt sich dieser Prozeß der Entmächtigung und der Überforderung des Einzelstaates hinsichtlich seiner Schutz- und Integrationsfunktionen dar im Falle der auseinanderbrechenden Staaten der ehedem Zweiten wie der mehrheitlich schwachen Staaten der Dritten Welt. Hier brechen allenthalben ethno-soziale Frontlinien auf, entwickeln sich Antiregime- oder sezessionistische Kriege, die rein quantitativ mittlerweile den klassischen zwischenstaatlichen Krieg – den zu verhindern doch die vornehmste Aufgabe der UN-Ordnung war – abgelöst haben.

In doppelter Hinsicht müssen diese Auseinandersetzungen internationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Auf Grund der häufigen territorialen Nichtkongruenz von ethnischer und staatlicher Zugehörigkeit der streitenden Gruppen haben diese akuten oder drohenden Bürgerkriege meist eine internationale (bedrohliche) Dimension,4 die ein ruhiges Abwarten der Nachbarstaaten ebensowenig wie der inter- und supranationalen Organisationen gestattet – dies umso weniger, als die extreme Gewalttätigkeit der Kämpfe, vom Irak über Bosnien bis Rwanda, in grellem Kontrast steht zu der gerade von der UNO promovierten „Internationalisierung der Menschenrechte“ 5.

„In diesen Konflikten wird eine Gewalt angewendet, die keine Regeln der Selbstbegrenzung mehr anzuerkennen scheint. Die Bestimmungen der Genfer Konventionen von 1949 und der Zusatzprotokolle von 1977 werden mit offenbar zunehmender Rücksichtslosigkeit verletzt. Der Schutz der »Zivilbevölkerung« ist nicht gewährleistet, sie wird z. T. gezielt in das Kriegsgeschehen einbezogen.“ 6 Hier deutet sich an, daß die ethisch motivierte Zurückweisung des Ansinnens, die Anerkennung von Menschenrechten militärisch zu erzwingen, nur die halbe Wahrheit ausspricht. Darf es in ethischem Betracht bei militärischen Eingriffen in derartige Konflikte doch nicht um die Gesinnung der Täter, sondern muß es um den allerdringlichsten, oft unaufschiebbaren Schutz der Opfer gehen.

Die weitere Entwicklung des Völkerrechts bleibt abzuwarten. Wenngleich zur Stunde kaum Rechtsgrundlagen für humanitäre Interventionen auszumachen sind und selbst massive Menschenrechtsverletzungen nur als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit sanktionsfähig sind, könnten die UN-Resolution 688 vom 5. April 1991 und zumal die Somalia-Resolution vom 3. Dezember 1993 ein langsames Umdenken in Richtung einer völkerrechtlichen Legitimierung menschenrechtlich begründeter (»humanitärer«) Interventionen indizieren. Gut möglich, daß sich eine kritische Öffentlichkeit von der Politischen Ethik größere Klarheit erhofft, wie der Zwiespalt zwischen der überkommenen Weisheit des Interventionsverbots und der Unerträglichkeit verletzten Menschenrechts zu überwinden sei. Gewiß aber suchen viele in dieser verzweifelten Situation nach einem Beurteilungsmaßstab, der sich nicht am einzelstaatlichen Interessenkalkül, sondern an übergreifenden (humanen) Interessen orientiert und dessen Kriterien vereinbar sind mit ihren innersten moralischen Überzeugungen.

Humanitäre Intervention – ethische Würdigungen und Kontroversen

Beide Wünsche zu erfüllen, ist nicht leicht und verlangt, eine polyphone und durchaus kontroverse Diskussion zur Kenntnis zu nehmen, ehe sich eine begründete eigene Position ins Spiel bringen läßt. Die nachfolgende exemplarische Vorstellung und Überprüfung dreier vieldiskutierter Interventionsethiken7 präsentiert zentrale einschlägige Prinzipien, Widersprüche und Desiderate, deren Kommentierung und systematische Zusammenführung dem Leser weitere Klarheit und auch eine Idee von der Position des Verfassers vermitteln sollen. Letztere werde ich abschließend dann im Hinblick auf den Schwerpunkt dieses Heftes weiter zu profilieren versuchen.

Die aktualisierte bellum-iustum-Doktrin

Die älteste hier vorzustellende ethische Tradition, in der Vergangenheit allzu oft willfähriges Rechtfertigungsinstrument einzelstaatlicher Kriegsführung, gilt vielerorts als hoffnungslos diskreditiert. Sieht man genauer auf die Inhalte, dann wird ein distanzierteres Urteil der Doktrin vielleicht eher eine fundamentale Ambivalenz bescheinigen. Wenn es nicht nur einer »legitimierten Obrigkeit« (legitima potestas), sondern zugleich eines »gerechten Grundes« (iusta causa als einseitig-manifestes Unrecht des Gegners) wie einer »rechten Absicht« (recta intentio als Wiedergutmachung und Friedensschaffung) bedurfte, um legitim Krieg zu führen, dann mochte man sich schon zu Augustinus' Zeiten (345-430) fragen, ob hier das spätrömische Kriegswesen für Christen reputierlich gemacht oder als letztlich illegitim denunziert werden sollte.

Klar ist vielen Anhängern dieser Tradition, daß sich der überkommene Gerechtigkeitsanspruch einer bestimmten Sorte von Angriffskriegen (als Interventionsextremen) weder moralisch noch rechtlich weiter rechtfertigen läßt. Moralisch betrachtet, bedroht das Zerstörungspotential moderner Waffensysteme jede vernünftige Zweck-Mittel-Kalkulation von innen her; darüber hinaus beraubt uns das Fehlen einer allgemeinverbindlichen Vorstellung einer gerechten sozialen Ordnung der Möglichkeit, militärische Maßnahmen und Effekte „von der Gerechtigkeit ihrer Zwecke her … zu beurteilen“. Völkerrechtlich aber hat das allgemeine Gewaltverbot der UN-Charta das ius ad bellum souveräner Staaten aufgehoben und „ein überpositives Selbstverteidigungsrecht zwar eingeräumt, aber auf ein befristetes subsidiäres Notrecht unter der Prärogative des Sicherheitsrates zurückgedrängt (Art. 51 UN-Charta).“ 8

Auffallend ist das Anpassungsvermögen der bellum-iustum-Tradition an neue Situationen und normative Optionen. Wird der – m.E. nur noch für den notrechtlichen Selbstverteidigungsfall kriegerisch legitimierte – Einzelstaatsouverän (Regierung/Parlament) in der Funktion der legitima potestas ersetzt durch die Internationale Gemeinschaft selbst, so verändert dies den Gehalt und Zusammenhang aller anderen Legitimationskriterien. Die »gerechten Gründe« etwa ließen sich jetzt begrenzen auf das unverschuldete Attackiertwerden eines Einzelstaates sowie auf massive und andauernde Menschenrechtsverletzungen. Die »rechte Absicht« bestünde, dem Hauptzweck des UN-Systems gemäß, in der Wiederherstellung friedlicher Verkehrsverhältnisse und gesicherten Menschenrechts etc.

Besonderes Gewicht käme heute sicher dem (doppelten) Kriterium der »Verhältnismäßigkeit« zu – der durch den Krieg bzw. der Intervention bewirkte Schaden darf das Gute (soweit vorhersehbar) nicht übersteigen; jedes konkrete Gewaltmittel ist auf seine Ersetzbarkeit durch weniger gewaltträchtige Mittel und Aktionen hin zu überprüfen – sowie dem »ultima-ratio«-Kriterium: Militärische Gewalt ist erst dann legitim, wenn klar ist, daß gewaltfreie Mittel nicht gegriffen haben oder nicht rechtzeitig greifen können.

Kantianischer Anti-Interventionismus

Am Ausgang des 18. Jahrhunderts hat Kants Friedensethik den Gerechtigkeitsanspruch von Kriegen schlankweg bestritten. Als »Rechtsgang«9 tauge der Krieg nicht, weil über seinen Ausgang nicht ethische und Rechtsgründe, sondern die Qualität von Strategien, Waffen und Soldaten befinde. Grundsätzlich spreche gegen den Krieg – und darum kann auch der legitime Verteidigungskrieg nicht »gerecht« genannt werden – , daß er Leben und Freiheit Unschuldiger zerstört und gefährdet und den Selbstzweck Mensch zum Mittel werden läßt.

Konsequenterweise ist Kant Anti-Interventionist. Außer im Falle offenkundiger Anarchie gilt: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen.“ (5. Präliminarartikel der Friedensschrift)10 Kants Anti-Interventionismus ist aber nicht nur moralphilosophisch, er ist zugleich rechtslogisch begründet: Nur ein intakter, weder von innen noch von außen in Frage gestellter Staat kann den vernunftgeforderten Rechtsfortschritt gewährleisten; kann mithin den institutionellen Rahmen eines die individuellen Rechte garantierenden, dabei entwicklungsfähigen Systems der Gerechtigkeit abgeben.

Indem Kants doch strikte menschenrechtlich orientierte Politische Ethik die Unantastbarkeit der staatlichen Souveränität betont, demonstriert sie, ein wie hohes Gut das Interventionsverbot des Völkerrechts ist und auf unabsehbare Zeit bleiben muß. Und doch wurde zurecht daran erinnert, daß auch für Kant dieses Prinzip nicht ohne Ausnahmen bleibe. Sei eine Intervention im Falle eines »ungerechten Feindes« (hostis iniustus) – eines Herrschers etwa, der sich grundsätzlich über Verträge und Abmachungen hinwegsetze – als Akt der Selbstverteidigung einer auf Rechtsvereinbarungen beruhenden Staatengemeinschaft zumindest erlaubt, so sei sie im Falle eines »Feindes des Volkes« (hostis populi) zwingend geboten: „If an autocrat, a ruling race, ethnic group or party persecutes and exterminates parts of the people, causes a large-scale massacre amonst the citizens, then military intervention is not only morally permissible, but morally required…“ 11

Die hostis-populi-Einschränkung erst macht die kantische Ethik – Betonung des menschenrechtsdefizitären Interventionismus, Legitimation desselben in Extremfällen; Verbot des Demokratie- und Menschenrechtsexports – in sich stimmig12 und bezeugt deren kriteriale Aktualität. Zwei Probleme aber, Schwerpunkte auch der heutigen Diskussion, müssen zumindest notiert werden.

Kann man die Pflicht zur Intervention im angegebenen Falle auch dem Einzelstaat zusprechen, obwohl damit gerechnet werden muß, daß diesem daraus ein hochwillkommener Vorwand (»gerechter Grund«!) zur kriegerischen Verfolgung eigener Interessen erwachsen kann? Kann überhaupt die uneigennützige Feststellung, daß eine menschenrechtlich unerträgliche Situation vorliegt, von einer anderen als einer supranationalen Instanz erwartet werden? Und zum zweiten: Müßte eine einschränkungslose Pflicht zur Intervention im angegebenen Falle nicht jede zur Zeit denkbare völkerrechtliche Friedensordnung überfordern und damit vielleicht noch kriegerischere Zeiten heraufbeschwören?

Die kommunitaristische Interventionsethik und ihre Kritiker

Michael Walzers Verteidigung des Selbstbestimmungsrechtes politischer Gemeinschaften13 verleiht der ethischen Interventionsdebatte eine bisher noch nicht thematisierte Dimension. Gründete der kantianische Anti-Interventionismus in der erstrangigen Rechtsschutzfunktion jedes Staatsgebildes, so schätzt Walzer den Staat als Ergebnis und Terrain politischer Selbstbestimmung. „The state is presumptively … the arena within which self-determination is worked out and from which, therefore, foreign armies have to be excluded.“ 14 Das auch Kant nicht fremde kollektive Selbstbestimmungsrecht bleibt bei diesem ein aus individuellen Grundrechten abgeleitetes Recht, wohingegen für Walzer der gemeinschaftliche Selbstbestimmungsprozeß individuelles Menschenrecht erst ausformt und in Geltung setzt. Offensichtlich relativiert diese Fokussierung des Selbstbestimmungsrechts sowohl das Gewicht menschenrechtlicher Interventionsbegründungen wie die Berufung auf eine unantastbare Staatssouveränität.

In bestimmten Fällen, allesamt darstellbar als Verletzungen oder Verhinderungen politischer Selbstbestimmung, gibt es also Ausnahmen vom Interventionsverbot: „Es ist möglich, in andere Staaten einzumarschieren und einen rechtmäßigen Krieg zu beginnen, um separatistische Bewegungen, die ihren repräsentativen Charakter unter Beweis gestellt haben, zu unterstützen; um ein Gleichgewicht zu der vorangegangenen Intervention einer anderen Macht zu schaffen; und um Menschen zu retten, die von einem Blutbad bedroht sind.“ 15 Letzterer Fall, der unter sich Massaker, Genozide und Versklavungen begreift,16 legitimiert eine humanitäre Intervention im eigentlichen Sinne.

Die kommunitaristische Ethik politischer Selbstbestimmung erinnert an die zahllosen und blutigen Kämpfe, die auch in der westlichen Welt den Menschen- und Bürgerrechten erst Definition und Geltung verschaffen und deren Rolle und Bedeutung nicht einfach durch allfällige Interventionen substituiert werden können. Darüber hinaus belegt sie, daß nicht nur interkulturell, sondern in der westlichen Kultur selbst der gemeinhin behauptete vorpolitische bzw. vorsoziale Charakter der Menschenrechte umstritten, damit aber auch deren generelle Universalisierungsfähigkeit bestreitbar ist.

Schon um dem Eindruck entgegenzutreten, Interventionsethiken stünden militärischen Interventionen grundsätzlich ablehnend gegenüber, möchte ich darauf hinweisen, daß Walzers Hauptwerk eine massive Kritik hervorrief, die vornehmlich die Knappheit legitimierender Gründe für humanitäre Interventionen sowie Walzers vorgebliche Hypostasierung von Staat und Selbstbestimmungsrecht aufs Korn genommen hat. Beate Jahns Aufarbeitung dieser Debatte monierte zweierlei, auch für hiesige Diskussionen bedenkenswerte Hauptschwächen der Walzer-Kritik. Zum einen zeichnete diese nicht nur ein wie selbstverständlicher bias für das westlich-liberale Gesellschaftsmodell aus, sondern auch ein erstaunlich uneinheitliches Verständnis der als Interventionsreferenzen postulierten Menschenrechte. Tatsächlich wurden „weitreichende militärische Interventionen zum Schutz der Menschenrechte legitimiert, diese Rechte aber weder jedem Individuum noch jeder politischen Gemeinschaft grundsätzlich zugestanden“.17

Zum anderen konstatierte Jahn eine auffallende Mißachtung der Grundlagen und Voraussetzungen der inkriminierten Menschenrechtsverletzungen, die doch nur zu häufig darin zu suchen sind, daß vielen Völkern die für westliche Staatsvölker übliche Selbstbestimmung in der Vergangenheit verwehrt wurde und auch zukünftig verwehrt bleiben soll. Anstatt auf die Karte militärischer Gewalt zu setzen, empfiehlt Jahn hier, eine dringend erforderliche Menschenrechtspolitik über die Aufgabe der Unterstützung menschenrechtsverachtender Regime und eine phantasievoll und kooperativ angelegte Politik der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts politischer Gemeinschaften zu betreiben.18

Zur Systematik interventionsethischer Reflexionen

Nicht weniger als das ultima-ratio-Prinzip der Doktrin des gerechten Krieges erinnert uns Jahns Empfehlung an die erste Aufgabe jeder Friedensethik, nach Alternativen zur militärischen Gewalt zu suchen.

Zumindest indirekt weist Jahn aber noch auf einen weiteren Aspekt humanitärer Interventionen, der ethisch bedrückend und zugleich politisch aktuell ist. Wie könnte ethisch gerechtfertigt werden, daß eine an der selbständigen Durchführung militärischer Interventionen grundsätzlich und mit Bedacht gehinderte UNO Staaten mit der Durchführung eben derselben betraut, deren aktive Verstrickung in die Situation unübersehbar ist? Wie könnten dieselben Staaten umstandslos zu vorgeblich uneigennützigen Agenten des Menschenrechts mutieren, die als hauptsächliche Mitverursacher der Verletzung desselben gelten müssen? Wie immer angewiesen eine schwache UNO auf die Ressourcen mächtiger Einzelstaaten sein mag – im Falle der Hauptverantwortlichen muß eine den Schuld- und Verantwortungsaspekt interventionistischen Handelns bedenkende Politische Ethik das Prinzip der Abstinenz, darüber hinaus aber für diese Staaten wie die Internationale Gemeinschaft überhaupt das Prinzip der Wiedergutmachtung stark machen!

Nutzen wir nun die vorgestellten interventionsethischen Ansätze für einige zentrale Vorschläge hinsichtlich der ethisch legitimierten Veranlassungen, Akteure und Instrumente von humanitären Interventionen.

Was zunächst die legitimen Interventionsgründe betrifft, so plädieren alle drei Ethiktypen für die Beschränkung derselben auf massive Menschenrechtsverletzungen. Tobias Debiels Differenzierung dieser Menschenrechtsverletzungen19 erscheint mir besonders überzeugend: Völkermord; massenhaftes Sterben von Menschen infolge von Krieg, Chaos und unterlassener Hilfeleistung bei Hungerkatastrophen; Massenvertreibungen aus rassistischen u.ä. Gründen. Walzers so hart attackierte Beschränkung der Rechtfertigungsgründe humanitärer Interventionen verdient also volle Unterstützung, weil in Zeiten unbestreitbarer Universalisierungs- und Geltungsprobleme hinsichtlich auch zentraler Menschenrechte ein Set von Kriterien nur hilfreich sein kann, den wir wenn nicht mit den Exekutoren, so doch den Opfern gravierender Menschenrechtsverletzungen mit Gewißheit teilen.

Beachtung verdient aber auch Walzers Insistieren auf dem überkommenen Prinzip der (Priorität der) Selbsthilfe, das die Legitimität externer gewalttätiger Eingriffe vom erklärten Verzicht der Betroffenen, sich selbst zu helfen, abhängig macht. Selbstverständlich dispensiert das Prinzip der Selbsthilfe nicht von externer Verantwortung, sondern bietet seinerseits eine ethische Rechtfertigung für alle (nicht militärische) Arten willkommener externer Hilfeleistung und ziviler Intervention.

Was nun den zur militärischen Zwangsausübung legitimierten Akteur angeht, so sollte keine Ethik den völkerrechtlichen Dispens eines unilateralen Interventionsrechts rückgängig machen. Die Auffassung, daß zuletzt nur die UNO oder eine von ihr legitimierte und ihr gegenüber verantwortliche regionale Friedens- bzw. Sicherheitsorganisation über die Notwendigkeit einer humanitären Intervention beschließen und diese durchführen kann, teile ich mit vielen, im übrigen auch kantianischen,20 Interventionsethikern. Allein eine Institution, die das Menschenrecht materiell bestimmt und festschreibt, über seine Verletzung in concreto befindet und für die geeigneten Gegenmaßnahmen sorgt, kann sich gegenüber dem Menschenrechtsverletzer mit dem klassischen Legitimationsprinzip »volenti non fit iniuria«21 schmücken. Hieraus folgt natürlich auch, daß alle militärischen Maßnahmen durch die Truppen und unter dem Kommando des legitimen Akteurs zu erfolgen haben.

Graue Theorie? Stolperstein jeder ethischen Interventionsapologie, solange die UNO auf die militärischen Kapazitäten zumindest von Staatenbündnissen angewiesen und damit auf die Respektierung staatlicher Eigeninteressen verwiesen ist? Nicht unbedingt: Die den einzelnen Leviathan wahrscheinlich allererst zum Handeln veranlassenden Eigeninteressen können solange als interventionsethisch unbedenklich gelten, als institutionell und konkret dafür Sorge getragen wird, daß im Konfliktfalle das »um der Humanität willen« Geforderte den Vorrang gegenüber allen anderen Zwecken behauptet.

Dürfte das Ziel einer humanitären Intervention bzw. die dem Interventionakteur abzuverlangende »rechte Gesinnung« in der Regel darin bestehen, die blutigen Konflikte zu beenden, die Verbrechen gegen das Menschenrecht zu stoppen und künftige zu verhindern, das Recht wieder zur Geltung zu bringen und die Friedenskräfte zu stärken,22 dann stellt sich die Frage, welche legitimen Mittel für diesen umfassenden Zweck zur Verfügung stehen. Erinnern wir uns an das Verhältnismäßigkeitskriterium der bellum-iustum-Tradition, das sich auch als Grundsatz der zu vermeidenden Selbstwidersprüchlichkeit der praktischen Vernunft explizieren ließe:

Zur Erreichung ihrer humanitären Zwecke dürfen Interventen nicht gleiches oder größeres Unrecht oder Leid verursachen als das, was den Interventionsgrund abgegeben hat. Der primäre Schutz von Leib und Leben und der psychischen Integrität der bedrohten Bevölkerung verlangt einen äußerst restriktiven Einsatz militärischer Gewaltmittel und -strategien. Das bedeutet genauer: Legitime Gewaltmittel müssen geeignet, d. h. erfolgversprechend im Hinblick auf das vorgegebene Interventionsziel sein, außerdem aber müssen sie auch erforderlich sein, d.h. sie dürfen nicht ohne Not den gewaltärmeren Mitteln vorgezogen werden.

Fazit und Ausblick

Auf Grund der unentwirrbaren Motivgemengelage auch multi- und suprastaatlicher Akteure, der unbefriedigenden institutionellen Gegebenheiten und der unkalkulierbaren Kollateralschäden halte ich die Politische Ethik für grundsätzlich überfordert, bestimmte, angemahnte oder durchgeführte Interventionen als legitim bzw. ethisch unerläßlich zu erweisen. Hier muß man immer mit mehr oder weniger guten ethischen Argumenten, mit mehr oder weniger Gerechtigkeit rechnen.

Grundsätzlich aber sollte eine Politische Ethik ihre Urteile nicht einfach von einer bestehenden Realität und Praxis abhängig machen, zu deren Werden sie kaum oder gar nicht hat beitragen dürfen. Entsprechend zielt auch die Logik dieses kleinen Beitrags genauer auf eine Politik der institutionellen und materiellen Umsetzung bestimmter rechtsethischer Kriterien und Postulate, deren sukzessive Realisierung die ethische Angemessenheit und Glaubwürdigkeit gewalttätiger Aktionen aus humanitären Gründen erhöhen würde. In bezug auf notwendige Weiterentwicklungen des UN-Systems möchte ich diesen Gedankengang abschließend weiter konkretisieren.

Mit inhaltlichen Nuancen sind sich fast alle Interventionsethiken darin einig, in massiven Menschenrechtsverletzungen humanitäre Interventionen legitimierende Gründe zu erkennen. Der bekannte Einwand, diese Rechtfertigungsfigur transportiere den kulturimperialistischen Überlegenheitsanspruch westlichen Menschenrechtsdenkens, dürfte in der Regel den Unterschied von Genesis und Geltung verkennen. Der geographisch und historisch zufällige Ursprung von Erkenntnissen und Normen widerspricht aber keineswegs einem auf dieselben bezogenen universellen Wahrheits- bzw. Geltungsanspruch. Nur – wer befindet über diesen, oder anders: Woher nehmen wir den Geltungsgrund?

Dieser soll auch hier in die universelle oder als universell möglich unterstellte Akzeptanz der in Anspruch genommenen Normen gesetzt werden, den zuletzt nur reale demokratische Verfahren zum Ausdruck bringen können. Es reicht hier nicht der Verweis auf die (insgesamt durchaus beeindruckende) menschenrechtliche Beschlußlage der internationalen Gemeinschaft, die völkerrechtlich zwar entscheidend, rechtsethisch aber zu relativieren ist. Zu oft nämlich dürften staatlicher Opportunismus und Interessenkalkül menschenrechtliche Zugeständnisse erkauft haben. Aber wichtiger noch: Alle einschlägigen Beschlüsse werden hier von Staatsvertretern, von Repräsentanten also der Mächte verabschiedet, denen gegenüber doch allenthalben Menschenrechtsansprüche erhoben und verteidigt werden.

Ich plädiere also für den diskursethischen Vorschlag, das Geltungspotential menschenrechtlicher Normen durch institutionalisierte Diskurse und Beschlüsse zu erhöhen, deren Partizipanten nicht Vertreter von Staaten und Regierungen, sondern von Kulturen und Völkern sein sollten; die mithin geeignet und verpflichtet wären, nicht nur strategisch die eigenen Ziele und Auffassungen durchzusetzen, sondern auch die Perspektiven aller anderen Teilnehmer zu übernehmen. Dieses – zu den institutionellen Gegebenheiten komplementäre – Programm ethischer Legitimationserhöhung könnte die alte Idee einer (zweiten) General Assembly der Völker wiederbeleben, der die Versammlung der Regierungen rechenschaftspflichtig wäre. Jedenfalls muß es zu stärker demokratisierten internationalen Institutionen führen, die statt der politischen und militärischen Macht die Macht des Wortes, des Kompromisses und des geregelten Verfahrens begünstigen.23

Anmerkungen

1) Vgl. dessen Beitrag Imperiale Interventionen. Eingriffe an der »Peripherie« im Zeitalter europäisch-amerikanischer Weltherrschaft. In: Friedenspolitik und Interventionspraxis. Studienbrief der FernUniversität Hagen. Hg. v. H. Schmidt. I.E. Zurück

2) Ebda., (Ms.) S. 65. Zurück

3) J. Bryan Hehir: Intervention: From Theories to Cases. In: Ethics and International Affairs 9 (1995), S. 3. Zurück

4) Zurecht sprechen Lewer und Ramsbotham hier von „international-social conflicts“, s. Lewer, N./Ramsbotham, O: „Something must be done“. Towards an Ethical Framework for Humanitarian Intervention. Peace Research Report No. 33. Department of Peace Studies, University of Bradford 1993, S. 2 u. passim. Zurück

5) Brock, L./Elliesen, T.: Humanitäre Intervention. Zur Problematik militärischer Eingriffe in innerstaatliche Konflikte. In: Umbruch in der Weltgesellschaft. Auf dem Wege zu einer »Neuen Weltordnung«? Hg. v. W. Hein. Hamburg 1994, S. 390. Zurück

6) Ebda., S. 383. Zurück

7) Eine umfänglichere komparative Behandlung kurrenter Interventionsethiken bietet mein Beitrag „Menschenrechte und militärische Gewalt. Zur ethischen Problematik »humanitärer Intervention““. In: F. Nuscheler/T. Debiel (Hg.): Humanitäre Intervention. Bonn 1995 (i.E.). Ehrgeiziger noch ist das Ethik-Projekt von Lewer und Ramsbotham, vgl. Anm. 4. Zurück

8) Reuter, Hans-Richard: Frieden mit aller Gewalt? Aspekte politischer Ethik. In: Friedensgutachten 1994. Hg. v. F. Solms, R. Mutz und G. Krell. Münster/Hamburg 1994, S. 82. Zurück

9) I. Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In ders.: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik. Hamburg 1973, S. 133. Zurück

10) Ebda., S. 121. Zurück

11) W. Kersting: Pax Kantiana. Towards a Political Philosophy of International Relations. In: prima philosophia 6 (1993), S. 164. Zurück

12) Insofern sie nämlich das kategorische Verbot der Wiederherstellung des Naturzustandes nicht nur gegen aufrührerische Bevölkerungen und begehrliche Nachbarstaaten, sondern auch gegen terroristische Regierungen kehrt. Zurück

13) Vgl. dessen Hauptwerk: Gibt es den gerechten Krieg? Stuttgart 1982, insbes. S. 136-166, und dessen Beitrag: The Moral Standing of States: A Response to Four Critics. In: International Ethics. A 'Philosophy and Public Affairs' Reader. Hg. v. Ch. Beitz et al. Princeton, New Jersey 1985, S. 217-237. Zurück

14) Walzer 1985, S. 218. Zurück

15) Walzer 1982, S. 165. Zurück

16) Vgl. ebda., S. 141, 157. Zurück

17) B. Jahn: Humanitäre Intervention und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Eine theoretische Diskussion und ihre historischen Hintergründe. In: Politische Viertelsjahresschrift 34 (1993) H. 4, S. 577. Zurück

18) Ebda., S. 581. Zurück

19) T. Debiel: Humanitäre Intervention. Moralische Pflicht oder Türöffner für neokoloniale Machtpolitik? In: ami 22 (1992) H 10, S. 12. Zurück

20) Vgl. u.a. O. Höffe: Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne. Frankfurt/M. 1990, insbes. S. 270-277; W. Kersting: Kant und die politische Philosophie der Gegenwart. Einleitung zur Taschenbuchausgabe von ders.: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie (1984). Frankfurt/M. 1994, S. 11-86. Zurück

21) Also: Was ich selbst als Recht beschlossen habe, kann ich nicht, wenn es sich gegen mich kehrt, als Unrecht denunzieren. Zurück

22) Vgl. Schmidt, Hans-Joachim: Nichtmilitärische und militärische Interventionsmöglichkeiten aus ethischer und politikwissenschaftlicher Sicht. In: Der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien. Hg. v. d. Arbeitsgruppe »Sicherheitspolitik« der Deutschen Kommission Justitia et Pax. Bonn 1994, S. 23. Zurück

23) Der Anklang an Konzepte »kosmopolitischer Demokratie« ist beabsichtigt; zu letzterem s. vor allem D. Archibugi: The Reform of the UN and Cosmopolitan Democracy: A Critical Review. In: Journal of Peace Research 30 (1993) No. 3, S. 301-315 (mit weiterführender Literatur). Zurück

Hajo Schmidt ist Professor für Philosophie und Leiter der Arbeitsstelle Friedens- und Konfliktforschung der FernUniversität Hagen.

Präventive Diplomatie

Präventive Diplomatie

Neue Ansätze zur Konfliktbearbeitung und zum Menschenrechtsschutz

von Norbert Ropers

Einer der neuen Begriffe, die uns der weltpolitische Umbruch der 90er Jahre beschert hat, ist derjenige der »präventiven oder vorbeugenden Diplomatie«. Im Jahre 1992 war es der UN-Generalsekretär Boutros-Ghali, der in seinem Empfehlungskatalog »Agenda für den Frieden« schrieb: „Der Einsatz der Diplomatie ist dann besonders wünschenswert und effizient, wenn es darum geht, Spannungen zu vermindern, noch bevor ein Konflikt ausbricht – oder, im Konfliktfalle, rasch zu handeln, um den Konflikt einzudämmen und die ihm zugrundeliegenden Ursachen zu beseitigen.“

Dabei dachte er weniger an das klassische Instrumentarium der Diplomatie, an Verhandlungen, an Vermittlungen, an »gute Dienste«. Nach seiner Meinung sollte die Staatengemeinschaft jetzt vielmehr einen Schritt weitergehen und auch praktische Maßnahmen ins Auge fassen, um Spannungen frühzeitig entgegenzuwirken.

Ausdrücklich nannte er damals fünf Punkte:

  1. vertrauensbildende Maßnahmen zwischen den streitenden Parteien;
  2. Fact-Finding-Missionen, d.h. die Entsendung von Expertengruppen in ein Krisengebiet, um sich unabhängig von den streitenden Parteien ein Bild der Lage vor Ort zu machen;
  3. den Aufbau eines Systems der Frühwarnung (early warning) über die mögliche Eskalation von Konflikten;
  4. vorbeugende militärische Einsätze, um damit den Parteien die Gefahr einer Einmischung von außen vor Augen zu halten;
  5. schließlich auch die Einrichtung von entmilitarisierten Zonen.

Mittlerweile findet die Forderung „Vorbeugung ist die beste Strategie zur Verhinderung des Ausbruchs blutiger Konflikte“ überall Anerkennung. Sie findet sich in den Reden der Präsidenten Clinton und Jelzin, in den Beschlüssen des Europäischen Parlaments und ungezählter deutscher Parteitage. Sie hat auch Eingang gefunden in die Programmatik vieler Menschenrechtsorganisationen, z. B. von Amnesty International oder der Helsinki-Gruppen in Osteuropa. Sie alle stimmen dem UN-Generalsekretär darin zu, daß die meisten Menschenrechtsverletzungen dort geschehen, wo Konflikte gewaltsam ausgetragen werden. Also kommt es darauf an, diese Eskalation abzuwenden, vorbeugend tätig zu werden.

»Gerechte Kriege« statt »Humanitäre Interventionen«

Was ist jedoch in der Praxis geschehen? Was haben die Vereinten Nationen, die amerikanische, russische und deutsche Regierung, die europäischen Institutionen, die Menschenrechtsorganisationen getan, um dem Vorrang der Prävention Geltung zu verschaffen?

Was haben z.B. die Vereinten Nationen in Somalia unternommen, um nach dem Sturz des Diktators Barre im Januar 1991 den politischen Neubeginn zu unterstützen, dem Wunsch der Bevölkerung nach Frieden, Versöhnung zwischen den Clans und Wiederaufbau des Landes entgegenzukommen? Was haben die Vereinten Nationen getan, um 1992 ihren eigenen algerischen Sonderbeauftragten Mohamed Sahnoun zu unterstützen, dem es gelungen war, die meisten Kriegsparteien und Clanführer in ein Netz von Verhandlungen einzubeziehen? Die Chance vom Januar 1991 wurde verpaßt und der algerische Diplomat wurde von Boutros-Ghali abberufen, weil er den Vorbereitungen der militärischen Intervention in Somalia im Wege stand. Statt Prävention ist Somalia ein Beispiel einer sogenannten humanitären Intervention geworden, womit in der Praxis nichts anderes gemeint ist als ein »gerechter Krieg«. Dieser »gerechte Krieg« hat insgesamt einige tausend Menschenleben sowie gut 4 Mrd. US-Dollar gekostet und wird mittlerweile auch von der Bundesregierung als Fehlschlag beurteilt.

Was haben die Bundesregierung und ihre westlichen Verbündeten getan, als die bosnische Regierung in der 2. Jahreshälfte 1991 mehrfach darauf hinwies, daß eine Anerkennung Sloweniens und Kroatiens unweigerlich zu einem Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina führen werde? Was dann auch im 9. April 1992 geschah!

Was wird heute unternommen, um präventiv auf den manifesten Konflikt zwischen der albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosovo und der serbischen Regierung in Belgrad einzuwirken? Wie geht die Europäische Union mit der griechischen Politik gegenüber Mazedonien um, die diesem Land immense ökonomische Lasten aufbürdet, einem Land, das dringend ökonomische Entlastung braucht, um mit seinen internen ethnischen Spannungen fertig zu werden?

Was hat die Staatengemeinschaft unternommen, als eine »Fact-Finding«-Mission der auf die Konfliktprävention spezialisierten Nicht-Regierungsorganisation International Alert im Oktober 1992 darauf hinwies, daß sich in Tschetschenien ein außerordentlich brisanter Konflikt aufbauen würde? Was wird heute unternommen, wenn dieselbe Organisation und viele Medien darauf hinweisen, daß sich in Burundi gegenwärtig eine ähnliche Katastrophe vorbereiten könnte, wie sie 1994 in Ruanda stattgefunden hat?

Barrieren präventiver Diplomatie

Es ist allgemein bekannt, daß sich diese Liste beliebig verlängern läßt. So wünschenswert die Prävention von Gewalt und massenhaften Menschenrechtsverletzungen auch ist, offensichtlich gibt es im gegenwärtigen internationalen System erhebliche Barrieren, die der Realisierung eines wirksamen Programms präventiver Diplomatie entgegenstehen. Im folgenden werden fünf dieser Barrieren und Schwierigkeiten genauer vorgestellt. Erst in Kenntnis dieser Rahmenbedingungen ist meiner Ansicht nach eine realistische Einschätzung von Ansätzen und Möglichkeiten präventiver Diplomatie möglich.

(1) Die erste Barriere ist zumindest im Hinblick auf die Vereinten Nationen die massive Überforderung, die bereits die aktuelle Konfliktbearbeitung mit sich bringt. Derzeit hat die UNO in insgesamt 17 Krisenregionen Blauhelme bzw. zivile Beobachter stationiert. Zugleich ist sie jedoch überhaupt nur in einem Drittel der zur Zeit militärisch ausgefochtenen Konflikte präsent. Wenn Sie sich jetzt noch die Kritik vor Augen führen, die bereits an der gegenwärtigen Durchführung der Blauhelm-Einsätze geübt wird, wo sollen dann die Ressourcen und die organisatorischen Kapazitäten für die Ausweitung in Richtung auf Prävention herkommen?

(2) Die zweite Schwierigkeit hängt mit der ersten zusammen: Ressourcen und Kapazitäten werden dort bereitgestellt, wo sich Interessengruppen dafür stark machen, wo Druck erzeugt wird oder wo Spektakuläres stattfindet, das die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit erregt. Die Mittel für eine bescheidene Fact-Finding- und Vermittlungsinititative für einen Konflikt aufzutreiben, über den der amerikanische Sender CNN noch nicht berichtet hat oder in dem es noch keine Toten gibt, ist meist sehr viel schwieriger, als wenig später ein Mehrfaches dieser Kosten für eine humanitäre Aktion der Opfer dieses Konfliktes zusammenzubekommen.

Ein passendes Bild ist vielleicht: So wie die Feuerwehr sicher sein kann, daß ihre Einsätze mehr Aufmerksamkeit finden als die Besuche des Brandschutzbeauftragten, so wird auch über militärische »out-of-area«-Einsätze wesentlich heftiger diskutiert als über Wege und Formen ziviler Konfliktprävention. Diese Neigung zum Feuerwehr-Modell ist freilich keine Besonderheit der internationalen Politik. Möglicherweise hält es sich hier aber auch deshalb so hartnäckig, weil das Denken in militärischen Kategorien immer noch im Mittelpunkt des Staatensystems steht.

(3) Eine andere Schlüsselkategorie des Staatensystems ist das Prinzip der nationalen Souveränität. Hier liegt eine weitere, die dritte Barriere für den Ansatz der präventiven Diplomatie. Die meisten gewaltträchtigen Konflikte, mit denen wir es heute zu tun haben, sind innerstaatlicher und nicht zwischenstaatlicher Art. Präventive Diplomatie läuft unter diesen Umständen oft zwangsläufig auf eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines oder mehrerer souveräner Staaten hinaus. Welche Möglichkeiten hatte denn die Staatengemeinschaft, die Sezessionsbestrebungen Tschetscheniens friedlich zu beeinflussen, wenn die Regierung Rußlands auf dem Standpunkt steht, dies sei eine ausschließlich innere Angelegenheit ihres Landes?

Dieses Beharren auf der Souveränität als Abwehrargument gegen präventive Maßnahmen ist übrigens keine Spezialität autoritär regierter Transformationsgesellschaften in Osteuropa oder in der Dritten Welt. Auch im Westen gibt es z.B. erhebliche Vorbehalte gegen die Ausweitung von Rechten zum Schutz ethnischer Minderheiten. Für alle Nationalstaaten mit einer ausgeprägt zentralstaatlichen Tradition und einem republikanischen Staatsbürgerverständnis, wie etwa Frankreich, ist die Verankerung von Autonomiebestimmungen auf der internationalen Ebene kaum akzeptabel. Die Bundesrepublik Deutschland wiederum tut sich sehr schwer, wie Sie alle wissen aufgrund unseres Staatsbürgerverständnisses, mit der Anerkennung nationaler Minderheiten jenseits der Dänen, Sorben und Friesen.

(4) Das Prinzip der nationalen Souveränität als Grundmerkmal der gegenwärtigen Staatenwelt erschwert Aktivitäten präventiver Diplomatie noch aus einem weiteren Grund und damit komme ich zur vierten Barriere: dem Dilemma aller internationaler Organisationen zwischen den Rollen des Richters und der neutralen Vermittlungsinstanz. Wenn die Vereinten Nationen sich als Staatengemeinschaft mit eigener Autorität in einem Konflikt engagieren, so stehen ihnen prinzipiell drei Möglichkeiten offen: Entweder sie ergreifen Partei für einen der streitenden Akteure, oder sie entscheiden als Quasi-Richter über die Einhaltung internationaler Standards, oder sie verstehen sich nur als Vermittler zwischen den Parteien und müssen sich dementsprechend auch an den Machtverhältnissen orientieren.

Als Vertreter einer Staatenorganisation sind die Vereinten Nationen gezwungen, prinzipiell auf Seiten der bestehenden Staaten und ihrer »territorialen Integrität« zu stehen. Sie können zwar einen Staat als Aggressor brandmarken, wie das der Sicherheitsrat mit Serbien getan hat. Wenn sie jedoch präventive Diplomatie und akutes Konfliktmanagement betreiben wollen, müssen sie auch mit jenen Parteien sprechen, die sie möglicherweise vorher »geächtet« haben. Dieses Dilemma prägt ganz besonders die Jugoslawienpolitik der UNO, die deshalb auch für Außenstehende einen so widersprüchlichen Charakter hat.

(5) Eine fünfte Schwierigkeit, präventive Diplomatie in die Praxis umzusetzen, sehe ich in dem eingeengten Verständnis dieses Ansatzes, das auch noch die Vorschläge von Generalsekretär Boutros-Ghali bestimmt. Die von ihm eingangs erwähnten fünf Punkte betreffen entweder nur die Verbesserung der Informationslage oder militärische Maßnahmen. Lediglich die »vertrauensbildenden Maßnahmen« gehen über diese konventionellen Methoden hinaus, bleiben bei ihm jedoch auch eher unbestimmt. Interessanterweise hat er in seiner »Agenda für den Frieden« in der sogenannten Konfliktfolgenzeit einen wesentlich breiteren Ansatz gewählt. In dieser Phase betont er auch die Notwendigkeit von umfassenden friedensstiftenden Maßnahmen, die die gesamte Gesellschaft einbeziehen sollten (post-conflict peace building).

Merkmale ethnopolitischer Konflikte

Ich bin der Auffassung, daß ein derart breiter Ansatz auch für die Realisierung von präventiver Diplomatie notwendig ist. Ich möchte das erläutern anhand des Charakters jener gewaltträchtigen Konflikte, mit denen wir es zur Zeit vor allem im internationalen System zu tun haben.

Ich erwähnte bereits, daß die weit überwiegende Zahl der gegenwärtig registrierten gewaltträchtigen Konflikte keine klassischen internationalen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Staaten sind, sondern Spannungen innerhalb von Staaten zwischen rivalisierenden Gruppen bzw. zwischen diesen Gruppen und dem jeweiligen Staat. Eine Schlüsselrolle bei der Beschreibung der streitenden Gruppen spielen ethnische Kriterien, so daß diese Konflikte meist als ethnische Konflikte charakterisiert werden. Die Bezeichnung als »ethnische« Konflikte sollte allerdings nicht als Erklärung mißverstanden werden, so als ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe automatisch zu Konflikten führen würde. In der Mehrzahl aller sogenannten ethnischen Konflikte geht es vielmehr um eine ganze Reihe von gesellschaftlichen und politischen Ursachen, die sich auf komplizierte Weise mit der Ethnizität vermischt haben.

Welches sind die Kriterien, die in der Regel als Grundmerkmale von »ethnischer Identität« genannt werden: gemeinsame historische Erfahrungen, Mythen, religiöse Überzeugungen, eine eigene Kultur, insbesondere eine eigene Sprache. Wichtig scheint mir zu sein, daß nicht diese Merkmale als solche die gemeinsame Ethnizität ausmachen, sondern die gemeinsame Wahrnehmung, daß diese Aspekte bedeutsam sind und ihre Angehörigen von denen anderer Gruppen unterscheiden. So heißt es zugespitzt in einer ironischen Definition: Ethnische und nationale Identitäten zeichnen sich dadurch aus, daß ihre Angehörigen den Irrtum einer gemeinsamen Herkunft miteinander teilen.

Wie kommt es nun zu dieser gemeinsamen Wahrnehmung? Ich glaube, die beiden wichtigsten Einflußfaktoren sind: zum einen die Erfahrung einer gemeinsamen negativen Diskriminierung (gelegentlich allerdings auch vor dem Hintergrund gemeinsamer Erfahrung von Privilegien, die plötzlich in Frage gestellt werden) und zum anderen die gezielte Politisierung der Ethnizität durch die jeweiligen Eliten.

Betrachtet man die gegenwärtige weltpolitische Landschaft unter diesem Blickwinkel ethnischer bzw. ethnisch-politisierter Konflikte, kommt man ungefähr auf eine Zahl von zwischen 70 und über 100 Spannungsfeldern, in denen wir es zur Zeit mit tatsächlicher oder drohender kollektiver Gewaltanwendung zu tun haben. Entgegen einer verbreiteten Meinung ist die Zunahme ethno-politischer Konflikte übrigens nicht erst in den letzten Jahren, seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, aufgetreten. Dieser Trend läßt sich vielmehr seit dem Ende der 60er Jahre beobachten, seitdem im Zuge der Dekolonisierung in der Dritten Welt viele künstliche Staatsgebilde geschaffen wurden, denen es nicht gelang, ihre multiethnische Bevölkerung miteinander zu versöhnen.

Was kann präventive Diplomatie in diesen Konfliktfällen unternehmen, um eine gewaltsame Eskalation zu verhindern bzw. um zur Deeskalation beizutragen? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich drei Aspekte hervorheben, die nach meiner Meinung wesentlich für diesen Konflikttypus sind und ihm in der angelsächsischen Fachsprache die Bezeichnung »protracted conflict«, schwer lösbar und tief verwurzelt, eingetragen haben.

(1) Das erste Merkmal ergibt sich aus der Tatsache, daß ethnische Gruppen sich in einem langen historischen Prozeß als »Schicksalsgemeinschaften« herausbilden, in dem sowohl subjektive als auch objektive Faktoren eine Rolle spielen und sich wechselseitig beeinflussen. In diesem Prozeß lassen sich zumindest analytisch zwei Ebenen unterscheiden: eine meist offen ausgesprochene Ebene politischer Forderungen und Interessen und eine eher verborgene, tiefer liegende Ebene kollektiver, häufig negativer und verletzender, kränkender Gemeinschaftserfahrungen.

Gerade diese zweite Ebene kollektiver Negativerfahrungen spielt bei ethnischen Konflikten eine wichtige Rolle. Dazu zählen insbesondere Ereignisse, bei denen eine große Zahl von Angehörigen der Gruppe zum Opfer von Willkürherrschaft und Vertreibung, einer militärischen Niederlage oder einer anderen Form von Gewalt wurde. Diese einschneidenden Erfahrungen haben oft eine traumatisierende, verletzende Wirkung über die unmittelbar betroffene Generation hinaus. Wie tiefe Verletzungen einzelner Personen als Schlüsselerfahrungen an die Kinder und Enkel übertragen werden können, so können auch schwerwiegende kollektive Verletzungen an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden und zu einem Bestandteil der kollektiven Identität der »ethnischen Schicksalsgemeinschaft« werden. Freilich kann dieser Prozeß auch von den Eliten mitbeeinflußt werden.

Nicht selten enthält das kollektive Bewußtsein »ethnischer Schicksalsgemeinschaften« eine Reihe solcher kollektiven Verletzungen. Ein Beispiel liefert die Geschichte des nordkaukasischen Volkes der Tschetschenen, die erst nach langen und verlustreichen Kämpfen Mitte des 19. Jahrhunderts dem zaristischen Rußland einverleibt worden sind. Ihr wichtigstes »chosen trauma« ist bis heute aber zweifellos die von Stalin angeordnete Vertreibung 1944 nach Zentralasien wegen ihrer angeblichen Kooperation mit Hitler-Deutschland. Sie führte zu einem immensen Verlust an Menschenleben und gipfelte in dem Versuch, die Erinnerung an dieses Volk in ihrer Heimatregion vollständig auszulöschen. Die nächste kollektive Verletzung dürfte die von Präsident Jelzin angeordnete militärische Intervention in Tschetschenien seit dem Dezember 1994 werden.

Die wichtigste Konsequenz dieser zwei Ebenen vieler ethnischer Spannungsfelder ist, daß präventive Diplomatie und akute Konfliktbearbeitung auf die Dauer nur erfolgreich sein können, wenn sie beide Ebenen berücksichtigen. In aller Regel beschränkt sich die Diplomatie aber, wie im klassischen Verständnis dieses Wortes angelegt, auf die politische Ebene, auf die Verhandlung und den Ausgleich von Interessen. Ohne die »Identitäten«, ohne die historische und psycho-soziale Tiefendimension zu berücksichtigen, ist das jedoch außerordentlich schwierig. Immer wieder wird von diplomatischen Interventionen und Verhandlungen in ethnischen Spannungsfeldern berichtet, die über weite Strecken sehr verheißungsvoll ablaufen. Aber plötzlich gibt es »Widerstände«, Abwehrreaktionen, die sich keiner der Beteiligten und der außenstehenden Beobachter erklären kann. Meine Vermutung ist, daß sich in diesen Widerständen die Tiefendimension des Konflikts zu Wort meldet, weil sie in der Konfliktbearbeitung zuwenig Gehör gefunden hat.

Praktisch bedeutet diese Einsicht, daß bei ethnischen Konflikten die sogenannte Beziehungsebene mindestens ebenso, wenn nicht noch wichtiger ist als die »Sachebene«. Deshalb ist es wohl auch kein Zufall, daß etliche professionelle Vermittler, in den USA als Mediatoren bezeichnet, die Auffassung vertreten, zwischen der Bereinigung von Ehekonflikten und derjenigen von ethnischen Auseinandersetzungen gäbe es nur wenig prinzipielle Unterschiede. Präventive Diplomatie kann sich daher nicht darauf beschränken, sachlich venünftige Vorschläge zu machen. Sie mögen noch so vernünftig sein, über sie kann aber meist erst dann auf konstruktive Weise verhandelt werden, wenn zuvor über die wechselseitigen Beziehungserfahrungen gesprochen wird.

(2) Ein zweites Merkmal ethnischer Konflikte ist ihr asymmetrischer Charakter. Das betrifft zunächst in der Regel schlicht den personellen Umfang der streitenden Gruppen. Die meisten Konflikte können deshalb auch als Mehrheiten-Minderheiten-Konflikte beschrieben werden. Die Konsequenz ist, daß die traditionellen Formen demokratischer Konfliktregulierung hier meist wenig brauchbar sind. In einem Land, in dem die Mehrheitsgruppe 60<0> <>% der Bevölkerung umfaßt und die Minderheitsgruppe 40<0> <>%, kann deshalb allein mit den Mechanismen der Mehrheitsdemokratie schwer befriedet werden. Wie auch immer das Wahlsystem und die politischen Vertretungen verfaßt sind, die Minderheit kann regelmäßig auf »demokratische« Weise überstimmt werden.

Die Asymmetrie trifft in vielen Fällen auch noch in einem zweiten, qualitativen Sinne zu. Während nämlich eine Partei im Namen eines bestimmten, staatlich legitimierten Status quo auftritt, fordert die andere mit Hinweis auf gesellschaftliche Ungerechtigkeiten die Änderung dieses Status quo zu ihren Gunsten. Dahinter steht ein grundsätzliches Problem unserer heutigen Staatenwelt. Die »Erfindung der Nation« hat nämlich dazu geführt, daß alle ethnischen Gruppen einem starken Druck ausgesetzt sind, sich selbst als »Nation« zu konstituieren, d.h. für sich den Anspruch auf politische Autonomie und Selbstbestimmung zu fordern. Wie kann das aber in einer Welt gelingen, in der die bewohnbare Fläche nahezu vollständig zwischen den gut 190 Nationalstaaten aufgeteilt ist, es daneben aber mindestens 170 weitere ethnische Gruppen ohne »eigenen« Staat, aber mit der Forderung nach Autonomie und Selbstbestimmung gibt (Minority Rights Group)?

Welche Konsequenz ergibt sich aus diesen Asymmetrien für die präventive Diplomatie? Hier steckt meines Erachtens eine Herausforderung, die zumindest das traditionelle Verständnis von Diplomatie, das sich ja vor allem im Rahmen symmetrischer Konflikte entwickelt hat, radikal in Frage stellt. Zu einer dauerhaften Befriedung zwischen der Status-quo-Staatenwelt und den in ihr benachteiligten ethnischen Gruppen wird es nämlich nur kommen können, wenn die Staaten zu umfassenden makropolitischen Reformen bereit sind. Die Stichworte lauten: Minderheitenrechte, Föderalismus, multiethnische Gewaltenteilung, vielleicht auch Verrechtlichung von Sezession.

(3) Bevor ich das im einzelnen erläutere, noch ein Hinweis auf das dritte Merkmal ethnopolitischer Konflikte: ihre ausgeprägte Neigung zur Eskalation. Dies hängt mit einer Reihe von Faktoren zusammen, insbesondere aber wohl damit, daß die vorsätzliche Eskalation, d.h. das systematische Vorantreiben des Konflikts auf eine höhere Intensitätsstufe, von den Konfliktparteien als eine Methode der Konfliktbearbeitung angesehen wird. Am bekanntesten ist diese Methode, wenn Gewalt angedroht wird. Durch diese Drohung hoffen beide Seiten, die andere zum Nachgeben zu bewegen. Tatsächlich wird jedoch meist das Gegenteil erreicht. Der österreichische Konfliktforscher Friedrich Glasl nennt das »Beschleunigung durch Bremsen«.

Andere Eskalationsmechanismen sind die Neigung zur Projektion eigener interner Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten auf den Gegner; die ständige Ausweitung der Konfliktthemen, während gleichzeitig der Grundkonflikt immer mehr zu einem zwischen Gut und Böse wird; schließlich die Personifizierung: Wenn die anderen nur nicht so … und so wären, dann ließe sich der Konflikt doch leicht lösen. Die Folge ist, daß ethnopolitische Konflikte leicht in eine Spirale der wechselseitigen Abschottung und Verfeindung geraten, aus der die Beteiligten allein nur schwer einen Ausweg finden.

Die hohe Eskalationsgefahr ethnopolitischer Konflikte ist zweifellos ein wesentliches Argument für die Notwendigkeit von Prävention; denn je weiter der Konflikt eskaliert ist, desto stärker ist er in den gesellschaftlichen und politischen Strukturen und den kulturellen Einstellungen der streitenden Parteien verankert. Bei bereits weit eskalierten Konflikten ist es zudem oft notwendig, daß eine dritte Partei von außen interveniert, weil die Parteien selbst sich zu sehr auf ihre Positionen versteift haben.

Vor dem Hintergrund dieser drei Merkmale ethnopolitischer Konflikte möchte ich Ihnen jetzt fünf Handlungsfelder vorstellen, in denen es meiner Ansicht nach darauf ankommt, das Konzept der präventiven Diplomatie und der vorbeugenden Konfliktbearbeitung praktisch zu entfalten:

Entwicklungspolitik

Auf einer sehr allgemeinen Ebene läßt sich zunächst feststellen: Die beste Prävention wäre es, generell die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Konflikte in einer Gesellschaft überhaupt »zivilisiert«, d.h. ohne den Rückgriff auf Gewalt ausgetragen werden. Als praktische Handlungsanleitung ist diese These »Präventionsarbeit=Zivilisierung« zwar nicht besonders konkret, aber sie macht mit Recht darauf aufmerksam, daß es nicht nur darauf ankommt, einzelne Konflikte friedlich zu regeln, sondern auch darauf, die gesamte Art und Weise des Umgangs mit Konflikten zu zivilisieren. Zugespitzt könnte man auch sagen: zu kultivieren; denn es geht ja nicht darum, Konflikte zu unterdrücken, im Gegenteil, Konflikte sind ein notwendiger Bestandteil einer sich modernisierenden und ständig verändernden Welt. Worauf es ankommt, ist ihre Austragung gewaltfrei zu gestalten.

Was bedeutet das für die Präventionsarbeit in jenen Ländern des Ostens und Südens, die heute in besonderem Maße von gewaltsamen ethnopolitischen Konflikten heimgesucht bzw. bedroht werden? Ich meine, es bedeutet vor allem Entwicklungspolitik bzw. entwicklungspolitische Zusammenarbeit. Für besonders geeignet halte ich z.B. Hilfen bei der Gestaltung demokratischer politischer Strukturen, Hilfen für die Vorbereitung und faire Durchführung von Wahlen, Unterstützung für den Aufbau von Nicht-Regierungsorganisationen, die Förderung der Medienvielfalt, die Dezentralisierung der Verwaltung, insbesondere auf regionaler und kommunaler Ebene, Beratung und Hilfen für den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen, d.h. bei der Gesetzgebung wie der Rechtspflege, nicht zuletzt auch Unterstützung für die Reform der meist noch militärähnlich organisierten Polizei sowie des Strafvollzugs.

Auf diesem Gebiet vollzieht sich bereits ein allmählicher Bewußtseinswandel bei den verantwortlichen Entwicklungspolitikern und Entwicklungsverwaltern. Der Wandel findet jedoch angesichts der akuten Krisen viel zu langsam statt. Vor allem fehlt es an dem Mut, auf extreme Krisensymptome auch mit der Bereitschaft zu durchgreifenden und umfassenden entwicklungspolitischen Interventionen zu reagieren.

Ein Beispiel ist die von drei Bundestagsabgeordneten der SPD sowie von Bündnis 90/Die Grünen jüngst vorgeschlagene Burundi-Initiative (Jochen Tappe, Werner Schuster, Uschi Eid). Angesichts der dramatischen Zuspitzung der Gewaltbereitschaft in diesem Land und eingedenk des Völkermordes in Ruanda schlagen sie vor, ein umfassendes Arbeitsbeschaffungsprogramm für jene arbeitslosen jugendlichen Tutsis und Hutus zu entwickeln, die die Hauptadressaten der extremistischen Politiker sind. Mit bereits 500,- DM pro Person könnte ihnen geholfen werden, konkrete wirtschaftliche Alternativen zu finden, so daß sie nicht mehr so leicht zu verführen sind, als marodierende Banden die grauenhafte »ethnische Säuberung« zu praktizieren, die wir letztes Jahr in Ruanda erlebt haben. Bei gut einer Million männlicher Jugendlicher wären das zwar immerhin 500 Millionen DM, aber was bedeutet diese Summe im Vergleich zu dem befürchteten Verlust an Menschenleben – ganz zu schweigen von den Summen, die später als »humanitäre Hilfe« bereitzustellen offensichtlich keine Schwierigkeiten bereitet.

Ein anderer Vorschlag der Bundestagsabgeordneten lautet, den Aufbau eines Friedensrundfunks in diesem Land zu unterstützen, um den Propagandasendern entgegenzutreten, die auf beiden Seiten den Haß schüren. Vielleicht sollte man angesichts dieser berüchtigten »Haßsender« auch nicht davor zurückschrecken, ein Mittel zu benutzen, das wir aus dem Kalten Krieg zwar in sehr schlechter Erinnerung haben, für das es aber eben manchmal doch eine Rechtfertigung gibt: die Einrichtung von Störsendern nämlich.

Schließlich weisen die Politiker auch auf die Notwendigkeit hin, den ehemaligen Soldaten ein Angebot zur Integration in die zivile Gesellschaft zu machen, um ihr Gewaltpotential friedlich zu transformieren. Damit komme ich zum zweiten Punkt:

Präventive Abrüstung und Konversion

Meiner Ansicht nach ist nicht die Existenz von Waffen die Ursache von Konflikten, es sind vielmehr die Konflikte, die die Parteien nach den Waffen greifen lassen. Zweifellos haben aber die Existenz von Waffen und die Gewöhnung an die militärische Austragung von Konflikten die fatale Wirkung, daß schneller zur Gewalt gegriffen wird, als wenn es diese Mittel nicht oder weniger gäbe. Die zählebigen blutigen Konflikte in Afghanistan, in Mosambique, in Angola und in etlichen anderen Krisenregionen belegen das Tag für Tag.

Deshalb gehören auch die Abrüstung und die Konversion von Rüstungsmaterial und die Demobilisierung von Soldaten zur Prävention. In den letzten Jahren ist es infolge der Überwindung des Ost-West-Konflikts erfreulicherweise gelungen, die Abrüstung bei den Großwaffen voranzutreiben. Jetzt muß auch die Abrüstung bei den Kleinwaffen auf der Tagesordnung stehen. Denn gerade die Existenz dieser Waffen ist es, die in den vielen ethnischen Krisengebieten eine konfliktverschärfende Wirkung hat.

Um dieses Problem zu lösen, sollte man nicht davor zurückschrecken, auch unkonventionelle Ideen und Vorschläge in die Debatte einzubringen. Vor allem geht es um die Verantwortung der Produzenten und Händler dieser Waffen. Eine hervorragende Idee scheint mir diejenige einer internationalen Steuer zu sein, die auf den internationalen Waffentransfer erhoben wird und an die Vereinten Nationen abzuführen ist. Ein anderer Vorschlag, der es verdient, gründlich geprüft zu werden, ist, daß alle Länder, die Waffen in eine bestimmte Region geliefert haben, verpflichtet werden, diese Waffen zurückzukaufen, wenn in dieser Region eine Krise ausbricht. Das ist nur fair, schließlich sind diesen Ländern ja auch einmal die Gewinne aus dem Verkauf zugeflossen.

Minderheitenrechte, Föderalismus und Gewaltenteilung

Der Minderheitenschutz gehört historisch zu den ältesten Formen der Prävention von gewaltsamer Konfliktaustragung. Seine Wurzeln liegen zum einen in den Toleranzedikten des 16. und 17. Jahrhunderts, in denen die damaligen Feudalherrscher die Schutzrechte religiöser Minderheiten festlegten. Zum anderen gehen sie zurück auf die Regelungen, mit denen die Führungen des Osmanischen Reiches, des zaristischen Rußlands und der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie sich bemüht haben, ihre auseinanderstrebenden multiethnischen Staatsgebilde zusammenzuhalten. Heute sind die Debatten um den Ausbau von Minderheitenrechten wieder höchst aktuell. Kein Wunder angesichts der bereits erwähnten Zahl von mindestens 170 Minderheiten ohne eigenen Staat.

Versteht man Minderheitenrechte nicht nur als die individuelle Garantie einer nichtdiskriminierenden Behandlung, sondern auch als einen kollektiven Anspruch auf politische und kulturelle Selbstbestimmung, dann geht es bei der Prävention auch um Fragen der Gewährung von Autonomierechten, der Schaffung föderaler Staatsstrukturen und der Teilung der Macht im Staate durch Proporzregelungen und Vetorechte zugunsten der Minderheiten.

Meiner Ansicht nach belegen etliche Beispiele, daß die rechtzeitige Gewährung großzügiger individueller und kollektiver Minderheitenrechte eine der besten Strategien ist, um der Eskalation ethnopolitischer Konflikte entgegenzuwirken. Erwähnen möchte ich die schwedische Minderheit in Finnland, die Waliser im britischen Staatsverbund, die Lage der Südtiroler in Italien. An den konkreten Regelungen mag manches zu kritisieren sein, die Vereinbarungen für Südtirol sind auch nicht ganz ohne Eskalation zustande gekommen. Gleichwohl haben sie meiner Ansicht nach wesentlich dazu beigetragen, daß diese Konflikte heute nicht mehr als gewaltträchtig gelten.

Es ist deshalb schwer zu verstehen, warum von diesen Regelungen so wenig Gebrauch gemacht wird. Unter den gegenwärtig 190 Staaten können mindestens 170 als Staaten gelten, in denen es mindestens eine ethnische Minderheit gibt. Trotzdem gibt es nur in wenigen Staaten Ansätze von Selbstverwaltung für die Minderheiten. Offensichtlich fällt es den meisten Regierenden schwer, ihre Macht zu teilen. Viele riskieren lieber die Eskalation, als sich auf eine gemeinsame Lösung einzulassen.

Klassische Diplomatie

Angesichts des verbreiteten Widerstands gegen »makropolitische« Lösungen stehen die klassischen Mittel der Diplomatie im Vordergrund dessen, was heute als »präventive Diplomatie« im engeren Sinne beschrieben werden könnte. Aus dem Katalog von Boutros-Ghali habe ich bereits zwei wichtige Elemente genannt: Durch die Veröffentlichung von Tatsachen (das sog. Fact-Finding) aus dem Spannungsfeld soll eine Dämpfung des aggressiven Verhaltens der streitenden Parteien erreicht werden. Durch »Frühwarnung« soll es möglich gemacht werden, daß Außenstehende rechtzeitige Gegenmaßnahmen ergreifen können.

Auf dieser Basis soll dann das klassische Instrumentarium der Diplomatie zur Geltung kommen: die guten Dienste, um die Parteien überhaupt an einen gemeinsamen Verhandlungstisch zu bringen, sowie die diversen Formen der Einwirkung auf die einzelnen Parteien und der Vermittlung zwischen ihnen. Zweifellos hat auf diesem Gebiet die nicht-öffentliche Diplomatie des UN-Generalsekretärs, haben auch ähnliche Initiativen einzelner Staaten manche Krise bereinigt. Vermutlich sind uns durch diese Aktivitäten von hunderten von Diplomaten und Sonderbeauftragten manche negativen Schlagzeilen in der Presse erspart geblieben. Eine Geschichte erfolgreicher präventiver Diplomatie, die vermutlich niemals vollständig geschrieben werden kann.

Um so schmerzhafter nehmen wir die vielen Mißerfolge der klassischen Vermittlungsdiplomatie zur Kenntnis. Am dramatischsten wohl im Fall des früheren Jugoslawien, wo ich manchmal aus der Medienberichterstattung den Eindruck gewinne, als ob die Vermittler der Vereinten Nationen und der Europäischen Union, Vance, Callaghan, Stoltenberg und Owen, eigentlich die Hauptverantwortlichen dafür sind, daß die Konflikte auf dem Balkan sich derart zugespitzt haben.

Patentrezepte gibt es in diesem Feld nach allen Erfahrungen nicht. Meiner Meinung nach wären die Vereinten Nationen jedoch gut beraten, sich beim Ausbau der präventiven Diplomatie im engeren Sinne ein Beispiel an jener regionalen Organisation zu nehmen, die in dieser Hinsicht schon einen Schritt weiter ist: der Organisation über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Sie hat zwei Institutionen geschaffen, die sich bei der Behandlung von ethnopolitischen Konflikten, die noch nicht sehr weit eskaliert waren, sehr bewährt hat.

Die eine ist das Amt des Hochkommissars für nationale Minderheiten, das zur Zeit von dem ehemaligen niederländischen Außenminister Max van der Stoel ausgeübt wird. Die andere sind die sogenannten Langzeitmissionen der OSZE, die aus einer kleinen Gruppe von Konflikt- und Regionalexperten bestehen, die jeweils für längere Zeit in eine Krisenregion geschickt werden. Diese Institutionen haben sich sowohl bei der präventiven Bearbeitung der Staatsbürgerschaftskonflikte im Baltikum als auch der Sezessionskonflikte in Moldawien und in Georgien bewährt. Ihr bescheidener Erfolg ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die beteiligten Personen längere Zeit vor Ort leben, die beteiligten Konfliktparteien sehr gut kennen, auf der Basis von Vertraulichkeit arbeiten und immer wieder betonen, daß sie dauerhaft tragfähige Lösungen für alle Beteiligten bevorzugen.

Allerdings müssen auch sie unter einer Einschränkung arbeiten: Sie arbeiten im Auftrag einer Staatenorganisation und können deshalb keine vollständig neutralen Vermittler sein. Das können nur die Vertreter der sogenannten Multi-track Diplomacy.

»Multi-track Diplomacy«

Mit diesem Begriff der »viel-gleisigen Diplomatie« wird zum Ausdruck gebracht, daß in der heutigen Welt nicht nur die offiziellen Diplomaten für die Gestaltung der internationalen Beziehungen verantwortlich sind. Die Welt hat sich geändert von einer reinen Staatenwelt zu einer Staaten- und Gesellschaftswelt. Wirtschafts- und Medienunternehmen, Religionsgemeinschaften, politische Interessengruppen, Menschenrechtsorganisationen, wissenschaftliche Einrichtungen und auch Privatpersonen, sie alle haben mittlerweile einen, wenn auch meist nur begrenzten Einfluß auf das internationale Geschehen.

Meine These ist, daß aufgrund der besonderen Merkmale ethnopolitischer Konflikte die offizielle Diplomatie zu ihrer Regelung nicht ausreicht. Auch die Akteure und die Interessen und die Möglichkeiten der »multi-track-Diplomatie« sollten für die präventive wie die aktuelle Bearbeitung ethnischer Konflikte mobilisiert werden.

Zwei Gründe sprechen dafür. Der erste lautet: Da viele der ethnischen Konflikte so tief in den Strukturen der Gesellschaften verankert sind, ist es notwendig, ebenso breite Allianzen zu ihrer Überwindung zu schaffen. Vor allem geht es darum, den Vorrang der zivilen Kräfte einer Gesellschaft bei der Konfliktbearbeitung zu sichern. Wenn ein Konflikt nämlich einmal auf die militärische Ebene eskaliert ist, ziehen sich die zivilen Akteure meist apathisch zurück und auch die wohlmeinenden außenstehenden Vermittler konzentrieren sich nur noch auf diejenigen, die die Waffen besitzen. Deshalb ist es so wichtig, in allen Krisenregionen Bündnisse zwischen allen zu fördern, die eine zivile Konfliktlösung wollen. Das sind z. B. die lokalen Führungsgruppen und Verwaltungen, die Geschäftswelt, ein großer Teil der Bildungseliten.

Den zweiten Grund habe ich bei der Beschreibung von Grundmerkmalen ethnischer Konflikte genannt: Viele von ihnen können nur dadurch erfolgreich bearbeitet werden, indem auch ihre historische und psycho-soziale Tiefendimension berücksichtigt wird. Sonst werden immer erneut Widerstände und Abwehrreaktionen erzeugt, die eine vernünftige Regelung blockieren. Mit einer solchen Aufgabe der Verständigung und Versöhnung an der Basis der Gesellschaft, aber auch bei vielen einflußreichen Führungspersonen der Parteien, sind jedoch die offiziellen Diplomaten überfordert. Hier gibt es ein wichtiges Betätigungsfeld für gesellschaftliche Träger, für Kirchen und Nichtregierungsorganisationen. Leider ist die Bedeutung dieser Arbeit noch wenig ins öffentliche Bewußtsein gedrungen.

Seit der Wende von 1990 wird in der Bundesrepublik Deutschland darüber diskutiert, wie unser Land seine neue, die gewachsene sogenannte weltpolitische Verantwortung wahrnehmen sollte. Im Mittelpunkt stand und steht dabei die Frage nach den »out-of-area«-Einsätzen der Bundeswehr und nach dem Aufbau von »Krisenreaktionsstreitkräften«. Die vielen Fragen zur Prävention von gewaltsam ausgetragenen Konflikten, von denen ich nur eine Auswahl präsentieren konnte, spielten demgegenüber nur eine völlig untergeordnete Rolle. Ich halte diese Gewichtung für fatal. Sie ist weder im Hinblick auf den Schutz von Menschenrechten, die weltweite Förderung der Demokratie noch unter Kostengesichtspunkten gerechtfertigt. Prävention ist die beste Friedenspolitik!

Dieser Artikel wird 1996 erscheinen in: Klaus Hüfner, Ulrich Albrecht (Hrg.): Die Zukunft der UN. Beltz-Verlag.

Dr. Norbert Ropers ist Leiter des Berghof Forschungszentrums für konstruktive Konfliktaustragung in Berlin.

Provokation

Provokation

Ein verkanntes Mittel der Mediation

von Dieter Senghaas

Das Konzept der Mediation umfaßt mehr als nur »Gute Dienste«. Dieter Senghaas macht in seinem Artikel deutlich, daß die Vorstellung, der Mediator müsse immer neutral und zurückhaltend agieren, falsch ist. »Provokative Mediation« kann Wege eröffnen, weil sie z.B. einer Selbstverblendung und den oft daraus resultierenden Autismen von Konfliktparteien gezielt entgegenwirken kann.

Mediation ist einer der Wege in den Bemühungen um eine konstruktive Konfliktbearbeitung potentiell gewaltträchtiger Konflikte. Dieser Weg wird auf höchst unterschiedliche Weise beschritten: Gelegentlich werden allein schon »gute Dienste« (good offices) als Beitrag zur Mediation begriffen. Ein Akteur – sei es eine Einzelperson, eine Organisation oder eine staatliche oder überstaatliche Instanz – stellt dann eine Plattform für die Konfliktparteien zur Verfügung, auf der diese sich wie auf neutralem Boden zur mehr oder weniger kontroversen Diskussion ihrer wechselseitigen Gravamina treffen können. Weitergehend ist das Mediationskonzept, das auf die Inszenierung von Vermittlungsprozessen ausgerichtet ist. Prominent ist dabei die Vorstellung, der vermittelnde Akteur – also der Mediator – müsse in der Tendenz zurückhaltend, gewissermaßen in jeder Hinsicht neutral sein, was nur bei Äquidistanz glaubwürdig sei. Dieser Mediator wird auf die Einhaltung von Spielregeln achten, gelegentlich Hebammendiensten vergleichbar auch in anderer Hinsicht hilfreich sein, aber den inhaltlichen Streit nicht thematisieren. Gewöhnlich wird diese Verhaltensweise als facilitation umschrieben, wobei die Hebammendienste sich auf die Förderung von Selbsterkenntnisprozessen bei den Konfliktparteien beziehen: Der »facilitator« bringt sein Wissen über die Verlaufsdynamik von Konflikten zurückhaltend und vorsichtig in den Begegnungsprozeß der Konfliktparteien ein. Die Förderung von wechselseitigem Konfliktverständnis, gegebenenfalls von Empathie, ist bei dieser Vorgehensweise ein wichtiges Etappenziel von Mediation. Wenn es erfolgreich erreicht wird, öffnen sich möglicherweise Chancen für eine weitergehende Konfliktbearbeitung: für Streitschlichtung, Streitbeilegung, Konfliktregelung oder gar Konfliktlösung (was immer im einzelnen mit diesen Begriffen konkret gemeint sei).

Ein ganz anderes Vorgehen ist die sogenannte machtbegründete Vermittlung (power mediation). Sie findet natürlich vor allem dann statt, wenn ein Mediator sowohl Zuckerbrot als auch Peitsche, also die oft zitierten carrots and sticks, einsetzen kann. Hierbei geht es nicht nur um die Bereitstellung einer Plattform für die Konfliktparteien, auch nicht nur um samtpfötige Hebammendienste, sondern um das, was korrekt als »peace pushing« (R.J. Fisher) bezeichnet worden ist: Der Mediator bringt in diesem Falle das offenkundige Machtgefälle, wie es zwischen ihm und den Konfliktparteien besteht, ins Spiel.

Mediation via Provokation

Zwischen der einen oder anderen Variante von Mediation (die jeweils mit unterschiedlichen Akzentsetzungen denkbar ist und auch praktiziert wird) gibt es (möglicherweise neben anderen, hier nicht zu beleuchtenden Varianten) eine weitere, die erstaunlicherweise bisher weder deutlich artikuliert, noch gar praktiziert worden ist: die Mediation via erfahrungswissenschaftlich begründbarer Provokation mit dem Etappenziel einer nachdrücklichen Horizonterweiterung der Konfliktparteien im Hinblick auf Problemlösungsoptionen. Was ist damit gemeint?

In der Friedens- und Konfliktforschung hat Mediation heute vor allem im Hinblick auf die Bearbeitung von ethnopolitischen Konflikten einen prominenten Stellenwert erlangt. Beim Umgang mit solchen Konflikten gibt es einige analytische und praktische Leitperspektiven, die im Hinblick auf eine konstruktive Konfliktbearbeitung unbedingt berücksichtigt werden müssen. Zu ihnen gehören angesichts des aufbrechenden »Sicherheitsdilemmas« zwischen den Konfliktparteien die Bemühung um vertrauensbildende Maßnahmen. Dieser Sachverhalt ist kein anderer als in der internationalen Politik, nur daß anstelle von Staaten ethnopolitische Konfliktparteien treten.

Ein zweiter Orientierungspunkt sind angesichts des in solchen Konflikten nicht nur drohenden, sondern meist akuten und militant werdenden Ethnozentrismus die Bemühungen um einfühlendes Verständnis (Empathie). Eine dritte Leitperspektive könnte man als »Problemlösungsorientierung versus Nullsummenmentalität« bezeichnen. Letztere schleicht sich leicht in eskalierenden Konflikten ein und trägt dann zum Verlust an Problemlösungsorientierung bei. Um konstruktiver Problemlösungen überhaupt gewahr werden zu können, ist aber vorgängig eine Horizonterweiterung erforderlich: das schiere Gegenstück zur im wachsenden Maße autistisch werdenden Selbstverblendung – einem Sachverhalt, der anfänglich eine Begleiterscheinung in jeglicher Konflikteskalation ist, um nach einem bestimmten point of no return eine Eigendynamik zu gewinnen. Worum geht es dabei?

Die Eskalation ethnonationalistischer Konflikte führt schnell zu emotionaler Selbstbezogenheit (Gruppennarzismus) und zu Engstirnigkeit. Die Kombination von beidem prägt das autistische Milieu, in dem sich solche Konflikte in aller Regel abspielen. In ihm wird verkannt, daß es im weiteren Umfeld, also jenseits der unmittelbaren Konfliktakteure, Erfahrungen gibt, die für die Lösung von Konflikten von Nutzen sein können. In aller Regel sind die für die Lösung ethnonationalistischer Konflikte potentiell nützlichen, andernorts schon längst erfolgreich erprobten verfassungspolitischen Instrumentarien und Prinzipien, beispielsweise des Föderalismus, der Konkordanzdemokratie und der diversen institutionellen Vorkehrungen für Minderheitenschutz den Betroffenen praktisch mehr oder weniger unbekannt geblieben.

Pluralistisch organisierte Rechtsstaaten kennen eine Vielzahl von staatlichen und gesellschaftlichen Konfliktlösungsmodalitäten, auf die als inspirierende Ressource für neue Versuche der Konfliktlösung zurückgegriffen werden könnte. Aber vielfach fehlt bereits das Wissen um diesen Sachverhalt, was ebenfalls zur Perspektivlosigkeit beiträgt: Die eigenen Vorstellungen über mögliche Handlungsoptionen bleiben begrenzt und sind ausgesprochen dürftig, die eingeschlagenen Strategien phantasielos – Hintergrund einer Aufrüstung des Willens zur Macht und von sich ausbreitenden Machtphantasien.

Lernpathologisch werdendem Selbstbezug entgegenwirken

Das im folgenden unterbreitete Plädoyer für »provokatorische Mediation« hat den eben beschriebenen Sachverhalt zum Ausgangspunkt. Der Einstieg in provokatorische Mediation überhaupt oder in provokatorische Mediation als Zwischenetappe in gängiger Mediation ließe sich wie folgt begründen:

Konfliktparteien gehen von der Einmaligkeit ihrer Situation aus. Das ist verständlich, weil sie in aller Regel über ein historisches Gedächtnis verfügen, in dem ihre Geschichte (meist aus einer Mischung von Realgeschichte und Fiktion) prominent figuriert. Die Konfliktparteien sprechen oft nur ihre eigene Sprache (und nicht eine gemeinsame). Nicht selten ist ein Sprachenkonflikt sogar der Ausgangspunkt ethnopolitischer Auseinandersetzungen. Diese und andere Eigenheiten des Konfliktes, die ein reales Fundament haben, begründen Identität und damit auch in aller Regel einen leicht lernpathologisch werdenden Selbstbezug: Man lernt das, was die eigene Identität untermauert, und blendet aus, was sie in Frage stellen könnte. Die »Festinger-Effekte« der kognitiven Konsonanz bzw. Dissonanz und die bekannten psychischen Abwehrmechanismen, wie sie von Anna Freud klassisch herausgearbeitet wurden, sind dabei nachdrücklich am Werk.

Provokatorische Mediation hieße nun ein Mehrfaches:

1. Wenngleich Konfliktparteien sich, jeweils subjektiv empfunden, in einer unverwechselbar einmaligen Lage fühlen, sind doch, objektiv betrachtet, die Ausgangslage, der Konfliktgegenstand und der Konfliktverlauf eines spezifischen Konfliktes nur eine Wiederauflage von aus anderen Fällen bekannten Strukturen und Vorgängen: die Wiederholung von Geschichte und Gegenwart. Gerade im Hinblick auf Ethnokonflikte erweist sich Geschichte und Gegenwart wie ein Laboratorium: Jeder gegenwärtige Ethnokonflikt hat grosso modo in der näheren und ferneren Vergangenheit eindrucksvolle parallele Vorgänger, was den Beobachter nicht erstaunen kann, sofern er die vielen vergangenen und gegenwärtigen Ethnokonflikte unter historisch-komparativer Perspektive analysiert hat – mit dem unabweisbaren Ergebnis einer systematisierenden Typologie solcher Konflikte.

Die erste Botschaft, die angesichts dieses Sachverhaltes den Konfliktparteien zu übermitteln ist, lautet deshalb schlicht und einfach: „Eure Probleme sind nicht neu; Eure Gravamina wurden in vergleichbaren Fällen schon vielfach artikuliert; offensichtlich wiederholt sich die Geschichte …“.

2. Während die erste Botschaft das »déjà vu» zum Inhalt hat, ist die zweite Botschaft spezifischer: In ihr wird betont, daß es in vergleichbaren Fällen ganz unterschiedliche Erfahrungen in der Konfliktbearbeitung gegeben hat, allermeist eine von dreien:

  • Der Konflikt blieb unbearbeitet und folgte einer geradezu naturwüchsigen, unsteuerbar erscheinenden Eskalationsdynamik mit der Folge, daß eine nur konfliktträchtige Situation sich in eine gewaltträchtige übersetzte und am Ende die Eskalation von Gewalt obsiegte.
  • Man bemühte sich mit großem Ernst, den Konflikt zu bearbeiten, aber diese Versuche scheiterten. Die ernsthaften Bemühungen übersetzten sich nicht in Erfolg, weshalb es trotz aller wohlwollender Absichten zur Eskalation kam.
  • Ernsthafte Bemühungen konnten die Eskalation vermeiden; eine drohende Eskalation wurde nicht virulent; anfängliche Tendenzen in Richtung auf Eskalation konnten in Deeskalation umgebogen werden.

Aus jedem dieser Erfahrungsbereiche kann einzeln, und aus allen kann in Kombination etwas gelernt werden: Wie schliddert man in einen Konflikt, dann in eine Gewalteskalation hinein, falls der Konflikt unbearbeitet bleibt? Warum gingen die Bemühungen um die Eskalation daneben und wann stellte sich aus welchen Gründen der point of no return ein? Welche Rahmenbedingungen und welche Faktoren begründeten eine Konfliktbearbeitung, die als success story endete?

Die Botschaft ist also darauf ausgerichtet, die Breite des möglichen Umgangs mit ein und derselben Problemlage aufzuzeigen, Mißerfolge und Erfolge zu dokumentieren und einen Sinn für kritische Faktoren, Weichenstellungen und prinzipiell verfügbare Optionen zu vermitteln. Der Nachdruck liegt natürlich auf letztgenanntem Punkt.

Die zweite Botschaft lautet: „Für Euer vorliegendes Problem hält die historische Erfahrung und die Gegenwart längst Lösungen bereit. Nicht nur sind Eure Probleme bekannt, es sind auch die Lösungen bekannt! Zumindest gibt es Lösungsangebote aus historischen und gegenwärtigen Erfolgsgeschichten, die es lohnen, daß man sich mit ihnen genau auseinandersetzt … .“

3. Konfliktparteien in ethnopolitischen Konflikten sind nicht nur einem Situationsdünkel verhaftet; sie werden auch von einem »Identitäts- und Interessendünkel« gekennzeichnet. Provokatorische Mediation hat sich auch gegen letztere zu richten, insbesondere gegen den Interessendünkel. Bekanntlich werden in eskalierenden ethnopolitischen Konflikten, in der es eine Art von sich einschleichender Verbiesterung gibt, Interessen immer engstirniger thematisiert, wobei die derlei kurzsichtig definierten Interessen so empfunden werden, als ob sie dem wohlverstandenen eigenen langfristigen Interesse entsprächen. Interessenorientierungen weitsichtig zu machen, ist eine wichtige Aufgabe provokatorischer Mediation: Also würde die dritte Botschaft lauten: „Eingebildeten Interessen zu folgen, ist nicht notwendigerweise ein Rezept für den eigenen Erfolg. Im Gegenteil: Engstirnige Interessen machen süchtig und blind; sie verleiten zu unüberlegtem Handeln. Demgegenüber zeigen die Erfolgsgeschichten: Selbstkritik macht sich bezahlt. Sie läßt das wohlverstandene eigene Interesse einsichtig werden. Sie verhindert Unüberlegtheiten mit selbstzerstörerischen Folgen … .“

Dokumentiert man vergleichbare Ausgangssituationen von Konflikten und den ganz unterschiedlichen Umgang mit ein und demselben Konflikttyp, dokumentiert man insbesondere die aus gelungener Koexistenz resultierenden Wachstums- und Verteilungschancen, auch die Chancen erweiterter politischer Teilhabe, so besteht zumindest die Möglichkeit, engstirnige Interessendefinitionen anzukratzen, den Interessendünkel vielleicht sogar zu erschüttern und zu weitsichtigeren Perspektiven zu gelangen.

Provokatorische Mediation setzt Umdenken voraus

Provokatorische Mediation ist kein Passepartout, denn solche »Hauptschlüssel« für erfolgreiche konstruktive Konfliktbearbeitung gibt es in aller Regel nicht. Aber sie könnte, obgleich bisher nicht thematisiert, schon gar nicht erprobt, in Zwischenetappen von Mediationsvorgängen von erheblicher Bedeutung sein. Es sind auch Umstände vorstellbar, wo provokatorische Mediation exklusiv erprobt werden sollte. Wie dem im Einzelfall auch sei, so setzt doch dieses Konzept, das ein analytisches Konzept für die Praxis ist, einiges Umdenken in der wissenschaftlichen Diskussion über Mediation und schon gar in der Mediations-Praxis voraus:

1. So sehr wechselseitig einfühlendes Verständnis der Konfliktparteien von Bedeutung ist, so ist doch zu bezweifeln, daß es immer ein Mangel an Konfliktverständnis ist, der Konfliktparteien von einer produktiven Konfliktbearbeitung abhält. Konfliktparteien verstehen oft genug ihre Konflikte allzu gut, und es ist deshalb nicht immer mangelndes Konfliktverständnis, welches Konflikte in verhängnisvolle Bahnen lenkt, sondern der Mangel an aufzeigbaren, begehbaren Bearbeitungs- und Lösungswegen und an praktikablen Lösungen. Diese Perspektivlosigkeit im Kopf und auch in den Gefühlen zu erschüttern, Optionen realer (und nicht modellplatonischer) Natur aufzutun, überdies darzutun, daß es Wege aus Sackgassen, die das Ergebnis einer selbstzerstörerischen Dynamik sind, gibt und aufzuzeigen, daß diese Wege unter angebbaren Bedingungen schon erfolgreich erprobt worden sind, das alles könnte, gut inszeniert, für die Bearbeitung von Konfliktlagen äußerst hilfreich sein.

2. Voraussetzung ist natürlich, daß der Mediator entsprechende solide Kenntnisse besitzt und daß er diese zu inszenieren versteht. Denn nur belegbare Informationen zu vermitteln, wird in aller Regel nicht genügen; es geht schon auch darum, im konkreten Fall und auf den einzelnen Konflikt bezogen, eine gut dokumentierbare und überzeugend begründete Lösungsperspektive szenengerecht aufzubereiten: Sie müßte sich wie ein unabweisbares Angebot vermitteln.

Die Rolle des Mediators

Damit hat in provokatorischer Mediation der Mediator eine ganz andere Rolle als der eingangs zitierte »facilitator» oder auch der »power mediator». Während eine Variante von »facilitation» auf die erfahrungswissenschaftlichen Kenntnisse des »facilitators» im Hinblick auf das konkrete Konfliktgeschehen während der Mediation abhebt, sind bei provokativer Mediation solide erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse des Konfliktgegenstandes selbst erforderlich: also Kenntnisse über typische ethnopolitische Konfliktlagen (Konflikttypologie), über mißlungene und erfolgreiche Konfliktbearbeitungen, insbesondere über die dabei erprobten Institutionen der Konfliktregelung auf Mikro-, Meso- und Makroebene. Und erforderlich sind natürlich auch, ganz anders als im Konzept der facilitation, weitreichende Kenntnisse über den konkreten vorliegenden Fall.

Der Mediator ist also im Falle provokatorischer Mediation wirklich nicht nur ein Experte mit konflikttheoretischen Kenntnissen, sondern Experte im Hinblick auf die Sache, den konkreten Streitgegenstand selbst.

Provokative Mediation soll Autismen verhindern und Horizonterweiterung bewirken

Provokative Mediation ist »provokativ«, weil sie gegen drohende Selbstverblendung und die meist daraus resultierenden Autismen gezielt auf Horizonterweiterung setzt. Der Vorgang ist nicht ohne die eine oder die andere Art sowie das eine oder andere Ausmaß von Erschütterung – eine Folge von Provokation – vorstellbar. Wenn daraufhin die Konfliktparteien »ihren« Konflikt in einem erweiterten Kontext zu sehen gelernt hätten, wäre schon viel gewonnen. Die eingangs zitierten vertrauensbildenden Maßnahmen würden dann eventuell leichter zustande kommen; einfühlendem Verständnis könnte möglicherweise auf diese Weise der Weg leichter als sonst bereitet werden; der Sinn für Problemlösungsorientierung könnte unmittelbar gefördert werden.

Nichts in den Bemühungen um eine konstruktive Konfliktbearbeitung läuft wie von selbst, und noch einmal: Es gibt keinen Hauptschlüssel. Provokative Mediation könnte jedoch zu einem Instrument für konstruktive Konfliktbearbeitung werden, das bisher verkannt und auch nicht erprobt wurde.

Nachbemerkung

Es konnte nicht Gegenstand dieses kurzen Beitrages sein, die für provokatorische Mediation verfügbaren substantiellen Erkenntnisse, insbesondere jene über Ethnokonflikte, hier aufzubereiten. Dies ist an anderer Stelle anfänglich schon geschehen und bedarf eines eigenständigen Beitrages. Aber der Beitrag wäre nicht geschrieben worden, wenn es diese Erkenntnisse und Einsichten in systematischer historisch-vergleichender Forschung nicht gäbe.

Dr. Dieter Senghaas ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Bremen.

Strafen als Prinzip

Strafen als Prinzip

Ursache gewalttätiger Konfliktbearbeitung?

von Peter Krasemann

In einer Welt gewalttätiger Konfliktbearbeitungen, die in ethnischen und zwischenstaatlichen Kriegen eskalieren, stellt sich die Frage, welche gesellschaftlich anerkannten Denk- und Handlungsweisen dazu beitragen. Von Bedeutung scheint das in allen Gesellschaften in unterschiedlicher Weise differenziert angewandte Strafprinzip zu sein.

Historisch ist offenkundig, daß Strafmaßnahmen in der Regel Konflikteskalationen fördern. Nur in Ausnahmefällen führt die Strafe allein zur Versöhnung und Wiederherstellung eines friedlichen Zusammenlebens. Bestrafungen bedrohen den einzelnen wie die Nationen von den ersten Stunden ihres Daseins an.

Im Mittelpunkt meiner Überlegungen stehen die Auswirkungen der psychisch-gedanklichen Orientierung auf das Strafprinzip, vor allem bei gewaltträchtigen Konflikten. Aufgrund der komplexen Probleme bei bewußtem und unbewußtem Strafen konzentriert sich die Analyse vom Alltagsbewußtsein ausgehend von der Erziehung des Kindes zum Erwachsenen sowie den Gerechtigkeitsempfindungen und Rachebedürfnissen in der Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, ob die individuelle Bereitschaft zur Sicherung relativer Autonomie, Regelverstöße gegebenenfalls staatlich bestrafen zu lassen, auch die gesellschaftliche Bereitschaft fördert, mit militärischen Mitteln staatliche Souveränitätsinteressen im internationalen Herrschaftsystem durchzusetzen.

Da in fast allen Gesellschaften die vorherrschende Denk- und Handlungsweise zur Aufrechterhaltung von Ordnung, Normen, Werten sowie innerer und äußerer Sicherheit das Strafen ist, sind die Untersuchungsergebnisse für diese Länder von exemplarischer Bedeutung. Mit der Analyse des »Lehrmittels Strafe« soll eine der anscheinend universellen Ursachen für gewalttätige Konfliktbearbeitungen in die Fachdiskussionen von Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Pädagogik, Philosophie, Theologie, Rechts-, Kommunikations- und Politikwissenschaft zurückgeführt werden. Die bisherigen Untersuchungen zur Konfliktbearbeitung durch das Strafprinzip reichen nicht aus, das Ausmaß der Eskalationsförderung und -resistenz genauer anzugeben und verantwortbare alternative Denk- und Handlungsweisen auszuweisen.

Strafprinzip im Alltagsbewußtsein

Im Alltagsbewußtsein verbindet die große Mehrheit der Bevölkerung mit dem Strafprinzip den Begriff der Strafe, der unangenehme Assoziationen weckt.1 Im Bewußtsein bleiben Erlebnisse an die erste Lüge, die erste Ohrfeige, die erste »5« in der Schule, die letzte Mißachtung durch Freunde oder Bekannte, die letzte Zurücksetzung bei der Beförderung, die letzte Bestrafung der eigenen Kinder, die bewußte Nichtbeachtung des Nachbarn, den Führerscheinentzug oder gar an den Freiheitsentzug. Kurzum: wir haben uns fast alle im Denken, Fühlen, Spüren und Handeln schon als Strafende und als Bestrafte erlebt. Nahezu alle Jugendliche und Erwachsene haben persönliche Erfahrungen, wie es ist, bewußt oder unbewußt zu bestrafen oder bestraft zu werden. Mit allen Assoziationen zum Begriff der Strafe ist die Verletzung eines Denk- oder Handlungsgebotes verbunden, der den Souveränitätsanspruch anderer Menschen berührt. Diese Reaktionen können vielfältig ausfallen. Verzeihen und Kompromißbereitschaft werden in einem auf den Grundsätzen der Konkurrenz aufgebauten Gesellschaftssystem aber vielfach als inadäquates Verhalten verachtet und als Ausdruck von Schwäche gedeutet. Sowohl genetisch als auch sozialisationsbedingt wird im menschlichen Konkurrenzverhalten Stärke gefordert und gefördert, die über die Selbstbehauptung hinausreicht. Der Einsatz der Stärke zum persönlichen Vorteil wird in fast allen Gesellschaften akzeptiert und auch im zwischenstaatlichen Umgang gerechtfertigt. Der dem Strafprinzip zugrundeliegende Gerechtigkeitsmaßstab besteht darin, daß es erlaubt ist, Stärke in den jeweiligen Legitimationsgrenzen auszunutzen. Die national und international legalisierten Souveränitätsgrenzen werden im wesentlichen als allgemeingültige Grundsätze des Denkens und Handelns anerkannt. Und im vorherrschenden Bewußtsein wird ihnen jeweils auch eine universelle Gültigkeit zugeschrieben.

In der zu beobachtenden Lebensordnung der meisten Menschen wird der Einsatz des Strafprinzips unabhängig von der jeweiligen individuellen und kollektiven Stärke zwar immer dort gefordert, wo die soziale Gerechtigkeit gestört wird, aber nur im Sinne der ideologischen Bewahrung absoluter humaner Gerechtigkeitsvorstellungen. Da soziale Gerechtigkeit nicht exakt definiert werden kann, muß sie gesetzlich als relativer Maßstab unter Berücksichtigung gesellschaftlich akzeptierter, natürlicher und sozialer Vorteile in praktikablen Rechtsnormen fixiert werden. Diese Praktikabilitätsforderung wird folgerichtig auch an die Durchsetzung der Gesetze durch Strafen gestellt. Als allgemeingültiges legitimes Mittel sollen Strafen die Einhaltung der Gesetze gewährleisten, sowie Gesetzesbrüche sanktionieren.

Im Strafprinzip spiegelt sich ein gesellschaftlicher Konsens über die Denk- und Handlungsweisen wider, der von Gerechtigkeitsüberlegungen ausgehend, auch Vergeltungsbedürfnisse befriedigt. Im Sinne eines Prinzips stellt das Strafen die bewußte oder unbewußte Zufügung eines fühlbaren Nachteils dar, weil etwas getan oder unterlassen wurde, das nicht erlaubt war, oder wie der niederländische Begründer des Völkerrechts Huigh De Groot, in der Literatur als Hugo Grotius geführt, es formulierte: „Die Strafe ist ein Übel, zu leiden, das zugefügt wird wegen eines Übels im Handeln.“ 2 Wenn man einmal von Selbstbestrafungen absieht, wird durch die Zufügung eines Übels das über die Wiedergutmachung des Schadens hinausgeht und Ausdruck eines allgemeinen Rachebedürfnisses ist, das Vergeltungselement der Lerneffekt des »Lehrmittels Strafe« als Hilfestellung zur Befähigung einer zukünftigen Lebensführung in sozialer Verantwortung stark gemindert. Obwohl eine allgemeine Unsicherheit über die Zweckmäßigkeit einzelner Strafen besteht, wird das allgemeine Strafprinzip nicht in Frage gestellt. Um den Gründen für die tiefe Verwurzelung des Strafprinzips und ihres gewalttätigen – und möglicherweise gewaltfördernden Charakters – näher zu kommen, sollen zunächst die lebensgeschichtlichen Erfahrungen von der Geburt bis zum Erwachsenendasein untersucht werden.

Strafprinzip in der Erziehung

Jedes Kind wird in eine vielschichtige Gesellschaftsstruktur mit unterschiedlichen Sozialnormen hineingeboren. Diese Normen unterliegen dem gesellschaftlichen Wandel sowohl der Wertbilder3 als auch den sozialen und geschlechtsspezifischen Rollennormen und darüber hinaus der Gruppennormen, denen das Individuum zugeordnet werden kann. Im Rahmen des jeweiligen sozialen und natürlichen Umfeldes werden die genetischen Entwicklungspotentiale des Kindes gefördert oder eingeengt. Dabei erfährt das Kind die ersten Normen durch die Eltern. Es entdeckt, daß die wahrgenommenen Dinge seiner Umgebung mit seinen Triebspannungen in Beziehung stehen und seine Bezugspersonen andere Unterscheidungen machen als es selbst. Auf mannigfaltige Art und Weise – insbesondere durch Belohnung oder Bestrafung – erlernen Kinder die Bezugssysteme und Gruppennormen der Eltern.

Das Kind benötigt bei seinen primären Erfahrungen die Hinweise der Menschen seiner Umwelt, um Gefahren zu vermeiden und Vertrauen in die Voraussicht der Erwachsenen zu gewinnen. Warnungen derart, daß Herdplatten heiß, Messer scharf und dampfendes Wasser gefährlich sind, schaffen durch die Genauigkeit der Voraussage – die durch kindliche Erfahrungen früher oder später bestätigt werden – Vertrauen in die Korrektur- und Wahrnehmungsfähigkeit der Mitmenschen. Kleine Kinder schenken den Voraussagen der Eltern häufig mehr Vertrauen als ihren eigenen Sinneswahrnehmungen. So haben Untersuchungen gezeigt, daß Kinder von den Eltern vorausgesagte Ereignisse mit Sicherheit gesehen, gehört oder gerochen zu haben glauben, obwohl in den entsprechenden Experimenten derartiges nicht geschah. Mit zunehmendem Alter nimmt das Vertrauen in die Eigenwahrnehmungen wieder zu.4 Je besser ein Kind seine Beobachtungen und Erfahrungen durch die Verläßlichkeit der von den Erwachsenen vermittelten Normen ordnen kann, desto schneller wird es in der gemeinsamen Wahrnehmungssphäre seiner Gruppe die für das Kind wirkliche, das heißt verläßliche Welt allein zu entdecken versuchen.

Beim Erlernen der Gruppennormen, die das Kind sich aneignet, um in Kommunikationen eintreten zu können, muß es eine Reihe interpersoneller und intrapersonaler Konfliktbearbeitungen leisten. In diesem Prozeß lernt das Kind entweder, durch eigene Korrekturen seine Wahrnehmungen denen der Bezugspersonen anzupassen, oder es werden Belohnung und Strafe als Mittel der Beeinflussung des Verhaltens des Kindes eingesetzt. Zwar ist in diesem Falle die Strafe ein Teil einer umfassenden personellen Beziehung, die meist auch durch eine Vielzahl positiver fürsorglicher und anerkennender Zuwendungen gekennzeichnet ist, dennoch wird dem Kind ein Nachteil zugefügt, der nicht folgenlos bleibt. Die Eltern-Kind-Beziehung ist gestört. Auf den kindlichen Entwicklungsprozeß bezogen, führt der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter über die elterliche Autorität aus: „Wo das Kind Recht und Unrecht anders sieht als sie, soll es sich ihrem Urteil unterwerfen … . Es ist für sie – mehr oder weniger bewußt – eine Machtfrage, vom Kind in einer unbezweifelbaren Autoritätsrolle bestätigt zu werden.“ 5 Bei Kindern können durch die in derartigen Erziehungsprozessen eingesetzten physischen und psychischen Strafen so große Spannungen und Ohnmachtsgefühle entstehen, daß Selbstachtung, Selbstbestätigung und Selbstbehauptung beschädigt oder zerstört werden. Als Spätfolgen sind im intrapersonalen Bereich Neurosen, Psychosen, Selbsthaß, Phobien und verschiedene Formen der Gewalttätigkeit und Aggression gegen die eigene Person nicht auszuschließen. Interpersonell sind als Folgelasten kindlicher Entwicklungsstörungen Intoleranzen, Fremdenhaß sowie Aggressionen und Gewalttätigkeiten gegen andere individuell oder kollektiv zu befürchten.

Auch wenn Eltern bewußt auf Strafe verzichten, setzen sie häufig ihre Kinder Wettbewerbsbedingungen derart aus, daß nur beim Gehorchen des Kindes Gegenleistungen in Form von immateriellen und/oder materiellen Zuwendungen gewährt werden. Diese Einschränkungen in der Persönlichkeitsentfaltung des Kindes haben häufig ein manisches Bedürfnis nach Selbstbestätigung im Erwachsenenalter zur Folge. Die Abhängigkeit gegenüber anderen Bezugsgruppen wird bei Kindern besonders groß, die emotional vernachlässigt oder unbewußt abgelehnt werden. Ihr spontanes Kontaktverhalten verringert sich, und sie haben später Schwierigkeiten, eine autonome Moral sowie Selbstkontrolle zu entwickeln.6

Ist gelegentliches Strafen mit ebenso konsequent erteiltem Lob gepaart, und fördern die Eltern die emotionale Identifikation sowie den Aufbau eines positiven Selbstbildes beim Kind, behindern Strafen die Verhaltensentwicklung kurzfristiger, als Lob sie langfristig zu verstärken vermag. „Hier wirkt die außerordentlich wichtige Regel der intermittierenden Verstärkung: Ein Verhalten, das hin und wieder zu einem Erfolg, hin und wieder zu einem Mißerfolg führt, wird im allgemeinen nicht gehemmt; es wird vielmehr hartnäckig gelernt. Es ist so, als nehme der Lernende einige Mißerfolge hin, um sich dann der nächsten Belohnung um so sicherer zu sein.“ 7

Bei strenger Erziehung – und die ist viel weiter verbreitet als gemeinhin angenommen wird – findet häufig auch das elterliche Züchtigungsrecht Anwendung. Das Strafen von Kindern mit physischer Gewalt ist in der Bundesrepublik Deutschland staatlich legalisiert. Dieses »individuelle Strafrecht« ist Ausdruck der gesellschaftlichen Akzeptanz der Prügelstrafe in der Familie (75 % der Mütter und 62 % der Väter ohrfeigten, 40 % der Mütter und 36 % der Väter gaben an, eine »Tracht Prügel« ihren 9 – 14jährigen Kindern zu verabreichen8) und der Hinnahme von 1145 polizeilich registrierten Kindesmißhandlungen bei einer geschätzten Dunkelziffer nicht erfaßter körperlich mißhandelter Kinder von 20 000 bis 500 000 pro Jahr in den alten Bundesländern9. Obwohl mit einem Verbot körperlicher Strafen in der Erziehung in Schweden seit 1979 positive Erfahrungen gemacht wurden und keine »Inflation« staatlicher Zwangsmaßnahmen notwendig war, schlug eine Unabhängige Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt 1990 zwar ein Züchtigungsverbot als „Signal zur Verbannung körperlicher Strafen aus der Erziehung“ auch für die Bundesrepublik Deutschland vor, aber war sich auch einig, „daß ein Verbot körperlicher Strafen in der Erziehung kein Ansatzpunkt für generelle … strafrechtliche Interventionen sein darf.“ 10 Dieser inkonsequente Vorschlag macht angesichts der schwedischen Erfolge deutlich, wie gering die Sensibilität für die Folgen körperlicher Gewalt bei Kindern ist und wie gewichtig die praktische bewußtseinsmäßige Verankerung des Strafprinzips bei deutschen Eltern eingeschätzt wird. Während sonst darauf vertraut wird, durch Strafandrohungen Gewalt zu verhindern oder einzudämmen, gewährt man Kindern weder diesen Schutz, noch werden alternative Maßnahmen ergriffen. Die Würde des Kindes wird legal herabgesetzt, bleibt schutzlos.

Straffreie Jugenderziehung

Über die Jugenderziehung lassen sich aus psychotherapeutischen und pädagogischen Falldarstellungen wichtige Sachverhalte über den Strafvorgang im Strafenden und im Bestraften erfassen. Von physischen Gewalttätigkeiten, Vielstraferei und individuellen Racheakten kann dabei abgesehen werden. Wenn man nur das Strafverhalten betrachtet, das von Dritten vollzogen wird11, ist aus psychologischer Sicht überzeugend belegt, welche „triebbestimmten, moralisch fragwürdigen Motive den Strafenden leiten können und welche vorübergehenden und dauernden Schäden die Straferziehung“ 12 bei den Bestraften zur Folge hat. Daraus läßt sich nur der Schluß ziehen, prinzipiell eine straffreie Erziehung zu fordern. Aufgrund dieses eindeutigen Ergebnisses über Strafen durch neutrale Personen kann davon ausgegangen werden, daß die allgemeinen Wirkungen einer Jugenderziehung mit Strafen noch wesentlich negativer ausfallen.

Trotzdem wird die Strafe dem heranreifenden Erwachsenen fast ausnahmslos als eine Selbstverständlichkeit der Sanktionierung von Normverstößen vorgeführt, die einer ausdrücklichen Begründung als eines tatsächlich geeigneten Mittels nicht bedarf. In fast allen Interaktionsfeldern der Jugendlichen begegnen sie Zurechtweisungen, Vorhaltungen, Ge- und Verboten, Ermahnungen, Verwarnungen, Drohungen, Bloßstellungen und Tadeln. Ihre Lebenswelt ist von Regelungen aller Art durchsetzt – ist verregelt – , und um deren Einhaltung durchzusetzen, »muß Strafe sein«. Die Folgen des Reflexionsdefizits über die Ersetzbarkeit des Strafprinzips in der Jugenderziehung zeigen sich in immer früher und zahlreichen Strafmaßnahmen in Schulen, Familien sowie anderen Jugendbereichen.13 Als Begründung für zunehmende Kontrollen und Bestrafungen wird auf ihren Zweck verwiesen, nicht jedoch ihre Effizienz einer Überprüfung unterzogen. Jugendliche Hilferufe werden überhört, Warnsignale ignoriert, bis es letztlich immer häufiger zu gewalttätigen Regelverstößen kommt. Dagegen werden dann in schöner Regelmäßigkeit verstärkte Polizeieinsätze und verschärfte Strafen eingeführt, anstatt die Konfliktursachen zu beseitigen und die Eskalationswarnsysteme zu verbessern.

Die Konflikte werden zunehmend unpersönlicher und institutionalisierter geregelt. Individuelle Durchsetzungserfolge bei erlittenem Unrecht sind kaum mehr möglich. Was Jean Jacques Rousseau einer der schärfsten Gegner jeder Strafe, 1762 in seinem pädagogischen Werk „Emile“ beschrieben hat, noch bei der persönlichen Konfliktbearbeitung einer unverdient zugefügten Prügelstrafe widerfahren konnte: „Schließlich ging ich als Sieger aus dieser grausamen Prüfung hervor“ 15, ist in unserer verregelten, durch institutionelle Strafen gekennzeichneten Welt kaum mehr möglich. Die Empfindungen eigener Ohnmacht, wie das Gefühl »nicht zu zählen«, mit den Werten »die für wichtig gehalten werden«, nicht ernst genommen zu werden, bedeutungslos für die Mitmenschen und vor sich selbst zu sein, breiten sich unter Jugendlichen, insbesondere arbeitslosen, immer weiter aus. Mit dem Gefühl »nichts zu verlieren zu haben«, wächst auch die Bereitschaft, Strafe in Kauf zu nehmen. Straftaten werden bei Jugendlichen zunehmend von denen begangen, die ein geringes Selbstwertgefühl haben und dessen Hilfeschreie nach zwischenmenschlichen Kontakten ignoriert werden.

Pauschalisierend läßt sich feststellen, daß die negativen Ergebnisse der Anwendung des Strafprinzips in der Erziehung aus der Herabsetzung der Individualität der Kinder und Jugendlichen resultieren. Durch Strafen wird die Möglichkeit zur Selbstkorrektur eingeschränkt. Die Formbestimmung durchdringt im mitmenschlichen und gesellschaftlichen Umgang mittels Strafe das individuelle Bewußtsein. Kinder und Jugendliche werden zur Veränderung bisher nicht erkannter Fehlsteuerungen genötigt und zu noch nicht erfolgten Selbstkorrekturen gezwungen. Ihr zeitliches und intellektuelles Verhalten wird den Gruppennormen unterworfen. Dabei wird das Menschliche der sich entwickelnden Persönlichkeiten, Fehler zu machen, durch die Zufügung eines Nachteils – die Strafe – geschädigt. Die Individualitätsverletzung führt zur Einschränkung der Bewußtwerdung, verletzt das Verantwortungsgefühl und mindert das Selbstvertrauen. Darüber hinaus wachsen angesichts der Verregelung unserer Gesellschaft die Gefahren der Externalisierungen. Anstelle persönlicher Verantwortung breitet sich Anpassungsverhalten schon sehr früh aus. Je eindringlicher die Einhaltung des Strafprinzips gesellschaftlich eingefordert wird, desto größer wird faktisch jedoch die individuelle Gleichgültigkeit gegenüber Strafdrohungen. Wirkungsvoller scheint die vorrangig emotionale Übernahme des elterlichen Strafprinzips in den kindlichen Lernprozeß, bei der Lob und Strafe Erfolg und Mißerfolg signalisieren, zu sein. Da das Vergeltungselement der Strafe vorwiegend kognitiv erst mit zunehmendem Alter erkannt wird, wächst auch dann erst der Widerstand gegen die zugefügten Benachteiligungen. In seinen ersten Lebenserfahrungen wird dem Menschen das Strafprinzip aber bereits vermittelt. Es erhöht seine Anspannung und läßt ihn die potentielle Bereitschaft zu gewalttätiger Konfliktbearbeitung übernehmen.

Strafprinzip im internationalen Herrschaftssystem

In den komplexen Industrienationen ist angesichts sinkender Möglichkeiten, gesellschaftlich »etwas beeinflussen« und eine »anerkennenswerte, befriedigende Arbeit« leisten zu können, die Verwirklichung verantwortlichen Denkens und Handelns für jeden einzelnen erschwert. Das gesellschaftliche Zutrauen zur individuellen Selbstkorrektur nimmt immer mehr ab und führt zu einer ständig wachsenden Verregelung des sozialen Lebens mit Geboten und Verboten. Mit dem Ausbau eines komplizierten, bis heute nicht allgemeinverständlich formulierten Rechtssystems, haben auch gerichtliche Verurteilungen ständig zugenommen, die im Interesse des Gemeinwohls Rechtsbrüche in der einen oder anderen Form strafen, also über die Wiedergutmachung hinaus einen Nachteil zufügen.

Im deutschen Strafrecht findet die sozialstaatliche Verpflichtung des Rechtssystems kaum Beachtung. Die gültigen Rechtsnormen verstärken das im allgemeinen Geflecht der gesellschaftlichen Regelungen übliche Strafprinzip durch eine ausgeprägte Betonung von Schuld und Vergeltung.

Man könnte nun meinen, durch die Behebung des individuellen und kollektiven Tatschadens sei das Opfer- und Gesellschaftsinteresse angemessen gewahrt. Gegen diesen Gedanken der Wiedergutmachung des Tatschadens und der Aussöhnung von Tätern und Opfern sperren sich Theorie und Praxis des Strafrechts. Die bundesdeutsche Gesellschaft fordert darüber hinaus eine Strafe für die Beschädigung des Rechtsgutes, das als überindividuelle Sozialnorm als beschädigt angesehen wird. Die Verletzung der Gesellschaftsnorm kann nur durch Buße und Sühne vergolten werden. Durch Sühneleistungen soll der Bestrafte sein Sinnerleben der zusätzlichen gesellschaftlichen Benachteiligung dokumentieren. Was aber, wenn er deren Sinn nicht erkennen kann? Dann, so argumentieren die Verteidiger der Vergeltung, muß er zur Duldung der Strafe als »Machtäußerung des sittlichen Lebens« gezwungen werden. Damit ist eine so abstrakte Begründungsebene für das Strafprinzip erreicht, daß der soziale Konfliktcharakter des Rechtsbruchs völlig verlorengeht. Der Sinn der Sühne, die Versöhnung, kann vom Täter auf diese Weise kaum erreicht werden.

Diese starke Verankerung des Sühnegedankens in der deutschen Verrechtlichung und Rechtsdurchführung des Strafprinzips beinhaltet die Gefahr, bei zwischenstaatlichen und internationalen Konfliktbearbeitungen auch nach Vergeltung zu rufen und den kollektiven Rachegefühlen nachzugeben. Die gesellschaftliche Erfahrung, daß der gewalttätige Charakter der Strafe die Rechtsbrüche nicht einzudämmen oder gar zu beseitigen vermag, ist bisher trotz weltweiter augenfälliger Beweise von Gewalttätigkeiten und Kriegen folgenlos geblieben. Mit der Kriminalisierung von Normverletzungen besitzt der demokratische Nationalstaat vielfältige Rechte zur innerstaatlichen Herrschaftsdurchsetzung und Machtwahrung. Da bei den staatlichen Instanzen das Gewaltmonopol liegt, können diese ungefährdet ein allgemeines gesellschaftliches Gewaltverbot proklamieren, ohne selbst die ultima ratio des Gewaltgebrauchs einzuhalten. Aufgrund des extensiven Einsatzes des Strafprinzips in der Bundesrepublik ist zu befürchten, daß bei zwischenstaatlichen und internationalen Streitigkeiten friedliche Konfliktbearbeitungen nicht ausgeschöpft oder erweitert werden. Da die »Nächsten-Ethik«, wie der Philosoph Hans Jonas es nennt, sich bereits im Vereinigungsprozeß von Ost- und Westdeutschland als wenig tragfähig erweist und bereits viele Risse in der geeinten deutschen Nation sichtbar werden, erscheint es wenig wahrscheinlich, daß in Zukunft die deutsche Außenpolitik durch eine globale »Fremd-Ethik«, wie Arnold Gehlen sie beschrieben hat, bestimmt wird.

Auch bei anderen Nationen hat die Inanspruchnahme völkerrechtlicher Streitbeilegungsmechanismen bei internationalen Gerichten und Schiedsgerichten abgenommen, so daß deren Bedeutung schwindet.16 Bi- und multilaterale Konfliktbearbeitungen, bei denen das Risiko einer neutralen Beurteilung nicht besteht, nehmen stattdessen zu. Dennoch finden die Gedanken zur Schaffung eines weltstaatlichen Gewaltmonopols der Vereinten Nationen in den Industrieländern immer mehr Zuspruch. Die Dominanz der den Weltmarkt beherrschenden kapitalistischen Nationen ist nach dem Zusammenbruch der osteuropäischen sozialistischen Länder so groß geworden, daß es nicht nur denkbar, sondern teilweise bereits gelungen ist, ihre politisch-militärische Vorherrschaft im Rahmen des Sicherheitsrates der UNO durchzusetzen. Die Verrechtlichung eines weltstaatlichen Gewaltmonopols, dessen Eingriffen und Urteilen sich alle Nationen unterwerfen müßten, wurde bisher aber aufgrund der zahlenmäßigen Unterlegenheit der dominierenden Industrienationen in der UNO nicht angestrebt.

Abgesehen von den Mehrheitsverhältnissen der Weltbevölkerung in einem repräsentativen Weltparlament müssen die Industrienationen bei einer Fixierung und Rechtsdurchsetzung eines universellen Humanismus befürchten, ihr Gerechtigkeitsempfinden nicht verabsolutieren zu können und häufig selbst als Straftäter – z.B. bei Umweltschäden – belangt zu werden. Angesichts der Gefahren, die bei einem weltstaatlichen Gewaltmonopol mit einem Strafsystem, das zu weltweiten militärischen Aktionen fähig sein soll, bestehen, erstaunt es, daß PolitikerInnen und BürgerInnen der Bundesrepublik Deutschland nach den Erfahrungen von zwei Weltkriegen einer deutschen militärischen Beteiligung bereits wieder aufgeschlossen gegenüberstehen.

Momentan wird im Bereich der internationalen militärischen Anwendung des Strafprinzips die Einhaltung rechtlicher Regelungen für suspendierungsfähig erachtet. Kulturell erworbene Tötungshemmungen werden bei militärischen »Strafexpeditionen«, z.B. im zweiten Golfkrieg, in Windeseile überwunden und gewalttätige Konfliktbearbeitungen werden zwischenstaatlich als rechtmäßig angesehen. In ethnischen und nationalen Auseinandersetzungen geht fast ausnahmslos jedes Unrechtsempfinden bei politischen und militärischen Gewalt- und Destruktionsakten verloren. „Bei der Nichtwahrnehmung bzw. Nichtakzeptierung des kriminellen Charakters der begangenen Taten (handelt es sich d.V.) nicht um abnorme Gewissensausfälle eines einzelnen, sondern um ein weitverbreitetes Kollektivphänomen.“ 17 Auch wenn die rechtlichen Mittel nicht geeignet sind, individuelle und kollektive Gewalttätigkeiten bei Kriegshandlungen zu verhindern, müßten Entscheidungen und Verhaltensweisen, die Menschenleben gefährden oder zerstören, konsequenterweise dennoch bestraft werden. Als zentrale Elemente des Srafprinzips werden Gerechtigkeitsempfindungen, Vergeltungsforderungen und Rachebedürfnisse bei kriegerischen Auseinandersetzungen im wesentlichen aber von der Interessen- und Identitätslage bestimmt. Daher werden auch eindeutige schwere Gewalttätigkeiten oft nicht als individuelle und kollektive Straftaten bewertet, sondern den „unvermeidlichen Begleiterscheinungen und »Notwendigkeiten« von Politik und Krieg zugeschlagen“.18

Die weitverbreitete Vorstellung, daß Politik und Militär sich im Falle militärischer Auseinandersetzungen in einem Ausnahmezustand befinden, legitimiert den Einsatz kollektiver Gewalt in seinen brutalsten Formen. Dabei werden auch die durch das Kriegsvölkerrecht gesetzten Grenzen außer Acht gelassen und individuelle sowie kollektive Verantwortlichkeiten suspendiert. Kriege werden in dieser Sichtweise zu anonymen Kulturphänomenen, in denen alle Beteiligten frei von persönlicher Verantwortung gezwungen sind, als bloße Befehlsempfänger mitzumachen. Diese allgemeine Deutung, daß jedermann sich dem Willen der politischen und militärischen Führung unterwerfen muß, ist durch genaue Einzelfallanalysen allerdings widerlegt.19 Die Tabuisierung der Individualverantwortung von PolitikerInnen und Militärs bei Kriegshandlungen muß generell überwunden werden.

Ein zentrales Problem des Individualverhaltens im Krieg besteht darin, daß die eigenen Handlungsweisen nicht als persönliche Taten gesehen und auch die Gegner nicht als Individuen wahrgenommen werden. Soldaten werden zu Vertretern der Gesellschaft stilisiert; so erklärte beispielsweise ein amerikanischer Offizier, daß er persönlich niemanden im Vietnamkrieg getötet habe, er hätte nur die Vereinigten Staaten von Amerika verkörpert, sein Vaterland. Individuell und gesellschaftlich wird damit das Bild des Krieges als anonymes Kollektivgeschehen idealisierend verfälscht und beschönigt. Damit werden gleichzeitig auch die folgenreichen Entscheidungen der PolitikerInnen und ihrer WählerInnen, die zum Krieg geführt haben, verharmlost und von vornherein einer individuellen Verantwortlichkeit entzogen.

Nachdem die Verantwortungsprobleme des individuellen Verhaltens in Kriegen sichtbar geworden sind, soll abschließend die Bedeutung und Wirkung des Strafprinzips bei kollektiven, gewalttätigen internationalen Konfliktbearbeitungen betrachtet werden. Wie der Blick in die Menschheitsgeschichte zeigt, wurden Kriege als Strafaktionen gegen andere Stämme, Ethnien, Völker oder Nationen deklariert und kollektiv verstanden. Die Berechtigung militärischer Konfliktbearbeitung wurde mit der gegnerischen Verletzung von eigenen souveränen Rechten begründet, deren Hinnahme nicht ungestraft bleiben sollte. Über die Wiederherstellung des bisherigen Zustandes hinaus wurde eine kollektive Sühneleistung angestrebt. Von den jeweiligen Verlierern wurden physische oder psychische Erniedrigungen erzwungen, die meist die Ursache für spätere gewalttätige Racheaktionen waren. Die technologische Waffenentwicklung brachte es mit sich, daß die ökonomischen Auszehrungen so weitreichende gesellschaftliche Folgewirkungen zeigten, daß trotz der materiellen Strafleistungen der Kriegsverlierer die Folgelasten auch bei den Kriegsgewinnern nicht ausgeglichen werden konnten. Die Kriegsführung brachte häufig für Sieger und Unterlegene langfristig nur ökonomische Nachteile, die die Hemmschwellen für militärische Konfliktregelungen zwischen reichen Nationen erhöhten. Mit den wachsenden gegenseitigen politischen und ökonomischen Abhängigkeiten wurden die Militäreinsätze von den ökonomischen Entwicklungsständen beeinflußt, in Bündnissysteme eingebunden immer weiträumiger; zuletzt in Europa gekennzeichnet durch die großflächige west-östliche Blockkonfrontation.

Mit den geminderten Fähigkeiten der nationalstaatlichen Kriegssieger, den besiegten Staaten langfristig profitable Strafen aufzuerlegen – sie zu zerstören, einzugliedern, zu Gebietsabtretungen oder Strafleistungen zu zwingen – stieg die Bereitschaft auf kollektive militärische Rachefeldzüge zu verzichten. Technologisch-ökonomische Entwicklungen, die bis zur globalen Vernichtungsfähigkeit führten, haben die Kriegsführungsfähigkeit des Militärs vorübergehend zwar gemindert, ohne allerdings – atomare Zweit-, Dritt- und Mehrfach-Schlagfähigkeit bestehen noch heute – zu einem vollständigen Verzicht auf das militärische »Lehrmittel Strafe« zu führen. Im historischen Rückblick lassen sich kaum Indizien erkennen, daß die Menschen aus dem Einsatz der vielfältigen militärischen Strafen, die gegen die unterschiedlichsten Volksgruppen und Nationen verhängt wurden, gelernt haben, Konflikte gewaltloser zu lösen. Außer der Ausrottung von Stämmen und Ethnien sind durch den militärischen Einsatz des »Lehrmittel Strafe« Milliarden von Tote und eine unvorstellbare Menge von physischen und psychischen Deformationen nachweisbar.

Trotz aller affektiven und kognitiven Erschütterungen, die beispielsweise durch den 2. Weltkrieg ausgelöst wurden, läßt sich für die Nachkriegsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland nicht feststellen, daß ein gravierender psychisch-gedanklicher Lernprozeß hinsichtlich des Einsatzes des Strafprinzips in der Erziehung, in der Verrechtlichung, in der Rechtsdurchführung und im internationalen Herrschaftssystem stattgefunden hat. Vielmehr scheint das Vertrauen in das praktizierte Strafprinzip – trotz der sichtbar wachsenden Mängelerscheinungen – unerschütterlich und daher auch im internationalen Herrschaftssystem als alternativlos angesehen zu werden. Obwohl die internationale Gemeinschaft auf grausame Weise bisher ihre Unfähigkeit, Macht- und Verteilungsinteressen friedlich zu regeln unter Beweis gestellt hat, sind die Menschen mehrheitlich bisher nicht bereit, auf gewalttätige Konfliktbearbeitungen zu verzichten. Stattdessen werden die Kriege und Militäraktionen, die trotz global geringfügig sinkender Militärausgaben in vielen Gesellschaften und zwischenstaatlichen Konflikten auf der Tagesordnung stehen und der Nationalismus zahlreicher Volksgruppen in Ost- und Südosteuropa zum Anlaß genommen, die Notwendigkeit zur Kriegsbereitschaft nachzuweisen. Für die westlichen und östlichen Industrienationen wird eine weltweite militärische Ressourcensicherung sowie militärische globale Konflikteinhegung als notwendig und legitim erachtet. Dadurch wird der Gewaltcharakter des Strafprinzips im internationalen Herrschaftssystem fest verankert und die Möglichkeit zu gewaltfreien Konfliktbearbeitungen selbst unter befriedeten Gesellschaften für die absehbare Zukunft als realitätsuntüchtig abgetan.

Schlußbemerkung

Das individualgeschichtliche Erlernen des Strafprinzips ist gefühlsmäßig so tief verwurzelt, daß alle kognitiven Einwände gegen seinen Einsatz in zwischenmenschlichen, innergesellschaftlichen, zwischenstaatlichen und internationalen Konflikten uns bisher nicht haben hindern können, auf das »Lehrmittel Strafe« – trotz aller gewalttätigen Reaktionen – zurückzugreifen. Wie nachgewiesen werden konnte, ist die umfassende Durchdringung unserer Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland durch das Strafprinzip eine wichtige Ursache für gewalttätige Konfliktbearbeitungen. Um gewaltärmere Konfliktregelungen zu ermöglichen ist es prinzipiell notwendig, auf das »Lehrmittel Strafe« zu verzichten.

Mit dem schrittweisen Verzicht auf das Strafprinzip sind zwar nicht alle Gewalttätigkeiten aus der Welt zu schaffen, aber ihr Umfang ließe sich wesentlich reduzieren. Internatinal würden sich die Chancen verbessern, durch den mehrheitlichen nationalen einseitigen Verzicht auf militärische Mittel, die kriegsbereiten Nationen auf eine kleine Zahl zu reduzieren.

Anmerkungen

1) Vgl. u. a. Heinelt, Gottfried, Psychologie der Strafe und des Strafens, in: Rombach, Heinrich (Hg.), Pädagogik der Strafe, Freiburg, Basel, Wien 1967, S. 32 – 68, insbesondere S. 32/33 Zurück

2) Grotius, Hugo, De iure belli ac pacis libri tres, 1625, lib. II cap. XX, nach: Bockelmann, Paul, Strafrecht Allgemeiner Teil, München 1973, S. 2 Zurück

3) Vgl. zur Begriffsdefinition, Krasemann, Peter, Leben ohne Militär als gesellschaftliche Perspektive, in: ders. (Hg.) Leben ohne Militär – Perspektive oder Utopie? Aspekte einer gesellschaftlihen Problematik, Berlin 1991, S. 7 Zurück

4) Vgl. u. a. Newcomb, Theodore M., Sozialpsychologie, Meisenheim am Glan 1959, S. 224 – 226 Zurück

5) Richter, Horst-Eberhard, Umgang mit Angst, Hamburg 1992, S. 205 Zurück

6) Vgl. u. a. Berckhauer, Friedhelm; Steinhilper, Monica, Zwischengutachten der Arbeitsgruppe A der Unterkommissionen Psychologie, Psychiatrie, Soziologie und Kriminologie, in: Schwind, Hans-Dieter; Baumann, Jürgen, u. a. (Hg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. 1, Berlin 1990, S. 302-305 Zurück

7) Schwind, Hans-Dieter; Baumann, Jürgen u.a. (Hg.) a.a.O., S. 78 Zurück

8) Vgl. Ebenda, S. 76 Zurück

9) Vgl. Ebenda, S. 75 u. 76 Zurück

10) Ebenda, S. 158 Zurück

11) Vgl. zur Unterscheidung der Konfliktbearbeitung mit und ohne neutrale Instanz, Wasmuth, Ulrike C. (Hg.) Konfliktverwaltung – Ein Zerrbild unserer Demokratie? Berlin 1992, S. 33 Zurück

12) Heinelt, Gottfried, a.a.O., S. 37 Zurück

13) Vgl. Schwind, Hans-Dieter, Baumann, Jürgen u.a. (Hg.) a.a.O., S. 62 – 117 14) Von Altenbockum, Jasper, Im ausgebrannten Jugendhaus von Groß-Klein zeigen die Kids an die Wand – dort steht: Total normal, in: FAZ, 2.9.1992, S.4 Zurück

15) Zitiert nach: Scheibe, Wolfgang, Die Strafe als Problem der Erziehung, Weinheim 1972, S. 60 Zurück

16) Vgl. Wühler, Norbert, Die internationale Schiedsgerichtsbarkeit in der völkerrechtlichen Praxis der Bundesrepublik Deutschland, Berlin, Heidelberg, New York, Tokio 1985 Zurück

17) Jäger, Herbert, Makrokriminalität, Frankfurt am Main 1989, S. 20 Zurück

18) Ebenda, S. 34 Zurück

19) Vgl. Ebenda, S. 63 Zurück 20) Vgl. Ebenda, S. 72

Peter Krasemann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle »Kommunikation zur Förderung der Friedensfähigkeit« an der Hochschule der Künste in Berlin.

Alternativen zum Krieg

Alternativen zum Krieg

Nicht-militärische Konfliktlösungen im ehemaligen Jugoslawien

von Netzwerk-Friedenskooperative

Das Versagen der Vermittlungsbemühungen im brutalen Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat die Diskussionen über eine militärische Intervention von aussen angeheizt. Ohnmachtsgefühle setzen sich in Gewaltphantasien um, während hochrangige Militärs ebenso wie die Friedensbewegung vor einer nicht kontrollierbaren Ausweitung des Krieges und seiner Schrecken warnen. Bundesregierung und Parteien mißbrauchen die Not der Bevölkerung im ehemaligen Jugoslawien, um künftige Einsätze der Bundeswehr »out-of-area« der NATO und außerhalb des bisherigen Verteidigungsauftrages in die Wege zu leiten. Obwohl niemand ernsthaft eine schnelle Lösung durch militärische Intervention erwartet, wächst die politikträchtige Sehnsucht in der Öffentlichkeit nach einem Befreiungsschlag.

Genausowenig wie Politiker und Militärs können wir eine schnelle Beendigung dieses grauenhaften Krieges anbieten. Es gibt keine Patentrezepte in einer durch Hochrüstung und Militär so verfahrenen und aufgeheizten Situation. Wir schlagen jedoch Formen zur Bewältigung des Konfliktes vor, die nicht zerstören und verfeinden, sondern Brücken bauen und auf Vertrauensbildung setzen. Was am Ende der Vietnam- oder der Afghanistan-Intervention stand, war für die Völker grauenhaft und perspektivlos. Das soll sich in Europa nicht wiederholen. Deshalb wollen wir mit der Form der nicht-militärischen Konfliktbewältigung eine lebbare Zukunft gleichsam mit vorbereiten.

Freilich wissen wir, die Menschheit ist tiefgreifend durch Jahrtausende zum militärischen Aufeinanderlosgehen sozialisiert. Nicht-militärische Konfliktbearbeitung ist weit weniger entfaltet worden. Unsere Vorschläge tasten sich deshalb oft unsicher, mit nur wenigen Erfahrungen ausgestattet vorwärts auf Neuland. Wir bitten und hoffen deshalb auf konstruktiv-kritische Begleitung in öffentlicher Diskussion.

Ein zentrales Element nicht-militärischer Konfliktbearbeitung besteht in der Vorbeugung. Im Fall Jugoslawiens wurde diese weitgehend versäumt. Vorbeugung gegen die Ausweitung des Konfliktes etwa nach Kosovo ist heute allerdings noch möglich und dringend. Ein weiteres Kriterium: Parteigänger mit Feindbildern können nicht Vermittler sein. Gerechtigkeit nach allen Seiten ist erforderlich. Auch wir müssen uns ändern!

Unseren Vorschlägen liegt die Annahme zugrunde, das Selbstbestimmungsrecht der Völker begründet nicht unbedingt, das Recht auf einen eigenen Staat, schon gar nicht ein Recht auf Vertreibung anderer Nationalitäten. Den rassistischen Nationalismus sehen wir im Widerspruch zu den Menschenrechten und zur Charta der Vereinten Nationen und lehnen ihn kategorisch ab. Trotzdem müssen wir davon ausgehen, daß die entstandene tiefgreifende Verfeindung die Wiederherstellung des Zustandes vor dem Ausbruch des Terrors nicht zulassen wird.

Im Hintergrund des jugoslawischen Konfliktes stehen nicht nur die Interessen der alten bürokratischen Herrschaftsklasse, sondern auch die enormen wirtschaftlichen Probleme dieser sich auflösenden sogenannten real-sozialistischen Staaten. Wer hier vermitteln will, muß eine Perspektive für die Zukunft weisen können, um Extremismus und Irrationalität bändigen zu können. Hier setzt unser Begriff der positiven Sanktionen an, also der Hilfsangebote unter Bedingungen. Würde man ernsthaft ein solches Instrument der Konfliktregulierung entwickeln, so wäre es nicht billig zu haben. Freilich allemal billiger als alle militärischen »Hilfen«, denen dann erst zur Bewältigung von Not die weit größeren wirtschaftlichen Unterstützungen zu folgen hätten.

Wir empfehlen, große Anstrengungen zur Bewältigung des Konfliktes im ehemaligen Jugoslawien zu unternehmen. Vielleicht gelingt es den europäischen Völkern und Staaten doch zu lernen und Instrumente zu entwickeln, um zukünftige Konflikte rechtzeitig zu entschärfen und auf produktive Wege der Konfliktbewältigung zu lenken.

Die hier vorgeschlagenen Elemente der Konfliktbearbeitung können nicht einzeln, sondern nur in ihrer Gesamtheit wirken. Durch sie soll eine komplexe Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Situation eingeleitet werden, die zu sozialem Lernen führt und deshalb veränderte Politiken ermöglicht.

Doch ehe ich beginne, noch einmal die Bitte, um konstruktive Kritik und um weitergehende Vorschläge. Lernen statt schießen ist unsere Aufgabe.

1. Konfliktbearbeitung auf der gesellschaftlichen Ebene

Die Politik der Interventionen im jugoslawischen Konflikt, sei es von internationalen Institutionen ausgehend wie UN, EG oder KSZE, sei es von den nationalen Regierungen, hat die diplomatische Ebene kaum verlassen. Die gesellschaftliche Ebene wurde in die Bemühungen um die Konfliktbeilegung nicht einbezogen. Letztere spielt jedoch eine enorme Rolle für den Verlauf des Konfliktes. Wir stellen deshalb diese »vernachlässigte Dimension« bewußt an den Anfang unserer Vorschläge.

1.1. Gegenöffentlichkeit: Die nationalistische Propaganda durchbrechen, um einen Freiraum für eigenständige Beurteilung der Ereignisse in den Gesellschaften zu ermöglichen

Mit dem Zusammenbrechen des bürokratischen, sogenannten real-sozialistischen Herrschaftssystems und der nationalistischen Neuorientierung der großteils alten Eliten hat eine systematische, entmündigende Propaganda eingesetzt, um die jeweils eigenen Gesellschaften der nationalistischen Politik der Verfeindung zu unterwerfen. Die neue nationalistische Ideologie wurde als Herrschaftsmittel zur Unterdrückung der Andersdenkenden und zur Absicherung der eigenen Privilegien verwendet und hat heute zweifellos Teile der Gesellschaften erfaßt. Dieser Herrschaftsmechanismus kann von außen her ganz wesentlich in Frage gestellt werden. Dementsprechend ist ein möglichts umfassendes System der Aufklärung, Information und Interpretation zu errichten und wirksam zu betreiben. Die enorme Überlegenheit des Westens in der Elektronik und Informationstechnologie ermöglicht sowohl eigene Sendungen auszustrahlen und gegen Störungen zu sichern als auch die Sendungen in bestimmten Bereichen so weitgehend zu stören, daß im gestörten Bereich ein Informationschaos ausbricht. Es ist unverantwortlich über Miltärinterventionen zu spekulieren, wenn die naheliegenden Möglichkeiten der geistigen Intervention nicht bedacht werden.

Die Herstellung von Gegenöffentlichkeit darf nicht als Propaganda-Krieg im Sinne psychologischer Kriegsführung betrieben werden, sie muß vielmehr von Gerechtigkeit gegenüber allen Seiten getragen sein. Um ein Beispiel zu geben: Wer heute vom Bosnien-Krieg spricht, darf über die serbisch-kroatische Komplizenschaft bei der Aufteilung von Bosnien-Herzegowina nicht schweigen. Es geht also keinesfalls um anti-serbische Propaganda, sondern um menschenrechtlich angeleitete Information und um das Aufzeigen von Schritten, um den Krieg zu beenden: Schritte für einzelne, für die Gesellschaften, für die Regierungen.

1.2. Den Anti-Kriegsgruppen in den jugoslawischen Folgerepubliken international Gehör verschaffen und sie durch Öffentlichkeit schützen

Als Gegenkraft zu dem ethnisch-nationalistischen Chauvinismus der Herrschenden haben sich sehr schnell in den jugoslawischen Folgerepubliken Antikriegsgruppen herausgebildet, die gleichzeitig ein wichtiges Element demokratischer Opposition repräsentieren. Sie verkörpern die Kräfte, auf die sich die Hoffnung richten muß, aus der Gesellschaft heraus den militaristisch-terroristischen Nationalismus zu überwinden. Die deutsche und europäische Friedensbewegung hat seit Beginn der Konflikte diese Gruppen systematisch unterstützt, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Diese Unterstützung ist auszuweiten und durch eine systematische, internationale Öffentlichkeitsarbeit der Medien zu erweitern. Diese Kräfte müssen auch in die internationale Diplomatie mit einbezogen werden. Es geht nicht, daß die Völker des ehemaligen Jugoslawien allein durch die Organisatoren des Krieges und der Vertreibung repräsentiert werden.

1.3. Bürgerdiplomatie ausweiten und das Friedensgespräch der jugoslawischen Nationalitäten organisieren

Die »nationalistische Verzauberung« wurde im faschistischen Deutschland erst mit der totalen militärischen Niederlage aufgebrochen. Im gegenwärtigen Ex-Jugoslawien muß diese »Verzauberung«, die Teile der Gesellschaften erfaßt hat, so schnell wie möglich aufgelöst werden. Die wichtigsten Möglichkeiten hierzu sind das Gespräch zwischen den Nationalitäten auf allen Ebenen und einen engen Kontakt und Austausch mit BürgerInnen und Gruppen aus anderen Ländern zu organisieren. Dazu bieten sich folgende Arbeitsformen an:

  • Konstituierung eines Friedensforums außerhalb der Folgerepubliken. Ihm sollen bedeutende Repräsentanten und Persönlichkeiten angehören. Seine Aufgabe wäre es, Schritte der Entfeindung und eine Politik der Versöhnung zu entwickeln und nach außen zu vertreten.
  • Gemeinsame Zeichen setzende Aktivitäten unter Beteiligung von Menschen aus verschiedenen Republiken, Friedenscamps, Trainings und Seminaren.
  • Bildung von Städte- und Gemeindepartnerschaften, die möglichst bosnische, serbische und kroatische Gemeinden mit deutschen und anderen eurpäischen Städten bzw. Gemeinden zusammenbringen.
  • Zusammenbringen professioneller Verbände bzw. Arbeitszusammenhänge über Nationalitätengrenzen hinweg, gemeinsam wiederum mit deutschen und anderen europäischen professionellen Verbänden. Solche Dialogstrukturen sind auf möglichst viele Gebiete auszuweiten, also auch auf die gewerkschaftlichen, wirtschaftlichen, touristischen usw.
  • Die Förderung des interreligiösen Dialogs zwischen Moslems, Katholiken und Orthodoxen.

1.4. Die Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien in Deutschland gegen den Krieg zu Wort bringen

Obwohl sich viele Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die im Ausland leben, seit dem Ausbruch der Konflikte national definieren und identifizieren, haben sie doch kaum ein Interesse den Krieg zu fördern, soweit sie ihn nicht jeweils als Verteidigungskrieg interpretieren. Wenn sich auch teilweise Feindbilder von der jeweils anderen Nationalität im Ausland und besonders auch in Deutschland reproduzieren – als wäre man in Jugoslawien – so muß doch versucht werden, das Friedensinteresse der im Ausland lebenden Jugoslawen ins Spiel zu bringen. Dies kann befördert werden, wenn verdeutlicht wird, daß sich die Vorstellung einer Politik der ethnisch-nationalistischen Säuberungen auf die Auslands-Jugoslawen angewandt, unmittelbar auswirken müßte. Es ist daher in Deutschland eine Politik der Versöhnung der Nationalitäten hier lebender Jugoslawen zu entwickeln, deren Botschaften und Vorschläge gezielt in Ex-Jugoslawien zu verbreiten sind.

1.5. Insbesondere in Deutschland ist die eigene parteiische Berichterstattung, als kämpften wir wieder gegen die Serben, zu korrigieren

Eine glaubwürdige Vermittlung kann nicht gleichzeitig auch parteiisch sein, außer sie ist parteiisch zu Gunsten von Menschen- und Minderheitenrechten und für den Frieden. Insbesondere die deutsche öffentliche Medienlandschaft verhält sich so, als sei die Bundesrepublik an der Seite Kroatiens im Krieg mit Serbien. Das führt zu Ausblendung von Informationen. Warum gibt es in der deutschen Öffentlichkeit z.B. kaum systematische Auswertungen der Berichte des Generalsekretärs der UNO zum bosnischen Krieg oder der Dokumente des Internationalen Roten Kreuzes. Die täuschende Berichterstattung vom Golf-Krieg muß uns eine Warnung sein. Schneidige Gesinnungspublizistik ist in friedenspolitischem Bemühen fehl am Platze, ebenso der Aufbau von Feindbildern. Glaubwürdigkeit in der Kritik und der menschenrechtlichen Anforderung ist nur zu gewinnen, wenn mit gleichen Maßstäben gemessen wird, wenn negative und positive Aspekte auf allen Seiten benannt und analysiert werden.

2. Menschen-, Nationalitäten- und Minderheitenrechte

In den kriegerischen Auseinandersetzungen beschuldigen sich die Seiten wechselseitig der Verbrechen. Dabei wird unter der Hand eine Haltung eingenommen, als ließen sich die eigenen Verbrechen mit denen der anderen aufrechnen oder gar rechtfertigen. Um diesen Zirkel zu durchbrechen, ist das Prinzip Gerechtigkeit und Gleichheit der Verantwortlichkeit gegenüber allen Beteiligten am Krieg sehr wichtig. Unilaterale Angebote der Verbrechensuntersuchung mit internationaler Begleitung können eine Situation einleiten, in der die andere Seite entsprechende Untersuchungswünsche nicht ohne Gesichtsverlust auf Dauer ignorieren kann. Argumente der Rache sind nicht zu tolerieren.

Wesentliche Elemente der Durchsetzung sind, die abschreckenden Folgen von Verstößen gegen die Rechte verbindlich festzulegen, allgemein bekannt zu machen, wo möglich exemplarische Prozesse zu betreiben, die Regierungen zu unilateralen Schritten zu veranlassen und mit einer systematischen Erfassung und Veröffentlichung von Verbrechen zu beginnen.

2.1. Minderheitenrechte überall gleichermaßen durchsetzen

Durch den Terrorismus ist die Verfeindung zwischen den Nationalitäten groß. Glaubwürdigkeit und Überwindung von Angst ist nur möglich, wenn alle Seiten mit gleichen Maßstäben gemessen werden. Es ist deshalb auch bei den nahestehenden Republiken – wir nennen ausdrücklich Kroatien als ein Schlüsselland in dieser Hinsicht – auf die strickte Verwirklichung von großzügigen Minderheiten-, Nationalitäten- und Bürgerrechten auch und ausdrücklich für serbisch-stämmige Einwohner zu sorgen. Diese gesetzlich festzulegen und öffentlich in der Durchsetzung zu verifizieren, bedeutet die Wiederherstellung von Vertrauen in unilateraler Herangehensweise, d.h. in dem die Ansprüche an jede Seite unabhängig vom Verhalten der jeweils anderen Seite gestellt werden. Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn mit einer solchen Politik von dem Gedanken nach Rache und Vergeltung abgegangen wird. Selbstverständlich sind nicht nur Kroatien sondern alle anderen Republiken entsprechend aufzufordern.

2.2. Bevölkerungsaustausch ist nur in Frieden und freiwillig zulässig

Die UN, die KSZE und möglichst viele andere Organisationen, aber auch Staaten, bekennen sich bzw. betonen erneut den Grundsatz, daß die BürgerInnen einer Gesellschaft unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft und ihres religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses die gleichen Rechte in einer Gesellschaft haben. Eine rassische Diskriminierung widerspricht den Menschenrechten und den Grundsätzen der UN. Sie kann nicht hingenommen werden. Ein Bevölkerungsaustausch, aus welchen Gründen auch immer, darf nur unter dem Vorzeichen der tatsächlichen freiwilligen Vereinbarungen, unter Bedingungen, die eine freie Entscheidung ermöglichen und bei voller Entschädigung für zurückbleibendes Eigentum und für die Mehrkosten der Neuansiedlung erfolgen. Unter anderen Bedingungen erfolgte Vertreibung von Menschen wird international nicht anerkannt, Eigentums- und Entschädigungsansprüche werden hier von der Verjährung deshalb ausgenommen. Dies gilt auch gegenüber den Vertreibern als Personen, wie gegenüber allen späteren Nutzern der zurückgelassenen Güter. Die Ansprüche der Vertriebenen sind auch dem Vertreiberstaaten und seinen etwaigen Nachfolgegebilden als unmittelbar fällige Schuld anzulasten. Den Vertreiberstaaten werden aufgrund der Ansprüche der Vertriebenen alle zugänglichen Mittel und Guthaben beschlagnahmt, soweit es die Befriedung der Ansprüche der Vertriebenen erforderlich macht.

2.3. Das Prinzip der persönlichen und institutionellen Verantwortlichkeit unmißverständlich deutlich machen

Dieses Prinzip ist in jüngster Zeit immer wieder unterstrichen worden. Offen ist jedoch die Frage, ob man bereit ist, es auch anzuwenden. Eine Dokumentation über Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen in einem Zentralregister der UN oder anderer geeigneter Institutionen muß jetzt angelegt, die Zuständigkeit eines internationalen Strafgerichtshofes geklärt und Verfahren gegen Täter bereits jetzt eingeleitet werden, damit allgemein begreiflich wird, daß sich Mord und Vertreibung in einer solchen Situation nicht außerhalb der Menschenrechtscharta abspielen. Für die Vertreibung und Vernichtung der bosnischen Muslime ist die UNO-Völkermord-Konvention vom 9. Dezember 1948 anzuwenden, nach der auch regierende Personen und öffentliche Beamte zur Rechenschaft gezogen werden können. Dies trotz des Dilemmas, daß Teilnehmer internationaler Konferenzen Immunität genießen.

2.4. Die systematische Erfassung von Verbrechensinformationen

Die UN richten eine Behörde ein, die alle Verbrechen gegen die Menschenrechte sammeln. Zur Mitarbeit wird die Bevölkerung aller Republiken aufgefordert. Möglicherweise sind Fahndungen herauszugeben und Prozesse rechtsstaatlichen Prinzipien folgend anzustrengen. Exemplarische Fälle sind zur Herstellung des öffentlichen Verständnisses bekannt zu machen.

An die Regierungen der Republiken richten die Vereinten Nationen die Aufforderung, Menschenrechtsverletzungen unter internationaler Beteiligung gerichtlich zu verfolgen.

2.5. Vertreibung und Terror in UN-Blauhelm-verwalteten Bereichen dürfen nicht toleriert werden

Die Politik der ethnischen Verteibung bzw. Homogenisierung ist menschenrechtlich und nach den Prinzipien der UN unzulässig. Die Glaubwürdigkeit der UN kann nur erhalten werden, wenn eine solche Politik in den UN-Blauhelm verwalteten Gebieten rigoros unterbunden und diejenigen, die sie betreiben, gerichtlich verfolgt werden. Die UN muß bereits in diesem konkreten Zusammenhang erklären, daß sogenannte freiwillige Verzichtserklärungen von Personen, ihre Heimat zu verlassen und ihr Eigentum »freiwillig« aufzugeben, nicht als rechtmäßig anerkannt, sondern als Erpressung verfolgt werden. Gerichtszuständigkeiten und -verfahren sind anzugeben.

Der UN-Sicherheitsrat muß den Generalsekretär der UNO beauftragen, die Verwaltungs- und Polizeihoheit in den von Blauhelmen kontrollierten Zonen zu übernehmen, um so Versuche der ethnischen Säuberungen in diesen Gebieten zu unterbinden.

2.6. Bei der Inspektion von Lagern, sowie der Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen und Vertreibungen sind alle Seiten zu beteiligen

Für die Ermittlung von Internierungs- und Gefangenenlagern sind der UN die technischen Möglichkeiten wie Satellitenaufklärung und AWACS-Beobachtungen von den Mitgliedsstaaten zur Verfügung zu stellen.

Eine Dauerpräsenz von UN-Beobachtern in den Gefangenenlagern aller Seiten und eine Übernahme der medizinischen und Lebensmittel-Versorgung z.B. durch das Internationale Komitee des Roten Kreuzes würde Folter, Mord und Hungertod dort beenden. Gegen eine vollständige Auflösung von Gefangenenlagern während der Kriegshandlungen könnte sprechen, daß es für die Kämpfer aller Seiten Gelegenheit geben muß, sich u.a. durch Ergeben der weiteren Teilnahme am Morden zu entziehen.

Zur Inspektion von Lagern und der Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen und Vertreibungen sind jeweils auch Repräsentanten der anderen Seite hinzuzuziehen.

3. Dem Krieg systematisch den Boden entziehen

Offensichtlich gibt es nicht den Generalschlüssel zum Frieden in ehemals jugoslawischen Ländern. Viele Schritte und Herangehensweisen sind erforderlich, um nationalistische Verblendung, Haß und Rachegefühle, Banditentum und partikularistische Interessen, die auf Kosten anderer verfolgt werden, zu überwinden. Vorbeugung gegen eine Konfliktausweitung ist nach wie vor groß zu schreiben. Die folgende Aufzählung von Schritten kann sicher noch ergänzt werden.

3.1. Das Embargo durchsetzen

Eines der wichtigsten Instrumente nicht-militärischer Konfliktbearbeitung ist die Verweigerung von Kooperation und Sanktionen bis hin zur gezielten Beschränkung von Im- und Exporten. Das von der UN verhängte Embargo gegenüber Serbien-Montenegro ist ein solches Instrument, bleibt jedoch unwirksam, wenn es unterlaufen wird. Sanktionen dienen zielgerichtet der Erzwingung eines Verhaltens gemäß der UN-Charta und sind nicht Ausdruck einer einseitigen Parteinahme der Völkergemeinschaft für eine Konfliktpartei. Abgestufte Sanktionen müßten z.B. auch gegen Kroatien erwogen, angedroht und verhängt werden, wenn dort Minderheitenrechte systematisch verweigert werden.

Das Embargo hat sich gegen die Kriegsführung zu richten, nicht gegen die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten. Es kann sich auch gegen Exporte richten, um Deviseneinnahmen der Regierung zu beschränken. Ein Embargo kann erhebliche Auswirkungen auf andere Länder haben. Die wirksame Durchsetzung des Embargos erfordert deshalb, daß von der Weltgesellschaft ein Lastenausgleich für die Verluste übernommen wird. Traditionellen Lieferländern von Jugoslawien, die gegenwärtig das Embargo ignorieren, ist bei strikter und kontrollierter Einhaltung des Embargos eine angemessene Entschädigung anzubieten. Sind sie unter diesen Bedingungen nicht bereit, sofort das Embargo einzuhalten, muß gegen sie selbst zu Einschränkungen gegriffen werden.

Die jeweiligen Heimatstaaten sind verantwortlich für die Verfolgung von Verstößen gegen das Embargo durch Firmen oder einzelne Täter. So müssen z.B. das Embargo brechende Schiffe im Heimathafen festgesetzt bzw. von ihrer Regierung zur Fahndung ausgeschrieben werden. Die Ahndung erfolgt auf diese Weise auf polizeilicher und strafrechtlicher Ebene unterhalb der Schwelle militärischen Eingreifens und – bei Staaten – durch Sanktionen. Eine unabhängige Schiedskomission der UNO sollte – von allen durch Meldungen unterstützt – Embargoverstöße feststellen und je nach Gewicht der Verstöße abgestufte Sanktionen festlegen.

3.2. Die wichtige Aufgabe der UN-Blauhelme heißt Deeskalation, Betreuung humanitärer Aufgaben, Beobachtung und Information

Deeskalation von Konflikten, das ist die zentrale Richtlinie für die Arbeit der Blauhelme. Deshalb wenden wir uns auch gegen eine Beteiligung der großen Mächte an Blauhelmaktionen, da diese sehr viel leichter in Eskalationssituationen, also Situationen der Ausweitung militärischer Konflikte geraten können. Dies ist unser Vorbehalt auch gegen deutsche Blauhelm-Kontingente.

Trotz aller Rückschläge sind die Bemühungen um Waffenstillstandsvereinbarungen, um freiwillige Entwaffnungen und die Überstellungen schwerer Waffen und um die Überwachung vereinbarter Korridore für humanitäre Lieferungen fortzusetzen. Wo sinnvoll, ist das Blauhelm-Kontingent für diese Aufgaben aufzustocken. Alle diese konstruktiven Aufgaben wären gefährdet, wenn über die persönliche Selbstverteidigung hinaus, das Mandat der Blauhelme oder anderer ausländischer Interventionstruppen zu Kampfmaßnahmen ausgeweitet würde.

3.3. Die Flughäfen in Serbien/Montenegro kontrollieren

Belgrad beteuert immer wieder, sich nicht am Krieg in Bosnien zu beteiligen. Diese Beteuerung muß positiv aufgegriffen und mit der Forderung verbunden werden, diese Haltung durch Kontrollen der Flughäfen und Grenzen zu verifizieren. Würde diesem Verlangen nicht entsprochen müßte Serbien/Montenegro voll für die Kriegshandlungen in Bosnien-Herzegowina mit verantwortlich gemacht werden.

3.4. Teilbereiche in Bosnien-Herzegowina zu befriedeten Gebieten machen und durch Blauhelme kontrollieren

Angesichts der Verfeindung durch den vorgängigen Terror und bei der höchst gemischten Besiedlung in vielen Teilen des Landes ist vorbeugende Entspannung der Situation angezeigt. Durch Verhandlungen der UN könnten regionale befriedete Gebiete ausgewiesen werden, in denen beobachtend und kontrollierend Blauhelm-Kontingente, möglicherweise auch andere UN-Kontingente mit speziellen Ausbildungen und Fähigkeiten, stationiert werden. Regionen könnten auch den Antrag stellen, einen solchen Status zu erhalten, wenn interne Einigungsprozesse die Voraussetzungen dafür bieten. Die UN-Autoritäten sollten in solchen Gebieten auch Ombuds- und Vermittlungsfunktionen übernehmen.

3.5. Aufruf, sich dem Krieg zu entziehen

Unter Hinweis auf die Charta der Vereinten Nationen ist von den UN aufzurufen, sich nicht an dem Krieg zu beteiligen und sich dem Krieg zu entziehen, wo dieser auf Eroberung und Vertreibung von Menschen abzielt. Solchen Verweigerern des Kriegsdienstes ist Hilfe und Asyl außerhalb ihrer Heimatländer anzubieten.

Dementsprechend ist jegliche friedensvertragliche Regelung mit der Forderung zu verbinden, diese Verweigerer nicht zu verfolgen und nicht zu bestrafen, sowie ihnen die unbeschränkte Rückkehr in ihre Heimat zu gewähren. Über eine Registrierung solcher Verweigerer durch die UN ist die Einhaltung dieser Forderung sicherzustellen.

3.6. Dem Übergreifen des Krieges auf weitere Bereiche vorbeugen

Vorbeugende Konfliktbearbeitung ist das wichtigste Element, um eine nicht-militärische Bewältigung von Konflikten zu organisieren. Diese Erkenntnis ist in Jugoslawien sträflich vernachlässigt worden. Die Strafe müssen gegenwärtig die Menschen in Form der militärisch-terroristischen Auseinandersetzung erleiden. Auch die Warnungen vor dem bevorstehenden Konflikt in Bosnien-Herzegowina bewirkten nicht eine rechtzeitige, vorbeugende Zuwendung der internationalen Gemeinschaft. Gegenwärtig sind drei wichtige konfliktträchtige Bereiche auszumachen: der Kosovo, Mazedonien und der Sandjak. Allerdings wird auch in der Vojvodina eine Politik der Verdrängung der vielfachen Minderheiten betrieben. Für alle genannten Bereiche ist eine differenzierte und jeweils angemessene vorbeugende, nicht-militärische Konfliktverhütungspolitik zu entwickeln. Hier sind nur wenige Bemerkungen zur Kennzeichnung der Problematik möglich.

3.6.1. Kosovo

Der Kosovo hatte einen Autonomie-Status im Rahmen des serbisch-jugoslawischen Teilstaates. Er ist auf Betreiben der jetztigen serbischen Führungseliten aufgehoben worden. Der Kosovo ist zu mehr als 90% von Albanern bewohnt. Nach schweren Konflikten, die von der Bevölkerung meist gewaltfrei geführt wurden, hat diese eine autochthone Regierung gebildet, die von Belgrad nicht anerkannt wird. Das benachbarte Albanien ist nicht gleichgültig gegenüber der Unterdrückung seiner Landsleute in Serbien. Jederzeit kann, besonders wenn der Bosnien-Krieg beendet ist, dort ein neuer Konfliktherd entstehen.

Für den Kosovo muß eine Lösung angestrebt werden, die einerseits die berechtigten Selbstbestimmungsansprüche der Albaner und andererseits die enge historische Bindung Serbiens an dieses Gebiet berücksichtigt. Dabei interpretieren wir den Begriff Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht als einen selbstverständlichen Anspruch auf Eigenstaatlichkeit, wenn innerstaatlich ausreichende Autonomie- und Mitbestimmungsrechte gewährt werden

3.6.2. Mazedonien

Fast 70% Mazedonier und fast 20% Albaner bewohnen diese Republik. Sie wurde von den EG-Staaten bislang nicht anerkannt, da Griechenland gegen den Namen Mazedonien protestiert und befürchtet, Mazedonien könne Ansprüche auf griechische Territorien erheben. Die Albaner haben z.T. separatistische Tendenzen. Sie siedeln in der Nachbarschaft zum Kosovo und zu Albanien. Wenn die Zugehörigkeit eines autonomen Kosovo zu Serbien unterstützt wird und angesichts der wirtschaftlichen Misere von Albanien, werden separatistische Neigungen der mazedonischen Albaner zurücktreten, wenn ihnen angemessene Minderheitenrechte eingeräumt werden. In diesem Sinne ist auf die Regierung einzuwirken und Gespräche zwischen den Volksgruppen in Verbindung mit dem Angebot umfassender Wirtschaftshilfe zu vermitteln und zu begleiten. Im Rahmen der EG ist auf eine schnelle Lösung des Anerkennungsproblems zu drängen. Eine baldige Mazedonien-Konferenz, die die Perspektive des Landes thematisiert, ist vorzubereiten. Die Anrainer-Staaten, selbstverständlich auch Serbien, Bulgarien und Griechenland sind zu beteiligen.

3.6.3. Sandjak

Sandjak ist die Bezeichnung für eine Region die etwa zu 2/3 in Serbien und zu 1/3 Drittel in Montenegro nördlich von Kosovo liegt. Von den etwa 350.000 Bewohnern sind mehr als die Hälfte Moslems. Angesichts des Krieges von Serben gegen Moslems in Bosnien-Herzegowina ist die Situation angsterfüllt, der Krieg könne auch in den Sandjak übergreifen. Die serbische Regierung ist aufzufordern, ihre Bereitschaft zur Förderung gutnachbarschaftlicher Beziehungen der Menschen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisse und Kulturen zu versichern, und daß sie jedem Versuch zur Störung des Zusammenlebens mit rechtsstaatlichen Mitteln unter Achtung der Menschenrechte und Minderheitenrechte entgegentreten wird. Die Entsendung von Beobachtern in das Gebiet ist zu vereinbaren, die Einrichtung einer Schlichtungsstelle vorzuschlagen.

3.6.4. Vojvodina

In der Vojvodina leben Serben (ca. 54%), Ungarn (ca.20%), Kroaten und viele andere Volksgruppen. Auch hier besteht die Gefahr ethnischer Konflikte. Die Vertreibung von Kroaten, anscheinend auch von Ungarn hat schon begonnen. Die Wiederherstellung der Autonomie, die der Vojvodina genauso wie dem Kosovo vor wenigen Jahren genommen wurde, könnte die Spannungen reduzieren helfen. Auch hier müßte internationale Beobachtung und Vermittlung organisiert werden.

4. Ansatzpunkte auf der politisch-diplomatischen Ebene

Das Verhalten der UN, aller vermittelnder Institutionen und der Mitgliedsstaaten muß sich konsequent an der UN-Charta und den Menschenrechten orientieren und in diesem Sinne auch berechenbar sein. Eine nur selektive Geltung solcher Werte würde die Glaubwürdigkeit von Vermittlungsversuchen untergraben.

4.1 Stimmrecht entziehen, aber im Dialog bleiben

Der Abbruch von Beziehungen zu Staaten, welche die Menschenrechte schwer verletzen, treibt diese in Isolation und oftmals in gesellschaftliche »Trotzreaktionen«. Das Ziel internationaler Politik im Sinne von Weltinnenpolitik muß jedoch sein, auch bei politischer Entgleisung eine »Resozialisierung« zu erreichen, so daß Staaten sich (wieder) den Prinzipien und der Charta der Vereinten Nationen entsprechend verhalten. Dementsprechend ist der volle Abbruch der Beziehungen disfunktional. Vielmehr müssen solchen Staaten die Vorrechte aus einer Mitgliedschaft in internationalen Organisationen und vor allem ihr Stimmrecht entzogen werden, ohne daß sie die Möglichkeit verlieren, an dem Dialog der jeweiligen Mitglieder teilzuhaben.

4.2. Dem Volk der Serben die Tür nach Europa und in die internationale Gemeinschaft offen halten

Nach dem Verblassen des kommunistischen und kapitalistischen Feindbildes durch die Beendigung des Ost-West-Konfliktes entstehen rasant neue Feindbilder wie »Die Serben«. Feindbilder sind falsche Bilder. Sie erfassen nicht die ganze Realität, sie fördern Vorurteile und verhindern Einsichten in Veränderungen. Sie pauschalisieren, und setzten gar ein ganzes Volk mit Terroristen gleich. Sie verdecken, wie sehr ein großer Teil der Serben den Krieg ablehnt, sich dem Militär verweigert und selbst zum Opfer ethnisch-nationalistischer Demagogie im Rahmen der Auflösung der bisherigen Gesellschaftsordnung geworden ist. Deshalb muß die Staatengemeinschaft dringend erklären : Das serbische Volk ist in Europa willkommen. Alle Schritte richten sich gegen diejenigen Kräfte, die Terror, Vertreibung und Menschenrechtsverletzung organisieren und praktizieren. Das serbische Volk ist aufzurufen, sich hiergegen zur Wehr zu setzen.

4.3. Die Bedingungen für die bereits vollzogene Anerkennung der jugoslawischen Republiken Kroatien und Slowenien ernsthaft einfordern

Die EG-Staaten haben bei ihrer, insbesondere von Deutschland vorangetriebenen Anerkennungspolitik Bedingungen, die zu erfüllen seien, um anerkannt zu werden, vorgelegt. Diese bezogen sich auf die Charta der Vereinten Nationen und insbesondere auf die Einhaltung der Menschenrechte und die Sicherung der Rechte von Nationalitäten und Minderheiten. Diese Anforderungen bilden auch Maßstäbe für die Beurteilung der serbischen und der montenegrinischen Politik. Sie müssen jedoch lediglich als Propagandawaffe erscheinen, wenn die EG-Staaten nicht die Einhaltung der Bedingungen durch Kroatien und Slowenien kritisch überwacht oder offensichtliche Verletzungen lässig beiseite schauend hinnimmt. Deshalb ist bei der EG, oder wenn dies nicht schnell möglich ist, bei den EG-Mitgliedsstaaten jeweils eine Institution zu schaffen, die erstens über die Einhaltung wacht, zweitens darüber öffentlich berichtet und drittens die Funktion eines Ombudsmannes übernimmt, so daß bei ihr Beschwerden zur Untersuchung von Verletzungen vorgebracht werden können.

4.4. Planungsstäbe und Institutionen für nichtmilitärisches Krisenmanagement als dauerhafte Institutionen aufbauen

Obwohl es immer eindeutiger erkennbar wird, daß militärische Mittel ungeeignet sind, die heutigen Konflikte problemlösend zu bearbeiten, gibt es doch riesige militärische Planungsbürokratien in den europäischen Ländern. Vergleichbare Planungsstäbe für nicht-militärische Konfliktbearbeitung gibt es dagegen nicht. Ihr Fehlen hat ganz wesentlich zu der mangelhaften ausländischen Vermittlungsarbeit im Fall Jugoslawien beigetragen, der fast alle Elemente nicht-militärischer, friedensfördernder Intervention fehlten. Diesem Mangel ist abzuhelfen. Entsprechende Institutionen mit den erforderlichen Kompetenzen sind einzurichten, und zwar in einer Weise, die es erlaubt die vielfältigen Ebenen einer solchen problemlösenden Friedensförderung angemessen zu bearbeiten und miteinander in Verbindung zu bringen.

Darüberhinaus – dies kann hier nur angedeutet werden – ist es dringend erforderlich, kompetente Institutionen, Verfahren und Entscheidungsstrukturen zu schaffen, die sich vorbeugend und aktuell der nicht-militärischen Krisenbearbeitung in Europa widmen können. Die bisherigen Einrichtungen und Regelungen bei der KSZE entsprechen nicht den Erfordernissen.

4.5. Das Instrument positiver Sanktionen (Anreize für Frieden und Kooperation) entwickeln und einsetzen

Obwohl unser Denken traditionell mehr auf bestrafen »Schuldiger« ausgerichtet ist, erfordert nicht-militärische Konfliktbearbeitung gerade auch positive Sanktionen, die gute Entwicklungswege eröffnen sollen. Sie dürfen allerdings nicht bedingungslos eingeräumt werden, sondern sind stets an Verhaltensauflagen gebunden: Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte, Gewährung von Minderheiten- und Autonomierechten, Beendigung von Vertreibung und Wiedergutmachung usw. Positive Sanktionen müssen so konzipiert sein, daß sie von den Republiken, die sich auf die Bedingungen einlassen, wahrgenommen werden können, selbst wenn andere Republiken noch nicht dazu bereit sind. So entstünde eine erhebliche Sogwirkung, insbesondere wenn die Angebote sich rasch auf die Lebensbedingungen der Menschen auswirkten. Um diese Wirkung zu unterstreichen, ist auch eine zeitliche Begrenzung oder zeitlich-stufenweise Angebotsminderung einzubauen. Zum Gebiet positive Sanktionen gehört auch die Prüfung einer Anerkennung Neujugoslawiens unter Bedingungen (Ende des Krieges, Autonomie in Kosovo, Minderheitenrechte, Amnestie für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, Zulassung internationaler Beobachter) und die Prüfung von wirtschaftlichen und politischen Integrationsmöglichkeiten des Balkanraumes.

4.6. Das Gespräch über die Neuordnung der ehemals jugoslawischen Gesellschaften und ihrer staatlichen Beziehungen beharrlich führen

Das Gespräch über die Neuordnung kann eine wesentlich, friedensstiftende Funktion haben, wenn dadurch angemessene Lebens- und Entwicklungsperspektiven für alle Länder und Gesellschaften erkennbar werden. Aus Traditionen abgeleitete Ansprüche können nicht der wichtigste Maßstab sein. Ausgehandelte Veränderungen müssen möglich sein. Das Beharren auf gewaltsamen Grenzverschiebungen und Ergebnissen einer ethnisch-rassistischen Vertreibungspolitik läßt keine Aufhebung negativer Sanktionen zu. Auch eine rassistische Apartheidspolitik kann nicht toleriert werden. Immer ist gegenüber jeder politischen Pragmatik daran zu erinnern, daß der Versuch, die Beziehungen zwischen Gesellschaften, Ethnien und Staaten im zerfallenden Jugoslawien neu zu gestalten, exemplarischen Charakter haben und exemplarische Fragen aufwerfen wird. Wer z.B. ethnische Kantonslösungen, wie die EG für Bosnien, vorschlägt, wird sich nicht wundern dürfen, wenn sich nationalistische Kräfte finden, die ethnische Mehrheitsverhältnisse mit Gewalt durchzusetzen trachten.

Positive Sanktionen sind grundsätzlich mit der Bereitschaft zu kooperativen Verhalten und der Annahme einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit zu verbinden. Sie sind ferner an bedeutende Abrüstungsschritte zu knüpfen. Eine Zone der Abrüstung, die möglicherweise über ehemals jugoslawische Lande hinausgeht, ist zu prüfen. Dagegen muß ein System kollektiver Sicherheit mit eingebauter Aufrüstungsdynamik grundsätzlich abgelehnt werden.

An den Gesprächen sind neben den Regierungen auch die Vertreter der »Zivilen Gesellschaften«, der Nationalitäten und Minderheiten zu beteiligen.

5. Humanitäre Hilfe

Den Flüchtlingen, Internierten und den von Hunger und Krankheit durch die kriegerischen Ereignisse Bedrohten muß geholfen werden. Das Argument, solche Hilfe nütze nur denjenigen, welche die »ethnische Säuberung« durch Vertreibung organisieren, ist falsch. Die gegenwärtigen terroristischen Praktiken der Vertreibung zeigen, daß diese ohne Rücksicht auf das spätere Schicksal der Menschen erfolgt – so oder so! Die notwendige Hilfe hat verschiedene Dimensionen.

5.1. Humanitäre Soforthilfe vor Ort

Städte sind eingezingelt, Gebiete von Zufuhr abgeschnitten, es besteht Seuchen-gefahr, für medizinische Erste Hilfe fehlen alle Mittel usw. Hier ist humanitäre Soforthilfe zu organisieren, auch in bislang unüblichen Formen: z.B. durch Abwerfen von Hilfsgütern, aber selbstverständlich auch in der bisher schon praktizierten Form der Erschließung von Zugangskorridoren in geduldigen Verhandlungen. Gerade diese Form ist nach wie vor von Bedeutung, um Elemente von Verhandlungen und Vetraglichkeit, die auf menschenrechtliche Prinzipien beruhen, in die kriegerische Auseinandersetzung einzuführen und um damit den Charakter des Krieges Stück für Stück zu verändern.

Eine Bewaffnung der Hilfsgütertransporte wäre falsch und wird abgelehnt, da erstens stets die Gefahr der militärischen Eskalation gegeben ist und zweitens die Versuche vertraglicher Vereinbarungen damit unterlaufen würden. Etwas anderes wäre es, wenn die Transporte zum Schutz gegen Räuber von der jeweiligen herrschenden Partei geschützt werden würde.

Ein Freikaufen von Durchgangsrechten für humanitäre Hilfe ist aus grundsätzlichen Erwägungen abzulehnen. Möglich ist es jedoch, humanitäre Hilfe auch den jeweils anderen anzubieten und in diesem Zusammenhang einen beschützten Zugang zu den ursprünglichen Hilfszielen auszuhandeln. Der Grundsatz müßte lauten: Humanitäre Hilfe erhält jeder, der diese nicht behindert.

5.2. Hilfe für Flüchtlinge im eigenen kulturellen Raum

Das Prinzip, Flüchtlinge im eigenen kulturellen Lebensraum zu belassen, unter der Voraussetzung, daß sie dort nicht bedroht sind und ausreichende Lebensbedingungen gesichert werden können, ist zu unterstützen. Bleibt den Flüchtlingen, nachdem sie ihre lokale Heimat aufgeben mußten, so doch eine zusätzliche Infragestellung ihrer kulturellen Identität erspart. Eine Aufnahme der Flüchtlinge in den benachbarten Ländern im ehemaligen Jugoslawien stellt jedoch eine große Belastung für diese relativ armen Gesellschaften dar, während die anderen europäischen Länder in der Aufnahme von Flüchtlingen entlastet werden. Eine solche im Prinzip, wie gesagt, sinnvolle Politik erfordert deshalb eine tatsächlich weitreichende finanzielle und materielle Hilfe für die Sicherung der Lebenssituation der Flüchtlinge aus den wohlhabenden europäischen Staaten. Staatliche und private Hilfen, die Übernahme von individuellen und Lagerpatenschaften wie auch die Organisierung von Freiwilligendiensten sind unabdingbar.

Da stets die Gefahr besteht, daß Flüchtlingslager zu dauerhaften Flüchtlingsghettos werden, ist nach der ersten Absicherung zu prüfen, in welcher Weise sozialintegrative, »entwicklungspolitische« Elemente der Flüchtlingshilfe hinzuzufügen sind. Damit ist auch gemeint, daß die zur Verfügung gestellten Mittel zur Ankurbelung und zur Beschaffung von Arbeitsplätzen im Aufnahmeland selbst verwendet und nicht einfach Güter importiert werden. Eine solche Politik könnte die Aufnahmebereitschaft erheblich stärken.

5.3. Aufnahme von Flüchtlingen im Ausland

Gerade in der aktuellen Situation des Krieges im ehemaligen Jugoslawien mit den enormen Flüchtlingszahlen und angesichts von medizinischer Versorgungsengpässe und des bevorstehenden Winters kann auf die vorübergehende Aufnahme von Flüchtlingen nicht verzichtet werden. Es wäre nicht nur ein Zeichen der Solidarität der reichen europäischen Länder, wenn sie nach angemessenen Quoten Menschen aufnehmen würden. Es würde auch die Bindung an humanitäre Werte dokumentieren. Sollte keine Einigung über Aufnahmequoten erreicht werden, schlagen wir die Festsetzung solcher Quoten, gewichtet nach Bruttosozialprodukt und Bevölkerungszahl der Länder vor. Die einzelnen europäischen Länder können dann einseitig ihre Quoten erfüllen, während die Nichterfüllung durch andere Länder öffentlich gemacht werden kann.

5.4. Flüchtlingsaufnahme in Deutschland

Unabhängig von allen Quoten hat Deutschland aufgrund seiner schweren historischen Schuld gegenüber Jugoslawien im Weltkrieg II eine besondere Verpflichtung, den Menschen und Völkern dort beizustehen. Bürokratische Beschränkungen, wie sie die Bundesregierung gegenüber den bosnischen Flüchtlingen verhängt hat, zeugen von einer unfassbaren historischen Verantwortungslosigkeit. Dagegen gibt es eine Welle der Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung. Aufnahme von Flüchtlingen hier und Freiwilligenarbeit vor Ort bedürfen allerdings staatlicher Rahmenbedingungen und finanzieller Stützung, um sie tragfähig und wirksam zu gestalten. Die Glaubwürdigkeit deutscher Politik ist an der Hilfe Deutschlands für die Menschen und Gesellschaften in den jugoslawischen Landen zu messen.

Im Auftrag und in Diskussion mit dem Netzwerk-Friedenskooperative ausgearbeitet von Andreas Buro. Kontakt: Netzwerk Friedenskooperative, Römerstr. 88, 5300 Bonn 1