Krieg den Drogen

Krieg den Drogen

Militärische Lösung eines sozialen Problems?

von Ingo Ruhmann

Der Krieg zur Durchsetzung politischer Interessen hat seit der Besetzung Kuweits durch den Irak und dem Golfkrieg zur Beendigung derselben wieder das Zentrum der politischen Bühne eingenommen. Während viel über die Hintergründe und Folgen dieses Krieges debattiert wird, gerät außer Acht, wie stark die Administration des US-Präsidenten Bush auf das Militär zur Lösung von Problemen und Konflikten setzt und gesetzt hat. Dieser Beitrag zeigt auf, wie weit die Bush-Administration gewillt ist, das Militär nicht nur zur Lösung politischer, sondern auch sozialer Probleme einzusetzen.

Am 20. Dezember 1989, 13 Monate vor Beginn des Golfkrieges, überfiel das größte Marihuana-Anbauland der Erde, die USA, Panama unter dem Vorwand, den Drogenhandel des panamaischen Staatschefs Manuel Noriega unterbinden zu wollen. Diese bis dahin größte Militäraktion seit dem Vietnam-Krieg war die erste Runde in einem Krieg, auf den sich das US-Militär technisch und organisatorisch intensiv vorbereitet: den Krieg gegen Drogen. Speziell für diesen Drogenkrieg hat das US-Verteidigungsministerium, das Department of Defense (DoD), ein neues Forschungs- und Entwicklungsprogramm vorgestellt, an dessen Ende die Integration der Ressourcen von Polizei, Geheimdiensten und Militär steht. Die internationale Bekämpfung des Drogenhandels gerät so zu einem Vehikel, um die Grenzen zwischen Polizei, Geheimdiensten und Militär zu verwischen und diese Organisationen operational und technisch miteinander zu verschmelzen.

Die USA und Drogen

Der Mißbrauch von Drogen ist für die USA eines der gravierendsten sozialen Probleme. Dabei sind die USA sowohl von der Schwere des Problems als auch von der moralischen Einstellung dazu nicht einfach mit europäischen Standards zu vergleichen. Ihr besonderes Verhältnis zu Rauschmitteln aller Art haben die USA nicht erst mit der Alkohol-Prohibition von 1920 bis 1933 unter Beweis gestellt. Auch die Anti-RaucherInnen-Kampagnen oder der vor einiger Zeit öfter diagnostizierte Worcaholismus zeigt die Aufmerksamkeit gegenüber verschiedensten Formen des Suchtverhaltens in den USA. Der Konsum von halluzinogenen und aufputschenden Drogen ist in den USA nach den meisten Untersuchungen trotzdem signifikant höher als in vergleichbaren Industrieländern. Obwohl bei der Betrachtung der Folgen vor allem die durch Crack-Handel und -Konsum hervorgerufenen schweren sozialen Probleme in den Ghettos der amerikanischen Großstädte in den Mittelpunkt gestellt werden, wird allzuleicht vergessen, daß eine ebenso bedeutende KonsumentInnengruppe Mittelschicht-KonsumentInnen sind, die durch Drogen eine Leistungssteigerung bei ihrer Arbeit oder ein Abschalten davon erreichen wollen: 69% aller KokainkonsumentInnen sind durchaus gutsituierte Weiße1.

Für Problemlösungsansätze, die diese Probleme durch soziale Hilfestellungen angehen wollen, ist jedoch eine fehlende Finanzierung chronisch. Dies gilt für Therapie-Einrichtungen ebenso wie für urbanen Wohnungsbau und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, aber auch – in den Jahren der Reagan-Administration – für die Bundesgefängnisse und die Behörden zur Drogen-Repression. Erst im Präsidentschafts-Wahlkampf 1988 wurde der »Drogen-Krieg« zum Thema. Im Mai 1988 versuchte der republikanische Senator D'Amato durch ein vom Senat und Repräsentantenhaus verabschiedetes Gesetz, das US-Militär zum Eingreifen im Drogen-Krieg zu zwingen. Der simple Anspruch des Repräsentantenhauses war, den Drogenschmuggel durch das Militär binnen 45 Tagen unterbinden zu lassen2. Das Militär weigerte sich zu diesem Zeitpunkt noch mit dem Argument, Strafverfolgung sei in einem demokratischen Staat eine Funktion ziviler Stellen.

Präsident Bush legte ein eigenes Anti-Drogen-Programm vor und gründete 1988 das Office of National Drug Control Policy (ONDCP). Im April 1989 installierte er als Koordinator für die verschiedenen Behörden zur Drogenbekämpfung den als »Drogen-Zar« bezeichneten William Bennett. Ihm ging es in einem ersten Schritt darum, die sich gegenseitig bekämpfenden zivilen Behörden zur Zusammenarbeit zu bewegen, das Militär sollte sich auf Luftaufklärung durch AWACS-Luftüberwachungsflugzeuge in der Karibik beschränken.

Drogen-Krieg und das Militär

Mit dem Ende des Kalten Krieges sahen sich die US-Militärs gezwungen, nach neuen Aufgaben Ausschau zu halten. Bereits Mitte 1989 wurden aufgrund einer Präsidenten-Direktive Militärberater nach Bolivien, Peru und Kolumbien entsandt. Die zur Durchsetzung strategischer Interessen der USA durchgeführte und mit dem Drogenhandel begründete Strafaktion gegen Panama gab dem DoD in den Debatten um Etatkürzungen zum richtigen Zeitpunkt eine dringend benötigte neue Existenzberechtigung. Schon im Januar 1990 – kaum einen Monat nach dem Panama-Überfall – sandte die US-Navy zur besseren Überwachung des Luft- und Seeverkehrs eine Flugzeugträger-Gruppe vor die Küste Kolumbiens3.

Die Aufgaben des DoD im Drogen-Krieg wurden schließlich erweitert und im National Security Strategy Report von Präsident Bush vom 20.3.1990 dargelegt: „Die erste Verteidigiungslinie gegen den illegalen Fluß von Drogen ist in den Ländern, in denen illegale Drogen produziert und verarbeitet werden. (…) Eine zweite Verteidigungslinie beinhaltet die Stationierung von Elementen der U.S.-Streitkräfte, um den Transport von Drogen bis zur U.S.-Grenze zu entdecken und überwachen“ 4. Damit ist ein gravierendes soziales Problem reformuliert in ein Problem der Außen- und Militärpolitik.

Zur Überwachung des Luft- und Seeverkehrs kam also die direkte Bekämpfung des Drogenproduktion und -verarbeitung vor Ort hinzu. Dazu entwickelt das U.S. Southern Command in Panama City in seinem Counternarcotics Operation Center seit Mitte 1990 Eingreifpläne für „simultane (regionale) Attacken, um die gesamte Infrastruktur des Kartells zu treffen“ 5.

Diese neuen politisch-strategischen Ziele machten den Militärplanern Defizite in der Umsetzung ihrer neuen Aufgaben deutlich. Für das Lokalisieren getarnter Anbauflächen, die Operationen kleiner Drogen-Labors, die Bewegungen der Drogenhändler in unwegsamem Dschungel und die Überwachung ihrer Transporte ist das Militär schlecht gerüstet. Als Lösung fielen die Militärplaner auf die Weiterentwicklung der technischen Mittel zurück, die bereits im Vietnam-Krieg zur Überwachung der Nachschubbewegungen auf dem Ho-Tschi-Minh-Pfad eingesetzt wurden: ein Netz aus hochempfindlicher Sensorik und modernste Informations- und Kommunikationstechnik zur Übermittlung und Verarbeitung der dabei anfallenden Daten. Damit wurde das Drogenproblem ein zweites Mal reformuliert: Aus einem militärpolitischen ist nun ein technisches Problem geworden.

Diese technische Lösung eines sozialen Problems macht in den Augen der Militärs ein großes Forschungs- und Entwicklungsprogramm notwendig, von dem nicht nur sie, sondern auch erstmals zivile Behörden wie U.S.-Zoll, FBI und die Drogenbekämpfungs-Behörde Drug Enforcement Agency (DEA) profitieren sollen. Während für die Behandlung von Drogenabhängigen in den nächsten Jahren immer weniger Geld zur Verfügung steht – von 12,4 Mill $ 1989 auf voraussichtlich 11,4 Mill $ 1991 –, wächst allein der Forschungsetat für Aufspürungs- und Überwachungstechnik von 197,4 Mill $ 1989 auf voraussichtlich 627,3 Mill $ 1991 (vgl Graphik).

DoD-Aktivitäten im Drogenkrieg
Finanzjahr 1989-1991 (in Mill. $)6
Spezifische Aktivitäten 1989 1990 1991
Nationalgarde 27,6 110,0 81,0
Forschung u.Entwicklung 10,4 10,4
C3I, Integration 59,9 27,0 56,0
Überwachung 197,4 371,6 627,3
Kosten der Flugstd., Tage auf See 71,8 181,4 227,2
Initativen der Stabschefs 93,1 120,0
Reduktion der Nachfrage, Prävention 69,7 72,5 74,6
Behandlung 12,4 11,6 11,4

Derzeit wird bereits ein Programm zur Integration der Datenverarbeitung aller beteiligten Behörden vorangetrieben. Das DoD hat als Aufgabe, „Command, Control and Communication und die technischen Einrichtungen der Bundesregierung in ein effektives Netzwerk zu integrieren“ 7. Zoll, DEA, FBI, CIA und die verschiedenen Organisationen des Militärs tauschen ihre Daten bereits über ein gesichertes, »interoperables« Computer-Netz, das sog. Anti-Drug Network (ADNET), aus. Das Militär hat Zugriff auf Strafverfolgungsdaten, die Strafverfolgungsbehörden Zugriff auf militärische Aufklärungsdaten.

Diese technische Integration verschiedenster Einrichtungen stellt eine erste Stufe dar. Die weiteren Ziele technischer Forschung und Entwicklung wurden Mitte August 1990 gleichzeitig in einem Technologie-Workshop des DoD-Unterstaatssekretärs für Beschaffung und vom ONDCP in einem aus zwölf Punkten bestehenden technischen Anforderungskatalog vorgestellt. Die Planungen für technische Mittel gegen Drogenproduktion und – handel für zivile und militärische Behörden umfassen:

Nachrichtendienst- (Intelligence) Workstations, Datenfusion und ein System zur Integration von Strafverfolgungs-Informationen.

Die Anforderungen umfassen Techniken zum Zusammenführen und Analysieren diverser Datenbanken der Strafverfolgungsbehörden, der Industrie sowie öffentlicher Datenbanken, zur Verbesserung der Überwachung und Selektion bei Frachtcontainern, Durchsuchungen und der Identifikation der Transportmittel von Verdächtigen.

Physische Überwachung, Abstands-Einbruchssensoren und Abstandssensoren zur Positionsbestimmung. Eine operationalisierte Anforderung existiert, um die vorhandenen Sensoren, Nachtsichtgeräte und Restlicht-Videosysteme daraufhin zu analysieren, wie neue Technologien und existierende Systeme integrierbar sind (…) im effektivsten und kosteneffizientesten Ansatz zur Grenzsicherung.

Detektoren für Schmuggelgut. Eine Anforderung existiert zur Entdeckung von Drogen in großen Frachtcontainern mit nicht-zerstörenden Suchtechniken (…).

Verdeckte Verfolgungsgeräte. Diese Anforderung ist »weltweiter« Natur und beinhaltet terrestrische, see- und luftgestützte sowie Satelliten-basierte Systeme; die Verfolgungsfähigkeit benötigt eine hochgenaue, kontinuierliche Verfolgung von Subjekten, Vehikeln und Paketen in Real-Time mit einer Genauigkeit von 500 Fuß (ca. 150 m) in urbanen Gegenden, auf 24-Stunden-Basis für eine Zeit von zwei Jahren. Alle Implantate müssen klein und nicht auffindbar sein.

Verdeckte Audio/Video-Aufnahmegeräte und Kommunikationsausrüstung. Um während Anti-Drogenoperationen die Kommunikation der Verdächtigten mitzuhören und Audio- und Videoaufnahmen zu ermöglichen, beinhaltet die Anforderung: Verbesserte Abhörfähigkeiten für kabel- und funkgestützte Telefongespräche und Datenübermittlungen und die Verarbeitung von Informationen aus diesen Operationen; die verlangten Fähigkeiten beinhalten ebenfalls die Sammlung aus der Ferne sowie miniaturisierte Komponenten für verdeckte, am Körper getragene Geräte mit geringem Energieverbrauch und digitaler Verarbeitung mit hoher Kapazität.

Geheimlabor- und Erntesuchausrüstung. Um illegale Drogenanbaugebiete und Labors zu lokalisieren und identifizieren, wird eine Studie erarbeitet, um die verschiedenen Methoden zum Aufspüren von Marihuanafeldern zu evaluieren; (…) Flugzeug- oder Satelliten-basierte Detektoren müssen entwickelt werden; eine besonders erfolgversprechende Fähigkeit wäre die Real-Time-Übermittlung von Lagedaten.

Kommunikationsausrüstung und sichere Kommunikation mit geringer Abhörwahrscheinlichkeit. Um den Antidrogenagenten in entfernten Gebieten Kommunikationsfähigkeiten zu verschaffen, werden abhörsichere Geräte benötigt – dies gilt sowohl für Überwachungs- wie Kommunikationsausrüstung; Satelliten-, Fax- und Datenkommunikation wird ebenfalls gefordert.

Verbesserte weitreichende Sensorfähigkeit und Sensorintegration. Eine Anforderung existiert für die Entwicklung verbesserter Überwachungsfähigkeiten, um verdächtigen See- und Luftverkehr zu entdecken; (…).

Identifikations- und Verifikationssysteme und fälschungssichere Technologien. Um Verletzungen des Einwanderungsgesetzes zu verhindern, müssen fälschungssichere Technologien in Antwort auf die verbesserten Techniken der Fälscher entwickelt werden, so daß das Bundesinformationssystem fälschungssichere und verifizierbare Dokumente erstellen kann.

Pflanzenmarkierungs und -vernichtungsprogramme. Die gegenwärtige Forschung an biologischen, chemischen und mechanischen Vernichtungstechniken für Drogenpflanzen müssen erweitert werden, um Kokain- und Marihuanaprodukte so zu markieren, daß sie von verschiedenen existierenden Überwachungssystemen verfolgt werden können.

Deportations- und Internierungs-Optimierungssystem. Die jüngste Gesetzgebung für kriminelle Ausländer hat die Anforderung für ihre Inhaftierung und Abschiebung aus den USA verstärkt; eine Studie wird durchgeführt, um dies zu bewerten und Lösungen zu erarbeiten.

Modellierung für den Anti-Drogenkampf. Planspiele für operationale Taktiken und Strategien sind notwendig, um die Alternativen mit den geringsten Kosten und dem größten Nutzen zu identifizieren; eine Küstenwacht-Strafverfolgungssimulation wird derzeit erarbeitet“ 8.

Es ist auch in den USA klar, daß diese Pläne den Drogenkonsum nicht verringern werden; besser angelegt wäre das Geld in Therapieplätzen und sozialen Einrichtungen. Auf internationaler Ebene würden Zoll- und Handelserleichterungen für herkömmliche Exportprodukte der Drogen-exportierenden Länder eine stärkere Wirkung zeigen. Der Kampf gegen den Drogenmißbrauch gilt nach nur zwei Jahren und dem Ende von Bennetts Amtszeit bereits als verloren9. Der Überfall auf Panama gilt als Fehlschlag: der dortige Drogenumschlag wurde nicht gestört, das Verfahren gegen Manuel Noriega kann wegen Verfahrensfehlern aus zwielichtiger Quelle aller Voraussicht nach nicht eröffnet werden und das Land ist noch weiter verelendet als vor der Invasion10.

Den militärischen Programmen tut dies allerdings keinen Abbruch. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, da die verlangte Überwachungstechnik leicht in anderen militärischen, geheimdienstlichen aber auch zivilen Zusammenhängen einsetzbar ist. Der Drogenhandel spielt nur eine kleine Rolle bei diesen Behörden. So überwacht die dem DoD unterstellte National Security Agency (NSA) seit Mitte der achtziger Jahre auch internationale Banktransaktionen – und zwar nur zu einem geringen Teil aus Gründen des Drogenhandels11.

Im Forschungs- und Entwicklungsprogramm im Anti-Drogenkrieg werden Überwachungstechniken entwickelt, die allen militärischen, geheimdienstlichen und polizeilichen Organisationen äußerst nützlich sind. Der Drogenhandel schafft in den USA lediglich einen Akzeptanzrahmen für ihre Entwicklung, zumal die vorgesehenen Einsatzgebiete dieser Techniken meist außerhalb der USA liegen. Die Einbindung des Militärs in die Arbeit der zivilen Strafverfolgungsbehörden bedeutet nichts weniger als die Projektion US-amerikanischer Strafverfolgung auf andere Staaten. Wo U.S.-Bundespolizisten auch über internationale Polizeiabkommen keine Zuständigkeiten haben, hilft das Militär – ohne Bindung an Recht und Gesetz – aus.

Während die politische Lösung der weltweiten ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krisen immer drängender wird, beginnen die USA mit ihrem Kampf gegen Drogen – und damit gegen das sogenannte »organisierte Verbrechen« – auch und gerade in der internationalen Zusammenarbeit von Polizeibehörden ein Pilotprojekt zur Vereinigung polizeilicher Befugnisse mit militärischen und geheimdienstlichen Organisationen. Mehr als zweifelhaft ist es, ob dies der richtige Weg zur Lösung dieser Probleme ist.

Anmerkungen

1) Elaine Shannon: A Losing Battle; in: Newsweek, Dec. 3, 1990, S. 34-40, S. 39 Zurück

2) Ed Magnuson: A New Mission Impossible: Seal the Border in 45 Days; in: Time, May 30, 1988, S. 26 Zurück

3) ders.: More and More a Real War; in: Time, January 22, 1990, S. 32-33 (Übers. <196> auch im weiteren d.A.) Zurück

4) National Security Strategy Report, March 20, 1990; in: US. Policy Information and Texts, hrsg. vom USIS, U.S. Embassy, Bonn, No. 40, S. 17-31, S. 30 Zurück

5) Douglas Waller, Mark Miller, John Barry: The Drug Busters; in: Newsweek, July 16, 1990, S. 18-21, S. 18 Zurück

6) Paula Edgerton: The US Drug Interdiction Programme. An Overview of DoD Activities; in: Military Technology, Nr 10, 1990, S. 133-144, S. 136 Zurück

7) ebd., S. 135 Zurück

8) ebd., S. 138ff Zurück

9) vgl.: Elaine Shannon, a.a.O. Zurück

10) Barbara Ehrenreich: Who Wants Another Panama?; in: Time, Jan. 21, 1991, S. 31 Zurück

11) Intelligence Coup; in: Newsweek, July 2, 1990, S. 3 Zurück

Ingo Ruhmann ist Student der Informatik und arbeitet in der Geschäftsstelle des FIFF in Bonn.

Vorrangig oder ausschließlich?

Vorrangig oder ausschließlich?

10 Thesen zum Gewaltverzicht

von Ulrich Hahn

In jüngster Zeit taucht von Seiten friedenspolitischer Organisationen sowie der Kirchen immer häufiger die Forderung nach einem »Vorrang ziviler« oder »gewaltfreier« Wege zur Lösung internationaler Konflikte auf, wie z.B. im Friedensgutachten 2007: Kriterien für die Auslandseinsätze der Bundeswehr; IALANA/International Assoz. of Lawyers against Nuclear Arms: Diskussionspapier vom 05.07.07: Die staatliche friedenspolitische Infrastruktur stärken; Grundsatzpapier der Aktionsgemeinschaft Dienste für den Frieden/AGDF: »Vorrangige Option Gewaltfreiheit«; Kampagne des Bundes für soziale Verteidigung/BSV: »Vorrang für zivil«.

Soweit die jeweiligen Verfasser nicht ohnehin militärische Einsätze für erlaubt halten und lediglich die Gewichtung von nicht militärischen und militärischen Mitteln verschieben wollen, vertreten sie die Forderung nach einem »Vorrang« möglicherweise aus taktischen Gründen, um eher mehrheitsfähig und damit realpolitisch zu erscheinen als mit der Forderung nach völligem Gewaltverzicht. Tatsächlich verfolgen viele mit uns, dem Versöhnungsbund, in Teilbereichen sehr verbundene Organisationen in Bezug auf militärische Einsätze ganz eigene Anliegen: Die IALANA tritt für die Einhaltung und Stärkung des Völkerrechts ein, welches den Krieg eindämmen will, aber militärische Einsätze nicht gänzlich ausschließt, das »Darmstädter Signal« und eine Reihe weiterer kritischer Offiziere lehnen – wie es ähnlich auch viele israelische Soldaten tun – den militärischen Einsatz außerhalb der reinen Landesverteidigung ab und möchten die Zivilcourage der Soldaten zur Verweigerung unrechter Befehle stärken, Teile der Opposition im Bundestag verteidigen das Recht auf parlamentarische Kontrolle aller Auslandseinsätze der Bundeswehr und versuchen militärische Einsätze im Inneren zu verhindern; Friedensforschungsinstitute bemühen sich um eine Politikberatung dahingehend, die Zweckmäßigkeit mancher militärischer Einsätze zu hinterfragen und Kriterien für einen »vernünftigen« Einsatz der Gewalt zu formulieren.

Gegenüber diesen unterschiedlichen Ansätzen und Anliegen für eine Begrenzung und Zähmung militärischer Gewalt vertritt der Versöhnungsbund die Haltung eines unbedingten Gewaltverzichts, der für militärische Waffen und Einsätze keinen Raum mehr lässt, auch nicht als ultima ratio.

Wir wissen, dass uns dieser unbedingte Gewaltverzicht an die Grenze des Machbaren führt, dass er Fragen offen lässt, die nicht allein mit dem Hinweis auf alternative gewaltfreie Methoden beantwortet werden können.

Der unbedingte Gewaltverzicht öffnet uns andererseits einen offen Raum für die Gestaltung des mitmenschlichen Zusammenlebens, über die wir nicht nur distanziert nachdenken, wie über etwas, das man tun oder erreichen sollte, sondern die wir zu leben versuchen, in dem wir uns auf den Weg machen. Gegenüber dem – aus unserer Sicht – halbherzigen »Vorrang« der Gewaltfreiheit geben wir folgendes zu bedenken:

  • Wer den Vorrang fordert, bejaht und lässt Raum für den Nachrang. In Bezug auf ein Nacheinander von gewaltfreien und gewaltsamen Mitteln heißt dies, das Töten und Verletzen von Menschen zwar nicht direkt zu wollen, aber doch zumindest billigend in Kauf zu nehmen.
  • Dass Menschen anderen Menschen Gewalt antun, ist schlimm genug. Noch schlimmer ist jedoch, solche Gewalttat zu legitimieren, als Recht darzustellen, mit der Folge, dass die Gewalttat guten Gewissens geschehen kann. Von einem zivilen Schläger und Mörder kann ich Reue erwarten, von einem Soldaten der »rechtmäßig« handelte, nicht.
  • Die Rechtfertigung von militärischen Mitteln, auch nur zu nachrangigem Einsatz, schließt die Produktion und laufende Weiterentwicklung von Waffen ein, ebenso ihre Weitergabe, den Waffenexport. Um wirksam zu sein, muss das Militär der »guten Seite« immer besser gerüstet sein als das Militär potentieller »Schurkenstaaten«. Die im Entwurf der EU-Verfassung vorgesehene Verpflichtung zur ständigen Weiterrüstung drückt rechtlich nur aus, was schon der eigenen Logik der »ultima ratio« zugrunde liegt.
  • Der »Vorrang« gewaltfreier Methoden zur Konfliktlösung bleibt damit der herkömmlichen Rüstungspolitik verhaftet. Auch schon bisher setzten die Staaten militärische Mittel erst ein, »wenn es nötig war«. Der Ruf nach einem »Vorrang« bedeutet deshalb allenfalls eine quantitative Verlagerung von Einsatzmethoden, begründet aber keine neue Qualität in den internationalen Beziehungen.

Es gibt keine objektiven Kriterien dafür, wann und unter welchen Bedingungen das nachrangige Mittel zum Einsatz kommen soll. Es bleibt – wie bisher auch – eine politische Entscheidung derjenigen, die über das »nachrangige« Mittel, das Militär, verfügen. Im Frühjahr 1999 hatten im Kosovokonflikt die wohl bewusst nur unzureichend ausgestatteten OSZE-Beobachter nicht von sich aus festgestellt, dass ihre Mission gescheitert sei; sie wurden von der NATO aufgefordert, das Feld zu räumen, um Platz für den militärischen Einsatz zu machen.

Da das Militär sich schon immer nur als nachrangige »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« (Clausewitz) verstand, kann es mit der Forderung nach einem Vorrang gewaltfreier Mittel gut leben. Auch als »nachrangiges« Mittel entfaltet es eine dominante Eigendynamik, nicht nur bezüglich der Beschaffungskosten – gerade die geforderten »humanitären Einsätze« in aller Welt benötigen moderne Nachrichtensysteme, Transportkapazitäten, eine hohe Beweglichkeit der Infanterie, »intelligente Munition«, letztlich auch ein weltweites Netz von Stützpunkten für den schnellen Einsatz –, sondern auch im Denken: Wegen der schon vorausgesetzten überlegenen Waffen verspricht das Militär schnelle Lösungen, eine Abkürzung ungerechter Zustände, des Leidens von bedrohten Menschen, eine Beseitigung von Gefahren von Seiten böser Mächte. Schon das Vorhandensein des Militärs bindet die Fantasie für eine Konfliktlösung: Wer eine wirksame Waffe besitzt, denkt im Konflikt von Anfang an schon an den Einsatz dieser Waffe, auch wenn er sie nicht sofort zieht.

Das vorhandene und zum Einsatz bereite nachrangige Mittel prägt damit auch unvermeidlich schon die »vorrangige« Phase gewaltfreier Konfliktlösung. Wer überlegene Machtmittel besitzt, mag vielleicht selbst von sich den Eindruck haben, er sei zu einem ernsthaften Dialog mit der anderen Seite bereit. Die an solchen »nachrangigen« Machtmitteln unterlegene Seite weiß aber genau, dass ihr letztlich nur die Unterwerfung bleibt – »und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt«. Im Zusammenhang mit dem Reservemittel der Gewalt bleibt damit auch die zivile Konfliktlösung ein Instrument der Dominanz und somit ein Etikettenschwindel.

Die seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes 1990 immer mehr in den Vordergrund gerückte humanitäre Rechtfertigung für den Fortbestand des Militärs und seinen Einsatz als »ultima ratio« zur Schaffung von Frieden und Gerechtigkeit in der Welt hilft, dessen wahre Begründung auch vor uns selbst zu verschleiern: Um die bestehende ungerechte Verteilung der lebensnotwendigen Güter dieser Erde aufrecht zu erhalten, bedarf es militärischer und durch das Militär unterstützte wirtschaftlicher Macht. Um den unzähligen Opfern dieses wirtschaftlichen Unrechts Recht zu schaffen, bedürfte es aber weder militärischer noch nicht militärischer Interventionen, sondern einer Verhaltensänderung in den reichen (und nicht zufällig auch militärisch mächtigen) Staaten.

Das Militär ist einerseits Stütze dieses Systems der ungleichen Verteilung der Welt in Arm und Reich; zum anderen ist es wegen seiner riesigen Kosten auch selbst ein wesentlicher Teil des Problems weltweiter Ungerechtigkeit, zu deren punktueller Lösung es sich anbietet.

Der Glaube daran, dass wir dieses Militär in der Hinterhand brauchen, um anderswo Frieden, Ordnung und Gerechtigkeit zu schaffen, mit anderen Worten: die Splitter aus den Augen leidender Bevölkerungsgruppen zu ziehen, versperrt uns den Blick auf den Balken des Unrechts im eigenen Auge.

Der von den Medien gesteuerte Blick auf die tatsächlich vorhandenen Spitzen der Eisberge in Form von augenscheinlicher direkter Gewalt (Srebeniza, Darfur, Somalia, Ruanda) gibt uns das gute Gefühl, mit unserem Militär für die bedrängten Menschen schnell und wirksam etwas machen zu können, und hilft die Einsicht zu verdrängen, dass es die von uns gemachten Eisberge sind, deren Spitzen wir bekämpfen. Nur der unbedingte Gewaltverzicht, auch die eindeutige Distanzierung von den Gewaltmitteln des eigenen Staates und ihre Verurteilung durch uns verschafft uns einen unverstellten, freien Blick auf unser Verhältnis zur anderen Seite, auf Unrecht und Ungerechtigkeit, unsere eigenen Anteile hieran, unsere Möglichkeiten, zur Veränderung beizutragen, aber auch die Grenzen unserer Möglichkeiten.

Nur durch diese Distanzierung können wir auch der Gefahr entgehen, in unserem gewaltfreien Bemühen um Konfliktlösungen nur als eine Vorhut des schon auf seinen Einsatz wartenden Militärs angesehen zu werden. Im Verzicht auf die Gewalt können wir nicht alles tun und tragen deshalb auch nicht für alles Verantwortung. Je mehr wir uns von den ungerechten Mitteln der Machterhaltung trennen, desto weniger sind wir verantwortlich für die vollzogenen oder unterlassenen Möglichkeiten, die diesen Machtmitteln inne wohnen.

Es ist indes immer wieder zu beobachten, dass es den Befürwortern militärischer Einsätze sehr wichtig ist, hierfür auch von ihren Gegnern den Segen zu erhalten und ihnen andernfalls die Verantwortung für das Leiden derer zuzuschieben, denen durch militärische Mittel geholfen werden könnte. Es gilt hier das Argumentationsschema des fürsorglichen Dritten: »Würde ich meine dominante wirtschaftliche Rolle aufgeben, die es mir erlaubt, eine ausreichendes Waffenarsenal vorzuhalten, könnte ich ja den überlebenden Opfern meines Reichtums nicht mehr behilflich sein.«

Um die Gewalt zu überwinden, reicht es aus den genannten Gründen nicht aus, sie nur vermindern oder zähmen zu wollen. Es geht nicht um ein Mehr oder Weniger, um ein Vorher oder Nachher, sondern um ein Entweder-Oder, um ein gewaltfreies Leben und Handeln statt militärischer und anderer gewaltsamer Methoden in den zwischen-menschlichen und internationalen Beziehungen. Das schließt nicht aus, dass die Entwicklung zum richtigen Ziel schrittweise verläuft. Entscheidend ist aber, dass ich den jeweils verbleibenden Rest nicht legitimiere, sondern nicht aufhöre, ihn als Unrecht zu bezeichnen. Auch dem gewalttätigen Ehemann und Vater würde ich nicht raten, »vorrangig« gewaltfreie Mittel in seinen Beziehungen zu Frau und Kindern einzusetzen, sondern ihm sagen, dass alles andere schweres Unrecht ist.

Und wenn er auf dem Weg der Besserung mitteilen würde, er vergewaltige seine Frau jetzt nur noch einmal monatlich und schlage auch die Kinder nur noch, wenn es nicht anders gehe, könnte ich ihm dafür kein gutes Gewissen machen und müsste darauf bestehen, dass auch der verbliebene Rest seiner Gewalttätigkeit Unrecht bleibt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch Gewalt oder militärische Einsätze im Einzelfall Menschen retten oder sonst Gutes bewirken können, so wie auch sonst schlechte Mittel gute Zwecke befördern können. Jedes Mittel hat jedoch seinen Preis.

Bei Folter und Todesstrafe gibt oder gab es zumindest einmal eine breite Übereinstimmung, dass solche Mittel generell zu ächten sind, auch wenn es Fälle geben sollte, in denen sich ein Einsatz für gute Ziele denken ließe (»Rettungsfolter«). Der menschliche Preis für diese Mittel ist für eine Gesellschaft auch dann untragbar. Bei der militärischen Gewalt sind wir noch auf dem Weg zu einer entsprechenden Mehrheitsmeinung. Aber auch hier geht es darum, nicht nur zu fordern, dass humaner und nachrangig gefoltert und getötet werden soll, sondern gar nicht, auch und trotz der nie auszuschließenden Fälle, dass die militärische Gewalt das einzige Mittel sein könnte, einen oder gar viele Menschen zu retten.

Weil die Mittel direkter Gewalt Ausdrucksform und auch Voraussetzung der uns umgebenden und unsere Beziehungen innerhalb der Gesellschaft und international prägenden strukturellen Gewalt sind, geht es nicht nur um eine »alternative« Ersetzung gewaltsamer Mittel durch gewaltfreie Methoden. Gewaltfreies Leben und Handeln bedingt einen völlig anderen Handlungsrahmen als das Leben mit Gewalt- und Zwangsmitteln in der Hinterhand. Der Gegensatz zur Gewalt ist nicht einfach dessen Negation, die Gewaltfreiheit, sondern eine umfassende Gerechtigkeit, die auf Partizipation, d.h. der Beteiligung aller Betroffenen beruht und gerade auch deshalb den Gewaltverzicht in den Beziehungen untereinander voraussetzt.

Ullrich Hahn ist Vorsitzender des Deutschen Zweiges des Internationalen Versöhnungsbundes

ZFD goes Europe

ZFD goes Europe

Das »European Network for Civil Peace Services« (EN.CPS)

von Jochen Schmidt

In deutschen Fachkreisen ist der Zivile Friedensdienst (ZFD) als professioneller Entsendedienst zur Arbeit an Konflikten inzwischen weitestgehend bekannt (siehe auch W&F 2-2006, Dossier 52). Was aber geschieht eigentlich im europäischen Ausland und auf der EU-Ebene?

Bereits in den frühen 1990er Jahren hatten sich Friedensorganisationen aus diversen Ländern an dem Freiwilligenprojekt »Balkan Peace Team« beteiligt (Müller 2004). Ebenfalls als Reaktion auf den Bosnienkrieg wurde auf Initiative des Südtiroler Grünen-Abgeordneten Alexander Langer ab 1994 im Europäischen Parlament die Einrichtung eines »European Civilian Peace Corps« diskutiert. Dieser Vorschlag ist zwar in seiner ursprünglichen Form durch die Fortentwicklung des EU-Krisenmanagements überholt, aber er zeigt, dass es in Europa bereits vor der Einrichtung des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderten ZFD-Programms ähnliche Initiativen und Vorschläge gab. Eine umfassende Forschungsarbeit insbesondere zu den Entwicklungen in verschiedenen europäischen Ländern steht bislang aus. Ansätze finden sich bei Poort van-Eeden (2000) und Wallis & Junge (2001, Kap. 5).

Für die europäische Vernetzung zivilgesellschaftlicher Initiativen für eine konstruktive Konfliktbearbeitung in Krisenregionen engagieren sich in Deutschland vor allem das »Forum Ziviler Friedensdienst« (forumZFD / http://www.forumZFD.de) und der »Bund für Soziale Verteidigung« (BSV / http://www.soziale-verteidigung.de). Nach vorbereitenden Treffen kam es 1999 während des Haager Friedenskongresses zur Gründung des »European Network for Civil Peace Services« (EN.CPS). Bei seinem Jahrestreffen im Jahr 2000 in Berlin waren 16 TeilnehmerInnen aus sechs Ländern zugegen; dabei ging es vor allem um gegenseitiges Kennenlernen und Erfahrungsaustausch. In den Folgejahren stieg die Teilnehmerschaft stetig auf 19 Mitgliedsorganisationen aus 14 Ländern. Bei den Jahrestreffen 2001 bis 2003 in der Schweiz, in Italien und in Österreich wurden ein gemeinsames »Mission Statement« verabschiedet und Pläne für ein multinationales »Civil Peace Service« (CPS)-Projekt auf Zypern besprochen. Letztgenanntes Vorhaben kam trotz erheblicher Vorarbeiten nicht zustande, da nach dem Scheitern des Annan-Plans zur Lösung des Zypern-Problems die erhofften EU-Fördermittel zurückgestellt wurden. Bei weiteren EN.CPS Jahrestreffen 2004 bis 2006 in Schottland, Rumänien und Spanien wurden dennoch gemeinsame Leitprinzipien für CPS-Einsätze sowie vorläufige europäische Trainingsstandards beschlossen (http://www.en-cps.org).

Dieser Bestand an professionellem Know-how und an Vernetzung floss 2003 mit ein in die Gründung der weltweiten »Nonviolent Peaceforce« (NP), die sich größere Projekte gewaltfreier Drittpartei-Intervention zum Ziel setzt (http://www.nonviolentpeaceforce.org). Aufgrund der hohen Deckungsgleichheit zwischen den Akteuren von EN.CPS und den europäischen Mitgliedern von NP finden die Jahrestreffen seitdem zeitgleich als Doppeltreffen beider Organisationen statt. Ziel des EN.CPS ist weiterhin die „Förderung Ziviler Friedensdienste als Instrument gewaltfreier Konflikttransformation auf der nationalen Ebene wie auch in Europa“. Als loser Verbund ohne bezahlte Koordinatorenstelle dient das EN.CPS vor allem dem Informationsaustausch, der gegenseitigen Unterstützung und als »Partnerbörse« für gemeinsame Projekte. Beim letzten Jahrestreffen im April 2007 in Berlin wurden zudem ein internes Regelwerk verabschiedet und ein fünfköpfiger Lenkungsausschuss gewählt (vgl. Brües 2007). Das nächste Jahrestreffen soll im Frühjahr 2008 in der Slowakei stattfinden.

Gegenüber den EU-Institutionen in Brüssel vertritt das EN.CPS sein Anliegen für eine stärkere Anerkennung und Förderung von zivilen Friedensdiensten durch seine Mitgliedschaft beim »European Peacebuilding Liaison Office« (EPLO / http://www.eplo.org). Mitarbeiter und Ehrenamtliche aus verschiedenen EN.CPS-Organisationen beteiligen sich aktiv in EPLO-Arbeitsgruppen, wirken an der Erarbeitung von Lobby-Papieren mit und nehmen an europäischen Konferenzen teil. Um allerdings konkreter auf die Einführung eines ZFD/CPS-Programms im Rahmen der EU-Außenbeziehungen hinzuarbeiten, reichen die momentan zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht aus.

Erfreulich ist, dass durch die Initiative von EN.CPS-Mitgliedsorganisationen inzwischen auch in anderen europäischen Ländern die Einführung eines ZFD ernsthaft in Erwägung gezogen wird. So will die österreichische »Agentur für Entwicklungszusammenarbeit« (ADA) in Kooperation mit NGOs bis 2009 ein ZFD-Programm einrichten. In Spanien und Frankreich wurden Gesetzesentwürfe im Parlament eingebracht, die u.a. die Einrichtung von zivilgesellschaftlichen Friedensfachdiensten fordern. In Italien hat die Abteilung für Entwicklungszusammenarbeit des Außenministeriums eine Kommission mit der Erstellung einer Machbarkeitsstudie zum Thema »Corpi Civili di Pace« beauftragt und für 2008 sind erste Pilotprojekte geplant. Diese Entwicklungen sind nicht zuletzt deswegen begrüßenswert, weil dadurch auch bei deutschen Verantwortlichen für Friedensentwicklung und Krisenprävention die Möglichkeiten eines ZFD/CPS auf der europäischen Ebene an Bedeutung gewinnen werden.

Literatur

Brües, Stephan (2007): Vorfahrt für Zivil. Wissenschaft und Frieden, 25 (3), S.48.

Müller, Barbara (2004): Balkan Peace Team 1994-2001. Mit Freiwilligen-Teams im gewaltfreiem Einsatz in Krisenregionen. Braunschweig: Arbeit und Leben.

Poort van-Eeden, Janne (2000): Internationale Zusammenarbeit für Gewaltfreiheit. In Tilman Evers (Hrsg.), Ziviler Friedensdienst – Fachleute für den Frieden (S.165-172). Opladen: Leske + Budrich.

Wallis, Tim / Junge, Mareike (2002): Enhancing UK capacity for handling conflict (http://www.peaceworkers.org.uk/index.php?option=com_content&task=view&id=149&Itemid=165#enhancing) [14. September 2007]

Jochen Schmidt arbeitet für die Akademie für Konflikttransformation in Bonn und ist als Mitglied des forumZFD für das EN.CPS engagiert

Eingebettete Gewalt

Eingebettete Gewalt

Der Bürgerkrieg in Darfur

von Kurt Beck

Am 31. Juli 2007 hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einstimmig die lange erwartete Resolution 1769 zur Situation in Darfur verabschiedet. Die Resolution, ursprünglich schärfer gefasst und mit Sanktionsmöglichkeiten gegen die Regierung des Sudans versehen, dann aber nach Widerstand der sudanesischen Regierung und ihrer Verbündeten, hauptsächlich Chinas, entschärft, ermächtigt die Vereinten Nationen, eine Blauhelmtruppe zur Unterstützung des Friedensprozesses und zum Schutz von Zivilpersonen nach Darfur zu entsenden.

Die zunächst auf ein Jahr befristete Mission (UNAMID) soll 26.000 Personen (knapp 20.000 Militär und ca. 6.000 Polizei) umfassen und bis Ende des Jahres die 7.000 Mann starke Truppe der Afrikanischen Union (AMIS), welche seit Herbst 2004 in Darfur stationiert ist, vollständig assimiliert haben. Im Vergleich zur Beobachtermission der Afrikanischen Union verfügt UNAMID über ein weiter gehendes Mandat, ist etwa ausdrücklich aufgefordert, auch mit militärischer Gewalt zum Schutz von Zivilpersonen vorzugehen.1 Damit keimt erneut die Hoffnung auf Beilegung eines der blutigsten Bürgerkriege in Afrika, der seit 2003 über 2 Mio der 7 Mio Darfuris zur Flucht gezwungen und bis zu 300.000 das Leben gekostet haben soll.

Um die genozidale und rassistische Dimension hervorzuheben, haben einige Beobachter den Darfurkonflikt zehn Jahre nach dem Völkermord in Ruanda als »Ruanda im Zeitlupe« bezeichnet. »Südsudan im Zeitraffer« wäre treffender, wenn auch weniger dramatisch. Gewiss, es hat blutige Massaker unter den Ethnien Fur und Masalit gegeben, z.B. Massenexekutionen an mehreren hundert wahllos zusammengetriebenen Bauern im Wadi Salih in den südwestlichen Vorbergen des Jabal Marra. Regierungstruppen und Milizen haben tausende, vermutlich zehntausende Zivilisten getötet. Mädchen und Frauen wurden massenhaft vergewaltigt, Kinder geraubt, zehntausende Stück Vieh weggetrieben, Moscheen geschändet, Dörfer und Ernten verbrannt, Brunnen und öffentliche Gebäude zerstört. Was sich in Darfur ereignet, kann kaum anders denn als ethnische Säuberung durch Zerstörung, Vertreibung und Töten begriffen werden.2 Dennoch ist die große Mehrzahl der Opfer nicht in einem gewaltigen Blutrausch abgeschlachtet worden wie in Ruanda, sondern sie sind aufgrund von Unterernährung und Krankheiten ums Leben gekommen. Einige Kommentatoren haben daher von Genozid durch Auszehrung gesprochen.

Aufstandsunterdrückung und Vernichtungsfeldzug

Ende 2002 kamen vereinzelte Gerüchte über eine Rebellenorganisation namens »Darfur Liberation Front« im Jabal Marra-Bergland im Herzen der Region Darfur auf. Im Frühling schließlich wurde bekannt, dass die Rebellen, nun unter dem Namen »Sudan Liberation Movement/Army« und JEM (Justice and Equality Movement), einige kleinere Städte im Gebiet der Fur im Jabal Marra-Massiv und im Gebiet der Zaghawa nahe der Grenze zum Tschad erobert hatten. Ende April 2003 gelang es ihnen sogar, El Fasher, die alte Hauptstadt Darfurs einzunehmen und die Stadt einige Tage zu halten. Dies waren keine tribalen Konflikte oder das Werk von Banditen, sondern ein Aufstand und eine öffentliche Kriegserklärung an die Regierung in Khartum.

Die Reaktion aus Khartum kam spät, dafür aber brutal. Obwohl ein großer Teil der Regierungstruppen im Bürgerkrieg gegen die »Sudan Peoples’ Liberation Army« (SPLA) im Süden des Landes gebunden war, hatte die Armee bis Juli 2003 genügend Truppen verlegt, um eine groß angelegte Offensive in Norddarfur zu beginnen. Angesichts der Bomberangriffe auf Dörfer und der systematischen Zerstörung von Siedlungen der Fur und Zaghawa wurde bald deutlich, dass die Kriegsführung einer Strategie der verbrannten Erde folgte. Die zweite Strategie sollte sich allerdings als weit verheerender erweisen. Sie bestand darin, arabische Milizen, die seither der Weltöffentlichkeit unter dem Namen Janjawid bekannt wurden, zu rekrutieren und zu bewaffnen. Diese Strategie ist von einem Beobachter treffend als Aufstandsunterdrückung auf die billige Art beschrieben worden3 – auf die schmutzige Art wäre auch eine treffende Bezeichnung, denn die Kriegsführung der Janjawid lässt sich nur in Termini eines ungehemmten Vernichtungsfeldzugs gegen die Ethnien begreifen, aus denen sich die Rebellengruppen rekrutieren. Zum Verständnis der Entwicklung ist ein Blick auf den politischen Kontext und die Geschichte hilfreich.4

Darfur, ein marginalisiertes Grenzland

Darfur ist die westlichste Region der Republik Sudan, flächenmäßig etwa so groß wie Frankreich, mit einer Bevölkerung von rund 7 Mio. Einwohnern allerdings sehr dünn besiedelt. Es hat gemeinsame Grenzen mit dem Südsudan im Süden, mit der zentralafrikanischen Republik im Südwesten, im Westen mit dem Tschad und ganz im Norden mit Libyen. Diese Grenzen sind Teil des Konflikts. Sowohl der Südsudankonflikt hatte seine Auswirkungen, als auch die Politik Libyens, das seit den achtziger Jahren die unzufriedenen Abenteurer aus der ganzen Sahelregion in seine Islamische Legion rekrutierte, um damit in die regionalen Konflikte zu intervenieren.

Der nördliche Teil Darfurs ist Wüste. Hier leben Kamelnomaden, arabische Nomaden wie die nördlichen Rizaiqat und nichtarabische Nomaden wie die Zaghawa, deren Siedlungsgebiete sich weit über die Grenze in den Tschad ziehen. Der Norden Darfurs leidet wie die ganze Sahelregion unter Austrocknung und Desertifikation. Auch dies ist Teil des Problems, denn die Nomaden drängen seit Mitte der 1980er Jahre mit ihren Herden auf die fetteren Weiden Zentraldarfurs, was zu erheblichen Ressourcenkonflikten mit den dortigen Bauern geführt hat.

Zentral- und Westdarfur erhalten genügend Niederschläge für Hirseanbau und Gartenbau. Hier leben die bäuerlichen Ethnien Fur, ferner die Masalit, deren Gebiete sich im Tschad fortsetzen, die Berti und einige weitere nichtarabische Ethnien. Seit den 1980er Jahren fand dort in den begünstigten Lagen eine massive landwirtschaftliche Expansion statt, in deren Folge auch Wanderwege von Nomaden versperrt, Weiden unzugänglich gemacht und der Zugang zu Brunnen erschwert wurden, und dies gerade in einer Zeit, in der die Nomaden Norddarfurs ihre Herden vor den Dürren retten wollten.

Der Süden Darfurs ist für Rinderzucht und Hirseanbau geeignet. Hier befindet sich das Gebiet der unter der Bezeichnung Baqqara (Rinderleute) zusammengefassten Rizaiqat, Maaliya und Beni Halba sowie Salamat, letztere in ihrer Mehrheit bereits über der Grenze zur Zentralafrikanischen Republik. Historische Migrationen und nachbarschaftliches Zusammenleben haben allerdings dazu geführt, dass alle diese Ethnien zu einem gewissen Maß miteinander vermischt lebten, zumindest bis in die 1980er Jahre, bevor nach einer langen Periode relativen Friedens die großen Stammeskriege ausbrachen. Ferner brachten die Wanderungen der Nomaden eine gewisse Mobilität in die Siedlungsstruktur.

Diese Wanderungen verursachen immer wieder Reibungen, sei es wegen Flurschäden oder gestohlenen Tieren, und massive Verlagerungen wie 1983/4 infolge mangelnden Regens oder schlechter Weide haben immer wieder die Gefahr gewaltsamer Ressourcenkonflikte heraufbeschworen. Die Gesellschaft der Savanne hat nie konfliktfrei funktioniert; individuelle gewaltsame Konflikte und manches Mal Stammeskriege gehörten als ein integraler Teil zur Sozialstruktur der Savanne. Aber es existierten eben auch politische und rechtliche Institutionen, um die aufkommenden Konflikte zu zähmen. Von Fall zu Fall mögen diese Institutionen sehr alt sein, sicher ist aber, dass die englische Kolonialverwaltung sie im Rahmen ihrer Eingeborenenverwaltung in den 1920er Jahren in der Form von Stammesgerichtsbarkeit und intertribalen Verhandlungen regularisierte und dass sie bis in die 1980er Jahre die kleine alltägliche Gewalt in der Savanne zwar nicht verhinderten, aber doch allgemein akzeptiere Verfahren zu ihrer Eindämmung bereitstellten und – dies ist der springende Punkt – einer militärischen Eskalation vorbeugten. Letztliche Voraussetzung dafür war aber immer der Rückhalt durch die Macht des Staats.

Der Staat und die Savanne – die Wiederkehr der Vorgeschichte

Selbst wenn man nicht bis in pharaonische und meroitische Zeiten zurückgeht, ist der Staat doch eine alte Institution im Sudan. Das Sultanat Darfur (ca. 1650 bis 1916) und westlich davon das Sultanat Masalit fügten sich in die Kette der Staaten in der afrikanischen Savanne, die von Westafrika bis zum äthiopischen Hochland reichte, alle mehr oder weniger auf dem Handel, insbesondere dem Sklavenhandel nach Nordafrika und die Levante gegründet. Historisch lag das Sultanat Darfur mit seinem Zentrum im Jabal Marra in Konkurrenz mit einer ganzen Abfolge von östlichen Nachbarn am Nil, angefangen vom Schwarzen Sultanat der Funj (1501-1820), über den ägyptischen Kolonialstaat (1820-1881) und den mahdistischen Staat (1882-1898) bis zum anglo-ägyptischen Kolonialstaat (1898-1955). Erst im Ersten Weltkrieg wurde Darfur in den anglo-ägyptischen Sudan integriert.

Keiner dieser Staaten sollte mit einem modernen Nationalstaat verwechselt werden. Dennoch ist diese Art von Vorgeschichte lehrreich für ein Verständnis des aktuellen Konflikts. Die Staaten besaßen ihre Machtzentren am Fuß des Jabal Marra oder am Zusammenfluss des Weißen und des Blauen Nils, aber auf dem Land nahm die Macht ihrer Herrscher mit zunehmender Entfernung von den Zentren schnell ab. Die Savannen bildeten ein tribales Grenzgebiet zwischen den Staaten, das nur sehr punktuell durch Allianzen mit lokalen Kriegsherren, die im Austausch wiederum Anerkennung als Stammesführer erhielten, und durch militärische Kampagnen regiert wurde. Stammesführer und ihre Kavallerien waren aus einer Reihe von Gründen nützlich: um die eigenen Handelsrouten zu schützen, um die der konkurrierenden Nachbarn zu stören, um das Grenzgebiet im Vorfeld des Staates abzuschirmen, um die tribalen Allianzpartner der Konkurrenten in Schach zu halten und Krieg in das Vorfeld des konkurrierenden Staats zu tragen. Aber diese Allianzen waren immer zweischneidig, denn Stammesführer und ihre Milizen beschränkten sich nie auf Gewaltausübung im Namen des Staats. Sie hatten ganz im Gegenteil ihre eigenen lokalen Ambitionen, u. a. Brunnen und Weidegebiete zu erobern, Vieh und Sklaven zu rauben, und dies mit Rückendeckung, aber bei Gelegenheit auch gegen den Willen ihrer Sultane.

Damit soll nicht impliziert sein, dass die Janjawid von heute umstandslos einer ungebrochenen Tradition in der Savanne folgen. Denn erstens blüht die Gewalt heute in einer historisch unvorstellbaren Dimension. Und zweitens hat der Staat, angefangen mit der kolonialen Pazifizierung und der Einrichtung der Eingeborenenverwaltung, über mehrere koloniale und postkoloniale Verwaltungsreformen hinweg bewiesen, dass die Gewalt im Grenzland des Staats zähmbar ist. Aber dies gilt eben nur, solange der Staat den politischen Willen und die Ressourcen dazu tatsächlich auch besitzt. Das Gegenteil ist heute der Fall! Der Staat hat seinen mit Mühe errungenen Anspruch auf das Monopol legitimer Gewaltausübung aufgegeben, die lokalen Verwaltungen in Darfur sind nach der Abschaffung der auf die Kolonialzeit zurückgehenden Verwaltungsinstitutionen im Jahr 1982 und der finanziellen Ausblutung derjenigen Institutionen, die ihren Platz einnehmen sollten, geschwächt. Wiewohl formell innerhalb staatlicher Grenzen, sind die Savannen doch wieder offen für die Gewalt aus den benachbarten Staaten. Die zeitgenössischen Sultane, ob sie nun in Tschad, Libyen oder Sudan herrschen oder die Herrschaft an sich reißen wollen, haben wieder begonnen, Allianzpartner in der Savanne für ihre Kriege zu sammeln. Und zu den Allianzpartnern der sudanesischen Regierung gehören die Janjawid.5

Das historische Muster kommt wieder zum Vorschein, seit sich die Struktur der gewaltoffenen Grenze seit den frühen 1980er Jahren wieder ausgebildet hat. Die tschadischen Bürgerkriege wurden weitgehend auf darfurischem Gebiet ausgefochten, angefangen mit dem Sturz der Regierung Goukouni im Juni 1982 durch Hissène Habre mithilfe der Zaghawa aus dem sudanesischen Grenzland und Gadhafis Rekrutierung für seine islamische Legion aus den arabischen Ethnien. Im Dezember 1990 stürzte Idriss Déby seinerseits die Regierung Habre. Zur selben Zeit versuchte die SPLA eine zweite Front in Darfur zu etablieren und die tribalen Milizen, welche die sudanesische Zentralregierung gegen die SPLA ausgerüstet hatte, wandten sich auch Darfur zu. Seit 2005 sammeln sich wieder die tschadischen Rebellen mit Unterstützung der sudanesischen Regierung im darfurischen Grenzland6. Die tschadische Regierung dagegen unterstützt gezielt darfurische Rebellenmilizen, die aus den Flüchtlingslagern im Tschad rekrutieren und im Gegenzug die arabischen tschadischen Rebellenmilizen binden sollen. Angehörige arabischer Ethnien wie Mahamid und Salamat, aus dem Tschad und der Zentralafrikanischen Republik vertrieben, besiedeln inzwischen Gebiete in Darfur, aus denen vorher die arabischen Milizen Fur und Masalit vertrieben haben, u. a. das Gebiet der Massaker im Wadi Salih.

In der gesamten Region werden wieder die Konflikte zwischen den Herrschern und den Prätendenten auf die Herrschaft ausgefochten. Der Krieg ist von den Herrschern als Stellvertreterkrieg oder als Aufstandsunterdrückung auf die billige Art gedacht, wird aber eben auch mit lokalen Ambitionen geführt. Das Grenzland hat sich zu einem Schlachtfeld entwickelt, auf dem allerhand Kriegerbanden agieren, seien dies Regierungstruppen oder Rebellen, dörfliche und nomadische Milizen, oder einfach nur Banditen oder Banden von Stammeskriegern, welche die Gelegenheit wahrnehmen, straflos ihre kleinen Kriege und Raubzüge unter dem Schirm der großen Konflikte zu führen. Eingebettete Gewalt könnte man dies wegen der Dynamik mehrfach ineinander verschachtelter Konflikte nennen.

Ethnizität, Tribalismus, Rassismus

Besonders blutig werden diese Konflikte, wenn sie gebündelt und auf einen ideologischen Generalnenner gebracht werden. Der Gesamteffekt all dieser Entwicklungen – Dürre, Migrationen und Ressourcenkonflikte, importierte Gewalt, Schwächung der lokalen Verwaltungen – war ein erster Ausbruch von ethnischer Gewalt in den späten 1980er Jahren. Ethnizität ist unter gewissen Umständen leicht anfällig für Militarisierung, zumindest bietet ethnische Zugehörigkeit ein ideales Rekrutierungsmuster. Darfur zur Zeit der Renaissance der Fur in den 1980er Jahren bietet ein Lehrbuchbeispiel für politische Ethnizität und die Ausbildung eines militanten Tribalismus. Ähnlich exemplarisch – diesmal für Rekrutierung über religiöse Zugehörigkeit – ist der Südsudankonflikt. Aber im Gegensatz zu dem jihadistisch dargestellten Bürgerkrieg im Südsudan fehlen in Darfur, wo sich alle zum Islam bekennen, dafür die Voraussetzungen. Mit der Bündelung der ethnischen Antagonismen in ein Lager der Zurqa (Schwarze, mit einem Beiklang von Sklaven) und ein Lager der Araber blüht heute in Darfur jedoch der Rassismus. Auf der einen Seite stehen die Ethnien, die im Sudan als afrikanisch gelten und auf der anderen Seite diejenigen, die als arabisch gelten.

Nach der Unabhängigkeit des Sudans wurde Darfur durch Verwaltungsbeamte aus der politischen Elite des Niltals regiert. Intellektuelle aus Darfur betrachteten dies als internen Kolonialismus in Termini einer alten Opposition zwischen der einheimischen marginalisierten Bevölkerung und den besser entwickelten Gebieten des zentralen Niltals.7 Schon in den 1960er Jahren meldeten sich die ersten Organisationen zu Wort, die eine stärkere Berücksichtigung darfurischer Interessen forderten, die frühen 1980er Jahre sahen eine Reihe von Streiks und Demonstrationen in den darfurischen Städten und schließlich setzte die Zentralregierung 1981 einen Darfuri als Gouverneur ein. Der Gouverneur stammte aus der Ethnie der Fur, als sein Stellvertreter wurde der zahlenmäßigen Bedeutung der Ethnien entsprechend ein Zaghawi bestellt.

Im politischen Bewusstsein der Savanne erlebte damit die alte Herrschaft der Fur eine Renaissance. Was folgte, war eine massive Tribalisierung der Verwaltung. Dies war auch die Zeit der Expansion der Landwirtschaft am Jabal Marra. Dann aber kamen die Dürren bei Zaghawa und arabische Nomaden und der Zuzug der Herden aus dem Norden mit den begleitenden Ressourcenkonflikten. Die Fur-Bauern verteidigten ihre Felder, Nomaden versuchten Zugang zu Weiden und Wasserstellen zu erzwingen. Milizen formierten sich, die Zaghawa setzten auf ihre tschadischen Beziehungen, die Fur wandten sich an Armee und Polizei. Zwischen 1983 und 1987 herrschte praktisch Kriegszustand zwischen Fur und Zaghawa. Die Fur beriefen sich auf ihre einheimischen Landrechte aus der Zeit des Sultanats, die Nomaden forderten ihren nie ganz unumstrittenen, aber gewohnheitsmäßigen freien Zugang als sudanesische Bürger. Im Verlauf des Konflikts wurden Siedlungen der Zaghawa niedergebrannt und mehrere ihrer Führer von den Sicherheitskräften der Fur exekutiert. Und die arabischen Nomaden, von der darfurischen Verwaltung ausgeschlossen und von den Weiden ausgesperrt, mussten erbittert zusehen, wie ihre Tiere verendeten und ihre Lager von darfurischen Sicherheitskräften zerstört wurden. Sie wandten sich zunächst an die Regierung in Khartum und als von dort keine Hilfe kam, setzten sie auf die libysche Karte. In dieser Zeit formierte sich unter dem Einfluss der Heimkehrer aus der Islamischen Legion und ihrer panarabischen Ideologie die arabische Sammlungsbewegung und zum ersten Mal kam die Rede von Darfur als Teil eines arabischen oder eines schwarzen Gürtels in der Savanne auf. Im Jahr 1987 schließlich brach der Krieg der arabischen Milizen gegen die Fur aus, ein gebündelter Stammeskrieg unter Führung der arabischen Sammlungsbewegung, und daher lokal als „Krieg der Stämme“ bezeichnet. 1989 folgte eine Friedenskonferenz in Darfur, aber inzwischen waren die Kontrahenten klar in ethnischen Lagern aufgestellt, die Kriegsbeute, Darfur, wurde immer mehr unter rassistischen Gesichtspunkten betrachtet. Es ging nicht mehr nur um kleine Ressourcenkonflikte, auch nicht mehr um Stammeskriege, sondern um die Vorherrschaft entweder der Afrikaner oder der Araber über ganz Darfur.

Auch nach den Friedensvereinbarungen von 1989 setzte sich der Konflikt, wenn auch auf niedrigem Niveau, fort, intensivierte sich jedoch gegen Ende der neunziger Jahre insbesondere zwischen Masalit und arabischen Nomaden an der Grenze zum Tschad. Es wurde bald deutlich, dass die neue Zentralregierung des Sudans, 1989 durch einen Putsch an die Macht gekommen, mit ihrer islamistisch-arabischen Ideologie die rassistische Interpretation des Konflikts in Darfur weiter schürte. Die von der Militärregierung eingesetzten Kommissare aus dem Niltal bauten auf die Unterstützung der arabischen Ethnien und unterstützten sie ihrerseits. In dieser Zeit bereits entstand der militärisch-politische Komplex aus Milizen, Geheimdiensten und Armee. Arabische Milizen im Gebiet der Masalit konnten ungehindert Dörfer der Bauern überfallen und genossen sogar bei Gelegenheit die Unterstützung der Armee.

Schließlich vereinigten sich 2002 Milizen der Fur, der Masalit und der Zaghawa zur Darfur Liberation Front und begannen wie bereits geschildert ihre Rebellion gegen die Zentralregierung. Zu deren Ausbruch gerade zu diesem Zeitpunkt mag beigetragen haben, dass die Zentralregierung immer mehr als Feind der afrikanischen Bevölkerung in Darfur galt und der Moment, als gerade die Friedensverhandlungen zwischen der Zentralregierung und der SPLA aus dem Südsudan begannen, als besonders günstig erachtet wurde, um auch Darfur mit seinen Problemen einen Platz am Verhandlungstisch zu erzwingen. Wenn dies die politische Überlegung war, dann beruhte sie auf einer dramatischen Fehleinschätzung der Zentralregierung, die, statt Interesse an einer politischen Lösung zu zeigen, über ihren politisch-militärischen Komplex zur Strategie der Aufstandsunterdrückung auf die billige Art griff und damit den Vernichtungsfeldzug gegen die afrikanischen Ethnien Darfurs eröffnete.

Die Ausbreitung des Konflikts

Lange schon hat sich der Darfurkonflikt auf den Tschad ausgedehnt. Um die 300.000 Flüchtlinge aus den afrikanischen Ethnien Darfurs leben seit 2003/4 in Lagern und in Siedlungen im östlichen Tschad. Arabische Milizen haben sie häufig über die Grenze verfolgt. Und die Janjawid rekrutieren sich neben den nördlichen Rizaiqat wesentlich aus arabischen Nomaden, die aus dem Tschad zugewandert sind und inzwischen begonnen haben, sich in den entvölkerten Gebieten Westdarfurs niederzulassen. 2005 begannen sich im östlichen Tschad bewaffnete Rebellengruppen gegen die Regierung Deby zu formieren. Seit Oktober 2005 waren Teile der Armee, auch aus dem innersten Kreis seiner hauptsächlich aus Zaghawa bestehenden Regierung, offenbar aus Unzufriedenheit über die Verteilung des neuen Ölreichtums im Tschad zu den Rebellen übergelaufen. Im April 2006 versuchten sie aus dem darfurischen Grenzland heraus die Hauptstadt N’Djamena zu erobern, wurden aber mit Unterstützung der französischen Armee zurückgeschlagen und haben seither eine Reihe von Niederlagen erlitten, sich aber mit Unterstützung der Janjawid und der sudanesischen Armee im Grenzland zwischen der Zentralafrikanischen Republik, Sudan und Tschad eingenistet, wo sie inzwischen als integraler Teil des Konflikts agieren.

Im April 2004 unterzeichneten die Rebellen und die sudanesische Regierung einen von der tschadischen Regierung und der Afrikanischen Union vermittelten Waffenstillstandsvertrag im Hinblick auf spätere Friedensverhandlungen, aber keine Seite hielt sich lange an ihn, am wenigsten die arabischen Milizen. Nach lange hingezogenen Verhandlungen, die immer wieder durch Nachrichten von Überfällen und Kämpfen unterbrochen wurden, kam es schließlich zu einem Abkommen zwischen der sudanesischen Regierung und einer der Rebellengruppen im April 2006.

Aber bereits während der Verhandlungen hatten sich die Rebellengruppen in eine Vielzahl von unabhängig voneinander operierenden Milizen aufgespalten. Vorher überspielte Interessengegensätze waren aufgebrochen, Feldkommandeure hatten sich gegen ihre Führer im Exil aufgelehnt, Milizen hatten unkontrolliert zu marodieren begonnen; ferner hatten sich Rebellenorganisationen entlang ethnischer Linien gespalten und neue Organisationen waren aufgetaucht, um ebenfalls einen Platz am Verhandlungstisch zu beanspruchen. Dazu kommt, dass inzwischen die arabischen Milizen, hochgerüstet wie sie sind, wieder damit begonnen haben, ihre kleinen Kriege gegeneinander auszufechten. Heute, nach der Unterzeichnung des Abkommens erscheint der Konflikt unkontrollierbarer denn je. Jetzt besteht neue Hoffnung, dass die UNAMID-Mission die Gewalt in Darfur einzudämmen vermag.

Anmerkungen

1) Resolution 1769 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, siehe www.un.org/News/Press/docs/2007/sc9089.doc.htm. Der AMIS-Einsatz beruhte auf der Resolution 1556 des Sicherheitsrats von 30. Juli 2004, siehe www.un.org/Depts/german/sr/sr_03-04/sinf59final.pdf.

2) Die Ereignisse sind gut dokumentiert durch mehrere Berichterstattermissionen der Vereinten Nationen, durch AMIS und durch die Tätigkeit internationaler Menschenrechtsorganisationen, v. a. Human Rights Watch: Darfur in Flames. Atrocities in Western Sudan. New York 2004; Human Rights Watch: Darfur Destroyed. Ethnic Cleansing by Government and Militia Forces in Western Sudan. New York 2004; Human Rights Watch: Empty Promises? Continuing Abuses in Darfur. New York 2004; Human Rights Watch: „If We Return, We Will Be Killed“. Consolidation of Ethnic Cleansing in Darfur, Sudan. New York 2004; Human Rights Watch: Entrenching Impunity. Government Responsibility for International Crimes in Darfur. New York 2005; Amnesty International: Darfur – Rape as a Weapon of War, London 2004.

3) De Waal, Alex: Counterinsurgency on the Cheap, London Review of Books 26/15, vom 5.8.2004.

4) Für eine detailliertere Darstellung der Ereignisse und der Hintergründe sei verwiesen auf eine Reihe von ausführlicheren Veröffentlichungen: El Battahani, Ata: Ideologische, expansionistische Bewegungen und historische indigene Rechte in der Region Darfur, Sudan. Vom Massenmord zum Genozid. Zeitschrift für Genozidforschung 5, 2004, 8-51; Beck, Kurt: Die Massaker in Darfur. Zeitschrift für Genozidforschung 5, 2004, 52-80; De Waal, Alex und Julie Flint (2005): A Short History of a Long War. London (Zed Books); Prunier, Gérard (2005): Darfur, The Ambiguous Genozide. London (Hurst).

5) Die sudanesische Regierung hat das vor der Weltöffentlichkeit immer bestritten. Sie hat insofern Recht, als sie selbst nur unabhängige Banden Janjawid nennt. Die arabischen Nomadenmilizen, welche die Weltöffentlichkeit als Janjawid bezeichnet, sind inzwischen Teil der Volksmilizen (Peoples Defense Forces), welche die islamistische Regierung nach ihrem Putsch gegründet hat, um eine Sturmtruppe neben und als Gegengewicht zur Armee zu haben, oder Teil der leichten Grenztruppen (Border Intelligence Guard), die wiederum nicht in die Armeehierarchie eingeordnet, sondern direkt dem Direktor der militärischen Abwehr unterstellt sind. Die Volksmiliz und selbstverständlich die militärische Abwehr sind innerhalb des Sudans unantastbar.

6) Human Rights Watch (2006): Violence Beyond Borders. The Human Rights Crisis in Eastern Chad. New York; Human Rights Watch (2007): „They Came Here to Kill Us“. Militia Attacks and Ethnic Targeting of Civilians in Eastern Chad. New York.

7) Ein spätes Produkt dieser Sicht ist das anonyme Black Book, das im Jahr 2000 im Sudan unter der Hand zirkulierte und in dem die Autoren die Marginalisierung Darfurs durch Statistiken belegen. Eine englische Übersetzung findet sich unter www.sudanjem.com/sudan-alt/english/books/books.htm.

Prof. Dr. Kurt Beck ist Professor für Ethnologie an der Universität Bayreuth

Eine Traurige Bilanz

Eine Traurige Bilanz

Die EU und der Kosovo

von Gabriele Rasch

Ende Juli diesen Jahres stimmten 217 Abgeordnete des serbischen Parlaments für eine Resolution, in der der Kosovo als unveräußerlicher Bestandteil Serbiens bezeichnet wird. Zur selben Zeit sprechen die Kosovo-Albaner von Unabhängigkeit noch in diesem Jahr und die kosovarische Übergangsregierung arbeitet fleißig an den Insignien eines unabhängigen Staates.

Acht Jahre nach dem völkerrechtswidrigen Krieg der NATO sind Serben und Kosovo-Albaner in ihren Positionen noch immer weit von einander entfernt.

Eine Lösung der Kosovo-Frage ist nicht in Sicht. Die Lage in der Provinz ist dabei denkbar schlecht: Armut und Arbeitslosigkeit, Korruption und das organisierte Verbrechen prägen das Bild. Die Statusfrage lastet über allem. Das uneinige Europa hat sich bisher nicht in der Lage gezeigt, an der bestehenden und wohlmöglich eskalierenden Situation in der Region etwas zu verändern. Stattdessen hat die EU zugelassen, dass die Provinz zum Spielball der Großmächte USA und Russland geworden ist. Die Kosten für diese Politik wird am Ende Europa tragen müssen. Der Kosovo ist damit schon heute ein trauriges Beispiel für das Versagen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.

Die internationale Gemeinschaft hat versagt

Bereits 1999 ließ Europa es zu, dass die NATO ohne VN-Mandat Luftangriffe auf serbische Ziele flog. Statt nach 79 Tagen Krieg dann die entscheidenden Konfliktursachen anzugehen, entschied sich die internationale Gemeinschaft jedoch für eine Politik des Aussitzens. Mit Resolution 1244 wurde keine umfassende Friedensregelung getroffen, sondern ein Waffenstillstand mit ungewisser Zukunft ins Leben gerufen. So schrieb die VN-Resolution dem Kosovo substantielle Autonomie im Rahmen der Jugoslawischen Föderation zu und bekräftigte die territoriale Unversehrtheit Jugoslawiens. Gleichzeitig wurde jedoch eine VN-Mission ins Leben gerufen, die ab 1999 die Verwaltung des Kosovo übernahm. Völkerrechtlich gehört die Provinz somit noch zu Serbien, mit Einrichtung der »United Nations Mission in Kosovo« (UNMIK) hat die serbische Regierung jedoch keine hoheitlichen Befugnisse mehr in der Provinz. Eine Hauptaufgabe der UNMIK wird fortan die Förderung eines politischen Prozesses sein, mit dem Ziel den künftigen Status des Kosovo zu bestimmen.

UNMIK ist dabei die erste VN-Mission, in der andere Organisationen Schlüsselfunktionen übernehmen. Diese Konstellation schlägt sich in den Verantwortlichkeiten der vier Säulen der Mission nieder: Polizei und Justiz (KFOR, internationale zivile VN-Polizeimission), Zivilverwaltung (VN), Demokratisierung und institutioneller Wiederaufbau (OSZE) sowie Wiederaufbau und wirtschaftliche Entwicklung (EU). Von Anfang an erwies sich jedoch die Koordination der verschiedenen Interessen und Projekte als schwierig, zumal noch eine Vielzahl von internationalen und lokalen NGOs in der Provinz tätig sind.

Im Mai 2001 wurde von der UNMIK der Verfassungsrahmen für eine provisorische Selbstverwaltung erlassen, welche die Bildung von provisorischen Selbstverwaltungsinstitutionen (PISG) vorsah. Spätestens mit dieser Maßnahme wagte die internationale Gemeinschaft jedoch einen Spagat, der nicht nur auf serbischer Seite auf Unwillen stieß: Während Resolution 1244 noch alle Optionen für den künftigen Status des Kosovo offen hielt, begann man nun, ohne einen klaren Fahrplan die Macht sukzessive an die Kosovo-Albaner zu übertragen. Im November 2001 wurden zum ersten Mal ein Parlament, der Präsident und die Regierung gewählt. Im Oktober 2004 fanden die zweiten Wahlen statt. Sie waren unter diesen Vorzeichen jedoch geprägt durch eine niedrige Wahlbeteiligung und den Boykott der Kosovo-Serben.

Im Jahr 2002 stellte der UN-Sondergesandte Michael Steiner acht »Benchmarks« auf – die späteren »Standards for Kosovo«, zu denen unter anderem funktionierende demokratische Institutionen, Rechtsstaatlichkeit, Bewegungsfreiheit für alle Volksgruppen und die Reintegration von Flüchtlingen gehörten. Nach dem Motto »Standards before Status« wurde nun an den Beginn der dringend benötigten Verhandlungen die Erfüllung eben dieser Kriterien geknüpft. Davon ist der Kosovo aber selbst heute noch weit entfernt. Im Jahr 2005 stellte die »Internationale Balkan-Kommission« folglich fest, dass die internationale Gemeinschaft in ihrem Versuch, Sicherheit und Entwicklung in den Kosovo zu bringen, klar versagt hat. UNMIK habe weder die Kapazität noch die Courage bewiesen, den Abwärtstrend in der Provinz aufzuhalten.1

Ernüchternd ist dabei vor allem die Bilanz jener Säule UNMIK, für die die EU verantwortlich zeichnet: Wiederaufbau und wirtschaftliche Entwicklung. Das europäische Ziel, Aufbau einer robusten und modernen Wirtschaft im Kosovo, ist klar verfehlt worden. Die Provinz gehört zu den ärmsten Regionen Europas. Etwa 40% der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Mehr als die Hälfte der Erwerbsfähigen ist arbeitslos. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 75% in einer Region, in der 60% der Bevölkerung jünger sind als 25 Jahre. Es gibt kaum Industrie. In den Städten sind die internationalen Organisationen und NGOs Hauptarbeitgeber. Die Wirtschaft ist von internationalen Hilfen und Unterstützungsleistungen aus der Diaspora abhängig. Eine Hauptaufgabe der EU-Säule ist die Initiierung eines Privatisierungsprozesses, der die wirtschaftliche Entwicklung und Investitionen fördern soll. Zu diesem Zwecke wurde eigens die sogenannte »Kosovo Trust Agency« geschaffen. Eben jener von der EU verantwortete Prozess wird jedoch erheblich kritisiert. Zum einen ist die Privatisierung der ehemals volkseigenen, serbischen Betriebe an sich umstritten und nach Meinung von Rechtsberatern der VN durch Resolution 1244 nicht gedeckt. Zum anderen warnte der VN-Sondergesandte Kai Eide in seinem Report 2005, dass der Privatisierungsprozess erhebliches Potential für Geldwäsche und organisierte Kriminalität birgt sowie die Gefahr der Diskriminierung zum Beispiel durch ethnisch motivierte Einstellungen in sich trägt.2 Und tatsächlich stellte die Balkan-Kommission fest, dass sich bspw. die Anzahl der in der »Kosovo Electric Company« angestellten Serben von 4.000 im Jahr 1999 auf 29 im Jahr 2005 reduziert hat. Zu Recht kommt die Kommission deshalb zu dem Schluss, dass UNMIK und die internationale Gemeinschaft – und damit auch die EU – einen substantiellen Anteil am Scheitern des Projektes einer multi-ethnischen Gesellschaft im Kosovo trägt.

Europas Machtlosigkeit in außen- und sicherheitspolitischen Fragen

Ein ähnlich trauriges Ergebnis wie bei der Erfüllung der wirtschaftlichen Standards leistet sich Europa auch bei der Status-Frage. Seit April 2006 bereitet ein EU-Planungsteam für den Kosovo die bisher größte EU-Krisenmission vor. Im September 2006 beschloss der Rat die „Einsetzung eines Teams der Europäischen Union zur Mitwirkung an den Vorbereitungen für die Einsetzung einer eventuellen internationalen zivilen Mission im Kosovo, einschließlich der Komponente eines Sonderbeauftragten der Europäischen Union“. In der Gemeinsamen Aktion heißt es dabei, dass sich die EU bereit erklärt, „ihre Rolle im Kosovo nach der Lösung der Statusfrage auszubauen.“ Zur Lösung der Statusfrage selbst wird mitgeteilt: „Die EU hat ein grundlegendes Interesse an einem positiven Ergebnis dieses Prozesses sowie die Verantwortung und die Mittel, um zu einem solchen Ergebnis beizutragen.“3 So ermutigend diese Aussage auf den ersten Blick erscheint, das tatsächliche Engagement Europas in der Statusfrage hat den Prozess bisher wenig befördert.

Mit den Massenunruhen im Kosovo im März 2004 – dem sichtbaren Beweis, dass die KFOR ihrer Aufgabe nicht gewachsen war – kam die Wende in der westlichen Politik. Das Mantra »Standards before Status« wurde fallengelassen. Im Oktober 2005 gab der Sicherheitsrat den Startschuss für die Verhandlungen über den zukünftigen Status des Kosovo. Bereits vor Beginn der Gespräche in Wien sprachen sich jedoch die USA und Großbritannien für eine Unabhängigkeit der Provinz aus. Die USA hofften dabei, dass ihre Unterstützung für die überwiegend islamischen Albaner im Kosovo als positives Signal an Muslime weltweit interpretiert wird. Der U.S.-amerikanische Gesandte im Wiener Verhandlungsteam machte deshalb schnell klar, dass Slobodan Milosovic und die nationalistische Serbische Radikale Partei den Verlust des Kosovo zu verantworten hätten. Mit der klaren Aussage „Unabhängigkeit ist das Ergebnis“ von U.S.-Präsident Bush in Tirana im Juni diesen Jahres ist die Souveränität des Kosovo für die USA zudem kein verfrühtes Zugeständnis mehr, sondern eine echte Prestigefrage.

Während die Kosovo-Albaner die USA hinter sich wissen, können sich die Serben gleichermaßen der Unterstützung Russlands sicher sein. Moskau hat das frühe Vorpreschen der USA zum Anlass genommen, seine ganz eigenen Machtinteressen durchzusetzen. Der Kosovo bietet Russland die Möglichkeit, nach den Erhöhungen der U.S.-Militärausgaben und den Querelen um die Raketenabwehr in seinem traditionellen Einflussgebiet, dem Balkan, Stärke zu zeigen. Außerdem kann Moskau so vom eigenen Vorgehen in Tschetschenien ablenken. Russland wird deshalb nicht müde zu betonen, dass die Unabhängigkeit des Kosovo einen Präzedenzfall schaffe, welcher einen weltweiten Dominoeffekt auslösen könne und spricht sich demnach für Verhandlungen auf Basis der Resolution 1244 aus.

Die USA und Russland scheuen sich also nicht, klar für eine Partei Stellung zu beziehen. Diese Unterstützung nehmen Serben und Kosovo-Albaner dankbar zum Anlass, auf ihren Positionen zu beharren. Indessen beweist die EU ihre eigene Machtlosigkeit in außen- und sicherheitspolitischen Fragen. Mit einem durch Russland blockierten Sicherheitsrat ist eine neue VN-Resolution, auf der die großangelegte EU-Mission beruhen soll, in weite Ferne gerückt. Während sich Großbritannien auf die Seite der USA schlägt, haben Länder wie Spanien oder Rumänien Angst vor dem prognostizierten Dominoeffekt. Hinzu kommt die lange »Reflexionsphase« der EU nach dem Scheitern der Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden sowie die damit verbundene Erweiterungsmüdigkeit. Das »Strategiepapier 2005 zur Erweiterung« war zwar als Beruhigung gedacht, führte mit seinen »Drei Ks« – Konsolidierung, Konditionierung und Kommunikation – jedoch eher zur Verunsicherung der Balkanländer, die diese als Erschwernisse für ihren Weg in die EU ansehen. Ein Treffen der EU-Außenminister mit ihren Kollegen vom Westbalkan im März 2006 brachte zudem keine neuen Stabilisierungs- und Entwicklungsinitiativen für die Region. Von echten Anreizen und Perspektiven inklusive einer beschleunigten EU-Mitgliedschaft, wie sie von der Balkan Kommission als notwendige Voraussetzung vor allem für ein Einlenken Serbiens gefordert werden, kann demnach nicht die Rede sein. Ein stringentes Konzept Europas für den Kosovo unter Einbeziehung der USA und Russland – statt unter deren Führung – ist bisher nicht in Sicht.

Der Ahtisaari-Plan – kein tragbarer Kompromiss

In Anbetracht dieser klaren Konstellationen und frühen Zugeständnisse noch vor Beginn der Statusgespräche verwundert es im Nachhinein nicht, dass die Verhandlungen in Wien nach 14 Monaten scheiterten. Der VN-Sondergesandte Martti Ahtisaari, der das Verhandlungspotential als erschöpft ansah, erarbeitete deshalb einen eigenen umfangreichen Vorschlag zur Lösung der Status-Frage.4 Dieser Plan, den die EU-Ratspräsidentschaft im März diesen Jahres als fairen, ausgewogenen und zukunftsweisenden Kompromiss bezeichnete, ist jedoch mit Vorsicht zu genießen. Zwar wird an keiner Stelle der Status dieses zukünftigen Kosovo explizit ausgesprochen, mit Ahtisaaris Vorschlag würde der Provinz jedoch eine graduelle Souveränität gewährt. So erhielte der Kosovo zum Beispiel eine eigene Flagge, Siegel und Hymne und würde Herr über seine eigenen Grenzen. Gleichzeitig würde aber eine Art internationale Vormundschaft eingesetzt und der Provinz würden somit wesentliche Elemente der staatlichen Selbständigkeit entzogen. Neben der Stationierung einer internationalen Militärpräsenz ist die Einsetzung eines »Internationalen Zivilen Repräsentanten« vorgesehen, welcher mit der obersten zivilen Autorität des Landes ausgestattet werden soll. Der neue Staat würde somit auf unbestimmte Zeit unter internationale Aufsicht gestellt. Die Kosovo-Albaner können mit dieser unbefristeten Bevormundung deshalb auf lange Sicht nicht zufrieden sein. Zudem hat der Fall Bosnien-Herzegowina bereits gezeigt, dass ein solches System Korruption begünstigt und sich kontraproduktiv auf den Aufbau demokratischer Institutionen auswirkt.

Der Ahtisaari-Plan fordert des Weiteren etwas, woran schon UNMIK gescheitert ist: den Aufbau einer multiethnischen Gesellschaft. Dazu soll der neue Staat Kosovo den dort lebenden Serben mit einigen Privilegien schmackhaft gemacht werden. So werden den serbischen Enklaven weitreichende Autonomierechte zugestanden. Auch würde es Serbien gestattet, über die Enklaven in die Provinz »hineinzuregieren«. Lässt man einmal außer Acht, dass die Kosovo-Albaner eine derartige Beschneidung ihres Machteinflusses wohl kaum zulassen werden, so spielt eine solche Regelung eher dem Ausbau der bereits vorhandenen serbischen Parallelgesellschaft in die Hände, als Multiethnizität zu fördern. Weiterhin ist absehbar, dass trotz dieser Zugeständnisse Serbien der Abtrennung der Provinz vom serbischen Staatsgefüge nicht zustimmen würde. Mit diesem »Kompromiss« können daher weder Serben noch Kosovo-Albaner zufrieden sein, geschweige denn auf lange Sicht leben.

In Anbetracht dieser Defizite ist es umso verwunderlicher, dass die EU diesen Vorschlag begrüßt hat. Das zeugt einmal mehr von der Kurzsichtigkeit der Europäer. So ist es doch die EU, die ab Inkrafttreten des Plans neben den Kosten für den wirtschaftlichen Aufbau vielleicht für Jahrzehnte auch die Mittel für die zivilen und militärischen Einsätze bereitzustellen hat. Zudem wird Europa die politische Verantwortung für alle Unzulänglichkeiten übernehmen müssen und damit bald zur Zielscheibe für serbische und albanische Nationalisten werden. Hinzu kommen die völkerrechtlichen Probleme des Ahtisaari-Plans: Der VN-Sicherheitsrat kann weder »Staaten schaffen« noch die Grenzen souveräner Staaten gegen deren Willen verändern. Laut Resolution 1244 ist der Kosovo noch integraler Bestandteil der Republik Jugoslawien. Jede neue VN-Resolution, die gegen den Willen Serbiens die Unabhängigkeit des Kosovo fordert, würde somit eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates darstellen. Das ist momentan zwar wenig wahrscheinlich, da Russland in diesem Fall sein Veto einlegen würde, es gibt jedoch noch eine zweite Option, die für die EU eine viel größere Problematik in sich trägt: Die Regierung im Kosovo könnte den Ahtisaari-Plan als Grundlage nehmen, um unilateral die Unabhängigkeit auszurufen. Rein theoretisch müsste die UNMIK diese Entscheidung dann sofort annullieren, und die KFOR müsste einschreiten. Die EU wäre zu diesem Zeitpunkt vor die Wahl gestellt, ob sie nach 1999 zum zweiten Mal eine nicht-völkerrechtskonforme Politik mittragen will. Europa wird sich dann aller Voraussicht nach in eine »Koalition der Willigen« hinter den USA – die in diesem Fall den Kosovo anerkennen würden – und eine »Koalition der Verweigerer« spalten. Für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik hätte dies fatale Folgen.

Europa muss wahre Verantwortung übernehmen

Mit viel Mühe ist es Europa nun gelungen, noch einmal Zeit für eine Verhandlungslösung zu gewinnen. Eine Troika aus Vertretern der EU, USA und Russland soll bis zum 10. Dezember 2007 Gespräche zwischen den Kosovo-Albanern und den Serben überwachen. Vertreten durch den deutschen Diplomaten Wolfgang Ischinger bemüht sich die EU nun darum, Einigkeit zu demonstrieren; sie warnt jedoch gleichzeitig vor »überhöhten Erwartungen«. Allein die Eröffnung einer neuen Verhandlungsrunde kann keine Wunder bewirken, denn die Fronten sind längst verhärtet. Es gilt deshalb nun, gleichberechtigte, faire und vor allem ergebnisoffene Gespräche einzuleiten. Erste Bewegungen sind bereits erkennbar: Vuk Jeremic, der serbische Außenminister, hat mit Beginn der Gespräche seinen Glauben an einen Kompromiss bekräftigt und dem Kosovo erhebliche Autonomierechte inklusive einiger souveräner Vorrechte angeboten. Auch hält Russland mittlerweile eine Teilung der Provinz für möglich, sollten beide Seiten einwilligen. Klar ist, dass jede getroffene Regelung von Serben und Kosovo-Albanern mitgetragen und vor allem unterstützt werden muss. Solange jedoch die USA die Unabhängigkeit des Kosovo propagieren, ist ein Einlenken der Kosovo-Albaner nicht wahrscheinlich.

Für Europa ist es nun Zeit, endlich das zu halten, was es seit langem verspricht: Verantwortung zu übernehmen. Es ist deshalb auf den ersten Blick zu begrüßen, wenn Wolfgang Ischinger verkündet: „The key question is whether the EU will be capable of making decisions that will allow it to remain in the driver‘s seat of this situation.“5 Das wiederum heißt jedoch, ein eigenes außen- und sicherheitspolitisches Konzept zu entwickeln und es mit einer Stimme zu vertreten. Der Kosovo ist das beste Beispiel dafür, dass das Zurschaustellen militärischen Potentials und die Übernahme großangelegter »Folge- und Aufräummissionen« allein keine Konflikte löst. Stattdessen braucht die Region echte europäische Unterstützung, d.h. eine ökonomische Entwicklungsstrategie und vor allem eine glaubwürdige EU-Perspektive.

Anmerkungen

1) International Commission on the Balkans: The Balkans in Europe’s Future, Report April 2005, http://www.balkan-commission.org.

2) A Comprehensive Review of the Situation in Kosovo, United Nations Security Council S/2005/635l.

3) Gemeinsame Aktion 2006/623/GASP des Rates vom 15. September 2006.

4) Report of the Special Envoy of the Secretary-General on Kosovo’s future status, United Nations Security Council S/2007/168.

5) Dan Bilefsky, Top EU Mediator warns against partition of Kosovo, in: International Herald Tribune, 6. September 2007, http://www.iht.com/articles/2007/09/06/europe/kosovo.php.

Gabriele Rasch ist Politikwissenschaftlerin und Historikerin. Sie ist Mitarbeiterin im Arbeitskreis Internationale Politik der Bundestagsfraktion DIE LINKE

Vorfahrt für Zivil in Europa

Vorfahrt für Zivil in Europa

von Stephan Brües

Ein dreiviertel Jahr wurde es vorbereitet, nun ist das Projekt Berlin 07 – die Jahresversammlung des »European Network for Civil Peace Services« (EN.CPS) und der »Nonviolent Peaceforce Europe« – vom 20.-26. April über die Bühne gegangen. Der Tagungsort war mit dem Jugendgästehaus Lehrter Str. gut gewählt: mitten in der Stadt, in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs und trotzdem mit ruhigem Innenhof, in dem die 50 Teilnehmenden aus 15 Ländern bei konstant schönem Wetter Workshops abhalten oder auch mal relaxen konnten.

Die Tagung mit dem Titel »Civil Society Working on Conflict – Practices and Perspectives« begann im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Deutschen Bundestages. Neben Gästen vom »Entwicklungshilfe«ministerium, dem Auswärtigen Amt, der EU-Kommission, dem Leiter des Zentrum für internationale Einsätze (ZIF) und dem European Peace Liason Office (EPLO) wurden die Konferenzteilnehmenden auch von zwei MdBs (Niels Annen, SPD und Winni Nachwei, Bündnis90-Grüne) und den Vorsitzenden der beiden gastgebenden Organisationen, Tilman Evers (Forum ZFD) und Ute Finckh-Krämer (BSV) begrüßt. Im Mittelpunkt standen jedoch die Berichte dreier Friedensfachkräfte: der Juristin Deborah Nonhoff (DED) über ihre Arbeit in Afghanistan im Bereich Menschenrechtserziehung; von Atif Hameed von der Nonviolent Peaceforce über seine Arbeit im Osten Sri Lankas sowie von Biljana Todorovic, Leiterin des Büros des Forum ZFD in Mitrovica, Kosovo, über ihre Unterstützung lokaler Gruppen, die den schwelenden Konflikt zwischen Albanern und Serben zu überwinden suchen. In der von der Journalistin Mirjam Gehrke moderierten Diskussion wurde v.a. über die Frage gesprochen, ob der deutsche Zivile Friedensdienst Vorbild für die EU-Ebene sein könne. Die Arbeit der Friedensfachkräfte des Zivilen Friedensdienste wurde allseits hoch geschätzt und eine intensivere Zusammenarbeit mit den zivilgesellschaftlichen Trägerorganisationen versprochen. Im Anschluss hieß die Berliner Bürgermeisterin Junge-Reyer die internationalen Gäste herzlich in der Hauptstadt willkommen.

Der 21. und 22. April standen im Zeichen des Open Space. Unter der umsichtigen Moderation von Ruben Kerschat entstanden rasch Workshops, deren Ergebnisse in Form von Wandzeitungen sofort für alle anderen sichtbar gemacht wurden und am Ende in gebundener Form jedem Teilnehmenden vorlagen. So war sicher gestellt, dass nicht nur interessant diskutiert wurde, sondern auch zielführend im Hinblick auf die wichtigen Fragen der organisationsinternen Tage 23.04. (EN.CPS) und 24.04. (NP).

Am Sonntag sollst du ruhen – oder an einer Bootsfahrt teilnehmen. Das taten die Gäste und lauschten bei reichhaltigem, leckeren Buffet und kühlen Getränken den Ausführungen der Berliner Geschichtswerkstatt über »Krieg und Frieden in Berlin«, die Annedore Smith ins Englische übersetzte. Die Bootsfahrt endete ziemlich genau dort, wo der nächste Programmpunkt der Tagung stattfand: am Gendarmenmarkt. Im Französischen Dom spielten sich LeLeMam, sieben Vollblutsängerinnen aus Alkmar, in die Herzen der viel zu wenigen Anwesenden. Bei den organisationsinternen Tagen wurden Strukturen, Strategien und mögliche Kandidierende für Vorstandsaufgaben diskutiert.

Am 25.05. fand zum Abschluss der Jahresversammlung eine Pressekonferenz mit Tilman Evers und Ute Finckh, dem Konferenzorganisator Jochen Schmidt sowie Agnieszka Komoch, Leiterin des NP-Büros in Brüssel statt. Die Redner stellten dabei die positive Arbeit der Friedensfachkräfte heraus und forderten angesichts des Bedarfs an Projekten des Zivilen Friedensdienstes eindringlich mehr Geld für diese erprobten Formen der Konfliktbearbeitung auszugeben statt für fragwürdige Militäreinsätze. Mit genau diesen Forderungen zogen dann die 50 europäischen Friedensexperten öffentlichkeitswirksam mit 300 Luftballons (Aufschrift »Vorfahrt für Zivil«), begleitet von viel zu vielen Polizisten, durch den Hauptbahnhof zum Washingtonplatz, verteilten Flugblätter und ließen die Luftballons schließlich steigen.

Der 26.04. stand im Zeichen einer Follow-up-Konferenz, bei der Experten aus Friedensorganisationen und Vertreter von Ministerien und EU darüber diskutierten, wie die Förderung des Zivilen Friedensdienstes und der gewaltfreien Konfliktbearbeitung weitergehen kann. Insgesamt gesehen kann die Konferenz als großer Erfolg gewertet werden, vor allem im Hinblick auf die Vernetzung der Mitgliedsorganisationen der beiden Netzwerke und der Lobbyarbeit. Besondere Aufmerksamkeit erhielten dabei die Mitarbeiterinnen aus den »exotischen« Ländern Moldawien und Georgien, über deren Menschenrechtsarbeit recht wenig bekannt war. Beispielhaft sei die aktuelle Kampagne des georgischen Menschenrechtszentrums HRIDC genannt, bei der der zurückliegende Krieg mit dem separatistischen Abchasien thematisiert und mit einer an die Abchasen gerichteten Bitte um Vergebung für georgische Gewalt ein eindrucksvolles Versöhnungszeichen gesetzt wird. Möglicherweise findet die nächste Jahrestagung der beiden Verbände in Georgien statt.

Stephan Brües arbeitet als freier Journalist und war der Medienverantwortliche für die Friedensfachtagung in Berlin

Wirtschaftskooperation auf Koreanisch

Wirtschaftskooperation auf Koreanisch

von Rainer Werning

In Nordkoreas Gaeseong Industrial Complex wird ungeachtet heftiger Debatten über das Nuklearprogramm der Volksrepublik im Gleichschritt mit südkoreanischem Kapital marschiert.

Auf der koreanischen Halbinsel liegt unweit des 38. Breitengrads und der sog. Entmilitarisierten Zone (DMZ) die nordkoreanische Stadt Gaeseong. Während des Koreakrieges (1950-53) wurde sie größtenteils zerstört. Ausgerechnet dort befindet sich heute mit dem Gaeseong Industrial Complex (GIC) ein Kronjuwel der innerkoreanischen Kooperation. Im GIC ist Südkorea mit Kapital (das Investitionsvolumen beträgt umgerechnet etwa zwei Milliarden US-Dollar) und technologischem Know-how präsent, während der Norden Grund und Boden sowie vergleichsweise billige Arbeitskräfte bereitstellt. Treffen auch nur annähernd die Prognosen von Experten diesseits und jenseits des 38. Breitengrads zu, dürfte der GIC zum gigantischen Laboratorium eines auch innerhalb der Volksrepublik langfristig weit reichenden ökonomischen Transformationsprozesses werden.

Die Vorgeschichte

Auf dem historischen Gipfeltreffen zwischen den Staatschefs Kim Dae-Jung und Kim Jong-Il wurde im Juni 2000 die »Gemeinsame Nord-Süd-Erklärung« unterzeichnet, die eine enge Zusammenarbeit auf nahezu sämtlichen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens vorsieht. Im wirtschaftlichen Bereich wurde nach intensiven Beratungen vereinbart, eben diesen GIC aufzubauen. Im April 2004 trafen das südkoreanische Unternehmen Hyundai Asan und das Asia-Pacific Peace Committee Nordkoreas ein entsprechendes Abkommen, wobei die nordkoreanische Seite ein insgesamt 66,1 Quadratkilometer großes Areal für 50 Jahre verpachtete, das in drei Phasen entwickelt werden soll. Das Pilotprojekt, das 2007 abgeschlossen sein soll, umfasst eine Fläche von 3,3 Quadratkilometern.

Bald auch westliche Modenschauen?

Waren 2004 zwei Firmen im GIC tätig, so betrug deren Zahl im Frühjahr 2006 bereits 15 – meist mittelständische – südkoreanische Unternehmen. Bis Ende 2007 sollen dort etwa 300 Firmen präsent sein. Ende 2004 wurden im GIC Waren im Wert von umgerechnet 14 Mio. US-Dollar produziert, drei Jahre später soll das Volumen bereits zirka zwei Milliarden Dollar betragen. Die Zahl der dort beschäftigten nordkoreanischen Arbeiter/innen soll sich von derzeit etwa 20.000 auf insgesamt 730.000 im Jahr 2012 erhöhen. Die im GIC gezahlten Monatslöhne sind mit umgerechnet 57,50 bis 75 US-Dollar vergleichbar den Löhnen in China (abgesehen von den Sonderwirtschaftszonen an der Südküste) und in Vietnam. Bei Überstunden erhalten die Arbeiter einen Bonus von 50 bis 100 Prozent. Während das südkoreanische Vereinigungsministerium die Arbeiter gern direkt ausbezahlt sähe, vermochte die nordkoreanische Seite eine temporäre Lösung durchzusetzen. Diese sieht vor, dass die Arbeiter ihre Lohnabrechnungen lediglich überprüfen, sie unterschreiben und danach nordkoreanische Won ausbezahlt bekommen. Geplant ist, im GIC zumindest Geldwechselstuben einzurichten, woran die südkoreanische Seite die Erwartung knüpft, dass es zur direkten Lohnauszahlung an die Beschäftigten kommt. Im Februar 2006 fand im GIC überdies ein – für nordkoreanische Verhältnisse ungewöhnliches – Symposium über für Investitionen relevante Themen statt. Dabei wurde auch vereinbart, künftig westliche Modenschauen auszurichten.

Verbesserung der Infrastruktur

Ein noch ungelöstes Problem im GIC bleibt die Frage, ob oder wie Transporte strategischer Güter stattfinden können, und wer das Ursprungsland der dort hergestellten Produkte ist. Die USA betrachten die im GIC produzierten Erzeugnisse als nordkoreanische, während Seoul da anderer Meinung ist und für die Öffnung des GIC auch und gerade für internationales Kapital plädiert.

In diesem Zusammenhang ist interessant, dass 2006 im Osten und Westen des Landes zwei Bahn- und Straßenverbindungen eröffnet wurden, um zu ermöglichen, dass bald bis zu 4,3 Millionen Menschen jährlich die Volksrepublik besuchen können. Im Jahre 2003 passierten gerade einmal 3.600 Personen die Grenze, zwei Jahre später waren es bereits 66.000. Deutlich stieg im Zuge dieser Entwicklung auch der innerkoreanische Handel, von umgerechnet 222 Mio. US-Dollar 1998 auf 1,055 Mrd. Dollar 2005 – Tendenz steigend. Mittlerweile ist Südkorea nach der Volksrepublik China der zweitgrößte Handelspartner Nordkoreas.

Zweifellos ist mit dem GIC der Grundstein für eine Nord-Süd-Annäherung gelegt. Sie könnte florieren und dann auch Impulsgeber sein für ein langfristiges Projekt, das da hieße: Nordostasiatischer Gemeinsamer Markt.

Davor liegen aber noch Stolpersteine:

  • Seit dem Ende des Koreakriegs gibt es lediglich einen Waffenstillstand, den Südkorea nicht einmal unterzeichnete, und keinen Friedensvertrag;
  • Nordkoreas Nuklearprogramm und seine Raketentests;
  • Südkoreas seit Ende1948 bestehendes (wenngleich mehrfach revidiertes) Nationales Sicherheitsgesetz, in dem Nordkorea nicht als Staatswesen, sondern als »regierungsfeindliche Organisation« charakterisiert wird.

Doch die Tatsache, dass man heute einen »industrial« anstelle eines »security complex« pflegt, lässt hoffen.

Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler und Publizist, ist u.a. Vorstandsvorsitzender des Korea-Verbands e.V. (Berlin) und Ko-Herausgeber des Ende 2006 im Kölner PapyRossa Verlag erschienenen Bandes »Korea – Entfremdung und Annäherung«.

Weg mit der Mauer in Palästina

Weg mit der Mauer in Palästina

von Barbara Dietrich

Das Thema Europa und sein Verhältnis zum israelisch-palästinensischen Konflikt stand im Mittelpunkt einer Konferenz, zu der deutsche, palästinensische und jüdische Gruppen Ende letzten Jahres nach Berlin eingeladen hatten. Unter ihnen: Der Koordinationskreis »Stoppt die Mauer in Palästina«, die IPPNW, die deutsch-palästinensische Gesellschaft, die Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden und die Palästinensische Gesellschaft Deutschlands. Barbara Dietrich fasst de wichtigsten Aussagen für W&F zusammen.

In seinem einleitenden Referat lieferte Fatih Khdirat, Koordinator der palästinensischen Kampagne gegen die Apartheidmauer im Jordantal einen Überblick über die Geschichte der zionistischen Bewegung bis 1948 und die Siedlungspolitik Israels bis 1993. Jahre, die gekennzeichnet waren durch die Vertreibung der Palästinenser. Auch in der Zeit nach den Verträgen von Oslo sei deutlich geworden, dass Israel keine palästinensische Selbstverwaltung in den besetzten Gebieten zulassen wollte. Vielmehr sollten diese Gebiete in die israelische Infrastruktur integriert werden. Deshalb seien die Siedlungen ausgeweitet und das Netz der Verbindungsstraßen für die Siedler – unter Umgehung der palästinensischen Siedlungen – erheblich vergrößert worden.

Im Verlauf der 2. Intifada – ab 2000 – zerstörte Israel palästinensische Dörfer und Siedlungen, auch unter Einsatz der Luftwaffe und ohne Rücksicht auf die dort lebenden Kinder. Bis heute werde die Besetzung einseitig fortgesetzt unter Berufung darauf, dass es auf palästinensischer Seite keinen Verhandlungspartner gebe.

Den Mauerbau, im Jahr 2000 begonnen, bezeichnete Khdirat als die 3. Katastrophe (al nakba) nach der 1. von 1948 und der 2. von 1967. Er schilderte die Folgen der Trennmauer, durch die u.a. Wohngebiete und Dörfer auseinander gerissen, Bauern von ihren Feldern abgeschnitten und 100.000e Olivenbäume – wichtige Einnahmequelle der Palästinenser – zerstört worden seien. Die Stadt Qalqilja, die ringsum von Mauern umgeben ist, bezeichnete der Referent als Freiluftgefängnis für ihre 43.000 Einwohner. Zudem würden in der Nähe der Mauer gezielt schadstoffintensive Betriebe angesiedelt. Das Recht auf Bildung sei für viele palästinensische Schüler unzugänglich geworden, Tausende müssten jeden Tag an den Checkpoints warten, um zur Schule und nach Hause kommen zu können. Da es verboten sei zu bauen, müssten Kinder in Zelten unterrichtet werden.

Der Konvergenzplan Olmerts sehe 3 Enklaven – Ramallah, Nablus und Hebron – vor, die nur über israelische Kontrollpunkte zugänglich seien. Voraussetzung für die Etablierung eines palästinensischen Staates aber sei die geographische Einheit des Staatsgebietes. Inzwischen seien nur noch 12% des gesamten Territoriums für Palästina vorgesehen – 1947 waren es nach dem UNO-Teilungsplan 47%.

Für Jeff Halper, israelischer Anthropologe und Direktor des israelischen Komitees gegen Häuserzerstörung, arbeitet die zionistische Bewegung seit 100 Jahren daraufhin, die Kontrolle über das historische Palästina vom Mittelmeer bis zum Jordan zu bekommen. Grundlage der israelischen Politik sei historisch ein stammesorientierter Nationalismus gewesen, wie ihn die aus Russland immigrierten Juden verträten. Später sei ein österreichisch geführter, über die Abstammung definierter Nationalismus hinzugekommen, der durch Exklusivität gekennzeichnet sei. Das Land – Eretz Israel – gehört danach ausschließlich dem jüdischen Volk, das gegenüber anderen privilegiert ist. Die Araber – so werden die Palästinenser bezeichnet, um jeden Anschein von Legitimität zu vermeiden – gelten nicht als Volk oder Nation, ihnen steht kein Selbstbestimmungsrecht zu. Sie würden in Israel lediglich geduldet.

Israels Politik ist für Jeff Halper ideologisch und darauf ausgerichtet, dass ein Volk ein anderes auf Dauer dominiert. Die radikalste Version, der Transfer im Sinne einer ethnischen Säuberung, werde in Israel überall öffentlich diskutiert. Wenn sie verworfen werde, so nicht aus moralischen Gründen, sondern weil dies dem Image schade.

Den 4 Mio. Palästinensern werde im »Konvergenzplan« Ehud Olmerts ein Staat zugestanden, der nicht mehr als 15% des Territoriums der Westbank umfasse, nur halbsouverän und wegen seiner geographischen Zersplitterung nicht lebensfähig sei. Es werde nicht berücksichtigt, dass Flüchtlinge in das Gebiet zurückkehren wollen, es aber keine Industrie mehr gibt und die Landwirtschaft zerstört wurde, dass 70% der Palästinenser mit weniger als 2 $ / Tag auskommen müssen und dass 6o% von ihnen in den besetzten Gebieten und den Flüchtlingslagern unter 18 Jahren sind. Die Mauer sei also kein Sicherheitszaun, sondern eine politische Grenze im Kontext des Konvergenzplans – dies habe die israelische Außenministerin Zipi Livni selbst zugegeben.

Abschließend fordere Halpers, dem Konvergenzplan entgegenzutreten und eine umfassende Anti- Apartheid-Kampagne ins Leben zu rufen.

Die »imperialistische Strategie der USA« stand im Mittelpunkt der Ausführungen von Gilbert Achkar, Politologe an der Universität in Paris. Nach den Kriegen in Afghanistan und Irak gehe es nun darum den Iran als Haupthindernis der imperialen Hegemonie im Nahen Osten auszuschalten. Iran werde als Führerin einer regionalen Allianz mit Syrien, der Hisbollah im Libanon, der Hamas in Palästina und den proiranischen Schiiten im Irak gesehen.

Die Parlamentswahl in Palästina im Januar 2006 mit dem Sieg der Hamas sei von Washington als ein Sieg Syriens und des Iran interpretiert und rasch mit einem Boykott der demokratisch gewählten palästinensischen Regierung von Seiten der USA und der EU beantwortet worden. Nach den Erfahrungen im Libanon hätten die USA und Israel die Bildung einer Einheitsregierung verhindern und die Palästinenser in einen Bürgerkrieg unter Beteiligung der mit den USA kooperierenden Sicherheitskräfte in Gaza treiben wollen. Den Palästinensern sei diese Gefahr bewusst gewesen, deshalb intensivierten sie ihre Verhandlungen, bis am 27.6. eine Einigung über das so genannte Gefangenenpapier1 zustande kam: In abgeänderter Version wurde es eine gemeinsame Plattform, die auf dem Konsens fast aller palästinensischen Splittergruppen beruhte und die grundlegenden Ziele des palästinensischen Volkes benannte.2

Die USA und Israel akzeptierten dies nicht und es begann 1 Tag später, am 28.6., der Krieg gegen Gaza unter dem Vorwand der Entführung eines Israelischen Soldaten am 25.6. Einige Wochen später erfolgte der Angriff auf den Libanon, wieder unter ähnlichem Vorwand. Ziel dieser Offensiven sei es gewesen, Hamas und Hisbollah zu zerschlagen.

Die Nato-Truppen, die derzeit unter UN-Mandat im Libanon seien, seien de facto Werkzeuge der US-Strategie, eine Intervention zum Schutz des palästinensischen Volkes sehe das Mandat nicht vor. Achkar sprach die Befürchtung aus, dass die gegenwärtige Schwäche der Regierungen Bush und Olmert die Bildung einer Einheitsregierung in Palästina nicht erleichtert, sondern eher noch zu mehr Aggression beiträgt.

Da die Verbrechen Israels während beider Kriege zusehends offensichtlicher würden, sei es vordringlich, eine internationale Kampagne gegenüber westlichen Regierungen zu starten mit dem Ziel, eine Änderung ihrer Politik zugunsten der Menschen und des Friedens zu erwirken. Es habe sich, so schloss der Referent, eine „Globalisierung der Unsicherheit“ entwickelt, die zurückwirke auf die Staaten, die die USA und Israel unterstützten.

Otfried Nassauer, Leiter des Berlin Information Center for Transatlantic Security (BITS) zeigte die kontinuierliche Militärkooperation zwischen BRD und Israel auf, die bereits 1955/56, zehn Jahre vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen und zu einer Zeit begann, in der es Deutschland noch untersagt war, Rüstungsgüter zu produzieren. Das Kriegsschiff, das damals an Israel geliefert wurde, sei im Rahmen des zivilen Schiffsbaus hergestellt worden. Es wurden außerdem Waffen aus Wehrmachtsbeständen und von den USA geschenkte Waffen geliefert. Prägend für die Kooperation sei ihre weitgehende Geheimhaltung: In den 80iger Jahren wurde die Militärkooperation vor allem über den BND und Mossad abgewickelt, was die Umgehung der parlamentarischen Kontrolle implizierte und sicherstellte, dass die Kooperation mit arabischen Partnern nicht belastet wurde. Rüstungsgüter, die nach Israel geliefert werden sollten, seien als dual-use-Güter oder als Güter deklariert worden, die keinen Bezug zur Rüstung haben. Offensichtlich militärische Produkte wie z.B. die Kanone und der Motor für den Leopard II-Panzer wurden hingegen über die USA nach Israel geliefert. Auch in Israel sei an der Geheimhaltung festgehalten worden: das label »Made in Germany« war in der Regel an nicht sichtbarer Stelle angebracht.

Raif Hussein, Vorsitzender der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, referierte zu Fragen der Solidaritätsarbeit. Er definierte Solidarität als tragfähige Freundschaft, die Warnungen vor Fehlern und Kritik aushalten muss.

Die Sprecherin der »European Jews for a Just Peace«, Fanny-Michaela Reisin, forderte Israel auf, endlich die zahlreichen Resolutionen der UN zu befolgen. Da die Staatengemeinschaft den Verletzungen internationalen Rechts durch Israel bisher weitgehend tatenlos zusehe, sei es Aufgabe der Zivilgesellschaft, dagegen anzugehen. Die EJJP habe deshalb eine Kampagne gestartet und zu Boykott, Investitionsstop und Sanktionen aufgerufen: Waren mit israelischem Stempel, die aus den besetzten Gebieten kommen, sollen nicht mehr gekauft, Waren, die als dual-use Güter anzusehen sind, nicht mehr nach Israel exportiert werden.

Abschließend wies Frau Raisin darauf hin, dass hebräische Universitäten eng mit dem israelischen Militär und dem Besatzungssystem verflochten sind und Aufträge von ihm empfangen. Sie schlug deshalb vor, Universitätslehrer aus Israel nur noch dann einzuladen, wenn diese die Besatzungspraxis explizit ablehnen.

Die Abschlusserklärung der Konferenzteilnehmer/innen beinhaltet vor allem einen Aufruf zur Teilnahme an der Kampagne gegen die Mauer und für Boykott, Investitionsstopp und Sanktionen als Maßnahmen gegen die israelische Besatzungspolitik.

Anmerkungen

1) Vgl. »The Document of National Agreement«, signed by imprisoned Palestinian leaders vom 11.5.2006

2) Vgl. »Dokument der nationalen Übereinkunft« vom 28.6.2006, aus dem arabischen von Th. Hillesheim und J. Salem übersetzte Fassung, Ramallah 13.9.2006

Prof. Dr. Barbara Dietrich, Frankfurt

Krisenlösung durch Intervention?

Krisenlösung durch Intervention?

von Lena Jöst, Werner Ruf, Peter Strutynski und Nadine Zollet

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 1/2009
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden

Militärinterventionen: Verheerend und völkerrechtswidrig

Möglichkeiten friedlicher Konfliktlösung

von Werner Ruf und Peter Strutynski

Die AG Friedensforschung an der Universität Kassel hat von der Rosa-Luxemburg-Stiftung den Auftrag erhalten, zwei Politikanalysen zu erstellen, die sich im weitesten Sinne mit dem Problem der Militarisierung der Weltpolitik befassen, im engeren Sinn aber zwei komplementär zueinander stehende Fragestellungen bearbeiten: Bei der ersten ging es darum, ausgewählte als humanitär bezeichnete Militärinterventionen zu evaluieren, in der zweiten sollten – wiederum anhand ausgewählter Fallbeispiele – Möglichkeiten friedlicher Konfliktlösungen diskutiert werden.

Sieben Fallstudien

Die von uns nach langen Diskussionen ausgewählten Fallbeispiele sind nicht repräsentativ für die Vielzahl der vergangenen oder aktuellen Kriege und bewaffneten Konflikte in der Welt. Das kann auch nicht anders sein, da jeder einzelne Konflikt einen höchst individuellen Charakter hat, eine eigene Geschichte, spezifische Ursachen, Verlaufsformen und Dynamiken sowie ganz unterschiedliche Formen ihrer Einbettung in regionale und internationale Kontexte. Schließlich unterscheiden sich auch die Arten des Eingreifens Dritter in den jeweiligen Konflikt.

Hinzu kommt, dass es keine verlässliche Typologie der Kriege gibt, nach denen eine repräsentative Auswahl von Fallstudien möglich wäre. Die alleinige Zuordnung etwa zu den »neuen Kriegen« oder asymmetrischen Konflikten bringt ebenso wenig Erkenntnisgewinn wie die von der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) vorgeschlagene Unterteilung in Antiregime-Kriege, Autonomie- und Sezessionskriege, zwischenstaatliche Kriege und Dekolonisationskriege. Alle diese Versuche, Kriege zu kategorisieren, erscheinen uns entweder als zu abstrakt oder zu schematisch. In der Realität haben wir es in der Regel mit Mischformen zu tun, die dem einzelnen Krieg oder bewaffneten Konflikt wiederum seine Individualität verleihen.

Wir folgen aber AKUF in ihrer Kriegsdefinition. Danach sprechen wir von einem Krieg dann, wenn es sich um einen »gewaltsamen Massenkonflikt« handelt, der folgende Merkmale ausweist:

An den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte (Militär, paramilitärische Verbände, Polizeieinheiten) der Regierung handelt.

Auf beiden Seiten muss ein Mindestmaß an zentralgelenkter Organisation der Kriegführenden und des Kampfes gegeben sein, selbst wenn dies nicht mehr bedeutet als organisierte bewaffnete Verteidigung oder planmäßige Überfälle (Guerillaoperationen, Partisanenkrieg usw.).

Die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuität und nicht nur als gelegentliche, spontane Zusammenstöße, d.h. beide Seiten operieren nach einer planmäßigen Strategie, gleichgültig ob die Kämpfe auf dem Gebiet eines oder mehrerer Gesellschaften stattfinden und wie lange sie dauern.

Unsere Auswahl von Kriegs-Fallbeispielen wurde letztlich relativ pragmatisch vorgenommen.

In vier Fällen handelt es sich um militärische Interventionen Dritter in einen schwelenden Konflikt, die ausdrücklich als »humanitäre Interventionen« bezeichnet werden. Wobei den Interventionen in Somalia, Haiti und in der Elfenbeinküste entsprechende UN-Resolutionen zu Grunde lagen, während es beim Kosovo um eine Selbstmandatierung der NATO ging, die ebenfalls euphemistisch als »humanitäre Intervention« ausgegeben wurde (angeblich um eine »humanitäre Katastrophe« zu verhindern).

Mit den vier »humanitären« und den übrigen drei Fallbeispielen (das sind Niger, Nordirland und Osttimor) wurde dem Wunsch Rechnung getragen, möglichst alle Kontinente zu berücksichtigen. Mit Haiti in Lateinamerika, Kosovo und Nordirland in Europa, Elfenbeinküste, Niger und Somalia in Afrika und Osttimor in Asien ist das auch – von Australien abgesehen, wo es aber auch keinen Krieg gibt – geglückt.

Die folgende Präsentation wird in drei Teilen stattfinden:

Der erste Teil ist überschrieben mit: »Humanitär intervenieren – aber nur mit humanitären Mitteln!« und wurde von Lena Jöst und Peter Strutynski bearbeitet. Für den zweiten Teil zeichnen Werner Ruf und Nadine Zollet verantwortlich: »Transformation bewaffneter Konflikte und die Möglichkeit ziviler Konfliktbearbeitung«. Zusätzlich haben wir das Fallbeispiel Osttimor ausgewählt, da der Osttimor-Einsatz immer wieder als die (einzige) erfolgreiche Intervention bezeichnet wird. Alle drei Teile wurden für die Veröffentlichung in diesem Dossier stark gekürzt.

Werner Ruf / Peter Strutynski

Humanitär intervenieren – aber nur mit humanitären Mitteln!

von Lena Jöst und Peter Strutynski

„Der humanitären Hilfe kommt in den nächsten Jahren zunehmende Bedeutung zu“, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung des »Tages der humanitären Hilfe« am 12. Oktober 2007. Humanitäre Hilfe – das sei „medizinische Notversorgung für Menschen in Afghanistan“, „Nothilfe für die Opfer von Bürgerkriegen und Konflikten“ wie im Libanon oder in Somalia, „Hilfe für die Hurrikan-Opfer in Nicaragua“ und vieles andere mehr. Die Aufzählung der verschiedenen Einsatzregionen deutscher »Menschenfreundlichkeit und Wohltätigkeit« macht genauso hellhörig wie das Motto, unter dem der Tag stand: »Weltweit Verantwortung übernehmen« (AA 2007). Weltweit Verantwortung übernimmt die Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen erst seit dem Ende der Blockkonfrontation – und immer öfter im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Ehe wir uns versehen, sind wir also schon mitten im Thema unseres Projektes, in dem es um die Evaluierung sog. humanitärer Militärinterventionen, mithin um grundlegende Fragen der Legalität bzw. Legitimität von Krieg als Mittel der Politik zum Frieden geht.

Vom Kalten Krieg zum heißen Frieden

Der Kalte Krieg war, wenn man ihn aus der Perspektive der beiden Militärblöcke betrachtet, ein »kalter Frieden«. Das heißt: Unter der gegenseitigen atomaren Bedrohung waren die Großmächte zum Frieden, zur begrenzten Partnerschaft gezwungen. Wir nannten sie »friedliche Koexistenz«. Alles andere als dieser vernunft- und angstgeleitete Modus Vivendi hätte eine Katastrophe für beide Seiten und den Rest des Planeten heraufbeschworen. Der in den 1970er Jahren eingeleitete Helsinki- bzw. KSZE-Prozess trug dieser Situation Rechnung und leistete sowohl einen Beitrag zur Entspannungspolitik – worauf vor allem die Staaten des Warschauer Vertrags drangen – als auch zur ideologischen Delegitimierung des sozialistischen Lagers, worauf es der Westen mit seiner instrumentellen Menschenrechtspolitik abgesehen hatte.

Für Regionen, die sich innerhalb der Macht- und Einflusssphären der Supermächte unbotmäßig verhielten oder die sich ganz außerhalb der festgezurrten Hemisphären befanden, bedeutete der Kalte Krieg dagegen eher einen heißen Krieg. Davon gab es bis zur Epochenwende 1989/90 und natürlich auch danach reichlich. Wir zählen von 1945 bis heute mehr als 230 Kriege, Bürgerkriege und bewaffnete Konflikte, die sich fast ausschließlich in der Peripherie, also in der Dritten Welt zugetragen haben (vgl. AKUF 2007). Die Großmächte waren an ihnen durchaus beteiligt: Am häufigsten die USA, Großbritannien und Frankreich. Die Sowjetunion findet man in der Liste der Krieg führenden Staaten erst auf einem Platz unter »ferner liefen«. Sie hatte es auch am wenigsten nötig, denn sie agierte auf dem internationalen Parkett mit dem historischen Rückenwind des antikolonialen Befreiungskampfes. Solche Stellvertreterkriege anzuzetteln oder mit Waffen, Geld und militärischem Know-how zu unterstützen, war durchaus vereinbar mit dem Bekenntnis zum Weltfrieden. Der war so lange gewahrt, als nicht die beiden großen Militärpakte NATO und Warschauer Vertrag direkt aufeinander prallten.

Es ist kennzeichnend für den heutigen Friedensdiskurs, dass vom Frieden in der Welt nicht mehr in der alten Weise gesprochen wird. Die friedliche Koexistenz zwischen den Systemen existiert nicht mehr, weil es die Systeme nicht mehr gibt oder, um es genauer zu sagen, weil nur noch ein System übrig geblieben ist. Damit rücken die vielen kleinen Kriege, die gleichwohl grausame Dimensionen annehmen können, in den Mittelpunkt des Interesses. Für die NATO, die im Augenblick laut über ihre Globalisierung nachdenkt, und für die EU, die sich mit der Europäischen Sicherheitsstrategie eine »zeitgemäße« Militärdoktrin zugelegt hat, heißt das: Kriege sind wieder führbar geworden.

Was das bedeutet, hat die Welt im ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan und im Irak sehen können. Alle drei Kriege hätten unter den politischen Bedingungen des Kalten Kriegs nie und nimmer geführt werden können, weil sie den Weltfrieden bedroht hätten.

Konnte man, wenn man nur naiv genug war, 1990/91 erwarten, dass die Beendigung des sowjetischen Experiments, die Abwicklung der ehemaligen DDR und die Auflösung des Warschauer Pakts eine gewaltige Friedensdividende freisetzen würde, so wurde man schnell eines besseren belehrt. Die Balkan-Kriege – vom Westen, insbesondere von Deutschland mit geschürt – und die erschreckende Ausbreitung von regionalen Bürgerkriegen in Afrika und Asien, teilweise auch in Territorien der ehemaligen Sowjetunion, waren beredter Ausdruck der veränderten Weltlage, in der nun alle Dämme der militärischen Zurückhaltung zu brechen schienen. Nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte hatte es so viele Kriege gegeben wie Mitte der 1990er Jahre! Und Probleme wie das Verschwinden von Staatlichkeit, in der Politikwissenschaft später unter dem Begriff der »failing states« subsumiert (scheiternde oder gescheiterte Staaten), die Privatisierung von Gewalt oder die Barbarisierung bewaffneter Konflikte bis hin zu Völkermord-Exzessen (Beispiel Ruanda) bestimmten die politischen Diskussionen und bereiteten den entscheidenden Paradigmenwechsel in den internationalen Beziehungen vor.

Das westliche Militärbündnis wollte auf die neuen Herausforderungen mit einer flexiblen Strategie in regionale Konflikte militärisch eingreifen können. »Neue Herausforderungen« bzw. »neue Risiken« tauchen im Sprachgebrauch der NATO nach Ende der Bipolarität auf. Diese »Risiken«, meist sozialer, ökonomischer oder ökologischer Natur werden »versicherheitlicht« und so zum Gegenstand militärischer »Bearbeitung« gemacht (siehe hierzu ausführlicher den Beitrag von Ruf/Zollet). Die Bedrohung durch ein feindliches Weltsystem, wie es das realsozialistische Lager 40 Jahre lang dargestellt hatte, sei einer Palette schwer zu definierender, unsichtbarer Risiken gewichen. In der Römischen Erklärung der NATO vom November 1991 wurden diese Risiken beschrieben: Die illegale Weitergabe von Massenvernichtungswaffen gehörte genauso dazu wie die Gefahr durch terroristische Anschläge, die Ausbreitung von Kriminalität, die Migration oder die Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Rohstoffe sowie die Störung des freien Welthandels. Ein Jahr später hat das deutsche Verteidigungsministerium diese Risikoanalyse zur Grundlage seiner im November 1992 erlassenen »Verteidigungspolitischen Richtlinien« gemacht. Die Fortschreibung der VPR im Mai 2003 hat daran im Kern nichts geändert. Die Bedrohungsanalyse war zuvor bereits in die neue Nato-Strategie von 1999 sowie in die Nationale Sicherheitsstrategie des US-Präsidenten (September 2002, März 2006) und danach in die Europäische Sicherheitsstrategie vom Dezember 2003 aufgenommen worden. Sie ist also offizielle Grundlage der Bundesregierung, der Vereinigten Staaten, der NATO und der EU.

Auch den Vereinten Nationen wurde eine neue Rolle zugeschrieben. Die Hoffnungen des Westens richteten sich vor allem auf die Auflösung von tatsächlichen oder angeblichen Blockaden im UN-Sicherheitsrat, die traditionell der Sowjetunion in die Schuhe geschoben worden waren. Ein Blick in die Statistik der Vetos im Sicherheitsrat zeigt indessen ein anderes Bild: Zwischen 1946 und 1989 wurde insgesamt 232 Mal vom Vetorecht Gebrauch gemacht. 116 Vetos legten die Sowjetunion und die VR China ein, genauso viele Vetos kamen von den Westmächten: 116 Mal verhinderten die USA, Frankreich und Großbritannien sowie Taiwan, das bis 1971 für China im Sicherheitsrat saß, einen Beschluss des UN-Gremiums (Löwe 2000, S.608). Diplomaten haben offenbar ein sehr feines Gespür für Ausgewogenheit – jedenfalls auf dieser formalen Ebene.

Mit dem Ende der gegenseitigen Blockaden (die übrigens nicht durchgehend die UNO lähmten, wie häufig behauptet wird) verband der Westen die Hoffnung auf eine stärkere Rolle der UNO in bewaffneten Konflikten. Schließlich ist der UN-Sicherheitsrat die einzige Institution in der Welt, die im Rahmen des Völkerrechts militärische Maßnahmen gegen Staaten oder bewaffnete Kräfte beschließen kann. Den 192 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen steht ein Recht auf Krieg ausschließlich im Fall der Verteidigung gegen eine Aggression zu (Art. 51 UN-Charta). Das ist für die Staaten die einzige Ausnahme vom generellen Gewaltverbot des modernen Völkerrechts, das in Art. 2, Abs. 4 der UN-Charta unmissverständlich formuliert ist: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Das völkerrechtliche Gewaltverbot bindet auch die Vereinten Nationen selbst. So hat die Charta hohe Hürden errichtet, bis der Sicherheitsrat militärische Maßnahmen anordnen kann: Er darf es nach Art. 39 erst, wenn „eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt“, und auch dann müssen zunächst alle nicht-militärischen Möglichkeiten zur Konfliktschlichtung ausgeschöpft sein.

Von der »humanitären Intervention« zur »transformierenden Diplomatie«

Fallbeispiel Somalia

Das ostafrikanische Land gilt seit rund 20 Jahren als Prototyp eines »failed state«, eines gescheiterten Staates, in dem von den drei wesentlichen Eigenschaften eines Staates – allgemein akzeptierte äußere Grenzen, ein Staatsvolk, ein staatliches Gewaltmonopol – zumindest das zuletzt genannte Charakteristikum weitgehend fehlt. Dies war Anfang der 1990er Jahre so, als Somalia nach dem Zerfall der Regimes von Siad Barre Schauplatz rivalisierender Clans und ihrer Warlords und – zunehmend – zum Spielball auswärtiger Mächte wurde. Somalia war historisch das erste Beispiel für eine vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatierte »humanitäre Intervention« (Resolution 767 [1992]), in deren Folge die USA gedemütigt und die Vereinten Nationen geschwächt wurden und die politisch-gesellschaftlichen Strukturen des Landes selbst sich weiter auflösten. Zehn Jahre später geriet das Land erst recht ins Visier der USA, deren Administration in ihm Brutstätte und Zufluchtsort für terroristische Organisationen à la Al Kaida sah. Darüber hinaus rückte die strategische Lage am Horn von Afrika in den Blick der USA und mit ihnen verbündeter westlicher Staaten. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich USA und UNO gerade dann wieder des gescheiterten Staates annahmen, als mit der faktischen Machtübernahme durch die Union islamischer Gerichte (UIC) ein Mindestmaß an innerer Sicherheit und Zuverlässigkeit der Versorgung gewährleistet werden konnte. Die UNO setzte weiterhin auf die Rechtmäßigkeit einer in Kenia residierenden Übergangsregierung (TFG), die im Land selbst nur geringe Unterstützung fand. Die USA veranlassten und begleiteten logistisch und militärisch die Invasion Äthiopiens im Dezember 2006, in deren Folge das Land resp. die Hauptstadt Mogadischu besetzt, die Situation im Land aber nicht stabilisiert werden konnte. Dies wird sich aller Voraussicht nach solange nicht ändern, als keine Anstrengungen unternommen – und von außen unterstützt – werden, die innenpolitischen Kontrahenten einschließlich der einflussreichen UIC in ein von allen Seiten verantwortetes Arrangement gemeinsamer Sicherheit einzubinden. Die jüngsten Kämpfe um die Besetzung der wichtigsten Staatsämter zeigen, dass dieser Weg noch sehr weit ist.

Fazit: Weder die »humanitäre Intervention« der 1990er Jahre noch die anhaltende militärische Einmischung Dritter haben zu einer Befriedung Somalias beigetragen.

In 45 Jahren, von 1945 bis 1990 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat 683 Resolutionen; in den knapp 18 Jahren seither, von 1991 bis heute, waren es dagegen 1.158 Resolutionen. Doch diese hohe Zahl bürgt nicht unbedingt für Qualität. Der UN-Sicherheitsrat hat sich nämlich in den 1990er Jahren Stück für Stück über die erwähnten klaren völkerrechtlichen Vorgaben hinweggesetzt. Dies darf bei allem Respekt davor, dass der Sicherheitsrat nach der Epochenwende aktiver geworden ist, nicht vergessen werden. Einen Türöffner stellte dabei der Begriff der »humanitären Intervention« dar. Er ist nicht erst beim Nato-Krieg gegen Jugoslawien erfunden worden, sondern spielte schon bei Entscheidungen des Sicherheitsrats im Fall des Irak 1991 – und zwar nach dem Golfkrieg – eine Rolle. Damals wurden die grenzüberschreitenden Flüchtlingsströme als Bedrohung des internationalen Friedens eingestuft. In der Resolution 688 (1991) wird erstmals ein Interventionsrecht aus humanitären Gründen sanktioniert (vgl. hierzu Ruf 1994, S.108ff). Der Irak sollte gezwungen werden, die Unterdrückung der Zivilbevölkerung in den kurdischen Gebieten einzustellen, die Menschenrechte zu achten und den internationalen humanitären Organisationen „Zugang zu allen hilfsbedürftigen Personen“ zu gewähren. Ein Jahr später wurden die UN-Mitgliedstaaten ermächtigt, durch Übernahme des inneren Gewaltmonopols in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich Somalia, „Recht und Ordnung wieder herzustellen“ (Resolution 794 [1992]). Auch andere Interventionsschauplätze wie Haiti, Bosnien, Kosovo (hier gab es kein UN-Mandat) und neuerdings Afghanistan und Irak (beide ohne Mandat, aber mit nachträglicher faktischer Legitimierung durch den UN-Sicherheitsrat) haben gezeigt, dass mit Militärinterventionen kein nachhaltiger Frieden gestiftet werden kann.

Fallbeispiel Haiti

Zwei Mal innerhalb eines Jahrzehnts haben ausländische Streitkräfte im Auftrag der Vereinten Nationen in Haiti interveniert: 1994 zugunsten des zuvor von rechtsgerichteten Militärs gestürzten demokratisch gewählten Präsidenten Aristide, 2004 zugunsten der mit eben jenen ehemaligen Militärs verbündeten Opposition, die den amtierenden Präsidenten Aristide aus seinem Amt und aus dem Land vertrieben hatte. Bis heute kann weder von einer innenpolitischen Stabilisierung noch von nennenswerten sozialen Verbesserungen die Rede sein. Hatte die erste UN-mandatierte Mission noch das Ziel, den gewählten Präsidenten Aristide wieder ins Amt zu bringen, so unterstützte das zweite UN-Mandat die Absetzung Aristides und seine Vertreibung aus dem Land. Treibende Kraft und Nutznießer waren die USA, beschädigt wurde die Legitimität des Sicherheitsrats, der sich den Politikzielen der USA unterwarf. In den Jahresberichten des UN-Generalsekretärs wird regelmäßig auf die „stabile, aber fragile“ Sicherheitslage hingewiesen. Bewaffnete Gangs machten nach wie vor die Slumvorstädte der Hauptstadt Port-au-Prince unsicher. Keine nennenswerten Fortschritte machten die Menschenrechte und die humanitäre Lage. Dennoch sei hinsichtlich der Entwaffnung, Demobilisierung und Integration von Mitgliedern bewaffneter Gangs ein „beträchtlicher Fortschritt“ erzielt worden. Konkrete Zahlen oder Vorgänge werden hierzu bezeichnenderweise aber nicht genannt. Immerhin gibt es eine Nationale Entwaffnungs-Kommission, deren Arbeit von MINUSTAH – so heißt die UN-Mission – unterstützt werde.

Ein anderes Problem, das bei UN-Einsätzen in den letzten Jahren immer wieder auftaucht, wurde auch aus Haiti gemeldet: Wegen eines Skandals um sexuellen Missbrauch hat die UNO mehr als 110 sri-lankische Blauhelmsoldaten von ihrem Einsatz in Haiti abberufen. Die Soldaten der UN-Mission hatten Frauen, darunter Minderjährige, für Sex bezahlt, wie UN-Sprecherin Michèle Montas am 2. November 2007 erklärte.

Fazit: Die Vereinten Nationen haben – unter dem Druck der USA und mit einem humanitären Mäntelchen umgeben – zum ersten Mal eine Militärmission mit dem Ziel des Regimewechsels angeordnet. Zum besseren hat sich nichts verändert. Wie desaströs die soziale und wirtschaftliche Lage für die Bevölkerung heute ist und wie instabil die politischen Verhältnisse nach wie vor sind, haben zuletzt die gewaltsamen Hungerproteste im April 2008 gezeigt.

Zur Argumentationsfigur der »Intervention aus humanitären Gründen« kam seit dem 11. September 2001 der »Krieg gegen den Terror« hinzu. Damit halten sich die USA und ihre wechselnden »Koalitionen der Willigen« an ihre neue Doktrin, in der dem Terrorismus als globale Gefahr eine prominente Rolle zugedacht ist, zumal dann, wenn er verdächtigt wird, sich in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu bringen. Man sollte aber auch in Erinnerung bringen, dass Afghanistan und Irak nicht nur wegen des vermeintlichen Terrorismus und der angeblichen Massenvernichtungswaffen angegriffen wurden, sondern auch wegen der Menschenrechtssituation. Die US-Administration hat keinen Zweifel daran gelassen, dass es ihr um einen »Regimewechsel« ging. Das ist das nächste Schlagwort, das in den letzten Jahren Karriere gemacht hat.

Einen »Regimewechsel«, das heißt das Ersetzen einer wie auch immer legitimierten, in der Regel aber legalen Regierung von außen, ist selbstverständlich mit dem geltenden Völkerrecht genauso wenig vereinbar wie ein Angriffskrieg. Art. 2 der UN-Charta garantiert sowohl die territoriale Integrität jedes Mitgliedstaats als auch seine politische Unabhängigkeit. Nach Art. 2 Ziff. 7 ist die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates verboten. Verstöße dagegen sind dennoch zahlreich und gehören sogar zum Alltag in den Beziehungen zwischen den Staaten. Jede wirtschafts- und handelspolitische Maßnahme, jedes bilaterale Gemeinschaftsprojekt – dabei muss es nicht immer um Pipelines gehen –, jedes Kulturabkommen oder jeder andere Vertrag, der zwischen Staaten abgeschlossen wird, jedes Interview, das ein Botschafter der Zeitung seines Gastlandes gibt, kurz: alles, was Auswirkungen auch auf die innere Situation eines derart bedachten Landes hat, ist eine Art Einmischung in seine inneren Angelegenheiten. Die Frage ist nur, ob diese Einmischung gegen den Willen des betroffenen Landes geschieht oder mit dessen Einwilligung. Die Grenzen sind hier zweifellos fließend.

Das Konzept der Souveränität ist so alt wie das moderne Staatensystem und hat seine Wurzeln im Westfälischen Frieden von 1648. Grund genug für die US-Administration es auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. US-Außenministerin Condoleezza Rice hat das in einer programmatischen Rede an der Georgetown Universität im Januar 2006 getan (Rice 2006). Sie argumentierte, dass man bisher davon ausgegangen sei, „dass jeder Staat die von seinem Inneren ausgehenden Bedrohungen selbst kontrollieren und lenken kann. Es wurde auch angenommen“, sagte sie, „dass schwache und schlecht regierte Staaten lediglich eine Last für ihre eigenen Bürger darstellten, ein internationales humanitäres Problem, aber nie eine wirkliche Bedrohung für die Sicherheit.“ Und sie fährt fort: „Heute sind diese alten Annahmen nicht mehr gültig.“

Sie begründet das mit dem heute so weit verbreiteten und wohlfeilen Hinweis auf die Globalisierung. Neue Technologien würden die Entfernungen schwinden lassen und die meisten Bedrohungen kämen heute nicht mehr aus den Beziehungen zwischen den Staaten, sondern entstehen „eher innerhalb von Staaten“. „In dieser Welt ist es nicht mehr möglich, zwischen unseren Sicherheitsinteressen, unseren Entwicklungsbestrebungen und unseren demokratischen Idealen klare und eindeutige Trennlinien zu ziehen. Die amerikanische Diplomatie muss alle diese Ziele als Ganzes betrachten und zusammen fördern.“ Was dabei heraus kommt, ist in den Worten der US-Chefdiplomaten die »transformational diplomacy«, die umgestaltende Diplomatie. Deren Aufgabe fasst sie folgendermaßen zusammen: „Zusammenarbeit mit unseren zahlreichen internationalen Partnern, um demokratische Staaten mit einer guten Regierungsführung aufzubauen und zu erhalten, die auf die Bedürfnisse ihrer Bürger reagieren und sich innerhalb des internationalen Systems verantwortlich verhalten.“ Es braucht hier nicht erwähnt zu werden, dass natürlich die USA selbst bestimmen, wann sich eine fremde Regierung verantwortlich verhält und wann nicht.

Im Grunde genommen haben sich die USA gegenüber vielen Staaten in ihrem Hinterhof seit über 100 Jahren so verhalten. Sie haben in Chile und Nicaragua so gehandelt, und so machen sie es in Afghanistan, Irak und demnächst vielleicht im Iran und im Sudan. Und dabei ging und geht es ihnen mitnichten um die Beendigung der Tyrannei, sondern um die Beseitigung demokratisch gewählter Regierungen oder einfach unbotmäßiger Regime.

Noch nie aber sind dem diplomatischen Korps so unverhohlen und coram publico exakte Anweisungen gegeben worden, wie sie sich bei ihrer »ehrgeizigen Mission«, der Welt Freiheit und Demokratie zu bringen, zu verhalten haben. Und zwar auch außerhalb ihrer Botschaften. „Wir werden“, sagte Frau Rice, „Kontakte mit Privatpersonen in neu entstehenden regionalen Zentren aufbauen müssen und nicht nur mit Regierungsvertretern in den Hauptstädten.“ Und sie verrät im nächsten Satz sogar, wo dies sein wird: „Wir müssen eine Rekordzahl von Menschen in schwierigen Sprachen wie Arabisch, Chinesisch, Farsi, und Urdu ausbilden.“

Beunruhigend sind solche Konzepte, weil ihnen die reale Politik und reale Truppen folgen. Noch beunruhigender ist, dass solche Konzepte der umgestaltenden Diplomatie oder der Entsouveränisierung von Staaten oder die Möglichkeit von »Präventivkriegen« mittlerweile Resonanz und teilweise Akzeptanz in internationalen Institutionen, nicht zuletzt auch in Kreisen der Vereinten Nationen finden, dort etwa unter dem Begriff der »Responsibility to Protect«. Eine Studie aus dem Think Tank der Europäischen Union geht davon aus, dass die Prämissen und Ziele der »transformational diplomacy« auch nach George W. Bush Richtschnur der US-Außenpolitik sein werden. Darüber hinaus werde das Thema auf der Agenda anderer großer Mächte bleiben, einschließlich der Europäischen Union (vgl. Vaïsse 2007).

Das neue Paradigma: Responsibility to Protect

Auch die Vereinten Nationen selbst beteiligen sich heute an der Aufweichung völkerrechtlicher Standards, die sie mit ihrer Charta 1945 selbst aufgestellt hatten. Der ehemalige Generalsekretär Kofi Annan legte im März 2005 ein UN-Reformpapier vor mit dem Titel »In größerer Freiheit« (Annan 2005), das neben vielen vernünftigen und überfälligen Vorschlägen zur Effektivierung der UN-Institutionen auch höchst problematische Änderungswünsche enthält. Insbesondere eine Passage in dem Reformpapier war alarmierend. Darin zog Kofi Annan die Möglichkeit in Betracht, Präventivkriege im Namen der Vereinten Nationen zu führen. In Ziffer 125 heißt es dazu: Der Sicherheitsrat habe die „volle Autorität für die Anwendung militärischer Gewalt, auch präventiv“. Sollte sich diese Auffassung durchsetzen, fielen die Vereinten Nationen nicht nur hinter die eigene Charta, sondern auch hinter den Briand-Kellogg-Pakt aus dem Jahr 1928 zurück, in dem die Vertragsstaaten erstmals den Krieg »geächtet« hatten. Zu Recht sind die USA weltweit kritisiert worden (auch von Kofi Annan selbst), weil sie sich in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie vom September 2002 den Präventivkrieg als Option vorbehalten haben. Sollten die Vereinten Nationen dieses antiquierte »Recht des Stärkeren« nun auch für sich beanspruchen, gibt es keine Begründung mehr, es einzelnen Staaten vorzuenthalten.

Unter dem Begriff »Responsibility to Protect« (auf der entsprechenden Website unter dem Label »R2P« gehandelt) wird der an sich nicht unsympathische Gedanke propagiert, dass die Weltgemeinschaft eine Verantwortung auch für die Menschen übernehmen muss, deren Staaten zu schwach oder deren Regierungen nicht gewillt sind, einen ausreichenden Menschenrechtsschutz für ihr Staatsvolk zu gewährleisten. Auf kanadische Initiative hin wurde im Jahr 2000 eine 12-köpfige »International Commission on Intervention and State Sovereignty« (ICISS) eingerichtet, der eine Reihe ehemaliger hochrangiger Politiker und Militärs angehörte, aus Deutschland z.B. Vier-Sterne-General Klaus Naumann, der in seinen letzten aktiven Jahren Vorsitzender des Militärkomitees der NATO war. Ein Jahr später veröffentlichte die ICISS ihren Bericht mit dem Titel »The Responsibility To Protect«. Die zentrale These der Autoren ist, dass „souveräne Staaten eine Verantwortung haben, ihre eigenen Bürger vor vermeidbaren Katastrophen – vor Massenmord und Vergewaltigung, vor Hunger – zu schützen, dass aber, wenn sie nicht willens oder nicht fähig dazu sind, die Verantwortung von der größeren Gemeinschaft der Staaten getragen werden muss“ (ICISS 2001, S. VIII, Übersetzung: d. Verf.). In solchem Fall würde der Grundsatz der Nicht-Intervention zugunsten der internationalen Schutzverantwortung aufgegeben.

Der R2P-Bericht selbst ist janusköpfig. Einerseits bindet er den Einsatz von militärischer Gewalt an ein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Andererseits aber plädiert er für die Einschränkung des Vetorechts der fünf ständigen Sicherheitsrats-Mitglieder, falls sich dieser als unfähig erweist, tätig zu werden. Hinzu kommt, dass der Bericht bei der Suche nach möglichen Gründen für Militärinterventionen Anleihen bei der Theorie des gerechten Krieges macht, so wenn etwa eine gerechte Sache (causa iusta) verfolgt werde, oder wenn als primäre Motivation (recta intentio) die Rettung von Menschenleben behauptet wird (siehe hierzu Schorlemer 2007). In solchen Fällen könnten nämlich Staatengruppen oder einzelne Staaten auch ohne Beschluss des Sicherheitsrats intervenieren.

Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass auch der R2P-Bericht sich nicht mit Militärinterventionen begnügt. Seine Verantwortung zu schützen ist dreigeteilt: Sie besteht erstens aus einer Verantwortung zur Prävention (»responsibility to prevent«). Hier geht es um wirtschaftliche oder politische Unterstützungsmaßnahmen, die das Entstehen von Gewaltkonflikten verhindern sollen. Zweitens soll die Verantwortung zu reagieren (»responsibility to react«) greifen, und zwar dann, wenn sich die Präventionsmaßnahmen als unzureichend erwiesen haben und eine akute Bedrohung des Lebens einer großen Anzahl von Menschen vorliegt. Und drittens geht es um den Wiederaufbau (»responsibility to rebuild«) in Nachkriegssituationen. Obwohl die ICISS den Schwerpunkt der Argumentation auf den Präventionsgedanken gelegt hat, wird ihr »Responsibility-to-Protect«-Konzept fast ausschließlich auf die militärische Dimension fokussiert. Das ist aber durchaus bezeichnend für den internationalen Diskurs nach dem 11. September 2001.

Fallbeispiel Kosovo

Der vor zehn Jahren geführte Krieg der NATO gegen das damalige Jugoslawien ist das bis dato eklatanteste Beispiel für eine völkerrechtswidrige Aggression, die aus angeblich »humanitären Gründen« stattgefunden hat. Der zweieinhalb Monate dauernde Luftkrieg verstieß nicht nur gegen das geltende Völkerrecht – hier insbesondere die territoriale Unversehrtheit der Staaten nach Art. 2,2 der UN-Charta sowie das strikte Gewaltverbot (Art. 2,4 UN-Charta) –, sondern verletzte auch den völkerrechtskonform verfassten NATO-Vertrag von 1949 (vgl. Strutynski 2009, S.139f), wonach militärische Gewalt nur als Mittel der kollektiven Selbstverteidigung und nur innerhalb bestimmter geografischer Grenzen eingesetzt werden durfte. Die »humanitären Gründe« waren von Anfang an vorgeschoben: Die humanitäre Katastrophe, von der am wortgewaltigsten und erfindungsreichsten der damalige deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping sprach, hatte es vor dem Krieg nachweislich nicht gegeben, was insbesondere durch die Berichte der OSZE-Mission bestätigt wurde (Loquai 2003). Erst der Krieg sorgte für die massenhafte Flucht und Vertreibung von bis zu 800.000 Kosovo-Albanern ins Ausland; hinzu kamen noch etwa 200.000 Binnenflüchtlinge. Der Krieg, der ausschließlich als Bombenkrieg aus sicherer Höhe geführt wurde, forderte Tausende Todesopfer, die meisten unter der Zivilbevölkerung. Zerstört wurden überwiegend Einrichtungen und Anlagen der zivilen Infrastruktur (Brücken, Straßen, Strom- und Wasserleitungen, Informations- und Kommunikationseinrichtungen, Schulen Krankenhäuser) sowie der privaten oder öffentlichen Wirtschaft (Fabrikanlagen, Lagerhäuser usw.), wodurch die Entwicklung in Serbien auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückgeworfen wurde. War die Flucht/Vertreibung der Kosovo-Albaner während des Kriegs vorübergehender Natur, so wurden bis zu 350.000 Serben, Sinti und Roma und andere Minderheiten dauerhaft aus dem Kosovo vertrieben. Ein weiteres Ergebnis des NATO-Krieges stellt die widerrechtliche Abtrennung der Provinz Kosovo aus dem serbischen Staatsgebiet dar – 2008 einseitig verkündet von der kosovarischen Regierung und von ca. 40 Staaten, darunter den meisten EU-Staaten, völkerrechtlich anerkannt. Zugleich verbleibt das Kosovo unter dem faktischen Protektorat durch UNO und EU (Hofbauer 2008) – eine komplizierte Rechtskonstruktion, unter der die mafiosen Strukturen der Kosovogesellschaft weiter gedeihen können.

Fazit: Der NATO-Krieg 1999 galt nicht der Verhinderung einer »humanitären Katastrophe«, sondern trug erst zu einer solchen bei. Die völkerrechtswidrige Anerkennung der Sezession von Seiten der USA und anderer westlicher Staaten hat wenige Monate später ihre erste Nachahmung gefunden, als Russland die georgischen Regionen Südossetien und Abchasien anerkannte.

Literatur

Hannes Hofbauer (2008): Europas erste EU-Kolonie. Kosovo: Kfor, Unmik, Ico, Eulex, Hashim Thaçi – wer regiert das Land>?; in: Freitag 33, 15. August 2008.

Heinz Loquai (2003): Weichenstellungen für einen Krieg. Internationales Konfliktmanagement und die OSZE im Kosovo-Konflikt, Baden-Baden.

Peter Strutynski (2009): Die NATO – illegitimes Kind des Zweiten Weltkriegs, in: ÖSFK (Hg.): Globale Armutsbekämpfung – ein trojanisches Pferd? Auswege aus der Armutsspirale oder westliche Kriegsstrategien? Münster-Wien, S.134-146.

Eine »humanitäre Intervention«, die den Kriterien des Responsibility-Papiers nahekommt, hat bereits in großem Stil stattgefunden, bevor dieser Begriff überhaupt erfunden war: im sog. Kosovo-Krieg 1999. Das Konzept der »Responsibility to protect« war von der Entstehung her eine Reaktion auf die vorangegangenen Bürgerkriege im zerfallenden Jugoslawien. Den Autoren ging es darum, ähnlich gelagerte Fälle militärischer Interventionen politisch und moralisch zu rechtfertigen, und zwar dann, wenn sechs Kriterien erfüllt sind:

1. Just Cause: Es muss ein gerechter Grund vorliegen. Der kann entweder darin gesehen werden, dass eine große Anzahl von Menschenleben auf dem Spiel stehen, oder dass in einem größeren Umfang ethnische Säuberungen geschehen oder zu befürchten sind (»apprehended«).

2. Right Intention: Einer Militärintervention muss eine »richtige Absicht« zu Grunde liegen. Der Sturz eines Regimes gehöre zwar nicht dazu, sei aber häufig nicht zu vermeiden, um einer Bevölkerung wirksam zu helfen. Ebenso wenig sei die Besetzung eines Landes eine »right intention« – auch sie aber sei manchmal, zumindest vorübergehend, unumgehbar.

3. Last Resort: Eine Militärintervention sei nur als letztes Mittel vorzusehen, nachdem alle vorausgegangen Instrumente der Prävention und der zivilen Hilfe gescheitert sind. Allerdings: Man kann diese Schritte auch überspringen und gleich intervenieren, wenn es »vernünftige Gründe« gibt anzunehmen, dass die nicht-militärischen Maßnahmen keinen Erfolg haben würden.

4. Proportional Means: Ein Kriegseinsatz muss die Verhältnismäßigkeit der Mittel beachten und sich strikt an das humanitäre Kriegsvölkerrecht (Haager Landkriegsordnung, Genfer Konventionen) halten. Wollte man dieses Kriterium wirklich ernst nehmen, dann hätten die Kriege gegen Irak 1991, gegen Jugoslawien, gegen Afghanistan und gegen Irak 2003 nicht stattfinden dürfen.

5. Reasonable Prospects: Eine Militärintervention könne nur verantwortet werden, wenn eine Aussicht auf ihren Erfolg besteht, d.h. es müsse zumindest eine Verbesserung der Lage absehbar sein. Auch wenn die zu erwartenden Kosten der Intervention unakzeptabel hoch sind, müsse von einer Militäraktion Abstand genommen werden. Da letzteres immer der Fall sein dürfte, wenn ein permanentes Mitglied des UN-Sicherheitsrats oder andere »größere Mächte« Objekt einer Intervention würden, verbieten sich nach Meinung des ICSS alle Gedankenspiele, gegen solche Staaten vorzugehen. Dem Argument, hiermit von vornherein doppelte Standards (double standards) gelten zu lassen, entgegnen die Autoren mit dem Hinweis auf die Realität.

6. Right Authority: Schließlich müsse eine Militärintervention von einer anerkannten Autorität angeordnet werden. Dies könnten die Vereinten Nationen (zuerst der Sicherheitsrat, wenn der untätig bleibt oder blockiert ist: die Generalversammlung) oder eine beliebige regionalen Organisation (EU, AU) sein. Im äußersten Fall können dies aber auch Ad-hoc-Koalitionen oder sogar einzelne Staaten übernehmen.

Man sieht: So diplomatisch und völkerrechtlich gewandet die Argumentation des ICSS auch ist, sie mündet immer wieder in die prinzipielle Zulässigkeit militärischer Interventionen zum vermeintlichen oder vorgeblichen Schutz von Menschen. Völkerrechtliche Bindungen sind dann zu umgehen, wenn es sich um Situationen handelt, die das Gewissen der Menschen berühren (»conscience-shocking situation«). Damit ist ein breiter Korridor sowohl für Interpretationen als auch für die mediale Zubereitung solcher Situationen eröffnet. Der zweite Golfkrieg 1991, der Kosovo-Krieg 1999, der Irak-Krieg 2003: Alle begannen mit oder wurden mit Lügen vorbereitet. Und alle größeren Kriege der post-bipolaren Ära wurden vom Westen geführt – zum angeblichen Schutz von Menschen, die im Zuge der neoliberalen Globalisierung und der Entsouveränisierung schwacher Staaten der Dritten Welt schutzlos geworden sind. Diesen Punkt betont Elmar Altvater, wenn er schreibt, „dass die Unterminierung von menschlicher Sicherheit durch jene Mächte verursacht wird, die dann die Schutzverantwortung für Bevölkerungen übernehmen, die die Sekundärfolgen der Untergrabung der menschlichen Sicherheit zu erleiden haben“ (Altvater 2009, S.72.). Der Brandstifter ist gleichzeitig die Feuerwehr und die »löscht«, indem sie Öl ins Feuer gießt.

Dieses Konzept wird seit der Veröffentlichung des Papiers in internationalen Gremien kontrovers diskutiert und fand letztlich Eingang in die Abschlusserklärung des Millennium+5-Gipfels 2005. Allerdings nicht als verbindliche Rechtsnorm, wie Interventionsbefürworter hier zu Lande fälschlicherweise gern behaupten, sondern als Prüfauftrag an die Generalversammlung. In der entscheidenden Ziffer 139 heißt es: „Die internationale Gemeinschaft hat durch die Vereinten Nationen auch die Pflicht, diplomatische, humanitäre und andere friedliche Mittel nach den Kapiteln VI und VIII der Charta einzusetzen, um beim Schutz der Zivilbevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit behilflich zu sein. (…) Wir betonen die Notwendigkeit, dass die Generalversammlung die Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die sich daraus ergebenden Auswirkungen eingedenk der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts weiter prüft.“

Hier werden den friedlichen Maßnahmen nach Kapitel VI und VIII eindeutig Priorität eingeräumt, bevor Zwangsmaßnahmen nach Kap. VII (die bis auf den Art. 42 übrigens auch nicht militärischer Art sind) in Erwägung gezogen werden. Der Hinweis auf Kap. VIII bezieht sich auf die Existenz regionaler Abmachungen oder Einrichtungen, die ebenfalls für die „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Friedens“ aktiv werden können.

Die Afrikanische Union hat mit ihrem Gründungsstatut (AU 2000) das Recht reklamiert, in Mitgliedsländern zu intervenieren, wenn „schwerwiegende Umstände“ vorliegen, namentlich: „Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (Art. 4h). Sollte dieses Interventionsrecht auch militärische Maßnahmen beinhalten, dann allerdings ist es von Kap. VIII der UN-Charta nicht gedeckt. Dort heißt es nämlich unmissverständlich in Art. 52,2: „(2) Mitglieder der Vereinten Nationen, die solche Abmachungen treffen oder solche Einrichtungen schaffen, werden sich nach besten Kräften bemühen, durch Inanspruchnahme dieser Abmachungen oder Einrichtungen örtlich begrenzte Streitigkeiten friedlich beizulegen, bevor sie den Sicherheitsrat damit befassen.“

Ergebnisse und Empfehlungen

Im Friedensgutachten 2007 werden nicht nur Bedenken gegen die schon zur Routine gewordenen Militärinterventionen vorgebracht, sondern die Autoren entwickeln auch sechs Mindestkriterien, die eingehalten werden müssen, bevor zum Mittel des Militäreinsatzes gegriffen wird. Die Nähe zum Konzept »Responsibility to Protect« ist nicht zu übersehen:

Rechtmäßigkeit: Sie müssen mit der UN-Charta und dem Grundgesetz übereinstimmen;

Unterscheidung von friedenspolitischen und funktionalen Gründen: macht-, einfluss- und bündnispolitische Ziele dürfen nicht den Ausschlag geben;

Vorrang ziviler Alternativen: sind alle nichtmilitärischen Alternativen ausgeschöpft oder erkennbar aussichtslos?

Politisches Gesamtkonzept, einschließlich einer Klärung der Erfolgsbedingungen im Zielland;

Evaluierung: Kein Auslandseinsatz ohne begleitende Evaluierung und nachträgliche Bilanzierung seiner Kosten und Nutzen;

Exit-Strategie: Wann und wie ist ein Einsatz zu beenden?

Auch diese Kriterien, gewiss in guter friedenspolitischer Absicht verfasst, dürften sich als wenig praktikabel erweisen. Denn bei fast allen genannten Punkten wird im Zweifelsfall nicht nur ein wissenschaftlicher, sondern auch ein politischer Streit über die Erfüllung bzw. Nichterfüllung der Kriterien entstehen. Ob Militär zur Durchsetzung politischer Ziele eingesetzt wird oder nicht, ist indessen immer eine politische Frage. Unsere Antwort muss demnach über die sechs Kriterien hinausgehen. Daher abschließend unsere Position – einmal hinsichtlich vertretbarer Militäreinsätze und zum anderen in Form von Empfehlungen an die Politik.

UN-Blauhelm-Einsätze: Fälle von vertretbaren Militärinterventionen

Die Nutzlosigkeit bzw. die mageren positiven Effekte robuster Militärinterventionen könnten gewiss auch noch an anderen Beispielen gezeigt werden, als den von uns untersuchten. Irak und Afghanistan haben wir übrigens in unseren Analysen – in beiden Projektteilen – nicht berücksichtigt, weil es zu einfach gewesen wäre, an diesen Großkonflikten die Schädlichkeit militärischer Aggressionen nachzuweisen.

Es gibt daneben aber auch ganz anders gelagerte Fälle, in denen UN-Truppen gute Dienste leisteten und leisten. Seit 1948 operieren in verschiedenen Krisengebieten so genannte Blauhelme, die sich aus Soldaten, unbewaffneten zivilen Beobachtern, Polizeikräften und Militärbeobachtern zusammensetzen können. Solche Missionen finden nur mit Zustimmung der Regierung(en) bzw. der Konfliktparteien statt. Dadurch soll ausgeschlossen werden, dass die UN-Truppen Teil des Konfliktes werden. Blauhelme haben in der Regel keinen Kampfauftrag; sie sind aber (meist leicht) bewaffnet und je nach Mandat in gewissem Umfang berechtigt, von ihrer Waffe Gebrauch zu machen.

Blauhelm-Truppen müssen von »neutralen« und kleineren Staaten gestellt werden. Der Gedanke dabei ist, dass die eingesetzten Soldaten sich ausschließlich dem Auftrag des UN-Sicherheitsrats verpflichtet fühlen und nicht die Interessen ihrer jeweiligen Staaten vertreten. Dies wäre unweigerlich der Fall, wenn die »global players« selbst diese Missionen dominieren würden, was seit den 90er Jahren allerdings immer häufiger vorkommt (UNPROFOR in der jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina oder UNOSOM in Somalia sind zwei eklatante Beispiele dafür ebenso wie die UN-mandatierte EUFOR im Tschad). Der Sicherheitsrat bittet neuerdings ausdrücklich auch die großen Mächte um eine Teilnahme an internationalen Missionen – verfügen doch sie am ehesten über ausreichende militärische Fähigkeiten und logistische Kapazitäten. Angesichts des Kräfteverhältnisses im Sicherheitsrat wird dieser mehr und mehr zu einem faktischen Auftraggeber der westlichen Mächte umfunktioniert, die mit ihm das jeweils gewünschte Mandat aushandeln.

Sechs Empfehlungen

Hieraus ergeben sich folgende Empfehlungen

Blauhelmeinsätze können unter bestimmten Umständen pazifierend sowohl bei zwischenstaatlichen als auch bei innerstaatlichen Konflikten wirken. Voraussetzung hierfür ist das – ohnehin zwingend vorgeschriebene – Einverständnis der Konfliktparteien und die Neutralität der UNO-Truppen. Letzteres schließt die Teilnahme von Truppen der Großmächte aus. Der Praxis, sich beim UN-Sicherheitsrat ein den eigenen Möglichkeiten und politischen Zielen angepasstes »robustes Mandat« zu bestellen (Beispiel Libanon-Einsatz der Bundeswehr, Kongoeinsatz) muss ein Riegel vorgeschoben werden.

Wer es ernst meint mit einer völkerrechtskonformen und auf Deeskalation orientierten Militärpolitik, sollte den Vereinten Nationen Blauhelmkontingente zur Verfügung stellen. Nicht nur von Fall zu Fall, sondern ständig. Dies können Einzelstaaten wie die Bundesrepublik tun, aber auch die Europäische Union, die dann auf einen eigenen »militärischen Arm« im Sinne der Europäischen Sicherheitsstrategie verzichten könnte.

Dies setzt allerdings voraus, den Art. 47 der UN-Charta endlich mit Leben zu füllen. Darin heißt es in den Absätzen 1 und 3: „(1) Es wird ein Generalstabsausschuss eingesetzt (…)“

„(3) Der Generalstabsausschuss ist unter der Autorität des Sicherheitsrats für die strategische Leitung aller dem Sicherheitsrat zur Verfügung gestellten Streitkräfte verantwortlich. (…)“ Dieser Generalstabsausschuss ist in der 63-jährigen Geschichte der Vereinten Nationen nie gebildet worden. Aus diesem Grund meinte auch der letzte Generalsekretär, Kofi Annan, in seinem Reformpapier den Artikel 47 aus der UN-Charta zur Streichung vorschlagen zu müssen (Annan 2005, S.69f). Ein Weg, der auf keinen Fall beschritten werden sollte, weil er die Durchführung von militärischen Aktionen ausschließlich den Einzelstaaten überantwortet.

Sowohl aus der Völkerrechtsperspektive als auch aus den Ergebnissen der empirisch gestützten Fallbeispiele geht u.E. hervor, dass Militärinterventionen kein Mittel der internationalen Politik sein können. Die Fälle, in denen militärische Erzwingungsmaßnahmen zulässig sind, sind außerordentlich selten und in aller Regel ohnehin durch das Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung gedeckt. Und selbst diese Maßnahmen finden ihre Grenzen sowohl im Kriegsvölkerrecht als auch in der Zuständigkeit des UN-Sicherheitsrats für Fragen des Weltfriedens.

Für die politische Praxis ergibt sich daraus zunächst allergrößte Skepsis gegenüber allen Zumutungen der veröffentlichten Meinung und der herrschenden Politik, humanitäre Hilfe, Menschenrechte, insbesondere Rechte von Frauen und Kindern, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mit Waffengewalt in alle Welt zu exportieren. Ein solcher Export ist erstens völkerrechtlich nicht zulässig und zweitens in der Praxis offensichtlich nicht von Erfolg gekrönt (vgl. hierzu Strutynski 2007). Eine Schutzverantwortung der Staaten, wie sie von den Vertretern der »Responsibility-to-Protect«-Doktrin ins Spiel gebracht wurde, macht Sinn vor allem als zivile präventive Politik, nicht aber als Militärinterventionismus.

Kampfeinsätze zur Friedenserzwingung sind grundsätzlich abzulehnen, auch dann, wenn sie auf einem Mandat des UN-Sicherheitsrats nach Art. 42 der UN-Charta beruhen. Solche Einsätze sind immer mit dem unkalkulierbaren Risiko behaftet, den Gewaltkonflikt weiter zu eskalieren. Außerdem besteht die Gefahr, dass die bei den Einsätzen auftretenden »Kollateralschäden« die ursprünglich dem Konflikt geschuldeten Schäden und Opfer noch übersteigen.

Für die Bundesrepublik heißt das, die Transformation der Bundeswehr zu einer weltweit einsetzbaren Interventionsarmee zu stoppen und rückgängig zu machen und auch die Militarisierung der Europäischen Union nicht weiter zu verfolgen.

Beendet werden muss ferner der sog. Krieg gegen den Terror, den die USA nach den Anschlägen des 11. September 2001 proklamiert haben und den die NATO seither u.a. in Afghanistan führt. Terroristen sind als Kriminelle zu behandeln, d.h. sie sind Angelegenheit der nationalen und internationalen Ermittlungs-, Polizei- und Justizbehörden, denen ausreichende rechtsstaatliche Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen und die zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit verpflichtet sind (vgl. Strutynski 2008). Die Art und Weise, wie der »Krieg gegen den Terror« geführt wird, erfüllt seinerseits oft den Tatbestand des Terrorismus, wird hier doch kriegsvölkerrechtswidrige Gewalt ausgeübt mit dem Ziel, die Bevölkerung durch Verbreitung von Schrecken und Willkür zu beeinflussen.

Literatur

AA-Auswärtiges Amt (2007): Humanitäre Hilfe: Einsatz für die Ärmsten, in: http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/Themen/HumanitaereHilfe/071012-TagDerHH.html (letzter Aufruf: 21.10.2008).

Altvater, Elmar (2009): Die Kriege der Armen mit den Waffen der Reichen. Regionale Konflikte und ihre globalen Ursachen, in: ÖSFK (Hg.): Globale Armutsbekämpfung – ein trojanisches Pferd? Auswege aus der Armutsspirale oder westliche Kriegsstrategien? Münster-Wien, S.67-87.

Annan, Kofi (2005): In größerer Freiheit. Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle. Bericht des Generalsekretärs (A/59/2005). Internet: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/UNO/reform2005.pdf.

Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) (2007): Das Kriegsgeschehen 2006, hrsg. von Wolfgang Schreiber, Wiesbaden.

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Boutros-Ghali, Boutros (1994): Agenda für Entwicklung. Bericht des Generalsekretärs, 6. Mai 1994. Internet: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/UNO/agenda-entw.html.

Friedensgutachten 2007, hrsg. von Andreas Heinemann-Grüder, Jochen Hippler, Reinhard Mutz, Bruno Schoch und Markus Weingardt, Münster.

ICISS (2001): International Commission on Intervention and State Sovereignty: THE RESPONSIBILITY TO PROTECT; Ottawa.

Volker Löwe (2000): Stichwort »Veto/-recht« in: Lexikon der Vereinten Nationen, hrsg. von Helmut Volger, München Wien, S.607-609.

Rice, Condoleezza (2006): »Umgestaltende Diplomatie« – »Transformational Diplomacy«. Rede der US-Außenministerin am 18. Januar 2006 in der Georgetown School of Foreign Service. (http://www.uni-kassel.de/fb5/ frieden/themen/Weltordnung/rice.html).

Ruf, Werner (1994): Die neue Welt-UN-Ordnung. Vom Umgang des Sicherheitsrates mit der Souveränität der »Dritten Welt«, Münster.

Ruf, Werner/Strutynski, Peter (2007): Militärinterventionen: Verheerend und völkerrechtswidrig, in: utopie kreativ 205, S.1040-1049.

Schorlemer, Sabine von (2007): Die Schutzverantwortung als Element des Friedens. Empfehlungen zu ihrer Operationalisierung. Policy paper 28, hrsg. von der Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF).

Strutynski, Peter (2007): Exportartikel Menschenrechte? Auf das Wie kommt es an, in: utopie kreativ 196, S.147-155.

Strutynski, Peter (2008): Der Krieg gegen den Terror – Die Grundtorheit des 21. Jahrhunderts, in: R.-M. Luedtke/P. Strutynski (Hg.): Die Neuvermessung der Welt, Herrschafts- und Machtverhältnisse im globalisierten Kapitalismus, Kassel, S.222-234.

UNO 2000: Millenniumserklärung der Vereinten Nationen, verabschiedet von der Generalversammlung im September 2000. Internet: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/UNO/millenium.html.

Vaïsse, Justin (2007): Transformational Diplomacy. Institute for Security Studies, Paris (Chaillot Paper ¹ 103).

Lena Jöst ist Studentin der Staats- und Politiwissenschaften an der Universität Passau Dr. Peter Strutynski ist Politikwissenschaftler, Mitglied der Arbeitsgruppe Friedensforschung an der Uni-Kassel, die die jährlichen »Friedenspolitischen Ratschläge« veranstaltet.

Transformation bewaffneter Konflikte
und die Möglichkeit ziviler Konfliktbearbeitung

von Werner Ruf und Nadine Zollet

Es ist verblüffend, welch ungeheures Wissen nicht nur seitens der Friedens- und Konfliktforschung, sondern vor allem auch von internationalen Organisationen – allen voran den UN – zum Thema der Konfliktbearbeitung produziert und angehäuft wurde. Noch verblüffender ist es feststellen zu müssen, dass dieses Wissen völlig ausgeklammert bleibt, wenn der UN-Sicherheitsrat Mandate zur Intervention beschließt oder, wie es zunehmend der Fall ist, an, man möchte sagen »Antragsteller«, vergibt. Deshalb erscheint es uns notwendig, in der hier zu führenden Debatte auf die grundlegenden strukturellen Bedingungen der Konflikthaftigkeit der gegenwärtigen Weltgesellschaft ebenso einzugehen wie auf die Deutung der Konfliktursachen: Letztere, gewissermaßen die Diagnose, ist entscheidend für die Therapie, also die zur Lösung des jeweiligen Konflikts eingesetzten Mittel.

Signifikant erscheint uns, dass der einzige Fall in unserer Auswahl, der trotz vieler aus Interessen der großen Mächte resultierender Wirrungen schließlich in Konformität mit dem Völkerrecht gelöst wurde und in einen aus internationaler Sicht akzeptablen Friedensschluss führte, Osttimor ist. Im Gegensatz zum völkerrechtlichen Parallelfall West-Sahara wurde dieser Konflikt schließlich auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts (vormals) kolonisierter Völker gelöst. Armut und Elend haben jedoch dazu geführt, dass der junge unabhängige Staat sich bisher nicht stabilisieren konnte

Der Wandel im Kriegsgeschehen

Bei der Betrachtung des globalen Kriegsgeschehens wird deutlich, dass die meisten Kriege seit 1945 – und verstärkt seit 1990 – innerhalb von Staaten der so genannten Dritten Welt geführt wurden und werden. Ein Viertel dieser innerstaatlichen Kriege wurde und wird nach wie vor auf dem afrikanischen Kontinent ausgetragen. Diesen Tatbestand begründen Teile der Friedensforschung mit der These vom »Demokratischen Frieden«. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass Demokratien untereinander keine Kriege führen (Schreiber 2001: S.30ff), da sich diese kontraproduktiv auf demokratische Staaten auswirken. Allerdings führen Demokratien sehr wohl Kriege gegen Nicht-Demokratien, so dass der oft voreilig gezogene Schluss von der grundsätzlichen Friedfertigkeit von Demokratien nicht haltbar ist. Problematisch bleibt bei den Vertretern dieser These auch (ex.: Müller 2004) dass sie keine Definition von Demokratie liefern. Dieses Theorem steht in einem inneren Zusammenhang mit der Debatte über die so genannten neuen Kriege.

Der These von den »neuen Kriegen« liegt die Annahme zugrunde, dass sich, ausgelöst durch die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, die das Ende der bipolaren Weltordnung mit sich brachte, ein Gestaltwandel der kriegerischen Gewalt in innerstaatlichen Kriegen vollzogen habe. Nach dem Ende der Blockkonfrontation habe der Wegfall der finanziellen und militärischen Hilfe von Seiten der Supermächte an Verbündete und Vasallen dazu geführt, dass den Staaten die Mittel zur Aufrechterhaltung des Gewaltmonopols entzogen worden seien.

Diese Annahmen enthalten ein auf den ersten Blick hohes Maß an Plausibilität. Dennoch ist es falsch, die Konflikte im Zeitalter der Bipolarität auf reine Stellvertreterkriege zu reduzieren: Auch wenn die Versuche der Großmächte offenkundig waren, die Befreiungsbewegungen und -kriege der Nachkriegszeit zu instrumentalisieren, so handelt es sich hierbei doch um genuine Bestrebungen der kolonisierten Völker, die – vorstaatliche – Gewalt als Mittel ihres Kampfes einsetzten. Auch die Widerstands- und Partisanenkämpfe des 19. und vor allem 20. Jh. waren gewaltförmige Aktionen nichtstaatlicher Akteure. Dasselbe gilt für Widerstands- und Sezessionsbewegungen in Mitteleuropa (Basken, Korsen, Katholiken in Nordirland etc.). »Neu« ist allenfalls die Zahl der Konflikte und ihre Häufung in so genannten jungen Staaten. Ihre rein formale Behandlung, beschränkt auf Phänomene offener Gewalt, blendet die historischen Ursachen ihrer Genese ebenso aus, wie die zugrunde liegenden ökonomischen Interessen der Akteure. Konkret heißt dies: Der Schlüssel zum Verständnis der Konflikte und ihrer Ursachen wird erst gar nicht gesucht.

Wir vertreten die These, dass die aktuellen Konflikte und ihre Häufung verstanden werden müssen als die Kehrseite der Globalisierung, die immer auch Fragmentierung produziert. Staatszerfall ist – und dies belegen bis auf den Fall Nordirland sämtliche Fallstudien1 ebenso wie die einschlägige Literatur – im Kern Folge der weltweiten Durchsetzung des Neo-Liberalismus und seiner gegen staatliche Regulation gerichteten Politik. In vielen Fällen avanciert Gewalt jedweder Art zum Mittel der Ressourcensicherung (vgl. Heupel/Zangl 2004: S.346f), ja, der bewaffnete Konflikt wird zum Selbstzweck, da er sowohl durch ökonomische Einbindung in den Weltmarkt (Lieferung wichtiger Ressourcen wie Erdöl, Diamanten, Kautschuk, Coltan etc.) wie durch die Plünderung letzter Ressourcen im Lande selbst die Reproduktion der Gewalt sichert (Ruf 2003a). Die viel beschworenen »failing« oder »failed states« sind letztlich die Konsequenz der neo-liberalen (Un-)Ordnung, Staatszerfall tritt nicht zufällig bei den schwächsten, i. e. ärmsten Mitgliedern der Staatenwelt in Erscheinung, wie vor sehr unterschiedlichem Hintergrund die Fälle Haiti, Somalia, Elfenbeinküste und Niger zeigen.

Milizen und paramilitärische Gruppen, die sich weitestgehend der Kontrolle des Staates entziehen (vgl. Münkler 2004: S.10f.), führen zu einer Privatisierung von Gewalt in den Händen von Kriegsherren, Söldnerbanden, aber auch von privaten Kriegsführungsfirmen, für die die Regeln des Kriegsvölkerrechts nicht mehr gelten (Ruf 2003b).2 Die Gewaltakteure unterscheiden nicht mehr zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten. Dies ist jedoch keineswegs beschränkt auf die nichtstaatlichen Gewaltakteure. Auch die Kriegführung der Staaten schon in Algerien wie in Vietnam, erst recht aber nach dem Ende der Bipolarität (Kosovo, Irak, Afghanistan) nimmt auf das vor allem in den Genfer Konventionen fixierte Kriegsvölkerrecht immer weniger Rücksicht und verdinglicht die Opfer solcher Kriegführung als »Kollateralschäden«. Münkler nimmt diesen Tatbestand zum Anlass, die Abschaffung des Kriegsvölkerrechts schlechthin zu fordern, da dies ohnehin nur für staatliche Akteure gelte, vor allem aber weil in den »asymmetrischen Konflikten« (zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren) „der asymmetrisch unterlegene Akteur begünstigt wird“ (Münkler 2008 S.35). Der Staat müsse sich von diesen Regeln befreien, da er sonst seine militärische Stärke nicht ausspielen kann (Münkler 2007 S.62). Ein klareres Plädoyer für die Durchsetzung der westlichen Dominanz mit allen Mitteln und für den Rückfall in die Barbarei ist kaum denkbar.

Wie sehr auch immer der Zerfall von Staaten vom Wegfall der strategischen Rente beeinflusst sein mag, muss an einzelnen Fällen (zu denen eindeutig Somalia gehört) genauer untersucht werden. Zugleich aber bedeutet das Ende der Bipolarität und der Aufteilung der Welt in zwei große Einflusszonen eine Zäsur in der bisher bestehenden Weltordnung: Diese eröffnet der einzigen verbliebenen Supermacht und den ihr folgenden europäischen Mächten die Möglichkeit zu unilateralen militärischen Aktionen. Nicht zufällig ernannte sich die NATO 1999 (http://www.nato.int/docu/pr/1999/p99-065d.htm ) zum Weltpolizisten und setzte mit dem Jugoslawienkrieg ein klares Signal: Die Bindung an des Völkerrecht wurde demonstrativ verletzt, die Art der Kriegführung sprach dem Kriegsvölkerrecht Hohn.

Dem Interventionismus wurde wieder Tür und Tor geöffnet, auch wenn er sich der moralischen Unterstützung in den demokratisch (!) verfassten Gesellschaften versichern musste. Dies ist – nicht zufällig – die Geburtsstunde der »humanitären Intervention«, die mit der Resolution 688 (1991) des UN-Sicherheitsrats begann, in Somalia (1992) fortgesetzt wurde und vorläufig in den Kriegen der NATO gegen Jugoslawien und Afghanistan kumulierte (Ruf 1994).

Konfliktursachen

Zivile Konfliktbearbeitung wie die Transformation bewaffneter Konflikte setzen eine genaue Analyse der Konfliktursachen voraus. Die noch unter dem UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali 1992 erarbeitete »Agenda für den Frieden« benennt die strukturellen Ursachen von Konflikten und fordert „(…) im weitesten Sinne zu versuchen, die tiefsten Konfliktursachen auszuräumen: wirtschaftliche Not, soziale Ungerechtigkeit und politische Unterdrückung.“ (Art. 15). Es ist bezeichnend, dass dieser zentrale Grund für die Konfliktgenese in der derzeitigen Interventionsdebatte so gut wie völlig ausgeblendet wird: In der sechsten Dekade der Entwicklungshilfe ist festzustellen, dass offensichtlich nicht nur die Millennium Development Goals (Martens/Debiel 2008) nicht im Entferntesten erreicht werden, sondern dass in den vergangenen Jahren die Armut in der Welt gravierend zugenommen hat und die sozialen Antagonismen zwischen Nord und Süd sich verschärft haben.

Diese Bilanz kontrastiert in erschreckender Weise mit den einschlägigen Forderungen und Grundsätzen der Vereinten Nationen. Zwar stellt die UN-Menschenrechtserklärung von 1948 in ihrem 1. Artikel fest: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“. Allerdings ist diese Gleichheit zum Zeitpunkt der Geburt auch schon zu Ende, denn die Schere zwischen Armut und Reichtum geht immer weiter auseinander. Dieter Klein3, der sich auf eine Erhebung der US-Zeitschrift Forbes vom März 2008 und weitere offizielle Quellen, darunter das United Nations Development Programme (UNDP), bezieht, verweist darauf, dass weltweit 1.125 Milliardäre zusammen rd. 4.400 Mrd. US $ besitzen. Allein 25 amerikanische Milliardäre besitzen ein Vermögen, das dem von fast zwei Mrd. Menschen im Bereich der untersten Einkommensskala entspricht. Zu Recht nennt er den derzeitigen Zustand der Weltwirtschaft eine Ökonomie der Enteignung. Schon Samir Amin wies darauf hin, dass mit Ausnahme Indiens und Ostasiens in der gesamten vormaligen Dritten Welt die Wachstumsraten sinken – am schlimmsten im subsaharischen Afrika,4 wo – nach UN-Definition – 47% der Menschen »in extremer Armut« leben, sprich: täglich weniger als 1 US $ zur Verfügung haben.5

Armut ist aber nicht nur ein Zustand, sie ist auch ein (sich verschlimmernder) Prozess, und, vor allem, sie ist Ausdruck eines Gewaltverhältnisses: Jean Ziegler hat in seinem erschütternden Buch »Das Imperium der Schande« (2005, S.69-101) den Zusammenhang zwischen Verschuldung, Ausbeutung, Verarmung und vorzeitigem Tod überzeugend dargestellt. Dass auf unserem Planeten, der zehn Mrd. Menschen bequem ernähren könnte6, zwischen 37 und 50 Mio. Millionen Menschen jährlich an Hunger und Unterernährung sterben müssen, bezeichnet er als Massaker, als absichtsvolle Handlung in der »kannibalischen Ordnung« des Planeten. Wie ungenau die Zahlen sind, zeigt die Europäische Sicherheitsstrategie, die, gestützt auf Zahlen des Jahres 2001 von 45 Mio. Menschen spricht, die jährlich an Hunger sterben. Ihre Zahl ist, betrachtet man die Statistiken von UNDP und WHO, seither beträchtlich gestiegen. Aber dies ist offensichtlich keine »humanitäre Katastrophe«, sondern ganz normaler Teil der kannibalischen Ordnung unserer Welt, in der Finanzkapital und Profitinteresse die bestimmenden Größen sind und das Ihre zur spekulativen Steigerung der Nahrungsmittelpreise beitragen.

Der Anstieg der Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel wie Mais, Weizen, Reis, Sojabohnen und Speiseöl befindet sich in einem ungebremsten Aufwärtstrend (Magdoff 2008). Allein der Preis für Mais erfuhr zwischen Januar 2005 und Juni 2008 eine Verdreifachung (Fritz 2008). Die Gründe sind vielschichtig. Dazu gehören lt. Magdoff (2008) insbesondere die enorme Steigerung von Bio-Treibstoffen und die damit verbundene Reduzierung der Flächen für Nahrungsmittelanbau, die Steigerung der Nachfrage seitens der lateinamerikanischen und vor allem asiatischen Staaten, wo Indien und China von Selbstversorgern zu Importeuren wurden. Verschärft wird die Knappheit durch den zunehmenden Wegfall von Produktionsflächen in Folge des Klimawandels und der damit einhergehenden Versteppung. Hinzu kommt die Subventionierung der landwirtschaftlichen Produktion in den USA und der EU, deren Produkte auf den Märkten der Dritten Welt billiger sind als heimische.

Auch wenn dem spekulativen Kapital keine intentionalen Handlungen mit dem Ziel der Vermehrung des Elends unterstellt werden können, so besteht doch ein Zusammenhang zwischen Profitsteigerung und der Steigerung von Armut: Allein spekulative Geschäfte haben 2008 weitere 20% bis 40% der Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel bewirkt – mit unmittelbaren Auswirkungen auf die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung.7 Andere Quellen sprechen von einem Viertel des Preisanstiegs, der auf spekulative Geschäfte zurückzuführen ist.8 Auch wenn die Krise der Finanzmärkte die Spekulation vorläufig zum Stillstand gebracht zu haben scheint, ist eine Trendumkehr der Nahrungsmittelpreise weltweit nicht zu erwarten.

Die Steigerung der Nahrungsmittelpreise hat in den vergangenen Jahren geradezu zu einer Explosion der Hungerrevolten geführt. Pedersen (2008) zählt allein für die Jahre 2007/2008 vierzig solcher Revolten. Dabei erfasst er nur jene, die auf nationaler Ebene von erheblicher Bedeutung waren, nicht mitgezählt werden meist kleinere lokale Aufstände (wie z. b. in Algerien), die in der Summe der Getöteten, Verletzten, Verhafteten durchaus den »nationalen« Revolten gleichkommen. Es ist kein Zufall, dass die übergroße Mehrheit dieser Revolten in afrikanischen Ländern stattfand, die im Armutsbericht des UNDP unter den Ärmsten der Welt rangieren. Auch die übrigen von diesen Revolten betroffenen Länder gehören in dieselbe Kategorie absoluter Armut wie Afghanistan, Bangladesh, Haiti. So ergibt sich eine eindeutige Relation auch zwischen Armut und Staatszerfall: Wo der Staat das Überleben seiner Bevölkerung nicht mehr sichern kann, wird die Staatsgewalt zunehmend erodiert. Die so genannten ethnischen Kriege sind also weniger Ausdruck ideologischer Irrationalität als Folge extremer materieller Not, die sich durchaus in ethnischen Dimensionen artikulieren kann. Nicht zufällig finden sich in unserem Sample der untersuchten Konflikte drei dieser Staaten: Elfenbeinküste, Haiti und Somalia. Eines der am schwersten betroffenen Länder, das allerdings nicht in dieser Aufzählung auftaucht, ist Niger: Der dortige Konflikt ist (noch) nicht auf der internationalen Tagesordnung. Der Fall wurde ausgewählt, weil der dortige Konflikt inzwischen eine bürgerkriegsähnliche Dimension angenommen hat, aber auch weil aufgrund der sich verschärfenden Rivalitäten um die Rohstoffe des Landes eine Internationalisierung bevorstehen könnte, die – dann – den Konflikt auf die internationale Agenda bringen dürfte.

Was aber bedeutet Armut? Es mag verblüffen, dass gerade die Weltbank die wohl umfassendste Definition von Armut liefert: „Armut bedeutet Hunger; Armut ist Obdachlosigkeit; Armut bedeutet krank und nicht in der Lage zu sein, einen Arzt zu konsultieren; Armut bedeutet keinen Zugang zu Schulbildung zu haben und nicht lesen zu können; Armut ist Arbeitslosigkeit; Armut bedeutet Furcht vor der Zukunft, Armut bedeutet von der Hand in den Mund zu leben; Armut ist, ein Kind auf Grund des Mangels an sauberem Wasser zu verlieren; Armut ist Machtlosigkeit; Mangel an Repräsentanz und fehlende Freiheit“.9Armut ist stillschweigend und schon fast selbstverständlich hingenommene Grundlage unserer Ordnung, die gekennzeichnet ist durch eine Ökonomie der Enteignung, zu der insbesondere die internationalen Finanzinstitutionen einen entscheidenden Beitrag leisten. Da (wachsende) Armut struktureller Teil der Welt-»Ordnung« ist, kann sie auch nicht Gegenstand einer »humanitären Intervention« sein. Allerdings sind solche Interventionen im Falle von ihr ausgelöster Konflikte dann möglich, wenn »unsere Interessen« betroffen sind – wie die ESS, das deutsche Verteidigungsweißbuch und die Verteidigungspolitischen Richtlinien (schon 1992!) belegen. Der industrialisierte Norden verbraucht mit 12% der Weltbevölkerung 80% der Ressourcen des Planeten und stößt 60% des das Klima verändernden CO² aus. Folge sind: Versteppung, Anwachsen der Wüsten, Verlust von Acker- und Weideland. Hohe Aufmerksamkeit finden diese Prozesse allerdings in der strategischen Planung10, wo sie als Bedrohung der Sicherheit des industrialisierten Nordens wahrgenommen werden. Folgerichtig werden von der herrschende Produktionsweise geschaffene Probleme wie der Klimawandel und seine Folgen, durch Armut und Elend ausgelöste Migration, versicherheitlicht, das heißt: sie werden nicht an ihren Ursachen angegangen, sondern zum Gegenstand von Sicherheitspolitik gemacht. Indem sie zu Bedrohungen »unserer« Sicherheit erklärt werden, wird das Militär zum Instrument der Bearbeitung von Krisen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Ursprungs. Hier liegt das Geheimnis der »ultima ratio« der Konfliktbearbeitung: Die zu Bedrohungen umdefinierten Folgen des Elends mit all ihren schrecklich innerstaatlichen Erscheinungen werden auf Phänomene reduziert, die nur noch mit Gewalt lösbar sind.

Januskopf Europa

Auf dem EU-Gipfel in Laeken, der den Prozess für eine europäische Verfassung initiierte, gab die EU eine Erklärung zu ihrem Selbstverständnis ab, in der es u.a. heißt: „Nun, da der Kalte Krieg vorbei ist und wir in einer globalisierten, aber zugleich auch stark zersplitterten Welt leben, muss sich Europa seiner Verantwortung hinsichtlich der Gestaltung der Globalisierung stellen. Die Rolle, die es spielen muss, ist die einer Macht, die jeder Form von Gewalt, Terror und Fanatismus entschlossen den Kampf ansagt, die aber auch ihre Augen nicht vor dem schreienden Unrecht in der Welt verschließt. Kurz gesagt, einer Macht, die die Verhältnisse in der Welt so ändern will, dass sie nicht nur für die reichen, sondern auch für die ärmsten Länder von Vorteil sind.“11Europa als Zivilmacht – wie könnte das aussehen (Derrid/Habermans 2003)? Corinna Hauswedell hat schon 2004 gefordert (Hauswedell 2004), die Glaubwürdigkeit einer Politik zu erhalten, für die die Wahrnehmung der EU bisher weltweit steht und die ihrer eigenen Geschichte als wirtschaftliche und Verhandlungsmacht entspricht. Als Kernelemente einer solchen Zivilmacht sind zu nennen:

In den VN das politische (und moralische) Gewicht der EU einzubringen. Die EU verfügt über zwei Ständige Sitze im UN-Sicherheitsrat und stellt mit 27 Mitgliedern einen großen und potenten Block in der Vollversammlung.

Statt der Militarisierung der GASP könnte die EU einen entscheidenden Schritt zur Stärkung der Effizienz des UN-Systems vollziehen, indem sie Art. 47 der Charta zu realisieren sucht und auf die Bildung eines Generalstabs beim UN-Sicherheitsrat drängt und diesem (Teile ihrer) Truppen unterstellt.

Auf der Grundlage der von den Generalsekretären der UN entwickelten Agenden für Frieden und Entwicklung könnte gerade die EU andere – zivilmächtige – Strategien entwickeln, die eine friedensorientierte Außenpolitik Realität werden lassen könnten. Diese wäre zugleich eine nachhaltigere Sicherheitspolitik als sie über das Militär als Bedrohungsinstrument erreichbar ist.

Eine im Umfang zu steigernde, als Konfliktprävention im Sinne des Abbaus struktureller Gewaltverhältnisse verstandene Entwicklungspolitik müsste Grundlage einer solchen als Friedenspolitik gedachten Außenpolitik sein.

Eine auf die Durchsetzung auch der materiellen Menschenrechte und der Demokratie orientierte Politik, wie sie z. T. in der Europäischen Initiative für Demokratie und Menschenrechte festgeschrieben ist12, wäre ein effektiveres Mittel im Kampf gegen den immer wieder beschworenen Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln als die willkürliche und völkerrechtswidrige Anwendung von Gewalt dort, wo kurzfristige Interessen dies zu gebieten scheinen.13

Die Umsetzung einer solchen Strategie in konkrete Politik und ihre sichtbaren Erfolge könnten schließlich, wie der Neo-Realist Stanley Hoffmann schreibt, einen zivilisierenden Einfluss auch auf die US-Außenpolitik haben14, da diese wahrscheinlich nach einem Machtverlust der Neo-Konservativen nicht für immer als der internationale Akteur erscheinen wollen, der nur mit brutaler Gewalt seine Politikziele verfolgt.

Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Jenseits ihres Friedensdiskurses baut die EU systematisch ihre militärische Interventionsfähigkeit aus. Dies beweisen die Militarisierungsbestimmungen des Verfassungsentwurfs und des Vertrags von Lissabon. In geradezu grotesker Weise bringt die am 12. Dezember 2003 beschlossene Europäische Sicherheitsstrategie das Dilemma, in dem sich die Welt befindet, in ihrer Lageanalyse auf den Punkt: „Seit 1990 sind fast vier Millionen Menschen – zu 90% Zivilisten – in Kriegen ums Leben gekommen. Weltweit haben über 18 Millionen Menschen wegen eines Konflikts ihr Heim verlassen. In weiten Teilen der dritten Welt rufen Armut und Krankheiten unsägliches Leid wie auch dringende Sicherheitsprobleme hervor. Fast drei Milliarden Menschen und damit die Hälfte der Weltbevölkerung müssen mit weniger als zwei Euro pro Tag auskommen.“ (ESS 2003).15

Was aber folgt daraus? Nach der lapidaren Feststellung, dass „Sicherheit … Vorbedingung für Entwicklung“ sei, kommt die ESS zur Sache: „Die Energieabhängigkeit gibt Europa in besonderem Maße Anlass zur Sorge.“ Und es folgt die all diesen Papieren gemeinsame, gebetsmühlenhafte Aufzählung der Bedrohungen, die da sind: Der Terrorismus, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, das Scheitern von Staaten, die organisierte Kriminalität. Es mag bezweifelt werden, ob die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität Sache des Militärs sein kann, sie gehört zu den polizeilichen Aufgaben eines Staates. Der Versuch zur Wiederherstellung von Staatlichkeit in »gescheiterten Staaten« ist primär Aufgabe der Gesellschaften selbst (s. Somalia) und einer – gerechteren! – Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik, nicht aber des Militärs, wie auch unsere Fallstudien eindeutig zeigen. Was schließlich die Verbreitung der Massenvernichtungswaffen angeht, so fände sie schnell ein Ende, wenn die Atomwaffenstaaten – allen voran die fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats – endlich den Art. VI dieses Vertrages umsetzten und selbst zu „einer allgemeinen und völligen Entwaffnung“ im Bereich dieser fürchterlichen Waffen beitrügen.16

Die ESS ist ein Paradebeispiel für die »Versicherheitlichung« der weltweiten Resultate kapitalistischer Entwicklung: Die Auswirkungen des ökonomischen und ökologischen Raubbaus, seine Folgen wie Unterdrückung, Elend und Armut, die jüngste Debatte über den Klimawandel, Versteppung und Anstieg des Meeresspiegels werden subsumiert unter den Begriff der »neuen Risiken«, die insgesamt zu Sicherheitsproblemen erklärt werden – womit dann automatisch die Zuständigkeit des Militärs beschworen werden kann. Da ergibt sich dann fast zwingend die Feststellung: „Im Zeitalter der Globalisierung können ferne Bedrohungen ebenso ein Grund zur Besorgnis sein wie näher gelegene. … Die erste Verteidigungslinie wird oftmals im Ausland liegen.“

Der offensive Charakter der ESS wird auch an anderer Stelle deutlich: „Wir müssen fähig sein zu handeln, bevor sich die Lage in Nachbarländern verschlechtert. … Durch präventives Engagement können schwierigere Probleme in der Zukunft vermieden werden.“ Deutlicher noch als die amerikanische Nationale Sicherheitsstrategie von 2002 (US Government 2002), in der von „präemptiven Maßnahmen“17 die Rede ist, beansprucht hier die EU ein Recht auf präventive Gewaltanwendung in den internationalen Beziehungen, die in Art. 2 Abs. 4 der Charta der Vereinten Nationen eindeutig verboten ist. Diesem Widerspruch entgeht die ESS durch eine nur scheinbar elegante Formulierung: „Wir sind der Wahrung und Weiterentwicklung des Völkerrechts verpflichtet.“

Wahrung und Weiterentwicklung des Völkerrechts? Von »Wahrung« kann wohl nicht die Rede sein – also geht es um Weiterentwicklung. Diese geht aber genau dort hin, wo die Welt sich vor der Verabschiedung der Charta befand: In die Anarchie der Staatenwelt, wo das ius ad bellum, das Recht auf Kriegführung, das vornehmste Attribut von Staatlichkeit war. Die EU verweist auf die Charta der Vereinten Nationen mit der Formel, dass diese „den grundlegenden Rahmen (bildet)“. Sie vermeidet so eine eindeutige Formulierung, die heißen könnte und müsste »im Einklang mit den Bestimmungen der Charta«. Die EU als »global player« gibt sich nicht damit zufrieden, nur Schrittmacher für globale Unternehmensstandards zu sein und Weltmarktführer zu werden.18 Der Deregulierung der Märkte und der erkämpften sozialen Standards entspricht die Deregulierung des Völkerrechts.19

Als Interventionsgründe bemühte die EU bisher vor allem Menschenrechtsverletzungen und Fragen der Sicherung der Demokratie: Neben dem Balkan agierte sie vor allem in Afrika: Die »Operation Artemis« in Bunia/Kongo war die erste Intervention, die ausschließlich mit eigenen Kräften und erstmals unter einem rein europäischen Oberkommando ohne NATO-Unterstützung stattfand. Dasselbe gilt für die Intervention des Jahres 2005 in diesem Land, die mit der Sicherung demokratischer Wahlen begründet wurde. Die jüngste Intervention (Eufor) begann 2007 im Tschad, an der neben zahlreichen anderen europäischen Ländern auch 200 österreichische Soldaten beteiligt sind.20

Ein grundlegender Zusammenhang zwischen Armut und Krieg bzw. gewaltsamen Konflikten, wie ihn auch die Agenda für Entwicklung benennt, kann kaum geleugnet werden. Eindeutig belegt wird er in den von uns untersuchten Fällen Elfenbeinküste, Haiti, Niger und Somalia. Unterschwellig präsent ist er in den Fällen Kosovo, wo der ökonomische Niedergang Jugoslawiens die ethnischen Konfliktpotenziale anheizte; Ost-Timor, wo der Kolonialismus seine Spuren hinterlassen hat; und in Nordirland, wo die systematische Benachteiligung der katholischen Bevölkerung Konflikt auslösend war. Dieser Konflikt konnte außerhalb des UN-Systems gelöst werden.

Afrika – verlorener Kontinent oder Objekt der Begierde

Es scheint kein Zufall zu sein, dass gerade in den afrikanischen Fällen Elend, Gewalt und »Staatszerfall« signifikant korrelieren. Die schwarzafrikanischen Gesellschaften und die dort bestehenden Großreiche wurden bereits durch den transatlantischen Sklavenhandel nachhaltig zerstört, der diese Gesellschaften zwei Jahrhunderte lang vor allem der arbeitsfähigen jungen Männer beraubte. Der Kolonialismus wütete im belgischen Kongo mit systematischem Massenmord. Auch der deutsche Kolonialismus beging nicht nur den Völkermord an den Herero und Nama in »Deutsch-Südwest«, beim Bau der Eisenbahn von Duala nach Yaunde in Kamerun kamen so viele Menschen ums Leben, dass Arbeitskräfte aus Namibia zum Ersatz herangeschafft werden mussten.

Dieser geplünderte Kontinent besaß nicht die Spur wirtschaftlicher Autonomie, als 1960 die überwältigende Mehrheit der afrikanischen Staaten ihre Unabhängigkeit erhielt. Seitdem fanden im subsaharischen Afrika über 200 Staatsstreiche statt, 191 Staatschefs wurden mit Gewalt vertrieben. Seit 1970 fanden mindestens 35 Kriege statt, im Jahre 2003 befanden sich gleichzeitig 15 afrikanische Länder in einem Krieg (Bouquet 2005, S.6). Jenseits der katastrophalen wirtschaftlichen Lage sind die von den Kolonialmächten gezogenen künstlichen Grenzen ein ständiger Faktor von Konflikten und Destabilisierung, wie auch die drei afrikanischen Fallstudien zeigen.

Nicht zufällig ist es immer wieder die Demokratische Republik Kongo (vormals Zaire), in der sich wie in einem Brennglas das afrikanische Elend gepaart mit vielfältiger und brutaler Gewalt spiegelt: Schon die Unabhängigkeit unter Führung Lumumbas wurde hintertrieben, Lumumba selbst bestialisch ermordet. Der damalige UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld kam bei einem bis heute nicht aufgeklärten Flugzeugabsturz über dem Land ums Leben. Die Kupfer- und Diamantenkonzerne förderten die Sezession der an Rohstoffen reichen Ostprovinzen, im Kongo tummelten sich erstmalig brutale Söldner (Kongo-Müller, Bob Denard), der dann vom Westen unterstützte Diktator Mobutu plünderte das Land auf eigene und der Konzerne Rechnung. Für die EU war das Land Ziel ihrer ersten ohne NATO-assets durchgeführten Operationen: »Artemis« in Bunia (2006) und die Sicherung der Wahlen im Jahre 2006, die dann den vom Westen präferierten Kriegsverbrecher Kabila auf den Präsidentenstuhl brachten, gegen den Kriegsverbrecher Bemba. Die Kämpfe im Osten, getragen von Warlords, die mit Ruanda und den Interessen internationaler Konzerne verwoben sind, ebbten nie ab und fanden jüngst einen neuen Höhepunkt, der den französischen Außenminister Kouchner veranlasste, eine weitere bewaffnete Intervention der EU zu fordern (ausführlich: FAZ 31. Okt. 2008, S.5).

Der Ressourcenreichtum des Kontinents bringt Afrika zunehmend ins öffentliche Interesse: Die USA haben ihn zum Teil der »Greater Middle East« erklärt und ein neues Oberkommando für Afrika, Africom, gegründet (Ruf 2008). Bundespräsident Köhler widmet ihm besondere Aufmerksamkeit, Minister Glos bereist die wichtigsten Länder, Angela Merkel besucht Algier. Frankreich macht den – auch militärischen – Versuch, seine »angestammten« Interessen vor den Akteuren der Globalisierung und in erster Linie vor dem Zugriff der USA zu schützen. Dies zeigen nicht nur die Gründung von Africom, sondern auch die französischen Interventionen in Tschad und Elfenbeinküste wie auch Darfur, nicht zuletzt weil der Sudan einer der wichtigsten Öl-Lieferanten Chinas ist.

Fazit

1. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts entwickelten die NATO und ihre Mitgliedstaaten neue Bedrohungsszenarien, die von so genannten neuen Risiken ausgehen. Diese spiegeln sich nicht nur in der NATO-Sprache wider, sondern auch in den zeitgleich (1994) erschienenen Verteidigungs-Weißbüchern Deutschlands, Frankreichs und Groß-Britanniens. Diese neuen Risiken – Ökologie, Migration, internationale Kriminalität, Terrorismus – sind nichts Anderes als die extremen Reaktionen von Menschen und Natur auf den von Profitinteressen vorangetriebenen rücksichtslosen Raubbau. In dem Maße, in dem die Klimakatastrophe sichtbar und fühlbar wird, wird auch dieses Problem nicht an seinen Ursachen angegangen, nein, es wird versicherheitlicht. Probleme, die ökonomischer und sozialer Natur sind, die militärisch gar nicht bearbeitet werden können, sondern in Teilen allenfalls Aufgaben der Polizei sein können, werden zu einem Aufgabengebiet des Militärs umdefiniert. Dies ist der elegante Schachzug, der – lange vor einer (humanitären) Intervention – unser Denken auf jene »ultima ratio« militärischen Handelns programmiert. Damit wird das Denken in nicht-militärischen Kategorien von vornherein ausgeschlossen, Dieser Kurzschluss im Denken verhindert Fragen nach den Ursachen und vermeidet die unangenehme Suche nach friedlichen und strukturellen Mitteln.

2. Es ist das Elend, das Gewalt produziert. Nichts unterstreicht dies deutlicher als die Verhältnisse in Afrika. Eine unmittelbare Kausalbeziehung zwischen Armut und Elend einerseits und Gewalt und Staatszerfall andererseits ist zwar nicht eindeutig nachweisbar. Dennoch ist die Häufigkeit von Konflikten und Staatszerfall gerade in Afrika und die dortige extreme Armut ebenso wie analoge Verhältnisse in den übrigen extrem armen Ländern ein eindeutiges Indiz: Wo extreme Armut herrscht, zerbrechen staatliche Strukturen, Gesellschaften versinken in Gewaltökonomien. Die dies verursachenden alltäglichen »humanitären Katastrophen«, die kannibalische Ordnung (Ziegler), werden jedoch weder in den Medien noch in der Politik thematisiert. Statt militärischen »State-and Nation-Buildings«, die bisher nirgendwo erfolgreich waren, wären Maßnahmen zur Sicherung von ökonomischen und sozialen Mindeststandards notwendig. Die Fälle Haiti, Somalia, Elfenbeinküste, Osttimor und vor allem Niger unterstreichen das.

3. Wir im industrialisierten Norden zeigen mit moralischer Empörung auf die Gräuel im Süden, die doch Resultat »unserer« Politik sind. Es ist bezeichnend und irritierend zugleich, dass die herrschende Politik im Allgemeinen und der Sicherheitsrat im Besonderen nur die »humanitären Katastrophen« in den Blick nehmen, in denen bewaffnete Gewalt in Erscheinung tritt und in die Interessen der großen Mächte impliziert sind. Die diesen zugrunde liegenden historischen und ökonomischen Ursachen bleiben systematisch ausgeblendet. Nirgendwo finden sich Hinweise auf Erkenntnisse und Resolutionen jenes anderen, wichtigen Organs der UN, des Wirtschafts- und Sozialrats ECOSOC oder auf die Studien des UNDP. So verkommen die von diesen Gremien beschlossenen Maßnahmen meist zu rein politisch-kosmetischen Empfehlungen

4. Nur mediatisierte Konflikte geraten in den Blick der Öffentlichkeit, vor allem wenn sie »unsere« Interessen tangieren und wenn sie mit Scheußlichkeiten garniert werden können. Somalia ist hierfür geradezu ein Paradebeispiel: Die Operation »Restore Hope« machte den Konflikt zum zentralen Medienereignis. Das tägliche Leiden und Sterben Hunderttausender Menschen dort ist seit mehr als 15 Jahren kaum mehr der Erwähnung wert – ganz anders als die Akte der Piraterie vor der Küste des Landes, da diese den »freien Welthandel« und »unsere« Rohstoffzufuhr gefährden könnten. Dass die Piraterie vor Somalias Küsten auch eine Folge der Überfischung durch die internationalen Fangflotten und der Existenznot somalischer Fischer ist, wird bestenfalls am Rande thematisiert. Auch diese Form der Gewalt ist Folge des Zerfalls von Staatlichkeit (Petretto 2008). Der Aktionismus militärischen Eingreifens mit dem Ziel des »Friedensschaffens« und »Friedenserzwingens« erzeugt Publizität, die von den Konfliktursachen ablenkt.

5. Vieles deutet darauf hin, dass Konflikte dann zu massiver Gewaltanwendung eskalieren, wenn ausländische Interessen involviert sind. Auch der Völkermord in Ruanda ist nicht vom Himmel gefallen, sondern gehört zweifelsfrei in diese Kategorie, wie inzwischen nachgewiesen ist (Coquio 2008, Grund 2008). Dies gilt auch für die von uns untersuchten Konflikte in Haiti, Somalia, Elfenbeinküste, Kosovo und Niger. Es kann daher kein Zufall sein, wenn in der neuen Form des Interventionismus gerade die interessierten Mächte sich um ein Mandat zur »Friedensschaffung« bemühen – und dies dann vom UN-Sicherheitsrat erhalten (Elfenbeinküste, Tschad).

6. Richtig ist: Jedes Menschenleben ist wertvoll, und es wäre zynisch, die geringere Zahl von Toten in Gewaltkonflikten gegen die Masse der von der »kannibalischen Ordnung« gemordeten Menschen aufrechnen zu wollen. Deshalb schließen wir – wie Jöst/Strutynski zeigen – Interventionen mit bewaffneten Kräften nicht grundsätzlich aus. Sie sollten sich in akuten Notfällen allerdings am alten Blauhelmkonzept orientieren – oder aber: Der Art. 47 der UN-Charta müsste endlich umgesetzt werden! Hier hätte die EU ein Beispiel setzen können, indem sie ihre »battle groups« unter die Autorität des Sicherheitsrats gestellt hätte. Seit Ende der Bipolarität nehmen jedoch die »robusten« Einsätze von Staaten zu, die über »robuste« Mittel verfügen. Zugleich verweigern diese Staaten beispielsweise der Afrikanischen Union (AU) dringend benötigtes militärisches Gerät für vom UN-Sicherheitsrat mandatierte Aktionen: Zu Recht beklagt der ehemalige Sondergesandte der AU für Darfur, dass kein UN-Mitgliedsstaat bisher bereit war, einen der 18 angeforderten Hubschrauber für die UN-Mission der AU zur Verfügung zu stellen (Salim 2008). Nichts illustriert besser die Diskrepanz zwischen Rhetorik und realen Interessen der großen (und gerade auch der europäischen) Mächte. Die untersuchten Fälle zeigen, dass der Sicherheitsrat (Haiti, Elfenbeinküste, Somalia, aber auch Tschad oder DR Kongo) zunehmend zum Mandatserteiler auf Bestellung wird: Damit legitimiert der Sicherheitsrat unilaterale Interessendurchsetzung, die nichts anderes ist als eine neue Form von Imperialismus und letztlich die UN selbst delegitimiert. Wer vor diesem Hintergrund eine »Responsibility to Protect« einfordert, ist entweder zynisch oder verschleiert seine oft genug imperialistischen Interessen.

7. In keinem Falle bringt die »ultima ratio« des Militärs eine Lösung – bestenfalls kann sie Konflikte unterdrücken. Sie ist auch gar nicht die »ultima ratio«, sondern bestenfalls die »ratio simplissima«, eine Reaktion auf Gewalt mittels noch mehr und besser ausgestatteter Gewalt. Notwendig wäre aber eine »prima actio« auf sozialer und ökonomischer Ebene, die allerdings Eingriffe nicht nur in »zerfallenden Staaten«, sondern vor allem in die Handlungsfreiheit der »global players« erfordern würde: Handlungsbedarf besteht nicht auf der Ebene militärischer Gewalt, sondern auf der Ebene der politischen Steuerung und Kontrolle von Profitinteressen und einer an den Bedürfnissen der Menschen orientierten Entwicklungspolitik! Die Konfliktursachen sind bekannt und sich anbahnende massive gewaltsame Konflikte – nicht nur in Niger – absehbar. Von »codes of conduct« für Firmen bis zum Kap VI der UN-Charta steht ein ganzes Arsenal von Handlungsmöglichkeiten bereit, um präventiv Krisen zu bewältigen, bevor sie in Gewalt umschlagen.

8. Neben langfristigen strukturellen Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und Elend und zur Etablierung eines gerechteren Welthandels und des Abbaus der Exportorientierung der Dritte-Welt-Ökonomien müssten die BRD und die EU sofort handeln und in den UN darauf hinwirken, dass

Vorrangig alle Möglichkeiten der UN nach Kap VI, VIII und X der Charta ausgeschöpft werden, bevor zur so genannten ultima ratio gegriffen wird,

Europäische und internationale Firmen auf die Regeln des »global compact« verpflichtet werden und deren Einhaltung von der EU strikt überwacht werden,

Subventionierte Agrarprodukte nicht weiterhin die einheimische Agrarproduktion zerstören,

Freihandelsabkommen zwischen ungleichen Partnern abgelehnt werden, zumindest aber Schutzklauseln für die einheimischen Kleinen und Mittleren Unternehmen enthalten, besser noch: Schutzzölle auf den Import billiger industrieller Fertigwaren zulassen,

Die Formel von der »Hilfe zur Selbsthilfe« ernst genommen und unter primärer Verantwortung der Regierung in den jeweiligen Staaten umgesetzt wird,

Die Militarisierung der Entwicklungshilfe durch CIMIC beendet wird und Entwicklungshilfe im Sinne des Vorstehenden praktiziert wird,

Blauhelme nur in extremen Fällen und unter strikter Einhaltung der oben genannten Bedingungen zum Einsatz kommen.

Literatur

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Anmerkungen

1) In Osttimor ist zwar die Dekolonisierung endlich gelungen, inwieweit sie in eine dauerhafte Staatlichkeit mündet, ist jedoch offen.

2) Wichtige Vereinbarungen, die einen rechtlichen Rahmen im Bezug auf Kriegseintritt und Kriegsführung darstellen, sind: die Genfer Konventionen (1864), die Haager Friedenskonferenzen (1899 und 1907), der Briand-Kellogg-Pakt (1928), die Völkerbundsatzung und die Charta der Vereinten Nationen (1945).

3) Klein, Dieter: Wo bleibt der Reichtum? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7/2008 S.85-93, hier S.87.

4) Amin, Samir: Das Reich des Chaos, Hamburg 1992, hier S.37f.

5) Population Division of the Department of Economic and Social Affairs of the United Nations Secretariat, World Population Prospects: The 2006 Revision and World Urbanization Prospects: The 2005 Revision, http://esa.un.org/unpp, 05.02.2008; The Millennium Development Goals report 2007 update, United Nations, UN Department of Public Information, New York, June 2007.

6) Diese in der Literatur immer wiederkehrende Zahl problematisiert allerdings nicht, ob eine solche Produktionssteigerung auch ohne den enormem Einsatz von fossiler Energie und chemischer Produkte zu erreichen wäre.

7) Klein, Dieter: Armut ohne Ursachen, Reichtum mit Intimschutz; in: Neues Deutschland 31. Mai/1. Juni 2008, S.22.

8) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,583990,00.html [19-10-08].

9) Understanding poverty http://go.worldbank.org/RQBDCTUXW0 [21-07.2008]. Aus dem Englischen W. R.

10) Dupont, Alan: Climate Catastrophe? In: Survival vol. 50, Nr. 3, Juni-Juli 2008, S.29-54.

11) The Laeken Declaration on the Future of the Euroean Union. In: Institute of Security Studies: Chaillot Paper Nr. 51, From Nice to Laeken. European Defence: Core Documents. Paris 2002, S.113f. Aus dem Englischen W.R.

12) European Initiative for Democracy and Human Rights Programming Document 2002-2004 Commission staff working document. S. auch die Programmierung für 2005-2006: http://ec.europa.eu/europeaid/where/worldwide/eidhr/documents/eidhr-programming-2005 [22-10-08].

13) Ausführlich zu dieser Argumentation s. Ruf, Werner: Amerikanischer Unilateralismus und europäische Unfähigkeit? Grenzen und Chancen einer zivilen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik; in: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg.): Europa Macht Frieden, Münster 2003, S.130-143.

14) Hoffmann, Stanley: Clash of Globalizations; in: Foreign Affairs, Nr. 4 (Juli-August) 2002, S.104-115.

15) Diese Zahlen aus der ESS dürften inzwischen längst überholt sein. Nicht enthalten sind in ihnen jene vielen tausend Menschen, die an den Außengrenzen der EU jährlich zu Tode kommen (vgl. Kiza, Ernesto: Tödliche Grenzen – Die fatalen Auswirkungen europäischer Zuwanderungspolitik. Berlin/Wien 2008).

16) Müller, Harald: Friedensgutachten 2007.

17) Als »präemptiv« gelten militärische Maßnahmen, die dann ergriffen werden, wenn ein Angriff unmittelbar bevor zu stehen scheint. Da dies mit Sicherheit nie zu beweisen ist, stehen solche Maßnahmen im Widerspruch zu Art. 2.4 und Art. 51 der UN-Charta.

18) Altvater/Mahnkopf, a. a. O., insbes. S.180-187.

19) Auf die im Völkerrecht heftig und kontrovers diskutierte neue Doktrin einer »Responsibility to Protect« kann hier nicht eingegangen werden. Sie kann allerdings durchaus verstanden werden als ein weiterer Angriff des Nordens auf den letzten Schutzschild staatlicher Souveränität im Süden.

20) http://www.zeit-fragen.ch/ausgaben/2007/nr48-vom-3122007/beteiligung-an-eu-truppen-im-tschad-eufor-mit-neutralitaet-unvereinbar [30-07-08].

Prof. em. Dr. Werner Ruf lehrte von 1982 bis 2003 Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel. Nadine Zollet, M.A. Politikwissenschaft/Soziologie, ist zur Zeit als pädagogische Mitarbeiterin im Bereich Freiwilligenkoordination beim Sozialen Friedens- dienst Kassel e.V. beschäftigt.

Osttimor/Timor-Leste: Erfolgreiches Beispiel für Konfliktbearbeitung?

von Nadine Zollet

Mit einer Fläche von 14. 604 qkm (einschließlich der Exklave Oecussi-Ambeno und der Inseln Atauro und Jaco) ist die Größe Osttimors vergleichbar mit der Schleswig-Holsteins. Insgesamt leben 925.000 Einwohner in Timor-Leste. Die Hauptstadt des Landes ist Dili. Der westliche Teil Timors gehört zu Indonesien.

Die am häufigsten gesprochenen Sprachen sind Tetum und Atoni. Tetum und Portugiesisch sind Amtssprachen. Die Bevölkerung Osttimors kann als »Mischbevölkerung« bezeichnet werden, da ein großer Teil der Bevölkerung seine Wurzeln in der Verbindung zwischen einheimischen Bevölkerungsgruppen und zugewanderten Portugiesen hat. 98% der Osttimoresen sind katholisch, 1% ist moslemisch und 1% protestantisch. Im Jahr 1970 lebten 98,4% Timoresen in Osttimor, nur 1,6% der Bevölkerung waren nicht-timoresischer Abstammung. Im Jahr 1999 hatte sich dieses Verhältnis stark gewandelt. Durch die fortschreitende Umsiedlung von Indonesiern nach Osttimor lag der Anteil der Nicht-Timoresen nunmehr bei 19%.

Kurzer geschichtlicher Abriss/Konflikthistorie

Nachdem sich Portugal 1974 aus Osttimor zurückzog, wurde das Land nach einer sehr kurzen Phase der Unabhängigkeit in den Jahren 1975/76 von Indonesien annektiert und seitdem als 27. Provinz verwaltet. Obwohl die Infrastruktur schwach ausgebaut war, funktionierte die Subsistenzversorgung der osttimoresischen Bevölkerung relativ gut. Importiert werden mussten allerdings Produkte wie Zucker, Mehl und Milch. Bereits 1975 war Kaffee das Hauptexportgut (80%). Die Erdöl-, Erdgas-, und Kupfervorkommen Osttimors wurden durch Portugal nicht genutzt. Jedoch erfolgten bis zum Jahr 1974 bereits verschiedene Explorationsbohrungen durch Erdölunternehmen. Die Erdölvorkommnisse befinden sich in der Timorsee, dort werden Ressourcen im Wert von 30 Milliarden US-Dollar vermutet (vgl. Seneviratne 2006).

Ab 1974 hatten sich drei wichtige politische Parteien in Osttimor herausgebildet. Die »Frente Revolucionaria do Timor Leste Independente« (FRETILIN) – sie trat für ein unabhängiges Osttimor ein und bediente sich vereinzelt marxistischer Rhetorik; die »Uniao Democratica Timorense« (UDT), die vorerst einen Autonomiestatus innerhalb eines föderativen Systems mit Indonesien, langfristig aber ein unabhängiges Osttimor anstrebte, und die unbedeutendere proindonesische »Associacao Popular Democratica Timorense« (APODETI). Nach der »Nelkenrevolution« 1974 und dem damit einhergehenden Zusammenbruch des portugiesischen Regimes entließen die neuen portugiesischen Machthaber fast alle ihre Kolonien in die Unabhängigkeit. In der Endphase der Kolonialverwaltung Osttimors bildeten UDT und FRETILIN zunächst eine Koalition, die die Bildung einer Regierung und ein unabhängiges Osttimor zum Ziel hatte. Gezielt spielte die indonesische Regierung die Parteien gegeneinander aus. Der durch die indonesische Regierung angetriebene Putsch der UDT gegen die FRETILIN mündete 1975 in einem Bürgerkrieg, aus dem die FRETILIN als Siegerin hervorging.

Die indonesische Regierung stand der bevorstehenden Unabhängigkeit Osttimors nicht positiv gegenüber und auch Australien äußerte diesbezüglich Bedenken. Begründet wurde dieses Verhalten unter anderem mit der Angst vor der Ausbreitung kommunistischer Regime in Südostasien1 (vgl. Münch-Heubner 2000, S.29). Nach dem Bürgerkrieg rief die FRETILIN am 28. November 1975 die Demokratische Republik Osttimor aus. Bereits im Dezember 1975 startete Indonesien eine Großoffensive zur Besetzung Osttimors und erklärte dieses am 17. Juli 1976, entgegen internationaler Proteste, zu seiner 27. Provinz (vgl. Fleschenberg 2006: S.144).

Dieses völkerrechtswidrige Vorgehen wurde von der UN nicht akzeptiert und in den Resolutionen des Sicherheitsrates kritisiert (vgl. S/RES/384 vom 22.12.75; vgl. S/RES/389 vom 22.04.1976). Portugal brach die diplomatischen Beziehungen zu Indonesien ab, andere Staaten hielten sich zurück, um die Beziehungen zu dem wirtschaftlich wichtigen Indonesien nicht zu gefährden (vgl. Forster 2005, S.79). Die indonesische Militärregierung Suhartos verwies zu ihrer Rechtfertigung auf die Aufforderung zur Intervention durch die pro-indonesisch orientierten Parteien Osttimors. Tatsächlich forderte die »Movimento Anti Communista« (MAC), in dem die »Uniao Demcratica de Timor« (UDT) und die eher unbedeutende proindonesische »Associacao Popular Democratica Timorense« (APODETI) zusammengeschlossen waren, am 30. November 1975 Indonesien zum militärischen Eingreifen auf (vgl. Münch-Heubner 2000, S.29).

Durch Berichte aus dem Jahr 2001 wird die Annahme bestätigt, dass die indonesische Invasion in Osttimor von der damaligen US-Regierung unter Präsident Ford und Außenminister Kissinger gebilligt, wenn nicht sogar begrüßt wurde (vgl. AG Friedensforschung). Somit steht die indonesische Invasion im Jahr 1975 in Verbindung mit dem geostrategischen und sicherheitspolitischen Agieren der Akteure im Zeichen der Blockkonfrontation. Jakarta war im Kontext der bipolaren Weltordnung ein verlässlicher, streng antikommunistischer Partner der USA (vgl. Schlicher/Flor 2003, S.254). Die durch die indonesische Invasion ausgelösten Kämpfe zwischen dem indonesischen Militär und der Widerstandsbewegung forderten bereits in den ersten zwei Jahren bis zu 80.000 Opfer. Für den Zeitraum der indonesischen Besatzung finden sich in der Literatur Opferangaben zwischen 200.000 und 250.000 (vgl. Evers 2001, S.8; vgl. Münch-Heubner 2000, S.30).

Das Ende der Ost-West Konfrontation lag bereits einige Jahre zurück und mit der einsetzenden Asienkrise 1997 und dem Ende des Suharto-Regimes im Jahr 1998 bot sich eine neue Möglichkeit, den Konflikt um Osttimor zu lösen. Der neue indonesische Machtinhaber Habibie verkündete bereits im Januar 1999, den Timoresen würde die Chance geboten, im Rahmen eines Referendums zwischen dem Verbleib bei Indonesien mit weitgehender Autonomie oder der Unabhängigkeit zu wählen. Ein Grund hierfür lag in der Finanzkrise Indonesiens. Die Truppenstationierung in Timor-Leste belastete den Staatshaushalt Indonesiens und um finanzielle Unterstützung und ausländische Investitionen zu erlangen, musste das internationale Ansehen Indonesien verbessert werden (vgl. FR 05.02.1999).

Wirtschaftliche, soziale und politische Lage

Seit der Unabhängigkeit wird Timor-Leste nach der Verfassung von 1992 als Präsidialrepublik regiert. Dem Parlament gehören 88 Mitglieder an, gewählt wird alle 5 Jahre.

Das amtierende Staatsoberhaupt ist der Friedensnobelpreisträger Jose Ramos-Horta, Premierminister der Ex-Präsident und Widerstandskämpfer Xanana Gusmao (FRETILIN) (seit 2007). Im September 2002 wurde Timor-Leste Mitglied der UN.

Durch die Ausschreitungen im Jahr 1999 wurden 70-90% der Schulen auf Osttimor zerstört. Darüber hinaus steht einer zahlreichen schulpflichtigen Generation ein Mangel an qualifizierten Fachkräften gegenüber (vgl Gödde 2004, S.21); die Analphabetenrate liegt bei über 50%. Die Wirtschaftsaktivitäten Osttimors gliedern sich wie folgt: 32% Landwirtschaft, 12,8% industrieller Sektor, Dienstleistungssektor mit 55% (2003). Im Jahre 2003 waren 80% der Erwerbstätigen im landwirtschaftlichen Sektor tätig. 50% der Bevölkerung sind schätzungsweise erwerbslos (vgl. CIA 2008). Exportprodukte sind vor allem Kaffee, der hauptsächlich nach Indonesien exportiert wird, und Erdöl. Weitere Exportpartner Osttimors sind die USA, Deutschland, Portugal und Australien. Importiert hingegen werden Nahrungsmittel.

Friedensanstrengungen, Eingreifen Dritter, Konfliktbewältigung

In den Jahren 1975 bis 1982 gab es neben den bereits erwähnten Resolutionen 384 und 389 weitere 8 Resolutionen. Portugal sorgte dafür, dass die Osttimor-Thematik bis 1982 auf der jährlichen Agenda der VN zu finden war. Die Generalversammlung legte in der Resolution 37/30 vom November 1982 fest, dass der Generalsekretär Gespräche mit den betroffenen Akteuren führt, um eine Lösung für das Osttimor Problem zu finden. 1982 wurden Gespräche über Osttimor zwischen Portugal und Indonesien aufgenommen, die aber in den folgenden Jahren ergebnislos blieben. Indonesien hielt daran fest, die Integration Osttimors als von den Timoresen akzeptiert und getragen darzustellen (vgl. Schlicher/Flor 2003, S.5). Im Juni 1995 fand das erste Treffen des »All-inclusive Intra East Timorese Dialogue (AIETD)« in Österreich statt (vgl. UN Press Release vom 20. Oktober 1997). Dieses Gesprächsforum gab neben den Drei-Parteien-Gesprächen Raum, um alle Facetten der politischen Meinungen der Osttimoresen vorzutragen und eine Vision über die Zukunft des Landes zu entwickeln.

Nachdem die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen Ende der 1990er Jahre eine Lösung des Konflikts begünstigten, mündeten die diplomatischen Bemühungen in dem »New Yorker Abkommen« zwischen Portugal und Indonesien vom 5. Mai 1999.

Parallel zu diesen Gesprächen arbeiteten die unmittelbar beteiligten Konfliktparteien, die FALINTIL (militärischer Arm der FRETILIN), das indonesische Militär und Vertreter der pro-indonesischen Milizen, ein Friedensabkommen aus. Dieses wurde international und vor allem von den Osttimoresen selbst sehr kritisch bewertet, da es keine Aussagen über die Entwaffnung der FALINTIL und der pro-indonesischen Milizen machte2 (vgl. FR 22.04.1999).

In dem »New Yorker Abkommen« wurde vereinbart, dass die Bevölkerung Osttimors die Möglichkeit bekommt, sich im Rahmen eines Referendums für einen Autonomiestatus unter Indonesien oder für einen eigenständigen, unabhängigen Staat zu entscheiden. Zur Durchführung des Referendums werde eine UN Mission eingerichtet, die freie und geheime Wahlen organisieren und durchführen sollte. Der indonesischen Regierung wurde im Rahmen des Abkommens die Aufgabe zugesprochen, während des Referendums und der Dauer der UN Mission die Sicherheit und öffentliche Ordnung in Timor-Leste zu garantieren. Für den Fall, dass sich die Bevölkerung Osttimors im Rahmen des Referendums für einen eigenen, unabhängigen Staat entscheidet, wurde festgeschrieben, dass Indonesien, Portugal und die VN einen Prozess in die Wege leiten, in dem die Annexion von 1976 rückgängig gemacht wird und die Hoheitsgewalt über Timor-Leste den VN übertragen wird. Die VN wiederum würde in solch einem Fall die Verwaltung übernehmen und Osttimor auf seine Unabhängigkeit vorbereiten (vgl. UN Agreement, 5. Mai 1999). Letzteres trat ein, die Übergangsverwaltungsmission UNTAET wurde am 25.10.1999 in der Resolution 1272 autorisiert.

Jürgen Dauth beleuchtet in seinem Aufsatz »Jakartas falsches Spiel« die Interessen der indonesischen Regierung, die im Zusammenhang mit der Zustimmung zu der Referendumsdurchführung stehen. Durch die von der indonesischen Regierung und dem Militär betriebene Vertreibung von Osttimoresen und die Ansiedlung indonesischer Bevölkerung bestand die Bevölkerung Osttimors, wie eingangs beschrieben, im Jahr 1999 zu 19% aus indonesisch stämmigen Bürgern. Das Angebot, im Rahmen eines Referendums zwischen einem Autonomiestatuts und der Unabhängigkeit Osttimors zu wählen, sieht Dauth als Strategie der indonesischen Regierung, da mit dieser Wahl eine Spaltung der pro-indonesisch orientierten und der unabhängigkeitsorientierten Bevölkerung einherging (vgl. FR 27.04.1999).

Internationale Dimension des Konflikts/Interessen externer Akteure

Die Betrachtung der Interessen der externen Staaten muss in zwei zeitliche Phasen eingeteilt werden: Die Phase während der Ost-West Konfrontation 1975-1990 und die Phase von 1990-2008. Die Vereinigten Staaten waren in der ersten Phase auf der Suche nach Bündnispartnern in Asien zur »Eindämmung des Kommunismus«. Indonesien war unter dem Antikommunisten Suharto ein solch verlässlicher Partner. Es erhielt entsprechend massive Militärhilfe von der amerikanischen, aber auch von der französischen und britischen Regierung (vgl. Howard 2008, S.269). Die US-Regierung lehnte die Annexion Indonesiens rhetorisch ab, jedoch war sie nicht gewillt, das geostrategisch wichtige Indonesien zu verprellen. Bei der Verabschiedung der Resolutionen aus dem Jahr 1975 und 1976, in denen das Vorgehen Indonesiens scharf kritisiert wurde, wohnten die USA lediglich der Sitzung im Jahr 1975 bei. Die Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates beschlossen keine Sanktionen, das völkerrechtswidrige Vorgehen Indonesiens hatte keine weiteren Konsequenzen.

Auch die 1967 gegründete »Association of Southeast Asian Nations« (ASEAN) war in der Osttimor Frage untätig. Das Bündnis wurde hauptsächlich von Indonesien dominiert. Zudem bestanden enorme Befürchtungen, dass ein unabhängiges Osttimor weitere Autonomie- und Sezessionsbestrebungen mit sich bringen könnte, bis hin zum Zerfall des Vielvölkerstaates.

Ausgelöst durch das Massaker von Santa Cruz, bei dem 1991 mehr als 270 Menschen starben, begann man sich innerhalb der EU mit der Osttimor Frage zu beschäftigen. Doch erst im September 1999 verhängten die Mitgliedsstaaten der EU ein viermonatiges Waffenembargo gegen Indonesien.

Die Unterstützung der FALINTIL-Kämpfer durch das kommunistische China ist nicht belegbar, Chinas Unterstützung für die Unabhängigkeit Osttimors nahm in den 70er Jahren stark ab (vgl. Howard 2008, S.269). Heutzutage sind Chinas Interessen im Bezug auf Timor-Leste hauptsächlich im wirtschaftlichen Bereich angesiedelt. Es wird eine rege Zusammenarbeit im Erdölsektor angestrebt. Insgesamt standen sich das (ehemals) blockfreie Indonesien und China nicht gerade nah. Eine militärische Intervention nicht-asiatischer Staaten in Osttimor war jedoch auch aus der Sicht der chinesischen Regierung nicht hinnehmbar. Das führte dazu, dass China im Bezug auf die Entsendung einer internationalen Eingreiftruppe damit drohte, von seinem Vetorecht im Sicherheitsrat Gebrauch zu machen. Ab September 1999 verhielt sich der chinesische Außenminister gemäßigter, rückte vom Veto ab und machte die Zustimmung der indonesischen Regierung zur Bedingung eines militärischen Einsatzes. Auffällig ist die Tatsache, dass diese Verhaltensänderung parallel zu den chinesisch-amerikanischen Verhandlungen über den WTO Beitritt Chinas stattfand.

Ein Hinweis für die Unterstützung der FRETILIN/FALINTIL durch die Sowjetunion könnte die Tatsache sein, dass die Sowjetunion als einziges Sicherheitsratmitglied kontinuierlich für die Unabhängigkeit Osttimors eintrat. Im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung bildeten sich Fronten zwischen Unabhängigkeitsbefürwortern und Indonesien-Unterstützern. Vor allem die ehemaligen Kolonien Portugals sprachen sich für die Unabhängigkeit Osttimors aus (vgl. Howard 2008, S.269).

Australien hingegen verfolgte eigene Interessen Indonesien und Osttimor betreffend. Es erkannte die völkerrechtswidrige Annexion Osttimors 1976 als einziger Staat an. Der Grund hierfür lag vor allem in seinen energiepolitischen Interessen. Zwischen Australien und Portugal war ein Streit um die Nutzung der Erdölressourcen in der Timorsee entbrannt. Mit Indonesien lief die Kooperation in diesem Bereich positiver, bereits Anfang der 1970er Jahre hatten sich Australien und Indonesien in einem Abkommen über die Erkundung des Meeresbodens durch die beiden Staaten geeinigt (vgl. Münch-Heubner 2000, S.53f.).

Zum Zeitpunkt der Asienkrise und des Regimewechsels in Indonesien Ende der 1990er Jahre war die Ost-West Konfrontation bereits beendet, die Sicherheitsstrategie der USA hatte sich geändert. Die subtile Unterstützung Indonesiens seitens der USA nahm mit dem Einbruch der asiatischen Wirtschaft Ende der 1990er Jahre und dem gewaltsamen Vorgehen pro-indonesischer Gruppierungen gegen die osttimoresische Bevölkerung weiter ab.

Als es im Sicherheitsrat um die Entsendung der multinationalen Schutztruppe INTERFET zur Wiederherstellung der Sicherheit in Osttimor ging, drohte neben China auch Russland mit einem Veto, falls dies ohne Zustimmung Indonesiens geschehen würde. Die US-Regierung hingegen drohte der indonesischen Regierung mit umfassenden Wirtschaftssanktionen, falls diese INTERFET nicht zustimmen würde. Ab diesem Zeitpunkt stellt Lisa Howard bezogen auf das Verhalten der Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates fest, gab es einen Konsens hinsichtlich der wesentlichen Problemlage und die Debatten waren nicht mehr scharf (vgl. Howard 2008, S.271).

In der Literatur lassen sich unterschiedliche Vermutungen über die Gründe Australiens finden, eine internationale Schutztruppe in Osttimor anzuführen. Eine australische NGO, die sich für die Unabhängigkeit Osttimors einsetzt, äußerte Bedenken hinsichtlich des australischen militärischen Engagements (INTERFET Truppen) in Osttimor. Australien verhält sich diesen Aussagen zufolge seit 1999 im Bezug auf die Festlegung der Seenutzungsrechte in der Timorsee nicht kooperativ. Seit 1999 habe Australien Einnahmen in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar aus der Förderung von Erdöl aus der Timorsee kassiert, im selben Zeitraum Hilfsgelder in Höhe von 300.000 Dollar an Osttimor gezahlt.

Portugal brachte den Fall 1991 vor den Internationalen Gerichtshof; dieser erklärte sich schlussendlich jedoch für nicht zuständig. Ein unabhängiges Osttimor würde jedoch die bereits bestehenden Verträge über die Ressourcenausbeutung in der Timorsee ungültig machen. Die Stationierung australischer Truppen könnte ein Kalkül der australischen Regierung sein, um gewissen Einfluss auf die osttimoresische Politik zu gewinnen. Der osttimoresische Premier Alkatiri betrieb in seiner Amtszeit von 2002 bis 2006 eine Politik, die darauf abzielte mit Partnern wie China, Malaysia und Brasilien eine Erdölgesellschaft zu etablieren. Diese Pläne widerstreben der australischen Regierung (vgl. Seneviratne 2006).

Der Streit um das Erdöl in der Timorsee konnte in der jüngeren Zeit partiell gelöst werden. Nach der Unabhängigkeit Osttimors wurden Verhandlungen zwischen UNTAET-Vertretern und Vertretern der australischen Regierung aufgenommen. Australien hat hierbei enorme Einbußen hinnehmen müssen. In dem »Timor Sea Treaty« von 2002 ist in Artikel 4a festgehalten, dass die Einnahmen aus der Ölproduktion zu 90% Osttimor gehören und nur zu 10% Australien. Die für Osttimor günstige Aufteilung der Einnahmen ist vor allem auf die Drohung von UNTAET-Vertretern zurückzuführen, den Fall erneut vor den IGH zu bringen. Die Verhandlungen hatten jedoch nur ein Gebiet zum Gegenstand, das 20% der Erdölvorkommnisse umfasst (vgl. Le Monde de Diplomatique vom 12.11.2004).

UN Aktivitäten in Osttimor

United Nations Assistance Mission to East Timor (UNAMET)

Um den sicheren und fairen Ablauf des Referendums zu gewähren, wurde am 11. Juni 1999 UNAMET mit der Resolution 1246 durch den Sicherheitsrat installiert. Die Resolution wurde einstimmig verabschiedet. UNAMET war keine »peacekeeping«-Mission, sondern eine Wahlbeobachtungsmission. Etwa einen Monat nach der Autorisierung durch den Sicherheitsrat hatte die Mission ihre komplette Aufstellung erreicht. UNAMET profitierte von erfahrenen Mitarbeitern, die bei dieser Mission herangezogen werden konnten. Sie besaßen Kenntnisse über die politischen Strukturen in der Region und verfügten über ausreichende Sprachkenntnisse. Darüber hinaus profitierte die Mission von einem japanischen Finanzierungsfond. An 200 durch die UN eingerichteten Registrierungspunkten konnten 451.792 wahlberechtigte Osttimoresen inner- und außerhalb des Landes registriert werden (vgl. UN: Press Release, 3. September 1999).

Das für den 8. August 1999 geplante Referendum wurde im Juni von der UN verschoben. UN-Generalsekretär Annan begründete den UN Beschluss mit der labilen Sicherheitslage in Osttimor (vgl. FR 24.06.1999). Offiziell bekannte Indonesien sich zwar zu der Verpflichtung zur Sicherheit beizutragen, tatsächlich aber gab es in den Monaten vor dem Referendum immer wieder Angriffe durch pro-indonesische Milizverbände (vgl. FR 18.05. und 06.07.1999). Im Juli wurde das Referendum auf den 30. August des Jahres terminiert. Am Wahltag herrschte eine weitgehend stabile Sicherheitssituation. Bei einer Wahlbeteiligung von 90% entschieden sich 78,5% der Osttimoresen für die Unabhängigkeit von Indonesien (vgl. UN: Press Release, 3. September 1999).

Auf die Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses folgte eine Gewaltwelle der pro-indonesischen Milizen. UN-Personal wurde überfallen, mehrere UN Mitarbeiter verloren ihr Leben. Die Frankfurter Rundschau berichtete, dass circa 55.000 Osttimoresen vor den pro-indonesischen Milizverbänden auf der Flucht seien und dass mindestens 170 Menschen getötet wurden (04.09.1999). Es wurden Vorwürfe laut, nach denen das indonesische Militär an den Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung beteiligt sei. Dies wurde Ende November 1999 von einer unabhängigen indonesischen Menschenrechtskommission bestätigt3 (vgl. FR 22.11.1999).

Die Gründe, die dazu führten, dass Indonesien im Rahmen des »New Yorker Abkommens« mit der Aufrechterhaltung der Sicherheit und öffentlichen Ordnung betraut wurde, sind bisher nicht öffentlich aufgearbeitet und die Frage wird innerhalb der wissenschaftlichen Literatur bisher nicht erörtert. Jedoch spricht alles dafür, dass die VN gegenüber dem neuen indonesischen Präsidenten Habibie ein Zeichen des Vertrauens setzten wollte. Tatsächlich ist auch nicht deutlich auszumachen inwieweit Habibie Einfluss auf das indonesische Militär und somit auch indirekt auf die pro-indonesischen Milizen hatte. Die Gewalt eskalierte, so dass die UN ihre Mitarbeiter abzog. Internationaler Protest und Vorwürfe gegen die indonesische Regierung wurden laut. Die Clinton Regierung warnte Indonesien vor wirtschaftlichen Konsequenzen, wenn Indonesien Timor-Leste nicht den Weg für den Transformationsprozess bereiten würde (vgl. FR 11.09.1999).

International wurden Stimmen laut, die eine internationale Friedenstruppe zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit forderten.4 Gusmao sorgte dafür, dass die FALINTIL der Gewalt durch die pro-indonesischen Milizen nicht mit Gegengewalt begegnete. „Indem sie nicht mit Gewalt antworteten, betonten die Osttimoresen ihre Stellung als Opfer und hofften darauf, dass diese einseitige Schlacht eine internationale Intervention zu ihren Gunsten notwendig erscheinen ließ“ (Howard 2008, S.267). Die indonesische Regierung beugte sich dem internationalen Druck und stimmte schließlich der Entsendung einer internationalen Truppe zu. Jakarta verlangte, dass die Truppe sich aus befreundeten Staaten zusammensetzten müsse. Demnach wäre die Teilnahme Australiens und der USA an INTERFET ausgeschlossen gewesen. Dieses Verhalten wurde durch den Sicherheitsrat stark gerügt. Da die UN die völkerrechtswidrige Annexion Osttimors durch Indonesien nie anerkannt hat, stellt die Entsendung einer internationalen Schutztruppe keineswegs eine Verletzung der territorialen Integrität bzw. Souveränität Indonesiens dar. Demnach habe Indonesien keinerlei Berechtigung bei der Zusammensetzung der Truppe mitzubestimmen.

Die internationale Schnelle Eingreiftruppe INTERFET wurde durch die UN am 15.09.1999 in der Resolution 1264 und unter Anlehnung an das Kapitel VII der UN-Charta sowie unter Achtung der „Souveränität und territorialen Unversehrtheit Indonesiens“ autorisiert. Der Sicherheitsrat äußert sich in der Resolution besorgt über die humanitäre Lage in Osttimor und stellt fest, dass die momentane Lage eine Bedrohung der Sicherheit und des Friedens darstellt (vgl. S/RES/1264, S.2).

Die Aufgaben INTERFETs umfassten die Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit in Osttimor, den Schutz der UNAMET Mission und die Unterstützung von UNAMET im Bereich der humanitären Versorgung. In Bezug auf Kapitel VII UN Charta ist folgender Wortlaut in der Resolution zu finden: „(…)und autorisiert die an der multinationalen Truppe beteiligten Staaten alle notwendigen Maßnahmen zur Erfüllung des Mandats zu ergreifen.“ In der Resolution ist weiterhin festgehalten, dass INTERFET nur übergangsweise autorisiert wird bis diese von einer Friedenstruppe der UN selbst abgelöst werden soll.

Von der Zustimmung Habibies am 12. September bis zur Verabschiedung der Resolution am 15. September und der Ankunft der ersten Truppen am 20. September vergingen gerade einmal 8 Tage. Trotz dieses schnellen Handelns trafen die INTERFET-Truppen auf ein bereits völlig zerstörtes Osttimor, bis zu 90% der Bevölkerung war vertrieben worden, circa 70% der Infrastruktur war zerstört (vgl. Schlicher/Flor 2003, S.252). Australien war die führende Nation der etwa 7.000 Mann umfassenden Truppe, daneben stellten Malaysia, die Philippinen, Südkorea, Brasilien, Frankreich, Deutschland, Norwegen, England, die USA und andere Staaten Soldaten.5 Die INTERFET-Truppen konnten die Sicherheitslage zügig stabilisieren. Ende September hatten sich die indonesischen Militärs weitgehend zurückgezogen und das Kommando über Osttimor an die UN abgegeben. Das Mandat von UNAMET endete am 25.10.1999. Am 19.10.1999 erkannte die indonesische Regierung das Unabhängigkeitsvotum an und die Folgemission UNTAET konnte ihre Arbeit aufnehmen. Am 21. Februar 2000 wurden die INTERFET-Truppen durch UNTAET-Blauhelmsoldaten ersetzt.

United Nations Transitional Administration in East Timor (UNTAET)

UNTAET stützte sich auf das Kapitel VII der UN-Charta und hatte ein sehr umfassendes, robustes Mandat, das bis zum 31. Januar 2001 befristet war. Autorisiert wurde ein maximaler Personaleinsatz von 9.150 Personen militärischen Personals und 1.640 zivilen Polizeikräften. Am 31. März 2002 umfasste UNTAET 6.281 militärisches Personal, 1.288 PolizistInnen, 118 Militärbeobachter, 737 Mann an internationalem zivilen Personal und 1.745 lokale zivile Mitarbeiter. Militärisches Personal entsandten 29 Staaten, unter ihnen Australien, USA, UK, Bangladesh, Philippinen und Japan. Ziviles Personal entsandten 39 Staaten, auch hierunter Australien, USA und UK sowie Staaten wie Österreich und Nepal (vgl. UN: UNTAET). Mit der Resolution 1338 vom 31. Januar 2001 wurde die Mission um ein weiteres Jahr verlängert. Darauf folgte die Resolution 1392, in der sie bis Mai 2002 verlängert wurde.

In Paragraph 2 der UN-Resolution ist festgehalten, dass zu den Aufgaben der UNTAET neben der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und der Entwicklung einer effektiven Verwaltung auch die Koordinierung von humanitären Hilfsleistungen und die Unterstützung von Projekten zum Wiederaufbau gehörte. UNTAETs Mission lag vor allem in der Assistenz zur Schaffung von Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Entwicklung Osttimors.

Der Bericht des Generalsekretärs vom 26.01.2000 macht deutlich, dass sich UNTAET angesichts der Zerstörung des Landes vorerst auf die Leistung von humanitärer Hilfe konzentrieren musste, um eine minimale Versorgung der Bevölkerung sicher zu stellen.

Der Aufbau einer funktionierenden Verwaltung kam dadurch nur stockend voran.

Der zu dieser Zeit noch bestehende und von Gusmao initiierte CNRT hatte nach dem Referendum vom August de facto die politische Kontrolle über das Land übernommen. In der Anfangsphase der Mission war von Seiten der UN keine wesentliche Beteiligung von osttimoresischen Akteuren geplant, was zu Auseinandersetzungen mit dem CNRT führte, bis dieser von den UN-Mitarbeitern als Repräsentant der Bevölkerung anerkannt und als Ansprechpartner für UNTAET akzeptiert wurde (vgl. Forster 2005, S.85ff.). Im Rahmen der Mission wurde der National Consultative Council (NCC) geschaffen. Ihm gehörten 15 Mitglieder an, darunter Vertreter des CNRT, anderer politischer Gruppierungen, der Kirche und UNTAET. Der NCC konnte keinen Einfluss auf Entscheidungen nehmen, seine Funktion war eine rein beratende. Bei den Vertretern politischer Parteien und in der gesamten Bevölkerung entwickelte sich Unmut wegen der geringen Beteiligung von Osttimoresen an der Verwaltung des Landes. Diese fühlten sich erneut »fremdbestimmt« (vgl. FR 09.06.2000). Für die Mission wurde größtenteils Personal aus dem Ausland rekrutiert, das ein Vielfaches von dem verdiente, was osttimoresisches Personal bekam.

Verwaltung

Nachdem der Ruf nach Beteiligung immer lauter wurde, strebte die UN nach schneller Beteiligung der Osttimoresen. Im Juli 2000 wurden das Transitional Cabinet (vgl. UNTAET/REG/2000/23) und der National Council (NC) installiert. Die beiden Institutionen stellten insgesamt eine Co-Regierung dar. Der Nationalrat trat an die Stelle des NCC; dieser verfügte mit seinen 33 ausschließlich osttimoresischen Mitgliedern über mehr Repräsentativität und hatte weitreichendere Kompetenzen als der NCC. Der NC sollte ein Forum für alle legislativen Angelegenheiten darstellen. Ihm wurde das Recht zugestanden, Verordnungen zu initiieren und zu ändern und er übte eine Kontrollfunktion auf die Exekutive aus, da Kabinettsmitglieder von ihm geladen werden konnten, um Rechenschaft vor dem NC abzulegen. Gusmao wurde zum Nationalratsvorsitzenden gewählt.

Im Rahmen der East Timor Transitional Administration (ETTA) wurden neun Ressorts eingerichtet: Wirtschaft, Soziales, Infrastruktur, Interne Verwaltung, auswärtige Angelegenheiten, Polizei, Justiz, Politische Angelegenheiten und Infrastruktur. Die ersten fünf Ressorts wurden mit Osttimoresen besetzt, die letzten vier durch UNTAET Mitarbeiter. ETTA war damit an die Stelle der Regierungs- und Verwaltungskomponente der UNTAET Mission getreten (vgl. Forster 2005, S.88; vgl. Howard 2008, S.277-281).

Polizei und Justiz

Fortschritte gab es beim Aufbau einer osttimoresischen Polizeieinheit. In Dili wurde durch CIVPOL6 eine Polizeischule eingerichtet und am Ende der Mission befanden sich bereits 1.793 Polizisten im Dienst. Auf der Führungsebene gab es jedoch Personalmangel, so dass 1.250 internationale Polizisten nach dem Ende der Mission im Land verblieben und der Aufbau der Polizeikräfte unter UNMISET fortgesetzt wurde. Ein großes Problem, mit dem UNTAET von Anfang an konfrontiert war, bestand in dem Mangel an geeigneten Fachkräften zum Aufbau eines funktionierenden Justizsystems. Da Osttimor über keine Universität verfügte und es nur wenigen Osttimoresen finanziell möglich war an einer ausländischen Universität zu studieren, stand kaum Personal mit juristischen Kenntnissen zur Verfügung. Dieses Problem ließ sich bis zum Ende der Mission nicht lösen (vgl. S/RES/2002/432: Par. 17). In dem Bericht vom 26. Januar 2000 äußert sich der Generalsekretär besorgt über die Probleme im Justizbereich: „Die dürftige Infrastruktur, einschließlich des fast vollständigen Fehlens von juristischer Literatur, Räumlichkeiten und von Basisausstattung sind ein ernsthaftes Hindernis“ (S/2000/53: Par. 44).

Militärische Komponente/Friedenstruppen

Laut Mandat bestanden die Aufgaben der Blauhelmtruppen in Anlehnung an Kapitel VII der UN-Charta darin, die Grenzen Osttimors abzusichern, die Milizen zu entwaffnen und eine neue Armee aufzubauen. Durch die Anwesenheit INTERFETs bis zu diesem Zeitpunkt konnten die UNTAET Truppen auf bereits funktionierende Strukturen zurückgreifen. Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass durch die Anwesenheit der INTERFET Truppen keine Sicherheitslücke entstanden war und circa 70% des INTERFET Personals von UNTAET übernommen werden konnten. Durch militärische Operationen konnten die Milizen ins indonesische West-Timor zurückgedrängt werden. Die Friedenstruppen legten großen Wert auf die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, um einer Unterstützung der Milizen durch diese vorzubeugen. Durch die hohe Beteiligung von regionalem Personal konnte kulturellen Missverständnissen zwischen den Friedenstruppen und der Zivilbevölkerung vorgebeugt werden.

Eine neue Armee »Timore-Leste National Defense Force« (F-FTDL) wurde aufgebaut und alle ehemaligen FALINTIL Kämpfer, die die Zugangsvoraussetzungen erfüllten, in diese Armee aufgenommen. Die Kämpfer, die nicht in die neue Armee aufgenommen werden konnten, wurden entwaffnet und man versuchte sie durch ein Resozialisierungsprogramm in die Gesellschaft zu integrieren.

Wirtschaftliche und soziale Entwicklung

Die Weltbank richtete Fonds zur Entwicklung des ökonomischen und sozialen Sektors ein. Sie unterstützte Projekte in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Agrarwirtschaft, im Sanitärbereich, community development und bei der Mikrofinanzierung. Der Erfolg der Projekte lag vor allem in der starken Partizipation von Osttimoresen bei der Planung und Implementierung der Projekte.

Die Rückführung der Flüchtlinge unter dem UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) stellte eine große Herausforderung dar. Im Rahmen der Mission wurde erreicht, dass von ca. 250.000 Flüchtlingen 200.000 am Ende der Mission zurückgekehrt waren.

Wahlen

Im Jahr 2001 konnte die von der UN vorgenommen Volkszählung abgeschlossen werden. Somit stand der ersten Wahl zur Vollversammlung, die für den 30.08.2001 angesetzt war, nichts mehr im Wege. Mit einer enormen Wahlbeteiligung von 93% (bei mehr als 400.000 Wahlberechtigten) fand die Wahl ohne gewalttätige Zwischenfälle statt. Bei den ersten freien Wahlen erlangte die FRETILIN 57,3% der Stimmen und erhielt somit 55 der 88 Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung (vgl. SZ 07.09.2001). Nach diesen ersten demokratischen Wahlen zog sich UNTAET aus den Regierungs- und Verwaltungsgeschäften zurück und das Kabinett wurde durch einen Ministerrat ersetzt, in dem ausnahmslos Osttimoresen vertreten waren. Darüber hinaus wurde unter UNTAET die Präsidentenwahl im April 2002 durchgeführt, bei der Xanana Gusmao zum Präsidenten des Landes gewählt wurde. Nachdem grundlegende staatliche Strukturen durch UNTAET geschaffen worden waren, endete die Mission am 20.05.2002 mit der Entlassung Timor-Lestes in die Unabhängigkeit.

United Nations Mission of Support in East Timor (UNMISET)und United Nations Office in Timor Leste (UNOTIL)

Nach der Entlassung in die Unabhängigkeit und dem Ende der UNTAET Mission etablierte der Sicherheitsrat im Mai 2002 mit der Resolution 1410 UNMISET. Die Mission startete am 20. Mai 2002 und war für ein Jahr mandatiert. Ihr Mandat umfasste unter anderem die Förderung der politischen Stabilität durch Unterstützung von wichtigen administrativen Strukturen, Unterstützung der Polizei und die Aufrechterhaltung der inneren und äußeren Sicherheit.

Am 19. Mai 2003 wurde UNMISET durch die Resolution 1480 für ein Jahr, bis zum 20. Mai 2004, verlängert. 2004 erfolgte eine erneute Verlängerung um 6 Monate (Resolution 1543) mit dem Hinweis darauf, eine weitere Endphase von 6 Monaten zu autorisieren (was mit Resolution 1573 geschah). Das endgültige Missionsende war damit im Mai 2005. Am Ende der Mission hatte UNMISET folgende Personalstärke: 134 Angehörige der zivilen Polizei, 428 Militärs und 41 Militärbeobachter.

Im Abschlussbericht des Generalsekretärs macht dieser deutlich, dass trotz wichtiger Fortschritte im Bereich des »capacity building« die Notwendigkeit besteht, eine verkleinerte Folgemission durchzuführen. Die Mitglieder des Sicherheitsrates unterstützen dies und beschlossen einstimmig in der Resolution 1599 vom 28. April 2005 UNOTIL. Der Auftrag der Mission, die eine geringe Personalstärke besaß, bestand vor allem darin, die Entwicklung von staatlichen Institutionen zu unterstützen, die bis dato noch nicht über genügend Kapazitäten verfügten, wie z.B. die Polizei (PNTL) und die Border Patrol Unit (BPU).

Die Mission war vorerst bis zum 20. Mai 2006 autorisiert, wurde aber in der Resolution 1677 vom 12. Mai 2006 verlängert bis zum 20. Juni des Jahres.

United Nations Integrated Mission in Timor-Leste (UNMIT)

Im Januar 2006 war eine Gruppe von rund 600 Soldaten wegen Ungleichbehandlung in den Streik getreten. Im Laufe der Auseinandersetzungen wurden die Soldaten entlassen. Es kam zu Gefechten zwischen der regulären Armee und den Rebellen. Die Situation eskalierte, so dass Jose Ramos-Horta, damals Außenminister, die internationale Gemeinschaft darum bat, eine internationale Friedenstruppe zur Unterstützung der lokalen Sicherheitskräfte zu entsenden. Wieder einmal hielten australische Soldaten (International Stabilization Force, ISF) Einzug in Osttimor. Monika Schlicher bezeichnete das Aufflammen der Gewalt als „hausgemachte Krise“, sie sieht die Gründe dafür in der Ignoranz und in dem Verhalten des damaligen Premiers Altakari, der nicht auf die Beschwerden der Soldaten einging (vgl. Schlicher 2006).

In dieser Sicherheitslage nahm UNMIT, die Nachfolgemission von UNOTIL, ihre Arbeit auf. Der Sicherheitsrat beschloss die Mission aufgrund der anhaltenden Gewalt in Osttimor. Sie wurde am 25. August 2006 in der Resolution 1704 für 6 Monate autorisiert. UNMIT verfügte unter anderem über ein 1.608 Mann starkes Polizeikontingent. Das Mandat umfasste vor allem die Unterstützung der politischen Institutionen und die Förderung des politischen Dialoges innerhalb der Institutionen und der Gesellschaft. Eine weitere Aufgabe stellte die umfassende Unterstützung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen dar. Darüber hinaus beinhaltete das Mandat noch weitere Aufgaben wie die Stärkung der nationalen Polizei, Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit sowie Anstrengungen zur Verbesserung der ökonomischen und sozialen Situation in Timor-Leste. UNMIT beschränkte sich auf Polizei- und Zivileinheiten, die militärische Sicherung verblieb in den Händen der ISF unter australischer Führung.

Heutige Situation

Trotz massiver Aufbauhilfe ist Timor-Leste vier Jahre nach dem Ende von UNTAET noch das ärmste Land im asiatischen Raum. Die Sicherheitssituation im Land ist weiterhin sehr prekär. Im Jahr 2008 ist es wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen. Am 11.02.2008 wurden auf den Präsidenten Jose Ramos-Horta und auf Premierminister Xanana Gusmao Attentate verübt. Dabei wurde Ramos-Horta schwer verletzt. Der ehemalige Major und Täter, Alfredo Reinado, der nach den Unruhen 2006 mit einer Gruppe Soldaten in die Berge geflüchtet war, wurde getötet.

Die hohe Arbeitslosigkeit von geschätzten 50% hat zur Folge, dass die Mehrzahl der Osttimoresen noch immer unter der Armutsgrenze lebt (vgl. CIA 2008). Die sozialen Missstände führen dazu, dass die Mehrheit der Bevölkerung für sich wenig Perspektiven sieht. Diese soziale Unzufriedenheit kann zu neuen gewaltsamen Konflikten führen. Dazu kommt die Tatsache, dass Timor-Leste auf keine demokratische Tradition zurückgreifen kann. Der Einsatz von Gewalt zur Erlangung politischer Ziele bzw. zur Lösung von Konflikten hat hingegen eine lange Tradition. Hoffen kann die Regierung Timor-Lestes auf die steigenden Einnahmen im Erdölsektor. Doch Erdölförderung ist kein nachhaltiger Wirtschaftszweig, die Ressource ist endlich. Darüber hinaus verhindern Rentenökonomien die Entstehung einer sich selbst tragenden Ökonomie. Es gilt abzuwarten, ob die Regierung Osttimors einen Weg findet, eine sich selbst tragende Ökonomie zu etablieren. In Anbetracht der Attentate und gewalttätigen Ausschreitungen wurde das UNMIT Mandat bis zum 26. Februar 2009 verlängert (vgl. S/RES/1802/2008: Par.1).

Erfolge/Misserfolge/Evaluation

Das Zustandekommen des »New Yorker Abkommens« vom 5. Mai 1999 ist primär auf die veränderte internationale wirtschaftliche und politische Landschaft zurückzuführen. Daneben stellen die Vermittlungsbemühungen des Generalsekretärs der UNO einen wichtigen Aspekt im Bezug auf die Lösung des Osttimor-Konflikts dar. Ein großer Fehler war die in dem Abkommen verankerte Klausel, die Indonesien mit der Gewährung von Sicherheit in Timor-Leste während des Referendums und danach betraute. Die systematische Gewalt gegen die Zivilbevölkerung nach dem Referendum im August 1999 war, wie gezeigt, durch das indonesische Militär im Vorfeld geplant. Hätte man darauf eingewirkt, dass nicht Indonesien, sondern einer internationalen Friedenstruppe die Hoheit über die Sicherheitslage übertragen worden wäre, hätten die Gewalttaten vielleicht ganz, aber zumindest in diesem Ausmaß verhindert werden können.

Insgesamt gesehen kann UNTAET als eine erfolgreiche Mission betrachtet werden. Im Bezug auf die Mandatierung hat die Mission ihre Aufgaben erfüllen können und die Basisstrukturen für den weiteren Aufbau und die Stärkung von staatlichen Strukturen konnten durch sie geschaffen werden. Gezeigt hat sich jedoch, dass eine solch umfassend angelegte Mission mit vielen Schwierigkeiten konstruktiv umgehen muss. Mehrfach mussten die Mandate der Missionen verlängert werden, um dem Aufbau einer staatlichen Verwaltungs- und Sicherheitsstruktur genügend Zeit zu geben. Neben dem Mangel an qualifiziertem Personal im Bereich Sicherheit und Justiz sahen sich die Mitarbeiter der UNTAET Mission mit weiteren, zum Beispiel mit sprachlichen Problemen konfrontiert. Da die Infrastruktur des Landes völlig zerstört war, benötigte allein der Wiederaufbau enorme Zeit.

Eine Ursache, die maßgeblich zum Erfolg UNTEATs beitrug, war vor allem die völkerrechtskonforme Unterstützung der Unabhängigkeitsbestrebungen durch die meisten Mitglieder des UN-Sicherheitsrates. Insbesondere forderte die ehemalige Kolonialmacht Portugal immer wieder nachdrücklich die Einhaltung des Dekolonisationsprozesses. Durch einen weitgehend bestehenden Konsens im Sicherheitsrat konnten Resolutionen schnell verabschiedet und Finanzmittel akquiriert werden. Nur so war ein derart langes Verbleiben der UNO in Timor-Leste möglich.

Die Stärkung zivilgesellschaftlicher Kräfte, die eine demokratische und friedliche Ordnung für Timor-Leste befürworten, sollte in den nächsten Jahren weiter intensiviert werden. Die Unterstützung solcher Kräfte würde die »Nationwerdung«, die nicht von außen auferlegt werden kann, sondern aus der Gesellschaft selbst entstehen muss, begünstigen. Eine abschließende Gesamtbewertung der Arbeit der UNO, die nunmehr 9 Jahre andauert, kann hier nicht vorgenommen werden, da sich diese bis heute nicht aus dem Land zurückgezogen hat. Dies zeigt, dass die UNO im Fall Osttimor zumindest den erforderlichen »langen Atem« bewiesen hat: zuletzt verlängerte der Sicherheitsrat das Mandat der UNMIT in seiner bis dato jüngsten Resolution 1802 vom 25. Februar 2008 bis zum 26. Februar 2009. UNMIT soll weiterhin insbesondere die Effizienz der Rechtsstaatlichkeit und den Aufbau von Sicherheitskräften unterstützen. Zu den Aufgaben von UNMIT gehört auch, in Zusammenarbeit mit den UN, die Hilfsprogramme zu koordinieren, Armut zu reduzieren und wirtschaftliches Wachstum zu unterstützen.

Zwar ist damit der beabsichtigte »nation-and-state-building-Prozess« nicht abgeschlossen, jedoch kann die endlich zustande gekommene Intervention der UN eindeutig als Erfolg gewertet werden. Dies wurde möglich, weil sich diese Mission – wenn auch spät – konsequent am geltenden Völkerrecht orientierte und weil die Mission mit Erreichung der Unabhängigkeit nicht abgeschlossen wurde, sondern über die formale Erringung der Unabhängigkeit hinaus fortgesetzt wird, mit dem Ziel der inneren Stabilisierung, der Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und der Bekämpfung von Armut.

Literatur

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CIA: World Factbook 2008: Timor-Leste, URL: http://www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3-CF6E4FF96FF9%7D/TL%20SRES1599.pdf (Stand: 13.08.2008).

Evers, Georg: Osttimor – der schwierige Weg zur Staatswerdung (missio 4/2001), Aachen 2001.

Fleschenberg, Andrea: Zwischen Trauma, Post-Konflikt und Staatsaufbau in Osttimor, in: Waibel, Michael/Jordan, Rolf/Schneider, Helmut (Hrsg.): Krisenregion Südostasien. Alte Konflikte und neue Kriege (Arbeitsgemeinschaft für Pazifische Studien, Pazifik Forum, Band 11), Bad Honnef 2006, S.140-162.

Forster, Michael: Nation Building durch die internationale Gemeinschaft. Eine völkerrechtliche Analyse der Verwaltungsmissionen der VN im Kosovo und in Osttimor, Göttingen 2005.

Gödde, Heinz: Aufbau sozialer Infrastruktur in Osttimor. Das Bildungswesen (Pacific News Nr. 21, Januar/Februar 2004), URL: http://www.osttimor.de/Laenderbericht/pn21-goedde.pdf (Stand. 13.08.2008).

Howard, Lise Morje: UN Peacekeeping in Civil Wars. (Chapter East Timor: the UN as a state), Cambridge 2008, S.260-298.

Ludwig, Klemens/Horta, Korinna: Osttimor. Das Vergessene Sterben. Indonesischer Völkermord unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit (Gesellschaft für bedrohte Völker), Göttingen 1985.

Münch-Heubner, Peter L.: Osttimor und die Krise des indonesischen Vielvölkerstaates in der Weltpolitik (Hans-Seidel-Stiftung e.V., Bd. 82), München 2000.

Parliament of Australia: East Timor and Australia’s Security Role: Issues and Sceanrios, 21. September 1999, URL: http://www.aph.gov.au/library/pubs/CIB/1999-2000/2000cib03.htm (Stand: 13.08.2008.)

Schlicher, Monika/Flor, Alex: Ost-Timor – Der bittere Sieg (Watch Indonesia), URL: http://home.snafu.de/watchin/ (Stand: 10.08.2008).

Schlicher, Monika: „Hausgemachte politische Führungskrise“. Osttimor-Expertin Monika Schlicher von der Menschenrechtsorganisation „Watch Indonesia!“ über die Gründe der Gewalt (der Standard 29.05.2006), URL: http://home.snafu.de/watchin/Standard_29.5.06.htm (Stand: 15.08.2008).

Seneveriatne, Kalinga: Kampf ums Öl. In Osttimor geht es auch um die energiepolitischen Interessen Australiens, 2006, URL: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Osttimor/oel.html (Stand: 13.08.2008).

Timor Sea Treaty between the Government of East Timor and the Government of Australia, 20. May 2002, URL: http://www.laohamutuk.org/Oil/Boundary/TST%20text.htm Stand: 15.08.2008).

UNDP: Human Development Report 2007/2008, S.231, URL: http://hdr.undp.org/en/media/HDR_20072008_EN_Complete.pdf (Stand: 15.08.2008).

United Nations: Charter of the United Nations and Statute of the International Court of Justice, New York.

Anmerkungen

1) Indonesiens Gründe für die Besetzung Osttimors werden in der Literatur primär mit dem Eindämmen des Kommunismus in Verbindung gebracht. Daneben findet sich jedoch auch der Vorwurf des Expansionismus an Indonesien (vgl. Münch-Heubner 2000, S.38).

2) Die FALINTIL weigerte sich noch im Oktober 1999 ihre Waffen abzugeben. Die proindonesischen Milizen, die sich nach Westtimor zurückgezogen hatten, gaben ihre Waffen erst im September 2000 ab. Dies geschah nur aufgrund der Drohung des indonesischen Präsidenten, sie andernfalls militärisch entwaffnen zu lassen.

3) Für die pro-indonesischen Milizen stellte der Kampf in Osttimor Identifikations- und Einnahmequelle dar, die ihnen nun zu schwinden drohte. Die neuen politischen Entwicklungen, hin zur Lösung des Osttimor Konflikts, waren somit nicht in ihrem Sinne und sie weigerten sich vor dem „Gang in die Bedeutungslosigkeit“ (FR 23.11.1999).

4) Der osttimoresische Bischof und Friedensnobelpreisträger Carlos Belo forderte ein Eingreifen auch gegen die Zustimmung Indonesiens. Australien erklärte sich bereit, die Führung einer solchen Truppe zu übernehmen. Die australische Regierung bot die Entsendung von 7.000 Mann an. Die UN machten deutlich, dass sie eine internationale Friedenstruppe nur mit Zustimmung Indonesiens versenden würde. China zeigte sich zwar besorgt über die Situation in Osttimor, sprach sich jedoch gegen eine Intervention aus (FR 09.09.1999).

5) Die Kosten der Mission wurden von den an INTERFET teilnehmenden Staaten getragen (S/RES/1264, Par. 9).

6) Internationale Polizeieinheit unter UNTAET.

Nadine Zollet

Zivil handlungsfähig? – Beiträge zur »Culture of Peace«. 50 Jahre UNESCO

Zivil handlungsfähig? – Beiträge zur »Culture of Peace«. 50 Jahre UNESCO

von Christiane Lammers / Norbert Ropers / Christine M. Merkel und Dr. Jörg Calließ / Günther Gugel und Uli Jäger

zum Anfang | Das Programm »Kultur des Friedens«

von Christiane Lammers

Die Sonderorganisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation (UNESCO) besteht 1995 50 Jahre. In ihrer Präambel heißt es zur Zielsetzung der Organisation „daß, da die Kriege im Geiste der Menschen entstehen, auch die Bollwerke des Friedens im Geiste der Menschen errichtet werden müssen“. Die UNESCO setzt sich deshalb weltweit für die Verständigung zwischen den Völkern ein. Sie bemüht sich, den Dialog zwischen Nord und Süd, Ost und West zu befördern. Im September 1994 beriet die UNESCO das Programm »Kultur des Friedens«, das eine wichtige Rolle in der mittelfristigen Planung der Organisation für 1996 bis 2001 spielen soll.

Die Zielsetzung des Programms erläuert Frederico Mayor in dem Endreport der Sitzung: „Lassen Sie uns – um der Kultur des Kriegs entgegenzutreten – eine Kultur des Friedens aufbauen, das heißt eine Kultur der sozialen Wechselwirkungen, gegründet auf den Prinzipien Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie, Toleranz und Solidarität sowie dem Respekt vor den Menschenrechten; eine Kultur, die Gewalt ablehnt und stattdessen Problemlösungen durch Dialog und Verhandlung sucht; eine Kultur der Vorbeugung, die sich bemüht, Konfliktursachen und ihre Wurzeln aufzudecken, um mit ihnen wirksam umzugehen und sie soweit wie möglich zu vermeiden.“

Fünf Bereiche werden genauer entwickelt:

  1. Der Begriff der »Entwicklung« soll dahingehend neu definiert und eingeordnet werden, als inzwischen die Erkenntnis vorliegt, daß verschiedene Phasen von konkreten Entwicklungsprogrammen unterschiedliche Erwartungen hervorrufen, die möglicherweise nicht erfüllt werden können und in der Folge zu schwerwiegenden Konflikten führen können. Entwicklungskonzepte, die ausschließlich auf ökonomischem Wachstum beruhen, sind zum Scheitern verurteilt, wenn nicht von vornherein die humanökologischen und sozialen Dimensionen miteinbezogen werden.
  2. Militär-Industrie-Komplexe sollen in »Friedens-Industrie-Komplexe« umgewandelt werden. Der militärisch-industrielle Komplex hat über Jahrzehnte ökonomische Macht und Profit für Kriege zur Verfügung gestellt. Der »Friedens-Industrie-Komplex« soll attraktive Alternativen für profitable Unternehmen beim Aufbau einer gewaltfreien und friedlichen Gesellschaft zur Verfügung stellen. Rüstungskonversion ist deshalb ein entscheidender Faktor.
  3. Konzepte und Fähigkeiten zum gewaltfreien Konfliktmanagement sollen intensiv ausgebaut und genutzt werden. Formen des selbstverständlichen gewaltfreien Umgangs auf der Mikroebene sollen Vorbilder für das Konfliktmanagement auf der Makroebene sein. Dazu ist sowohl die theoretische Erarbeitung von Konzepten als auch die praktische Ausbildung in Mediations- und Verhandlungstechniken notwendig.
  4. In der methodischen Umsetzung einer Kultur des Friedens soll der Schwerpunkt auf dem Bereich der Erziehung, respektive der Friedenserziehung liegen. Die Prinzipien Frieden, universale Menschenrechte und Gewaltfreiheit sollen sich als Leitgedanken durch die verschiedenen Entwicklungsphasen der Menschen und Gesellschaften ziehen und dazu beitragen, daß die Zivilgesellschaft eines Tages in der Lage sein wird, gewalttätige Reaktionen auf Konflikte konstruktiv umzuwandeln und sie letztendlich zu eliminieren.
  5. Beim Aufbau des Programms und seiner Umsetzung wird die UNESCO die Natur-, Sozial-, Geistes-, Kultur- und Kommunikationswissenschaften intensiv miteinbeziehen und durch gezielte Projektförderung dem Programm eine wissenschaftliche Begleitung ermöglichen. Daneben werden Studien über konkrete Probleme beim Aufbau einer Kultur des Friedens gefördert und angeregt.

Wir veröffentlichen im vorliegenden Dossier drei Beiträge, die im Rahmen eines Buchprojektes (hrg. von W.R. Vogt im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung) entstanden sind.1 Beteiligt an diesem Projekt sind 50 WissenschaftlerInnen und 20 Organisationen aus der Bundesrepublik. Verstanden wird dieses Projekt – und auch dieses Dossier – nicht nur als Geschenk an die UNESCO zu ihrem 50jährigen Bestehen, sondern vor allem auch als Bemühen, einer Ausweitung der Gewaltlogik und der militärischer Lösungen in der Bundesrepublik entgegenzuwirken.

Drei Bereiche sind deshalb vor allem zu bearbeiten: Methoden sind zu entwickeln, die eine zivile Konfliktbearbeitung ermöglichen (hierzu der Beitrag von Norbert Ropers); Akteure der Zivilgesellschaft sind so zu fördern, daß ein abgestimmtes Handeln mit Nutzung der verschiedensten Kompetenzen ermöglicht wird (hierzu der Beitrag von Christine Merkel und Jörg Calließ); und nicht zuletzt ist eine Pädagogik vonnöten, die die Menschen im Sinne eines »Globalen Lernens« politisch bildet (hierzu der Beitrag von Günther Gugel und Ulli Jäger).

zum Anfang | Zur universellen Anwendbarkeit von »Mediation« bei ethnopolitischen Auseinandersetzungen

von Norbert Ropers

Bei der weit überwiegenden Zahl der gegenwärtig gewaltsam ausgetragenen Konflikte handelt sich um Auseinandersetzungen innerhalb von Staaten zwischen rivalisierenden politischen Gruppen bzw. zwischen diesen Gruppen und dem jeweiligen Staat. Eine Schlüsselrolle bei der Identifikation der streitenden Gruppen spielen ethnische Kriterien, so daß diese Auseinandersetzungen auch als ethnische Konflikte bezeichnet werden. Sie sollte freilich nicht mit einer Erklärung gleichgesetzt werden, denn in vielen dieser Fälle gibt es etliche Ursachen und Streitgegenstände, die wenig mit der ethnischen Zugehörigkeit der streitenden Parteien zu tun haben. Sinnvoller ist es deshalb von »ethnopolitischen Konflikten« zu sprechen, da in der Regel erst die Politisierung ethnischer Merkmale ihre Schlüsselrolle im Konfliktprozeß begründet.1aDas traditionelle Instrumentarium der Konfliktbearbeitung im internationalen System ist mit dieser Art von Auseinandersetzungen in mehrfacher Hinsicht überfordert:

  • Die Möglichkeiten zur legitimen Einmischung in die »inneren« Angelegenheiten anderer Staaten sind begrenzt.
  • Bei diesen Konflikten geht es zumindest für eine Seite um die grundsätzliche Frage der Anerkennung ihrer ethnischen Identität, die mit konventionellen Methoden wechselseitiger Zugeständnisse auf der Ebene politischer Führungen nur schwer verhandelt werden kann.
  • Die Strukturen der ethnopolitischen Interessenvertretung sind häufig derart komplex und im Wandel begriffen, daß es schwerfällt, eine mehr oder weniger legitimierte Führungsebene zu identifizieren, auf die sich die Intervention konzentrieren kann.

Diese Schwierigkeiten sowie das zunehmende Engagement von nicht-gouvernementalen Organisationen (NGOs) bei der Prävention, der Vermittlung sowie der Aussöhnung nach militärischen Auseinandersetzungen haben zum vermehrten Einsatz von neuen Konzepten der Bearbeitung ethnopolitischer Konflikte geführt. An erster Stelle ist dabei der in den USA entwickelte Ansatz der »Alternative Dispute Resolution« (ADR)-Bewegung zu nennen, der auch mit dem Begriff der »Mediation als Win-Win-Problemlösung« umschrieben werden kann. Auf ein zunehmendes Interesse stieß ferner der Ansatz der »Interactive Conflict Resolution«,.

Diese angelsächsischen Verfahren, mit deren Hilfe dritte Parteien sich um die De-eskalation, Beilegung oder Lösung ethnopolitischer Konflikte bemühen, unterscheiden sich deutlich von all jenen Interventionen, die auf der Autorität von Gesetzen (Gerichtsverfahren) oder auf der Androhung bzw. Anwendung von Machtmitteln beruhen (Mediation mit Machtmitteln). Die letzte Entscheidung darüber, ob ein unter Mitwirkung der dritten Partei zustande gekommenes Ergebnis angenommen wird, liegt allein bei den streitenden Parteien.

Die Attraktion dieser Konzepte für ethnopolitische Konflikte liegt auf der Hand: Eine rechtliche Bearbeitung scheidet für die meisten dieser Spannungsfelder aus, da es für sie bislang auf der internationalen Ebene weder hinreichende Prinzipien, Normen, Regeln, Prozeduren noch Mechanismen gibt. Machtpolitische Eingriffe erfolgen beim gegenwärtigen Zustand der internationalen Politik nur, wenn die Interventen ein massives eigenes Interesse an der Konfliktregelung haben. Den im internationalen System am ehesten legitimierten dritten Parteien, den Vereinten Nationen sowie diversen Regionalorganisationen, stehen solche Machtmittel ohnehin kaum zur Verfügung. Außerdem sind sie in besonderer Weise dem Gewaltverbot der UN-Charta verpflichtet. Schließlich sprechen auch die Aspekte der wechselseitigen Anerkennung sowie der Nachhaltigkeit der Vereinbarungen für diese Konzepte, da im Mittelpunkt die Ermächtigung, das »empowerment« der Konfliktparteien steht. Eine Regelung kann nur erreicht werden, wenn sie von den Beteiligten selbst erarbeitet wird. Mithin sind auch die Chancen, daß sie dauerhaft eingehalten wird, relativ groß.

Die Methode, Konflikte zwischen zwei oder mehr Parteien durch die Intervention dritter Parteien friedlich zu regeln, ist vermutlich so alt wie die Geschichte der Menschheit. In den angelsächsischen Konzepten der ADR-Bewegung und der Interactive Conflict Resolution ist diese Methode auf eine je spezifische Weise systematisiert und für diverse Anwendungsfelder weiterentwickelt worden. Viele Vertreter dieser Konzepte halten ihre Methodik für universell anwendbar. Sie seien zwar im Kontext einer bestimmten westlich-angelsächsischen Kultur entstanden. Gerade der Pragmatismus dieser Kultur qualifiziere sie jedoch als kulturübergreifend geeignet. Führende Vertreter der Harvard-Schule innerhalb der ADR-Bewegung halten ihr Konzept sogar für die Systematisierung des gesunden Menschenverstandes.2

An dieser Annahme ist jedoch in jüngerer Zeit zunehmend Kritik geäußert worden.3 Sie bezog ihre Argumente unter anderem aus der Anwendung dieser Konzepte auf ethnopolitische Konflikte außerhalb der westlichen Welt, insbesondere in Lateinamerika, Afrika und Asien. In diesen nicht-westlichen Kulturen, so der kritische Einwand, gäbe es viele andere traditionelle Formen der Konfliktbearbeitung, die in wesentlichen Punkten mit den westlichen Modellen nicht übereinstimmten. Gerade diejenigen, die an einer Verbesserung der friedlichen Bearbeitung ethnopolitischer Konflikte interessiert seien, sollten deshalb ihre Ansätze im Hinblick auf die kulturellen Implikationen und eventuellen kulturellen Blindheiten überprüfen.

Im folgenden Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die kulturellen Prägungen der Konzepte »Mediation als Win-Win-Problemlösung« und »Interactive Conflict Resolution« im einzelnen darstellen und in welcher Weise sie einer Erweiterung bedürfen, um den besonderen Herausforderungen ethnopolitischer Konflikte gewachsen zu sein, die ja in aller Regel auch interkulturelle Konflikte sind. Dazu sollen zunächst die Grundmerkmale der beiden Konzepte sowie ihr besonderes Leistungsprofil im Hinblick auf ethnopolitische Konflikte dargestellt werden. Darauf aufbauend werden dann einige Grundzüge nicht-westlicher Konfliktbearbeitung diesen Konzepten idealtypisch gegenübergestellt und ein Modell kulturell angepaßter Mediation vorgestellt. Anschließend wird diskutiert, welche Konsequenzen sich daraus für die Entwicklung eines angemessenen Modells interkultureller Konfliktbearbeitung ergeben.

Mediation als Win-Win-Problemlösung

Die Ursprünge dieses Ansatzes liegen in der Kritik an den autoritären und bürokratisierten Formen der innergesellschaftlichen Konfliktbearbeitung in den USA in den 60er Jahren.4 Inspiriert wurde die Ausbreitung der Alternative Dispute Resolution durch die Bürgerrechtskampagnen und andere soziale Bewegungen, die auf die Überwindung sozialer Ungerechtigkeiten sowie die Verringerung von Machtdifferenzen zielten. Ihre methodischen Wurzeln liegen in der Humanistischen Psychologie und der Human Relations Trainingsbewegung.

Heute gibt es eine Vielzahl von Ausformungen dieser Art von Mediation, die zum einen mit dem jeweiligen Anwendungsfeld, zum anderen mit der Schulbildung in stark professonalisierten Berufsfeldern zu tun hat. Die bekannteste ist das »Harvard Negotiation Project«, das seinen Ursprung in der Analyse von Verhandlungsprozessen hat, bei denen beiden Parteien »gewinnen« können.5 Zu einer Institutionalisierung der Mediation ist es vor allem in den Anwendungsfeldern Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, Schul- und Familienkonflikte sowie kommunale Auseinandersetzungen gekommen.6

Grundlegend für den Ansatz der-ADR-Bewegung ist die These, daß in den meisten herkömmlichen Verfahren der innergesellschaftlichen Konfliktbearbeitung die Gewichtung der Einflußfaktoren Macht, Recht und Interessen in einem gestörten Verhältnis zueinander stehen. Danach entscheiden in der Regel die Machtüberlegenheit sowie Rechtspositionen über die Art und Weise der Konfliktbearbeitung (Wer hat die größere Durchsetzungsmacht bzw. wer hat »mehr Recht« bzw. den besseren Rechtsanwalt?). Nur eine untergeordnete Rolle spielten demgegenüber die Interessen der beteiligten Parteien. Für eine von den Beteiligten als gerecht empfundene und mithin dauerhafte Konfliktbearbeitung sei das Übergewicht von Macht- und Rechtspositionen gegenüber der Interessenberücksichtigung jedoch kontraproduktiv. Im Mediationsverfahren sollte sich die dritte Partei deshalb bemühen, dieses Verhältnis umzukehren.

Zu einem effizienten Konfliktbearbeitungssystem gehören nach Auffassung der ADR-Bewegung vor allem drei Funktionen: Menschen und Probleme getrennt voneinander zu behandeln, auf Interessen und nicht auf Positionen zu konzentrieren sowie Optionen zum beiderseitigen Vorteil zu entwickeln.

1. Bei jeglicher Bearbeitung sozialer Konflikte gibt es eine Sach- und eine Beziehungsebene. Konstruktive Konfliktbearbeitung ist nur möglich, wenn auch die Beziehungsebene ernst genommen wird und es in dem Verfahren Raum für die Äußerung von Gefühlen, Ängsten, Wünschen, Erfahrungen usw. gibt. Allerdings sollte diese Ebene, so der ADR-Ansatz, nicht vermischt werden mit der Bearbeitung der Sachkonflikte. Im Gegenteil, ihre möglichst saubere Trennung sei eine gute Voraussetzung, um erfolgreich an den sachlichen Differenzen zu arbeiten.

2. Insbesondere bei länger anhaltenden und hoch eskalierten Konflikten neigen die Parteien dazu, ihre Unterschiede in Positionen zuzuspitzen, die nicht notwendigerweise ihren Interessen entsprechen. Die dritte Partei sollte deshalb die Streitenden dabei unterstützen, über die Positionsdifferenzen hinaus zu den tieferliegenden Interessen vorzudringen. Unterstellt wird dabei, daß es auf der Ebene der Interessen leichter fallen wird, Gemeinsamkeiten zu entdecken, insbesondere im Hinblick auf das längerfristige Interesse der Beteiligten an einer kooperativen Beziehung, von der letztlich alle profitieren werden.

3. Entscheidend für den Erfolg der Mediation ist letztlich, ob es gelingt, die verbreitete Neigung, Konflikte als eine Interaktion mit Gewinn für die einen und Verlust für die anderen zu interpretieren, zu überwinden. Konflikte sollten vielmehr als etwas normales und als ein wesentlicher Bestandteil gesellschaftlichen Wandels und Fortschritts betrachtet werden – und auch als Chance persönlichen Wachstums für die beteiligten Individuen. Die Herausforderung besteht deshalb darin, die Konflikte so zu interpretieren und zu bearbeiten, daß sie zu einer gemeinsamen Problemlösungsaufgabe mit Gewinnen für alle Beteiligten werden.

Die Konfliktbearbeitung in der ADR-Perspektive gleicht einem gemeinsamen Lernprozeß. Im Zentrum sollen dabei die Betroffenen selbst stehen, da sie zu grundsätzlich besseren Regelungen fähig sind als außenstehende Personen, geht es doch um Entscheidungen über ihr eigenes Leben und ihre eigene Zukunft. Die Chance, daß eine erreichte Übereinkunft auch tatsächlich eingehalten wird, ist außerdem größer, wenn die Betroffenen selbst für sie verantwortlich sind. Die dritte Partei sollte sich deshalb vor allem als Prozeßbegleiter verstehen und dafür sorgen, daß die streitenden Parteien tatsächlich die Verantwortung für ihre eigenen Interessen und die Konflikt-=Problemlösung übernehmen können.

Für die Akzeptanz und den Erfolg der dritten Partei ist ihre Neutralität bzw. Unparteilichkeit von zentraler Bedeutung. Deshalb ist es am besten, wenn es sich dabei um Personen handelt, die vollständig außerhalb des jeweiligen Spannungsfeldes stehen. Der Prozeß der Konfliktbearbeitung folgt je nach Anwendungsfeld und Mediations-Schule bestimmten Phasen, in denen die dritte Partei unterschiedliche Aufgaben wahrzunehmen hat. Das kompakteste Verlaufsschema einer Mediation ist das Kreislaufdiagramm der Harvard-Schule.

Nach diesem Schema sollte die Konfliktbearbeitung vier Phasen umfassen: 1. die genaue Klärung dessen, worum es in dem Konflikt geht; 2. die Analyse der Ursachen des Konflikts, seiner Rahmenbedingungen, der zugrundliegenden Interessen usw.; 3. die gemeinsame Entwicklung und Reflexion möglicher Konfliktregelungen; 4. die Entscheidung für eine bestimmte Konfliktregelung und die Vereinbarung von konkreten Maßnahmen zu ihrer Umsetzung. Für den Erfolg des Verfahrens ist es dabei von ausschlaggebender Bedeutung, daß eine neue Phase erst begonnen wird, wenn die vorhergehende Phase tatsächlich abgeschlossen ist. Viele Vermittlungsbemühungen scheitern daran, daß die dritte Partei viel zu früh versucht, Optionen für die Problemlösung (= 3. Phase) zu entwickeln. Selbst bei gelingenden Bearbeitungsprozessen ist davon auszugehen, daß es in späteren Phasen immer wieder zu Rückschlägen kommt, die eine erneute Klärung des Konflikts und seiner Ursachen erforderlich machen. Schließlich erklärt sich der zirkuläre Charakter des Schemas daraus, daß die ADR-Bewegung jeweils nur die Bearbeitung konkret definierter Streitpunkte im Auge hat. Nach einer Einigung über diese Punkte kann daher der Prozeß über weitere Kontroversen erneut aufgenommen werden.

Die erste Phase der genauen Konfliktbeschreibung erweist sich in vielen Fällen bereits als eine entscheidende Barriere für die konstruktive Bearbeitung des Konflikts. Dies läßt sich exemplarisch an ethnopolitischen Mehrheiten-Minderheiten-Konflikten darstellen, bei denen die Vertretung der Minderheit bereits einen hohen Mobilisierungsgrad erreicht hat. Die Minderheit wird dann in der Regel eine lange Liste von Benachteiligungen, Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten vorweisen, die nach ihrer Auffassung grundlegend für die Konfliktbeschreibung ist. Aus der Sicht der Mehrheit ist bereits die Länge der Mängelliste eine Provokation, erweckt sie doch den Eindruck, als ob es über all diese Punkte einen zu schlichtenden Streit gäbe. Der eigentliche Konflikt sei doch vielmehr, daß die Minderheit generell die Situation verzerrt darstelle und für sich ungerechtfertigte Vorteile entgegen den Prinzipien der Mehrheitsdemokratie verlange.

In derartigen Konfliktkonstellationen ist deshalb bestenfalls das wechselseitige Nachvollziehen und Verstehen der Konfliktbeschreibung zu erreichen. Die Methoden, mit deren Hilfe die dritte Partei dieses Ziel erreichen kann, sind zum einen getrennte Einzelgespräche mit den Parteien und zum anderen gemeinsame Sitzungen, bei denen sie die Interaktion zwischen den Parteien mit Hilfe kommunikationsfördernder Techniken unterstützt. Zu diesen Techniken gehören z.B. das aktive Zuhören, »Paraphrasieren« und »Spiegeln« des jeweils Sprechenden, die Unterstützung von Ich-Botschaften, die Versachlichung von Aussagen sowie strukturierende Zusammenfassungen.7

In der zweiten Phase der Konfliktanalyse geht es darum, die vorher identifizierten Streitpunkte unter verschiedenen Gesichtspunkten zu beleuchten: ihrer Entstehungsgeschichte und ihren Rahmenbedingungen; dem Zusammenhang der »issues« und ihrer Mikroanalyse; den Positionen, Interessen, Wünschen, Erwartungen und Ängsten der Parteien. Bei sehr schwierigen Konfliktkonstellationen kann auch zunächst die Analyse und Verständigung über ein angemessenes Verfahren der Bearbeitung im Vordergrund stehen. Wesentlich ist auf jeden Fall, daß es im Laufe der zweiten Phase gelingt, die Sichtweise des Konflikts zu einer der Problemlösung zu erweitern, die einen Bezug zu den Interessen aller Beteiligten aufweist.8

Für die dritte Partei besteht die Herausforderung in dieser Phase vor allem darin, der Neigung bei allen Beteiligten zum rein argumentativen Austausch entgegenzuwirken (Entweder-Oder).9 Hilfreich sind dafür Interventionsformen, die nicht polarisieren und Negatives benennen, sondern Gemeinsamkeiten herausarbeiten, das Konstruktive am Konflikt betonen und Ambivalenzen tolerieren. Empfehlenswert sind ferner Methoden und Techniken, die über das Verstehen des jeweils anderen hinaus auch die direkte Verständigung mit ihm begünstigen: zu direkten Aussagen auffordern, Antworten verstärken und differenzieren, die Konkretisierung fördern, non-verbale Botschaften aufgreifen, Ambivalenzen thematisieren, »Doppeln« von unverständlichen bzw. unverstandenen Botschaften usw.10 Sinnvoll können auch gruppenbezogene Interventionen wie Rollenspiele, Gruppen-Standbilder u.ä. sein, wenn die KonfliktvertreterInnen hierfür aufgeschlossen sind.11 Schließlich geht es in dieser Phase auch um die Artikulation und Kanalisierung von Gefühlen, die mit der bisherigen Art und Weise der Konfliktbearbeitung zusammenhängen.

Die dritte Phase dient der Entwicklung von möglichen Optionen für die gemeinsame Konflikt-=Problemlösung mit Vorteilen für alle Beteiligten. Der Ausgangspunkt hierfür ist umso besser, je klarer die gemeinsamen Interessen (und weiterbestehenden Interessendifferenzen), die Probleme sowie die zu berücksichtigenden Rahmenbedingungen in der vorhergehenden Phase definiert werden konnten. Wichtig ist es in dieser Phase, die Kreativität und Phantasie der Beteiligten derart anzuregen, daß auch innovative Lösungen ins Blickfeld geraten. Geeignete Methoden und Techniken dafür sind die Erörterung von bereits praktizierten Lösungsmodellen für vergleichbare Konflikte, das Brainstorming, visuelle Moderations-Ansätze12 oder das Konzept der Zukunftswerkstätten13. Der Austausch über diese Regelungsperspektiven sollte möglichst offen gestaltet werden, so daß die Parteien sich nicht vorschnell auf »ihre« Eingaben festlegen. Aus diesem Grund empfiehlt die Harvard-Schule für schriftliche Vereinbarungen auch das »Ein-Text-Verfahren«, nach dem die ersten Entwürfe nur von einer (idealerweise der dritten) Partei stammen sollten.14 Dieser Entwurf wird dann solange verbessert, bis er die Zustimmung aller Parteien findet.

In der vierten Phase geht es schließlich darum, die Optionen zu vergleichen, zu gewichten und zu einer konkreten Vereinbarung zu kommen. Die Rolle der dritten Partei liegt hier vor allem darin, die Verbindlichkeit, Konkretion und Überprüfbarkeit tragfähiger Vereinbarungen zu betonen. Die Harvard-Autoren heben hier die Bedeutung sachbezogener Beurteilungskriterien hervor. Basis der Verständigung sollte nicht primär das Vertrauen der Verhandlungspartner aufeinander sein, sondern die Einhaltung dieser sachbezogenen, objektiv überprüfbaren Beurteilungskriterien.15

Das Mediationskonzept der Win-Win-Problemlösung hat zweifellos maßgeblich zur Verbreitung einer Kultur konstruktiver Konfliktbearbeitung in den angelsächsischen Ländern beigetragen. Während der Zeit der Carter-Administration fand es Eingang in die Beschäftigung mit Konflikten im internationalen System. Mittlerweile orientieren sich viele Ausbildungsprogramme für Diplomaten und professionelle Verhandler sowie Vermittler an den Konzepten der ADR-Bewegung. Über sie sowie eine Reihe von Conflict Resolution-NGOs ist dieser Ansatz schließlich auch zu einem verbreiteten Modell für die Bearbeitung ethnopolitischer Konflikte geworden.

Um die Zweckmäßigkeit der ADR-Konzepte für diesen Bereich beurteilen zu können, ist es sicher noch zu früh, zumal es nur sehr wenige und noch dazu meist nicht veröffentlichte Evaluationsstudien gibt. Die Reflexion der bisherigen Erfahrungen vor dem Hintergrund der Besonderheiten ethnopolitischer Konflikte läßt jedoch zumindest einige Schwachstellen erkennen. Einige dieser Kritikpunkte werden übrigens inzwischen auch in der ADR-Bewegung im Hinblick auf ihre innergesellschaftliche Anwendung diskutiert.16

1. Die Einschaltung der dritten Partei kann zwar einen die Machtungleichgewichte relativierenden Charakter haben. In Fällen extremer Ungleichgewichte sowie einer starken Fragmentierung der unterlegenen Parteien besteht jedoch die Gefahr, daß das ADR-Instrumentarium vor allem den besser organisierten Eliten zugute kommt und ihnen hilft, den Status quo zu stabilisieren. Dieser Effekt ist insbesondere in Transformationsgesellschaften nicht ausgeschlossen, in denen andere Mechanismen der politischen Interessenvertretung und der rechtsstaatlichen Kontrolle der Eliten noch wenig entwickelt sind.17 Der präventive Einsatz der ADR-Konzepte sollte deshalb nicht als Ersatz für das gesamte Spektrum der demokratischen und rechtsstaatlichen Entwicklung sowie Zivilisierung der Transformationsgesellschaften angesehen werden.

2. Im Mittelpunkt der ADR-Bemühungen steht die Bearbeitung eines möglichst eng definierten Konflikts (=Problems), den die Parteien in einer bestimmten Situation miteinander haben. In vielen gesellschaftlichen und insbesondere ethnopolitischen Spannungsfeldern ist es jedoch außerordentlich schwierig, den Konflikt auf ein derartiges Sachproblem einzuengen. Stattdessen geht es oft genug um die gesamte Beziehungskonstellation zwischen den Parteien. Müßte deshalb nicht die Beurteilung des Interventionserfolgs von der Win-Win-Problemlösung auf Empowerment, wechselseitige Anerkennung, Beziehungsverbesserung u.ä. verschoben werden?18

3. Die Vorstellung, Konflikte unter anderem dadurch zu bearbeiten, daß an die Stelle von Positionskontroversen der Ausgleich von Interessen tritt, beruht auf einer Art Schichtenmodell menschlicher Bestrebungen: Je tiefer ihre Reflexion verankert wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer zwischenmenschlichen Verständigung.19 Die Konfliktrealität läßt diese Annahme oft genug als höchst optimistisch erscheinen. Darüber hinaus stellt sich die grundsätzliche Frage, inwieweit dieses Schichtenmodell auch herangezogen werden kann für die Bearbeitung von Identitätskonflikten. Hier geht es in der Regel um die prinzipielle Frage der Anerkennung anderer Identitäten. Was bedeutet das für die Chancen einvernehmlicher Konfliktbearbeitung? Einerseits gibt es die These, daß gerade die Nicht-Verhandelbarkeit von Identitätskonflikten ihre Bearbeitung so schwer macht. Andererseits behaupten manche Anhänger des Interactive Conflict Resolution-Ansatzes, daß prinzipiell das Grundbedürfnis nach Anerkennung leichter zu befriedigen ist als die Verteilung knapper materieller Ressourcen.

4. Eine grundlegende Kritik des ADR-Ansatzes richtet sich auf seine kulturelle Bindung an westliche bzw. nordamerikanische Wertvorstellungen der individuell-rationalistischen Bearbeitung von Konflikten, der Trennung von Personen und Problemen sowie der Betonung externer und strikt neutraler Vermittlungsbemühungen.

Drei Einwände bzw. Überlegungen zielen auf zentrale Prämissen dieses Ansatzes:

1. Der Konsultationsansatz stellt in den Mittelpunkt der Workshop-Arbeit die Verbesserung der Kommunikation und die wechselseitige »Öffnung« für die Grundanliegen der anderen Seite bei den beteiligten Individuen. Werden damit aber nicht die institutionellen und strukturellen Aspekte der Konfliktbearbeitung sträflich vernachlässigt?

2. Viele Konsultationsprojekte stehen in dem grundlegenden Dilemma, zwei widerstrebende Tendenzen miteinander verknüpfen zu müssen. Auf der einen Seite kann die angestrebte Arbeit an der Beziehungsklärung nur gelingen, wenn die Kräfte der sozialen Integration stark genug sind, um die Konfliktparteien in dem Projekt zusammenzuhalten. Auf der anderen Seite wird der Zweck der Übung nur erreicht, wenn es gelingt, die zentralen Kontroversen und Differenzen auch tatsächlich herauszuarbeiten. Das erfordert jedoch auch Konfrontationen, die ihrerseits wieder das Wagnis der Des-Integration, des Scheiterns des Projekts beinhalten.

3. Inwieweit ist die Annahme gerechtfertigt, daß die Grundbedürfnisse universell seien und daß es letztlich möglich ist, durch einen empathischen und rationalen Diskurs zumindest die nicht-materiellen Grundbedürfnisse aller Konfliktteilnehmer zu befriedigen?20 Besteht nicht ein wesentliches Merkmal ethnopolitischer Konflikte darin, daß zumindest die Bedürfnishierarchien gesellschaftlich und kulturell geprägt sind und nicht durch eine noch so optimale Kommunikation egalisiert werden können? Was bringt im übrigen die individuelle Einsicht in ähnliche Grundbedürfnisse, wenn das eigentliche Problem der Überbau konkurrierender Eliten, Institutionen und Ideologien ist? Inwiefern ist dieses Konzept nur anwendbar auf westlich geprägte Gesellschaften, da es letztlich »menschliche Entwicklung« primär mit einem individuellen Maßstab mißt?

Konfliktbearbeitung in nicht-westlichen Kulturen

Konflikte sind zwar ein universelles Phänomen; die Art und Weise ihrer Austragung und Bewertung unterscheidet sich jedoch in mehr oder weniger starkem Maße zwischen den Kulturen. Die Erforschung der kulturspezifischen Austragung von Konflikten steht zwar noch am Anfang.21 Etliche vergleichende Studien haben jedoch zumindest die Bedeutung einiger Schlüsseldimensionen demonstriert, insbesondere die Prägung der Konfliktkultur durch die Kollektivismus-Individualismus-Dimension.22

Danach werden Konflikte in individualistischen Kulturen primär als Spannungen zwischen Individuen gesehen, deren Bearbeitung in der Regel im Kleinarbeiten des Konflikts besteht. Konflikte spielen eine wichtige Rolle, um Ziele zu erreichen. Die Austragung erfolgt eher direkt, konfrontativ und im bilateralen Austausch zwischen den unmittelbar Betroffenen. In kollektivistischen Kulturen werden Konflikte hingegen vorwiegend als Störungen des betreffenden sozialen Systems wahrgenommen. Die expressive Funktion ist mindestens so wichtig wie die instrumentelle Funktion. Bei der Bewältigung des Konflikts werden indirekte, nicht-konfrontative und multilaterale Methoden bevorzugt. Erstrebenswert ist es, die gegebene soziale Struktur zu bewahren und niemandem einen Gesichtsverlust zuzumuten.

Infolge der zunehmenden Verbreitung des ADR-Konzeptes wurde auch die nordamerikanische Mediationsbewegung spätestens in den 80er Jahren mit den Schwierigkeiten konfrontiert, ihr Vermittlungsverständnis in anderskulturellen Zusammenhängen anzuwenden, sei es innerhalb der ethnischen Minderheitenkulturen oder im Ausland. Die Erfahrungen, die die ADR-Anhänger dabei sammeln konnten, haben maßgeblich zur genaueren Bestimmung der kulturellen Implikationen von »Mediation als Win-Win-Problemlösung« geführt. Einer der ersten amerikanischen Experten, der systematisch über die kulturellen Begrenzungen dieses Ansatzes reflektiert hat, war John Paul Lederach.23 Sein Ausgangspunkt waren Beobachtungen und Analysen von innergesellschaftlichen Konfliktbearbeitungsmethoden und -techniken mit Hilfe dritter Parteien in mehreren zentralamerikanischen Ländern. Inzwischen gibt es eine Reihe weiterer Studien zu Drittpartei-Interventionen in nicht-westlichen bzw. traditionalen Gesellschaften.24

Aufgrund dieser Studien müssen einige der Grundannahmen des ADR-Konzeptes zumindest in traditionalen Kulturen problematisiert werden. Dazu gehört vor allem das Axiom, Personen und Probleme (= Konflikte) möglichst strikt zu trennen. In vielen traditionalen bzw. kollektivistischen Gesellschaften wäre das jedoch kontraproduktiv, da soziale Integration und damit das zentrale Konfliktbearbeitungspotential hier gerade auf der engen Verknüpfung von Personen und Problemen beruht. Auf jeden Fall ist der Beziehungsverbesserung bzw. -wiederherstellung mindestens soviel Aufmerksamkeit zu widmen wie der Problemlösung. Fraglich erscheinen auch die Betonung des offenen Austausches von Bekenntnissen, der Beteiligung aller Betroffenen, der Zeitökonomie und der Eindeutigkeit von Aussagen im ADR-Konzept für seine Anwendung in traditionalen Kulturen.

In vielen traditionalen Gesellschaften spielen dritte Parteien eine wichtige Rolle bei der Bewältigung von Konfliktsituationen, insbesondere mit dem Ziel, die überkommenen sozialen Strukturen zu sichern bzw. wiederherzustellen. »Traditionale Mediation« in diesem Sinne ist deshalb stark kontextabhängig und kontextorientiert, indirekt, »polychrom« (mehreres geschieht nebeneinander) und die dritten Parteien sind Angehörige des jeweiligen sozialen Systems. »Mediation als Win-Win-Problemlösung« ist demgegenüber formalisierter, hoch strukturiert, aufgaben- und ergebnisorientiert, »monochrom« (eins nach dem anderen) und die dritte Partei steht möglichst außerhalb des jeweiligen sozialen Systems.

Ob und inwieweit diese Besonderheiten traditionaler Kulturen auch für die Bearbeitung ethnopolitischer Konflikte relevant sind, kann nur im Einzelfall beurteilt werden. In vielen ethnopolitischen Konflikten in Afrika, Asien und Lateinamerika spielen traditionale Bezüge zweifellos eine große Rolle. Ein Beispiel dafür ist die Intervention der Vereinten Nationen in Somalia 1992/93, bei der die traditionalen Konfliktbearbeitungsstrukturen und -prozesse der somalischen Gesellschaft nach Auffassung des ehemaligen UN-Sonderbeauftragten für dieses Land sträflich vernachlässigt wurden.25

Lederach hat deshalb für die Intervention in derartige Konfliktkonstellationen eine Strategie der »elicitive« Mediation vorgeschlagen. Danach ist es für die externe dritte Partei vor allem wichtig, die Konfliktbearbeitungsmuster der jeweiligen regionalen bzw. lokalen Kultur kennenzulernen, sie in die eigene Arbeit zu integrieren und möglicherweise mit den Akteuren vor Ort weiterzuentwickeln – anstatt rezeptartig Konzepte von außen zu importieren. Er schlägt ein Modell mit drei Phasen vor, in dem lediglich der Einstieg in und der Ausstieg aus der Konfliktbearbeitung einer linearen Entwicklung folgen. Dabei kommt es in der Einstiegsphase vor allem darauf an, das Vertrauen der Konfliktparteien zu gewinnen und ein möglichst dichtes Netzwerk sozialer Beziehungen vor Ort zu schaffen. Die mittlere Phase ist gekennzeichnet durch ein flexibles Pendeln zwischen der Kultivierung sozialer Beziehungen, der Bearbeitung von Blockaden und der Ausarbeitung von Vereinbarungen, aus der sich die Ausstiegsphase ergibt.

Interkulturelle Konfliktbearbeitung

Soweit zur Herausforderung, kulturadäquate Verfahren der Konfliktbearbeitung zu entwickeln. Noch schwieriger gestaltet sich freilich die Aufgabe, diesen Faktor zu berücksichtigen, wenn es um die Bearbeitung von Konflikten zwischen verschiedenen Kulturen geht. Genau darum handelt es sich aber in einer großen Zahl der ethnopolitischen Auseinandersetzungen. Zwar sind die Differenzen in der Regel weniger extrem als diejenigen zwischen westlichen und nicht-westlichen Kulturen. Angesichts der starken Fokussierung auf Fragen der politischen Selbst- und Mitbestimmung wird zudem der Faktor Kultur relativiert. Gleichwohl können kulturelle Differenzen auf zweierlei Weise die Konfliktbearbeitung erschweren:

1. Sie belasten das Verstehen und die Verständigung zwischen den Beteiligten, weil und insofern sie die Art und Weise der Kommunikation und Interaktion beeinflussen, bestimmte Normen und Spielregeln für Konfliktaustragung, für Fairness und Angemessenheit beinhalten, kurz: Normalität definieren. Die andere Partei verfolgt dann nicht nur andere Bestrebungen, sie erscheint auch als weniger »normal«, als »unverständlich« (Ethnozentrismus-Problem).

2. Die Unterschiede werden als Ausdruck eines tief verwurzelten Gefühls von »Wir« und »Sie« gedeutet, von kollektiven Identitäten, und mit der Frage verbunden, ob und inwieweit »wir« von »ihnen« respektiert und anerkannt werden. Genau um diese Frage geht es ja auch in vielen ethnopolitischen Konflikten, auch wenn sich die Kontroversen auf der kulturellen Ebene oft sehr viel subtiler äußern als auf derjenigen des Streits um die politische Selbst- bzw. Mitbestimmung (Anerkennungs-Problem).

Das Ethnozentrismus-Problem ist bislang in der Mediationsbewegung nicht befriedigend gelöst. Die konsequente Anwendung einiger Ausgangs-Prinzipien dieser Bewegung (Empowerment, Relativierung von Machtdifferenzen, prozedurale Gerechtigkeit) legt jedoch den Schluß nahe, daß das Verfahren interkultureller Konfliktbearbeitung selbst Gegenstand eines Aushandlungsprozesses sein sollte. Mit anderen Worten: Die kulturspezifischen Vorstellungen der Konfliktparteien sollten bereits in das Design des Mediationsverfahrens einbezogen werden, bevor die eigentliche Konfliktbearbeitung beginnt. Eine Phase der Verfahrensklärung ist also vorzusehen, in der zunächst getrennt mit den streitenden Parteien die für sie kulturell adäquaten Formen erarbeitet werden.

Erst im zweiten Schritt gilt es dann, zusammen mit beiden Parteien einen Weg zu finden, der ihren kulturell geprägten Vorstellungen gerecht wird. Das Verfahren getrennter Vorbereitungen kann zudem den Vorteil haben, daß die Parteien an Handlungsfähigkeit gewinnen. Dies ist vor allem bei asymmetrischen Konfliktkonstellationen sowie bei stark fragmentierten Gruppen wichtig. Es kann ferner hilfreich sein, wenn die Personen innerhalb der Konfliktparteien sich noch wenig kennen.

Die Verständigung über ein konsensfähiges Verfahren ist im übrigen bereits ein Testlauf für die konstruktive Beschäftigung mit den substantiellen Fragen des Konflikts. Dieser Zusammenhang läßt sich bei vielen Verhandlungsprozessen unabhängig vom Faktor Kultur beobachten. Im interkulturellen und ethnopolitischen Kontext gewinnt er allerdings dadurch an besonderer Bedeutung, daß mit dem Einvernehmen über das Bearbeitungsverfahren auch bereits ein Stück wechselseitiger Anerkennung gelungen ist.

Die Vorstellung, jeweils konflikt- und kulturenspezifische Verfahren zu entwickeln, sollte allerdings nicht mißverstanden werden als Zwang, ein bis zum Ende vollständig strukturiertes Ablaufschema zu erarbeiten, zumal dies ohnehin nur in einem monochromen Bezugssystem Sinn machen würde. Angemessener ist eine Leitlinie, die nach dem Konzept der »rollenden Planung« der Dynamik der Konfliktbearbeitung angepaßt werden kann.

Während der Phase der Sachkonflikt- bzw. Beziehungsklärung legen sowohl der Mediations- wie der Konsultationsansatz großen Wert auf das »aktive Verstehen« der jeweils anderen Seite. Bei interkulturellen Konflikten erfordert das Ethnozentrismus-Problem hier allerdings besondere Anstrengungen. Mit Hilfe der dritten Partei geht es darum, die Bedeutungs- und Orientierungssysteme der jeweils anderen Seite zu erkennen und aktiv nachvollziehen zu können, wie diese Differenzen zur Konfliktentstehung bzw. zur Konfliktwahrnehmung beigetragen haben. Zu unterscheiden ist dabei zwischen der Vermittlung spezifischer Kenntnisse und Fertigkeiten im Umgang mit einer konkreten anderen Kultur und der Förderung interkultureller Wahrnehmungs- und Interaktionskompetenzen generell.

Zu beiden Bereichen gibt es aus dem Arbeitsfeld des Interkulturellen Lernens mittlerweile eine Vielzahl von Modellen, Trainingskonzepten und Erfahrungsberichten.26 Die allermeisten von ihnen sind allerdings bezogen auf Zusammenhänge, in denen es positive Anreize zum Kennenlernen anderer Kulturen gibt, z.B. im Jugend- und Studentenaustausch, in multikulturellen Teams oder im Sozial- und Gesundheitswesen. Eine direkte Auseinandersetzung mit den Widerständen gegen das aktive Verstehen anderer Kulturen hat vor allem im Arbeitsfeld der Antirassismus-Trainings stattgefunden.27

Die Anwendung dieser Methoden setzt voraus, daß in dem jeweiligen Konfliktbearbeitungsverfahren genügend Raum und Zeit für die interkulturelle Kommunikations- und Beziehungsklärung ist. Sofern sich das Konzept der Mediation als Win-Win-Problemlösung vorrangig auf die Regelung eines Sachproblems konzentriert, stößt es bei interkulturellen Konflikten schnell an seine Grenzen. Neben der Vorphase der Verfahrensklärung gebührt deshalb der Arbeit an den Beziehungen und insbesondere an den durch die kulturellen Differenzen entstehenden Mißverständnissen eine durchgängige Aufmerksamkeit. Der Ansatz der Interactive Conflict Resolution ist in dieser Hinsicht offener. Allerdings erschwert bislang der oft sehr akademische Charakter der Workshops die interkulturelle Sensibilisierung.

In der Praxis sind nach allen bisherigen Erfahrungen neben dem Mediationsverfahren die Interactive Conflict Resolution erforderlich, um sowohl erfolgreich in akuten Krisen intervenieren als auch um eine nachhaltige Friedensstiftung bewirken zu können. In beiden Fällen kommt es darauf an, daß die dritten Parteien über hinreichende interkulturelle Kompetenzen verfügen. Was das jenseits der personellen Fähigkeiten zur differenzierten interkulturellen Wahrnehmung und (Selbst-)Reflexion heißt, ist bislang noch wenig erforscht. Viele offene Fragen gibt es auch im Hinblick darauf, wie die Implikationen des hier vorgestellten Konfliktbearbeitungskonzeptes – Empowerment, Relativierung von Machtdifferenzen, prozedurale Gerechtigkeit, wechselseitige Anerkennung von Grundbedürfnissen – mit den Ausschließlichkeitsansprüchen ethno-kultureller Konfliktparteien im einzelnen in Einklang gebracht werden können. Gleichwohl dürfte dieses Konzept wichtige Elemente einer neuen Kultur des Friedens darstellen.

zum Anfang | Akteure ziviler Konfliktbearbeitung

von Christine M. Merkel und Dr. Jörg Calließ

Krieg ist Realität. Darauf sind wir nicht vorbereitet. Die Medien zeigen uns selektiv die Leidensbilder aus dem Kaukasus, aus Afrika und Asien, vor allem aber aus dem auseinandergefallenen Jugoslawien. Diese Bilder versetzen uns in eine Mischung aus Entsetzen und Hilflosigkeit. Ein Entsetzen, in dem die Empörung über Täter und Mitleid für die Opfer ebenso enthalten ist wie ein diffuses Gefühl der Schuld, weil wir dieses mörderische Treiben nicht beenden können.

Zur Komplexität gewaltsam ausgetragener Konflikte

Daß die öffentliche Diskussion darüber mit überhitzter Leidenschaft und immer wieder auch mit unfruchtbaren Polarisierungen geführt wird, ist kaum verwunderlich, wenn auch sehr problematisch. Ein noch ernsteres Problem jedoch ist der eklatante Mangel an Orientierung, der in diesen Diskussionen offenkundig wird. Wir kommen wieder und wieder in Situationen, in denen uns angeblich nur die Alternative bleibt, in ohnmächtigem Zorn dem blutigen Morden zuzusehen oder mit militärischen Kräften die Beendigung kriegerischer Auseinandersetzungen zu erzwingen.

Richtig ist, daß wir in der derzeitigen Umbruchphase des Staatensystems mit gewaltsam ausgetragenen gesellschaftlichen Konflikten konfrontiert werden, bei denen Macht, Interessen und Identitätsfragen ins Spiel gebracht werden. Ökonomische und kulturelle Globalisierungsprozesse lassen den Nationalstaat als Organisationsform obsolet erscheinen, ohne daß neue demokratische Formen schon in Sicht sind, die vorsorgende menschenwürdige Sicherheit zustande bringen könnten. Öffnungs- und Demokratisierungsprozesse bringen Menschen und Gesellschaften in Bewegung und fordern überkommene Machtstrukturen heraus.

Als unmittelbar in der Umbruchzeit von 1989/90 in Rumänien, der jugoslawischen Föderation und auf dem Gebiet der damaligen Sowjetunion Auseinandersetzungen bewaffnet ausgetragen wurden, reagierten die westlichen Regierungen und die internationalen Organisationen wie die UN, die EU oder die KSZE eher rat- und konzeptionslos. Europäische und amerikanische Friedens- und Menschenrechtsorganisationen sahen diese Situation als unmittelbare Herausforderung. Mit dem gleichen Nachdruck, mit dem sie in ihren eigenen Gesellschaften für Menschen- und Bürgerrechte, für Selbstbestimmung, Demokratie und Gewaltfreiheit eintreten, entwickelten sie praktische Initiativen, um in den eskalierten Konflikten präsent zu sein, zum Teil zu vermitteln, zumindest aber auf eine Begrenzung oder Beendigung der Gewalt hinzuwirken.

Trotz einiger beeindruckender Elemente, wie z.B. einer gemeinsamen Frontüberquerung von armenischen und azerischen Frauen 1992, der Serie von ambulanten Runden Tischen in Jugoslawien 1991 und der Friedensarbeit in Osijek und Pakrac zeigte sich rasch, daß die Aufgabe der Friedensstiftung in Konflikt- und Kriegsgebieten außerordentlich vielschichtig ist. Auch bei starkem Engagement ist dies mit mehr oder weniger spontanen und meist eher kurzfristigen Vermittlungsinitiativen nicht getan. Viele der engagierten Nichtregierungsorganisationen merkten rasch, daß es um Beiträge zu einem wesentlich längerfristigen Prozeß gehen müßte, in dem und durch den überhaupt erst die kulturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine friedliche Bearbeitung von Konflikten geschaffen werden. Dies erfordert eine andere Art der Arbeit, auch des Zusammenarbeitens, um genügend kreative und handfeste Ressourcen zusammenzubringen.

Geboten ist dies auch durch die Komplexität der jeweiligen Konfliktkonstellationen. Eine vertiefte Einsicht über die Ursachen und Zusammenhänge braucht arbeitsteilige Gemeinschaftsanalyse, in der auch das international vorhandene Wissen automatisch mit einbezogen wird.

Ein entscheidender Faktor im Gesamtbild ist die Frage der Rolle der Eilten in der Konfliktdynamik. Was ist ihre Herkunft, ihre Interessenbindung und Loyalität? Worin besteht ihre Strategie, wie wirkt sich ihr Verschleiß und ihre Diskreditierung aus? Welche Dynamik bewirkt die Entstehung von neuen konkurrierenden Eliten, was passiert, wenn solche sich nicht bilden können? Spielt eine ökonomisch potente Diasporagruppe in der Gewaltdynamik eine Rolle, besonders wenn sie in einer der mächtigeren Industriestaaten wie den USA, Großbritannien oder Deutschland residiert?

Insbesondere die Angst alter Eliten vor Rollen- und Machtverlust leistet der Instrumentalisierung von Geschichte Vorschub. Politiker, Militärs und andere Mitglieder der Eliten nutzen ethno-nationale Elemente teils systematisch als Mobilisierungs- und Kampfmittel und sprechen damit offenbar die Vorstellungskraft der Bevölkerung an, die ihre Sorgen und Hoffnungen in diesen Identitätsbildern aufgehoben sieht. Diese Auseinandersetzungen können teils lange schwelen. Entscheidend ist, ob sich die Ausübung des Gewaltmonopols substantiell verändert, sei es durch Neugliederung, Aushöhlung oder Auflösung. Gewalteindämmung wird am schwierigsten, wenn Gesellschaften in ihrer Selbstorganisationsfähigkeit zusammenbrechen und Staaten kollabieren.

Hinzu kommt, daß bisherige Regelsysteme versagen. Die Konflikte, mit denen wir zu tun haben, können nicht angemessen erfaßt werden, wenn wir sie ausschließlich im Koordinatensystem der Staatenwelt verorten und bearbeiten wollen. Tief gesellschaftlich verwurzelt hängt aber ihre Gewaltförmigkeit davon ab, ob massive Interessen der Staatenwelt tangiert werden oder nicht: Ob es einen Willen der Staatengemeinschaft oder Führungsambitionen einer Großmacht gibt, zur Lösung beizutragen, oder ob die betreffende Region eher in der Mischung aus Gleichgültigkeit, Überforderung und selektiver Stützung von Konfliktparteien ihrem Schicksal überlassen wird. Es gibt zahlreiche Beispiele aktiver Außeneingriffe, die zusätzlich zu Destabiliserung und dem Anstacheln von Gewalt führten, wie z.B. die US/UN-Initiative zu Somalia, das Agieren der französischen Politik in Ruanda und Burundi sowie die Kriegsaktion der russischen Föderation in Tschetschenien. International wird sehr kontrovers diskutiert, welche Rolle die deutsche Anerkennung Kroatiens, Sloveniens und später von Bosnien-Herzegowina im Kriegsverlauf gespielt hat, der dadurch eine zwischenstaatliche Qualität bekam. Im Windschatten dieser Brandherde dauern die sogenannten Kriege niedrigerer Intensität an, z.B. in Mittelamerika, Sri Lanka und Afghanistan, wenn auch nicht mehr ungebrochen in der Logik der Blockkonfrontation gefangen und alimentiert.

Ebenfalls kontrovers ist das Urteil, ob und inwieweit Militär und Polizei eher Teil des Problems oder Teil der Lösung sind. Frage wie Ströme von (Klein-)Waffen, Landminen eingeschlossen, staatlich organisierte Menschenrechtsverletzungen, Terror und Gewalt durch (reguläre) Streit- und Polizeikräfte bis hin zum Genozid wurden in der sicherheitspolitischen Diskussion des Kalten Krieges so gut wie gar nicht thematisiert. Auf deren Konto ging jedoch der Großteil der getöteten Kinder, Frauen und Männer der »schmutzigen« Kriege dieser Jahrzehnte.

Gewalteindämmung und Konfliktlösung als Aufgabe zivilgesellschaftlicher Akteure

Es macht zwar keinen Sinn, die zivilen, die polizeilichen und die militärischen Mittel der Gewalteindämmung gegeneinander auszuspielen, aber es muß doch sehr beunruhigen, daß drei Jahre nach Boutros Boutros-Ghali's Plädoyer für eine verstärkte zivile Bearbeitung von Konflikten immer noch vorrangig mit militärischen Kräften operiert wird, und dieser Trend sich derzeit zu verstärken scheint. Bei weltweit 30 Millionen Soldaten (darunter auch einige Tausend Soldatinnen) standen der UNO 1994 73.000 Blauhelmsoldaten, 2.100 Zivilpolizisten und 2.200 Zivilkräfte zur Verfügung. Lediglich 40 MitarbeiterInnen widmeten sich innerhalb der UNO Aufgaben der Gewaltprävention.

Auf deutscher Seite stellt sich das Bild nicht anders dar: Während der derzeitige Bundesverteidigungshaushalt 47,9 Milliarden DM beträgt (49,2 Milliarden bei Berechnung nach NATO Kriterien) und alleine dem Reservistenverband der Bundeswehr 26 Millionen DM zur Verfügung stehen, werden für Aufgaben der OSZE lediglich 3,95 Millionen DM und für Entwicklungszusammenarbeit 8,1 Milliarden DM bereitgestellt. Innerhalb der Kirchen zeigt sich ein vergleichbares Mißverhältnis: Während z.B. die EKD jährlich ca. 30 Millionen DM für Militärseelsorge zur Verfügung stellt, werden für die Aufbauphase des ökumenischen Friedensdienstes (Schalomdiakonat) lediglich DM 181.000 (1994) aufgewendet.

Dies ist besonders widersprüchlich im Lichte der artikulierten Bedarfsschätzungen: Alle Beteiligten gehen davon aus, daß die zivilen Aufgaben von Gewalteindämmung und Konfliktlösung quantitativ und qualitativ erheblich zunehmen werden. Die Erkenntnis, daß es in 95% der Gewaltsituationen um nicht-militärische Antworten auf menschliches Leid gehe, war eines der wesentlichen Ergebnisse der Anhörung vor dem Auswärtigen Ausschuß des Bundestages im Mai 1994.

In der Praxis der Gewalteindämmung, Streitbeilegung und Friedensstiftung der letzten fünf bis sieben Jahre haben eine Vielzahl von Akteuren friedenspolitische Verantwortung in neuer Weise übernommen. Teils bewußt und teils unbewußt beeinflussen sich ihre Bemühungen gegenseitig. Da, wo intergouvernamentale Organisationen und Ministerien im Sinne der Prävention von Gewalt zu arbeiten beginnen, zeichnet sich eine Öffnung hin zur Arbeitsweise zivilgesellschaftlicher Akteure ab. Institutionelle Innovationen wie z.B. der OSZE Hochkommissar für Minderheitenfragen, OSZE Langzeitmissionen, der UNO Hochkommissar für Menschenrechte, der OAU Mechanismus zur Konfliktregelung sowie vertrauensbildende Maßnahmen des Europarates zeugen von Lernfähigkeit unter dem Druck veränderter Anforderungen.

Diese Formenvielfalt, die noch vor fünf Jahren im sicherheitspolitischen Konzeptdenken fast völlig fehlte, ist wohl nicht zufällig dort entstanden, wo die institutionelle Praxis eher Elemente von Dialog und Kommunikation zeigt. Dies stößt dann an Grenzen, wenn, wie z.B. im Fall Somalia, verschiedene Machtlogiken in der UNO aufeinanderprallen und positive Entwicklungen der Gewalteindämmung konterkarieren, oder wenn, wie im ehemaligen Jugoslawien, gegensätzliche nationale Interessen innerhalb der EU die Gewalteskalation der internen Machtkämpfe eher begünstigen denn bremsen.

Ein deutlicher Akzent in dieser Praxis liegt auf Strategien, Gewalteindämmung und Deeskalation durch Aktivierung und Stärkung des intermediären Bereiches in den von Krieg und Gewalt bedrohten oder geschüttelten Ländern zu erreichen. Zentral ist dann weniger die Frage, wie neutrale Außenstehende zur direkten Konfliktlösung beitragen, sondern wie sie mitwirken können, daß die involvierten Insider Raum, Zeit und Instrumente schaffen können, um die gesellschaftlichen Macht- und Identitätskonflikte ohne Gewalt auszutragen. Diese Einsicht wird v.a. von den internationalen NGOs artikuliert, findet aber teils auch Eingang in das konzeptionelle Denken intergouvernamentaler Organisationen. In der Praxis erfordert dies integrierte und längerfristig aufeinander abgestimmte Arbeitsweisen zwischen internationalen und örtlichen Personen einerseits sowie zivilgesellschaftlichen und politischen Kräften andererseits.

Als wesentlicher singulärer Problemfaktor wird von fast allen Akteuren das Vorhandensein eines Medienmonopols in potentiellen Konfliktgebieten bezeichnet. Wirksame Informationskapazität, vor allem Radiosender, für internationale Teams kann über Erfolg oder Mißerfolg entscheiden. Entwicklungs- und wahrnehmungsbedürftig ist auch die kulturelle Diversität der Konflikttransformation, wobei man es kaum mit unangetasteten Formen traditioneller Befriedung und Aussöhnung zu tun hat, sondern mit Mischformen und Überlagerungen von Symbolen und Ritualen.

Für die Überlegungen zur Neugestaltung von Friedensdiensten ergeben sich daraus weitreichende konzeptionelle und praktische Konsequenzen.

Probleme und Defizite

Als Hauptmangel wird inzwischen nicht mehr die Frühwarnung genannt, sondern die frühe Handlungsfähigkeit und Ideenumsetzung auf Basis einer praxisrelevanten Auswertung der vorhandenen Daten. Wirklich nützliche Kenntnisse über Konfliktverläufe und vor allem auch Konfliktparteien werden als konzeptionelle Lücke vermerkt. Die Verarbeitung der Informationsfülle ist sowohl für intergouvernamentale Organisationen als auch für NGOs ein Problem. Die Diskrepanz zwischen dem, was wir wissen und kommen sehen, und dem, was wir als Einzelne oder als Organisationen tatsächlich tun und abwenden können, wird verstärkt empfunden.

Die praktischen Defizite sind legio. Sie hängen weitgehend mit dem Unwillen zusammen, vorausschauend und gut beraten tätig zu werden sowie örtliche Akteure tatkräftig und nachhaltig zu unterstützen. Dies hat sicherlich auch mit dem mangelnden politischen Willen zu tun, sich auf die Risiken früher Handlung einzulassen, wenn die Probleme noch nicht unumgehbar geworden sind. Diese Klage zieht sich wie ein roter Faden durch die Äußerungen der meisten Verantwortlichen, Beamte einiger Ministerien und intergouvernamentaler Organisationen eingeschlossen, wobei sich teils die Frage aufdrängt, wer auf einen Impuls von wem wartet.

Abgeleitet von derzeit 79 gewaltsam ausgetragenen Konflikten und den 250 sich abzeichnenden Konfliktsituationen mit Risiko der Gewalteskalation schätzen zivilgesellschaftliche Organisationen einen effektiven Bedarf von dreißig- bis vierzigtausend Menschen pro Jahr weltweit (zum Vergleich: hunderttausend UN-Blauhelme 1994). Für Deutschland würde dies eine Beteiligung von 1500 in Konfliktbearbeitung und Gewalteindämmung geübten Frauen und Männern pro Jahr in der Anfangszeit erfordern.

Den derzeitigen Mangel an geeigneten Personen sowie die Fülle der ungenügend gelösten Organisations- und Managementfragen sollte man jedoch auch nicht unterschätzen. Allerdings zeigen die Beispiele der Organisation von humanitärer Hilfe sowie von Wahlbeobachtung, daß bei entsprechender politischer Motivation der Bundesregierung oder auch der Europäischen Union auf erhebliche praktische Defizite sehr schnell mit verstärkter Ressourcenmobilisierung und konzeptioneller Verbesserung reagiert wurde.

Freilich, ein tragfähiges und vor allem stimmiges politisches Konzept hat man damit noch nicht. Dies kann auch wohl kaum als »Grand Design« entstehen, sondern nur aus der reflektierten Praxis, mit hoher Lernbereitschaft. Genauso wichtig ist der starke politische Wille, Gewalt nicht zu akzeptieren und der Zivilisierung hartnäckig auf den Fersen zu bleiben. Für den Einstieg in diese Kultur des Friedens ist erforderlich, daß Akteure und Akteursgruppen ihre Handlungs- und Wirkungsmöglichkeiten systematisch auf die Anforderungen und Notwendigkeiten von Zivilisierungsprozessen hin entwerfen, miteinander abstimmen und gegebenenfalls verknüpfen.

Das »zivilisatorische Hexagon« (Senghaas 1994, S. 17ff.) bietet dafür eine begriffliche Grundlage. Seine Nützlichkeit besteht vor allem darin, die Bedingungen für zivilisierte Konfliktbearbeitung im Zusammenhang zu sehen. Diese wird dann möglich, „wenn kollektive Akteure ihre inneren und externen Konflikte ohne Rückgriff auf kollektive Gewalt erfolgreich bewältigen“. Sie ist an sechs Bedingungen geknüpft, von denen jede grundlegend, aber keine für sich alleine hinreichend ist und zwischen denen vielfältige Rückkopplungen bestehen: Das legitime, in aller Regel staatliche, Gewaltmonopol, dessen Kontrolle durch Rechtsstaatlichkeit, die Entwicklung von Interdependenzen und damit von Affektkontrolle, die demokratische Teilhabe, die soziale Gerechtigkeit und eine konstruktive Konfliktkultur.

In der Tat geht es in erster Linie um politische Prioritäten und Werte. Es muß grundsätzlich entschieden werden, daß der Gewaltprävention eine gesellschaftlich, politisch, organisatorisch und finanziell gesteigerte Bedeutung zukommt. Sonst bleibt es mit den Worten des österreichischen Diplomaten Freudenschuß „eine Medizin, von der viel geredet, die aber ungern genommen wird“. Eine Konzentration auf die Gewaltprävention setzt voraus, die zivilen Aspekte von Konfliktlösung in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit aufzuwerten, im Sinne der Erkenntnis »vorbeugen ist besser und billiger als Soldaten stationieren und wiederaufzubauen«. Es erfordert auch eine Veränderung der Denkweise. Negativ ist das Phänomen und die Kultur der Gewalt, nicht die Tatsache von Konflikten, die für Veränderung und Wandel nötig sind. Hier bahnt sich ein Umdenken an, welches Konfliktlösungsprozesse nicht als Kompromißbildung mit Siegern und Verlierern versteht, sondern als Ringen um Kooperation mit potentiellem Gewinn für alle Beteiligten.

Der Sinn einer systemischen Zusammensicht aller Beiträge zu ziviler Konfliktarbeitfolgt aus dem bisher Gesagten. Selbst wenn man sich als Akteursgruppe aus guten Gründen für begrenzte oder gar keine Kooperation entscheidet, macht es einen großen Unterschied, wenn man den je eigenen Beitrag aus dem Verständnis der Gesamtdynamik aller Akteure heraus konzipiert und einbringt. Je mehr sich diese Einsicht durchsetzt, desto eher kommt es zu Friedensdiensten und intergouvernamentalen Missionen, die mehr werden können, als nur eine ad-hoc Ansammlung von fähigen Menschen guten Willens oder administrativer Zugehörigkeit. Die Stärke dieser Sichtweise ist zudem ihre Multi-Polarität: Der Aufbau und die Verstärkung ziviler Konfliktlösung kann und muß in Such- und Lernbewegungen von allen Akteuren vorangebracht werden, ohne zeitliche oder hierarchische Nachordnung. Wir haben es hier mit Integrationsprozessen zu tun.

Die einzelnen Akteure sind unterschiedlich weit von einer solchen Gesamtsicht entfernt. In Teilen des Diskurses von UNO und OSZE ist das Problem durchaus erkannt, teils artikulieren sie dies stärker als die entsprechenden Ministerien der Bundesregierung (AA, BMZ, BMVg). Die deutschen friedenspolitischen NGOs beziehen sich in ihrer eigenen Arbeit mit wenigen Ausnahmen nicht auf die Praxis von UNO, OSZE und Europarat, sehen dies jedoch mehrheitlich als Nachholbedarf, ebenso wie die Kommunikation mit den entsprechenden Ministerien. Je nach Praxisfeld bestehen Kooperationsbeziehungen mit internationalen NGOs sowie Stadtbehörden und Landesregierungen. Das gute Dutzend deutscher AkademikerInnen, welche die Konfliktbearbeitungspraxis reflektierend verarbeiten, bezieht sich vorrangig auf internationale NGOs und Institute sowie auf UNO und OSZE.

Das entwicklungspolitisch orientierte Milieu im kirchlichen Umfeld stellt im deutschen Kontext eine deutliche Ausnahme dar, auch was ihre Kontakte zu Parlamentariern und Bundesministerien betrifft. Ihr Fokus ist die direkte (amts-)kirchliche Beteiligung an Mediationsarbeit und Kriegsbeendigung bzw. die Unterstützung von NGOs wie International Alert und Peace Brigades International. Sie haben aber in der Regel kaum Verbindungen zum OSZE-Praxisfeld.

Natürlich werden auch bei stark verbesserter systemischer Zusammenschau Konflikte zwischen Kooperation und Autonomie bleiben und für Innovationen auch nötig sein. Die zivilgesellschaftliche Stärke, im eigenen Handeln nicht weisungsgebunden zu sein, macht es möglich, auch heiße Eisen anzupacken, so eine ausreichende Unabhängigkeit der Ressourcen gegeben ist.

Aspekte zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit

Im Interesse des Friedens in der Welt sind erheblich institutionelle und konzeptionelle Neuerungen dringend geboten. Sie müssen die Entwicklung von Konzepten und Instrumenten ziviler Gewalteindämmung, Streitbeilegung und Konfliktbearbeitung voranbringen und auf den Aufbau einer Infrastruktur für die Zivilisierung der Konflikte hinzielen.

Das Szenario für die Infrastruktur der zivilen Konflikttransformation erfordert keine zusammenfassend-zentralen Strukturen, die nur Verdrängungsängste und Abwehr mobilisieren, sondern halb-durchlässige Verzahnung, Kommunikation und offene Kooperationsangeboteauf der Basis der Stärkung der Arbeitsfähigkeit der jeweiligen Akteure.

Bezogen auf die intergouvernamentalen Strukturen geht es – auf der Basis nüchterner Einschätzung des politischen Willens – um die Stärkung ihrer Handlungsfähigkeit und Autorität. Aus der Gesamtsicht der Konfliktbearbeitungsaufgaben ist größere Durchlässigkeit und Transparenz sowohl von Regierungsstellen als auch von internationalen Delegationen und Gremien vordringlich.

Zur Erreichung des ersten Zieles gibt es Reformvorschläge wie die Stärkung des internationalen Gerichtshofes, Eigeninitiativen des UN-Generalsekretärs, pro-aktive Nutzung der UN-Menschenrechtsinstrumentarien und die Einrichtung eines Petitionsausschusses. Neue Gedanken sind die Aufnahme der Rolle internationaler Mediatoren in der UN-Charta und die Schaffung eines Konfliktrates. In der Ergänzung zur Agenda für den Frieden vom Januar 1995 wird die Unterstützung von Sonderbotschaftern durch kleine Langzeitmissionen vor Ort vorgeschlagen. Bei den Blauhelmeinsätzen seien vor allem drastische Mängel in Ausrüstung und Ausbildung zu beheben. Die Trennlinie zwischen Friedensdurchsetzung und Friedenssicherung sei klar zu ziehen, militärische Gewalt könne politische Prozesse nicht beschleunigen, es handle sich hier nicht um benachbarte Elemente eines Kontinuums. Die Forderung nach der Aufstellung rasch mobilisierbarer Bereitschaftskräfte in Brigadengröße (10.000 Soldaten) wird wiederholt, die unter integriertem UN-Kommando zum Einsatz kommen sollen.

Kontrovers wird beurteilt, ob eine Verrechtlichung der OSZE ihre politischen Handlungsmöglichkeiten tatsächlich verstärken würde. Die Kernfrage – wie auch in der UNO – ist, wie Staaten zur Teilnahme an vorbeugenden oder gewalteindämmenden Maßnahmen verpflichtet werden können, wenn es ihr jeweiliges Staatsgebiet und ihr eigenes Handeln betrifft.

Zur Erweiterung des Handlungsspielraums ziviler Akteure und intermediärer Institutionen in gefährdeten Regionen kann auch die Präsenz von UN-Einrichtungen, wie z.B. Ressourcenzentren für präventive Diplomatie beitragen. OSZE-Foren zu Spannungsherden können eine vergleichbare Rolle spielen. Zur Programmförderung ziviler Akteure in gewaltbedrohten Regionen sollte in Deutschland ein parlamentarisch kontrollierter Fonds analog der Strukturen der politischen Stiftungen oder der Einrichtungen der Entwicklungspolitik geschaffen werden. Aus diesem Fonds könnten auch Arbeits- und Reisestipendien für komplementäre internationale Unterstützung zur Verfügung gestellt werden.

Dauerhafte Wege aus der Gewalt kann es nur mit Frauen geben

Von allen Akteursgruppen wird die schnelle Verfügbarkeit von geeigneten freiwilligen zivilen Kräften als Haupthindernis genannt. Dies erfordert sowohl praktische als auch administrative und gesetzliche Antworten. Potentere gesellschaftliche und öffentliche Arbeitgeber wie Bundes- und Landesbehörden, größere Kommunen, wissenschaftliche Institute, Kirchen, NGOs u.a. sollten trotz bekannter Stellenstreichungspolitik ihre Möglichkeiten prüfen, Freistellungsressourcen zu poolen und aufeinander abzustimmen. Auch institutionell nicht gebundene Personen sollten dafür in Frage kommen. In der kommunalen Nord-Süd-Arbeit gibt es bereits Vorläufer dieser Idee. Ein Bundes-Freistellungsgesetz könnte die Rahmenbedingungen dafür schaffen und durch entsprechende steuerliche und administrative Anreize stimulieren. Als Resultat würde dann für interessierte und fähige Frauen und Männer die Möglichkeit bestehen, im Zeitraum von fünf bis sieben Jahren wiederholt für drei bis sechs Monate friedensschaffende Aufgaben wahrzunehmen. Dies ist besonders deswegen so wichtig, weil alle vorhandenen empirischen Auswertungen betonen, daß Lebenserfahrung, -klugheit und Charakter die entscheidenden Merkmal seien, die die Wirksamkeit von Beiträgen zu ziviler Konfliktbearbeitung ausmachen. Im Felde der Wahlbeobachtung erbrachten diejenigen Länder (wie z.B. die Niederlande) die sinnvollsten Beiträge, die ihre BeobachterInnen über öffentliche Ausschreibungen rekrutierten.

Erhebliche Mühe macht fast allen Akteursgruppen die Einstellung auf diesen neuen Typus von Aufgaben. Veränderung und Umlernen ist für Diplomaten, Administration, Polizisten und Militärs am schwierigsten, vor allem, wenn sich die Institutionen und Befehlshierarchien, in denen sie handeln, nicht oder nur ungenügend mit verändern. Polizisten und Militärs sind bislang am geringsten in das Gespräch über die Gesamtsicht der Akteursgruppen involviert.

Zivilgesellschaftliche Akteure müssen ihre Heterogenität so verbinden, daß sie sektorübergreifend in Richtung Makroebene handlungsfähiger werden. Dies setzt entsprechende Professionalisierung, Kapazität zu (internationaler) Kooperationsfähigkeit, Teilen von Ergebnissen und Entbürokratisierung großer NGOs voraus.

Aus dem Gesagten ergibt sich, daß in Deutschland angesiedelte weltoffene Lernorte für zivile Akteure dringend erforderlich sind. Sie können graduell durch Bündelung und Fortentwicklung bereits bestehender Angebote zu Konfliktanalyse und Training entstehen, sofern die international bereits vorhandene Qualität vergleichbarer Lernzentren systematisch einbezogen wird. Das wichtige Ziel interkultureller Kompetenz kann wesentlich besser erreicht werden, wenn solche Orte koedukativ für TeilnehmerInnen aus verschiedenen Kulturen und Erdteilen offenstehen sowie unterschiedliche Akteursgruppen zusammentreffen. Offene Kooperationsangebote an die Einrichtungen der Diplomaten-, Polizei- und Blauhelmausbildung sind eine notwendige Ergänzung. Für eine stabile Wissensbasis und die Verankerung in Schulen und Universitäten ist das Auftauen der Mittel für Friedensforschung unabdingbar.

Zur Erhöhung der Ressourcen und mittelfristigen Korrektur der dramatischen Unverhältnismäßigkeit der Mittelverteilung braucht es klare Zielvorgaben. Als Methode wird die Einrichtung eines festes Prozentsatzes des Verteidigungsetats (für den EKD Bereich: des Militärseelsorgehaushaltes) für Zwecke präventiver Diplomatie empfohlen. Als weitere Einstiegsmaßnahme bietet sich an, mindestens ein Promille des Etats, der jeweils ad hoc für Auslandseinsätze der Bundeswehr mobilisiert wird, für zivile Aufgaben und Projekte der Konfliktbearbeitung zur Verfügung zu stellen. „Put your money where your mouth is“, diesen markanten Satz steuerte die bekannte schottische Journalistin Joyce McMillan zum Kernproblem dieser Debatte bei.

Es ist unabdingbar, daß signifikante Beiträge zur Infrastruktur ziviler Konfliktarbeit aus Deutschland kommen und multilateral wirken, sowohl in den unmittelbar betroffenen Konfliktregionen als auch in Synergie mit anderen Akteuren aus dem In- und Ausland. Von einer Mittelmacht mit erheblicher materieller und menschlicher Kraft ist hier ein politisch-ethisches Engagement zu fordern, vergleichbar den Rollen Kanadas, Schwedens, der Niederlande oder Australiens, und sei es auch hauptsächlich mit der Motivation der Befriedung der unmittelbaren Interessenszonen in Mittel- und Osteuropa sowie im Mittelmeerraum.

Verglichen mit dem international vorhandenen Erfahrungsreichtum stehen wir in Deutschland am Anfang, wenn auch die Intensivierung der Arbeit in den letzten zwei bis drei Jahren deutlich sicht- und spürbar ist. Abgesehen von unserer unterentwickelten gesellschaftlichen Streitkultur fällt auch die Abwesenheit transnationaler NGOs hierzulande auf. Es gibt kaum Einrichtungen mit multinationalem Personal, Vorstand oder Beiräten, im günstigsten Fall ist man mit ausländischen Organisationen dieses Typus verbunden. Weltoffenheit mit Augenmaß und Bodenhaftung hat es so noch schwerer, als dies auf dem Weg ins 21. Jahrhundert sein müßte.

Bei konstatierter unbeständiger Motivation der Bürger und Bürgerinnen einer vereinzelnden Medien- und Konsumgesellschaft, die auf Erlebniskitzel ohne Risiko orientiert, brauchen wir sowohl lebensbejahende mutige Menschen als auch eine gesellschaftliche Verfassung, die „Geier des Friedens“ (Manfred Drewes) darin bestärken, Gewaltentschlossene nicht in Ruhe zu lassen. Sicher, noch fehlen entscheidende Voraussetzungen für das Projekt der zivilen Konfliktbearbeitung. Es fehlt die konzeptionelle Phantasie, die wissenschaftliche Aufklärung, die theoretische Verankerung. Es fehlen Mechanismen, Instrumente und Infrastruktur. Es fehlen menschliche Fähigkeiten, personelle Kapazitäten und entsprechende Ressourcen. Damit dürfen wir uns aber nicht abfinden, wenn wir nicht wieder und wieder mit falschen tragischen Alternativen konfrontiert werden wollen, entweder in ohnmächtigem Zorn dem blutigen Morden zuzusehen oder mit militärischen Kräften die Beendigung kriegerischer Auseinandersetzungen erzwingen zu sollen.

Aber hier öffnet sich ein neues Fenster: Jede auch noch so ausgereifte Konzeption der Konfliktzivilisierung läuft Gefahr, über der Erfassung der Bombensplitter in den Konflikten der anderen den Balken im eigenen Auge zu übersehen. Bei einer internationalen Übersicht zeigten so gut wie alle Akteursgruppen gravierende Lücken in der Geschlechterparität.In den für Konfliktlösung relevanten Gremien und Abteilungen der internationalen Organisationen und der Kirchen findet sich ein Männeranteil zwischen 97 % und 90 %. Im Bereich der Institute und NGO-Hauptamtlichen sind es zwar »nur« achtzig bis siebzig Prozent Männer, jedoch haben sie – bis auf Ausnahmefälle – die leitenden Rollen fest im Griff. Lediglich im Bereich der Freiwilligendienste nähern wir uns einem etwas ausgeglichenerem Verhältnis: Hier kommen auf drei Männer zwei Frauen.

Den Ton im Konzert der Konflikttransformation geben im wesentlichen die »weißen, westlichen Männer« sowie einige farbige, nicht-westliche Männer an. Ein Forschungsprojekt der UN-Universität macht diese Schieflage neuerdings zum Thema. Es ist dem Vorbereitungsprozeß auf die Weltfrauenkonferenz 1995 zu danken, an eine UNO-Resolution aus dem Jahre 1982 erinnert zu haben, die Geschlechterparität innerhalb der UNO als wichtiges Ziel vorgibt.

Mit der Trilogie »Gleichberechtigung, Entwicklung und Frieden« hatte die 4. Weltfrauenkonferenz die Fragen der »Auswirkungen von bewaffneten und anderen Konflikten auf Frauen«. bewußt in den Mittelpunkt gestellt. Fragen der Konfliktbearbeitung und Friedensstiftung wurden auch im deutschen Vorbereitungsprozeß intensiv erörtert. Das Nationale Vorbereitungskomitee hatte 12 beratende Arbeitsgruppen mit Fachfrauen berufen, darunter eine AG Frauen und Frieden (AG 11). Ihre Vorschläge zur Einrichtung eines UN-Konfliktrates sowie zur Einberufung einer UN-Weltfriedenskonferenz im Jahre 2000 wurden in Peking diskutiert. Die Durchsetzung der Menschenrechte aller Frauen sowie der Ziele der Weltfrauenkonferenz erfordern die Beendigung kriegerischer Konflikte sowie zivile Formen der Konfliktlösung – so ein Kernsatz des Memorandums des NRO-Frauenforums zur Vierten Weltfrauenkonferenz.

Eine Delegation von 25 Frauen aus allen Landesteilen und unterschiedlichen Klanen Somalias war mit Unterstützung des schwedischen Life & Peace Instituts nach Peking gekommen. Ihre Botschaft an die UNO war eindeutig: Hätten sie in Somalia nicht nur die Warlords, sondern auch die Frauen und andere Kräfte der Zivilgesellschaft als Verhandlungspartner und Friedensstifter anerkannt, die Dinge wären anders gelaufen. Dauerhafte Wege aus der Gewalt heraus können nur auf zwei Beinen zustande kommen. Selbstverständlich organisieren sie Projekte des Überlebens unter schwierigsten Bedingungen. Ihre Kinder haben seit fünf Jahren keine Schulen mehr gesehen, Minenräumen ist flächendeckend nötig und sie versuchen, wenigstens ein Minimum an Geburtshilfe zu leisten. All das kann jedoch nicht tragfähig werden, wenn es auf den humanitären Bereich begrenzt bleibt.

Diese Lebensfragen werden die Nagelprobe für eine Kultur des Friedens sein. Es stünde der UNESCO gut an, hier Hebammendienste zu leisten und Rolle und Verhalten bewaffneter Männerbanden zu thematisieren. Tragen wir dazu bei, daß diese Hürde genommen wird.

Literatur

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Calließ, Jörg / Christine M. Merkel (Hrsg.): Peaceful Settlement of Conflict – A Task for Civil Society: »Third Party Intervention«, Loccumer Protokoll 9/94, Loccum 1994.

Calließ, Jörg / Christine M. Merkel (Hrsg.): Peaceful Settlement of Conflict as a Joint Task for International Organizations, Governments and Civil Society, Loccumer Protokolle 24/95, Loccum 1995.

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Calließ, Jörg / Bernhard Moltmann (Hrsg.): Jenseits der Bipolarität: Aufbruch in eine »Neue Weltordnung«, Loccumer Protokolle 9/92, Loccum 1993.

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4. Weltfrauenkonferenz 1995 – Beiträge und Positionen der 12 Arbeitsgruppen des Nationalen Vorbereitungskomitees, Langfassungen, Geschäftsstelle zur Vorbereitung der 4. WFK c/o Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bonn.

4. Weltfrauenkonferenz 1995, Memorandum des deutschen NRO Frauenforums.

zum Anfang | Perspektive politischer Bildungsarbeit

von Günther Gugel und Uli Jäger

In den politischen Erklärungen und wissenschaftlichen Expertisen der letzten Jahre über die neuen »globalen Herausforderungen« wird immer häufiger darauf verwiesen, daß für eine angemessene Problembearbeitung neben technischen Innovationen und politischen Umorientierungen auch große Anstrengungen im Bereiche der Erziehung und Bildung erforderlich sein werden.28 Tief in das Wertesystem reichende Umorientierungen von Einstellungen und Verhaltensweisen und die Veränderungen bestehender Weltbilder seien notwendig, damit die anstehenden Zukunftsaufgaben von Regierungen und den Menschen auch tatsächlich gemeinsam bewältigt werden können.

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen weist in seinem Jahresgutachten 1993 auf die Notwendigkeit der Entwicklung und der Vermittlung einer neuen Verantwortungsdimension hin: „Da Menschen dazu tendieren, eher lokal zu denken und zu handeln, besteht eine der größten Aufgaben darin, das Verständnis für diese Wechselbeziehungen zu vermitteln, damit es in angemessenes Handeln umgesetzt werden kann. Das Erkennen der globalen und generationenübergreifenden Dimensionen des Umgangs mit der Umwelt muß zur Grundlage einer allgemeinen Ethik werden.“ 29 Da viele globale Umweltprobleme nicht unmittelbar anschaulich und erlebbar sind, kommt ihrer Vermittlung in alltäglicher Kommunikation, durch die Medien oder durch Bildungsmaßnahmen große Bedeutung zu.

Folgt man der Agenda 21, so spielt dabei besonders das organisierte Lernen, vor allem in Schulen sowie anderen Bildungseinrichtungen und die Schaffung eines öffentlichen Bewußtseins eine zentrale Rolle für die „Förderung nachhaltiger Entwicklung und die Verbesserung der Fähigkeit der Menschen, Umwelt- und Entwicklungsprobleme gleichzeitig zu bewältigen.“ 30

Bei der 44. Sitzung der Internationalen Bildungskonferenz der UNESCO (in Genf vom 3. bis 8. Oktober 1994) verabschiedeten die Bildungsminister einen Integrierten Rahmenaktionsplan zur Friedens-, Menschenrechts- und Demokratieerziehung. Der Rahmenplan formuliert äußerst konsequent die Notwendigkeit, die Bereiche Frieden, Menschenrechte, Demokratie, Umwelt gemeinsam nicht nur in der Politik, sondern auch in der Erziehung und allen Bildungsbereichen zu entwickeln. Darin heißt es u.a.: „In einer Zeit des Übergangs und des beschleunigten Wandels, der durch Anzeichen von Intoleranz, Erscheinungsformen des rassischen und ethnischen Hasses, des Wiederaufkommens von Terrorismus in allen seinen Formen und Ausprägungen, der Diskriminierung, des Krieges und der Gewalt gegen solche, die als »andersartig« gelten, gekennzeichnet ist, in der die Kluft zwischen reich und arm auf internationaler wie auf nationaler Ebene immer größer wird, müssen Gegenstrategien darauf abzielen, sowohl die Grundfreiheiten, den Frieden, die Menschenrechte abzusichern als auch eine langfristig tragfähige und sozial gerechte wirtschaftliche und soziale Entwicklung sicherzustellen, da alle diese Elemente einen wesentlichen Anteil am Aufbau einer Kultur des Friedens haben. Dazu gehört notwendigerweise die grundlegende Veränderung traditioneller Formen der Bildung.“ 31

Schließlich betont der 1995 vorgelegte Bericht der Kommission für Weltordnungspolitik: „In der Tat müssen die Bürger der Einen Welt zu vielen Zwecken zusammenarbeiten: Für die Erhaltung von Frieden und Ordnung, für die Ausweitung wirtschaftlicher Aktivitäten, beim Kampf gegen die Umweltverschmutzung, für die Beendigung oder Minimierung des Klimawandels, bei der Seuchenbekämpfung, der Einschränkung der Waffenverbreitung, der Verhinderung von Desertifikation (…). Immer mehr Themen verlangen nach gemeinsamen Anstrengungen der Nationalstaaten, mit anderen Worten, erfordern nachbarschaftliches Handeln.“ 32

Diese und andere Stellungnahmen zeigen, daß auch auf regierungspolitischer Ebene nicht mehr (nur) technologische Lösungen für die anstehenden Probleme gefragt sind. Immer wieder wird betont, daß die Menschen lernen müssen, die Welt mit »neuen Augen« zu sehen und daß das Weltbild in den Köpfen sich ändern muß, ehe man sich wirklich neuen Lebensweisen zuwenden kann.33 Man scheint erkannt zu haben, daß die notwendigen Formen der »technologischen« Problembearbeitung erst dann wirksam werden, wenn sie von den (betroffenen) Menschen verstanden und akzeptiert werden und in alltägliches Handeln umgesetzt werden können. Denn neue Sichtweisen müssen sich in realem Verhalten niederschlagen, damit umfassende Problemlösungen möglich werden. So müssen bei allen Lernprozessen auch Strategien der Verhaltensänderung einen wichtigen Stellenwert erhalten.

Politische Bildung und globale Gefährdungen

Der Bildung, insbesondere der politischen Bildung, wird somit von Politik und Wissenschaft eine Schlüsselfunktion für den Weg ins 21. Jahrhundert34 zugeschrieben. Adressaten sind vor allem Jugendliche, zumal sie Untersuchungen zufolge für das Thema sehr sensibel sind und sich schon heute mit keinem anderen Problembereich stärker auseinandersetzen.35

Doch den daraus resultierenden Anforderungen und Hoffnungen kann politische Bildung in ihren heutigen Strukturen und ihrer heutigen Ausrichtung kaum gerecht werden, da sie im Rahmen der gesamten Bildungsarbeit nur eine untergeordnete Rolle spielt. So waren 1992 nur 0,5 % aller Kursangebote an deutschen Volkshochschulen der politischen Bildungsarbeit gewidmet und nach empirischen Untersuchungen nehmen nur ca. 1 % der Bevölkerung an Veranstaltungen zur politischen Bildungsarbeit teil.36

Hinzu kommt, daß es bislang nicht gelungen ist, praxisrelevante Konzeptionen für die politische Bildungsarbeit zu entwerfen, um der Suche nach neuen Orientierungen gerecht zu werden.37 Sowohl beim Themenangebot als auch in der Umsetzung sind erhebliche Lücken im Hinblick auf die notwendigen zukunftsorientierten Lernprozesse festzustellen. Und nicht zuletzt werden die Vorteile der neuen Medien für die Auseinandersetzung mit den neuen Herausforderungen bislang noch viel zu wenig genutzt. Es gibt z.B. zwar eine Reihe von mehr oder weniger guten Computerspielen, aber noch kaum Computersimulationen, mit deren Hilfe sich Jugendliche spielerisch Einblicke in Problemzusammenhänge und -abhängigkeiten, aber auch in unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten erarbeiten können. Dies liegt wohl mit daran, daß die Diskussion im Bereich der neuen Medien zu sehr unter dem Aspekt der Gefährdungen und nicht dem der Chancen geführt wurde.38

Aufgrund der Themennähe, der vielfältigen methodischen Ansätze und der langjährigen Erfahrungen sind die entwicklungspolitische Bildungsarbeit, die Umwelterziehung, die Friedenserziehung sowie die Menschenrechtserziehung für die Auseinandersetzung mit den globalen Herausforderungen besonders qualifiziert. Betrachtet man diese Ansätze in bezug auf ihren derzeitigen Diskussionsstand sowie die vorfindbare Praxis, so können Trendaussagen über die Reichweite und den jeweiligen Beitrag zum Umgang mit globalen Gefährdungen gemacht werden.

Menschenrechtsschutz und damit verbunden das Verständnis von Menschenrechtserziehung wurde lange Zeit als Schutz von Individualrechten (klassisch in der Ausprägung der politischen Rechte) vor staatlichen Übergriffen verstanden. Mit der Etablierung einer zweiten und dritten Generation von Menschenrechten, den sozialen Menschenrechten sowie den Rechten von Völkern gegenüber der Gemeinschaft von Staaten hat sich sowohl der Blickwinkel, als auch die Diskussion um Menschenrechte entscheidend verändert. Immer mehr tritt die Forderung auf, neben einem Individualschutz die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen von Menschenrechtsverletzungen als Gegenstand von Menschenrechtsarbeit zu sehen.39 Damit verbunden ist auch eine Verschiebung klassischer Menschenrechtsarbeit von der »nachsorgenden Betreuung« hin zur Prävention. Konsequenterweise treten deshalb Fragestellungen und Themen in das Blickfeld der Menschenrechtserziehung wie Ursachen von Armut, Welthandel, Krisen und Kriege, die bislang klassische Themen entwicklungspolitischer und friedenspädagogischer Ansätze waren.

Obwohl die sozialwissenschaftliche Forschung generell zu dem Ergebnis kommt, daß es keinen direkten Zusammenhang zwischen Einstellung und Verhalten gibt,40 basieren viele Ansätze im Bereich der Umweltbildung (insbesondere im schulischen Bereich) immer noch auf der Vermittlung kognitiven Wissens. Eine synoptische Untersuchung von 400 empirischen Studien der Umweltbewußtseinsforschung kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, daß fast durchgängig kein oder nur ein sehr schwacher Zusammenhang zwischen dem Umweltwissen und dem Umweltverhalten einer Person nachzuweisen sei. Ebenso gäbe es kaum einen Zusammenhang zwischen dem Umweltbewußtsein und dem Umweltverhalten.41 Eine Lehrerbefragung zur Umwelterziehung kommt zu dem Ergebnis: „Der in der Umweltbildung und Umwelterziehung bisher vorherrschende pädagogische Ansatz, der ja ausdrücklich verhaltensorientiert sein will, knüpft an den Aufbau ökologischen Wissens und Bewußtseins die Erwartung umweltverträglichen Verhaltens. (…) Probleme der Umsetzung von Verhaltensdispositionen in konkretes Verhalten bleiben ausgeblendet bzw. werden marginalisiert.“ 42

Umweltbildung, so der wissenschaftliche Beirat Globale Gefährdungen, bleibe meist auf eine lokale und nationale Sichtweise beschränkt, die der neuen Qualität komplexer globaler Umweltveränderungen nicht gerecht werde. Globale Umweltveränderungen fänden bislang erst in geringem Ausmaße Aufmerksamkeit.43

Der politisch-wirtschaftliche und der politisch-ethische Bereich sind in der Umweltbildung unterrepräsentiert.44 Doch sich als Subjekt ökologischer Veränderungen zu begreifen und in das umwelt(-politische) Geschehen einzugreifen, ist eine der zentralen Aufgaben von Umweltbildung.45 Denn Umweltprobleme sind in der Regel durch Interessengegensätze, unterschiedliche Bewertungen und divergierende Vorstellungen über Handlungskonsequenzen gekennzeichnet. Umweltbildung muß deshalb in den gesellschaftlich-politischen Kontext eingebunden sein muß in weiten Teilen auch zur politischen Bildung werden.46 Dabei darf nicht übersehen werden, daß „ein neues Gesamtbewußtsein des Menschen zu seiner Umwelt die wichtigste Grundlage ist, auf der allein technisch/naturwissenschaftliche Arbeit wirken kann.“ 47

Auch Analysen zur Reichweite entwicklungspädagogischer Bildungsarbeit kommen zu dem Schluß, daß trotz beachtenswerter Erfolge erhebliche Defizite zu verzeichnen seien.48 Bei der Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten und pädagogischen Konzepten für die Auseinandersetzung mit den »globalen Problemen« wie Verschuldung, Umweltzerstörung oder Flüchtlingsbewegungen seien Unsicherheiten und Ungewißheiten hinsichtlich der Problembeschreibung und der Bearbeitungsmöglichkeiten auch in der Entwicklungspädagogik und der Dritte-Welt-Bewegung noch nicht überwunden.49 Die dort verwendeten zentralen Begriffe wie »Eine Welt« und »Globales Lernen« werden erst nach und nach mit Inhalten gefüllt.50 So kann es nicht wundern, daß in der entwicklungspädagogischen Bildungspraxis die Leerstellen überwiegen. Ein von der Kultusministerkonferenz 1995 erstelltes Papier (Zum Unterricht über die »Eine Welt / Dritte Welt«) kommt zu dem Schluß, daß wegen des raschen Wandels in der Entwicklungsdiskussion derzeit noch ein Mangel an geeigneten Schülermaterialien herrsche51 und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit zieht zu Recht ein ernüchterndes Fazit: „Trotz verschiedener erfolgreicher Bemühungen, entwicklungspolitische Fragestellungen in den schulischen Unterricht einzubringen und in die bestehenden Unterrichtsformen zu integrieren – dies gilt insbesondere für den Grundschulbereich –, ist festzustellen, daß entwicklungspolitische Themen gerade im Unterricht häufig noch ein Schattendasein führen. Eine kontinuierliche, interdisziplinäre Behandlung globaler und entwicklungsbezogener Fragestellungen im Laufe der Schulzeit findet kaum statt.“ 52 Dieser Befund für allgemeinbildende Schulen wird auch für den Bereich der beruflichen Schulen bestätigt. Dort komme „entwicklungspolitische Bildung schlicht zu kurz“, so eine 1994 veröffentliche Studie.53 Die jahrzehntelang von den verantwortlichen Stellen vernachlässigte Förderung der Auseinandersetzung mit dem Thema Dritte Welt in den Schulen macht sich jetzt, in Zeiten des politischen und gesellschaftlichen Umbruches, besonders negativ bemerkbar. In Bildungsmaterialien zum Bereich Umwelt und Entwicklung – einem der zentralen neuen Problemfelder – stehen Einzelthemen weitgehend unvermittelt und unverbunden nebeneinander, während integrierende und interdisziplimäre Ansätze, in denen die Vernetzung und wechselseitigen Abhängigkeiten deutlich werden, selten sind. Die Art der Darstellung variiert zwischen Einzelproblemdarstellungen, Falldarstellungen, didaktischen Materialien, Aktions- und Handlungsanleitungen. Bei der Mehrzahl handelt es sich dabei um Einzelproblemdarstellungen und nur wenige didaktische Materialien bauen auf den Erkenntnissen der Forschung auf und berücksichtigen deren neueste Ergebnisse.

Darüber hinaus sind auch eine Reihe von Themenlücken bei didaktischen Materialien zum Thema Umwelt und Entwicklung festzustellen: so werden z.B. die Bereiche Konflikte, Krisen, Kriege als Folge des Spannungsverhältnisses von Umwelt und Entwicklung in didaktischen Materialien bislang nicht thematisiert. Anschauliche und komplexe Verflechtungen der Ursachen und Lösungsmöglichkeiten sind kaum verfügbar. Ebenso fehlen Fallstudien als didaktische Materialien zu konkreten Einzelprojekten. Auch der Themenbereich Umweltgefährdungen und Entwicklungshemmnisse durch Rüstung und Militär (etwa durch Atomtests oder Landminen) ist als Leerstelle zu verzeichnen. Diese Aussagen beruhen auf einer von den Autoren im September 1995 vorgenommenen Sichtung und Bewertung von Unterrichtsmaterialien im Bereich Umwelt und Entwicklung.

Die Friedenspädagogik54 war stets darauf bedacht, vielfältige Aspekte in ihre Arbeit zu integrieren. So wurde z.B. der Gedanke der Völkerverständigung bereits in den 50er Jahren in friedenspädagogischem Kontext aufgegriffen. Die Dritte Welt war unter den Aspekten »Krisen und Kriege« (nicht nur in Zusammenhang mit Rüstungsexporten) stets Gegenstand friedenspädagogischer Bildungsarbeit und der Zusammenhang zwischen Ökologie und Frieden wurde seit 1980 intensiv thematisiert. Notwendige Neuorientierungen, die vor allem in den Bereichen des Umgangs mit (persönlicher, gesellschaftlicher und politischer) Gewalt sowie der konstruktiven Konfliktbearbeitung zu finden sind, werden jedoch nur langsam vollzogen. Insbesondere werden die Notwendigkeit und die Möglichkeiten transnationalen Handelns noch viel zu wenig aufgegriffen.

Zusammenfassend kann man festhalten: Weder die Beschreibung und Analyse, noch die Vermittlung von Zusammenhängen der heutigen zentralen Herausforderungen und Problemlagen lassen sich von den »klassischen« pädagogischen Spartendisziplinen wie entwicklungspolitische Bildung, Umweltbildung, Menschenrechts- oder Friedenserziehung befriedigend bewältigen, wenngleich diese Bereiche ohne Zweifel in ihrem jeweiligen Arbeitsfeld in der Vergangenheit beachtliches geleistet haben. Doch nicht eine naive Integration dieser Bereiche ist anzustreben, sondern die Herausarbeitung der spezifischen gemeinsamen Aufgaben, die eine multiperspektivische und interdisziplinäre Betrachtungs- und Herangehensweise ermöglicht und neue Orientierungshilfen gibt. Dies klar zu fassen, ist zugleich ein wichtiger Beitrag einer zukunftsweisenden politischen Bildung für die Bewältigung globaler Herausforderungen. Dieser Beitrag könnte mit dem Konzept des Globalen Lernens näher identifiziert werden. Das Konzept des Globalen Lernens soll Friedenserziehung, Menschenrechtserziehung, Umweltbildung und entwicklungspolitische Bildungsarbeit nicht ablösen, sondern ihnen eine gemeinsame zukunftsorientierte Dimension verleihen, die über die bisherigen Sichtweisen und praktischen Ansätze hinausreicht.

Gobales Lernen – eine Antwort auf globale Gefährdungen?

Das Konzept des Globalen Lernens wird in den letzten Jahren zunehmend im Bereich der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit diskutiert und in Ansätzen entwickelt. Der Begriff des Globalen Lernens wird dabei nicht einheitlich verwendet. Er soll jedoch deutlich machen, daß dieses Konzept über nationale (oder gar nationalistische) Interessen hinausweist und sich mit den gesellschaftlichen, politischen und sozialen Entwickungen und Zusammenhängen im globalen Raum und damit verbundener pädagogischer Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten beschäftigt. Das Schweizer Forum »Schule für Eine Welt« definiert Globales Lernen als „die Vermittlung einer globalen Perspektive und die Hinführung zum persönlichen Urteilen und Handeln in globaler Perspektive auf allen Stufen der Bildungsarbeit. Die Fähigkeit, Sachlagen und Probleme in einem weltweiten und ganzheitlichen Zusammenhang zu sehen, bezieht sich nicht auf einzelne Themenbereiche. Sie ist vielmehr eine Perspektive des Denkens, Urteilens, Fühlens und Handelns, eine Beschreibung wichtiger sozialer Fähigkeiten für die Zukunft.“ 55 In der Schweiz ersetzt dieser Begriff zunehmend den Begriff des »Lernens für die Eine Welt«.

Für die von Brot für die Welt und dem Verein für Friedenspädagogik 1995 eingerichtete »Schulprojektstelle« und die von ihr herausgegebene Zeitschrift wurde ebenfalls der Name »Globales Lernen« gewählt.

>Die erzieherische und bildungspolitische Umsetzung eines Globalen Lernens ist neben der Vermittlung kognitiver Orientierungen stark in sozialen Lernbereichen angesiedelt. Herkömmliche Unterrichtsformen müssen verändert und ergänzt werden. Dies bedingt auch, die Organisation des Lehrens und Lernens neu zu überdenken. Ziel dieser Anstrengungen muß es dabei sein, den Beitrag der Bildung zur Bewältigung der großen Menschheitsprobleme zu stärken.

Aus der Sicht der Friedenserziehung sollten fünf Grundprinzipien bei der Weiterentwicklung des Konzeptes »Globales Lernen« eine zentrale Rolle spielen:

1. Bezugspunkt: Globale Gefährdungen

Globales Lernen sollte als Bezugspunkte die globalen Gefährdungen der Gegenwart haben. Der Bereich der globalen Gefährdungen wird als zentral für die zukünftige Entwicklung der Menschheit eingestuft. Als Gemeinsamkeiten aller globalen Gefährdungen gelten, daß sie überregional sind, die Mehrzahl der in den betroffenen Gebieten lebenden Menschen betreffen, sich auch auf zukünftige Generationen auswirken und nicht versicherungsfähig sind.56 Denn globale Gefährdungen stellen das herkömmliche Prinzip der Verantwortlichkeit und Verursachung radikal infrage, da sie meist einem komplexen Gebilde von sozialen und technischen Dynamiken, das von niemandem alleine kontrolliert wird, entspringen. Deshalb erfordern globale Gefährdungen neue Denk- und Handlungsweisen, die zu entwickeln eine mindestens ebenso große Herausforderung darstellt, wie die technische Bewältigung der anstehenden Problembereiche. Globale Veränderungen und Herausforderungen beinhalten jedoch nicht nur Gefahren, sondern auch Chancen und Perspektiven – dies sollte auch im Bildungsbereich berücksichtigt werden.

2. Innovatives Lernen ermöglichen

Kreative Problemlösungen, die antizipatorisch und partizipatorisch mögliche Entwicklungen und zukünftige Gegebenheiten in die eigenen Überlegungen einbeziehen, müssen gelernt und zum allgemeinen Bildungsprinzip erhoben werden. Innovatives Lernen steht im Gegensatz zu einem tradierten Lernverständnis, dem es um den Erwerb festgelegter Auffassungen, Methoden und Regeln und somit letztlich um den Erhalt einer etablierten Lebensform geht.57 Innovatives Lernen orientiert sich an der Zukunft, berücksichtigt langfristige Trends sowie die Auswirkungen heutiger Entscheidungen auf spätere Generationen. Vor allem aber: Es arbeitet auf die Realisierung wünschenswerter Ereignisse hin, es versucht Alternativen zu entwickeln und bereitzustellen. Nicht die Ansammlung von Wissen, sondern der Prozeß der Problemlösung steht dabei im Mittelpunkt des Lernens. Wobei sich der Lernprozeß nur gemeinsam mit allen Beteiligten vollziehen kann und ganzheitlich vonstatten gehen muß. Das innovative Lernen verbindet also das vernetzte Denken sowie die gewaltfreie und solidarische Lebensform.

3. Vernetztes Denken vermitteln

Nicht nur die ökologischen Katastrophen der letzten Jahrzehnte, sondern auch zahlreiche Kriege und Krisen haben deutlich gemacht, daß sowohl bei der Problemanalyse als auch bei der Frage nach Handlungsmöglichkeiten nicht einzelne Entwicklungen und Phänomene isoliert betrachtet werden dürfen. Entscheidend ist das Zusammenwirken verschiedener Ursachenstränge, so daß auch vielfältige Bearbeitungsansätze notwendig werden. Die isolierte Veränderung nur einer Variablen kann nicht nur zu unvorhergesehenen Reaktionen führen, sondern geradezu neue gravierende Probleme schaffen. Weder bei ökologischen Entwicklungen noch bei politischen Krisen oder Gewaltkonflikten gibt es also einfache Ursache-Wirkung-Zusammenhänge. Das Denken in vernetzten Systemen ist zwar ungewohnt, für Politik und Bildung jedoch unabdingar.58

4. Zum solidarischen Leben ermutigen

Durch den eigenen Lebensstil gilt es, Solidarität mit anderen auszudrücken. Das Bild von der »Einen Welt« ist nicht nur eine Zukunftshoffnung. Es ist in vielen Bereichen bereits Beschreibung von Wirklichkeit. Dennoch realisieren wir in unserem Alltag kaum, wie die Lebensweisen der einen eng mit dem Schicksal der anderen zusammenhängen. Solidarisch, im Bewußtsein der »Einen Welt« zu leben, bedeutet, Auswirkungen des eigenen Lebensstils auf die Lebens- und Arbeitssituation anderer Menschen in anderen (oft weit entfernten) Ländern und auf die gesamte Biosphäre mitzubedenken. Dazu gehört auch die Einsicht, daß unser Wohlstands- und Konsummodell nicht auf andere Länder übertragbar ist.

Wollen reiche Länder ihren Wohlstand langfristig sichern, müssen sie neue Wohlstandsmodelle entwickeln, denn die alten sind nicht zukunftsfähig. Ein neuer Lebensstil, der geprägt ist von »Langfristigkeit«, von Genügsamkeit und »Gemächlichkeit«59, ist Voraussetzung für eine gemeinsame Entwicklung der Erde. Der Club of Rome sieht folgende Prinzipien eines solidarischen Lebens:

  • Wenn wir einen Weg durch den vielschichtigen und verschlungenen Problemkomplex unserer Zeit finden wollen, ist notwendig, daß jeder einzelne einen engagierten Beitrag leistet.
  • Wir müssen erkennen, daß den Motiven und Werten, die unser Verhalten bestimmen, die Möglichkeiten positiver Veränderung innewohnen.
  • Wir müssen begreifen, daß das Verhalten einer Nation und einer Gesellschaft das Verhalten ihrer Bürger widerspiegelt.
  • Wir dürfen von seiten der Regierungschefs keine drastischen Lösungen erwarten, sondern müssen davon ausgehen, daß Tausende kleiner und kluger Entscheidungen, in denen sich das neue Bewußtsein von Millionen von Menschen widerspiegelt, notwendig sein werden, das Überleben der Gesellschaft zu sichern.
  • Wir müssen dem Prinzip Geltung verschaffen, daß Privilegien von Individuen oder Nationen stets mit einem entsprechenden Maß an Veranwortung verbunden sein müssen.60

5. Zur gewaltfreien Konfliktaustragung befähigen

Veränderungs- und Transformationsprozesse verlaufen nie ohne (z.T. tiefgreifende) Konflikte. Entscheidend ist jedoch, wie und mit welchen Mitteln diese ausgetragen werden. Eine der wesentlichsten und wichtigsten Aufgaben für Globales Lernen ist es deshalb, Wissen, Fähigkeiten und die Bereitschaft zur konstruktiven Konfliktaustragung zu fördern und hierzu entsprechende Programme bereitzustellen. Dies bezieht sich sowohl auf den individuellen, gesellschaftlichen als auch auf den internationalen Bereich, zumal die beobachtbare Differenzierung in eine Staaten- und eine Gesellschaftswelt neue Handlungsspielräume für Individuen, Gruppen und Verbände eröffnet.

Denn nur wenn es gelingt, anerkannte Verfahren zur Auseinandersetzung mit Konflikten zu etablieren, Konflikte durch Verhandlungen zu lösen oder durch vielfältige konstruktive Methoden gewaltfrei auszutragen, ist eine gemeinsame Entwicklung möglich.

Probleme und Gefahren

Doch auch die konzeptionellen Überlegungen zu einem Globalen Lernen werfen eine Reihe prinzipieller Fragen auf:

So ist die Gefahr einer neuen Etikettierung alter Praxis nicht zu verkennen. Dies macht sich besonders dort bemerkbar, wo im Zuge eines (vermeintlichen Trends oder Zeitgeistes) bisherige Praxis, Ausarbeitungen oder Reflexionen, vor allem im Bereich entwicklungspolitischer Bildungsarbeit, nun mit dem Begriff des Globalen Lernens belegt werden.

Da Bildungsansätze prinzipiell einer langfristigen Orientierung bedürfen, ist die Anfrage, ob angesichts des raschen Wandels und der Schnelligkeit, mit der sich Problemlagen zuspitzen, überhaupt ausreichend Zeit für solche Bildungsprogramme zur Verfügung steht, äußerst ernst zu nehmen.

Eine dritte Anfrage bezieht sich auf die Ernsthaftigkeit der Forderungen. So hat die Hervorhebung der Bedeutung von Bildung und Erziehung durch Politik und Wissenschaft bei der Bewältigung globaler Probleme so lange nur Symbol- und Legitimationscharakter als keine ernsthaften Bemühungen zu erkennen sind, zukunftsorientierte Lernprozesse auf allen bildungspolitischen Ebenen zu initiieren und zu fördern.

Zentral scheint auch zu sein, daß einschneidende und tiefgreifende Bildungsprozesse, wenn sie nicht in gesellschaftlichen Nischen verbleiben sollen, immer einer Flankierung durch eindeutige politische Signale und Umorientierungen bedürfen. Diese Umorientierungen sind bislang nicht festzustellen. Wohl aber ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß zukunftsorientierte politische Bildung (und als solche ist auch das Konzept des Globalen Lernens zu verstehen) ständig in der Gefahr ist, politisch vereinnahmt und instrumentalisiert zu werden. Damit würden jedoch sämtliche Chancen eines Globalen Lernens zunichte gemacht.

Anmerkungen

1) Vgl. Regine Mehl „50 Jahre UNESCO: Das Programm »Kultur des Friedens““. In: AFB-Info 2/95. Mitteilungen der Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn.
Vgl. United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization: First Consultative Meeting of the Culture of Peace Program. Paris, 27-29 September 1994. Final Report. Die vorliegenden überarbeiteten Beiträge erscheinen in einem von W. Vogt herausgegebenen Sammelband im Frühsomer 1996 im agenda Verlag, Münster. Zurück

1a) Vgl. Tobias Debiel: Kriege, in: Ingomar Hauchler (Hg.): Globale Trends 1995/96. Frankfurt a.M. 1995 (i.E.). Zurück

2) Roger Fisher / William Ury / Bruce Patton: Das Harvard-Konzept: Sachgerecht verhandeln – erfoglreich verhandeln. 10. Aufl. Frankfurt / New York 1991, S.199. Zurück

3) Vgl. zusammenfassend David W. Augsburger: Conflict Mediation Across Cultures. Pathways and Patterns. Louisville, Kentucky 1992. Zurück

4) Vgl. Joseph A. Scimecca: Conflict Resolution in the United States: The Emergence of a Profession?, in: Kevin Avruch / Peter W. Black / Joseph A. Scimecca (Hg.): Conflict Resolution. Cross-Cultural Perspectives. Westport, Conn. / London 1991, S. 19 – 39. Zurück

5) Vgl. Roger Fisher / William Ury / Bruce Patton: Getting to Yes. Negotiating Agreement Without Giving in. New York u.a. 1991 (deutsche Ausgabe: dies.: Das Harvard-Konzept. Sachgerecht verhandeln – erfolgreich verhandeln. Frankfurt / New York 1993); William L. Ury / Jeanne M. Brett / Stephen Goldberg: Getting Disputes Resolved. San Francisco 1988 (deutsche Ausgabe: dies.: Konfliktmanagement. Wirksame Strategien für den sachgerechten Interessenausgleich. Frankfurt / New York 1991); William Ury: Getting Past No. Negotiating Your Way From Confrontation to Cooperation. New York u.a. 1993; Roger Fisher / Elizabeth Kopelman / Andrea Kupfer Schneider: Beyond Machiavelli. Tools for Coping with Conflict. Cambridge, Mass. / London 1994. Zurück

6) Für diese Bereiche gibt es dementsprechend auch eine Reihe von Lehrbüchern zur Mediation, auf die sich auch die folgende Zusammenfassung stützt. Vgl. exemplarisch Jay Folberg / Alison Taylor: Mediation. A Comprehensive Guide to Resolving Conflicts Without Litigation. San Francisco 1984; Christopher W. Moore: The Mediation Process. Practical Strategies for Resolving Conflict. San Francisco 1986 und als erste deutschsprachige Einführung Christoph Besemer: Mediation. Vermittlung in Konflikten. Baden 1993. Zurück

7) Vgl. Christoph Thomann / Friedemann Schulz von Thun: Klärungshilfe. Handbuch für Therapeuten, Gesprächshelfer und Moderatoren in schwierigen Gesprächen. Theorien, Methoden, Beispiele. Reinbek 1988. Zurück

8) Vgl. Christopher Moore, a.a.O. (Anm. 7), S. 172ff. Zurück

9) Vgl. zu diesem Aspekt kreativer Konfliktbearbeitung vor allem Edward DeBono: Konflikte. Neue Lösungsmodelle und Strategien. Düsseldorf 1989. Zurück

10) Vgl. Christoph Thomann / Friedemann Schulz von Thun, a.a.O. (Anm. 7). Zurück

11) Vgl. Klaus W. Vopel: Handbuch für Gruppenleiter. Zur Theorie und Praxis der Interaktionsspiele. Hamburg 1978; ders.: Interaktionsspiele. 6 Bände. Hamburg 1978. Zurück

12) Vgl. Karin Klebert / Einhard Schrader / Walter Straub: ModerationsMethode. Gestaltung der Meinungs- und Willensbildung in Gruppen, die miteinander lernen und leben, arbeiten und spielen. Hamburg 1989. Zurück

13) Vgl. Robert Jungk / Norbert Müllert: Future Workshops. How to Create Desirable Futures? London 1987. Zurück

14) Roger Fisher / William Ury / Bruce Patton, a.a.O. (Anm. 5), S. 112ff. Zurück

15) Ebenda, S. 81ff. Zurück

16) Vgl. Robert A. Baruch Bush / Joseph P. Folger: The Promise of Mediation. Responding to Conflict Through Empowerment and Recognition. San Francisco 1994. Zurück

17) Vgl. die entsprechende Kritik für die ADR-Initiativen in Osteuropa und der früheren Sowjetunion bei Richard E. Rubinstein: Dispute Resolution on the Eastern Frontier: Some Questions for Modern Missionaries, in: Negotiation Journal 8, 3 (1992), S. 205-213. Zurück

18) Vgl. zu den Erfolgskriterien Empowerment und Recognition Robert A. Baruch Bush / Joseph P. Folger, a.a.O. (Anm. 16), S. 84ff. und zur Beziehungsverbesserung unten den Ansatz der »Interactive Conflict Resolution«-Bewegung. Zurück

19) Vgl. Kevin Avruch / Peter W. Black: Ideas of Human Nature in Contemporary Conflict Resolution Theory, in: Negotiation Journal 6 (1990), S. 221 – 228. Zurück

20) Vgl. Mark Hoffman: Third-Party Mediation and Conflict Resolution in the Post-Cold War World, in: John Baylis / N.J. Rengger (Hg.): Dilemmas of World Politics. Oxford 1992, S. 261 – 286. Zurück

21) Vgl. die Zusammenfassung bei David W. Augsburger: Conflict Mediation Across Cultures. Pathways and Patterns. Louisville, Kentucky 1992; Michelle LeBaron Duryea: Conflict and Culture. A Literature Review and Bibliography. Victoria: UVic Institute for Dispute Resolution 1992. Zurück

22) Vgl. zur Charakterisierung dieser Dimension Geert Hofstede: Cultures and Organizations. Software of the mind. London u.a. 1991. Hofstede unterscheidet nationale Kulturen ferner mit Hilfe der Dimensionen »Power Distance«, »Masculinity – Femininity« und »Uncertainty Avoidance«. Auch sie dürften einen erheblichen Einfluß auf die Konfliktkultur haben, wie die ersten empirischen Studien im Bereich der Geschäftswelt wie des Universitätsmilieus zeigen. Zurück

23) John Paul Lederach: Mediation in North America: An Examination of the Profession's Cultural Premises. Akron, Pa. 1985; ders.: Of Nets, Nails, and Problems: The Folk Language of Conflict Resolution in a Central American Setting, in: Kevin Avruch / Peter W. Black / Joseph A. Scimecca, a.a.O. (Anm. 19), S. 165 – 186. Zurück

24) Vgl. David W. Augsburger, a.a.O. (Anm. 21). Zurück

25) Vgl. das Interview mit Mohammed Sahnun in: Der Spiegel 26/1993, S. 141/2. Zurück

26) Vgl. Richard Brislin / Tomoka Yoshida: Intercultural Communication Training: An Introduction. Thousand Oaks u.a. 1994; dies. (Hg.): Improving Intercultural Interactions. Modules for Cross-Cultural Training Programs. Thousand Oaks u.a. 1994; Paul Pedersen: A Handbook For Developing Multicultural Awareness. 2. Aufl. Alexandria, Virginia 1994. Zurück

27) Vgl. exemplarisch Heike Blum / Gudrun Knittel: Training zum gewaltfreien Eingreifen gegen Rassismus und rechtsextreme Gewalt. Eine Methodensammlung und Diskussionsanregung. Köln 1995. Zurück

 

28) Vgl. u.a.: Umwelt und Entwicklung. Bericht der Bundesregierung über die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung in Juni 1992 in Rio des Janeiro. BMZ (Hrsg.): Entwicklungspolitik, Materialien Nr. 84, Bonn 1992. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen: Welt im Wandel: Wege zur Lösung globaler Umweltprobleme. Jahresgutachten 1995. Heidelberg 1996. Vgl. aber auch die verschiedenen Regierungserklärungen und öffentlichen Stellungnahmen von Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland. U.a.: Richard von Weizsäcker: Ansprache bei der Eröffnungsveranstaltung zur Ersten Europäischen Konferenz für Umwelt und Gesundheit der WHO. In: Ders.: Reden und Interviews (6), Bonn 1990, S. 134ff. Zurück

29) Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, a.a.O., S. 7. Zurück

30) Bericht der Bundesregierung, a.a.O., S. 66. Zurück

31) UNESCO heute, IV, 1994, S. 479. Zurück

32) Nachbarn in Einer Welt. Der Bericht der Kommission für Weltordnungspolitik. The Commission on Global Governance. Bonn 1995, S. 48. Zurück

33) Ebd., S. 54. Zurück

34) Die Beschränkung auf politische Bildungsarbeit wird hier deshalb vorgenommen, da im Rahmen des Projektes nicht technisches Know-how zur Krisenbewältigung, sondern notwendige gesellschaftliche Lernprozesse bearbeitet werden sollen. Zurück

35) Vgl. u.a. Spiegel Special, November 1994: Die Eigensinnigen. Selbstportrait einer Generation. Zurück

36) Vgl. Klaus-Peter Hufer: Zur Bedeutung der politischen Bildung. In: Landesverband der Volkshochschulen Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Handbuch Weiterbildung. O.O. 1994, S. 96ff.; vgl. Politische Bildung an Volkshochschulen in Zahlen. In: Die Zeitschrift für Erwachsenenbildung. 1. Jg., Nr. 3/1994, S. 37. Zurück

37) Vgl. u.a.: Klaus-Peter Hufer: Politische Bildung: Streitpunkte und Konfliktlinien – eine analytische Bestandsaufnahme. In: Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (Hrsg.): Außerschulische Bildung, Heft 2/95, S. 161ff. Zurück

38) Vgl. Das Parlament, 29.9.1995, Das politische Buch IX. Zurück

39)  Vgl. Jochen Buchsteiner: Wenn Helfer zuviel helfen. In: Die Zeit, 7.7.1995, S. 3. Der Menschenrechtsreferent des Diakonischen Werkes der EKD, Werner Lottje bescheinigt der bundesdeutschen Menschenrechtsarbeit gar erhebliche Strukturmängel, wie z.B. mangelnde Forschungskapazitäten, fehlende systematische Informations- und Dokumentationsarbeit, zu wenige professionelle Organisationen und Mitarbeiter und zu wenig präventive Diplomatie. Vgl. Werner Lottje: Deutschlandein Entwicklungsland? Mängel in der Menschenrechtsarbeit in der Bundesrepublik. In: Der Überblick, 3/94, S. 121ff. Zurück

40) Vgl. Evelien Mayer: Begleitforschung zur Umwelterziehung in der beruflichen Ausbildung. In: Günter Eulefeld / Dietmar Bolscho / Hansjörg Seybold (Hrsg.): Umweltbewußtsein und Umwelterziehung. IPN, Kiel 1991, S. 230. Zurück

41) Vgl. U. Kuckartz: Umweltbildung und Umweltbewußtsein, Berlin 1994. Zurück

42) Gerd-Jan Krol: Begründungen eines eigenständigen sozialökonomischen Beitrages zur Umweltbildung und UmwelterziehungLehrerbefragung zur Umwelterziehung. In: Eulefeld u.a., a.a.O., S. 137. Vgl. auch Albert Ilien: Schulische Bildung in der Krise. Aufsätze zur Öffnung der Schule, Umweltbildung und Selbstregulierung. Hannover 1994; und Ernst Ulrich von Weizsäcker / Uta von Winterfeld: Umwelterziehung war erst der Anfang. In: Jahrbuch Ökologie 1995. München 1994, S. 94ff. Zurück

43) Vgl. Wissenschaftlicher Beirat, Jahresgutachten 1995, S. 51. Zurück

44) Günther Eulefeld u.a., a.a.O., S. 39ff. Zurück

45) Vgl. Norbert Reichel: Demokratie und Umweltbildung in Deutschland: Es wird Zeit für neue Ideen. In: Hansjörg Seybold / Dietmar Bolscho (Hrsg.): Umwelterziehung. Bilanz und Perspektiven. IPN, Kiel 1993, S. 39. Zurück

46) Vgl. Wissenschaftlicher Beirat, Jahresgutachten 1995, a.a.O., S 39. Zurück

47) Gerade in diesem Bereich seien die größten Defizite festzustellen, so Reinhold E. Lob. Vgl. Reinhold E. Lob: Zum Stand der Bemühungen um Umwelterziehung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Jörg Calließ / Reinhold E. Lob: Praxis der Umwelt- und Friedenserziehung. Band 1: Grundlagen. Düsseldorf 1987, S. 287. Diese Einschätzung trifft auch heute, nach nahezu zehn Jahren, noch zu. Zurück

48) Vgl. Annette Scheunpflug / Klaus Seitz (Hrsg.): Selbstorganisation und Chaos. Entwickungspolitik und Entwicklungspädagogik in neuer Sicht. Edition Differenz, Band 2. Tübingen 1993. Annette Scheunpflug, / Alfred K. Treml: Entwicklungspolitische Bildung. Bilanz und Perspektiven in Forschung und Lehre. Ein Handbuch. Tübingen / Hamburg 1993. Annette Scheunpflug / Klaus Seitz / Alfred K. Treml: Die pädagogische Konstruktion der Dritten Welt. Geschichte der entwicklungspolitischen Bildung. Band 1: Theorieliteratur, Unterrichts- und Arbeitsmaterialien. Band 2: Schule und Lehrerbildung. Band 3: Jugend- und Erwachsenenbildung. Band 4: Die pädagogische Konstruktion der Dritten Welt – Bilanz und Perspektiven. Frankfurt/M. 1994. Zurück

49) Vgl. David Simo: Kritische Reflexionen über die »Eine Welt«. In: Stiftung Entwicklungszusammenarbeit Baden-Württemberg (Hrsg.): Lernen für die Eine Welt. Dokumentation des Bildungskongresses in Freiburg, 19.11. – 21.11.1992. Tübingen 1993, S. 31ff. Zurück

50) Vgl. Klaus Seitz: Eine Welt für alle? Herausforderungen für die Dritte-Welt-Bewegung und Entwicklungspädagogik. In: Jahrbuch Frieden 1994. München 1993, S. 249ff. Forum »Schule für eine Welt« (Hrsg.): Globales Lernen in der Schweiz. Eine Studie zum Stand, zu den Erwartungen und Perspektiven des Globalen Lernens in der Schweiz. Jona 1995. Zurück

51) Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. Zum Unterricht über die »Eine Welt/Dritte Welt«. Stand: März 1995, (von der Kultusminiserkonferenz am 12.5.1995 als Zwischenergebnis zur Kenntnis genommen) S. 21. Zurück

52) Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Referat Presse und Öffentlichkeitsarbeit: Entwicklungspolitische Bildungarbeit in Schulen. BMZ aktuell 035. Bonn, o.J.: (1994), S. 2. Zurück

53) Vgl. Annette Scheunplfug / Barbara Toepfer (Bearb.): Eine Welt in beruflichen Schulen. Bestandsaufnahme und Perspektiven entwicklungsbezogenen Lernens. Forschungsberichte des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Köln 1994. Zurück

54) Trotz aller Ausdifferenzierungen wird hier der zusammenfassende Begriff »Friedenspädagogik« verwendet. Zum Diskussionsstand vgl. Günther Gugel / Uli Jäger: Gewalt muß nicht sein. Einführung in friedenspädagogisches Denken und Handeln. Tübingen 1994. Zurück

55) Forum »Schule für Eine Welt« a.a.O., S. 9. Eine 1995 im SPAK-Verlag erschienene Handreichung zum Themenbereich Dritte Welt/Eine Welt trägt den Titel »Globales Lernen«. Vgl. Inge Ruth Marcus / Trudie und Heinz Schulze: Globales Lernen. Projekte – Prozesse – Perspektiven. München 1995. Eine erste systematische Klärung unter Lernzielaspekten versucht Christian Graf-Zumsteg: Die Rolle der Bildung in der einen Welt. In: Inge Ruth Marcus / Trudi und Heinz Schulze, ebd., S. 17-27. Zurück

56) Vgl. Michael Zürn: Globale Gefährdungen und internationale Kooperation. In: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Der Bürger im Staat, Heft 1/1995: Sicherheitspolitik unter geänderten weltpolitischen Rahmenbedingungen. S. 49ff. Zurück

57) Der Begriff »innovatorisches Lernen« wird in Anlehnung an den 1979 von Club of Rome herausgegebenen Bericht verwendet. Vgl. Aureliao Peccei (Hrsg.): Das menschliche Dilemma. Zukunft und Lernen. Bericht an den Club of Rome. Wien u.a. 1979. Vgl. auch: Hans H. Wilhelmi: Welche »Bildung« für die Zukunft. In: Zeitschrift für Entwicklungspädagogik, 15. Jg., Heft 1, März 1992, S. 2ff. Wir betrachten innovatorisches Lernen als Teilbereich des Globalen Lernens. Zurück

58) Den Begriff des vernetzten Denkens hat Frederic Vester populär gemacht. Vgl. Frederic Vester: Unsere Welt, ein vernetztes System. Stuttgart 1978. Vgl. auch Dietrich Dörner: Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek 1992. Zurück

59) Vgl. Projektstelle UNCED '92 des Deutschen Naturschutzringes u.a. (Hrsg.): Unser trügerischer Wohlstand. Ein Beitrag zu einer deutschen Ökobilanz. Wuppertal 1992, S. 44. Zurück

60) Vgl. Spiegel Special 2/1991, Eine globale Revolution. Bericht des Club of Rome 1991. Zurück

Christiane Lammers, Redaktion W & F
Dr. Norbert Ropers ist Leiter der Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung Berlin.
Christine M. Merkel arbeitet bei der Deutschen UNESCO-Kommi
ssion in Bonn und Dr. Jörg Calließ ist Studienleiter der Ev. Akademie Loccum.
Günther Gugel und Uli Jäger sind Mitarbeiter im Verein für Friedenspädagogik in Tübingen.