Hochzeit von Unvereinbarkeiten?

Hochzeit von Unvereinbarkeiten?

Zum Verhältnis von militärischer und ziviler Konfliktbearbeitung

von Albert Fuchs

Zivil-militärische Zusammenarbeit, wie sie von politischer und militärischer Seite seit Ende der 1990er Jahre im Zusammenhang diverser militärischer »Friedenseinsätze« out of area vor allem als Strategie des Peacebuilding propagiert wird, fokussiert die Bearbeitung »fremder« Konflikte. Die Interventen sind unweigerlich in den Konflikt einbezogen, im problematischsten Fall mehr oder weniger offen und eindeutig an der Seite einer originären Konfliktpartei, im günstigsten als allseits akzeptierte – u.U. gleichwohl »robuste« – Mediatoren, die eine Konflikttransformation betreiben und insofern eine Art Metakonflikt induzieren, mit den ursprünglichen Konfliktparteien und ihnen selbst als Konfliktparteien zweiter Ordnung. Der folgende Beitrag vergleicht die Handlungslogik von militärischer und ziviler Konfliktbearbeitung unter der Leitfrage möglicher Koordination oder gar Kooperation.1

Zwischen militärischem und zivilem Ansatz der Konfliktbearbeitung bestehen zumindest prima facie unversöhnliche Gegensätze. Sie sollen hier zunächst mit Hilfe einiger konfliktanalytischer Schlüsselkonzepte herausgearbeitet werden. In einem weiteren Schritt werden »Übergänge«, vermittelnde Konzeptionen, diskutiert. Bilanzierend wird schließlich aus grundsätzlich (militär)gewaltkritischer Sicht die Leitfrage möglicher Koordination oder Kooperation zu beantworten versucht.

Konfliktanalyse

Sozialwissenschaftliche Konfliktforschung wird sehr unterschiedlich betrieben. Das beginnt bereits beim Konfliktbegriff. Für die Zwecke dieses Beitrags ist ein Konfliktbegriff angezeigt, der von spezifischen Konfliktinhalten, Austragungsformen, Akteursebenen u.s.w. abstrahiert. Eine solche abstrakte Konzeption liegt dem dual-concern-Modell zugrunde (z.B. Rubin et al., 1994). Im Zentrum dieses Modells stehen Interessen oder Erwartungen (concerns) und Konfliktstrategien.

Soziale Konflikte drehen sich grundsätzlich um Interessen von mindestens zwei Parteien; und zwar um Interessen i.w.S., d.h. um nahezu beliebige Werte: Sachgüter und deren Besitz (Interessen i.e.S.), (kollektive) Überzeugungen, normative Vorstellungen, soziale Beziehungen und Positionen, Zugehörigkeiten und Identitäten. Entscheidend ist, dass die auf dem Spiel stehenden Interessen als solche wahrgenommen und kommuniziert werden. Im Fall der Auseinandersetzung von zwei Parteien lassen sie sich in Form von zwei orthogonalen Dimensionen darstellen. Mit dieser Zuordnung soll auch angedeutet werden, dass im Konfliktfall die fraglichen Interessen – im Gegensatz zu bestimmten, konkreten Ansprüchen – sich nicht von vornherein ausschließen. Ihr Verhältnis wird vielmehr grundlegend durch die Strategiewahl der Kontrahenten bestimmt.

Konfliktstrategien sind im Hinblick auf den (zweidimensionalen) Interessenraum zu konzipieren. Damit ist die Hypothese verbunden, dass die Strategiewahl der Akteure – nicht ausschließlich, aber wesentlich – davon abhängt, in welchem Verhältnis die Orientierung an den eigenen Interessen zur Berücksichtigung der Kontrahenten-Interessen steht. Entsprechend den Extremausprägungen der Interessendimensionen ergeben sich vier Hauptstrategien:

  • Vermeiden (avoiding, inaction): Zu dieser Konfliktstrategie kommt es, wenn eine Partei weder die eigenen Ansprüche nach die der Gegenpartei zufrieden zu stellen versucht. Es wird nichts unternommen, um den Konflikt zu den eigenen oder des anderen Gunsten beizulegen (lose-lose-Lösung).
  • Nachgeben (yielding): Bei geringer Orientierung an den eigenen Interessen, aber starker Berücksichtigung der Interesse der anderen Partei kommt es hochwahrscheinlich zum Nachgeben, sei es in Form einer vollständigen Kapitulation oder unverhältnismäßiger Zugeständnisses (lose-win-Lösung).
  • Konkurrieren/Sich durchsetzen (contending): Diese Strategie tritt auf, wenn ein Akteur ausschließlich oder zumindest vorwiegend auf die Erfüllung der eigenen Ansprüche abstellt (win-lose-Lösung).
  • Problemlösen/Kooperieren (problem solving): Diese Strategie wird vorwiegend gewählt, wenn die Interessen beider Parteien Berücksichtigung finden, der Akteur sowohl die eigenen Ziele erreichen will als auch die Ansprüche des Konfliktpartners adäquat zu berücksichtigen versucht (win-win-Lösung).

Das Modell braucht hier nicht weiter erörtert werden. Es sei jedoch noch darauf hingewiesen, dass die vier Hauptstrategien ähnlich abstrakt konzipiert sind wie die Interessendimensionen, demnach immer in Form konkreter Techniken realisiert werden. Insbesondere stellt die vielfach als eigentlicher Gegenstand der Konfliktforschung geltende gewaltsame Konfliktaustragung eine spezifische Variante des Versuchs einseitiger Interessendurchsetzung dar. Gewaltsam ausgetragene Konflikte erhalten allerdings zu Recht besondere Aufmerksamkeit, weil sie unter funktionalen wie unter normativen Gesichtspunkten besonders problematisch sind.

Eine nicht modellspezifische, aber empirisch gut bewährte allgemeine Annahme der Konfliktforschung besagt, dass Eskalationsprozesse in der Regel mit qualitativen Veränderungen des kognitiv-moralischen Funktionsniveaus der Kontrahenten bzw. des normativen Bezugssystems einhergehen (z.B. Glasl, 1997).

Unvereinbarkeiten

Im Lichte des skizzierten konfliktanalytischen Instrumentariums erscheint militärische Konfliktbearbeitung auf eine Strategie einseitiger Interessendurchsetzung angelegt, mit Gewalt als typischer und positiv sanktionierter Austragungsform. Damit verbunden ist, insbesondere im Hinblick auf extremere Eskalationsverläufe, eine (antizipatorische) Partikularisierung des normativen Bezugssystems.

Interessendurchsetzung

Militär stellt grundsätzlich ein Instrument der (staatlichen) Interessendurchsetzung dar. Die zentrale Hintergrundannahme bildet das »realpolitische« Nullsummendogma, wonach der Vorteil der einen Seite dem Nachteil der anderen entspricht und umgekehrt. Der Sachverhalt wird freilich unterschiedlich deutlich ausgesprochen. Klaus Naumann, seinerzeit Vorsitzender des Nato-Militärausschusses und vormals Generalinspekteur der Bundeswehr, brachte ihn im Zusammenhang des Kosovo-Kriegs in geradezu brutaler Offenheit zum Ausdruck: „Wir sollten (vielmehr) die Planungen auf das ehrgeizige Ziel ausrichten, dem Gegner unseren Willen aufzuzwingen.“ (FAZ, 01.10.99)

Gegenüber einer solchen Einlassung im Kontext eines Angriffskriegs liegt die Frage nahe, ob sie auch auf das militärmachtpolitische Konfliktverständnis im Fall strikter Verteidigung zutrifft. Nach der Charta der VN und der Verfassung der BRD ist militärische Verteidigung auf einen »Verteidigungsfall« bezogen, dient der Abwehr eines bewaffneten Angriffs oder eines unmittelbar drohenden Angriffs mit Waffengewalt (Art. 51 UNCh; Art. 115a GG). Demnach geht es im Fall von (strikter) Verteidigung um die Vereitelung gegnerischer Angriffe und insofern ebenfalls um Interessendurchsetzung, allerdings reaktiver und obstruktiver Natur.

Interessendurchsetzung ist jedoch kein Spezifikum militärischer Konfliktbearbeitung, sondern zumindest im Versuch ein ubiquitäres Merkmal »naturhaften« Konfliktverhaltens. Wenn man allerdings »zivil« in dem Ausdruck »zivile Konfliktbearbeitung« im emphatischen Sinn versteht, d.h. im Sinn von »konstruktiv«, ist der Gegensatz von militärischer und ziviler Konfliktbearbeitung im Kern bereits in dieser strategischen Grundorientierung verankert. Der Gegenüberstellung von militärischer und ziviler Konfliktbearbeitung liegt in der Regel dieses Wortverständnis zugrunde. Entscheidend ist bei in diesem Sinn ziviler Konfliktbearbeitung, dass den Akteuren an den Interessen des Konfliktpartners kaum weniger gelegen ist als an den eigenen. Dadurch wird die Konstellation als Problem (re)definiert, das nicht durch eingefahrene einseitige Durchsetzungstechniken gelöst werden kann, sondern nur in kreativer Kooperation. Sie soll zu Lösungen führen, die für möglichst alle Beteiligten akzeptabel sind und im Idealfall win-win-Charakter haben (vgl. Brinkmann, 2000).

Instrumentelle Gewalt

Militär ist staatlich organisierte und gesellschaftlich grundsätzlich positiv sanktionierte Gewalt im Wartestand. Militärmaßnahmen beinhalten wesentlich die Androhung oder Anwendung von verletzender und tötender Gewalt im Dienst der Interessendurchsetzung. Zivile Konfliktbearbeitung in dem erläuterten Sinn schließt den erklärten Verzicht auf verletzende und tötende Gewalt ein. Denn unabhängig von seinem Verhalten ist dem Gegner ein Grundinteresse an der Vermeidung entsprechender Gewalterfahrung zu unterstellen und zuzugestehen. Man kann die konfliktbezogenen gegnerischen Interessen nicht respektieren und ihre vitalen Voraussetzungen negieren. Doch auch in der weiteren Bedeutung von »zivil« liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen ziviler und militärischer Konfliktbearbeitung im Verhältnis zur Gewalt als Mittel der Interessendurchsetzung. Zwar kommt es auch bei Austragung von Konflikten zwischen »Zivilisten« nur allzu oft zum Rückgriff auf Gewalt. Im Unterschied zur militärischen wird jedoch Gewalt im »Zivilleben« prinzipiell negativ sanktioniert und nur ausnahmsweise, wenn „durch Notwehr geboten“, als „nicht rechtswidrig“ toleriert (§ 32 StGB).

Damit wird nicht vorausgesetzt, dass militärische Gewalt keinen (völkerrechtlichen oder gar keinen ethischen) Normen unterliegt (s.u.). Die (potenziellen) Gewaltakteure sollen jedoch auch die Durchsetzung der einschlägigen Normen garantieren, sind also u.U. Straftäter und Strafverfolgungsbehörden gleichsam in Personalunion. Vor allem aber wird die Idee einer normativen Einhegung militärischer Gewalt konterkariert durch das programmatische militärstrategische Konzept der »Eskalationsdominanz«. Zur Blütezeit des Abschreckungsregimes verstand man darunter i.B. die Fähigkeit einer Nuklearmacht, bei einer Eskalation der eingesetzten Gewaltmittel in die nukleare Ebene den Gegner immer noch übertreffen zu können. Dieser Grundgedanke dürfte allerdings für das militärische Gewaltkalkül überhaupt charakteristisch sein. Er impliziert in letzter Konsequenz den Vernichtungskrieg und damit eine Negation jeder »zivilen Konfliktbearbeitung«.

Normen-Partikularismus

Spätestens mit der Charta der VN wurden die tatbestandlichen Voraussetzungen eines völkerrechtskonformen Rückgriffs auf militärische Gewalt kodifiziert (Art. 51 UNCh) und ebenso wird ihre Ausübung durch das humanitäre Kriegsvölkerrecht (im Grundsatz) geregelt. Der Schlüsselbegriff des „bewaffneten Angriffs“ als Voraussetzung der Wahrnehmung des „naturgegebenen Rechts zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ gemäß Art. 51 wurde aber bisher nicht verbindlich präzisiert. Und was die Befugnis zu Tötungshandlungen beispielsweise des deutschen Militärs betrifft, das nach Art. 1 Abs. 3 GG als Teil der Exekutive an die Grundrechte des Grundgesetzes gebundenen ist, so ist sie gesetzlich keineswegs in einer Weise geregelt, wie es den Anforderungen des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebotes entspräche (Kutscha, 2004).

Solche Schwachstellen im normativen Bezugssystem sind Einfallstore für eine fatale, nicht nur praktische, sondern prinzipielle rechtliche und moralische Entpflichtung. So suchten mit Kriegshandlungen befasste deutsche Gerichte auch in jüngster Zeit Zuflucht in der Annahme eines völkerrechtlichen Ausnahmezustands, „der seinem Wesen nach auf Gewaltanwendung ausgerichtet ist und die im Frieden geltende Rechtsordnung weitgehend suspendiert.“ (Bundesgerichtshof, 2003 – zit. nach Kutscha, 2004, S.237, mit weiteren Belegen). Damit wird Carl Schmitts berüchtigte Lehre vom Ausnahmezustand, in dem „die Autorität…, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht“, wiederbelebt (zit. nach Kutscha, ebd.). Auf der gleichen Linie liegen augenscheinlich Forderungen hoher deutscher Militärs nach einer Neuausrichtung des Soldatenbildes, nach einem Soldaltentypus sui generis für die »neuen Herausforderungen« der Bundeswehr. So etwa die Forderung Hans-Otto Buddes, des amtierenden Inspekteurs des Heeres, die Bundeswehr brauche „den archaischen Kämpfer“ (zit. nach Winkel, 2004).

Natürlich wird mit solchen Forderungen keine Hobbes’sche urzuständliche Anarchie beschworen. Es geht vielmehr um eine Partikularisierung des normativen Bezugssystems, um doppelte Standards, unterschiedliche Regelsätze für den Verkehr unter »uns« und den Umgang mit den »anderen«. Das Phänomen ist jedoch kein Abkömmling der Lehre vom Ausnahmezustand o.Ä., sondern haftet militärischem Gewaltgebrauch als solchem an. Universalistische Ethik basiert auf dem Axiom, dass jeder Mensch Träger unteilbarer und unveräußerlicher Rechte ist. Demnach ist militärische Gewaltanwendung unweigerlich ein Eingriff in die Rechte anderer, i.B. in ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, und damit eine Negation oder doch zumindest eine Konditionalisierung dieser Rechte.

Mit dem seit Ende des Kalten Krieges immer penetranter vertretenen (westlichen) Verständnis des Militärs als Instrument zur Absicherung der neoliberalen Globalisierung (vgl. Wagner, 2006), spätestens aber mit dem US-geführten »war on terror«, wird die Partikularisierung des normativen Bezugssystems offen und offensiv propagiert. Eine besonders kaltschnäuzige Fassung stammt von Robert Cooper, dem Büroleiter des EU-Beauftragten für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana: „Die Herausforderung der postmodernen Welt ist es, mit der Idee doppelter Standards klar zu kommen… Unter uns halten wir uns an das Gesetz, aber wenn wir im Dschungel operieren, müssen wir ebenfalls das Gesetz des Dschungels anwenden.“ (zit. nach Wagner, 2006, S. 68)

Damit steht der militärische Ansatz in einer dritten wesentlichen Dimension in denkbar größtem Gegensatz zu ziviler Konfliktbearbeitung, die sich inhaltlich und verfahrensmäßig grundlegend an der Verteidigung und Durchsetzung strikt universalistisch verstandener Menschenrechte orientieren muss.

Übergänge

Die bisherigen Ausführungen zeichnen militärische und zivile Konfliktbearbeitung in scharfem Kontrast. Dass in jeder beliebigen Konfliktkonstellation zwischen beiden Ansätzen »graue« Übergänge bestehen, versteht sich fast von selbst. Im Folgenden geht es jedoch nicht (vordringlich) um solche Übergänge in konkreten Einsätzen, sondern um Versuche, das Verhältnis der Ansätze so zu konzipieren, dass im Interesse von »Frieden und Gerechtigkeit« Koordination oder gar Kooperation möglich ist. Entsprechende Versuche vor allem auf UN-Ebene werden entlang den herausgearbeiteten Kontrastdimensionen diskutiert.

Gemeinsame menschliche Interessen

Die UN-Charta beinhaltet ein System kollektiver Sicherheit und transzendiert damit »im Prinzip« die Ausrichtung des (UN-)Militärs an den Eigeninteressen einzelner Staaten. „Waffengewalt“ soll der Präambel zufolge „nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet“ werden, „um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“. Darüber hinaus entstand vor allem im Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen seit Mitte der 1990er Jahre unter dem Titel »menschliche Sicherheit« ein neues Leitbild von Sicherheit. Die wesentlichen Züge: Zuwendung zum Individuum mit seinen Lebensinteressen als Völkerrechtssubjekt und Einbezug sozialer, ökonomischer, politischer, kultureller und ökologischer Aspekte seiner Lebenswelt. Dieses Leitbild enthält insbesondere unter dem ersten Gesichtspunkt gleichsam das Versprechen, die herkömmliche Interessenfixierung militärischer Sicherheitspolitik zu unterlaufen: Wenn es grundsätzlich um den Einzelnen geht, verlieren nationale oder andere kollektive Interessen an Relevanz. Der erste harte Kontrast zwischen militärischer und ziviler Konfliktbearbeitung scheint demnach im UN-System wesentlich abgeschwächt oder gar aufgelöst. Entscheidend ist aber die konkrete Umsetzung dieser Leitideen, vor allem beim Einsatz von UN-»Friedenstruppen«.

Nach vorherrschendem Konflikttyp und entsprechenden Anforderungen sind drei oder vier Generationen von Friedenstruppen zu unterscheiden. Kühne (2005) sieht bspw. die erste Generation der klassischen Blauhelme durch die zentrale Aufgabe der Überwachung von Waffenstillständen bei zwischenstaatlichen Konflikten bestimmt. Ende der achtziger Jahre, parallel zum Ende des West-Ost-Konflikts, habe sich in Auseinandersetzung mit den zunehmenden innerstaatlichen Konflikten eine zweite, durch Multidimensionalität der Aufgabenstellung gekennzeichnete Generation herausgebildet. Gegenüber gewaltförmigem Staatsversagen oder Staatszerfall (Somalia, Jugoslawien…) habe sich der SR dann aber gezwungen gesehen, die Friedenstruppen mit einem »robusten«, auf Kapitel VII der UN-Charta basierenden Mandat auszustatten, um sie in die Lage zu versetzen, für die nicht-militärischen Akteure und ihre zivile Wiederaufbauarbeit ein sicheres Umfeld zu schaffen. Eine vierte Generation schließlich sei um ein qualitativ völlig neues Element ergänzt worden, um die interimistische Übernahme von politischer und administrativer Verantwortung, d.h. von Regierungsgewalt.

Die Blauhelm-Einsätze konnten und können nur zustande kommen auf Bitten oder mit Zustimmung der Konfliktparteien und wenn die Parteien erkennbar gewillt sind, den Konflikt zu regeln. Insofern kommt die Berücksichtigung ihrer Interessen ausdrücklich zur Geltung. Mit jeder weiteren Generation der UN-Friedenstruppen aber wird die Erfüllung dieses Kriteriums augenscheinlich fraglicher. Die Errichtung von Protektoraten jedenfalls läuft auf Entsouveränisierung der Konfliktparteien und effektive Kolonialisierung hinaus. Zudem ist der Sicherheitsrat mit jeder neuen Generation von Friedenstruppen zunehmend auf Streitkräfte herkömmlicher Militärmächte angewiesen, die nicht seinem Kommando unterstehen. Dieses in der UN-Charta nur behelfsweise vorgesehene Verfahren (Art. 42 Satz 2) führt nahezu zwangsläufig dazu, dass Streitkräfte am ehesten bereitstehen, wenn es (auch) um die Durchsetzung zweifelhafter nationaler Interessen geht. Der mit dem angesprochenen neuen Sicherheitsdiskurs dem klassischen Sicherheitssektor Militär ohnehin schon gelieferte Anreiz, „wie ein Magnet auch die nichtmilitärischen Aufgabenfelder an sich zu ziehen“ (Hauswedell, 2006, S. 68) droht unter diesen Bedingungen noch verstärkt zu werden.

Überwindung kriegerischer Gewalt

Mit der Orientierung an gemeinsamen Interessen verbindet die UN-Charta – konsequenterweise – die Beilegung von „internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel“, den Verzicht auf „mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“ (Art. 2 Abs. 3 u. 4). Diese »Gewaltfreiheits«-Programmatik entschärft gleichfalls den Gegensatz zwischen militärischer Konfliktbearbeitung nach dem UN-System und dem zivilen Ansatz.

Allerdings wird das Gewaltverbot der Charta bei Nicht-Übereinstimmung mit den Zielen der Vereinten Nationen nur allzu leicht im Umkehrschluss propagandistisch zur Gewaltrechtfertigung bei angeblicher Zielentsprechung missbraucht. Diese Tendenz dürfte wiederum positiv mit der geschilderten Generationenfolge von UN-»Friedensmissionen« korrelieren. Wie mit solcher Gewalt bekämpfenden Gewalt die Gewaltspirale angetrieben wird, ist Inhalt nahezu jeder Nachrichtensendung. Der vieldiskutierte Bericht der International Commission on Intervention and State Sovereignty (2001) betont, auf der Linie des neuen Sicherheitsdiskurses, die Verantwortung (der Staaten und der Staatengemeinschaft) für den Schutz des Einzelnen, kommt jedoch bei dem Versuch, Prinzipien für militärische Schutzmaßnahmen zu präzisieren, kaum über die Kategorien der bellum iustum-Lehre hinaus. Grundsätzlich dürfte „jedes öffentliche Nachdenken über die normative Begrenzung von Gewaltmitteln“ legitimatorisch wirken, mithin dazu beitragen, „dass sie weiterexistieren…“ (Reuter, 1996 – zit. nach Meyer, 2000, S. 265).

Vor dem Hintergrund der rechtlichen und ethischen Problematik sowie der Ineffizienz bzw. Kontraproduktivität militärischer »Friedenserzwingung« im UN-System wird seit einiger Zeit die Schaffung internationaler Polizeikräfte als Alternative diskutiert (vgl. Düringer & Scheffler, 2002). Dank der originären Auslegung von Polizei auf eine Schutz- und Ordnungsfunktion und ihrer Unterwerfung unter die strikten Maßstäbe größtmöglicher Schonung von Menschenleben und der Verhältnismäßigkeit des Mitteleinsatzes erwartet man von ständig verfügbaren internationalen Polizeikräften größere Akzeptanz ihrer Aktionen im Aufnahmestaat und dadurch eine wesentlich höhere Effizienz als von militärischen Kräften. Eine Polizeitruppe könne überdies die Vorzüge der Prävention voll ausschöpfen (Müller, 1998 – ref. nach Meyer, 2000). Ein einschlägiges Forschungsprojekt am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (März 1999 bis Juli 2002) führte u.a. über die vergleichende Analyse von acht Polizeimissionen der OSZE und der UNO zu wichtigen Empfehlungen an Politik und Polizeipraktiker im Hinblick auf eine Effektivierung künftiger internationaler Polizeimissionen (vgl. http://www.core-hamburg.de/CORE/for_bee_intpolizei.htm [Zugriff: 30.08.06]).

So diskussionswürdig und viel versprechend eine solche Alternativkonzeption ist, sie birgt die Gefahr der Ausblendung der strukturellen und kulturellen Wurzeln der »Oberflächengewalt«. Jedenfalls müsste der Ansatz mit einer konsequenten Verrechtlichung des Gewaltgebrauchs verbunden werden. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung mag 2002 mit der Etablierung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) getan worden sein. Die avisierte »UN-Bereitschaftspolizei« könnte dem IStGH als Vollzugsorgan dienen und umgekehrt sollten deren Aktionen seiner Jurisdiktion unterliegen. Der bitterste Tropfen im Wein solcher Ideen ist der Boykott des IStGH durch die USA. Aus dezidiert gewaltkritischer Sicht bleiben sie zudem verwickelt in die ethische Problematik »guter Gewalt«.

Normen-Unversalismus

Die UN-Charta versteht sich als oberste völkerrechtliche Norm. Gemäß Art.103 haben im Falle eines Widerspruchs zwischen „Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre(n) Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften… die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang.“ Durch Ratifizierung durch fast alle Staaten sind die Normen der Charta auch allgemein geltendes innerstaatliches Recht geworden. Darin eingeschlossen ist nach Art. 55c UNCh die Selbstverpflichtung, die „Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle“ zu fördern. Der universalistische Anspruch des UN-Normengefüges ist demnach nicht zu bezweifeln. Das entspricht formal dem normativen Hintergrund des zivilen Ansatzes.

Abgesehen von den oben schon angesprochenen Einfallstoren für Normen-Partikularismus im Kontext von »Friedenserzwingung« ist jedoch der Unterschied zwischen positiv-rechtlichem und ethischem Universalismus hervorzuheben. Jener kann diesen nicht begründen, sondern setzt ihn voraus. Nun gibt es aber m.W. kein nachvollziehbares Rationale einer universalistischen Ethik, das einen Rückgriff auf (tötende) Gewalt zum Zweck der Gewaltüberwindung widerspruchsfrei zu begründen vermöchte. Demnach stehen die einschlägigen Ermächtigungsnormen des Art. 51 der UN-Charta im Widerspruch zu deren universal-ethischen Grundlagen.

Anspruchvolle Überbrückungsversuche führen eine (Kultur-)Entwicklungs-Perspektive ein. So etwa postulieren die deutschen Bischöfe (2000) mit ihrem Hirtenschreiben »Gerechter Friede«, in religiös-metaphorischer Sprache, eine Art »Pädagogik Gottes« für die Menschheit aus elementarer Gewaltverhaftung über eine gewaltbewehrte Rechtsordnung zum »messianischen Frieden«. Der Philosoph J. Habermas hat freilich 1999, im Zusammenhang des Kosovo-Kriegs, exemplifiziert, wie »glatt« eine genetische Perspektive zur Rechtfertigung eines selbst im Rahmen des UN-Systems höchst problematischen Krieges dienen kann. „Bohrende Zweifel“ sah Habermas seinerzeit dadurch erledigt, dass er diesen Krieg zum „Vorgriff auf einen künftigen kosmopolitischen Zustand“, auf das „kosmopolitische Recht einer Weltbürgergesellschaft“ erklärte, der diesen Zustand „zugleich befördern“ wolle.

Resümee

Bei tendenziell essentialistischer Sicht der Dinge stehen militärische und zivile Konfliktbearbeitung in scharfem Gegensatz. Dieser Gegensatz ist mit dem erklärten positiven Bezug beider Ansätze (im UN-System) auf das Ziel »Frieden und Gerechtigkeit« kaum in Einklang zu bringen. Das hat zu diversen Brücken-Konstrukten geführt. Aufgrund der vorausgehenden Analyse lassen sich im Hinblick auf Koordination oder Kooperation der gegensätzlichen Ansätze aus gewaltkritischer Sicht nur vergleichsweise abstrakte Kriterien angeben: Akteure der zivilen Konfliktbearbeitung können sich darauf nur in dem Maße einlassen, wie bei militärischer (oder polizeilicher) »Friedenserzwingung« erkennbar die Interessen aller Konfliktparteien Berücksichtigung finden, eine Verrechtlichung der Maßnahmen gewährleistet ist und sie im Sinne universaler ethischer Prinzipien glaubhaft auf Selbstaufhebung angelegt sind.

Literatur

Brinkmann, C. (2000): Zivile Konfliktbearbeitung – Friedensfachdienst – Ziviler Friedensdienst. In T. Evers (Hrsg.): Ziviler Friedensdienst – Fachleute für den Frieden (S.35-47). Leske + Budrich, Opladen.

Die deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede. Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz, Bonn.

Düringer, H. & Scheffler, H. (Hrsg.) (2002): Internationale Polizei. Evangelische Akademie Arnoldshain, Frankfurt/M.

Glasl, F. (1997): Konfliktmanagement. Haupt, Bern.

Habermas, J. (1999): Bestialität und Humanität. Die Zeit, 29.04.99, S. 1 u. 6 – 7.

Hauswedell, C. (2006): Das große Versprechen »Erweiterte Sicherheit«. In R. Mutz, B. Schoch, C. Hauswedell, J. Hippler & U. Ratsch (Hrsg.): Friedensgutachten 2006 (s. 63-72). Lit, Münster.

International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) (2001): The responsibility to protect. Verfügbar unter: http://www.iciss.ca/pdf/Commission-Report.pdf [Zugriff: 12.10.04]

Kühne, W. (2005): UN-Friedenseinsätze in einer Welt regionaler und globaler Sicherheitsrisiken. Zif-Analyse 06/05. Verfügbar unter: http://www.zif-berlin.org [Zugriff: 7.07.06]

Kutscha, Martin (2004): »Verteidigung« – Vom Wandel eines Verfassungsbegriffs. Kritische Justiz, 37, 228-240. Verfügbar unter: http://www.ialana.de [Zugriff: 19.05.06].

Meyer, B. (2000): Gewalt und »Friedenserzwingung«. In G. Mader, W.-D. Eberwein & W.R. Vogt (Hrsg.): Konflikt und Gewalt (S.264-276). Agenda, Münster.

Rubin, J.Z., Pruitt, D.G. & Kim, S.H. (1994): Social conflict. McGraw-Hill, New York.

Wagner, J. (2006): Neoliberale Geopolitik: Transatlantische Konzepte einer militärischen Absicherung der Globalisierung. In J. Wagner & T. Pflüger (Hrsg.): Welt-Macht Europa. (S.56-80). VSA, Hamburg.

Winkel, W. (2004): Bundeswehr braucht archaische Kämpfer. Welt am Sonntag, 29.02.04. Verfügbar unter: http://www.wams.de [Zugriff: 24.08.06]

Anmerkungen

1) Die Idee grundverschiedener »Logiken« von militärischer und ziviler Konfliktbearbeitung verdankt der Autor Dr. Reinhard Voß. Für die vorliegende Ausarbeitung dieser Idee ist er allein verantwortlich.

Prof. Dr. Albert Fuchs ist Kognitions- und Sozialpsychologe und Mitglied des Redaktionsteams von W&F.

EU opfert ihre zivilen Stärken

EU opfert ihre zivilen Stärken

von Tilman Evers

Mit tausenden von Soldaten samt schwerem Gerät ist die EU derzeit in Bosnien und im Kongo präsent. Handelt es sich tatsächlich um Militärmissionen, die potentiell einen Feind zu bekämpfen haben? Dann reichen weder Truppenzahl noch Bewaffnung. Oder geht es im Kern um die polizeiliche Aufgabe, den Ausbruch von Gewalt zu verhindern? Dann wären eine andere Doktrin, Schulung und Bewaffnung vonnöten. Ähnliches gilt für den Libanon-Einsatz europäischer Militärkräfte im Auftrag der UN.

Seit Jahren versucht die »Zivilmacht EU«, auch militärisch »glaubwürdig« zu werden. Friedensgruppen warnen vor dieser Militarisierung; sie haben Recht, aber anders als sie meinen: Das Ärgernis ist nicht, dass die EU zur Militärmacht werden könnte – das kann sie gar nicht – sondern dass sie dafür Ressourcen vergeudet, statt entschieden ihre zivilen Stärken auszubauen.

Genau diese zivilen Stärken haben die EU zu einer wirtschaftlichen Weltmacht und zum Ordnungsfaktor in Europa gemacht. Aber in dem Maße, in dem die Union international an Gewicht gewann, wurde auch die traditionell-staatliche Idee wiederbelebt, der außenpolitische Einfluss müsse durch militärische Muskeln gestärkt werden. Das Gegenteil ist der Fall.

Die militärische Komponente der Europäischen Union hat sich in Reaktion auf die Kriege im zerfallenden Jugoslawien herausgebildet. 1999 beschloss die Union, ihre bereits in Maastricht vereinbarte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) um eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu erweitern und dafür zivile wie militärische Instrumente der Krisenreaktion bereitzustellen. Eine konzeptionelle Basis dafür wurde in Planungspapieren entwickelt, die in der »Europäischen Sicherheitsstrategie« vom Dezember 2003 gipfelten. Sie räumt ein, dass keine der heutigen Konfliktursachen und Gefahren ausschließlich militärischer Natur seien, und bekennt sich zum Multilateralismus nach Maßgabe des Völkerrechts. Aber sie eröffnet der EU unter dem Begriff »friedenserzwingende Maßnahmen« zugleich die Möglichkeit, weltweit militärisch zu intervenieren, und das auch ohne UN-Mandat. Ähnlich ambivalent liest sich der Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrags von 2004: Er bekennt sich zwar zu Frieden, Demokratie und Menschenrechten, enthält aber auch eine Art Aufrüstungsverpflichtung für die Mitgliedstaaten.

Auch in der Praxis sind die militärischen Fähigkeiten weit stärker als die zivilen entwickelt. So sind dem GASP-Sekretariat beim Ministerrat der EU derzeit 150 Militärexperten zugeordnet, während der Stab für zivile Krisenreaktion maximal 25 Personen umfasst, einschließlich des Leitungspersonals für Polizei-, Justiz- und Beobachtungsmissionen. Während heute in Bosnien und im Kongo 7.000 Mann stationiert sind, verfügen die laufenden Zivil- und Polizeimissionen in Bosnien und Mazedonien nur über 700 Kräfte. Das Verhältnis liegt also bei 10:1. Nimmt man die Einsätze europäischer Soldaten im Auftrag der UNO oder der NATO im Libanon, in Afghanistan und anderswo hinzu, wird das Übergewicht des Militärs noch krasser.

Noch 1999 beschloss die EU unter dem Eindruck ihrer Abhängigkeit von den USA im Kosovo-Krieg eine »Schnelle Eingreiftruppe« von 60 000 Mann für ein breites Spektrum von »humanitären« bis »friedenserzwingenden« Maßnahmen. Doch diese Truppe existiert bislang nur auf dem Papier; sie wäre angesichts disparater Militärtraditionen, Waffensysteme und Befehlsstrukturen kaum einsatzfähig. 2004 folgte daraufhin der Beschluss, 13 »Battle Groups« à 1500 Mann für »friedenserzwingende« Kampfeinsätze aufzustellen, die realistischerweise aus einzelstaatlichen Kampfverbänden oder bestehenden bi- oder tri-nationalen Eurocorps bestehen sollen.

Aber auch alle 13 künftigen Battle Groups zusammen machen mit knapp 20.000 Mann noch keine »Militärmacht« aus; jedes Mitgliedsland (außer Luxemburg) hat mehr Truppen. Und wenn von militärischen Fähigkeiten der Union die Rede ist, dann handelt es sich um freiwillig abgestellte Kontingente der Mitgliedsstaaten: Für jede Militärmission muss die EU sich die nötigen Truppen zusammen betteln. Es geht also nicht um militärische Großmacht-Geltung; die haben nur noch einzelne Mitgliedstaaten, nicht die Union.

Auch die enge Verzahnung mit der NATO sorgt dafür, dass die Europäische Union an größere Operationen kaum denken kann. Alle Schritte zum Ausbau ihrer »military capabilities« müssen mühsam mit der NATO abgestimmt werden. Derzeit gilt der Kompromiss, dass die EU auf die Planungs- und Führungseinrichtungen der NATO zurückgreifen kann, aber auf ein eigenes Planungszentrum verzichtet; zugestanden ist ihr eine »Civil-Military Cell« zur Koordinierung der militärischen mit zivilen Aspekten künftiger EU-Missionen. Damit bleibt die NATO das einzig relevante Militärbündnis in Europa, das darüber mit entscheidet, wozu und wie die EU ihre Militärkräfte einsetzt.

Warum also das Odium der Gewaltdrohung auf sich nehmen, wenn so wenig Realität dahinter steht? Man ahnt den Grund: Auch wenn die Battle Groups die Europäische Union nicht zur Militärmacht machen, so können sie doch wirkungsvoll etwa in einen afrikanischen Bürgerkrieg eingreifen. Die Union positioniert sich, mit aller Ambivalenz, als militärischer Weltpolizist, alternativ und konkurrierend zu den USA, mit besonderen Interessen im nahen geografischen Umfeld und in Afrika.

Was ist also gewollt: Militär oder Polizei? So richtig es ist, dass manche Privatmilizen allein durch gutes Zureden nicht zu entwaffnen sind, so richtig ist auch, dass sich keiner der vielen Gewaltkonflikte militärisch lösen lässt. Die Millionen von Kleinwaffen in aller Welt sind nur mit politisch-sozialen Mitteln zu neutralisieren, die Hisbollah kann nur auf politischem Wege eingebunden werden, das Zerstörungspotential des Terrorismus lässt sich nur politisch minimieren. Um in diesem Sinne politisch zu wirken, müsste die EU konsequent beim polizeinahen Blauhelm-Modell bleiben, statt durch eigenes Militär-Gebaren die Gewalt-Logik noch zu verstärken.

Statt in anachronistische Muster des überholten Nationalstaats zu verfallen, sollte die EU ihren weltweiten Einfluss als Zivilmacht stärken, indem sie ihre bewaffneten Kräfte als Völkerrechtspolizei unter dem Dach der zu reformierenden UN aufstellt. Der Unterschied läge nicht nur bei der Bewaffnung und den Entscheidungswegen, sondern vor allem im Denkansatz: Nicht militärische Interessen-Erzwingung, sondern zivile Rechts-Durchsetzung, im Rahmen politischer Lösungen mit diplomatischen Mitteln. Mit einem solchen Neuansatz könnte die EU sich weltpolitisch aufwerten, auch gegenüber den USA. »Humanitäre Interventionen« ließen sich glaubwürdiger von westlicher Interessenpolitik abgrenzen. Und im drohenden Konflikt zwischen westlicher und islamischer Welt könnte die EU glaubwürdiger vermitteln.

Natürlich ist das bestehende Völkerrecht keineswegs ideal, man denke nur an die skandalöse Interessenpolitik der Großmächte im Sicherheitsrat, an der die EU-Mitglieder Frankreich und Großbritannien mitwirken. Aber diesem Völkerrecht entgeht die EU ohnehin nicht: Da die ESVP einstimmige Entscheidungen erfordert, ist eine EU-Mission ohne Mandat der UN undenkbar; es genügt, dass ein einziges Mitgliedsland ein solches Mandat fordert. „Wir sind der Weiterentwicklung des Völkerrechts verpflichtet“, heißt es in der Sicherheitsstrategie der EU. Das wäre überzeugender, wenn man sich zu allererst an Geist und Buchstaben des Völkerrechts halten würde. Nur eine EU, die sich ohne Wenn und Aber der Autorität des Sicherheitsrats unterstellt, kann die Erweiterung und Reform dieses wichtigsten UN-Organs fordern. Warum also hält sich die EU das Hintertürchen offen, dass sie auch ohne UN-Mandat losschlagen könnte?

Die sicherste Gewähr gegen europäischen Militarismus liegt in den institutionellen Selbsthemmnissen der EU. Bisher haben die Mitgliedsstaaten relevante Souveränitätsanteile nur im Bereich von Wirtschaft, Handel und Finanzen an die EU übertragen. Sachwalter dieser »gepoolten« Wirtschaftssouveränität ist die Europäische Kommission, und nur sie hat den entsprechend großen Stab, ein Milliarden-Budget und politische Handlungsfähigkeit nach außen. Dagegen haben bei der GASP weiterhin die Mitgliedsstaaten das Sagen. Entscheidungen erfordern hier noch immer den Konsens aller Mitgliedsländer bzw. große Mehrheiten. Was als Gemeinsame Außenpolitik erscheint, ist eine mühsame Dauerkoordination zwischen 25 Hauptstädten.

Die EU-Außenpolitik hat zwei Köpfe

Andererseits wurde eigens für Belange der GASP beim Rat ein Sekretariat mit kleinem Stab und Budget geschaffen. Dieses Sekretariat mit seinen Untergremien hat unter Javier Solana als »Mister GASP« eine Eigendynamik entfaltet. Die Außenpolitik der EU hat also zwei Köpfe: Für die sozioökonomischen Bereiche die Kommission, für die Sicherheitspolitik den Rat. Beide Institutionen funktionieren nach unterschiedlicher Logik, so als gehörten sie verschiedenen, ja konkurrierenden Organisationen an. Eine kohärente EU-Außenpolitik, bei der wirtschaftliche und politische Instrumente ineinander greifen, ist so kaum möglich.

Das gilt auch für die entstehenden »military capabilities«: An ihnen sind zu viele Gulliver-Fäden einzelstaatlicher Eifersucht befestigt, als dass sie ohne einen mühsam auszuhandelnden Konsens auf kleinstem Nenner einsetzbar wären. In diesem Filter bleibt auf absehbare Zukunft alles hängen, was über einen (allenfalls »robusten«) Blauhelmeinsatz hinausgeht.

Die institutionelle Machtblockade hemmt aber nicht nur den Ausbau der militärischen, sondern auch der zivilen Instrumente. Hier stellen die Einzelstaaten der EU bislang nur einige Polizeikräfte, kaum aber die dringend benötigten Experten für Justiz und Verwaltung, Menschenrechte und Zivilschutz ab. Weil der Ministerrat für Fragen der Sicherheit, nicht aber für Strukturpolitik zuständig ist, darf er erst tätig werden, wenn eine Krise bereits ausgebrochen ist. Für Prävention und Nachsorge ist dagegen die Kommission zuständig.

Die neuesten Entwicklungen bestätigen die gegensätzlichen Tendenzen. In Abstimmung mit den europäischen Netzwerken zivilgesellschaftlicher Konfliktbearbeitung hat die Kommission die Grundzüge einer »Peacebuilding Partnership« beschlossen. Gegenüber dem Europäischen Parlament kündigte die Außenkommissarin Ferrero-Waldner an, man wolle die operative Fähigkeit für zivile Missionen ausbauen und dabei auch mit nichtstaatlichen Netzwerken zusammenarbeiten, die in fast allen Krisenregionen über vorzügliche Kenntnisse und Zugänge verfügen. Zudem hat die Kommission ein mit zwei Milliarden Euro dotiertes »Stabilitätsinstrument« geschaffen, das vielfältige Hilfsmaßnahmen bei Krisen oder Naturkatastrophen vorsieht.

Ganz anders die Entwicklung im Rat. Generalsekretär Solana hat dem Ratspräsidenten seine Absicht mitgeteilt, alle Abteilungen für militärisches wie ziviles Krisenmanagement im GASP-Sekretariat künftig dem militärischen Stab zu unterstellen. Auch über rein zivile Aktivitäten wie Polizeihilfe oder Rechtspflege würden somit Militärs befinden. Die Begründung klingt rein pragmatisch: Im Sekretariat gebe es weitaus mehr militärisches Personal, dem es oft an sinnvollen Aufgaben fehle, während die wenigen Zivilisten chronisch überlastet seien! Das zeigt, dass man die Unterschiede zwischen militärischen und zivilen Denkwelten entweder nicht kennt oder bewusst ignoriert. Bekannt ist, dass Großbritannien und besonders Frankreich die Militarisierung der ESVP vorantreiben. Beide Länder haben durchgesetzt, dass der Leiter der »Civil-Military Cell« ein Militär ist und nur sein Stellvertreter ein Zivilist.

Im Gefüge der EU lagen die operativen Funktionen bislang ganz überwiegend bei der Kommission; die sichtbare Tendenz, dass sich das Sekretariat des Rats zum zweiten operativen Zentrum neben und gegen die Kommission entwickelt, vermehrt die Inkohärenz statt sie zu mindern. Hier sind auch machtpolitische Ambitionen im Spiel: Für die Leitung künftiger Missionen möchte Solana im Regelfall einen Beamten seines Stabes nominieren; das würde den Einfluss der Mitgliedsländer mindern, die bisher über diese Besetzung mit entschieden haben. Und entgegen früheren Beschlüssen, wonach die Kommission beim Entwurf von Konzepten und Länderstrategien zu beteiligen ist, soll dafür nun Solanas Sekretariat allein zuständig sein.

Allerdings gibt es auch innerhalb des Rats unterschiedliche Bestrebungen. So will die finnische Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2006 die zivilen Aspekte der Konfliktbearbeitung voranbringen und lässt dazu die Möglichkeiten einer verstärkten Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft prüfen; erwartet wird, dass die deutsche Präsidentschaft ab 2007 diesen Ansatz fortführt. Das Sekretariat meidet dagegen weiterhin die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren.

Europa hat einen unvergleichlichen Reichtum an Erfahrungen und Ressourcen der nichtmilitärischen Konfliktbewältigung. Gerade vor dem Hintergrund der Vergangenheit ist die europäische Integration eines der erfolgreichsten Friedensprojekte der Weltgeschichte. Die dabei entwickelten Strukturen geteilter Souveränität sind weltweit einmalig und friedenspolitisch wegweisend. Die in der EU erprobten Verhandlungssysteme haben zu Stabilität und Wohlstand beigetragen. Ein Global Player ist die EU dank ihrer zivilen und nicht ihrer militärischen Mittel; nur hier liegen ihre Vorteile gegenüber der Militärmacht der USA und anderen geopolitischen Akteuren. Warum also sollte der zivile Riese ein militärischer Zwerg werden wollen?

Und noch etwas gilt es zu beachten: Schon jetzt unterliegt die EU-Militärpolitik keiner parlamentarischen Kontrolle. Ihr weiterer Ausbau würde das Demokratiedefizit der Europäischen Union noch verstärken, und damit die Skepsis ihrer Bürger. „Die EU sollte Demokratie nicht anderswo erzwingen, sondern bei sich verwirklichen“, schreibt der Friedensforscher Johan Galtung. Eine bewaffnete Völkerrechtspolizei ließe sich demokratie- und gemeinschaftsverträglich gestalten; militärische Kulissen nicht. Eine weitere Militarisierung würde den Machtetatismus in die Union hineintragen und damit deren Risse vertiefen, ohne den außenpolitischen Einfluss Europas zu stärken.

Vergleich der Militärischen und Zivilen Fähigkeiten der EU

Zivile Fähigkeiten

nominell von Mitgliedsländern für zivile Einsätze zugesagt:

Polizei 5761 Kräfte
Justiz 631 Kräfte
Zivile Verwaltung 562 Kräfte
Zivilschutz 4988 Kräfte
Beobachter 505 Kräfte
Andere Gebiete 391 Kräfte
Insgesamt ca. 12.800 Kräfte

real:

Mitarbeiter im Generalsekretariat des Rats für kurzfristiges ziviles Krisenmanagement: max. 25
Mitarbeiter in der Kommission für langfristige zivile Krisenprävention und Friedenskonsolidierung: ca. 10

Militärische Fähigkeiten

nominell von Mitgliedsländern für militärische Einsätze zugesagt:

Rapid Reaction Force 60.000 Kräfte (bis 2010 zugesagt)
13 Battle Groups à 1500 = 19.500 Kräfte (ab 2007 zuges.) (jeweils x3 für Ablösung und Logistik)
Insgesamt min. 180.000, max. 240.000 Kräfte

real:

Militärpersonal im Generalsekretariat des Rats: min. 150
Europäische Verteidigungsagentur 80 Mitarbeiter
(2005, noch im Ausbau)
Europäisches Verteidigungs-Kolleg (im Aufbau) Anzahl der Mitarbeiter noch nicht bekannt
Martina Weitsch 2005, überarb. Tilman Evers 2006

Tilman Evers ist Privatdozent für Politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin Wir danken der Redaktion von Le Monde diplomatique, für deren deutschsprachige Ausgabe (September 2006 S. 9) der Artikel geschrieben wurde, für die Nachdruckerlaubnis. Der Artikel wurde vom Autor für W&F an einigen Stellen aktualisiert und durch den Kasten ergänzt.

Intelligenter Kolonialismus

Intelligenter Kolonialismus

Die Human Security Doctrine for Europe

von Christoph Marischka

Das Konzept der Menschlichen Sicherheit wurde von Friedensbewegten mit der Intention entwickelt und propagiert, die Freiheit der Menschen von Furcht und Mangel, die individuelle Sicherheit, in den Mittelpunkt zu stellen; dem Schutz des Individuums gezielt höhere Bedeutung zu geben als dem Schutz der territorialen Integrität der Nationalstaaten. Doch der Begriff war von Anfang an umstritten. Für die einen war der Begriff Sicherheit zu stark staatlich besetzt, andere befürchteten den Missbrauch. So wies Claudia von Braunmühl auf einem Kongress der Petra-Kelly-Stiftung im Februar 2003 auf die Gefahr hin, „dass jeder Sicherheitsbegriff ein soziales Konstrukt darstellt und daher stets durch »unheilige Weggefährten«, beispielsweise durch den militärisch industriellen Komplex, manipulierbar bleibe.“1 Wie Recht sie damals hatte, zeigt eine Studie, die im Auftrage des EU-Repräsentanten für die Außenpolitik, Javier Solana, erstellt wurde, und in der der Begriff Menschliche Sicherheit zur Legitimation eines »intelligenten Kolonialismus« eingesetzt wird.

Etwa zeitgleich mit der Ausarbeitung der UN-Reformpläne durch das High Panel on Threats, Challenges and Change arbeitete eine 13-köpfige Studiengruppe an der London School of Economics and Political Sciences (LSE) im Auftrag des EU-Repräsentanten für Außenpolitik, Javier Solana, an einer Studie zu den Fähigkeiten der EU im Sicherheitssektor. Sie war zusammengesetzt aus WissenschaftlerInnen wie Mary Kaldor, einer der HauptprotagonistInnen der Theorie der »Neuen Kriege«, Militärs, wie dem deutschen Ex-KFOR-Kommandanten Klaus Reinhardt, PolitikerInnen und RechtsexpertInnen. Das Ergebnis ihrer Arbeit präsentierte die Studiengruppe im September 2004 unter dem Titel: Eine menschliche Sicherheitsdoktrin für Europa (A Human Security Doctrin for Europe, HSD). Deren erklärtes Ziel ist es, die EU-Außenpolitik für die Ziele, wie sie in der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) Solanas vorgeschlagen wurden, fähiger und effektiver zu gestalten. Ausgehend von den fünf in der ESS genannten Hauptbedrohungen – Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, gescheiterte Staaten und organisiertes Verbrechen – wird in der HSD zunächst festgestellt, dass keiner dieser Bedrohungen rein militärisch zu begegnen sei und dass die bisherigen Konzepte, solchen Gefahren zu begegnen, weitgehend wirkungslos (geworden) sind. Eindämmung solcher Bedrohungen habe in den letzten Jahrzehnten oft die Unterstützung und Aufrechterhaltung autoritärer Regimes bedeutet, doch genau diese Regime kollabieren irgendwann (in den letzten Jahren verstärkt) und ihre Territorien werden zu eben solchen Regionen der Unsicherheit, die laut Studiengruppe auch die EU bedrohen. Klassische Invasionskriege hingegen haben nicht nur den Nachteil, dass sie aufgrund der vielen zivilen Opfer Widerstand im eigenen Land (bzw. innerhalb der EU) hervorrufen, sondern auch international polarisierend wirken. Die Zerstörung der Infrastruktur im angegriffenen Land fördert zudem das Entstehen einer informellen Wirtschaft und provoziert bewaffneten Widerstand.

Zukünftig werde es darum gehen, in Staaten oder ganzen Regionen, deren Souveränität nicht mehr anerkannt wird oder deren Regierungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung – also ihrer Herrschaft – um Hilfe ersuchen, mit zivil-militärischen Spezialkräften »intelligent« einzugreifen und nicht nur die militärische oder polizeiliche Kontrolle zu übernehmen oder zu festigen, sondern umfassende Institutionen der politischen Herrschaft aufzubauen. Dafür empfiehlt die Studiengruppe einen vereinheitlichten, klaren rechtlichen Rahmen für EU-Interventionen und die Aufstellung einer Human Security Response Force (HSRF), der neben 10.000 SoldatInnen auch 5.000 SpezialistInnen für den zivilen Aufbau angehören sollen. Genauer werden benannt: Polizei, Steuer-, Zoll- und Verwaltungsbeamte, Richter, humanitäre Helfer und Menschenrechtsspezialisten.

Neben Vorschlägen zur Effektivierung zukünftiger Interventionen propagiert die HSD eine Vorstellung der Welt, die ein hemmungsloses Eingreifen hochgerüsteter Staatenverbände in die politische Organisation ganzer Regionen nicht nur nahe legt, sondern auch moralisch zur Verpflichtung erhebt.

Menschliche Sicherheit und die Verantwortung zum Schutz

Was haben diese kolonialen Vorschläge mit »Menschlicher Sicherheit« zu tun, die der Doktrin immerhin ihren Namen gegeben hat? Die Erweiterung des klassischen, staatszentrierten Sicherheitsbegriffs durch den Begriff Menschliche Sicherheit dient zunächst dazu das völkerrechtliche Interventionsverbot auszuhebeln. Mit der Reform der UN setzt sich immer mehr die Vorstellung durch, die mächtigen Staaten oder die Staatengemeinschaft hätten eine Verantwortung zum Schutz der Individuen weltweit. Wenn ein Staat die Sicherheit seiner Bevölkerung nicht mehr gewährleisten könne oder gar bedrohe, so verliere er seine Souveränität und es wäre dann Aufgabe anderer Staaten oder Staatengemeinschaften zu intervenieren und die Sicherheit der Individuen wiederherzustellen. Als Regionen, in denen solche Interventionen erforderlich sein könnten, werden genannt: Afrika, Balkan, Zentral- und Südostasien sowie der Kaukasus.

In dieser Argumentation wird die Sicherheit der Bevölkerung mit der Souveränität »ihres« Staates, also der Existenz eines zentralisierten Gewaltapparates gleichgesetzt. Nachdem sich der Staat in den letzten Jahrzehnten stark über seine »Wohlfahrts«-Funktion legitimiert hatte, ist dies ein Rückfall in hobbessche Erklärungsmuster, die davon ausgehen, dass ohne die Monopolisierung der Gewalt in den Händen des Staates automatisch ein Krieg Aller gegen Alle ausbrechen würde. Menschliche Unsicherheit resultiert in dieser Argumentation zwangsläufig und in erster Linie aus dem Aufbrechen des staatlichen Gewaltmonopols. Andere Ursachen für Elend, wie die massenhafte Produktion von und der Handel mit Kleinwaffen, ein globales Konglomerat militärisch-industrieller Komplexe, eine teilweise militärisch und polizeilich durchgesetzte Wirtschaftsordnung, die massenhaft marginalisierte Menschen produziert, werden ausgeblendet und der gewaltsame Konflikt zum menschlichen Urzustand erhoben. Durch den Fingerzeig auf so genannte scheiternde Staaten in der »Dritten Welt« wird kaschiert, dass auch die Staaten, welche auf Interventionen drängen, die Sicherheit ihrer eigenen Bevölkerungen oder einzelner Bevölkerungsteile bedrohen und auch in ihrem Inneren menschenunwürdige Zustände herrschen.

Die vermeintliche Einheit von Moral und Interessen

Dass Armut heute als Sicherheitsproblem wahrgenommen wird, mag einigen als Erfolg erscheinen – Armutsbekämpfung gewinnt so einen höheren Stellenwert in der internationalen Politik – doch leider wird sie zunehmend auch mit Instrumenten der Sicherheitspolitik bekämpft. Seit einige Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit auf eine »Terrordividende« (Erhöhung der staatlichen Etats für Entwicklungszusammenarbeit als Teil der Strategie gegen den internationalen Terrorismus) hoffen, ist zunehmend festzustellen, dass zivile Budgets für militärische Maßnahmen verwendet werden.

Die Autoren der HSD nennen drei Argumente für ein verstärktes internationales Engagement. Neben legalen Verpflichtungen, die sich aus Artikel 55 und 56 der UN-Charta ergäben, wird einerseits anhand einer moralischen Verantwortung, andererseits mit »aufgeklärtem Eigeninteresse« argumentiert. Da Armut und Unsicherheit in »Schwarzen Löchern« durch die zunehmende globale Vernetzung als Bedrohung europäischer Sicherheit interpretiert werden und nach Ansicht der Studiengruppe nur mit zivilmilitärischen Mitteln bekämpft werden können, legen beide Argumente die selben Handlungen nahe. Mary Kaldor und Marlies Glasius (ebenfalls Mitglied der Studiengruppe) wollen in der so hergeleiteten Einheit von Moral und Interessen die Perspektiven einer im kantschen Sinne »vernünftigen« Weltinnenpolitik erkennen und stilisieren die EU zum Projekt des »ewigen Friedens«, da sich ihre Außenpolitik auf die universale Moral der Humanität und die Herrschaft des daraus in Europa abgeleiteten Rechts gründet.2

Um diese Anmaßung zu widerlegen genügt es, Bereiche zu betrachten, in denen sich Moral und Interesse offenkundig widersprechen. Eine moralische Verantwortung zum Schutz der Individuen in Konfliktgebieten müsste in erster Linie das Recht auf Asyl beinhalten. Die Interessen der EU widersprechen dem eklatant und manifestieren sich im Ausbau der »Festung Europa« und eines globalen Lagersystems. Die EU-weite Demontage des Asylrechts wird jedoch in der HSD nicht einmal erwähnt. Stattdessen ist von Migration in die EU nur im Kontext von Terrorismus und organisierter Kriminalität als Bedrohung die Rede. Durch die Gleichsetzung von Moral und Eigeninteresse verliert die Moral an eigenständiger Bedeutung, als alleiniger Handlungsgrund wird sie unzureichend, in der Abwägung gegen Interessen unterliegt sie.

Tatsächlich sollen die moralische Argumentation und der Begriff der Menschlichen Sicherheit Zustimmung in der internationalen Gemeinschaft und der EU-Öffentlichkeit herstellen. Die HSD erwähnt an mehreren Stellen, dass diese Zustimmung notwendig, aber in den EU-Öffentlichkeiten nicht problemlos herstellbar ist. Sie ist einfacher für zivilmilitärische Einsätze unter dem Deckmantel der Humanität zu erzeugen als für Angriffskriege. Dies gilt besonders für die Träger nicht-staatlicher Entwicklungszusammenarbeit, humanitärer Hilfe und Konfliktlösung, deren Beteiligung nicht nur für die weitere Legitimation der Einsätze, sondern auch strategisch für deren Erfolg notwendig ist, wie es die HSD als Lehre aus den Problemen bei der Besetzung und Befriedung Afghanistans und Iraks formuliert.

Der Kampf um die Souveränität

»Schwarze Löcher« werden in der HSD Regionen genannt, die es neu zu strukturieren gilt. Dieser Begriff zeigt die Ignoranz gegenüber den tatsächlichen Ursachen und Hintergründen bewaffneter Konflikte oder Krisen. Ohne eine solche Analyse aber verkommt der in der HSD gestellte Anspruch, Konflikte in allen ihren Phasen zu begleiten, zum Freibrief für koloniale Interventionen. Prävention heißt in diesem Falle lediglich, Militär zu entsenden, bevor ein Konflikt ausbricht. Ob überhaupt eingegriffen wird, soll von verschiedenen Faktoren abhängig gemacht werden, von denen die tatsächliche Schwere der Menschenrechtsverletzungen nur einer ist. Kriterien wie Praktikabilität und Erfolgsaussichten, geographische und kulturelle Nähe, koloniale Verantwortung und Druck durch »die Öffentlichkeit« bieten ausreichend Spielraum, diese Entscheidung von ökonomischen oder geostrategischen Interessen abhängig zu machen. Wenn eingegriffen wird, soll dies aber dauerhaft, mit einem kohärenten und umfassenden Konzept geschehen, welches durch ein einheitliches Handeln der EU-Staaten und durch eine Abstimmung militärischer, ökonomischer und humanitärer Instrumente erreicht werden soll. Die HSD fordert in diesem Fall einen regionalen Fokus, also ein Engagement auch der Truppen im Feld über abgegrenzte, nationalstaatliche Territorien hinaus, da auch Flüchtlinge und Milizen regelmäßig über diese Grenzen hinweg agieren. Spätestens an diesem Punkt wird auch nach dem neuen Verständnis von Souveränität die Frage der Legitimität problematisch. Wenn ein Staat ausländische Truppen angefordert hat oder deren Einsatz vom Sicherheitsrat mandatiert wurde, die Milizen aber über dessen Grenzen hinweg bekämpft werden sollen, so ist abzusehen, dass EU-Truppen in einem Staat stehen, welcher diese nicht angefordert hat und von mächtigen globalen Akteuren weiterhin als souverän anerkannt wird. Die Alternative dazu wäre, ganze Regionen im Kanon der großen Mächte zum legitimen Interventionsgebiet zu ernennen. Aber auch dann sind Komplikationen zwischen verschiedenen globalen Akteuren absehbar, denn dass sich mit solchen Interventionen Interessen realisieren lassen, liegt auf der Hand. In strategisch wichtigen Regionen drohen damit Interventionswettläufe.

Bottom-Up?

Die HSD nimmt für sich in Anspruch, entsprechend der Fokussierung auf die Individuen in Konflikten, dem in der internationalen Politik tief verwurzelten Top-down Ansatz, einen praktikablen Bottom-up Ansatz entgegen zu setzen. Ein solcher sei für umfassende zivil-militärische Interventionen effektiver. Dabei konzentriert sie sich auf Einsätze im Rahmen der Petersberg-Aufgaben3, fordert aber keineswegs, dass sich die Sicherheitspolitik der EU auf diese beschränken solle.

Zunächst werden die Fortschritte bei der Vereinheitlichung der Außenpolitik der EU-Staaten, die Einrichtung der zivilmilitärischen Planungszelle in Brüssel und die im EU-Verfassungsentwurf vorgesehene Schaffung eines koordinierenden EU-Außenministeriums in der HSD begrüßt. Es werden aber auch weitere Schritte hin zu einer kohärenten Außenpolitik angemahnt.

Da die Einsatzkräfte als Vertreter von Recht und Ordnung auftreten sollen, müsse die notwendige Kohärenz durch eine Rahmengesetzgebung geschaffen werden, die regelt, wann eingegriffen wird. Gleichzeitig müssten klare politische Verantwortungen für die umfassenden Einsätze festgelegt werden. Weiter soll geklärt werden, welchem Recht die Einsatzkräfte unterstehen und wie die Kontrolle zwischen nationalen Parlamenten und den EU-Institutionen aufgeteilt wird.

Die erwünschte Kohärenz lässt sich nur durch eine weitgehende Kompetenzbündelung beim EU-Außenminister, dem die HSRF unterstehen soll, herstellen, die entsprechend in der HSD gefordert wird. Allein die Forderung nach der Zentralisierung der Entscheidungsfindung und einer einheitlichen Außenpolitik eines politischen Gebildes, das 380 Mio Menschen umfasst, widerspricht jedoch jedem ernst gemeinten bottom-up Ansatz. Dieser wird in der HSD eher auf die Region angewandt, in der interveniert wird oder werden soll, denn: „Menschen im Einsatzgebiet sind die beste Quelle für Aufklärung/Informationen“ (HSD, S.14)4. Um eine Krise in allen ihren Phasen zu begleiten, sei es notwendig, zivile Experten frühzeitig zu entsenden, die mit der lokalen Bevölkerung in Kontakt treten um sich über deren Situation und Bedürfnisse zu informieren. Als Bedingung für ein militärisches Eingreifen kommen dann verschiedene Szenarien in Betracht. Entweder bittet eine als legitim erachtete Regierung die EU um Unterstützung oder eine lokale Miliz provoziert Menschenrechtsverletzungen, woraufhin die UN einen EU-Einsatz mandatiert. Die EU könne aber auch ohne UN-Mandat intervenieren, dafür müssten aber enge und eindeutige Regelungen formuliert werden.

Die HSRF selbst soll in drei »Rängen« organisiert sein:

  • Der erste besteht aus strategischen Planern, die im zivilmilitärischen Planungszentrum eng mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst zusammenarbeiten, Informationen von Beobachtern aus den unsicheren Regionen sammeln und auswerten sowie Einsatzpläne ausarbeiten.
  • Der zweite »Rang« besteht aus 5.000 permanent einsatzbereiten zivilen und militärischen Kräften und einem mobilen Hauptquartier.
  • Der dritte umfasst 10.000 Menschen, die regelmäßig miteinander trainieren sollen und nicht innerhalb weniger Tage mobilisierbar sein müssen.

Die militärischen Kräfte könnten aus der schnellen Eingreiftruppe sowie Einheiten der Gendarmerie, der Guardia Civil und der Carabinieri entnommen, die zivilen Kräfte müssten von den Mitgliedsstaaten gestellt werden. Beide sollen gemeinsam trainieren und einen neuen Ethos entwickeln, der »soldatische Tugenden« wie Opferbereitschaft und Disziplin mit Menschlichkeit und Rechtskenntnis verbindet und die Vorbehalte zwischen militärischen und zivilen Akteuren aufhebt.

Im Einsatz soll sich diese Vermengung fortsetzen. Vorbild für die tägliche Arbeit soll – entsprechend dem Gedanken der Weltinnenpolitik – Polizeiarbeit sein. Die Herstellung menschlicher Sicherheit soll oberste Priorität haben, das Individuum über der Nation stehen und niemand getötet werden, der auch verhaftet werden kann. Jedem Soldat wird allerdings das Recht auf Selbstverteidigung zugesprochen. Die HSD übersieht dabei leider, dass sich Warlords in militarisierten Gebieten selten kampflos verhaften lassen und dass es dabei zu Schießereien kommen wird, bei denen Unschuldige getötet werden.

Hätten sich die VerfasserInnen der »Studie zu den Fähigkeiten der EU im Sicherheitssektor« etwas gründlicher – und vielleicht etwas weniger mit eurozentrierten Blick – in den Krisenregionen umgesehen, dann wüssten sie,

  • dass z. B. im Irak die menschliche Sicherheit durch die bewaffnete Intervention und den versuchten Aufbau eines neuen staatlichen Gewaltapparates nicht größer geworden ist;
  • dass in zahlreichen Krisengebieten die Gefahr für die zivilen Helfer eher zunimmt, wenn diese mit intervenierenden Soldaten kooperieren;
  • dass die Erfahrungen in Mogadischu und aktuell in Haiti5 zeigen, dass die Gewalt eskaliert, wenn ausländische Soldaten polizeiliche Funktionen übernehmen;
  • dass sowohl im Irak wie in Afghanistan, bewaffnete Soldaten aus einem anderen Land, auch wenn sie zivile Kräfte unterstützen, immer wieder als Besatzer oder Bedrohung wahrgenommen und angegriffen werden, vor allem wenn sie am Aufbau einer neuen politischen Ordnung beteiligt sind.

Menschliche Sicherheit lässt sich nun mal nicht militärisch erzwingen, sie braucht ein ziviles Konzept.

Anmerkungen

1) Dieter Bricke: Das Human Security-Konzept, in: W&F 2/2003.

2) Marlies Glasius, Mary Kaldor: Die menschliche Sicherheit- Überlegungen für eine neue Interventionspolitik der Europäischen Union, in: Frankfurter Rundschau 16.12.2004

3) Die Petersberg-Aufgaben umfassen »humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen«.

4) Es ist den Eigenheiten der englischen Sprache (in der die HSD verfasst ist) geschuldet, dass hier unklar bleibt ob und inwieweit hierbei geheimdienstliche Arbeit (Intelligence) gemeint oder eingeschlossen ist.

5) Christoph Marischka: Haitis Realität in den neuen Kriegen, in: AUSDRUCK – das IMI-Magazin August 2004

Christoph Marischka ist Beirat der Informationsstelle Militarisierung

Neue Sicherheitsdiskurse

Neue Sicherheitsdiskurse

Vom »erweiterten Sicherheitsbegriff« zur globalen Konfliktintervention.

von Lothar Brock

Seit Ende der 1980er Jahre vollzieht sich auf breiter Front eine rhetorische »Versicherheitlichung« von nicht-militärischen Politikfeldern: Hunger, Armut, Umweltzerstörung, Diskriminierung und neue Krankheiten (Aids) werden als nicht-militärische Gefährdungen von Sicherheit ausgewiesen. Die Anstöße dazu kamen aus der Zivilgesellschaft. Sie hoffte, mit Hilfe eines »erweiterten Sicherheitsbegriffs« Aufmerksamkeit und Ressourcen für die von ihr vertretenen Anliegen zu mobilisieren und die Sicherheitspolitik zu entmilitarisieren. Was ist erreicht worden? Heute ist der »erweiterte Sicherheitsbegriff« eine Standardformel, auf die sich auch die Hohe Politik gerne beruft – vom Sicherheitsrat der UNO bis zum Nationalen Sicherheitsrat der USA. Das High Level Panel, das im Dezember 2004 seinen Bericht zur Reform der UNO veröffentlichte, und Generalsekretär Kofi Anan, dem dieser Bericht als Vorlage für die eigenen Vorschläge diente, gingen ebenso wie der Sachs-Bericht zu den Millennium Development Goals von einem erweiterten Sicherheitsbegriff aus. Das wurde allgemein mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Ein Durchbruch auf der ganzen Linie? Zweifellos. Aber der vom Generalsekretär angestrebten Reform der Vereinten Nationen hat das nicht viel geholfen, und der Erfolg, den das allseitige Bekenntnis zu einem erweiterten Sicherheitsbegriffs bedeutet, könnte sich noch als Pyrrhussieg erweisen – dann nämlich, wenn die Militärpolitiker aus der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs mehr Nutzen zögen als die Befürworter einer zivilen Konfliktbearbeitung. Ob eine solche Befürchtung berechtigt ist und was daraus gegebenenfalls folgen würde, soll hier in aller gebotenen Kürze erörtert werden.1

Die bisherige Bilanz der neuen Sicherheitsdiskurse ist gemischt. Auf der einen Seite ist es unter Berufung auf einen erweiterten Sicherheitsbegriff zu einer erstaunlichen Ausdifferenzierung nicht-militärischer Formen der Konfliktbearbeitung gekommen. Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich eine regelrechte »Industrie« zur konzeptionellen Innovation auf dem Gebiet der zivilen Konfliktintervention, der Krisenprävention und der Friedenskonsolidierung herausgebildet. Diese Entwicklung ist von Anfang an in enger Wechselwirkung von Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik vonstatten gegangen und hat inzwischen zu einer Professionalisierung der zivilen Konfliktbearbeitung geführt, die über das hinausgeht, was die Agenda für Frieden des damaligen UN-Generalsekretär, Boutros Boutros-Ghali, 1992 erwarten ließ. Was dabei die Bundesrepublik Deutschland betrifft, so ist die Kooperation zwischen dem BMZ und der GTZ auf der einen Seite, und den auf dem Gebiet der zivilen Konfliktbearbeitung tätigen Nicht-Regierungsorganisationen und kirchlichen Einrichtungen im Rahmen der Gruppe Friedensentwicklung2 institutionalisiert worden. Die Bundesregierung unterstützt die Ausbildung von Friedensfachkräften und hat selbst beim Auswärtigen Amt ein Zentrum für Internationale Friedenseinsätze eingerichtet, das u.a. Personal für die inzwischen zur Routine gewordenen Friedensmissionen der Vereinten Nationen ausbildet. Die Bundesregierung hat außerdem in engem Austausch mit der hiesigen Zivilgesellschaft einen Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« erarbeitet und im Mai 2004 verabschiedet. Sie schließt damit an Länder wie Großbritannien, die Niederlande und Norwegen an, die auf dem Gebiet der zivilen Konfliktbearbeitung eine Avantgardefunktion erfüllen.

Aber der Auf- und Ausbau der zivilen Konfliktbearbeitung ist keineswegs gleichbedeutend mit einem Rückgang militärischer Interventionspraktiken. Im Gegenteil. Die verstärkten Bemühungen um eine Zivilisierung der Konfliktbearbeitung korrelieren zeitlich mit einer Ausweitung militärischer Einsatzoptionen. Die Territorialverteidigung weicht der globalen militärischen Konfliktintervention. NATO und EU sind dabei, sich militärische Eingreifverbände zuzulegen, die in kurzer Zeit an beliebigen Orten der Welt eingesetzt werden können. Die Bundeswehr ist heute mit 7.200 Soldatinnen und Soldaten an Friedensmissionen beteiligt. Tendenz steigend. Dem stehen 5.000 internationale Fachkräfte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gegenüber.3 Tendenz gleichbleibend, wenn nicht fallend.4 Diese Entwicklung ist teilweise eingebunden in Bemühungen um einen Ausbau kollektiver Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen nach Kapitel VII der UN-Charta. Das ist erfreulich. Aber die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs geht auch mit einer Erweiterung des Begriffs der Verteidigung (Art. 51 UN-Charta) einher und auf diesem Wege mit einer »Enttabuisierung des Krieges«5 als Mittel der internationalen Politik. Die kollektive Friedenssicherung steht dementsprechend unter dem Vorbehalt der einzelstaatlichen Gewaltanwendung, heute mehr als bei der Ausformulierung der Agenda für Frieden. Und nicht nur das: Während der erweiterte Sicherheitsbegriff in aller Munde ist, drohen die Hauptprotagonisten einer diesem Begriff entsprechenden Politik, die liberalen Demokratien, sich selbst zu Sicherheitsstaaten zu wandeln, in denen die Freiheit des Einzelnen erneut unter den Vorbehalt behördlicher Ermessensentscheidungen gestellt wird.6

Die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs, so meine These, ist politisch ambivalent: sie kann genutzt werden, um die Forderung nach ziviler Konfliktbearbeitung zu unterstreichen, aber ebenso dazu, eine Erweiterung militärischer Sicherheitspolitik nach außen und die Einschränkung bürgerlicher Rechte und Freiheiten nach innen zu rechtfertigen. Dieser politischen Ambivalenz des Begriffs entspricht seine analytische Unschärfe. Er eskamotiert Widersprüche und Zielkonflikte statt sie aufzudecken. An die Stelle einer Analyse des Zusammenhangs zwischen wirtschaftlicher Marginalisierung, Diskriminierung, Staatszerfall, kultureller Fremdbestimmung, Aufkommen neuer Krankheiten und Gewalt tritt die rhetorische Gleichschaltung der einschlägigen Politikfelder (Entwicklungszusammenarbeit, Aids-Bekämpfung, Stärkung des Sicherheitssektors und Anerkennung kultureller Differenz als Sicherheitspolitik). Diese Unschärfe des erweiterten Sicherheitsbegriffs ist einer der Gründe für seine politische Ambivalenz. Da er alles meint, kann sich jeder bedienen. Und nicht nur das: die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs ist gleichbedeutend mit einer Erweiterung des Spektrums von Bedrohungen, mit denen die Menschen konfrontiert werden. Die Ausweitung von Bedrohungsgefühlen aber fördert nach aller Erfahrung eher die Akzeptanz militärischer Vorsorge oder militärischer Eingriffe in akute Konflikte als die politische Bereitschaft, sich auf langwierige zivile Formen der Konfliktbearbeitung einzulassen. Von daher besteht kein Anlass, die Anerkennung neuer Bedrohungen und jetzt auch der »responsibility to protect«7 durch die Hohe Politik als Durchbruch zu einer anderen Sicherheitspolitik zu feiern.

Vom Frieden zur (Un-)Sicherheit

In den frühen Jahren der Friedens- und Konfliktforschung wurde über den Friedensbegriff gestritten. Dabei ging es vor allem um die Unterscheidung zwischen negativem und positivem Frieden. Der negative Friede galt weitgehend als unzulänglich; denn er konnte ja auch einen Friedhofsfrieden, einen Frieden der gewaltsamen Befriedung umfassen und sich als trügerischer Firnis über struktureller Gewalt erweisen. Die flächendeckende Militarisierung politischer Herrschaft in Lateinamerika im Verlaufe der 1970er Jahre bot dafür in der Tat ein niederschmetterndes Beispiel. Der Frieden wurde dort mit Hilfe einer brutalen Repression hergestellt. Folgerichtig wurden die nationalen Befreiungskriege von Vielen als Kriege zur Herstellung eines positiven Friedens (stillschweigend) gerechtfertigt. Aber mit Blick auf die Konfrontation der Supermächte und die Möglichkeit eines Nuklearkrieges hatte der negative Friede doch auch eine positive Seite, und diese positive Seite wurde mit dem Begriff der Sicherheit belegt.

Paradoxerweise rückte der Sicherheitsbegriff im Laufe der 1980er Jahre in dem Maße in den Vordergrund der einschlägigen Debatten, in dem die Gefahr eines Nuklearkrieges zurückging – bis hin zu dem Punkt, an dem der Friedensdiskurs zu einem Sicherheitsdiskurs wurde.8 Der vollständige Umschlag erfolgte spätestens mit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Das Kunststück, mit dem dies ohne Gesichtsverlust der Friedensbewegung geschehen konnte, bestand in dem Rekurs auf einen »erweiterten Sicherheitsbegriff«, der den Vorteil bot, für all das zu stehen, was man sich unter einem positiven Frieden nur wünschen konnte. Der erweiterte Sicherheitsbegriff ermöglichte es zugleich, jene Gefühle und Bedürfnisse wohlwollend anzusprechen, die in der alten Zuordnung zum negativen Frieden nur unzulänglich und mit einem pejorativen Unterton erfasst worden waren. Diese Gefühle (das Unbehagen an gewaltsam ausgetragenen Konflikten, also auch an Befreiungskriegen) und Bedürfnisse (nach Sicherheit in rasantem Wandel) wollten Friedens-, Umwelt-, Solidaritäts- oder Menschenrechtsgruppen nunmehr strategisch nutzen, um der Hohen Politik die Agenda streitig zu machen und mehr öffentliche Aufmerksamkeit sowie mehr finanzielle Mittel für Zwecke zu mobilisieren, die bis dahin eher als »low politics« galten: den Schutz der Umwelt, die Durchsetzung der Menschenrechte, die Aufhebung der Geschlechterdiskriminierung, die Anerkennung kultureller Differenz und nicht zuletzt den Ausbau der Entwicklungszusammenarbeit.

Wie die Einführung des Begriffs »soziale Sicherheit« dazu beigetragen hat, die öffentliche Absicherung privater Lebensrisiken als (Rechts-) Anspruch des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft zu untermauern, genauso haben die neuen internationalen Sicherheitsdiskurse dazu beigetragen, die zivile Konfliktbearbeitung als Standard angemessenen Verhaltens aufzuwerten. Die zweite große Errungenschaft der neuen Sicherheitsdiskurse besteht zweifellos darin, dass der Einzelne als Objekt der internationalen Sicherheitspolitik gegenüber der bislang vorherrschenden Fixierung auf den Staat in das Blickfeld der internationalen Politik gerückt worden ist. Das Denken in Kategorien der nationalen Sicherheit wird durch die Einführung der Kategorie der menschlichen Sicherheit zumindest ansatzweise aufgebrochen.

Wie sich heute auch hierzulande zeigt, bietet die »soziale Sicherheit« aber selbst dort, wo sie als Standard angemessener Ansprüche anerkannt wird, keine Sicherheit gegenüber dem Versuch, eine erneute Privatisierung der Vorsorge zu forcieren, wobei dies vorzugsweise als Maßnahme zur Rettung der sozialen Sicherheit unter sich wandelnden Umweltbedingungen (Globalisierung) »verkauft« wird. Genauso wenig bietet die allgemeine Akzeptanz eines erweiterten Sicherheitsbegriffs ein verlässliches Bollwerk gegen die Versuchung der Politik, bei wachsendem Handlungsdruck die zivile Konfliktbearbeitung als Follow up eines militärischen Eingriffs zu handhaben und dabei die »human security« unter die nationale Sicherheit zu subsumieren. Der politische Stellenwerte der »menschlichen Sicherheit« im Sinne der »responsibility to protect« wächst in dem Maße, in dem sie mit den so verstandenen nationalen Sicherheitsinteressen potentieller Interventen übereinstimmt. Das zeigt sich gerade in Verbindung mit den militärischen Großereignissen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, nämlich mit dem Kosovo-Krieg sowie den Kriegen gegen die Taliban und das Saddam-Regime im Irak.

Von der Sicherheit zum Krieg

Was den Kosovo-Krieg betrifft, so stand hier zwar der demonstrative Bezug auf die Sicherheit von Menschen gegenüber der Sicherheit von Staaten im Vordergrund. Es kann aber weiterhin bezweifelt werden, dass die Möglichkeiten der zivilen Konfliktintervention (z.B. im Rahmen der OSZE-Mission) tatsächlich ausgeschöpft worden waren, als im Oktober 1998 die Entscheidung der NATO zur militärischen Konfrontation (mit der späteren Folge des Krieges) fiel. Auch die Verhältnismäßigkeit des Militäreinsatzes ist weiterhin umstritten, da die Gefährdung menschlicher Sicherheit im Krieg drastisch zunahm (was eigentlich niemanden überraschen konnte). Darüber hinaus stellte der Kosovo-Krieg den Einstieg in eine Völkerrechtspolitik dar, die darauf abzielt, den einzelstaatlichen Handlungsspielraum bei der Anwendung von Gewalt gegenüber den Restriktionen der UN-Charta auszuweiten. Diese Politik kam gegenüber Afghanistan und Irak voll zum Zuge. In beiden Fällen beriefen sich die USA zwar auf Resolutionen des UN-Sicherheitsrates. Dies geschah aber in einer Weise, die die Anwendung von Gewalt in das weitgehend freie Ermessen der intervenierenden Staaten stellte.

Dieser Völkerrechtspolitik traten die zivilgesellschaftlichen Sicherheitsdiskurse zwar in aller Regel entgegen, anderseits waren sie selbst an ihrer Herausbildung ungewollt beteiligt. Unter dem Eindruck des Ausmaßes der Gewalt in zahlreichen innerstaatlichen Konflikten und der Schwierigkeit zu bestimmen, wie auf diese Gewalt angemessen reagiert werden könne, bedienten sich die zivilen Sicherheitsdiskurse des Vokabulars der »neuen Kriege«, der »humanitären Intervention« und selbst des »gerechten Krieges«. Das Reden von den »neuen Kriegen« trug dazu bei, ein breites öffentliches Interesse für die Gewaltkonflikte im Süden und im ehemaligen sozialistischen Lager zu wecken. Zugleich suggerierte es, dass die alten völkerrechtlichen Regeln gegenüber diesen neuen Kriegen nicht mehr gelten konnten (und sollten). Die rasche Verbreitung der Denkfigur der »humanitären Intervention« konnte einerseits als Ausdruck der »Macht der Moral« verstanden werden, bedeutete aber andererseits, dass es fortan gegenüber den Staaten, in denen die »neuen Kriege« stattfanden, zweierlei Souveränität geben würde – die unantastbare Souveränität der liberalen Demokratien, die nicht bereit waren und sind, sich in verbindlicher Form einer kollektiven Friedenssicherung zu unterwerfen, und die eingeschränkte Souveränität der »failed states« oder der Schurkenstaaten, denen gegenüber sowohl das Interventionsverbot der UN-Charta (Art. 2/7) als auch das Gewaltverbot (Art. 2/7) nicht gelten sollen. Hier drängt sich ein Vergleich mit den Gefangenen in Guantanamo auf, denen wie den Schurkenstaaten ein Anspruch auf einschlägigen Rechtsschutz abgesprochen wird.

Das inzwischen wieder abflauende Reden von der »humanitären Intervention« unterstützte insofern die auf Handlungsfreiheit ausgerichtete Völkerrechtspolitik der liberalen Demokratien, als es die Unterscheidung zwischen kollektiver Friedenssicherung nach Kapitel VII der UN-Charta und einer unilateralen oder bündnisgestützter Ausübung von Zwangsgewalt verwischte. Wenn Menschen in Not sind, so unterstellt die Denkfigur der »humanitären Intervention«, ist das eine hinreichende Rechtsgrundlage für ein Eingreifen – zumal wenn der Sicherheitsrat als einzige Instanz, die die Anwendung von Gewalt autorisieren darf, nicht handlungsfähig ist oder zu sein scheint.

Dieser Effekt war bei der Rückbesinnung auf den »gerechten Krieg« noch deutlicher. Wie sattsam diskutiert, kann die Lehre ebenso zur Legitimation wie zur Kritik von Kriegen herangezogen werden. Aber der Streit darüber, ob ein Krieg gerecht oder ungerecht sei, geht an der Sache vorbei. Das Konzept selbst ist »ungerecht«, da es einer Logik verhaftet bleibt, nach der der Einzelstaat in einem Streit zugleich Partei und (Rechts-) Instanz ist. In diesem Sinne liegt das ausschlaggebende Problem darin, dass dieser Ansatz es letztlich dem Einzelstaat vorbehält, über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit militärischen Handelns zu befinden. Damit höhlt auch dieses Konzept die Idee der kollektiven Friedenssicherung nach Kapitel VII der UN-Charta aus.

Selbst die Denkfigur der »menschlichen Sicherheit« ist nicht ganz so unschuldig, wie sie daher kommt. Die Aufwertung von Menschen gegenüber Staaten als Subjekte legitimer Sicherheitsansprüche stützte die Argumentation, dass es eine Verantwortung der internationalen Gemeinschaft zum Schutz von Menschen vor rechtloser Gewalt gibt. Die Anerkennung dieser Verantwortung ist ein Fortschritt, der sich auch in der Aufwertung des Einzelnen als Völkerrechtssubjekt (vor allem im Bereich der Menschenrechte) zeigt. Wenn aber die Wahrnehmung der internationalen Verantwortung nicht an feste Regeln gebunden wird, erweitert das Reden in Kategorien der »menschlichen Sicherheit« das Spektrum der Gründe, die für eine interventionistische Politik ins Feld geführt werden können. In diesem Sinne warnt das BMZ zu Recht vor der Gefahr, durch den Bezug auf einen humanitär begründeten Handlungsbedarf „eine völkerrechtliche Beliebigkeit zu fördern, die Schwellen für militärische Lösungen abzusenken sowie Weiterentwicklung und Nutzung ziviler, vor allem präventiver Handlungsmöglichkeiten in den Hintergrund treten zu lassen.“9

Von der erweiterten Sicherheit zum Schutz vor rechtloser Gewalt

Um dieser Gefahr entgegenzutreten, plädiere ich für einen engen Sicherheitsbegriff, nämlich Sicherheit als Schutz vor rechtloser Gewalt. Das eröffnet die Möglichkeit, die Aufgabenstellung der Sicherheitspolitik zu präzisieren. Es geht nicht um das gute Leben an sich, sondern um die Aufgabe, Menschen zu befähigen, ihre Konflikte ohne Anwendung von Gewalt auszutragen. Dieser Aufgabe sind insofern Grenzen gesetzt, als die Fähigkeit zu gewaltfreiem Konfliktaustrag nie gleichmäßig und umfassend ausgebildet werden kann. Deshalb ist der »zivilisatorische Prozess« nicht gleichbedeutend mit der Überwindung von Gewalt, sondern mit der Eindämmung rechtloser Gewalt, also der Selbstjustiz. Auf der Ebene der Vereinten Nationen ist dementsprechend das allgemeine Gewaltverbot und das Gebot der friedlichen Streitbeilegung (Kapitel VI UN-Charta) mit Vorkehrungen zur kollektiven Friedenssicherung (Kapitel VII) verbunden worden, die die Anwendung von Zwangsgewalt nach Ausschöpfung aller anderen Mittel einschließt. Daraus folgt zweierlei: Der Vorrang der zivilen vor der militärischen Konfliktintervention und die Bindung militärischer Konfliktintervention an das Regelsystem der Charta. Bei der Gewährleistung von Sicherheit als Schutz vor rechtloser Gewalt bezieht sich das Kriterium »Recht« also immer auf beides: die Situation vor Ort und die Art und Weise, wie in diese Situation eingegriffen wird. Der so verstandene enge Sicherheitsbegriff ist also reflexiv. Er schließt die Selbstbeobachtung der Sicherheitspolitik als Politik, die ständig in Gefahr ist, neue Unsicherheit zu produzieren, ein.

Bei genauerer Betrachtung geht es auch bei der zivilen Konfliktbearbeitung nicht um einen weiten, sondern um einen engen Sicherheitsbegriff wie er hier verstanden wird. Auch die Idee der zivilen Konfliktbearbeitung konstatiert einen Primat der zivilen vor der militärischen Konfliktbearbeitung und die strikte Bildung militärischer Eingriffe an die Regeln des UN-Systems. Die Idee der zivilen Konfliktbearbeitung beruft sich insofern unnötiger und – wie oben gezeigt wurde – fahrlässigerweise auf einen erweiterten Sicherheitsbegriff. Unnötig ist der erweiterte Sicherheitsbegriff, weil er nichts zur normativen Begründung ziviler Konfliktbearbeitung (viel aber zur Verwirrung der Probleme, um die es geht) beiträgt; fahrlässig ist die Berufung auf einen weiten Sicherheitsbegriff, weil er das normative Spannungsverhältnis zwischen ziviler und militärischer Konfliktbearbeitung in der Denkfigur einer umfassenden Sicherheitspolitik aufhebt. Einem Sicherheitsbegriff, der als Schutz vor rechtloser (physischer) Gewalt verstanden wird, ist demgegenüber die Kritik der Gewalt eingeschrieben. Das schließt die Unterscheidung zwischen gesetzlicher und gesetzloser Gewalt ein, weil die Differenz zwischen beiden ja nicht der Politik vorgegeben ist, sondern von dieser selbst (z.B. im Weg der Völkerrechtspolitik) beeinflusst wird. Auf jeden Fall aber ist der Modus der Gewaltanwendung stets selbst Thema eines engen Sicherheitsbegriffs.

Beim Aktionsplan der Bundesregierung vom Mai 2004 ist bemängelt worden, dass er bei der Auflistung von 160 Maßnahmen zur zivilen Konfliktbearbeitung auf politische Prioritätensetzungen verzichtet.10 Er könnte sich von daher als vergebliche Liebesmühe erweisen, da er selbst dem Muster des erweiterten Sicherheitsbegriffs folgt, nämlich gute Dinge zu addieren, wo es eigentlich darum ginge, eine Problematik zu strukturieren. Ein enger Sicherheitsbegriff bzw. die Konzentration auf ein Kernanliegen der Sicherheitspolitik (Schutz vor rechtloser Gewalt) könnte auch in dieser Hinsicht nützlich sein.

Anmerkungen

1) Zu weiteren Überlegungen siehe Lothar Brock, 2004: Der erweiterte Sicherheitsbegriff – Keine Zauberformel für die Begründung ziviler Konfliktbearbeitung, in: Die Friedenswarte 79, Heft 3-4, 323-344; Ders. 2001: Sicherheitsdiskurse ohne Friedenssehnsucht. Zivilisatorische Aspekte der Globalisierung, in: Ruth Stanley (Hrsg.): Gewalt und Konflikt in einer globalisierten Welt. Festschrift für Ulrich Albrecht, Opladen: Westdeutscher Verlag; Ders. 1998: Umwelt und Konflikt in der internationalen Forschung, in: Alexander Carius/Andreas R. Kraemer (Hrsg.): Umwelt und Sicherheit – Herausforderung für die internationale Politik, Berlin: Springer, 39-56.

2) Es handelt sich um eine Arbeitsgemeinschaft von BMZ und GTZ sowie dem Evangelischem Entwicklungsdienst, Misereor, der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Plattform zivile Konfliktbearbeitung, dem Konsortium Ziviler Friedensdienst und dem Institut für Entwicklung und Frieden der gleichnamigen Stiftung.

3) BMZ 2004: Zum Verhältnis von entwicklungspolitischen und militärischen Antworten auf neue sicherheitspolitische Herausforderungen (BMZ-Diskurs 1), Bonn, S. 5.

4) Das ist allerdings ein bewusstes Ziel der Entwicklungspolitik, die seit Jahren das Ziel verfolgt, internationale durch einheimische Fachkräfte zu ersetzen. Ibid., S. 12.

5) Geis, Anna 2005: Die Zivilmacht Deutschland und die Enttabuisierung des Militärischen, HSFK-Standpunkte 2.

6) Braml, Josef 2004: Vom Rechtsstaat zum Sicherheitsstaat? Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte durch die Bush-Administration, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 45, 6-15.

7) International Commission on Intervention and State Sovereignty, The Responsibility to Protect, Ottawa: International Development Research Center 2001

8) Krell, Gert 1980: Die Entwicklung des Sicherheitsbegriffs, in: Beiträge zur Konfliktforschung, 10. 03., S. 33-57.

9) BMZ 2004 (Anm. 3), S. 11.

10) Debiel, Tobias 2004: Wie weiter mit effektiver Krisenprävention?, in: Die Friedenswarte, 79, Heft 3-4, 253-298.

Prof. em. Dr. Lothar Brock ist Forschungsgruppenleiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und Vorsitzender der Kammer für Entwicklung und Umwelt der EKD

Widerstände gegen Prävention im UN-System

Die schwierige Beziehung zwischen Staaten- und Gesellschaftswelt:

Widerstände gegen Prävention im UN-System

von Reiner Steinweg

Kriege zu verhindern ist der ursprüngliche Hauptzweck der Vereinten Nationen (vgl. Art. 1 Abs. 1 der Charta). Nur in wenigen Fällen haben sie, blockiert durch das Patt im Ost-West-Konflikt, dieses Ziel ernsthaft verfolgt und erreicht. Nach dem Schock der Balkankriege und insbesondere des Genozids von 1994 in Ruanda – zu dem der VN-Generalsekretär (GS) in Übereinstimmung mit dem damaligen US-Präsidenten Clinton 1998 bekannte, dass man Chancen, ihn zu vermeiden, nicht genutzt habe – erhielt der Präventionsgedanke starken Auftrieb. Die Einsicht, dass es nicht nur humaner, sondern auch um ein Vielfaches kostengünstiger ist, die Eskalation kollektiver Konflikte in gewaltsame Krisen zu verhindern, fand breite Anerkennung. Michael Lund zählt für diesen Zweck 60 »Werkzeuge« auf (2002, S. 179).

Mit seinem Report »Prevention of Armed Conflict« hat GS Kofi Annan 2001 diesen Trend aufgegriffen und Vorschläge gemacht, wie das VN-System dem eigenen Anspruch besser als bisher gerecht werden könnte. Zu diesen Vorschlägen gehörte insbesondere, der Sicherheitsrat möge „innovative Mechanismen prüfen, wie etwa die Einsetzung eines Nebenorgans oder einer informellen Ad-hoc-Arbeitsgruppe“, um die Krisenpräventionskapazität der VN zu stärken.

Gleichzeitig wurden in der »Zivilgesellschaft« Ideen entwickelt, wie Prävention auf VN-Ebene vorangetrieben werden könnte. Einer dieser Vorschläge, die Einrichtung einer »UN-Commission on Peace and Crisis Prevention« / UNCOPAC, an deren Bestellung und Arbeit die einschlägig tätigen, bei den VN akkreditierten Nichtregierungsorganisationen in bescheidener, aber geregelter Form beteiligt sein sollten, fand vor allem im deutschen Sprachraum einige Beachtung (veröffentlicht in den Rundbriefen der AFB/Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn und der AFK/Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung; Texte, unterstützende Persönlichkeiten und Organisationen auf www.pro-uncopac.info).

Im folgenden wird gefragt, was aus diesen Vorschlägen geworden ist und warum die Hoffnungen auf die Etablierung von Präventionsstrukturen im Apparat der VN inzwischen einen Dämpfer erfahren haben.

Fortschritte, gebremst

Folgende Veränderungen haben stattgefunden:

  • Im VN-Hauptquartier wurde ein »Präventions-Team« gebildet, das regelmäßig zusammen tritt, um krisenhafte Entwicklungen frühzeitig zu erkennen (monitoring) und geeignete Maßnahmen zu empfehlen, die einer Eskalation vorbeugen könnten. Ohne festen Mitarbeiterstab und geregeltes Gehör bei den beiden Councils der VN kann ein solches Team kaum detaillierte Vorschläge entwickeln und notwendige Entscheidungen anstoßen.
  • VN-Einrichtungen wie OCHA / Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, versuchen, Frühwarn-Daten in kritischen Regionen zu sammeln. Sie verfügen aber bei weitem nicht über so differenzierte Erhebungsinstrumente wie z.B. FAST International von swisspeace, und sie sind finanziell nicht in der Lage, sich an solchen Unternehmungen so zu beteiligen, dass sie von ihren aktuellen Ergebnissen profitieren könnten.
  • Praktisch alle VN-Einrichtungen wurden aufgefordert, ihre Tätigkeit unter dem Gesichtspunkt der Prävention neu zu durchdenken und dieses Ziel mit zu berücksichtigen. Nach Einschätzung von insidern im Umfeld der VN hat sich dadurch aber an der konkreten Arbeit kaum etwas geändert.
  • Bereits 1994 wurde im VN-Hauptquartier ein »Framework Team for Coordination« aus Vertretern von »14 departments, agencies, and funds« eingerichtet, zunächst, um Peacekeeping-Aktionen zu koordinieren, seit 2000 aber, um dasselbe für die Präventionsarbeit der verschiedenen VN-Einrichtungen zu leisten. (Wermester 2003, S. 377) Es fällt aber schwer, von den Ergebnissen dieses Teams Näheres in Erfahrung zu bringen.
  • Das VN-Department of Economic and Social Affairs / DESA hat am 15. November 2004 erstmals eine Expertengruppe aus VN-Departments und »think tanks« zusammengerufen, um die Integration von Entwicklung und Prävention zu systematisieren.1 Über einen Gedankenaustausch scheint man aber nicht hinausgekommen zu sein.
  • Eine Untersuchung der Wirksamkeit der VN auf dem Feld der Prävention kommt zu dem Ergebnis, dass die VN in der zurückliegenden Dekade immerhin in einigen weniger spektakulären Fällen Präventionserfolge erzielen konnten. (Wermester 2003, 383)
  • Am 13. September 2005 hat die Generalversammlung (GV) im Rahmen des »Millenium summit 2000+5« ihre Verantwortung bekräftigt, „die Bevölkerungen vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu beschützen“ (§§ 138f. »Draft Outcome Document«2), also auch kollektive Maßnahmen – nicht nur nach Kap. VII (Militäreinsatz) der Charta – zu diesem Zweck zu ergreifen und schwachen Staaten präventiv beim Aufbau entsprechender Kapazitäten zu helfen. Aber es wurde kein Mechanismus beschlossen, der es ermöglichen würde, diese Hilfe tatsächlich rechtzeitig zu leisten.

Die große Bedeutung, die die »Zivilgesellschaft« bzw. zahlreiche internationale und lokale NGOs auf dem Feld der Konfliktbearbeitung und Krisenprävention haben (hier insbesondere die wöchentlich berichtende, gut ausgestattete International Crisis Group), wird zunehmend gesehen. In dieser Hinsicht ist der Sicherheitsrat während der Philippinischen Präsidentschaft über seinen Schatten gesprungen und hat zwei Vertreter solcher Organisationen am 22. Juni 2004 zu einer Sitzung über die Rolle der Zivilgesellschaft in »post-conflict peace-building« eingeladen (CARE International und das International Center for Transitional Justice). Das war ein absolutes Novum. (Bis dahin waren Gespräche mit Vertretern der Zivilgesellschaft nur nach der sog. Arria-formula möglich, d.h. in Sitzungspausen außerhalb des offiziellen Tagungsraums.) Und dass die von der Global Partnership for Prevention of Armed Conflicts/GPPAC unter Federführung des European Center for Conflict Prevention /ECCP, Utrecht, in dreijähriger Arbeit vorbereitete »Global Conference From Reaction to Prevention: Civil society forging partnerships to prevent violent conflict and build peace« vom 19.-21. Juli 2005 mit über 600 TeilnehmerInnen aus 118 Ländern im UN-Gebäude am East-River in New York stattfinden konnte, unter aktiver Beteiligung zahlreicher, auch ranghoher VN-Mitarbeiter wie dem designierten Präsidenten der Generalversammlung, Jan Eliasson, oder dem Leiter der Politischen Abteilung der VN, Untergeneralsekretär Ibrahim Gambari, ist ermutigend.

Aber die Vetomächte haben in der Sicherheitsratssitzung im Juni 2004 klar gemacht, dass sie die Rolle der Zivilgesellschaft eng begrenzen wollen (Wortprotokoll: United Nations S/PV.4993, Security Council fifty-ninth year, 4993rd meeting, 22. Juni 2004). Die NGOs sind als Lieferanten von Informationen aus Krisenregionen, an die die Regierungsvertreter anders kaum herankommen würden, willkommen, nicht mehr. Und auch andere Staaten, vor allem aus dem Süden – dem Vernehmen nach hat sich hier besonders Argentinien hervorgetan – haben offensichtlich massive Bedenken angemeldet, nicht nur gegen eine aktive Rolle der Zivilgesellschaft bei der Krisenprävention, sondern gegen die Verstärkung der präventiven Arbeit seitens der VN überhaupt.

»Peacebuilding Commission« ohne Präventionsauftrag

Dies alles hat den GS in seinem jüngsten Vorschlag zu einem schwerwiegenden Rückzieher veranlasst: Der von ihm eingesetzte »High Level Panel« hatte in seinem Endbericht »Threats, Change and Challenges« vom Dezember 2004 die Einrichtung einer »Peacebuilding Commission« (PbC) vorgeschlagen. Der GS hat sich diesen Vorschlag zu eigen gemacht und in seinem Addendum 2 zu seinem Report »In Larger Freedom« ausdifferenziert. Vermutlich, um gegen Ende seiner Amtszeit wenigstens eine konkrete Veränderung in Richtung Strukturverbesserung für die Friedensarbeit der VN durchzubringen, hat er das Tätigkeitsfeld der PbC ausdrücklich auf Nachkriegssituationen beschränkt. Pro-aktive Prävention in Regionen, die von Krieg und Bürgerkrieg länger verschont geblieben sind, Regionen, bei denen jedoch die roten Lampen der Frühwarneinrichtungen aufblinken, sollen nicht genannten „anderen Einheiten der VN“ vorbehalten bleiben. Prävention im ursprünglichen Sinne scheint damit wieder in die Randzonen abgedrängt zu sein, in denen sie seit Beginn der VN ein Schattendasein fristet.

Denn darüber darf man sich keine Illusionen machen: In den nächsten Jahren werden sich die politischen Energien auch derjenigen Staaten, die sich für Prävention besonders stark gemacht haben, auf die Implementierung der von der GV am 13. September beschlossenen PbC konzentrieren, nicht zuletzt deshalb, weil die entscheidende Frage der Unterstützung dieser Commission durch ein vom GS vorgeschlagenes »Peacebuilding support office« und dessen Finanzierung in diesem Beschluss mangels Konsens ausgespart werden musste (Draft outcome document §§ 97-105). Denn immerhin einen Aspekt von Prävention wird die PbC, die am 31.12.2005 ihre Arbeit aufnehmen soll, abzudecken versuchen: Über 40% der Staaten, in denen es zu Friedensschlüssen oder Waffenstillständen gekommen ist, fallen, so der GS, innerhalb von fünf Jahren wieder in gewaltsame Konfliktaustragung zurück. Rückfallprävention ist also durchaus von Bedeutung. Aber eine eigene zentrale VN-Einrichtung für pro-aktive Prävention wird in den nächsten fünf Jahren kaum zur Debatte stehen und noch weniger eine formelle Einbindung der Zivilgesellschaft in diesem Feld.

Rückzug – warum?

Im wesentlichen vier Gründe lassen sich für den derzeitigen Teil-Rückzug der VN von der Präventionsagenda ausmachen:

1. Die VN sind nun einmal ein Regierungsclub, und manche Mitgliedstaaten der VN – insbesondere solche, die um ihre staatliche Identität und eine demokratische Realverfassung noch ringen bzw. sich ökonomisch am Abgrund befinden – wollen von den VN nicht »behandelt« werden (so eine hohe Mitarbeiterin der den VN zuarbeitenden Peace Academy während der GPPAC-Konferenz in New York). Diese Regierungen fürchten anscheinend, dass die Institutionalisierung einer VN-Körperschaft, die sich auf Early Warning und Early Response konzentriert,

  • verdeckte Aktivitäten fremder Staaten, Spionage usw. im eigenen Land verstärken,
  • die Souveränität der Regierungen (Staaten) in ihren Entscheidungsfindungsprozessen beeinträchtigen und
  • die legalen oder illegalen Oppositionsparteien und Gruppierungen oder opponierende Minderheiten eines Landes stärken und dadurch die Chancen der gerade regierenden Partei schwächen würde, an der Macht zu bleiben bzw. Wahlen zu gewinnen.

2. Da Armut, Menschenrechtsverletzungen, schlechte Verwaltung, Mangel an Demokratie und partizipatorischen Strukturen, ungleiche Verteilung von Einkommen und Gesundheitschancen, ungerechte Terms of Trade, Kulturunterdrückung, ungerechte Erziehungssysteme usw. die Wurzeln wachsender und potentiell gewalttätiger Spannungen sein können, könnte Prävention ohne sorgfältige Grenzziehung leicht zu einer Allkategorie werden und eine zentrale Präventionseinheit der VN dadurch zu einer Art »Supereinheit«, die allen anderen UN-Einrichtungen Anweisungen zu geben hätte. Dagegen würde sich der Widerstand all derer richten, die sich in anderen VN-Organen mit Aspekten von Prävention befassen.

3. Gelingende Prävention ist immer ein »non-event«, erregt kaum öffentliche Aufmerksamkeit und eignet sich daher wenig dazu, Regierungshandeln als erfolgreich darzustellen.

4. Die VN sind eine chronisch arme Organisation. Selbst um eine halbe neue Stelle wird bei den VN oft monatelang erbittert gerungen. Eine angemessen ausgestattete zentrale Präventionseinheit muss also aus dieser Perspektive als liebenswerte Utopie erscheinen.

Mit diesem vierten Einwand sind wir wieder bei einem der Ausgangspunkte der Präventionsdebatte in den 90er Jahren angelangt und bei einem Grundmangel demokratischer Politik: Das Argument, dass wirksame Krisenprävention gerade unter dem Gesichtspunkt knapper Ressourcen erheblich vernünftiger wäre als militärisches Krisenmanagement, gilt ja noch immer. Wie sich auch auf anderen Feldern zeigt (die versäumte, obwohl von allen Experten als dringend notwendig erachtete Sturmkatastrophen-Prävention in Lousiana/New Orleans ist das jüngste tragische Beispiel dafür), geraten die langfristigen Erfordernisse kluger Politik durch das unvermeidliche Streben nach kurztaktigen (Wahl-)Erfolgen und die damit verbundene Befriedigung einflussreicher Interessengruppen immer wieder ins Hintertreffen. Dieter Senghaas nennt das die „Ich-Schwäche der Nationalstaaten“(2004, S. 115-117).

Vorbereiten auf die nächste historische Chance

Man könnte nun diesen Sachverhalt achselzuckend zur Kenntnis nehmen und »realistisch« darauf verzichten, für eine weltweite, organisierte und koordinierte Präventionspolitik weiterhin einzutreten. Doch gerade in Zeiten, in denen die Staatenwelt sich von der politischen Vernunft wieder ein Stück zu entfernen scheint, ist es Aufgabe der Gesellschaftswelt, ihr zur Geltung zu verhelfen.

Manche, wie der Initiator der New Yorker GPPAC-Konferenz, Paul van Tongeren, ziehen aus dem Widerstand der Staatenwelt, wie er sich im Zuschnitt der Peacebuilding Commission spiegelt, die Schlussfolgerung, dass pro-aktive Prävention dann eben etwas weiter entfernt von den VN anzusiedeln sei (mündlich zum Verf. während der New Yorker Konferenz). Aber muss man darum, wie die Autoren der »Global Action Agenda for the Prevention of Violent Conflict« / GAA es getan haben, die VN gleich ganz aus der Pflicht entlassen, nach besseren Wegen für pro-aktive Prävention zu suchen? (Alle Hinweise auf die Notwendigkeit, die VN-Strukturen für pro-aktive Prävention zu stärken, die in der ersten, im Frühjahr 2005 weltweit zur Debatte gestellten Fassung der GAA enthalten waren, wurden aus der endgültigen, bei der New Yorker Konferenz feierlich den VN überreichten Fassung gestrichen.) Wir sollten das Gegenteil tun und Möglichkeiten erkunden, wo und wie unter Berücksichtigung der oben referierten Widerstände und Probleme auch im VN-System Nischen pro-aktiver Prävention ausgebaut werden können, damit dann, wenn die nächste große Katastrophe ähnlich derjenigen im Kosovo oder in Ruanda 1994 droht und unüberhörbar nach Prävention schreit (oder tragisch: geschrien hat), nicht wieder von vorn begonnen werden muss. Die Gunst einer solchen Stunde kann voraussichtlich nur dann genutzt werden, wenn sofort auf gut durchdachte Vorschläge zurückgegriffen werden kann, die von der Öffentlichkeit unterstützt werden. Die Zivilgesellschaft ist hier gegenüber staatlicher Politik in einer strukturell besseren Lage: Sie kann sich den langen Atem und das gründliche Nachdenken leisten.

Für den eingangs erwähnten Vorschlag einer UNCOPAC heißt das: Er muss im Hinblick auf die Situation, die durch die Einrichtung der PbC entstanden ist, neu durchdacht werden, und zwar in mindestens zwei Hinsichten:

1. Verortung: Ist eine zweite Kommission neben der PbC sinnvoll? Sollte eher eine Verortung auf regionaler Ebene, etwa in den fünf von den VN definierten Großregionen der Welt angestrebt werden?

2. Reichweite/Auftrag: Der erste Entwurf für eine UNCOPAC bescheidet sich im Wesentlichen (bis auf die Entsendung von Beobachtermissionen) damit, dass sie für die Vollversammlung, den Sicherheitsrat, den GS und Staaten »guten Willens« zeitgerecht detaillierte Handlungsempfehlungen formulieren und veröffentlichen soll, um so in konkreten Fällen frühzeitig internationalen Handlungsdruck zu erzeugen. Dagegen soll die PbC auch für die Finanzierung der vorgeschlagenen Maßnahmen sorgen, indem potentielle Geldgeber von vornherein in ihre Beratungen eingebunden sind. Müssten Präventionseinheiten der VN ähnlich konstruiert werden?

Die Weiterentwicklung von UNCOPAC muss von vornherein in einer internationalen Anstrengung erfolgen, um in den VN auf Interesse zu stoßen. Dies zu versuchen sieht das soeben gegründete »Forum Crisis Prevention«, Bonn, als eine seiner Aufgaben an.

Literatur

Michael S. Lund: From Lessons to Action, in: Fen Osler Hampson and David M. Malone (eds): From Reaction to Conflict Prevention. Opportunities for the UN System, Boulder, Colorado: Lynne Rienner Publications, Inc. 2002, p. 159-183.

Dieter Senghaas: Zum irdischen Frieden. Erkenntnisse und Vermutungen, Frankfurt/M. 2004.

Karin Wermester: From Promise to Practice? Conflict Prevention at the UN, in: Chandra Lekha and Karin Wermester (eds): Form Promise to Practice. Strengthening UN Capacities for the Prevention of Violent Conflict, Boulder, Colorado: Lynne Rienner Publications, Inc. 2003, p. 375-385

Anmerkungen

1) http://www.un.org/esa/peacebuilding/Action/DesaTaskForce/egm_20041115.html

2) www.un.org/summit2005 main documents

Dr. Reiner Steinweg war von 1974 bis 1988 Mitarbeiter der HSFK und als solcher Redakteur von 24 Bänden der »Friedensanalysen«. Seit 1987 ist er Leiter der Außenstelle Linz des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung

Schwarz-Rot und der Frieden

Schwarz-Rot und der Frieden

von Christiane Lammers

Liebe Leserinnen, liebe Leser,
„…friedenswillig, aber nicht friedensfähig“, so urteilte Bundeskanzler Schröder auf seiner letzten öffentlichen Wahlkampf-Rede über den wahrscheinlichen zukünftigen Koalitionspartner CDU. Da drängt sich die Frage auf, was denn friedenspolitisch von den künftigen Regierungsparteien zu erwarten ist?

Der Grundkonsens dürfte eindeutig sein: Die Bundeswehr ist und bleibt der »Garant« für Frieden und Sicherheit. Der grundsätzlich veränderte Auftrag der Bundeswehr, die konkreten Auslandseinsätze der letzten sieben Jahre, materielle und finanzielle Wehrausrüstung bis hin zur Beschaffung von Waffensystemen wie Meads wurden mit einer überwältigenden Mehrheit im Parlament beschlossen. Wer würde denn auch an einer diesbezüglichen Kontinuität der deutschen Politik gezweifelt haben?

So muss man sich schon mit den »Zückerchen« beschäftigen: Ein ganzes Tableau an Institutionen und Fördermaßnahmen wurde von der letzten Koalition geschaffen: ZFD, FriEnt, ZIF, zivik, DSF fungieren als Kürzel für das friedenspolitische Programm. Ganz am Ende der Regierungszeit stand noch die Institutionalisierung / Ausstattung des Aktionsplans »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« an. Der Plan stellte den Versuch dar, erstmals systematisch, verschiedene Ministerien integrierend, NGOs und Forschung einbeziehend, Friedenspolitik umfassend auf Zielkriterien und Effektivität hin zu orientieren. Bei aller Kritik, etwa hinsichtlich der Einäugigkeit der Konfliktträchtigkeit westlicher Wirtschafts- und Verteidigungspolitik, muss konstatiert werden, dass der Aktionsplan – ernsthaft angegangen – ein Meilenstein wäre. Schon allein die Besetzung des Beirats weist darauf hin: Vier Friedensforschungseinrichtungen (BICC, INEF, HSFK, Berghof), Stiftung Wissenschaft und Politik, Dt. Institut f. Entwicklungspolitik; Plattform Zivile Konfliktbearbeitung; Verband Entwicklungspolitik dt. Nicht-Regierungsorganisationen e.V.; Forum Menschenrechte; German Watch; adelphi research; Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung; Siemens AG; BASF AG; Deutsche Bank AG; Friedrich-Ebert-Stiftung, Botschafter a.D. Dr. W. Höynck; Admiral a. D. R. Feist; Prof. Dr. med. R. Korte. Auch wenn der Sitz der drei Aktiengesellschaften vehement hinterfragt werden kann, zeigt die Zusammensetzung, dass der Mut der letzten Regierung NGO’s und Friedensforschungseinrichtungen einzubinden zugenommen hat. Was wird nun davon bleiben?

Bei dem als Regierungsprogramm deklarierten Wahlprogramm der CDU/CSU finden sich keinerlei Ideen/Hinweise, wie »friedenswillige« Politik konkret auf- oder auszubauen wäre. Zentrale Begriffe, wie z.B. Konfliktprävention, Abrüstung oder Gewaltfreie Konfliktbearbeitung, gehören nicht zum Vokabular.

Im SPD-Wahlmanifest finden sich diese ebenfalls nicht. Assoziationen hierzu werden jedoch geweckt, wenn davon die Rede ist, dass die SPD „eine Politik des Friedens, der gerechten Weltordnung und der rechtzeitigen Konfliktvermeidung“ verfolge und gelernt habe, „dass Sicherheit nicht allein aus militärischer Stärke erwächst“. In dreierlei Hinsicht wird man fündig bei der Suche nach konkreten Maßnahmen: Die Instrumente zur Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung im Bereich der Massenvernichtungswaffen sollen gestärkt, der zivile Friedensdienst ausgeweitet und die Friedens- und Konfliktforschung weiter gefördert werden.

Kein Zufall, dass es sich bei letzterem um Maßnahmen handelt, die von bisher SPD- geführten Ministerien ausgingen. Der Aktionsplan zur Krisenprävention bleibt jedoch vollkommen unerwähnt; kann dies allein daran liegen, dass es sich hier zwar um ein ressortübergreifendes, aber vom »grünen« AA gesteuertes Projekt handelte. Es ist also leider davon auszugehen, dass die Umsetzung des Plans in Vergessenheit geraten, zumindest die nun anstehende Budgetausstattung kaum adäquat angegangen wird. So einfach ist das manchmal!

Überhaupt hat man den Eindruck, dass »softe« Friedensfragen eher den kleinen, vor der Wahl ins Auge gefassten Koalitionspartnern überlassen wurden. Dies gilt sowohl für die FDP als auch für die Grünen: Zumindest was die Wahlprogramme angeht. Wie die Realitäten ausgesehen hätten, steht nach den entsprechenden Erfahrungen mit den Grünen auf einem anderen Blatt. Aber dies alles sind wohl müßige »was wäre wenn?«-Fragen.

Immerhin ist mit der Linkspartei eine Fraktion ins Parlament gezogen, deren Programmatik weitgehende Affinitäten mit Forderungen der Friedensbewegung aufweist. So darf man gespannt sein, ob die Grünen hier »Oppositionskoalitionen« suchen werden. Vom außerparlamentarischem, d.h. zivilgesellschaftlichem Engagement wird es wesentlich abhängen, ob eine wirklich friedensfähig zu nennende Regierungspolitik auf die Tagesordnung kommt. Es gibt also viel zu tun!

Christiane Lammers

Einer muss den Frieden beginnen

Einer muss den Frieden beginnen

von Tilman Evers

Dem Forum Ziviler Friedensdienst wurde am 5. März der Göttinger Friedenspreis 2005 verliehen für seine „außerordentlichen Verdienste bei der konkreten Entwicklung, Einrichtung und Organisation gewaltfreier Ansätze der Konfliktbearbeitung“ (siehe auch Göttinger Friedenspreis 2005 auf Seite 54 dieser W&F Ausgabe). Zivile Konfliktbearbeitung: Wie bewährt sie sich in der Praxis, welchen Stellenwert hat sie in der »großen« Politik? In seiner Antwort auf Laudatio und Preisverleihung vermittelte der Vorsitzende des Forums ZFD, Tilman Evers, einen Eindruck von der Arbeit der »Friedensfachleute«, die wir hier leicht gekürzt wiedergeben.

Ich danke… für die zugesprochene Auszeichnung. Warum sie uns kostbar ist, mag eine kleine Geschichte erhellen: „In einem chinesischen Dorf wohnte ein weitberühmter Arzt, zu dem strömten die Patienten von nah und fern, denn er hatte schon viele von ihnen den Klauen des Todes entrissen. – Im selben Dorf wohnte ein zweiter Arzt, den kannte kaum jemand, ja manche bezweifelten, ob er überhaupt ein Arzt sei, denn seine Patienten wurden niemals ernstlich krank…“

Wir denken, Ihre Preisverleihung hilft dazu, die Arbeit dieses »zweiten Arztes« zu würdigen, indem sie den Vorrang der Gewaltvermeidung vor der Nachsorge, der zivilen vor den militärischen Antworten auf Konflikte ins öffentliche Bewusstsein rückt. Sie ehren damit… alle staatlichen wie nicht-staatlichen Akteure des Zivilen Friedensdienstes, einschließlich unserer Partnergruppen in den Projektgebieten.

Das Forum Ziviler Friedensdienst… (hat) die Diskussion um den Zivilen Friedensdienst in den 90er Jahren mit eröffnet, die konzeptionelle Entwicklung wesentlich vorangetragen und die politische Werbung geschultert… Vielleicht kann daher gesagt werden, dass es den Zivilen Friedensdienst ohne uns nicht gäbe.

Dasselbe gilt aber zweifellos auch für das BMZ, dessen heutige Leitung den Schritt von der Vision zur Wirklichkeit ermöglicht hat… und für das Auswärtige Amt, das ebenfalls nach dem Regierungswechsel 1998 Mittel für friedenserhaltende Maßnahmen nicht-staatlicher Träger bereit stellte.

In die Freude über die neuen Möglichkeiten mischt sich allerdings der Schmerz über die Gewaltkonflikte in vielen Teilen der Welt, die den Anlass zu diesen Innovationen bieten. Der klassische Staatenkrieg ist dabei zur seltenen Ausnahme geworden. Die Kontrolle über den Beginn und die Beendigung von Feindseligkeiten müssen Regierungen sich heute mit einer Vielzahl von Akteuren im In- und Ausland teilen. Die Konflikte erscheinen oft als innerstaatliche Bürgerkriege, aber das trifft nur halb. In Wahrheit liegen die Ursachen heutiger Gewaltausbrüche weder nur im Inneren noch nur im Äußeren von Gesellschaften, sondern gerade in den Spannungen zwischen Innen und Außen. In ihnen kommen die gegensätzlichen Tendenzen der Globalisierung zum Ausdruck. Die rasante Expansion westlicher Gesellschaftsmodelle und Dominanzansprüche stellen überkommene Lebensweisen und Machtverhältnisse in Frage. Im Strudel der Umbrüche greifen Menschen oft auf die scheinbar unverbrüchlichen Sicherheiten der ethnischen, der kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit zurück…

Der Zivile Friedensdienst ist natürlich keine deutsche Erfindung, auch wenn er hier bislang am weitesten verwirklicht und damit eine wichtige Anregung für Andere ist. Ähnliche Initiativen gibt es heute in fast allen westeuropäischen Ländern; viele davon sind im »European Network for Civil Peace Services« (EN.CPS) zusammengeschlossen, das wir 1999 mit begründeten. Auch in Kanada soll nun ein Ziviler Friedensdienst nach deutschem Modell entstehen. Und weltweit haben sich ganz unterschiedliche Friedensgruppen zusammengeschlossen zur »Nonviolent Peaceforce«, deren erstes Modellprojekt in Sri Lanka unseren Überlegungen sehr nahe kommt.

Die Arbeit vor Ort

Das Wichtigste an unserer Arbeit ist zunächst schlicht die langfristige Präsenz vor Ort, die Kenntnis der Sprache und Konfliktursachen, die Vertrautheit mit den Menschen und ihren Nöten. In einem Projektbericht aus Makedonien heißt es: „Immer wieder bekommen wir die Rückmeldung von den lokalen NGOs, dass wir als Internationale sehr wichtig sind und gebraucht werden. Wir sind nun mal von Außen und nicht in den Konflikt verwickelt. Lokale Aktivisten gehören normalerweise einer der Konfliktparteien an. Damit ist es für sie bei weitem schwieriger, die Anerkennung der anderen ethnischen Gruppe zu erhalten. Auch können wir etwas Sicherheit vermitteln. Unsere Partner in Tetovo wohnen genau da, wo 2001 die Frontlinie verlief. Auch heute werden oft noch Schüsse auf diese Straße abgefeuert, wenn auch ´nur so´. Durch Kontakt zu uns Internationalen empfinden sie zumindest emotional etwas Rückendeckung.“

Die Wirkungen der Projekte können manchmal ganz leise, fast unbemerkt – eben in der Art des »zweiten Arztes« – sein. Im selben Projektbericht heißt es über einen Malwettbewerb an makedonischen Schulen: „Bei der Ausstellungseröffnung in Gostivar kamen etwa 150 Gäste. Es war ein herrlich buntes Treiben, Romas, Albaner, Mazedonier, Türken, Arme und Reiche, Direktoren und Erstklässler, und und und… Nach der offiziellen Eröffnung hatten alle Gäste Zeit, die Bilder zu bestaunen. Es gab 100 Bilder, ganz gemischt aus allen Ethnien. Die Bilder waren mit Name, Schule und Stadt versehen. Am Namen erkennen die Menschen hier sofort, wer welcher Ethnie angehört. In einem Gemenge von Menschen trete ich zufällig neben einen älteren Mann, etwa 65 Jahre alt. Er steht kopfschüttelnd vor einem Bild von einem mazedonischen Kind und murmelt vor sich hin: ‚Ich begreif’s nicht, mazedonische Kinder können auch malen’. Als dieser Mann gehen wollte, bat ich ihn, auf unserer ‚Wand der Bemerkungen’ doch etwas hinzuschreiben. Er stellte sich davor, überlegte, drehte den Stift in der Hand und schrieb dann: ‚Unsere Stadt braucht mehr solche Treffen wie ich es heute erlebt habe’.“

Natürlich kann eine einzelne Friedensfachkraft, auch ein Team nicht allein Frieden schaffen. Aber in jedem Konfliktgeschehen gibt es friedenswillige Einzelne und Gruppen, denen die bloße Anwesenheit eines externen Friedensmittlers Rückhalt und den Mut gibt, sich an die friedenswilligen Anteile im Denken und Fühlen ihrer Landsleute zu wenden. So können tatsächlich von einem einzigen Projektplatz aus Hunderte, ja Tausende von Mentalitäten direkt oder indirekt berührt werden. Das Ehepaar Harms in Makedonien beispielsweise hat mit dem erwähnten Malwettbewerb »Mal dir ein Bild vom Frieden« über tausend Schulkinder der verschiedenen Ethnien, Hunderte Elternpaare, Dutzende Lehrer erreicht. Viele von ihnen haben sich eine solche Gemeinaktion gewünscht und sie begeistert aufgegriffen. Aber selber initiativ werden ohne externen Mittler konnten sie aus ihrer ethnischen Zuschreibung nicht.

Eine ähnliche Strahlkraft hat das Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem entfaltet. Darüber heißt es in einem Bericht: „Das Zentrum ist inzwischen nicht nur in Israel und Palästina eine bekannte Institution. Es hat sich zum festen Bestandteil der Besuchs- und Veranstaltungsprogramme von PolitikerInnen entwickelt; WissenschaftlerInnen, DiplomatInnen, StiftungsvertreterInnen, Fachleute von NGOs und MedienvertreterInnen geben sich im Zentrum inzwischen die Klinke in die Hand. Durch die vielen Besuche wird das Konzept des Zivilen Friedensdienst in andere Länder der Region exportiert.“

Welche Aufgaben konkret im Alltag auftauchen, ist nur begrenzt vorhersehbar. Ein Beispiel aus der Anfangszeit unserer Projektarbeit im Kosovo: Eine internationale Hilfsorganisation hatte in Prizren den Familien aus der Minderheit der Goran Brennholz für den Winter geliefert. Sie hatte dabei nicht bedacht, dass in der Nachbar-Straße die nicht minder diskriminierte Minderheit der Roma lebte, die die Hälfte des Brennholzes für sich beanspruchte und ihren Goran-Nachbarn vorwarf, diese Hälfte gestohlen zu haben. Fast wären sie tätlich geworden, hätte unsere Friedensfachkraft Silke Maier-Witt nicht einen Runden Tisch zustande gebracht, bei dem am Ende Regeln für die künftige Verteilung solcher Hilfsgüter vereinbart wurden.

Dabei besteht die große Herausforderung der Arbeit vor Ort darin, gleichzeitig ganz präsent zu sein und sich dennoch zurückzunehmen, um Raum für die Eigeninitiative der Betroffenen zu lassen. Andere Herausforderungen sind die kaum eingrenzbaren Arbeitszeiten und fehlenden Rückzugsmöglichkeiten, die oft unbequemen Lebensbedingungen, vor allem aber auch die seelische Belastung durch die alltägliche Konfrontation mit Not und Leid. Eines unserer Projekte bestand darin, Beratungszentren für kriegstraumatisierte Menschen in Serbien, insbesondere für ehemalige Soldaten zu unterstützen. Wiederum: Die praktische Beratungsarbeit haben lokale Ärztinnen und Ärzte, Therapeuten und Sozialarbeiterinnen – meist ehrenamtlich – geleistet. Aber ohne die Anwesenheit der einen Fachkraft Ursula Renner hätten sie, wie sie selber rückblickend bei der Übergabe des Projekts sagten, nicht die Kraft gehabt, über das anfängliche Misstrauen im nationalistisch geprägten Umfeld hinwegzugehen. In einem Bericht aus dieser Arbeit lese ich: „Die seelischen Wunden äußerten sich nicht nur in Aggression. Viele Ex-Soldaten igeln sich ein und nehmen nicht mehr teil am öffentlichen Leben. Ein junger LKW-Fahrer, der im Krieg als Heckenschütze eingesetzt worden war‚ hatte einen feindlichen Heckenschützen im Visier seiner Waffe, aber er konnte ihn nicht töten. Kurze Zeit später wurde sein bester Freund von gegnerischen Heckenschützen erschossen. Seitdem peinigten den jungen Mann Gefühle der Schuld. Immer wieder erschien ihm das zerschossene Gesicht seines Freundes und das Bild des Soldaten, den er im Visier gehabt hatte. Nach dem Krieg konnte er keine Arbeit lange halten. Er zog sich in sich zurück und wurde schließlich in die psychiatrische Klinik eingeliefert. Dort verwies man ihn an die Beratungsstelle. Die Beratung half ihm, wieder Arbeit als Traktorfahrer annehmen zu können. Inzwischen hat er eine Familie gegründet.“

Sie ahnen, welche Kraft es kostet, solche und schlimmere Geschichten wieder und wieder zu hören. Die menschliche und professionelle Befähigung dazu müssen unsere Bewerber teils mitbringen, teils aber auch lernen. Eine intensive Vorbereitung gehört für uns unverzichtbar zum Zivilen Friedensdienst dazu. So wenig sie den Erfolg garantieren kann, so wenig möchten wir Menschen ohne die bestmögliche Qualifizierung in Spannungsgebiete entsenden. Seit 1997 führen wir zweimal jährlich je viermonatige Kurse durch, anfangs gefördert vom Land Nordrhein-Westfalen, jetzt vor allem vom BMZ…

Verhältnis Konfliktnachsorge und Prävention

So wichtig die Arbeit mit traumatisierten Menschen, die Rücksiedlung von Flüchtlingen, die Wiederherstellung zerstörter Sozialbezüge ist: Besser, es gäbe keine Traumatisierten, keine Flüchtlinge, keine Zerstörungen. Noch immer sind Projekte in der Konfliktnachsorge in der großen Überzahl gegenüber solchen in der Prävention. Das trägt unserer Arbeit den Beigeschmack ein, die »good guys« im Gefolge der »bad guys« zu sein, die im Nachgang von Militäraktionen die Wunden verbinden und die Trümmer wegräumen. Die Traumatisierten in Südserbien können ihre seelischen Wunden auch durch Bomben aus deutschen Tornados erlitten haben.

In unserem Verständnis sind militärische und zivile Mittel nicht »komplementär«, so als ließen sie sich nach Belieben mixen. Erst recht stehen wir nicht bereit für eine »Zivil-Militärische Zusammenarbeit«, die sich als Erweiterung des militärischen Auftrags definiert. Die Logik militärischer Macht, gegnerischen Willen zu brechen, ist im Ansatz konträr zu dem Bemühen, mit dem Willen der Betroffenen nach konstruktiven Lösungen im bestmöglichen Interesse aller Beteiligten zu suchen. Es kann tragisch notwendig sein, einer Gewaltaktion durch Gegengewalt Einhalt zu gebieten. Das aber ist im Kern eine polizeiliche Aufgabe, die zudem jenseits der Landesgrenzen nur mit völkerrechtlichem Mandat gerechtfertigt sein kann.

Tragfähige Friedensstrukturen bedürfen der Beteiligung, ja des Eigen-Willens aller Betroffenen. Hierzu können Friedensmittler nötig sein, auf der Ebene 1 der klassischen Diplomatie ebenso wie auf den Ebenen 2 und 3 der mittleren Führungen und der gesellschaftlichen Graswurzeln. Eine solche Arbeit kostet Zeit, Geduld und auch Geld. Aber all dies wiegt gering, wenn es nicht gelingt – in der Weise des »zweiten Arztes« – die Zeichen des Konfliktes früh zu erkennen und zu einem Ausgleich zu bringen. Ist die Schwelle zur Gewalt erst einmal überschritten, dann sind die Kosten um ein Vielfaches höher, die Folgewirkungen ungleich langwieriger.

Diese Einsicht hat mit erfreulicher Klarheit Ausdruck gefunden in dem Aktionsplan zur Zivilen Konfliktlösung, den die Bundesregierung als Querschnittaufgabe aller beteiligten Ressorts vor einem Jahr vorgelegt hat. In ihm bekennt sie sich zum Vorrang der Prävention, in multinationaler Verantwortung und im Zusammenwirken mit nicht-staatlichen Akteuren. Der Zivile Friedensdienst wird darin als „das wichtigste friedenspolitische Instrument zur Förderung von Friedenspotenzialen der Zivilgesellschaft“ bezeichnet. Wir begrüßen diesen Aktionsplan und wollen unseren Teil zu seiner Umsetzung beitragen.

Dazu gehört aber auch der Hinweis auf Widersprüche. Manche wirtschaftlichen, politischen und militärischen Aspekte deutscher Realpolitik laufen den Zielen dieses Papiers zuwider. Geringer Trost, dass andere Industrieländer noch unbedenklicher die Globalisierung von Konfliktpotenzialen vorantreiben. Hinzuweisen bleibt auf das skandalöse Missverhältnis in der finanziellen Ausstattung der angeblich vorrangigen zivilen gegenüber den militärischen Mitteln. Wenn der Zivile Friedensdienst als wichtigstes zivilgesellschaftliches Instrument der Friedensförderung bislang mit 14 Mio. Euro pro Jahr bewertet wird, dann kann es mit dem Vorrang für Prävention noch nicht weit her sein. Denn diese Summe kostet der deutsche Militäreinsatz unter »Enduring Freedom« fast wöchentlich, von allen übrigen Militärausgaben ganz abgesehen.

500 Projektplätze für ZFD

Bislang sind insgesamt knapp 200 Frauen und Männer in Projekte des Zivilen Friedensdienstes entsandt worden; aktuell befinden sich davon ca. 120 im Einsatz. Das ist ein Anfang, nicht mehr. Die kritische Menge, die Aufschluss über seine Leistungskraft gäbe, ist noch lange nicht erreicht. Der nächste Schritt, den alle Träger des Zivilen Friedensdienstes gemeinsam fordern, ist eine Aufstockung auf 500 Projektplätze. Damit könnte zumindest in ausgewählten Einsatzländern eine landesweite Wirkung erzielt werden. Das ist auch eine Forderung an uns selber zu größerer politischer Mitverantwortung.

Realistisch müssen wir uns eingestehen, dass das entscheidende Umdenken noch nicht stattgefunden hat. Zivile Konfliktbearbeitung wird mehrheitlich noch immer als Beiwerk, nicht als Grundlage von Friedenspolitik begriffen. Dabei ist doch im Kleinen des Zivilen Friedensdienstes wie im Großen der Weltpolitik ein anderer Weg als der des Dialogs, der Anerkennung, des Interessenausgleichs schlicht widersinnig und unweise. Ja, Gewaltfreiheit in der Tradition von Gandhi und Martin Luther King hat eine geistige, eine spirituelle Dimension. Doch sie ist deswegen nicht unrealistisch, im Gegenteil: Die Erfahrung zeigt, dass nur gewaltfreie Mittel tragfähige Auswege aus dem Kreislauf der Gewalt bieten. Wie soll ein »Krieg gegen den Terrorismus« gewonnen werden, der selbst mit Mitteln des Terrors arbeitet und täglich neuen Hass gebiert? Es könnte doch sein – so fragte an dieser Stelle Hans Küng (Träger des Göttinger Friedenspreises 2002), dass die aussichtsreichere Eindämmung des Terrorismus darin bestünde, die Dollarmilliarden für die Verbesserung der sozialen Lage der Globalisierungsverlierer in aller Welt statt für militärische Zwecke aufzuwenden und im Dialog mit der muslimischen Welt die Ursachen des Ressentiments gegenüber dem Westen zu ergründen…

Ich möchte mit den Worten des Stifters des Göttinger Friedenspreises, Roland Röhl, schließen: „Statt Kriegsführungsstrategien brauchen wir Friedensführungskonzepte, statt Militär brauchen wir Institutionen zur Konfliktverhinderung. Darüber hinaus brauchen wir eine Friedenserziehung, die zum Wandel im gesellschaftlichen Bewusstsein führt.“1

Anmerkungen

1) Roland Röhl: Wehrlos durch Waffen – Wozu brauchen wir noch Militär?, in den Beiträgen der Göttinger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für Frieden und Abrüstung, Nov. 1990

Dr. Tilman Evers, Vorsitzender des Forums Ziviler Friedensdienst

Deeskalation – Paradigma für Konfliktforschung?

Deeskalation – Paradigma für Konfliktforschung?

von Corinna Hauswedell

Die verschärften Spannungen auf vielen internationalen- Krisenschauplätzen bringen es mit sich, dass man in Politik und Wissenschaft gegenwärtig weniger mit Idealzuständen von Frieden und Sicherheit als mit den Prozessen von Eskalation bzw. Deeskalation von Konflikten befasst ist. Die Definition des Universallexikons stellt Deeskalation. (und ihren Gegenbegriff Eskalation) eindeutig in den begrifflichen Kontext politischer und militärischer Gewaltanwendung (bzw. deren Minderung) beschreibt allerdings eher Richtungen und Methoden im Umgang mit Gewaltkonflikten als Zielperspektiven oder dauerhafte Lösungsansätze. In diesem pragmatischen Definitionsansatz liegen sowohl Chancen als auch Gefahren: Chancen für ein Krisenmanagement, das jenseits von ideologischer Bevormundung und zum Nutzen der Konfliktbetroffenen möglicherweise Schlimmeres abwenden kann, aber auch Gefahren, dabei im Gestrüpp widerstreitender Interessen hängen zu bleiben und nicht zu den Wurzeln der Konflikte vorzudringen. Es soll hier dafür plädiert werden, Deeskalation gerade wegen dieser Ambivalenzen als Paradigma für zeitgemäße Friedens- und Konfliktforschung näher zu untersuchen. Die Komplexität der vorfindbaren Konfliktstrukturen und ihrer Bearbeitungsmodi macht einen transdisziplinären Zugriff auf das Paradigma Deeskalation notwendig; dieser könnte auch den Diskurs zwischen akademisch-analytischen und praxeologischen Ansätzen neu befruchten.1

Deeskalation stellt demnach zunächst keine eigenständige theoretische Kategorie dar; sie bildet eher einen historischen und aktuellen politischen Erfahrungsvorrat, den es zu systematisieren gilt. Wegen der traditionellen Arbeitsteilung der akademischen Disziplinen stehen nach wie vor politikwissenschaftliche, soziologische, psychologische und andere sozialwissenschaftliche Forschungen zur Beendigung bzw. Verhinderung von Kriegen und Gewaltkonflikten relativ unverbunden nebeneinander. Die Ökonomie, das Völkerrecht, die Ethnologie und Anthropologie, aber auch die Naturwissenschaften, wenn es um Rüstung und Abrüstung geht, wären zu befragen.

Auf seiner Jahrestagung im Dezember 2004 hat der Arbeitskreis Historische Friedensforschung einen Versuch unternommen, diese Diskussion aus zeithistorischer Perspektive anzuregen.2 Die Entspannungsbemühungen während des Ost-West-Konfliktes und deren Grenzen wurden in komparativer Absicht einigen erfolgreichen und gescheiterten Deeskalations- und Transformationsansätzen vorwiegend innerstaatlicher Konflikte in den neunziger Jahren gegenüber gestellt. Die Veranstalter fragten u.a. danach, welche Bedeutung unterschiedliche Weltordnungsvorstellungen für Konzepte der Deeskalation haben können.

Im Rahmen der »Strategic Studies«, der klassischen realistischen Schule des Kalten Krieges, wurde in den 1960er und 1970er Jahren systematisch über Eskalation als Mittel der Konfliktbewältigung nachgedacht, so z.B. in dem renommierten US Think Tank der RAND Corporation; erinnert sei auch an die programmatische Schrift »On Escalation«, die Herman Kahn 1965 verfasste.3 Aber auch der Begriff der Deeskalation nahm in jener Zeit Gestalt an, als Reflex auf den Vietnamkrieg, den heißen Krieg im Kalten Krieg. Die anglo-amerikanisch geprägte Forschung über Conflict Resolution, diesich mit Namen wie Alexander George, Louis Kriesberg, Charles Osgood, Robert Randle oder William Zartman verbindet, nahm dort ihren Anfang.

Ausgangspunkte und Gründe, um über Deeskalation nachzudenken, waren also in der Vergangenheit und sind es heute konfrontative Zuspitzungen im internationalen System, Krisen und Krieg. Deeskalation nimmt vor allem die Konfliktdynamik und ihre Akteure ins Visier. Im Kontext des Konfliktgeschehens zwischen und innerhalb von Staaten und Gesellschaften kann Deeskalation einen aktiven politischen Prozess der Konflikttransformation beschreiben. Er findet in der Regel mit dem Ziel statt, die Interaktion zwischen den Konfliktparteien so zu beeinflussen, dass gewaltförmiges und militärisches Handeln bzw. entsprechende Bedrohungen abgebaut und Chancen für einen friedensgerichteten, zivilen Konfliktaustrag eröffnet werden.

Wie nachhaltige Friedensprozesse in Gang zu setzen sind, rückte seit dem Ende des Kalten Krieges, und mit neuer Dringlichkeit seit dem »Krieg gegen den Terror« und dem Irakkrieg 2003 ins Zentrum internationaler Ordnungsvorstellungen. In den aktuellen Debatten über sogenannte neue Kriege, humanitäre Intervention und Nachkriegskonsolidierung ist die transdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung in besonderer Weise gefordert, zu untersuchen, wie denn Bedingungen für eine zivile Konfliktbearbeitung, für staatliche und nichtstaatliche Strategien einer politischen Streitbeilegung, aussehen können.

Der Blick in die Zeitgeschichte seit Beendigung des Zweiten Weltkrieges eröffnet ein breites Spektrum unterschiedlicher Szenarien von Deeskalation. Diese reichten von vielfältigen Formen politischer Entspannung4, einseitiger und multilateraler Vertrauensbildung, Vermittlung und Mediation, klassischer staatlicher sowie sogenannter »track- two«-Diplomatie, über Sanktionsregime, Waffenstillstandsvereinbarungen und Abrüstung bis hin zu Friedensschlüssen und zur Förderung gemeinsamer oder kollektiver Sicherheit, etwa im Rahmen des KSZE-Prozesses seit 1975. Politischer Dialog und Kommunikation erwiesen sich in all diesen Deeskalationsansätzen stets als zentrale Kategorien. Der Wandel der internationalen Beziehungen, Ordnungsvorstellungen und Konfliktwahrnehmungen seit 1945 – während des bipolaren Kalten Krieges und seit der Zäsur von 1989/90 – hat auch die Akteursperspektiven für Deeskalation verändert. Während der militärisch und ideologisch hoch gerüsteten Ost-West-Konfrontation wurden Deeskalationsstrategien vor allem mit dem Ziel der Kriegsvermeidung entwickelt, nicht immer erfolgreich, wie die zahlreichen Stellvertreterkriege zeigen. Und Krisen zwischen den Supermächten waren immer ein Tanz auf dem atomaren Vulkan. War der Ost-West-Konflikt ein sich selbst erhaltendes System von Eskalation und Deeskalation?

Heute treten die eingangs erwähnten Ambivalenzen im Umgang mit Deeskalation noch deutlicher zu Tage. Die neue unipolare Weltkonstellation mit ihren großen Machtasymmetrien hat einerseits zu einer Enttabuisierung militärischen Handels geführt und tritt dabei auch im Gewande interessengeprägter politischer Doppelmoral auf. Andererseits wurden aber auch neue Ressourcen für friedensfördernde Prozesse sichtbar: Zwischen 1989 und 2000 sind etwa vierzig Friedensvereinbarungen zur Regelung vornehmlich innerstaatlicher Gewaltkonflikte getroffen worden; der Verhandlungsfrieden hat den Siegfrieden als dominante Form des Friedensschlusses abgelöst. Das war etwas Neues, auch für die vom Ost-West-Konflikt geprägte Friedens- und Konfliktforschung, die sich gleichzeitig mit ernüchternden Analysen hinsichtlich der geringen Nachhaltigkeit vieler dieser Friedensschlüsse konfrontiert sah.5 Liegen also auch den Befriedungen der »kleinen Kriege« vorwiegend fragwürdige oder ineffiziente Deeskalationsstrategien zugrunde?

Die Handlungsspielräume für Deeskalation und die Kenntnisse über ihre Wirkungsmechanismen haben sich erweitert. Neben den Nationalstaaten treten zunehmend internationale, staatliche und nichtstaatliche Organisationen, gesellschaftliche Gruppen und Individuen als handelnde Subjekte im Konfliktgeschehen auf. Staatliche Souveränität wird durch eine Vielzahl von widersprüchlichen Faktoren begrenzt bzw. in Frage gestellt, die mit der Globalisierung, ihren Licht- und Schattenseiten, zusammen hängen. Dies gilt im Nord-Süd- wie im West-Ost-Verhältnis. Es sind dies u.a. Probleme ökonomischer Integration bzw. Desintegration, die Gefährdung sozialer und ethnischer Gefüge, die Verletzung von Menschenrechten sowie der Zerfall von Staatlichkeit.6

Kriseninterventionen von außen bzw. durch Drittparteien, einschließlich gezielter Militäreinsätze (mit und ohne Mandat der UNO), begründet mit notwendiger politischer Stabilisierung, humanitärer Hilfe oder Demokratisierung, erlebten in den 1990er Jahren eine neue, nicht unumstrittene Konjunktur, auf dem Balkan, auf dem afrikanischen Kontinent, in Afghanistan. Die Bundeswehr ist seit 1994 mit fünfzig Einsätzen beteiligt. Dienten diese Interventionen der Deeskalation im Sinne der Reduzierung militärischer Gewalt und der Eröffnung ziviler Handlungsspielräume? Das Bild ist mindestens widersprüchlich. Wenn offensichtlich die Grenzen und Übergänge zwischen zivilem und militärischem Handeln in Konflikten fließender werden, erscheint eine vertiefte Befassung mit den verfügbaren Erfahrungen der Deeskalation besonders dringend geboten.

Krieg und Frieden rücken also – auch in der wissenschaftlichen Betrachtung – näher zusammen. Übergangsphasen und -formen unbeendeter Gewaltanwendung und instabiler Friedensprozesse erfordern aber eine größere Trennschärfe bei der Analyse der Faktoren, die tatsächlich deeskalierend und in diesem Sinne friedensfördernd wirken. Unterschiedliche Friedensmissionen in Afrika, z.B. in Liberia, aber auch der Kongo deuten darauf hin, dass Deeskalation – und oft auch mit ihr einhergehende Entwicklungshilfe – nicht immer an die tiefer liegenden Konfliktursachen heranreicht, ja zuweilen für diese sogar kontraproduktiv sein kann. Unter der Oberfläche momentaner Stabilisierung können ökonomische und politische Gewaltkulturen bzw. Machtverhältnisse weiterwirken, die eine Demokratisierung der Konfliktgesellschaften verhindern (siehe Beitrag von Zappatelli und Trivelli auf Seite 27, d. Red.). Der Umgang des Westens mit vielen arabischen Staaten war über Jahrzehnte von ähnlichen Mustern oberflächlicher Stabilisierung autoritärer Herrschaft geprägt. Hier liegt eine Ursache dafür, dass, wie die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer auf dem letzten Historikertag darlegte, die Zäsuren von 1989 und auch der 11. September 2001 in der islamischen Welt anders wahrgenommen wurden als im Westen.

Deeskalation hat deshalb auch die legitimatorische Funktion von Gewalt in Konflikten ins Visier zu nehmen. In bewaffneten Konflikten und Kriegen geht es selten nur um militärische Strategien, Waffen und Soldaten und auch nicht nur um ökonomische Interessen, die viel diskutierten Kriegsökonomien,7 oder um Territorialansprüche, sondern eben auch um die Deutungshoheit im Konflikt, um Meinungs- und Definitionsführerschaft über gesellschaftlich-historisch gewachsene Traditionen, Mythen und Symbole der Konfliktparteien. Deeskalationsstrategien müssen heute in wachsendem Maße die Interdependenz solcher verschiedenartigen subjektiven und objektiven Faktoren reflektieren: Dies sind einerseits solche Faktoren, die eher der Sphäre der politisch-militärischen »Hardware« internationaler Ordnungspolitik entspringen und andererseits solche, die stärker aus der »Software« sozialpsychologischer bzw. kulturell-mentaler Gegebenheiten von langanhaltenden Konflikten und Gewaltverhältnissen erwachsen. Aus der Komplementarität beider Sphären, die man auch als die Außen- und Innenwelt der Konflikte bezeichnen könnte, ergibt sich erst das vollständige Bild einer wirkungsvollen zivilen Konfliktbearbeitung.

Für die friedenswissenschaftliche Analyse bedeutet dies, nolens, volens, auch eine erneute Hinwendung zu den Phänomenen des Krieges.8 Anhand von komparativen Analysen wäre über die Depolitisierung bzw. Repolitisierung, mithin auch über die Legitimation von politischer Gewalt neu nachzudenken, um zu verstehen, wo, wie und wann Deeskalationsstrategien einsetzen können. Interessant könnte eine Weiterentwicklung pragmatischer Konzepte der angelsächsischen »Conflict Resolution« sein, z.B. der Theoreme über den »ripe moment« bzw. das »mutually hurting stalemate«, anhand derer William Zartman (u.a. am Beispiel von Südafrika oder auch Nordirland) einen möglichen Beginn von Verhandlungen beschrieben hat.9 Aus zahlreichen innergesellschaftlichen, bürgerkriegsähnlichen Konflikten lassen sich, gerade wenn auch relativ starke staatliche Akteure beteiligt sind, neue Erkenntnisse über die Asymmetrien von Gewaltdynamik und Friedensdynamik gewinnen,10 die für Deeskalationsstrategien von Nutzen sein können.

Vergleicht man also die bipolare mit der unipolaren Welt, ist zu fragen: Lassen sich strukturbildende Merkmale für eine »Einhegung« von internationalisierten Konflikten oder Deeskalation zwischen und innerhalb von Staaten aus der Zeit des Kalten Krieges für die unipolare und von wachsenden Machtungleichheiten geprägten internationalen Konstellation von heute bereit stellen? Erleichterte der Wegfall der bipolaren Konfrontation den Blick für die Eigengesetzlichkeiten und Deeskalationschancen lokaler oder regionaler Konflikte? Oder droht u.U. eine neue Überlagerung endogener Konfliktstrukturen durch eine globale Konfrontation des Westens mit dem Islamismus unter dem Rubrum des Antiterrorkampfes? Hieran schließen sich unmittelbar Fragen nach den Inhalten und Zielen von Deeskalation an: Können so unterschiedliche Perspektiven einer Deeskalation wie Gewaltminderung und Abrüstung einerseits11 und die Sicherung von Menschenrechten und Demokratie andererseits miteinander in Einklang gebracht werden? Eröffnet nicht die aktuelle Menschenrechtsdebatte im Kontext eines »gerechten Friedens« Dilemmata für Deeskalation, die nicht vereinbar sind? Die nordirische Völkerrechtlerin Christine Bell12 verweist beispielsweise auf die Spannungsfelder zwischen Inklusion und Exklusion von Konfliktparteien, zwischen Versöhnung und Gerechtigkeit, Amnestie und Strafverfolgung etc., plädiert aber dafür, diesen in jedem Friedensprozess klassischen »clash« von Pragmatismus und Prinzipien, von verhandelbaren und nicht verhandelbaren Zielen, durch eine verabredete Reihenfolge und eine geduldige Organisation des Wandels zu lösen, die nicht auf Sieg oder Niederlage einer Seite hinauslaufen darf. Neuere Forschungen über das »Management von Friedensprozessen«,13 nehmen zwar die pragmatischen Ansätze der frühen 1990er Jahre zur Kriegsbeendigung, Kriegsfolgenbewältigung und Friedenskonsolidierung auf, die von der UN-Agenda for Peace beeinflusst waren,14 warnen aber angesichts komplexer Gewaltverhältnisse vor einen»quick fix« und beschreiben auch Deeskalation als ambivalenten, keineswegs gradlinigen Prozess.

Der internationale politische Diskurs reflektiert die neueren wissenschaftlichen Debatten über Konfliktbearbeitung nur selektiv. So enthält der Report, den die Reformkommission des UN-Generalsekretärs Ende 2004 vorgestellt hat,15 zwei bemerkenswerte Akzente mit Blick auf internationale Deeskalationschancen (obwohl der Begriff selbst dort nicht zu finden ist).

  • Das Prinzip Kollektiver Sicherheit wird erstmals explizit als Strategie der Staatengemeinschaft formuliert; was eine implizite Absage an unilaterales Handeln der Supermacht bedeutet.
  • Entwicklung wird als elementare Voraussetzung für Sicherheit propagiert, ein Vorrang wird zivilen außenpolitischen Instrumenten der Prävention im Umgang mit den Verwerfungen der Globalisierung gegeben.

Problematisch hingegen, auch unter dem Gesichtspunkt wirksamer Deeskalationsstrategien erscheint der Umgang mit dem sogenannten erweiterten Sicherheitsbegriff, der ja u.a. auch in der sicherheitspolitischen Strategie der EU zugrunde gelegt wurde.16 Wenn alles mit allem zusammenhängt, also eine Verbindung und Gleichrangigkeit so verschiedener Bedrohungen wie Terror und Massenvernichtungswaffen, Seuchen und Unterentwicklung, Genozid und organisiertes Verbrechen stattfindet, wird dies in der Konsequenz zu Verwischungen führen – in der Analyse ebenso wie in den Handlungsoptionen für die Konfliktbearbeitung. Die eigentlich erforderliche größere Trennschärfe, d.h. Fähigkeit zur Unterscheidung und Hierarchisierung von Konfliktpotenzialen mit Blick auf ihre Gewalthaltigkeit, kann im Einheitsbrei allgegenwärtiger Bedrohungen leicht verloren gehen. Für die wenigsten dieser Bedrohungen ist das Militär die richtige Antwort, in den meisten Fällen sein Einsatz vielmehr kontraproduktiv. Hinsichtlich der Frage, ob und wann militärische Mittel eine geeignete Art der Konfliktintervention darstellen, entstehen mit dem erweiterten Sicherheitsbegriff deshalb mehr Probleme als Lösungen. Mit der Diskussion, ob und wie militärische und zivile Strategien und Instrumente in bewaffneten Konflikten friedensfördernd zusammenwirken können, stehen wir erst am Anfang. Dem »trial and error« der Politik muss friedenswissenschaftliche Forschung mit fundierten Konflikt- und Bedrohungsanalysen und der Evaluierung erfolgreicher und gescheiterter Deeskalationen, also durch komparative und interdisziplinäre Studien, zur Seite stehen.

Als relativ gesichert können gegenwärtig zwei zentrale politische Leistungspotenziale von Deeskalation gelten. Sie lassen sich aus Konflikten ableiten, die erfolgreich in eine zivile Kooperationsperspektive überführt werden konnten. Interessanterweise sind dies Erfahrungen, die in ähnlicher Weise sowohl bei der Beendigung des Kalten Krieges als auch in einer ethno-politischen Konfliktkonstellation wie z.B. dem Nordirlandkonflikt beobachtet wurden. Sie scheinen unabhängig von der weltpolitischen Ordnungsperspektive und sowohl im zwischenstaatlichen wie im innerstaatlichen Handlungsrahmen Gültigkeit zu besitzen:

  • Nachhaltige politische Entspannung und Gewaltverzicht zwischen Konfliktparteien, staatlichen und nichtsstaatlichen Akteuren, entsteht nur mit Hilfe von Kommunikationsstrategien, die auf der Anerkennung der anderen Seite, gegebenenfalls auch der »Hardliner«, beruhen und auf gleichberechtigte Teilhabe an dem anvisierten Transformationsprozess abzielen.
  • Abrüstung, die ein strategisches Ziel jeder Deeskalation sein sollte, ist in der Regel keine Einbahnstraße und bedarf eines regionalen bzw. multilateralen Kontextes. Sie lässt sich eher im Ergebnis eines neuen Sicherheitskonsenses erreichen, denn als dessen Voraussetzung. Rüstungskontrollregime – dies gilt für Massenvernichtungswaffen in ähnlicher Weise wie für Kleinwaffen und hängt auch mit deren politischer Symbolfunktion zusammen – sind zur Vertrauensbildung essentiell, um Ausstiegsszenarien vorzubereiten.

Die potenziellen Stärken einer Deeskalation liegen also bisher vor allem in der Initiierung des politischen Dialoges zum Aufbrechen einer Konfliktstruktur und in der klaren Adressierung der sicherheitspolitischen Dimension eines Gewaltkonfliktes. Davon, wie es gelingt, mittels Deeskalation den Konfliktaustrag weitergehend zu zivilisieren, hängt es ab, ob den Zielperspektiven wie der Sicherung von Menschenrechten und Demokratie in dem jeweiligen Konfliktfall Geltung verschafft werden kann. Diese Binnenkonsolidierung von Konflikten, die nicht ohne Zivilgesellschaften funktioniert, ist die eigentliche Bewährungsprobe jeder behutsam und geduldig zu führenden Deeskalation. Deshalb, also wegen der von den Konflikten betroffenen Menschen, sollten Deeskalationsstrategien von vornherein die Konfliktursachen, die unterschiedlichen Interessenlagen und Vorteilserwartungen der Konfliktparteien in den Blick nehmen. Deeskalation, nicht Eskalation soll sich auszahlen. Die Ordnungsvorstellungen der mächtigen Staaten sind, vor allem wenn sie sich geopolitisch gerieren, nicht immer die besten Ratgeber für eine so verstandene Deeskalation.

Bereits der griechische Stratege und Historiker Thukydides wusste: „Von allen Bekundungen der Macht beeindruckt die Menschen nichts so sehr wie Zurückhaltung.“

Deeskalation (lat.), Abschwächung, schrittweise Abrüstung, stufenweise Verringerung militär. Mittel, allmähl. Abbau von Spannungen; Gegensatz: Eskalation.

Eskalation (frz.), stufenweise Verschärfung eines polit. oder militär. Konflikts durch gegenseitige Provokationen und Heraufschrauben von Forderungen. Wirksames Krisenmanagement besteht in der Eindämmung der E. und ihrer schließl. Umkehrung in eine Deeskalation.

(Einträge im Universallexikon)

Anmerkungen

1) Der Text basiert in Teilen auf einem öffentlichen Vortrag, gehalten an der Bucerius Law School, Hamburg, am 9.12.2004.

2) Die Ergebnisse dieser Tagung »Deeskalation von Gewaltkonflikten nach 1945 – Eine vergleichende Geschichte der Konfliktbearbeitung« werden in diesem Jahr als Buch publiziert in der Reihe »Frieden und Krieg – Beiträge zur Historischen Friedensforschung«, Klartext Verlag, Essen. Aus historischer Perspektive vgl. auch J. Dülffer/ M. Kröger/R.-H. Wippich (Hg.): Vermiedene Kriege. Deeskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg, München 1997.

3) Herman Kahn: On Escalation. Metaphors and Scenarios, London, Pall Mall Press 1965 (Hudson Institute Series on International Security and World Order.

4) Vgl. auch den Beitrag von Gottfried Niedhart in dieser W&F-Ausgabe, S. 19.

5) Vgl. z.B. die Studie von Collier, Paul et al: »Breaking the Conflict Trap: Civil War and Development Policy«, World Bank Report 2003 (http://econ.worldbank.org/prr/CivilWarPRR/), in der u.a. davon ausgegangen wird, dass ca. 2/3 der seit 1945 eingeleiteten Friedensprozesse innerhalb der ersten zehn Jahre einen Rückfall in die Gewalt erleben.

6) Vgl. u.a. Tobias Debiel (2004): Konfliktbearbeitung in Zeiten des Staatsverfalls: Erfahrungen und Lehren zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in: U. Blanke (Hrsg.): Krisen und Konflikte – Von der Prävention zur Friedenskonsolidierung, Berlin, 2004, S. 21-38.

7) François Jean and Jean-Christophe Rufin (Ed.): Économie des guerres civiles, Hachette, Paris, 1996.

8) Christopher Daase: Der Krieg und die Friedensforschung, Kleine Polemik zugunsten der Polemologie, in: H. Schmidt/U.Trittmann (Hg.): Kultur und Konflikt, Festschrift für Johan Galtung, Münster 2002, S. 83-95.

9) William Zartman: Ripe for Solution. Conflict und Intervention in Africa, New York/Oxford, 1985, sowie Ders.: Ripeness revisited: The Push and Pull of Conflict Management, Draft Paper (vorgelegt auf der o.g. Tagung, im Dezember 2004 in Loccum, s. Anm.2).

10) Peter Waldmann: Zur Asymmetrie von Gewaltdynamik und Friedensdynamik am Beispiel von Bürgerkriegen und bürgerkriegsähnlichen Konflikten, in: W. Heitmeyer/H.-G. Soeffner (Hg.): Gewalt, Frankfurt/M. 2004, S. 246-265.

11) Vgl. hierzu den Beitrag von Herbert Wulf in dieser W&F-Ausgabe, S. 15.

12) Vgl. auch Christine Bell: Peace Agreements and Human Rights, Oxford 2000.

13) Vgl. u.a. John Darby/Roger Mac Ginty (Ed.): The Management of Peace Processes, London 2000.

14) Vgl. z.B. für den deutschsprachigen Kontext Volker Matthies (Hg.): Vom Krieg zum Frieden, Bremen 1995.

15) United Nations High-level Panel on Threats, Challenges and Change. A More Secure World: Our Shared Responsibility. New York 2004.

16) Vgl. Corinna Hauswedell/Herbert Wulf: Die EU als Friedensmacht? Neue Sicherheitsstrategie und Rüstungskontrolle, in: Friedensgutachten 2004, Hg. von C. Weller, U. Ratsch, R. Mutz, B. Schoch, C. Hauswedell, Münster-Hamburg-London 2004, S. 122-130.

Dr. Corinna Hauswedell ist für das Bonn International Center for Conversion Mitherausgeberin des Friedensgutachtens und Sprecherin des Arbeitskreises Historische Friedensforschung

Menschenrechte und Konfliktprävention

Menschenrechte und Konfliktprävention

Zur Diskussion um die UN-Reform

von Silke Voß-Kyeck

Die Erwartungen waren gemischt, die Reaktionen sind größtenteils positiv, die Umsetzung wird möglicherweise sehr ernüchternd sein. Als Kofi Annan vor zwei Jahren 16 ausgewählte Experten beauftragte, globale Sicherheitsbedrohungen zu analysieren und notwendige kollektive Maßnahmen zu empfehlen, waren viele Beobachter skeptisch, ob dieses Gremium unterschiedlichster altgedienter Persönlichkeiten tatsächlich visionäre und gleichermaßen realistische Vorschläge für den Reformprozess der Vereinten Nationen unterbreiten würde.1 Im Rückblick auf die vergangenen Jahre und in Anbetracht der Angriffe auf die UN und das Völkerrecht im Kontext des Irak-Krieges und der neuen Sicherheitsstrategie der US-Regierung – und damit einer drohenden Rückentwicklung zum »Faustrecht« in den internationalen Beziehungen – war diese Skepsis sicherlich berechtigt. Im Dezember 2004 hat jedoch die Expertengruppe unter dem Titel »Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung« eine umfassende und mitunter beängstigende Analyse der seit den Gründungsjahren der UN tief greifend veränderten Welt und größtenteils sehr differenzierte Handlungsempfehlungen vorgelegt. Das Ziel ist eindeutig, die beschädigte Autorität der Vereinten Nationen wiederherzustellen, um den Herausforderungen auf kollektiver Grundlage effektiv begegnen zu können. Das schließt Kritik zu manchen Details nicht aus, sondern ein.

Folgt man den bisherigen Stellungnahmen der Bundesregierung und ihrer diplomatisch-politischen Kampagne für einen deutschen Sitz im Sicherheitsrat, könnte man meinen, die Reform dieses zweifellos anachronistischen Gremiums sei der zentrale Aspekt des Expertenberichts. Diese verkürzte Sicht ist jedoch weder klug noch gerechtfertigt, zumal gerade dies der einzige Punkt ist, bei dem kein Konsens für die Empfehlungen gefunden wurde und die Sicherheitsratserweiterung nur ein Puzzlestein in einem weit größeren Bild ist.

Auch die isolierte Auseinandersetzung mit den Kriterien für die Legalität und Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt wird dem Bericht nicht gerecht, zeigt er doch Lösungsansätze auf, damit es zum Äußersten nicht kommen muss. Das Potenzial der Konfliktprävention und die Bedeutung des Menschenrechtsschutzes für eine »sicherere Welt« bleiben in der Debatte des Expertenberichts bisher völlig unterbewertet und verlangen deshalb eine besonders sorgfältige und kritische Erörterung.

Kollektive Unsicherheit durch grenzüberschreitende Bedrohungen

Ausgangspunkt aller Überlegungen ist ein Begriff von kollektiver Sicherheit, der über die Sicherheit von Staaten hinausgeht und auf drei Grundaussagen beruht:

  • die heutigen Bedrohungen überschreiten nationale Grenzen,
  • kein Staat kann sich alleine schützen und
  • nicht jeder Staat ist stets willens und fähig, seine eigene Bevölkerung zu schützen.

Ein Konsens über die heutigen Bedrohungen wird als Vorbedingung für die Herstellung kollektiver Sicherheit gesehen – und mit der unterschiedlichen Wichtigkeit, die Bedrohungen bislang zugemessen wurde, werden die bisherige Inkonsistenz und Selektivität multilateralen Handelns erklärt.

An erste Stelle setzt der Bericht die wirtschaftlichen und sozialen Bedrohungen durch Armut, Infektionskrankheiten und Umweltzerstörungen, und somit wird auch Entwicklung als erste aller Präventivmaßnahmen zur unabdingbaren Grundlage kollektiver Sicherheit. Dazu kommen zwischen- und innerstaatliche Konflikte, nukleare, radiologische, chemische und biologische Waffen, Terrorismus und grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Die Interdependenz dieser Bedrohungen bestärkt die Notwendigkeit eines neuen Sicherheitsverständnisses zusätzlich.

An der Berechtigung dieser Bedrohungsszenarien kann kaum ein Zweifel bestehen. Ergänzt man aber über die Entwicklungsfrage hinaus das Prinzip kollektiver Sicherheit explizit um die Perspektive »menschlicherSicherheit«, stellt sich die Frage, wie vollständig die Bedrohungsanalyse tatsächlich ist. Denn die Sicherheit von Millionen Menschen weltweit, und Frauen und Mädchen in besonderer Weise, ist durch Verletzungen ihrer elementaren Rechte ganz konkret alltäglich bedroht. Nicht nur delegitimieren systematische Menschenrechtsverletzungen die verantwortlichen Staaten als Elemente des internationalen Systems. Die Gewährleistung aller Menschenrechte für alle Menschen ist das absolut notwendige Minimum, um die Sicherheit und Integrität von Individuen vor Machtmissbrauch zu schützen. Die Menschenrechte sind keine Gefälligkeitsleistungen der Regierungen. Ohne den Schutz des Rechtsstaates, inklusive Mechanismen zur Rechenschaftspflicht, können »Terrorismus-Verdächtige«, GewerkschafterInnen oder AktivistInnen für Zugang zu sauberem Wasser gleichermaßen Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen werden, wie geheime Festnahme, Verhaftung ohne Vorwürfe und Verfahren, Folter und Verschwindenlassen. Die Herausforderung für die Staaten besteht darin, die Sicherheit der Bürger nicht auf Kosten der Menschenrechte verbessern zu wollen, sondern sicherzustellen, dass alle Menschen in den Genuss des gesamten Spektrums ihrer elementaren Rechte gelangen. Wirkliche individuelle wie auch kollektive Sicherheit entsteht erst, wenn Menschenrechte respektiert und geachtet werden.

Umso wichtiger ist es, hervorzuheben, dass der Bericht eine ganze Reihe wichtiger Empfehlungen enthält, die in der Diskussion nicht untergehen sollten. Allem voran steht hier der unmissverständliche Hinweis auf den „klaren Widerspruch“ (290)2 zwischen nur 2 Prozent der Haushaltsmittel für das Hochkommissariat für Menschenrechte und der Charta-Verpflichtung, Menschenrechtsschutz zu einem Hauptziel der UN zu machen. Weniger eine Frage der Kosten als des politischen Willens wäre die sofort umsetzbare Empfehlung, die Hochkommissarin für Menschenrechte regelmäßiger in Debatten des Sicherheitsrates einzubeziehen. Das Hochkommissariat kann nicht nur für die Mandatierung von Friedenseinsätzen, sondern generell für länderspezifische Debatten, Frühwarnung und die Umsetzung menschenrechtsrelevanter Bestimmungen der Sicherheitsratsresolutionen einen unschätzbaren Beitrag leisten. Der vorgeschlagene Jahresbericht des Hochkommissariats über die Menschenrechtslage in »allen« UN-Staaten könnte sowohl zur Entpolitisierung der Debatte in der Menschenrechtskommission beitragen als auch der Arbeit der Sonderberichterstatter und Vertragsorgane deutlich mehr Gewicht verleihen. Dies allerdings führt wieder zurück auf die bisher völlig unzureichenden Ressourcen des Hochkommissariats und den notwendigen politischen Willen, dieses Amt zu stärken.

Herausforderungen für die Gewährleistung kollektiver Sicherheit

Die Schwäche in der Bedrohungsanalyse trägt mit dazu bei, dass die Notwendigkeiten und insbesondere Möglichkeiten für Menschenrechtsschutz und Konfliktprävention, die der Bericht teils ausdrücklich, teils erst auf den zweiten Blick offeriert, in der Diskussion des Berichts deutlich unterbelichtet bleiben und hier beträchtliches Potenzial zu versickern droht.

Eher beiläufig verweist der Bericht beispielsweise auf die Notwendigkeit, Frauen angesichts der massenhaften Anwendung sexueller Gewalt in Konflikten besonders zu schützen, oder in Friedensverhandlungen und -prozesse stärker einzubinden. Dies wird der Bedeutung, die Frauen bei der Verhütung und Beilegung von Konflikten und bei der dauerhaften Friedenskonsolidierung (und damit auch kollektiver Sicherheit im Sinne des Berichts) spielen können, nicht gerecht. Die Empfehlungen der vom Sicherheitsrat schon im Jahr 2000 beschlossenen Resolution 1325, deren Umsetzung die Expertengruppe en passant befürwortet, sehen dementsprechend vor, dass Frauen auf allen nationalen, regionalen und internationalen Entscheidungsebenen der Prävention, Konfliktbeilegung und Friedenskonsolidierung verstärkt eingebunden werden und eine Gender-Perspektive in allen Prozessen der Friedenssicherung systematisch integriert und implementiert wird.

Deutlicher ist der Bericht hingegen in seiner Forderung nach rechtsverbindlichen Vereinbarungen zur Kennzeichnung, Rückverfolgung, Vermittlung und zum Transfer von Kleinwaffen und leichten Waffen. Weltweit werden jedes Jahr eine halbe Million Menschen durch Waffengewalt getötet – ein Mensch pro Minute. Regierungen, die lautstark vor der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen warnen, tragen gleichzeitig durch den hemmungslosen Transfer von konventionellen Waffen, darunter Kleinwaffen, zur Eskalation von Konflikten rund um den Erdball bei. Für eine effektive Krisenprävention ist die verbindliche Kontrolle von Klein- und Leichtwaffen – die als echte Massenvernichtungswaffen angesehen werden müssen – eine absolut notwendige Voraussetzung. Umso wünschenswerter wäre es, dass sich die Bundesregierung auch diese Empfehlung des Berichts zu Eigen macht und sich der Unterstützung für ein rechtlich verbindliches internationales Rüstungskontrollabkommen anschließt. Nur einheitliche Standards für den Waffenhandel und das Verbot aller Exporte, die zur Verletzung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts beitragen, können zu einer globalen Lösung für ein globales Problem führen.

Dass die Experten sich auf eine Definition des Terrorismus-Begriffs einigen konnten, ist nicht nur von Kofi Annan ausdrücklich begrüßt worden. Der präventive Aspekt einer eindeutigen Definition wird allerdings bisher wenig reflektiert. Eine solche Definition würde es vielen Staaten schwerer machen, Menschenrechtsverletzungen als notwendiges Mittel bei der »Terrorismusbekämpfung« zu rechtfertigen. Und sie ist eine Voraussetzung für eine umfassende, an den Ursachen ansetzende Strategie, die zugleich in einen strikten menschenrechtlichen Rahmen eingebunden sein muss.

Weitaus offensiver ist der Bericht in seiner Analyse der Defizite der UN bei der Prävention von zwischen- und innerstaatlicher Konflikten und entsprechenden Lösungsvorschlägen. Die Bedeutung präventiver Diplomatie und professioneller Vermittlung ist unbestritten, sie verlangt jedoch nach ausreichenden Kapazitäten und kompetenter Ausbildung, was bisher durch die „bewusst unzureichende Mittelausstattung“ (102) durch die Mitgliedstaaten verhindert wird. Aus menschenrechtlicher Perspektive besonders zu betonen ist die herausgehobene Rolle der Rechtsstaatlichkeit und entsprechender Unterstützung beim Kapazitätsaufbau in den Staaten. Insbesondere für Nachkonfliktsituationen macht der Bericht sehr deutlich, dass die Herstellung „ziviler Sicherheit durch Polizei-, Justiz- und Rechtsstaatsreform (und der) Aufbau örtlicher Kapazitäten für Menschenrechte und Aussöhnung“ (229) von außerordentlicher Bedeutung für die Realisierung von Menschenrechten und die langfristige Friedenskonsolidierung sind.

Vor diesem Hintergrund und angesichts einer institutionellen Lücke bei der Verhinderung des Wiederaufflammens einmal beigelegter Konflikte stellt die Forderung, eine „Kommission für Friedenskonsolidierung“ einzurichten, die zentrale Empfehlung der Experten dar. Unter der Voraussetzung, dass hier tatsächlich eine Koordinationsfunktion und nicht nur eine neue Ebene politischer Bürokratie etabliert wird, und dass auch die Hochkommissarin für Menschenrechte ausdrücklich einbezogen wird, verdient dieser Vorschlag zweifellos weitere Diskussionen. Über den institutionellen Fragen sollten jedoch die politisch und finanziell weniger bequemen Empfehlungen – neben den genannten Rechtsstaatsinvestitionen auch Ressourcen für Entwaffnungs- und Demobilisierungsprogramme, Wiedereingliederung und Rehabilitation – nicht vernachlässigt werden.

Den Finger in die Wunde legen die Experten schließlich auch mit ihrer Kritik an der bisherigen Sanktionspraxis des Sicherheitsrates. Je öfter in den letzten Jahren auf dieses Mittel zurückgegriffen wurde, umso deutlicher wurden die Unzulänglichkeiten vor allem in der Umsetzung: selektiv verhängt, nicht zielgenau eingesetzt und weder konsequent umgesetzt noch überwacht. Viel eher als einen Willen zur Prävention von Konflikten belegt diese Praxis die politischen und ökonomischen Partikularinteressen der Sicherheitsratsmitglieder. Nur ein aktuelles Beispiel: Während in der Elfenbeinküste, bedingt durch spezielle Interessen eines einzelnen Mitglieds, ein effektives Sanktionsregime mit allen notwendigen Überwachungsressourcen implementiert werden kann, wird im Sudan auf Intervention einer Vetomacht einer der Hauptverantwortlichen für schwerste Menschenrechtsverletzungen gezielt vom Waffenembargo ausgenommen. Diese Praxis hat der Legitimität von Sanktionen erheblich geschadet. Die daraus folgenden Empfehlungen der Expertengruppe sind ebenso nahe liegend wie eindringlich: routinemäßige Überwachungsmechanismen mit der erforderlichen Autorität und Ermittlungskompetenz, ausreichende Analysekapazitäten für die gezielte Ausrichtung, Sekundärsanktionen für Sanktionsbrecher und regelmäßige Bewertung der humanitären Auswirkungen von Sanktionen. Allein schon mit der konsequenten Umsetzung dieser Empfehlungen hätte der Sicherheitsrat nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen zur Hand, die den Einsatz von Gewalt als »ultima ratio« Lügen strafen.

Die Gewaltfrage

Stellung zu beziehen zu der Frage, wann die Anwendung von Gewalt sowohl rechtmäßig als auch legitim ist, war mit Blick auf die jüngsten militärischen Interventionen wie auch auf die Bestimmung des Souveränitätsbegriffs zweifellos eine große Herausforderung an das Panel. Die Expertengruppe macht sich hier ganz deutlich das Souveränitätskonzept zu Eigen, das 2001 von der »International Commission on Intervention and State Sovereignty« (ICISS) formuliert wurde und Souveränität nicht nur als Abwehrrecht gegen Einmischung von außen definiert, sondern auch als Pflicht eines Staates, seine Bevölkerung zu schützen („responsibility to protect“).3 Mit dem Bezug auf diese „sich herausbildende Norm“ (203) einer kollektiven internationalen Schutzverantwortung und dem Rückverweis auf die Bedrohungsanalyse ist es letztlich folgerichtig, dass selbst präventive kollektive Gewalt von den Experten nicht grundsätzlich ausgeschlossen wird. Die normativen Grenzen werden jedoch eindeutig gesteckt: Weder eine Neufassung des Gewaltverbots in Art. 51 der Charta noch eine Neufassung des mit Kapitel VII gewährten Handlungsspielraumes wird für notwendig erachtet. Und ebenso deutlich wird der Sicherheitsrat als einzige Quelle der Autorität akzeptiert. Hier kommt die »Weisheit« der Experten tatsächlich zum Ausdruck: Jeder Vorschlag zur Änderung der Charta im Hinblick auf das Gewaltverbot und kollektive militärische Zwangsmaßnahmen hätte die Büchse der Pandora geöffnet und mit großer Wahrscheinlichkeit der noch verbliebenen Autorität des Sicherheitsrates den Todesstoß versetzt. Sie taten also gut daran, unmissverständlich den mit Art. 51 und Kapitel VII bestimmten völkerrechtlichen Rahmen zu bekräftigen.

Angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre konnte das Panel aber zugleich Antworten auf die Legitimitätsfragen nicht verweigern. Inkonsistent, ineffizient, oft zu spät, zu zögerlich oder überhaupt nicht – so die schonungslose Analyse des bisherigen Handelns des Sicherheitsrates in Fällen so genannter humanitärer Interventionen. Somit ging es den Experten nicht darum, „Alternativen zum Sicherheitsrat als Quelle der Autorität zu finden“, sondern darum, „dafür zu sorgen, dass er besser funktioniert als bisher“ (198), und darum, dass seine folgenreichen Resolutionen „besser getroffen, besser begründet und besser kommuniziert werden“ (205). Möglich werden soll dies durch die Festlegung auf fünf Legitimitätskriterien, die ebenso wie der Souveränitätsbegriff eng den Vorgaben der ICISS angelehnt sind:

  • der Ernst der Bedrohung,
  • die Redlichkeit der Motive,
  • die Anwendung als letztes Mittel,
  • die Verhältnismäßigkeit der Mittel und
  • die Angemessenheit der Folgen.

Obwohl diese der Theorie des »bellum iustum« folgenden Kriterien weder falsch noch neu sind, bleiben dennoch ernstzunehmende Zweifel, ob damit sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingungen etabliert werden können. So fehlt beispielsweise die explizite Verpflichtung auf Einhaltung des humanitären Völkerrechts bei allen Zwangsmaßnahmen. Und bei der Schwere der Bedrohung bleibt unbegründet, warum hier nicht bereits den im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs völkerrechtlich kodifizierten Standards (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen) gefolgt wird.

Eine wichtige Schlussfolgerung in Bezug auf diese Maßstäbe bleibt der Bericht ohne Zweifel schuldig – dass keine der Interventionen der letzten fünfzehn Jahre den Kriterien standgehalten hätten. Allein diese Erkenntnis macht in dieser Frage einen Konsens der Staatengemeinschaft höchst unwahrscheinlich.

Perspektiven

Auch wenn die Analyse sehr differenziert ist und die Experten versuchen, dort, wo bisher breiter Interpretationsspielraum bestand, engere Grenzen zu ziehen – insbesondere bei der Legitimierung militärischer Gewalt, der Verhängung von Sanktionen und der Definition von Terrorismus –, sind die Inhalte des Berichts weder neu noch revolutionär. Dies spricht allerdings eher für den Realitätssinn der Experten; denn alles andere wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Entscheidend ist die in jeder Hinsicht berechtigte Eindringlichkeit, mit der auf den notwendigen Wandel verwiesen wird.

So ist es aus menschenrechtlicher Perspektive sehr zu wünschen, dass die Halbwertzeit des Berichts über das Gipfeltreffen im Herbst 2005 hinausreicht. Auch Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaft müssen dazu beitragen und sich nachdrücklich äußern. Viele der Empfehlungen ließen sich unmittelbar umsetzen, andere bedürfen eines förmlichen Beschlusses durch die Generalversammlung. Die »Vereinten Nationen« stehen aber sowohl für die Organisation als solche wie auch für die »Gemeinschaft« von 191 Staaten mit höchst unterschiedlichen Bedrohungsperzeptionen, Kapazitäten und ökonomischen Interessen. Es wäre illusorisch zu hoffen, dass tatsächlich von einer breiten Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten der politische Wille aufgebracht wird, sich umfassend an die Expertenempfehlungen zu binden. Die Panelmitglieder selber lassen keinen Zweifel, wovon die kollektive Sicherheit abhängen wird: „Die … Reformen werden für sich allein genommen die Vereinten Nationen nicht wirksamer machen. … Ihre Institutionen werden nur so stark sein wie die Energie, die Ressourcen und die Aufmerksamkeit, die die Mitgliedstaaten und deren Führer auf sie verwenden“.4

Die Bundesregierung täte gut daran, schnellstmöglich über den Tellerrand ihres Strebens nach einem Sicherheitsratssitz hinauszuschauen und auch die anderen Aspekte der Expertenempfehlungen ebenso energisch voranzutreiben. Dabei hätte sie durchaus Referenzen einzubringen – etwa die deutlich ausgebauten zivilen Krisenpräventionskapazitäten und zumindest theoretisch neue Ansätze der Entwicklungspolitik. Sonst droht mit provinzieller Kurzsichtigkeit die Chance vertan zu werden, wirklich etwas für eine sicherere Welt beizutragen.

Anmerkungen

1) Den Vorsitz der »Hochrangigen Expertengruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel« hatte Anand Panyarachun (ehem. Premierminister Thailands). Die weiteren Mitglieder: Robert Badinter, Joao Clemente Baena Soares, Gro Harlem Brundtland, Mary Chinery-Hesse, Gareth Evans, David Hannay, Enrique Iglesias, Amre Moussa, Satish Nambiar, Sadako Ogata, Jewgenij Primakow, Qian Qichen, Nafis Sadik, Salim Ahmed Salim, Brent Scowcroft.

2) Die Ziffern verweisen auf die nummerierten Absätze des Berichts.

3) Der entsprechende Kommissionsbericht ist verfügbar unter: http://www.iciss.ca [01.03.05]

4) Zusammenfassung des Berichts.

Dr. Silke Voß-Kyeck, Politologin, ist Fachreferentin für Lobbyarbeit im Generalsekretariat der deutschen Sektion von amnesty international und koordiniert u.a. die Arbeit der Sektion zu internationalen Organisationen.

Kommunikation als Deeskalationsstrategie

Sozialliberale Ostpolitik:

Kommunikation als Deeskalationsstrategie

von Gottfried Niedhart

Die Themen und Schwerpunkte der friedenswissenschaftlichen Forschung, die unter der normativen Vorgabe von Gewaltreduktion und Friedenswahrung steht, entstammen zumeist den Konflikten der Gegenwart. Bei der Suche nach Konfliktlösungen sehen sich sozialwissenschaftlich orientierte und zugleich empirisch arbeitende Friedensforscher zu Fallstudien gezwungen, die der Vergangenheit entstammen.1 Parallel dazu interessieren sich Historiker mit ihren zeitlich und räumlich begrenzteren Fragestellungen für Hypothesen- und Theoriebildungen der sozialwissenschaftlichen Nachbarwissenschaften.2 Insgesamt gesehen wird man eher von Koexistenz als von Interdisziplinarität sprechen müssen. Im Folgenden handelt es sich um die Beschreibung eines historischen Einzelfalls, der als Beispiel für einen gelungenen Konfliktabbau in den internationalen Beziehungen gilt.

Der Ost-West-Konflikt trat im Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren in eine Phase, die mit den Begriffen Entspannung oder Détente bezeichnet wird und die den weiteren Verlauf des die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrschenden Weltkonflikts entscheidend veränderte.3 Unterhalb der Ebene der Supermächte – aber von Bedeutung auch für die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen – spielte die Bundesrepublik Deutschland dabei eine zentrale Rolle. Ihre »neue« Ostpolitik führte zu einer Normalisierung ihrer Beziehungen mit der Sowjetunion und den übrigen Staaten des Warschauer Pakts.4 Als „vielfach vernetzte Ausgleichsmacht“5 hatte die Bundesrepublik einen bedeutsamen Anteil an der Deeskalation des Ost-West-Konflikts.

Im Unterschied zu Asien blieb der Ost-West-Konflikt in Europa unterhalb der Schwelle zum Krieg. Zugleich wurde er von den Zeitgenossen zunächst keineswegs als Konflikt verstanden, wie man ihn aus der Geschichte der internationalen Politik als Interessenkonflikt herkömmlicher Art kannte. Schon den Autoren des Schlüsseldokuments NSC-68, das für die Einstellung der USA gegenüber der Sowjetunion im Frühjahr 1950 richtungweisende Bedeutung hatte, stand vor Augen, der amerikanischen Öffentlichkeit verdeutlichen zu müssen, dass der Kalte Krieg ein »wirklicher Krieg« war, in dem das Überleben der freien Welt auf dem Spiel stand.6 In der Bundesrepublik, die ein Produkt des Kalten Kriegs war, überwog in den 1950er Jahren eine ähnliche Sichtweise. Bundeskanzler Adenauer nahm zwar nicht an, die Sowjetunion suche ein kriegerisches Abenteuer. Ihre Politik folge allerdings „Welteroberungsplänen“ und sie wolle Westdeutschland „im Wege des Kalten Krieges“ vereinnahmen. Eine Lösung des Konflikts war für Adenauer nur als Ergebnis westlicher Überlegenheit denkbar: „Erst muss der Westen einschließlich der USA so stark sein, dass die Russen Angst haben. Dann erst kann man mit den Russen verhandeln.“7

Nachdem sich der Kalte Krieg mit den Krisen um Berlin und Kuba zwischen 1958 und 1962 gefährlich zugespitzt hatte, wurden Vorstellungen entwickelt, wie man zu einer Einhegung des Konflikts, vielleicht sogar zu seiner Entschärfung kommen könnte. Ohne den Ost-West-Konflikt beenden zu können, gelang es doch, ihn in eine Phase der Entspannung zu überführen, in der an die Stelle der Konfrontation das Bemühen um antagonistische Kooperation8 trat. Die Bundesrepublik spielte dabei zunächst die Rolle eines Nachzüglers, weil sie aufgrund deutschlandpolitischer Orthodoxien nur schwer aus den Konfliktmustern des Kalten Kriegs herausfinden konnte. Mit der neuen Ostpolitik, die schrittweise mit der Regierung der Großen Koalition 1966/67 einsetzte, um mit der sozialliberalen Regierung 1969/70 den Durchbruch zu erzielen, gelangte die Bundesrepublik in eine Schlüsselposition und nahm eine entspannungspolitische Pionierrolle ein.9 Sie stand dabei im Schatten von zwei Kriegen: dem Zweiten Weltkrieg, der in Europa von Deutschland ausgegangen war und gut zwanzig Jahre nach seinem Ende im kollektiven Gedächtnis der Europäer noch überaus präsent war; und dem Kalten Krieg, der sich auf Deutschland und Europa gelegt hatte und das Land wie den Kontinent teilte. In dieser Lage hatte die Ostpolitik eine doppelte Funktion. In Bezug auf den Zweiten Weltkrieg war sie Versöhnungspolitik, im Hinblick auf den Kalten Krieg verstand sie sich als Deeskalationspolitik. Darüber hinaus aber versuchte die Bundesrepublik die Entspannungspolitik zu nutzen, um aus dem Schatten der Kriege herauszutreten und auf die Überwindung der aus beiden Kriegen resultierenden Teilung Europas hinzuwirken.

Beschreibt man den Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren als Durchbruch zur Deeskalation des Ost-West-Konflikts, so ist gleichzeitig generell daran zu erinnern, dass jede Deeskalation nicht bereits die Lösung des Konflikts bereithält. Tatsächlich blieben 1969/70 die Konfliktfelder (Rüstungspolitik, Politik in der Dritten Welt, Menschenrechtspolitik) allesamt erhalten. Wie sich herausstellen sollte, war die Ost-West-Entspannung alles andere als ein linearer Prozess. In den unvermeidlichen Rückschlägen lag ein reales, vor allem aber psychologisch wirksames Gefahrenpotential, das die Gefahr des Rückgriffs auf älteres Konfliktverhalten heraufbeschwor. Dass es auch in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, die vielfach als zweiter Kalter Krieg bezeichnet werden, nicht zu einem Rückfall in den Kalten Krieg der 1950er Jahre kam, ist auf die Formen der Annäherung und des Kompromisses zurückzuführen, die in der Phase der Détente praktiziert worden sind.10

Auch die Deutschland- und Ostpolitik der Bundesregierung war nicht frei von Ambivalenzen. Denn die Bundesrepublik hielt als revisionistischer Staat, der sie bis 1990 war, daran fest, dass die Teilung Deutschlands und Europas überwunden werden sollte – und zwar unter westlichen Vorzeichen. Zugleich aber änderten sich die Wahrnehmung der Sowjetunion und die Einstellung zu ihr grundlegend, so dass neue Formen des Umgangs miteinander entwickelt werden konnten. Der Ostpolitik lag ein Stufenkonzept zugrunde. Primär und kurzfristig ging es auf der Grundlage des Status quo und des Gleichgewichts um vertraglich abgesicherte Kooperation, die den Ost-West-Konflikt deeskalieren sollte und an die Stelle des Kalten Kriegs die Konfliktform der Détente treten ließ.11 Der Zustand der Détente blieb ein Konfliktzustand, weil der Status quo zwar respektiert, jedoch nicht legalisiert werden sollte. Längerfristig ging es nicht um die Deeskalation des Ost-West-Konflikts, sondern um seine Auflösung. Präziser als Egon Bahr in seiner Rolle als Vordenker der Ostpolitik es tat, konnte es nicht formuliert werden: „Das Hauptziel der sowjetischen Europapolitik ist die Legalisierung des Status quo. Das Hauptziel unserer Politik ist die Überwindung des Status quo. Es handelt sich hier um einen echten Gegensatz der Interessen.“12

Bevor im Folgenden näher auf den verständigungspolitischen Ansatz der Ostpolitik als Beitrag zur Deeskalation des Ost-West-Konflikts eingegangen wird, ist nachdrücklich zu betonen, dass diese friedenspolitisch fraglos höchst bedeutsame Seite der Ostpolitik nicht isoliert betrachtet werden darf. Sie stellte den deutschen Beitrag zu einem Gesprächsfaden dar, der auch von der Sowjetunion entwickelt wurde, verstand sich aber als Schritt in einem dialektisch angelegten Prozess, den Bahr als Pressesprecher des West-Berliner Senats in der bekannten Tutzinger Rede schon 1963 in die Formel »Wandel durch Annäherung« gegossen hat. Die „Überwindung des Status quo“ war demnach daran gekoppelt, dass „der Status quo zunächst nicht verändert werden soll.“ Auch Willy Brandt als Berliner Regierender Bürgermeister sprach 1963 in Tutzing. Sein Text war zurückhaltender, wenn auch in der Sache nicht weniger deutlich. In Abgrenzung zur bisherigen Deutschlandpolitik, die mit dem Bau der Berliner Mauer definitiv gescheitert war, plädierte er für „Verbindungen auch zum kommunistischen Osten“. Ungewöhnlich offen fügte er hinzu, worin das strategische Ziel bestehen sollte, nämlich in der „Transformation der anderen Seite.“13 Kontakte zum Osten, die deutscherseits die Hinnahme von durchaus schmerzhaften Nachkriegsrealitäten voraussetzten, waren das zureichende Minimum,14 um die als Bedrohung wahrgenommenen Fronten auflockern zu können. Um sie überwinden zu können, bedurfte es eines Wandels in den Ländern des Warschauer Pakts. Er war nur als gradueller und friedlicher Wandel vorstellbar. Aus östlicher Sicht und nicht zuletzt in den Augen der DDR-Führung handelte es sich gleichwohl um eine »Aggression«, wenn auch eine „auf Filzlatschen.“15

Das Interesse der Länder Osteuropas an Verträgen über die territoriale Ordnung in Europa, an wirtschaftlicher Kooperation und Technologietransfer war stärker als die Befürchtungen, die gegenüber dem »Sozialdemokratismus« gehegt wurden.16 Dem entsprach in Bonn der Wunsch, die deutsch-deutsche Grenze durchlässiger zu machen und die Lage in und um Berlin zu verbessern. Diese Interessenkonstellation bot gute Rahmenbedingungen, damit sich die Politik der Ost-West-Kommunikation entfalten konnte.17 Dass auch die Sowjetunion „ihrer eigenen Interessen wegen nicht nur Konfrontation, sondern auch Kommunikation“ wünschte, gehörte zu den Kernüberzeugungen, von denen die Ostpolitik ausging.18 Kommunikation war ein Schlüsselbegriff, der in den Politikanalysen Brandts immer wieder auftauchte. Der Bau der Berliner Mauer war für Brandt ein untrügliches Zeichen, dass neue Ansätze entwickelt werden mussten, um „die Erstarrung der Fronten zwischen Ost und West“ aufbrechen zu können. An die Stelle der Festungsmentalität auf beiden Seiten wollte er seit 1962/63 den „Austausch“ zwischen Ost und West setzen, nach „gemeinsamen Projekten“ suchen, „so viele sinnvolle Verbindungen auch zum kommunistischen Osten“ herstellen, „wie jeweils erreichbar sind“: „Wir brauchen soviel reale Berührungspunkte und soviel sinnvolle Kommunikationen wie möglich.“19

Von der Programmatik zur operativen Politik war es – wie stets – ein beschwerlicher Weg. Nur ein langer Atem konnte helfen, die im Kalten Krieg verfestigten Einstellungsmuster zu verändern und an ihre Stelle »kommunikative Methoden« zu setzen.20 Dazu gehörte die Signalisierung von Verständigungs- und Versöhnungsbereitschaft durch Erklärungen und Gesten. Die eigene Bereitschaft zur Kommunikation erfolgte in der Erwartung, sie werde entsprechende Reaktionen des Gegenübers auslösen. Solche Erklärungen setzten auf Seiten der Bundesrepublik schon mit den geheim gebliebenen Fühlungnahmen Adenauers in den letzten Jahren seiner Kanzlerschaft ein, als er auf der Basis des Status quo mit der Sowjetunion ins Gespräch kommen wollte. Die Friedensnote der Regierung Erhard und die Aussetzung der Hallstein-Doktrin für die Staaten des Warschauer Pakts durch die Regierung der Großen Koalition waren weitere einseitige Bekundungen, die Sprachlosigkeit des Kalten Kriegs überwinden zu wollen.

Die Kanzlerschaft Brandts zeichnete sich durch eine konsequente und wirkungsvolle Fortsetzung dieser Schritte aus. Die Anerkennung der DDR als Staat, die gut vorbereitete Aufnahme von Verhandlungen mit der Sowjetunion und Polen waren kommunikative Akte neuer Qualität. Brandts Kniefall schließlich am Mahnmahl des Warschauer Ghettos war ein wortloses, als Ausdruck der Körpersprache aber umso wirksameres Signal, „am Abgrund der deutschen Geschichte“21 neue Formen der Kommunikation entwickeln zu wollen. Solchen öffentlichen Bekundungen von Kommunikationsbereitschaft war seit Anfang 1969, als der durch die sowjetische Okkupation der Tschechoslowakei ausgelöste Schock langsam in den Hintergrund rückte, eine dichte Folge von Kontakten auf der diplomatischen Ebene vorausgegangen, bei denen Möglichkeiten einer deutsch-sowjetischen Annäherung ausgelotet wurden. Die Zeit, „in der das direkte Gespräch mit der sowjetischen Führungsetage nicht existierte,“22 war zu Ende gegangen. Im Dezember 1969 wurde eine neue Etappe erreicht, als die Verhandlungen über einen Gewaltverzicht in Moskau begannen und zudem eine direkte Nachrichtenverbindung zwischen dem Kreml und dem Kanzleramt eingerichtet wurde. Wie der kurz zuvor zwischen Washington und Bonn verabredete »back channel« eröffnete sie „die Chance, neben den förmlichen Gesprächen einen informellen Kontakt zu entwickeln.“23

Was die kommunikative Infrastruktur betraf, so hatte sich die Lage seit den frühen 1960er Jahren deutlich verbessert. Persönliche Begegnungen häuften sich und über den »Kanal« konnten Nachfragen und ergänzende Informationen weitergegeben werden. Blieb die Frage, ob sich dialogische Situationen in ausreichender Zahl und von angemessener Länge institutionalisieren ließen und in der Folge Kommunikation zu einer dauerhaften Erfahrung werden konnte. Würde sich Brandts Hoffnung erfüllen, die er als Außenminister in der Großen Koalition im August 1967 geäußert hatte? Er wollte „den Dialog intensivieren“ und „damit mehr als nur eine Unterbrechung in dem Duell zwischen Ost und West erreichen.“24

Das sichtbarste Zeichen für verbesserte Kommunikation waren vertragliche Vereinbarungen, die die Phase der Entspannung deutlich und – wie sich zeigen sollte – unumkehrbar von der Phase des Kalten Kriegs unterschieden sein ließ. Sie erstreckten sich zunächst auf die Bereiche Wirtschaft und Politik, bald aber auch auf den humanitären und kulturellen Sektor. Die Grunderfahrung bestand darin dass kommunikative Signale erwidert wurden. Auch stieg die Fähigkeit zur vorurteilsfreieren Bewertung von Informationen der jeweils anderen Seite. Schon vor den Bundestagswahlen 1969 war eine SPD-Delegation unter Leitung von Helmut Schmidt aus Moskau mit dem Eindruck zurückgekommen, es werde dort an einem „glaubwürdig“ erscheinenden Gesprächsfaden gesponnen und es gebe Anzeichen für die Bereitschaft zur „Institutionalisierung von Austausch und Zusammenarbeit.“25 Im Oktober 1973 ging Schmidt, der sich durchaus als Skeptiker gegenüber zu hoch gesteckten Erwartungen über die Wirkung der Entspannungspolitik verstand, so weit, von einer Entschärfung der Blockkonfrontation zu sprechen. Die „traditionellen Kategorien Ost und West“ hätten „an Bedeutung verloren.“26

Schmidt hatte natürlich nicht vergessen, dass der Antagonismus des Ost-West-Konflikts andauerte. Was sich aber verändert hatte, waren Art und Umfang der Kontakte. Man konnte „Erfahrungen“ sammeln, so Egon Bahr schon im Herbst 1970, „wie man miteinander reden kann. Was die Intensität, die Offenheit und die Ernsthaftigkeit angeht, war dies erstmalig seit dem Ende des Krieges.“27 Bahr sagte nicht: Seit dem Ende des Kalten Kriegs. Doch handelte es sich auch darum. Die Kontrahenten waren jetzt zunehmend in der Lage, auf Bedrohungsperzeptionen und Feindbilder alter Prägung zu verzichten und sich über wechselseitige Wahrnehmungen – auch und gerade, wenn sie differierten – zu verständigen. Dadurch war es möglich, Fehlwahrnehmungen zu reduzieren. Einen vorläufigen Höhepunkt dieser gänzlich neuen Dialogerfahrung stellte die Begegnung Brandts mit Breschnew in dessen Sommerresidenz in Oreanda auf der Krim im September 1971 dar. Auf sowjetische Einladung wurde ohne starre Tagesordnung über die internationale Lage insgesamt und den Stand der Ost-West-Beziehungen im besonderen gesprochen – ein präzedenzloser Vorgang, der in der Bundesrepublik und im westlichen Bündnis für enormes Aufsehen sorgte. Brandt nutzte die Gesprächschance selbstbewusst, aber er ließ keine Illusionen aufkommen. „Schwierige Themen“ seien „erst andiskutiert“ worden. Das „eigentlich Neue“ bestand für Brandt in der Art des Umgangs miteinander. Beide Seiten wüssten jetzt genauer, wo es „Übereinstimmungen, Annäherungen, Unterschiede“ gebe.28

Pointiert formuliert, handelte es sich um die Verwestlichung der Kommunikation in den Ost-West-Beziehungen. Sei es auf der Yacht des Präsidenten in Washington, wo die Unterredungen zwischen Kissinger und dem sowjetischen Botschafter Dobrynin gelegentlich stattfanden, sei es ein Motorboot, mit dem Breschnew und Brandt einen Ausflug auf das Schwarze Meer hinaus machten – auch die Orte ließen erkennen, dass sich die Ost-West-Gespräche vom Verhandlungsduell zum offener werdenden Dialog entwickelt hatten.

Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass sich wenn auch nicht mehr Feinde, so doch Gegner gegenübersaßen. Aber genau darin – im Wandel vom Feind zum Gegner – bestand der Fortschritt, den die Détente gegenüber dem Kalten Krieg darstellte. Entspannungspolitik und Gegnerschaft waren miteinander verschränkt. „Auch in der Phase der Entspannung,“ so wurde dem sowjetischen Botschafter in Bonn Ende Oktober 1970 bedeutet, blieben „Kommunisten Kommunisten“ und „Sozialdemokraten Sozialdemokraten.“29

Anmerkungen

1) Ein Beispiel ist die in letzter Zeit zu beobachtende Flut von Arbeiten zur Theorie des Demokratischen Friedens. Siehe z. B. Elman, Miriam F. (ed.): Paths to Peace: Is Democracy the Answer? Cambridge, Mass. 1997; Huth, Paul K./Allee, Todd L.: The Democratic Peace and Territorial Conflict in the 20th Century, Cambridge 2002; Lipson, Charles: Reliable Partners. How Democracies Have Made a Separate Peace, Princeton/Oxford 2003; Rasmussen, Mikkel V.: The West, Civil Society and the Construction of Peace, Houndmills/New York 2003.

2) Siehe etwa Ziemann, Benjamin (Hg.): Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Essen 2002; Wegner, Bernd (Hg.): Wie Kriege entstehen, Paderborn 2000; ders. (Hg.): Wie Kriege enden, Paderborn 2002.

3) Als Überblick Loth, Wilfried: Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung, München 1998.

4) Allgemein dazu Bender, Peter: Die »Neue Ostpolitik« und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung, München 1995.

5) Hanrieder, Wolfram F.: Deutschland, Europa, Amerika. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949-1994, Paderborn 1995, S. 448.

6) Im Schlussabsatz heißt es: „[…] the Cold War is in fact a real war in which the survival of the free world is at stake.“ Foreign Relations of the United States 1950, Bd. 1, S. 292.

7) Belege bei Niedhart, Gottfried/Altmann, Normen: Zwischen Beurteilung und Verurteilung: Die Sowjetunion im Urteil Konrad Adenauers. In: Foschepoth, Josef (Hg.): Adenauer und die Deutsche Frage, Göttingen 1988, S. 104, 107, 109.

8) Zum Begriff siehe Link, Werner: Der Ost-West-Konflikt. Die Organisation der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert, 2. Aufl. Stuttgart 1988.

9) Zum neuesten Stand der Diskussion siehe Schönhoven, Klaus: Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966-1969, Bonn 2004; Niedhart, Gottfried/Bange, Oliver: Die »Relikte der Nachkriegszeit« beseitigen. Ostpolitik in der zweiten außenpolitischen Formationsphase der Bundesrepublik Deutschland im Übergang von den Sechziger- zu den Siebzigerjahren. In: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 415-448.

10) Hanhimäki, Jussi M.: Ironies and Turning Points: Détente in Perspective. In: Westad, Odd Arne (ed.): Reviewing the Cold War. Approaches, Interpretations, Theory, London 2000, S. 326-342.

11) Für die Ebene der Supermächte, deren Vorgaben den Rahmen auch für die Ostpolitik vorgaben, vgl. Garthoff, Raymond: Détente and Confrontation. American-Soviet Relations from Nixon to Reagan, 2. Aufl. Washington 1994.

12) Aufzeichnung Bahrs als Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt vom 18.9.1969. Akten zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1969, S. 1040.

13) Die Reden Brandts und Bahrs in der Evangelischen Akademie Tutzing am 15.7.1963 finden sich in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, IV. Reihe, Bd. 9, S. 565ff. und 572ff.

14) In Anlehnung an Czempiel, Ernst-Otto: Das zureichende Minimum: der negative Friede. In: Jens, Walter/Matthiessen, Gunnar (Hg.): Plädoyers für die Humanität. Zum Gedenken an Eugen Kogon, München 1988, S. 173-176.

15) Bahr, Egon: Zu meiner Zeit, München 1996, S. 157, 159; Uschner, Manfred: Egon Bahr und seine Wirkung auf uns. In: Lutz, Dieter S. (Hg.): Das Undenkbare denken. Festschrift für Egon Bahr, Baden-Baden 1992, S. 129.

16) Dazu u.a. Bahr, Zeit, S. 547ff.

17) Birnbaum, Karl E.: The Politics of East-West Communication in Europe, Farnborough 1979.

18) Willy Brandt in einem im Februar 1969 veröffentlichten Artikel. Zit. bei Schönhoven, Wendejahre, S. 408.

19) Brandt unter Rückgriff auf eine Rede, die er im Oktober 1962 an der Harvard Universität gehalten hatte, am 15.7.1963 in Tutzing. Wie oben Anm. 13, S. 567.

20) Haftendorn, Helga: Versuch einer Theorie der Entspannung. In: Sicherheitspolitik heute II/1975, S. 232.

21) Brandt, Willy: Erinnerungen, Frankfurt 1989, S. 214

22) Bahr, Zeit, S. 251.

23) Bahr, Zeit, S. 283. Vgl. auch Keworkow, Wjatscheslaw: Der geheime Kanal. Moskau, der KGB und die Bonner Ostpolitik, Berlin 1995.

24) Zit. bei Schönhoven, Wendejahre, S. 382.

25) So Helmut Schmidt Ende August 1969 während einer Parteiratssitzung der SPD. Zit. bei Niedhart, Gottfried: Revisionistische Elemente und die Initiierung friedlichen Wandels in der neuen Ostpolitik 1967-1974. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 249.

26) Ebd. S. 263.

27) Ebd. S. 255.

28) Ebd. S. 256.

29) Ebd. S. 257.

Prof. Dr. Gottfried Niedhart lehrt am Historischen Institut der Universität Mannheim