Alternativen: Zivile statt militärische Einmischung in den internationalen Beziehungen

Alternativen: Zivile statt militärische Einmischung in den internationalen Beziehungen

von Achim Schmillen und Bund für soziale Verteidigung

zum Anfang | I. Nichtmilitärische Konfliktbearbeitung im internationalen System

von Achim Schmillen

1. Einleitung

Nach Berechnungen kritischer Friedensforscher wurden im Zeitraum von 1985 bis 1992 68 Krieges geführt; Anfang Oktober 1992 wurden 44 laufende Kriege gezählt.1 Allgemein wird eine starke Zunahme bis zur Jahrtausendwende prognostiziert. In Anbetracht der unbestreitbaren Regelungsnotwendigkeiten bei laufenden kriegerischen Konflikten und bei der prognostizierten Zunahme von Kriegen und kriegerischen Auseinandersetzungen ist die Frage einer Konfliktprävention und vor allem die Frage einer möglichst gewaltfreien und nichtmilitärischen Konfliktbearbeitung und friedlichen Streitschlichtung von großer Brisanz und außerordentlicher politischer Relevanz. Es ist eine der entscheidenden Fragen der Zukunft, ob die Weltgemeinschaft in die Lage versetzt werden kann, auf diese vielfältigen Herausforderungen ohne eskalierende Gewaltanwendung zu reagieren. Auch für die zur Zeit heftig geführte, kontroverse und diffuse innenpolitische Debatte, mit welchem Beitrag sich die Bundesrepublik Deutschland verantwortungsvoll in den Entwicklungsprozeß einer Weltinnenpolitik einbringen kann, wäre die vordringliche Aufgabe, beispielgebend und mit außerordentlicher Symbolkraft zuvorderst auf zivile, gewaltfreie und friedliche Mittel einer Konfliktbearbeitung und Streitschlichtung zu setzen. Als einer der Staaten, auf die es bei der Entwicklung einer Weltinnenpolitik und bei der Reform der Vereinten Nationen in den nächsten Jahren ganz besonders ankommen wird, könnte die Bundesrepublik in dieser wichtigen Angelegenheit ein positives Zeichen setzen.

Deshalb sollten die Aktivitäten von Friedensbewegung und -forschung die zivile Stärkung der Vereinten Nationen zum Gegenstand haben, damit diese in die Lage versetzt werden, auf die neuen Herausforderungen angemessen zu reagieren. In der Zwischenzeit jedoch werden sich die Anforderungen an die konfliktregelnde und -lösende Tätigkeit der Weltgemeinschaft nicht bis zum Erreichen einer von allen akzeptierten Reform der Vereinten Nationen verschieben lassen, auch wenn eine baldige Reform der Vereinten Nationen, d.h. vor allem eine bessere Anpassung an die Weltlage nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation, für ein stärkeres Engagement förderlich wäre.

Es wird allerdings kaum Energie darauf verwendet, ein Brainstorming in heuristischer und analytischer Absicht zu initiieren, sich Gedanken über alternative Ansätze über das internationale Konfliktmanagement zu machen. Vielmehr ist das militärische Lösungsdenken, das D-Day-Denken, favorisiert. Es ist immer noch einfacher, nach erfolgter Diagnose möglicher Konfliktfelder oder bei der distanzierten Betrachtung bereits stattfindender ethno-nationalistischer Kriege über Intervention oder Nicht-Intervention zu räsonieren, als konkrete, glaubwürdige und transparente Methoden zu entwickeln, die eine zivile und gewaltfreie Konfliktbearbeitung und friedliche Streitschlichtung ermöglichen.

Bei der Frage, mit welchen Mitteln und Instrumenten Au-ßenpolitik auf internationale Krisen, Konflikte und Kriege reagieren sollte, gibt es zur Zeit in Deutschland eine seltsame Reduzierung dieser Fragestellung auf die rechtlichen Bedingungen eines Einsatzes der Bundeswehr außerhalb des NATO-Vertragsgebietes (out-of-area). Diesen Bestrebungen einer Militarisierung der deutschen Außenpolitik wird von Teilen der Friedensbewegung und -forschung, insbesondere seit der blutigen Rückkehr des Krieges nach Europa, die Forderung nach gewaltfreier und nichtmilitärischer Konfliktlösung entgegengehalten. Dabei ist der Begriff nichtmilitärische Konfliktlösung allerdings nicht mißzuverstehen. Es soll nicht suggeriert werden, als gäbe es eine militärische Lösung von Konflikten. Vielmehr sollen mit diesem Terminus alle Verfahren, Methoden und Mittel einer Konfliktbearbeitung und Streitschlichtung bezeichnet werden, die eine Lösung ohne den Einsatz von militärischer Gewalt versuchen.

Es gibt also nach meiner Einschätzung einen enormen Forschungsbedarf. Kritische Friedensforschung und Friedensbewegung haben eine riesige Forschungslücke zu schließen. Ein Blick in die neuere Publikationslandschaft der Friedensforschung und der kritischen Politikwissenschaften offenbart ein großes Defizit. Soll militärischem Lösungs- und Effizienzdenken friedensorientiertes Denken entgegengesetzt werden, dann müssen alternative Lösungsansätze benannt werden, die über moralisch-ethische Forderungen hinausgehen. Der antagonistische Ost-West-Konflikt als das strukturierende Organisationsprinzip der internationalen Beziehungen war auch das bestimmende erkenntnisleitende Interesse der Friedensforschung und eine der wichtigsten handlungsleitenden Maximen der Friedensbewegung. Beide Gruppen haben hervorragende Handlungsspielräume gegenüber dem Herrschaftswissen und der Defintionsmacht herrschender Politik hervorgebracht. Gegenexperten konnten mit Militärs intensiv und kompetent über die Fragen der Nuklearabschreckung, über FOFA (Follow-on-forces-attack), über Air-Land-Battle, über die Gefahren chemischer und biologischer Waffen, über die Notwendigkeit von militärischem Tiefflug usw. diskutieren. Diese Arbeit war wichtig und ohne sie wäre diese Gesellschaft heute mit Sicherheit weitaus mehr militarisiert.

Dennoch muß festgehalten werden, daß kaum Kraft und Energie darauf verwendet wurde, wie Konflikte im Vorfeld, das heißt präventiv verhindert und wie sie aktiv bearbeitet und gelöst werden können, ohne daß es zwangsläufig zum Einsatz von Militär und Streitkräften kommt. Über die Chancen, Handlungsmöglichkeiten, aber auch über die Grenzen nichtmilitärischer Konfliktbearbeitung und friedlichen Streitschlichtung wurde bis auf wenige Ausnahmen kaum nachgedacht. Diese Überlegungen fristeten ein Schattendasein. Dieses Versäumnis schlägt gerade jetzt, nach dem Ende der bipolaren Blockkonfrontation, der Rückkehr des Krieges nach Europa und der daran anknüpfenden Neuorientierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in seiner ganzen Schärfe durch. Die theoretische Lücke und die Mängel beim praktischen Handeln sind evident.

Etablierte Außenpolitik und klassische Diplomatie als auch Friedensforschung und -bewegung verfügen über hervorragende Diagnosemittel und sind in der Lage mit sehr hoher Eintrittswahrscheinlichkeit künftige Konfliktpotentiale vorherzusagen, die auch die Gefahren von kriegerischen Auseinandersetzungen in sich bergen. Diese Vorhersagefähigkeiten sind allerdings nicht mit einem entsprechenden Handlungsspektrum begleitet, auf diese Prozesse gewaltfrei so einzuwirken, daß ein Ausbrechen der Konflikte u.U. verhindert werden kann. Sind Konflikte virulent und entwickeln Tendenzen, zu ernsthaften kriegerischen Auseinandersetzungen zu eskalieren, werden zwar einige erprobte klassische Bearbeitungsmittel versucht, aber eigentlich kann nicht davon gesprochen werden, daß die Beteiligten das volle Spektrum nichtmilitärischer, friedlicher Mittel mit der Absicht auf Erfolg konsequent ausschöpfen wollen. Vielmehr wird relativ schnell deren Erfolglosigkeit konstatiert, um dann möglichst rasch auf militärische Lösungsansätze zurückzugreifen. Dies um so unverzüglicher, je mehr eigene existentielle Interessen ernsthaft bedroht sind oder scheinen. So wartet die klassische Diplomatie nach erfolgter Diagnose fast in ergriffener Bewegungslosigkeit – wie das Kanninchen vor der Schlange –  auf den gewalttätigen Ausbruch der Feindseligkeiten, um dann in einer D-Day-Mentalität den Konflikt mit militärischen Mittel zu lösen und den Frieden mit hochgerüsteten Interventionsstreitmächten zu erkämpfen. Lediglich in Konflikten mit geringen existentiellen, ökonomischen und/oder geostrategischen Interessen ist die Schwelle zum Militäreinsatz etwas höher gelegt oder überhaupt keine Bereitschaft zu deren Einsatz vorhanden.

Dieses Mißverhältnis, das sich auch in der aktuellen Diskussion um Kap. VI („Die friedliche Beilegung von Konflikten“) und VII („Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen“) der Charta der Vereinten Nationen festmachen läßt, wird von fast allen Friedensbewegten so wahrgenommen und artikuliert. Man kann auch feststellen, daß die Forschungsarbeiten in den letzten Monaten sehr intensiviert worden sind, auch wenn die Rahmenbedingungen für kritische Friedens- und Konfliktforschung wegen der Kahlschlagpolitik der Bundesregierung zur Zeit alles andere als rosig sind.

Diese Arbeit will einen Beitrag dazu leisten, transparent zu machen, daß es eine Vielzahl elaborierter und erfolgversprechener Mittel für die nichtmilitärische Konfliktverhütung und -bearbeitung gibt und darüberhinaus auch einige neuere Forschungsergebnissen und -entwicklungen vorstellen. Das Ziel ist es, die bereits vorhandenen friedlichen Mittel, wie sie beispielsweise durch die Haager Abkommen, aber auch im Kap. VI der Charta der Vereinten Nationen entwickelt sind, mit den neuen Forschungsergebnisse der Conflict-Resolution aus ihrem Schattendasein in die aktuelle Diskussion zu holen, um damit auch deutlich zu machen, daß eine effektive Stärkung der Vereinten Nationen und eine verantwortungsvollere Rolle unserer Republik nicht eine Frage der punktuell-situativen Abstellung von Kampftruppen ist.

Im ersten Abschnitt wird auf die Hoffnungen eingegangen, mit denen die Verfahren und Methoden der nichtmilitärischen Konfliktbearbeitung und friedlichen Streitschlichtung begleitet werden. Daran schließt sich eine Klärung des Begriffs »friedliche Mittel« an. Im nächsten Abschnitt wird auf die Voraussetzungen einer nichtmilitärischen Konfliktbearbeitung eingegangen, ehe nachfolgend die verschiedenen Verfahren einer friedlichen Streitschlichtung betrachtet werden. Etwas außerhalb der eigentlichen Intention dieser Arbeit wird dann in einem Exkurs auf die Vorschläge einer präventiven Diplomatie, die der Generalsekretär der Vereinten Nationen in der »Agenda for Peace« niedergelegt hat, eingegangen. Am Schluß dieser Arbeit steht dann das zentrale theoretische und praktische Problem jeder (selbst einer idealtypisch verlaufenden) nichtmilitärischen Konfliktbearbeitung und friedlichen Streitschlichtung. Wie sollen die internationale Gemeinschaft, die Garantiemächte, die Vermittler, die Schlichter reagieren, wenn sich eine Konfliktpartei nicht mehr an die ausgehandelten Ergebnisse und Kompromisse gebunden fühlt, eine friedliche und gerechte Lösung des Konflikts aber nach wie vor nur durch die Einhaltung dieser Ergebnisse möglich ist? Aktuelles Beispiel für eine solchen Verlauf ist die politische Entwicklung der Mission der Vereinten Nationen in Kambodscha (UNTAC).

2. Friedensforschung und Friedensbewegung

Als erster Schritt werden überblicksartig einige Ansätze einer friedlichen Konfliktbearbeitung und Streitschlichtung betrachtet. Der überwiegende Teil der deutschen Friedensbewegung reagiert auf den blutigen Krieg im früheren Jugoslawien mit einer entschiedenen und kompromißlosen Ablehnung einer militärischen Intervention durch die Vereinten Nationen und favorisiert als Alternative zu diesen Lösungsüberlegungen verschiedene Formen und Verfahren präventiver, gewaltfreier und friedlicher Konfliktlösungsmittel. Die Konfliktprävention stellt in der Tat eine wichtige politische und gesellschaftliche Aufgabe dar. Gesellschaftliche Gruppen und Organisationen haben vor allem in der jüngsten Zeit eine Reihe konkreter Initiativen unternommen, um mit ethnonationalen Spannungen friedlich umzugehen; selbst dort, wo diese Konflikte (wie im früheren Jugoslawien) bereits in kriegerische Auseinandersetzungen umgeschlagen sind. Es handelt sich um vereinzelte Initiativen, die außerdem von der offiziellen Seite weder materiell noch immateriell unterstützt werden. Ihre Vorstellungen dürfen in einer Arbeit über die nichtmilitärische und gewaltfreie Konfliktbearbeitung und friedliche Streitschlichtung nicht fehlen.

So schlägt Ebert z.B. gewaltfreie »Task-forces« vor und versteht darunter Einheiten, die unbewaffnet „in Situationen, in denen bewaffnete Gewalttätigkeiten auszubrechen drohen, sich rechtzeitig vor Ort (begeben), schlichtend und vermittelnd zwischen die Parteien stell(en) und auch dann, wenn Gewalttätigkeiten ausbrechen, bei der bedrohten Zivilbevölkerung bleib(en), (…) und damit vielleicht vermeiden (können), daß die Zivilbevölkerung flieht und den Streithähnen das Schußfeld frei macht.“ 2 Zur Wahrnehmung dieser Aufgabe sollen möglichst viele Bürgerinnen und Bürger eine Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung (Training in gewaltfreier Aktion) erhalten. Der Zivildienst soll auf derartige Einsatzmöglichkeiten ausgeweitet werden.

Der Bund für Soziale Verteidigung hat sich bereits frühzeitig im Konflikt und im Krieg im früheren Jugoslawien engagiert. Auch diese Organisation setzt auf die gewaltfreien Mittel der Konfliktbearbeitung. In einem Bericht an die Friedensbewegung heißt es, daß „Positive Sanktionen (…) mehr bewirken (könnten) als die Isolierung Serbiens. Dies könnte z.B. das Angebot an Serbien-Montenegro beinhalten, das dritte Jugoslawien diplomatisch anzuerkennen, das Angebot finanzieller Unterstützung oder ähnliches, alles an die Bedingung geknüpft, daß der Krieg in Bosnien-Herzegowina beendet und den in Serbien lebenden Minderheiten umfassende Rechte zugestanden werden. Im Kosovo und im Sandjak, vielleicht aber auch in Mazedonien kann ein Krieg wohl nur noch verhindert werden, wenn die internationale Gemeinschaft ausnahmsweise einmal handelt, bevor geschossen wird. Es ist dringend erforderlich, das Recht auf Selbstbestimmung der Mazedonier und der Kosovo-Albaner international anzuerkennen, Vermittler und internationale Beobachter in die Regionen zu schicken und sich um Vermittlung zwischen den Konfliktparteien zu bemühen. Auf jeden Fall sollten die vorhandenen Vermittlungsversuche nicht abgebrochen, sondern ausgeweitet werden. Nicht-Regierungsorganisationen sollten bei dem Versuch, eine friedliche Lösung der Probleme in Bosnien und den anderen Regionen zu finden, genauso hinzugezogen werden wie die Führer der extremistischen Gruppen; allein auf der Ebene der Regierungen der Staaten sind die Konflikte nicht zu beenden. Es geht auch um eine Stärkung der zivilen Gesellschaft.“ 3

Diese Forderungen unterstreicht der Bund für Soziale Verteidigung dadurch, daß er seit 1992 Ausbildungen in gewaltfreier Konfliktaustragung in allen Republiken des früheren Jugoslawien durchführt. Ziel ist es, Techniken der Gewaltfreien Aktion weiterzuvermitteln, wie z.B. eine Vorbereitung auf eine möglicherweise gewaltsam verlaufende Großdemonstration oder eine »Versöhnungsarbeit« mit Hilfe von Mediationstechniken, wie z.B. in Osijek, wo die Antikriegskampagne ein großangelegtes Programm zur gewaltfreien Konfliktlösung entwickelt hat. Über welche konkreten Handlungsspielräume nichtmilitärische und gewaltfreie Konfliktbearbeitung in kriegerischen Auseinandersetzung verfügt, zeigt ein Bericht von Traude Rebmann, einer der Trainerinnen vom Bund für Soziale Verteidigung: „Anfang März 1992 war ich zum zweiten Mal in Kroatien. Ich war von der Anti-Kriegskampagne eingeladen worden, Einführungs-Workshops über Mediation und weitere für das Friedenstiften notwendige Fähigkeiten durchzuführen. Von den Personen, die an den drei Nachmittags-Workshops teilnahmen, kannten sich nur wenige untereinander. Aber sie wurden gestärkt und ermutigt, als sie merkten, daß sie nicht allein waren mit ihrem Wunsch, etwas zu tun, um die Gewalt, die Verzweiflung, den Haß und die Zerstörung zu überwinden. Sie kamen aus allen Lebensbereichen. Einige warteten darauf, wieder an ihre Arbeitsstelle zurückzukehren (nur 10 % der Industrie war zu dem Zeitpunkt in Betrieb): Andere halfen Flüchtlingen und mittellosen Menschen, lehrten an der Universität oder arbeiteten im medizinischen Bereich. Sie waren sehr daran interessiert, Wege einzuüben, um das Bewußtsein anderer Menschen zu wecken, ihre Unterstützung zu bekommen und sie in die Lage zu versetzen, die andere Seite der Medaille zu sehen. Jede Seite hat ähnliche Vorurteile gegen die andere, einige davon eingeimpft durch die Medien. Die Menschen fangen an zu erkennen, daß sie das Opfer so vieler Interessen sind.“ 4

Andreas Buro, vom Komitee für Grundrechte und Demokratie, geht davon aus, daß „aufgrund des tiefen Hasses und der Verfeindung zwischen den Nationalitäten, die durch Terror und brutalen Einsatz des Militärs in diesem hochgerüsteten Lande aufgebrochen sind“ eine „schnelle Befriedung weder mit militärischen noch mit nichtmilitärischen Mitteln möglich“ ist.

„Der grundlegende Unterschied besteht jedoch darin, daß Formen der Konfliktbewältigung vorgeschlagen werden, die nicht weiter zerstören und verfeinden; sondern Brücken bauen, Vertrauen bilden und die demokratischen und gegen den Krieg gerichteten Kräfte in den Gesellschaften stärken.“ 5

Er hat einen ganzen Katalog an möglichen Reaktionen ausgearbeitet, der u.a. folgende Punkte umfaßt:

„Gegenöffentlichkeit: Die nationalistische Propaganda durchbrechen, um einen Freiraum für eigenständige Beurteilung der Ereignisse in den Gesellschaften zu ermöglichen;

Den Anti-Kriegsgruppen in den jugoslawischen Folgerepubliken international Gehör verschaffen und sie durch Öffentlichkeit schützen;

Bürgerdiplomatie ausweiten und das Friedensgespräch der jugoslawischen Nationalitäten organisieren;

Die Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien in Deutschland gegen den Krieg zu Wort bringen;

Insbesondere in Deutschland ist die eigene parteiische Berichterstattung, als kämpften wir wieder gegen die Serben, zu korrigieren;

Durchsetzung von Menschen-, Nationalitäten- und Minderheitenrechten;

Planungsstäbe und Institutionen nichtmilitärisches Krisenmanagement als dauerhafte Institutionen aufbauen.“

Buro fordert vergleichbare Planungsstäbe für eine nichtmilitärische Konfliktbearbeitung, wie sie für den Militärapparat unterhalten werden. Es sollten Institutionen eingerichtet werden, die es erlauben, die vielfältigen Ebenen einer problemlösenden Friedensförderung zu bearbeiten und miteinander in Verbindung zu bringen. Das Aufgabenspektrum dieser Institutionen sei zudem auf eine vorbeugende Krisenbearbeitung zu erweitern. Einen hohen Stellenwert mißt auch Buro dem Instrument der positiven Sanktionen bei. Sie seien ein Anreiz für Frieden und Kooperation. Sie sollten aber nicht ohne Bedingungen gewährt, sondern an Kriterien wie die Einhaltung der Menschenrechte, die Gewährung von Minderheitenrechten und andere mehr geknüpft werden.

Positive Sanktionen sollen zudem die Wege zu weiteren Möglichkeiten einer friedlichen Konfliktbearbeitung und Streitschlichtung öffnen und zum Beispiel mit der Inanspruchnnahme einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit verbunden werden.

Der wohl bekannteste deutsche Friedens- und Konfliktforscher, Dieter Senghaas, präsentiert mit dem Begriff der »therapeutischen Konfliktintervention«, wie auf Konfliktparteien so eingewirkt werden könnte, daß „nicht autoritative Lösungen aufgezwungen, sondern verfestigte Einstellungs- und Verhaltensorientierungen überprüft, aufgelockert und damit korrekturfähig gemacht werden“.6 Senghaas geht davon aus, daß die Chancen einer erfolgreichen Konfliktintervention am größten sind, wenn frühzeitig genug in Konflikte und Streitigkeiten therapeutisch interveniert werden kann. Das bedeutet, daß „die Vorgeschichte eines Konfliktes sowie die aus dem Widerstreit unterschiedlicher Volksgruppen sich ergebende, eskalationsträchtige Konfliktdynamik (…) für alle Beteiligten durchsichtig zu machen (sind). Das heißt objektive und subjektive Konfliktumstände sind argumentativ aufzuarbeiten, um eine weitere Steigerung autistischer Feindschaft zu verhindern bzw. die Neigungen zu Autismus abbauen zu helfen; und es geht darum, Handlungsoptionen aufzuzeigen, die von starr auf ihre eigene Position fixierten Konfliktparteien nicht wahrgenommen werden können und also auch niemals erprobt würden.“ 7

Von der etablierten und institutionalisierten Friedensforschung werden die Überlegungen einer gewaltfreien Konfliktbearbeitung und Streitschlichtung skeptisch beurteilt. So schreibt z.B. Berthold Meyer von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, der sich insbesondere mit der Position von Ebert auseinandersetzt. „Bei aller Sympathie für gewaltfreie Widerstandformen (…) scheint mir der hier beschriebene Transfer von gewaltfreiem Training in der eigenen Gesellschaft zum Einsatz an internationalen Brennpunkten in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Ebert betont zwar die Notwendigkeit professioneller Ausbildung für derartige Aktionen. Trotzdem ist aber zu fragen, wie festgestellt werden kann, ob jemand »einigermaßen routiniert« gewaltfrei mit bewaffneten Konfliktsituationen umzugehen vermag. (…) Bewaffnete Raubüberfälle lassen sich aber z.B. nicht bestellen, um das eigene Verhalten dabei zu testen, obwohl sie vielleicht am ehesten der Situation entsprechen, die jemand antrifft, wenn marodierende Soldaten ein Dorf plündern wollen und dabei nicht davor zurückschrecken, diejenigen abzuknallen, die sich ihnen in den Weg stellen. Sodann ist zu fragen, wer jemanden, der oder die vermeintlich dem Anspruch der Routiniertheit entspricht, zu auswärtigen Einsätzen »heranzuziehen« verantworten will, denn anders als bei den Blauhelmen wird diesem weder beigebracht noch ein Mittel an die Hand gegeben, sich notfalls selbst zu verteidigen. (…) Nein, so vernünftig und richtig es ist, auch in anderen Regionen Menschen die in gewaltträchtige Konflikte verwickelt sind, über die eigenen Erfahrungen mit gewalffreien Austragungsformen zu informieren und sie zu ermutigen, ihre Streitfragen ebenfalls gewaltfrei auszutragen und ihnen dabei zu helfen, hierfür Formen zu finden, die ihre Gegner nicht zur weiteren Eskalation veranlassen, so unverantwortlich erscheinen mir »taskforce«-Einsätze ohne Selbstschutzmittel, wenn bereits geschossen wird.“ 8

3. Was sind friedliche Mittel?

Es ist wenig glaubhaft, wenn sich die Mitglieder eines Systems kollektiver Sicherheit völkerrechtlich verbindlich zusichern, militärische Gewalt nur als letztes Mittel anzuwenden und zur Regelung von Konflikten zuerst auf friedliche Verfahren zu setzen, aber kaum darauf vorbereitet sind, Konflikte vor dem Überspringen der Gewaltschwelle zu stoppen oder sie auf dem Weg der Vermittlung und des Ausgleichs zu lösen. Im folgenden soll deshalb versucht werden, den Begriff der friedlichen Mittel näher zu bestimmen.

Bereits in den ersten Abschnitten der Charta der Vereinten Nationen, nämlich im Art.1 Ziff.1 und im Art.2 Ziff.3, wird der Begriff »friedliche Mittel« verwendet. Im Art.33 der Charta werden verschiedene Verfahren zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten aufgeführt. Dennoch gestaltet sich eine trennscharfe und präzise Definition des Begriffs relativ schwierig. Interessanterweise wird die Begriffsannäherung über die Negation, über die Definition von unfriedlichen Mitteln versucht. Wenn die terminologische Annäherung von Tomuschat9 akzeptiert wird, können folgende Maßnahmen als unfriedliche Mittel verstanden werden:

rechtsverletzende Maßnahmen,

Maßnahmen, die gegen das Interventionsverbot (Art.2 Ziff.7) verstoßen,

Maßnahmen, die gegen das Gewaltverbot (Art.2 Ziff.4) verstoßen.

Diese begriffliche Annäherung ist allerdings sehr unbefriedigend, weil die Definition friedlicher Mittel nur durch eine negative Ausgrenzung im Hinblick auf andere Formulierungen der Charta versucht wird. Demnach sind friedliche Mittel all jene, die nicht unfriedlich sind. Das ist aber ein unfruchtbarer Zirkel. Leider verwendet Tomuschat bei der wichtigen Präzisierung friedlicher Mittel zu viel Energie auf eine ausführliche Darstellung möglicher Ausnahmemaßnahmen und leistet z.B. eine terminologische Abgrenzung zwischen Retorsion und Repressalien, bleibt aber bei der exakten Beschreibung friedlicher Mittel äußerst vage. Auch sein Hinweis auf die Verfahren der Streitbeilegung nach Art.33 der Charta der Vereinten Nationen hilft nicht weiter, da auch dort nach einer Aufzählung einiger Maßnahmen wiederum von anderen friedlichen Mitteln gesprochen wird, die auch nicht präzisiert werden. So bleiben völkerrechtliche Versuche einer Begriffsbestimmung, die genauer auf die friedlichen Mittel eingehen, auch bei ausgewiesenen Experten eine Ausnahme.

Die völkerrechtlichen Definitionsbemühungen haben in der Charta der Vereinten Nationen zum Art.33 Ziff.1 geführt, in dem verschiedene Verfahren und Mittel für eine friedliche Beilegung von Streitigkeiten präzisiert wurden. Dort heißt es: „(1) Die Parteien einer Streitigkeit, deren Fortdauer geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden, bemühen sich zunächst um eine Beilegung durch Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch, gerichtliche Entscheidung, Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen oder Abmachungen oder durch andere friedliche Mittel eigener Wahl. (…)“

Ähnliche Formulierungen finden sich in Teil V der Schlußakte von Helsinki vom 1.8.1975 sowie in der „Friendly Relations-Declaration“. Nach Art.2 Ziff.3 der Charta sind alle Mitglieder der Vereinten Nationen aufgefordert, ihre Streitigkeiten durch friedliche Mittel beizulegen, damit der Weltfriede und die internationale Sicherheit nicht gefährdet werden. Diese Pflicht ist eine Ergänzung des Gewaltverbots und wird durch den Art.33 operationalisiert. Nachfolgende Ansätze, wie z.B. die Deklaration „Friendly Relations and Cooperation among States“ vom 24.10.1970 orientieren sich ebenfalls an dieser Vorstellung. Und auch in der am 15.11.1982 durch die Vereinten Nationen angenommenen „Manila-Declaration on the Peaceful Settlement of Disputes“ 10 wird auf die friedlichen Mittel zur Streitbeilegung hingewiesen.

Die im Art.33 genannten Verfahren können sowohl als Mittel präventiver Diplomatie sowie als Mittel der aktiven Konfliktaustragung und -bearbeitung eingesetzt werden. Der Unterschied zwischen beiden Verfahren liegt lediglich im Zeitpunkt ihrer Verwendung. Als Instrumente der Prävention sollen sie im Idealfall die Gewaltanwendung verhindern und bei bereits existierenden Auseinandersetzungen eine friedliche Konfliktbearbeitung ermöglichen.

Allerdings hat der Art.33 auch Kriterien für die Inanspruchnahme der Verfahren definiert. Es gibt nämlich eine Beschränkung auf Konflikte, deren Fortsetzung den Weltfrieden und die internationale Sicherheit gefährden könnten. Mit dieser Einschränkung wird die Einmischung in die Entscheidungsfreiheit der Staaten stark abgemildert, allerdings auch die Eingriffsmöglichkeiten für präventive Konfliktbearbeitung und präventive Diplomatie erschwert, da präventive Mittel insbesondere in einem Konfliktstadium eingesetzt werden sollten, in dem sicherlich noch von keiner Gefährdung des Weltfriedens gesprochen werden kann.

Obwohl sich in der Charta der Vereinten Nationen also durchaus Hinweise auf friedliche und gewaltfreie Mittel und Verfahren finden lassen, sind der Charta Begriffe wie »Konflikt«, »Konfliktlösung« oder »Konfliktprävention« allerdings fremd. Und das, obwohl der Beitrag der Vereinten Nationen zur Lösung, Eindämmung und Kontrolle internationaler Konflikte keineswegs bestritten, vielmehr sogar als eine ihrer herausragenden Aufgaben angesehen wird. Die Sicherung des Weltfriedens wird durch das Kap. VI bereits auf das politische Vorfeld kriegerischer Auseinandersetzungen vorverlagert. Dies verdeutlicht, daß der Charta der Vereinten Nationen der Gedanke der Konfliktprävention nicht fremd ist, auch wenn er sich als Begriff nicht direkt nachweisen läßt.

4. Der Begriff »Konflikt«

Konflikte gibt es überall und zu jeder Zeit. Es gibt keine Welt ohne Konflikte. Jeden Morgen, wenn wir aufstehen, lesen wir bereits in der Morgenzeitung über eine Vielzahl unterschiedlicher Konflikte. Beim Betreten des Busses kann der alltägliche verdeckte Kampf um den Sitzplatz beobachtet werden, endlich am Arbeitsplatz wartet bereits der nächste Konflikt auf seine Bearbeitung und evtl. Lösung. Konflikte spielen in unserem Leben eine unübersehbare Rolle. Psychische, gesellschaftliche, ökonomische, nationale, ethnische Konflikte tagaus, tagein. Arbeitskampf, Tarifauseinandersetzungen, Streitbeilegung, Schlichtungskommission unter der Woche, Demonstration und Hooligans am Wochendende. Bürgerkrieg und kriegerische Auseinandersetzung fast auf jedem Kontinent. Konflikte sind omnipräsent. Und außer dieser Vielzahl an Konflikten selbst, die als Einzelfall für Zeitung oder Nachrichten interessant sein können, haben wir mittlerweile Indikatoren für die Konflikthaftigkeit der Welt ausgearbeitet: Selbstmordrate, Scheidungsquote, Waffen- und Rüstungsexportstatistiken und unterdessen gibt es auch schon Kriegsregister.

Seit Jahren bemüht sich die Friedens- und Konfliktforschung um die Aufklärung des Phänomens. Im Zentrum standen die Fragen nach der Verursachung und nach der Funktion von Konflikten. Nun steht das verstärkte Bemühen um die Frage nach den Möglichkeiten der Konfliktlösung oder -vermeidung an. Der Begriff »Konflikt« bezeichnet als soziologische Kategorie einen Interessengegensatz zwischen einzelnen Handlungssubjekten, wobei Konflikt in der Regel nicht als starre Konstellation widerstreitender Interessen, sondern als Prozeß zunehmender oder abnehmender Intensität begriffen wird. Insbesondere die kritische Friedensforschung hat den Begriff in den Bereich der internationalen Beziehungen übertragen. Dabei wird auch immer wieder zwischen Konflikt und Krieg unterschieden. Konflikte sind Interessengegensätze zwischen Gruppen, die noch nicht mit militärischen Mitteln ausgetragen werden, allerdings jederzeit zu Kriegen führen können.

Der Konfliktbegriff wird außerdem oft synonym mit den in Kap. VI gebrauchten Begriff der »Streitigkeit« verwendet. Eine Einschränkung des Konfliktbegriffs auf »Streitigkeit« wird der Praxis der Vereinten Nationen aber nur unzureichend gerecht. Die Einrichtung von Friedenstruppen geht wahrscheinlich über die Verfahrensvorschläge von Kap. VI hinaus. Kap. VII der Charta der Vereinten Nationen behandelt die Wiederherstellung des Friedens und Kap. VI die friedliche Konfliktbearbeitung im politischen Vorfeld, wobei die Vereinten Nationen hier lediglich Empfehlungen ohne rechtsverbindliche Wirkung abgeben dürfen. Die friedliche Streitschlichtung und Konfliktbearbeitung ist somit im Regelwerk der Vereinten Nationen deutlich weniger rechtsverbindlich internationalisiert und operationalisiert als die Maßnahmen nach Kap. VII, die zur Wiederherstellung von Frieden ergriffen werden dürfen. Ob die Konfliktprävention überhaupt als wirkungsvolle Aufgabe der Vereinten Nationen gesehen werden kann, wird vor diesem Hintergrund fraglich. Zudem zeigen die Mitgliedsstaaten gerade in diesem Punkt offensichtlich nur wenig Reformbereitschaft, wie etwa die Manila-Deklaration von 1982 belegt, die in kaum einem Punkt über das Kap. VI der Charta der Vereinten Nationen hinausgeht.

Konflikt kann als eine Sammelbezeichnung für alle möglichen intra- und interpersonalen Spannungen, Problemsituationen und Auseinandersetzungen beschrieben werden. Der intrapersonale, innerpsychische Konflikt soll bei diesen Betrachtungen ausgespart bleiben. Ein interpersonaler, sozialer Konflikt ist ein spannungsgeladenes Geschehen zwischen verschiendenen Individuen, Gruppen, Klassen oder auch Staaten. Auch Spannungen, Kämpfe und Auseinandersetzungen zwischen Einzelpersonen und Gruppierungen fallen in diese Kategorie. Jedes soziale System, jede Gesellschaft lebt in der Spannung zwischen normativen Ansprüchen und Konstitutionsregeln sowie der Dynamik sozialer Interaktionen. Konflikte sind Forschungsgegenstand der politischen Wissenschaften, der Soziologie, der Sozialpsychologie und der Anthropologie. Diese haben sich der Erforschung von Konflikten und von Streitigkeiten innerhalb sozialer Gruppen, ihrer Entstehung, ihrer Funktion sowie der Form, Verfahren und Maßstäbe ihrer Beilegung gewidmet. Trotz der intensiven Forschung ist keine einheitliche Theorie des Konflikts entwickelt worden. Aus einer normativ orientierten Sicht werden Konflikte und Streitigkeiten als die Verletzung von rechtlichen Verhaltensregeln verstanden. Nach einer anderen Annäherung sind Konflikte ein normales Phänomen des gesellschaftlichen Lebens. Besonders stark umstritten ist die Bestimmung der Konfliktursachen. Das Spektrum möglicher Erklärungsversuche reicht von der Reduktion der Konfliktursachen auf materielle Interessenskolissionen bis hin zu ideellen Interessen wie z.B. Macht. Es gibt auch Versuche, nochmals eine terminologische Unterscheidung zwischen Konflikten und Streitigkeiten (conflict and disputes) zu treffen. Konflikte sind wie – oben gesagt – Interessenskolissionen, Streitigkeiten sind hingegen ein Konfliktstadium, in dem Ansprüche und Gegenansprüche aufeinanderstoßen. Eine weitere Unterscheidung wird zwischen antagonistischen Konflikten (entspricht in etwa Streitigkeiten) und gleichgerichteten Konflikten, (als einer Konkurrenz mit akzeptierten Mitteln um Ressourcen oder Positionen).

Während es in der Begriffsbestimmung und in der terminologischen Trennschärfeproblematik sichtbar ein breites Spektrum von lebensweltorientierten bis hin zu fachdiszipliniären Versuchen gibt, besteht eine stärkere Übereinstimmung hinsichtlich der Mittel, Formen und Verfahren der Konfliktbearbeitung und -lösung. Neben der Gewaltanwendung, die in der Menschheitsgeschichte das dominante Mittel der Auseinandersetzung war, wird die Bearbeitung und Lösung von Konflikten vor allem mit friedlichen Mitteln, wie etwa durch Verhandlungen und/oder Vermittlung versucht. Vor diesem Hintergrund verstehen sich auch die Bemühungen, sich sowohl auf die Verfahren der friedlichen Konfliktlösung als auch auf psychologische Aspekte zu konzentrieren, um eine rational orientierte und friedliche Konfliktlösung zu ermöglichen.

Dazu gehört auch die Erkenntnis, daß nicht jedes Verfahren einer friedlichen Konfliktbarbeitung und -lösung notwendigerweise zu einem friedlichen Wandel führt.

Für die Chancen und Grenzen nichtmilitärischer Konfliktbearbeitung und für eine aktive Konfliktaustragung werden in dieser Arbeit folgende grundlegende Prämissen gesetzt:

1. Konflikte gab, gibt und wird es auch weiterhin auf allen gesellschaftlichen Ebenen (auch in den internationalen Beziehungen) geben. Konflikte sind dem Menschen wesenseigen und jeder seiner Gesellschaftsformen konstitutiv. Das Auftreten von Konflikten ist in sozialen Gesellschaften unvermeidlich. Form und Verfahren der Konfliktbearbeitung und -lösung entscheiden darüber, ob ein Konflikt zu kriegerischen Auseinandersetzungen führt. Es geht also bei der Diskussion um eine präventive (Außen-)Politik, um die Chancen und Grenzen präventiver Politik und Diplomatie nicht um das Ob, nicht um die generelle Existenz einer konfliktbehafteten Welt, sondern um das Wie der Austragung und um die Formen und Regeln der Konfliktbewältigung. Konflikte können nicht weggedacht werden. Dahrendorf hat es in Anlehnung an Immanuel Kant wie folgt ausgedrückt: „Konflikte sind die Quelle des Fortschritts zur Zivilisation und am Ende zur Weltbürgerschaft.“ 11

2. Konflikte sind per se weder funktional noch dysfunktional. Es müssen überzeugende Strategien für einen zivilen, humanen Umgang mit Konflikten, Strategien für eine friedliche und gerechte Konfliktregelung, die bei ihrer Verwirklichung und Durchsetzung das Entstehen neuer Konflikte aus dieser Realisierung mitbedenkt und verhindert, entwickelt werden. Konfliktschlichtung muß mehr sein als nur eine „temporäre Trennung der Kampfhähne“.12

3. Stimmen die oben genannten anthropologischen Voraussetzungen, dann muß präventive Politik scheitern, wenn sie als Ziel die Verhinderung von Konflikten leisten will. Konflikte sind nicht zu verhindern. Es kommt vielmehr darauf an, die gewalttätige Austragung von Konflikten zu verhindern bzw. in friedliche Verhaltensformen zu überführen.

4. Eine tragfähige und dauerhafte Lösung von Konflikten kann nur von innen kommen und niemals von außen in die Menschen hineingebombt werden. Ein wichtiger Bestandteil der Strategie nichtmilitärischer Konfliktlösung ist deshalb eine weitgehende Zurückhaltung ausländischer Mächte als interessengeleitete Nationalstaaten. Dem steht eben genau das Bestreben der Konfliktparteien gegenüber, die ein Interesse daran haben, den Konflikt möglichst zu internationalisieren, nicht zuletzt in der Hoffnung auf Waffen- und Rüstungslieferungen. Die Internationalisierung des Konflikts ist in der Regel dabei weniger auf internationale Organisationen gerichtet, sondern oft eine klassische Suche nach Verbündeten, die korrespondierende nationalstaatliche Interessen haben.

5. Institutionell miteinander vernetzte demokratische Rechtsstaaten und Systeme kollektiver Sicherheit sind bei der Konfliktregelung sowohl der Konkurrenz der Nationalstaaten, als auch dem Konfliktlösungspotential der beteiligten Kräfte in der Regel überlegen.

5. Nichtmilitärische Konfliktbearbeitung und friedliche Streitschlichtung

Im folgenden Abschnitt soll sowohl auf die klassischen diplomatischen Mittel und Verfahren der nichtmilitärischen Konfliktlösung und friedlichen Streitschlichtung, wie sie vom Völkerrecht über die Jahrhunderte entwickelt und ausgearbeitet wurden, als auch auf einige neuere Ansätze eingegangen werden. Schon frühzeitig läßt sich das Bemühen feststellen, verschiedenen Verfahren und Methoden der friedlichen Streitbeilegung völkerrechtlich zu kodifizieren.

Die Haager Abkommen formulierten, ohne daß das heutige Gewaltverbot bereits als grundlegende völkerrechtliche Norm anerkannt war, daß die Anwendung von Gewalt wenn möglich zu verhüten sei. Auf der ersten Haager Friedenskonferenz 1899 wurde die friedliche Streitbeilegung institutionalisiert. Bereits in diesen völkerrechtlichen Verträgen wurden Verfahren wie »Gute Dienste«, Vermittlung, Untersuchungskommissionen und der ständige Schiedsgerichtshof in Den Haag festgeschrieben. Darin wurde z.B. die Vermittlung – auch die Form, die auf Eigeninitiative des Vermittlers zustande kam – als freundliche Handlung und nicht als unrechtmäßige Einmischung verstanden. Ausgangspunkt der Haager Abkommen war das Ziel der Vertragsparteien, „in den Beziehungen zwischen den Staaten die Anrufung der Gewalt soweit wie möglich zu verhüten“ und „alle ihre Bemühungen aufwenden zu wollen, um die friedliche Erledigung der internationalen Streitfragen zu sichern“ (Art.1). In den verschiedenen Titeln des I. Haager Abkommen werden dann folgende Verfahren genannt:

Gute Dienste und Vermittlung (zweiter Titel; Art. 2 bis 8)

Internationale Untersuchungskommission (dritter Titel; Art.9 bis 36)

Internationale Schiedssprechung (vierter Titel)

mit den Kap. 1 Schiedswesen (Art.37 bis 40),

Kap. 2 Ständiger Schiedshof (Art.41 bis 51)

Kap. 3 Schiedsverfahren (Art.51 bis 85) und

Kap. 4 abgekürztes Schiedsverfahren (Art.86 bis 90).

Mit dem Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg und den Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Verfahren der friedlichen Konfliktbearbeitung und Streitbeilegung weiter institutionalisiert. Auf diese Epoche soll hier verzichtet werden, da die Verfahren der friedlichen Konfliktlösung zum großen Teil in der Charta der Vereinten Nationen auftauchen.

Hauptbezugspunkt der internationalen Diskussion über die friedliche Beilegung von Streitigkeiten und internationalen Konflikten ist das ausgebildete Regelwerk der Vereinten Nationen. Die Charta der Vereinten Nationen knüpft an ähnliche Verfahren wie z.B. die der Haager Abkommen an. Bereits Art.2 Ziffer 3 der Charta der Vereinten Nationen verpflichtet – wie weiter oben bereits ausgeführt – die Mitgliedsstaaten, internationale Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln zu regeln. Dem Charakter nach und als trennscharfes Unterscheidungskriterium gegenüber Kap. VII der Charta der Vereinten Nationen werden im Kap. VI nur Maßnahmen ohne Zwangscharakter verhängt. Die Auflistung möglicher Verfahren provozierte natürlich im völkerrechtlichen Fachschrifttum unmittelbar die Frage, ob damit eine Hierarchie verbunden sei und sie „nacheinander in Gang zu setzen“ 13 seien. Dies wird allerdings eindeutig verneint; den Konfliktparteien ist die Wahl ihrer Mittel freigestellt.

In den regionalen Organisationen sind diese Verfahrensweisen entsprechend aufgenommen worden. Für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften gilt seit 1958 die Europäische Konvention über die friedliche Beilegung von Streitigkeiten vom 29.4.1957. Das europäische Übereinkommen zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten vom 29.4.1957 nennt Verfahren, die sich an das Kap. VI der Charta der Vereinten Nationen anlehnen (Kap. I über die gerichtliche Beilegung, Kap. II über die Vergleichsverfahren und Kap. III über die Schiedsverfahren).

Die nachfolgend genannten Methoden friedlicher Streitbeilegung sind alt und wurden bereits in der Epoche des klassischen Völkerrechts entwickelt. Viele haben – so Kimminich – bereits im klassischen Völkerrecht ihre auch heute noch gültige Ausformung erhalten.14 An Aktualität haben sie nicht verloren. Grundlegend für die Verankerung dieser Verfahren und Mittel in der Charta der Vereinten Nationen ist die prinzipielle Orientierung an »Frieden durch Recht«, einem Fundament der heutigen Völkerrechtsordnung. Das Gewaltverbot wäre allerdings vollkommen unglaubwürdig und sinnlos, wenn das Völkerrecht keine Mittel der friedlichen Konfliktbeilegung anbieten würde. Grundlegende Orientierung der Verfahren nach Kap. VI der Charta der Vereinten Nationen ist, daß die Lösung des Konflikts bei den Streitparteien verbleiben und eine Dritte Partei darauf nur geringen Einfluß nehmen soll.

Im folgenden soll u.a. ausführlicher auf die verschiedenen Möglichkeiten einer nichtmilitärischen und friedlichen Konfliktbearbeitung und Streibeilegung eingegangen werden, die ausdrücklich im Kap. VI der Charta der Vereinten Nationen erwähnt sind.

a. Gute Dienste

Gute Dienste (Good Offices), die nicht ausdrücklich in der Charta erwähnt sind, aber auf eine lange Geschichte zurückblicken, werden durch einen Staat oder auch durch Einzelpersonen angeboten, der im Streit zwischen den Konfliktparteien durch direkte Verhandlungen eine Lösung ermöglichen wollen. Gute Dienste stellen eine sehr niedrige Form der Einflußnahme durch eine Dritte Partei dar. So kann z.B. ein Konferenzort für die Verhandlungen personell, materiell und technisch vorbereitet und angeboten werden. Sie erschöpfen sich darin, daß der Dritte die Parteien zu Verhandlungen überredet und ein günstiges Klima dafür schafft, ohne aber an den Verhandlungen selbst teilzunehmen (so die Definition in Art.IX Bogota-Pakt). Die »guten Dienste« können von einer Regierung, aber auch von Privatpersonen angeboten werden. So hat z.B. der britische Konzern LONRHO die Reisekosten für Delegationsmitglieder der mosambikanischen Rebellenorganisation RENAM0 übernommen, „damit diese überhaupt zu den Verhandlungen mit der Regierung außerhalb des Landes gelangen konnten.“ 15 In letzter Zeit hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen teilweise mit Erfolg gute Dienste zur Lösung von Konflikten durchgeführt.

b. Konsultationen (consultation)

Auch die Konsultationen werden nicht ausdrücklich als eigenständiges Verfahren erwähnt, sind aber ebenfalls in den Bereich der friedlichen Mittel einzuordnen. Unter Konsultationen versteht das Völkerrecht einen Prozeß, „in dem ein Staat, der eine bestimmte Maßnahme ergreifen will, nach Information der davon betroffenen Staaten deren Wünsche und Vorstellungen in Rechnung stellt und Einwände angemessen berücksichtigt.“ 16

Im angelsächsichen Sprachraum und insbesondere durch die Forschungsarbeiten zur Problematik der Conflict Resolution wird unter »consultation« eine problemlösungsorientierte Beratung verstanden, die auf der Ebene von Workshops oder Runden Tischen abläuft. Der »consultator« ist stärker in die Verhandlungen involviert als der »negotiator«, macht aber dennoch keine eigenen, neuen Eingaben. Oft handelt es sich um eine Gruppe von »consultators«, die in Konfliktmanagement und Gruppendynamik gut ausgebildet sind und den Konfliktparteien mit ihrem Wissen beratend zur Seite stehen.

c. Verhandlung (negotiation)

Verhandlung ist nicht nur eine Form der Streitbeilegung, sondern auch ein allgemeines Mittel des zwischenstaatlichen Verkehrs, das insbesondere bei der Vorbereitung von Verträgen Anwendung findet. Von Verhandlungen kann man nur sprechen, wenn beide Konfliktparteien Stellungnahmen zur Sache abgeben. Bei Verhandlungen treten die Parteien unmittelbar miteinander in Verbindung und erörtern die zwischen ihnen bestehenden Streitpunkte. Soweit sie der Konfliktbearbeitung und Streiterledigung dienen, unterscheiden sich die Verhandlungen von anderen Verfahren dadurch, daß ihnen das Element der Dritten Partei fehlt. Deshalb wird die Verhandlung einerseits als schwächstes Streitschlichtungsmittel betrachtet, so etwa bei Kimminich17, andererseits als der beste Weg zur Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten eingeschätzt.18

Die Verhandlungssituation ist dadurch charakterisiert, daß sich zwei oder mehr Konfliktparteien in einem Interessenkonflikt befinden und mittels direkter Kommunikation einen Ausgleich suchen. Ausgangspunkt für Verhandlungen ist ein eingestandenes Interessen der Konfliktparteien, daß eine Einigung und Übereinkunft für beide Parteien von größerem Vorteil ist als die Nicht-Einigung. Die Parteien haben also neben den konfligierenden Interessen auch ein gemeinsames Interesse. Bei Verhandlungen kommt es zum Austausch von Vorschlägen, Forderungen, von Informationen über Konsequenzen, über die Lage der Beteiligten, von Erläuterungen, Rechtfertigungen, Versprechungen, Drohungen und anderen relevanten Verhaltensgrößen.

d. Untersuchung (enquiry)

Eine mögliche Grundlage für die friedliche Beilegung von Konflikten kann des öfteren eine Untersuchung (»Fact-finding«) durch unparteiische Beobachter oder durch eine internationale Untersuchungskommission sein, die von den Konfliktparteien eingesetzt wird. Normalerweise wird die Untersuchung mit einem Bericht abgeschlossen, der lediglich die objektiven Tatsachen festhält, aber keine rechtsverbindliche Wirkung und teilweise noch nicht einmal Empfehlungen enthält. Diese Form der friedlichen Streitbeilegung war bereits in den Haager Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle vorgesehen. Auch nach diesem Abkommen hat der Untersuchungsbericht keine rechtsverbindliche Kraft. Die Konfliktparteien können souverän entscheiden, ob und welche Schlußfolgerungen sie aus dem Untersuchungsbericht ziehen. Die Vorteile der Untersuchung sind, daß Konfliktparteien zum ersten Mal Informationen vermittelt werden können, die einer Lösung des Konflikts zuträglich sind. Letztlich sind auch die Untersuchungen ein Dritte-Partei-Verfahren, da diese die Informationen sammelt und den Konfliktparteien zur Verfügung stellt. Die Verantwortung zur friedlichen Beilegung des Konflikts verbleibt allerdings bei den Konfliktparteien. Das Verfahren zur Einsetzung einer Untersuchungskommission ist hier nicht Gegenstand weiterer Erörterungen.

e. Vermittlung (mediation)

Auch die Vermittlung ist ein Verfahren der friedlichen Beilegung von Konflikten, das bereits in den Haager Abkommen ausführlich geregelt war. Vermittlung (mediation) ist ein äußerst schillernder Begriff, abseits jeder präzisen Begriffsbestimmung19, Vermittlungen sind Verhandlungen an denen eine dritte Partei als Vermittler teilnimmt. Es ist eine willkommene oder unerwünschte Einflußnahme durch Dritte. Die Konfliktparteien sollen von den Vorteilen einer friedlichen Konfliktaustragung überzeugt werden. Daran anknüpfend sollen verschiedene Wege zu einer langfristigen Lösung des Konflikts angegangen werden. Paffenholz hat einige Beispiele für erfolgreiche Vermittlung genannt, so etwa die des amerikanischen Präsidenten Carter 1978 zwischen Ägypten und Israel oder die Lancaster-House-Verhandlungen, in denen der britische Unterhändler Lord Carrington durch Vermittlung zwischen den Konfliktparteien im Rhodesien-Konflikt 1979 die Unabhängigkeit Simbabwes erreichte.20 In der Vergangenheit haben vor allem die Vereinten Nationen oft in Person ihres Generalsekretärs Vermittlungsdienste durchgeführt. Die Vermittlung überschreitet die infrastrukturelle Dienstleistungsangebote der »Guten Dienste« in die Richtung, daß der Vermittler selbst Vorschläge zur Lösung des Konflikts unterbreitet. Eine Vermittlungstätigkeit kann nur mit der Zustimmung der Konfliktparteien zustande kommen und setzt meist eine strikte Neutralität voraus. Entfällt diese grundlegende Voraussetzung oder wird sie willentlich ausgeschlossen, ist die Grenze zur Intervention überschritten. Die Vermittlung hat völkerrechtlich eine sehr lange Geschichte, die bis weit ins Mittelalter zurückreicht. Kimminich ist der Auffassung, daß die neuere völkerrechtliche Literatur allerdings kaum noch eine Unterscheidung zwischen Vermittlung und Ausgleich trifft, diese viel eher meist zusammen behandelt. Dies ist eine Verschiebung gegenüber den früheren Annäherungen, wo eher die Guten Dienste und Vermittlung als eng verknüpft thematisiert wurden.21

Die in letzter Zeit vor allem von der US-amerikanischen Friedens- und Konfliktforschung in die europäische Debatte eingebrachten Ansätze der friedlichen Konfliktlösung und -bearbeitung durch Mediationsprojekte stellen keine Neuerung im eigentlich Wortsinn dar. Hier handelt es sich um einen durchaus weit verbreiteten Irrtum. Die Verfahren und Methoden, die unter dem Oberbegriff der Conflict Resolution diskutiert und intensiv erforscht werden, sind keine neuen Ansätze. Fast alle Verfahrensvorschläge finden sich bereits in der Charta der Vereinten Nationen (hier im Kap. VI) und in den Haager Abkommen. Dennoch transportieren diese Forschungsansätze ein enorm wichtiges Anliegen. Es ist das Bemühen, die elaborierten und theoretisch entwickelten sowie völkerrechtlich kodifizierten Verfahrensvorschläge zur friedlichen Konfliktbearbeitung und Streitschlichtung mit aussagekräftigem Inhalt zu füllen und sie als wirkungsvolle Instrumente gegenüber der Dominanz militärischer Mittel in die internationale Diskussion einzuführen und sie als unentbehrlichen Verhaltensstandard bei internationalen Konflikten und Streitigkeiten zu etablieren. Es ist insofern ein konzentrierter Versuch, das brachliegende Kap. VI der Charta der Vereinten Nationen mit Leben zu füllen. Die Nähe zur Charta der Vereinten Nationen wird auch durch die enge begriffliche Anlehnung deutlich.22

Als einer der Hauptvertreter der amerikanischen Forschung über Conflict Resolution gilt seit den frühen 60er Jahren John Burton. Er hat in Zusammenarbeit mit vielen anderen Forschern, wie etwa Kelman oder Azar, entscheidende Anstöße gegeben. Theoretisch ist die Gruppe um Burton wesentlich durch die Arbeiten des Psychologen Kurt Lewin23 beeinflußt, dessen gruppendynamische Untersuchungen erhebliche Auswirkungen auf die theoretischen Überlegungen von Burton u.a. gehabt haben. Burton u.a. konzentrierten sich auf die Ansatzmöglichkeiten sozialpsychologischer Forschungsergebnisse für Konflikte in den internationalen Beziehungen. Burton bettete seinen Ansatz der Conflict Resolution in einen umfangreichen theoretischen Rahmen, die sogenannte „Human Needs Theory“ 24, wonach die Konfliktparteien beiderseitig auf eine umfassende Befriedigung ihrer elementarsten Bedürfnisse orientiert sind. Die Gruppe um Burton hat in einer vierbändigen Ausgabe ihre umfangreichen Ergebnisse vorgestellt, sowie ein breites Spektrum an Methoden und Verfahren dargelegt. Bei den Verfahren werden beispielsweise Mediation, Verhandlungen, Schiedssprüche, problemorientierte Konfliktlösung, citizen diplomacy u.a., bei den Methoden Workshops, Gesprächskreise, Runde Tische u.a. angeführt.25 Aufbauend auf seiner Human-Needs Theorie, entwickelten Burton u.a. eine Vielzahl an Verfahren und Methoden, um die einseitige Gewinnorientierung einer Partei in eine für beide Seiten annehmbare Situation umzuwandeln. Die sozialpsychologischen Wurzeln werden deutlich sichtbar, wenn Burton davon ausgeht, daß der Vermittler neben der Fachkenntnis entsprechend gut im Konfliktmanagement ausgebildet ist und über ausreichende Kenntnisse der Gruppendynamik verfügt.

Eine weitere amerikanische Forschergruppe hat sich um den Soziologen Louis Kriesberg26 gebildet. Auch nach seiner Konzeption wird die Vermittlung durch neutrale Experten wahrgenommen. Dieser Grundsatz gilt aber nicht absolut, da er bei allseitiger Akzeptanz durch die Konfliktparteien, unter Umständen auch parteiisch sein darf. Kriesberg ist sehr stark am Mediationsgedanken orientiert und setzt in der Methodik auf vergleichbare Verfahren wie Burton, nämlich auf Workshops und z.B. auch auf Runde Tische. In der Analyse der Probleme gewaltfreier Konfliktlösung und -bearbeitung hat er einen Fragenkatalog nach Methoden und Einstiegszeitpunkt, nach Bedingungen und Beteiligten erarbeitet und dabei betont, daß auch »nonofficials« Deeskalationsoptionen frühzeitig untersuchen können.27 Im Mittelpunkt weiterer Studien steht für die Gruppe um Kriesberg unter anderem die Frage nach dem richtigen »timing«. Kriesberg mißt dieser Frage, also der Wahl eines günstigen Zeitpunktes für eine erfolgreiche Vermittlung sehr große Bedeutung bei.28

Mit der Vorstellung, daß der Vermittler seine Neutralität aufgeben muß und sogar nicht nur parteiisch sein soll, sondern auch noch über Macht und Druckmittel gegenüber den Konfliktparteien verfügt, hat der amerikanische Politologe William Zartman29 die Debatte um friedliche Vermittlungswege sicherlich enorm belebt. Auf ihn geht die Einführung des Begriffs der Reife (ripe moment) zurück. In gedanklicher Nähe zu Kriesberg liegt ein entscheidender Faktor für die Erfolgsaussichten der friedlichen Konfliktlösung darin, den richtigen Zeitpunkt für vermittelnde Aktivitäten zu erkennen. Der Vermittler hat sich voll darauf zu konzentrieren, besonders günstige Bedingungen für die Vermittlung zu finden. Ein Konflikt muß »reif« für seine Lösung werden. Interessanterweise müssen diese »Reife«-Situationen gar nicht in der Realität, sondern lediglich im Bewußtsein der beteiligten Konfliktparteien vorhanden sein. Paffenholz30 hat auf das Beispiel der Guerilla in El Salvador hingewiesen. Diese waren »reif« für Verhandlungen, als sie annahmen, keine Waffenlieferungen mehr von der Sowjetunion zu erhalten, obwohl diese ununterbrochen weiterliefen. Vor einem solchen theoretischen Hintergrund wird schnell deutlich, wieso Zartman die Frage der Neutralität des Vermittlers als eine vernachlässigbare Größe gegenüber seinen Macht- und Druckmitteln einstuft. Denn ist eine Situation reif für entschiedene Vermittlungsaktivitäten, dann sollen diese konsequenterweise umgesetzt werden. Zartman schließt dabei weder positive Anreize noch Drohungen oder verschiedene Formen von Zwang aus. Die Aufgabe der Neutralität und die mögliche Durchführung von Zwangsmaßnahmen verläßt sicherlich die klassische Vorstellung der Vermittlung. Es ist allerdings noch nicht hinreichend geklärt, ob und welche Form der verschiedenen Vermittlungsaktivitäten den gegenwärtigen und zukünftigen Konfliktszenarien angemessener ist. In Anbetracht der offenkundig vorhandenden Problematik, wie konsensual ausgehandelte Verhandlungsergebnisse eingehalten bzw. gegenüber einer oder mehreren Konfliktparteien durchgesetzt werden können, ist zu erwarten, daß vor allem der Ansatz von Zartman eine bedeutende Rolle spielen wird. Wie der neuseeländische Forscher Bercovitch31 in einer empirischen Untersuchung über die Bedingungen der Vermittlung herausfand, kommt es zumindest bei zwischenstaatlichen Konflikten in der Tat wohl mehr auf die Ressourcen des Vermittlers als auf seine Neutralität an. Damit sind einige Annahmen von Zartman im Ansatz bestätigt.

Von der deutschen Friedens- und Konfliktforschung wurden zwei Ansätze etwas ausführlicher aufgegriffen. Es handelt sich dabei um den Ansatz der citizen diplomacy sowie um die Verfahren der transnationalen Mediationsprojekte. Ropers und Schlotter haben erst kürzlich beide Verfahren im Hinblick auf die Möglichkeiten einer Konfliktprävention durch die KSZE in die Diskussion eingebracht.32 Hintergrund ihrer Bemühungen ist die Analyse, daß das bisherige KSZE-Instrumentarium für ethnonationalistische Konflikte nicht ausreicht, da sich diese hauptsächlich auf inner- bzw. zwischengesellschaftlicher Ebene abspielen. Es ist offenkundig, daß die klassischen diplomatischen Konfliktlösungsmittel hier nur begrenzt greifen.

Sie unterscheiden zwei Ansätze der friedlichen Konfliktbearbeitung auf der gesellschaftlichen Ebene: Zum einen die Gesamtheit der Bemühungen privater Personen, Initiativen und Organisationen, die Spannungen zwischen verschiedenen Kulturen bzw. Staaten durch Begegnungen, Austauschprogramme, Partnerschaften und andere informelle Kontakte zu überbrücken. Dieses Bemühen wird im angelsächsischen Sprachraum mit dem treffenden Begriff »citizen diplomacy«33 beschrieben; zum anderen verweisen sie auf die professionellen Ansätze einer friedlichen Konfliktbearbeitung auf der zwischengesellschaftlichen Ebene durch die Intervention einer »dritten Partei« – die transnationalen Mediationsprojekte. Die transnationalen Mediationsprojekte, die sich stark am Ansatz des „problem-solving Conflict Resolution“ 34 von John Burton u.a. orientiert, erscheinen den Autoren insbesondere zur Bearbeitung ethnonationalistischer Konflikte besonders geeignet. Im Mittelpunkt dieser Projekte stehen Workshops, zu denen mehr oder weniger einflußreiche, repräsentative Vertreter der Konfliktparteien eingeladen werden. Die Mediatoren sind in diesem Prozeß »Dritte Partei«, die eine gemeinsame Problemlösung ermöglichen will. Ropers und Schlotter nennen die wichtigsten Elemente des problemlösungsorientierten Konfliktmanagements in vier Punkten:

„(a) Workshops mit Vertretern der Konfliktparteien unter Leitung einer dritten Partei. Hinter der Idee von Workshops mit Vertretern der Konfliktparteien steht zunächst die Vorstellung, daß die beteiligten und betroffenen Individuen in einen direkten und persönlichen Kontakt miteinander treten sollten, weil es letztlich nur auf diesem Wege möglich sei, sich als Menschen mit ähnlichen Grundbedürfnissen nach Sicherheit, Identität and Partizipation kennenzulernen. Mit Hilfe von Methoden des interkulturellen Lernens und der humanistischen Psychologie geht es dann darum, die Kommunikationsbarrieren zwischen den verfeindeten Gruppen zu überwinden und eine gemeinsame Arbeitsbasis zu finden. Der nächste Schritt besteht in der Analyse des Konflikts und seiner Vorgeschichte. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit den wechselseitigen Verletzungen, Kränkungen und Verstrickungen. Schließlich geht es darum, auf möglichst kreative Weise neue Lösungen für die gemeinsamen Probleme zu finden. D.h. am Ende der Workshops sollen praktische Vorschläge, Empfehlungen und Vereinbarungen stehen, wie der Konflikt so geregelt werden kann, daß beide Seiten dabei gewinnen bzw. ihre Grundbedürfnisse befriedigen können. Mit anderen Worten: Es geht um gleichsam private Erfahrungen in einem lernfördernden Milieu, aber mit dem Ziel einer konstruktiven Konfliktaustragung. Die Verantwortung für den Prozeß liegt zu einem großen Teil bei dem Initiator, der »dritten Partei« . Ihre Rolle sollte weniger die Vermittlung in der Sache sein, sondern sich mehr auf das Verfahren konzentrieren.

(b) Kommunikationsfähigkeit und Krisenbewältigung. Die wichtigste Voraussetzung für einen gemeinsamen Lern- und Arbeitsprozeß ist allerdings, daß die Konfliktakteure überhaupt bereit und fähig sind, gewaltfrei miteinander zu kommunizieren. Der erste Schritt besteht deshalb darin, die infolge der Konfliktdynamik entstandenen Wahrnehmungsverzerrungen und Kommunikationsbarrieren offenzulegen und zu bearbeiten. Diese Phase dürfte zu den schwierigsten Teilen des gesamten Prozesses gehören, da die Beteiligten dem Projekt noch sehr viel Mißtrauen und Skepsis entgegenbringen.

(c) Konfliktanalyse und Neudefinition der Beziehungsstruktur. Die Betonung der Konfliktanalyse als Teil des Konfliktmanagements bezieht sich sowohl auf die Vermittlung genereller Einsichten durch die dritte Partei als auch auf Rückmeldungen zu konkreten Konfliktsituationen. Ideal ist es, wenn sich beide Interventionsformen miteinander verknüpfen lassen. Dazu eignen sich vor allem Mißverständnisse und Eskalationssequenzen, die aus den unterschiedlichen, aber gleichermaßen ethnozentrischen Lebenswelten der Beteiligten entstehen. Die Angehörigen der dritten Partei müssen deshalb Qualifikationen auf dem Gebiet der Konfliktforschung und dem der Kommunikationsberatung mitbringen.

(d) Problemlösung als Kreativitätstraining. Die letzte, wenngleich entscheidende Stufe des transnationalen Konfliktmanagements zielt auf eine Lösung, bei der alle Beteiligten gewinnen können. Dabei wird die Lösung nicht als Endzustand begriffen, bei dem alle Probleme beseitigt sind, sondern als Zwischenstufe in dem Bemühen, den Grundbedürfnissen aller Beteiligten gerecht zu werden. Entscheidend ist die Idee, die klassische »Nullsummensituation« eines zugespitzten Konfliktes (Der Gewinn des einen ist der Verlust des anderen) in eine Konstellation mit einer positiven Gesamtsumme (Jeder kann gewinnen) umzuwandeln. Bei ethnonationalen Konflikten gehört dazu die Bereitschaft, die Grundbedürfnisse der anderen Gruppen nach Sicherheit, Identität und Partizipation ebenso ernst zu nehmen wie die eigenen. Auf dieser Basis können dann verschiedene Methoden zur Kreativitätsforderung die Problemlösung in der Sache unterstützen.“ 35

f. Vergleichs- oder Schlichtungsverfahren (conciliation)

Die Vergleichs- oder Schlichtungsverfahren haben die Aufgabe die umstrittenen Fakten festzustellen, wie auch einen friedlichen Ausgleich zwischen den Parteien zu suchen. Es werden das Untersuchungs- und das Vermittlungsverfahren kombiniert, wobei gleichzeitig eine starke Formalisierung des Verfahrens und damit eine Annäherung an die Schiedsgerichtsbarkeit erfolgt (vgl. dazu Art.XV-XXX Bogota-Pakt). Anders als im schiedsgerichtlichen Verfahren werden aber die Parteien durch den Spruch einer Vergleichskommission nicht gebunden. Das Vergleichsverfahren war in den Haager Abkommen noch nicht vorgesehen. Es wurde erstmals im deutsch-schweizerischen Schiedsvertrag von 1921 eingeführt und dann in die Locarno-Verträge von 1925, die revidierte Generalakte über die friedliche Beilegung internationaler Konflikte vom 28.4.1949 sowie den Bogota-Pakt und das Europäische Übereinkommen zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten vom 29.4.1957 übernommen.

g. Schiedsspruch (arbitration)

Die Schiedsgerichtsbarkeit verfügt wohl über die am weitestens zurückreichenden Wurzeln. Dieses Verfahren ist ansatzweise bereits bei den Germanen anzutreffen.36

Im Mittelalter erfreute sich die Schiedsgerichtsbarkeit einer regen Inanspruchnahme. Insbesondere der Papst wurde häufig als schiedssprechende Instanz beansprucht. Die Stellung der Päpste in der völkerrechtlichen Ordnung des Mittelalters war von dem Bemühen gekennzeichnet, jenseits der unzweifelbaren geistlichen Gerichtsbarkeit, die Schiedsgerichtsbarkeit und die oberste Jurisdiktionsgewalt auch auf andere Bereiche zu erweitern. Auch wenn dies nicht gelang, so verfügten die Päpste innerhalb der Christenheit über ein außerordentliches Machtmittel. Wilhelm Grewe hat in seinem Werk „Epochen der Völkerrechtsgeschichte“ eine eindrucksvolle Liste der Schiedssprüche der Päpste aufgeführt, die, obwohl nicht vollständig, einen sehr aufschlußreichen Einblick in den hohen Stellenwert dieser Konfliktlösungsbemühungen deutlich werden läßt.37 In den folgenden Jahrhunderten geriet die Schiedsgerichtsbarkeit etwas in Vergessenheit. Im 19. Jahrhundert erlebte sie dann eine Renaissance, so z.B. die Regelung von Grenzstreitigkeiten und Nutzungsrechte in Folge der amerikanischen Unabhängigkeit.

Ein Schiedsspruchverfahren hat einen verbindlichen Charakter. Geschwächt wird dieses prinzipiell zu begrüßende Verfahren allerdings dadurch, daß die Konfliktparteien der Einsetzung eines Schiedsgerichtes vorher zustimmen müssen. Die Parteien entscheiden sogar über die Zusammensetzung des Gerichts, das paritätisch besetzt sein muß, d.h. jede Konfliktpartei entsendet eine gleiche Zahl von Schiedsrichtern. Beide Schiedsrichter-Parteien einigen sich dann in der Regel auf einen neutralen Vorsitzenden. Es können aber auch ständige Schiedsgerichte eingesetzt werden, die kaum noch Unterscheidungsmerkmale gegenüber gerichtlichen Entscheidungen z.B. durch den Internationalen Gerichtshof (IGH) aufweisen. Der im völkerrechtlichen Fachschrifttum aufgezeigte Unterschied zu etablierten Gerichten wird vor allem in der größeren Flexibilität der Schiedsgerichte gesehen.

h. Gerichtliche Entscheidung (judicial settlement)

Mit diesem Verfahren sind Instanzen wie der Internationale Gerichtshof (IGH), der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, der Internationale Menschenrechtsgerichtshof sowie der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften angesprochen, auf deren völkerrechtliche Grundlagen, Verfahren und Möglichkeiten hier nicht näher eingegangen werden soll.

i. Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen oder Abmachungen (resort to regional agencies or arrangements)

Regionale Abmachungen im Sinne der Charta der Vereinten Nationen sind die Liga der Arabischen Staaten, die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) die Organisation Afrikanischer Einheit (OAU). Art.52 der Charta sieht ausdrücklich vor, daß den Regionalabmachungen eine besondere Bedeutung bei der Regelung von Konfliktfällen in ihrem Organisationsbereich zufällt. Sie sollen als erste Instanz einen Versuch der friedlichen Streitbeilegung unternehmen.

Die Regionalabmachungen haben sich in der Geschichte der Vereinten Nationen bereits mehrmals um eine friedliche Beilegung von Konflikten bemüht, so z.B. die OAS in den Konflikten zwischen Guatemala und Honduras/Nicaragua/USA im Jahr 1954, zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik im Jahr 1963 und den USA und Panama im Jahr 1964.

Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die langfristig auf eine Abmachung gemäß der Charta der Vereinten Nationen hinausläuft, hat bereits seit langem einen Mechanismus zur friedlichen Regelung von Streitfällen ausgebildet. Im KSZE-Prozeß spielte der Gedanke, Streitigkeiten zwischen Staaten durch friedliche Mittel und Verfahren zu regeln, von Anfang an eine wichtige Rolle. Die Umsetzung läßt allerdings bis heute zu wünschen übrig. In der Grundorientierung sind die Unterschiede zwischen dem KSZE-Mechanismus zur Beilegung von Konflikten und den Verfahrensvorschlägen der Charta der Vereinten Nationen nicht sonderlich groß. Für die KSZE fand allerdings Anfang 1991 ein Expertentreffen in La Valletta statt, das wesentliche positive Veränderungen brachte. Die KSZE-Staaten konnten sich erstmals auf ein Dokument zur friedlichen Streitbeilegung einigen und sie trennten sich vom absoluten Konsensprinzip, d.h. der Mechanismus kann somit einseitig eingeleitet werden.38 Um die Dritte-Partei-Verfahren zu optimieren, wurde beschlossen, daß jeder KSZE-Mitgliedsstaat bis zu vier Personen benennen darf, aus denen dann eine gemeinsame Liste erstellt werden wird. Auf diesen personellen Pool kann bei der Inanspruchnahme einer Dritten Partei zurückgegriffen werden.

Allerdings gelten hier Einschränkungen. Wenn sich eine Konfliktpartei in „Fragen ihrer territorialen Integrität oder ihrer Landesverteidigung, ihrer Hoheitsansprüche auf Landgebiete oder konkurrierende Ansprüche hinsichtlich der Hoheitsgewalt über andere Gebiete“ berührt sieht, kann sie ein schlichtes Njet aussprechen. Um innerhalb der KSZE mehr Spielraum für Ansätze einer nichtmilitärischen Konfliktbearbeitung und friedlichen Streitschlichtung zu erreichen, fordern Ropers und Schlotter deshalb auch die Einrichtung einer KSZE-Stiftung für Konfliktforschung und Mediation, die Einzelprojekte fördert, Weiterbildungs- und Beratungsmaßnahmen organisiert und für eine Abstimmung mit den anderen Instituutionen im KSZE-Netzwerk für friedliche Streitbeilegung sorgt.

j. Andere friedliche Mittel (other peaceful means)

Während die vorangegangenen Verfahren relativ ausführlich im Fachschrifttum diskutiert werden, fehlt es an ernsthaften Bemühungen, eine exaktere terminologische Eingrenzung von »anderen friedlichen Mitteln« zu leisten (siehe dazu Kap. „Was sind friedliche Mittel?“). Durch die relative Offenheit des Begriffes können auch nicht explizit genannte Verfahren angewendet sowie verschiedene Verfahren kombiniert werden.

6. Probleme und Grenzen nichtmilitärischer Konfliktbearbeitung und friedlicher Streitschlichtung

Das mögliche Einsatzspektrum nichtmilitärischer Einmischung zur Konfliktbearbeitung und friedlicher Streitschlichtung ist also sehr weit gefächert, aber dennoch bleibt – selbst bei einer idealtypisch verlaufenden nichtmilitärischen Konfliktbearbeitung und einer friedlichen Streitschlichtung – ein zentrales theoretisches und auch praktisches Problem bestehen, nämlich die Durchsetzung von konsensual ausgehandelten Ergebnissen und Kompromissen. Hier liegt ein Hauptdefizit. Wie sollen die internationale Gemeinschaft, die Garantiemächte, die Vermittler, die Schlichter reagieren, wenn sich eine Konfliktpartei nicht mehr an die ausgehandelten Ergebnisse und Kompromisse gebunden fühlt, eine friedliche und gerechte Lösung des Konflikts aber nach wie vor nur durch die Einhaltung dieser Ergebnisse möglich ist? Aktuelles Beispiel für einen solchen Verlauf ist die politische Entwicklung der Mission der Vereinten Nationen in Kambodscha (UNTAC).

Die Grenzen nichtmilitärischer Konfliktlösung und somit letztlich auch von präventiver Diplomatie liegen – wie bereits erwähnt – in der Einhaltung einmal ausgehandelter Beschlüsse und Kompromisse. Spätestens wenn die Verhandlungsergebnisse gegen einen oder mehrere Beteiligten durchgesetzt werden sollen oder müssen, kommt der präventive Gedanke an seine Grenzen. Neben dem Androhen negativer Sanktionen könnten noch Gratifikationsstrategien greifen, wie zum Beispiel umfassende Kooperationsangebote an alle Konfliktparteien in Form von Finanz- und technischer Hilfe, in Form von humanitärer Hilfe oder auch in Form von Hilfe zum Aufbau demokratischer Verhaltensformen, die selbst während laufender Konflikte deeskalierend eingesetzt werden können. Mit dem Androhen des Entzuges der Kooperation beginnt dann der Bereich der negativen Sanktionen. Zu diesen sollte übergeleitet werden, wenn das völkerrechtlich verbindliche Ergebnis trotz des Angebots von Gratifikation für erwünschtes Verhalten nicht erfüllt werden.

Kommt es letztlich zur Anwendung von Zwang zur Einhaltung bzw. auch zur Durchsetzung von konsensual ausgehandelten Verhandlungsergebnissen hat der präventive Gedanke versagt. Jetzt kommt es darauf an, die weitere Eskalation möglichst von militärischen Lösungsüberlegungen frei zu halten. Auch hier gibt es durchaus noch Reaktionsmöglichkeiten, die weit vor potentiellen Militäreinsätzen vorgeschaltet sein können. Wirkungsvolle nichtmilitärische Reaktionen wären die Androhung von Kooperationsentzug, dann ein stufenweiser Abbau der Kooperation und nachfolgend ein langsamer, aber unmißverständlicher Aufbau konfrontativer Elemente. Die Verwendung negativer Sanktionen sollte von dem Wissen begleitet sein, daß ihr Einsatz die Gefahr in sich birgt, daß dann eine Konfliktlösung ausschließlich durch die Unterwerfung einer Seite erzielt wird.

Auch wenn diese Annäherung sicherlich unbefriedigend erscheint, so muß in diesem Bereich der Einhaltung bzw. Durchsetzung ein zentrales Problem gesehen werden. Gerade hier wird die »Nagelprobe« der Praxistauglichkeit der verschiedenen Konzepte und Verfahren einer nichtmilitärischen Konfliktbearbeitung und Streitschlichtung zu sehen sein. Die Friedens- und Konfliktforschung muß sich m.E. vor allem auf diesen Aspekt konzentrieren, weil hierin u.U. das Einfallstor für weitergehende und auch militärische Eskalationsmöglichkeiten zu sehen ist.

7. Schlußbemerkung

Handelnde Akteure für eine nichtmilitärische Konfliktlösung und friedliche Streitschlichtung können bei der derzeitigen und prognostizierten Weltlage nur Systeme kollektiver Sicherheit sein, das heißt die Vereinten Nationen bzw. deren regionale Abmachung gemäß der Charta der Vereinten Nationen. Selbst die Nichtregierungsorganisationen werden langfristig in einer globalen, interdepenten Kooperation in den Vereinten Nationen ihren Resonanz- und Aktionsboden finden müssen.

Mit Sicherheit muß sich im Rahmen der Vereinten Nationen ein praxistaugliches Spektrum für die nichtmilitärische Konfliktbearbeitung und friedliche Streitschlichtung weiterentwickeln und verfestigen. Die Gründe für die zur Zeit nicht sonderlich befriedigende Praxis der Vereinten Nationen in bezug auf die Anwendung der friedlichen Mittel gemäß Kap. VI der Charta liegen in der Struktur und dem Willensbildungsprozeß des Weltsicherheitsrates. Hinzu kommt eine ausgesprochen geringe Bereitschaft der Staaten, die Vereinten Nationen bereits frühzeitig in ihre Streitigkeiten einzuschalten. Weder der Sicherheitsrat noch die Generalversammlung haben bisher wirklich praxisgerechte und gleichzeitig attraktive Institutionen für eine nichtmilitärische Konfliktlösung im Rahmen der Vereinten Nationen zur Verfügung gestellt. Obwohl es eine Vielzahl an gut klingenden Resolutionen39 gibt, fehlt es bis einschließlich heute und auch im aktuelle Krieg im früheren Jugoslawien an ernsthaften Bemühungen, diese Buchstaben mit wirklichem Leben zu erfüllen. Weder die Manila-Erklärung vom 15.11.1982, die ein Recht der Staaten festschreibt, frei über die Verfahren und Institutionen der Streitbeilegung zu verfügen, noch die „Declaration on the Prevention and Removal of Disputes and Situations which May Threaten International Peace and Security and on the Role of the United Nations in this Field“ vom 5.12.1988 konnten diesen strukturellen Mangel beseitigen. Neu ist dabei der Hinweis auf regionale Streitschlichtungsverfahren und -institutionen. Insgesamt zielt die Entwicklung in den Vereinten Nationen allerdings nicht auf eine Verstärkung des Instrumentariums der Vereinten Nationen zur friedlichen Streitbeilegung ab.

Hinzu kommt die Schwierigkeit, die durch die neuen Konfliktformationen ethnonationaler Konflikte entstehen, die sicherlich andere Konfliktmanagementstrategien erfordern. Bei der Suche nach konstruktiven Formen im Umgang mit Konflikten sollte man sich weder auf die Vorstellungen einer »heilen Welt« noch auf eine ausschließlich konfliktorientierte Betrachtungsweise einlassen. Entscheidend für eine nichtmilitärische Konfliktlösung und -bearbeitung sind die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich den existierenden Konflikten zu stellen und sie zu bewältigen. Es geht nicht um die Beseitigung oder um die Negation von Konflikten oder um Ausweichen. Aber Konfliktlösungstechniken sind erlernbar. Dazu wird oft nicht mehr als eine gewisse Sensibilität für das Erkennen von Konflikten und die Fähigkeit zu offenen Gesprächen über schwelende Konflikte benötigt. Im Zentrum aller friedlichen und gewaltfreien Konfliktlösungsversuche steht das Bemühen, deutlich werden zu lassen, daß es in den meisten Konfliktsituationen nicht um Sieg oder Niederlage geht, sondern um eine Kompromißlösung, die möglichst allen Ansprüchen gerecht wird. Eine Mitbeteiligung an Entscheidungen ist eine zentrale Vorausetzung, weil dadurch vermieden wird, daß sich eine Partei überfahren fühlt.

Aber man sollte sich auch keine Illusionen darüber machen, daß die einzige Lösung des Konflikts u.U. eben nur noch darin bestehen kann, daß man die Unlösbarkeit des Konflikts eingesteht. Auch dieses Verhalten trägt letztlich zu einer Entschärfung bei, weil damit unnütze und frustrierende Lösungen verhindert werden.

Die erkennbaren und hier ausführlich beschriebenen Defizite bei der Anwendung von Verfahren und Mitteln nichtmilitärischer Konfliktbearbeitung und friedlicher Streitschlichtung belegen, daß die Friedens- und Konfliktforschung nicht durch eine kurzsichtige Kahlschlagpolitik der Bundesregierung ruiniert werden darf, sondern im Gegenteil intensiv ausgebaut werden muß. Die Friedens- und Konfliktforschung sollte die wenigen personellen und materiellen Kräfte nicht weiter für den Ausbau von militärischem Gegenexpertentum beanspruchen, sondern auf Strategien nichtmilitärischer Konfliktbearbeitung und friedlicher Streitschlichtung konzentrieren.

8. Überblicksliteratur

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Bercovitch, J./Rubin, J. (Ed.): Mediation in International Relation, London 1992

Burton, J.: Conflict Resolution as a Political System, Working Paper 1, George Mason University, 1988

Burton, J. (Ed.): Conflict: Human Needs Theory, London 1990

Burton, J./Dukes, F. (Ed.): Conflict: Readings in Management & Resolution, London 1990

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Kriesberg, Louis, Dilemmas in Nonviolent Settling International Conflicts, in: Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr (Hrsg.), Armed Forces After the Cold War, München 1992

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Ropers, N./Schlotter, P.: Multilaterales Konfliktmanagement im weltpolitischen Umbruch. Zukunftsperspektiven und neue Impulse für regionale Friedensstrategien, Stiftung Entwicklung und Frieden, Bonn 1992, auch HSFK-Report 11-12, Frankfurt 1992

Stein, J.G.: Reassurance and International Conflict Management, in: Political Science Quarterly 1991

Touval, S./Zartman, W.I.: International Mediation in Theory and Practice, Boulder 1984.

Wolfrum, R. (Hrsg.): Handbuch Vereinte Nationen, München 1991

Achim Schmillen ist Diplompädagoge und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Bundestag.

von Bund für soziale Verteidigung

zum Anfang | II. Der Zivile Friedensdienst im In- und Ausland

1. Einleitung

Durch die Anregung der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg, einen zivilen Friedensdienst aufzubauen (siehe nebenstehenden Kasten), ist in der Friedensbewegung wie in manchen Kirchen und Parteien eine wichtige Diskussion angestoßen worden. Eine Institution, in der gewaltfreie Konfliktlösung eingeübt und praktizierbar gemacht werden kann, ist gerade in dieser Zeit notwendig, in der sich das Militär mit einem erweiterten Sicherheitsbegriff für immer mehr Konflikte zuständig erklärt. Sowohl innen- wie außenpolitisch wird immer häufiger eine Stimmung erzeugt, daß nur gewaltsame Lösungen möglich seien. Um die Diskussion über mögliche Alternativen weiterzuführen, soll hiermit eine Konzeption für den Friedensdienst vorgelegt werden, die aus der Arbeit der Arbeitsgruppe „Ziviler Friedensdienst“ im Bund für Soziale Verteidigung entstanden ist. (…)

2. Einsatzfelder des Zivilen Friedensdienstes

Das Ziel des Zivilen Friedensdienstes (ZF) ist es, mit gewaltfreien Mitteln Konflikte zu schlichten, gewaltsamen Bedrohungen standzuhalten und Bedrohten zu helfen. Der ZF macht sich Erfahrungen zunutze, die in der Vergangenheit mit gewaltfreien Aktionen gesammelt wurden. Durch den Umstand, daß es sich beim ZF jedoch nicht um spontane Aktionen von Bürgergruppen, sondern um Einsätze einer Organisation von Ausgebildeten und auf Dauer oder auf Zeit Verpflichteten handelt, hat der Einsatz des ZF je nach Einsatzgebiet auch eine andere Qualität als das bislang bekannte Engagement von Bürgergruppen.

Für den Vorschlag der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg ist charakteristisch, daß der ZF auch im Ausland tätig werden soll. Anlaß für die Entwicklung dieses Konzeptes war die öffentliche Diskussion um eine deutsche Beteiligung an Blauhelm-Einsätzen der VN und um »out-of-Area«-Einsätze der Bundeswehr. Auswärtige Einsätze von gewaltfreien Gruppen waren in der Geschichte der gewaltfreien Aktionen bisher selten. Die Möglichkeiten und Grenzen eines gewaltfreien Einsatzes im Ausland werden wahrscheinlich dann besonders deutlich, wenn man die auswärtigen Einsätze in Beziehung setzt zu den bekannteren Einsatzfeldern im Inland.

Das Ziel der folgenden Ausarbeitung ist es, aufzuzeigen, wie die Fähigkeit zum auswärtigen Einsatz aus der Befähigung zur gewaltfreien Konfliktaustragung im Inland erwächst. Dieses Vorgehen scheint gerechtfertigt durch den Umstand, daß der Vorschlag der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg auch davon ausgeht, daß der ZF auch im Inland tätig werden soll und daß bei der Ausbildung zunächst die Inlandseinsätze im Vordergrund stehen sollen.

Die folgenden Überlegungen gehen von der Annahme aus, daß eine solche Ausbildung bei Alltagskonflikten ansetzt und dann stufenweise zum Umgang mit immer schwierigeren Konfliktszenarien fortschreitet und schließlich zu auswärtigen Einsätzen hinführt. Auch wenn sich das gegenwärtige Interesse auf die Möglichkeiten des auswärtigen Einsatzes konzentriert, ist es dennoch um des Erfolges willen angezeigt, systematisch vorzugehen und die fortgeschrittenen Erfahrungen im Inland zu berücksichtigen und auch das didaktische Vorgehen bei der Vermittlung der Fähigkeiten zum gewaltfreien Handeln im Auge zu haben.

Bei der folgenden Systematisierung des gewaltfreien Handelns kann nicht auf eine »herrschende Lehre« der gewaltfreien Aktion zurückgegriffen werden. Die Theoriebildung hat sich immer wieder an aktuellen Herausforderungen orientiert. Die folgende Einteilung greift auf theoretische Ordnungsversuche der Vergangenheit zurück, versucht nun aber insbesondere das neue Anliegen, den auswärtigen Einsatz, zu berücksichtigen. Es wird jedoch diesem Ordnungsversuch nicht anders ergehen als früheren Versuchen: Es wird sich zeigen, daß die Definitionen nicht eindeutig sind und daß die Grenzen der Einsatzbereiche in der Praxis dann doch immer wieder ineinander übergehen. Dennoch halten wir eine solche vorläufige Orientierungshilfe unter besonderer Berücksichtigung aktueller Fragestellungen für sinnvoll.

1. Der Umgang mit Konflikten in der Familie und in der Nachbarschaft und der Umgang mit unpolitischer Kriminalität.

Gemeint ist also der Bereich der zwischenmenschlichen Konflikte, gewissermaßen die »kleinen Kräche«, die ihre Brisanz nicht von großen politischen Streitfragen erhalten, aber mitunter einen sehr gewalttätigen Verlauf nehmen und durchaus mit dem Einsatz von Waffen und Kampfinstrumenten aus dem normalen Haushalt verbunden sein können. Dazu gehören die Kindererziehung, gewalttätige Auseinandersetzungen in der Schule, das Zusammentreffen mit Einbrechern oder Straßenräubern, Vergewaltigungsversuche usw. Es geht um den eskalierenden Streit zwischen Partnern in familiären, geschäftlichen oder nachbarschaftlichen Beziehungen.

In Konflikte dieser Art wird der ZF in der Regel nicht als Organisation eingreifen. Es sei jedoch darauf verwiesen, daß es in den USA Prototypen einer organisierten nachbarschaftlichen Streitschlichtung gibt. Auch wenn es in der Bundesrepublik zu keiner solchen flächendeckenden Nachbarschaftshilfe in der Streitschlichtung und Abwehr von alltäglichen gewaltsamen Bedrohungen kommen sollte, ist doch anzunehmen, daß Menschen, die den gewaltfreien Umgang mit Konflikten im Rahmen des ZF erlernt haben, ihr Können nutzen, um auf eigene Verantwortung schlichtend oder Gewalt abwehrend einzugreifen.

In der Ausbildung zum ZF wird der Umgang mit den potentiell gewalttätigen Konflikten des Alltags eine wichtige Rolle spielen, weil anzunehmen ist, daß alle Auszubildenden auf diesem Konfliktfeld praktische Erfahrungen mitbringen und sich auch im Alltag ständig im richtigen Verhalten üben können. Offiziell wird der ZF sich damit aber nur befassen, wenn er herangezogen wird, um das Schlichten von Konflikten und das gewaltfreie Verhalten in bedrohlichen Situationen des Alltags zu lehren. Dies könnte u.a. auch im Rahmen von Veranstaltungen zur kirchlichen Erwachsenenbildung geschehen.

2. Der zweite Einsatzbereich ist der Gebrauch gewaltfreier Mittel bei Protestaktionen von Bürgerinitiativen, sozialen Bewegungen und Gruppen von Arbeitnehmern.

Daß diese Proteste in aller Regel nur von einem Teil der demokratisch gesinnten Bürger eines Landes getragen werden und häufig auch die Regierung zu den Adressaten gehört, kann der ZF, der auch bei kirchlicher oder anderer gesellschaftlicher Trägerschaft wahrscheinlich auf staatliche Mittel angewiesen sein dürfte, nicht als Institution für die protestierenden Gruppen offen Partei ergreifen oder gar Aktionen Zivilen Ungehorsams organisieren. Das müssen die Protestgruppen, die sich gewaltfreier Mittel bedienen wollen, selbst machen.

Der ZF könnte jedoch – ohne inhaltlich Partei zu ergreifen – protestierende Gruppen dabei beraten, ihren Protest gewaltfrei zu halten. Wenn auch mit gewaltsamen Protestaktionen zu rechnen ist, könnte der ZF sich im Vorfeld mit potentiellen Gewalttätern ins Benehmen setzen, zu ihren Versammlungen gehen und die Protestaktionen begleiten, um Gewalttaten zu verhindern oder einzudämmen. Der ZF darf bei solchen Einsätzen seine Identität nicht verleugnen.

3. Der dritte Bereich des gewaltfreien Handelns ist die Abwehr von Gewalttaten extremistischer Gruppen, welche verfassungswidrige Ziele verfolgen.

Zu denken ist hier insbesondere an die Abwehr von Gewalttaten gegen Ausländer oder andere, in verfassungswidriger Weise diskriminierte Gruppen. Der ZF könnte hier vor allem mit den Ausländerbeauftragten in Bund und Ländern zusammenarbeiten. Der Bund für Soziale Verteidigung hat zu dieser Thematik mehrere Stellungnahmen und Anleitungen ausgearbeitet, die insbesondere den Schutz von Flüchtlingsheimen und das Eingreifen zugunsten bedrohter Ausländer im Auge haben.

Wenn ein wesentlicher Teil der Ausbildung des ZF im Zusammenhang mit der Abwehr von Gewalt gegen Ausländer erfolgt, dann werden dadurch auch bereits wichtige Voraussetzungen für spätere auswärtige Einsätze geschaffen. Der ZF gewinnt dann in der Ausbildungszeit einen persönlichen Zugang zu Flüchtlingen aus möglichen künftigen Einsatzgebieten.

Für die bisher genannten Bereiche des gewaltfreien Einsatzes ist charakteristisch, daß sie parallel zu funktionsfähigen, rechtsstaatlichen Organen erfolgen. Der ZF hat die Vorgehensweisen von Polizei und Justiz bei seinen Aktionen zu berücksichtigen, kann die Hilfe dieser Organe aber auch nutzen.

4. Der vierte Einsatzbereich ist der Gebrauch der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gegen umfassende bewaffnete Bedrohungen von innen oder außen, also durch regelrechte Staatsstreiche und Invasionen oder durch bewaffnete separatistische Bewegungen.

Solche Bedrohungen gibt es zur Zeit in der Bundesrepublik zwar allem Anschein nach nicht, aber sie sind für die Zukunft nicht auszuschließen, so daß die Soziale Verteidigung ein wichtiger Teil der regulären Ausbildung des ZF sein und bleiben muß. Es gibt zudem viele Staaten auf der Erde, in denen die Fähigkeit zur Sozialen Verteidigung erforderlich wäre. Sie können diese Fähigkeit aber wahrscheinlich nur entwickeln, wenn sie dabei Rat und Hilfe finden. Die Einübung der Sozialen Verteidigung in der Bundesrepublik würde also von vornherein unter Berücksichtigung bedrohlicher Lagen in anderen Ländern und im Blick auf eine eventuelle Beratertätigkeit erfolgen. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Bemühungen der Albert Einstein Institution in Boston, Massachusetts (USA), die Regierungen in Litauen und Lettland zu beraten und auf eine Erkundungsreise des Bundes für Soziale Verteidigung nach Litauen und Lettland im Sommer 1992. Ebenso können die Erfahrungen, die der Bund für Soziale Verteidigung und andere friedenspolitische Organisationen aus der Bundesrepublik Deutschland in der Zusammenarbeit mit nicht Regierungsorganisationen in den Republiken des ehemaligen Jugoslawien machen, ausgewertet und in die konzeptionelle Entwicklung des ZF nutzbringend eingearbeitet werden. Gerade um dieses vierten Einsatzbereiches willen ist auch eine staatliche Trägerschaft des ZF anzustreben. Eines der wichtigsten Ziele der Sozialen Verteidigung ist bekanntlich, die Staatsorgane trotz bewaffneter Bedrohung funktionsfähig zu erhalten. Die Einübung des zivilen Widerstands auf dieser Ebene kann am besten in der Zusammenarbeit mit den gefährdeten Staatsorganen erfolgen. Die Kirchen könnten allerdings ihren Anteil an der Sozialen Verteidigung – zum Beispiel unter Berücksichtigung der Erfahrungen der Ev. Kirche in Norwegen im Zweiten Weltkrieg – untersuchen und das Erforderliche einüben. Das könnte staatlichen Stellen und anderen gesellschaftlichen Einrichtungen (Gewerkschaften, Sportverbänden, Rechtsanwalts-Vereinigungen usw.) demonstrieren, wie Soziale Verteidigung im Bedrohungsfall funktioniert. (…)

5. Der auswärtige Einsatz zugunsten von Gewalt bedrohter Menschen.

Den bisher genannten vier Dimensionen des gewaltfreien Handelns ist gemeinsam, daß die Handelnden unmittelbar betroffen sind oder doch den Konflikt hautnah erleben, d.h. die Angehörigen des ZF sind keine Außenseiter, sondern gehören zumindest zum Umfeld des Konflikts, der bearbeitet werden muß. Das ist insofern bedeutsam, als es zu den Prinzipien des gewaltfreien Handelns gehört, daß die Betroffenen ihre Interessen selbst vertreten, und daß der ZF, sofern er nicht wie bei der Sozialen Verteidigung selbst zu den Betroffenen gehört, in erster Linie diese Betroffenen zu befähigen sucht, die gewaltfreien Methoden selbst zu gebrauchen.

Obwohl das gewaltfreie Handeln in erster Linie die bislang genannten vier Einsatzbereiche betrifft, gibt es nun auch noch als fünften Bereich das Eingreifen im Ausland zugunsten von Einzelnen und Gruppen oder sogar von Regierungen, die in ihrer verfassungsmäßigen oder völkerrechtlichen Position von bewaffneter Gewalt bedroht sind.

Wie eingangs bemerkt, hatte das Konzept des ZF diesen fünften Bereich von vornherein und sogar vornehmlich im Auge. Die Suche nach einer Alternative zur Entsendung von bewaffneten Blauhelmen oder von Interventions-Truppen war der eigentliche Anlaß für den Vorschlag, einen ZF zu bilden.

So wichtig es angesichts zahlreicher Menschenrechtsverletzungen und der gewaltsamen Bedrohung demokratisch legitimierter Regierungen auch ist, für diesen fünften Bereich ein Instrumentarium zu schaffen, so muß als Erfolgsbedingung doch festgehalten werden, daß das gewaltfreie Intervenieren an die Erfüllung einer Reihe von Voraussetzungen geknüpft sein sollte.

a) Der ZF muß sich selbständig (und nicht nur aufgrund der Informationen einer Partei) ein Bild der Lage verschaffen und er muß für sich selbst klären, was mit gewaltfreien Mitteln in dem Konfliktfeld zu erreichen ist. Dies ist notwendig, damit der ZF nicht von Unterstützungs-Suchenden instrumentalisiert wird.

b) Der ZF sollte im Ausland nur tätig werden, wenn er dies im Einverständnis mit Einheimischen tun kann. Bei diesen Einheimischen sollte es sich tunlichst um Organisationen handeln, die ihrerseits aufgeschlossen sind für den Einsatz gewaltloser Mittel. Zumindest muß den Hilfesuchenden klar sein, daß der ZF sich nicht instrumentalisieren läßt zur direkten oder indirekten Unterstützung bewaffneter Aktionen. Letzteres läßt sich nur ausschließen, wenn der ZF sich im voraus über das Konfliktfeld genau informiert hat und einen zuverlässigen einheimischen, möglichst gewaltfreien Partner gefunden hat und auch sicher ist, daß seine eigenen Angehörigen nicht für eine bewaffnete Gruppe Partei ergreifen.

Weil diese Bedingungen schwer zu erfüllen sind, sollte der ZF sich zunächst auf die Beratung und Ausbildung einheimischer Kräfte konzentrieren, eventuell unter Nutzung von Kontakten, die er zu Flüchtlingen bereits geknüpft hat. Betroffene Ausländer sollten – soweit möglich vor Ort, andernfalls in Deutschland oder in einem anderen Land – zur Ausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung eingeladen werden. Die solchermaßen Ausgebildeten wären dann die geeigneten Partner für auswärtige Einsätze des ZF und sie könnten nach ihrer Rückkehr in ihre Herkunftsländer bei der Förderung gewaltfreier Methoden auch finanziell unterstützt werden. Auf diese Weise könnte präventiv auf eine größere Zahl von Konfliktherden eingewirkt werden. In dem Bereich der Unterstützung hat der BSV eine Fülle von Erfahrungen in der schon erwähnten Arbeit im ehemaligen Jugoslawien gesammelt, die er gern in die weiteren Beratungen einbringt.

Die Annäherung der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg an die Möglichkeit des Einsatzes eines deutschen ZF im Ausland ist realistisch, weil die auswärtigen Einsätze nach diesem Konzept ihre Basis in der Ausbildung des ZF im Umgang mit heimischen Konflikten haben, und für die auswärtigen Einsätze – je nach Aufgabe – auf ein großes Reservoir von Ausgebildeten zurückgegriffen werden kann. Es ist wahrscheinlich nicht sinnvoll, nur eine einzige hochmobile Spezialistengruppe zu schaffen, die dann ohne gewachsene Beziehung zu den jeweiligen Konfliktfeldern eingesetzt wird. Es sollten für auswärtige Einsätze Hauptamtliche und Freiwillige gewonnen werden, welche die Einsatzländer, deren Kultur und vor allem deren Sprache bereits kennen und es darum leichter haben, sich mit den berechtigten Anliegen von Betroffenen zu identifizieren. Dies bedeutet, daß man für Einsätze in Guatemala, Südafrika oder im Vorderen Orient wahrscheinlich nicht ohne weiteres auf dieselben Personen zurückgreifen kann. (…)

3. Organisation nach außen

Um diese verschiedenen Aufgaben erfüllen zu können, ist es sinnvoll, daß der Friedensdienst in pluralistischer Trägerschaft organisiert wird – daß sogar verschiedene Organisationen unabhängig voneinander arbeiten können, ähnlich, wie es in der Entwicklungshilfe möglich ist. Neben einem staatlichen Friedensdienst sollen auch andere tätig werden, ohne staatlicher Weisungsbefugnis zu unterliegen. Allerdings muß eine Finanzierung von staatlicher Seite gewährleistet sein, damit der Friedensdienst eine Größenordnung erreichen kann, die ihn dem Militär vergleichbar macht. Das heißt, daß Friedensdienste in einer Größe bis zu ca. 100 000 Dienstleistenden aufgebaut werden sollen. Die pluralistische Trägerschaft gewährleistet dabei die Einsetzbarkeit des Friedensdienstes auch in Konflikten, in denen ein allein staatlicher Träger des Dienstes wegen eines möglichen eigenen Anteils an der Geschichte eines Konfliktes handlungsunfähig wäre.

Um eine solche Organisationsstruktur zu ermöglichen, muß der Bundestag ein Gesetz erlassen, das die Einführung des Friedensdienstes auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips (d.h. der Delegation der Aufgaben, die auch nichtstaatliche Organisationen übernehmen können) gewährleistet. Dazu ist dann ein Amt einzurichten, an das gemeinnützige Vereine, Wohlfahrtsverbände und Körperschaften öffentlichen Rechts Anträge auf Anerkennung als Trägerorganisation des Friedensdienstes und auf finanzielle Unterstützung stellen können.

Für die Anerkennung der Trägerorganisationen soll ausschlaggebend sein, inwieweit sie

auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen;

die Prinzipien der gewaltfreien Konfliktlösung glaubwürdig vertreten können und

eine angemessene Ausbildung gewährleisten können.

Durch dieses Friedensdienstgesetz müßte auch gewährleistet werden, daß Personen, die sich diesem freiwilligen Dienst zur Verfügung stellen, regelmäßig vom Arbeitgeber für Fortbildungen wie auch für längerfristige Einsätze freigestellt werden müssen. Die Lohnfortzahlungen und der Versicherungsschutz müßte in diesen Zeiten durch den Friedensdienst finanziert werden.

4. Innere Struktur

Die innere Organisation eines Friedensdienstes muß daran gemessen werden, in wie weit sie eine gewaltfreie Gemeinschaft ermöglicht – ein glaubwürdiger und effektiver Einsatz wäre sonst kaum denkbar. Das bedeutet einerseits, daß keine unhinterfragbare Hierarchie herrscht, sondern daß Koordinatoren, Fachleute und Ausbildende ihre Autorität durch ihr Wissen und ihre Erfahrung gewinnen, und andererseits, daß der Dienst trotz der hohen Verbindlichkeitsanforderung, die gewaltfreies Handeln an die Einzelnen stellt, ein freiwilliger bleibt. (…)

Schon aus Kostengründen sollten die meisten Mitglieder des Friedensdienstes Freiwillige sein, die eine Ausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung durchlaufen haben und auf dieser Grundlage in bestimmten Konflikten eingesetzt werden können. Dies sollen Frauen und Männer unterschiedlichen Alters sein – wobei wichtig ist, daß lebensgeschichtliche Erfahrung für Konfliktlösung sehr wichtig sein kann, weshalb der Dienst nur Erwachsenen offenstehen sollte. Die Freiwilligen können ihrem Beruf nachgehen und werden für ihre Einsätze oder für Fortbildungskurse freigestellt.

Doch braucht ein Friedensdienst auch Hauptamtliche. Dazu zählen die Ausbildenden, die in festen Schulungseinrichtungen arbeiten sollten. Dazu zählen auch Fachleute, die über genügend Wissen und Erfahrung verfügen, um Konfliktsituationen einschätzen zu können. Sie sollten dann gemeinsam entscheiden, wo ein Einsatz sinnvoll sein kann, wobei sie auch Ziele und Einsatzpläne festlegen sollten – in dem Bewußtsein, daß sich diese durch die Freiwilligen und durch die Konfliktentwicklung ändern können. Ihnen müßten Fachleute zur Seite stehen, die z.T. auch nebenamtlich für einen Friedensdienst arbeiten können: Dabei ist an WirtschaftswissenschaftlerInnen, EthnologInnen, PolitologInnen und andere gedacht, die mit ihrem Fachwissen sehr spezielle Beiträge zur Konfliktanalyse geben können. Nicht zuletzt müssen auch hauptamtliche MitarbeiterInnen für die Verwaltung und die technische Seite des Friedensdienstes tätig sein.

5. Ausbildung

Der Ausbildung von freiwillig Dienstleistenden und der Fortbildung der hauptamtlichen Fachleute ist für den ganzen Friedensdienst wichtig, da einerseits die Methodik gewaltfreien Handelns den meisten Menschen bisher eher unbekannt ist, andererseits aber seine Effektivität sehr von entsprechendem Wissen und Erfahrungen abhängt. Die Erfahrungen, die die Sozialen Bewegungen (d.h. Ökologie-, Frauen-, Friedensbewegung usw.) bisher gemacht haben, müssen deshalb zusammen mit anderen historischen Beispielen sorgfältig aufgearbeitet werden und können als Grundlage für die Ausbildung genutzt werden. (…)

Die Freiwilligen sollen eine Ausbildung durchlaufen, die etwa ein Jahr umfaßt. Sie soll möglichst praxisorientiert sein, ohne den Wert theoretischer Forschung zu vernachlässigen – das heißt, daß möglichst viele Vorerfahrungen der Lernenden einfließen, daß die Lernschritte möglichst situationsbezogen sind und daß Praktika die Theorieblöcke unterbrechen.

Als leitende Zielvorstellungen der Ausbildung können gelten:

Stabilisierung der Bereitschaft und Fähigkeit, ohne Aggression und Regression auf Grenzen der eigenen Möglichkeiten, auf Einschränkungen von dritter Seite oder auf Versagen bei sich und anderen zu reagieren;

Stabilisierung eines von Angst freien Verhaltens gegenüber Institutionen und Personen;

Ausbau der Bereitschaft und Fähigkeit, Ideen anderer gegenüber aufgeschlossen zu sein;

Differenzierung der Bereitschaft und Fähigkeit zu erkennen, daß Sprache gesellschaftliche Tatbestände rechtfertigen, verdecken, infragestellen oder verändern kann;

Verstärkung der Bereitschaft und Fähigkeit, nicht aufzuhebende Widersprüche und Spannungen zu ertragen und zu verarbeiten;

Differenzierung der Bereitschaft und Fähigkeit, von den Prämissen anderer her zu denken und zu argumentieren.

Die sich hieraus ergebenden konkreten Lernziele und Themen sind dann auch auf die jeweils aktuellen Konfliktlagen, die die Lernenden bewegen, abzustimmen.

6. Aufbauphase

Für den Aufbau des Friedensdienstes ist es vor allem wichtig, daß in der öffentlichen Diskussion erkannt wird, daß eine gewaltfreie Alternative zu den bisher vorherrschenden Konfliktlösungsstrategien notwendig ist. Deshalb ist es wichtig, daß sich möglichst viele und möglichst große gesellschaftliche Gruppen – Kirchen, Parteien, Gewerkschaften usw. – dieser Denkrichtung gegenüber öffnen.

Wenn ein politischer Wille vorhanden ist, kann bald mit dem Aufbau von Strukturen für einzelne Friedensdienste begonnen werden. Größere Organisationen wie z.B. eine Ev. Landeskirche könnten sich mit kleineren Vereinen zusammentun und damit beginnen, Fachleute einzustellen und Ausbildungszentren aufzubauen. Dabei könnte auf das Fachwissen aus Verbänden zurückgegriffen werden wie dem Bund für Soziale Verteidigung mit seinen Trägerorganisationen, den in der AGDF zusammengeschlossenen Organisationen, den Flüchtlingsräten und nicht zuletzt den Peace Brigdes International. Dabei sollte den verschiedenen Friedensdienst-Trägerorganisationen Freiheit gelassen werden, ihre eigenen Schwerpunkte für ihren Dienst zu setzen, solange sie eine Organisation im Sinne der Gewaltfreiheit gewährleisten.

Angesichts der vielfältigen Probleme, die das Überleben unserer Gesellschaft und der Menschheit überhaupt infragestellen, wird es notwendig sein, auf verschiedenen Ebenen und mit viel Verständnis für die jeweils anderen Interessen an die Konflikte heranzugehen. Daß die überall aufbrechenden Konflikte nicht durch die stärkeren Waffen und die größere Brutalität entschieden werden, dazu kann die Einübung in gewaltfreies Handeln im Friedensdienst vielleicht einen Beitrag leisten.

7. Beispiele gewaltfreier Krisenintervention

Die folgenden Beispiele sollen umrißartig verdeutlichen, welche Art von Einsätzen zu gewaltfreier oder gewaltmindernder Konfliktlösung wir uns vorstellen, wenn wir vor allem an internationale Aufgaben eines »Zivilen Friedensdienstes« denken.

Es handelt sich in den beschriebenen Fällen entweder um den spontanen Widerstand von Menschen, die keinerlei Training oder sonstige Vorbereitung erfahren hatten, oder um geplante Einsätze kleiner und kleinster Gruppen, die zwar aus großer innerer Überzeugung, aber oft nach nur sehr knapper Vorbereitung als Freiwillige bewußt in das Spannungsgebiet gingen. Sie können daher zwar als beispielhaft, aber keineswegs als Vorbild für künftige Einsätze gut ausgebildeter, erfahrener Gruppen mit einer gesicherten materiell-finanziellen Basis und gestützt durch tragfähige Organisationsstrukturen gelten.

Es gibt andere Beispiele gewaltfreier Konfliktlösung, die hier nur stichwortartig erwähnt werden sollen, da sie den Umfang dieser Ausarbeitung sprengen würden.

Der Kampf Gandhis für die Selbstbestimmung Indiens.

Der Kampf gegen die Rassendiskriminnierung unter M. Luther-King in den USA.

Die Sicherung der Grenzen Nicaraguas gegen einen befürchteten Einmarsch amerikanischer Truppen. Die »Peace Witness« genannte Aktion war getragen von vor allem amerikanischen PazifistInnen und eingebunden in ein internationales »Alarmnetz« für den Fall eines Einmarsches.

Das mutige Eintreten chinesischer Studenten für Demokratie und Menschenrechte auf dem »Platz des Himmlischen Friedens«, Peking.

Die Abwehr des Putschversuches gegen die Perestroika in Moskau.

Der Widerstand der estnischen Bevölkerung gegen den Versuch der Sowjetunion, die Unabhängigkeit Estlands zu verhindern.

Und schließlich die November-Demonstration und ihre Vorläufer, getragen von der Bürgerrechtsbewegung in der damaligen DDR, die zum Zusammenbruch des SED-Regimes führten.

Bei all diesen Versuchen mischten sich Erfolg und Mißerfolg in kaum zu trennender Weise. Was kurzfristig wie ein Fehlschlag aussah, führte oft zu weitergehenden Aktionen, die Erfolge vorbereiteten oder direkt zu einer Änderung der Verhältnisse führten. Eines aber beweisen diese Beispiele: Es ist möglich, mit gewaltfreien Methoden gegen Unrecht und Bedrohung vorzugehen, und es finden sich in aller Welt Menschen, die bereit sind, diesen schwierigen Weg zu versuchen.

Die für eine erfolgreiche gewaltfreie Truppe notwendigen Voraussetzungen müssen gründlich erforscht, Konflikte müssen auf Ursachen und Entstehung hin analysiert und klare Organisationsstrukturen müssen – neben der notwendigen Ausbildung der Freiwilligen – aufgebaut werden – dann haben wir die Chance, endlich in Alternativen zu militärischen Auseinandersetzungen zu denken und zu handeln.

1942: Widerstand der LehrerInnen im besetzten Norwegen

12.000 der insgesamt 14.000 LehrerInnen Norwegens weigern sich, dem Befehl Quislings, des Führers der norwegischen Nationalsozialisten, Folge zu leisten und in den nationalsozialistischen Lehrerverband einzutreten. Auch die Schließung der Schulen, die drohende Entlassung aus dem Schuldienst, und die Verhaftung von 1.000 KollegInnen brachte sie nicht zur Kooperation mit dem Besatzungsregime; sie blieben, gestützt durch ihre Familien und unzählige Freunde, trotz aller Drohungen standhaft. Die Schüler und SchülerInnen und deren Eltern solidarisierten sich mit ihren LehrerInnen, sie starteten verschiedene Protestaktionen, an denen sich 200.000 Menschen beteiligten; Kinder sangen auf den Bahnhöfen, wenn die Waggons mit ihren LehrerInnen an ihnen vorbei in die KZs rollten.

Als schließlich ein Übergreifen des Widerstands auf andere soziale Gruppen befürchtet wurde, mußte Quisling einlenken: Er ließ die Verhafteten frei und verzichtete auf seine Idee eines vom Nationalsozialismus geprägten »nordischen Ständestaates«.

1968: Widerstand gegen die Unterdrückung des »Prager Frühlings« durch die sowjetische Armee

Der sog. »Prager Frühling«, der Versuch eines »Sozialismus' mit menschlichem Antlitz« droht durch den Einmarsch sowjetischer Truppen im Keim erstickt zu werden. Die Bevölkerung wehrt sich auf fantasievolle, opferbereite, aber letztlich doch unkoordinierte und unvorbereitete Weise gegen die Besatzung. Durch geheime Rundfunkstationen und Untergrundzeitungen, durch Plakate und Flugblätter ermuntern sie sich gegenseitig zum Widerstand. Sie üben Sabotage gegenüber dem gesamten Verkehrssystem einschließlich des Flughafens. Sie verweigern jegliche Zusammenarbeit und stoppen durch Sitzblockaden die anrollenden Panzer. Sie isolieren die fremden Truppen, indem sie auf die einzelnen Soldaten ebenso freundlich wie entschlossen zugehen und ihnen mitteilen, daß sie »unerwünscht« seien. Schon nach wenigen Tagen müssen ganze Truppenverbände ausgetauscht werden, weil ihre Kampfkraft psychisch erlahmt ist.

Das Ende dieses tapferen Versuchs durch kluge Diplomatie Moskaus und das Nachgeben des tschechisch-slowakischen Präsidenten gegenüber dem massiven Druck des Politbüros ist allgemein bekannt.

1990/91: Krise und Krieg am Golf

Irak hat Kuwait besetzt und ist nicht bereit, sich dem Votum der Vereinten Nationen und den verhängten Sanktionen zu beugen. Der Sicherheitsrat setzt ein Ultimatum für die Räumung Kuwaits für Anfang Januar 1991. Die Krise spitzt sich zu; ein Krieg steht bevor. In dieser Situation der Hochspannung beschließt eine Gruppe aus Deutschland in das Krisengebiet zu reisen, um „durch unsere Anwesenheit, durch Fasten und Beten ein Zeichen des Friedens“ zu setzen. Sie schließen sich verschiedenen internationalen Gruppen an, die in einem sog. Friedensdorf bei Bagdad leben, Kontakte mit der Bevölkerung und Regierungsstellen suchen und humanitäre Hilfe leisten. Schließlich errichteten sie an der Grenze zwischen Saudi-Arabien und Kuwait ein internationales Friedenscamp. Einige bieten sich als Geiseln an, damit inhaftierte Ausländer freigelassen werden. Auch breit angelegte internationale Unterstützung kann den Ausbruch des Krieges nicht verhindern; die meisten von ihnen bleiben im Land und erleben die Bombennächten in einem Hotel in Bagdad, in das die Regierung sie bringen ließ.

300 Menschen reichten nicht aus, um die Kriegsmaschinerie zu stoppen. Was aber wäre gewesen, wenn es 3000 oder gar 300.000 Freiwillige gewesen wären?

Januar 1991: Kampf um die Unabhängigkeit Litauens

Die am 11. Januar 1990 vom litauischen Parlament verkündete Unabhängigkeit des Landes wird von der Sowjetunion nicht anerkannt, militärische Intervention wird angedroht.

Kurz nach Mitternacht des 13.1.1991 stürmen sowjetische Soldaten die Rundfunk- und Fernsehstation in Vilnius, der zweitgrößten Stadt Litauens. Hunderttausende von Bürgern haben die Stationen schützend umringt. Die Soldaten schießen in die wehrlose Menge und überrollen mit ihren Panzern unbewaffnete Demonstranten; es gibt Tote und Verletzte – die Litauer müssen aufgeben.

Dennoch versammeln sich in der nächsten Nacht erneut 150.000 Menschen, nunmehr vor dem Parlamentsgebäude. Auch hier drohen Militärs das Gebäude zu stürmen. Diesmal ist der gewaltfreie Widerstand erfolgreich: Die Panzer werden abgezogen. Das Parlament kann weiterhin in seinem Gebäude arbeiten, der Präsident bleibt unversehrt.

In der Folge weigern sich mehr als 90% aller jungen Wehrpflichtigen den Wehrdienst in der sowjetischen Armee zu leisten; viele verbrennen öffentliche ihre Wehrpässe: „Es ist möglich, uns unter Anwendung von Gewalt physisch zu vernichten oder uns zum Schweigen zu bringen, aber niemand wird uns zwingen, die Freiheit und Unabhängigkeit zu widerrufen.“ (STERN, Jan. 1991)

1992/93: Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien

Die mit menschenverachtender Brutalität geführten Kämpfe in Bosnien-Herzegowina machen – besonders auch angesichts der begründeten Ohnmacht der Militärs – in besonderer Weise deutlich, welch weites Aufgabenfeld eine hochqualifizierte gewaltfreie Taskforce dort hätte. Nach Meinung von FriedensarbeiterInnen, die mehrfach im Krisen- und Kriegsgebiet waren, wäre folgendes nötig – und bei entsprechenden Voraussetzungen auch möglich:

Analyse der Konfliktursachen und Konfliktebenen unter Einbeziehung von historischen, sozialen, ethnischen, religiösen und psychologischen Gesichtspunkten.

Beobachtung und Beschreibung des Konfliktverlaufs unter starker Einbeziehung der Beteiligten/Verbreitung dieser Informationen.

Kontakte zu den verschiedenen oppositionellen Gruppen/ideelle und materielle Stützung und Ermutigung ihrer Arbeit durch internationale Aufmerksamkeit.

Aufbau eines unabhängigen Kommunikationsnetzes/elektronische Vernetzung.

Impulse für humanitäre Hilfe im In- und Ausland/was ist wo nötig.

Kontrolle von Vereinbarungen oder Sanktionen z.B. Waffenembargo, Waffenstillstand, Grenzziehungen.

Vermittlungs- und Versöhnungsarbeit, Schlichterfunktionen, auch präventiv z.B. im Kosovo.

Januar 1993: Rückkehrer-Begleitung nach Guatemala

Am 20. Januar kehrten die ersten guatemaltekischen Flüchtlinge aus Mexiko in ihre Heimat zurück. Die 2.280 Menschen wurden auf dem Transport von 75 internationalen BeobachterInnen begleitet. Es waren Frauen und Männer aus Europa und Amerika, die sich freiwillig zu diesem Dienst gemeldet und sich einer speziellen Ausbildung unterzogen hatten. Durch ihre Anwesenheit in den etwa 40 Bussen wollten sie sicherstellen, daß die Zielorte auch wirklich erreicht würden. Die Aufgabe, die Flüchtlinge vor gewaltsamen Übergriffen und erneuten Verschleppungen zu schützen, wurde voll erfüllt. Zur endgültigen Eingliederung in Guatemala bedürfte es jedoch einer schützenden Dauerpräsenz, die nur von Freiwilligen kaum zu leisten sein wird.

Bei den Beiträgen zum Zivilen Friedensdienst handelt es sich um Auszüge aus der Broschüre „Blau-oliv oder gewaltfrei“ ; mit Tagungsdokumentation und Beiträgen zu den Out-of-area-Einsätzen der Bundeswehr, gewaltfreien Alternativen und einem Zivilen Friedensdienst. Herausgegeben vom Bund für Soziale Verteidigung, zusammengestellt und bearbeitet von Barbara Müller, Mai 1993, 75 S. DINA 4, für 8,- DM zu bestellen bei: BSV, Friedensplatz 1a, 4950 Minden.
Unter 2. handelt es sich um Auszüge aus dem Text von Roland Vogt und Kurt Südmersen, unter 1., 3., 4., 5. und 6. handelt es sich um Auszüge aus dem Text zusammengestellt von Berthold Keunecke und die Autorin des Textes „Beispiele gewaltfreier Krisenintervention zwischen 1972 und 1993“ (7.) ist Helga Tempel.

zum Anfang | Exkurs: Agenda for Peace

Mit der Agenda for Peace40, die Generalsekretär Boutros-Ghali im Juni 1992 vorlegte, wird der Vorschlag unterbreitet, das friedensschaffende Instrumentarium der Vereinten Nationen zu erweitern und vorhandende Mittel mit Inhalt und Leben zu füllen. Der Generalsekretär thematisiert in einem eigenen Abschnitt das Thema der vorbeugenden Diplomatie.

Spannungen zwischen Konfliktparteien sollen vermindert und die ihnen zugrunde liegenden Ursachen beseitigt werden und zwar bereits in einem Stadium, bevor ein Konflikt eskaliert. Dazu schlägt der Generalsekretär der Vereinten Nationen den Ausbau von Einrichtungen zur Tatsachenermittlung und zur Frühwarnung41 vor. Vertrauensbildende Maßnahmen sollen auf regionaler Ebene eingeleitet und entmilitarisierte Zonen geschaffen werden. Allerdings kann er sich auch den vorbeugenden Einsatz der Vereinten Nationen in den Krisengebieten vorstellen. Bei der Friedensschaffung mit zivilen und militärischen Mitteln wird das Kap.VI der Charta der Vereinten Nationen und die in Art. 33 festgeschriebene umfangreiche Liste der Instrumente zur friedlichen Streitbeilegung angesprochen. Dieses Instrumentarium sollte nach Meinung des Generalsekretärs systematisch ausgebaut werden.

Eine zentrale Forderung ist, daß sich Mitgliedstaaten bis zum Jahr 2000 der Gerichtsbarkeit des IGH unterwerfen sollten. Neben der ausreichenden Finanzierung für die Durchführung von Vermittlungsdiensten durch dritte Parteien sollen beim Scheitern friedlicher Mittel die im Kap.VII der Charta der Vereinten Nationen vorgesehenen Maßnahmen verwirklicht werden. Im Zentrum steht, daß dem Sicherheitsrat permanente Streitkräfte nach Art.43 der Charta der Vereinten Nationen zur Verfügung gestellt werden. Für die Zwischenzeit strebt Boutros-Ghali die Schaffung von »Truppen zur Friedensdurchsetzung« an, die vom Sicherheitsrat beschlossen werden müssen. Diese Kontingente sollten dem Generalsekretär unterstellt werden. Es sind aber keine Blauhelmtruppen, weshalb sie auf Kampfeinsätze vorbereitet und entsprechend bewaffnet sein müssen.

Zur Absicherung von Ergebnissen friedlicher Konfliktlösungsbemühungen gehören nach Vorstellungen des Generalsekretärs auch Einsätze der Blauhelme. Die Voraussetzungen für dieses bereits traditionelle Instrument sollten erheblich verbessert werden, d.h. vor allem sollen die Verfügungsbereitschaftsabkommen mit den Mitgliedstaaten abgeschlossen werden.

Die Agenda for Peace lenkt den Blick auf einen Aspekt, der für die friedliche Beilegung von Konflikten von großer Bedeutung ist, allerdings oft aus dem Blick gerät. Und zwar handelt es sich um die Friedenskonsolidierung in der Konfliktfolgezeit. Ein Waffenstillstand oder eine durch Zwang herbeigeführte Beilegung kriegerischer Auseinandersetzungen ist noch längst keine dauerhafte Friedenssicherung. Zur »Konfliktnachsorge« schlägt Boutrous Ghali die Entwaffnung der Kriegsparteien, die Entsorgung von Minen, die Rückführung von Flüchtlingen, die politische Neuordnung und den wirtschaftlichen Wiederaufbau vor.

zum Anfang | Beschluß der Kirchenleitung der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg vom 23.10.92

Der Zivile Friedensdienst soll zunächst in kleineren Versuchseinheiten aufgebaut werden und aus beruflichen Mitgliedern und für diesen Dienst optierenden Wehrpflichtigen bestehen. In einigen Jahren könnte der Zivile Friedensdienst in seinem Umfang einer Armee von Berufssoldaten, Wehrpflichtigen und Reservisten durchaus vergleichbar sein. Das demokratische Interesse an gewaltfreier Konfliktbearbeitung und solidarischer Hilfestellung läßt sich nicht an wenige Spezialisten delegieren, so wichtig diese für bestimmte Aufgabengebiete im In- und Ausland auch sein mögen.

Der Zivile Friedensdienst soll aus einem Kern von hauptamtlichen Männern und Frauen bestehen. Diese Aufbauorganisation soll möglichst bald in der Lage sein, sich in einigen Konfliktfeldern einzusetzen, um Erfahrungen zu sammeln. Sie soll aber auch damit beginnen, Wehrpflichtige und Freiwillige, die sich für einen einjährigen Dienst melden, so auszubilden, daß sie vornehmlich im Inland aktiv werden können. Den »Einjährigen« soll aber ähnlich wie Soldaten die Möglichkeit offenstehen, sich nach Bedarf auch für einen länger dauernden Dienst zu verpflichten. Bei den Freiwilligen kann es sich um Männer und Frauen handeln. Die »Einjährigen« sollen nach Ablauf ihrer Dienstzeit nur eingeschränkt – bei dringendem Bedarf und in der Nähe ihres Wohnorts – zu Fortbildungskursen und Einsätzen verpflichtet sein – bei entsprechender Aufwandsentschädigung.

Der Zivile Friedensdienst soll im Blick auf seine geistigen und praktischen Grundlagen auf einer breiten »Alphabetisierung in gewaltfreier Konfliktaustragung« aufbauen, die Teil des Schulunterrichts werden sollte.

Das Ziel der Ausbildung für den Zivilen Friedensdienst soll es sein, vielfältige Einsätze zu ermöglichen, weil die künftigen Konflikte sich nicht vorhersehen lassen. Im Blick auf die augenblickliche Eskalation von Gewalttaten gegen Ausländer könnte eine Form des Einsatzes des Zivilen Friedensdienstes sein, daß er in Flüchtlingsheimen und ihrer Umgebung tätig wird, um Spannungen im Vorfeld abzubauen und im Notfall zu gewaltfreier Selbstbehauptung und Solidarität anzuleiten.

Im Ausland könnten erfahrene und vornehmlich hauptamtliche Angehörige des Zivilen Friedensdienstes in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen Aufgaben übernehmen, für die bisher nur bewaffnete »Blauhelme« zur Verfügung standen. Eine spezielle Ausbildung im aktiven Vermitteln und in der Deeskalation von Konflikten könnte z.B. bei der Überwachung des demmokratischen Charakters von Wahlen wichtig werden. Auch zurückkehrenden Flüchtlingen könnte der Zivile Friedensdienst zur Seite stehen.

(aus: Gewaltfreie Aktion 93/94, 4. Quartal, S. 4 ff)

Anmerkungen

1) Gantzel, H.J./Schwinghammer, T./Siegelberg, J.: Kriege der Welt. Ein systematisches Register der kriegerischen Konflikte 1985 bis 1992; Stiftung Entwicklung und Frieden. Nr. 13, Bonn 1992 Zurück

2) Ebert, T.: Neue Konfliktlösungen fordern eine gewaltfreie Einsatzgruppen, in: Gewaltfreie Aktion, 1.+ 2. Quartal 1992, S. 2-18 Zurück

3) Bund für Soziale Verteidigung, in: Friedens-Forum; Heft 1, Bonn 1993, S. 16 Zurück

4) in: Friedens-Forum, Heft 1, Bonn 1993, S. 36 Zurück

5) in: Friedens-Forum, Heft 1, Bonn 1993, S.42 – 48 Zurück

6) Senghaas, D.: Therapeutische Konfliktintervention in Europa. Eskalation und Deeskalation ethnonationalistischer Konflikte, SWP-Arbeitspapier 2704, Ebenhausen 1991, S.6 Zurück

7) Senghaas, D.: a.a.O. Zurück

8) Meyer, B.: a.a.O. Zurück

9) in Simma, B. (Hrsg.) Kommentar Charta der Vereinten Nationen, München 1991 Zurück

10) Siehe zu diesen Deklarationen auch Wolfrum, R. (Hrsg.): Handbuch Vereinte Nationen, München 1991 Zurück

11) Dahrendorf, R.: Der moderne soziale Konflikt, Stuttgart 1992 Zurück

12) Krippendorf, E.: Freitag vom 17.6.1992 Zurück

13) Handbuch für Vereinte Nationen, München 1991 Zurück

14) Kimminich, O.: Einführung in das Völkerrecht, München 1990, S. 301 Zurück

15) Paffenholz, T.: Wege der Vermittlung in internationalen Konflikten, in: der überblick, Heft 1, Hamburg 1993 Zurück

16) Verdross, A./Simma, B.: Universelles Völkerrecht. Theorie und Praxis, Berlin 1984 Zurück

17) Kimminich, O.: Einführung in das Völkerrecht, München 1990 Zurück

18) Verdross, A./Simma, B.: Universelles Völkerrecht. Theorie und Praxis, Berlin 1984 Zurück

19) Vgl. Burton, j./Dukes, F.: Conflict: Practices in Management, Settlement & Resolution, London 1990, S. 25. Zurück

20) Paffenholz, T.: Wege der Vermittlung in internationalen Konflikten, in: der überblick, Heft 1, Hamburg 1993 Zurück

21) Vgl Kimminich, O.: Einführung in das Völkerrecht, München 1990 Zurück

22) Der Art.33, Ziffer 1 lautet in der englischen Fassung: „(1) The parties to any dispute, the continuance of wich is likely to endanger the maintenance of international peace and security, shall, first of all, seek a solution by negotiation, enquiry, mediation, conciliation, arbitraition, judicial settlement, resort to regional agencies or arrangements, or other peaceful means of their own choice.“ Zurück

23) Lewin, K.: Group decision and social change, in: Newcomb, T.M./Hartleys, E.L. (Eds.): Readings in social psychology, New York 1947; Ders.: Feldtheorie in den Sozialwissenschaften, Bern 1963; Ders.: Grundzüge der topologischen Psychologie, Bern 1969. Zurück

24) Burton, J.: Human Needs Theory, London 1990 Zurück

25) Burton, J. (Ed.): Conflict: Human Needs Theory, London 1990; Burton, J./Dukes, F. (Ed.): Conflict: Readings in Management & Resolution, London 1990; Burton, J./Dukes, F.: Conflict: Practices in Management, Settlement & Resolution, London 1990; Burton, J.: Conflict: Resolution and Provention, London 1990 Zurück

26) Kriesberg, L.: International Conflict Resolution, New Haven 1992 Zurück

27) Kriesberg, L.: Dilemmas in Nonviolent Settling International Conflict, in: Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr (Hrsg.): Armed Forces After the Cold War, München 1992 Zurück

28) Kriesberg, L./Thorson, S.J. (Ed.): Timing the Deescalation of international Conflicts, Syracuse, New York 1991 Zurück

29) Zartman, W.I.: Ripe for Resolution, Conflict and Resolution in Africa, New York 1989; Touval, S./Zartman, W.I.: International Mediation in Theory and Practice, Boulder 1984 Zurück

30) Paffenholz, T.: a.a.O. Zurück

31) Bercovitch, J./Rubin, J.: Mediation in International Relations, London 1992 Zurück

32) Ropers, N./Schlotter, P.: Die KSZE. Multilaterales Konfliktmanagement im weltpolitischen Umbruch. Zukunftsperspektiven und neue Impulse für regionale Friedensstrategien, in: HSFK-Report 11-12, Frankfurt 1992 Zurück

33) Zum Begriff selbst und zu den positiven Möglichkeiten von Citizen diplomacy siehe Burton, J./Dukes, F.: a.a.O., S. 124ff. Zurück

34) Vgl. Burton, J./Dukes, F.: a.a.O. Zurück

35) Ropers, N./Schlotter, P.: a.a.O. Zurück

36) Krause, H.: Die geschichtliche Entwicklung des Schiedsgerichtswesens in Deutschland, 1930 Zurück

37) Grewe, G.W.: Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1988 Zurück

38) Vgl. dazu Senghaas, D.: Friedliche Streitbeilegung und kollektive Sicherheit im neuen Europa, in: Europa-Archiv 10/1991 Zurück

39) So z.B. die revidierte Generalakte, „das Panel for Inquiry and Conciliation (GA res. 268 D (III) vom 28.4.1949), die Peace Observation Commission (GA res. 377 B (V) vom 3.11.1950) sowie das Register of Experts for Fact-finding (GA res. 2329 (XXII) vom 18.12.1967)„. Vgl.: Wolfrum, R. (Hrsg.).: a.a.O., S. 812-820. Zurück

40) Siehe Agenda for Peace, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 9, Bonn 1992. Ausführliche Besprechung durch Paech, N.: UN-Gewaltmonopol oder Recht der Stärksten?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 9, Bonn 1992 und Weiss, Th.G.: New Challenges for UN Military Operations: Implementing an Agenda for Peace, in: Washington Quarterly, Winter 1993 Zurück

41) Zum Aspekt der Frühwarnung siehe auch Rupesinghe, K.: Early Warning and preventive Diplomacy, Discussion Paper prepared for the Annual Meeting of the Internationale Negotiation Network, February 1993 Zurück

Der türkisch-kurdische Konflikt

Vorschläge für eine zivile Konfliktlösung

Der türkisch-kurdische Konflikt

von Andreas Buro

Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF) e.V. in Zusammenarbeit mit der Kooperation für den Frieden

Der türkisch-kurdische Konflikt ist immer noch nicht beendet. Gegenwärtig droht er erneut zu eskalieren. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das kurdische Siedlungsgebiet auf die Türkei, Irak, Syrien und Iran aufgeteilt. In der Folge entstanden in allen vier Ländern Minderheiten-Konflikte, wie sie oft bei der Entstehung von Nationalstaaten auftreten.1 Minderheiten wurden unterdrückt und einer Zwangsassimilierung unterworfen. Gewaltausbrüche von beiden Seiten und Feindbilder erschwerten eine vernünftige Regelung. Die Folgen in der Türkei waren eine wachsende Verfeindung innerhalb der Gesellschaft, die Blockade von Demokratisierungsprozessen, ein Anwachsen der riesigen sozialen Probleme in den kurdischen Gebieten, keine Lösung der berechtigten kurdischen Ansprüche auf eine eigenständige Kultur und Selbstverwaltung. Auf kurdischer Seite entstand immer wieder der Wunsch nach einem eigenen kurdischen Staat. Nach vielen Aufständen der Kurden seit den 20er Jahren führte seit 1984 die PKK – die kurdische Aufstandsbewegung im türkischen Teil der kurdischen Siedlungsgebiete – einen bewaffneten Kampf gegen die türkische Armee und Polizei. Dabei wurden nach offizieller Darstellung über 37.000 Menschen getötet und ungefähr 3.600 Weiler und Dörfer zerstört. Etwa 3 Millionen Kurdinnen und Kurden wurden vom Militär vertrieben. Ankara, wie auch die EU, haben die Jahre zwischen 1999 und 2004 – während eines einseitigen Waffenstillstands der PKK, in denen sich die kurdische Seite auf eine politische Lösung im Rahmen des türkischen Nationalstaates orientierte – nicht für eine politische Lösung genutzt. Nach Aufkündigung des Waffenstillstandes im Juni 2004 weiteten sich die Kämpfe aus. Jetzt stehen wieder über hunderttausend türkische Soldaten in den kurdischen Siedlungsgebieten der Türkei. Türkische Spezialteams führen Operationen jenseits der türkisch-irakischen Grenze durch, und irakisch-kurdische Ortschaften werden bombardiert. Während es in den Kämpfen der 90er Jahre fast keine Bombenanschläge gab, wurden diese nun zur Waffe im gesamten Gebiet der Türkei. Im Oktober 2006 hat die Guerilla einen neuen unbefristeten Waffenstillstand ausgerufen. Die EU-Staaten halten trotzdem an ihrem Terrorismus-Vorwurf gegenüber der PKK und ihren Organisationen fest und erschweren sich so die Möglichkeit, in den Konflikt vermittelnd eingreifen zu können. Es gilt, eine weitere Eskalation des gewaltsamen Konflikts zu verhindern und ihn mit zivilen Mitteln beizulegen. Dazu können staatliche, internationale und nicht-staatliche Stellen einen Beitrag leisten. Auch die Erfahrungen, die in Europa mit nationalen Minderheiten gemacht wurden – z. B. das Südtirol-Abkommen zwischen Österreich und Italien – sollten herangezogen werden. Deutschland könnte in dem Konflikt eine wichtige Rolle im Sinne präventiver Diplomatie und Politik spielen. Leider hat es bisher diese Rolle nicht wahrgenommen. Das Monitoring-Projekt (siehe Kasten Seite 3) dient dem Ziel der zivilen, friedlichen Lösung des Konflikts. Es ist ein Vorhaben der »Kooperation für den Frieden«.

Der Hintergrund des Konflikts

Die Kurden und ihre Kultur

Die Meder, die als Vorfahren der Kurden gelten, ließen sich um 1000 v. C. östlich des Zagros-Gebirges nieder und bildeten dort verschiedene Reiche. Die Kurden lebten seit der Antike vorwiegend als Viehzüchter und Bauern in einem relativ geschlossenen Siedlungsraum, der sich etwa über 2.000 km von Nordwesten nach Südosten von der heutigen Türkei und Syrien bis in den Irak und den Iran erstreckte. Sie hatten keinen unmittelbaren Zugang zum Persischen Golf, zum Schwarzen, Kaspischen und Mittelmeer. Wenn im Folgenden von Kurdistan gesprochen wird, so ist nicht ein Nationalstaat im heutigen Sinne gemeint, sondern eine historische Region und ein geographischer Siedlungsraum.

Unter der arabischen Herrschaft traten die Kurden im Laufe des 7. bis 9. Jahrhunderts zum sunnitischen Islam über. Abgesehen von den Aleviten – vermutlich etwa ein Drittel der Kurden – zählen in der Gegenwart deshalb die meisten Kurden zur gleichen Religion wie die türkische Bevölkerung.

Die Existenz im Schnittfeld der Kulturen zwischen Europa, Asien und Afrika bedeutete für die Kurden auch ein Leben in dauerhaftem Unfrieden und politischer Zersplitterung. Schon im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung wurde Kurdistan Teil des assyrischen und dann des altpersischen Staates. Im Laufe der Jahrhunderte gerieten die kurdischen Stämme, und später die kurdischen feudalen Fürstentümer, in die Abhängigkeit von iranischen Schahs und byzantinischen Herrschern. Erst im 11. Jahrhundert n. Chr. setzt die Zuwanderung von Seldschucken, einem Turkvolk aus Asien, ein. Anfang des 14. Jahrhunderts gründete Osman, einer ihrer Herrscher, das osmanische Reich, das 1453 Konstantinopel – das heutige Istanbul – eroberte und damit das byzantinische, christliche Reich beendete. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte wurde das osmanische Reich zu einem Vielvölkerstaat und zu einer Großmacht in Asien, Europa und Afrika, das auch die kurdischen Gebiete umfasste. Das Reich zerfiel endgültig zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Rahmen des Ersten Weltkrieges. Das kurdische Siedlungsgebiet wurde auf die Türkei, Iran, Syrien und den Irak aufgeteilt. Von den etwa 30 Millionen Kurdinnen und Kurden leben gegenwärtig über 16 Mio. innerhalb der Grenzen der Türkei, über 7 Mio. in Iran, 4,5 Mio. in Irak, 1,5 Mio. in Syrien, über 1 Mio. in Europa, davon 700.000 in der Bundesrepublik. Das kurdische Volk ist das dritt- oder viertgrößte Volk im Nahen und Mittleren Osten, neben Türken, Arabern und Persern.

Die kurdische Bevölkerung lebt bis zur Gegenwart zu einem großen Teil in gesellschaftlichen Strukturen, in denen Clan-Bindungen eine erhebliche Bedeutung haben. Nationale Orientierungen wurden hierdurch immer wieder behindert. Ein wesentlicher Grund dafür, dass die Kurden sich nicht frühzeitiger mit Intensität für die Bildung eines Nationalstaates eingesetzt haben.

Die Sprache der Kurden gehört zu den indogermanischen Sprachen und ist mit dem Persischen verwandt. Sie besteht hauptsächlich aus den Dialekten Kurmanci (Kurmandschi), Sorani und Zazaki (Dimilki). Kurden benutzen heute das lateinische, arabisch-persische und das kyrillische Alphabet. In der Türkei, dem Iran, Irak und in Syrien wurde in der Vergangenheit die Vermittlung der kurdischen Sprache, Kultur und Geschichte, also alles was mit den Kurden zu tun hat, eingeschränkt oder verboten. Trotzdem wurden in Irakisch-Kurdistan viele Bücher und Wörterbücher herausgegeben. Auch im Ausland wurde publiziert. Alleine in Schweden erschienen in den letzten 50 Jahren 123 Zeitungen, Zeitschriften und Bulletins. (Özgür Politika, 28.7.00) Im Sommer 2000 wurde in Istanbul ein Kurdisch-Türkisches Wörterbuch mit 40.000 Wörtern vom Kurdischen Institut veröffentlicht. (Hürriyet, 19.6.00)

In der Türkei wurden selbst die Wörter »Kurde« und »Kurdistan« durch neue Begriffe, wie z.B. »Bergtürken«, »Ost- bzw. Südostanatolien«, ersetzt. Die traditionellen Namen der Ortschaften, Berge und Flüsse wurden türkisiert. Feste, wie Newroz, wurden bis vor einigen Jahren verboten und das Tragen kurdischer Trachten untersagt. Damit sollte eine Zwangsassimilierung vorangetrieben und die kurdische kulturelle Identität zerstört werden. Das ist bislang jedoch weitgehend misslungen.

Gerade der Versuch Ankaras, die kurdische kulturelle Identität auszulöschen, hat diese zu einem zentralen Thema der Auseinandersetzung gemacht. In der Türkei, in der die kurdischen Kinder in den Schulen nach wie vor nicht in ihrer Muttersprache unterrichtet werden dürfen, bemühen sich kurdische Menschen mit Hilfe von kurdischen Fernseh-(MEDYA-TV/Roj-TV), Internet- und Radiosendungen aus dem Ausland, ihre Sprache schreiben zu lernen und ihre Kultur und Dichtung weiter zu geben.2

Der politische Zusammenhang des heutigen Konflikts

Der politische Ausgangspunkt ist der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkriegs. Es war Kriegsverbündeter Deutschlands und Österreichs. Die Siegermächte England und Frankreich besetzten Istanbul und teilten das Reich nach ihren Interessen auf (Diktatfrieden von Sèvres 1920). Danach sollten Kurden und Armenier laut Artikel 62, 63, und 64 eigene Staaten gründen können. Die große türkische Nationalversammlung lehnte diesen Vertrag ab. Unter der Führung von General Kemal Atatürk (Vater der Türken) wurde der nationale militärische Widerstand organisiert, den auch die Kurden tatkräftig unterstützten, da man ihnen Gleichberechtigung als Nation mit der türkischen versprach. Dieser Kampf zwang die Alliierten 1923, im Friedensvertrag von Lausanne die Unabhängigkeit und Souveränität der neuen Türkei als Nationalstaat anzuerkennen. In dem Vertrag wurde das kurdische Siedlungsgebiet zwischen der Türkei, Iran, Irak und Syrien aufgeteilt.

Nach Lausanne wurden in der Türkei alle Versprechen von Gleichberechtigung gegenüber den Kurden gebrochen. Aus der multi-ethnischen Gesellschaft sollte nun eine türkische Gesellschaft werden. Jeder, der in der Türkei lebt, ist Türke, lautete die Devise.

Am Tag der Abschaffung des Kalifats (3.3.1924) verabschiedete das Parlament ein Gesetz zur Vereinheitlichung des Schulwesens. Danach galten die kurdischen Schulen als gesetzwidrig und wurden geschlossen. Die Kurden fühlten sich betrogen und befürchteten den Verlust ihrer Kultur durch Zwangsassimilation. Die offizielle Kurdenpolitik wurde in einem Gesetz vom 8. bzw. 24. September 1925 festgelegt. Darin heißt es u.a.: „Die beiden Völker können und dürfen nicht gleichberechtigt zusammenleben. Deswegen müssen die Kurden assimiliert und Kurdisch muss verboten werden. Die Kurden müssen in den Westen zwangsdeportiert und Türken im Osten an ihrer Stelle angesiedelt werden. Der Osten muss durch einen mit weiten Vollmachten ausgestatteten Generalgouverneur, wie in den Kolonien, regiert werden. Alle in wichtigen Positionen stehenden Beamten müssen Türken sein und aus dem Westen stammen.“ 3

Die Folge waren zahlreiche kurdische Aufstände zwischen 1925 und 1938, die alle blutig niedergeschlagen wurden. Damit ist die Grundsituation des türkisch-kurdischen Konflikts gekennzeichnet, der seitdem immer wieder mit Gewalt ausgetragen wurde.

Nach 1945 hat sich die Türkei im aufkommenden Ost-West-Konflikt dem Westen zugewandt, sie wurde Mitglied der NATO. Es entstand ein Mehrparteiensystem, doch die türkische Armee verstand sich als übergeordneter Hüter der kemalistischen Grundwerte und putschte 1960, 1971 und 1980 gegen die gewählten Regierungen. Ihre Repression richtete sich gegen alle demokratischen Institutionen, viele Parteien und gesellschaftliche Organisationen wurden verboten. Die Kurden waren in besonderem Maße betroffen. 210.000 Strafverfahren wurden nach dem Militärputsch von 1980 gegen die Opposition eingeleitet, Filme und Bücher verboten, Folter war in den Gefängnissen an der Tagesordnung. Alle Möglichkeiten, für die kurdischen Anliegen legal einzutreten, waren versperrt. Von September bis Dezember 1980 flohen etwa 60.000 türkische Staatsbürger – darunter viele Kurden – nach Deutschland.

Vor dem Militärputsch von 1980 gab es verschiedene Zusammenschlüsse und Organisationen für eine politische Interessenvertretung der Kurden in und außerhalb der Türkei,4 die von der PKK als Konkurrenten verstanden und von ihr auch mit Gewalt bekämpft wurden. Rückblickend konnte sich die PKK (Avantgarde Arbeiterpartei Kurdistans) als wichtigste Kraft durchsetzen.

Am 15. 8. 1984 stürmten Guerillaeinheiten der PKK zwei Kasernen der türkischen Armee. Damit wurde die bis heute andauernde militante Aufstandsbewegung der Kurden eingeleitet. Sie basierte nicht mehr auf Clan-Zusammenhängen, sondern auf kurdisch-nationalen und kulturellen Ansprüchen. Ankara bekämpft sie als eine separatistische Bewegung.

Eskalationsentwicklung

Die Kämpfe zwischen 1984 und 1998 waren sehr verlustreich und von großen Flüchtlingsströmen begleitet. Nach der Ausrufung eines einseitigen Waffenstillstandes durch die PKK (1.9.1998) und der Inhaftierung des PKK-Vorsitzenden, Abdullah Öcalan, auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali entspannte sich die Situation. Dieser Prozess wurde durch die Reform-Bemühungen aufgrund des EU-Beitrittswunsches der neuen AKP-Regierung in Ankara unterstützt. Der Ausnahmezustand im kurdischen Siedlungsgebiet wurde aufgehoben. Kurdischkurse für Erwachsene und Sendungen in kurdischer Sprache wurden ermöglicht, allerdings nur in sehr begrenztem Maße. Die grundsätzlichen Probleme des Konflikts wurden jedoch nicht ernsthaft in Angriff genommen. Das türkische Militär setzte trotzdem seine Angriffe auf die Guerilla fort – während des einseitigen Waffenstillstands von 1998-2004 gab es etwa 700 Operationen. Am 1. Juni 2004 wurde deshalb der einseitige Waffenstillstand durch die PKK aufgekündigt.

Seitdem ist der militärische Konflikt wieder eskaliert. Verdeckte Anschläge des Militärs gegen zivile Ziele provozierten die Kurden. Eine kleine kurdische Gruppe führte Sprengstoffanschläge in verschiedenen Teilen der Türkei aus. Die Armee zog Truppen an der Grenze zum Nordirak zusammen und griff in Irakisch-Kurdistan Dörfer an, in denen sie PKK-Guerilla vermutete. Die türkische Generalität forderte die USA auf, im kurdischen Nordirak gegen die PKK vorzugehen, um die Rückzugsbasis der Guerilla zu vernichten. Für die USA ist dieses Problem ambivalent. Einerseits stuft sie nach wie vor die PKK als terroristische Vereinigung ein, andererseits ist der kurdische Teil des Nordirak der stabilste und treueste Verbündete der USA. Die USA wollen auf keinen Fall, dass durch einen Einmarsch türkischer Truppen auch diese Region destabilisiert wird, sie lehnen deshalb jegliche türkische Intervention ab. Die USA haben einen Sondergesandten beauftragt, sich dieser Frage anzunehmen. Jüngst kam es zu Dreiergesprächen zwischen Vertretern der USA, der türkischen Regierung und der Regierung Irakisch-Kurdistans.

Mit diesem Prozess verzahnt, verläuft in der Türkei ein Machtkampf zwischen der Generalität und der islamisch geprägten AKP-Regierung. Das Militär befürchtet durch die Anpassungen an die EU-Forderungen Macht zu verlieren und wendet sich gegen die AKP-Regierung, der es die Islamisierung der Türkei vorwirft. Das Militär ist anscheinend an einer Fortsetzung des Krieges gegen die PKK interessiert, lehnt eine Amnestie der Guerilla ab und fordert deren Kapitulation. Dazu mobilisiert es türkisch-nationalistische Gefühle in der Gesellschaft, die geeignet sind, Feindbilder zu verstärken. Der türkisch-kurdische Konflikt wird zur Zeit durch einen Konflikt zwischen Militär und Regierung überlagert. 2007 wird es in der Türkei Präsidenten- und Parlamentswahlen geben. Das veranlasst die AKP-Regierung wegen ihrer Wählerklientel zu großer Zurückhaltung in der Kurdenfrage.

Gegenwärtig stehen die USA in der Kurdenfrage nicht mehr umstandslos an der Seite des türkischen Militärs. Sollten die US-Truppen aus dem Irak zurückgezogen werden, dürfte allerdings für den türkisch-kurdischen Konflikt, wenn er bis dahin nicht beigelegt ist, eine völlig neue Konstellation zugunsten der Interventionswünsche des türkischen Militärs entstehen.

Zusammenhänge mit anderen Konflikten in der Region

Der türkisch-kurdische Konflikt stand immer im Zusammenhang mit den Politiken der Nachbarstaaten Iran, Irak und Syrien. Mit diesen Staaten verband die Türkei das gemeinsame Interesse, alle kurdischen Bestrebungen zur Bildung eines eigenen Nationalstaates zu unterdrücken. Die Organisierung der Kurden und das Aufkommen des Gefühls einer kurdischen Identität sollte verhindert werden. Daraus folgte eine generelle Repression gegenüber der kurdischen Bevölkerung und ihrer Kultur. Diese Politik hat aber dazu geführt, dass sich die Kurden fast überall als ausgegrenzt aus den Gesellschaften ihres Landes empfanden und sich um so mehr ihrer kurdischen Identität zuwandten.

Ein anderes Element bestand oft in der Instrumentalisierung der Kurden für die Austragung von Konflikten zwischen den vier Staaten. Verkürzt gesagt: Man förderte die Kurden der anderen, um dem anderen Staat damit Schwierigkeiten zu bereiten. Wichtigste Beispiele waren die syrische Duldung des Hauptquartiers und der Rückzugsbasis der PKK in ihrem Land und die jahrelange Unterstützung der irakischen KDP und PUK vom Iran aus.

Friedensfördernde und friedenshindernde Einflüsse der internationalen Politik

Internationale Politik hat einen wesentlichen Anteil an dem türkisch-kurdischen Konflikt. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg ging es den westlichen Siegermächten darum, die Türkei im West-Ost-Konflikt auf ihre Seite zu ziehen. Sie wurde 1952 in die NATO aufgenommen und zum wichtigen Stationierungsort für US-amerikanische Atomwaffen, die sich gegen die UdSSR richteten. Diese Waffen wurden zwar im Rahmen der Vereinbarungen um die Kuba-Krise 1963 abgezogen, die »Waffenbrüderschaft« der NATO-Staaten blieb jedoch über alle Militärputsche in der Türkei (1960, 1971, 1980) hinweg dominierend. Die Kurdenfrage in der Türkei war deshalb kein Thema in den internationalen Beziehungen zwischen diesen Ländern. Dies änderte sich auch nicht, als in den 90er Jahren die USA, die Türkei und Israel gemeinsam in Nahost die Funktion einer regionalen Hegemonialmacht ausübten. Die militanten Kämpfe der kurdischen PKK ab 1984 wurden als terroristische Angriffe definiert, ohne dass man ihren Ursachen nachgegangen wäre. Massive Waffenlieferungen an die Türkei – Deutschland lieferte nicht nur Militärausrüstung aus DDR-Beständen, sondern auch Leopardpanzer, U-Boote und anderes militärisches Großgerät – verstärkten die Parteinahme zugunsten der offiziellen Politik in Ankara; die türkische Generalität, die den Kampf gegen die PKK organisierte, war der direkte Ansprech- und Verhandlungspartner.

Je mehr die Konflikte in Nah- und Mittelost eskalierten, um so stärker wurde die ablehnende Haltung der westlichen Regierungen gegenüber den kurdischen Ansprüchen, die über lange Zeit auch tatsächlich einen separatistischen Charakter hatten. Diese Ablehnung wurde noch durch zum Teil gewalttätige Demonstrationen von Exil-Kurdinnen und -Kurden in Westeuropa – und speziell in Deutschland – verstärkt. Dies trug auch dazu bei, dass der einseitige, zunächst unbegrenzte Waffenstillstand der PKK – nach der Entführung und Gefangennahme ihres Führers Abdullah Öcalan 1999 – und die Bereitschaft, zu einer politischen Lösung im Rahmen der Türkei zu kommen, von außen nicht aufgegriffen und zur Lösung dieses Konflikts genutzt wurde.

In die Haltung der westlichen Staaten gegenüber der Kurdenfrage ist erst seit den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und der Irak-Besetzung durch die USA etwas Bewegung gekommen.

In den EU-Beitrittsverhandlungen führt die Art und Weise, wie in der Türkei Minderheiten behandelt werden, immer wieder zu Auseinandersetzungen, auch wenn dabei die vorsichtig taktierende Brüsseler Kommission die Kurdenfrage nur sehr zurückhaltend anspricht. Auf Dauer wird sie jedoch nicht darum herum kommen, deutlicher und genauer zu werden, da die Menschenrechtsdefizite in der Türkei nur zusammen mit der Lösung der Kurdenfrage überwunden werden können. Das Europäische Parlament thematisiert mit größerer Deutlichkeit diese Problematik.

Die Besetzung des Iraks durch die USA hat in Washington ein neues Interesse an der Kurdenfrage geweckt. Das autonome irakisch-kurdische Gebiet ist in dem sonst so unruhigen Irak die stabilste Region. Sie soll nicht durch türkische Angriffe auf Rückzugsbasen der PKK destabilisiert werden. Die Interessen der USA und des türkischen Militärs stehen hier im Widerspruch, wenigstens solange der Irak als Einheit bestehen bleibt. Das könnte Chancen für neue Sicht- und Verhaltensweisen gegenüber der Kurdenfrage eröffnen.

Bezug Deutschlands zu dem Konflikt

Das Deutsche Reich hat sich im Rahmen seiner Expansionspolitik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts um gute Beziehungen zum Osmanischen Reich und zur Türkei bemüht. Kaiserbesuche, Bagdad-Bahn und Kriegspartnerschaft im Ersten Weltkrieg mögen als Stichworte genügen. Im Zweiten Weltkrieg blieb die Türkei neutral. Die Beziehungen nach 1945 liefen vor allem über die Wirtschaft und die NATO. Deutschland ist im Im- und Export der größte Wirtschaftspartner der Türkei. Aus der Türkei kamen auf Wunsch der deutschen Industrie viele Gastarbeiter, die sich zu einem großen Teil dauerhaft ansiedelten. Darunter waren auch – zusammen mit Flüchtlingen – etwa 700.000 Kurden. Der türkisch-kurdische Konflikt wurde in der Folge auch in Deutschland ausgetragen, zum Teil mit großen friedlichen Demonstrationen, aber auch mit Aktionen, die nicht gewaltfrei verliefen. Die Bundesregierung nahm die PKK im November 1993 in die Liste der terroristischen Organisationen auf. Noch immer gibt es Prozesse gegen und Verurteilungen von PKK-Mitglieder/n, werden Büros kurdischer Organisationen durchsucht, denen man Nähe zur PKK nachsagt.

Die rot-grüne Bundesregierung hat sich für eine EU-Beitrittsperspektive der Türkei stark gemacht, den türkisch-kurdischen Konflikt jedoch nicht entsprechend thematisiert. Premierminister Erdogan konnte noch 2003 bei seinem Besuch in Berlin unwidersprochen behaupten, es gäbe keine kurdische Frage.

Im Gegensatz zur offiziellen Politik haben sich Organisationen aus dem zivil-gesellschaftlichen Bereich in erheblichem Maße bemüht, zur Beilegung des türkisch-kurdischen Konflikts beizutragen. Einige Beispiele:

  • Evangelische Akademien haben viele Seminare zu diesem Thema angeboten;
  • Evangelische Landeskirchen haben sich mit dem Konflikt befasst;
  • der Interkulturelle Rat in Deutschland hat sich um Dialoge zwischen Türken und Kurden bemüht;
  • der 1995 gegründete Dialog-Kreis konnte in vielen Veranstaltungen und Veröffentlichungen auch PolitikerInnen einbeziehen. Er bemühte sich auch um aktuelle Analysen und strategische Handlungsvorschläge;
  • die Ärzte-Vereinigung IPPNW stellte ständige Kontakte und eine Zusammenarbeit zwischen in Deutschland lebenden türkischen und kurdischen Mitbürgern her;
  • Amnesty international und Menschenrechtsvereine haben recherchiert und Menschenrechtsverletzungen bekannt gemacht;
  • Pro Asyl und Flüchtlingsbeiräte der Länder haben Asylsuchende beraten und gegenüber Gerichten über die Hintergründe von Flucht und Vertreibung berichtet, Rechtshilfe-Vereine wie Azadi nahmen sich der Probleme an;
  • das Netzwerk Friedenskooperative führte jahrelang gemeinsam mit anderen Friedensorganisationen eine Kampagne unter dem Motto »Schweigen tötet! Frieden jetzt« durch.

Dazu kamen Organisationen der in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden, die sich mit dem Konflikt aus ihrer Sichtweise auseinander setzten. Bei fast allen diesen Aktivitäten, die auf Dialog und Verständigung zielten, war im Gegensatz zu den kurdischen Organisationen die Bereitschaft der türkischen eher gering, sich auf einen Dialog mit der kurdischen Seite einzulassen.

Bezug der EU zu dem Konflikt

Im Oktober 2005 nahm die EU Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf. Man spricht von einer Verhandlungsdauer von 10-15 Jahren. In einigen EU-Staaten herrscht große Skepsis, ob ein Beitritt der Türkei überhaupt wünschenswert ist. In den Vorverhandlungen wurde die Kurdenfrage nicht explizit angesprochen. Gesprochen wurde aber über Minderheitenrechte, was je nach Sichtweise die Kurden ein- oder ausschließt. Trotzdem ist festzuhalten: das Bemühen Ankaras um einen Beitritt zur EU hat bisher den größten Anstoß für Veränderungen und Diskussionen in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Freiheitsrechte gegeben. Auch wenn diese bisher nicht ausreichend waren, so wurde immerhin der Ausnahmezustand aufgehoben, und es wurden erste Lizenzen für zeitlich begrenzte kurdischsprachige Sendungen erteilt. Die Verhandlungen sind in Bezug auf die Kurdenfrage – trotz aller Mängel – einer der wichtigsten Faktoren zur Veränderung.

Das Europäische Parlament hat immer wieder umfassende Erklärungen zum Türkei-Beitritt und zur Kurdenfrage abgegeben. Diese Stellungnahmen sind wichtig für das öffentliche Meinungsbild, auch wenn sie nicht unmittelbar die Politik bestimmen.

Nach einer Debatte über die kulturelle Situation der Kurden hat die Parlamentarische Versammlung des Europa-Rats am 4. Oktober 2006 eine Entschließung angenommen, die dazu aufruft, diese Kultur durch unterstützende Maßnahmen auf europäischer Ebene zu schützen. In diesem Zusammenhang sind auch die Regelungen des Europa-Rats zu Fragen der Minderheitenrechte von Bedeutung. Die Türkei und Frankreich sind die beiden einzigen Europaratsstaaten, die dem Europarats-Rahmenabkommen zu Minderheiten bisher nicht beigetreten sind. Der internationale Reviewprozess ist dadurch blockiert. Wenn Frankreich dem Rahmenabkommen beitreten würde, hätte dies auch Auswirkungen auf die Türkei.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat bisher in zahlreichen Urteilen kurdisch-stämmigen BürgerInnen der Türkei Recht gegeben. Urteile, denen sich Ankara in aller Regel unterwerfen muss. Oft handelt es sich um exemplarische Fälle, die auch über den Einzelfall hinaus von Bedeutung sind.

Die legitimen Interessen der Akteure

Interessen der Kurden, die direkt betroffen sind

Von verschiedenen Gruppierungen sind immer wieder Listen mit Forderungen für die Lösung des kurdischen Problems in der Türkei aufgestellt worden. An erster Stelle steht die Anerkennung der kurdischen kulturellen Identität durch den Staat und ihre Verankerung in der Verfassung. Damit verbunden ist das Recht auf Erziehung in kurdischer Sprache in der Schule und die Benutzung der kurdischen Dialekte neben dem Türkischen. Zum Zweiten wird eine Beendigung der Militär- und Willkürherrschaft in den kurdischen Siedlungsgebieten gefordert und die Errichtung einer rechtsstaatlichen Ordnung. Ein Teil der Flüchtlinge und Vertriebenen möchte in ihre Heimatorte zurückkehren. Bislang machen bürokratische Hürden und Behinderungen durch das Militär dies meist unmöglich. Auch haben sich vielfach die sogenannten Dorfwächter5 Häuser und Land der Vertriebenen angeeignet. Die wirtschaftliche und soziale Situation im kurdischen Siedlungsgebiet ist weit unter dem Niveau der westlichen Türkei. Die Nutzung von Naturressourcen, insbesondere der Wasserkraft, kommt der Region kaum zugute. Man erhofft eine Verbesserung der Infrastruktur als Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung. Vorgetragen wird auch die Forderung nach einer Dezentralisierung des Staatswesens und damit nach einer größeren Selbstverwaltung im lokalen und regionalen Bereich (das betrifft auch die vornehmlich türkisch bewohnten Gebiete). Alle diese Forderungen und Wünsche sind im Rahmen einer Modernisierung und Liberalisierung der türkischen Gesellschaft und des Staatswesens verhandelbar.

Nicht verhandelbare Interessen des türkischen Staates

Nicht verhandelbar ist für den türkischen Staat die Abtrennung der kurdischen Siedlungsgebiete. Dies ist im Rahmen der bestehenden nationalstaatlichen Ordnung in den meisten Teilen der Welt eine anerkannte Position, auch wenn dies von nationalen Minderheiten oftmals nicht akzeptiert wird.

Öcalan hat in jüngster Zeit einen »Demokratischen Konföderalismus« gefordert. Dieses gesellschaftliche Modell weicht völlig von der bisherigen Staatsstruktur der Türkei ab und dürfte für die Türkei keine Verhandlungsbasis sein.

Der Verzicht auf Gewalt von Minderheiten zur Durchsetzung politischer Ziele ist für Ankara im Sinne des Gewaltmonopols des Staates unabdingbar. Dies setzt allerdings auch ein rechtsstaatliches Verhalten der staatlichen Institutionen und die Möglichkeit zur demokratischen Mitwirkung für die kurdische Bevölkerung voraus.

Interessen des internationalen Umfelds

Für den kurdischen Nordirak (in der irakischen Verfassung als Kurdistan bezeichnet) ist es wichtig, dass aus dem türkisch-kurdischen Konflikt nicht eine permanente Interventionsdrohung durch die Türkei wird. Deshalb hat diese Region ein großes Interesse an der friedlichen Beilegung dieses Konflikts. Ähnliches gilt für die USA, die an der Aufrechterhaltung der Stabilität des Nordirak interessiert sind. Washington befürwortet seit langer Zeit einen Beitritt der Türkei zur EU. Auch dieser Wunsch setzt eine friedliche Lösung der Kurdenfrage voraus, was sich bisher allerdings nicht in der US-Außenpolitik niedergeschlagen hat.

Wenn eine friedliche Lösung der Kurdenfrage im Rahmen der Türkei erreicht wird, so hat das eine Signalwirkung für den Iran und Syrien. Ohne die Sorge vor einem kurdischen Separatismus können diese Länder entspannter Probleme ihrer kurdischen Minderheiten angehen.

Die EU müsste ebenfalls ein legitimes Interesse an der friedlichen Lösung der Kurdenfrage haben. Sie wird bei den Beitrittsverhandlungen Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit, Freiheits- und Menschenrechte nicht durchsetzen können, solange etwa 20 bis 30% der Bevölkerung der Türkei daran nicht teilhaben können. Allerdings wird dieses legitime Interesse bislang nicht ausreichend deutlich in den Verhandlungen und Positionen der EU. Sie hält nach wie vor an der Einstufung der PKK-Organisationen als terroristisch fest.

Was für die EU gilt, gilt im wesentlichen auch für Deutschland. Kommt hinzu, dass das Verhältnis der hier lebenden Kurden zu den hier lebenden Türken wichtig ist für die Integration beider in die deutsche Gesellschaft. Aufgrund seiner vielfältigen Beziehungen müsste Deutschland noch stärker an einer friedlichen Lösung interessiert sein, nutzt aber bisher seine Einflussmöglichkeiten kaum aus.

Ziele ziviler Konfliktbearbeitung

Das übergeordnete Ziel muss darin bestehen, der kurdisch-stämmigen Bevölkerung in der Türkei ein gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen. Sie hat ein Recht, so zu leben, dass sie ihre kurdische kulturelle und sprachliche Identität ohne Diskriminierung bewahren und ihre soziale und wirtschaftliche Situation verbessern kann. Um dieses zu erreichen, sind folgende Unterziele zu bearbeiten:

  • Vertrauen zwischen der türkischen und der kurdischen Bevölkerung und deren Eliten aufbauen.
  • Über einseitige Gesten und Schritte eine Dynamik der gegenseitigen Zuwendung erreichen, in der keine Seite ihr »Gesicht« verliert.
  • Förderung des Dialogs auf möglichst vielen Ebenen über mögliche Kompromisse.
  • Abbau von Befürchtungen der türkischen Seite vor separatistischen Bestrebungen.
  • Stärkung der politischen Administration gegenüber dem militärischen Establishment.
  • Förderung der Bereitschaft der EU und der EU-Staaten, die Kurden-Frage aufzugreifen und zu einer friedlichen Lösung beizutragen.
  • Abbau von Feindbildern gegenüber den Kurden und ihren Organisationen, die im Ausland oft unter dem Label »Terrorismus« gesehen und verfolgt werden.
  • Förderung der kurdischen Kultur im In- und Ausland.

Zivile Möglichkeiten zur Konfliktentschärfung und Konfliktlösung

Eine notwendige Vorbemerkung: Konflikte dieser Art hängen von Entscheidungen und vom Verhalten auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen ab. Es wäre illusionär zu glauben, ein Wandel könnte allein aufgrund gesellschaftlicher und sozialer Bewegungen herbeigeführt werden. Deshalb werden im Folgenden auch Vorschläge für internationales und nationalstaatliches Handeln unterbreitet, wenngleich wir wissen, dass solche Vorschläge oft nicht akzeptiert oder doch nur sehr allmählich in Betracht gezogen werden. Es wird immer behauptet, die jeweilige militärische Konfliktbearbeitung sei alternativlos. Die folgenden Vorschläge belegen, dass es sehr wohl zivile und menschenrechtlich geprägte Alternativen zu den vorherrschenden Kriegspolitiken gibt.

Es geht um Strategien mit dem Ziel einer friedlichen politischen Lösung im türkisch-kurdischen Konflikt für die Zivilgesellschaft, für Regierungs- und EU-Politik, die wie ein Bausteinsystem, dort wo es möglich ist, umgesetzt werden. Dabei ist nicht zu erwarten, dass Friedensstiftung und -vermittlung durch einen einmaligen Akt zu erreichen sind; es geht darum, von verschiedenen Akteuren und Ansätzen aus einen Prozess ziviler Konfliktbearbeitung anzustoßen und damit auch die zunächst noch bestehenden Blockaden für einen Dialog zu überwinden.

Zivile Handlungsoptionen für den türkischen Staat

Die staatliche Einheit der Türkei ist gegenwärtig nicht gefährdet, da die kurdische Seite sich zu einer politischen Lösung im Rahmen des türkischen Staates bekennt. Die Anklage wegen separatistischer Bestrebungen hat ihre Grundlage verloren. Im Gegensatz zu Konfliktsituationen in anderen Ländern – zum Beispiel Nordirland oder Sri Lanka – kann die Regierung der Türkei sich bei einer Politik der Aussöhnung auf eine überwiegend religiöse Gemeinsamkeit von Türken und Kurden beziehen, um die zwischen beiden Ethnien bestehenden Ressentiments oder gar Feindbilder zugunsten von Versöhnung und Kooperation, dauerhaft abzubauen.

Die im Folgenden genannten Elemente einer Politik der Versöhnung können nicht vollständig sein und müssen weiter differenziert werden.

1. Türkische und kurdische Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler u.a. treten in der Türkei für eine Politik der Aussöhnung und des Gewaltverzichts ein. Dabei streben sie auch die Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen und Nicht-Regierungsorganisationen (NRO) in der EU an.

2. Ankara spricht den Wunsch nach Aussöhnung und gegenseitiger Anerkennung offen aus und regt einen innergesellschaftlichen Dialog im Rahmen des türkischen Staates an.

3. Um dem Wunsch nach Aussöhnung Glaubwürdigkeit zu verleihen, wird eine Amnestie für alle aus politischen Gründen Verurteilten und für alle, die an den Kämpfen teilgenommen haben, erlassen. Dann können diejenigen, die sich heute im Exil befinden, in ihre Heimat zurückkehren und sich dort für ihre Ziele mit demokratisch-politischen Mitteln einsetzen.

4. In dem innergesellschaftlichen Dialog wird auch darüber gesprochen, in welcher Weise die multi-ethnische Dimension der Gesellschaft in der türkischen Verfassung ihren Niederschlag findet. Dadurch würde die Gemeinsamkeit im Rahmen des Staates gestärkt und nicht geschwächt. Kemal Atatürk hat in der frühen Phase des Kampfes zur Bildung des Nationalstaates Türkei die Kurden als Brudervolk bezeichnet und versprochen, es gleichberechtigt an dem neuen Staat teilhaben zu lassen. Dieses Versprechen würde so eingelöst.

5. Ankara strebt eine Politik der Aussöhnung und der kulturellen Gleichberechtigung an. Auch innerhalb der EU gibt es Länder mit Sprachenvielfalt und mehreren kulturellen Traditionen. Die EU als Ganzes ist ein multikulturelles Gebilde. Die Respektierung der unterschiedlichen kulturellen Traditionen und Sprachen wird nicht die Bedeutung des Türkischen als verbindende Sprache im Staat mindern.

6. Die Flüchtlinge aus den kurdischen Siedlungsgebieten, die während der vergangenen Kämpfe vertrieben wurden, dürfen zurückkehren. Da die meisten Flüchtlinge materielle Verluste erlitten haben, ist eine solidarische Hilfe für ihre Rückkehr dringend geboten. Bei den Erdbebenkatastrophen haben Menschen und Organisationen aus der ganzen Türkei – und aus dem Ausland – solidarisch geholfen. Wenn dies zum Vorbild für die Rücksiedlung der Flüchtlinge würde, würde das Gefühl der Zusammengehörigkeit gestärkt.

7. Die so genannten Dorfwächter erhalten im Sinne einer Aussöhnungspolitik eine gleichwertige Perspektive für ihr Leben wie die zurückkehrenden Flüchtlinge. Lokale Dialoge unter Anleitung geschulter Konfliktschlichter können hierbei hilfreich sein. Die dabei gesammelten Erfahrungen werden im Bereich der Friedensforschung an Universitäten eingebracht.

8. Die Entwicklung im Osten und Südosten der Türkei ist bislang zugunsten von Investitionen und Infrastruktur im Norden und Westen vernachlässigt worden, obwohl diese Region mit ihren großen Siedlungsgebieten der Kurden einen erheblichen Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Leistung der Türkei beiträgt. Die Menschen dort haben vielfach den Eindruck, sie würden in kolonialer Weise ausgebeutet. In der Zeit des bewaffneten Kampfes ist die Ausbildung der nachwachsenden Generation, die soziale und medizinische Versorgung sowie die materielle Infrastruktur weitgehend zusammengebrochen. Es hat eine Ausgrenzung stattgefunden, die nach allen entwicklungspolitischen Erfahrungen nicht ohne große Anstrengungen rückgängig gemacht werden kann. Um den Menschen in diesen Gebieten das Gefühl zu vermitteln, dass sie »dazu gehören« und ihr Schicksal der Türkei wichtig ist, wird eine große Anstrengung des Aufbaus – nach Möglichkeit international unterstützt – unternommen.

Zivile Handlungsoptionen für PKK, Guerilla und lokal gewählte Vertreter

1. Rückzug der Guerilla aus der Türkei nach Irakisch-Kurdistan und freiwillige Entwaffnung unter internationaler Kontrolle, z.B. nach dem aktuellen Vorbild der maoistischen Guerilla in Nepal (die sich dort allerdings erst nach Abschluss des Friedensabkommens unter die Obhut der UNO begeben hat). Die Initiative dazu geht von der PKK aus, die die UN um Unterstützung in diesem Anliegen bittet. Verzicht auf Drohungen jedweder Art. Damit würde der türkischen Generalität der militärische Gegner und damit die Legitimation für militärisches Vorgehen entzogen. Ein solcher Schritt würde zum Abbau von Feindbildern beitragen.

2. Die kurdische Seite arbeitet einen Vorschlag für ein Stufenprogramm der Vertrauensbildung und Aussöhnung aus. Es enthält eine zeitliche Schrittabfolge parallel zum Rückzug und zur Selbstentwaffnung der Guerilla, z.B.:

  • Stufe1: Ausweitung der kurdischen Medienprogramme und Liberalisierung des Unterrichts in Kurdisch. Ausbildung von LehrerInnen für den Kurdisch-Unterricht.
  • Stufe 2: Erleichterung der Rückkehr kurdischer Flüchtlinge in ihre Dörfer und Städte und Unterstützung bei der Wiederherstellung ihrer Lebensgrundlagen. – Aufnahme von Gesprächen zwischen den gewählten Bürgermeistern und einem von der Regierung beauftragten Sonderbotschafter über Probleme und Wünsche der Bevölkerung in den kurdischen Siedlungsgebieten. Damit würde ein Dialog über »Alltagsprobleme« eingeleitet, der zur Vertrauensbildung erheblich beitragen kann. Einsetzung einer paritätischen Kommission (Regierung und Bürgermeister) zur Untersuchung und Regelung der Dorfwächter-Problematik.
  • Stufe 3: Amnestie für die politischen Gefangenen und für die Beteiligung an den militärischen Konflikten der letzten Jahre auf beiden Seiten. Das bedeutet u.a. die Rückkehrmöglichkeit für alle am Krieg beteiligten Kurdinnen und Kurden, ohne dass sie durch den Staat Türkei verfolgt würden. Zu diesem Zeitpunkt löst sich die PKK und ihre Guerilla-Truppe endgültig auf. Die Amnestie schließt auch den Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, ein. Die Bildung einer oder mehrerer politischer Parteien, die die Interessen der kurdischen Bevölkerung vertreten, ist möglich, ohne dass sie als Nachfolgeorganisation der PKK verfolgt werden.
  • Stufe 4: Für die Ost- und Südost-Türkei mit den kurdischen Siedlungsgebieten wird ein umfassendes Entwicklungsprogramm aufgelegt. Die EU und die EU-Staaten werden aufgerufen, sich an diesem Programm zu beteiligen. In diesem Zusammenhang wird eine kurdische Institution gegründet, die sich für die Wiederentfaltung der kurdischen Kultur einsetzt. Der Unterricht in kurdischer Sprache wird allgemein eingeführt.
  • Stufe 5: Nach einer Wahlrechtsreform, die es den kurdischen Parteien ermöglicht, auch in der Großen Nationalversammlung vertreten zu sein, und nach Parlamentswahlen beruft der Präsident eine Verfassungskommission. Sie soll die bestehende Verfassung in Hinblick auf das gleichberechtigte Zusammenleben der Völker in der Türkei überprüfen und Vorschläge für eine Stärkung der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung ausarbeiten. Diese werden dem Parlament zur Beschlussfassung vorgelegt.

Zivile Handlungsoptionen für die USA

1. Um eine Ausweitung des Konflikts zu verhindern, bestehen die USA gegenüber der Türkei konsequent auf einem Interventionsverbot in Irakisch-Kurdistan.

2. Gleichzeitig drängen die USA auf eine politische Lösung des Konflikts und die türkische Generalität dazu, sich auf eine Amnestie für die Guerilla einzulassen.

3. Die USA setzen sich gemeinsam mit den EU-NATO-Staaten in diesem Sinne dafür ein, die Einstufung der kurdischen Guerilla als »terroristisch« fallen zu lassen.

4. Die USA beteiligen sich an einem Entwicklungsprogramm für den Osten und Südosten der Türkei.

Zivile Handlungsoptionen für die EU

1. Die EU führt mit der Türkei Beitrittsverhandlungen. Da die Menschenrechtsprobleme in der Türkei nicht gelöst werden können, ohne die kurdische Frage friedlich zu lösen, legt die EU bei ihren Verhandlungen stärkeres Gewicht auf eine friedliche Lösung des Konflikts.

2. Der Rat der EU ruft die Türkei und die kurdische Seite auf, den Konflikt friedlich beizulegen und dazu einen Gewaltverzicht zu vereinbaren. Falls erforderlich, ergreift das Europäische Parlament eine Initiative in diesem Sinne.

3. Da die kurdische Guerilla zum 1.10.2006 erneut einen einseitigen Waffenstillstand ausgerufen hat, beschließt der zuständige EU-Ministerrat, ihre Einstufung als »terroristisch« aufzuheben.

Zivile Handlungsoptionen für Deutschland und andere EU-Staaten

1. Die Bundesregierung setzt ihre im November »98 verkündete Absicht um, eine Initiative zur Förderung einer politischen Lösung in der Kurdenfrage zu ergreifen. Sie nutzt ihre EU-Präsidentschaft, um einen Prozess der Vermittlung mit langem Atem einzuleiten und voranzutreiben.

2. Gleichstellung der Kurden: Die zur Zeit in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden kommen überwiegend aus der Türkei. Sie sind zum Teil seit 30 Jahren bei uns und haben wie andere Immigrantengruppen einen großen Beitrag zur Entwicklung unseres Landes geleistet. Trotzdem sind sie immer noch nicht den anderen Immigrantengruppen gleichgestellt, sondern werden vornehmlich als Türken behandelt. Mit der Anerkennung der Kurden als eigenständiger Bevölkerungsgruppe und der Umsetzung der sich daraus ergebenden Rechte – muttersprachlicher Unterricht, Rundfunk- und Fernsehsendungen in kurdischer Sprache, freie Namensgebung für kurdische Kinder und Einrichtung von Beratungs- und Betreuungszentren für KurdInnen usw. – würde manche Benachteiligung der Kurdinnen und Kurden in Deutschland aufgehoben. Im Grunde muss nur der Bundestagsbeschluss vom 7. November 1991 (BT-Drucksache 12/ 1362) in die Tat umgesetzt werden. In ihm heißt es. „In der Bundesrepublik lebt eine große Gruppe von Kurden. Auch ihnen muss die Möglichkeit zur Bewahrung und Entfaltung ihrer kulturellen Identität gegeben werden.“

3. Kurdinnen und Kurden, die in Deutschland Asyl erhalten oder beantragt haben und sich in kurdischen Organisationen betätigt haben, werden unter keinen Umständen in die Türkei zurück geschickt, ehe dort nicht eine generelle Amnestie für solche Personen ausgesprochen wurde. In diesem Zusammenhang ist die Forderung nach einer Amnestie gegenüber der Türkei zu vertreten.

4. Bundestag und Bundesregierung setzen sich dafür ein, dass in der EU die Einstufung der PKK als »terroristisch« aufgehoben wird, zumal die kurdische Guerilla erneut am 1.10.2006 einen unbefristeten, einseitigen Waffenstillstand ausgerufen hat. Die Aufhebung dieser Einstufung erleichtert es, in Deutschland und den EU-Staaten über das kurdische Anliegen und über Schritte für eine friedliche, zivile Lösung einen offenen Dialog zu führen. Das ändert nichts daran, dass Straftaten nach dem deutschen Strafgesetz geahndet werden.

5. Organisierung von »Hearings zur Türkei-Kurden-Frage«, bei denen alle wichtigen Akteure angehört werden. Diese Hearings könnten in Deutschland von der Regierung oder einem speziellen Gremium organisiert und dokumentiert werden, so dass sie für jeden zugänglich werden. Die Botschaft nach außen hieße, wir beginnen uns mit dieser Frage zu beschäftigen.

6. Die Bundesregierung schlägt der EU-Kommission vor, im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eine Monitoring-Gruppe zu bilden, die alle relevanten Informationen zu dem Konflikt sammelt und jährlich einen Bericht mit Empfehlungen für die weitere zivile Bearbeitung des Konflikts herausgibt. Dieser wird auch im Europäischen Parlament erörtert.

7. Friedensforschungsinstitute werden gebeten, den Konflikt in seinen Dimensionen zu analysieren und Strategien ziviler Konfliktbearbeitung und Vorschläge für eine politische Lösung zu entwickeln.

8. Zur Etablierung und Ausweitung von »dezentralen Dialogen« wird eine europäische Dialog-Stiftung geschaffen, die von der EU finanziert wird. Die Bundesregierung und NRO setzen sich hierfür ein. Sie hat vor allem die Aufgabe, NRO und soziale und berufliche Gruppen der Zivilgesellschaft aus der Türkei und EU-Europa miteinander ins Gespräch zu bringen. Dies dient gleichzeitig der Stärkung der Zivilgesellschaft als Ansprechpartnerin zum Abbau von Konflikten und kann das Interesse und Engagement an diesem Problem innerhalb der EU ausweiten. Soll die Stiftung ihren Zweck erfüllen, so müssen alle Konfliktparteien ungehindert am Dialog teilhaben können. Dafür sind die erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen. Eine solche Stiftung kann später auch für die Dialog-Vermittlung in anderen Konflikten des Kontinents herangezogen werden und möglicherweise in Kooperation mit der OSZE ihre Schwerpunkte bestimmen.

9. Anregung und Förderung eines Programms der Städtepartnerschaften und -kooperationen zwischen deutschen bzw. EU-Städten und Städten in den kurdischen Regionen. Zusätzlich sollte das BMZ eine Zusammenarbeit mit Kommunen der Region weiter entfalten. Hierdurch würde sowohl die Anteilnahme Deutschlands bzw. der EU-Staaten, wie auch deren Hilfsbereitschaft signalisiert. Außerdem würde eine bessere Kenntnis des jeweiligen Selbstverständnisses und der Lebensumstände die Folge sein.

10. Es sind Konzepte zur Stärkung der Verständigungs-, Schlichtungs- und Friedensschaffensfunktion der OSZE auszuarbeiten und in die OSZE zur Diskussion und möglichen Beschlussfassung einzubringen. Friedensforschung und spezialisierte Institute können dafür herangezogen werden. Im Rahmen der OSZE sind nicht nur der gesamteuropäische Bereich sondern auch die USA und Kanada angesprochen. Am Beispiel des türkisch-kurdischen Konflikts könnte damit die Funktion eines solchen nicht-militärisch bestimmten Bündnisses zum Nutzen aller erkundet und ausgeweitet werden.

Handlungsoptionen für Soziale Bewegungen und NRO

1. Einladung türkischer und kurdischer Repräsentantinnen und Repräsentanten, die eine friedliche Lösung des Konflikts befürworten, nach Deutschland und in andere EU-Staaten zu Konferenzen und Gesprächen mit Multiplikatoren, Medien sowie Politikerinnen und Politikern.

2. Die Handlungsoptionen für eine friedliche Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts werden in der Öffentlichkeit bekannt gemacht, um dafür zivilgesellschaftliche Unterstützung zu erhalten. Es gilt also, Kirchen, Gewerkschaften, humanitäre Vereinigungen, Friedensforschung, politische Parteien und Medien anzusprechen, damit sie den Konflikt thematisieren und tätig werden.

3. Es ist eine entsprechende Lobby-Arbeit gegenüber dem Europäischen Parlament und der EU-Kommision in Brüssel erforderlich. Damit zu verbinden ist eine Internationalisierung des Themas innerhalb der EU durch die Hinzuziehung von Organisationen und Institutionen der Zivilgesellschaft in den EU-Staaten.

4. Unterstützung der Bildung einer kulturellen, friedenspolitisch orientierten kurdischen Repräsentation in Deutschland bzw. EU-Europa, die zur Ansprech- und Dialogpartnerin für Politik, Friedensforschung und Kultur werden kann.

5. Auf- und Ausbau eines türkisch-kurdischen Dialogs in Deutschland mit dem Ziel, eine gemeinsame friedenspolitische Position zu erarbeiten.

6. Ein friedenspolitisches Symposium mit TeilnehmerInnen aus der Türkei, aus Deutschland und anderen EU-Ländern, das in der Türkei abgehalten wird. Hierbei sollen ethnische Konflikte in Staaten untersucht und Erfahrungen aus Strategien der Versöhnung gewonnen werden. Aus dem Symposium könnten sich weitere Aufträge für Untersuchungen und Projekte ergeben.

Road Map für eine friedliche, zivile Lösung

In diesem Fahrplan werden die oben angesprochenen Handlungsoptionen der verschiedenen Akteure in eine zeitliche Abfolge gebracht, so dass eine Strategie der zivilen Konfliktbearbeitung erkennbar wird. Freilich dient dies nur der Orientierung, zumal einzelne Schritte sich überschneiden und/oder unterschiedlich viel Zeit in Anspruch nehmen werden. Unerwartete Ereignisse werden Anlass geben, die hier vorgeschlagene Abfolge zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern und zu erweitern. Die oben dargelegten Handlungsoptionen werden im Folgenden nur verkürzt angesprochen.

1. Türkische und kurdische Intellektuelle, SchriftstellerInnen, KünstlerInnen u.a. treten in der Türkei für eine Politik der Aussöhnung und des Gewaltverzichts ein. Dabei streben sie auch die Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen und Nicht-Regierungsorganisationen (NRO) in der EU an.

2. NRO laden türkische und kurdische Repräsentantinnen und Repräsentanten, die eine friedliche Lösung des Konflikts befürworten, nach Deutschland und in andere EU-Staaten für Konferenzen und zu Gesprächen mit Multiplikatoren, Medien sowie PolitikerInnen und Politker ein.

3. Die Handlungsoptionen für eine friedliche Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts werden in der Öffentlichkeit der EU-Staaten bekannt gemacht, um dafür Unterstützung zu erhalten. Kirchen, Gewerkschaften, humanitäre Vereinigungen, Friedensforschung, politische Parteien und die Medien werden angesprochen, damit sie den Konflikt thematisieren und tätig werden. Gegenüber dem Europäischen Parlament und der EU-Kommission in Brüssel wird eine entsprechende Lobby-Arbeit begonnen.

4. Eine parteipolitisch unabhängige, kulturelle, friedenspolitisch orientierte kurdische Repräsentation wird in Deutschland und anderen europäischen Ländern gefördert, die zur Ansprech- und Dialogpartnerin für Politik, Friedensforschung und Kultur werden kann.

5. Die kurdischen Organisationen, die bisher den bewaffneten Kampf geführt oder unterstützt hatten, erklären ihre grundsätzliche Bereitschaft zum Gewaltverzicht. Soziale Bewegungen und NRO starten eine Kampagne für die Aufhebung des Terrorismus-Verdikts gegen diese Organisationen.

6. Bundestag und Bundesregierung setzen sich dafür ein, dass in der EU die Einstufung der PKK und anderer kurdischer Organisationen als »terroristisch« ausgesetzt wird, solange die kurdische Guerilla an ihrem unbefristeten, einseitigen Waffenstillstand festhält, und begründen dies friedenspolitisch. Der EU-Ministerrat wendet sich an die USA und an alle weiteren NATO-Staaten, die Einstufung der kurdischen Guerilla als »terroristisch« aufzugeben.

7. In Deutschland werden von der Regierung oder einem speziellen Gremium »Hearings zur Türkei-Kurden-Frage« organisiert, bei denen alle wichtigen Akteure angehört werden können. Ihre Positionen werden dokumentiert, so dass sie jederman zugänglich sind.

8. Die EU legt bei ihren Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stärkeren Nachdruck als bisher auf die Lösung der Kurdenfrage, ohne die die Menschenrechtsprobleme in der Türkei nicht gelöst werden können.

9. Der Rat der EU ruft die Türkei und die kurdische Seite auf, den Konflikt friedlich beizulegen und dazu einen Gewaltverzicht auszurufen. Falls erforderlich ergreift das Europäische Parlament eine Initiative in diesem Sinne.

10. Um eine Ausweitung des türkisch-kurdischen Konflikts zu vermeiden, wenden sich die USA weiterhin gegen jegliche militärische Intervention der Türkei in Irakisch-Kurdistan.

11. Die Regierung in Ankara spricht offiziell den Wunsch nach Aussöhnung aus, und verbindet damit die Absicht, einen innergesellschaftlichen Dialog im Rahmen des türkischen Staates anzuregen.

12. Die kurdische Seite arbeitet einen Vorschlag für ein Stufenprogramm der Vertrauensbildung und Aussöhnung aus. Er enthält eine zeitliche Schrittabfolge parallel zum Rückzug und zur Entwaffnung der Guerilla, z.B.:

  • Stufe 1: Ausweitung der kurdischen Medienprogramme und Liberalisierung des Unterrichts in kurdischer Sprache. Ausbildung von LehrerInnen für den Kurdisch-Unterricht.
  • Stufe 2: Erleichterung der Rückkehr kurdischer Flüchtlinge in ihre Dörfer und Städte und Unterstützung bei der Wiederherstellung ihrer Lebensgrundlagen. Aufnahme von Gesprächen zwischen den gewählten BürgermeisterInnen und einem von der Regierung beauftragten Bevollmächtigten über Probleme und Wünsche der Bevölkerung in den kurdischen Siedlungsgebieten. Einsetzung einer paritätischen Kommission von Regierungsseite und der Seite der BürgermeisterInnen zur Untersuchung und Regelung der Dorfschützer-Problematik.
  • Stufe 3: Amnestie für die politischen Gefangenen und für die Beteiligten an den vorgängigen militärischen Konflikten auf beiden Seiten. Sie eröffnet u.a. die Rückkehrmöglichkeit und freie politische Betätigung für alle am Krieg beteiligten Kurdinnen und Kurden, ohne dass sie durch den Staat der Türkei verfolgt werden. Zu diesem Zeitpunkt löst sich die PKK/Kongragel und ihre Guerilla-Truppe endgültig auf. Die Amnestie schließt auch den Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, ein. Die Bildung einer oder mehrerer politischer Parteien, die auch die Interessen der kurdischen Bevölkerung vertreten, ist möglich, ohne dass sie als Nachfolgeorganisation der PKK verfolgt werden.
  • Stufe 4: Für die Ost- und Südost-Türkei mit den kurdischen Siedlungsgebieten wird ein umfassendes Entwicklungsprogramm aufgelegt. Die EU und die EU-Staaten bieten an, sich an diesem Programm zu beteiligen. In diesem Zusammenhang wird eine kurdische Institution gegründet, die sich für die Wiederentfaltung der kurdischen Kultur einsetzt. Der Unterricht in kurdischer Sprache wird für kurdische Kinder eingeführt.
  • Stufe 5: Nach einer Wahlrechtsreform, die es den kurdischen Parteien ermöglicht, auch in der Großen Nationalversammlung vertreten zu sein, und nach Parlamentswahlen beruft der Präsident eine Verfassungskommission. Sie soll die heutige Verfassung in Hinblick auf das gleichberechtigte Zusammenleben der Völker in der Türkei überprüfen und Vorschläge für eine Stärkung der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung ausarbeiten.

13. Die deutsche Bundesregierung setzt ihre im November '98 verkündete Initiative zur Förderung einer politischen Lösung in der Kurdenfrage um.

  • Gleichstellung der Kurden: Mit der Anerkennung der Kurden als eigenständiger Bevölkerungsgruppe und der Umsetzung der sich daraus ergebenden Rechte – muttersprachlicher Unterricht, Rundfunk- und Fernsehsendungen in kurdischer Sprache, freie Namensgebung für kurdische Kinder und Einrichtung von Beratungs- und Betreuungszentren für Kurdinnen und Kurden usw. – würde die Benachteiligung der kurdischen Minderheit in Deutschland aufgehoben. Der Bundestagsbeschluss vom 7. November 1991 (BT-Drucksache 12/1362) wird mit Hilfe der Länder in die Tat umgesetzt. In ihm heißt es: »In der Bundesrepublik lebt eine große Gruppe von Kurden. Auch ihnen muss die Möglichkeit zur Bewahrung und Entfaltung ihrer kulturellen Identität gegeben werden.«
  • Kurdinnen und Kurden, die in Deutschland Asyl erhalten oder beantragt haben und sich in kurdischen Organisationen betätigt haben, dürfen unter keinen Umständen in die Türkei zurück geschickt werden, ehe dort nicht eine generelle Amnestie für solche Personen ausgesprochen wurde. In diesem Zusammenhang ist die Forderung nach einer Amnestie gegenüber der Türkei zu vertreten.
  • Friedensforschungsinstitute werden gebeten, den Konflikt in seinen Dimensionen zu analysieren und daraus Strategien ziviler Konfliktbearbeitung und Vorschläge für eine politische Lösung zu entwickeln.
  • Die Bundesregierung schlägt der EU-Kommission vor, im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eine Monitoring-Gruppe zu bilden, die alle relevanten Informationen zu dem Konflikt sammelt und jährlich einen Bericht mit Empfehlungen für die weitere zivile Bearbeitung des Konflikts herausgibt.

14. Die USA drängen auf eine politische Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts, um die Stabilität in Irakisch-Kurdistan zu sichern. Deshalb ersuchen sie die türkische Generalität, sich auf eine Amnestie für die Guerilla einzulassen.

15. Um dem Wunsch nach Aussöhnung Glaubwürdigkeit zu verleihen, beschließt Ankara eine Amnestie für alle aus politischen Gründen Verurteilten und für alle, die an den Kämpfen teilgenommen haben. Damit können diejenigen, die sich heute im Exil befinden, in ihre Heimat zurückkehren und sich dort für ihre Ziele mit demokratisch-politischen Mitteln einsetzen.

16. NRO in Deutschland bemühen sich, hiesige türkische und kurdische Verbände anzusprechen, und versuchen, mit ihnen einen türkisch-kurdischen Dialog in Deutschland in Gang zu setzen. Das Ziel ist, eine gemeinsame friedenspolitische Position zu erarbeiten.

17. Rückzug der Guerilla aus der Türkei und freiwillige Entwaffnung unter internationaler Kontrolle. Auf Drohungen jedweder Art wird verzichtet.

18. In einem innergesellschaftlichen Dialog in der Türkei beginnt man auch darüber zu sprechen, in welcher Weise die multi-ethnische Dimension der Gesellschaft in der türkischen Verfassung zum Ausdruck gebracht werden sollte. Einen Anknüpfungspunkt bietet die Position von Kemal Atatürk, der in der frühen Phase des Kampfes zur Bildung des Nationalstaates Türkei die Kurden als Brudervolk bezeichnet und versprochen hatte, es gleichberechtigt an dem neuen Staat teilhaben zu lassen.

19. Zur Etablierung und Ausweitung von gesellschaftlichen Dialogen wird eine europäische Dialog-Stiftung geschaffen, die von der EU finanziert wird. Sie hat vor allem die Aufgabe, NRO und soziale und berufliche Gruppen der Zivilgesellschaft aus der Türkei und EU-Europa miteinander ins Gespräch zu bringen, die Zivilgesellschaft als Ansprechpartnerin zum Abbau von Konflikten zu stärken und das Interesse an der Lösung dieses Problems innerhalb der EU auszuweiten.

20. In der Türkei wird eine Reihe friedenspolitischer Symposien mit TeilnehmerInnen aus der Türkei, aus Deutschland und eventuell aus anderen EU-Ländern in Zusammenarbeit mit der Friedensforschung organisiert. In Vorträgen und Arbeitsgruppen werden ethnopolitische Konflikte in verschiedenen Staaten untersucht und Erfahrungen mit Versöhnungsstrategien ausgewertet.

21. Wie bei den Erdbebenkatastrophen Menschen und Organisationen aus der ganzen Türkei – und aus dem Ausland – geholfen und damit das Gefühl der Zusammengehörigkeit gestärkt haben, wird solidarische Hilfe für die Flüchtlinge aus den kurdischen Siedlungsgebieten, die in ihre Heimatorte zurückkehren wollen, aus der Türkei und Europa geleistet. Soziale Bewegungen und NRO mobilisieren hierfür.

22. Im Sinne von Aussöhnungspolitik erhalten die so genannten Dorfschützer eine gleichwertige Perspektive wie die zurückkehrenden Flüchtlinge. Lokale Dialoge unter Anleitung geschulter Konfliktschlichter werden eingeleitet. Dafür werden in der Türkei lokale Konfliktschlichter ausgebildet.

23. Die Entwicklung im Osten und Südosten der Türkei ist bislang vernachlässigt worden. Um den Menschen in diesen Gebieten Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten zu schaffen, ist eine große Anstrengung des Aufbaus – nach Möglichkeit international unterstützt – notwendig. USA und EU erklären ihre Bereitschaft, ein Entwicklungsprogramm für die Region finanziell zu unterstützen. Zusätzlich sollte das BMZ seine Zusammenarbeit mit Kommunen der Region weiter entfalten. Durch Städtepartnerschaften und -kooperationen mit deutschen bzw. EU-Städten kann eine weitere Förderung der Region erreicht werden.

24. Konzepte zur Stärkung der Verständigungs-, Schlichtungs- und Friedensschaffensfunktion der OSZE werden ausgearbeitet und in die OSZE zur Diskussion und möglichen Beschlussfassung eingebracht. Friedensforschung und spezialisierte Institute sollten dafür herangezogen werden.

Der hier ansatzweise formulierte Fahrplan für die Überwindung des türkisch-kurdischen Konflikts

  • kann die Türkei und ihre Bürgerinnen und Bürger von der schon so lange währenden schweren Last des gewaltsamen Konfliktaustrags befreien und dazu beitragen, dass der unabdingbare Friedensdialog über die »Kurdenfrage« beginnt;
  • eröffnet eine konkrete und konstruktive Perspektive für die kurdische Bevölkerung und die kurdischen Organisationen in der Türkei und in Europa;
  • erweitert die Erfahrungen und institutionellen Instrumente Europas und der Türkei für eine Politik der zivilen Konfliktbearbeitung.

Das Monitoring Projekt

Die »Kooperation für den Frieden«, eine Dachorganisation der Friedensbewegung, hat im März 2006 ein Monitoring-Projekt für Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention gestartet. Dieses Projekt soll der Öffentlichkeit die Möglichkeiten eines zivilen Umgangs mit Konflikten nahe bringen und den Befürwortern der angeblich alternativlosen Aufrüstungs- und Interventionspolitik entgegentreten. In Dossiers und Analysen sollen Vorschläge zum Umgang mit drängenden gewaltträchtigen Auseinandersetzungen erarbeitet werden. Ein erstes Dossier befasst sich mit dem »Atomkonflikt Iran«, das vorliegende enthält Vorschäge zur Bearbeitung des türkischen-kurdischen Konflikts, es folgt die Befassung mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt.

Nähere Informationen: Kooperation für den Frieden, c/o Netzwerk Friedenskooperative, Römerstr. 88, 53111 Bonn, Tel.: 0228-692904, Fax: 0228-692906, E-Mail: friekoop@bonn.comlink.org

Kooperation für den Frieden

ist ein Zusammenschluss friedenspolitisch aktiver Organisationen und Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland.

Die Kooperation für den Frieden

  • organisiert Diskussions- und Beratungsprozesse innerhalb der Friedensbewegung
  • fördert den Austausch von Informationen und Einschätzungen zwischen Organisationen und Gruppen
  • unterstützt oder initiiert Veranstaltungen und Kampagnen
  • veröffentlicht die aus diesen Prozessen hervorgegangenen Positionen
  • verbreitet Aktionsvorschläge für die Friedensarbeit
  • ermöglicht persönliche Kontakte zwischen Aktiven, z.B. bei der Mitarbeit im Kooperationsrat oder bei den jährlichen Konferenzen.

In der Kooperation für den Frieden wirken mit:

Aachener Friedenspreis; Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF); Aktionsgemeinschaft Friedenswoche Minden; Antikriegsbündnis »Menschen für den Frieden Düsseldorf«; Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion KURVE Wustrow; Bremer Aktion für Kinder (BAKI); Bund demokratischer WissenschaftlerInnen (BdWi); Bund für Soziale Verteidigung (BSV); Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU); Christen für gerechte Wirtschaftsordnung (CGW); Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG/VK); EUCOMmunity; Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung von Kriegsdienstverweigerern (EAK); Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland / Friedensausschüsse; Frauen in Schwarz Hamburg; Frauennetzwerk für Frieden e.V.; Forum Ziviler Friedensdienst (forumZFD); Friedensforum Münster; Friedensinititiative Nottuln e.V.; Friedensgruppe Altenholz; Friedensrat Müllheim; Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Hauptvorstand; Internationale JuristInnen gegen ABC-Waffen (IALANA); Infostelle für Friedensarbeit; Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW); Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF); Internationaler Versöhnungsbund – deutsche Sektion; Komitee für Grundrechte und Demokratie; Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung in der Region Ingolstadt; Leserinitiative Publik e.V.; Publik-Forum Verlagsgesellschaft mbH; Lebenshaus Schwäbische Alb – Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.; Mönchengladbacher Friedensforum; NaturwissenschaftlerInnen-Initiative »Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit«; Netzwerk Friedenskooperative; Netzwerk Friedenssteuer; Ökumenisches Friedensnetz Düsseldorfer Christinnen und Christen; Ökumenisches Zentrum für Umwelt-, Friedens- und Eine-Welt-Arbeit, Berlin; Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF); Pax Christi – Deutsche Sektion; Rhöner Friedenswerkstatt im UNESCO-Biosphärenreservat, Künzell; Ver.di-Jugend; Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden.

(www.koop-frieden.de)

Literatur

Al-Dahoodi, Zuhdi: Die Kurden: Geschichte, Kultur und Überlebenskampf, Frankfurt am Main 1987.

Ammann, Birgit: Kurden in Europa: Ethnizität und Diaspora, Münster 2000.

Besikci, Ismail: Kurdistan – Internationale Kolonie, Frankfurt am Main 1991.

Bruinessen, Martin van: Agha, Scheich und Staat: Politik und Gesellschaft Kurdistans, Berlin 1989.

Buro, Andreas: BürgerInnen-Information: Das Monitoring-Projekt – Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt und Kriegsprävention, Hg.: Kooperation für den Frieden, Bonn 2006.

Dialog-Kreis (Hg.): Parlamentarier der Türkei durchbrechen Tabu in der Kurdenfrage, Idstein 1998.

Dialog-Kreis (Hg.): Wirtschaft contra Militär in der Türkei. Aus dem TÜSIAD-Bericht »Perspektiven der Demokratisierung in der Türkei«, Idstein 1997.

Dietert-Scheuer, Amke: Möglichkeiten der Konfliktlösung in der Türkischen Republik, Hamburg 1999.

Dialog-Kreis (Hg.): Zur Lage und zu den Erwartungen der kurdischen Vertriebenen. Eine Studie von Göc-Der, Köln 2002.

Günther, Siegwart-Horst; Brentjes, Burchard: Die Kurden. Ein Abriss zur Geschichte und Erfahrungsberichte zur aktuellen humanitären Situation, Wien 2001.

IPPNW (Hg.): Deutschland und NATO im Türkei-Kurdistan-Krieg, Berlin 1999.

Kizilhan, Ilhan: Der Sturz nach oben. Kurden in Deutschland, Frankfurt am Main 1995.

Kieser, Hans-Lukas: Der verpasste Friede: Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839-1938, Zürich 2000.

Steinbach, Udo: Geschichte der Türkei, München 2000.

Strohmeier, Martin; Yalçin-Heckmann, Lale: Die Kurden: Geschichte, Politik, Kultur, München 2000.

Sahin, Mehmet: Die Europäische Union, die Türkei und die Kurden, Köln 2001.

Sahin, Mehmet; Kaufeld, Ralf: Daten und Fakten zu Kurden und Kurdistan, Eine Chronologie, Köln 2002.

Uzun, Mehmed: Einführung in die kurdische Literatur, St. Gallen 1994.

Welt-Geschichte, Bd. 3 und 5, Göttingen 1996 (Bertelsmann Lexikon Verlag).

Aktuelle Informationen bei:

Azadi, azadi@t-online.de; www.nadir.org/azadi/

DTF Infopost – Informationen des Demokratischen Türkeiforums, info@tuerkeiforum.net, www.tuerkeiforum.net

ISKU / Informationsstelle Kurdistan e.V., isku@nadir.org; www.nadir.org/isku/

Kurdistan Report, www.kurdistanreport.de

Kurdistan Rundbrief, www.kurdistan-rundbrief.de

Koalition für einen Demokratischen Irak (KDI), kdi@gmx.net

Mezopotamian Development Society, MESOP@online.de

NAVEND – Zentrum für kurdische Studien e.V., info@navend.de, www.navend.de

Nützliche Nachrichten – Dialog-Kreis: »Die Zeit ist reif für eine politische Lösung im Konflikt zwischen Türken und Kurden, dialogkreis@t-online.de, www.dialogkreis.de

Kurdisches PEN-Zentrum, webmaster@pen-kurd.org, www.pen-kurd.org

Zentrum für Türkeistudien, www.zft-online.de

Anmerkungen

1) In der Türkei werden die Kurden rechtlich nicht als Minderheit betrachtet. Zur Zeit des Kampfes gegen die alliierten Siegermächte des Ersten Weltkrieges galten sie noch als »Brudervolk«. Sie sind deshalb in dem Abkommen von Lausanne 1922/23 in den Art. 38-45, in denen die Rechte der Minderheiten garantiert werden, nicht aufgeführt. Dies spielt bis zur Gegenwart in den Argumentationen der türkischen Regierung eine Rolle.

2) Diese kurze von Andreas Buro, Ralf Kaufeldt und Mehmet Sahin zusammengestellte Übersicht stützt sich vornehmlich auf: Celilé, Celil: Kurdische Märchen, Frankfurt/Main und Leipzig 1993; Chaliand, Gérard (Hg.): Kurdistan und die Kurden, Bd. 1, Göttingen 1984; Vanly, Ismet Cherif: Kurdistan und die Kurden, Bd. 2, Göttingen 1986; Sahin, Mehmet / Kaufeldt, Ralf: Daten und Fakten zu Kurden und Kurdistan. Eine Chronologie, Köln 2002

3) Deng Nr. 21, 22, 23. Zit. nach Sahin, Mehmet: Türkei: Ausweg aus der Sackgasse – Zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage, Hg.: Dialogkreis, Köln 1997.

4) Vgl. Sahin, M. / Kaufeldt, R., a.a.O.

5) Während der Kämpfe in den 90er Jahren wurden von Ankara in den kurdischen Dörfern Einheimische angeworben und bewaffnet, um die Guerilla aus den Dörfern fernzuhalten. Viele Kurden sind damals geflohen, um diesen Dienst nicht leisten zu müssen.

Prof. Dr. Andreas Buro ist Mitbegründer des Dialogkreises »Türkei: Die Zeit ist reif für eine politische Lösung« und friedesnpolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie Der Autor bedankt sich für Vorschläge und Verbesserungen bei: Klaus F. Anders, Hanne-Margret Birckenbach, Volker Böge, Ursula Emmerich, Ulrich Frey, Matthias Jochheim, Wolfgang Jungheim, Nasrin Sadeghi und dem Seminar über das Monitoring Projekt in Gießen, Mehmet Sahin, Martin Singe und Herbert Wulf.

Der nordirische Friedensprozess – ein Modell?

Lehren für eine internationale Einhegung innergesellschaftlicher Konflikte

Der nordirische Friedensprozess – ein Modell?

von Corinna Hauswedell

Herausgegeben von Wissenschaft & Frieden in Zusammenarbeit mit dem Bonn International Center for Conversion (BICC)

Das Dossier beruht auf Forschungsergebnissen, die zwischen März 2000 und November 2003 am Bonn International Center for Conversion (BICC) im Rahmen eines Projektes zur Begleitung des nordirischen Friedensprozesses gewonnen wurden. Der Titel des Projektes lautete »International and Domestic Aspects of Governance in Post-Conflict Societies – A Case Study of the Northern Ireland Peace Process and the Role of Demilitarisation« und wurde durch die großzügige Förderung der Volkswagen-Stiftung ermöglicht.

Am 26. November 2003 waren die nordirischen Wählerinnen und Wähler mit sechs Monaten Verspätung zu den Urnen gerufen worden. Premierminister Tony Blair hatte im Mai diesen Jahres die zweiten Parlamentswahlen in Belfast seit dem »Good Friday Agreement« (1998) verschoben, weil er befürchtete, dass das Ergebnis die radikalen Parteien beider Seiten stärken und damit die ohnehin krisengeschüttelte Umsetzung des Friedensabkommens weiter erschweren könnte. Insofern galten die Wahlen als der bisher größte politische Test für die Validität des Abkommens. Die Intervention des britischen Premier, der im Herbst 2002 bereits die Suspendierung der von Vertretern aus beiden Lagern besetzten Belfaster Regierung und die Wiedereinsetzung der Direktregierung aus London vorangegangen war, hatte in Nordirland neben Verständnis auch viel Unmut über diesen weiteren Akt der Vertagung von Demokratie erzeugt.

Das Wahlergebnis (siehe Graphik) hat die Befürchtungen bestätigt; eine deutlich geringere Wahlbeteiligung (63,8 %) als vor fünf Jahren zeigt die wachsenden politischen Frustrationen größerer Wählerschichten. Stärkste Partei mit dem höchsten Stimmenzuwachs wurde die radikale unionistische DUP, Partei des protestantischen Reverend Ian Paisley, die von Anbeginn das Friedensabkommen und insbesondere die Regierungszusammenarbeit mit der katholisch-republikanischen Sinn Fein, die mit der IRA verbunden ist, torpediert hat. Die Sinn Fein ihrerseits, die als entschiedene Befürworterin des Abkommens auftritt, ist die zweitstärkste Partei geworden und hat nicht nur ihre katholische Schwesternpartei, die gemäßigte nationalistische SDLP, deutlich überholt, sondern auch die gemäßigte unionistische UUP des ehemaligen Regierungschef David Trimble. Das gewichtete Verhältniswahlrecht, das den nordirischen Lagermentalitäten Vorschub leistet, hat mit der offenkundigen Polarisierung auch zum Wegfall der Kandidatinnen und Kandidaten der meisten kleineren, jenseits der Konfliktlinien arbeitenden Parteien, wie beispielsweise der nordirischen Frauenkoalition (NIWC), geführt.

Schlechte Aussichten für die Bildung einer neuen Regierung in Belfast, wenn sich nicht die Hardliner beider Seiten einen Ruck geben oder die Führungen der Parteien, die einen Wählerauftrag zur Zusammenarbeit haben, diesen auch umsetzen. Die jetzt ohnehin anstehende gesetzliche Überprüfung des Abkommens könnte dazu genutzt werden, die Strukturen zu reformieren, die einer Demokratisierung im Wege stehen. Dies wird allerdings nicht vor allem ein technischer Vorgang sein können, sondern muss als politischer Impuls aus der Mitte der nordirischen Zivilgesellschaft kommen. Der Widerspruch zwischen einer Alltagsnormalität für die Mehrheit der Nordiren, die den Konflikt lange hinter sich gelassen haben, und dem gleichzeitigen Verharren in sektiererischem Politikverhalten muss thematisiert und aufgebrochen werden.

Dazu gehört eine Bilanz derjenigen äußeren und inneren Faktoren, die den nordirischen Friedensprozess, der international trotz aller Hemmnisse als Vorbild gilt, vorangebracht bzw. gestört haben.

Einmischung hat Konjunktur

Internationale Aufmerksamkeit für die Regulierung bzw. Beilegung von regionalen oder lokalen Gewaltkonflikten entsteht im jeweils spezifischen historischen Kontext. Sie unterliegt Konjunkturen, die sowohl vom Zustand der internationalen Ordnung, insbesondere den Interessenkonstellationen der mächtigeren Staaten, als auch vom Verlauf des jeweiligen Konflikts und seiner Positionierung im internationalen Kontext abhängen. Während in der Zeit des »Kalten Krieges« unter dem Diktum der atomaren Abschreckung staatliche Souveränität und das Gebot der Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten hochgehalten (wenn auch nicht immer eingehalten) wurde, eröffnete das Ende der bipolaren Ost-West-Konfrontation zunächst Perspektiven für politische Konzepte der Steuerung globaler Strukturen (»global governance«). Die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts sahen eine neue Konjunktur weltweiter Bemühungen zur Konfliktregulierung. Interventionen Dritter in friedensstiftender Absicht, seitens der Vereinten Nationen und einzelner Staaten, Staatenbündnisse oder nichtsstaatlicher Akteure, reichten von Initiativen der Vermittlung und Diplomatie bis zum militärischen Eingreifen. Sie richteten sich vorwiegend auf innergesellschaftliche Gewaltkonflikte unterschiedlicher Genese und Geschichte. In etwa vierzig Fällen wurden zwischen 1988 und 1998 Friedensabkommen abgeschlossen. Für die Beurteilung der Erfolge dieser Friedensprozesse spielt die Frage, welche Möglichkeiten bzw. Grenzen für die Einmischung externer Akteure jeweils bestehen, eine wichtige Rolle.

Das Anwachsen des transnationalen Terrorismus seit dem 11.September 2001 und in der Folge der Angriffskrieg gegen den Irak könnten eine weitere Phase des internationalen Eingreifens begründen; im Zuge dessen wird es unausweichlich werden, die Rolle der mächtigen Staaten, insbesondere der Supermacht USA hinsichtlich der Auswirkungen wohlwollender bzw. imperialer Hegemonie, zu überprüfen, sowie die Paradigmen und Muster multilateraler bzw. unilateraler Konfliktbearbeitung in den internationalen und innergesellschaftlichen Beziehungen politisch und (völker)rechtlich neu zu justieren. Die Frage, wie »good governance« in Nachkriegsgesellschaften zu bewerkstelligen ist, wird in den kommenden Jahren zu den zentralen Aufgaben einer internationalen Friedens-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik zählen.

Im Vorfeld der Wahlen zum nordirischen Regionalparlament am 26. November 2003 eröffnete der Nordirlandbeauftragte der US-Regierung Richard Haass, der kürzlich zum Präsidenten des einflussreichen Council on Foreign Relations gewählt worden war, eine optimistische Perspektive für den Konflikt: Der Tag werde kommen, an dem Nordirland sogar zu einem „Modell für Konfliktlösungen in anderen Teilen der Welt wie zum Beispiel im Nahen Osten oder in Kaschmir“ werden könne (Irish News, 18.11. 2003).

Was macht Nordirland in der aktuellen internationalen Konstellation besonders interessant?

Externe Einflüsse in Nordirland

Der Nordirlandkonflikt, der sich zwischen 1968 und 1998 zu einem beschönigend als »Troubles« bezeichneten Bürgerkrieg auswuchs, in dem mehr als 3.600 Menschen ihr Leben verloren und mehr als 40.000 verletzt wurden, hat wie andere ethno-politische Konflikte auch Phasen unterschiedlicher internationaler Aufmerksamkeit und Einmischung von außen erlebt. Er ist zuweilen auch in singulärer Weise als transformationsresistent und atavistischen Mustern verhaftet betrachtet worden. Die Vereinten Nationen kamen trotz mehrfacher Initiativen in den 60er und 70er Jahren, die sich u.a. auf die eklatanten Menschenrechtsverstöße in der britischen Provinz bezogen, als Vermittler nicht in Frage, weil das Konfliktgeschehen als innere Angelegenheit Großbritanniens betrachtet wurde.

Großbritannien und die Republik Irland

Mit Großbritannien und der Republik Irland erklärten sich, in einer Mischung aus Wächterfunktion und Vormundschaft, zwei souveräne Staaten zu »guardians« (Mac Ginty/Darby, 2002) für das politische Schicksal der Provinz, die beide auch Partei im Hinblick auf die Konfliktgeschichte waren. Die spezifische Rolle der beiden Staaten für den in den neunziger Jahren begonnenen Friedensprozess erklärt sich aus der Tatsache, dass beide in unterschiedlicher Weise historische Verantwortung für die fehlgeschlagene Nations- bzw. Staatsbildung tragen, die schließlich zur Eskalation der »Troubles« führte (McGarry, 2001; Hauswedell, 2002). Dies begründete einerseits besondere Chancen, determinierte andererseits aber auch Grenzen einer für die Vermittlung bedeutsamen Neutralität. Die beiden lokalen nordirischen Konfliktparteien, die vorwiegend protestantischen, auf den Verbleib im Vereinigten Königreich orientierten Unionisten und die vorwiegend katholischen, die Vereinigung mit Irland anstrebenden Nationalisten, sahen den »guardian« der jeweils der anderen Seite gern als externen oder sogar feindlichen Akteur, den eigenen hingegen als Verbündeten ihrer politischen Ziele an. Diese unilaterale Zuordnung ließ weder im Inneren der gespaltenen nordirischen Gesellschaft noch von außen viele Spielräume für überparteiliche Initiativen. Die beiden ersten Versuche, eine Art von »co-governance« der beiden Staaten zu etablieren und dies mit einem Konzept gleichberechtigter Regierungsverantwortung (power-sharing) der nordirischen Parteien in Belfast zu verbinden, scheiterten: Weder das Sunningdale Agreement von 1973, noch der völkerrechtliche Vertrag des Anglo-Irish-Agreement im Jahre 1985 konnten die Grenzen, welche Parteilichkeit und »sectarianism« innerhalb von Nordirland und die auch unter den beiden Staaten umstrittenen Souveränitätsansprüche aufgerichtet hatten, außer Kraft setzen; das Modell einer »joint authority«, eines gemeinsam verantworteten, rechtlich legitimierten Steuerungsmechanismus der beiden Staaten kam nicht zustande (McGarry/O'Leary, 1996; Schneckener, 2002).

Eine schrittweise Internationalisierung des Konflikts begann am Ende der 80er Jahre. Sie verlief parallel zu einer wachsenden Konfliktmüdigkeit und traf auf das Interesse in der nordirischen Zivilgesellschaft, wirksame Wege aus dem Gewaltkreislauf, z.B. auf dem Wege der so genannten »track-two«-Diplomatie, auszuloten (Fitzduff, 2002). Internationalisierung beschreibt hier demzufolge ein Zusammenwirken verschiedener direkter und indirekter Faktoren, staatlicher und gesellschaftlicher exogener Einflüsse auf den Nordirlandkonflikt.

Die USA und der Clinton-Effekt

Den USA, deren Hände und Köpfe weniger durch die Blockkonfrontation des »Kalten Krieges« gebunden waren und die sich unter der Administration von Präsident Bush senior anschickten, eine »Pax Americana« zu installieren, fiel eine einflussreiche Rolle unter den externen Akteuren zu, die sich den aufbrechenden ethno-politisch geprägten Konflikten zuwandten. Nordirland erhielt im Vergleich zu einigen anderen europäischen Konfliktherden mit einer ähnlichen ethno-nationalen Struktur (Zypern, Baskenland, Korsika) eine relativ große Beachtung; im Vergleich zu den Konflikten im zerfallenden Jugoslawien und auf dem Balkan hingegen war das Engagement eher als gering zu bezeichnen und hatte mehr die Form von Beratung und Vermittlung als von massiver Intervention.

Das relativ große Interesse der USA an Nordirland, das für die 1993 beginnenden Friedensgespräche prägend wurde, hatte verschiedene Gründe. Einer war eher auf der Ebene der US-Gesellschaft angesiedelt und betraf die große irisch-amerikanische Diaspora: Ca. 40 Millionen Amerikaner beanspruchen eine irische Herkunft und bilden bei aller Diversifizierung ihrer Interessen im politischen Alltag der USA einen relevanten politischen Faktor; US-Präsidenten mussten zu vielen Zeiten mit dieser potentiell mächtigen Wählergruppe rechnen. Traditionell existierten gute Beziehungen des ökonomischen Goliath zur Republik Irland. Eine starke zivilgesellschaftliche Lobby für ein aktives Eingreifen zugunsten einer Friedenslösung stand in den USA bereit. Im August 1999 nannten immerhin 69% der Amerikaner eine friedliche Lösung des Nordirlandkonfliktes als wichtiges oder sehr wichtiges Ziel der US-Außenpolitik. Ein anderer Grund lag in der Stärke der Irish Republican Army (IRA), die seit den 70er Jahren zu den international meistgefürchteten terroristischen Organisationen gerechnet wurde. Dies erforderte aus der Sicht der 1992 ins Amt gekommenen Administration Bill Clintons andere staatliche Strategien als sie bei der konservativen britischen Regierung der Eisernen Lady, Margret Thatcher, in den achtziger Jahre zu erkennen gewesen waren.

Das Ende der Nichteinmischung in innere britische Angelegenheiten war gekommen; Clinton wollte die USA gegenüber den beiden »guardians« positionieren und richtete eine eigene Sektion des National Security Council ein, die sich ausschließlich und in einer bisher nicht da gewesenen Weise mit der »irischen Frage« befasste. Clinton selbst reiste dreimal nach Nordirland – 1995, 1998 und 2000 – und etablierte im Weißen Haus eine Politik der offenen Tür für nordirische Politiker aller Parteien. Er verband sein außenpolitisches Credo einer alle Konfliktparteien einschließenden Friedenslösung mit einem starken Interesse an der Entwicklung ökonomischer Kooperation. Eine Friedensdividende sollte sich rechnen; zwischen 1993 bis 1998 investierten US-Firmen ca. 1, 9 Mrd. Dollar in Nordirland und sicherten damit etwa 10% der industriellen Arbeitsplätze (Mac Ginty, 2002). Das ökonomische Engagement der USA in der Republik Irland, von manchen Beobachtern als allzu aufdringliche Verheißung empfunden, ging darüber hinaus: Die US-Investitionen in der High-Tech-Branche, gepaart mit günstigen Steuerbedingungen und einer jungen gut ausgebildeten Elite ließen Irland 1999 zum zweitgrößten Exporteur von Computer Software in der Welt werden.

Signal an die IRA

Das politisch möglicherweise relevanteste Signal, das von dem neuen US-Engagement für die nordirischen Friedensgespräche ausging, war im Sommer 1994 die Bewilligung eines Visums für Gerry Adams, den Führer der Sinn Fein, der mit der IRA verbundenen Partei, kurz bevor die IRA ihren ersten Waffenstillstand erklärte. Ein zweiter Besuch wurde Adams 1995 gewährt, als die Frage der Entwaffnung der paramilitärischen Organisationen den Fortgang der Gespräche zu torpedieren drohte (Hauswedell, 2002a). Diesen (Dialog)Interventionen der Clinton-Administration wurde seitens der britischen Regierung unter John Major z.T. mit Verärgerung begegnet, bei den nordirischen Unionisten herrschte Skepsis, inwieweit ein auf politische Anerkennung und Identitätsstiftung zielender Impuls für die republikanische Seite sowie die größere Nähe zu Dublin als zu London nicht ein zu hoher Preis für den Frieden sei. 1997 verbesserte sich mit dem Wahlsieg von New Labour das Verhältnis zu London; Tony Blair und Bill Clinton lagen politisch und kulturell auf einer gemeinsamen Wellenlänge, und mit Mo Mowlam kam eine höchst unkonventionelle Politikerin aus dem Labour-Kabinett auf den Posten der Nordirlandministerin, deren politisches Credo es ebenfalls war, die radikalen Parteien beider Seiten ernst zu nehmen und sie in eine politische Lösung des Konfliktes einzubeziehen (Mowlam, 2002).

Vermittlung durch US-Senator Mitchell

Es hatte sich allerdings gezeigt, dass für die zahlreichen Sackgassen und Fallen, welche die Friedensgespräche bereit hielten, allein der heiße Draht zum Präsidenten nicht ausreichte, zuweilen sogar kontraproduktiv war. Die Entsendung von US-Senator George Mitchell, dem ehemaligen Führer der Demokraten im Senat, im Februar 1995 als Vermittler in den nordirischen Friedensgesprächen kann rückblickend als der wichtigste externe Beitrag der USA für den Friedensprozess gesehen werden (Mitchell, 1999). Mitchell repräsentierte einerseits den direkten Draht zum Oval Office, verfügte aber über ein ausreichend unabhängiges Profil, um als von allen Konfliktparteien höchst geschätzter Berater wirken zu können. Dies sollte auch weit über den Zeitpunkt der Verabschiedung des Belfaster Abkommens 1998 anhalten. In einer Umfrage von 1998 beurteilten immerhin 55% der nordirischen Protestanten die Rolle der USA als sehr oder ziemlich positiv, gegenüber 93% der Katholiken (MacGinty, 2002). Seit 1996 war Mitchell Vorsitzender der »International Commission on Decommissioning«, einem Gremium, in dem man sich auch unter Hinzuziehung weiterer externer Experten in einer von den anderen Themenfeldern des Abkommens separaten Weise mit dem Hauptstreitpunkt befasste: der Frage nach der Entwaffnung der paramilitärischen Organisationen (Hauswedell, 2002a). 1997 und 1998 leitete Mitchell die Verhandlungen für das Abkommen selbst. Mit der Veröffentlichung der sogenannten »Mitchell Principles« im Januar 1996, die eine konkrete Verpflichtung aller Verhandlungsteilnehmer zur Einhaltung demokratischer und gewaltfreier Prinzipien enthielten, wurde die wesentliche Eintrittsvoraussetzung in die eigentlichen Verhandlungen formuliert. Die Arbeit Mitchells konstituierte schließlich die im »Good Friday Agreement« eingeschlagene Zweigleisigkeit des Vorgehens (twin track), mit welchem die politisch-konstitutionellen Aspekte der Übereinkunft von den militärisch-sicherheitspolitischen Fragen insofern abgetrennt wurden, als sie zwar parallel, aber nicht konditional zu behandeln waren. Auch wenn hiermit ein Aspekt der später häufig als »constructive ambiguity« kritisierten Ambivalenz des Abkommens etabliert wurde, lag dem die Erkenntnis zugrunde, dass besonders sensible Konfliktthemen wie Entwaffnung bzw. Abrüstung zwar in den Kontext des Abkommens gehören, aber nicht unbedingt gleichzeitig zu lösen sein würden. Die Verschiebung der Problematik auf die Umsetzungsphase des Abkommens warf in der Tat Probleme auf, die im Herbst 1999 zu einer Überprüfung des Abkommens führten, in deren Rahmen Mitchell erneut als Vermittler tätig wurde. Sein vertrauensbildender Impuls führte im Dezember 1999 zur erstmaligen Aufnahme der im Abkommen vorgesehenen, aus Vertretern beider Lager besetzten Regierungstätigkeit (power-sharing) in Stormont/Belfast.

Nach dem Regierungswechsel von Bill Clinton zu George Bush junior investierte die neue US-Administration erwartungsgemäß zunächst weniger Aufmerksamkeit in den Friedensprozess in Nordirland. Auch richteten sich in der Phase der Umsetzung des Belfaster Abkommens zunehmend mehr Erwartungen auf die endogenen Faktoren der Konfliktnachsorge, d.h. auf die nordirischen Akteure selbst.

EU Special Programme

Zu den externen Akteuren in der Phase der Initiierung des Friedensprozesses zählte auch die Europäische Union (EU), deren Engagement im Vergleich zu den USA als weniger prominent und indirekter in seinen Wirkungen bewertet wurde. Politisch normengebend wirkte die EU durch die Aufnahme der Wertestandards der Europäischen Menschenrechtskonvention in die entsprechenden Abschnitte des Belfaster Abkommens (Rights, Safeguards, and Equality of Opportunity).

Mit dem 1994 aufgelegten und 1998 noch einmal verlängerten »Special Support Programme for Peace and Reconciliation«1 wurde erstmals seitens der EU eine explizit politisch angelegte Finanzhilfe zur Friedensförderung gewährt. Insgesamt wurden mehr als 700 Mio. Euro vor allem zur Stärkung friedensgerichteter Initiativen an der Basis der nordirischen Zivilgesellschaft ausgegeben. Projekte reichten von Integrationsmaßnahmen ehemaliger politischer Gefangener, die nach dem Abkommen entlassen worden waren, über ökumenische Versöhnungsgruppen bis hin zu Dialoginitiativen in den so genannten »interface areas«, in denen protestantische und katholische Bevölkerungsgruppen in unmittelbarer Nähe lernen müssen, ihre Dispute gewaltfrei auszutragen. Im Vergleich zu den Subventionen, die Großbritannien seit vielen Jahren in Nordirland investiert – sie belaufen sich auf jährlich ca. 3,7 Mrd. brit. Pfund – hatte das EU-Programm einen schmalen Rahmen; seine Stärke lag im Fokus auf der gesellschaftlichen im Vergleich zur staatlichen Ebene, auch wenn im Zuge der Evaluierung des Programms Anzeichen einer entstehenden »Friedensindustrie« kritisiert wurden.

Unterschätzt werden sollte nicht der indirekte Einfluss auf den Friedensprozess, den die EU vor allem über die starke Subventionierung und Integration der irischen Wirtschaft im Süden ausgeübt hat. Die Ausstrahlungskraft des sogenannten »celtic tiger« in den 90er Jahren wirkte als pragmatisch-mäßigender Faktor gegen Überideologisierungen innerhalb des irischen Nationalismus und als Impulsgeber für Regionalisierungskonzepte im Sinne verstärkter Nord-Süd-Kooperation. Das gilt auch, wenn die nordirischen Unionisten hierin zuweilen eine Schwächung ihrer souveränen Existenz im Rahmen des Vereinigten Königreiches witterten.

Das Beispiel anderer Friedensprozesse

Eine ganz andere Form externer Einwirkung, die – im Vorfeld des Belfaster Abkommens stärker als danach – von den Konfliktparteien in Nordirland geradezu gesucht wurde, war der Vergleich mit anderen lang andauernden Konflikten, in die zur gleichen Zeit politische Bewegung gekommen war. Diese Art der Internationalisierung stand bei den Republikanern, die sich gern mit anderen Unabhängigkeits- oder Menschenrechtsbewegungen verglichen und identifizierten, zunächst höher im Kurs als bei den Unionisten oder Loyalisten, die eher die lokale Besonderheit des nordirischen Problems betonten. Dies änderte sich graduell in den 90er Jahren. So wurde beispielsweise der südafrikanische Friedensprozess und seine politischen Führer, Mandela und de Klerk, für beide Seiten in Nordirland zum Bezugspunkt. Auch wenn eine Neigung bestand, sich das jeweils Passende heraus zu filtern und insofern parteilichen Gebrauch von dem Beispiel zu machen – z.B. spielte die Frage des »Decommissioning« paramilitärischer Waffen in Südafrika eine eher untergeordnete Rolle – gingen die Anregungen, die nordirische Politiker bei mehrfachen Begegnungen mit südafrikanischen Politikern gewinnen konnten, über im engeren Sinn politische oder sicherheitspolitische Fragen hinaus in den Bereich kultureller und gesellschaftlicher Themen. So zeigten sich insbesondere unionistische Politiker beeindruckt von der »zivilisierten Weise«, in der ehemalige Feinde in Südafrika miteinander umgingen (MacGinty, 2002). Zuversicht für Vertrauensbildung zu gewinnen, Suche nach gemeinsamen Wahrheiten über eine gespaltene Vergangenheit zu beginnen, Hoffnung auf Versöhnung zu stiften, darin lag ein besonderer Stellenwert dieser internationalen Begegnungen. Dass im Verlaufe der schwierigen Umsetzung des Belfaster Abkommens immer wieder auch Repräsentanten anderer Konflikte als Vermittler oder Ratgeber hinzugezogen wurden – bei der Besetzung der internationalen Kommissionen des Abkommens oder besonders prominent als Inspektoren für die Waffenarsenale der IRA – verweist auf die Wirkung solcher Prozesse des internationalen Austausches und Dialoges.

Und es gab auch die andere Richtung: Nordirland begann, auch gerade wegen seiner Probleme in der Umsetzung des Abkommens, als Beispiel für andere Konflikte, z.B. im Baskenland oder im Nahen Osten zu wirken. In zahlreichen Konferenzen, die stärker in wissenschaftlichen als in politischen Zusammenhängen organisiert waren, wurden nach übertragbaren Lehren gesucht. Das änderte wenig an der Tatsache, dass zu Hause in Belfast immer wieder auch einseitige Parteinahmen und Identifikationen, z.B. der Katholiken mit den Palästinensern, der Protestanten mit den Israelis, stattfanden. Überraschende Allianzen, wenn auch von entgegengesetzten Standpunkten aus, gab es zwischen Unionisten und Nationalisten bei der Verurteilung der militärischen Konfliktinterventionen der NATO auf dem Balkan, vor allem im Falle des Kosovo; für die einen vom Standpunkt der territorialen Unversehrtheit aus, für die anderen aus Fragen der nationalen Unabhängigkeit. Im Falle des Krieges gegen den Irak war es mit den Gemeinsamkeiten wieder zu Ende.

Das Belfaster Abkommen – Die Außensteuerung der Binnenkonsolidierung hat Grenzen

Das Belfaster Abkommen oder »Good Friday Agreement« vom April 1998 galt aus vielen Gründen als mustergültiger Friedensvertrag und erfreut sich trotz des fragiler werdenden Rückhaltes in Nordirland selbst nach wie vor großer internationaler Aufmerksamkeit. Was sind die Bauelemente, die das Abkommen so attraktiv erscheinen lassen? Welche der als Hilfskonstruktionen gedachten Strukturen drohen dagegen möglicherweise marode zu werden?

Know-how von außen

Der offizielle Titel des Abkommens lautet: „The Agreement – reached in the multi-party negotiations“. Es wurde unterstützt von allen nordirischen Parteien, mit Ausnahme der radikalen Democratic Unionist Party (DUP) des protestantischen Reverend Ian Paisley, sowie von den beiden Regierungen Großbritanniens und Irlands. Die beiden »guardians« hatten nicht nur mit am Verhandlungstisch gesessen, sondern waren zu integralen Bestandteilen des Abkommens geworden, gleichsam zu Schutzpatronen des Friedensprozesses avanciert, vor allem über das Kapitel zum nordirischen Verfassungsstatus und seiner Konsequenzen für die beiden nationalen Gesetzgebungen (Constitutional Issues) sowie die dritte Säule (Strand Three), welche die zwischenstaatliche britisch-irische Kooperation (Ost-West) für Nordirland insgesamt institutionalisiert. Neue, vor allem ökonomische Ebenen der Kooperation zwischen Nordirland und der Republik werden im »Strand Two« (Nord-Süd) geregelt.

Andere externe Einflüsse bzw. Bezugnahmen auf die internationale Normierung des Abkommens finden sich im Rahmen der sogenannten Schutzbestimmungen (safeguards); so werden alle Fragen der politischen, sozialen und kulturellen Gleichstellung der nordirischen Bürger mit Bezug auf die Europäische Menschenrechtskonvention geregelt und Kommissionen mit internationaler Beteiligung zu ihrer Implementierung eingesetzt. Besonders evident ist der Faktor der Außensteuerung in den Abschnitten des Abkommens, die sich mit den sicherheitspolitischen Reformen in Nordirland befassen: Die Abrüstung der illegalen Waffen im Besitz paramilitärischer Organisationen (Decommissioning), der Abbau bzw. die »Normalisierung« der staatlichen Sicherheitsstruktur und der Notstandsgesetzgebung (Security) sowie die Reform der Polizei und des Gerichtswesens (Policing and Justice).

Mit der »Independent International Commission on Decommissioning« (IICD), die der von George Mitchell 1996 geleiteten Kommission nachfolgte, wurde eine international einzigartige Struktur für das offenkundig brisanteste Problem des nordirischen Friedensprozesses geschaffen; die Kommission unter der Leitung des kanadischen Ex-Generals John de Chastelain, des finnischen Brigadiers Tauno Nieminen und des US-Sicherheitsexperten Andrew Sens hatte die Aufgabe, den Dialog mit den paramilitärischen Gruppen zu organisieren und die Verfahren der Abrüstung zu überwachen, auszuwerten, zu verifizieren und gegenüber den beiden Regierungen regelmäßig zu berichten. Die Normalisierung der staatlichen Sicherheit, die auch den schrittweisen Abzug der britischen Streitkräfte und die Schließung von Militärbasen einschloss, lag naturgemäß vollständig in der Hand der britischen Regierung. Die Reform der Royal Ulster Constabulary (RUC) hingegen, die mit ihrer zu über 90% protestantischen Offiziersstruktur eine oft unrühmliche Rolle während des Bürgerkrieges gespielt hatte, wurde ebenfalls einer Unabhängigen Kommission übertragen. Unter der Leitung des heutigen EU-Kommissars Chris Patten erarbeiteten internationale Experten einen Report, der 1999 veröffentlicht wurde und umfassende Empfehlungen für die Implementierung weltweit modernster Polizeistandards enthielt. Sie wurden Grundlage für eine neue britische, 2001 verabschiedete Polizeigesetzgebung für Nordirland.

Externes Know-How nahm demnach seinen Weg aus der Vermittlung des Abkommens in das Innere seiner Umsetzung, wurde in Teilen zu endogenen Faktoren des Friedensprozesses.

Konkordanz innen?

Die partizipatorischen Impulse, die mit der gleichberechtigten Einbeziehung (inclusion) der radikalen, mit paramilitärischen Strukturen verbundenen Konfliktparteien in den Friedensprozess beabsichtigt und zum Teil erreicht wurden, haben wesentlich dazu beigetragen, das Belfaster Abkommen in der internationalen Arena attraktiv zu machen. Manifest wurden sie im Modell der im Abkommen verankerten Konkordanzdemokratie (consociational democracy), die im »Strand One«, der die Nord-Nord-Beziehungen regelt, niedergelegt sind. Die Konkordanzdemokratie sieht einen politischen Zwang zur Einigung vor, ein Wahlsystem, das die beiden Bevölkerungsgruppen der Protestanten und Katholiken im Parlament proportional repräsentiert, und eine Regierungsform des »power-sharing«, der Machtteilung zwischen den konkurrierenden Parteien. Das Modell enthält qualifizierte Vetorechte für beide Seiten, erschwert jedoch die Herausbildung einer demokratischen Oppositionskultur. Es war ein Tribut an die »binäre Kodierung« (Moltmann, 2003) des Konflikts, an die Existenz zweier inzwischen nahezu gleichgroßer politischer Lager mit jeweils einer gemäßigten und einer radikalen Partei. Kritiker auch aus den Reihen der nordirischen Zivilgesellschaft haben früh davor gewarnt, dass mit dieser Konstruktion der »sectarianism«, die nordirische Grabenmentalität, zementiert und parteiübergreifende Politikinitiativen sowie die Bildung einer politischen Mitte erschwert würden. Die internationalen Erfahrungen mit »power-sharing« in vergleichbaren Konfliktkonstellationen (Zypern, Kanada, Bosnien, Libanon) sind bisher entweder negativ oder sehr begrenzt als Initialfunktion demokratischer Prozesse wirksam gewesen (Horowitz, 2001).

Die jüngsten Wahlergebnisse in Nordirland, die unter anderem zum fast vollständigen Verschwinden aller kleineren, auf konfliktübergreifende Zusammenarbeit zielenden Parteien geführt haben, scheinen den Kritikern Recht zu geben. Möglicherweise wird das demnächst für das Abkommen vorgesehene Überprüfungsverfahren (review) sich intensiv mit der Lösung dieser inneren Widersprüche zwischen den demokratischen Prinzipien der Partizipation und der Konkordanz befassen müssen.

Die Einflussnahme externer Akteure im Rahmen des Abkommens hat sich also, auch wenn die Probleme bei weitem noch nicht gelöst sind, vor allem bezogen auf die sensiblen Probleme der Sicherheitspolitik bzw. der militärischen »hardware«, alles in allem als integrativ und reformfördernd erwiesen. Dennoch schwächlt das Abkommen und der mit ihm verbundene Friedensprozess in den Bereichen der »software«, der Gewinnung von Demokratie auf allen Ebenen des nordirischen Alltags. Und es ist fraglich, ob neue Impulse für Demokratisierung vor allem von außen zu erwarten sein können, oder ob nicht die lokalen Akteure, die in Nordirland anders als in vielen anderen Nachkriegsgesellschaften über große Erfahrungen und Netzwerke des Dialoges und der Kooperation verfügen, das Heft selbst in die Hand nehmen müssen. Dazu bedarf es allerdings eines neuen Schubes an Selbstvertrauen und Vertrauen in den guten Willen »der anderen Seite«. Das ist jedoch das, woran es auf der Ebene der nordirischen Politiker am meisten mangelt.

Komplementär: Sicherheit und Demokratie

In Nordirland sind die nachhaltigen Beschädigungen der Demokratie durch staatliche und nichtstaatliche Militärisierung noch allenthalben spürbar: Das staatliche Gewaltmonopol ist in Gestalt einer parteilichen Polizeistruktur lange missbraucht worden, parallel konnte sich eine paramilitärische »Gewaltkultur« als Teil gesellschaftlicher Identität etablieren. Während sich das konstitutionelle Problem, ob Nordirland zu Großbritannien oder Irland gehören soll, welches jahrzehntelang den Kern der politischen Differenz zwischen Unionisten und Nationalisten ausmachte, durch die Verabredung eines Konsensverfahrens im Abkommen überraschend leicht regeln ließ, fällt der Abschied von den Waffen und die Einigung über neue Prinzipien gemeinsamer Sicherheit bedeutend schwerer. Dies konstituiert ein kompliziertes Wechselverhältnis zwischen Demokratisierung und Schaffung neuer Sicherheit und eröffnet viele Spielräume für das sogenannte »blame game«, die permanente Schuldzuweisung zwischen den nordirischen Parteien, aber auch gegenüber dem nur quasi-externen »guardian« Großbritannien.

Am sichtbarsten wurde der Mangel an gegenseitigem Vertrauen anhand der seit Verabschiedung des Abkommens geführten nordirischen Debatte über »No Guns – No government». In diesem Slogan kulminierte die Weigerung der protestantischen Ulster Unionist Party (UUP) unter David Trimble mit der republikanischen Sinn Fein in die Regierung einzutreten, solange diese nicht die IRA zur vollständigen Abrüstung ihrer Waffen bewegt hätte. Diese Debatte und die damit verbundenen politischen Blockaden stürzten den Friedensprozess seit 1998 immer wieder in tiefe Krisen. Meist waren es gemeinsame Interventionen der britischen und irischen Regierung, mit denen diese versuchten, Auswege aus Sackgassen des Misstrauens zu finden; die nordirischen Parteien fanden jedoch immer wieder Anlässe, um aus gemeinsam verabredeten »Choreographien« auszusteigen.

Die stellenweise paradox anmutende Auseinandersetzung wird auf beiden Seiten mit ideologischen Bandagen und Scheuklappen geführt, die aus der langen Konfliktgeschichte her rühren. Althergebrachte Wahrnehmungen der jeweils anderen Seite, ein für manche ethno-sozialen Konflikte typisches Muster der Überpolitisierung, verhindern die Wahrnehmung von Veränderung und eine pragmatische Hinwendung zu den heutigen Realitäten gemeinsamer Regierungsverantwortung auf den für die nordirische Gesellschaft eigentlichen relevanten Feldern wie sozialer Sicherheit oder z.B. einer integrativen Bildungs- und Schulpolitik. Insgesamt erlebten die Nordiren während der fünfeinhalb vergangenen Jahre lediglich zwei Regierungsphasen von zusammen weniger als zwölf Monaten, in denen sie – durchaus erfolgreich allerdings – »power-sharing« auf eben den genannten Feldern praktizierten.

Die Wahlergebnisse des 26. November 2003 sollten deshalb nicht nur zum Anlass genommen werden, um die Institutionen und die formale Funktionsfähigkeit des Abkommen zu überprüfen. Auch die Muster des Misstrauens sowie die Mechanismen und Wendepunkte, mit denen der Friedensprozess in den vergangenen Jahren jeweils aus den Sackgasse gezogen wurde, müssen einer kritischen Bilanz unterzogen werden.

Waffen als Symbol …

Nordirland ist ein Beispiel für einen besonders hoch politisierten ethno-nationalen Konflikt mit einer komplexen historischen Hypothek, zu der eine jahrhundertealte latente und offene Militanz und die Weigerung zur Abrüstung auf beiden Seiten gehören (Hauswedell, 2002c). Beinahe unvermeidlich erhielt die Frage der paramilitärischen Waffen im Zuge des Friedensprozesses daher einen symbolischen Stellenwert, der weit über das militärische Potenzial der Waffen hinaus ging und in den diametralen politisch-ideologischen Gegensätzen der Hauptkonfliktparteien wurzelte. Decommissioning repräsentierte für die Unionisten – und gegenüber ihren Wählern – das einzig akzeptable Unterpfand um sicher zu gehen, dass es Sinn Fein mit dem Frieden ernst meint. Für die Republikaner fungierte das Festhalten an den Waffen – ebenfalls gegenüber ihrer politischen Basis – als Gegengewicht für ihre ideologischen Zugeständnisse im Friedensabkommen: die vorläufige Anerkennung der britischen Herrschaft und das Konsensprinzip für jede Veränderung des verfassungsmäßigen Status der Provinz in der Zukunft. Für die Unionisten mag es rückblickend eine fragwürdige politische Taktik gewesen sein, die Waffenfrage zum Veto gegen eine Regierungskoalition mit den Republikanern zu erheben und damit alles auf eine Karte zu setzen, die sie selbst nicht spielen konnten. Für die Republikaner kam mit dem deutlichen Zugewinn an politischer Akzeptanz und demokratischer Legitimation durch die Wahlen die Zeit, den Ballast der Waffen über Bord zu werfen. Die Wahlerfolge der Sinn Fein (die seit Juni 2001 stärkste nationalistische Partei in Nordirland sind und die bei den jüngsten Wahlen ihrer gemäßigten Konkurrenz von der SDLP nochmals fünf Prozent der Stimmen abnehmen konnten) hat die Partei als Ergebnis ihrer eigenen Friedensstrategie, des Abschiedes von der Gewalt, verbuchen können. Der Beginn der Abrüstung der IRA-Waffen im Herbst 2001 geschah aus einer Position der Stärke und war im republikanischen Bewusstsein nicht länger mit Niederlage oder Unterwerfung verbunden.

… und die Abrüstung in den Köpfen

Die im nordirischen Kontext zum geflügelten Wort gewordene Erkenntnis, dass es ohne ein »decommissioning of mindsets«, eine Abrüstung in den Köpfen, auch keine nachhaltige Abrüstung der Waffen geben werde, verweist auf das Problem der Überideologisierung des Konfliktes. Deshalb hatte man sich während der Friedensverhandlungen von 1994 bis 1998 und in den Formulierungen des Belfaster Abkommen unter entscheidender Mitwirkung des US-Vermittlers George Mitchell für das bekannte zweigleisige Vorgehen (twin track) entschieden, mit dem die politisch-konstitutionellen Aspekte der Übereinkunft von den sicherheitspolitischen Fragen getrennt wurden.

Vertrauensbildung durch internationale Abrüstungskommission und Waffeninspektionen

Die Lösung der diffizilen Waffenproblematik wurde der Internationalen Abrüstungskommission (IICD) übertragen. Man hoffte, die Waffenfrage auf diese Weise »weicher« zu machen (»fudging« the arms), d.h. leichter lösen zu können und – ohne den politischen Prozess zu stören – in die Umsetzungsphase des Abkommens zu verlagern. In einem ideologisierten Konflikt kommt dem Instrument der Vertrauensbildung eine besondere Bedeutung zu, und das nordirische Beispiel unterstrich die positive neutralisierende Funktion internationaler Vermittlung in Momenten der politischen Krise, vor allem für das sensitive Waffenthema selbst. Im Frühjahr 2000, als die gerade ins Amt gekommene Belfaster Regierung nach nur zwei Monaten auf Druck der Unionisten durch London suspendiert worden war, entschloss man sich zu einer innovativen vertrauensbildenden Initiative: Die IRA fand sich bereit, einen Teil ihrer Waffenarsenale, die zuvor der IICD angezeigt worden waren, durch zwei international und in Nordirland anerkannte Politiker mit Konfliktinterventionserfahrung, den Berater der südafrikanischen Regierung Cyril Ramaphosa und den ehemaligen finnischen Präsident Martti Ahtisaari, inspizieren zu lassen. Die Inspektoren wurden durch die Anwendung eines so genannten »Zwei-Schlüssel-Systems«, das keinen unbefugten Zugang zu den Waffen mehr zuließ und das schon in El Salvador erprobt wurde, zu einer vorgeschalteten Kontrollinstanz im Friedensprozess. So wurde ein Einstieg in die Abrüstung ohne größeren Gesichtsverlust für die IRA ermöglicht. Dass der eigentliche Akt des Unbrauchbarmachens (Putting beyond use) eines ersten Teils der IRA-Waffen im Oktober 2001 dann glaubwürdig vermittelt werden konnte, obwohl die Einzelheiten der Methode und des Umfangs der Abrüstung geheim blieben, ist wesentlich der vertrauensbildenden Rolle der unabhängigen Abrüstungskommission unter Leitung des kanadischen Ex-Generals John de Chastelain zu verdanken, der die skeptischen Unionisten in einem umfassenden Briefing über den stattgefundenen Akt informierte.

Eine noch ausstehende Bilanz der Arbeit der IICD wird sich unter anderem der Frage widmen müssen, inwieweit das relativ technische Mandat der Kommission und ihre Unterordnung unter die politischen Weisungen der irischen und britischen Regierung ihr in Krisenmomenten immer genügend Spielraum einräumte, um wirklich unabhängig im Sinne der Vertrauensbildung unter den nordirischen Parteien wirken zu können.

Sicherheit im »Paket«?

Ein weiterer Faktor, um den verfahrenen Friedensprozess wieder flott zu machen, war die Veränderung der Verhandlungsstrategie seitens der britischen und irischen Regierung. Parallel mit dem Beginn der IRA-Waffeninspektionen im Sommer 2000 wurde von ihnen eine Paketlösung für die weitere Implementierung des Abkommens vorgeschlagen, die die Lösung des Decommissioning in den Kontext der anderen sicherheitspolitischen Problemkreise, vor allem der Entmilitarisierung des überdimensionierten staatlichen Sicherheitssektors und der Polizeireform stellte. Damit wurde der einer Konfliktlösung nicht zuträgliche Umgang mit dem Decommissioning als einer Forderung, die vorrangig und als Vorbedingung die IRA-Abrüstung im Visier hatte, relativiert und Elemente eines gegenseitig akzeptierbaren Sicherheitsverständnisses eingeführt. Es sollte allerdings nahezu ein weiteres Jahr dauern, bis diese Strategie auch gemeinsam mit den nordirischen Parteien im Rahmen der sogenannten Weston-Park-Gespräche verabredet werden konnte.

Inzwischen hatten die Wahlen zum britischen Unterhaus im Juni 2001 eine Stärkung sowohl der Sinn Fein als auch der DUP erbracht. Dieses Ergebnis und die zunehmende paramilitärische Gewalt auf loyalistischer Seite entzogen dem UUP-Führer David Trimble das Selbstvertrauen, um zu den Ergebnissen von Weston Park zu stehen und sich bei Wiedereinsetzung der Belfaster Regierung als Erster Minister zur Verfügung zu stellen. Das Angebot der IRA vom 6. August 2001, in der vorgesehenen Choreographie ihren Part zu spielen und ein konkretisiertes Abrüstungsszenario zu liefern, kam zu spät und wurde konterkariert durch die Aufdeckung zweifelhafter Verbindungen zweier IRA-Mitglieder zur kolumbianischen FARC. Zu viele neue Quellen des Misstrauens führten zu einer Vertagung des nordirischen »Sicherheitspaketes«.

Nach den Ereignissen des 11. September 2001 entschloss sich die Führung der Sinn Fein, die mit dem Beginn des »war against terrorism« um ihren Rückhalt in der irisch-amerikanischen Community fürchten musste, die IRA zur Umsetzung ihres Abrüstungsangebots vom August zu drängen und damit den drohenden Kollaps des Friedensprozesses abzuwenden. Am 23. Oktober 2001 erklärte die IRA, dass sie begonnen habe, »ihre Waffen verifizierbar und auf Dauer unbrauchbar zu machen“ (Wortlaut der IRA-Erklärung in BBC-News, 23.10.2001). Der Schritt der IRA wurde in der internationalen Öffentlichkeit als historischer Durchbruch gewertet; diesmal schuf die offizielle Bestätigung der geheim durchgeführten Aktion durch die Abrüstungskommission ausreichend Vertrauen, um die Unionisten zur Wideraufnahme der Regierungstätigkeit in Belfast zu bewegen.

Die Binnenseite der Konfliktlösung

Je weiter sich die Transformation eines Gewaltkonfliktes aus der Phase der Initiierung von Verhandlungen über die Verabschiedung eines Abkommens in die Phase der Umsetzung des Vereinbarten bewegt, desto sichtbarer werden in der Regel die inneren Schranken und Hemmnisse, welche die Konfliktparteien an einem gradlinigen Fortschreiten auf dem eingeschlagenen Pfad hindern. Insofern können länger andauernde Friedensprozesse und Krisen als ein normaler Vorgang angesehen werden, dessen Begleitung viel Geduld und Kreativität erfordert. Es ist von der Natur der hemmenden Faktoren abhängig, wie viel Einflussmöglichkeiten in dieser Phase für externe Akteure bestehen. Meist werden die Grenzen der Außensteuerung in dieser Phase sichtbarer; Transformation wird zunehmend zur Binnenaufgabe.

Alte und neue Gewalt als Störfaktor

Auch für Nordirland existiert das Problem, dass nach einem vielversprechenden Abkommen historisch gewachsene Gewaltstrukturen als innere Störfaktoren fortwirken (spoiler effect) bzw. ihre Ausdrucksformen ändern und neu generieren. Der für Nordirland typische »sectarianism«, die politisch-konfessionelle Spaltung der Gesellschaft, die sich als gruppenbezogener Hass oder Rassismus äußert, ist für sich genommen bereits Hemmfaktor genug. Dass der »sectarianism« darüber hinaus auf beiden Konfliktseiten unterschiedliche Herkünfte und machtpolitische Verankerungen besitzt – für die Katholiken eher aus der Perspektive der Diskriminierung erwachsen, auf protestantischer Seite eher mit Herrschaftsanspruch verbunden – macht es besonders schwierig, für beide Seiten Gewinn aus dem Friedensprozess zu ziehen.

Die oft rückwärtsgewandte und einseitig geführte Debatte über »Decommissioning« (der IRA) ließ wenig politischen Spielraum für das parteienübergreifende Argument, dass die Abrüstung aller paramilitärischen Waffen auch ein wichtiger Schritt zur Eindämmung der aktuellen Gewalt ist. Seit 2001 gehen laut Polizeistatistiken mehr als zwei Drittel aller paramilitärischen Aktivitäten auf das Konto loyalistischer Gruppen, die bisher keine Bereitschaft zur Abrüstung signalisiert haben und die sich ebenso wie zwei kleinere republikanische Splittergruppen vom Abkommen distanziert haben. Innerloyalistische Fehden mischen sich mit antikatholischen Aggressionsakten und lassen sich immer weniger leicht von den verschiedenen Formen der Alltagskriminalität wie Drogenhandel und anderen »Märkten der Gewalt«, mit denen die Paramilitärs »im Geschäft bleiben« können, trennen.

Identitätsbrüche: Gewinner und Verlierer des Abkommens gruppieren sich neu

Die politische Integration und Partizipation, die das Belfaster Abkommen für die republikanische Seite bereit gehalten hat – durch »power-sharing« für Sinn Fein in einer Regierungskoalition unionistischer und nationalistischen Parteien – ist für die militanten Teile der Loyalisten, die kaum eigene Vertreter im Parlament haben, unerfüllt. Infolge der Zunahme loyalistischer Gewalt ist inzwischen eine neue Sensibilität für das Problem entstanden, dass eine Friedensdividende insbesondere in den depravierten protestantischen Arbeitervierteln noch aussteht. Soziale und kulturelle Identitäten, die sich in Nordirland auch in der Zugehörigkeit zu den traditionsreichen paramilitärischen Organisationen ausdrücken, unterliegen einem rapiden Wandel, der in der neuen Generation der Katholiken eher im Sinne der Stärkung von sozialen Selbstbewusstsein, bei vielen protestantischen Jugendlichen hingegen als Zerbrechen alter Gewissheiten wahrgenommen wird. Hinter der im Abkommen anvisierten Lösung bzw. einvernehmlichen Vertagung der nationalen Frage tritt die lange verschüttete soziale Frage nach gerechten Einkommen, Wohnverhältnissen, Bildungs- und Jobchancen deutlicher hervor. Gewinner und Verlierer in der nordirischen post-modernen Gesellschaft gruppieren sich neu; die diesbezüglichen Wahrnehmungen sind im Umbruch begriffen, und der Friedensprozess scheint schuld daran zu sein. Es mangelt an politischer Führung vor allem auf Seiten der Unionisten, diesen Prozess in Verantwortung für ihre Klientel zu steuern.

Der nordirische Paramilitarismus hat eine Eigendynamik entwickelt, in der – alte und neue – ethno-politische, soziokulturelle und ökonomische Faktoren eine schwierig lösbare Verbindung eingegangen sind. Mit der Etablierung habitueller Gewalt ist eine subkutane, gesellschaftliche Struktur sozialer und territorialer Machtausübung, vor allem in den Arbeiterwohngebieten, gewachsen. Zu deren Überwindung hat das Belfaster Abkommen bisher nicht spürbar beigetragen. Glaubwürdige Drohung mit Terrorakten wird durch die Existenz der paramilitärischen Organisationen aufrechterhalten, die trotz aller Schrecken, die sie verbreiten, auch Rückhalt für ihre jeweilige Klientel versprechen. Ihr Machokult ist ein Identitätsangebot gegen Hoffnungslosigkeit und Angst, vor allem in Gebieten sozialer Depravierung und direkter Nachbarschaft mit dem ethnischen Gegenüber (interface areas). Der aus dem Bürgerkrieg stammende Code der »defenders of the community« und der damit verbundene Vigilantismus (mit erschreckenden Formen der Selbstjustiz) wirken als moralische Brückenpfeiler in die Vergangenheit – für die Loyalisten mehr als für die Republikaner. Insgesamt scheinen die klaren und intakten Kommandostrukturen der IRA im Kontext mit der Parteianbindung an die Sinn Fein eher eine politische Kontrolle dieser Eigendynamik zu erlauben als die zerstrittenen und dezentral operierenden loyalistischen Gruppen.

Interne Vermittlung

Mediation durch nordirische Kirchenvertreter und Politiker in akuten Konfliktsituationen wie nach den Gewaltausbrüchen in Nord- und Ost-Belfast in den Jahren 2001 und 2002 können eine relevante, mäßigende Funktion wahrnehmen; Impulse für eine längerfristige Zivilisierung und Transformation der paramilitärischen Strukturen, d.h. vor allem die (Re)Integration ihrer Anhänger in die Zivilgesellschaft, müssen aber auch aus dem Inneren der Gruppen selbst kommen. Ermutigende Arbeit in dieser Richtung leisten die Organisationen der ehemaligen politischen Gefangenen auf beiden Seiten und Erziehungsprogramme, die von Freiwilligengruppen im Kultur- und Bildungssektor unterstützt werden.

Herzstück der Normalisierung: die neue Polizei

Entmilitarisierung und »Normalisierung« von Sicherheit in Nordirland wird auf absehbare Zeit eine Aufgabe staatlicher und nichtstaatlicher Verantwortung und Kooperation sein. Der Abbau einiger wichtiger britischer Militäranlagen im Oktober 2001 als unmittelbare Antwort auf den Abrüstungsbeginn der IRA reflektierte ein im wachsenden Maße reziprokes Verständnis dieser Problematik. Die IRA antwortete ihrerseits im April 2002 mit einem zweiten Schritt des »Decommissioning« eines Teils ihrer Waffen, der wiederum von der internationalen Abrüstungsbehörde verifiziert wurde.

Ein Kernelement allerdings für eine künftige Etablierung gemeinsamer Sicherheit und eines neuen staatlichen Gewaltmonopols, das beiden ethnischen Gemeinschaften Akzeptanz und Berechenbarkeit gewährt, ist die Reform der nordirischen Polizei. Eingeleitet 1999 durch die weitreichenden Zielvorgaben der Patten-Kommission steht die Umsetzung noch am Anfang: Sie hat im November 2001 mit der Umbenennung der protestantisch dominierten »Royal Ulster Constabulary« (RUC) in »Police Service for Northern Ireland« (PSNI) und einer gleichberechtigten Rekrutierung von Katholiken und Protestanten begonnen. Eine akzeptable Balance zwischen der Integration positiver Teile der Paramilitärs und der Sanktionierung der kriminellen Elemente zu finden, gehört zu den schwierigen Zukunftsaufgaben der neuen Polizei.

Die Ernennung von Hugh Orde zum neuen Polizeichef im September 2002, der sich einen Namen bei der politisch höchst sensiblen Untersuchung der verdeckten Zusammenarbeit (collusion) zwischen der »Special Branch« der RUC und den loyalistischen Paramilitärs während der »Troubles« gemacht hat (Stevens Inquiry), war ein vielversprechender Schritt. Eine alles in allem optimistische Perspektive vermittelte der erste Report der PSNI für das Jahr 2002/2003, der im Juni 2003 öffentlich vorgestellt und an alle nordirischen Haushalte verteilt wurde. Zu den Erfolgsgeschichten gehört die in der Tat langsam wachsende gesellschaftliche Unterstützung für die Kontrollorgane des »Policing Board« (in dem alle Parteien außer Sinn Fein ihre Sitze eingenommen haben), für den Posten des Ombudsman, der mit einer engagierten, unbestechlichen Katholikin besetzt wurde, und für die Einrichtung der für die Vertrauensbildung bei den Bürgern vor Ort wichtigen »District Policing Partnerships« (DPP). Obgleich immer wieder auch von massiven Einschüchterungsmanövern gegenüber katholischen Rekruten – auch aus den eigenen Reihen – berichtet wird, lag der katholische Anteil bei den Bewerbungen 2002 bei immerhin 35 Prozent gegenüber 20 Prozent vor dem Belfaster Abkommen.

Die diesjährige Sommersaison der wegen ihrer Gewaltausbrüche berüchtigten protestantischen Märsche, mit denen an traditionsreichen Plätzen der Sieg über die Katholiken vor mehr als 300 Jahren gefeiert wird, verlief wegen erfolgreicher Mediation im Vorfeld und guter Polizeiorganisation überraschend friedlich.

Eine wachsende impulsgebende Bedeutung der neuen Polizeiführung gegenüber dem stockenden Friedensprozess mag man auch daran ablesen, dass es Hugh Orde war, der während der Sommermonate wiederholt und öffentlich im Interesse einer künftigen Versöhnung der Opfer beider Seiten darauf verwies, dass Nordirland eine neue Initiative zum Umgang mit der Wahrheitsfindung (truth and reconciliation forum) und Aufklärung der dunklen Seiten der Vergangenheit brauche.

„Die Polizei hat größere Fortschritte gemacht als die Politik in diesem Jahr“ (UTV Net, 29.8.2003), lautete das selbstbewusste Fazit des neuen Polizeichefs im Spätsommer, womit er auf das politische Vakuum anspielte, das durch die Suspendierung der Belfaster Regierung und durch die Vertagung der Wahlen entstanden war.

»Joint Declaration« und missglückte Choreographien

Im April 2003 hatten die britische und die irische Regierung nach monatelangen Beratungen mit den nordirischen Parteien eine Gemeinsame Erklärung (Joint Declaration) verfasst, die den verfahrenen Karren wieder flott machen und den Weg für die Wahlen im Mai ebnen sollte. Mit den Erfahrungen von Weston Park aus dem Sommer 2001 im Gepäck, mit dem zwar Forschritte hinsichtlich eines sicherheitspolitischen »Paketes«, also dem parallelem Voranschreiten von »Decommissioning« der paramilitärischen Organisationen, Abrüstung der britischen Streitkräfte und Polizeireform verbunden gewesen waren, aber die Stabilität der Regierungsinstitutionen nicht gesichert wurde, entwickelten die beiden halb-externen »Guardians« neue Angebote in beide Richtungen: Wenn die Sinn Fein endgültig und explizit Abschied nehme vom bewaffneten Kampf und ihren Widerstand gegen die Beteiligung an der neuen Polizei aufgebe, sollte die britische Militärpräsenz drastisch reduziert und dem Belfaster Parlament in absehbarer Zeit die Verantwortung für Polizei und Justizwesen übertragen werden. Großbritannien würde in Zukunft auf das Recht verzichten, die Selbstregierung Nordirlands zu suspendieren.

Einem internationalen Überwachungsausschuss (Monitoring Body), der zunächst auf Wunsch der Unionisten ins Spiel gekommen und nur für die Einhaltung der Waffenstillstände gedacht war, sollte eine zusätzliche Kontrollfunktion für die Stabilität des gesamten Belfaster Abkommens, einschließlich der Regierungsinstitutionen, übertragen werden. Dieser erneute Rückgriff auf einen – die Sorgen beider Konfliktparteien adressierenden – internationalen Schutz des Abkommens konnte als „indirekter britischer Rückzug aus der Souveränität über die Provinz“ (Moltmann, 2003) gelesen werden. Möglicherweise war dieser Mechanismus aber einer, der den Unionisten bereits zu weit ging. Die IRA, durch Sinn Fein an den Verhandlungen beteiligt, hatte ihre Bereitschaft zur endgültigen Abrüstung in einem umfangreichen Dokument zu Händen der beiden Regierungen hinterlegt. Die Formulierungen erschienen den Unionisten jedoch zu vage oder missverständlich; dies konnte auch durch anschließende, präzisierende Erklärungen seitens des Sinn-Fein-Präsidenten Gerry Adams nicht ausgeräumt werden. Die Wahlen wurden abgesagt. Eine sorgfältig – und fast vollständig unter Ausschluss der nordirischen Öffentlichkeit – inszenierte Choreographie der Wiederherstellung von Demokratie war gescheitert. Die Verschiebung der Wahlen kam allerdings den politischen Sorgen des UUP-Vorsitzenden, David Trimble, eher entgegen, der die Abtrünnigen in den eigenen Reihen offensichtlich schwerer integrieren kann, als dem Sinn-Fein-Chef Gerry Adams, der sich mit einer Berechtigung, die ihm auch in der »Joint Declaration« zugestanden worden war, auf die eigene (uneingelöste) demokratische Legitimation durch Wählerstimmen berufen kann.

Nach einigen Monaten des Vakuums kam es im September und Oktober erstmals zu direkten, bilateralen Gesprächen zwischen Trimble und Adams, die das Ziel hatten, die Spielräume beider Seiten – und gegenüber ihrer jeweiligen Wählerklientel – in einem vertrauensbildenden Dialog auf höchster Ebene auszuloten. Eine neue Choreographie wurde mit Rückendeckung in London und Dublin erarbeitet: Tony Blair würde einen neuen Wahltermin für Ende November festsetzen, Gerry Adams eine Konkretisierung der IRA-Abrüstung erreichen, und David Trimble seine Bereitschaft zum »power-sharing« erneuern. Am 21. Oktober 2003 erfolgten die beiden ersten Teile der Choreographie in abgesprochener Weise: Nach dem Statement des britischen Premiers erklärte die IRA öffentlich, einen weiteren relevanten Teil ihres Waffenarsenals vernichtet zu haben; dies wurde, allerdings ohne Angabe der Menge und des Verfahrens, vom Vorsitzenden der internationalen Abrüstungskommission General de Chastelain öffentlich bestätigt. David Trimble verweigerte daraufhin seinen Part zu spielen, weil er die Geheimhaltung der konkreten Abrüstungsergebnisse für nicht zumutbar für seine Wähler hielt. Das Netz des Drittparteienmechanismus hatte sich als nicht haltbar genug erwiesen, das Misstrauen der nordirischen Hauptkontrahenten als immer noch zu groß. Die nordirische Öffentlichkeit musste sich in ihrem Interesse an demokratischer Teilhabe doppelt getäuscht sehen: Von den Versuchen der Kompromissbildung auf höchster Ebene weitgehend ausgeschlossen, wurde sie dann mit den Ergebnissen des Scheiterns konfrontiert. Zu den Spekulationen nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses vom 26. November gehörte in Belfast deshalb auch die Frage, ob sich die gemäßigten Unionisten durch die Nichteinhaltung ihres Teils der Choreographie nicht den größeren Bärendienst erwiesen haben.

Die jetzt beginnende, gesetzlich ohnehin vorgesehene Überprüfung des Abkommens wird dort wieder ansetzen müssen, wo mit der »Joint Declaration« schon einmal alle Teile des komplexen Puzzles auf dem Tisch lagen.

Einige Lehren für Konfliktbearbeitung von außen und innen

Der Nordirlandkonflikt ist durch die historischen Rollen Großbritanniens und Irlands schon früh in einen semi-internationalen Kontext gescheiterter Nations- bzw. Staatsbildung mit konfligierenden, äußeren und inneren, Souveränitätsansprüchen eingebettet gewesen. Zu einer Internationalisierung im eigentlichen Sinne der Einmischung externer Akteure kam es erst, als die Gewaltförmigkeit des Konfliktes in einem ethno-politischen Bürgerkrieg eskalierte, der durch staatliche militärisch-polizeiliche Intervention nicht befriedet werden konnte.

Das Eingreifen der Großmacht USA – international begünstigt durch das Ende des »Kalten Krieges« und hinsichtlich Nordirland mit dem historischen »Mandat« einer großen Diaspora verbunden – erzielte seine hohe politisch-praktische Relevanz, weil es mit dem gesamten staatlichen und zivilgesellschaftlichen Instrumentarium einer »weichen« Einmischung (soft power) ausgestattet war: direkter und informeller Diplomatie, politischen Dialog- und Vermittlungsinitiativen sowie ökonomischen und sozialen Anreizen für eine Friedensdividende. Dass hier die Weltmacht als »gutmütiger Hegemon« ans Werk ging, verlieh der Einmischung eine besonders hohe politische Symbolkraft gegenüber den lokalen Konfliktparteien und nahm die semi-externen Akteure Irland und Großbritannien für die entscheidende Phase der Verhandlung eines Friedensabkommens mit ins Boot. Entlang der Linie weicher Einmischung konnten sich auch andere externe Akteure wie die EU normengebend und mit Initiativen, die auf die Stärkung der nordirischen Zivilgesellschaft zielten, platzieren.

Das Zusammenspiel verschiedener internationaler Faktoren, zu denen auch die Beispiele anderer Friedensprozesse zählen, führte dazu, dass die Akzeptanz für die Autorität externer Erfahrungen bei den nordirischen Konfliktparteien wuchs und die Institutionalisierung von Außenexpertise im Rahmen des Abkommens einen hohen Stellenwert erhielt. Dass dies wegen der Neigung der Konfliktparteien, sich jeweils parteiliche Unterstützung zu organisieren, zuweilen auf Kosten der Neutralität der externen Vermittlung ging, ist nicht nur für Nordirland mit seinen beiden semi-externen »guardians« typisch. Es verweist auch auf die natürlichen Grenzen externer Einflussnahme, die eben unter gegebenen Umständen auch kontraproduktiv sein kann.

Die Geschichte der Einflussnahme von Drittparteien in Nordirland ist eine der großen Chancen, zeigt aber zugleich die Grenzen und Wendepunkte der externen Konfliktbearbeitung an. Nicht jede Phase und jeder Zeitpunkt in einem Friedensprozess ist gleichermaßen geeignet für externe Interventionen. Die Initial- und Entspannungsfunktion für das Zustandekommen von ersten Verhandlungen und die Vermittlung des Dialoges bis zur Verabschiedung eines Abkommens werden zweifelsohne positiv beeinflusst durch Impulse von außen. Je mehr sich die Konflikttransformation jedoch in Richtung Binnenkonsolidierung bewegt, desto wichtiger wird der Aspekt der Hilfe zur Selbsthilfe für die lokalen Akteure. Dabei sollte – auch das lehrt Nordirland – nicht nur Gewicht auf die Regulierungs- und Führungskapazitäten der Parteienvertreter gelegt werden, sondern Außenimpulse müssen das »empowerment« der zivilgesellschaftlichen Akteure, Bürgerinitiativen, Kirchen, Wirtschaftsvertreter etc., im Auge haben, um überparteiliche Politikkonzepte zu stärken.

Eine Rollenverteilung in der Konflikteinhegung lässt sich nicht nur nach Phasen bestimmen, sie korrespondiert wesentlich auch mit den zentralen übergreifenden Themen der meisten Gewaltkonflikte: Der Schaffung eines neuen gemeinsamen Verständnisses von Sicherheit und der Implementierung entsprechender Strukturen, sowie der (Wieder)Herstellung von Demokratie. Beide Bereiche erweisen sich als unterschiedlich leicht zugänglich für externe Einflüsse: Sicherheit, meist ein im Konflikt zerbrochenes Monopol staatlicher Macht, kann je nach Konfliktgenese stärkerer Hilfe durch internationale Expertise bedürfen. Demokratie kann sich nur wirksam entwickeln, wenn sie von innen wachsen kann, und die Konfliktparteien sind hier zumeist resistenter gegenüber Außeneinflüssen. Wahlen, die demokratischer Ausdruck einer im Zuge der Konfliktbeilegung neu gewonnenen Legitimation sein können, dürfen nicht zum Spielball exogener Interessen werden.

Der nordirische Friedensprozess kann hinsichtlich seiner Außeneinwirkungen auch gelesen werden als eine Geschichte der schrittweisen (Selbst)Reduzierung britischer Souveränität und der gleichzeitigen politischen Anerkennung der vormals unterdrückten irisch-nationalen Partizipationsinteressen. Das Belfaster Abkommen hat den Ausgang der Geschichte in aller Ambivalenz in die Hände der Nordiren beider Ethnien gelegt. Dass diese für einen souveränen, nordirischen Umgang mit diesem unvollendeten Prozess wegen der tiefwurzelnden Konfliktgeschichte noch nicht »reif« sind, macht die Krisen des Friedensprozesses aus. Ambivalenzen sind ein natürlicher Faktor in Friedensprozessen. Um von ihren konstruktiven Seiten Gebrauch zu machen, ist Geduld, Kreativität und ein langer Atem erforderlich. Nur so kann der notwendige Respekt zwischen verfeindeten Konfliktparteien aufgebaut werden.

Für die heutige internationale Konstellation, in der sich viele ungelöste innergesellschaftliche Gewaltkonflikte und Kriege mit einem neuen, scheinbar globalen Konfliktszenario des »war against terrorism« mischen und zum Teil in schwieriger Weise überlagern, mögen die folgenden, in aller Vorsicht gezogenen Verallgemeinerungen aus dem Nordirlandkonflikt als Diskussionsanstöße dienen:

  • der begrenzte bis untaugliche Ertrag des Einsatzes militärischer Mittel zur Bekämpfung (gerade auch terroristischer) Formen einer gewaltgeprägten Konfliktkonstellation; stattdessen die kreative Entwicklung aller Instrumente von »soft power«;
  • die Bedeutung einer einschließenden politischen (Dialog) Strategie bei Friedensverhandlungen und die Eröffnung politischer Partizipationschancen grundsätzlich auch gegenüber radikalen Konfliktparteien;
  • die große Rolle von Vertrauensbildung durch glaubwürdige externe Vermittler bzw. Drittparteien, vor allem auf dem sensiblen Gebiet der Abrüstung (z.B. durch Waffeninspektionen);
  • Abrüstung ist meist keine Einbahnstraße; der Abbau verfestigter nichtstaatlicher und staatlicher Gewaltstrukturen erfordert ein Verständnis von Gegenseitigkeit, den allmählichen Aufbau eines gemeinsamen, überparteilichen Sicherheitsverständnisses;
  • die Einbeziehung der Zivilgesellschaft bei der Transformation und Integration paramilitärischer Organisationen und dem Aufbau einen neuen Sicherheitsstruktur;
  • die Herausbildung von parteienübergreifendem »political leadership« zur Vermittlung der sozialen und identitätsrelevanten Faktoren von Demokratisierung jenseits historisch gewachsener Spaltung.
  • Es ist zu hoffen, dass diese Lehren bei der künftigen Lösung von Gewaltkonflikten – zum Beispiel in Kaschmir oder im Nahen Osten – Berücksichtigung finden werden.

Weiterführende Literatur

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Wahlergebnisse der nordirischen Parteien, 1996 – 2003 (in Prozent)
  Northern Ireland Forum Election Westminster General Election Local Government Elections Northern Ireland Assembly Election European Parliament Election Westminster General Election Local Government Elections Northern Ireland Assembly Election
  1996 1997 1997 1998 1999 2001 2001 2003
UUP 24,2 32,7 27,9 21,3 17,6 26,8 22,9 22,7
SDLP 21,4 24,1 20,6 22,0 28,1 21,0 19,4 17,0
DUP 18,8 13,6 15,6 18,0 28,4 22,5 21,4 25,7
SF 15,5 16,1 16,9 17,7 17,3 21,7 20,7 23,5
ALL 6,5 8,0 6,6 6,5 2,1 3,6 5,1 3,7
UKUP

3,7 1,6 0,5 4,5 3,0 1,7 0,6
PUP

3,5 1,4 2,2 2,6 3,3 0,6 1,6
UDP

2,2 1,0 1,1
Independents

3,8 6,6
Others

4,3 2,5 5,4 6,3 0,2 2,1 1,7 7,3
ALL = Alliance Party – DUP = Democratic Unionist Party – PUP = Progressive Unionist Party – SDLP = Social Democratic Labour Party – SF = Sinn Fein UDP = Ulster Democratic Party – UKUP = United Kingdom Unionist Party – UUP = Ulster Unionist Party

Quellen: Nicholas Whyte, 2001. »Northern Ireland Elections: 7 June 2001«. 13 June 2001.(www.explorers.whyte.com.), und http://www.rte.ie/news/assembly2003

Die »Mitchell Principles«

19) To reach an agreed political settlement and to take the gun out of Irish politics, there must be commitment and adherence to fundamental principles of democracy and non-violence. Participants in all-party negotiations should affirm their commitment to such principles.

20) Accordingly, we recommend that the parties to such negotiations affirm their total and absolute commitment:

a) To democratic and exclusively peaceful means of resolving political issues;

b) To the total disarmament of all paramilitary organisations;

c) To agree that such disarmament must be verifiable to the satisfaction of an independent commission;

e) To renounce for themselves, and to oppose any effort by others, to use force, or threaten to use force, to influence the course or the outcome of all-party negotiations;

f) To agree to abide by the terms of any agreement reached in all-party negotiations and to resort to democratic and exclusively peaceful methods in trying to alter any aspect of that outcome with which they may disagree; and,

g) To urge that »punishment« killings and beatings stop and to take effective steps to prevent such actions.

Auszug aus dem Report of the Independent International Commission on Decommissioning, 22. Januar 1996 (http://www.nio.gov.uk/mitchrpt.htm)

Das Modell der Konkordanzdemokratie in Nordirland
Power-sharing Exekutive
  • »First Minister« (Unionist) und »Deputy First Minister« (Nationalist)
  • Besetzung der Ministerposten nach der Stärke der Parteien
Proportion Repräsentation
  • Verhältniswahlrecht zur »Assembly« (108 Abgeordnete)
  • paritätische Besetzung an der Parlamentsspitze
  • proportionale Besetzung aller Ausschüsse, der jeweiligen Vorsitzenden und ihrer Stellvertreter nach der Stärke der Parteien
Vetorechte
  • Abstimmung auf »Cross-community-Basis« bei zentralen Entscheidungen (z. B. Wahlen, Budgetfragen) oder auf Antrag von mindestens 30 Abgeordneten
  • »parallel consent-Verfahren« (doppelte Mehrheit)
  • »weighted majority-Verfahren« (60 % aller Abgeordneten, 40 % jeder Gruppe für Zustimmung erforderlich)
Gruppen-Autonomie
  • Anerkennung der beiden nationalen Traditionen und ihrer Symbole
  • Autonomie für protestantische, katholische oder bi-konfessionelle Schulsysteme
Streitschlichtung
  • »Committees« mit Konsultations-, Initiativ- und Kontrollrechten
  • »Equality Commission« zur Gewährleistung der Gleichbehandlung beider Gruppen und ihrer Mitglieder
  • Menschenrechtskommission
  • Mechanismen zur Koordination und Streitvermeidung zwischen nordirischen Institutionen und Westminster
Aus Schneckener, 2002, S. 307

Auszüge aus dem Belfaster Abkommen

Rights, Safeguards and Equality of Opportunity

Human Rights

1. The parties affirm their commitment to the mutual respect, the civil rights and the religious liberties of everyone in the community. Against the background of the recent history of communal conflict, the parties affirm in particular:

  • the right of free political thought;
  • the right to freedom and expression of religion;
  • the right to pursue democratically national and political aspirations;
  • the right to seek constitutional change by peaceful and legitimate means;
  • the right to freely choose one's place of residence;
  • the right to equal opportunity in all social and economic activity, regardless of class, creed, disability, gender or ethnicity;
  • the right to freedom from sectarian harassment; and
  • the right of women to full and equal political participation.

United Kingdom Legislation

2. The British Government will complete incorporation into Northern Ireland law of the European Convention on Human Rights (ECHR), with direct access to the courts, and remedies for breach of the Convention, including power for the courts to overrule Assembly legislation on grounds of inconsistency …

4. The new Northern Ireland Human Rights Commission (see paragraph 5 below) will be invited to consult and to advise on the scope for defining, in Westminster legislation, rights supplementary to those in the European Convention on Human Rights, to reflect the particular circumstances of Northern Ireland, drawing as appropriate on international instruments and experience. These additional rights to reflect the principles of mutual respect for the identity and ethos of both communities and parity of esteem, and – taken together with the ECHR – to constitute a Bill of Rights for Northern Ireland …

New Institutions in Northern Ireland

5. A new Northern Ireland Human Rights Commission, with membership from Northern Ireland reflecting the community balance, will be established by Westminster legislation, independent of Government …

Comparable Steps by the Irish Government

9. The Irish Government will also take steps to further strengthen the protection of human rights in its jurisdiction. The Government will, taking account of the work of the All-Party Oireachtas Committee on the Constitution and the Report of the Constitution Review Group, bring forward measures to strengthen and underpin the constitutional protection of human rights. These proposals will draw on the European Convention on Human Rights and other international legal instruments in the field of human rights and the question of the incorporation of the ECHR will be further examined in this context …

Reconciliation and Victims of Violence

11. The participants believe that it is essential to acknowledge and address the suffering of the victims of violence as a necessary element of reconciliation. They look forward to the results of the work of the Northern Ireland Victims Commission.

12. It is recognised that victims have a right to remember as well as to contribute to a changed society. The achievement of a peaceful and just society would be the true memorial to the victims of violence. The participants particularly recognise that young people from areas affected by the troubles face particular difficulties and will support the development of special community-based initiatives based on international best practice …

An essential aspect of the reconciliation process is the promotion of a culture of tolerance at every level of society, including initiatives to facilitate and encourage integrated education and mixed housing.

Decommissioning

1. Participants recall their agreement in the Procedural Motion adopted on 24 September 1997 »that the resolution of the decommissioning issue is an indispensable part of the process of negotiation«, and also recall the provisions of paragraph 25 of Strand 1 above.

2. They note the progress made by the Independent International Commission on Decommissioning and the Governments in developing schemes which can represent a workable basis for achieving the decommissioning of illegally-held arms in the possession of paramilitary groups.

3. All participants accordingly reaffirm their commitment to the total disarmament of all paramilitary organisations. They also confirm their intention to continue to work constructively and in good faith with the Independent Commission, and to use any influence they may have, to achieve the decommissioning of all paramilitary arms within two years following endorsement in referendums North and South of the agreement and in the context of the implementation of the overall settlement.

4. The Independent Commission will monitor, review and verify progress on decommissioning of illegal arms, and will report to both Governments at regular intervals …

Security

1. The participants note that the development of a peaceful environment on the basis of this agreement can and should mean a normalisation of security arrangements and practices.

2. The British Government will make progress towards the objective of as early a return as possible to normal security arrangements in Northern Ireland, consistent with the level of threat and with a published overall strategy, dealing with:

(i) the reduction of the numbers and role of the Armed Forces deployed in Northern Ireland to levels compatible with a normal peaceful society;

(ii) the removal of security installations;

(iii) the removal of emergency powers in Northern Ireland; and

(iv) other measures appropriate to and compatible with a normal peaceful society.

3. The Secretary of State will consult regularly on progress, and the response to any continuing paramilitary activity, with the Irish Government and the political parties, as appropriate …

Policing and Justice

1. The participants recognise that policing is a central issue in any society. They equally recognise that Northern Ireland's history of deep divisions has made it highly emotive, with great hurt suffered and sacrifices made by many individuals and their families, including those in the RUC and other public servants. They believe that the agreement provides the opportunity for a new beginning to policing in Northern Ireland with a police service capable of attracting and sustaining support from the community as a whole. They also believe that this agreement offers a unique opportunity to bring about a new political dispensation which will recognise the full and equal legitimacy and worth of the identities, senses of allegiance and ethos of all sections of the community in Northern Ireland. They consider that this opportunity should inform and underpin the development of a police service representative in terms of the make-up of the community as a whole and which, in a peaceful environment, should be routinely unarmed.

2. The participants believe it essential that policing structures and arrangements are such that the police service is professional, effective and efficient, fair and impartial, free from partisan political control; accountable, both under the law for its actions and to the community it serves; representative of the society it polices, and operates within a coherent and co-operative criminal justice system, which conforms with human rights norms. The participants also believe that those structures and arrangements must be capable of maintaining law and order including responding effectively to crime and to any terrorist threat and to public order problems. A police service which cannot do so will fail to win public confidence and acceptance …

3. An independent Commission will be established to make recommendations for future policing arrangements in Northern Ireland including means of encouraging widespread community support for these arrangements within the agreed framework of principles reflected in the paragraphs above and in accordance with the terms of reference at Annex A. The Commission will be broadly representative with expert and international representation among its membership and will be asked to consult widely and to report no later than Summer 1999.

4. The participants believe that the aims of the criminal justice system are to:

  • deliver a fair and impartial system of justice to the community;
  • be responsive to the community's concerns, and encouraging community involvement where appropriate;
  • have the confidence of all parts of the community; and
  • deliver justice efficiently and effectively …

7. The participants also note that the British Government remains ready in principle, with the broad support of the political parties, and after consultation, as appropriate, with the Irish Government, in the context of ongoing implementation of the relevant recommendations, to devolve responsibility for policing and justice issues.

Vollständiger Wortlaut unter http://www.nio.gov.uk/issues/agreement.htm

Joint Declaration: Gemeinsame Erklärung der britischen und irischen Regierung, April 2003

Requirements of Peace and Stability

The two Governments have, over recent months, engaged in extensive dialogue, including discussions with the pro-Agreement parties, about ways of bringing the search for long-term peace and stability in Northern Ireland, through its concluding phase, to fruition, and of securing the full implementation of the Agreement …

A key impediment to completing the evolution to such a society in Northern Ireland is that both major traditions have lacked confidence and trust in each other. A major factor contributing to the erosion of the confidence and trust of law-abiding people throughout the community has been the continuing active manifestations of paramilitarism, sectarian violence and disorder. While it would not be possible to complete the transition to longer-term peace and stability by dwelling forever on the undoubted wrongs and associated hatred of the past, neither is it possible to create a new beginning without taking account of, and addressing, its legacies.

The obligation to create the circumstances in which peace and stability become a reality, and in which politically motivated violence becomes forever a thing of the past, rests on everyone. Some parties are, of course, better placed than others directly to persuade those engaged in violence to desist. And some have, over recent years, clearly demonstrated their willingness and success in doing so. However, all have an important role to play in demonstrating their commitment to the operation of political institutions that are characterised by durability, effectiveness and inclusiveness. The best way of ensuring that peace remains permanent is by demonstrating that politics work.

Acts of Completion

…The Agreement remains the template for political progress, has been endorsed by the people of Ireland, North and South, and is the only sustainable basis for a fair and honourable accommodation between all traditions.

…The two Governments wish to see the devolved institutions restored as soon as possible. But devolved government in Northern Ireland can only flourish on the basis of trust between the parties. In order to re-establish that trust, it must be clear that the transition from violence to exclusively peaceful and democratic means is being brought to an unambiguous and definitive conclusion. It is also essential that each party has confidence in the commitment of the representatives of the others to the full operation and implementation of the Agreement in all its aspects and accords respect to each others' democratic mandate …

Political Institutions

… The political institutions, across all three strands, are the democratic core of the Agreement. The two Governments, with the parties, have been working towards, and wish to see, the restoration of the Northern Ireland institutions as swiftly as possible. In the context of definitive acts of completion, the British Government would be prepared to repeal the power in the Northern Ireland Act 2000 to suspend these institutions by order. They recognise that the review of the operation of the Agreement this autumn … will need to consider other aspects of the functioning of the institutions which might contribute to greater stability …

Paramilitarism

… Five years after the Agreement, the transition to exclusively democratic means must now be completed. Ongoing paramilitary activity, sectarian violence, and criminality masquerading as a political cause, are all corrosive of the trust and confidence that are necessary to sustain a durable political process.

… All paramilitary groups should actively engage with the Independent International Commission on Decommissioning with a view to putting arms beyond use in a manner that is conducive to creating public confidence and all parties should, in accordance with the Agreement, use their influence to encourage and support the completion of that process …

… Paramilitary groups need to make it clear that they have made such an historic act of completion, and that it is reflected in reality on the ground. The Governments are aware of the strides made by some groups and acknowledge that the paramilitary ceasefires, independent arms inspections and three acts of decommissioning have been important in enabling and sustaining the political process over recent years.

…The Governments believe it is essential that those paramilitary groups that have not, to date, shown a willingness to follow the route towards peace should do so now…

Normalisation

… As outlined in Annex 1, the outcome would be that the profile of the police and army in Northern Ireland would, over the period between now and April 2005, change to that required in any peaceful society, it being accepted that normalised security arrangements have to include the capacity to respond quickly, effectively and proportionately to criminal threats that may be directed towards its individual members or towards society as a whole. The change in that profile would involve the vacation and demolition of security installations, the closure of designated military bases, a substantial decrease in military deployments in support of the police, the phased reduction in troops to peacetime levels, and a substantial decrease in military helicopter activity and usage.

Policing and Justice

… The new beginning in policing envisaged by the Agreement, requires, amongst other things, all community leaders, including political party leaders and local councillors, to take steps to remove all discouragements to members of the community from supporting and applying to join the police, and making it a priority to encourage them to apply. Part of this process would involve Sinn Féin deciding to join the Policing Board and the District Policing Partnerships. In recognition of the importance of policing with the support of the community, the PSNI will renew and continue its efforts to encourage applications from all parts of the community, including those in which the service has traditionally been under-represented. Efforts should be made to encourage recruitment from women and ethnic minorities.

Rights, Equality, Identity and Community

… The two Governments fully accept that acknowledging and addressing the suffering of the victims of violence is a necessary element of reconciliation. In the past, victims' needs have been neglected. Much has been achieved since the signing of the Agreement, but the time has now come to develop the next stage of policies for victims, taking account of the need for a long-term approach. The British Government reaffirms the principle that there is no hierarchy of victims. The two Governments will work with the parties, victims and survivors to seek to establish what further practical steps can be taken to recognise and address the suffering of all victims, taking into account the state of readiness of the community as a whole to engage. To facilitate that work, consideration will be given to the establishment of a victims' and survivors' forum. Remembering and recognition are an essential part of the healing process.

… The two Governments recognise that Northern Ireland remains a deeply divided society, with ingrained patterns of division that carry substantial human and financial costs. They recognise the importance of building trust and improving community relations, tackling sectarianism and addressing segregation, including initiatives to facilitate and encourage integrated education and mixed housing.

… Accordingly, in consultation with the Irish Government, the International Fund for Ireland, the Special EU Programmes Body and representatives of civic society in Northern Ireland, the British Government will work with the devolved administration, when restored, to bring forward a strategic and integrated approach aimed at the progressive regeneration of those areas of greatest disadvantage …

Review

… The two Governments are committed to a review this autumn of the operation of the Agreement … This provides a vehicle for further consideration of a number of other important issues that the parties have brought to the table. These will include the question of designation and voting arrangements in the Northern Ireland Assembly …

http://www.nio.gov.uk/pdf/joint2003.pdf

Anmerkungen

1) www.nics.gov.uk/eu/eussppr/

Dr. Corinna Hauswedell, Bonn International Center for Conversion, leitete ein von der VW-Stiftung gefördertes Forschungsprojekt zum Friedensprozess in Nordirland. Sie ist Vorsitzende der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF e.V.) und Mitherausgeberin des jährlichen »Friedensgutachtens«

Eine umfassende Alternative zur militärischen Antiterrorismuspolitik der USA

Memorandum des »Arbeitskreises für Friedenspolitik – Atomwaffenfreies Europa«

Eine umfassende Alternative zur militärischen Antiterrorismuspolitik der USA

von AFK

Vorwort

Das folgende Memorandum1 des Arbeitskreises für Friedenspolitik – Atomwaffenfreies Europa (AKF) ist verbandsintern Ende 2001 veröffentlicht worden. Es hat sich gezeigt, dass dessen Kern, eine umfassende Alternative zu entwickeln zur militarisierten Antiterrorismuspolitik der USA, auch nach der Beseitigung des Taliban-Regimes in Afghanistan keineswegs gegenstandslos geworden ist.

Ganz im Gegenteil: Der Krieg in Afghanistan geht weiter und die amerikanischen Kriegsvorbereitungen gegen die von ihr so genannte Achse des Bösen (Iran, Irak, Nordkorea) – vor allem gegen den Irak – zeigen nur allzu deutlich, dass Friedensforschung und Friedensbewegung allen Grund haben, kompromissloser als bisher (Ludger Volmer!) zu ihrem klassischen Votum zurückzukehren, dass der Krieg kein akzeptables Mittel der Politik ist. Allerdings müssen Friedensforschung und Friedensbewegung der Öffentlichkeit dazu etwas bieten, was ihnen immer schwerer gefallen ist als Kritik: eine umfassende politische Alternative. Einzelvorschläge hat es seit dem 11. September überall gegeben. Was bis heute fehlt ist ein Gesamtkonzept. Dem dient dieses Memorandum. Naturgemäß kann es nur einen Rahmen liefern, der im Einzelnen auszufüllen wäre.

Dass unser kategorisches Nein zu der amerikanischen militarisierten Antiterrorismus-Politik keinem fundamentalistischen Pazifismus entspringt (den der AKF immer abgelehnt hat), sondern auf sehr realistischen Befürchtungen basiert, ist am 21. Februar erstaunlicherweise durch die EU-Außenminister bestätigt worden: Mittlerweile schrecken sogar die politisch Verantwortlichen der Europäischen Union vor der sich erweiternden US-amerikanischen Kriegspolitik zurück. Nachdem der französische Außenminister Védrine Anfang Februar bereits eine sehr harte Absage an die Politik der USA und ihr allzu »einfältiges« Schwarz-weiß-Bild der Welt formuliert hatte, machten die Außenminister der Europäischen Union auf einem Treffen am 10. Februar 2002 einmütig Front gegen die amerikanische Politik. Wir veröffentlichen diese tatsächlich sensationelle Aufkündigung der »uneingeschränkten Solidarität« der Europäer und insbesondere der Deutschen in der Dokumentation (Dok. 1), die ich im Anschluss an das Memorandum des AKF publiziere.

Anmerkungen

1) Der Entwurf zu diesem Memorandum stammt von Professor Fritz Vilmar; er wurde vom Vorstand des Arbeitskreises, insbesondere von Professor Klaus Riedel, überarbeitet und verabschiedet.

Prof. Dr. Fritz Vilmar

»Krieg« ist die falsche Antwort

Ein fünfteiliges alternatives Gesamtkonzept

Wir sind mit einer neuen Qualität terroristischer Gewalt konfrontiert. Die ungewöhnlich breite, wenn auch äußerst labile Anti-Terror-Allianz nach dem 11. September macht deutlich, dass diese Einsicht die handlungsbestimmenden Koordinaten des politischen Denkens nicht nur in den westlichen Industrieländern erschüttert. Die Gefährdung zivilen Zusammenlebens, staatlicher und nichtstaatlicher Ordnungen durch die kalkulierte Brutalität skrupelloser Fanatiker wurde mit der Menschen verachtenden Zerstörung des World Trade Center in New York weltweit exemplarisch vor Augen geführt.

Die Fassungslosigkeit in den USA und bei allen, die in menschlicher/politischer Solidarität wie auch aus Angst vor eigener potenzieller Bedrohung nach angemessenen Deutungen und Reaktionen auf die unvorstellbaren Terrorakte fragen, ist verständlich. Gefährlich allerdings ist die Verarbeitung von Demütigungs- und Ohnmachtserfahrungen durch die Autosuggestion unbezweifelbarer Überlegenheit, durch unabsehbare Militäraktionen und eine selbstgerechte Kreuzzugsmentalität. Wo soll die Täter-Opfer, Opfer-Täter-Spirale enden?

Eine nachhaltige Bekämpfung des weltweit gefürchteten Terrorismus, der selbst vor Massenmord nicht zurückschreckt und durch allgemeine Verunsicherung tief greifende gesellschaftliche Veränderungen und die erosionsartige Destabilisierung ganzer Weltregionen zur Folge haben kann, wird zu berücksichtigen haben, dass seit Jahren die kritische Friedensforschung, aber auch zahlreiche nationale wie internationale Kommissionen und Foren, Gefährdungsanalysen erarbeitet und vor Entwicklungen gewarnt haben, die nun Realität zu werden beginnen. Statt der dringend angemahnten politischen Anstrengungen, durch die Überwindung von Armut, Hunger und Analphabetismus, durch die Befriedung (nicht nur) des Nahost-Konflikts, durch einen Dialog zwischen den Kulturen und den Verzicht auf Hegemonie das Gefahrenpotenzial eskalierender Konflikte abzubauen, betrieben die westlichen Industrieländer – und führend die USA – jedoch eine Globalisierung des Marktes und eine kaum kompromissbereite Interessendurchsetzung des Stärkeren. Militärische Macht, hochtechnisierte Truppenverbände und flexibel einsetzbare Eingreiftruppen erhielten die Funktion, diese den »Wettkampf der Systeme« ablösende »neue Weltordnung« zu sichern, ihr Geltung zu verschaffen.

Diese folgenschweren Fehler der westlichen Demokratien rechtfertigen nicht und relativieren in keiner Weise die Osama Bin Laden zugeschriebenen verbrecherischen Terrorakte. Neben einer entschlossenen Bekämpfung dieser terroristischen Gewalt – ihrer Anstifter, Strategen, Finanziers, Schutzgewährer und (Selbst-)Mordbereiten – mit erfolgversprechenden, völkerrechtlich legitimierten Maßnahmen (geheimdienstliche und polizeiliche Aktivitäten, Blockierung der Finanzressourcen durch Bankkontrollen, Erschwerung/Unterbindung des Drogen- und Waffenhandels; punktuelle militärische Einsätze als ultima ratio) sind daher vor allem intensivere Anstrengungen einer nachhaltigen Befriedungs- und Friedenspolitik erforderlich.

Die derzeit von Militärs dominierte Terroristenbekämpfung ist unverhältnismäßig, politisch riskant und kontraproduktiv, weil in der gegenwärtigen Welt(macht)situation mit ihren Elendsgebieten Terroristen und Terroristen-Netzwerke wie »Al Qaida« überall wie Pilze nachwachsen. Unabdingbar sind konkrete Friedensstrategien, die sich an zwei Leitvorstellungen orientieren:

  • das – im Wesentlichen vom Westen zu verantwortende – Elend zu beseitigen, in dem die Agitation und die Akte des Terrorismus gedeihen,
  • dem Terror möglichst wenig Angriffsflächen zu bieten.

Im Folgenden sollen fünf miteinander zu verbindende Friedensstrategien zur Diskussion gestellt werden. Beabsichtigt ist, im Zusammenhang öffentlich erörterter Problemzusammenhänge notwendige Akzentuierungen politischen Handelns aufzuweisen. Wir sind bereit, dieses strategische Konzept öffentlich und kontrovers zu diskutieren.

Erstens: Kategorische Ablehnung des »Krieges« als Antiterror-Strategie

Die Bekämpfung terroristischer Gewalt rechtfertigt keinen »Krieg« gegen ein Land, das dem (vermutlichen) Anstifter von Terrorakten Aufenthalt und Schutz gewährt. Notfalls notwendig werdende, umsichtig vorzubereitende militärische Kommandounternehmen müssen aufgabenbezogen streng begrenzt bleiben. Selbst wenn eine aktive Komplizenschaft zwischen Bin Laden und dem Talibanregime nachweisbar wäre – was im aktuellen Fall unterstellt wurde –, waren die Bombardements zur Unterstützung der im Land kämpfenden Nordallianz völkerrechtlich und politisch äußerst fragwürdig. Zudem vollzog sich eine nicht zu rechtfertigende Zielverlagerung des »Krieges«: Statt der angekündigten Antiterroraktion, der erklärten Konzentration auf Bin Laden und das Al Qaida-Netzwerk, wurden mit dem angestrebten Sturz der Taliban offenbar geopolitische Ziele verfolgt (Erdöl- und Erdgas-Region!) und im Übrigen versucht, jahrelange Fehler einer Politik zu korrigieren, die die USA ganz wesentlich mit zu verantworten haben.

Es ist ein Zeichen der Schwäche und des Versagens der europäischen Verbündeten, dass sie der Umdeutung einer legitimen Antiterrorkampagne in eine hochgefährliche »Kriegsstrategie« nicht entgegengetreten sind und nicht klargestellt haben, dass sie zwar an einer konsequenten Antiterrorstrategie solidarisch teilzunehmen bereit sind, Kriegs-Aktionen aber als völlig ungeeignete Reaktionen ablehnen. Der bis zur Zerreißprobe eskalierte Konflikt in den Koalitionsparteien des Deutschen Bundestages dürfte in diesem Zwiespalt seine eigentliche Ursache haben.

Im Gegensatz zu solcher devoten »Solidarität« geht es um eine strikte Absage an alle Kriegsführungsstrategien, da diese die Eskalationsspirale von Kamikaze-Terror-Aktionen in die Höhe treiben. Die öffentliche Äußerung des US-Verteidigungsministers Rumsfeld, es könne, um die Terrorbasen zu vernichten, zum Krieg gegen die so genannten Schurkenstaaten kommen, ist nicht nur eine Provokation der betroffenen Länder, sondern befördert die Terrorbereitschaft und -organisation eher, als sie abzuschrecken (vgl. Dok. 1).

Zu dieser kontraproduktiven und inhumanen Politik der Bombardements gehört übrigens auch die Umfunktionierung der von den USA (widerrechtlich) beanspruchten Lufthoheit über große Teile des Irak zu einem seit 1991 ständig erweiterten Flugverbot, das von immer neuen Bomben- und Raketenangriffen, angeblich zur Selbstverteidigung der kontrollierenden britischen und US-amerikanischen Flugzeuge, begleitet wird.

Eine weitsichtige Politik muss sich um den Abbau von Spannungen bemühen, statt – wie in Afghanistan und auch im Irak – zur Eskalation von Konflikten beizutragen. Die Terroranschläge am 11. September hätten Anlass sein müssen, im Zusammenwirken der Antiterror-Allianz eine Stärkung der Vereinten Nationen zu befördern.

Zweitens: Druck auf Israel, zur Friedenspolitik zurückzukehren

Eine friedenstiftende Politik muss sich zudem sehr viel entschiedener einem seit Jahren nicht nur im Nahen Osten Hass und Verzweiflung nährenden, Terrorbereitschaft fördernden Konflikt zuwenden: Die zwischen Israelis und Palästinensern strittigen Fragen ihrer staatlichen Existenz haben durch die Eskalation beidseitig geförderter Gewaltakte eine Brisanz erreicht, die kaum noch kontrollierbar ist und sich in spektakulären Terrorakten entladen kann (vgl. Dok. 3). Zweifellos müssen beide Seiten zur Konfliktlösung beitragen. Aber gegenwärtig trägt die israelische Regierung eine Hauptverantwortung für die Eskalation der Gewalt.

Daher geht es jetzt um einen massiven Druck auf die (letztlich selbstzerstörerische) ultra-nationalistische Hälfte der Wähler und Politiker Israels, die gegen den Willen der anderen, friedenswilligen Hälfte des Volkes mit Hilfe einer aggressiven Siedlerpolitik, mit einer Politik permanenter militärischer Provokation und Überreaktion den Friedensprozess systematisch torpediert und den Terroraktionen der extremistischen Palästinensergruppen ständig Vorwände liefert (vgl. Dok. 2).

Die israelische Rüstungs- und Militärpolitik und damit die gesamte schwer verschuldete Staatspolitik ist bekanntlich ohne die weit überproportionalen US-amerikanischen Subventionen am Ende. Es liegt also unmittelbar in der Verantwortung der Vereinigten Staaten, der permanenten Demütigung und Diskriminierung der Palästinenser durch ein als Vasall der USA betrachtetes Israel – der Hauptursache arabischen Hasses – ein Ende zu bereiten. Aus Washington kamen zeitweilig vage Andeutungen einer solchen Bereitschaft – inzwischen aber sogar Ermutigungen Sharons, Arafat zu liquidieren. Nur die EU (und der UN-Generalsekretär) stellte sich hinter Präsident Arafat. Sharon, führender israelischer Hardliner, reagierte darauf mit rüden Beschimpfungen: Um die Araber im weltweiten Kampf gegen den Terrorismus zu beschwichtigen, wolle man Israel im Stich lassen. Dies zeigt dessen akute Angst, der Westen könnte, auch unter dem Druck der Weltgemeinschaft, seine aggressive, unbeirrt friedensfeindliche Politik nicht länger stützen.

Ist es Heuchelei oder Ignoranz, wenn nach dem Terrorangriff in Manhattan häufig erstaunt gefragt wurde, woher denn die maßlose Wut vieler Araber gegen die USA komme? (Vgl. Dok. 3) Dabei dürfte für jeden halbwegs Informierten zu erkennen sein, dass Israels permanente Infragestellung des palästinensischen Lebensrechts in ihren Regionen eine immer neu aufbrechende Wunde in der ohnehin prekären kollektiven Existenz dieser arabischen Völkergruppe darstellt. Daher muss die israelische Siedlungs- und Herrschaftspolitik endlich entschiedener verurteilt werden, wobei neben der diplomatischen Einflussnahme auch die Androhung von politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen kein Tabu sein sollte. Es muss ein vorrangiges Ziel der westlichen, insbesondere auch der europäischen Politik werden, das explosive Verhältnis der Palästinenser und Israelis zu befrieden.

Drittens: Ermutigung der friedenswilligen Muslime, gegen den Missbrauch des Islam Stellung zu beziehen.

Eine weitere friedenstiftende Strategie ist ein weltweiter, offener und lernbereiter Dialog mit den anti-terroristisch gesonnenen Verantwortlichen des Islam. Besonnene Politiker und Intellektuelle warnen seit Jahren vor einer Auseinandersetzung unter der Leitidee eines »Kriegs der Kulturen«, während Unbelehrbare diesen mehr oder weniger bewusst stimulieren. (»Kampf zwischen Morgenland und Abendland«). Berlusconi ging noch einen Schritt weiter, als er die alte imperialistische These von der Überlegenheit des weißen Mannes – sprich der christlichen Kultur über die islamische – reaktivierte.

Doch es genügt nicht mehr, sich gegen diese kriegtreibenden Vorurteile zu verwahren. Wichtig wäre eine Einladung, eine emphatische Herausforderung an die friedenswilligen islamischen Gelehrten, Geistlichen und Politiker, auf Kongressen und in Diskussionsforen öffentlich und entschieden gegen die Missdeutung des Korans sowie die islamistische Fanatisierung unter Missbrauch der Dschihad-Idee vom Heiligen Krieg Position zu beziehen. Ein solches Engagement bedeutender Muslim-Persönlichkeiten könnte trotz der Meinungsvielfalt in dieser Religion eine Autorität entfalten und wenigstens teilweise das Prestige der selbst ernannten »Heiligen Krieger« und ihrer Selbstmordideologie im Namen Allahs auch in der islamischen Welt destruieren (vgl. Dok. 6).

Vorbildlich war in diesem Sinne die Moskauer Konferenz mit muslimischen Würdenträgern, von der Putin in seiner Berlin-Rede berichtete, und vorbildlich ist der Appell des iranischen Präsidenten Kathami, der Bin Laden verurteilte, weil er den Islam als Vorwand für seine Aktivitäten missbrauche: Terrorismus sei ein großes Verbrechen, aber den Islam als Vorwand und Rechtfertigung zu benutzen, sei ein noch größeres Verbrechen, denn diese Religion habe niemals Gewalt und das Töten Unschuldiger gutgeheißen. In der Tat muss unmissverständlich deutlich gemacht werden, dass durch die islamistischen Hasslehren eine Schändung der islamischen Religion erfolgt.

Auch der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland und ihr Vorsitzender Hassan Özdugan, sowie der Zentralrat der Muslime in Deutschland mit seinem Vorsitzenden Nadeem Elyas sollten sich noch entschiedener im Zusammenhang einer solchen weltweiten islamischen Initiative in dem genannten Sinne öffentlich an ihre islamischen Glaubensgenossen wie auch an die deutsche Bevölkerung wenden und den Rechtfertigungsversuchen eines religiös motivierten Terrors durch aufgeklärtes, auch theologisch fundiertes Wissen entgegentreten. Das verbreitete Misstrauen und die zuweilen beobachtbare Aggressivität gegenüber Muslims in der westlichen Welt werden nach den Anschlägen in New York und Manhatten nur überwunden werden können, wenn die aktiv-antiterroristische Haltung unserer muslimischen Landsleute von diesen bzw. von ihren anerkannten Sprechern unzweideutig zum Ausdruck gebracht wird.

Der öffentliche Diskurs über das Selbstverständnis des Islam ist zu verbinden mit einem interkulturellen Dialog, der Gleiches auch für die anderen Religionsgemeinschaften thematisiert.

Viertens: Gezielte Wirtschaftsprogramme gegen die Armut – Zwei Schwerpunkte

Der Kampf gegen den Terrorismus wird gewiss nicht erfolgreich geführt werden können, solange der politisch fanatisierte Islamismus als Rache-Ideologie den Massen der Armen in der muslimischen Welt Trost bietet unddaherAnhängerschaft findet. In den Entwicklungsländern rund um das südliche und östliche Mittelmeer, aber auch in Asien, haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg trotz und zum Teil gerade wegen beachtlicher Modernisierungserfolge – aufgrund einer ausbeuterischen westlichen Handelspolitik, despotischer Staatsführungen und eines alle Wirtschaftsentwicklungen überholenden Bevölkerungswachstums – arbeitslose und daher verarmte, nicht länger dörflich integrierte Massen entwickelt. Diese sind mehr und mehr zur Beute jener fanatischen Mullahs geworden, die bei der Suche nach Schuldigen für die Misere den »Westen«, insbesondere den »großen Satan« USA, ausgemacht haben.

Die Ärmsten dieser Armen lassen sich infolgedessen für Entlastungsreaktionen in Regionen wie Israel derzeit zu verheerenden Selbstmordattentaten religiös aufputschen. Sie sind sowohl Opfer wie Mittäter in pseudo-islamischen autoritären oder gar Terrorregimen wie dem der afghanischen Taliban oder des irakischen Diktators. Relativ leicht politisch instrumentalisierbar, können sie für »Heilige« Kriege mobilisiert werden. In einem solchen zwischen Iran und Irak verloren Hunderttausende in dieser Region ihr Leben. Aber auch kleine Minderheiten besser ausgebildeter Söhne dieser fanatisch antiwestlichen Armutswelt sind in den Händen eines Bin Laden und seiner Gefährten hochgefährliche Kämpfer.

Natürlich wäre es illusionär zu glauben, Wirtschaftsprogramme oder sogar eine Wende in der Welthandelspolitik könnten allein das explosive Gemisch von Armut, politischem Despotismus und religiösem Fanatismus entschärfen, das (auch) in diesen muslimischen Regionen entstanden ist. Aber zweifellos könnten ein neues Problem- und Verantwortungsbewusstsein im Westen und damit auch neue dialogbereite ökonomische Kooperationspolitiken Wesentliches beitragen, die Lage in den Armuts- und Fanatismus-Brennpunkten zu verändern.

Das entscheidende Element einer weltwirtschaftspolitischen Wende ist die von den Entwicklungsländern seit langem geforderte Reform der Welthandelsordnung. Die – wesentlich von den großen US-amerikanischen Banken und Handelsorganisationen verschuldete – Misere ist bekannt. Es handelt sich im Wesentlichen

  • um den Stopp der Kapitalflucht aus den Entwicklungsländern, die nicht ohne eine Stabilisierung der Wechselkurse erreicht werden kann,
  • um einen Stopp der Liberalisierung des Welthandels, des immer weiteren Verfalls der Agrar- und Rohstoffpreise der Dritten Welt; zusammengefasst:
  • um eine grundlegende Reform der so genannten »terms of trade« (der Austauschbedingungen), die infolge der katastrophalen Währungs- und Preisentwicklung zu ungunsten der Entwicklungsländer die Verarmung, Überschuldung und Massenarbeitslosigkeit in der Dritten Welt im vergangenen halben Jahrhundert zunehmend verschlimmert, die ökonomische Abhängigkeit vom Westen unaufhaltsam vorangetrieben haben.

Wer vor dieser Riesenaufgabe einer Reform der Welthandelsbeziehungen (vgl. Dok. 4) zurückschreckt, sollte bedenken: Die genannten Forderungen werden seit Jahrzehnten erhoben, sind jedoch vom Westen, vor allem von den USA, konsequent ignoriert worden. Jetzt aber, wenn nach der Terrorkatastrophe von New York allerorten zu Recht festgestellt wird, dass „nichts mehr so sein wird, wie es war“, ist definitiv die Stunde der Umkehr gekommen: Ist der Westen nicht bereit, die von ihm diktierte und zu Verelendungsprozessen führende »Welthandels-Ordnung« grundlegend zu reformieren, wird es auf lange Sicht keine »Austrocknung des Terroristensumpfes« geben.

Der muslimische Fanatismus ist nur eine besonders gefährliche Speerspitze des sich verschärfenden Widerstands gegen die amerikanisch dominierte Globalisierung. Die immer breiter werdenden Protestaktionen der verschiedensten Anti-Globalisierungs-NGOs (beispielsweise attac) an den Orten der internationalen Wirtschaftskonferenzen zeigen, dass der Widerstand gegen die Herrschaft von Weltbank, IWF und WTO nicht nur von Terroristen ausgeht, sondern auch von einer wachsenden gewaltfreien Bewegung artikuliert wird, mit der zunehmende Anteile der Völker sympathisieren.

Es muss alles getan werden, um an die Stelle des Terrors diesen breiten zivilgesellschaftlichen Widerstand zu setzen, der die nationale, europäische und internationale Politik und durch sie die globalisierten Kapitalorganisationen zwingt, zu einer weltwirtschaftlichen Wohlfahrtspolitik umzusteuern. Gelingt dies nicht, so wird der Westen bald einer belagerten Festung gleichen, in der die Angst regiert und der Wohlstand mehr und mehr für teure Sicherheits- und Militärsysteme verbraucht wird.

Um aber nicht »allgemein« zu bleiben, schlagen wir zwei Schwerpunktprogramme vor:

  • Ein ökonomisches Sofortprogramm für Palästina: Es muss ein supranationaler, europäisch-amerikanischer »Marshallplan« zum ökonomischen Aufbau der Palästinaregion realisiert werden; damit ließe sich in einer befriedeten Region (s.o.) der Hass- und Terroragitation im Stil der Hamas der Boden entziehen.
  • Eine substanziell andere Verteilung der Ölgewinne: Mit den Ölförderungs-Konzessionen kassieren nicht nur wenige Scheich-Clans astronomische Profite, sondern auch die (meist amerikanischen) Ölgesellschaften und die (vor allem) westlichen Staaten durch milliardenschwere Steuereinnahmen. Mit Recht betrachten arabische Nationalisten dieses skrupellose Ölgeschäft als einen gigantischen Raub ihrer Bodenschätze. Die Umverteilung eines wesentlichen Teils dieser Erträge zugunsten eines volkswirtschaftlichen Aufbaus von Marokko bis Pakistan würde einen Wohlstandsschub in den Eigentümerländern bewirken und die Überwindung von Formen imperialistischer Ausbeutung einleiten. Eine darauf abzielende Konferenz der primär betroffenen Regierungen, der Ölmultis und der OPEC könnte zu Erfolgen führen, wenn allen Beteiligten klar ist, dass die Alternative eine Zunahme terroristischer und revolutionärer Angriffe sein könnte – möglicherweise auch auf die sehr verletzlichen Zentren der Ölförderung und -lagerung.

Fünftens: Dem Terrorismus weniger Angriffsflächen bieten

Die Marktgesetze in den westlichen Mediengesellschaften bringen es mit sich, dass die Folgen spektakulärer Terrorakte nicht nur jedermann drastisch vor Augen geführt, sondern dass durch eine quoten- und auflagensteigernde »Vermarktung« Überreaktionen begünstigt werden. Ein von Angst geprägtes Klima, das sich in einer Großfahndung nach Milzbrandsporen, dem Ausverkauf von Gasmasken, Panik an den Börsen bis hin zur gesetzlichen Einschränkung von individuellen Freiheiten äußert, lässt insbesondere Politiker zu Meinungsführern werden, die durch innen- und außenpolitischen Aktionismus Sicherheitsillusionen wecken, die die Verwundbarkeit hochtechnisierter Industriegesellschaften geradezu fahrlässig verdrängen. Unbewusst oder gewollt werden damit die Frage nach den Ursachen des Terrors und die selbstkritische Auseinandersetzung über langfristige Strategien zur Befriedung eines gefährlich gewordenen globalen Konfliktes aus der politischen Diskussion ausgeblendet.

Statt hysterisierender Spekulationen über zu erwartende Bedrohungssituationen und einer Fixierung (insbesondere konservativer Parteien) auf vorbeugende Sicherheitsmaßnahmen ist nüchtern festzustellen: Wir werden in der westlichen Welt auch künftig mit Terroranschlägen zu rechnen haben und die Katastrophe in Manhattan macht vorstellbar, welche Risiken moderne Industriegesellschaften eingehen, wenn sie – zumindest in der Wahrnehmung islamistischer Gesellschaften – die skrupellose Verfolgung und Durchsetzung der eigenen Interessen fortsetzen. Je schneller und entschiedener eine Neuorientierung der Politik im Sinne der oben vorgeschlagenen Strategien zwei und vier eingeleitet wird, desto berechtigter dürfte die Hoffnung sein, dass Interessenkonflikte nicht mehr mit brutaler Gewalt ausgetragen werden.

Kurzfristig ist sicher das Aufspüren von Terrornetzen und der so genannten Schläfer zu intensivieren sowie durch geeignete Maßnahmen zu verhindern, dass Flugzeuge weiterhin zu hochexplosiven lebenden Raketen umfunktioniert werden können, zum Beispiel

  • durch Installation abschließbarer Cockpits
  • durch Einbau eines (bereits existierenden) elektronischen Anti-Kollisionssystems
  • durch Mitflug ausgebildeter Sicherheitsbeamte (vgl. Dok. 5).

Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Einzelmaßnahmen, die der Gefahrenabwehr dienen.

Fluggesellschaften und Reisende müssen sich daran gewöhnen, dass in Zeiten des weltweiten Terrorismus Flugreisen teurer werden, will man nicht eine Atmosphäre permanenter Verunsicherung und geradezu eine Einladung schaffen, sich der Jets als Massenmord-Geräte zu bedienen.

Eine allgemeine Strategie, die Verwundbarkeit hochtechnisierter Industriegesellschaften zu reduzieren, ist die systematische Umgestaltung aller terrorgefährdeten sozioökonomischen Strukturen unter der Leitidee der Dezentralisierung.

Diese Strategie ist der Friedensforschung aus der Diskussion der Folgen eines Atomkriegs bekannt, in der darauf hinwiesen wurde, dass bei einer Konzentration des sozio-ökonomischen Lebens einschließlich der Energie- und Wasserversorgung in relativ wenigen Zentren und Großanlagen ein atomarer Angriff schon vor der Verstrahlung fast alle Existenzgrundlagen vernichtet. Industrie-, Versorgungs-, Verkehrs- und Verwaltungszentren sind auch gegen massive Terroranschläge nicht zu schützen. Die Konsequenz wäre daher ihre schrittweise Entflechtung und Regionalisierung – was bei Industrieanlagen aus anderen Gründen bereits teilweise praktiziert wird.

Die Abschaltung der Atomkraftwerke hat in diesem Zusammenhang eine hervorzuhebende Bedeutung. In seinem epochalen Werk »Solare Weltwirtschaft« hat der Träger des Alternativen Nobelpreises Dr. Hermann Scheer (SPD-MdB) ein genau durchgerechnetes Szenario der Umstellung auf solare Energien entwickelt. Auch wenn dies nur in harter Auseinandersetzung mit den großen Profiteuren des fossilen Energieverbrauchs durchzusetzen ist, werden diese angesichts der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus vielleicht stärker als je zuvor von einsichtigen Bürgern und Politikern dazu gedrängt werden, an der Dezentralisierung und Denuklearisierung der Energiewirtschaft mitzuwirken (zumal nach vorliegenden Berechnungen die Erdöl- und Erdgasvorräte nur noch 40-50 Jahre reichen).

Nach dem Terrorangriff am 11. September aktualisierte Hermann Scheer seine Einsichten (FR, vom 15.9.2001): „Eine hochtechnisierte und in ihren Infrastrukturen und Produktionen hoch konzentrierte und -spezialisierte Gesellschaft hat keine wirkliche Sicherheitschance gegen weltweit mobile terroristische Desperados (…) Schon 1980 empfahl das »Energy and Defense Project« des amerikanischen Verteidigungsministeriums (…) die völlige Umstellung des Energiesystems auf dezentral bereitgestellte erneuerbare Energien, um von großen Kraftwerken und globalen Energieversorgungslinien unabhängig zu werden. Sie begründeten dies nicht ökologisch, sondern mit nationalen Sicherheitserfordernissen. Die moderne Gesellschaft kann ihre extreme Verwundbarkeit allein durch solche Dezentralisierung ihrer wirtschaftlichen Funktionen reduzieren.“

Dokumentation zum Memorandum

Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einer Reihe von Texten aus der aktuellen politischen Diskussion des Antiterrorismus-Kampfes, die die Bedeutung der hier formulierten fünf Teilziele einer umfassenderen nicht-militaristischen Strategie zum Abbau und zur Abwehr des weltweiten Terrorismus verdeutlichen.

Dok. 1: EU macht Front gegen Bushs politischen Kurs

(Von Martin Winter in Frankf. Rundschau, 11.02.02)

(…) Fünf Monate nach dem Anschlag vom 11. September und der Gründung der internationalen Koalition gegen den Terrorismus haben sich die Außenminister der fünfzehn EU-Staaten am Wochenende unmissverständlich von der Linie der USA abgesetzt.

Auf ihrem informellen Treffen im spanischen Cáceres wiesen sie die These des US-Präsidenten George W. Bush von der »Achse des Bösen« zurück. Dies sei nicht die „Art, wie wir Politik anlegen“, sagte Bundesaußenminister Joschka Fischer. Sein französischer Kollege Hubert Védrine, der als Erster aus der Runde den USA eine „einfältige“ Sicht der Welt vorgeworfen hatte, bedauerte, „dass wir jetzt laut werden müssen, um gehört zu werden“. Der britische Außenminister Jack Straw sprach von „unterschiedlichen Positionen“ zwischen den USA und der EU.

Hintergrund der Absetzbewegung der EU von der US-Politik ist die Befürchtung der Europäer, dass eine Konzentration auf die reinen Sicherheitsaspekte der internationalen Politik zu kurz greift. So sieht die EU unkalkulierbare Folgen für den Nahen Osten, falls die USA Irak angreifen sollte. Wie am Rande der Konferenz zu erfahren war, bereitet der EU auch Sorge, dass Israels Regierung sich unter Berufung auf die US-Strategie der Terrorbekämpfung im Konflikt mit den Palästinensern auf Sicherheitsfragen zurückgezogen hat. Dabei gehe es doch „auch um Politik“, sagte Spaniens Außenminister Joseph Piqué.

Die Lage im Nahen Osten, der „Teil der europäischen Sicherheit ist“, wie Fischer sagte, wird von der EU so kritisch eingeschätzt, dass sie trotz Missfallens aus den USA den politischen Prozess mit eigenen Initiativen wiederzubeleben sucht. Washington hatte noch vor Beginn des Treffens französische Ideen etwa für eine vorgezogene Anerkennung des Palästinenserstaates als „nicht hilfreich“ kritisiert. Mit Befremden reagierten die Minister auf einen Bericht, wonach US-Vizepräsident Dick Cheney Israels Regierungschef Ariel Scharon gesagt haben soll, von ihm aus könne er (PLO-Chef) „Arafat aufhängen“.

Dok. 2: Frieden in Nahost ist möglich

(Von Ludwig Watzahl in Frankf. Rundschau v. 19.10.01)

(…) Die Palästinenser werden nicht als »Terroristen« geboren. Israels Staatspräsident Mosche Katzav hat in seiner Erklärung vom 23. Mai 2001 die politischen Umstände, die sie zu solchen werden lassen, völlig negiert. Eine rassistische Argumentation wie die seine schürt letztlich neuen Hass: „Es gibt eine riesige Kluft zwischen uns (Juden) und unseren Feinden – nicht nur, was die Fähigkeit anbelangt, sondern auch hinsichtlich der Moral, Kultur, der Achtung des Lebens und des Gewissens. Sie sind hier unsere Nachbarn, aber es scheint, als ob auf einer Distanz von einigen hundert Metern Menschen leben, die nicht zu unserem Kontinent, zu unserer Welt, tatsächlich aber zu einer anderen Milchstraße gehören.“

Der Journalist Gideon Levy schätzte dagegen in Ha‘aretz sachlich ein: „Die Polizei in Südafrika behandelte die Schwarzen, als ob sie keine Menschen wären. Das gleiche geschieht hier. Ein Nicht-Volk, Nicht-Menschen, Menschen ohne Rechte oder Menschenwürde – deshalb ist es in Ordnung, alles mit ihnen zu tun. Und dies durchdringt alles“ (…).

Der Likud ist bereit, 42 Prozent des besetzten Landes aufzugeben, vielleicht ein Prozent mehr. Die Arbeitspartei hatte sich in dieser Frage lange nicht festgelegt. Baraks Angebot vom Juli 2000 in Camp David, 95 Prozent zurückzugeben, kommt einem Täuschungsmanöver gleich. Da Israel bereits 60 Prozent der Westbank als Staatsland deklariert hat, die es nicht zurückgeben wird, bezogen sich die 95 Prozent auf jene unumstrittenen 40 Prozent des besetzten Territoriums, von denen auch der Likud stets ausgeht. Für die Arbeitspartei ist Trennung das Zauberwort, sie möchte den neokolonialistischen Einfluss behalten und die Bewohner der Gebiete separieren, wohingegen Scharon ein Zusammenleben mit den Palästinensern für möglich hält.

Ein souveräner Palästinenserstaat läge aus mehreren Gründen im Interesse Israels. Er wäre weder ökonomisch und politisch noch militärisch eine Bedrohung für das Land. Im Gegenteil: Die verspätete Staatsgründung auf Grund der UNO-Resolution würde die Existenz Israels in den international anerkannten Grenzen legitimieren. Ein zu schaffendes regionales Sicherheitssystem und die daraus resultierende Kooperation kämen dem Sicherheitsbedürfnis Israels entgegen. Durch die Rückgabe der besetzten Gebiete wäre jedem Terror die Grundlage entzogen. Auch Hamas und die anderen islamischen Gruppen hätten dies zu akzeptieren, weil die Grundlage für ihren weiteren Widerstand entfallen wäre.

Für die Schaffung eines dauerhaften Friedens bedarf es zweier neuer Grundlagen: einer veränderten politischen Einstellung Israels und eines anderen internationalen Verhandlungsrahmens. Die erste Vorbedingung ist, ein Minimum an Gerechtigkeit für die Palästinenser zu schaffen. (…)

Bisher hat keine israelische Regierung den Anspruch der Palästinenser auf einen souveränen Staat anerkannt. Im jetzigen Kabinett Ariel Scharons sind rechtsnationalistische und religiös-fundamentalistische Politiker vertreten, die den besetzten Gebieten einen »heiligen« Status zuweisen. Ein Teil der Regierungsparteien lehnt den säkularen israelischen Staat prinzipiell ab. Dass diese Kräfte keinen positiven Ansatz zur Lösung des Nahostkonflikts entwickeln, liegt in der Logik ihres Denkens. (…)

Frieden in der Region kann niemals auf Basis der Hegemonie und Dominanz der USA oder Israels gesichert werden, sondern nur auf der Grundlage des Völkerrechts. Die Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats betont die „Unzulässigkeit des Erwerbs von Territorium durch Krieg“ und verweist auf die Charta der Vereinten Nationen. Die Grundsätze dieser Charta verlangen die Herstellung eines gerechten und dauerhaften Friedens im Nahen Osten. Dies setzt voraus, dass die israelische Besetzung palästinensischen Landes beendet, das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser anerkannt, ein souveräner Palästinenserstaat mit der Hauptstadt Ost-Jerusalem geschaffen, die Rückkehr der Flüchtlinge in diesen neuen Staat gemäß den UN-Resolutionen gestattet sowie die Auflösung der Siedlungen in den besetzten Gebieten beschlossen wird. Von einer solchen Lösung würden Palästinenser und Israelis profitieren. (…)

Dok. 3: Hat der Westen über das Ausmaß des Hasses Bescheid gewusst?

(Gastkolumne von Horst-Eberhard Richter in ND vom 20.10.01)

Der Westen muss endlich einsehen, dass auf dieser Erde alle aufeinander angewiesen sind und dass wir nur in Anerkennung dieser Verbundenheit jemals eine Kultur des Friedens erreichen, nur in einer ebenbürtigen Gegenseitigkeit Probleme lösen können. Dazu gehört ein gerechtes und faires Teilen. Ein Höchstmaß an Sicherheit kann nie gegeneinander, sondern nur miteinander geschaffen werden.

Um die eigene Verirrung zu durchschauen, muss der Westen lernen, sich in die Lage derer einzufühlen, die er egoistisch und arrogant als Verlierer hinter sich gelassen zu haben glaubt. Aber dazu muss er dialogfähiger werden, muss er ein neues Zuhören erlernen. Bezeichnenderweise hat im Westen kaum einer vor dem 11. September über das Ausmaß des Hasses in einigen armen islamischen Ländern Bescheid gewusst. Es ist der Hass, aus dem eine Gruppe von bürgerlich wohl angepassten, intelligenten und disziplinierten Männern den Antrieb zu ihren wahnwitzigen Anschlägen geschöpft hat. Dabei war die Explosion ohnmächtiger Wut im Kleinformat alltäglich in Nahost zu besichtigen gewesen. Während der Westen seine Kunst perfektioniert hatte, die Manipulierbarkeit islamischer Feudalherren und ihrer Cliquen für eigene Interessen auszunutzen, hat er sich um die Seelenlage der verarmten Massen in jenen Ländern kaum gekümmert.

Aber will der Westen lernen? Wir erleben jetzt täglich die gleichen militärischen Erfolgsberichte wie im Jugoslawienkrieg. Bombengeschwader und Cruise Missiles gegen eines der ärmsten Länder, von dem nicht einmal gewiss ist, dass von hier aus die Überfälle vom 11. September organisiert wurden. Hunderttausende auf der Flucht, zigtausende Kinder vor dem Verhungern. Vergebliche Notrufe von Hilfsorganisationen. Ist das noch gerechte Selbstverteidigung oder nachvollziehbare Strafaktion? Es erschien wie ein widerwilliges Geständnis, als eine der ersten Raketen ausgerechnet vier UNO-Helfer tötete, die mit Minenräumen auf afghanischem Boden betraut waren. Ein »Kollateralschaden«, der sich nicht verschweigen ließ. Wie viel wird man später von ähnlichen Fehlschlägen hören? Vom Jugoslawienkrieg wurde nachträglich berichtet, dass von 90.000 Tonnen abgeworfener Bomben 60.000 nicht die beabsichtigten Ziele getroffen hätten.

Eine Riesenchance ist fürs erste verpasst, nämlich den Schock vom 11. September zu nutzen, um zusammen mit den besonnenen Mehrheiten der beunruhigten islamischen Länder eine Solidarität der Vernunft zu schmieden.

Dok. 4: Rot-Grün verharrt im Neoliberalismus

(Desillusionierte Intellektuelle und Wissenschaftler rechnen mit der rot-grünen Regierungspolitik ab und empfehlen umfassendes Umsteuern, zitiert nach Frankf. Rundschau. vom 13. 11. 01)

(…) Nach unserer Auffassung kommt es vordringlich darauf an, die ideologische Dominanz des Neoliberalismus zu brechen. Wir setzen den Heilsbotschaften der Marktradikalisten unsere Grundüberzeugungen entgegen:

Die völlige Ökonomisierung der Gesellschaft ist ein Weg in die Barbarei. Wie die ökonomischen Erfolgskriterien des globalisierten Kapitalismus zu den Leitwerten der Gesellschaft werden, droht ein Totalitarismus neuer Art: der menschenverachtende Ökonomismus. Er steht in unversöhnlichem Gegensatz zum Menschenbild des Humanismus und des Christentums und den auf ihm basierenden demokratischen Grundwerten und Menschenrechten. (…)

Die neoliberale Ideologie hat nahezu überall auf der Welt zu mehr Arbeitslosigkeit geführt; zugleich sind verhältnismäßig wenige Reiche unermesslich viel reicher geworden, während die große Mehrheit der Menschen und besonders die Ärmsten der Armen dramatische Verschlechterungen ihrer Lebenssituation hinnehmen mussten. Wer unter diesen Bedingungen die Gesellschaft zusammenhalten und gewaltsame Eruptionen vermeiden will, muss alle verfügbaren politischen Instrumente einsetzen und sich neue Instrumente verfügbar machen, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Nach hoffnungsvollen Ansätzen einer Umkehr in der Steuerpolitik bei der ersten Stufe der Steuerreform wurde jedoch die Privilegierung großer privater Vermögen und Einkommen festgesetzt. International ist die Bundesrepublik inzwischen ein Niedrig-Steuerland für Einkommen aus Kapital und Vermögen.

Wir sind der Meinung, dass Umverteilung im 21. Jahrhundert zu den dringlichsten politischen Aufgaben gehört. Eine Politik, die auf Privatisierung, Deregulierung, Senkung der Staatsquote und auf Sparhaushalte setzt, wird Arbeitslosigkeit und Armut nur verschärfen. Vielmehr kommt es darauf an, Reichtum und Arbeit umzuverteilen

Dok. 5: Methoden gegen Luftpiraten

(Israels El Al setzt mit Erfolg bewaffnete Flugbegleiter ein. Atom-Experten warnen vor Attacken auf Kernkraftwerke, in Frankf. Rundsch. vom 13.09.01)

Vorschläge für einen verbesserten Schutz sind schon seit längerem in der Diskussion. Dazu gehört die Idee, den Durchgang von der Passagierkabine zum Cockpit völlig wegzulassen. So hätte während des Fluges niemand die Möglichkeit, zu den Piloten vorzudringen. Das Problem dabei: Die Cockpit-Tür ist zugleich ein Notausgang, auch für die Passagiere.

Ein anderer Vorschlag zielt darauf, in bestimmten Situationen stärker auf die Technik zu setzen als auf die Piloten. So gibt es schon seit Jahren Geräte, die den Flugzeugführer akustisch warnen, wenn er auf ein Hindernis zusteuert. Sie könnten automatisch mit der Flugzeugsteuerung gekoppelt werden – es würde dann automatisch eine Ausweichbewegung eingeleitet, ohne dass der Pilot die Möglichkeit hätte, den Kurs zu ändern.

Die US Navy hat bereits vor zwei Jahren begonnen, einen so genannten »Smart Cockpit Controller« (SCC) zu testen. Das System arbeitet mit zahlreichen Untersystemen sowie neuronalen Computern. Es ist aber auf Jahre hinaus nicht mit der Einführung derartiger Kontroll- und Sicherheitssysteme in die Passagierluftfahrt zu rechnen.

Die einfachste, erfolgreichste Methode gegen die Luftpiraterie demonstriert seit vielen Jahren die israelische Luftlinie El Al. Sie setzt bewaffnete Flugbegleiter in all ihren Maschinen ein. Seit diese »Sky Marshalls« an Bord sind, ist keine Entführung einer El-Al-Maschine mehr versucht worden. Alle anderen Luftlinien lehnen dieses Modell bisher aber ab.

Das könnte sich nach den Anschlägen in den USA ändern. (…)

Atom-Experten und Umweltorganisationen treibt die Sorge um, Terroristen könnten auch Atomkraftwerke zum Ziel für Angriffe wie in New York machen. Auch moderne westliche Atomkraftwerke seien dagegen nicht geschützt, es drohe eine Kernschmelze mit Verstrahlungen ganzer Regionen, sagt der Leiter der Reaktorsicherheitskommission des Bundes (RSK), Lothar Hahn, der FR. Umweltschutz-Gruppen forderten die Stillegung der Atomkraftwerke.

Dok. 6: Ein demokratischer Islam ist möglich und notwendig

(Von Asim Khan in Frankf. Rundsch. v. 01.03.02)

Auch wenn der Zentralrat nicht alle Muslime in Deutschland vertritt, so hat doch die »Islamische Charta« (FR v. 22. Febr. 2002) mit ihrem Bekenntnis zum Grundgesetz einen hohen symbolischen Wert und macht zudem deutlich, dass ein toleranter Islam möglich und notwendig ist, zumal in einer Zeit, in der die Islamphobie des Westens durch die jüngsten Geschehnisse leider einen neuen Höhepunkt erreicht hat.

Demokratie, Freiheit und Menschenrechte stehen indes keineswegs im Widerspruch zum Islam, auch wenn viele selbst ernannte »islamische« Staaten durch ihr Verhalten den gegenteiligen Eindruck erwecken und sich anmaßen, liberale Interpretationen des Islams zu verurteilen. Verurteilenswert sind in Wahrheit solche Muslime, die durch ihre archaischen Vorstellungen ein falsches und geradezu gefährliches Bild des Islams vermitteln. Die größte Gefahr für diese Religion ist heute in der Tat der Fundamentalismus, der zwar den Anspruch erhebt, im Sinne unumstößlicher religiöser Grundsätze zu handeln, nicht selten aber die Auslegung der Glaubenssätze an den machtpolitischen Interessen ausrichtet, denen er dient.

Diesem Fundamentalismus gilt es einen aufgeklärten Islam entgegenzusetzen. Denn Fakt ist, dass die Muslime durch das Bejahen der demokratischen Grundordnung ihre Identität nicht etwa preisgeben, sondern festigen, da das deutsche Grundgesetz – im Gegensatz zur Verfassung vieler »islamischer« Staaten – all jene Rechte gewährt, die auch der Islam postuliert, wie etwa Meinungs-, Religions- und Handlungsfreiheit. Das Verhältnis vieler großartiger deutscher Denker zum Islam – Lessing, Herder, Goethe, Rückert oder von Arnim seien hier nur beispielhaft erwähnt – zeugt von einer langen und positiven Geschichte des Islams in Deutschland. Heute, da das Verhältnis sichtlich gespannt ist, bedarf es mehr denn je einer Wiederaufnahme des Dialogs, um Ängste und Vorurteile auf beiden Seiten abzubauen und ein nachhaltig friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Das Bekenntnis zur demokratischen Grundordnung ist dabei ein Schritt in die richtige Richtung.

Jenseits der »terroristischen Bedrohung«

Jenseits der »terroristischen Bedrohung«

Charakterwandel der Gewaltakteure im nordirischen Friedensprozess

von Marcel M. Baumann

Der nordirische Bürgerkrieg begann im Jahr 1968 und wurde mit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens am 10. April 1998 offiziell beendet (siehe W&F Dossier Nr. 45) Doch aufgrund zahlreicher Krisen sind die Regierungsinstitutionen, die im Friedensabkommen vorgesehen waren und die eine gemeinsame Regierung von Protestanten und Katholiken garantieren sollten, seit dem 14. Oktober 2002 suspendiert. In die verfahrene Situation wurde erst am 28. Juli 2005 neue Bewegung gebracht, als die Irish Republican Army (IRA) in einer Erklärung das Ende des bewaffneten Kampfes bekannt gab und gleichzeitig ankündigte, alle ihre Waffen einer von der britischen Regierung eingesetzten Kommission zu übergeben. Am 26. September 2005 bestätigte ein Bericht dieser Kommission, dass die IRA tatsächlich alle ihre Waffen übergeben hat. Die britische Regierung übte in der Folge heftigen Druck auf die Konfliktparteien aus: Den beiden größten Parteien – Sinn Fein, dem politischen Arm der IRA, auf der katholischen und der Democratic Unionist Party (DUP) auf der protestantischen Seite – wurde eine Frist bis zum 24. November 2006 gegeben, um offizielle Vorschläge für den Ersten Minister Nordirlands und dessen Stellvertreter abzugeben. Nach der Vorgabe der britischen Regierung muss bis zum 26. März 2007 die gemeinsame Regierung ihre Arbeit aufnehmen, ansonsten werden das Parlament und die Regierungsinstitutionen aufgelöst.

In der aktuellen politischen Auseinandersetzung wurde die Haltung Sinn Feins zur Polizei mittlerweile zur Gretchenfrage der weiteren politischen Demokratisierung Nordirlands gemacht. Seitdem die IRA alle Waffen übergeben hat, wird von der DUP die Forderung wiederholt, Sinn Fein könne nur dann in eine gemeinsame Regierung eintreten, wenn sie die Polizei offiziell anerkennt und unterstützt. Gerade von Seiten des britischen Nordirlandministers wird heftiger Druck ausgeübt, Sinn Fein solle im Januar 2007 einen Sonderparteitag abhalten und die offizielle Unterstützung der Polizei beschließen.

Doch in der DUP regt sich zunehmend der Widerstand jener, die prinzipiell gegen eine gemeinsame Regierung mit Sinn Fein sind. Problematisch ist diese Situation auch deshalb, weil sich Ian Paisley in einem Dilemma befindet. Seine Partei kann sich auf kein Mandat berufen, um mit Sinn Fein eine Regierung zu bilden: „Over our dead bodies!“, so lautete stets die Losung, wonach man nie mit Sinn Fein eine Regierung bilden würde.

Selbst wenn der Sinn Fein-Parteitagsbeschluss für eine offizielle Akzeptanz der Polizei zustande käme, würde nicht automatisch Legitimität für die Polizei aus Sicht der katholischen Bevölkerung erreicht. Vertrauen und Legitimität können nicht beschlossen werden, denn aus der Sicht der katholischen Gemeinschaft – der „angeblich interessierte Dritte“ (nach Herfried Münkler) für die IRA – war die Polizei der zentrale staatliche Kriegsakteur und hatte den Charakter einer Polizei-Truppe: „Police officers on the ground need to realise that they are not anti-terrorist police officers any more but normal police officers who have to deal with the ordinary mundane problems of their community – and I think that is proving more difficult than anybody expected“, so wird ein katholischer Jugendsozialarbeiter zitiert.

Das notwendige Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei kann nur dann entstehen, wenn sich der ehemalige Kriegsakteur zu einem Polizei-Dienst transformiert, welcher seine Aufgabe in partnerschaftlicher Art und Weise im Sinne der katholischen und protestantischen Bevölkerung durchführt.

Seitdem die Polizeifrage im Mittelpunkt der politischen Debatte steht, zeigt sich ein großer Dissens innerhalb Sinn Feins und der republikanischen Gemeinschaft als Ganzes. Noch im April 2003 hatte Brian Keenan, der als Führer der IRA gilt, in einer Rede die Polizei als »unakzeptabel« bezeichnet und jedes Bestreben, die Sinn Fein-Haltung zu ändern, scharf zurückgewiesen. Auch viele ehemalige IRA-Kombattanten verweigern der Polizei jegliche Legimität und Anerkennung. Anfang Dezember 2006 verließ z.B. Laurence O’Neill, ehemaliger IRA-Häftling und ein wichtiger Spendensammler, aus diesem Grunde die Partei: „I’m a lifelong republican but I firmly believe no republican can ever sign up to policing and that has led to a fall-out with former friends“, sagte er in einem Interview.

Die Sinn Fein-Führung hat es im Friedensprozess bisher bewusst versäumt, kritische Debatten zuzulassen: „I was a member of the republican movement for 37 years and resigned last year as a result of the lack of internal debate on matters of policy and strategy and the manner in which membership were expected to blindly follow a leadership-led policy without question or dissent“ begründete Tony Catney, ehemaliges Mitglied des Parteivorstandes (ard comhairle), der Mitte der 90er Jahre des Sinn Fein-Büro in Brüssel leitete, in einem offenen Brief seinen Parteiaustritt.

Der totalitäre Charakter von Sinn Fein verhinderte bisher echte innerparteiliche und innergesellschaftliche Debatten. Es ist daher unrealistisch, eine schnelle Lösung zu erwarten.

Restorative Justice

Die konstruktive Transformation bewaffneter Gruppen, der Restorative Justice-Ansatz kann eine »Zwischenlösung« sein, die der IRA und anderen nicht-staatlichen Kriegsakteuren eine positive Rolle im Friedenskonsolidierungsprozess ermöglicht bis die Legitimität der staatlichen Sicherheitsinstitutionen (wieder-) hergestellt wurde.

Der Kontext für Restorative Justice als eine Maßnahme der zivilen Konfliktbearbeitung liegt in jenen Gewaltphänomenen, die als »Abfallprodukt« des Friedensprozesses entstanden sind: Im November 2002 kam es zu einem besonders spektakulären Gewaltvorfall, als in Dunmurry, einem südlichen Vorort von Belfast, ein berüchtigter Autodieb bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschlagen und danach an einen Zaun gekreuzigt wurde. Die Kreuzigung war eine Bestrafungsaktion der Ulster Defence Association (UDA) – eine bewaffnete Gruppe, die sich zu Bürgerkriegszeiten als Schutztruppe der protestantischen Gemeinschaft gegen die IRA sah. Sie gab vor „im Auftrag der Bevölkerung“ zu handeln, da die Polizei nicht zu aktiver Kriminalitätsbekämpfung fähig sei.

Die daraus resultierenden Folgen wurden in einem informellen Gespräch des Autors mit einem Anwohner deutlich, der in Belfast als Taxifahrer arbeitet und in dessen Hinterhof die Kreuzigung geschah. Als der Autor sein Unverständnis über die Kreuzigung zum Ausdruck brachte, entgegnete der Anwohner sehr verärgert: „He fucking deserved it! I had three cars stolen by him in a quarter of a year“.

Eine andere, weit verbreitete Bestrafungsaktion sind Schüsse ins Knie, das so genannte Punishment Shooting.

Gewaltaktionen wie Schüsse ins Knie sind als solche keine neuen Phänomene, sondern werden von der IRA und anderen Gruppen schon seit Beginn der 70er Jahre praktiziert. Neu ist dagegen ihre Funktion und ihr Ausmaß. Während sie zu Bürgerkriegszeiten als Bestrafung von Spionen oder Abtrünnigen in den eigenen Reihen eingesetzt wurden und um das eigene militärische Machtregime vor Ort zu sichern, werden sie im Friedenskonsolidierungsprozess als Strafen für kriminelle Vergehen verwendet – gegen Drogendealer, Kleinkriminelle u.a. Nach den Erhebungen der nordirischen Polizei ist die absolute Zahl der vigilantistischen Gewaltfälle seit 1994 dramatisch gestiegen und erreichte im Berichtsjahr 2003 den Höhepunkt von mehr als 300 Einzelfällen.

Möchte man diese Gewaltaktionen im Sinne eines »deutenden Verstehens« nachvollziehen, so muss man sich aus einer gewaltsoziologischen Perspektive die für fast alle Konflikttransformationsprozesse beobachtbaren Begleiterscheinungen bewusst machen: Ein typisches Phänomen ist ein exponentieller Anstieg krimineller Gewalt parallel zum Abschwächen politisch motivierter Gewalt. Die Instabilität von Konflikttransformationsphasen begünstigt einen Kriminalitätsanstieg – so beobachtet z.B. in den osteuropäischen Staaten, in El Salvador und in Namibia während der Phase vor der Unabhängigkeit des Landes. Die Erklärung liegt im identifizierbaren Zustand der Anomie (nach Emile Durkheim), wonach die so genannte einfache Kriminalität durch den Bürgerkrieg unterdrückt wurde, da die politisch motivierte Gewalt bewaffneter Gruppen dominierte. Im internationalen Vergleich der Kriminalitätsraten belegt Nordirland mittlerweile den zweiten Rang hinter Südafrika; gleichzeitig belegt der »Northern Ireland Crime Survey« eine überdurchschnittlich hohe Angst der Menschen, Opfer eines Verbrechens zu werden.

Die staatlichen Sicherheitsinstitutionen sind am Beginn des Friedenskonsolidierungsprozesses kaum in der Lage, die öffentliche Sicherheit zu garantieren, die durch den Kriminalitätsanstieg in Gefahr gerät. Zur Schilderung der Probleme der Polizei im Vorgehen gegen kriminelle Gewalt innerhalb eines Friedenskonsolidierungsprozess wählte ein südafrikanischer Polizist den Vergleich mit einem Rugby-Team das plötzlich Fußball spielen soll. Die bewaffneten Gruppen, die sich schon zu Bürgerkriegszeiten als Schutzmächte ihrer Gemeinschaften sahen, nutzen die Situation um erneut »das Recht selbst in die Hand« zu nehmen und betreiben – nicht selten auch auf Druck der eigenen Gemeinschaft – eine gewaltsame, aktive Kriminalitätsbekämpfung.

Eine gewaltfreie Alternative zur Form der »Kriminalitätsbekämpfung durch Verbrechen« bietet die »Restorative Justice-Intervention«: Kriminalität wird nicht als Übertretung eines Gesetzes, sondern als eine Schädigung des Opfers und eine Beeinträchtigung des friedlichen und sicheren Zusammenlebens in einer Gemeinschaft definiert. Ziel ist es, einen alternativen gemeinschaftsbezogenen Prozess zu initiieren, der die gewaltsame informelle Selbstjustiz der bewaffneten Gruppen vermeidet bzw. aushebelt. Vergleichbar mit der klassischen Methode des Täter-Opfer-Ausgleichs bieten Restorative Justice-NGOs vor Ort den Betroffenen Foren bzw. Kommunikationsräume an. Darin kommen idealer Weise sowohl der (kriminelle) Täter, die Opfer als auch Vertreter der Gemeinschaft an einen Tisch. Die NGOs bieten Opfern und Tätern die Möglichkeit, mit Hilfe eines Vermittlers ihren Konflikt außergerichtlich zu regeln und sich über eine Wiedergutmachung zu verständigen. Gemeinsam wird dann versucht, eine Vereinbarung darüber zu erzielen, welche Maßnahmen nötig sind, um die eine Wiedergutmachung zu erreichen. Denkbar ist dabei stets ein Bündel von Maßnahmen, z.B. auch pädagogische Maßnahmen bezogen auf den Täter. Die Aufgabe von lokalen NGOs als »Dritte Parteien« besteht u.a. darin, die Wiedergutmachungs-Leistungen zu überprüfen. Mittlerweile sind in vielen Gebieten solche Restorative Justice-NGOs entstanden. In der Regel gingen diese auf die Initiativen ehemaliger Mitglieder der bewaffneten Gruppen und deren Organisationen zurück: Auf der katholischen Seite ist hier der Dachverband »Community Restorative Justice Ireland« (CRJI) zu nennen, auf der protestantischen die NGO »Greater Shankill Alternatives«. Der Erfolg der Organisationen liegt zum einen im relativen Rückgang der »Punishment Beatings«, wenn auch nur in kleinen Schritten. So wird z.B. der Rückgang der »Punishment Beatings« im Gebiet der »Shankill Road« auch von der lokalen Polizei bestätigt.

Zum anderen besteht der Erfolg darin, dass die grundsätzliche Akzeptanz einer gewaltlosen Lösung des Kriminalitätsproblems und von Konflikten im Allgemeinen in den Augen der Gemeinschaften und unter den Mitgliedern der bewaffneten Gruppen steigt und sich dadurch die festsitzende Gewaltkultur, die der Bürgerkrieg hinterlassen hat, aufzulösen beginnt.

Die Verwirklichung der Restorative Justice-Philosophie in Nordirland hat damit den ehemaligen Gewaltakteuren die Chance gegeben, einen konstruktiven Beitrag zum Gelingen des Friedenskonsolidierungsprozesses zu leisten.

Fazit & Ausblick

Doch die Umsetzung des Restorative Justice-Ansatzes wird auch von erheblicher Kritik begleitet, die sich durch alle politischen Lager erstreckt. „We can’t have local warlords being turned into local law lords“, sagte z.B. Mark Durkan, Parteivorsitzender der gemäßigten katholischen Social Democratic Labour Party. Andere Kritiker behaupten, dass CRJI lediglich ein neuer Name bzw. eine neue Rolle für die IRA sei.

In der Tat operieren die Restorative Justice-NGOs in einer rechtlichen Grauzone, denn sie nehmen eine zentrale staatliche Aufgaben wahr: Rechtsdurchsetzung und Sicherheitswahrung. Die britische Regierung hat deshalb eine Konsultationsperiode gestartet, um rechtliche Klarheit zu schaffen, die jedoch noch nicht abgeschlossen wurde. Kompromisslinien werden z.B. darin gesehen, eine Form der Kooperation zwischen der Polizei und den Restorative Justice-NGOs zu implementieren, d.h. eine Verzahnung von Polizeireformen und dem Restorative Justice-Ansatz.

Hans Fritzheimer, Leiter des EU-Polizeiprojekts Proxima in Mazedonien und hochrangiger schwedischer Polizist, sagte in einem Interview mit dem Autor, dass man in Konflikttransformationsphasen keine »big bang«-Intervention von Polizeireformen erwarten könne. Polizeiorganisationen, die internationalen Standards in Bezug auf Menschrenrechte u.a. gerecht werden, können nur durch langfristige Reformen entstehen, so Fritzheimer, nicht durch eine komplette Abschaffung der alten Polizeiformen. Akzeptiert man also, dass man von der alten Polizei-Truppe keinen »big bang « erwarten kann, kann man dann von der IRA und den anderen nicht-staatlichen Gewaltakteuren einen solchen »big bang«, d.h. die sofortige Auflösung erwarten? Die Gegenthese lautet daher, dass Restorative Justice-NGOs in der Tat eine neue Rolle für die IRA sein können. Hierin besteht die Chance, den bewaffneten Gruppen einen positiven Ansatzpunkt zur langfristigen Transformation von Gewaltakteuren zu Friedensakteuren zu geben: „Just because you have a past doesn’t mean you don’t have a future“ wurde David Trimble zitiert, ehemaliger Erster Minister Nordirlands und damals Parteivorsitzender der gemäßigten, protestantischen Ulster Unionist Party.

Ein positives Zusammenwirken zwischen der Polizei und den Restorative Justice-NGOs kann derzeit aufgrund der Verweigerung Sinn Feins nicht in Gang kommen, die sich auf das mangelnde Vertrauen in der katholischen Gemeinschaft begründet. Ein denkbarer Ausweg könnte darin bestehen, dass Sinn Fein die ihnen zustehenden Sitze im Policing Board vorläufig nicht annimmt, aber stattdessen Vertreter von CRJI dafür nominiert werden. Sinn Fein könnte dadurch das politische Gesicht wahren – die Partei kooperiert nicht direkt mit der Polizei – doch gleichzeitig könnte der Dialog der Polizei mit der katholischen Gemeinschaft über die CRJI-Vertreter überhaupt beginnen.

Dadurch könnte sich eine positive Dynamik abzeichnen, wie sie in Südafrika zu beobachten war: Obwohl es gegenüber der südafrikanischen Polizei große Befürchtungen gab, sie werde in den Friedenskomitees (peace committees) eine destruktive Rolle spielen, nahm sie eine aktive Rolle ein und es kam ein Dialog mit der schwarzen Gemeinschaft in Gang.

Dieses Potential könnte in Nordirland zum Tragen kommen, wenn zunächst CRJI-Vertreter, ihre Sitze im nationalen und den regionalen Polizeiaufsichtsgremien annehmen würden. Restorative Justice könnte so die Funktion einer »vertrauensschaffenden Brücke« für den Weg der Reform der nordirischen Polizei erfüllen.

Nehmen CRJI-Vertreter die Sinn Fein-Sitze im Policing Board an, so könnte dies auch ein möglicher Kompromiss auf der makropolitischen Ebene darstellen, was die wiederholten Forderungen an Sinn Fein betrifft, die Polizei offiziell anzuerkennen.

Literatur

Baumann, Marcel M. (2006): The Restoration of Restorative Justice; in: The Blanket: A Journal of Protest and Dissent; 14. Juni 2006.

Baumann, Marcel M. (2007): Zwischenwelten: Weder Krieg, noch Frieden. Über den konstruktiven Umgang mit Gewalt im Prozess der Konflikttransformation; Müsnter: Lit. (i.E.)

Cox, Michael / Guelke, Adrian / Stephen, Fiona (2000) (Hrsg.): A farewell to arms? From ‘long war’ to long peace in Northern Ireland; Manchester: Manchester University Press.

Hauswedell, Corinna (2004): der nordirische Friedensprozess – ein Modell? Lehren für eine internationale Einhegung innergesellschaftlicher Konflikte, Bonn, W & F Dossier Nr. 45.

Gidron, Benjamin / Katz, Stanley N. / Hasenfeld, Yeheskel (2002) (Hrsg.): Mobilizing for Peace. Conflict Resultion in Northern Ireland, Israel/Palestine and South Africa, Oxford: Oxford University Press.

Knox, Colin / Monaghan, Rachel (2002): Informal Justice in Divided Societies. Northern Ireland and South Africa; Hampshire/ New York: Palgrave Macmillan.

McGarry, John / O’Leary, Brendan (1993): The Politics of Antagonism: Understanding Northern Ireland; London: Athlone Press.

McGarry, John / O’Leary, Brendan (1995): Explaining Northern Ireland: Broken Images; Oxford: Blackwell Publishing.

Moltmann, Bernhard (2002): »Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben…« Nordirland und sein kalter Frieden, HSFK-Report Nr. 8/2002, Frankfurt am Main.

Text des Karfreitagsabkommens: »Agreement reached in the multi-party negotiations« (10. April 1998): http://cain.ulst.ac.uk/events/peace/docs/agreement.htm (Zugriff: 12.10.2006).

Zurawski, Nils (2001): Gewalt und Ordnung in Nordirland: RUC, Paramilitärs und restorative justice; in: Sicherheit und Frieden; Ausgabe 2 / 2001; S.96-101.

Marcel M. Baumann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arnold-Bergstraesser Institut für Kulturwissenschaftliche Forschung in Freiburg und Lehrbeauftragter am Seminar für Wissenschaftliche Politik (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau).

Schulkinder als Fußsoldaten

Schulkinder als Fußsoldaten

Der lange Marsch zum Frieden

von Corinna Hauswedell

Herbstanfang, Schulbeginn – Zeit zum Aufbruch aus der Sommerpause, um Neues zu erleben und zu lernen. Für einige nordirische Kinder wurde die erste Septemberwoche zum Horrortrip. Ihr Schulweg geriet zu einer bitteren Lektion des Hasses, als sie unter wüsten Beschimpfungen, Steinwürfen, und Nagelbomben ihrer protestantischen Nachbarn durch ein Spalier hochgerüsteter Polizei und Soldaten und im Schutz ihrer Eltern zu der katholischen Grundschule in Ardoyne gehen mussten.

Die entsetzten Gesichter der drei- bis sechsjährigen Mädchen aus Nord-Belfast, viele zum ersten Mal auf dem Weg zur Schule, sind um die Welt gegangen. Sie berühren uns – auf andere Weise als die Meldungen über die Selbstmordattentäter in Jerusalem oder die Straßenkämpfe in anderen Kriegs- und Krisenregionen der Welt. Der Kontrast zwischen der »Unschuld« der Opfer und der unverzeihlichen Gewaltbereitschaft der Täter erscheint besonders groß. Aber es gibt keine einfache Moral von der Geschicht’. Zerrbilder eines uralten und zugleich heutigen Konfliktes werden hier sichtbar – in einer europäischen Region, in der politische Akteure aller Kaliber seit Jahren an der Umsetzung eines viel versprechenden Friedensabkommens arbeiten.

„Wir wollen keine Bürger zweiter Klasse mehr sein, unsere Kinder sollen durch den Haupteingang in ihre Schule gehen können,“ erklärt eine Mutter das Anliegen der katholischen Eltern von Ardoyne.

„Wir fühlen uns wie im Belagerungszustand,“ sagt Mark Coulter, der Sprecher der Protestanten, „wie weggehauen, Stück um Stück“. „Man kann schöne neue Häuser bauen, aber das wird die Kugeln nicht stoppen; wir müssen eine neue Mauer quer durch die Ardoyne Road errichten“, fügt Anne Bill vom loyalistischen Bürgerkomitee hinzu.

Die Wurzeln von Hass und Gewalt in dem Arbeiterghetto mit seinen schlechten Wohnverhältnissen, wenigen Jobs und geringen Aufstiegschancen liegen tief. Ardoyne war einer der ersten Siedepunkte der »Troubles«, in den späten 60er Jahren wurde hier die IRA wiedergegründet. Mehr und mehr Katholiken zogen in das vorwiegend protestantische Viertel. Nord-Belfast hat mehr als ein Fünftel aller Toten des Bürgerkrieges zu Grabe getragen. Weniger separat als in vielen anderen Teilen der Stadt und der Provinz leben Katholiken und Protestanten hier wie auf einem Flickenteppich zusammen, oft nur durch eine Straße, durch Gitter oder Mauern – so genannte »peace walls« – getrennt. Territorien werden mit Wandbildern, Flaggen und Pflastersteinen markiert und von den paramilitärischen Gruppen »verteidigt«. Man geht nicht in die Geschäfte, die Post, die Bücherei auf der anderen Seite. Angst ist ein ständiger Begleiter. Aber derartige Gewaltausbrüche gegen Kinder hatte es bisher nicht gegeben. Im Frühjahr sind neue protestantische Familien eingezogen; sie gehören der größten loyalistischen paramilitärischen Organisation UDA an und wurden im vergangenen Jahr im Zuge einer innerloyalistischen Fehde, einem Bandenkrieg um Drogen und Gebietsansprüche, von der protestantischen Lower Shankill Road vertrieben. Ihnen schreiben viele Katholiken die jüngste Eskalation der Gewalt zu.

Ardoyne ist nicht Nordirland, aber es ist auch kein untypischer Ort des »sectarianism«, der tiefen konfessionell-politischen Spaltung, die die nordirische Gesellschaft durchzieht. Integrierte Schulen, die von insgesamt nur etwa 3% der nordirischen Kinder besucht werden, gibt es hier nicht. Die allgemeinen Veränderungen, die der Friedensprozess in den 90er Jahren und das »Good Friday Agreement« von 1998 gebracht haben oder noch versprechen, werden in Ardoyne durch besonders parteiliche Brillen gesehen. Wandel ist hier entweder schwer wahrnehmbar oder nicht gewollt. Ein gewachsenes Selbstbewusstein der Katholiken, die nach jahrzehntelanger Diskriminierung u.a. einen besseren Zugang zu Ausbildung und Wohnungen erhalten, kontrastiert mit dem Gefühl vieler protestantischer Arbeiterfamilien, die Verlierer des Friedensprozesses zu sein.

Vom Versagen der Politik ist jetzt die Rede. Das Vakuum, das seit dem Sommer durch das Einfrieren der nordirischen Regierungsinstitutionen entstanden ist, so der irische Premier Bertie Ahern, sei Schuld am Aufflammen der Gewalt auf den Straßen. George Mitchell, der ehemalige US-Senator und Vermittler im nordirischen Friedensprozess, hat nach Ardoyne einen dringenden Appell für »political leadership« gestartet. Auch nach über einem Jahr gemeinsamer Regierungstätigkeit in Belfast tun sich die Führer der nordirischen Parteien sehr schwer, ihren Anhängern die positiven Perspektiven des politischen Kompromisses aus dem Friedensabkommen zu vermitteln. Das Vertrauen der Konfliktparteien reicht nicht aus, um die Umsetzung der drängenden sicherheitspolitischen Reformen in Angriff zu nehmen.

Anfang Juli war der Erste Minister der Belfaster Koalition David Trimble, Vorsitzender der größten nordirischen protestantischen Partei UUP, zurückgetreten, weil die IRA nicht mit der Abrüstung ihrer Waffen (decommissioning) begann; die britische und irische Regierung sind seither intensiv um eine Lösung der nach den Wahlen im Juni akut gewordenen Krise bemüht. Den nordirischen Parteien wurde im August ein neues Vorschlagspaket zur Umsetzung der vier Hauptstreitpunkte des »Good Friday Agreement« vorgelegt: die Polizeireform, die Reduzierung der britischen Streitkräfte, die Stabilität der Regierungsinstitutionen und die Abrüstung der paramilitärischen Waffen. Die IRA hatte zwar ihre verbale Bereitschaft erneuert, ihre Waffen überprüfbar und vollständig aus dem Verkehr zu ziehen; die Methoden und der konkrete Zeitplan jedoch sollten mit der dafür im Abkommen vorgesehenen internationalen Abrüstungskommission IICD geklärt werden. Zuwenig für den Unionistenführer, der sich in seiner Partei gegen eine Fast-Mehrheit von Abkommensgegnern behaupten muss. Trimbles Zurückweisung führte dazu, dass die IRA ihr Angebot prompt zurückzog. Die Entdeckung der Connection dreier IRA-Mitglieder zur kolumbianischen FARC wirkte in der Folge nicht eben vertrauensbildend. Ein kurzer Lichtblick, die lang erwartete Zustimmung der gemäßigten katholischen SDLP zur Polizeireform, wurde schnell überschattet durch die Ablehnung seitens der beiden Hauptkontrahenten, Sinn Fein und UUP.

Der britische Nordirlandminister John Reid, angesichts des Dramas in Nord-Belfast jetzt um einen Dialog an der Basis bemüht, sieht sich, falls der »Nichtdialog« zu einer Ablehnung der Paketlösung führt, vor der schwierigen Entscheidung, Ende September entweder Neuwahlen auszuschreiben oder die von allen ungeliebte jahrzehntelange Direktherrschaft aus London wieder einzuführen.

Nach den Gewaltausbrüchen in Ardyone treten die Schwächen des nordirischen Friedensprozesses offener zu Tage: Ohne ein »decommissioning of mindsets«, die »Entwaffnung in den Köpfen und Herzen«, wird es mittelfristig weder eine Abrüstung der Waffen, noch eine allgemeinere Entmilitarisierung des Konfliktes und neue zivile Sicherheit für alle Bürger geben. Die vielen Krisen in der Umsetzung des Abkommens verweisen auf einen doppelten Konstruktionsmangel: Während vornehmlich »oben« in Regierungen und Parteien an den vornehmlich politischen und militärischen Seiten des Prozesses gearbeitet wurde, traten die Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung an der Basis und die Mobilisierung der zunächst vorhandenen zivilgesellschaftlichen Potenzen immer mehr in den Hintergrund. Solange politische Anleitungen und Mechanismen für Vertrauensbildung und Versöhnung – »oben« und »unten« – weit gehend fehlen, droht eine Zementierung des »sectarianism«, wird der Wunsch nach Einmauerung in zerbrochenen Identitäten den Willen zur Veränderung überwiegen.

Die (Wieder-)Aneignung des Friedensprozesses durch die nordirische Zivilgesellschaft ist überfällig. Kirchenleute haben in Ardoyne erste Zeichen für einen neuen Dialog zwischen den Fronten gesetzt. Die in Nordirland relativ kleine politische Mitte gemäßigter Protestanten und Katholiken muss mehr Verantwortung für die Absage an Gewalt, soziale Integration und den Aufbau überkonfessioneller Identitäten für beide nordirischen Kulturen übernehmen. Die politischen Führungen von UUP, SDLP und Sinn Fein, der inzwischen stärksten katholischen Partei, müssen sich der Verantwortung für die »weichen« und »harten« Seiten des Friedensprozesses in gleicher Weise stellen. Ein Nebeneinander ohne Angst, wo noch kein Miteinander möglich ist, erfordert gemeinsame Initiativen zur Aufarbeitung des Leidens der letzten Jahrzehnte, integrierte Lern- und Bildungsangebote und den überfälligen Beginn der Zusammenarbeit an einem neuen Verständnis von Sicherheit. Das bedeutet auch aktive Mitwirkung an einer Polizeistruktur, die beide Seiten in Zukunft in gleicher Weise repräsentieren und schützen soll. Und es erfordert neue Signale für ein »farewell to arms«, den Abschied von den Waffen.

Die Polizisten in Ardoyne haben einen schwierigen Einsatz erfolgreich gemeistert. Das verdient Anerkennung von katholisch-republikanischer wie protestantisch-loyalistischer Seite. Billy Hutchinson, der Führer der kleinen protestantischen PUP hat mit der Verurteilung der Gewalt und seinem Bekenntnis der Scham „ein Loyalist zu sein“ ein Beispiel für die Absage an den »hard-liner-sectarianism« gegeben.

Der lange Weg zum Frieden, nicht nur in Nordirland, braucht eine sensible neue Generation, die offen wird für die Sorgen und Interessen der Nachbarn auf der anderen Straßenseite – keine Mauern, keine Bomben, keine Kinder als Fußsoldaten.

Dr. Corinna Hauswedell ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bonner Konversionsinstitut (BICC) und begleitet in einem Forschungsprojekt den »Nordirischen Friedensprozess«.

Integrationsansatzfür einen »Hinterhof«?

Integrationsansatz
für einen »Hinterhof«?

Der Stabilitätspakt für Südosteuropa

von Michael Kalman

Der Stabilitätspakt für Südosteuropa geht in das zweite Jahr. Grund genug, einen kritischen Blick auf ein Instrument zu werfen, welches als Katalysator für eine Integration der ärmsten europäischen Region in die Europäische Union (EU) dienen soll. Am 10. Juni 1999 hatte eine von der EU auf Initiative Deutschlands einberufene Außenministerkonferenz von 38 Staaten und 15 internationalen Organisationen den Pakt beschlossen. Die verbindlichen Zusagen der Finanzmittel für ein umfangreiches Hilfsprogramm sollten auf Geberkonferenzen eingeholt werden. Der Sinn einer solchen Initiative war evident, handelt es sich beim krisengeschüttelten Balkan doch um die ärmste Region des alten Kontinents. Und doch musste befremden, dass fast dieselben Akteure übergangslos zum großen zivilen Wiederaufbau bliesen, die gerade im Rahmen der NATO-Operation »Allied Force« mit einer riesigen Armada von Kampfflugzeugen ihre Bombenlast auf Brücken, Eisenbahnlinien, Fabriken und Kraftwerke gelegt und damit das wirtschaftliche Rückgrat Serbiens, des Herzlandes Südosteuropas, fast gebrochen hatten.

Auf dem pompösen Gipfel in der geschundenen Stadt Sarajewo am 30. Juli 1999 wurden nach drei Balkankriegen ambitionierte Ziele für das Armenhaus Europas formuliert: Danach sollten alle Menschen der Region – die wenigen Reichen und die meisten Bitterarmen – in den Genuss von Demokratie, Achtung der Menschenrechte, einer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und einer verbesserten Sicherheit kommen (Punkt 2 der Abschlusserklärung). Die drei vorgesehenen Arbeitstische sollen die Themen »Demokratie und Menschenrechte«, »Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit« und »Sicherheit« behandeln. Aufmerksame LeserInnen des Abschlussdokuments entdecken, dass in den Arbeitstischen die »soziale Entwicklung« überhaupt nicht mehr vorkommt. Immerhin soll der Stabilitätspakt eine Zusammenarbeit der Staaten in der Region anregen, indem nur solche Projekte gefördert werden, die von mindestens zwei Balkanländern vorgeschlagen wurden. Dieser regionale Ansatz ist vom Prinzip her gewiss sinnvoll. Dem früheren Kanzleramtsminister Bodo Hombach (SPD) kommt als EU-Sonderkoordinator des Stabilitätspakts seit Mitte 1999 die schwierige Aufgabe zu, vorgeschlagene Projekte und Finanzmittel der Geber zusammenzubringen.

Im folgenden soll eine dreigliedrige Kritik am Stabilitätspakt versucht werden.

  • Da sind zunächst die mehr technischen Fragen zu diskutieren. Kommt eine angemessene Summe durch die Geberinstitutionen und -länder zusammen? Werden sinnvolle Projekte vorgeschlagen? Kommt das Geld auch tatsächlich bei den Projekten und in den Empfängerregionen an? Zielen die Projekte auf eine nachhaltige, sich selbst tragende Entwicklung?
  • Dann sind grundsätzlichere Fragen zur Konzeption und zu den Rahmenbedingungen des Stabilitätspaktes zu stellen. Ist das Konzept des Stabilitätspakts hinreichend, widerspruchsfrei und effektiv? Bieten die Rahmenbedingungen des Stabilitätspaktes ein fruchtbares Umfeld für optimale Wirkungen?
  • Schließlich: Was kann der Stabilitätspakt für die Integration Südosteuropas in die europäischen Strukturen leisten? Welche Rolle spielt das enorme Wohlstandsgefälle zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und den Balkanländern?

Technische Aspekte
des Stabilitätspaktes

Die mehr technischen Aspekte des Stabilitätspaktes enthalten viele Fragezeichen: Zunächst bleiben die verbindlichen Finanzzusagen weit hinter den Erwartungen zurück. Lediglich die USA haben im Sommer 1999 700 Mio. US$ an acht Balkanländer (außer Serbien) für den Nachkriegsaufbau bereitgestellt. Aus der EU wurden zunächst nur Mittel für den kriegszerstörten Kosovo bereitgestellt. Immerhin gewährte Brüssel den Balkanstaaten einseitige Handelspräferenzen.1 Danach vergingen lange Monate bis die internationale Geberkonferenz am 1./2. April 2000 in Brüssel für den sogenannten »Schnellstart« insgesamt 1,8 Mrd. Euro erbrachte. Angesichts der teilweise verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Lage der Balkanländer ist dieses Gebervolumen kaum mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.

Man erinnert sich mit Unbehagen an Bosnien, wo der Bedarf für den Wiederaufbau auf mehrere Dutzend Milliarden US-Dollar geschätzt wurde. Die Geberinstitutionen und -länder diskutierten lediglich über einen kleinen Teil hiervon. Von den wenigen Milliarden US-Dollar, die schließlich ins Land flossen, gingen erkleckliche Mittel in die IFOR und in den Apparat des Hohen Repräsentanten. Dies verweist auf einen desillusionierenden Aspekt: Die Geber sind nämlich – anders als das Wort suggeriert – keine karitativen Vereine, sondern reichen die Mittel mehr oder weniger im Namen des eigenen Vorteils weiter. Die Finanzinstitutionen verdienen an den Kreditlinien, während die Nehmerländer noch tiefer in die Schuldenfalle tappen.

Man denkt auch mit Skepsis an andere EU-Programme für Osteuropa wie z.B. PHARE. Die Gelder für die teuren Beratungsprojekte gingen hier nicht etwa an Firmen der Region, sondern an Unternehmen aus westlichen Ländern, die zudem zwar mit hochentwickelten Marktwirtschaften vertraut waren, nicht aber mit den komplexen Problemen von Transformationsländern.2 Hinsichtlich der vielbeschworenen Kooperation, so resümiert Tömmel für ausgewählte PHARE-Projekte, „ergeben sich enorm hohe Reibungsverluste aufgrund der unzulänglichen Zusammenarbeit zwischen unwilligen Partnern, während die vielzitierten Synergie-Effekte in keiner Weise erzielt werden können.“3 Das Beispiel Bosnien zeigt auch, dass die bewilligten Gelder teilweise überhaupt nicht ankommen. Sie versickern häufig in Strukturen der Korruption und organisierten Kriminalität. Solches ist auch für nicht wenige Projekte des Stabilitätspaktes zu befürchten, liegt der Anteil der unkontrollierten Schattenwirtschaft in der Balkanregion doch bei 50 % und mehr.

Wofür werden die Mittel des »Quick Starts« verwendet? Ein größerer Teil der Gelder soll innerhalb einer Laufzeit von zwölf Monaten in Infrastrukturprojekte fließen. Dazu gehören die Ausbesserung und der Neubau von Straßen, Brücken, Schienenwegen, Flughafeneinrichtungen und Donauhäfen. Hinzu kommen Reparatur und Modernisierung von Anlagen der Wasser- und Stromversorgung, von Abwassersystemen usw.4 Solche begrenzte Maßnahmen, wenn sie denn schnell umgesetzt werden, können angesichts der schlechten infrastrukturellen Situation der Region nicht falsch sein. Durch derartige Projekte allein werden die Länder Südosteuropas allerdings weder einen wirtschaftlichen Aufschwung schaffen, noch die Massenarmut in der Bevölkerung besiegen.

Schließlich muss die kritische Frage erlaubt sein, ob das punktuelle projektbezogene Herangehen überhaupt eine zusammenhängende, sich selbst tragende Entwicklung begünstigen kann. Hier ist Skepsis angebracht. Das Beispiel Bosnien zeigt, dass die »Projektitis« durch mangelhafte Projektsteuerung viele fast schildbürgerartige Streiche möglich werden ließ – z.B. funktionsunfähige millionenschwere Bauruinen. Immerhin hat die EU für den Stabilitätspakt eine erste Konsequenz aus den schlechten Erfahrungen früherer Programme gezogen: Außenkommissar Patten und Sonderkoordinator Hombach wollen sich nun alle drei Wochen treffen und das Projektcontrolling zur Chefsache machen.

Der Stabilitätspakt
ist in sich widersprüchlich

Der Stabilitätspakt ist in sich widersprüchlich. Auch nach dem Jugoslawienkrieg im Sommer 1999 wurde die Isolierungsstrategie des Westens gegenüber Serbien aufrecht erhalten und bis heute nicht korrigiert. In der Erklärung des Gipfels von Sarajewo wird dieser Kardinalfehler durch diplomatische Formeln verdeckt: „Wir bedauern, dass wir die Bundesrepublik Jugoslawien nicht als vollen und gleichberechtigten Teilnehmer des Stabilitätspakts zu unserem heutigen Treffen einladen konnten. Alle Teilnehmer müssen die Grundsätze und Ziele des Paktes achten. Wir rufen die Menschen in der Bundesrepublik Jugoslawien auf, den demokratischen Wandel zu begrüßen und sich aktiv für die regionale Versöhnung einzusetzen. Um dem Land dieses Ziel unter Achtung seiner Souveränität und territorialen Unversehrtheit näher zu bringen, werden wir Möglichkeiten erwägen, wie die Republik Montenegro zügig einen Nutzen aus dem Pakt ziehen kann.“

Serbien grenzt an fast alle »Nehmerländer« des Stabilitätspaktes an. Eine wirtschaftliche Erholung dieses Raumes ohne Einschluss dieses Kernlandes ist undenkbar. Die außenwirtschaftliche Isolierung Belgrads ist auch politisch unsinnig. Die Annahme der »internationalen Staatengemeinschaft«, dass die systematische Vorenthaltung wirtschaftlicher und sozialer Rechte gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern Serbiens dazu führe, dass die pauperisierten Massen ihren »Tyrannen« in einer Art friedlicher Revolution stürzen, entstammt naiver politischer Romantik. Es verwundert, dass diese Annahme zur Grundlage operativer Außenpolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten gemacht wird, denn die Fakten sprechen seit vielen Jahren dagegen. Der „elektoralen Diktatur“5 Milosevics kommt nichts mehr gelegen als eine Abschnürung des Landes. Die antiwestlichen Parolen des jugoslawischen Präsidenten finden so einen noch fruchtbareren Boden. Die staatlich gelenkten Medien in Serbien scheinen die Evidenz auf ihrer Seite zu haben. Trifft es denn nicht zu: Zuerst bombardiert der Westen uns, dann hungert er uns aus! Eine Demokratisierung mit diesen Zwangsmassnahmen ist nicht zu erreichen. Dies betonen gerade auch die oppositionellen Kräfte in Serbien.

Die Anrainerstaaten, die eigentlich ein vitales Interesse an einer Wiederaufnahme der politischen und ökonomischen Kooperation mit ihrem Nachbarn haben, schlossen sich der westlichen Isolierungsstrategie an. Die Aussicht auf eine Heranführung an die (west-)europäischen Strukturen ist für diese Länder scheinbar wichtiger als die Normalisierung der Beziehungen mit Serbien. Dabei werden gerade grenzüberschreitende Projekte vom Stabilitätspakt besonders gefördert. Doch wenn Bulgarien mit Serbien solche Projekte gemeinsam entwickelte, so würde Brüssel die Unterstützung versagen. Dieser konzeptionelle Widerspruch macht den ohnehin spärlichen Mitteleinsatz des Stabilitätspakts ineffektiv.

Die Widersprüche setzen sich jedoch mit der Ungleichbehandlung von Serbien und seinem föderalen Partner Montenegro noch fort: Faktisch wird durch die Tatsache, dass Podgorica in den Genuss von Hilfen kommt, Belgrad aber nicht, die Sezession Montenegros aus dem jugoslawischen Staatsverband – mit möglicherweise blutigen Konsequenzen! Eine gewaltpräventive Wirkung hat ein solches Vorgehen im »Pulverfass« nicht – im Gegenteil!6

Der Stabilitätspakt ist zudem nicht hinreichend, weil er die dramatische Armutsentwicklung in der Balkanregion nicht zur Kenntnis nimmt, geschweige denn bearbeitet. Brüssel übernimmt letztendlich die Konditionalitäten des Internationalen Währungsfonds (IWF), wenn zukünftig weitere Gelder nur dann an die Balkanländer weitergereicht werden, wenn diese ihre »Reformzusagen« einhalten. Die inflationär gebrauchte Leerformel »Reform« lässt hier leider nichts Gutes ahnen. Denn es geht hierbei vor allem um die monetäre Reformstrategie des IWF gegenüber den meisten Balkanstaaten, welche Kreditzusagen mit harten Schnitten bei den öffentlichen Ausgaben und Lohnkürzungen ihres erwerbstätigen Bevölkerungsteils erkaufen müssen.7 Die Konditionalitäten des IWF und damit faktisch auch des Stabilitätspaktes befördern zwei schwerwiegende Fehlentwicklungen auf dem Balkan:

Zum einen wird die kränkelnde öffentliche Hand auch da weiter geschwächt, wo sie für eine funktionierende Marktwirtschaft unerlässliche öffentliche Güter bereitstellen muss wie öffentliche Sicherheit, Bildung und einen Mindestsozialschutz. Zum anderen: So wichtig die Inflationsbekämpfung und eine stabile Währung für eine prosperierende Wirtschaftsentwicklung sind, so verheerend wirkt sich die Vernachlässigung anderer Kernfaktoren einer Volkswirtschaft aus, z.B. die Pflege des »Humankapitals«. Genau dieses verfällt massenhaft in den Transformationsländern Südosteuropas. So wurden nach 1990 nicht nur die Qualifikationen durch den Strukturwandel und die wachsende Arbeitslosigkeit entwertet. Auch der rasante und politisch erzwungene Sozialabbau stürzte die Mehrzahl der Menschen in das Elend des täglichen Überlebens. In einer solchen Lebenslage kann man seine Qualifikationen weder erhalten noch weiterentwickeln. Bis zu 25 Millionen Menschen, die bereits an der Schwelle zur absoluten Armut leben müssen, werden zu AlmosenempfängerInnen herabgewürdigt. Da muss es zynisch anmuten, wenn der Sonderkoordinator Hombach weitere soziale Einschnitte in den Ländern der Balkanregion fordert.8 Im Gegensatz dazu haben die Arbeitsminister der Staaten Südosteuropa auf einer Konferenz am 21. Oktober 1999 unter Einschluss der Bundesrepublik Jugoslawien einen »Sozialplan« für die Region gefordert und deutliche Kritik daran geäußert, dass die soziale Dimension vom Stabilitätspakt nicht berücksichtigt wird. Die harte von außen verordnete Rosskur bei den öffentlichen Ausgaben hat schließlich den Niedergang der Balkanländer befördert. Die Volkswirtschaften der Balkanländer »trocknen« im wahrsten Sinne des Wortes aus. Der Staat kann seine unverzichtbare Rolle als Impulsgeber von multiplikativen Nachfrageeffekten und damit einer notwendigen Stärkung von Binnenmarktstrukturen nicht spielen.

Zum Abschluss dieses zweiten Punktes ist auf eine ungünstige Rahmen- bzw. Entstehungsbedingung der Balkaninitiative hinzuweisen. Der Stabilitätspakt gleicht einem eilig zusammengeflickten Stückwerk als Antwort auf die Verwüstungen des Kosovo-Konflikts und der NATO-Bombardements. Die Nato-Operation »Allied Force« im Frühjahr 1999 hat Serbien zusammen mit Montenegro nach Einschätzung von Balkanexperten auf den Stand des Jahres 1900 zurückgebombt. Die Auswirkungen dieser Zerstörungen werden noch viele Jahre schmerzlich spürbar sein. So sind auch rund ein Jahr nach der Beendigung der Luftschläge noch nicht alle Donaubrücken in Serbien geräumt. Die für die Anrainerstaaten so wichtige Verkehrsader konnte so noch nicht wieder geöffnet werden.9 Auf der anderen Seite soll im Rahmen des Stabilitätspaktes eine zweite Brücke am langen bulgarisch-rumänischen Donauabschnitt entstehen und die Städte Vidin und Calafat miteinander verbinden. Wenn man beides zusammen denkt – die Zerstörung von Dutzenden von Donaubrücken in Serbien und der Bau einer Brücke in den Nachbarländern – dann wird man zwangsläufig den Kopf schütteln müssen. Der Stabilitätspakt muss also aus einer sehr schlechten Ausgangsposition heraus die Folgen eines diametral entgegengesetzten Politikansatzes – der zerstörerischen Militärintervention – konterkarieren. Dies schmälert zusätzlich die Erfolgsaussichten dieser Initiative.

Was kann der Stabilitätspakt leisten?

„Wir bekräftigen unsere gemeinsame Verantwortung für den Aufbau eines letztlich ungeteilten, demokratischen und friedlichen Europas. Wir werden zusammenarbeiten, um die Integration Südosteuropas in einen Kontinent zu fördern, dessen Grenzen unverletztlich bleiben, jedoch nicht mehr eine Trennung bedeuten, sondern die Möglichkeit zu Kontakt und Zusammenarbeit eröffnen.“ Diese Willensbekundung der GipfelteilnehmerInnen des von Sarajewo zeigt, dass der Stabilitätspakt ein strategisches Instrument zur Heranführung der Balkanregion an die EU darstellt. Der Rationalität einer gesamteuropäischen Einigung ist in der Tat nicht zu widersprechen. Eine offene und argumentativ geführte Kontroverse über die Mittel zur Erreichung dieses ambitionierten Ziels muss aber möglich sein. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Auch der Prozess der Osterweiterung wie er sich aktuell vollzieht wird von Brüssel und den Regierungen der meisten EU-Mitgliedsstaaten wie ein alternativloser Sachzwang vorgeführt. Diese »Sachzwangideologie« verknüpft sich mit unzulänglichen Benchmarkings und Länder-Rankings, die mit hochaggregierten, teilweise methodisch fahrlässigen Zahlen und Indices darstellen sollen, welche der osteuropäischen Länder denn am besten ihre »Hausaufgaben gemacht« haben. Mit der Magie der Zahl wird Politik gemacht und alternative Ansätze werden als »subjektiv« oder »illusionär« bekämpft. Eine merkwürdige und für komplexe politische Verhältnisse geradezu fahrlässige Sportmetaphorik hat die sachliche Auseinandersetzung überlagert, wenn nicht ersetzt. Dies wird z.B. deutlich, wenn Bodo Hombach die Balkanländer mit einem »Quick-Start-Programm« zu einem »Marathonlauf« schickt. Umgekehrt verfallen die Regierungen der Balkanländer in Schönfärberei, wenn sie über eine schnelle Heranführung an die EU spekulieren und die Stabilität ihrer Länder loben. Der Kampf um ausländische Investoren und die Hoffnung auf einen Beitritt zur EU hat dazu geführt, dass die politische Auseinandersetzung zunehmend durch PR ersetzt wird. Die Stärkung rechtspopulistischer Strömungen in manchen EU-Mitgliedsstaaten ist auch auf diese Fehlentwicklungen zurückzuführen. Ihr kann nur durch die Zulassung eines offenen Diskurses begegnet werden, der z.B. die Konsequenzen des extremen Entwicklungsgefälles zwischen dem Gebiet der EU und der Balkanregion umfassend zu reflektieren hätte.

In der Tat ist das Wohlstandsgefälle zwischen zwei Nachbarregionen weltweit wohl nirgends größer als zwischen der Europäischen Union und den Ländern Südosteuropas. So erwirtschaftete das »engere« Südosteuropa (Bosnien-Herzegovina, Bundesrepublik Jugoslawien, Republik Makedonien, Albanien, Bulgarien und Rumänien) zusammen genommen im Jahre 1997 ein Bruttosozialprodukt (BSP) pro Kopf der Bevölkerung in Höhe von 1.337 US-Dollar. Das entspricht gerade einmal 12 % des BSP pro Kopf des wirtschaftlich schwächsten EU-Mitgliedslandes Portugal. Die Menschen auf dem Balkan leben damit auf demselben Niveau wie die Bevölkerung in Ägypten, Algerien, Marokko, Senegal, Jordanien, Ecuador, Guatemala, Indonesien oder den Philippinen (WELTALMANACH 2000, 31). Betrachtet man das »weitere« Südosteuropa mit seinen 86,6 Mio. Menschen, zu dem hier zusätzlich Ungarn, Kroatien, Slowenien, Griechenland sowie die europäische Türkei gezählt werden, erreichte sein BSP im Jahre 1997 rund 313 Mrd. US-Dollar. Das entspricht mit 3.612 Dollar pro Kopf lediglich 13 % der Wirtschaftsleistung Österreichs oder der Bundesrepublik Deutschland und damit dem Niveau von Südafrika, Mexiko, Grenada, Panama, Libanon oder der Türkei.

Mit den ärmsten Ländern Europas, Albanien und Makedonien, wurden bereits sogenannte Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen als Auftakt zum Heranführungsprozess an die EU geschlossen. Welche Konsequenzen haben solche Integrationsschritte angesichts des krassen Entwicklungsgefälles? Die Wissenschaft trifft teilweise optimistische Aussagen hinsichtlich einer Verringerung dieser Unterschiede. Nach Vobruba tendieren „Wohlstandsgefälle auf hohem Niveau (…) langfristig zur Selbstabschaffung“, weil es die Möglichkeit der (Teil-) Inklusion ärmerer Länder in den Wohlstand reicher Länder gebe.10 Gleichwohl bestehen erhebliche Zweifel, ob die Gleichgewichtsannahmen der wirtschaftswissenschaftlichen Neoklassik bei Vorliegen solch extremer Ungleichgewichte so zutreffen. Ein Blick auf die Verhältnisse innerhalb der EU ist dabei hilfreich. Als die damalige Europäische Gemeinschaft ihre Süderweiterung mit Griechenland, Portugal und Spanien vollzog, waren die wirtschaftlichen Disparitäten zwischen diesen Beitrittsländern und dem EG-Durchschnitt zwar beachtlich, jedoch bei weitem nicht so groß wie zwischen der heutigen Balkanregion und dem aktuellen EU-Durchschnitt. Immerhin hat sich das nationale Bruttosozialprodukt der südeuropäischen Staaten dem EU-Niveau angenähert. Dennoch gilt es zu beachten, „dass die Konvergenzprozesse zwischen den Mitgliedsstaaten stärker ausfallen als zwischen den Mitgliedsregionen.“11 Vergleicht man die schwächsten Regionen der EU mit ihren Stärksten, so fällt das Urteil ernüchternd aus. Hier ist Hübner zuzustimmen, dass die Divergenzen zwischen Zentrumsgebieten und peripheren Regionen sich eher erweitern. Periphere Regionen scheinen kaum Möglichkeiten zu haben, aus diesem Teufelskreis auszubrechen.12 Dieses Urteil stimmt bedenklich angesichts der milliardenschweren Transfers der EU Strukturfonds in die armen Regionen!

Angesichts des noch viel größeren Wohlstandsgefälles zwischen EU und Balkanregion kann daher kaum die neoklassische Gleichgewichtsannahme die alleinige Grundlage der Erörterung sein. Vielmehr sollte auch die These diskutiert werden, ob Südosteuropa angesichts seiner Heranführung an die EU nicht seine Verhältnisse in die EU-Länder hineinprojiziert, nämlich schwache und zerbrechliche staatliche Strukturen, eine tiefe Spaltung der Gesellschaft, die Polarisierung zwischen Arm und Reich, die Zerstörung sozialer Sicherungssysteme, einen bis 1989 überwunden geglaubten Manchesterkapitalismus und organisierte Gewalt. Die Argumentation, dass die derzeitige Heranführungsstrategie der EU gegenüber den osteuropäischen Ländern auch die EU selbst destabilisieren kann, findet in jüngerer Zeit endlich Eingang in den seriösen wissenschaftlichen Diskurs.13

Es wäre also über ein anderes Integrationsmodell für Südosteuropa nachzudenken. Dabei geht es um weitaus mehr als eine vordergründige Rhetorik des Teilens mit den armen osteuropäischen Brüdern und Schwestern, es geht auf der anderen Seite auch nicht um ein »Jammern auf hohem Niveau«, wenn KritikerInnen hierzulande auf den »Umbau des Sozialstaats« hinweisen. Es geht um die Bewahrung eines historisch gewachsenen, dabei durchaus heterogenen »Europäischen Sozialmodells«. Die Kritik an der Heranführungsstrategie heißt nicht, dass man sich für eine sozialstaatliche »Festung Europa« gegen die Balkanländer stark macht. Im Gegenteil: Es geht vielmehr um eine deutliche »Reform« der einseitig monetären Anpassungsstrategien von IWF und letztlich auch des Stabilitätspakts. Eine stärkere Binnenmarktorientierung in den Staaten Südosteuropas, eine Förderung der endogenen Konsumnachfrage und eine ausgabenfreudigere öffentliche Hand sind neben einer stabilen Währung wichtige Voraussetzungen für eine wirtschaftliche und damit auch eine soziale Erholung der Balkanregion. Diese Voraussetzung müssten von der EU und ihrem Instrument Stabilitätspakt weitaus stärker gefördert werden als bisher. Dabei kann es nicht ausbleiben, die sozialen Brennpunkte mit gezielten Armutsbekämpfungsprogrammen zu entschärfen. Mit dem Heranführen des Entwicklungsniveaus dieser Länder an den EU-Durchschnitt hat man weitaus mehr für die europäische Einigung getan als durch Assoziierungsabkommen mit Armenhäusern.

Anmerkungen

1) Vgl. Wirtschaftsblatt Südosteuropa Nr. 10/99, S. 1.

2) Ingeborg Tömmel, Die Strategie der EU zur Systemtransformation in den Staaten Mittel- und Osteuropas, in: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft Nr. III/1996, S. 145-161 (hier: S. 156).

3) Vgl. Tömmel, a.a.O., S. 157.

4) Vgl. Stability Pact for South-Eastern Europe, Regional Funding Conference, Quick Start Projects Infrastructure, o.O. o.J. (2000).

5) So der Belgrader Soziologe Slobodan Inic auf einer Podiumsdiskussion des Bayernforums der Friedrich-Ebert-Stiftung in München im November 1999.

6) Vgl. dazu Sabine Riedel/Michael Kalman, Soziale Frage und Gewaltprävention in Südosteuropa, in: Österreichische Osthefte Nr. 2/2000 (i.E.).

7) Vgl. Sabine Riedel, Monetaristische Reformstrategien und ihre sozialen Folgen für Südosteuropa: Die Entstehung einer Region europäischer Entwicklungsländer, in: Südosteuropa, Nr. 7-8/1998, S. 334-367.

8) So z.B. auf der »Dritten Wirtschaftskonferenz Süd-Ost-Europa« in Berlin am 1. Dezember 1999, vgl. Hombach: Kein Geld ohne Reformen, in: Nachrichten für Aussenhandel, 2.12.1999, S. 1.

9) Vgl. dazu Sabine Riedel/Michael Kalman, Die Destabilisierung Südosteuropas durch den Jugoslawienkrieg, in: Südosteuropa Nr. 5-6/1999, S. 258-315.

10) Vobruba, Georg, Die soziale Dynamik von Wohlstandsgefällen. Prolegomena zur Transnationalisierung der Soziologie, in: Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, Heft 3/1995, S. 326ff.

11) Kurt Hübner, Integration und Ungleichheit in der Europäischen Union, in: Joachim Schuster, Klaus Peter Weiner, Hrsg., Maastricht neu verhandeln. Reformperspektiven in der Europäischen Union, Köln, S. 76-94 (hier: S. 83f.).

12) Hübner, a.a.O., S. 86f.

13) Vgl. Anneke Hudalla/August Pradetto, Desintegration durch Integration? Dilemmata der Osterweiterung der Europäischen Union und die Europapolitik der Regierung Schröder, Hamburg (Studien zur Internationalen Politik, Heft 2/1999).

Dr. Michael Kalman ist selbstständiger Politikberater in München und Lehrbeauftragter an der Universität Augsburg.

Burundi: Zurück zum zivilen Leben?

Burundi: Zurück zum zivilen Leben?

von Friederike Fuhlrott

Das Gebiet der Großen Seen in Ostafrika ist bei uns aus Schlagzeilen über Krieg und brutale Menschenrechtsverletzungen bis hin zum Genozid bekannt. Das kleine Land Burundi wurde und wird dabei aber oft übersehen, was vor allem an dem alles überschattenden Völkermord im Nachbarland Ruanda vom April 1994 liegt. Obwohl in Burundi seit 1993 Bürgerkrieg herrschte, berichteten weder die weltweiten Medien ausführlich darüber, noch versuchte die internationale Gemeinschaft intensiv den Konflikt zu regeln. Bei den Kämpfen und Massakern sind ca. 300.000 Menschen getötet worden, bevor der Waffenstillstand, der dem Unterzeichnen des Arusha Peace Agrement´s im Jahre 2000 folgte, dem Töten 2002 ein Ende setzte. 2001 schickte Südafrika Truppen, um die Sicherheitsbedingungen zum Umsetzen des Friedensvertrags zu gewährleisten. Diese wurden 2003 durch Truppen der Afrikanischen Union (AU) ersetzt, die 2004 von der Operation der Vereinten Nationen in Burundi (ONUB) abgelöst wurden. Das Mandat der ONUB läuft Ende 2006 aus, verschiedene Länder haben ihre Kontingente bereits abgezogen1. Burundi steht also vor der Herausforderung der Friedenskonsolidierung. Die Wiedereingliederung ehemaliger Kombattanten und Kombattantinnen ist eine der Aufgaben, deren Bewältigung oder Scheitern die Zukunft des Landes prägen wird. Um Fortschritte und Probleme der Wiedereingliederung zu verfolgen, hat die Autorin in diesem Jahr einen viermonatigen Forschungsaufenthalt in Burundi durchgeführt.

Zur Ablösung der Übergangsregierung fanden 2005 Wahlen auf verschiedenen Ebenen statt. Die Burunderinnen und Burunder wählten auf lokaler, kommunaler und nationaler Ebene, gleichzeitig wurden die Mitglieder des Senats und der Präsident ernannt. In der Geschichte Burundis entluden sich machtpolitische Kämpfe entlang ethnischer Linien. 85% der burundischen Bevölkerung gehören der Gruppe der Hutu an und 14% sind Tutsi. Anders als in Ruanda waren in Burundi durchgängig Tutsi an der Macht. 1993 kam der erste gewählte Hutu Präsident, Melchior Ndadaye, bei einem Attentat durch Tutsi Militärs vier Monate nach seiner Amtsübernahme ums Leben. Da das Militär nur aus Tutsi bestand, formierten sich verschiedene Rebellengruppen, die aus Rache und mit dem Anspruch auf Regierungsbeteiligung gegen das Militär und den damaligen burundischen Staat kämpften. Die neue Regierung wird von der größten ehemaligen Rebellenpartei geführt, die auch den Präsidenten, Pierre Nkurunziza, stellt. Die ebenfalls 2005 abgestimmte neue Verfassung sieht eine Hutu – Tutsi Machtteilung im Parlament von 60 zu 40% vor. Darüber hinaus wird das Militär ethnisch gesehen 50 zu 50% gemischt. Internationale Beobachter attestierten allen Wahldurchgängen 2005 einen überwiegend freien und fairen Verlauf.

Um die Wahlen nicht durch die Präsenz bewaffneter ehemaliger Kämpferinnen und Kämpfer zu gefährden, begann deren offizielle Wiedereingliederung bereits Ende 2004. Von Anfang an gab es viele Fragen: Wie werden die Zurückkehrenden wohl zu Hause von der Bevölkerung aufgenommen, der sie während des Krieges Leid angetan haben? Wie ist ein Zusammenleben möglich? Welche Aspekte beeinflussen die Reintegration? Dazu kommt, dass die Ex-Kombattantinnen und -Kombattanten mit anderen Bevölkerungsgruppen wie Flüchtlingen, intern Vertriebenen und mit denen, die während des Krieges zu Hause geblieben sind, um äußerst knappe Ressourcen und öffentliche Unterstützung konkurrieren. Die Betroffenen werden aber in diesem Prozess nicht allein gelassen. Neben verschiedenen Organisationen der Vereinten Nationen engagieren sich auch Nichtregierungs-Organisationen (NRO), bilaterale Partner des Landes und kirchliche Einrichtungen im Bereich der Repatriierung durch den Krieg geschädigter Bevölkerungsgruppen. Auf der letzten Geberkonferenz im Februar 2006 in Burundi, wurde dem Land eine Unterstützung von 170 Mio. US$ zugesagt. Die Geber sind die Europäische Union, die Weltbank, Großbritanniens Ministerium für internationale Entwicklung, Frankreich, Italien, Japan, Niederlande, Nigeria, die Schweiz und die Vereinigten Staaten. Das Geld soll in den Wiederaufbau, in die Bekämpfung der Nahrungsmittelknappheit, in die Verbesserung des Gesundheitssystems und in gute Regierungsführung investiert werden. 2 Neben diesen Gebern gibt es einzelne Länder, wie auch Deutschland, die auf bilateraler Ebene Wiederaufbaumaßnahmen und klassische Entwicklungszusammenarbeit durchführen. Das Engagement ganz verschiedener Organisationen beeinflusst die Art der Unterstützung die die jeweiligen Bevölkerungsgruppen z.B. im Bereich der Reintegration erhalten. Dies betrifft den Verlauf der Rückführung und Wiedereingliederung der betroffenen Bevölkerung allgemein und der ehemaliger Kombattantinnen und Kombattanten im Besonderen.

Das Demobilisierungs- und Reintegrationsprogramm

Die hauptverantwortliche Einrichtung in Burundi für die Durchführung von Demobilisierung und Reintegration ist das exekutive Sekretariat der nationalen Demobilisierungskommission »Commission Nationale chargée de la Démobilisation, de la Réinsertion et de la Réintégration des ex-combattants«(SE/CNDRR). Parallel zum Prinzip des national ownership ist von internationaler Seite die Weltbank durch ihr regionales »Multi-Country Demobilisation and Reintegration Program« (MDRP) in Burundi engagiert. Das SE/CNDRR hat in Kooperation mit dem MDRP das nationale Demobilisierungs- und Reintegrationsprogramm entwickelt. Es wird im Landesinneren mit Hilfe von lokalen NRO durchgeführt. Außerhalb des nationalen Programms beteiligen sich zahlreiche nationale sowie internationale NRO und bilaterale Partner an der Unterstützung der Wiedereingliederung der Demobilisierten in ihre Heimatprovinzen.

Die Demobilisierungsphase beginnt mit dem Besuch des Demobilisierungszentrums. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass gewisse Identifikationskriterien erfüllt werden.3 In diesen ca. zehn Tagen im »Camp der Hoffnung« soll nicht nur die Uniform abgelegt werden, sondern auch militärische Verhaltensweisen und Einstellungen. In verschiedenen Modulen werden die Demobilisierten über die Möglichkeiten ökonomischer Projekte sowie über soziales Verhalten als Zivilpersonen informiert. Darüber hinaus lernen sie mit Konflikten gewaltfrei umzugehen und erhalten einen Gesundheits-Check sowie ggf. Behandlung. Nach diesem Aufenthalt wird ihnen ein so genanntes »reinsertion payment« von ca. 500US$ in Raten ausgezahlt, um ihre Transport- und Lebenshaltungskosten in den ersten 9 Monaten zu decken. Theoretisch folgt direkt im Anschluss die Reintegrationsbeihilfe. Dabei handelt es sich um eine Leistung im Wert von ca. 600US$, die sich auf das im Demobilisierungszentrum vorbereitete ökonomische Projekt bezieht und in Form von Naturalien ausgezahlt wird.4 Ehemalige Kindersoldaten und –soldatinnen sowie Behinderte werden in Spezialprogrammen aufgenommen.

Im Juni 2006 waren 20.298 Personen demobilisiert, darunter 482 Frauen und 3.015 Kinder (ONUB, 06/06).5 Von den Erwachsenen hatten bis zu diesem Zeitpunkt ca. 2.500 Reintegrationsbeihilfe erhalten. Offiziell strebt das nationale Programm eine Demobilisierung von 55.000 Ex-Kombattantinnen und –Kombattanten an. Die Betroffenen kommen aus allen Altersgruppen, wobei die Gruppe der 25-34jährigen am stärksten vertreten ist. Vom beruflichen Hintergrund her sind die meisten Bauern und Viehzüchter, einige auch Handwerker oder sie arbeiteten in Jobs wie z.B. Taxifahrer. Es ist davon auszugehen, dass die berufliche Repräsentanz in der Gruppe der Ex-Kombattantinnen und –Kombattanten der der burundischen Gesamtbevölkerung entspricht.

Bis jetzt gibt es kaum gesicherte Daten über Faktoren, die die Reintegration von Demobilisierten in Burundi beeinflussen. Die vorläufigen Ergebnisse des Forschungsaufenthalts geben diesbezügliche erste Aufschlüsse.

Generell kann gesagt werden, dass zum Zeitpunkt der Datenerhebung die soziale Reintegration der Demobilisierten in ihre Heimatprovinzen als relativ positiv eingeschätzt wurde und die ökonomische überwiegend noch nicht begonnen hatte. Zwar hatten alle Befragten ihr »reinsertion payment« erhalten, jedoch bis auf wenige Ausnahmen noch niemand die anschließende Reintegrationsbeihilfe.

Soziale Integration

Was heißt relativ erfolgreiche soziale Reintegration? Die Demobilisierten und die zivile Bevölkerung erwähnten keine sozialen Schwierigkeiten miteinander. Es gab weder vermehrte Überfälle, Racheakte, Gewalttaten noch ein Ansteigen krimineller Aktivitäten allgemein. Dies ist besonders hervorzuheben, da es in Burundi (noch) keine systematisch eingesetzten Mechanismen für Versöhnung gibt. Die von den Vereinten Nationen vorgeschlagene und von der burundischen Regierung akzeptierte Wahrheits- und Versöhnungskommission ist noch nicht operativ. Es gilt eine Teilamnestie, lediglich Kriegsverbrechen und Verletzung von Menschenrechten sollen juristisch verfolgt werden. Wie dies in die Tat umgesetzt werden soll ist weiterhin unklar. Bisher ist noch niemand verurteilt worden.

In den Interviews bezeichneten die Befragten verschiedene Aktivitäten des nationalen Demobilisierungs- und Reintegrationsprogramms als positiv, beispielsweise auch den sehr kurzen Aufenthalt im Demobilisierungszentrum. Die ehemals Kämpfenden konnten die dort gewonnenen Kenntnisse oftmals hilfreich im praktischen Leben einsetzen. Auf die zivile Bevölkerung hatte allein das Wissen um diesen Aufenthalt einen beruhigenden Einfluss, denn die Zurückkehrenden hatten ja, nach teilweise mehr als zehn Jahren »im Busch«, gelernt, wie sie sich als Zivilpersonen zu verhalten haben. Einen ähnlichen Effekt hat das Wissen um das Geld, welches die Demobilisierten in bar erhielten. Unabhängig davon, wofür es tatsächlich ausgegeben wurde, beruhigte es die Bevölkerung, denn sie hatte weniger Angst vor Überfällen und Diebstählen. Die Tatsache, dass fast alle zurück in ihre Herkunftsdörfer oder zumindest -provinzen gingen, führte dazu, dass die Ex-Kombattantinnen und -Kombattanten relativ einfach an ihre alten Bekanntschaften anknüpfen konnten und die zivile Bevölkerung überwiegend der Auffassung ist, „es sind unsere Kinder, die zurückkommen“. Die lokale ethnische Aufteilung scheint ähnlich der vor dem Krieg, jedoch wird von der Bevölkerung hervorgehoben, dass heute keine Gruppe mehr vor der anderen Angst haben muss. Die jeweils geflohene Gruppe kehrt langsam zurück in ihre Heimatdörfer und dies ist auch von der restlichen Bevölkerung gewollt. Prinzipiell gibt es immer eine Durchmischung der Ethnien, wobei es traditionell Bereiche gibt, vor allem Viertel in der Stadt, in denen überwiegend Tutsi leben und Dörfer auf dem Land, in denen mehrheitlich Hutu leben. Da die Gruppe der Hutu die große Bevölkerungsmehrheit bildet, spiegelt sich dies auch in der Siedlungsstruktur wider.

Ökonomische Integration

Es gibt aber auch ökonomische Aspekte, die die Reintegration negativ beeinflussen. Die Demobilisierten haben keine Mittel, um sich wirtschaftlich zu integrieren. Dies unterscheidet sie erst einmal nicht vom Rest der Bevölkerung, der auch in Armut lebt. Allerdings hat die Tatsache, dass versprochene Unterstützung auf sich warten lässt, besondere Effekte. Dazu gehört, dass die Betroffenen ihre Zeit mit Warten verbringen und selten eigene, von der finanziellen Unterstützung unabhängige Initiativen, ergreifen. Des Weiteren führen das Warten und das Versprechen an sich zu der Überzeugung, dass die Reintegrationsbeihilfen auch tatsächlich zu einer nachhaltigen Verbesserung der ökonomischen Situation führen würden. Dass dies eine Fehlannahme ist, zeigt sich an den Erfahrungen derer, die die Leistungen bereits erhalten haben und an der schlechten gesamtökonomischen Lage des Landes. Wenn auch die Reintegrationsbeihilfe ein wichtiges start-up Kapital darstellt, darf ihre ökonomische Wirkung nicht überschätzt und die beschriebene psychische Wirkung von nicht oder spät erfüllten Versprechen nicht unterschätzt werden.

Aus der zivilen Bevölkerung gibt es vor allem Kritik daran, dass die Ex-Kombattantinnen und –Kombattanten nicht ausreichend auf die Verwendung der Unterstützung vorbereitet wurden und Unterstützung in Form von Naturalien ausgezahlt wird. Darüber hinaus wird kritisiert, dass einige Demobilisierte nicht arbeiten, wobei unklar bleibt, wie groß dieser Anteil ist. Dabei geht es nicht um formelle Arbeit, die generell selten ist, sondern hauptsächlich um Feldarbeit. Eigentlich beteiligt sich jeder und jede zumindest an der familiären Bestellung der Felder. Wird dies nicht getan, gilt die Person in der burundischen Gesellschaft als faul und als potentiell gefährlich und kriminell. Da sie weder etwas zu tun noch Einkünfte hat, sei es auch nur in Form von ein paar Knollen Maniok, könnte diese Person zu einer Gefahr für die Gemeinschaft werden. Gleichzeitig gab es Bedenken, was passiert, wenn die Unterstützung ausläuft. Die zivile Bevölkerung befürchtet, dass die Betroffenen dann kriminell werden könnten, da sie vermutlich bis zu dem Zeitpunkt (noch) keine stabile wirtschaftliche Basis aufgebaut haben und weil sie daran gewöhnt sind, mit Waffen umzugehen.

Fazit

Diese kurzen Einblicke in einige Bereiche der Untersuchung lassen bereits erste Schlüsse zu. Zum Gelingen des Reintegrationsprozesses ist es wichtig, positive Aspekte zu fördern, und die Wirkung negativer zu unterbinden. Interessanterweise kann dem Bereich, der bisher vom SE/CNDRR und vom MDRP keine bis wenig Unterstützung erfahren hat, nämlich der der sozialen Reintegration, aufgrund der Forschungsergebnisse eine bisher erfolgreiche Entwicklung zugeschrieben werden. Dies zeigt sich besonders in der von den Befragten als positiv beurteilten Situation des Zusammenlebens, deren friedliche Entwicklung durch den Aufenthalt im Demobilisierungszentrum und den »reinsertion payments« unterstützt wurde.

In dem Bereich hingegen, der im Zentrum der SE/CNDRR und MDRP Aktivitäten steht, der ökonomischen Reintegration, muss leider eine nicht befriedigende Entwicklung festgestellt werden, was allerdings nicht die durchweg pünktlich ausbezahlten »reinsertion payments« betrifft. Die Probleme der Verzögerung der ökonomischen Reintegrationsmaßnahmen und ihre Betonung gegenüber der sozialen Reintegrationsförderung zeigen die Schwierigkeiten, auf die ein theoretisch durchdachtes Wiedereingliederungsprogramm in der Realität stößt und die es teilweise selbst verursacht. Diese liegen nicht nur in der Sache an sich, sondern auch an der Kommunikation über die Sachverhalte und an der mangelnden Transparenz. Viele Verwirrungen und Animositäten auf Seiten der Demobilisierten sowie auf Seiten der zivilen Bevölkerung sind durch mangelnde Information begründet und könnten dementsprechend relativ einfach verhindert werden. Dies betrifft vor allem die Aufklärung darüber, wer Zugang zu welcher Art von Unterstützung hat und warum. Auch die Förderung der sozialen Reintegration könnte mit relativ einfachen Mitteln verbessert werden. Die in den Interviews genannten positiven Maßnahmen, die allerdings nicht alle systematisch sondern nur vereinzelt stattfanden, waren Informations- und Aufklärungsveranstaltungen bezüglich der Rückkehr der Demobilisierten, Vorbereitung der Demobilisierten selbst, Treffen zur Versöhnung sowie gemeinschaftliche Aktivitäten zum Wiederaufbau des gemeinsamen Lebensraums.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die ersten Schritte hin zur Reintegration der ehemals Kämpfenden in Burundi trotz Hindernissen erfolgreich verlaufen sind, wobei es in Zukunft gilt, strukturelle Hürden abzubauen und positive Reintegrationsansätze verstärkt zu unterstützen.

Anmerkungen

1) http://www.un.org/Depts/dpko/missions/onub/index.html, Abrufdatum: 13.09.06

2) http://www.irinnews.org/report.asp?ReportID=51969, Abrufdatum: 13.09.06

3) Siehe dazu: http://www.mdrp.org/PDFs/Country_PDFs/BurundiDoc_TechAnnex.pdf, S.17. Abrufdatum: 24.08.06

4) 68% der BurunderInnen leben von weniger als einem Dollar pro Tag (http://web.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/COUNTRIES/AFRICAEXT/BURUNDIEXTN/0,,menuPK:343761~pagePK:141132~piPK:141107~theSitePK:343751,00.html, Abrufdatum: 04.09.06); demzufolge erscheint die finanzielle Unterstützung hoch, trägt jedoch aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Gesamtsituation nicht zur langfristigen Existenzsicherung bei.

5) ONUB (United Nations Operation in Burundi): DDR-SSR Newsletter, 01 to 30 June 2006 – Issue 28/2006, Bujumbura, Juni 2006

Friederike Fuhlrott ist Promotionsstipendiatin am Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung der Philipps Universität Marburg

Liberia, ein Prototyp?

Integrierte Missionen der Vereinten Nationen

Liberia, ein Prototyp?

von Tobias Pietz und Diana Burghardt

Die Schaffung so genannter »integrierter Missionen« ist ein aktueller Versuch, die Effizienz des Friedensengagements der Vereinten Nationen zu steigern. Er gründet auf der Erkenntnis, dass politische, militärische, humanitäre und entwicklungspolitische Akteure so weit wie möglich an einem Strang ziehen müssen, um nachhaltig friedliche Strukturen schaffen zu können. Im Folgenden wird das Konzept der Integration zunächst theoretisch vorgestellt und anhand einiger Ausführungen zum Spannungsfeld zwischen peacekeeping und humanitärer Hilfe problematisiert. Anschließend wird der Blick auf die praktische Umsetzung von »Integration« gelenkt und die Frage behandelt, ob bzw. inwieweit die United Nations Mission in Liberia (UNMIL) als »Prototyp« für künftige komplexe Friedensmissionen der Vereinten Nationen gelten kann. Den Schluss des Artikels bildet ein kurzer Ausblick.

Die heutigen Friedenseinsätze der Vereinten Nationen sind darauf ausgerichtet, Konfliktursachen zu überwinden.1 Dabei wird das robuste peacekeeping nach Kapitel VII der VN-Charta mit dem so genannten post-conflict peacebuilding verbunden, das neben der Beobachtung von Waffenstillständen auch Polizeiaufgaben, die Vorbereitung von Wahlen, humanitäre Hilfe, die Beobachtung der Menschenrechtssituation, den Aufbau der zivilen Verwaltung und des Justizwesens, die Rückführung von Flüchtlingen, die Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von Ex-Kombattanten etc. umfasst. Seit Beginn der 1990er Jahre ist damit die politische, militärische, humanitäre und entwicklungspolitische Kompetenz der Vereinten Nationen zunehmend gleichzeitig in »komplexen« Friedensmissionen gefragt.

Von der Koordination zur Integration

Im Laufe der 1990er Jahre zeigte sich jedoch durch eine Reihe von Debakeln die nur sehr begrenzte Fähigkeit der VN zur Schaffung nachhaltig friedlicher Strukturen – und dies wurde auf die Fragmentierung des VN-Systems zurückgeführt. Da zahlreiche Abteilungen, Programme und Sonderorganisationen der VN mehr oder weniger getrennt voneinander arbeiteten, entstand der Ruf nach verbesserter Koordination innerhalb der VN-Familie und schließlich das Konzept zur »Integration« aller relevanten VN-Akteure. Den Anfang zur Entwicklung des Konzepts der Integration machte der im August 2000 veröffentlichte Report of the Panel on United Nations Peace Operations (der Brahimi-Bericht, benannt nach dem Vorsitzenden der Kommission, dem ehemaligen Außenminister von Algerien), der in der Öffentlichkeit große Beachtung und Anerkennung fand. Der Brahimi-Bericht stellte fest, dass es im UN Department of Peacekeeping Operations (DPKO) keine Einheit gebe, in der Vertreter aller in einer Friedensmission wichtigen Themenbereiche – Politische Analyse, Militäreinsätze, Polizei, Wahlhilfe, Menschenrechte, Entwicklung, humanitäre Hilfe, Flüchtlinge, Öffentlichkeitsarbeit, Logistik, Finanzen und Rekrutierung – zusammenkommen.2 Er schlug daher die Schaffung so genannter Integrated Mission Task Forces (IMTF) vor, die aus hochrangigen Vertretern aller genannter Bereiche bestehen und (jeweils für den Einsatz in einem Land) als zentraler Kontaktpunkt die interne Koordination der VN verbessern sollten. Trotz einiger anfänglicher Schwierigkeiten dieser thematisch breit gefächerten und gleichzeitig regional auf ein Land fokussierten Expertengremien gelten die Integrated Mission Task Forces heute als Weg der Zukunft. Sie sind zu einem integralen Bestandteil und zu Schlüsselgremien des Integrated Mission Planning Process (IMPP) geworden – einem klar strukturierten, sechsstufigen Planungsprozess für (künftige) VN-Friedensmissionen.

Der Entwurf des neuesten IMPP (vom Juni 2006) definiert das Ideal der Zukunft, die »Integrierten Missionen«, als solche, in denen es eine von der gesamten VN-Familie geteilte Vision (a shared vision) für eine Krisenregion gibt, d.h. ein Konzept, das die Ziele bzw. Prioritäten (center of gravity, main effort), die Begründung und die Strategie für das vielfältige Engagement der VN deutlich macht.3 Ähnlich spricht das Executive Committee on Humanitarian Affairs in seinem Definitionsversuch für Integrierte Missionen von einer »system-wide UN response«, die durch die Zusammenführung aller VN-Akteure und Ansätze innerhalb eines einzigen »overall political-strategic crisis management framework« gelingen soll.4 Dieses umfassende Rahmenwerk bzw. diese von allen geteilte Vision soll durch die Integrated Mission Task Forces entwickelt werden. Dadurch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Maßnahmen zur Schaffung von Sicherheit und Entwicklung in einem Land einander bedingen. Die breit gefächerte Expertise in den IMTFs, d.h. auch die genaue Kenntnis der verschiedenen Mandate, Funktionen und Möglichkeiten der diversen Abteilungen der VN, soll dann dazu beitragen, aus der Vision eine sinnvolle und abgestimmte Arbeitsteilung gemäß komparativer Vorteile innerhalb der VN-Familie abzuleiten. Knapp gefasst könnte man wohl von vielgestaltiger Friedensarbeit aus einem Guss sprechen, durch die die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit des VN-Friedensengagements erhöht werden soll.

Zwischen Peacekeeping und Humanitärer Hilfe

Das Konzept der Integration und der darin enthaltene Gedanke, dass alle VN-Akteure zur Umsetzung gemeinsamer Prioritäten an einem Strang ziehen sollten, ist nicht unproblematisch, da zwischen »peacekeepern« und humanitären Helfern (theoretisch) ein Spannungsverhältnis besteht. Zwar sind sich beide Gruppen in der Zielsetzung einig, Frieden schaffen und Menschenleben retten zu wollen, doch ihre (zumindest idealtypischen) Ansätze sind grundverschieden. Das heutige, multidimensionale und mit peacebuilding- Maßnahmen verknüpfte peacekeeping ist ein politischer und damit »parteiischer« Akt, während humanitäre Hilfe zwar in einem politischen Umfeld geleistet wird, sich aber nach den Prinzipien der Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit richtet. Konkret bedeutet dies, dass humanitäre Hilfe ohne Ansehen der ethnischen, religiösen oder politischen Zugehörigkeit der Opfer, vielmehr ausschließlich nach dem Kriterium der Hilfsbedürftigkeit geleistet wird (Unparteilichkeit), dass niemals eine Konfliktpartei unterstützt oder bei ideologischen Disputen Partei ergriffen wird (Neutralität), und dass die politische und finanzielle Autonomie der Hilfsorganisationen gewahrt wird (Unabhängigkeit). Für humanitäre Helfer ist ein weitgehendes Festhalten an diesen Prinzipien wichtig, um ihren Zugang zu den Opfern auf allen Seiten eines Konflikts sichern zu können, statt selbst in Auseinandersetzungen hineingezogen und zu einem potenziellen Angriffsziel zu werden.5 Wichtig ist außerdem, dass der Zugang zu humanitärer Hilfe als Recht der Opfer bzw. die Gewährung von humanitärer Hilfe als internationale Verpflichtung begriffen wird.6 Humanitäre Helfer sehen in ihrer Arbeit in erster Linie kein Mittel zur Erreichung eines abstrakten politischen Ziels – auch nicht des Friedens –, sondern stellen die Rettung des individuellen Menschenlebens in den Vordergrund. Das theoretische Spannungsfeld zwischen peacekeepern und humanitären Helfern besteht also darin, dass peacekeeper stets das langfristige Ziel des Friedens und der Stabilisierung als erste Priorität vor Augen haben und die Auswahl der Menschen, denen sie helfen, entsprechend ausrichten. Humanitäre Helfer hingegen machen ihre Hilfe tendenziell nicht von langfristigen politischen Überlegungen, sondern (eher kurzfristig) von der unmittelbaren Bedürftigkeit der Opfer abhängig.7

Tatsächlich kann heute natürlich keine klare Trennlinie zwischen »politischen« peacekeepern und »unpolitischen« Hilfsorganisationen mehr gezogen werden. Kaum eine Hilfsorganisation kann von sich behaupten, allen oben genannten humanitären Prinzipien zu entsprechen. Besonders eine echte finanzielle Unabhängigkeit ist bei den meisten Hilfsorganisationen (mit Ausnahme solch etablierter Organisationen wie dem International Committee of the Red Cross oder Médicins sans Frontières) nicht gegeben. Zudem übernimmt die große Mehrheit ziviler Hilfsorganisationen heute parallel Aufgaben der humanitären Hilfe und Projekte der Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Die Aufgabenfelder von humanitären Hilfsorganisationen und Einrichtungen der EZ, sowie die der mit weitreichenden Mandaten ausgestatteten peacekeeper, überschneiden sich damit zunehmend. Spannungen gibt es allerdings trotzdem – auch in der Praxis. Dies liegt daran, dass die humanitär ausgerichteten Organisationen der VN (z.B. die Food and Agriculture Organization of the United Nations, FAO; das United Nations Development Programm, UNDP; der United Nations High Commissioner for Refugees, UNHCR; der United Nations Children’s Fund, UNICEF; das World Food Programme, WFP; oder die World Health Organization, WHO) meist schon Jahre vor einem Friedenseinsatz als UN Country Team in einer Region arbeiten. Ihre Mitarbeiter, und auch die zahlreichen internationalen und lokalen Nichtregierungsorganisationen (NROs), mit denen sie zusammenarbeiten, kennen daher die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Situation im Land sehr gut. Ihre Expertise – so der Vorwurf – finde aber nicht genügend Beachtung.8 Statt mit ihnen als gleichberechtigten Partnern zusammenzuarbeiten, würden sowohl der militärische als auch der zivile Part der neu im Land eintreffenden VN-Missionen die Landeskenntnisse und Ratschläge der Country Teams ignorieren und ihnen stattdessen autoritär und arrogant gegenübertreten. Der Gegenvorwurf von Mitarbeitern des Department of Peacekeeping Operations geht dahin, dass sich die »old-timer« aus den UN Country Teams neuen Realitäten nicht anpassen würden. Sie verstünden oft nicht, wie sehr sich der »politische Wind« aufgrund eines Friedensabkommens, einer anerkannten Übergangsregierung und einem Mandat durch den Sicherheitsrat verändere. Denn typischerweise verändere sich die grundsätzlich »unparteiische« Arbeit der VN dann insofern in eine »parteiische« Haltung, als ein spezifischer Friedensprozess gefördert wird.9

»Integrieren« vor Ort: das Beispiel Liberia

In der Diskussion um Integrierte Missionen der Vereinten Nationen wird oft auf Liberia verwiesen, denn die United Nations Mission in Liberia (UNMIL) gilt als erste wirklich integrierte Mission und damit auch als möglicher Prototyp für die Zukunft komplexer Friedensmissionen.10 Dabei war UNMIL nicht von Anfang an als eine integrierte Mission konzipiert worden, sondern veränderte sich erst als Reaktion auf angebliche Spannungen zwischen dem Senior Management von UNMIL und dem Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) in Liberia.11 Es scheint, als habe sich der zivile Teil von UNMIL (1.000 von 16.000 Personen) ohne nennenswerte Konsultationen mit anderen VN-Stellen im Bereich Nationbuilding engagiert, während militärische Einheiten – ebenfalls ohne Absprache – neben Aufgaben der Friedenssicherung auch in starkem Maße Quick Impact Projects durchführten. Dabei hätten beide Bereiche von existierender Länderkompetenz profitieren können. In einem Bericht der Peacekeeping Best Practices Unit von DPKO über die Anfangsphase von UNMIL heißt es, die Ressourcen der bereits bestehenden politischen Mission in Liberia (dem UN Office in Liberia, UNOL) seien nur „unzureichend genutzt“ worden, und UNMIL sei „nicht in ausreichendem Maße“ an einer Abstimmung mit dem UN Country Team interessiert gewesen.12 Dies hat zu Verärgerung und Frustration und nicht zu einem Gefühl von Partnerschaft geführt. Trotzdem ist der Vorwurf einiger NROs in Liberia, dass die Hilfe der militärischen und zivilen UNMIL-Einheiten auf einem qualitativ niedrigen Standard erfolgt sei, kaum nachzuweisen. Die Literatur kennt nur wenige Beispiele, u. a. die Problematik eines Militärkrankenhauses von UNMIL, in dem südasiatische Peacekeeper es ablehnten, Frauen zu behandeln, da es keinen weiblichen Arzt im Team gebe.13 Angeblich hat diese Diskriminierung eine negative Wirkung auf die Haltung der Bevölkerung nicht nur gegenüber UNMIL, sondern gegenüber der humanitären Hilfe insgesamt gehabt. Eine intensivere Beschäftigung mit der Qualität der durch UNMIL geleisteten Hilfe und möglichen Auswirkungen »schlechten« Peacebuildings steht allerdings noch aus: die bisherigen Beschreibungen einzelner Fälle erlauben noch keinerlei allgemeine Rückschlüsse.

Durch eine Entscheidung des Generalsekretärs im Juli 2004 wurde das bis dahin selbstständig operierende Office for the Coordination of Humanitarian Affairs formal in die Strukturen von UNMIL integriert, offiziell, um die Koordinierung der humanitären Hilfe zu verbessern.14 Das neu gebildete Humanitarian Action Committee (HAC) innerhalb UNMILs wurde jedoch nicht von OCHA Personal gestellt, sondern durch die Humanitarian Officers von UNMIL, die zuvor als Verbindung zu OCHA gewirkt hatten und damit nur indirekt mit den weiteren humanitären und entwicklungspolitischen Akteuren im Land kommuniziert hatten. Komplementär zu diesem Schritt wurden die Kompetenzen des Resident Coordinator (RC) und des Humanitarian Coordinator (HC) in der Position eines Deputy Special Representative of the Secretary General (DSRSG) zusammengeführt. Dieser Stellvertreter des Sonderbeauftragten des Generalsekretärs ist gleichzeitig auch für die Bereiche Rehabilitation und Wiederaufbau innerhalb von UNMIL zuständig. Damit wurde die neutrale Position des Koordinators der humanitären Hilfe mit der politischen Position des Hauptpartners für die lokale Regierung im Bereich Wiederaufbau vermischt, und insgesamt wurde die humanitäre Hilfe – aufgrund der Zusammenführung der Positionen des HC und RC und der Integration von OCHA in die Struktur der Mission – dem mit einem eindeutig politischen Mandat ausgestatteten Leiter von UNMIL, dem Sonderbeauftragten des Generalsekretärs (SRSG), unterstellt.

In der Folge kam es immer wieder zu Vorwürfen dahingehend, dass die humanitäre Hilfe genutzt würde, um politische Ziele der Mission zu erreichen, oder aber dass die humanitäre Hilfe enorm an Priorität verloren hätte. Als Beleg für diese These wurde von verschiedenen Autoren die Vorbereitung der Wahlen im Winter 2005 angeführt. Um die Durchführung erfolgreicher Wahlen sichern zu können, drängten UNMIL und die internationalen Geldgeber darauf, alle Flüchtlinge vor dem gesetzten Wahltermin, d.h. noch innerhalb der Regenzeit, in ihre Heimatregionen zu bringen – und setzten dies trotz des großen Protestes von humanitären Organisationen, die vor den schwierigen klimatischen Bedingungen für die Rückführung warnten, auch durch. Manche mögen sich in dieser Situation an ein Zitat des Leiters der VN Mission in Liberia im Jahre 1993 erinnert gefühlt haben, der trocken festgestellt hatte: „If relief gets in the way of peacemaking then there will be no relief.“15 Aber auch diese Episode ist, wie so viele, nur anekdotischer Art. Ob, wie und mit welchen Folgen humanitäre Hilfe innerhalb integrierter VN-Missionen stärker als in anderen Strukturen politisch instrumentalisiert wird, harrt weiterhin einer eindeutigen Analyse.

Die Realität der Mission

Zu Beginn der Mission in Liberia war die Mitnutzung militärischer Kapazitäten von UNMIL durch humanitäre VN-Programme laut dem World Food Programme notwendig. Mangels ausreichender eigener Kapazitäten (insbesondere im Bereich Logistik, aber auch zur Absicherung von Aktivitäten im Feld), sei die Unterstützung durch UNMIL essentiell gewesen. Mittlerweile versuchen sich jedoch einige VN-Programme in Liberia etwas von UNMIL zu distanzieren. Sie tun dies u. a. durch eine farbliche Unterscheidung: während (militärische und zivile) UNMIL Einheiten einen schwarzen Schriftzug benutzen, tragen Fahrzeuge von UNDP und anderen Programmen allein blaue Symbole. Dies ist für viele internationale humanitäre Organisationen wichtig, denn in ihren Augen ist die »black UN« militärisch und politisch in Liberia tätig, und dementsprechend kein Kooperationspartner für ihre Arbeit. Die liberianische Bevölkerung macht laut Umfragen aber keine Unterscheidung zwischen schwarzer und blauer VN. Überhaupt scheint die Bevölkerung der komplexen Diskussion um zivil-militärische Kooperation, politische Instrumentalisierung von humanitärer Hilfe oder Integration nur wenig Interesse beizumessen. Bemerkenswert ist, dass eine Umfrage mit knapp 800 Teilnehmern in Liberia im Januar 2006 eine überwältigend positive Einstellung der Bevölkerung gegenüber UNMIL zeigte.16 91 Prozent sagten, dass UNMIL bislang gute Arbeit geleistet habe, besonders hinsichtlich Stabilisierung und Sicherheit, aber auch bei der Implementierung von Quick Impact Projects, sowie bei der Durchführung der ersten freien Wahlen. Im Gegensatz dazu wurde die Arbeit der NROs meist viel kritischer betrachtet.17

Insgesamt kann man feststellen, dass die Idee der Integration innerhalb von UNMIL grundsätzlich begrüßt wird, sich aber derzeit noch in wenig mehr als einem erhöhten Austausch an Informationen äußert. Im Hinblick auf die VN-Programme außerhalb von UNMIL könnte sich die kritische und vielfach auf Unabhängigkeit bestehende Haltung langsam abschwächen. Konkret bahnt sich diese Änderung an, seit der Leiter von UNMIL ausgewechselt worden ist. Jaques Klein, der erste Leiter von UNMIL, war früher beim Militär, während der ihm nachfolgende Alan Doss einen zivilen Hintergrund hat – er kommt aus der humanitären Hilfe. Viele Akteure der humanitären Hilfe sehen darin eine große Chance, da Schlüsselfiguren an der Spitze integrierter Missionen enormen Einfluss darauf nehmen könnten, wie stark auf Missions-Externe zugegangen wird.

Kritik und Ausblick

Die Schaffung integrierter Missionen ist ein Versuch zur Steigerung der Effizienz des Friedensengagements der VN, der nach den Fehlschlägen in den 1990er Jahren unternommen werden musste. Um nachhaltig friedliche Strukturen schaffen zu können, müssen politische, militärische, humanitäre und entwicklungspolitische Akteure so weit wie möglich zusammenarbeiten. Es geht also nicht so sehr um das Ob, sondern mehr um das Wie der Integration.18 Die Art und Weise, in der komplexe Friedensmissionen mit den Anliegen der humanitären Gemeinschaft umgehen, steht im Mittelpunkt. Dabei werden die Missionen noch viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, um Sorgen bezüglich der Instrumentalisierung und Unterordnung von humanitärer Hilfe abzubauen. Andererseits sollten die UN Country Teams sowie die internationalen und lokalen NROs ihre bisweilen absolut gesetzten humanitären Prinzipien (Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit) erneut beleuchten – denn faktisch hat sich die klassische humanitäre Hilfe bei vielen Akteuren hin zu eindeutig politischen Aufgaben des langfristigen Wiederaufbaus gewandelt.

Die eingangs aufgeworfene Frage, ob die VN-Mission in Liberia ein Prototyp für kommende komplexe Friedensmissionen der Vereinten Nationen ist, kann bejaht werden. Allerdings steht bei den meisten aktuellen Friedensmissionen (bspw. in Afghanistan, Bosnien oder dem Kosovo) die militärische Komponente nicht unter der Kontrolle der VN. Liberia ist somit ein Idealfall für die Vereinten Nationen. Anstelle von integrierten Missionen nach liberianischem Vorbild könnte das Bild internationaler Friedensmissionen auch künftig eher von Situationen bestimmt werden, in denen militärische oder zivile Aufgabenbereiche einer VN-Mission von der NATO, der Weltbank, der EU oder der OSZE übernommen werden.

Anmerkungen

1) Winrich Kühne (2003): UN-Friedenseinsätze verbessern – Die Empfehlungen der Brahimi Kommission, S. 717, http://www.zif-berlin.org/Downloads/Analysen/Praxishandbuch_UNO_2003.pdf.

2) Brahimi Report, Paragraph 198, http://www.un.org/peace/reports/peace_operations/.

3) Draft UN Integrated Mission Planning Process (2006).

4) Espen Barth Eide et al. (2005): Report on Integrated Missions. Practical Perspectives and Recommendations, S. 14, www.globalpolicy.org/security/peacekpg/general/2005/05integrated.pdf.

5) Vgl. Andreas Heinemann-Grüder und Diana Burghardt (2006): Zivil-Militärische Zusammenarbeit – Der Wiederaufbau von Nachkriegsgesellschaften, S. 113, http://www.reader-sipo.de/artikel/0602_AII1.htm.

6) Principles of Conduct for The International Red Cross and Red Crescent Movement and NGOs in Disaster Response Programmes, http://www.ifrc.org/publicat/conduct/code.asp.

7) Vgl. Volker Franke (2006): The Peacebuilding Dilemma. Civil-Military Cooperation in Stability Operations, International Journal of Peace Studies (im Erscheinen).

8) Eide, S. 17-18.

9) Eide, S. 18.

10) Vgl. Georg Frerks et al. (2006): Principles and Pragmatism. Civil-Military Action in Afghanistan and Liberia, S. 75, http://www.reliefweb.int/library/documents/2006/cordaid-gen-02jun.pdf.

11) Vgl. Lewis Sida (2005): Challenges to Humanitarian Space. A Review of Humanitarian Issues Related to the UN Integrated Mission in Liberia and to the Relationship between Humanitarian and Military Actors in Liberia, S. 8, http://www.humanitarianinfo.org/Liberia/infocentre/general/docs/Challenges%20to%20humanitarian%20space%20in%20Liberia.pdf.

12) Peacekeeping Best Practice Section (PBPS) of the United Nations (2004): Lessons Learned Study on the Start-up Phase of the United Nations Mission in Liberia, S. 15, http://pbpu.unlb.org/pbpu/library/Liberia%20Lessons%20Learned%20(Final).pdf.

13) Erin A. Weir (2006): Conflict and Compromise. UN Integrated Missions and the Humanitarian Imperative, KAIPTC Monograph No 4, S. 42, http://www.kaiptc.org/_upload/general/Mono_4_weir.pdf.

14) Secretary General´s 4<^>th<^*> Report to the Security Council on Liberia. S/2004/725.

15) Zitiert nach Weir, S. 38.

16) Vgl. Jean Krasno (2006): Public Opinion Survey of UNMIL´s Work in Liberia, http://pbpu.unlb.org/pbpu/library/Liberia_POS_final_report_Mar_29.pdf.

17) Frerks, S. 95.

18) Vgl. Weir, S. 46.

Tobias Pietz, M.A. und Diana Burghardt, M.A. sind Mitarbeiter des Bonn International Center for Conversion (BICC) im Forschungsbereich Peacebuilding. Tobias Pietz studierte Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg und Peace and Security Studies am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH). Diana Burghardt, studierte Nordamerikastudien, Politische Wissenschaft und Öffentliches Recht an der Universität Bonn und der University of California, San Diego.

Friedensperspektiven für den Nahen Osten

Friedensperspektiven für den Nahen Osten

von Heidemarie Wieczorek-Zeul

Für den Nahen Osten gilt die Erfahrung, die wir in der Entwicklungszusammenarbeit immer wieder machen: Ohne Frieden gibt es keine Entwicklung; aber ohne Entwicklung gibt es auch keinen Frieden.

Wer wirklich Frieden für die Region will, muss die Probleme an ihren Wurzeln angehen. Die Probleme des Nahen Ostens können nicht durch Krieg gelöst werden, sondern nur im Rahmen eines politischen Prozesses. Das Existenzrecht Israels muss dauerhaft gesichert, der Libanon wiederaufgebaut, der faktisch brachliegende Aufbau in den Palästinensischen Gebieten muss mit neuem Schwung wieder in Gang gesetzt und ein eigenständiger Staat der Palästinenser endlich verwirklicht werden. Das alles sind wichtige Bausteine für ein politisches Gesamtkonzept, zu dessen Umsetzung die ersten Schritte bei der internationalen Konferenz für humanitäre Hilfe und Wiederaufbau im Libanon und in den palästinensischen Gebieten eingeleitet worden sind.

In Stockholm hat die internationale Gebergemeinschaft für den Wiederaufbau des Libanon fast eine Milliarde US-Dollar zugesagt, für die Palästinensischen Gebiete rund 450 Millionen US-Dollar. Deutschland wird die Menschen im Libanon in diesem Jahr mit weiteren 22 Millionen Euro beim Wiederaufbau unterstützen und sich auch langfristig engagieren. Der Wiederaufbau im Libanon ist ein erster wichtiger Schritt , die zentrale Frage aber lautet: Was muss geschehen, damit solche Gewalt in Zukunft verhindert werden kann? Wie können wir die strukturellen Konfliktursachen beseitigen?

Auch wenn sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf den Krieg im Libanon konzentriert hat, die eigentliche Konfliktkonstellation ist komplexer. Es gibt mindestens drei Konfliktebenen: Den Kernkonflikt zwischen Israel und Palästina, regionale Folgekonflikte zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn und die globale Dimension, die u.a. durch die Rolle des Iran mitbestimmt wird.

Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist der gordische Knoten. Ohne zwei souveräne, einander anerkennende Staaten, Israel und Palästina, wird es keinen dauerhaften Frieden in der Region geben. Der auf die ganze Region ausstrahlende Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt im Konflikt zwischen Israel und Palästina muss aufgebrochen werden. Dazu brauchen wir:

  • Erstens, einen politischen Dialog, der die beiden Seiten nicht in Gute und Böse einteilt, sondern – wie es der israelische Schriftsteller Amos Oz einmal gesagt hat – sie als Beteiligte eines Konflikts sieht, indem jede Seite Rechte für sich reklamieren kann. Es muss ein Konzept entwickelt werden, das konkrete Aussagen zu den Konfliktpunkten macht: Grenzen, Jerusalem, Flüchtlinge, Status der Palästinenser in Israel u.a., ein Konzept das an der palästinensischen und israelischen Basis als Ausgleich der Interessen empfunden wird. Mein Vorschlag hierfür – weitsichtig noch von Willy Brandt Anfang der 1990er Jahre ins Gespräch gebracht und im 11-Punkte-Papier der SPD für den Nahen Osten aufgegriffen – ist die Schaffung eines »Mechanismus« nach dem Vorbild der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).

Die europäische Erfahrung zeigt, dass es möglich ist Hass und Gewalt zu überwinden. Warum sollte das, was in Europa gelungen ist – wenn auch unter völlig anderen Bedingungen – nicht auch im Nahen Osten möglich sein? Auch dort will die große Mehrheit der Menschen Frieden.

In einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten könnten Fragen der Sicherheitspolitik, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und des menschlichen Zusammenlebens besprochen und dauerhaft geregelt werden.

  • Zweitens brauchen wir mehr Einsicht darin, dass Sicherheit eng mit erfolgreicher Entwicklung zusammenhängt. Ohne politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung kann es keinen dauerhaften Frieden im Nahen Osten geben. Die gesamte Region hat gewaltige strukturelle Probleme. In allen arabischen Ländern gibt es eine sehr junge Bevölkerung, die nach Bildung und Arbeitsplätzen, nach Zukunftschancen in Frieden verlangt und gleichzeitig eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit, die mit Perspektivlosigkeit einhergeht. Es gibt Knappheit an Wasser und fruchtbarem Land. Die Situation verlangt gute Regierungsführung, Demokratie, Pluralismus und eine Verwirklichung der Menschen- und Frauenrechte. Die Wirtschaft braucht Dynamik, die nur im regionalen Kontext gelingen kann. Wenn die Menschen an politischer und wirtschaftlicher Entwicklung partizipieren und für sich Perspektiven entwickeln können, tragen sie Reformprozesse mit, lassen sie sich nicht so schnell radikalisieren und instrumentalisieren.

Wir brauchen deshalb eine vorwärts gerichtete Einbindung des Nahen Ostens in die Weltwirtschaft. Hier sind alle gefordert:

  • Europa mit einer Nachbarschaftspolitik und Assoziierungsabkommen;
  • die arabischen Staaten, indem sie ihre Öleinnahmen in die Entwicklung ihrer Länder und ihrer Region investieren,
  • Israel mit einen Beitrag zur nachhaltigen Überwindung der Gegensätze.

Zusätzlich braucht der Friedensprozess in Nahen Osten eine gestärkte Rolle der Vereinten Nationen. Die UN ist die Garantin für die Stärkung des Rechts, das an die Stelle des Rechts des Stärkeren treten muss. Nur die Vereinten Nationen haben auch die Legitimation, Gewalt mit militärischen Mitteln zu unterbinden.

Und schließlich: Globale Friedenspolitik, wie wir sie im Rahmen der Entwicklungspolitik betreiben, beinhaltet, dass wir nicht alle Konflikte der Welt durch die Antiterrorbrille wahrnehmen. Das wird den Menschen in Konfliktregionen nicht gerecht. Demokratie lässt sich nicht durch Krieg verbreiten, sondern nur durch Kooperation und Dialog.

Heidemarie Wieczorek-Zeul ist SPD-MdB und Bundesentwicklungsministerin