Human Security und Smart Sanctions

Human Security und Smart Sanctions

Ausgangspunkte für eine Krisenpräventions- und Deeskaltionspolitik?

von Sascha Werthes und David Bosold

Im Laufe der 1990er haben sowohl das Human Security-Paradigma als auch der Smart Sanctions-Ansatz politische und politikwissenschaftliche Diskussionen provoziert. Während der Smart Sanctions-Ansatz als Reaktion auf die katastrophalen nicht-intendierten humanitären Nebenfolgen der UN-Sanktionspolitik gegenüber dem Irak entstand, entwickelte sich das Human Security-Paradigma in Form einer von ideologischen Restriktionen befreiten innovativen Reaktion auf die »neuen« Herausforderungen der inter- und transnationalen Beziehungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und deren Konflikt- und Problemlagen. In vorliegendem Beitrag untersuchen die Autoren, inwieweit der Smart Sanctions-Ansatz und das Human Security-Paradigma handlungsrelevantes Potenzial für krisenpräventive und deeskalierende Politik besitzen.

Sowohl das Human Security-Paradigma als auch der Smart Sanctions-Ansatz betraten die politischen Bühnen (und die akademischen Podien) nicht als fertige und ausgereifte anwendungsorientierte Politikkonzepte, sondern zunächst als Begriffe der Politik, also als Schlagwörter bzw. Catchwords. Ihr wissenschaftlich-analytischer Wert ist vielleicht gerade deswegen auch heute noch weitgehend umstritten. So verwundert es nicht, dass beide Konzepte erst durch das nachhaltige Interesse verschiedener staatlicher und nicht-staatlicher politischer Akteure an Relevanz gewannen.

So bemühte sich zunächst die schweizerische Regierung mit den Interlaken Prozessen I und II (im Hinblick auf gezielte Finanzsanktionen) um eine Weiterentwicklung und Ausformulierung des Smart Sanctions-Ansatzes. Die deutsche Regierung folgte diesem Beispiel (Bonn-Berlin Prozess: gezielte/selektive Waffenembargos, Verbesserung von gezielten Reise- und Flugverboten) genauso wie die schwedische Regierung (Stockholm-Prozess: Verbesserung der Durchsetzung und Überwachung von Smart Sanctions).

Ähnlich erging es dem Human Security-Paradigma, welches vor allem durch das nachhaltige Interesse der kanadischen und japanischen Regierung vorangetrieben wurde (Bosold/Werthes 2005). Dieses nachhaltige Interesse verschiedenster politischer Akteure (eben auch der sich immer stärker herausbildenden transnationalen Zivilgesellschaft) belebten beide Ansätze mit konkreten politischen Inhalten und konkreten (Umsetzungs-)Vorschlägen. Erste Ergebnisse dieser Entwicklung sind u.a. die Ottawa-Konvention (Verbot von Landminen, genauer: Antipersonenminen) als auch eine veränderte Sanktionspolitik der UN (Konzentration auf selektive, gezielte auch asymmetrische Sanktionsmaßnahmen).

Das nachhaltige politische Interesse an beiden Konzepten lässt sich vielleicht am ehesten dadurch begründen, dass beide Begriffe etwas Altbekanntes mit einem neuen innovativ-kreativen Element verbinden. So wird auf der einen Seite der klassisch-traditionell staatszentriert verstandene Begriff Sicherheit um eine »menschliche« Dimension erweitert und vertieft. Auf der anderen Seite beschreibt das Attribut »smart« (was sich am besten mit intelligent übersetzen lässt) eine Sanktionspolitik, welche sich um eine Minimierung der nicht-intendierten Nebenfolgen bemüht. Die attributiven Erweiterungen befriedigen somit das Bedürfnis der Politik nach Konzepten, die sich normativ und politisch leichter legitimieren lassen, und trotzdem eine handlungspolitische Alternative einschließlich klarer Politikziele anbieten. Insofern handelt es sich bei den vorliegenden Konzepten weder um alten Wein in neuen Schläuchen noch um revolutionär Neues, vielmehr um eine innovative Mischung aus Alt und Neu.

Es ist jedoch für eine Beurteilung der Stärken und Schwächen im Kontext von Konfliktdynamiken sinnvoll, die beiden Konzepte detaillierter kritisch zu beleuchten. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht hierbei vor allem die Frage, inwieweit der Smart Sanctions-Ansatz und das Human Security-Paradigma handlungsrelevantes Potenzial für krisenpräventive oder deeskalative Politik besitzen. Hierzu ist es notwendig, sich zunächst noch einmal kurz einige der aktuellen Herausforderungen in Krisen- und Konfliktregionen zu vergegenwärtigen.

Die »neue« Unsicherheit nach dem Ost-West-Konflikt

Auch wenn sich bei genauerem Hinsehen nicht vieles so radikal nach dem Ende des Ost-West-Konflikt geändert hat, wie es oft geschrieben wurde, so ist doch zumindest der Blick auf »neue« Unsicherheiten heute deutlich klarer geworden. Innerstaatliche Konflikte, oft erweitert um Zusätze wie ethnisch oder separatistisch, der Zerfall staatlicher Strukturen und die Folgen der (wirtschaftlichen) Globalisierung, etwa im Zuge der Asienkrise Ende der 90er Jahre, stellen für zahlreiche Menschen Bedrohungssituationen dar, mit denen sie im Alltag konfrontiert sind. Für einen Großteil dieser Menschen ist dabei durchaus auch ihre körperliche Unversehrtheit bedroht. Trotz zahlreicher humanitärer Aktionen, vor allem der sogenannten westlichen Welt, ist es nicht gelungen, die Ursachen der Unsicherheit signifikant und nachhaltig zu reduzieren. Dies bezieht sich sowohl auf die »sanften« Formen der Intervention wie Lebensmittellieferungen, Blauhelmmissionen alter Prägung (z.B. Überwachung von Waffenstillstandsabkommen), wie auf die Versuche des erweiterten Peace- oder Nationbuilding durch die UN und regionale Organisationen in international verwalteten Gebieten wie Ost-Timor oder dem Kosovo. Hieran kann man ablesen, dass es für eine nachhaltige Politik unabdingbar ist, das Verhältnis von staatlicher Souveränität und dem Schutzanspruch der im Staat lebenden Bevölkerung neu zu kalibrieren sowie politische Instrumente für diesen Prozess zu entwickeln bzw. weiter zu entwickeln. Dem Human Security-Paradigma mag hierbei vielleicht eine wichtige politische Orientierungsfunktion zu kommen.

Ausgangspunkt für eine strukturelle Krisenpräventionspolitik?

Im weitesten Sinne kann das Human Security-Paradigma als eine inhaltliche Ausformulierung des klassischen UN-Sicherheitskonzeptes verstanden werden (Bricke 2003). So greift denn auch der UNDP-Report von 1994 Human Security als politischen Schlüsselbegriff auf. Der Report thematisiert Sicherheit eben nicht nur im Bezug auf Staaten, sondern auch als Sicherheit des einzelnen Menschen vor existentiellen Bedrohungen wie Hunger, Krankheit und Unterdrückung und in Kontexten eines fehlenden bzw. mangelhaften Schutzes von Menschenrechten, und er geht letztlich mit Bezug auf die Grundsätze der menschlichen Entwicklung (ebd.: 70) sogar noch einen Schritt weiter. Ausgehend von der Prämisse, dass die Stärke des Human Security-Paradigmas – zur Zeit eher – in seiner Rolle als politisches Leitbild einer pro-aktiven multilateral und kollaborativ verstandenen Außenpolitik (Orientierungsfunktion) gesehen werden kann, stellt sich die Frage nach der Handlungsrelevanz im Hinblick auf die Gestaltung von Präventions- und Deeskalationspolitik.

Das Grundkonzept von Prävention (s. hierzu u. zum Folgenden Matthies 2000: 143) umfasst Maßnahmen, die Eskalationsprozesse verhindern (operative Prävention) und Maßnahmen, die Ursachen von potenziell gewaltträchtigen Krisen bearbeiten (strukturelle Prävention). Maßnahmen operativer Prävention sind häufig auf spezifische Konflikte/Krisen bzw. Konflikt-/Krisenregionen ausgerichtet. Sie orientieren sich an Überlegungen zu Frühwarnung und Frühem Handeln, Präventiver Diplomatie oder auch Erzwingungsmaßnahmen. Strukturelle Präventionsmaßnahmen beziehen sich auf die Sicherheit, sowohl zwischen als auch innerhalb von Staaten, auf »Well-Being« (u.a. soziale Gerechtigkeit, politische Partizipation u. Nachhaltige Entwicklung innerhalb von Staaten u. weltweit), sowie Recht und Gerechtigkeit (zwischen und innerhalb von Staaten).

Schon diese kurze Aufzählung verdeutlich wie weit die Ziele einer am Human Security-Paradigma ausgerichteten Politik mit den Zielen einer strukturellen Präventionspolitik übereinstimmen können. Am deutlichsten lässt sich dies an den drei Dimensionen von Human Security, die Hampson identifiziert, ablesen:

  • Befriedigung/Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse und soziale Gerechtigkeit,
  • Abwesenheit von Furcht und der Schutz vor physischer Gewalt
  • Freiheits- und Bürgerrechte und rechtsstaatliche Bedingungen.

Das heißt, man kann von einer an Grundbedürfnissen orientierten, einer humanitären sowie einer legalistischen Dimension sprechen. Diese lassen sich durchaus als leitmotivische Ausgangspunkte einer strukturellen Prävention beschreiben. Hierbei gilt es zu beachten, dass zwischen der ersten und den beiden anderen Dimensionen ein signifikanter Perzeptionsunterschied hinsichtlich der Konfliktursachen und -bearbeitungsmöglichkeiten existiert. Während die letzten beiden Dimensionen das Hauptaugenmerk auf das Spektrum organisierter, physischer Gewalt legen (z.B. »ethnische Säuberungen«, Rekrutierung von Kindersoldaten), sowie auf deren strukturelle Begleiterscheinungen (Kleinwaffenhandel, Antipersonenminen) und deren Eindämmung das Ziel von Präventionsmaßnahmen darstellt, sind die politischen Implikationen im Rahmen der ersten Dimension weitreichender. So werden im Mangel wirtschaftlicher Entfaltungsmöglichkeiten, der fehlenden Gesundheitsvorsorge und -versorgung (u.a. Medikamente gg. HIV/AIDS, Malaria, oder vorbeugende Impfungen), den lokalen Auswirkungen des Klimawandels (Überschwemmungen, bzw. Dürre, Unfruchtbarkeit des Bodens), in unzureichender Bildung (insb. Analphabetismus und gender-bezogene soziale Ungerechtigkeit) als auch in der fehlenden Kontrolle und Steuerung von Migrationsbewegungen konfliktverschärfende Faktoren bzw. »root causes« gesehen. Die Bearbeitung dieser »root causes« ist mittels der oben genannten Präventionsmaßnahmen alleine nicht nachhaltig bearbeitbar (CHS 2003: 130ff., Chen et al. 2004).

Die Fragen, die sich aus diesen Überlegungen für mögliche Präventionsmaßnahmen ergeben, sind aktueller denn je und hinsichtlich der möglichen politischen Bedeutung schwer zu bewerten. Auch wenn sich viele Gründe für eine holistische Human Security-Politik finden, die versucht alle konfliktrelevanten Dimensionen zu erfassen und sie in eine konzertierte Politikantwort einzubetten, so bleibt die von Paris geäußerte Kritik dennoch wichtig: „[…] if human security is all these things, what is it not?“ (Paris 2001: 92).

Insofern scheint eine an der Eindämmung von Konflikten und an zunehmender internationaler Verrechtlichung orientierte Politik, die sich »nur« mit den Auswirkungen und Ausprägungen der physischen Gewalt in weltweiten Konflikten beschäftigt (sich also letztlich auf Gewalt- und Krisenprävention konzentriert) – im positiven und nicht im theorieschulischen Sinne – realistischer und vor allem erfolgversprechender (Krause 2004, Mack 2004). Deshalb ist es sinnvoller, Human Security als Leitmotiv einer strukturellen Präventionspolitik bzw. als politische Strategie zur Unterstützung nachhaltiger Deeskalationsprozesse oder eines Wiederaufbaus von Nachkriegsgesellschaften zu betrachten. Denn: die spezifischen Aufgaben die im Rahmen einer Präventionspolitik, der Unterstützung von Deeskalationsprozessen oder des Wiederaufbaus von Nachkriegsgesellschaften bewältigt werden müssen, konvergieren letztlich in den Bereichen wo sie sich auf die strukturellen Ursachen von (potenziell gewaltträchtigen) Krisen oder Konflikten beziehen. Das Human Security-Paradigma kann hier durch seine Fokussierung auf menschliche Unsicherheit als Ursache von Gewalt eine wichtige Orientierungsfunktion übernehmen.

Smart Sanctions als operative Krisenprävention?

Das Human Security-Paradigma bietet allerdings auch genügend Potenzial, konkrete politische Instrumente und Maßnahmen etwa im Kontext operativer Prävention zu prägen. Dies zeigt eine weitere Facette auf, die über die breite politische Orientierungsfunktion und das Leitmotiv einer strukturellen Präventionspolitik hinausgeht. Am besten lässt sich dies am Beispiel von Sanktionen verdeutlichen, welche beinahe in jedem Katalog bzw. in jeder Aufzählung operativer Präventionsmaßnahmen auftauchen. Zunächst entwickelte sich der Smart Sanctions-Ansatz aus der Erkenntnis heraus, dass die umfangreiche und allzu oft unreflektierte Verhängung von Sanktionen als selektives Bestrafungs- und Zwangsinstrument ungeahnt dramatische humanitäre Auswirkungen und Nebenfolgen, vor allem für die Zivilbevölkerung, haben kann. Augenscheinlichstes und bekanntestes Beispiel sind die UN-Sanktionen gegenüber dem Irak (Werthes 2003). Das Beispiel Irak verdeutlicht, dass sich (UN-) Sanktionen in einigen Fällen selbst zu einer direkten Bedrohung »menschlicher Sicherheit« für breite Bevölkerungsschichten entwickeln können. Auch hier könnten die normativen Implikationen des Human Security-Paradigma einen neuen Zugang herstellen. Etwa, indem es Bewertungskriterien und Orientierungspunkte für die Folgen und Konsequenzen als auch für die Durchsetzung politischer Entscheidungen bereit stellt. Die Berücksichtigung des Human Security-Paradigmas im Kontext der Verhängung von Sanktionen im Rahmen einer reaktiv-operativen UN-Präventionspolitik beim Umgang mit massiven Normverstößen aggressiver bzw. repressiver Regime oder neuerdings auch (nichtstaatlicher) Konfliktparteien (z.B. gegen die UNITA in Angola oder die RUF in Sierra Leone) müsste somit auch dem Kriterium genügen, menschliche Sicherheit mehr zu fördern als diese zu gefährden (hierzu auch Debiel/ Werthes 2005). Dies wäre gleichbedeutend mit der Orientierung auf den Smart Sanctions-Ansatz.

Anders ausgedrückt würde die Berücksichtigung des Human Security-Paradigmas im Rahmen seiner Orientierungsfunktion bedeuten, dass Sanktionen sich im Kontext ihrer Folgen für die Zivilbevölkerung einer »Do No Harm«-Norm (s. Anderson 1999) unterwerfen würden. Im Hinblick auf die politische Wirksamkeit müssten Smart Sanctions so gestaltet werden, dass ihr erwarteter Nutzen (eine Politikänderung der politisch verantwortlichen [Konflikt-]Akteure, bzw. die Verhinderung einer weiteren Eskalation) in einer vertretbaren Relation zum verursachten Leid der von den Sanktionen Betroffenen stehen (Harm-Benifit-Analyse). Dies hätte zur Folge, dass Sanktionen zum einen auf die politisch Verantwortlichen zielgerichtet werden (also die menschliche Sicherheit Unbeteiligter schonen) und, zum anderen, nur selektive Sanktionsmaßnahmen in Frage kommen (z.B. Waffenembargos, Reiseverbote, Finanzsanktionen). Unstrittig ist hierbei, dass die Gestaltung, Implementierung und Überwachung eines Smart Sanctions-Regimes wesentlich aufwendiger und logistisch herausfordernder als ein umfassendes Sanktionsregime ohne Einschränkungen ist.

Zusammengefasst: Das Beispiel Smart Sanctions zeigt auf, wie das Human Security-Paradigma im Kontext seiner Orientierungsfunktion für eine Bewertung und, hiermit einhergehend, kreativen Gestaltung konkreter Maßnahmen und Instrumente, welche typischer Weise in Kontexten operativer Prävention und im Rahmen von Deeskalationsmaßnahmen ergriffen werden, genutzt werden kann.

Zusammenfassung und Ausblick

Der anfängliche Optimismus, der in den ersten Jahren nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes das Denken und perspektivische Forschen prägte, ist heute eher einer weitgehenden Ernüchterung gewichen. Die Anfang der neunziger Jahre proklamierte »neue Weltordnung« stellte sich spätestens nach dem 11. September 2001 als eine Illusion dar, da »neuen« Problem- und Konfliktlagen mit »alten« Problem- und Konfliktlösungsstrategien begegnet wurde. Nichtsdestotrotz haben sich in dieser Zeit neue Ansätze und Politikkonzepte in den wissenschaftlichen Diskursen entwickelt. Neben einem breiteren und vertieften Verständnis von Krisenprävention (operativer und struktureller Art), Konzepten zu Nation-/Statebuilding, Überlegungen zu nachhaltigen Deeskalationsprozessen, prägen zur Zeit auch das Human Security-Paradigma und der Smart Sanctions-Ansatz vielfältige Debatten. Diese beziehen sich in der Hauptsache auf das im Wandel befindliche Verständnis von staatlicher Souveränität. Die damit verbundene Norm der Nichteinmischung weicht einem weiter gefassten Verständnis dessen, was als genuine Aufgabe eines Staates angesehen werden kann: den Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger. Ja, man kann sogar weiter gehen: einer Verpflichtung zum Schutz, einer »Responsibility to Protect«. Die beiden hier diskutierten Konzepte, können im Hinblick auf dieses erweiterte Verständnis einer »Responsibility to Protect« als erste konzeptionelle Überlegungen gedeutet werden, wie dieser Anspruch im Einklang mit der wahrgenommenen Perforation staatlicher Souveränität eingelöst werden kann. Die Stärke des Human Security-Paradigmas liegt hier zum einen in der Betrachtung von Human Security als politischem Leitmotiv (politische Orientierungsfunktion). Etwa im Rahmen konzertierter Projekte struktureller Prävention oder im Hinblick auf Projekte zur Förderung nachhaltiger Deeskalationsprozesse.

Hingegen liegt die Stärke des Smart Sanctions-Ansatzes eher im Bereich der (intendierten) Verhinderung weiterer Eskalationsdynamiken bzw. im Bereich der operativen Prävention. Der Exkurs über den Smart Sanctions-Ansatz deutet darüber hinaus an, inwieweit die politische Orientierungsfunktion, die das Human Security-Paradigma zweifellos bietet, auch auf konkrete Maßnahmen und Instrumente übertragen werden kann. Beide Konzepte sind letztlich Ausdruck eines durch Vertiefung und Erweiterung gewandelten Sicherheitsverständnisses. Die Schutzverantwortung des Staates wird verstärkt wahrgenommen sowie eingefordert und bezieht nun explizit Individuen und die Zivilgesellschaft als auch eine größere Variation an Bedrohungsfaktoren mit ein. Diese wird perspektivisch zudem immer mehr auch auf die Ursachen von gewaltträchtigen Konflikten und Krisen orientiert. Zentral bleibt zunächst der Staat. Bei seinem Versagen wird aber zunehmend die Internationale Gemeinschaft als verantwortlich gesehen.

Literatur

Anderson, Mary B. (1999): Do No Harm. How Aid Can Support Peace – Or War. Boulder/ London, Lynne Rienner Publishers.

Bricke, Dieter (2003): Das Human Security-Konzept. In: Wissenschaft & Frieden, 2/2003, 70-72.

Commission on Human Security (CHS) (2003): Human Security Now. New York, Commission on Human Security. Erhältlich unter >http://www.humansecurity-chs.org/finalreport/<, Zugriff 15.11.2004.

Bosold, David / Werthes (2004): Human Security and Smart Sanctions – Two Means to a Common End? Paper presented at the 5th Pan-European International Relation Conference in Den Haag, 9-11 September 2004. Erhältlich unter >http://www.sgir.org/conference2004/<, Zugriff 15.09.2004.

Bosold, David / Werthes (2005): Human Security in Practice: Canadian and Japanese Experiences. In: Internationale Politik und Gesellschaft / International Politics and Society, 1/2005, 84-101

Chen, Lincoln et al. (eds.) (2004): Global Health Challenges for Human Security. Cambridge, MA: Harvard University Press.

Debiel, Tobias / Werthes, Sascha (2005): Human Security – Vom politischen Leitbild zum integralen Baustein eines neuen Sicherheitskonzepts? In: Sicherheit und Frieden, 23 (1), i.E.

Hampson, Fen Osler (2002): Madness in the Multitude. Human Security and World Disorder. Don Mills, et al., Oxford University Press.

Krause, Keith (2004): The Key to a Powerful Agenda, if Properly Delimited. In: Security Dialogue, 35 (3), 367-368.

Mack, Andrew (2004): A Signifier of Shared Values. In: Security Dialogue, 35 (3), 366-367.

Matthies, Volker (2000): Krisenprävention. Vorbeugen ist besser als Heilen. Opladen, Leske + Budrich.

Paris, Roland (2001): Human Security: Paradigm Shift or Hot Air? In: International Security, 26 (2), 87-102.

Werthes, Sascha (2003): Probleme und Perspektiven von Sanktionen als politisches Instrument der Vereinten Nationen. Münster, LIT Verlag.

Sascha Werthes, Dipl.-Soz.-Wiss. ist Stipendiat der Deutschen Stiftung Friedensforschung an der Philipps-Universität Marburg. David Bosold, Dipl.-Pol. ist wiss. Mitarbeiter an der Philipps-Universität Marburg. Zusammen haben sie 2003 die AG Human Security im Kontext neuer internationaler Herausforderung gegründet.

„Man kann nicht gleichzeitig für den Krieg rüsten und den Frieden erwarten“

„Man kann nicht gleichzeitig für den Krieg rüsten und den Frieden erwarten“

von Jürgen Nieth

Liebe Leserinnen, liebe Leser,
2005 ist das Jahr der runden Jahrestage. Es wird an offiziellen Feierlichkeiten und Reden nicht fehlen. Allerdings bezweifle ich, dass es dabei auch die notwendige kritische Reflexion geben wird. Werfen wir einen Blick zurück.

Vor 60 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Verbrannte Erde zwischen Weichsel und Wolga, große Teile Resteuropas waren verwüstet, auch fast alle großen deutschen Städte lagen in Trümmern, 60 Millionen Menschen hatte der faschistische Eroberungskrieg das Leben gekostet – darunter 20 Millionen Bürger der Sowjetunion.. Wenige Monate später kapitulierte auch Japan, nach dem Abwurf der ersten Atombomben auf die Städte Hiroshima und Nagasaki. Noch im selben Jahr legten die Alliierten im Potsdamer Abkommen die Entmilitarisierung Deutschlands fest.

»Nie wieder Krieg« – diese Lösung gab die Massenstimmung in allen betroffenen Ländern wieder. Die Politiker mussten dem einige Jahre lang Rechnung tragen. So führte Franz Josef Strauß 1949 seinen Wahlkampf mit dem Slogan, dass jedem Deutschen der Arm verdorren möge, der jemals wieder ein Gewehr in die Hand nehme. Doch hinter den Kulissen wurden zu diesem Zeitpunkt bereits die Fäden für eine deutsche Wiederbewaffnung gesponnen. Die erste deutsche Bundesregierung unter Konrad Adenauer diente sich unmittelbar nach ihrer Wahl im beginnenden Kalten Krieg den westlichen Besatzungsmächten als treuer – auch militärischer – Verbündeter an.

Nur 10 Jahre nach dem Ende des Weltkrieges war das Potsdamer Abkommen in entscheidenden Punkten obsolet, die BRD hatte wieder eine Armee, die unter dem oben zitierten F. J. Strauß als Verteidigungsminister schon kurze Zeit später nach Verfügungsgewalt über Atomwaffen griff. Es kam zu einer breiten Antiatombewegung und zum ersten Mal regte sich deutlicher Protest auch unter hochkarätigen deutschen Wissenschaftlern: 18 Atomwissenschaftler unterzeichnen die »Göttinger Erklärung«.

Der Zugriff der deutschen Militärs auf Atomwaffen konnte verhindert werden, die Rolle der Bundeswehr blieb, trotz revanchistischer Tendenzen bei Politikern und im Offizierskorps, auf die Landes- und Bündnisverteidigung festgeschrieben. Eine »Armee im Wartestand« – bis zum Ende der Ost-West-Konfrontation.

Anfang der 1990er Jahren wurden dann »out of area« Einsätze diskutiert und der Einsatz der Bundeswehr „zur deutschen Interessensicherung“ auch außerhalb des NATO-Gebietes. 1999 beteiligte sich eine deutsche Armee wieder an einem Angriffskrieg – diesmal gegen Jugoslawien. Heute wird für einen sozialdemokratischen Verteidigungsminister „die Sicherheit Deutschlands… auch am Hindukusch verteidigt.“

Wir haben Glück gehabt. Der Kalte Krieg hat nicht zum großen, alles vernichtenden atomaren Krieg geführt. So viel Glück hatten andere nicht. Die Opfer hunderter kleiner und großer Kriege liegen in zweistelliger Millionenhöhe. Erinnert sei nur an Korea, den Vietnamkrieg – der vor 30 Jahren mit einer Niederlage der USA endete und und die zahlreichen Kriege im Mittleren und Nahen Osten.

Die Hoffnung, dass es nach der Implosion der osteuropäischen Staatengemeinschaft »friedlicher« zugehen würde, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: In der jetzt unipolaren Welt demonstrieren die USA offen und brutal ihre Bereitschaft, zur eigenen Interessensicherung alle Machtmittel einzusetzen – siehe Afghanistan und Irak. In direkter Gefolgschaft zwei Hände voll »williger« Regierungen. Aber auch die Regierenden des »alten Europa«, die beim Irakkrieg etwas Distanz wahrten, denken in Machkategorien und handeln dementsprechend:

Als im Kosovo 1998 dreitausend »Beobachter« zur Deeskalation des Konfliktes eingesetzt werden sollten, entsandten die OSZE-Staaten nur 1.800. Als die USA wenige Monate später zum Krieg riefen, stellte sich keine Personal- und keine Kostenfrage. Die Bilanz dieses Versuches Frieden mit Krieg zu erzwingen: Tausende Tote, 200.000 Vertriebene, zerstörte Städte und Infrastruktur. Und 15.000 ausländische Soldaten stehen auch sechs Jahre später noch im Kosovo, eine Lösung der Probleme ist nicht in Sicht.

Sicher, es kann Ausnahmesituationen geben, in denen aus humanitären Gründen Gewalt gegen Gewalt eingesetzt werden muss – denken wir an Ruanda. Notwendig wäre, wir würden um solche Situationen zu verhindern, die Konfliktursachen konsequent und umfassend angehen – inklusive einer Reform des Weltwirtschaftssystems – und frühzeitig in existierende Konflikte deeskalierend eingreifen.

Nutzen wir die »runden Jahrestage« um den Druck zu verstärken, damit endlich dem »Zivilen« der Vorrang vor dem »Militärischen« eingeräumt wird. Im Denken wie im Handeln! Erinnern wir an Einstein, dessen Todestag sich zum 5o. Mal jährt, und der 1949 schrieb: „Man kann nicht gleichzeitig zum Krieg rüsten und den Frieden erwarten.“

Jürgen Nieth

Kultur der Prävention – Anspruch und Wirklichkeit

Kultur der Prävention – Anspruch und Wirklichkeit

Ziviles Konfliktmanagement in der europäischen Sicherheitspolitik

von Elisabeth Schroedter

Die EU hat in den letzten Jahren die politischen und militärischen Entscheidungsstrukturen zur Krisenbewältigung systematisch ausgebaut. Mit der neuen militärstrategischen Planung sollen jetzt offensichtlich die Voraussetzungen geschaffen werden, um den Entscheidungsstrukturen die militärischen Kapazitäten zur Durchsetzung an die Seite zu stellen. Elisabeth Schroedter schildert vor diesem Hintergrund die Entwicklungen auf dem Gebiet der zivilen Konfliktbearbeitung und geht der Frage nach, inwieweit diese als Ergänzung des militärischen Handelns oder aber als Alternative gesehen werden.

Mit dem Beschluss des Europäischen Rates in Köln 1999 haben die EU-Mitgliedstaaten Kriseneinsätze, wie sie die WEU als »Petersberg-Aufgaben«1 definierte, als Herzstück der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erklärt: „Im Hinblick darauf muss die Union die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten, sowie die Mittel und die Bereitschaft besitzen, deren Einsatz zu beschließen, um – unbeschadet von Maßnahmen der NATO – auf internationale Krisensituationen zu reagieren.“2 Im neuen Grundlagenvertrag von Nizza wird die qualifizierte Mehrheit ausgeweitet und die für das autonome Handeln bedeutsame politische und militärische Leistungs- und Entscheidungsstruktur offiziell eingesetzt. Das »Politische und Sicherheitspolitische Komitee« (PSK) erhielt die Funktion eines Krisenstabes bei entsprechenden Operationen. Neben »Militärausschuss« und »Militärstab«, zusammengesetzt aus Militärexperten der Mitgliedstaaten, wurden auch im Ratssekretariat Einheiten geschaffen, um die für die Krisenreaktion notwendigen politisch-militärischen Expertisen beizusteuern.

Die Dominanz des militärischen Arms in der ESVP

Verfolgt man die großen Reden zum Thema Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), scheint die Europäische Union im Moment mit allen ihren politischen Kräften damit beschäftigt zu sein, dieser Entscheidungsstruktur die entsprechenden militärischen Kapazitäten zur Seite zu stellen und in ersten Einsatzfeldern ihre Rolle als neue Militärmacht in der Welt zur Schau zustellen.

Entgegen des bisherigen Anspruches der Europäischen Union, sowohl sozialökonomisch als auch friedenspolitisch ein Gegenmodell zur führenden US-Politik darzustellen, folgt die Europäische Politik in den letzten Jahren stärker dem US-Prinzip und untermauert durch militärische Stärke ihre wirtschaftliche Führungsrolle in der Welt. Besonders Frankreich drängt auf eine von der USA unabhängige militärische Einsatzfähigkeit der Europäischen Union. Nun sei „die Union in der Lage, einige Operationen zur Krisenbewältigung durchzuführen“, hieß es in der Abschlusserklärung des Gipfels vom Dezember 2001 in Laeken, die fehlende parlamentarische Kontrolle für solche Einsätze ignorierend. Bestandsaufnahmen zum verfügbaren militärischen Gerät, den notwendigen Neuanschaffungen und der Mobilität der Truppe von 60.000 Soldaten prägten daraufhin die Beschlüsse zur ESVP. Zur Form der Gemeinsamkeit gibt es unterschiedliche Interpretationen. Was für die einen bereits die EU-Truppe darstellt, ist für die anderen der Zusammenschluss nationaler Truppenteile. Zudem ist ein Teil der Mitgliedstaaten der Meinung, dass nur mit der Zustimmung der NATO für den Zugang der EU zu ihren militärischen Möglichkeiten die reale Einsatzfähigkeit gegeben ist.

»Zivile Konfliktprävention«: Erfolge trotz Schattendasein

Ohne Zweifel steht das zivile Konfliktmanagement im Schatten der dynamischen Entwicklung der neuen Militärpolitik Europas. Trotzdem sind auch dort bedeutende Fortschritte zu verzeichnen, die vor einigen Jahren von FriedenspolitikerInnen zwar als notwendig erachtet, aber im politischen Alltagsgeschäft als chancenlos betrachtet wurden.

Maßgeblich haben dazu die finnische und die schwedische Präsidentschaft beigetragen. Die Regierungen hatten ein großes Interesse daran, um gegenüber der eigenen Bevölkerung zu beweisen, dass sie in der Lage sind, eigene Akzente in der ESVP zu setzen. Beide haben es geschafft, das zivile Konfliktmanagement der militärischen Dimension gleichzusetzen. Ihnen lag daran, dass auch hier Ziele festgelegt werden, die im Rahmen eines Aktionsplanes Aufträge an die jeweilige Präsidentschaft erteilen, über deren Umsetzung diese dann Bericht erstatten muss.

Finnischer Aktionsplan für ziviles Konfliktmanagement

Finnland entwickelte während seiner Präsidentschaft (2. Halbjahr 1999) den ersten Aktionsplan zur nichtmilitärischen Krisenbewältigung. Das finnische Konzept geht davon aus, dass es in erster Linie notwendig ist, die vorhandenen Erfahrungen bzw. beträchtlichen Ressourcen von Union und Mitgliedstaaten zu bündeln. Im vorgeschlagenen Aktionsplan wurden drei Ziele formuliert. Als Erstes sollten die vorhandenen nationalen und europäischen Instrumente verbessert werden, Überschneidungen vermieden und ihre Leistungsfähigkeit gesteigert werden. Die Finnen bezogen das nicht nur auf die staatlichen, sondern auch auf die zivilgesellschaftlichen Kapazitäten, also die der Nichtregierungsorganisationen (NROs). Außerdem lag der finnischen Regierung daran, die nichtmilitärischen Instrumente der EU sowie die Krisenarbeit der internationalen Organisationen, wie der Vereinten Nationen und der OSZE zu stärken. Autonome Aktionen der EU schlossen sie dabei nicht aus. Letztendlich lag der finnischen Präsidentschaft auch daran, die Krisenprävention in der EU als kohärentes Ziel aller Politikbereiche zu betreiben. Außenwirtschaftspolitik, Agrarsubventionen und Finanzhilfen sollten den politischen Präventionsstrategien in gleicher Weise unterworfen sein. Um diese Ziele zu erreichen, schlugen die Finnen mehrere Aktionen vor. Dazu gehörte auch der Vorschlag, einen Reaktionsmechanismus zu schaffen, um im Konfliktfall schnell personelle, materielle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung zu haben. Konkret gemeint war ein Sonderfonds bei der Kommission, der für Kriseneinsätze eingerichtet werden sollte. In einer Datenbank sollten die vorhandenen Instrumente und Kapazitäten erfasst werden, die im Krisenfall schnell zur Verfügung stehen. Eine Studie sollte die zukünftigen Fähigkeiten und Möglichkeiten der EU ermitteln, nichtmilitärisch auf Krisensituationen zu reagieren, z.B. die Fähigkeit, kurzfristig eine bestimmte Zahl von Polizeikräften zu verlegen und diese für einen bestimmten Zeitraum einsatzfähig zu halten. Das Konzept war vor allem geprägt durch die Erfahrung des Kosovo-Konfliktes, wo im Vorfeld der Eskalation die Staatengemeinschaft sich nicht in der Lage sah, der Bitte der OSZE um einen umfassenden Polizeieinsatz zu entsprechen. Auch in Bosnien-Herzegowina zog sich die Ablösung des Militärs durch eine zivile Ordnungsmacht hin, weil keine einsatzfähigen Polizeikräfte zur Verfügung standen. Deshalb schlug die finnische Regierung ihren EU-Kollegen ebenfalls vor, die Instrumente der zivilen Krisenreaktionsfähigkeiten einer Stärken-Schwächen-Analyse zu unterziehen und bewährte Verfahren untereinander auszutauschen. Sie wollte einen gemeinsamen Ausbildungsstandard entwickeln und bilaterale bzw. multilaterale Projekte auf dem Gebiet fördern. Die Finnen bestanden darauf, dass im Ratssekretariat neben den militärischen Organen auch ein permanenter Koordinierungsmechanismus für die nichtmilitärische Krisenintervention mit der Befähigung zu einem Ad-hoc-Koordinierungszentrum im Krisenfall aufgebaut wird.

Im Gegensatz zur militärischen Zusammenarbeit, die sich nicht über die Ebene der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit von Nationalstaaten hinaus bewegt, wurde der Europäischen Kommission im nichtmilitärischen Krisenmanagement eine zentrale Rolle zugeschrieben. Dadurch hat in der ESVP allein das nichtmilitärische Krisenmanagement einen wirklichen europäischen Charakter.

Schweden entwickelt europäische Kultur der Prävention

Die schwedische Präsidentschaft (1. Halbjahr 2001) nahm den Auftrag von Helsinki, die zivile Konfliktbearbeitung weiterzuentwickeln, sehr ernst. Schweden ging, wie auch die Finnen, davon aus, dass die EU durch die Kombination von ökonomischen, sozialen und politischen Instrumenten große Potentiale hat, diese aber nicht wirksam und zusammenhängend genug einsetzt. Schweden nahm die Zielsetzung der finnischen Präsidentschaft wieder auf und verlieh der Zusammenarbeit mit der OSZE und der UN im Konfliktmanagement stärkeres Gewicht. Die schwedische Präsidentschaft setzte gezielt auf die Zusammenarbeit mit NROs und bereitete mit Experten aus den Mitgliedsstaaten und einer internationalen NRO-Konferenz ein europäisches Programm zur Konfliktprävention vor. Welche Priorität die Schweden der Konfliktprävention einräumten, wurde bei jedem Treffen des Allgemeinen Rates deutlich, wo man stets dieses Thema auf der Tagesordnung fand. Auch der schwedische Abschlussgipfel von Göteborg beschäftigte sich mit dem zivilen Krisenmanagement. Zum ersten Mal wurden konkrete Ziele in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Zivilverwaltung und Bevölkerungsschutz festgelegt. Der Bericht der schwedischen Präsidentschaft forderte aber auch zum ersten Mal die Entwicklung neuer Instrumente und Modalitäten für die zivil-militärische Zusammenarbeit.

Im Vordergrund der schwedischen Präsidentschaft stand jedoch der Auftrag der portugiesischen Präsidentschaft (erstes Halbjahr 2000): das Aufstellen einer Polizeitruppe und einer Rechtsexpertengruppe für den langfristigen Nacheinsatz in den Konfliktherden des Balkans. Ziel war es, bis 2003 im Rahmen einer freiwilligen Zusammenarbeit bis zu 5.000 Polizeibeamte bereitzustellen, von denen 1.000 innerhalb von 30 Tagen einsetzbar sind. Die Kommission übernahm in dieser Zeit das WEU-Polizeiprogramm in Albanien. Ferner brauchte man eine Kerngruppe von 200 Experten für den Bereich Rechtsstaatlichkeit. Für die Expertenreserve, die ein breites Aufgabenspektrum in der Zivilverwaltung abdeckt, sollte von den Mitgliedstaaten im Bereich Zivil- und Katastrophenschutz ein Pool gebildet werden, aus dem innerhalb von drei bis sieben Stunden zwei bis drei Evaluierungsteams gebildet und in Konfliktregionen entsandt, sowie kurzfristig einsetzbare Interventionsteams von bis zu 1.500 Personen gebildet werden können. Die ministerielle Beitragskonferenz für die zivile Krisenbewältigung vom 19. November 2002 hat später bestätigt, dass diese Zielvorgaben dank der freiwilligen Zusagen der Mitgliedstaaten sogar überschritten werden konnten. Auch dieses Ergebnis ist auf das Engagement der schwedischen Regierung zurückzuführen. Sie hatte im Abschlussdokument des Gipfeltreffens von Göteborg jeden Mitgliedstaat aufgefordert, nationale Pläne zur Umsetzung der gemeinsamen Vorhaben des zivilen Konfliktmanagements zu erarbeiten.

Die erste EU-Polizeimission in Bosnien und Herzegowina (EUPM) begann am 1. Januar 2003 und ist bis Ende 2005 geplant. Sie löste die Internationale Polizeieinsatztruppe der Vereinten Nationen (IPTF) ab. Alle EU-Mitgliedstaaten beteiligen sich daran und arbeiten mit 18 weiteren Staaten zusammen. Der internationale Polizeieinsatz soll die Rechtsstaatlichkeit und den Aufbau der demokratischen Strukturen in Bosnien und Herzegowina stabilisieren. Dank der schwedischen und finnischen Vorarbeit ist die allererste gemeinsame Operation, welche die EU-Mitgliedstaaten zustande brachten, und welche damit Quelle der Erfahrungen sein wird, ein ziviler Einsatz.

Am 15. Dezember 2003 begann die vorerst für ein Jahr geplante EU-Polizeimission (EUPOL) »PROXIMA« in Mazedonien, die den Aufbau eines effizienten und professionellen Polizeidienstes unterstützen und die Einführung europäischer Standards für die Polizeiarbeit fördern soll.

Kommission entwickelt Konzepte

Der Kommission wurde durch den finnischen Vorschlag eine wichtige Rolle in der nichtmilitärischen Krisenprävention eingeräumt, die der verantwortliche Kommissar Patten aufgenommen hat. Immer wieder stellte er vor dem Parlament die bekannte Tatsache heraus, dass es weitaus billiger ist, Konflikte in Dialog und konstruktives Handeln umzulenken, als sich, nachdem sie in gewaltsame Auseinandersetzungen ausgeartet sind, mit ihren Folgen zu befassen.

Während der schwedischen Präsidentschaft war die Kommission fest entschlossen (so geht es aus ihrer Mitteilung zur Krisenprävention hervor), die Gemeinschaftsinstrumente wirkungsvoller für Konfliktprävention einzusetzen und zu koordinieren. Sie plante, die Hilfsprogramme gezielter zur Beseitigung von Ursachen für Konflikte und zivilen Unfrieden einsetzen. Im Rahmen ihrer Kompetenz im Außenhandel setzte sie sich für internationale Sanktionen zur Eindämmung der Verbreitung von Kleinwaffen, gegen Diamanten- und Drogenhandel, sowie gegen den Einsatz von Kindersoldaten ein. Handels- und Kooperationsabkommen sollten ebenso wie Instrumente aus den Politikfeldern Justiz und Inneres, Migration, Soziales oder Umwelt dem Präventionsziel untergeordnet werden. Der in dem Dokument ebenfalls vorgeschlagene Kriseneinsatzmechanismus für eine raschere Mobilisierung der Gemeinschaftsinstrumente wurde inzwischen geschaffen.

Parlament entwickelt „zivilen Friedenskorps“

Dem Europäischen Parlament werden in der Außen- und Sicherheitspolitik keine Rechte eingeräumt. Um Einfluss zu nehmen, muss es allein auf die öffentliche Wirkung seiner Plenardiskussionen und Vorschläge setzen. In seiner Resolution zum Kommissionsdokument hatte es die verfehlte Handelspolitik der Union (mit Zollschutz und Agrarexportbeihilfen) angeprangert und ein Präferenzsystem zur Unterstützung der armen Länder gefordert. Ziel der Europäischen Außenbeziehungen müsste eine nachhaltige Strukturpolitik sein. Auch sollten die Wirtschafts- und Migrationspolitik dem Präventionsziel untergeordnet werden. Zu weiteren Kernforderungen gehörte der Stopp der Waffenexporte in potentielle Konfliktregionen, der Aufbau eines gemeinschaftlichen Frühwarn- und Analysesystem, die Forderung nach Zusammenarbeit mit den Vertretern der zivilen Gesellschaft, der Koordination von EU-Initiativen mit den Maßnahmen von OSZE und UN sowie die Einrichtung eines Zivilen Friedenskorps.

Letzteres geht auf ein Konzept der Grünen Fraktion zurück, welches im Jahr 1999 vom Europäischen Parlament beschlossen wurde. Vorgesehen ist eine Art Personalpool von zivilen Inspektoren, Vermittlern und Spezialisten, die nach entsprechender Schulung im Bereich der Konfliktbeilegung kurzfristig als Unterstützer oder Mediatoren in Konfliktregionen eingesetzt werden können. Zum Beispiel gibt es NROs in den Mitgliedsstaaten (auch mit internationalen Teams), welche bereits in verschiedenen Regionen Erfahrungen in der Friedensarbeit vor Ort gesammelt haben. Für die Startphase eines Friedenskorps würde die Vernetzung und Verbesserung der Einsatzfähigkeit dieses Personals ausreichen. Ein wichtiger Teil dieses Konzeptes, das gemeinsame Trainingsprogramm für das Personal im operativen Einsatz, wurde 2003 von der griechischen Präsidentschaft als „wesentliches Instrument der europäischen Sicherheitskultur“ übernommen und stellte für die Union das Ziel auf, ab Juli 2003 mit der Ausbildung von 250 Experten zur Beratung beim Aufbau ziviler Verwaltungen zu beginnen.3 Im Oktober 2003, während der italienischen Präsidentschaft, wurde in Rom auf einer ersten EU-Konferenz beraten, wie die Instrumente, die der EU auf dem Gebiet der Ausbildung in Bezug auf die zivilen Aspekte der Krisenbewältigung zur Verfügung stehen, konkret verbessert werden können.

Im Bereich der Haushalts-, Außenhandels- und Wirtschaftspolitik ist der Einfluss des Parlaments größer. Das geht soweit, dass bei dem mit Haushaltfragen verbundenen schnellen Kriseneinsatzmechanismen das Parlament zustimmen muss.

Verlust der Eigenständigkeit

Das Trauma des 11. Septembers führte dazu, dass die spanische Präsidentschaft (1. Halbjahr 2002) den Ausbau der Kapazitäten der EU-Spionagedienste, einschließlich dem europäischen Satellitensystem »Galileo«, zum wichtigsten Ziel der Konfliktprävention erklärte. Institutionell sollte die Aufgabe einer effektiven Frühwarnung nun nicht mehr der Kommission überlassen werden, sondern wurde dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee des Rates (PSK), welches ebenfalls für die politische Koordination der militärischen Einsätze zuständig ist, übertragen. Nach dem spanischen Konzept sammeln das PSK und die geografischen Arbeitsgruppen des Rates die Überwachungsergebnisse, prüfen die potentiellen Auswirkungen eines etwaigen Konflikts auf die EU-Mitgliedstaaten und bereiten aus diesen Erkenntnissen strategische Beschlüsse vor. Die griechische Präsidentschaft (1. Halbjahr 2003) berichtete später davon, dass seine Frühwarneinrichtungen, zu denen auch die Militärexperten gehören, eine Frühwarnmethodik entwickelt haben, in welche auch die Kommission eingebunden ist. Ihr obliegt die Arbeit einer »Sekretärin«, indem sie ihre Länderberichte beisteuert. Mit diesen strukturellen Veränderungen zwischen Rat und Kommission wurde der zivile Arm des Konfliktmanagements stärker mit dem militärischen verzahnt.

Insgesamt ist in den letzten beiden Jahren eine Konzentration der zivilen Instrumente auf die vier vorrangigen Bereiche Polizei, Rechtsstaatlichkeit, Zivilschutz und Zivilverwaltung zu beobachten. Die zivilen Mechanismen werden allein auf das »Aufräumen« nach Kriegen und anderen militärischen Auseinandersetzungen ausgerichtet. Auch die dänische Präsidentschaft (2. Halbjahr 2002) widmete sich überwiegend der Koordinierung der zivilen und militärischen Instrumente als Konfliktmanagement und erarbeitete dafür einen Aktionsplan. Während ihrer Zeit fand die erste Koordinationskonferenz zu Konfliktprävention unter dem Titel »Partner in der Prävention« im August 2002 in Helsingborg/Schweden statt. Die EU holte die Diplomaten der UN, der OSZE, des Europarates und der NATO an einen Tisch. Für die gemeinsame Arbeit der Organisationen auf dem Balkan oder in anderen Konfliktgebieten ist die Koordinierungsarbeit der Europäischen Union zwischen den internationalen Organisationen von großer Bedeutung.

Positive Bilanz und doch Straßenkehrer

Die Union verfügt inzwischen über einsatzfähige Instrumente eines zivilen Krisenreaktionsmechanismus. Auf institutioneller Ebene hat der Rat Koordinierungsorgane geschaffen: das Politische und Sicherheitspolitische Komitee, dem ein Ausschuss – verantwortlich für die zivilen Krisenmanagementmechanismen und die Kapazitäten der Gemeinschaft – an die Seite gestellt wurde, sowie Koordinationsmechanismen zwischen Rat und Kommission. Während der italienischen Präsidentschaft (2. Halbjahr 2003) hatte der Rat die Leitlinien für die Finanzierung von zivilen Krisenbewältigungsoperationen beschlossen. Für die vier Schwerpunkte der Reaktionsfähigkeiten wurden die Datenbanken über die vorhanden Kapazitäten fertig gestellt. Auf der Kapazitätenkonferenz konnte festgestellt werden: Es gibt ausreichend Einsatzkräfte, um für zivile Krisenreaktionsaufgaben handlungsfähig zu sein. Die Union hat inzwischen bewiesen, dass sie in der Lage ist, operative Polizeieinsätze zu planen und zu führen. Die vor vier Jahren anvisierten Kapazitäten für einsatzfähige Polizeieinheiten sind mit 1.400 Polizisten übererfüllt. Elemente für gemeinsame Trainingseinheiten wurden beschlossen, und während der italienischen Präsidentschaft wurde eine erste gemeinsame Übung »Lucerna 03« durchgeführt. Während der irischen Präsidentschaft (1. Halbjahr 2004) soll eine ähnliche Übung in Frankreich stattfinden. Um zu gewährleisten, dass die Standards der Mitgliedstaaten übereinstimmen, wurde für das Personal der Polizeimissionen unter Rückgriff auf UN-Erfahrungen ein Handbuch verfasst.

Im Bereich der Zivilverwaltung ist geplant, auch einen Personalpool, besonders für die Unterstützung lokaler Verwaltung von Gebietskörperschaften und die Wahldienste zu schaffen.

Die Europäische Sicherheitsstrategie weist dem zivilen Konfliktmanagement seinen Platz zu: „in der Zeit nach Beilegung des Konfliktes können aber auch militärische Mittel und eine wirksame Polizeiarbeit vonnöten sein. Wirtschaftliche Instrumente dienen dem Wiederaufbau und ziviles Krisenmanagement trägt zum Wiederaufbau einer zivilen Regierung bei.“4 Der breite Präventionsansatz, den auch das Parlament verfolgt hatte, wird hier auf Reaktionsmechanismen reduziert. Meines Erachtens nach ist das eine zu verengte Sicht des zivilen Konfliktmanagements, welches die präventiven Möglichkeiten außenpolitischen Handelns zunehmend aus dem Blick verliert.

Anmerkungen

1) Die Petersberg-Aufgaben sind definiert als humanitäre Aufgaben, Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben und Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedenschaffender Maßnahmen.

2) Europäischer Rat: Anhang III der Schlussfolgerungen des Rates, Tagung des Europäischen Rates, 3. und 4. Juni 1999 in Köln.

3) Presidency to COREPER/Counsil: »Implementation of the EU Programme for the Prevention of Violent Conflicts – Draft conflict prevention report«, Council of the European Union 10189/03, Brussels, 10 June 2003.

4) Europäischer Rat: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel, den 12. Dez.2003.

Elisabeth Schroedter ist Mitglied der Grünen Fraktion des Europa Parlaments

Mönche zwischen den Fronten

Mönche zwischen den Fronten

Göttinger Friedenspreis 2004

von Stiftung Dr. Roland Röhl

Nur wenige Schritte trennen die Benediktinerabtei Hagia Maria Sion und ihre Friedensakademie Beit Benedikt von der jüdischen Klagemauer, der Grabeskirche Christi und der Al Aksa-Moschee der Muslime. Inmitten der von blutiger Geschichte und gewaltsamem Alltag zerrissenen Stadt Jerusalem, im Zentrum des arabisch-israelischen Konfliktes haben die Mönche um den Abt Benedikt Lindemann Räume für Besinnung, Begegnung und Dialog geschaffen. In einer Zeit, in der der Frieden zwischen Staaten und innerhalb der Gesellschaften deutlicher denn je von der Fähigkeit zur Toleranz unter den Kulturen und Religionen abhängt, ist das aktive Beispiel einer christlichen Gemeinschaft, die in diesem Sinne wirkt, von herausragender Bedeutung. Deshalb wurde in diesem Jahr der Göttinger Friedenspreis an den Abt Benedikt Lindemann verliehen. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer, hielt die Laudatio und in seiner Antwort vermittelte der Abt einen Eindruck von der sicher nicht leichten Arbeit der Mönche „zwischen den Fronten“.

Göttinger Friedenspreis

Der Göttinger Friedenspreis wird jährlich von der Stiftung Dr. Roland Röhl verliehen. Zweck der Stiftung ist die Förderung der Konflikt- und Friedensforschung. Der Preis kann an Einzelpersonen oder Personengruppen gehen, die sich durch grundlegende wissenschaftliche Arbeit oder herausragenden praktischen Einsatz um den Frieden besonders verdient gemacht haben. Vorschläge für 2005 nimmt die Jury bis zum 30. August entgegen: c/o Dr. Wolfgang Vogt, Isestr. 59, 20149 Hamburg

In der Begründung der Jury zur Preisverleihung heißt es: „Im hochgerüsteten Konflikt permanenter Grenzkontrollen und -überschreitungen, zwischen Bomben und Betonzäunen, bieten die Mauern der Abtei Schutz und Chance für diejenigen, die Trennung, Hass und Grenzen friedlich überwinden wollen. Die Akademie lädt Palästinenser und Israelis zum gemeinsamen Gespräch ins Kloster ein. Die Akademie bietet Raum für ökumenische und interreligiöse Begegnungen zwischen Juden, Christen und Muslimen. Mit unterschiedlichen Angeboten werden Wissen und Verstand, Emotionen und Erinnerungen, Ästhetik und Sinn für Kultur angesprochen. Vorträge, Seminare, Ausstellungen und Konzerte bringen Menschen aus dem In- und Ausland an diesem besonderen Ort zusammen. So erhalten unter anderem Theologen, Pädagogen und Journalisten Anregungen für ihre Arbeit.

Abt Benedikt Lindemann und seine Brüder gehen aber auch hinaus in den Konflikt, sie verteilen Lebensmittel, Medikamente und Kleidung in den besetzten Gebieten, und sie laden israelische wie palästinensische behinderte Kinder zu gemeinsamen Sommerferien am See Genezareth ein …

Es ist zu wünschen, dass die sinn- und friedensstiftende Tätigkeit der Abtei weitere Früchte für die Menschen in Jerusalem trägt und als ein Beispiel ziviler Konfliktbearbeitung auch weiterhin und sichtbar Ausstrahlung entfaltet.“

Ein friedlicher Weg für scheinbar unlösbare Fragen

In ihrer Laudatio würdigte die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer, die Arbeit der Benediktinerabtei für ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Glaubensbekenntnisse.

Sie ging dann ausführlicher auf den Konflikt Israel-Palästina ein und kritisierte den so genanntenen Schutzwall, den Israel seit fast zwei Jahren aufstellt. „Die Mauer ist … ein Anachronismus in einem ebenso unzeitgemäßen Krieg zwischen den Israelis und den Palästinensern … Die physische Barriere ist keine Lösung. Jeder kann sich das vorstellen. Der Hass sickert durch jede Ritze, wie Wasser. Auf die Dauer kann nur die Strategie im Nahen Osten erfolgreich sein, die unbeirrt daran arbeitet, die jahrzehntelang eingravierten Gefühle des Hasses und der Demütigung umzuleiten in eine Energie, die aus der Ausweglosigkeit heraus in eine friedliche Zukunft führt.“

In der »Genfer Initiative«, die am 1. Dezember des letzten Jahres in der Schweiz unterzeichnet und der Öffentlichkeit präsentiert wurde, sieht Vollmer hierfür eine große Chance. Unter der Federführung von Yossi Beilin, dem ehemaligen israelischen Justizminister und Yaser Abed-Rabbo, dem ehemaligen palästinensischen Informationsminister haben israelische und palästinensische Politiker, Militärs und Intellektuelle zwei Jahre lang verhandelt und schließlich dieses „einmalige Papier“ vorgelegt. Vollmer verweist darauf, dass es schon viele Nahost-Initiativen und Vorschläge gegeben hat und geht dann der Frage nach, welche Qualität ein neuer Plan haben muss, um jetzt Hoffnungen wecken zu können. Für sie sticht die die »Genfer Vereinbarung« „durch einige Aspekte aus der Masse der bisherigen Vorschläge heraus:

  • Sie erfüllt die Grundvoraussetzung eines jeglichen erfolgversprechenden Planes, nämlich dass sie von den beiden betroffen Seiten gemeinsam ausgehandelt worden ist. Und zwar handelt es sich auf israelischer Seite um Politiker der Arbeiterpartei, hochrangige Militärs, sogar ein ehemaliger Mossad-Chef und Verhandlungspartner von früheren Friedensabkommen sind dabei. Intellektuelle und Schriftsteller wie Amos Oz und David Grossmann, der frühere Botschafter Avi Primor, Mitglieder der Friedensbewegung und Wissenschaftler unterstützen die Initiative. Auf palästinensischer Seite haben ehemalige Minister der Autonomiebehörde, Wissenschaftler aus den Bereichen Geographie, Archäologie, Juristen, ja sogar der Vertreter der Führung der ersten Intifada und ein General des Sicherheitsdienstes in der Westbank an dem Vertragswerk mitgearbeitet. Arafat und Qureia sollen von Anfang an über die Gespräche informiert und damit einverstanden gewesen sein. Diese Zusammenarbeit bedeutet auch, dass die Palästinenser erstmalig das Recht der Juden auf einen eigenen Staat anerkennen.
  • Das einzigartige der »Genfer Vereinbarung« aber ist vor allem, dass mit ihr ein detaillierter Plan vorgelegt wird, der für alle Einzelheiten des Friedensschlusses einen durch Vertreter beider Seiten ausgehandelte Lösung anbietet – ein Ziel, nicht nur den Anfang eines Weges. Bisher kannte man nur Pläne, die grobe Richtungen vorgaben und Termine zur Lösung der schwierigen Fragen festsetzten, ohne konkrete Vorschläge zu wagen.

In den Jahrzehnten des Nahostkonflikts haben sich vier Kernprobleme herauskristallisiert, die unlösbar scheinen, die Empfindlichkeiten der beteiligten Parteien im innersten treffen und die nie jemand anpacken konnte, weil es hier um Kompromisse geht, die nur die Beteiligten selbst aushandeln können. Diese vier Probleme sind:

  • die Zukunft der jüdischen Siedlungen im Westjordanland und im Gaza-Streifen;
  • die Zukunft der palästinensischen Flüchtlinge;
  • der Status von Jerusalem und
  • die gegenseitige Anerkennung des israelischen und des palästinensischen Staates.

Was sagt die »Genfer Vereinbarung« zu diesen vier Kernpunkten? Sie schlägt radikale Kompromisse vor.

Mit den Siedlungen soll folgendermaßen verfahren werden: Es gelten die Grenzen vom 4. Juni 1967, also vor dem Sechstagekrieg. Sämtliche Siedlungen in den besetzten Gebieten werden aufgegeben und in benutzbaren Zustand an die Palästinenser übergeben.

Die Flüchtlingsfrage wird auf der Basis der Resolutionen 194 der UN-Generalversammlung und 242 des UN-Sicherheitsrates sowie des Vorschlags der arabischen Friedensinitiative behandelt. Das heißt, dass die Flüchtlinge ein Recht auf Kompensation für ihr Flüchtlingsdasein und den Verlust von Eigentum haben. Dafür wird ein internationaler Entschädigungsfonds eingerichtet. Israel kann von seiner Einzahlungssumme den Wert der auf- und übergebenen Siedlungen abziehen. Die Flüchtlinge können hinsichtlich ihres Bleiberechts zwischen mehreren Optionen wählen: Sie können sich im Staat Palästina, in Gebieten, die im Rahmen des Gebietsaustauschs von Israel an den Staat Palästina übergehen, in Drittstaaten, in momentanen Gaststaaten und in Israel niederlassen. Bei letzterer Option hat Israel die Entscheidungsgewalt und soll sich an den durchschnittlichen Aufnahmemengen von Drittstaaten orientieren.

Jerusalem wird für beide Staaten die Hauptstadt, die Souveränität wird geteilt. Ein interkonfessionelles Gremium zur Lösung aller religiösen Fragen wird eingerichtet – und hier stoßen wir ganz unmittelbar auf das, was in ihrem Haus an guter Tradition gesät wurde. Es herrscht Freiheit der Religionsausübung. Auf dem Tempelberg (Haram al-Sharif) soll es eine multinationale Präsenz geben: Das Plateau unter palästinensischer und die Klagemauer unter israelischer Aufsicht; es wird dort keine Ausgrabungen bzw. Bauunternehmungen geben ohne Zustimmung der israelischen und der palästinensischen Seite. Die muslimischen, armenischen und christlichen Teile der Altstadt sollen zu Palästina und das jüdische Viertel zu Israel gehören. Die jüdischen Stadtteile in Ostjerusalem werden aufgegeben.

Palästina und Israel werden nach der »Genfer Vereinbarung« ihre Souveränität gegenseitig anerkennen und normale diplomatische Beziehungen miteinander aufnehmen.

Die Implementierung und Lenkung des Friedensprozesses wird durch verschiedene Gremien und Schlichtungsmechanismen begleitet, die stets durch beide Parteien besetzt und entschieden werden.

Dies sind nur die vier wichtigsten Bereiche, die dieser Friedensplan regeln will. Beiden Seiten werden dabei unendlich schwierige Kompromisse abverlangt. Aber das besondere ist: All diese Punkte sind machbar …

Seit ihrer Unterzeichnung Ende letzten Jahres wird die »Genfer Vereinbarung« auf der ganzen Welt diskutiert. Natürlich ist sie nur ein Anfang, denn sie wurde nicht zwischen Regierungen, sondern zwischen privaten Bürgern ausgehandelt.

Aber der Plan hat das Zeug dazu, den gesellschaftlichen Willensbildungsprozess der Palästinenser und der Israelis neu in Gang zu setzen. Ist erst einmal die Zivilgesellschaft überzeugt, kann sie Druck auf ihre beiden Regierungen ausüben und den Friedensprozess wieder weiter vorantreiben. Es wäre nicht das erste Mal in unserer Geschichte, dass am Ende die Zivilgesellschaft und individueller Mut einen friedlichen Weg für scheinbar unlösbare Fragen vorwärtsgetrieben hätte.“

Antje Vollmer verwies darauf, dass die Arbeit der Benediktinerabtei, ihre Vermittlung zwischen den Kulturen, Philosophien und Religionen, ihre echte Freundschaft zu den Mitmenschen anderer Glaubensrichtungen den Prozess hin zur »Genfer Vereinbarung« begleitet hat, dass ohne ruhige und offenherzige Orte wie dieses Kloster ein Friedensprozess nicht vorstellbar ist.

„Sie geben den Menschen in Israel, die die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben noch nicht aufgegeben haben, einen Ort zum Austausch und zur Verständigung. Sie halten Ihr Haus offen für alle ohne Ansehen ihrer Religion in einem Land, in dem der Ausnahmezustand herrscht. Für diese Arbeit »im Kleinen«, in der Tiefe, die aber den großen Friedensinitiativen in nichts nachsteht, sie viel eher tatkräftig unterstützt, möchten wir Sie heute mit der Überreichung des Göttinger Friedenspreises ehren.

Ich gratuliere Ihnen und wünsche Ihnen noch viel Kraft und Zähigkeit und Friedfertigkeit auf Ihrem steilen und steinigen Weg.“

Unauffällige Friedensarbeit

In seiner Antwort ging der Preisträger auf die schwierige Lebenssituation in Jerusalem ein und darauf, dass sie als Mönche nicht für alles Lösungen anbieten könnten, da sie weder Strategen noch Politiker und auch keine Helden oder Freiheitskämpfer seien.

Er plädierte dafür, gerade in Jerusalem die Lehren aus der Geschichte zu ziehen: „Zunächst einmal ist es für uns Christen sehr, sehr hilfreich, dass wir bei all den Heiligtümern, die auch wir in Jerusalem verehren, keine politischen Ansprüche auf die Heilige Stadt und das Heilige Land stellen. Das war auch schon anders, mit verheerenden und blutigen Folgen. Da sind wir heute, so hoffe ich, weiter … (Es) haben sich schon seit allen Zeiten verschiedene Völker, Kulturen und Glaubensgemeinschaften in der Stadt aufgehalten, haben dort gelebt und gebetet und nur allzu oft auch miteinander und untereinander gekämpft. Was wir heute mit multikultureller Gesellschaft und Globalisierung bezeichnen, das erlebt Jerusalem schon seit Jahrtausenden.“

Wörtlich führte er weiter aus: In den vergangenen Jahrzehnten haben sich „immer mehr Theologen und Gelehrte verschiedener Konfessionen und Religionen darüber Gedanken gemacht, welchen Beitrag die Religionen zu einem nachhaltigen und wahren Frieden in der Welt leisten können. Diese Frage ist natürlich auch an unserer benediktinischen Klostergemeinschaft nicht spurlos vorüber gezogen, weil ja auch die Kriege und Konflikte der vergangenen 100 Jahre, seit es unser Kloster in Jerusalem gibt, nicht ohne Spuren an uns vorbeigezogen sind … Mehr als einmal stand in den 100 Jahren der Geschichte unseres Klosters die Frage im Raum, ob es denn nicht geboten sei, die Abtei aufzuheben. Man hat es nicht getan …

Die verschiedenen Generationen von Mönchen auf dem Zion haben versucht, ihre eigene Antwort auf die Frage zu geben, welchen Beitrag sie als Mönche zum Frieden in der Heiligen Stadt beitragen können: Sie waren – und sind bis heute – Anlaufstelle für deutsche Pilger und Reisende im Heiligen Land; sie haben sich in der Ausbildung des Priesternachwuchses des lateinischen Patriarchates engagiert; sie haben sich mit Theologie, Geschichte und Kultur beschäftigt; haben Werkstätten aufgebaut; sie waren Gastgeber für einzelne und Gruppen und auch – aufgrund der besonderen geo-politischen Lage im Niemandsland – für Politiker der beiden Konfliktparteien im Land, usw. So begegneten sie immer wieder beiden großen Bevölkerungsgruppen im Land selbst und vielen, vielen Gästen aus dem Ausland.

Wir führen so als Mönche zwischen den Fronten vielleicht nicht ein idealtypisches Klosterleben, wie man es sich in einem frommen Bilderbuch vorstellen mag. Auch wenn die Mönche zu allen Zeiten immer wieder in die große oder kleine Politik hineingerutscht sind und sich mehr oder weniger aktiv an ihr beteiligt haben. Und es ist in der Tat eine der spannendsten Aufgaben für meine Brüder und mich, jeden Tag neu das klösterliche Leben in Gebet und Arbeit mit unserem konkreten Ort in Beziehung zu bringen …

Aber Gott sei Dank: Es entspringen eben für mich als Christ und Mönch alle Quellen in dieser Stadt, in diesem Land. Und aus diesen Quellen dürfen wir als Gemeinschaft schöpfen. Da bedarf es an sich keiner großartigen theologischen oder philosophischen, gar sozialen oder politischen Gedankengebäude oder Entwürfe: Die beiden Orte, an denen unsere Gemeinschaft im Heiligen Land lebt, geben uns schon als solche und mit ihren Traditionen ein eigenes Fundament.

Unser Priorat Tabgha am See Genesareth im Norden Israels – 200 Meter unter dem Meeresspiegel, wo sechs unserer Brüder leben, wurde bereits von den frühen Christen als Ort der wunderbaren Brotvermehrung verehrt. Im 15. Kapitel des Matthäusevangeliums … heißt es: »Jesus aber rief seine Jünger heran und sprach: Mir ist weh um die Leute. Schon drei Tage harren sie bei mir aus und haben nichts zu essen«. Mir ist weh um die Leute. Und Er machte sie heil. – Dieses Mitleid, dieses Erbarmen Gottes mit den Menschen prägt bis heute diesen kleinen Flecken Tabgha mit seiner Abgeschiedenheit und der wunderbaren Tier- und Pflanzenwelt. Schon seit vielen Jahren kommen behinderte und nicht behinderte Kinder und Jugendliche: Palästinenser, Israelis und auch Europäer, hier hin, um einige Tage oder Wochen ihrer Ferien zu verbringen. Sich kennen lernen, zusammen leben und essen, das geschieht so auf eine ganz natürlich Weise, v.a. die Kinder sind es, die sich im Spielen begegnen und so die ersten Barrieren durchbrechen.

So wie Tabgha seine Quellen für unser Leben als Mönche hat, so gilt das auch für den heiligen Berg Zion … Der Zion ist zu einem Ort der Sammlung und der Sendung der Kirche geworden. Ein tief spiritueller Ort, der Ruhe und Kraft in sich vereint, der einen zu sich selbst kommen lässt und der aus dieser Sammlung heraus wieder nach Außen wirkt, so wie in den ersten Tagen der Kirche vom Zion aus die Apostel in die ganze Welt losgezogen sind.

Wir haben dabei in den vergangenen Jahren, in denen der Konflikt im Heiligen Land aufs neue brutal und blutig ausgebrochen ist, eine ganz wunderbare Erfahrung machen dürfen: Je mehr wir uns bemühen, als Mönche zu leben – und nicht als Politiker, Sozialarbeiter oder Krisenmanager – um so mehr und umso besser können wir unseren Beitrag für Verständigung und Versöhnung, letztlich für Frieden im Heiligen Land leisten: Das persönliche und das gemeinsame Gebet etwa ist eine der wichtigsten Säulen unseres Lebens; auf dem Zion ist das spezielle Gebet um den Frieden natürlich eine ganz besondere Aufgabe für uns. Zu diesem Friedensgebet laden wir immer wieder auch Stadt und Land ein, lassen jeden Samstag um 15 Uhr unsere Glocken als Mahnung für den Frieden läuten. – Gerade dieses Glockenläuten wird weithin in der Stadt Jerusalem wahrgenommen: Wenn es einmal ausbleiben sollte, fragen die Menschen, wenn man in der Altstadt unterwegs ist, mit ernster Sorge, ob wir denn aufgehört hätten, für den Frieden zu beten. Wir bemühen uns, bei diesem Gebet um den Frieden auch die Gebetstraditionen zu berücksichtigen, und haben deshalb in unsere Komplet, in das Nachtgebet der Mönche, Elemente aus den anderen Konfessionen und Religionen integriert, um uns im Gebet mit ihnen zu verbinden: Am Mittwoch haben wir Elemente aus der christlich-orthodoxen Tradition, am Donnerstag aus der muslimischen und am Freitag aus der jüdischen.

Eine weitere wichtige Säule unseres Lebens als Benediktinermönche ist die Gastfreundschaft. Unser Ordensvater, der heilige Benedikt, hat uns in die Regel eingeschrieben, dass jeder Fremde wie Christus selbst aufzunehmen ist. Wenn wir dann im vorletzten Winter, auch aufgrund unserer besonderen geopolitischen Lage, einige Male jungen Israelis und Palästinensern Gastfreundschaft gewähren konnten, und diese jungen Leute sich auf neutralem Grund und Boden einfach kennen lernen und über ihre jeweilige Geschichte und ihre Sorgen und Ängste, aber auch ihre Sehnsüchte und Hoffnungen auf eine gemeinsame friedliche Zukunft austauschen konnten, dann mag das ein kleiner Baustein zum Frieden im Heiligen Land sein. – Gastfreundschaft ist auch für unsere Gottesdienste wichtig. Beispielhaft nennen möchte ich die Mitternachtsmesse an Weihnachten, zu der vor allem junge Israelis, jüdische Studentinnen und Studenten kommen. Sie kommen nicht, weil sie zum Christentum übertreten möchten, sondern mehr aus kulturellem Interesse. Aber gerade deshalb ist es wichtig, dass sie am Eingang der Kirche freundlich empfangen werden, dass sie auch am Beginn der Liturgie noch einmal freundlich begrüßt werden und dass ihnen gewisse Regeln vermittelt werden, am besten in ihrer eigenen Sprache Ivrith. Wir haben damit besonders zum vergangenen Weihnachtsfest sehr gute Erfahrungen gemacht.

In diesem Sinne wird auch nach und nach unsere Friedensakademie Beit Benedikt Gestalt bekommen können, die sich in erster Linie als ein Ort der Begegnung von Gästen und des gegenseitigen Austauschs versteht. Im Kern wird stets unsere betende Mönchsgemeinschaft stehen, die im Sinne benediktinischer Gastfreundschaft auch »den Fremden« in jeweils entsprechender und sinnvoller Weise am Kloster teilhaben lässt. Es wird darum gehen, das, was an Aktivitäten und Engagement ohnehin schon besteht, zu bündeln und zu stabilisieren.

Sie werden erkennen, dass es also eigentlich eine unauffällige Art von Friedensarbeit ist, um die meine Brüder und ich uns bemühen: Wir wollen als Mönche auf dem Zion und in Tabgha am See Genesareth leben. Dabei entspricht es guter benediktinischer Tradition, dass jede Gemeinschaft ihr Mönch-Sein eben auch in den jeweiligen Rahmenbedingungen orientiert. Wie das in unserem Falle aussieht, habe ich versucht, Ihnen etwas zu schildern. Vielleicht können wir so einen kleinen Beitrag dazu beitragen, die Wunden in den Seelen der Menschen zu heilen … Und das braucht Generationen!“

Nach dem Dank an die Stiftung Dr. Roland Röhl, den Vorstand und die Jury des »Göttinger Friedenspreises«, kam Abt Benedikt Lindemann noch auf ein besonderes Anliegen zu sprechen: „Vor 100 Jahren entstand unser Kloster im Namen der Deutschen, ebenso wie etwas früher auch die lutherische Erlöserkirche gebaut worden ist. Im Hinblick auf die deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre erkenne ich den Auftrag, dass gerade von Deutschland aus Gedanken des Friedens ausgehen bzw. ausgehen sollten.“

Man kann sich über die Arbeit der Benediktiner in Jerusalem auch im Internet informieren: www.hagia-maria-sion.net

Dr. Roland Röhl (*1955) war promovierter Chemiker, arbeitete aber seit Beginn der 1980er Jahre als Wissenschaftsjournalist für Funk, Fernsehen und verschiedene Printmedien. Nach seiner Krebserkrankung 1995 entschied er sich, seine Lebensversicherung in eine Stiftung einzubringen, um seinem zentralen Anliegen – der Konflikt- und Friedensforschung – auch nach seinem Tod zur Geltung zu verhelfen. Die Stiftung ist seit 1998 in seinem Sinne tätig. Nähere Informationen unter: www.goettinger-friedenspreis.de

Konflikte gewaltfrei austragen

Konflikte gewaltfrei austragen

von Christine Schweitzer

„Wir werden heutzutage von den erstaunlichsten Entdeckungen im Bereich der Gewaltanwendung überrascht. Ich vertrete jedoch die Ansicht, dass noch weit unerhörtere und scheinbar noch unmöglichere Entdeckungen im Bereich der Gewaltlosigkeit gemacht werden können.“ Dieses Zitat von Mohandas K. Gandhi ist Leitmotiv und Programm des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung (IFKG). Ziel dieses 1992 gegründeten Institutes ist es, gewaltfreie Methoden der Konfliktaustragung zu erforschen und stärker in die öffentliche und wissenschaftliche Debatte einzubringen. Trotz der Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland, die in den letzten Jahren zu verzeichnen ist, ist das IFGK weiterhin das einzige Institut in der Bundesrepublik, das sich mit Konflikt und Konfliktbearbeitung mit einem erklärten Interesse an Gewaltfreiheit befasst.
Zentrales Anliegen des IFGK ist der Frieden in einem umfassenden und »positiven« Sinn (J. Galtung). Die Hoffnung auf eine »Friedensdividende« nach 1989 hat sich als kurzlebige Illusion erwiesen. Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass die Weltordnung des 21. Jahrhunderts dadurch geprägt sein wird, dass die einzig verbliebene Weltmacht und einige regionale Mächte durch Einsatz von militärischer Gewalt weitgehende Kontrolle über wichtige strategische und ökonomische Ressourcen zu bewahren trachten (USA in Afghanistan und Irak, China in Tibet usw.), während gleichzeitig unterhalb dieser Ebene ein hohes Maß an innergesellschaftlicher Gewalt zwar beklagt aber letztendlich hingenommen wird. Andere bewaffnete Konflikte, so genannte neue Kriege, werden vielmals ignoriert – trotz aller Lipppenbekenntnisse zum Vorrang von Konfliktprävention und ziviler Konfliktbearbeitung, wie sie von vielen europäischen Staaten, der Europäischen Gemeinschaft und bis hin zur Weltbank in den letzten zehn Jahren geäußert wurden. Interveniert wird dann und mit militärischen Mitteln, wenn dies eigene Interessen erforderlich erscheinen lassen.

Orientierungsrahmen und Arbeitsfelder

Während die Friedens- und Konfliktforschung sich ausführlich mit den verschiedenen Phänomenen der Gewalt befasst, ist das Thema der gewaltfreien Konfliktaustragung immer noch ein Stiefkind. Nur wenige WissenschaftlerInnen und wenige Projekte befassen sich mit historischen oder aktuellen Fällen gewaltfreien Widerstands von BürgerInnen oder mit explizit gewaltfreier Konfliktintervention.

Hier versucht das IFGK eine Lücke zu füllen. Aktive Gewaltfreiheit als »dritter Weg« zwischen Gewalt und Nichtstun (Gandhi, King) soll mehr Aufmerksamkeit und größere Wirkungskraft erhalten. Dabei geht es nicht um einen utopischen Zustand konfliktfreier Harmonie. Da Konflikte lebensnotwendig immer neu entstehen, kann das Ziel »nur« ein bestimmter Modus des Umgangs mit Konflikten sein. Aus der Perspektive der Philosophie der Gewaltfreiheit haben selbsttragende Konfliktlösungen wechselseitige Respektierung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit der Konfliktpartner zur Grundvoraussetzung. Wohlbegründete Zweifel bezüglich der ethischen Rechtfertigbarkeit jedweder Form von verletzender und tötender Gewalt und die systematisierbare und durch aktuelle Ereignisse immer wieder belegbare historische Erfahrung, dass Gewalt in aller Regel wie ein Bumerang wirkt und sich zum Selbstzweck entwickelt, lassen Gewaltfreiheit als striktes Orientierungsprinzip erscheinen.

Einer der häufigsten Einwände gegen diese Option ist die Annahme, dass Gewaltfreiheit nur bei geringer Konflikteskalation, bevor offene Gewaltanwendung die Auseinandersetzung dominiert, Aussicht auf Erfolg habe. Sie sei zwar immer gewaltsamem Handeln vorzuziehen, könne es aber nicht in jedem Fall ersetzen; Gewalt bleibe das »letzte Mittel«. Dieser meist pauschal vorgetragenen Auffassung widersprechen viele KonfliktforscherInnen (z.B. Sharp, Ebert, Galtung), die sich mit aktiver Gewaltfreiheit befasst haben, aber auch etliche historische Beispiele des letzten Jahrhunderts (etwa Prag 1968, Philippinen 1986, Kosovo 1989-1997). So wurde das Konzept der »Sozialen Verteidigung« für die größte annehmbare Gewaltanwendung, den Angriffskrieg, entwickelt und beruht auf Erfahrungsschätzen aus zahlreichen Konflikten, in denen von einer Seite keine Gewalt angewendet wurde.1 Tatsächlich scheint in vielen Fällen Gewaltfreiheit, nicht aber Gewalt, das »letzte Mittel« (gewesen) zu sein. Sie war das Instrument der Konfliktaustragung, das auch dann zur Verfügung stand, wenn Gewalt nicht möglich schien, z.B. weil keine Waffen zur Verfügung standen, das Militär auf der anderen Seite stand oder ihm nicht zu trauen war (Kapp-Putsch 1920, Prag 1968, Philippinen 1986) oder weil man wusste, dass Gewalt zur Vernichtung führen würde (Kosovo bis 1997).

Die bewusst wertgebundene Festlegung auf Gewaltfreiheit bedeutet aber nicht, dass die wissenschaftliche Arbeit des IFGK als solche wertend erfolgt. Ob und wie Gewaltfreiheit »funktioniert«, diese Frage muss für jeden Fall immer wieder neu gestellt und beantwortet werden. Eine Antwort darauf bedarf im konkreten Fall einer sorgfältigen Analyse der Beziehungen der Konfliktparteien und ihrer inneren Stärken und Schwächen. Die theoretisch-methodologische Orientierung des IFGK ist allerdings gekennzeichnet durch eine pragmatische Perspektive. Das besagt: Wesentliches Kriterium für die Qualität einer Methode oder theoretischen Konzeption soll deren Produktivität im Hinblick auf gewaltfreie Konfliktlösungen sein.

Forschung zu Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktaustragung bedeutet für das IFGK auch, sich kritisch mit den angesprochenen gewaltträchtigen Methoden der Konfliktbearbeitung auseinander zu setzen. Die Ergebnisse der Projekte sollen aber möglichst durchweg der praktischen Friedensarbeit zugute kommen. Daher sucht das Institut einen kontinuierlichen Austausch mit den sozialen Bewegungen, die sich für Frieden, Gerechtigkeit und Erhaltung der Lebensgrundlagen engagieren. Zusätzlich zu selbstentwickelten Fragestellungen will man diese Bewegungen mit Forschungsarbeit entlang ihren aktuellen Problemlagen unterstützen. Ein Begleitforschungsprojekt zum »Balkan Peace Team« (durchgeführt von Barbara Müller und Christian Büttner in den Jahren 1997-1999), Übersetzungen wichtiger Forschungsergebnisse (Arbeitspapiere zu »Peace Brigades International« 1997 und zu den Perspektiven eines Friedensprozesses in Kosovo 1999), die über das IFGK abgewickelte Arbeit von Barbara Müller für die »Plattform Zivile Konfliktbearbeitung« und die Arbeit von Christine Schweitzer als Research Director des internationalen Friedensdienstprojektes »Nonviolent Peaceforce« sind Beispiele für diese Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis.

Arbeitsfelder des IFGK sind, neben der Erstellung von Dokumentationen und Evaluationen, die Durchführung von Studientagen, zu denen NachwuchswissenschaftlerInnen eingeladen werden, laufende Forschungsarbeiten zur Diskussion zu stellen, die Betreuung von Studien- und Abschlussarbeiten, Lehr- und Bildungstätigkeit zum Thema »Gewaltfreie Konfliktaustragung« und die Publikation von Arbeitspapieren und Studien, vor allem zu Problemen der Grundlagen- und der Aktionsforschung (Reihe »Studien zur Gewaltfreiheit« im Lit-Verlag, Münster). So wurden u.a. eine Vergleichsstudie über gewaltfreie Interventionen angefertigt, eine Arbeit über Kampagnen der Friedensbewegung und eine Arbeit über die Rolle des Konzepts des »gerechten Krieges« bei der Entscheidung zum Einsatz der Bundeswehr in Ex-Jugoslawien. Derzeit läuft eine von der Deutschen Stiftung Friedensforschung geförderte Studie über gewaltfreie Interventionen im Raum Jugoslawien zwischen 1988 und 2001.

In enger Verbindung mit dem IFGK, wenngleich organisatorisch eigenständig, ist seit 1997 die Arbeitsgruppe Gütekraft tätig. Diese von dem Essener Berufsschulpfarrer Martin Arnold initiierte und geleitete Gruppe hat sich der genaueren Untersuchung der Wirkungsweise gewaltfreien Handelns verschrieben. Unter »Gütekraft« versteht sie eine Form der gewaltfreien Konfliktaustragung, die am ehesten dem entspricht, was Gandhi als Satyagraha bezeichnete. Aus der Arbeit der Gruppe sind bereits mehrere Publikationen hervorgegangen, zuletzt, als IFGK-Arbeitspapier Nr. 18, der Basistext: „Was untersucht die Gütekraft-Forschung?“2

Beispiel: Forschung über Friedensallianzen3

Die Förderung friedensorientierter Kräfte vor Ort und deren externe Unterstützung werden zunehmend als wichtiges Element von Konfliktbearbeitung wahrgenommen und konzeptionell ausgearbeitet. Wie funktioniert die Förderung von Friedensallianzen? Inwiefern bietet das Konzept der »Peace Constituencies« (Friedensallianzen) von John Paul Lederach externen UnterstützerInnen eine strategische Orientierung beim Aufspüren der tatsächlichen oder potenziellen TrägerInnen? Dieser Frage ist das IFGK in den Jahren 1999 und 2000 mit einem von Barbara Müller durchgeführten Aktionsforschungsprojekt in Split und in der Region Knin, Republik Kroatien, nachgegangen. Das Hauptaugenmerk des Projekts lag auf den Möglichkeiten, die Basisorganisationen haben, wenn sie mit dem Konzept von Friedensallianzen arbeiten wollen.

Vornehmlich an einer Diskussion mit PraktikerInnen interessiert, führte das IFGK drei Workshops durch: Im Juni 1999 mit einem kleinen Kreis von lokal aktiven Graswurzel-AktivistInnen aus Dalmatien und ihren Basis-Partnerorganisationen aus dem Ausland. Die Ergebnisse wurden verglichen mit denen eines zweiten Workshops mit Akteuren der Friedensarbeit in Deutschland im Januar 2000. Als weiterer Workshop in Kroatien fand ein Treffen von mehr als 50 VertreterInnen verschiedener kroatischer und ausländischer Institutionen, Organisationen und Gruppen statt, die mit der Problematik der Flüchtlingsrückkehr und der Entwicklung der durch den Krieg besonders betroffenen Region um Knin, Krajina, befasst waren. Die Ergebnisse wurden durch Feedbackrunden und nachträgliche Befragungen eingeholt. Während des Projektes entwickelte sich so ein Instrumentarium mit der Abfolge: Workshop mit Konzepttransfer → Evaluation → Bewertung der aktuellen Konfliktsituation → Planung → themenbezogener Workshop → Evaluation → Bewertung der aktuellen Konfliktsituation.

Die Ergebnisse des Projektes sind auf drei Ebenen angesiedelt: Konzeptionell, praktisch und akteurbezogen. Interne und externe NGOs auf der Basisebene können das Konzept nutzen zum Aufbau von strategischen Netzwerken, sie können sich ihrer eigenen Rolle vergewissern und bewusst und gezielt Beziehungen entwickeln und aufbauen. Praktische Ergebnisse wurden durch Organisieren eines Treffens der Akteure zu einem in der Region relevanten Thema erzielt. Es wurden thematisch orientierte Workshops als Einstieg in die Beziehungsbildung von Akteuren und eine Prozedur zur gezielten externen Begleitung und internen Entwicklung einer Friedensallianz entwickelt. In diesem Prozess nahmen interne und externe Basisorganisationen die folgenden spezifischen Rollen ein: Interne Basisorganisationen fungierten als Experten für den Konflikt und die Konfliktakteure, externe Basisorganisationen dienten als Brückenbildner, Initiator, Klammer zu anderen Ebenen und Gestalter von Begegnungsräumen.

Als wichtigste Ergebnisse können die folgenden Thesen zur Förderung von Friedensallianzen von außen und unten festgehalten werden:

  • Friedensallianzen entwickeln sich aus Zivilgesellschaften.
  • Friedensallianzen sind konkrete Prozesse der Beziehungs- und Netzwerkbildung und Aktivität rund um zentrale Konfliktthemen.
  • Horizontale und vertikale Integration stellen Schlüsselelemente dar.
  • Externer Impuls – interne Führung – äußere Unterstützung: Friedensallianzen können von außen gefördert werden, brauchen aber eine Verankerung im Inland.
  • Friedensallianzen entstehen zwischen gesellschaftlich sehr unterschiedlich positionierten Beteiligten. Um die Ansprache aller Ebenen sicherzustellen, kann es notwendig sein, dass sich mehrere externe Förderer zusammenfinden und zu diesem Zweck zusammenarbeiten.

Wie das IFGK funktioniert

Das IFGK ist ein gemeinnütziger Verein, gebildet von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die in verschiedenen Orten Deutschlands ansässig sind. Damit praktiziert das Institut eine ganz moderne Form der Zusammenarbeit: Statt in einem Haus mit mehreren Arbeitszimmern und Schreibtischen (und den daraus zumeist für private Institute resultierenden extremen Problemen der Finanzbeschaffung) arbeiten die MitarbeiterInnen an ihrem Wohnort – Email, Internet und halbjährige Mitgliedertreffen mit Studientag sorgen für die notwendige Vernetzung.

Derzeit hat das IFGK zwei hauptamtliche wissenschaftliche MitarbeiterInnen und eine auf 400-Euro-Basis beschäftigte Bürokraft. Die beiden WissenschaftlerInnen finanzieren sich über Mittel, die von Projekt zu Projekt eingeworben werden müssen – ein bekanntlich mühsames Geschäft. Es mangelt nicht an Problemen noch an Ideen – was fehlt, sind meist die Ressourcen, um die Ideen der Problembearbeitung umzusetzen. Die übrigen Mitglieder des IFGK sind entweder als WissenschaftlerInnen bei anderen Institutionen angestellt oder betreiben Wissenschaft zusätzlich zu ihrem Beruf, z.B. als ReferentIn in einem Bildungswerk oder als MitarbeiterIn einer Friedensorganisation.

Mit dieser Beschreibung der Arbeitsweise ist auch schon die größte Schwäche des IFGK angesprochen: Ohne finanzielle Mittel für Stellen ist es mehr »Durchlauferhitzer«, als dass es jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine berufliche Perspektive bieten könnte. Einige sind geneigt, sich dem IFGK quasi auf Zeit anzuschließen – solange sie eine einschlägige Arbeit im Bereich der Gewaltfreiheit schreiben –, um dann wieder ihrer Wege zu gehen. Das IFGK ist offen für neue MitarbeiterInnen und Mitarbeiter – nur müssen diese die erforderlichen finanziellen Mittel selbst mitbringen bzw. beschaffen. Die anderen MitarbeiterInnen stehen dabei zwar gerne unterstützend zur Verfügung, aber das IFGK hat keine »FundaiserIn«, die für andere Forschungsmittel herbeischafft.

Das IFGK ist im Übrigen basisdemokratisch organisiert – das heißt, es wird erwartet, dass alle MitarbeiterInnen neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit Verantwortung für das Funktionieren des Instituts übernehmen. Es gibt keine Institutsleitung oder dergleichen – organisatorische und administrative Aufgaben werden unter allen aufgeteilt.

Anmerkungen

1) Siehe Barbara Müller (1996): Zur Theorie und Praxis von sozialer Verteidigung. IFGK-Arbeitspapier Nr. 3.

2) Siehe auch Burkhard Bläsi (2001): Konflikttransformation durch Gütekraft. Interpersonale Veränderungsprozesse. Münster.

3) Die folgende Darstellung wurde entnommen: Barbara Müller (2002): Möglichkeiten der Förderung von Friedensallianzen in Konfliktregionen durch externe Basisorganisationen. Bericht über ein Aktionsforschungsprojekt in Kroatien. IFGK-Arbeitspaier Nr. 17. Geschäftsstelle und Kontakt: IFGK e.V., Hauptstr. 35, D-55491 Wahlenau/Hunsrück, Tel.: +49/(0)6543/980 096 Fax +49/(0)6543/500 636 Email: BMuellerIFGK

Christine Schweitzer ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im IFGK und Research Director der internationalen NGO »Nonviolent Peaceforce«

Konfliktzivilisierung – Europa als Friedensmacht

Konfliktzivilisierung – Europa als Friedensmacht

Arbeitsschwerpunkte des IFSH

von IFSH

Das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) richtet sein Hauptaugenmerk auf die konzeptionelle und strukturelle Stärkung des weltweit anerkannten Forschungspotenzials des »Zentrums für OSZE-Forschung« (Centre for OSCE-Research – CORE) sowie auf den Ausbau des zweiten Forschungsschwerpunktes Friedens- und Sicherheitspolitik der EU mit dem Ziel, am IFSH ein »Zentrum für EUropäische Friedens- und Sicherheitsstudien« – ZEUS (Centre for EUropean Peace and Security Studies) zu etablieren. Daneben existiert der Arbeitsbereich Rüstungskontrolle und Abrüstung, der gegenwärtig in eine interdisziplinäre Forschungsgruppe »Abrüstung und Rüstungskontrolle« (IFAR) umgewandelt wird. Hier sollen zum einen die über Jahre hinweg erworbenen Kompetenzen – insbesondere in den Bereichen kooperative Rüstungssteuerung (Graf Baudissin) und präventive Rüstungskontrolle – erhalten bleiben und Fragen der Rüstungsdynamik, der Rüstungskontrolle mit naturwissenschaftlichem Hintergrund und der Weiterverbreitung neuer Technologien bearbeitet werden. Grund ist die fortschreitende Rüstungsdynamik nach Ende des Ost-West-Konflikts, die zwar unter veränderten Vorzeichen und in neuen Konstellation von Akteuren, Strukturen und Prozessen zu Tage tritt, doch in ihrer Wirkung auf die Weltpolitik ungebrochen ist. Das Besondere der IFAR liegt in ihrer engen Verzahnung von Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft. Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus dem Forschungsprogramm und konzeptionelle Überlegungen des IFSH.
Die forschungsleitende Vision des IFSH kann mit dem Begriff »Die Zivilisierung des Konflikts. Gewaltprävention und Friedenskonsolidierung« umschrieben werden.

Unter »Konflikt« wird ein Zustand sozialer Beziehungen verstanden, in dem die Interessen von als wesentlich zu bezeichnenden sozialen Akteuren oder Akteursgruppen konkurrieren oder unvereinbar sind und das Verhältnis der Akteure oder Akteursgruppen zueinander durch deren Bestreben gekennzeichnet ist, durch den Einsatz von Machtmitteln Vorteile zu erlangen oder zu behaupten und die jeweiligen Interessen und Ziele durchzusetzen. Das IFSH betrachtet Konflikte als produktive Bewegungs- und Entwicklungsformen sozialer Beziehungen, sofern deren Regelung und Verregelung ausschließlich mit friedlichen, d.h. gewaltfreien Mitteln verfolgt wird. Im Unterschied dazu stellen gewaltsam ausgetragene Konflikte eine unproduktive und destruktive Form der Konfliktregulierung dar. Gestützt auf eine solide Konfliktanalyse ist der Forschungsfokus des IFSH auf die Art und Weise der Konfliktbearbeitung mit dem Ziel der Gewaltprävention und der Zivilisierung des Konfliktaustrags gerichtet.

»Zivilisierung« meint Überführung der Gewaltoption aus der interessengeleiteten Beliebigkeit einzelstaatlicher Verfügung in die Zuständigkeit der internationalen Rechtsgemeinschaft nach verbindlichen Rechtsregeln zur gemeinsamen Rechtswahrung gegen individuellen Rechtsbruch. Oder einfacher: Überwindung des Krieges als Verkehrsform zwischen Staaten, so wie andere barbarische Verkehrsformen – Kannibalismus, Inquisition, Sklaverei – im Prozess der Zivilisierung aus der Gesellschaftswelt verschwunden sind. In einem weiteren Verständnis schließt der Zivilisierungsprozess die Gesamtheit solcher politischen und sozialen Interaktionen ein, die darauf zielen, gewaltregulierende und -reduzierende Wirkung zu entfalten und in inner- wie zwischengesellschaftlichen Strukturen humanitäre Standards zu verankern.

Die auf wechselseitige nukleare Drohung gestützte, damit scheinbar unaufhebbare und von vielen deswegen für dauerhaft gehaltene bipolare Ordnung der Ost-West-Konfrontation hat sich in historisch beispiellos kurzer Zeit aufgelöst, weil die realsozialistische Staaten- und Gesellschaftswelt an ihren inneren Widersprüchen zugrunde gegangen ist. Hinter der Fassade dieser alten »Ordnung« kam eine als neu empfundene Unübersichtlichkeit internationaler Beziehungen zum Vorschein, die zwar in manchem an das bekannte Muster traditioneller Staatenkonkurrenz erinnert, aber auch unübersehbar neue Züge trägt. Gut ein Jahrzehnt nach dieser Zeitenwende ist es der Theorie Internationaler Beziehungen noch nicht gelungen, ein schlüssiges Erklärungsmuster dieses neuen Systems internationaler Beziehungen zu entwerfen.

Dennoch sind vier sich wechselseitig beeinflussende Entwicklungstendenzen auszumachen, deren heute erst in Ansätzen geleistete Verknüpfung einmal die Grundlage einer modernen Theorie Internationaler Beziehungen schaffen könnte: »Globalisierung«, Eine Weltmacht, Regionalisierung und Fragmentierung. Gleichzeitig markieren diese Tendenzen den konzeptionellen Rahmen für die Befassung mit den gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen europäischer Friedens- und Sicherheitspolitik, in Europa und im globalen Maßstab.

»Globalisierung« bedeutet wechselseitige Abhängigkeit, Interdependenz von Staaten und Gesellschaften, angetrieben von einer wissenschaftlich-technologischen Revolution, für welche die Begriffe Informations-, Bio- und Mikrotechnologien kaum mehr als Hinweise darstellen, die auf das Tempo dieser Prozesse schließen lassen. Interdependenz meint zum einen wechselseitige Abhängigkeit von gemeinsamen Problemen, die kein Staat mehr allein lösen kann. Interdependenz bedeutet aber auch globalen Wettbewerb, globale Arbeitsteilung, höhere Gesamteffizienz und die Chance zu globaler Kooperation. Wie alle machtbezogenen Beziehungen ist auch Interdependenz grundsätzlich asymmetrisch angelegt: Reiche und mächtige Länder haben mehr Mittel, um mit den Gefahren fertig zu werden, und sie haben größere Möglichkeiten, die Chancen der »Globalisierung« zu nutzen. Globalisierungsprozesse führen zu einer Relativierung der Handlungsmöglichkeiten von Staaten, zu diesen treten internationale Organisationen, transnationale Konzerne und nichtstaatliche Organisationen als neue Akteure in der internationalen Politik. Da die »Globalisierung« eine grundlegende und dauerhaft wirksame Entwicklungsrichtung des Systems Internationaler Beziehungen darstellt, die letztlich jede Konfliktkonstellation direkt oder indirekt beeinflusst, müssen ihre Herausforderungen und Folgen auch in einem auf Europa konzentrierten Forschungsinstitut wie dem IFSH dahingehend untersucht und berücksichtigt werden, wie diese zum einen die Handlungszwänge und Handlungsoptionen der europäischen Staaten und Organisationen beeinflussen, und wie sie zum anderen auf die Fähigkeit Europas wirken, den Frieden und die Sicherheit auf dem Kontinent dauerhaft zu gewährleisten und die gestalterische Rolle Europas als Friedensmacht in der Welt zu stärken.

Es gibt heute nur noch »eine Weltmacht«, die in allen Aspekten Weltmacht ist. Insbesondere in der militärischen Dimension sind die USA allen anderen Staaten um eine qualitative Dimension voraus. Diesen Vorsprung wird in den kommenden Jahrzehnten kein Staat aufholen können. Die Vereinigten Staaten von Amerika treten allerdings nicht nur als »wohlwollender Hegemon« auf, sondern auch als eine Macht, die ihr militärisches Dispositiv zuweilen unilateral zur Durchsetzung wirtschaftlicher oder politischer Interessen nutzt. In nahezu allen Politikfeldern verfolgen die USA heute eine teils deutlich weniger kooperativ und auf multilaterale Problemlösungen ausgerichtete Politik als die Europäische Union. Exemplarisch hierfür stehen die Vertragswerke zur Rüstungskontrolle und Abrüstung, zum Klimaschutz oder auch zur internationalen Strafgerichtsbarkeit. Damit entstehen auf den klassischen Feldern von transatlantischer Kooperation und begrenztem Konflikt neue Kommunikations- und Koordinationserfordernisse, deren Zusammenhang mit dem nach wie vor vorhandenen Vorrat grundlegender Gemeinsamkeiten für den Forschungsschwerpunkt »Europäische Sicherheit« auf neue Fragestellungen verweist.

»Regionen« bezeichnen subglobale Verdichtungsräume von Interdependenz. Regionalisierung kann eines, mehrere oder alle gesellschaftlichen Teilsysteme erfassen. OSZE-Europa steht für eine gemeinsame normative Basis, einen politischen Handlungszusammenhang und einen, wenn auch noch schwach strukturierten, sicherheitspolitischen Raum. Zwischen Atlantik und Ural sorgt der KSE-Vertrag für ein ungleich dichteres Rüstungskontrollregime. Das transatlantische Bündnis stellt die höchste institutionelle Form der sicherheitspolitischen Integration in der europäischen Großregion dar. In der EU kommen schließlich (fast) alle gesellschaftlichen Systeme in einer teils inter-, teils supranational organisierten Institution neuen Typs zur Deckung. Vergleichbare, wenn auch meist schwächer ausgebildete Tendenzen sind auch in anderen Weltteilen auszumachen. Prozesse der Regionalisierung stellen damit ein eigenständiges Phänomen inter- und transnationaler Beziehungen dar, das sich weder allein auf die nationalstaatliche noch auf die globale Ebene reduzieren lässt. Dies unterstreicht die Notwendigkeit der Stärkung des Arbeitsbereiches Europäische Sicherheit am IFSH und hat gleichzeitig zur Gründung des Zentrums für OSZE-Forschung / Centre for OSCE Research (CORE) Anfang 2000 beigetragen.

Asymmetrische Interdependenz führt zu Globalisierungsgewinnern und -verlierern. Letztere leiden häufig unter Staatsschwäche, Staatszerfall, Staatszusammenbruch und nachfolgenden komplexen humanitären Notlagen. Staatszerfall meint, dass elementare Staatsfunktionen wie innere und äußere Sicherheit, Infrastruktur, Minimalversorgung etc. nicht mehr aufrechterhalten werden können. In der Folge kommt es zu mehrdimensionalen und in aller Regel gewaltsam ausgetragenen Fragmentierungsprozessen entlang ethnopolitischer, religiöser und/oder regionaler Bruchlinien. Solche Konflikte sind zwar primär und vor allem in der Entstehung innenpolitischer Natur, ziehen allerdings in der Regel erhebliche zwischenstaatliche Konsequenzen nach sich. Prozesse von Staatszerfall beschränken sich zwar keineswegs auf die postkommunistischen Länder im OSZE-Raum, diese stellen jedoch den regionalen Schwerpunkt der OSZE-Konfliktprävention und somit auch der Forschung des Zentrums für OSZE-Forschung/Centre for OSCE Research (CORE) dar. Wegen ihrer Multidimensionalität und der vielfach fehlenden innenpolitischen Partner stellen Konflikte des beschriebenen Typs qualitativ neue Herausforderungen an Regulierungsversuche unter Inanspruchnahme externer Akteure dar. Der Untersuchung der Effizienz und Tauglichkeit der Verfahren und Instrumente der OSZE aber auch der EU, insbesondere durch deren Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), zu solchen Regulierungsversuchen konstruktiv beizutragen, wird durch das IFSH breiter Raum gegeben.

Europäische Friedensordnung

Die EU ist bereits in ihrer heutigen Gestalt mehr als nur ein regionales Sicherheitssystem – sie ist unstrittig im Binnenverhältnis ihrer Mitglieder zueinander eine Friedensordnung. Frieden durch Integration heißt kurzgefasst die Erfahrung, die EU-Europa in die gesamteuropäische Zukunft einbringen kann. Es besteht die Chance, in einer erweiterten Union das Projekt einer dauerhaften und prosperierenden Friedensordnung in größerem europäischen Rahmen Wirklichkeit werden zu lassen. Diese Gemeinschaft hätte zugleich die Aufgabe, sich der Verantwortung für eine dauerhaft kohärente, glaubwürdige und in sich schlüssige, kollektive Friedens- und Sicherheitspolitik zu stellen und somit zur Stärkung des Weltfriedens beizutragen.

Das IFSH hat bereits 1995 mit dem Konzept einer »Europäischen Sicherheitsgemeinschaft« (ESG) Leitlinien für ein zukunftsfähiges Sicherheitssystem als Fundament einer dauerhaften Friedensordnung in Europa vorgezeichnet. Das Konzept gründet auf die Idee eines regionalen Systems Kollektiver Sicherheit, angelehnt an den inspirierenden Gedanken der Charta der Vereinten Nationen für die Weltgemeinschaft, des Einstehens der Gemeinschaft für die Sicherheit jedes einzelnen ihrer Mitglieder. Große wie kleine Staaten stehen unter gleichem Recht, erhalten gleiche Sicherheit, übernehmen gleiche Verpflichtungen. Die Gewaltoption als letzte Zuflucht des Rechts auf Sicherheit wird im Konzept der ESG aus der Verfügung der Einzelstaaten, bzw. ständiger oder zeitweiliger Staatenkoalitionen, in die Obhut der internationalen Rechtsgemeinschaft überführt. Die Modellierung eines funktionsfähigen Sicherheitsmodells widerspricht nicht der tiefgründigen Erforschung der Leistungsbilanz und der Leistungsmöglichkeiten bestehender Sicherheitsorganisationen in Europa, wie der OSZE und der EU oder von Rüstungskontrollregimen und -vereinbarungen. Im Gegenteil. Das normativ ausgerichtete Modell fungiert als Kompass für die Überprüfung und für Vorschläge zur Beseitigung von Defiziten in der europäischen Friedens- und Sicherheitspolitik, als Gradmesser für die Konzipierung realitätsbezogener Strategien zur Gewaltprävention und Friedenskonsolidierung, als ein tauglicher Wegweiser für die Stärkung der Institutionen, Regeln, Mechanismen und Verfahren zur Zivilisierung von Konflikten, in und durch Europa.

Das Forschungsprogramm des IFSH richtet sich auf Fragen der Gewaltprävention und der Zivilisierung von Konflikten in und durch Europa in einem weiten Sinne. Dies schließt – Grundsatzfragen der Gewaltprävention, – Ursachenkomplexe und Austragungsfelder gewaltsamer Konflikte, – die Prüfung der Rolle, Verfahren und Instrumente internationaler Akteure bei der Krisenprävention und Friedenskonsolidierung sowie – die Frage der zivilen Einbindung des militärischen Faktors ein.

Die Erweiterung der europäischen Integration nach Osten und Südosten ist eine einzigartige friedenspolitische Chance zur Gestaltung einer langfristig tragfähigen europäischen Friedensordnung unter Einschluss Russlands. Gleichzeitig rückt die Erweiterung reale und potenzielle Krisenherde und Stabilitätsrisiken in die unmittelbare Reichweite europäischer Politik. Beides hat Konsequenzen sowohl für die Vertiefung der Integration und die innere Stabilität der Integration Europas als auch für die Anforderungen an Gemeinsamkeit und Kooperation in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der europäischen Staaten. Während mangelnde Kohärenz die gestalterischen Einflussmöglichkeiten Europas auf die internationale Politik zu schmälern droht, erhofft man sich, insbesondere in den flankierenden Regionen, ein aktives und starkes Engagement Europas in der Krisenprävention und Friedenskonsolidierung. Auch auf der globalen Bühne sieht sich Europa mit der Herausforderung konfrontiert, größere außen- und sicherheitspolitische Aufgaben in multilateraler Verantwortung zu übernehmen. Die Analyse der Ursachen existenter Gewaltkonflikte und latenter Krisenprozesse ist dabei sowohl für die Entwicklung, Anpassung und Anwendung der vorhandenen Instrumente und Verfahren zur Prävention und Friedenskonsolidierung von Bedeutung als auch für die Perspektive einer über die Grenzen des Kontinents wirkenden Friedensmacht Europa. Forschungsprojekte, die sich mit diesen Fragen befassen, werden hauptsächlich bei ZEUS bearbeitet und so ausgewählt, dass sie zur Profilschärfung des neu entstehenden Forschungszentrums am IFSH beitragen. Zu den wichtigsten Themenfeldern zählen dabei die Erweiterungspolitik in Osteuropa, die Nahost- und die Mittelmeerpolitik der Europäischen Union, darüber hinaus wird Augenmerk der Zusammenarbeit der EU mit den Vereinten Nationen und ihren friedenspolitisch relevanten Regionalorganisationen gemäß Kapitel VIII der VN-Charta sowie ihrer Entwicklungspolitik beizumessen sein, sofern diese insbesondere sicherheitspolitisch wichtige Fragen (z.B. der Sicherheitssektorreform in Partnerländern) betrifft. Auch sind spezifische friedens- und sicherheitspolitische Partnerkonzepte der EU, bezogen auf besonders wichtige Staaten (z.B. China) oder Subregionen (z.B. Mittlerer Osten, Indischer Subkontinent, Nordostasien) oder auf strukturelle Themen (Terrorismus, Rüstungsproliferation) in der Forschung zu behandeln.

Die Rolle der EU bei der zivilen Konfliktbearbeitung und Friedenskonsolidierung

Die Europäische Union ist bereits seit längerer Zeit im Bereich der strukturellen Konfliktprävention tätig, hat sich aber erst seit 1999 verstärkt den Aufgabenfeldern operativer ziviler Krisenprävention und militärischer Konfliktintervention zugewandt. Der Aufbau einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ist ein langwieriger Prozess, der mit dem Inkrafttreten des Maastrichter Vertrags formal in Gang gesetzt wurde, ohne jedoch große Fortschritte zu machen. Mit den Beschlüssen des Europäischen Rates im Jahre 1999 zur Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) wurde eine neue Etappe der politischen Zusammenarbeit eingeleitet, deren Erfolg maßgeblich davon abhängen wird, ob die Beteiligten in der Lage sind, sich auf ein gemeinsames außen- und sicherheitspolitisches Leitbild zu verständigen. Dabei handelt es sich um eine zentrale Idee, die Handlungsspielräume absteckt und Strategien ermöglicht und rechtfertigt. Normative Konzepte wurden in der Vergangenheit verschiedentlich entwickelt, keines jedoch scheint hinreichend geeignet, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts für die Integration und für eine starke friedenspolitische Rolle Europas in der Welt zu genügen. Das IFSH präferiert ein Leitbild für die sich erweiternde und vertiefende Integration Europas, das auf eine Stärkung der EU als Friedensmacht für Europa und als gestaltender Akteurin des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit durch Europa zielt. Die Präzisierung dieses Leitbildes und die Analyse der hiervon ausgehenden konzeptionellen, instrumentellen und methodischen Ansätze der europäischen Friedens- und Sicherheitspolitik ist das Ziel der Bildung eines Zentrums für EUropäische Friedens- und Sicherheitsstudien am IFSH (ZEUS).

Das profilbildende Gerüst des neuen Forschungsschwerpunktes wird sich aus fünf Projektlinien zusammensetzen:

  • Die Präzisierung des Leitbildes der EU als Friedensmacht in Europa und als gestaltende Akteurin des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.
  • Die Entwicklung der GASP und der ESVP in Übereinstimmung mit dem Leitbild der Friedensmacht und unter Berücksichtigung der hiermit verbundenen institutionellen, funktionalen und operativen Herausforderungen, insbesondere bezogen auf das forschungspolitische Leitmotiv des IFSH, einen wissenschaftlichen Beitrag zur Zivilisierung des Konflikts in und durch Europa zu leisten.
  • Die Analyse der Erweiterung der Union und der hieraus erwachsenden Chancen für die Schaffung eines kooperativen Sicherheitssystems und die Konsolidierung einer europaweiten Friedensordnung, aber auch der potenziellen Belastungen, die aus der Bündelung unterschiedlicher nationalstaatlicher Interessen, ökonomischer Entwicklungsniveaus, sozialer Traditionen, ethnopolitischer Identitäten und verschiedener kultureller Wertvorstellungen für das Zusammenwachsen Europas und die Behauptung eines kollektiven friedenspolitischen Leitbildes in und durch Europa entstehen können.
  • Die Untersuchung der Perspektiven des transatlantischen Verhältnisses im Wandel der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen zwischen Europa und Amerika infolge der »Globalisierung«, hierbei vor allem der Gefahr des Auseinanderdriftens des sicherheitspolitischen Grundkonsens’ zwischen EU-Europa und den USA sowie zu erwartende Belastungen für die transatlantische Sicherheitsintegration der NATO.
  • Die Erforschung der gestalterischen Potenzen der Europäischen Union als globaler Akteurin der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik unter Beachtung der spezifischen Handlungsspielräume und Potenziale der europäischen Integration und einer geschlossen agierenden Union für die Prävention und die Beilegung von regionalen Gewaltkonflikten an der künftigen Peripherie eines sich erweiternden EU-Europas.

Kein Frieden ohne Global Governance

Kein Frieden ohne Global Governance

Zur transnationalen Dimension von Gewaltkonflikten

von Christoph Weller

Die Ursachen für den gewaltsamen Austrag von Konflikte sind vielfältig – und entsprechend vieldimensional müssen auch die Ansätze für die Beförderung des Friedens sein. Eine besondere Rolle dabei spielt die grenzüberschreitende Dimension von Gewaltkonflikten. Von ihnen geht ein Großteil der in letzter Zeit zu beobachtenden Dynamik erhöhter Aufmerksamkeit für global stattfindende Gewaltanwendung aus. Darauf reagieren Ansätze von Global Governance, die mit einem mehrdimensionalen Instrumentarium die politische Bearbeitung grenzüberschreitender oder globaler Problemstellungen ermöglichen sollen.1
Man muss nicht von »Neuen Kriegen« reden, um die aktuellen Ausprägungen und Formen kollektiver Gewaltanwendung zu erfassen und besser verstehen zu können. Dass Regierungen und Staaten nicht mehr die wichtigsten Adressen sind, wenn man nach den Verantwortlichen für die Organisation kollektiver Gewaltanwendung fahndet, gilt seit über 50 Jahren. Es mag jenen »neu« erscheinen, die »Krieg« allein für ein Phänomen der internationalen Politik halten und Staaten als die zentralen oder gar einzig relevanten Akteure in diesem Feld betrachten. Dieses Weltbild übersieht die grenzüberschreitenden Interaktionen und Einflüsse gesellschaftlicher Akteure, die im Zuge der »Globalisierung« stark angestiegen sind und immer weiter wachsen. Dies betrifft auch Ursachen, Verlauf und Folgen von Gewaltkonflikten. Zwar darf die von Staaten ausgehende Gewalt – nach innen wie außen – nicht übersehen oder sprachlich eskamotiert werden, aber sie ist eben nur ein – mehr oder weniger kleiner – Teil aktueller Gewaltanwendung. (Ein aktuelles INEF-Projekt beschäftigt sich auch mit den Schwächen von Friedenstheorien bei der Konzeptualisierung von Gewalt; siehe dazu Weller 2003a, 2003b)

Gewaltkonflikte besitzen grenzüberschreitende Dimensionen

Die grenzüberschreitenden Dimensionen von Gewaltkonflikten zeigen sich natürlich auch darin, dass die Verfügbarkeit überlegener militärischer Mittel es der US-Regierung ermöglichte, eine Allianz von Staaten in einen Krieg gegen den Irak zu zwingen: Gewaltpotenziale werden global kommuniziert, ihr Einsatz soll nicht nur vor der US-amerikanischen, sondern vor der Weltöffentlichkeit als legitim gelten (primär dafür wurde der ganze Propaganda-Aufwand für den UN-Sicherheitsrat betrieben) und in die Konsequenzen des Krieges sind am Ende alle Gesellschaften und Staaten involviert, ob sie nun mitgemacht, zugestimmt oder sich verweigert haben (zu den Konsequenzen des Irak-Konflikts für die Nord-Süd-Beziehungen siehe Fues/Messner 2003). Zugleich entstand in der Ablehnung dieser Politik ein transnationales Protestbündnis, das sich primär gegen die US-amerikanisch-britische Politik wandte, also grenzüberschreitenden Einfluss zu nehmen versuchte und die wachsende gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Globalisierungsprobleme repräsentiert.

Gewalt im Kongo, in Israel, in Tschetschenien, in Liberia, in Afghanistan usw. wird zur Problemstellung für die Außen- und internationale Politik, weil sich Kommunikation globalisiert hat und Gewaltkonflikte für die international agierenden Massenmedien hohe Nachrichtenwerte besitzen. Sind die Bilder erst einmal in den Wohnstuben, entsteht politischer Handlungsbedarf, wenn nicht für die Außenpolitik, so doch zumindest in der Begründung, warum gegen diese Gewalt im Augenblick nichts unternommen werden kann. Diese besondere massenmediale Aufmerksamkeit für die Gewalt nutzend, organisieren Konfliktparteien in lokalen, regionalen oder nationalen Konflikten spektakuläre Gewaltaktionen, um die Weltöffentlichkeit auf ihren Konflikt hinzuweisen und zu einer Parteinahme herauszufordern. Am offensichtlichsten ließ sich die grenzüberschreitende Dimension von Gewaltkonflikten an den transnationalen Terroranschlägen vom 11. September 2001 erkennen, die auch deutlich machten, dass sich moderne Gesellschaften mit militärischer Sicherheitspolitik nicht vor den transnationalen Gefahren der Gewaltanwendung schützen können (im INEF-Projekt zur Analyse politischer Gewalt standen in letzter Zeit die Terroranschläge vom 11.9.2001 im Vordergrund; siehe dazu Hamm et al. 2002, Hippler 2002, Weller 2002a).

Die gewachsene Aufmerksamkeit für global stattfindende Gewaltanwendung lässt den Eindruck entstehen, der gewaltsame Konfliktaustrag nehme weltweit zu. Doch dies ist schwer zu überprüfen, denn wer kann schon beobachten, ob von den über 6 Milliarden Menschen auf der Welt heute mehr oder weniger unter den verschiedenen Formen von Gewalt zu leiden haben als vor einem, vor fünf, zehn oder zwanzig Jahren? Eine andere Perspektive kann die Aufmerksamkeit auf die Konsolidierung von Friedensprozessen in Nachkriegsgesellschaften lenken und den Eindruck der Gewaltzunahme relativieren (zum INEF-Forschungsprojekt »Friedenskonsolidierungsprozesse im Vergleich« siehe Böge 2003, Böge/Debiel 2003). Und wenn wir – wie üblich – die massenmediale Brille auf die Konflikte in der Welt benutzen – verstehen wir ausreichend, nach welchen Kriterien sie auswählt, uns Bilder aus Israel, eine Meldung aus Afghanistan, aber nichts aus Tschetschenien und vielen weiteren Orten aktueller Gewaltkonflikte präsentiert? (zum INEF-Projekt »Die massenmediale Konstruktion der internationalen Politik« siehe Weller 2002b, 2003c).

Die transnationale Dimension von Gewaltkonflikten

Unabhängig jedoch von Zu- oder Abnahme weltweiter Gewaltanwendung nimmt die transnationale Dimension von Gewaltkonflikten spürbar zu. Gesellschaftliche, nicht-staatliche Akteure, deren Handeln und Wirken über zwischenstaatliche Grenzen hinweggeht (= transnationale Akteure), sind mehr denn je an den weltweit stattfindenden Gewaltkonflikten beteiligt: Zwischenstaatliche Kriege werden fernsehgerecht veranstaltet und geführt, denn die gesellschaftliche Legitimation und Unterstützung lässt sich nur mithilfe transnational agierender Medienkonzerne gewinnen. Bürgerkriegsparteien sichern sich Waffen- und Ressourcenzuflüsse vielfach über transnationalen Handel mit Rohstoffen, Drogen und anderen Gütern, die in Nachbarstaaten oder global gehandelt werden. Gewaltökonomien beziehen ihre Dynamik und Kraft nicht selten gerade aus ihrem grenzüberschreitenden Charakter (in Kooperation mit der Gruppe Friedensentwicklung – FriEnt beschäftigt sich das INEF mit Gewaltökonomien; siehe Spelten 2003a, 2003b).

Gewaltregime fühlen sich durch die globalen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten wie Internet, Satelliten- und digitale Bildtechnik oft mehr – und auch ernsthafter – bedroht als durch eine Staatengemeinschaft, die Demokratie und Menschenrechte propagiert, aber zur kollektiven Umsetzung entsprechender politischer Maßnahmen kaum in der Lage ist. Transnationale Netzwerke von Menschenrechts-Organisationen sind dagegen in der Lage, Akteure und Gruppen vor Ort zu unterstützen, Öffentlichkeit herzustellen und damit Regierungen unter Druck zu setzen, der primär auf der gesellschaftlichen Anerkennung entsprechender Normen basiert. Und transnationale Terrornetzwerke beziehen ihre Stärke vornehmlich daraus, ihre Standorte über viele Staaten weltweit zu unterhalten, damit für Einzelstaaten kaum kontrollierbar und auffindbar zu sein, aber aufgrund der modernen Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten koordiniert global agieren zu können.

Die hier beispielhaft aufgezählten Gewaltakteure werden in erheblichem Maße – in positiver wie negativer Hinsicht – von der transnationalen Handlungsebene tangiert. Gerade hier setzen Ansätze von Global Governance in der Friedens- und Sicherheitspolitik an. Global Governance weist darauf hin, dass viele politische Aufgaben heute nur noch auf globaler, zumindest aber staatenübergreifender Ebene unter Einbeziehung gesellschaftlicher Akteure wirksam zu bearbeiten sind. Globale Probleme wie Armut, Klimawandel oder die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sind klassische Beispiele für solche Aufgaben und damit für die Notwendigkeit von Global Governance (die Weiterentwicklung des Global-Governance-Ansatzes gehört zu den Forschungsschwerpunkten des INEF, siehe dazu u.a. Messner 2002, Messner/Nuscheler 2003 und Messner et al. 2003). Bei Gewaltverhinderung und Friedensförderung scheinen jedoch die globalen Dimensionen der Problembearbeitung bisher eher im Hintergrund zu stehen. Doch auch die Friedenspolitik muss sich im Zeitalter der »Globalisierung« vermehrt der Instrumente von Global Governance bedienen, wenn sie im Sinne der gesellschaftlich verankerten Friedensvorstellungen erfolgreich sein will.

Global Governance

Zwischenstaatliche Organisationen und Institutionen sind ein wichtiges Element von Global Governance, ein zweites das Völkerrecht, die auf internationaler Ebene vereinbarten Normen und Regeln zwischenstaatlichen, aber auch transnationalen Zusammenlebens (zur Rolle nicht-staatlicher Akteure im Völkerrecht siehe Blome/Hamm 2003), auf deren Grundlage internationale Institutionen und Organisationen entstehen und arbeiten. Um den dynamischen Charakter dieses Regelwerks zu verdeutlichen, wird häufig von »internationaler Verrechtlichung« gesprochen, es geht um den Gesamtbestand sich auf einen globalen Wertekanon beziehender Vereinbarungen unter Staaten. Das dritte Element sind diese Normen und Werte selbst, die zwar in der Regel zwischen Staaten bzw. Regierungen kodifiziert werden, aber in den Gesellschaften verankert sein und Zustimmung erfahren müssen, wenn sie unabhängig von Sanktionsdrohungen ihre Kraft entfalten sollen. Da das internationale System keine unabhängige Sanktionsinstanz besitzt, sind internationale Normen und Regeln in besonderem Maße auf diese transnationale gesellschaftliche Verankerung angewiesen, aber auch auf gesellschaftliche Akteure, die sich dafür engagieren. Damit ist das vierte Element von Global Governance angesprochen: Globale Problembearbeitung ist nicht allein die Sache von Staaten, Regierungen und internationalen Organisationen, sondern auch von nicht-staatlichen Akteuren, besonders von transnational agierenden Organisationen und Netzwerken (Internationalen Nicht-Regierungs-Organisationen – INROs, Transnationalen Konzernen – TNKs etc.). Als letztes Element von Global Governance müssen natürlich auch noch die Staaten genannt werden, die trotz »Globalisierung« und beschränkter einzelstaatlicher Handlungsfähigkeit wichtige Akteure von Global Governance sind, besonders bei einem koordinierten Vorgehen für gemeinsame Ziele, etwa im Rahmen internationaler Institutionen. Staaten bleiben die Scharniere zwischen nationaler und internationaler Politik und auch in ihrer Rolle als Mitglieder internationaler Institutionen und Organisationen (UNO etc.) sowie als Vertragsparteien internationaler Verrechtlichung sind sie in entscheidender Weise am Zustandekommen von Global Governance beteiligt.

Wenn diese fünf Elemente von Global Governance in möglichst übereinstimmender Weise zusammenwirken, verbessert sich die Bearbeitung globaler Probleme. Global Governance ist deshalb so wichtig, weil im Zeitalter der Globalisierung die politischen Aufgaben weder einzelstaatlich noch allein zwischenstaatlich zu erfüllen sind. Ohne verbindliche Regeln, die sich auf gesellschaftliche Normen und Werte beziehen, und die Mitwirkung einer Vielzahl gesellschaftlicher, transnationaler Akteure, stößt internationales Regierungshandeln schnell an die Grenzen einseitiger Macht- und Interessenpolitik. Es steht außerdem in der Gefahr, stärker der jeweiligen Herrschaftssicherung als der globalen Problembearbeitung zu dienen. Diese Gefahren für die Außen- und internationale Politik werden uns in besonderer Weise seit dem 11.9.2001 vor Augen geführt; sie zu begrenzen und kollektive statt partieller Ziele ins Zentrum globaler Politik zu stellen, ist eine der Aufgaben von Global Governance.

Global Governance in der Friedenspolitik

Für die Beförderung des Friedens bietet Global Governance mindestens die folgenden fünf Ansatzpunkte (siehe dazu auch Nuscheler/Weller 2002 und Hamm et al. 2002):

  • Internationale Organisationen und Institutionen der Friedens- und Sicherheitspolitik bedürfen der stärkeren Rückbindung an gesellschaftliche Normen und Interessen, etwa durch Parlamentarisierung, bessere Ressourcenausstattung zur Koalitionsbildung mit transnationalen Akteuren, der stärkeren inhaltlichen Verknüpfung mit internationaler Entwicklungs-, Handels- und Wirtschaftspolitik zur langfristigen Friedenssicherung, um auch strukturelle Ursachen gewaltsamen Konfliktaustrags bearbeiten zu können. Gewaltprävention setzt Entwicklungsmöglichkeiten für alle gesellschaftlichen Gruppen voraus und ist damit aufs Engste mit Entwicklungspolitik und internationaler Wirtschaftspolitik verknüpft, die dieses ermöglichen oder verhindern können.
  • Die internationale Verrechtlichung darf nicht ins Stocken geraten, auch wenn die augenblickliche US-Regierung sich in einigen Fragen davon ausnimmt, wie alle Staaten dem Völkerrecht unterworfen zu sein. Gerade die gewaltfreie Konfliktbearbeitung ist auf das gegenseitige Vertrauen aller Staaten in die Regeleinhaltung angewiesen. Ebenso bedürfen die immer weiter zunehmenden globalen Inter- und Transaktionen von Staaten und gesellschaftlichen Akteuren verlässlicher Regeln, um den Rückgriff auf die gewaltsame Durchsetzung von Interessen zu minimieren und die Möglichkeiten zur kollektiven Nutzensteigerung zu optimieren.
  • Gerade demokratische Gesellschaften, denen es gelingt, ihre gesellschaftlichen Konflikte weitgehend ohne die Anwendung von Gewalt auszutragen, sind besonders gefordert, ihre Normen und Werte von Frieden und den Umgang mit Konflikten weiterzuentwickeln, zu verfeinern und in der Auseinandersetzung mit anderen Vorstellungen und Erfahrungen zu überprüfen (zum INEF-Projekt »Perspektiven der Friedenstheorie« siehe Weller 2002c, 2003d und Calließ/Weller 2003). Vor allem aber müssen demokratische Gesellschaften ihre Normen vom Umgang mit Konflikten auch und gerade in ihrem Außenverhalten, in der Interaktion mit anderen Gesellschaften und Staaten umsetzen (siehe Hippler 2003a). Wer auf der einen Seite die Regeleinhaltung gegenüber anderen propagiert und einfordert, auf der anderen Seite aber sich selbst Übertretungen oder Regelverbiegungen erlaubt (z.B. Kosovo), schwächt seine Glaubwürdigkeit und zugleich die Anerkennung der entsprechenden Normen und Werte, denen Demokratien ihre gesellschaftliche Stabilität verdanken.
  • Die Weiterentwicklung und Stärkung von Global Governance ist nicht allein auf die Umsetzung durch Regierungen, das Agieren von Staaten und die Formulierung entsprechender Forderungen angewiesen. Gesellschaftliche Akteure leisten einen wesentlichen Beitrag zu Global Governance, indem sie selbst aktiv werden, als INROs grenzüberschreitende Aktivitäten entfalten, durch Kontakte und transnationale Netzwerke auf vergessene Gewaltkonflikte aufmerksam machen, FriedensaktivistInnen vor Ort stärken und schützen, Ressourcen bereitstellen, usw. Im Rahmen transnationaler Beziehungen können jene Gruppen und Organisationen in einer von Gewaltkonflikten bedrohten Gesellschaft gestärkt und unterstützt werden, die den gewaltfreien Konfliktaustrag praktizieren und sich dafür einsetzen. Zugleich geht es darum, den Normen-Diskurs immer wieder auf die politische Tagesordnung zu bringen, insbesondere die Außenpolitik daran zu messen und so dazu beizutragen, dass sich die Glaubwürdigkeit staatlichen Handelns erhöht. Gesellschaftliche Akteure wie Stiftungen, Kirchen, Hilfswerke und andere Organisationen sind aber auch wichtige Kooperationspartner für demokratische Regierungen, etwa bei der Stärkung ziviler Konfliktbearbeitung im In- und Ausland (siehe dazu u.a. Böge/Spelten 2002 und Hippler 2003b), bei der Einbeziehung konfliktrelevanter Zusammenhänge in die internationale Entwicklungspolitik sowie beim Einsatz für Menschenrechte, freie Wahlen, faire Gerichtsverfahren etc.
  • Staaten und ihre Regierungen können sich an verschiedenen Stellen für die Stärkung von Global Governance in der Friedenspolitik einsetzen, wie in den vorangegangenen Punkten schon erwähnt wurde. Zentral aber hierbei bleibt, dass sie in ihrem eigenen Verantwortungsbereich, z.B. in der Ausländer-Politik, bei der Verbrechensbekämpfung, im Justizwesen, bei der Transparenz des Herrschaftsapparats, bei der Begrenzung sozialer Ungleichheit, in ihrer Militärpolitik usw., in der Umsetzung und Unterstützung einer konstruktiven gesellschaftlichen Konfliktkultur die Normen und Werte umsetzen und realisieren, die dem gesellschaftlichen Zusammenleben zugrundeliegen. Und ähnlich bedeutsam ist, dass sich Staaten auch in ihrem grenzüberschreitenden Agieren an diese Normen und Werte gebunden fühlen.

Die Förderung des Friedens verlangt auch nach Einmischung von außen in jene Konflikte, bei denen die Gewalt zu eskalieren droht. Solches zu erkennen setzt die Anwendung friedenswissenschaftlicher Erkenntnisse in der Analyse von Konfliktdynamiken voraus (ein Ansatz hierfür ist der Indikatorenkatalog für Krisenpotenziale in Konfliktregionen, der augenblicklich am INEF weiterentwickelt wird; siehe dazu Spelten 1999). Friedensförderlich wird aber nur jene Einmischung sein, welche zugleich die Norm des Friedens stärkt, indem sie den Konfliktparteien die Perspektive eines gewaltfreien Konfliktaustrags und einer konstruktiven Konfliktkultur aufzeigt. Wenn Staaten sich gemeinsam, verbunden in einer internationalen Institution, verpflichtet auf Normen und Regeln, die gesellschaftlich breit verankert sind, mit gesellschaftlicher Unterstützung für den gewaltfreien Konfliktaustrag einsetzen, wird umgesetzt, was sich als Global Governance in der Friedenspolitik bezeichnen lässt.

Literatur

Blome, Kerstin / Brigitte Hamm (2003): Die Einbindung nicht-staatlicher Akteure in das Völkerrecht, in: Hauswedell et al. 2003, 249-258.

Böge, Volker (2003): Bougainville und Salomonen: Fortschritte und Fehltritte auf dem Weg zum Frieden, in: Ferdowsi, Mir A. / Volker Matthies (Hrsg.) (2003): Den Frieden gewinnen. Zur Konsolidierung von Friedensprozessen in Nachkriegsgesellschaften, Bonn, 176-205.

Böge, Volker / Tobias Debiel (2003): Kriege und Konfliktbewältigung, in: Hauchler et al. 2003.

Böge, Volker / Angelika Spelten (2002): Zivile Konfliktbearbeitung – Konzepte, Maßnahmen, Perspektiven, in: Schoch et al. 2002, 196-204.

Calließ, Jörg / Christoph Weller (Hrsg.) (2003): Friedenstheorie: Fragen, Ansätze, Möglichkeiten, Loccumer Protokolle 31/03, Loccum.

Fues, Thomas / Jochen Hippler (Hrsg.) (2003): Globale Politik: Entwicklung und Frieden in der Weltgesellschaft, Festschrift für Franz Nuscheler, Bonn.

Fues, Thomas / Dirk Messner (2003): Die Beziehungen zwischen Nord und Süd im Schatten der Irak-Krise: Perspektiven kooperativer Weltpolitik nach der Johannesburg-Konferenz, in: Hauswedell et al. 2003, 51-60.

Hamm, Brigitte / Jochen Hippler / Dirk Messner / Christoph Weller (2002): Weltpolitik am Scheideweg. Der 11. September 2001 und seine Folgen, SEF-Policy Paper 19, Bonn.

Hauchler, Ingomar / Dirk Messner, / Franz Nuscheler (Hrsg.) (2003): Globale Trends 2004, Frankfurt a.M.

Hauswedell, Corinna / Christoph Weller / Ulrich Ratsch / Reinhard Mutz / Bruno Schoch (Hrsg.) (2003): Friedensgutachten 2003, Münster.

Hippler, Jochen (2002): Die Quellen des Terrorismus – Ursachen, Rekrutierungsbedingungen und Wirksamkeit politischer Gewalt, in: Schoch et al. 2002, 52-60.

Hippler, Jochen (2003a): Globale Werte, Völkerrecht und zwischenstaatliche Gewalt, in: Hauchler et al. 2003.

Hippler, Jochen (Hrsg.) (2003b): Nation-Building – Ein Schlüsselkonzept für friedliche Konfliktbearbeitung?, Bonn.

Messner, Dirk (2002): Nationalstaaten in der Global-Governance-Architektur. Wie kann das deutsche politische System Global-Governance-tauglich werden?, INEF-Report 66, Duisburg.

Messner, Dirk / Franz Nuscheler (2003): Das Konzept Global Governance: Stand und Perspektiven, INEF-Report 67, Duisburg.

Messner, Dirk / Jeanette Schade / Christoph Weller (2003): Weltpolitik zwischen Staatenanarchie und Global Governance, in: Hauchler et al. 2003.

Nuscheler, Franz / Christoph Weller (2002): Die Alternative zum Krieg gegen den Terrorismus: Global Governance in der Friedens- und Sicherheitspolitik, in: Schoch et al. 2002, 205-214.

Schoch , Bruno / Corinna Hauswedell / Christoph Weller / Ulrich Ratsch / Reinhard Mutz (Hrsg.) (2002): Friedensgutachten 2002, Münster.

Spelten, Angelika (1999): Instrumente zur Erfassung von Konflikt- und Krisenpotenzialen in Partnerländern der Entwicklungspolitik, Bonn.

Spelten, Angelika (2003a): Stabilisierung durch »Friedensökonomie«?, in: Kurtenbach, Sabine / Peter Lock (Hrsg.) (2003): Kriege als (Über)Lebenswelten: Schattenglobalisierung, Kriegsökonomien und Inseln der Zivilität, Bonn.

Spelten, Angelika (2003b): Gewaltökonomien als Rahmenbedingung und Herausforderung für die Entwicklungspolitik. Eine FriEnt-Handreichung, Bonn.

Weller Christoph (2002a): Der 11. September im Fernsehen: Die Deutung der Terroranschläge als Krieg, in: Schoch et al. 2002, 43-51.

Weller, Christoph (2002b): Die massenmediale Konstruktion der Terroranschläge am 11. September 2001. Eine Analyse der Fernsehberichterstattung und ihre theoretische Grundlage, INEF-Report 63, Duisburg.

Weller, Christoph (2002c): Friedensforschung zwischen Massenmedien und Krieg – Von der Manipulationsforschung zur konstruktivistischen Friedenstheorie, in: Albrecht, Ulrich / Becker, Jörg (Hrsg.): Medien zwischen Krieg und Frieden, Baden-Baden, 27-44.

Weller, Christoph (2003a): Gewalt – politischer Begriff und friedenswissenschaftliche Konzepte. Eine Kritik der Gewaltfreiheit des Friedens, in: Calließ/Weller 2003.

Weller, Christoph (2003b): Perspektiven der Friedenstheorie, INEF-Report 68, Duisburg.

Weller, Christoph (2003c): Friedenstheorie: Aufgabenstellungen, Ansätze, Perspektiven, in: Eckern, Ulrich et al. (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, Opladen.

Anmerkungen

1) Global Governance ist ein Schwerpunkt der Forschungs- und Beratungsarbeit des Instituts für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen, das sich in seiner Arbeit vor allem den Zusammenhängen zwischen Entwicklung und Frieden zuwendet und sich dabei sowohl mit den globalen Interdependenzen von Wirtschaft, Umwelt und Sicherheit sowie den Entwicklungsperspektiven von Entwicklungsländern in der Weltwirtschaft als auch mit dem Zusammenspiel von Staaten, Internationalen Organisationen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft in der Weltpolitik beschäftigt. Aktuelle Literaturhinweise zur Arbeit des INEF finden sich im folgenden Text, für weitere Informationen siehe {u}www.inef.de{/u}

Dr. Christoph Weller, Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Instituts für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen

Intergruppenkonflikte

Intergruppenkonflikte

Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Konfliktforschung

von Thorsten Bonacker & Ulrich Wagner

Sozialwissenschaftliche Konfliktforschung beschäftigt sich mit verschiedenen Konflikten und Konflikttypen auf unterschiedlichen Ebenen, etwa mit Konflikten zwischen Staaten, zwischen Staaten und suprastaatlichen Organisationen, zwischen Ethnien, zwischen rivalisierenden Banden oder zwischen Angehörigen einer Mehrheit und denen einer Minderheit auf einem bestimmten Gebiet. Sie kann sich darüber hinaus mit gewaltsamen Konfliktverläufen oder mit Regelungsformen befassen. Eine andere Frage ist, auf welcher Ebene sie dies tut, denn selbst wenn man zwischenstaatliche Konflikte zum Gegenstand hat, können diese immer noch auf einer Mikroebene, bspw. auf der Ebene der Interaktion von Entscheidungsträgern, betrachtet werden. Im Folgenden geht es uns darum, Intergruppenkonflikte als möglichen Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Konfliktforschung zu beschreiben. Mit dem Gegenstand ist noch nichts über die Ebene der Forschung gesagt, d.h. man kann Intergruppenkonflikte sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene analysieren. Entscheidend ist, dass Intergruppenkonflikte solche Konflikte sind, die zwischen Gruppen ausgetragen werden. Welche Art von Gruppe, ob Organisationen, Staaten, soziale Bewegungen, Kleingruppen, Stämme oder soziale Gemeinschaften, kann dabei zunächst offen bleiben. Dies hat auch den Vorteil, dass man sich nicht von vornherein auf eine Konflikttheorie festlegen muss, sondern je nach Kontext und Forschungsebene unterschiedliche Konflikttheorien verwenden kann (vgl. Bonacker 2002).
Konflikte können innerhalb von Personen lokalisiert sein, zwischen Personen ausgetragen werden oder zwischen Gruppen stattfinden. Im ersten Fall sprechen wir von intrapersonalen Konflikten, im zweiten von interpersonalen und im letzten von Intergruppenkonflikten. Ein intrapersonaler Konflikt liegt beispielsweise vor, wenn eine Person ein Verhalten zeigt, das ihren eigenen ethischen Normen und Standards widerspricht, oder wenn eine Person widerstreitende Rollenanforderungen nicht vereinbaren kann. Interpersonale Konflikte sind hingegen Streitigkeiten zwischen einzelnen Personen. Von intergruppalen Konflikten spricht man, wenn die Akteure von konfliktären Interaktionen Gruppen sind.

Was sind Intergruppenkonflikte?

Die Bezeichnung Intergruppenkonflikte kann sich auf konfliktäre Auseinandersetzungen zwischen sehr unterschiedlichen Gruppen beziehen: Intergruppenkonflikte können zwischen Kleingruppen entstehen, aber auch Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Akteuren können als Form von Intergruppenkonflikten angesehen werden. Grundsätzlich kann man zwischen formell und informell organisierten Gruppen unterscheiden. Formell organisierte Gruppen sind als Konfliktakteure in der Regel klar zu erkennen, sie haben Ziele und Strategien formuliert und verfügen nicht selten über eine hierarchische Gliederung und haben recht eindeutige Erwartungen an ihre Mitglieder. Informell organisierte Gruppen lassen sich häufig nicht auf den ersten Blick als Konfliktparteien erkennen, weil die Mitgliedschaft in solchen Gruppen nicht geregelt ist. Während in formell organisierten Gruppen Loyalitäten auf eindeutigen Zugehörigkeiten beruhen und für alle Mitglieder auch über den konkreten Zeitpunkt gemeinsamer Anwesenheit hinaus erwartbar sind, beruht die Gruppenbindung in informell organisierten Gruppen häufig auf gemeinsam erlebten Ereignissen oder Ritualen. Weil hier die Gruppenloyalitäten und -bindungen nicht dauerhaft gesichert sind, stellen gemeinsame Gewalthandlungen ein probates Mittel für die Integration der Gruppe dar. Formell organisierte Gruppen können demgegenüber zwar auch gewaltsam handeln, aber sie tun dies aus anderen Gründen und auch in anderer Form. So können die festgelegten Ziele und das Selbstverständnis einer Gruppe so formuliert sein, dass Gewalt ein geeignetes Mittel zur Erreichung dieser Ziele ist – etwa bei der Beschaffung von Ressourcen. In einem solchen Fall dürften Gruppen sehr viel resistenter gegenüber Versuchen einer gewaltlosen Konfliktregelung sein. Bei informellen Gruppen besteht hingegen das Problem, dass Gewalt hier nicht zweck- oder wertrational eingesetzt wird, sondern selbst Bestandteil der Gruppenkohäsion ist. Damit werden Gewalthandlungen wenig kontrollier- und erwartbar und lassen sich auch nur schwer vermeiden.

Teilbare und unteilbare Konflikte

Intergruppenkonflikte – wie auch interpersonale Konflikte – besitzen, nach einer sehr groben Einteilung, zwei mögliche Konfliktgegenstände: Konflikte entstehen, weil die Konfliktpartner um materielle Ressourcen streiten, oder Konflikte sind Auseinandersetzungen um Identitätsprozesse, d.h. diese Konflikte entstehen oder werden aufrecht erhalten, weil damit Identitäten abgesichert oder aufgewertet werden. Die Unterscheidung zwischen Ressourcen- und Identitätskonflikten ist weitgehend gleichzusetzen mit der zwischen vertikalen und horizontalen Konflikten, d.h. Konflikten, die auf unterschiedliche Zugänge zu Ressourcen zurückgehen und solchen, die auf gesellschaftlicher Differenzierung auf gleicher Statusebene beruhen. Von Bedeutung ist diese Unterscheidung vor allem deshalb, weil mit diesen beiden Konfliktgegenständen zwei unterschiedliche Konflikttypen zusammenhängen: teilbare und unteilbare Konflikte. Teilbare Konflikte sind in der Regel Verteilungskonflikte, d.h. sie lassen sich (so Hirschman 1994; vgl. auch Dubiel 1997) im Prinzip lösen, auch wenn die Lösung in einer konkreten Situation aufgrund der Komplexität der Konfliktkonstellation – etwa aufgrund mehrerer heterogener Konfliktparteien oder unterschiedlicher Ressourcen – äußerst schwierig erscheint. Unteilbare Konflikte sind hingegen prinzipiell unlösbar, weil die Anerkennung von Identitäten nicht aufteilbar ist. Eine Lösung, so müsste man genauer sagen, über die Verteilung des Konfliktgegenstandes ist hier ausgeschlossen. In der jüngeren Konfliktforschung ist in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden, dass Konflikte nicht von sich aus teilbar oder unteilbar sind, sondern dass es von der Wahrnehmung der Akteure abhängt, inwiefern Konflikte als teilbar oder unteilbar gelten. Ein möglicher Regelungsansatz wäre deshalb, an den Wahrnehmungsschemata der Konfliktparteien anzusetzen, die bspw. Konfliktursachen der anderen Konfliktpartei zurechnen (vgl. Bonacker/ Imbusch in press).

Innerstaatliche, zwischenstaatliche und transnationale Konflikte

Intergruppenkonflikte lassen sich zum einen auf unterschiedlichen Ebenen thematisieren, etwa auf der Makroebene bei der Frage nach der Funktion von Intergruppenkonflikten für die Integration und den Wandel moderner Gesellschaften, auf der Mikroebene bei der Frage nach Einstellungen und Interaktionen zwischen den Konfliktparteien oder auf der Mesoebene bei der Frage nach dem Organisationsgrad der Konfliktparteien und der Institutionalisierung von Konflikten (Bonacker 2002). Zum anderen weisen Intergruppenkonflikte aber unterschiedliche Bezugsrahmen auf. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass der Nationalstaat für die Konfliktforschung immer ein wichtiger Orientierungspunkt zur Formulierung von Forschungsfragen und -gegenständen war. Vor diesem Hintergrund können Intergruppenkonflikte entweder inner- oder zwischenstaatlich lokalisiert sein. Darüber hinaus sind Intergruppenkonflikte aber auch Ursache und Folge eines Prozesses der Deterritorialisierung und Denationalisierung, in dem der Nationalstaat zunehmend an Orientierungs- und Regelungskraft verliert.

Im Folgenden sollen kurz zwei Forschungsbereiche aus dem Marburger Zentrum für Konfliktforschung zu Intergruppenkonflikten vorgestellt werden, die zum einen innerstaatliche, interethnische Konflikte und zum anderen transnationale Konflikte um die Geltung von Menschenrechten zum Gegenstand haben.

Ethnische Vorurteile und rassistische Einstellungen

Auf der Einstellungsebene spiegeln sich interethnische Konflikte als Vorurteile und rassistische Überzeugungen wider. Auf der Basis von Umfragedaten und experimenteller Untersuchungen können wir zeigen, dass diese gleichermaßen durch wahrgenommene Auseinandersetzungen um beschränkte Ressourcen, wie durch Identitätsprozesse bedingt sind: Zuwanderer und ethnische Minderheiten werden besonders dann abgelehnt, wenn ihnen unterstellt wird, materielle Ressourcen wie Arbeitsplätze und Wohnraum der autochthonen Bevölkerung zu gefährden, oder wenn sie als Bedrohung der Identität der aufnehmenden Gesellschaft angesehen werden, weil sie beispielsweise als wichtig angesehene Standards der Kultur gefährden sollen (vgl. z.B. Wager & Zick 1995). In einem laufenden Forschungsprojekt in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld zeigt sich, dass Einstellungen gegenüber Minderheiten besonders dann negativ ausfallen, wenn die Befragten keine persönlichen Erfahrungen mit Mitgliedern aus der Minderheit sammeln können: An den Daten einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahre 2002 zeigt sich, dass je weniger Menschen ausländischer Herkunft im Wohnbezirk leben und je weniger freundschaftliche Beziehungen zu Mitgliedern ethnischer Minderheiten bestehen, umso stärker die Ablehnung ist (Wagner, van Dick & Endrikat 2002). Der negative Zusammenhang zwischen der Zahl ausländischer Menschen im Wohnbezirk und den Vorurteilen der autochthonen Bevölkerung zu ethnischen Minderheiten widerlegt die oft von politischer Seite vorgetragene Argumentation von der Belastungsgrenze. Die Daten, auch in einer Replikation im Jahr 2003, zeigen eine solche Grenze nicht!

Diskriminierendes Verhalten zwischen Gruppen

Die Analyse von ethnischen Intergruppenbeziehungen hat nicht nur die gegenseitigen Einstellungen zum Thema, sie befasst sich auch mit Verhalten gegenüber Mitgliedern fremder ethnischer Gruppen, beispielsweise in Form diskriminierenden Verhaltens. In einer Serie von Feldexperimenten konnten Klink & Wagner (1999) zeigen, dass unter den gleichen vorgegebenen standardisierten Bedingungen Mitglieder ethnischer Minderheiten systematisch diskriminiert werden: Menschen ausländischer Herkunft, d.h. in diesem Fall mit einer Herkunft aus dem Nahen Osten, haben geringere Chancen, eine einfache Wegauskunft zu erhalten oder eine Wohnung zu bekommen. Umfrageergebnisse zeigen darüber hinaus, dass solche Formen diskriminierenden Verhaltens mit den Einstellungen der Befragten zusammenhängen – nicht nur gegenüber Zuwanderern: Befragte mit stärker fremdenfeindlichen Einstellungen neigen auch eher zur Diskriminierung von Türken, stärker antisemitisch eingestellte Personen zeigen diese Einstellung im Verhalten gegenüber Juden, Personen, die Behinderte negativ beurteilen, meiden auch den Kontakt mit Behinderten.

Gruppenbezogene Gewalt

Ethnische Intergruppenbeziehungen sind nicht nur durch Formen subtiler Diskriminierungen gekennzeichnet. Sie finden ihren Ausdruck auch in massiven, aggressiven Verhaltensweisen, in »hate crimes« oder Gewaltakten, die gegenüber Mitgliedern ethnischer Minderheiten gezeigt werden. Bislang gibt es kein umfassendes Modell zur Erklärung gruppenbezogener Gewalt. Mitglieder des Zentrums für Konfliktforschung in Marburg versuchen, diese Forschungslücke zu schließen. Umfragedaten zeigen, dass insbesondere fremdenfeindliche und rassistische Einstellungen mit Gewaltbilligung und Gewaltbereitschaft zusammenhängen (Wagner, Christ & Kühnel 2002). Von Täterbefragungen ist bekannt, dass die Aggressoren gegen Mitglieder ethnischer Minderheiten sich in ihrem Handeln durch die breite Masse der Bevölkerung unterstützt sehen und sich als Akteure im Sinne des Volkswillens betrachten. Neueste Umfragedaten weisen darauf hin, dass das objektiv erfasste Gewaltklima im Wohnbezirk in der Tat die Gewaltbereitschaft potenzieller Täter signifikant beeinflusst (Wolf, Stellmacher, Wagner & Christ in press).

Prävention von Fremdenfeindlichkeit und Gruppenbezogener Gewalt

Von hervorgehobener Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Prävention fremdenfeindlicher Einstellungen und gruppenbezogener Gewalt. Analysiert werden hier beispielsweise die möglichen präventiven Wirkungen von Intergruppenkontakten. In einer gerade abgeschlossenen Dissertation hat Avci-Werning (in press) die Wirkung eines Programms überprüft, das darauf baut, in ethnisch gemischten Schulklassen kooperative Kontakte zwischen Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher ethnischer Herkunft zu fördern.

Jegliche Präventionsprogramme sind natürlich einer Überprüfung ihrer Wirksamkeit zu unterziehen. In verschiedenen Gutachten haben Mitglieder des Zentrums für Konfliktforschung Marburg darauf hingewiesen, wie wichtig die empirische Fundierung von Präventionsprogrammen ist (vgl. z.B. Rössner, Bannenberg et al. 2001; Wagner, Christ & van Dick 2002). Damit stellt sich für die Konfliktforschung die Frage der Politikberatung. Das Marburger Zentrum für Konfliktforschung hat zum Ziel, zu empirisch begründeten Aussagen über gesellschaftliche Gefahrenpotenziale und gesellschaftliche Veränderungen zu kommen und dies für Maßnahmen der Förderung von »evidence based politics« zur Verfügung zu stellen (vgl. Wagner, in press).

Transnationale Konflikte um Menschenrechte

Intergruppenkonflikte können nicht nur im innerstaatlichen Bereich als interethnische Konflikte angesiedelt sein. Als interethnische Konflikte könnten sie Staatsgrenzen auch überschreiten und insofern einen transnationalen Charakter bekommen. Ferner haben ethnologische Forschungen zum Rechtspluralismus am Max-Planck-Institut in Halle/Saale gezeigt, dass innerhalb sogenannter schwacher Staaten mehrere Gruppen in der Lage sind, geltende Rechtsordnungen durchzusetzen. In diesem Fall bewegen sich Intergruppenkonflikte zwar in einem staatlichen Bereich, der aber nicht mehr durch ein funktionierendes Gewaltmonopol oder eine gemeinsame Rechtsordnung gekennzeichnet ist.

Besondere Aufmerksamkeit erfahren gegenwärtig jene Konfliktlagen, die einen globalen Bezug aufweisen und in denen es darum geht, dass der Nationalstaat als Orientierungs- und Regelungsinstanz von Konflikten zunehmend unter Druck gerät. Das kann auch durch Intergruppenkonflikte der Fall sein. Ein Beispiel dafür sind Gruppen, die als Konfliktparteien den nationalstaatlichen Rahmen verlassen und als transnationale (Konflikt-)Akteure in Erscheinung treten. Ein prominenter Fall eines solchen transnationalen Akteurs ist die aus zahlreichen Organisationen und Gruppen bestehende Menschenrechtsbewegung, die auf internationaler Ebene mittlerweile zusammen mit staatlichen und suprastaatlichen Organisationen ein umfassend institutionalisiertes Menschenrechtsregime herausgebildet hat. Regime als „principles, norms, rules and decision making procedures around which actor expectations converge in a given issue-area“ (Krasner 1982: 185; vgl. Zürn 1992) bilden auf der einen Seite Instrumente der Konfliktregelung aus, die gerade auch Intergruppenkonflikte zwischen Gruppen innerhalb eines Staatsgebiets betreffen, etwa zwischen einer regierenden ethnischen Gruppe, die andere Gruppen von gesellschaftlichen Leistungsbereichen wie kollektiven politischen Entscheidungen ausschließt. Das Menschenrechtsregime ermöglicht hier eine internationale Regelung vormals ausschließlich nationalstaatlicher Konflikte. Andererseits wirkt das Menschenrechtsregime aber auch in zwei Richtungen Konflikt fördernd: Erstens gibt es nationalen wie transnationalen Gruppen dort die Möglichkeit zum legitimen Konflikt, wo bislang autoritäre Herrschaftsformen Konflikte bspw. um die Beteiligung an politischer Macht oder um kulturelle Autonomie erfolgreich unterdrücken konnten. Zweitens reißt das auf globaler Ebene institutionalisierte Menschenrechtsregime trotz aller Implementierungs- und Durchsetzungsprobleme die Schranken nationaler Souveränität erkennbar ein. Dies hat dazu geführt, dass Konflikte im internationalen Bereich eskalieren können, weil sie moralisch gerechtfertigt erscheinen. Die Menschenrechte werden hier zu einer symbolischen Ressource, die sowohl integrativ mit Blick auf die Herausbildung eines globalen Rechts als auch – etwa im Fall humanitärer Interventionen – desintegrativ wirken kann (Bonacker & Brodocz 2000).

In einer Studie am Marburger Zentrum für Konfliktforschung konnte in diesem Zusammenhang gezeigt werden, dass gerade die Uneindeutigkeit des Bedeutungsgehalts der Menschenrechtsnorm dazu führt, dass sich unterschiedliche Gruppen mit ihren Forderungen und Wahrnehmungen auf Menschenrechte beziehen (Bonacker 2003). Entscheidend ist hier nicht die strategische Verwendung von Menschenrechten zur Legitimation eigener Positionen, sondern der indirekte Zwang, der von der Menschenrechtsnorm gerade aufgrund ihrer Deutungsoffenheit ausgeht. Auf globaler Ebene symbolisiert sie die Geltung einer Welt(rechts)gesellschaft, an der nationale wie transnationale Gruppen nicht vorbeikommen. So müssen beispielsweise auch autoritäre Regierungen ihr Handeln international als menschenrechtskonform darstellen, wollen sie nicht Sanktionen riskieren.

Intergruppenkonflikte können, zusammenfassend gesagt, verschiedene Formen haben und auf unterschiedlichen Ebene analysiert werden. Als Rahmen für Intergruppenkonflikte dient in der Regel der Nationalstaat, so dass man zwischen innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Intergruppenkonflikten unterscheiden kann. Allerdings können Intergruppenkonflikte diesen staatlichen Rahmen überschreiten und als transnationale Konflikte zu dessen Auflösung bzw. Veränderung beitragen. Als Gegenstand für die sozialwissenschaftliche Konfliktforschung sind sie deshalb und weil sie sich weder auf zwischenstaatliche noch auf interpersonale Konflikte reduzieren lassen, von besonderem Interesse.

Literatur

Avci-Werning, M. (in press): Prävention und Reduktion ethnischer Konflikte in der Schule. Münster, Waxmann.

Bonacker, T. & Brodocz, A. (2000): Im Namen der Menschenrechte. Zur symbolischen Integration der internationalen Gemeinschaft durch Normen. In: Zeitschrift für internationale Beziehungen 8, 178-208.

Bonacker, T. & Imbusch, P. (in press): Sozialwissenschaftliche Konfliktforschung. In: Albert Fuchs / Wilhelm Kempf / Gert Sommer (Hrsg.): Friedens- und Konfliktpsychologie. Weinheim, Beltz.

Bonacker, T. (2002): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien – Einleitung und Überblick. In: T. Bonacker (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Opladen, Leske + Budrich, 9-27.

Bonacker, T. (2003): Die Evolution der Weltgesellschaft durch Menschenrechte. Münster.

Dubiel, H. (1997): Unversöhnlichkeit und Demokratie. In: W. Heitmeyer (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Frankfurt am Main, Suhrkamp, 425-444.

Hirschman, A. O. (1994): Wie viel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft? In: Leviathan 2, 293-304.

Klink, A. & Wagner, U. (1999): Discrimination against ethnic minorities in Germany: Going back to the field. In: Journal of Applied Social Psychology 29, 402-423.

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Dr. Thorsten Bonacker ist Wissenschaftlicher Assistent am Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg
Dr. Ulrich Wagner ist Professor für Psychologie an der Universität Marburg und stellvertretender Direktor des Zentrum für Konfliktforschung

Abrüstung durch Krieg?

Abrüstung durch Krieg?

Beim Irakfeldzug vergaß Blair wichtige Lehren aus Nordirland

von Corinna Hauswedell

In vielerlei Hinsicht mag ein Vergleich der Abrüstungsstrategien in Nordirland und gegenüber dem Irak als unangemessen erscheinen, da Wesen und Ausmaße beider Konflikte sehr verschieden sind: Zum Glück war und ist Gerry Adams nicht Saddam Hussein, Semtex ist nicht Anthrax oder VX, und Nordirland ist ein wesentlich unbedeutenderer Fleck (kolonialer Geschichte) als der Irak in der heutigen Welt globaler Interessen.
Betrachtet man die Politik und die Methoden der britischen Regierung in diesen beiden Konflikten genauer, so fällt auf, dass Tony Blair in seinem höchst kontroversen Kurs der Unterstützung des Irak-Krieges, der zu einer schweren Vertrauenskrise innerhalb seiner eigenen Partei führte, einen Weg eingeschlagen hat, der erheblich von den strategischen Entscheidungen abweicht, welche in Nordirland in den neunziger Jahren getroffen wurden.

Die Frage des »decommissioning«, der Abrüstung der paramilitärischen Waffen, ist seit fast zehn Jahren ein blockierendes Dauerthema des nordirischen Friedensprozesses. Während dieser Artikel verfasst wurde, sah es so aus, als könne man optimistischer in die Zukunft sehen; die Hoffnung auf eine baldige Lösung der Blockade wurde jedoch erneut, dieses Mal durch Tony Blairs Verschiebung der Wahlen auf den Herbst, enttäuscht.

Die Debatten über »decommissioning« haben sich allerdings lange genug hingezogen, um aus ihnen auch für andere internationale Friedens- und Abrüstungsprozesse Lehren ziehen zu können.

Als die britische Regierung in den frühen neunziger Jahren das Wort »decommissioning« (Stilllegen) einführte – das schnell zum Schlagwort des nordirischen Friedensprozesses wurde – tat sie dies unter anderem, um nicht das Wort »disarmament« (Abrüstung) zu benutzen. Nach dem Regierungswechsel 1997 von John Major zu Tony Blair wurde verstärkt Wert darauf gelegt, dass Abrüstung in den Augen der katholischen republikanischen Bewegung in Nordirland nicht als »Kapitulation« gesehen wurde.

Die Herangehensweise: »constructive ambiguities«

Dieser Umgang mit dem Problem ermöglichte in der Folge eine gewisse politische Anerkennung für diejenigen, die während des Bürgerkrieges dem Staat den bewaffneten Kampf angesagt hatten.

»Decommissioning« wurde nicht zur Vorbedingung für die Unterzeichnung des Friedensvertrages gemacht, „die totale Entwaffnung aller paramilitärischen Gruppen“ wurde vielmehr eine gemeinsame künftige Verpflichtung aller Parteien, die das »Good Friday Agreement« 1998 unterzeichneten.

Man fand für die Umsetzung des Abkommens ein zweigleisiges Verfahren, in dem die politischen und sicherheitspolitischen Fragen für eine Weile getrennt voneinander verfolgt werden konnten. Mit dieser nicht immer einfachen Herangehensweise so genannter »constructive ambiguities« (konstruktiver Doppeldeutigkeiten) wollte man der Tatsache Rechnung getragen, dass das sensible Waffenthema eine politische Symbolik besitzt, die weit über das militärische Potenzial hinausgeht und deshalb von allen Konfliktparteien ideologisch überhöht wurde. »Decommissioning of mindsets«, die Abrüstung in den Köpfen, wurde zum geflügelten Wort in Nordirland: Für den Umgang mit der »software« war mehr Zeit und Geduld zu veranschlagen, wenn man wollte, dass auch die »hardware« aus dem Verkehr gezogen würde.

Vertrauensbildung und politische Anerkennung

Mit der Einrichtung der Independent International Commission of Decommissioning (IICD) (Unabhängige Internationale Kommission für Abrüstung) zur Überwachung, Kontrolle und Verifizierung von Abrüstung illegaler Waffen wurde eine neutrale Drittparteieninstanz geschaffen, um den Prozess und Dialog mit den paramilitärischen Organisationen einfacher zu gestalten.

Noch mehr kreatives Denken im Sinne von Vertrauensbildung kam im Sommer 2000 mit einem Duo zweier international anerkannter Inspektoren nach Nordirland; sie besichtigten mehrfach in Abständen ausgewählte IRA-Waffendepots, die mit einem Zwei-Schlüssel-System verriegelt wurden; gegenüber der IICD bestätigten die Inspektoren, dass die Waffen, die sie gesehen hatten, „unter Kontrolle“ und sicher seien.

Trotzdem kam der Friedensprozesses immer wieder zum Stillstand, auch nach den beiden großen Abrüstungsinitiativen der IRA im Oktober 2001 und April 2002. Diese wurden zwar jeweils als »historische« Schritte angesehen, reichten aber nicht aus, um das Vertrauen auf Seiten der tief gespaltenen protestantischen Unionisten zu gewinnen. Als deren unilaterale Sanktionen gegenüber Sinn Fëin, der mit der IRA verbundenen Partei, scheiterten, entschlossen sich die britische und irische Regierung zu einem »Paket-Deal«, der erstmals in Weston Park im Juli 2001 formuliert wurde. Diese Strategie verband die Fragen von Abrüstung, Entmilitarisierung, den Abbau staatlicher Truppen und die Polizeireform auf eine Art, die Gegenseitigkeit in allen Vorgängen vorschlug. Damit wurde vorsichtig die Richtung für ein gemeinsames Verständnis von Sicherheit eingeschlagen und eine schrittweise Loslösung von den Feindbildern der Vergangenheit eingeleitet. Während all dieser Jahre wurde in den meisten öffentlichen Stellungnahmen darauf verzichtet, die IRA als »Terroristen« zu bezeichnen.

Der neue Weg, der in Nordirland in den neunziger Jahren – nach 20 Jahren gescheiterter Versuche Frieden durch militärischen Zwang herzustellen – eingeschlagen wurde, beruhte auf der Anerkennung auch der radikalen Konfliktparteien im Friedensprozess. Abrüstung war keine Einbahnstraße, sondern sollte auch den staatlichen Sektor einbeziehen. Vertrauensbildung wurde groß geschrieben. Mo Mowlam, als Nordirlandministerin 1997-1998 das am meisten involvierte Kabinettsmitglied der New Labour Regierung, hat in ihrem Buch »Momentum« überzeugend dargelegt, wie komplex ein Friedensschluss mit denjenigen aussehen kann, die sich einem fragwürdigen Staatskonzept von »law and order« radikal widersetzen.

UN-Resolution 1441

»Constructive ambiguities« waren auch beim Zustandekommen der UN-Resolution 1441 am 8. November 2002 gegenüber dem Irak im Spiel: Die Resolution sollte ein Inspektionsregime für die Abrüstung des Irak unter Führung der Internationalen Atomenergiebehörde bei gleichzeitigem Aufbau einer militärischen Drohkulisse einrichten. Die Verschärfung des Inspektionsregimes bedeutete laut Resolution, „Bagdad eine letzte Chance zur Abrüstung zu geben.“ Das Recht, über Erfüllung oder Verweigerung der Bedingungen durch den Irak zu entscheiden, lag beim UN-Sicherheitsrat, welcher seine Entscheidung auf Basis der Berichte der Inspektoren fällen sollte.

Anstatt dieser Vorgehensweise zu folgen und den Inspektoren die Zeit, die sie brauchten, einzuräumen, wurde im Februar 2003 mit Hilfe zweifelhafter Indizien und Dokumente (die auch in Großbritannien mitfabriziert worden waren) von der US-Regierung entschieden, dass die Phase der Diplomatie vorbei sei.

House of Commons

Als Tony Blair am 3. Februar dem britischen Parlament erklärte, dass „wir in die finale Phase einer zwölf Jahre langen Geschichte der Abrüstung des Irak eintreten,“ hatte Washington bereits entschieden, Krieg zu führen. Die Legitimation, welche sich die britische Regierung von einer zweiten UN-Resolution versprochen hatte, fand nicht statt. Die Rechtfertigung für den Einsatz militärischer Gewalt lag nun allein bei der Supermacht USA. Und mit diesem Wechsel verschoben sich auch die öffentlich bekundeten Ziele des Krieges von Abrüstung hin zu Regimewechsel bzw. der Installierung einer demokratischen Ordnung im Nahen und Mittleren Osten.

Der Bruch des Völkerrechts

Die beispiellose Missachtung des durch das UN-System repräsentierten internationalen Rechts provozierte den Protest vieler Regierungen und Bevölkerungen gleichermaßen – auch in London und Belfast. In Westminster war der Bruch des Völkerrechts mehrfach bis zum 17. März, kurz vor Kriegsbeginn, Gegenstand höchst erregter Kontroversen im Parlament.

Es sah schon zu jenem Zeitpunkt so aus, als sei zum Zwecke der Rechtfertigung des Krieges die Bedrohung, die von dem Regime in Bagdad ausging, bewusst übertrieben worden; das Argument einer Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen musste herhalten, um notdürftig und zeitweilig die eigentlichen Kriegsziele der USA in der ressourcenreichen Region zu bemänteln. Abrüstung wurde so vor den Augen der Welt lächerlich gemacht. Nach 12 Jahren einer höchst fragwürdigen Sanktions- und Inspektionspolitik gegenüber dem Irak – ganz zu schweigen von den Jahren davor, als Saddam ein willkommener und mit Waffen gut ausgestatteter Alliierter war – waren zu viele Doppelstandards im Spiel, um eine ehrliche Legitimation und Unterstützung der Weltgemeinschaft für eine militärische Intervention zu erhalten.

Die Moral von der Geschicht‘

Auf zu hohem moralischen Ross zu reiten, wenn es um den Einsatz militärischer Macht und Gewalt geht, ist immer schon ein zweifelhaftes Unterfangen gewesen. Die britische Regierung müsste auch das aus dem Nordirland-Konflikt gelernt haben. Die Enthüllungen aus der gerichtlichen Untersuchung des »Stevens Inquiry« über die tödliche Kollaboration britischen Sicherheitskräfte mit loyalistischen Paramilitärs während des Bürgerkrieges waren im Frühjahr 2003 in aller Munde. Illegale Militär- und Geheimdienstpraktiken waren es, die dem Rechtsstaat und dem legitimen Einsatz des staatlichen Gewaltmonopols, und damit der britischen Demokratie in Nordirland, schweren Schaden zugefügt haben.

Zu den wesentlichen Lehren aus Nordirland ist also zu zählen:

  • Ambivalenzen sind ein natürlicher Faktor in Abrüstungs- und Friedensprozessen, um von ihren konstruktiven Seiten Gebrauch zu machen, ist Geduld, Kreativität und ein langer Atem erforderlich. Nur so kann der notwendige Respekt zwischen verfeindeten Konfliktparteien aufgebaut werden.
  • Weder Abrüstung noch Demokratie werden durch Rechtsbrüche und den Einsatz militärischer Gewalt befördert.
  • Der Aufbau von Feindbildern führt eher zu einer Zunahme der Gewalt als zu einer Deeskalation der Bedrohungswahrnehmungen.
  • Anerkannte Methoden und Instrumente der Vertrauensbildung und die Beteiligung neutraler Drittparteien sind unerlässlich, um einen integren Prozess zwischen den Konfliktparteien zu ermöglichen.
  • In vielen Fällen ist Abrüstung keine Einbahnstraße; der Abbau verfestigter Gewaltstrukturen erfordert ein Verständnis von Gegenseitigkeit, den allmählichen Aufbau eines gemeinsamen, überparteilichen Sicherheitsverständnisses (1991 hatte die UN-Resolution 687 zum Irak ein solches Herangehen schon einmal für den Mittleren Osten vorgeschlagen).

Globale Asymmetrien vertragen keine Militarisierung

Die globalen Machtungleichgewichte, die aus dem Ende des Kalten Krieges hervorgegangen sind und nach dem 11. September im »Krieg gegen den Terrorismus« drastisch sichtbar wurden, machen es dringend erforderlich, aus der innerstaatlichen Konfliktbearbeitung der neunziger Jahre für die internationale Agenda – auch neuer zwischenstaatlicher Konflikte – zu lernen. So genannte asymmetrische Kriegführung, Kriegsökonomien und andere Formen der Militarisierung werden täglich schmerzhaft auf dem Rücken von Tausenden Zivilisten ausgetragen. Aber die wachsende Sorge über Menschenrechtsverletzungen darf den Mächtigen keinen Freibrief für einen universellen Interventionismus ausstellen und schon gar nicht für »präventive« Kriegsstrategien. Das konterkariert jeden Gedanken der »Vorbeugung«.

Abrüstung durch Kriege und Waffengewalt ist nicht nur aus semantischen Gründen ein fragwürdiges Konzept. Dem Terrorismus lässt sich in den meisten Fällen mit militärischen Mitteln nicht erfolgreich beikommen, das zeigt der Blick in die Geschichte ebenso wie die jüngsten Versuche, transnationale Netzwerke wie Al Quaida wirksam zu bekämpfen. Und wenn die mächtigsten Staaten beginnen, das fragile Tabu des Krieges im Namen der Demokratie zu demolieren, könnte eine gefährliche Dynamik in Gang kommen, die die eigene Glaubwürdigkeit zerstört. Um die Weiterverbreitung und den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu verhindern bzw. zu kontrollieren, ist nicht »counterproliferation«, sondern die Arbeit am Konzept umfassender Sicherheit (human security) einschließlich bewährter und neuer internationaler Rüstungskontrollregime erforderlich.

Im Hinblick auf Nordirland sei abschließend die listige Frage erlaubt, ob Tony Blair womöglich das New Labour Konzept der »constructive ambiguities« an den Nagel gehängt hat zugunsten einer zweifelhaften Allianz mit dem Neo-Konservatismus auf der anderen Seite des Atlantik? Auch wenn er von vielen Unionisten in Nordirland tatkräftige Unterstützung für seinen Irak-Kurs erhalten hat, bleibt zu hoffen, dass die Lehren aus dem Nordirland-Konflikt wirksam bleiben, zumindest innerhalb des Vereinigten Königreiches.

Dr. Corinna Hauswedell, Bonn International Center for Conversion, leitete ein von der VW-Stiftung gefördertes Forschungsprojekt zum Friedensprozess in Nordirland. Der obenstehende Artikel wurde in der Juni-Ausgabe der Belfaster Zeitschrift »Fortnight« veröffentlicht. Die Übersetzung aus dem Englischen erfolgte zusammen mit Hannes Hauswedell.

Vorschlag für eine linke deutsche Position

Vorschlag für eine linke deutsche Position

von Clemens Messerschmid

Es gibt kaum eine andere Frage, bei der innerhalb der deutschen Friedensbewegung die Meinungen so weit auseinandergehen wie im Israel-Palästina-Konflikt. Das wurde im Zweiten Golfkrieg deutlich als die einen »Kein Blut für Öl« skandierten, während andere in einer fast bedingungslosen Solidarität zu Israel alles rechtfertigten, was die Feinde Israels – in diesem Fall Saddam Hussein – schwächte. Das zeigt sich gegenwärtig in einer weitgehenden Nichtbefassung mit dem Terror der israelischen Armee und dem palästinensischer Gruppen. Clemens Messerschmid, seit 5 Jahren auf der West Bank arbeitend, schildert gegenüber W&F seine Situation mit den Worten: „Unser Büro steht zum Glück noch… Am meisten leiden wir unter der Abriegelung und Ausgangssperre, unter der wir seit Monaten liegen, unterbrochen immer nur von wenigen Tagen, an denen wir tagsüber aus dem Haus dürfen, aber immer erst in letzter Minute Bescheid bekommen durch Lautsprecherwagen der israelischen Armee. Größtes Handycap ist aber, dass jegliche Geländearbeit (als Hydrogeologe) unmöglich geworden ist. Die Siedler fragen nicht lange bevor sie schießen und es gibt inzwischen nicht mehr viele Täler, die nicht von einem der Settlements oder Militärposten einsehbar wären.“ Das »eigene Erleben« wird spürbar in seinem sicher sehr zugespitzt formulierten »Vorschlag für eine linke deutsche Position im Palästina-Konflikt«. In der Redaktion haben diese Thesen eine kontroverse Debatte ausgelöst. Wir hoffen, dass sie auch bei unseren Leserinnen und Lesern zu einer lebhaften Diskussion führen und sind gerne bereit, dieser Diskussion in W&F den entsprechenden Raum zu geben.

Land für Frieden

  1. Der gegenwärtige Palästinakonflikt ist ein Konflikt um Land. Dies findet seinen Ausdruck in der dem Friedensprozess zugrunde liegenden Formel »land for peace« Er ist kein religiöser Konflikt, obgleich er von Kräften auf beiden Seiten religiös überhöht wird.
  2. Der Konflikt heute handelt in erster Linie von der israelischen Besatzung Palästinas, d.h. Gazas und der West Bank. Wenn von Palästina die Rede ist, bezieht sich der Ausdruck auf diese beiden Gebiete, die zusammen rund 22 % des Territoriums von »Mandatspalästina« (heute Israel und die besetzten Gebiete) ausmachen.
  3. Israel hält Palästina besetzt, nicht umgekehrt.
  4. Mit der Anerkennung Israels in Oslo haben die Palästinenser eine enorme und historische Vorleistung erbracht.
  5. Die Gegenleistung Israels, der Abzug aus den besetzten Gebieten – niedergelegt in Oslo zum Ende der Interimsperiode (1999!), – steht bis heute aus. Die Weigerung der aufeinanderfolgenden israelischen Regierungen, diesen Part von Oslo umzusetzen, ist eine flagrante, ist »die« grundlegende Verletzung des Geistes und der Buchstaben von Oslo.

Es ist die Besatzung

  1. Die Besatzung ist der wesentliche Grund für den Konflikt. Jegliche Lösung muss an diesem Punkt angreifen. Mit ihrer Beseitigung sind nicht alle Probleme gelöst, aber ohne ein Ende der Besatzung lässt sich keines der brennenden Probleme lösen.
  2. Die Besatzung bedeutet für die Palästinenser unerträgliche Lebensbedingungen. Sie durchdringt alle Sphären des politischen, ökonomischen wie auch alltäglichen Lebens in Palästina. Ob Erziehung und Bildung, Arbeit, Handel, Landwirtschaft und Gewerbe; ob Wasser oder Wohnen oder jegliche Art von Bewegung: zum Ausland, zwischen den besetzten Gebieten und Israel, aber vor allem innerhalb Palästinas, zwischen Stadt und Land; ob politische Vereinigung und Betätigung und natürlich die Flüchtlingsfrage und das Siedlerproblem: alle Bereiche palästinensischen Lebens sind von der Besatzung betroffen.
  3. Der Besatzungsstatus kann nur durch tägliche, tausendfache Unterdrückung – oft blutige Repression, aber immer Demütigung und die Verweigerung elementarster Grundrechte – der gesamten palästinensischen Nation aufrechterhalten werden.
  4. Besatzung bedeutet tägliche Landenteignung (für »natürliches« Siedlungswachstum), das Zerstören von palästinensischem Wohnraum und Anbauflächen, Verweigerung der Wasserzugriffsrechte, Aufschiebung des Flüchtlingsproblems, millionenfache Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Zerstörung beinahe jeglicher Infrastruktur, Untergrabung der palästinensischen Ökonomie etc. Sie verbaut den Palästinensern nicht nur ein normales friedliches Alltagsleben, sondern auch jegliche Perspektive auf Entwicklung, auf Arbeit, ärztliche Betreuung, Bildung, Kultur – auf Menschenwürde.

Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht

  1. Der palästinensische Kampf gegen die israelische Militärbesatzung ist ein Befreiungskampf.
  2. Er ist ein Kampf für die elementaren Lebensrechte der Palästinenser.
  3. Der Konflikt fordert täglich unzählige Opfer auf beiden Seiten. Dennoch ist er nicht symmetrisch. Es handelt sich nicht um einen Kampf zwischen zwei Staaten und zwei Armeen, sondern um den Widerstand eines Volkes gegen die Militär- und Staatsmaschinerie eines Besatzerstaates.
  4. Die palästinensischen Kampfformen sind eine Antwort auf die Besatzung, nicht umgekehrt. (Dass nicht alle Formen der Antwort richtig, fortschrittlich und der Lösung des Konfliktes zuträglich sind, bleibt davon unbeschadet. Siehe unten.) Die israelischen Repressionsmaßnahmen können nicht unabhängig von der Besatzung betrachtet werden, denn sie dienen ihrer Aufrechterhaltung.

Ein Volk, das andere unterdrückt, kann selbst nicht frei sein

  1. Der gewaltsame Versuch, die Besatzung aufrecht zu erhalten, ist sowohl illegitim als auch historisch zum Scheitern verurteilt.
  2. Der Kampf gegen die Besatzung stellt das Existenzrecht Israels nicht in Frage. Im Gegenteil: Es ist die Besatzung selbst, die der Bevölkerung Israels enorme Opfer auferlegt, Israel international isoliert und den Staat und die Interessen der breiten Masse des Volkes in Israel untergräbt.
  3. Auf israelischer Seite legt die Besatzung der Bevölkerung einen hohen Preis auf. Er lautet: Ankurbelung des Militarismus (der israelische Militarismus wurde schon vor mehr als 50 Jahren angekurbelt), Anheizen des Chauvinismus, Stärkung reaktionärer Kräfte und enorme finanzielle Opfer zugunsten der Militärmaschinerie und der Siedlerpräsenz.
  4. Der Kampf gegen die Besatzung verteidigt die Werte der Selbstbestimmung, Freiheit und Gerechtigkeit, nicht nur der Palästinenser, und sollte von jedem fortschrittlichen Menschen unterstützt werden. Er ist das letzte Glied in der Kette antikolonialer Befreiungskämpfe.
  5. Ziel des Befreiungskampfes kann nur die friedliche Koexistenz der beiden Völker sein, das Zusammenleben der Israelis mit den Palästinensern. In welcher Form und in welchen Etappen dieses Ziel realisiert wird, bleibt eine Frage, die in der Zukunft von beiden Völkern beantwortet werden muss und wird. Eine Diskussion der verschiedenen Optionen und/oder Etappen (zwei Staaten, Föderation, binationaler Staat…) sprengte den Rahmen dieser Thesen.

Kräfte des Kampfes – Interessen, Ansätze und Faktoren

  1. Ein Ende der Besatzung liegt im Interesse der gesamten palästinensischen Nation und im Interesse der großen Mehrheit des Volkes von Israel. Letztere wird von der Staats-, Militär- und Siedlerführung betrogen, wenn ihr die Besatzung, das heißt die Unterdrückung, Landnahme und Vertreibung der Palästinenser, als Sicherheits- oder sonstiges Eigeninteresse verkauft wird.
  2. Die Besatzung steht dem Sicherheitsinteresse der Palästinenser diametral entgegen. Aber die fortschrittlichen Bewegungen in Israel sind sich heute darin einig, dass es die Besatzung ist, die notwendig und unaufhörlich zu einer Bedrohung der israelischen Sicherheit führt. Dies ist inzwischen selbst vom Ex-Geheimdienstchef Ami Ayalon und von hochrangigen aktiven IDF-Offizieren zu hören.
  3. Diese Erkenntnis reicht viel weiter als nur bis zu den palästinensischen Selbstmordanschlägen gegen die Zivilbevölkerung innerhalb Israels: Sicherheit umfasst wohlverstanden das Ende der Besatzungstätigkeit hunderttausender israelischer Wehrpflichtiger und Reservisten. Historisch umfasst sie eine Aussöhnung mit der arabischen Welt, die ohne ein Ende der Besatzung undenkbar bleibt.
  4. Die Grenze im heutigen Kampf verläuft also nicht zwischen Völkern. Sie verläuft objektiv zwischen den Nutznießern und Protagonisten der Besatzung (der Landnahme, der Siedlungstätigkeit – militärisch abgesicherte Wehrdörfer im Feindesland –, der Ausbeuter palästinensischer Rechtlosigkeit etc.) auf der einen Seite und all denen, die Opfer der Unterdrückung sind bzw. die Zeche zu zahlen haben. Subjektiv verläuft sie zwischen Befürwortern und Gegnern.
  5. Die Menge der Gegner in Israel ist freilich erheblich kleiner als die Menge der im obigen Sinne »Betrogenen«. Aus diesem Zahlenverhältnis ergibt sich eine Bestimmung der Kampfaufgaben, nämlich zuvorderst eine Verschiebung des bestehenden Verhältnisses herbeizuführen, sowohl quantitativ (Mehrheiten) als auch qualitativ (Hegemonie). Die Linke weltweit hat keine Aufgabe anstelle dieses Kampfes – sie hat ihn zur Kenntnis zu nehmen und zu unterstützen.
  6. Der Konflikt hat keine militärische, sondern nur eine politische Lösung. Bestritten wird dies in Israel von der IDF-Führung und Teilen der Sharonregierung, in Palästina von einem verschwindend kleinen Teil der Opposition. Selbst die Tanzim, der größte Träger des bewaffneten Kampfes, betrachten ihre Aktionen ausdrücklich als Mittel auf dem Weg zu einer politischen, also Verhandlungslösung.
  7. Ohne einen Stimmungswandel in Israel gibt es kein Ende der Besatzung. Schon allein aus diesem Grund müssen die Würfel innerhalb der Region, im Nahen Osten fallen.
  8. Aber: Diese Entwicklung (dieser Wandel) hängt von vielen Faktoren ab, inneren und äußeren: z.B. von der Aktivität und Ausstrahlungskraft der innerisraelischen Friedensbewegung, z.B. von den palästinensischen Kampfformen, aber auch von der weltweiten Solidarität.
  9. Es ist nicht falsch, diese Solidarität einfach und kurz als »Solidarität mit Palästina« zu bezeichnen. Genauer und weniger missverständlich wäre jedoch sie als Solidarität mit dem Widerstand gegen die Besatzung und damit sowohl mit dem Kampf der Palästinenser, als auch mit dem Kampf der israelischen Besatzungsgegner zu bezeichnen und zu begreifen.

Kräfte des Kampfes – Feinde oder Verbündete?

  1. Der westliche Mythos stellt den Konflikt im Nahen Osten als Kampf zwischen den Israelis und den Palästinensern dar. Wie die meisten Mythen hat er einen realen Kern. Es sind aber nicht »die« Israelis die Feinde der Palästinenser und »die« Palästinenser nicht die Feinde der Israelis. Die Gegner der Besatzung – ob israelisch oder palästinensisch – sind der Besatzung feind. Diese gemeinsame Feindschaft macht sie zu natürlichen Verbündeten. (Und die israelischen Gegner der Besatzung stehen den Palästinensern praktisch wie politisch viel näher als z.B. die abstinenten deutschen Linken, die ihre Abstinenz mit dem Verweis auf den Antisemitismus begründen.)
  2. Dies Bündnis zu fördern ist eine vordringliche Aufgabe, an der man sich übrigens auch aus der Ferne beteiligen kann. Es zu behindern und zu torpedieren ist unmittelbares Interesse der israelischen Rechten, der Siedler und Chauvinisten.

Mittel des Kampfes

  1. Die Mittel des Kampfes sollten auf das Kriterium des Zwecks hin untersucht werden: Was fördert und beschleunigt das Ende der Besatzung, was behindert und verzögert es?
  2. Zugleich sollte sich die Linke von der Vorstellung verabschieden, erklärte Gegnerschaft zur Besatzung, Solidarisierung mit den Palästinensern als Opfern der Besatzung stelle jeder palästinensischen Kampfform einen Persilschein aus.
  3. Nicht jedes Mittel der Palästinenser ist akzeptabel, nur weil die Palästinenser Unterdrückte sind. Ebenso wenig sind umgekehrt »die« Palästinenser Terroristen, nur weil Terrorismus unbestreitbar ein Element in diesem Kampf ist. Dies ist kein Plädoyer für Terrorismus, sondern für Differenzierung.
  4. Sich von Anschlägen auf die israelische Zivilbevölkerung zu distanzieren heißt nicht, sich vom legitimen Kampf gegen die Besatzung zu distanzieren. Im Gegenteil. Ebenso wenig bedeutet eine Verurteilung der Angriffe auf die palästinensische Zivilbevölkerung, das israelische Volk zu verurteilen oder den Staat Israel in Frage zu stellen. Im Gegenteil.
  5. Die richtige Kritik palästinensischer Selbstmordanschläge in Israel kann nicht dabei stehen bleiben, sie als grausam oder unmoralisch zu kennzeichnen. Vielmehr muss die Kritik herausstellen, dass sie der Überwindung der Besatzung abträglich ist, die falsche Botschaft an das Volk in Israel übermittelt. (Hierbei kann übrigens von Gruppe zu Gruppe unterschieden werden, ob diese Botschaft intendiert ist oder nicht. Viele Palästinenser interpretieren sie als Aufforderung, die besetzten Gebiete zu räumen. Dies ist jedoch nicht wesentlich.) Wesentlich ist, dass die Botschaft, die in Israel »ankommt«, lautet: „Wir wollen euch hier nicht; wir erkennen Israel nicht an.“ Diese Botschaft ist im doppelten Sinne falsch: Einerseits – als Botschaft –, weil sie der Demagogie der Siedler entspricht und von diesen weidlich ausgenutzt wird, um den Widerspruch zwischen der Besatzung und der Existenz Israels zu verwischen. Andererseits – als Wirkung –, weil sie eine falsche Einheit innerhalb Israels, einen Burgfrieden mit der Besatzung fördert.
  6. Der Terror durch die israelischen Luft- und Bodenangriffe auf die Bevölkerung der besetzten Gebiete ist insofern nicht die symmetrische Umkehrung der palästinensischen Terroranschläge, als er auf die Brechung des palästinensischen Widerstandes abzielt und damit Bestandteil der gewaltsamen Aufrechterhaltung der israelischen Besatzung ist und dieser dient.
  7. Auf palästinensischer Seite sind alle Mittel legitim, die das Ziel des Kampfes Israel und der Welt begreiflich machen und zu »einem Ziel« hinführen: dem Recht auf Selbstbestimmung, dem Ende der Besatzung.
  8. Methoden und Mittel, die eine andere Botschaft ausstrahlen oder von diesem Ziel weg oder auf einen Umweg führen, sind »unzweckmäßig«, falsch oder schlecht (pragmatisch, politisch und moralisch betrachtet).
  9. Auf verschiedenen Ebenen bestehen natürlich unterschiedliche Kampfbedingungen und damit notwendig andere Mittel…
  10. … in Palästina – z.B. Demonstrationen und Resolutionen, Streiks und aktiver und passiver Widerstand. Beim bewaffneten Kampf hingegen Unterscheidung: Aktionen gegen IDF und Siedler in der West Bank und Gaza – ja; gegen die Zivilbevölkerung in Israel – nein.
  11. … in Israel – Bekämpfung des Burgfriedens, Unversöhnlichkeit mit den Nutznießern und Protagonisten der Besatzung, innerisraelische Parteinahme für die Rechte der Palästinenser, etc. Also sozusagen die »klassischen« Aufgaben einer antirassistischen und antichauvinistischen, einer Antiannexions- und Antiokkupations-, einer antimilitaristischen und Antikriegsbewegung.
  12. … auf diplomatischer Ebene – »Land für Frieden« (entlang verbindlicher UN-Resolutionen und internationaler Verträge wie Oslo).
  13. … weltweite Linke – Unterstützung des Kampfes gegen Besatzung in allen seinen Formen und Druck auf die eigene Regierung zu diesem Zweck. Die konkrete Form unterscheidet sich jedoch, je nach Bedingungen, von Land zu Land.

Weltweite Solidarität

  1. Aufgabe und Pflicht der fortschrittlichen Menschen und Bewegungen in der Welt (in Deutschland) ist es daher – allgemein gesprochen –, zunächst einmal dieser Botschaft Gehör zu verschaffen und weiter, jede Maßnahme der eigenen Regierung auf diese Kriterien hin konkret zu untersuchen und dementsprechend Druck zu entfalten.
  2. Die grundsätzlichen Aufgaben, Ziele und Methoden des Kampfes leiten sich also zunächst nicht von den heimischen Bedingungen ab, sondern von der objektiven Lage des Konfliktes im Nahen Osten (und dann weltweit), und werden erst im zweiten Schritt auf die Bedingungen im eigenen Land angewandt. Konkret bedeutet dies z.B., dass erstarkender Antisemitismus in Deutschland die Linke nicht von ihrer Pflicht zur Solidarität enthebt, sie diesem jedoch bei der Anwendung Rechnung zu tragen hat.
  3. Die konkrete Form der Solidarität muss also in jedem Lande selbst bestimmt werden. Ihr Inhalt ist jedoch in der Ausgangslage im Nahen Osten objektiv festgelegt. Internationalismus bedeutet eben auch: Nicht Palästina und Israel haben sich nach der Welt zu richten, sondern die Welt (die weltweite Solidarität) hat sich nach dem tatsächlichen Konflikt zu richten.
  4. Und das wiederum heißt: Die deutsche Linke muss diesen Kampf zunächst einmal zur Kenntnis nehmen. Sie muss sich und andere darüber informieren. Sie muss den eigenen Elfenbeinturm verlassen und »genau hinschauen«, was im Nahen Osten vor sich geht.
  5. Sie muss den Mythos, dass Kritik an Israel »antisemitisch« sei (oder Antisemitismus Vorschub leiste), zurückweisen und statt dessen nachfragen: Kritik an welchem Israel? An dem der Siedler oder dem der Friedensaktivisten? Ist es denn ein Beitrag gegen Antisemitismus, der israelischen Friedensbewegung in den Rücken zu fallen, sie zu ignorieren oder ihr die Unterstützung zu verweigern?
  6. Dass die Palästinensische Autonomiebehörde bislang nicht genannt wurde, ist kein Zufall. Die Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand steht und fällt nämlich nicht mit der Haltung zu Arafat. Man kann und sollte Arafat kritisch sehen. Aber die Frage, wie man zu ihm steht, ist in diesem Zusammenhang völlig uninteressant. Das Existenz- und Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser ist nämlich ebenso wenig wie das Selbstbestimmungsrecht der Israelis, das Existenzrecht des Staates Israels, durch die Qualitäten seiner (jeweiligen) Regierung begründet.
  7. Gegen die Besatzung!, ist die Aufgabe weltweit. Besatzung ist kein stabiler Zustand. (Israel hat die Gebiete nie annektiert, sondern »muss« sie, illegal, besetzt halten, aus Angst vor einer arabischen Mehrheit.) Die Mär von der befriedeten, »aufgeklärten« Besatzung zerbrach bereits in der ersten Intifada. Die Frage ist also nicht: Wird die Besatzung fortdauern oder fallen?, sondern nur: Wann wird sie fallen? Ihr Ende ist historisch unabwendbar und »nur« eine Frage der Zeit. Aufgabe der Linken überall in der Welt ist daher, mitzuhelfen, dass diese Spanne verkürzt, das Leiden und Blutvergießen nicht unnötig verlängert wird.

Clemens Messerschmid ist Hydrogeologe. Er war von 1997 bis 2001 in einem Wasserver- und -entsorgungsprojekt der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) mit den Wasserwerken von Nablus und Ramallah tätig. Seit letztem Jahr arbeitet er in einem Wasserressourcen-Erkundungsprojekt der Palest. Water Authority und der University of Newcastle.
Die 49 Thesen sind erschienen in den Marxistischen Blättern Nr.3-2002. Wir danken der MB-Redaktion für die Zusammenarbeit.