Chancen einer transnationalen Zusammenarbeit?

Chancen einer transnationalen Zusammenarbeit?

Das Balkan Peace Team und andere Projekte der zivilen Konfliktbearbeitung

von Barbara Müller

Eine sich verdichtende Struktur von transnationaler Zusammenarbeit bei der Konfliktbearbeitung – was ist damit gemeint? Konkret geht es um Veränderungen von Beziehungen zwischen Friedensgruppen, um gemeinsame oder in Kooperation durchgeführte Projekte, um eine wachsende Anzahl von auswärtigen (meist westeuropäischen) und inländischen qualifizierten AktivistInnen der Friedensarbeit, deren Wege sich zunehmend kreuzen. Welches Potenzial steckt in dieser Struktur, mit welchen Entwicklungsproblemen kämpft sie und wie sieht sie eigentlich genauer aus? Eine Einschränkung sei hier gleich am Anfang gemacht: Bei dieser Momentaufnahme handelt es sich nur um die Spitze eines Eisbergs, die bei einer ad hoc-Recherche zu diesem Aufsatz bei verschiedenen Friedensprojekten sichtbar wurde.1 Waren die Erfahrungen des Balkan Peace Team der Ausgangspunkt zu diesem Artikel, so drängte sich doch sofort die Frage nach den inzwischen entstandenen Projekten anderer Träger auf.2 Dieser Bericht ist daher mehr ein Problemaufriss als die Darstellung gesicherter Erkenntnisse. Er möchte dazu anregen, diesen wichtigen neuen Bereich von qualifizierter internationaler Friedensarbeit verstärkt zu reflektieren und das in ihm steckende Potenzial zu nutzen

Das »Balkan Peace Team International« ist ein Koalitionsprojekt von elf Friedensorganisationen und -Netzwerken aus Europa und den USA. Es arbeitete seit 1994 mit einem bzw. zwei Teams in Kroatien und in Serbien/Kosovo. Das Kroatien-Team hat seine Arbeit Ende des Jahres 1999 eingestellt, als eine interne Evaluation und Rücksprachen mit den PartnerInnen zu dem Ergebnis führten, dass es für die vom Team angebotene Unterstützung keinen wesentlichen Bedarf mehr gab. Die Mission ist also beendet. Das Team in Serbien/Kosovo ist, nach einer Unterbrechung während der Kriegsmonate 1999, auf derzeit (August 2000) vier Freiwillige angewachsen und teilt seine Zeit zwischen Prishtina und einem kleinen Ort in Süd-Ost-Kosovo (Dragash) auf. In der Regel bestanden die recht kleinen Teams aus zwei bis drei Freiwilligen. Die anfängliche Mindest-Einsatzzeit von sechs Monaten hat sich auf ein bis zwei Jahre verlängert.

Die praktische Arbeit der Teams wird von einem breit formulierten Mandat eingerahmt, dessen Schwerpunkte als »Förderung von Dialog«, »Förderung der Zivilgesellschaft«, »gewaltfreie Konfliktbearbeitung«, »Förderung der Menschenrechte« u.ä. etikettiert sind. Wie die Teamarbeit konkret aussieht, entwickeln die Teammitglieder in den Diskussionen mit ihren lokalen PartnerInnen und mit den Mitgliedern des Koordinierungskomitees, das die Programmentwürfe der Teams billigen muss. In diesen Abstimmungsprozessen stehen immer wieder die Prinzipien des Projektes auf dem Prüfstand, die die Projektarbeit nicht unwesentlich steuern. Eines der wichtigsten ist, dass mit der eigenen Arbeit keine Abhängigkeiten geschaffen werden sollen und alles unterbleibt, was andere tun können. Ein anderer, wichtiger Grundsatz ist, durchaus Initiative zu ergreifen, aber dann neu entstehende Strukturen so bald wie möglich in die Verantwortung einheimischer PartnerInnen zu legen.

Zwischen 1994 und 1998 haben 18 Frauen und 19 Männer aus 11 Ländern die Arbeit in den Teams sehr individuell gestaltet. Der persönliche Faktor spielt eine ausschlaggebende Rolle für das, was im Team möglich ist oder auch nicht. So wird nachvollziehbar, wie viele subtile und offene, innere und äußere Faktoren zu dem Gesamtbild »Teamarbeit des Balkan Peace Team« beitragen. Es sind neben den individuellen Fähigkeiten und Vorlieben auch

  • die Zwänge eines finanziell eng begrenzten Projekts,
  • das von einem zurückhaltend agierenden Koordinierungskomitee gelenkt wird,
  • das sich zu den dramatischen äußeren Entwicklungen wie der gewaltsamen Rückeroberung der Krajina und Westslavoniens (in Kroatien) und zum Krieg im Kosovo verhalten musste und
  • das mit Erwartungen und Anforderungen seiner einheimischen Partnerorganisationen konfrontiert wurde, die gerne mehr direkte Unterstützung, mehr direkte Mitarbeit, mehr Eigeninitiative und eine eigenständigere Rolle gesehen hätten, als das Koordinierungskomitee seinen Freiwilligen zu gestatten bereit war.

Konfliktlinien in Hülle und Fülle also.

Das Balkan Peace Team hat die Gratwanderung unternommen, eigenständige Teams mit einem starken Partnerbezug zu verbinden. Konkret hieß dies, dass die Freiwilligen nicht in lokalen Organisationen mitarbeiten sollten, um die Unabhängigkeit nicht zu verlieren. Andererseits sollte das Team auf einen festgestellten Bedarf reagieren, Defizite ausgleichen, Unterstützung dort geben, wo einheimische AkteurInnen an ihre Grenzen stießen und wo die Fähigkeiten der Teammitglieder diese Grenzen überwinden helfen konnten. Den Bedarf zu erkunden gehörte somit zu den Kernaufgaben der praktischen Projektentwicklung der Teams.

Kriterien und Bewertungen von Friedensprojekten:
Das Leistungsprofil des BPT

Bei Friedensprojekten in Krisengebieten stellt sich sofort die Frage, welchen Beitrag sie denn zu welchem »Frieden« leisten? Beim Balkan Peace Team machte es die Vagheit von Zielen und Mandaten und das Fehlen von Konkretisierungen der Zielbereiche zunächst unmöglich, irgendwelche konkreten Beiträge zu bestimmen. Auch andere Projekte, wie die des Österreichischen Friedensdienstes, stehen vor diesem Problem einer recht allgemeinen und zu wenig konkretisierten Zieldefinition. Wichtig aber sind Fragen wie: Welche Art von Zivilgesellschaft soll in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien gefördert werden? Warum werden welche lokalen Gruppen zu PartnerInnen und welche nicht? Warum werden Schwerpunkte im Menschenrechtsbereich und nicht in der Frauenförderung gesetzt?

Für das Balkan Peace Team half schließlich eine Binnen- und eine Fremdbewertung. Die Einschätzung der Teammitglieder wurde gezielt mit der Frage nach ihren jeweils »besten« Aktivitäten eingeholt. Eine solche Selbstbewertung basiert auf der intimen Kenntnis der eigenen Aktionszyklen, die oft erst nachträglich in ihren verschiedenen Dimensionen sichtbar werden.3 Das Ergebnis ist in Tabelle 1 zusammengestellt.

1994 – Schwerpunktmäßig: Begleitung lokaler AktivistInnen zu Hausausweisungen
1995 – Beobachtung der Menschenrechtssituation in den wiedereroberten Gebieten Westslawoniens und der Krajina (Kroatien)
– Vernetzung von Gruppen (Kroatien)
– Einzelfall: Ermutigung für Aktivistin und die von ihr gegründete Gruppe (Kosovo)
1996 – Einzelfall: Veröffentlichung über Übergriff gegen einen Kriegsdienstverweigerer,, internationale Aufmerksamkeit (Kroatien)
1997 – Ermutigung für einheimische TeilnehmerInnen internationaler Dialogseminare (Kosovo)
– Anbahnung und Vorbereitung von direkten Gesprächen zwischen verschiedenen serbischen und kosovo-albanischen Gruppen (Kosovo)
– Berichterstattung über den Rückkehrprozeß in der Krajina (Kroatien)
Tabelle 1: Die besten Aktivitäten des BPT aus der Binnensicht

Der zweite Ansatzpunkt waren Einschätzungen von PartnerInnen im Land, die in den Interviews von sich aus einzelne Aktivitäten ansprachen. Für die Arbeit des Teams in Serbien/Kosovo ließ sich eine solche Analyse nicht durchführen, weil hier zu wenig AktivistInnen befragt werden konnten. Die einheimischen AktivistInnen beschrieben hauptsächlich Rollen, die sie bei Teammitgliedern hilfreich fanden oder erzählten Episoden gemeinsamer Aktivitäten.

Nach diesen Schilderungen stärkte das Team in Kroatien die internen Partner, vor allem Menschenrechtsgruppen, direkt, indem es

  • deren eigene Kräfte verstärkte (z.B. durch gemeinsame Präsenz bei Hausausweisungen)
  • sie durch Nähe ermutigte (gemeinsames Erleben und Erleiden kritischer Situationen, auch Ohnmachtserfahrungen),
  • als fremde Kraft Brücken bilden konnte (zu den internationalen Organisationen, zu einheimischen Behörden, zu einer internationaleren Öffentlichkeit).

Das Team stärkte die Partner indirekt, indem es

  • relevante Informationen sammelte, aufbereitete und damit sowohl für interne, aber auch potentiell für auswärtige AkteurInnen eine Grundvoraussetzung für eine kompetente Konfliktbearbeitung lieferte,
  • weitere äußere Kräfte zur Konfliktbearbeitung mobilisierte, sowohl im Land selber auf der Ebene von Basisorganisationen bis Botschaften und internationalen Organisationen, wie auch auf der Ebene internationaler Netzwerke von NGOs.

Strukturelle Problembereiche bei Friedensprojekten

Lässt sich so der Platz des Balkan Peace Team in der Friedensarbeit sowohl im Einsatzgebiet in Kroatien als auch in den internationalen Dimensionen einigermaßen erfassen, steht derartiges für die meisten anderen Friedensprojekte noch aus. Damit lässt sich aber auch weiterhin die Frage nicht beantworten, was denn die strategischen Orientierungen solcher Projekte sind, wie sie sich vielleicht gegenseitig in ihren Wirkungen verstärken können, wie die Partnerorganisationen gestärkt werden können und wie eine Infrastruktur entstehen kann, die eine zivile Konfliktbearbeitung auf Dauer in der Region verankert? Neben solchen Fragen, die sich auf die Wirkung im Konfliktfeld beziehen, muß auch in den Blick genommen werden, wie denn solche Projekte befähigt werden, ihre Rolle zu spielen? Für das Balkan Peace Team waren insbesondere die folgenden Bereiche kritisch, die Begrenzungen, negative Erfahrungen, Reibungsflächen beinhalteten, für die es keine einfachen Lösungen oder keine dauerhaft tragfähigen gab:

  • Finanzierung
  • Programmentwicklung im Einsatzgebiet
  • Verhältnis zu den lokalen Partnern
  • Begleitung /Betreuung der Freiwilligen

Vielfalt in der internationalen Zusammenarbeit und in der Entwicklung von Friedensprojekten

Eine erste kurze Rundfrage bei anderen Projektträgern bestätigte die Relevanz dieser Bereiche auch für sie und die Notwendigkeit einer gemeinsamen Reflexion der unterschiedlichen Erfahrungen. Das Balkan Peace Team ist diese Bereiche auf eine spezifische Art und Weise angegangen – andere Projekte haben dieselben Fragen völlig anders gelöst. Auf welche Vielfalt muss man sich einstellen?

  • Die größte praktische Erfahrung mit Friedensprojekten im ehemaligen Jugoslawien und der Begleitung seiner Freiwilligen hat sicherlich der Österreichische Friedensdienst (seit 1993 etwa 80 FriedensdienerInnen in 17 verschiedenen Projekten). Von den Aufgabenstellungen mischen sich hier Projekte, in denen das soziale Lernen der Freiwilligen im Vordergrund steht, mit stärker konfliktbezogenen Projekten, die eine spezielle Expertise erfordern, und mit Projekten mit einem spezialisierten berufsbezogenen Bedarf.
  • Für Pax Christi war die seit 1996 erstmals angebotene Möglichkeit einer mehrmonatigen Qualifizierung in Friedensarbeit ein starker Anstoß, in die Projektarbeit in Bosnien mit »eigenem Personal« einzusteigen und gleichzeitig die Arbeit in Kroatien nach der Hilfe für Flüchtlingslager in Dalmatien in Projekte mit aktuellen Fragestellungen zu verändern. Angebunden an unterschiedliche Pax Christi-Organisationsebenen, kann man sechs verschiedene Projekte in Kroatien, Bosnien und Serbien/Kosovo ausmachen, in denen mittlerweile seit 1996 rund 20 AktivistInnen, einheimische und auswärtige, tätig waren und sind.4
  • Auch Ohne Rüstung Leben hat sich durch die Finanzierung von acht TeilnehmerInnen an den Ausbildungsgängen immer weiter in die praktische Friedensarbeit im ehemaligen Jugoslawien hineingearbeitet, aber weniger, indem es eigene Projekte entwickelt hat, als vielmehr dadurch, dass es den drei auswärtigen und fünf einheimischen AktivistInnen die Ausbildung ermöglicht hat und die Weiterarbeit in ihren bisherigen Projekten bzw. beim Aufbau von neuen Projekten unterstützt.
  • In ähnlicher Weise unterstützt die Kurve Wustrow ein einheimisches Projekt in Sarajewo durch die Qualifizierung des lokalen Mitarbeiters und die Finanzierung seiner Arbeit (während sie seit November 1999 in der Türkei ein eigenes Projekt mit zwei Freiwilligen betreibt).
  • Der Oekumenische Dienst hat seinen Schwerpunkt in einem eigenen Ausbildungsgang, der nochmals andere Akzente setzt als das staatlich geförderte Programm. Von den ca. 100 »AbsolventInnen« der verschiedenen Kurse seit 1996 sind einige im ehemaligen Jugoslawien tätig, dort in ganz unterschiedlichen lokalen oder internationalen Projekten.5 Indem der OeD fachliche und persönliche Begleitung und Betreuung bei der Arbeit anbietet, ist er mit der Konfliktarbeit in den unterschiedlichen Ländern konfrontiert. BetreuerInnen mit der erforderlichen fachlichen Kompetenz lassen sich nicht in dem Maße finden, wie sie von den Ausgebildeten nachgefragt werden.
  • Ein eigenes Projekt hat sich für den Friedenskreis Halle aus seinem Einstieg in die Flüchtlingsbetreuung im Jahr 1993 entwickelt. Das zentrale Anliegen ist ein Jugendzentrum in Jajce, das mit Spendenaktionen in Deutschland, mit Workcamps in Bosnien und seit Ende 1997 mit Freiwilligen in Jajce/Bosnien vorangetrieben wird, bis es in einheimische Hände übergeben werden kann.6
  • Seit Frühjahr 2000 ist das Forum ZFD mit drei Fachkräften in zwei eigenen Projekten in Kosovo und Serbien tätig. Mit Pax Christi und Ohne Rüstung Leben ist im »Südbalkanprojekt« erstmalig eine intensive Kooperation zwischen Organisationen entstanden, die bei der Betreuung einiger Projekte auch den Oekumenischen Dienst einschließt. Für den Herbst ist erstmalig ein regionales Projekttreffen vorgesehen.

Was auf den ersten Blick aussieht wie Wildwuchs, folgt möglicherweise einer gewissen Regelmäßigkeit. Auffallend ist die Kontakttreue der Projekte und der sich entwickelnden Kooperationen. Bei manchen Projekten reichen die persönlichen Erstkontakte bis in den Anfang der 90er Jahre; der Aufruf der kroatischen Friedensorganisation Suncokret (Sonnenblume) in die europäischen eMail-Netze und Friedensorganisationen hat bleibende Spuren hinterlassen. Allein das Engagement von Pax Christi und des Friedenskreis Halle gehen auf diese Initiative zurück. Von den angefragten Projekten ist keines eine »Entsendung« in einen unbekannten Kontext. Vielmehr werden entweder Einheimische qualifiziert und ihre Weiterarbeit in ihrem Heimatprojekt finanziell unterstützt oder auswärtige Freiwillige entwickeln aus einem Umfeld von einheimischen Organisationen, auf die sie sich beziehen, und aufgrund spezieller Bedarfserhebungen ihr aktuelles Profil. Schließlich gibt es auch eine Reihe von auswärtigen ExpertInnen, die inzwischen seit Jahren in unterschiedlichen Projekten für unterschiedliche Organisationen in der Region arbeiten und mit ihrer Person für ihr Engagement stehen und denen die Qualifizierung und Projektarbeit finanziert werden.

Was könnte daraus werden, wenn diese gesammelte Expertise gezielt zusammengeführt würde? Welche Forderungen an Konfliktbearbeitung – gerade auch für deutsche Politik – würden aus einer solchen Perspektive formuliert werden? Wie würden Programme, wie der Stabilitätspakt für Südosteuropa aus einer solchen Perspektive bewertet werden, aus der man einschätzen kann, was von den hochfliegenden Plänen wirklich »unten« ankommt? Welche Anfragen an das Verhältnis »Europas« zum »Balkan« würden sich aus einer Perspektive stellen, die der einheimischen Sichtweise einen Platz und eine Stimme geben würde? Was könnte für die Konfliktbearbeitung in Sachen Rassismus und Nationalismus in Deutschland aus den Erfahrungen der Balkanländer gelernt werden? Noch erscheint Friedensarbeit weit entfernt von wirklicher Internationalität, einem gleichrangigen Geben und Nehmen. Aber in der Struktur von Kooperation und Projektentwicklungen zeichnen sich Ansätze ab, die auf solche Möglichkeiten hindeuten.

Was aber ist notwendig an interner Struktur und Strukturbildung in den vier genannten Bereichen, damit solche Projekte sich überhaupt angemessen und flexibel entwickeln und durchhalten lassen? Ein Einstieg in einen Austausch über diese Themen scheint überfällig.

Anmerkungen

1) Dieser Artikel basiert auf der Begleitstudie zum Balkan Peace Team, die die Autorin zusammen mit Christian Büttner unter der Projektleitung von Prof. Dr. Peter R. Gleichmann im Rahmen des Projektverbundes Friedens- und Konfliktforschung Niedersachsen von März 1997 bis Oktober 1998 durchführte.

2) Konkret wurden abgefragt: Eirene International, Forum ZFD, Friedenskreis Halle, Kurve Wustrow, Österreichischer Friedensdienst, Ohne Rüstung Leben, Pax Christi, Peace Brigades International. Der Blick bleibt hier auch weitestgehend eingeengt auf Projekte aus Deutschland. Er soll auch nur als Problemaufriss dienen. Gesicherte Erkenntnisse müssten den europäisch-nordamerikanischen Kontext einerseits und den der einheimischen Projekte in der Region andererseits einfangen.

3) Lederach, John Paul, Sustainable Reconciliation in Divided Societies, Washington 1997, 144.

4) Banja Luka, Senica und Begov Han als Bosnien-Projekte der Deutschen Sektion, Benkovac als Kroatienprojekt von 6 Bistumsstellen und der Luxemburgischen Sektion, die Unterstützung für ein Aktivistenehepaar in Zagreb als Projekt des Bistums Freiburg und die Qualifizierung und Finanzierung einer serbischen Aktivistin in Prizren als Projekt von Pax Christi Rottenburg-Stuttgart.

5) Die Mehrzahl der AbsolventInnen der Qualifizierungskurse des Oekumenischen Dienstes arbeitet im Inland, ca. 10-15 in Auslandsprojekten.

6) Von humanitärer Hilfe zum zivilen Friedensdienst. FK-spezial, herausgegeben vom Friedenskreis Halle, Halle 1999.

Dr. Barbara Müller, Mitarbeiterin im Institut für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung, Sekretariat »Plattform Zivile Konfliktbearbeitung«

Unschätzbare oder überschätzte Akteure?

Unschätzbare oder überschätzte Akteure?

Möglichkeiten und Grenzen von NGOs bei der Prävention und Bearbeitung gewaltförmiger Konflikte

von Lutz Schrader

Gewissermaßen als Kontrapunkt zu den optimistischen und mitunter auch schon einmal euphorischen Zuschreibungen an Entwicklungschancen und Handlungsmöglichkeiten zivilgesellschaftlicher AkteurInnen bei der Vorbeugung und Bearbeitung gewaltförmiger Konflikte erschien in der zweiten Hälfte der 90er Jahre eine Reihe von Studien und Veröffentlichungen mit einem eher nachdenklichen oder sogar ausgesprochen kritischen Tenor. Dies geschah in etwa zeitgleich mit der Wende hin zu mehr Nachdenklichkeit und differenzierteren Urteilen auch in anderen Bereichen der NGO-Forschung. Nun war nicht mehr überschwenglich von einem »global shift« die Rede, von der angeblich zu beobachtenden weltweiten Machtverschiebung von den Staaten weg hin zu den Nichtregierungsorganisationen (Mathews 1997). Den neuen sozialen Bewegungen nahestehende AktivistInnen, die an den Aufstieg zivilgesellschaftlicher AkteurInnen die Hoffnung auf eine durchschlagskräftige emanzipatorische Politik geknüpft hatten, zeigten sich enttäuscht und machten ihrem Frust mit bissigen Abrechnungen Luft.1 In den Sozialwissenschaften kehrte mit der systematischen Erforschung des Phänomens »Nichtregierungsorganisation« eine nüchternere Betrachtung ein (vgl. z.B. Weiss/Gordenker 1996; Altvater et al. 1997; Brand 2000).
Auch auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit und der Konfliktbearbeitung gibt es inzwischen einige Beispiele für eine tiefer lotende Analyse des NGO-Handelns (Anderson 1999; Sørbø/Macrae/Wohlgemuth 1997). Insbesondere die Studie von Mary Anderson über die friedenspolitischen Implikationen der Entwicklungszusammenarbeit setzt Maßstäbe. Sie bleibt nicht bei der Aufrechnung von Defiziten stehen. Nach einer detaillierten Untersuchung nicht-intendierter Folge- und Nebenwirkungen zivilgesellschaftlicher Entwicklungszusammenarbeit zeigt sie vielmehr an mehreren Fallbeispielen auf, welche Wege es gibt, Fehler zu vermeiden und untaugliche Konzepte zu korrigieren. Sie widersteht – im Unterschied zu manch anderen – der Versuchung, das Kind mit dem Bade auszuschütten und weist den Weg zu einer angemesseneren Dosierung und Qualifizierung des zivilgesellschaftlichen Engagements in der Friedens- und Entwicklungszusammenarbeit.

Anders Mark Duffield; er ist auf Provokation aus. Nachdem der Entwicklungshilfe- und NGO-Experte aus Birmingham 1997 vom norwegischen Chr. Michelsen Institut im Rahmen der Evaluierung von International Alert um eine Zuarbeit zu Fragen der Evaluierung von NGO-Handeln bei der Konfliktregulierung gebeten worden war, zerbrach er sich nicht so sehr den Kopf über Evaluierungsmodelle. Statt dessen nutzte er die Gelegenheit, um einige grundsätzlichere und streitbare Thesen zu den Prämissen, zum konzeptionellen Selbstverständnis und zur Reichweite der Friedens- und Konfliktarbeit von NGOs zu formulieren (Duffield 1997). Die durchaus bedenkenswerten Überlegungen fielen so kritisch aus, dass Duffield von einigen Seiten »NGO-bashing« vorgeworfen wurde. In jedem Fall brachten seine Überlegungen jedoch eine produktive Diskussion innerhalb der auf Konfliktprävention und -bearbeitung spezialisierten NGO-Forschung in Gang. Dies ist Grund genug, seine Argumente noch einmal Revue passieren zu lassen, um sie dann in einem zweiten Schritt an konkreten Beispielen des Engagements von NGOs in gewaltförmigen Konflikten zu überprüfen und schließlich in einer resümierenden Bilanz noch einmal zu diskutieren.

Die Kritik: Sind NGOs Agenturen neoliberaler Strukturanpassung?

Mark Duffield sieht einen engen Zusammenhang zwischen dem entwicklungspolitischen Paradigmenwechsel hin zum »human development« und dem rapiden Bedeutungsgewinn der Konfliktprävention und -bearbeitung in den Ländern des Südens und des Ostens. Die Friedens- und Konfliktarbeit, in die immer mehr auch NGOs involviert sind, charakterisiert er als eine »extreme Form« dieses neoliberalen Paradigmas. Analog zur Entwicklungspolitik, die nicht mehr vornehmlich darauf gerichtet sei, Ungleichheiten durch Umverteilung, Präferenzmechanismen, Infrastrukturverbesserungen und Veränderungen der Weltmarktstrukturen auszugleichen, ziele sie lediglich darauf ab, den betroffenen Bevölkerungen dabei zu helfen, sich an die veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen »anzupassen«. Ihrem Anspruch nach sei Friedens- und Konfliktarbeit soziales Engineering in großem Maßstab. Dabei werde allerdings weitgehend ignoriert, daß die Beeinflussbarkeit komplexer sozialer Prozesse bzw. ganzer Gesellschaften in den Sozialwissenschaften nach wie vor umstritten ist.2 Daß durch das Training einzelner Gruppen gesellschaftliche Instabilität und tief verwurzelte Feindseligkeit gemildert werden könne, sei für viele PraktikerInnen in der Konfliktbearbeitung eher „ein Glaubensakt als eine bewiesene Gewissheit“ (Duffield 1997: 81).

Duffields Argumentation läuft also auf die Behauptung hinaus, dass zivilgesellschaftliche AkteurInnen in der Entwicklungszusammenarbeit und Konfliktbearbeitung entgegen ihrem Selbstverständnis keine Gegenkraft zum neoliberalen Mainstream bilden und in vielerlei Hinsicht und nicht selten an exponierter Stelle zur Umsetzung der westlichen Hegemonie beitragen. Das wird durch eine Auswahl wichtiger Kritikpunkte belegt, die im Folgenden in sechs Thesen zusammengefaßt sind:

  1. Der Rückzug des Staates aus der Entwicklungszusammenarbeit und Konfliktbearbeitung, von dem NGOs in besonderer Weise profitieren, birgt erhebliche Risiken. Die Beauftragung von NGOs ist „der billigste Weg für Geldgeber, den Anschein globaler Interdependenz aufrechtzuerhalten“ (vgl.: 99). Mit der Umwandlung der Konfliktbearbeitung in ein »kommerzielles Produkt« entsteht zugleich die Gefahr, dass sich NGOs im Kampf um Marktanteile zunehmend marktkonform verhalten, weil „die Hilfsindustrie das öffentliche Eingeständnis von Misserfolg oder Selbstzweifel nicht honoriert“ (ebd.). In dem Maße, wie Konfliktbearbeitung zu einer »Wachstumsindustrie« wird, erhöht sich die Abhängigkeit der zivilgesellschaftlichen AkteurInnen von den GeldgeberInnen und die Konkurrenz um die knappen Mittel.
  2. Im Gefolge des neoliberalen Perspektivwechsels wird die Schuld für Unterentwicklung und Instabilität hauptsächlich auf das interne Versagen der betroffenen Länder des Südens bzw. Ostens zurückgeführt (ebd.: 83). Nach dem Niedergang der alternativen politischen Projekte (Dritte-Welt-Ideologie und Sozialismus) bildet das hegemoniale liberaldemokratische Modell des westlichen Kapitalismus die Orientierung für die innere Stabilisierung und Transformation. Beinahe zwangsläufig wird davon das Recht auf Einmischung in innere Krisen für den Fall abgeleitet, dass negative Folgen für andere Staaten, die internationale Sicherheit und die (interne) Menschenrechtslage eintreten. „Gegenwärtig ist die Fähigkeit des Westens, interne politische Prozesse in Krisenregionen unmittelbar zu verändern, größer als zu jeder Zeit seit der kolonialen Periode“ (ebd.: 98). Diese Einflussnahme wäre ohne den Beitrag von NGOs nicht möglich.
  3. Die der Konfliktbearbeitung zugrundeliegende »Mono-Theorie« des Aufbaus einer »pluralistischen Zivilgesellschaft« ist das politische Äquivalent und die Ergänzung der (neoliberalen) Strukturanpassung. Die undifferenzierte Förderung der Zivilgesellschaften ignoriert nicht nur weitgehend die konkreten Bedingungen, Institutionen und die Geschichte im jeweiligen Krisengebiet, sondern geht vor allem zu Lasten der unverzichtbaren stabilisierenden Rolle der Staaten. In unzulässiger Weise verkürzt wird unter Zivilgesellschaft die Gesamtheit der NGOs, speziell der lokalen NGOs, verstanden (ebd.: 85/86). Ebenso wie der Demokratisierung wird der (nationalen und transnationalen) Zivilgesellschaft eine Schlüsselrolle bei der Konfliktregelung zugewiesen. Zivilgesellschaftliche Kräfte werden als stabilisierende Kraft, als Quelle innerer Sicherheit angesehen. Damit wandelt sich der Begriff der »internationalen Sicherheit« von einer zwischenstaatlichen zu einer innerstaatlichen Angelegenheit.
  4. Von den in der Konfliktbearbeitung engagierten NGOs wird in paternalistischer Weise das westliche Modell transportiert. Auf der Grundlage eines sozio-psychologischen Konfliktmodells wird die Ursache für Konflikte primär in Meinungsverschiedenheiten und im Zusammenbruch von Kommunikation zwischen Individuen und Gruppen gesehen; Konflikte erscheinen als etwas Irrationales. Politische Gewalt wird als ein relativ begrenztes, lokalisierbares und mithin behandelbares Phänomen wahrgenommen. Sozio-psychologische Konfliktmodelle lassen sich von der Prämisse leiten, dass der natürliche Zustand der Welt in einer »funktionalen Harmonie« besteht, d.h. in „einer optimalen Balance von Ressourcen und Macht zwischen konkurrierenden Gruppen“ (ebd.: 90/91). Ziel der aus der Wirtschaft abgeleiteten Konzepte ist die Herstellung von Konformität und Einverständnis. Der zutreffende Begriff für diese Art der Konfliktarbeit ist nicht Training, sondern Indoktrination (ebd.: 97).
  5. In innerstaatlichen Konflikten engagierte zivilgesellschaftliche Organisationen stehen immer in der Gefahr, in interne Prozesse sozialen und politischen Wandels einzugreifen. Deshalb bedarf es eines „ethischen und politischen Rahmens, der es erlaubt, zwischen gerechten und ungerechten Forderungen“ von Konfliktparteien zu unterscheiden. Wenn der Eingriff nicht nur auf die Eindämmung grober Gewalt, sondern auf die Vorbeugung einer Krise zielt, ist es kaum möglich, zwischen akzeptablem und inakzeptablem Wandel zu unterscheiden. Ohne einen klaren ethischen und politischen Rahmen kann Konfliktbearbeitung ungewollt dazu beitragen, dringliche soziale Veränderungen zu blockieren; sie würde dann reaktionär (ebd.: 98). Das Eingeständnis, dass nicht »jeder« Konflikt »jederzeit« reguliert werden kann und muss, würde zwangsläufig die Aufgabe des sozio-psychologischen Konfliktmodells nach sich ziehen.
  6. Die wirksame Bearbeitung von Konflikten setzt ein vertieftes Verständnis für deren Ursachen voraus. Gewaltförmige Konflikte sind weder irrational, noch lassen sie sich mechanisch allein auf Mangelsituationen (Unterentwicklung und unzureichend Demokratie) zurückführen. Innerstaatliche Krieg3 sind vielmehr Ausdruck der Herausbildung „wesentlich neuer Typen sozialer Formation, die an das Überleben an der Grenze der globalen Ökonomie angepasst sind“ (ebd.: 100). In den Händen der Eliten sind z.B. Parallelökonomien ein Mittel, den Mangel zu kontrollieren und zu managen (ebd. 103). Die wichtigste Ressourcenbasis ist dabei die Zivilbevölkerung, „die entweder in speziellen Gebieten eingesperrt, ausgeplündert oder gesäubert wird“ (S. 103). Diese Einschätzung hat mindestens zwei Konsequenzen: Zum einen muss jede Konfliktintervention die gesamte gesellschaftliche Konstellation in den Blick nehmen. Zum anderen sind nicht alle in einen Krieg involvierten Gruppen und Individuen Opfer; GewinnerInnen und VerliererInnen, Opfer und TäterInnen lassen sich wohl unterscheiden.

Duffield entfaltet ein ganzes Forschungsprogramm. Auf alle Fragen lässt sich im Rahmen dieses kurzen Aufsatzes gar nicht eingehen. Auch die dem Autor zugänglichen Einzelstudien decken längst nicht die ganze Breite der angesprochenen Themen ab. Es kann nur ein erster Versuch gemacht werden. Dieser wird sich sowohl auf ausgewählte empirische Untersuchungen stützen als auch eine bereits vorliegende Auseinandersetzung mit Duffields Thesen zu Rate ziehen (vgl. Ropers 1998). Doch zunächst zur Empirie.

Die Probe aufs Exempel: Das Engagement von International Alert in Sierra Leone und Burundi

Es liegt nahe, die kritischen Einwände und Erwägungen an konkreten Fällen zivilgesellschaftlichen Engagements in Krisensituationen zu überprüfen. Dies soll im folgenden an den im o.g. Gutachten des Chr. Michelsen Instituts über International Alert (IA) dargestellten und analysierten Beispielen geschehen, für das Mark Duffield seine kritischen Thesen verfasst hat. Darin werden in drei Fallstudien das Konzept und die Praxis der IA-Interventionen in Sri Lanka, Burundi und Sierra Leone untersucht. Interessanterweise haben es die GutachterInnen ihrerseits unterlassen, die allgemeineren Überlegungen von Duffield mit ihren konkreten Befunden aus den Krisengebieten zu konfrontieren. Für unsere Zwecke sind die Einschätzungen zu den Interventionen von International Alert in Sierra Leone und Burundi besonders aussagekräftig, wobei erstere eher für eine kritikwürdige Aktion und letztere für einen Erfolg steht.

Als International Alert 1995 seine Tätigkeit in Sierra Leone aufnahm, legte die Organisation dafür vier Ziele fest: Förderung von Friedensverhandlungen, Unterstützung einer nationalen Friedensallianz, Aufbau einer internationalen Unterstützungsgruppe sowie Hilfe beim Wiederaufbau nach der Beendigung des Konflikts. Als Methode wurde in dem Konzeptpapier ausdrücklich ein multi-track-Ansatz ausgewiesen (ebd.: 57). Dies klingt nach einem schlüssigen Konzept. Doch tat sich mehr und mehr eine Kluft zwischen den ursprünglichen Zielen und dem praktischen Vorgehen auf.

Die AktivistInnen von International Alert konzentrierten sich zunächst darauf, Voraussetzungen für das Zustandekommen von Verhandlungen zwischen der Rebellenbewegung Revolutionary United Front (RUF) und der Regierung zu schaffen. Zu diesem Zweck gingen sie im wahrsten Sinne des Wortes in den Dschungel, um die Kämpfer und Führer der RUF aufzuspüren. Mit dem Ziel, die Unausgewogenheit zwischen den Konfliktparteien in bezug auf Status, Kontakte und Handlungsfähigkeit auszugleichen, bemühte sie sich um die Anbahnung der Kommunikation zwischen der Rebellenbewegung einerseits und der Regierung, internationalen Organisationen und anderen NGOs andererseits. Dabei unterliefen der Organisation jedoch zahlreiche Fehler, die ihr dann auch von den GutachterInnen angekreidet wurden.3

Durch die EvaluatorInnen wird damit in diesem konkreten Fall ein nicht unbeträchtlicher Teil der Kritikpunkte Duffields bestätigt. Besonders wurde von ihnen beanstandet, dass sich International Alert in den Konflikt eingeschaltet hat, ohne ausreichend mit den Ursachen, der Dynamik und den AkteurInnen des Konflikts vertraut gewesen zu sein. Wie im Gutachten angemerkt wurde, hat IA zu keiner Zeit ein substanzielles Dokument vorgelegt, in dem der Krieg explizit analysiert wird (ebd.: 195). Mehr noch: IA setzte sich über die abweichenden Bewertungen anderer AkteurInnen hinweg, die einer Aufwertung der RUF ausgesprochen kritisch gegenüberstanden. Die Haltung von IA gegenüber der RUF wurde zunehmend als parteilich wahrgenommen. Die Kommunikation mit anderen Organisationen wurde vernachlässigt und das Gebot der Transparenz und Selbstreflexivität weitgehend aufgegeben. So hat IA andere Organisationen nicht über den Inhalt der Gespräche mit der RUF informiert. All das sind Anzeichen dafür, dass der anfänglich proklamierte multi-track-Ansatz fast völlig durch die einseitige Unterstützung hochrangiger Verhandlungen zwischen Rebellen und Regierung verdrängt wurde.

In ihrem Streben nach einem Erfolg setzten sich die IA-Verantwortlichen über „Schwierigkeiten und potenziellen Dilemmata“ hinweg, die sich aus Verhandlungen mit „einer Bewegung ergeben können, der es im Land an Unterstützung fehlte und die sich erheblicher Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hatte“ (ebd.: 196). Sie ließen sich von der Einschätzung leiten, dass die Ursache des Konflikts in einem fundamentalen Mangel an Kommunikation zwischen beiden Parteien zu suchen sei. Die IA-StrategInnen übersahen die „starken Interessen auf beiden Seiten“, die für eine Fortsetzung des Konfliktes sprachen. Gerade in Sierra Leone war die „Kontrolle wertvoller Exportressourcen und von Beutegut ein Hauptfaktor für den Kriegsverlauf“ (ebd.). Doch am schwersten wiegt wohl, dass IA mit seiner Intervention nicht nur die Verhinderung von Gewalt und den Schutz der Zivilbevölkerung im Auge hatte, sondern durch die Aufwertung der RUF zu einer legitimen Bewegung erheblichen Einfluss auf den Verlauf des Konflikt selbst genommen hat (ebd.: 197).

Dass ein und dieselbe Organisation ganz unterschiedliche Vorgehensweisen wählen kann, zeigt das Beispiel des erfolgreichen Engagements von International Alert in Burundi. Hier scheint keine einzige der Beobachtungen und Vorwürfe Duffields zuzutreffen. Viel hängt offenbar von den Verantwortlichen vor Ort und deren Einstellung ab. Das aus nur drei Personen bestehende Team, das seit 1995 in Burundi präsent ist, setzte von Anfang an auf Abstimmung und Kooperation. Wichtigster Ansprechpartner war der Sondervertreter des UN-Generalsekretärs, Ould Abdallah. Das Ziel des Engagements bestand insbesondere darin, eine weitere Eskalation des Konflikts zu vermeiden und eine gerechte und friedliche Lösung zu befördern.

Gewissermaßen als Einstieg folgte IA der Anregung von Abdallah, das Prestige der Organisation in der internationalen Szene zu nutzen, um die Ausarbeitung einer gemeinsamen Agenda der interessierten Parteien – GeldgeberInnen, NGOs und burundische Behörden – zu koordinieren. Auf dem sogenannten Burundi Colloquium, das im Februar 1995 in London zusammentrat, vereinbarten rund 80 TeilnehmerInnen ein Aktionsprogramm. Im April 1995 startete IA dann seine eigene Arbeit. Im Mittelpunkt standen der Informationsaustausch und die Advocacy-Arbeit, die Organisation von Studienreisen nach Südafrika, die Anbahnung von Kontakten zur nationalen Elite (Compagnie des Apôtres de la Paix – CAP), die Unterstützung der Friedensarbeit der Burundischen Frauenbewegung sowie begrenzte Projekte zur Förderung der Friedenserziehung an den Schulen und die Unterstützung für ein Friedensradio (Sørbø/Macrae/Wohlgemuth 1997: 51ff.).

Abgesehen von einer kritischen Anmerkung in Bezug auf die Überschätzung möglicher Effekte von Elitenkontakten durch International Alert fällt der Burundi betreffende Teil des Gutachtens des Chr. Michelsen Instituts durchweg positiv aus. IA wird bescheinigt, sich mit Erfolg als eine kleine und neutrale NGO etabliert zu haben. Als besonders nützlich erwies sich dafür die Zusammenarbeit mit anderen PartnerInnen und insbesondere mit dem Sondervertreter des UN-Generalsekretärs. Achtung und Akzeptanz bei allen wichtigen AkteurInnen auf der burundischen politischen Bühne sicherten sich die IA-VertreterInnen hauptsächlich dadurch, dass sie bereit waren zuzuhören und zu lernen (ebd.: x). Auch die durch das IA-Büro in Burundi angefertigten Analysen über die politische Entwicklung im Land fanden für ihre Qualität und Ausgewogenheit bei den Gutachtern Wertschätzung. Anerkennend wurde ebenfalls vermerkt, dass ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen den Analysen und den Aktivitäten der Organisation bestanden habe (ebd.).

Der Bericht über die Aktivitäten von International Alert in Burundi liest sich über weite Strecken wie die in die Praxis kreativer Friedens- und Konfliktarbeit umgesetzten Schlussfolgerungen aus den kritischen Anmerkungen Mark Duffields:

  • Im Wissen darum, dass eine Konfliktregelung nicht als schnelle Patentlösung zu haben ist, wurde ein prozessorientiertes Vorgehen gewählt.
  • Als Unterpfand für den Erfolg wurde die Fähigkeit zu Selbstkritik, Kooperation und Partnerschaft mit anderen AkteurInnen erkannt und bewusst genutzt.
  • Durch die Organisation von Studienreisen nach Südafrika wurden nicht-westliche Erfahrungen erfolgreicher Konfliktbearbeitung vermittelt und propagiert.
  • Im Rahmen der Aktivitäten von IA wurden sowohl Kontakte zu VertreterInnen der politischen Elite als auch zur Zivilgesellschaft (v.a. Frauen) gefördert.
  • Die IA-VertreterInnen gingen nicht mit fertigen Antworten und Konzepten nach Burundi, sondern setzten ganz bewusst darauf, sich über ständiges Zuhören und Lernen die Hintergründe des Konflikts zu erschließen.
  • Friedens- und Konfliktarbeit wurde über konkrete Schritte vor Ort geleistet (z.B. Advocacy, Training, Medien, Schule).
  • IA verstand sich mehr als Katalysator, fund raiser und facilitator denn als Träger eigener Projekte usw.

Die Bilanz: Der Beitrag von NGOs ist unschätzbar, wenn sie sich nicht selbst überschätzen

Zwei konkrete Interventionen ein und derselben NGO genügen, um die Vielfalt der Herangehensweisen, Konzepte und Erfahrungen in der zivilgesellschaftlichen Friedens- und Konfliktarbeit zu verdeutlichen. Ebenso wie Mary Anderson (1996) hätte Mark Duffield in der tagtäglichen NGO-Praxis auch Gegenbeispiele auffinden können, die seine kritischen Thesen zumindest relativieren. Damit soll jedoch nicht in Abrede gestellt werden, dass die Mehrzahl seiner Einwände – zumal in der zweifellos beabsichtigten provokatorischen Zuspitzung – ihre Berechtigung haben. Sie erinnern an die Notwendigkeit, sowohl die wissenschaftliche Diskussion und Forschung auf diesem Feld weiter zu qualifizieren als auch die praktische Tätigkeit von NGOs in Krisenregionen immer wieder kritisch zu evaluieren.

Dazu sollen auch die folgenden resümierenden Bemerkungen beitragen, die sich im Wesentlichen als Antwort auf Mark Duffield verstehen. Bei mehren Punkten wird unmittelbar Bezug auf eine frühere Auseinandersetzung von Norbert Ropers mit Duffield genommen (Ropers 1998: 27-33).

  1. Nichtregierungsorganisationen sind Trägerinnen und Akteurinnen der Demokratisierung und Vergesellschaftung von (Außen-)Politik. Sie sind eine Form zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation und Problemlösung und damit Ausdruck der Krise und des Wandels von Staatlichkeit (Seibert 2000: 48). Zugleich müssen sie sich immer wieder Versuchen der Indienstnahme und Kooptierung durch staatliche und wirtschaftliche AkteurInnen im Rahmen neoliberaler Modernisierungs- und Anpassungspolitik erwehren.
  2. Für die Konfliktbearbeitung und den Friedensaufbau gilt wie für die Entwicklungszusammenarbeit der Grundsatz, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Die damit verbundenen Aufgaben sollen „vorrangig von lokalen Akteuren wahrgenommen werden“ (Windfuhr 1999: 765). Die »Einmischung« inter-/transnationaler AkteurInnen sollte hauptsächlich in der Förderung lokaler Fähigkeiten und der Unterstützung von »Friedensallianzen« bestehen.
  3. Das Zusammenwirken zwischen verschiedenen NGOs sowie zwischen NGOs, Staaten und internationalen Organisationen ist unterentwickelt. Regionale Konfliktforen sind nur ein Beispiel, um eine engere Abstimmung und Arbeitsteilung auf den Weg zu bringen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Bereitstellung ausreichender finanzieller, materieller und intellektueller Ressourcen (ebd.: 32/33).
  4. Die Dominanz westlicher, v.a. angelsächsischer NGOs in der zivilgesellschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit und Konfliktbearbeitung ist eine Tatsache. Umso mehr gilt, dass zivilgesellschaftliche AkteurInnen die ihrem Selbstverständnis und ihrem Anliegen entsprechende Rolle nur wahrnehmen können, wenn sie die unterschiedlichen kulturellen Prägungen ihrer eigenen und anderer Gesellschaften sensibel zur Kenntnis nehmen und in ihrem Handeln berücksichtigen.
  5. Drittparteien sind nicht nur »Re-AkteurInnen« in Bezug auf Konfliktsituationen. Sie beeinflussen den Konflikt in dem Maße, wie sie sich für dessen Beilegung engagieren. Jede intervenierende Partei muss sich auch über die nicht-intendierten Folgen ihres Engagements Klarheit verschaffen. Wege dazu sind eine selbstkritische und selbstreflexive Haltung zur eigenen Arbeit und die Einbeziehung lokaler zivilgesellschaftlicher AktivistInnen (ebd.: 31).
  6. Eine dauerhafte Konflikttransformation ist nicht allein das Ergebnis einer intakten Kommunikation zwischen den Konfliktparteien, sondern bedarf der Überwindung der wesentlichen Konfliktursachen (v.a. Ungerechtigkeit). „Ohne die Unterstützung legitimer Interessen benachteiligter Personen und Gruppen, ohne die Stärkung ihrer Konfliktfähigkeit, ohne die Arbeit von Gruppen für den Schutz von Menschenrechten und Minderheiten wäre Konfliktprävention und -transformation unvollständig.(Ropers 1998: 29)

Literatur

Altvater, Elmar/Brunnengräber u.a. (Hrsg.) (1997): Vernetzt und verstrickt. Nicht-Regierungsorganisationen als gesellschaftliche Produktivkraft, Münster.

Anderson, Mary B. (1999): Do No Harm: How Aid can Support Peace – or War. London.

Brand, Ulrich (2000): Nichtregierungsorganisationen, Staat und ökologische Krise. Konturen kritischer NRO-Forschung. Das Beispiel der biologischen Vielfalt, Münster.

Duffield, Mark (1997): Evaluating Conflict Resolution. Context, Models and Methodology. A Discussion Paper Prepared for the Chr. Michelsen Institute, Bergen, Norway, in: Sørbø, Gunnar M./Macrae, Joanna/Wohlgemuth, Lennar: NGOs in Conflict – an Evaluation of International Alert, Chr. Michelsen Institute, Fantoft-Bergen.

Mathews, Jessica (1997): Power Shift, in: Foreign Affairs, Vol. 76, No. 1, January/February, S. 50-66.

Ropers, Norbert (1998): Towards a Hippocratic Oath of Conflict Management? Eight Critical Statements relating to the Contribution of NGOs in Conflict Prevention and Conflict Transformation, in: European Platform for Conflict Prevention (1998): Prevention and Management of Violent Conflicts. An International Directory. 1998 Edition, Amsterdam, S. 27-33.

Seibert, Thomas (2000): Das Ende der »humanitären Neutralität«. Staatlichkeit, NROs und soziale Bewegung im globalisierten Kapitalismus, in: ami, 30. Jg., Nr. 5, Mai.

Sørbø, Gunnar M./Macrae, Joanna/Wohlgemuth, Lennart (1997): NGOs in Conflict – an Evaluation of International Alert, Chr. Michelsen Institute, Fantoft-Bergen.

Weiss, Thomas G./Gordenker, Leon (1996): NGOs, the UN, and Global Governance, Boulder.

Westerbaan, Wim (1999): Peace Communities in a War Zone – An Experience of an international observer in Urabá, Colombia, CMC/Pax Christi International, Utrecht 1999, in: European Centre for Conflict Prevention: People Building Peace. 35 Inspiring Stories from Around the World, Amsterdam.

Windfuhr, Michael (1999): »Track Two«-Interventionen. Die Rolle zivilgesellschaftlicher AkteurInnen in der Konfliktprävention, in: Universitas, 54. Jg., Nr. 638, August, S. 755-766.

Anmerkungen

1) Vgl. die über mehrere Ausgaben gehende NGO-Debatte im »Freitag« von Januar bis März 2000 und insbesondere den Beitrag von Jörg Bergstedt: NGO ist ein Arbeitsstil – und immer falsch. Lobby-Organisationen. Sie liefern die sozialökologische Kosmetik, Freitag v. 11. 2. 2000.

2) „Wenn soziales Engineering in dem Maßstab, wie es die Konfliktbearbeitung impliziert, wirklich möglich wäre, wäre es schon längst angewandt worden. Dem 20. Jahrhundert wäre vielleicht die Pein erspart geblieben, das gewaltträchtigste und barbarischste in der Geschichte zu sein“ (Duffield 1997: 81).

3) Die im Gutachten des Chr. Michelsen Instituts geäußerte Kritik blieb von Seiten International Alerts nicht unwidersprochen. In einem für ein Evaluierungsteam der EU-Kommission vorbereiteten »impact assessment« wies IA z.B. folgende Ergebnisse bzw. Erfolge seines Sierra Leone-Engagements aus: (1) Verhandlung der Geiselfreilassung und damit Beseitigung eines fundamentalen Hindernisses für den Dialog zwischen RUF, Regierung und internationaler Gemeinschaft; (2) Erfolg bei der Ermutigung der RUF, aus dem Dschungel zu kommen; (3) Hilfe bei der Vertrauensbildung zwischen Rebellen und internationaler Gemeinschaft; (4) Schaffung enger Beziehungen und eines guten Arbeitsverhältnisses mit der Regierung der Elfenbeinküste, die anbot, die Gespräche zu mediieren und in ihrem Land zu führen; (5) Herstellung einer ausbalancierten Perspektive in den verschiedenen Phasen der Verhandlungen, insbesondere im Hinblick auf die RUF, die in Kommunikation und Verhandlungen mit intergourvernementalen Organisationen gehandikapt war (Sørbø/Macrae/Wohlgemuth 1997: 57/58).

Dr. Lutz Schrader arbeitet in einem Lehr- und Forschungsprojekt am Institut Frieden und Demokratie der FernUniversität Hagen und ist stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK).

ZKB und ZFD

ZKB und ZFD

Ergänzung oder Alternative zu militärgestützter Politik?

von Andreas Buro

Erfreulicherweise haben in den letzten Jahren die Diskussionen und Aktivitäten zu den Themen Zivile Konfliktbearbeitung (ZKB) und Ziviler Friedensdienst (ZFD) nicht nur in Deutschland stark zugenommen. Der Begriff der ZKB findet zunehmend Eingang in die öffentliche Diskussion ebenso wie der des ZFD, der für viele sehr konkret vorstellbar ist. Eine Plattform ZKB wurde gebildet. Das Forum ZFD wurde gegründet und hat sich der Verwirklichung solcher Dienste und Projekte verschrieben. Es ist selbstverständlich, dass mit dieser neuen Orientierung der vergangenen Dekade viele Fragen und Schwierigkeiten auftauchen. Einer der zentralen Diskussionspunkte betrifft die Frage, ob denn die Entfaltung der anvisierten Alternative überhaupt möglich sei angesichts der benötigten finanziellen Mittel, die realistischerweise nur aus den öffentlichen Kassen kommen könnten.

Der Autor geht in diesem Artikel einer zweiten Grundsatzproblematik nach, nämlich der Gefahr, ZKB und ZFD könnten leicht in den Sog militärgestützter Politik kommen und die ursprüngliche Motivation und Zielrichtung, eine Alternative zum politisch-militärischen Konfliktaustrag anzustreben, verlieren. Mit dieser Problematik wird das Verhältnis von ZKB zu Staat, militärgestützter Politik und zum Militär angesprochen.

Der General und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz beschreibt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eindringlich, dass Krieg und damit auch das jeweilige Militär Mittel der Politik seien: „Wir behaupten dagegen, der Krieg ist nichts anderes als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel. Wir sagen mit Einmischung anderer Mittel, um damit zu behaupten, dass dieser politische Verkehr durch den Krieg selbst nicht aufhört, nicht in etwas ganz anderes verwandelt wird, sondern dass er in seinem Wesen fortbesteht, wie auch seine Mittel gestaltet sein mögen, deren er sich bedient, und dass die Hauptlinien, an welchen die kriegerischen Ereignisse fortlaufen und gebunden sind, nur seine Lineamente sind, die sich zwischen den Kriegen durch bis zum Frieden fortziehen. Und wie wäre es anders denkbar? Hören denn mit den diplomatischen Noten je die politischen Verhältnisse verschiedener Völker und Regierungen auf ? Ist nicht der Krieg bloß eine andere Art von Schrift und Sprache ihres Denkens?« (Carl von Clausewitz: Vom Kriege, TB-Ausgabe Berlin 1980, S. 674/5, zit. nach Senghaas, Dieter: Rückblick auf Clausewitz, in: Günter Dill (Hg.): Clausewitz in Perspektive, Frankfurt-Berlin-Wien 1980)

Über das Werk von Clausewitz und seinen historischen Erfahrungshintergrund ist viel debattiert worden (s. z.B. Dill, G. ebd.). Wichtig ist in unserem Zusammenhang Clausewitz' Sichtweise der engen Verbindung zwischen Politik und Krieg sowie von Militär als einem ständigen Instrument zur Gestaltung von Politik. Freilich wird man nach den Erfahrungen des totalen Krieges die großen Unterschiede zu den feudalen Kriegen im 18. und 19. Jahrhundert zu beachten haben, insbesondere dass der Krieg »das letzte Mittel« sei, auf das die Konflikteskalationsleitern sich ausrichten. Der ständig weitere Ausbau von Rüstung nach Zerstörungskraft und kontinentüberschreitenden Einsatzmöglichkeiten in der Gegenwart ist trotzdem eine deutliche Bestätigung des Satzes von Clausewitz, dass der Krieg bloß eine andere Art von Schrift und Sprache der Politik sei. Dies gilt auch, wenn die Politik auf den Samtpfoten der bewaffneten Friedenslyrik von Stufe zu Stufe auf die »humanitäre Intervention« zuschreitet. Krieg wird so zwar als Sonderfall wahrgenommen, ist aber als Option ein ständiges Element von Politik. Wir sprechen deshalb von militärgestützter Politik.

Solche Politik hat selbstverständlich nicht nur Militär als Mittel ihrer Verwirklichung, sondern viele andere Optionen, die im Konfliktfall dem »letzten Mittel« vorgelagert sind und in ihrer Anwendung von dem »letzten Mittel« bestimmt werden. Diese Grundsituation lässt sich am Verlauf des NATO-Jugoslawien-Krieges von 1999 gut erkennen. Ohne die Option des Krieges, der von der NATO mit großen Siegeschancen kalkuliert werden konnte, wären Scheinverhandlungen wie in Rambouillet/Paris undenkbar gewesen. Man hätte ernsthaft um Kompromisse ringen müssen.

Das Militär hat sich viele zusätzliche Bereiche angelagert

Aber nicht nur die Politik, sondern auch das Militär selbst hat sich im Laufe der historischen Entwicklung eine Fülle zusätzlicher Mittel und Instrumente angegliedert. Hier mögen Stichworte genügen: Das Sanitätswesen zur Wiederinstandsetzung beschädigter SoldatInnen. Der riesige Bereich der Ingenieurskunst, der in der Entwicklung immer neuer Waffensysteme sich zu engagieren hat. Die Psychologie für Propaganda und psychologische Kriegsführung. Die Informationstechnologie zur Erkundung/Spionage, Führung von Streitkräften, Lenkung von Waffensystemen usw. Militär benötigt ferner Katastrophenschutzsysteme, GeographInnen, LandeskundlerInnen, MeteorologInnen usw. Es dürfte kaum einen Bereich geben, der nicht in dieser oder jener Weise dem Militär für seine Vorbereitung auf mögliche Kriege zugeordnet worden ist.

Die Auflösungskriege im ehemaligen Jugoslawien, die zu NATO-dominierten Protektoraten führten, zeigen nun, dass auch zur Kriegsnachsorge spezielle Kräfte benötigt werden, um es der Politik zu ermöglichen, die dortigen durch den Krieg zugespitzten Verfeindungen zu entschärfen, die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu verbessern, um so die Protektorate überhaupt regierbar zu machen. Diese Leistungen kann das Militär nicht erbringen. SoldatInnen mit ihrer kriegsorientierten Ausbildung können PolizistInnen nur mangelhaft ersetzen und für Versöhnungsarbeit sind sie überhaupt nicht trainiert. Was liegt näher, als zivile »Friedensdienste« hierfür auszubilden und einzusetzen. Diese Funktionen könnten sogar auch »zivilgesellschaftliche« Gruppierungen zum Teil übernehmen, die vom Staat unabhängig ihre Projekte besonders im Bereich der »Nachsorge« verfolgen.

Dilemma der Friedens- und Versöhnungsarbeit

Ein potenzielles Dilemma der Friedens- und Versöhnungsarbeit wird erkennbar:

ZKB und ZFD können sich in Arbeitszusammenhänge begeben oder durch die Umstände gedrängt werden – auch ohne finanziell abhängig zu sein –, in denen sie nicht mehr die von ihnen ursprünglich angestrebte Überwindung militärgestützter Politik verfolgen, sondern in eine Rolle als Hilfskraft für die herrschende Politik geraten. Besonders gefährdet scheint mir der Bereich der humanitären Hilfe zu sein, der nicht friedenspolitisch kalkuliert ist. Einen Fingerzeig für solche Integrationsbemühungen in die herrschende Politik lieferten die ersten »Friedensdienst«-Gesetzentwürfe von SPD und CDU, die im Wesentlichen auf einen technischen Hilfsdienst zielten.

Die Gefahr einer Vereinnahmung für andere Zwecke durch die herrschende Politik ist seit der Bundestagswahl 1998 gestiegen. Von vielen Seiten richteten sich große Hoffnungen auf eine neue Friedenspolitik einer rot-grünen Bundesregierung. Im Koalitionsvertrag war von der Außenpolitik, die Friedenspolitik sein sollte, die Rede. Dort versprach die rot-grüne Regierung, sich „mit aller Kraft um die Entwicklung und Anwendung von wirksamen Strategien und Instrumenten der Krisenprävention und der friedlichen Konfliktregulierung“ zu bemühen. Nach fast zwei Jahren zeichnen sich jedoch ganz andere Weichenstellungen ab.

Aufrüstung und Vorbereitung auf Kriege als dominante Politikorientierung

Die erste rot-grüne Weichenstellung ist die deutsche Beteiligung am NATO-Jugoslawien-Kosovo Krieg. Sie liegt auf der Linie der früheren Kohl-Politik, systematisch alle rechtlichen und psychologischen Beschränkungen aus der Zeit nach 1945 in Hinblick auf die nationale Verwendung des deutschen Militärs abzubauen. Damit sollte Deutschland sein militärisches Potenzial in gleicher Weise wie die ehemaligen Siegermächte zum Einsatz bringen können. Der letzte Stein zur militärischen Gleichheit war der Kampfeinsatz der Bundeswehr in einem gemeinsamen Krieg mit den NATO-Alliierten. Diese Politik diente und dient nicht nur einer militärgestützten Außenpolitik, sondern auch der Stärkung der hegemonialen Position Deutschlands in der EU. Es kann nun auch seine militärische Komponenten ohne Abstriche in den Integrationsprozess einbringen.

Die zweite große Weichenstellung ist die Entscheidung der EU-Regierungen, die EU so weitgehend aufzurüsten, dass sie von den USA unabhängig Interventionskriege führen kann. Dies bringt die EU zu einer permanenten qualitativen Konkurrenzaufrüstung mit den USA, dem Ausbau einer EU-europäischen Rüstungsindustrie und einem ständigen, wahrscheinlich anschwellenden Rüstungsexport. Rot-Grün marschiert also mit großen Schritten auf die weitere und sich verstärkende Militarisierung der Außenpolitik zu.

Dem entspricht drittens, dass Rot-Grün bisher keine wesentlichen Anstrengungen gemacht hat, den OSZE-Raum zu einer Gesamteuropäischen Friedensordnung mit der Fähigkeit zu ziviler Konfliktbearbeitung auszubauen, wie es nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in der Charta von Paris einmal vorgesehen war. Stattdessen wird die NATO als militärische »Ordnungsmacht« nach Osten erweitert. Das »Gemeinsame Haus Europa« verbleibt als Bauruine, auch wenn Berlin der OSZE ein paar mehr Millionen (Gegenwert von etwa 1-2 Panzerwagen) zur Verfügung stellt.

Berlins Förderung ziviler Konfliktbearbeitung ist dazu kein Gegengewicht

Der in der Friedensbewegung gut bekannte grüne Bundestagsabgeordnete Winni Nachtwei hat am 14.02.00 eine Übersicht zur »Förderung ziviler Interventionsfähigkeiten« der Berliner Regierung vorgelegt. Er nennt darin

  • die Förderung eines Zivilen Friedensdienstes in der Entwicklungsarbeit. Die Mittel hierfür werden in 2000 auf 17,5 Mio. DM erhöht. Eine Bundesförderung für die Ausbildung von 15 Personen für den NGO-ZFD ist eingeplant.
  • Ausbildung für zivile OSZE- und VN-Missionen betreibt das Auswärtige Amt in 14-Tage-Kursen, die 2000 auf dreistufige Lehrgänge erweitert werden sollen. 250 Personen sollen ausgebildet werden. Die Mittel steigen von 0,6 auf 2,1 Mio. DM. „Dabei wird die enge Kooperation mit bestehenden zivilen und militärischen Ausbildungsträgern (Polizei, Bundeswehr, Forum-ZFD) gesucht.“
  • Mitwirkung der BR an dem Beschluss der OSZE in Istanbul, bis Mitte 2000 »Schnelle Einsatzgruppen für Expertenhilfe und Kooperation« (REACT) sowie ein Operationszentrum zur Führung ihrer z.Zt. 19 Operationen aufzustellen. In diesem Zusammenhang steht die Bezuschussung des neugegründeten Zentrums für OSZE-Forschung in Hamburg durch das Auswärtige Amt. Es soll die Wirksamkeit verschiedener OSZE-Instrumente und die Institutionenbeziehungen bei Frühwarnung und Krisenbewältigung untersuchen.
  • Auf deutsche und schwedische Initiative beschloss der Rat der EU im Dezember 99 in Helsinki, einen »Mechanismus zur nicht-militärischen Konfliktbewältigung« zu schaffen und dafür einen Aktionsplan zu erstellen.
  • Das AA habe die Mittel zur „Unterstützung von internationalen Maßnahmen auf den Gebieten Krisenprävention, Friedenserhaltung und Konfliktbewältigung“ von 8,6 auf 28,6 Mio. DM erhöht. Hier werden höchst unterschiedliche Aktivitäten genannt, die zumindest zum Teil in den Bereich diplomatischer Aufgaben fallen. Aufgrund von Sparmaßnahmen wurden allerdings deutsche Botschaften auch in Krisengebieten geschlossen.
  • Eine Konferenzserie der BR zu »Smart sanctions – der nächste Schritt: Waffenembargos und Reisesanktionen«. Nachtwei fügt wörtlich hinzu: „Dass sich die Bundesregierung auch in der Praxis um eine Effektivierung von Sanktionen bemüht, zeigt die Politik der Staatengemeinschaft gegenüber dem Milosevic-Regime, wo sich die Bundesregierung für eine Aufhebung pauschaler Sanktionen (Ölembargo) und eine Stärkung gezielter Sanktionen (Einfrieren von Konten, Visabann für das Milosevic-Umfeld) einsetzt.“ Hat eigentlich der Versuch die Regierung in Belgrad zu stürzen etwas mit ziviler Konfliktbearbeitung zu tun?
  • Die Unterstützung der Friedens- und Konfliktforschung und den Aufbau einer unabhängigen Stiftung hierfür.

Nachtwei folgert, obwohl die Finanzausstattung im Vergleich zum Militär „lächerlich gering“ erscheinen müsse, begänne die Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung zu wachsen.

Zivile Ergänzung der militärgestützten Politik?

Im Gegensatz zu Nachtwei sehe ich ganz andere Infrastrukturen wachsen. In seinem Vorwort zu der AA-Broschüre »Ausbildung für internationale Einsätze« bringt Ludger Vollmer, grüner Staatsminister im AA, die Grundorientierung auf den Punkt: „Die Kosovo-Missionen von NATO, OSZE und VN machen zugleich deutlich, wie wichtig die Zusammenarbeit von militärischen, polizeilichen und zivilen Komponenten in einem Einsatzgebiet sind.“ (S.7) Damit wird unmissverständlich ausgedrückt, es gehe nicht um die Entfaltung einer Alternative zur militärgestützten Außen- und Sicherheitspolitik, sondern um deren Perfektionierung. Der militärischen Komponente, die nachweislich viele Leistungen in einem besetzten Gebiet nicht selbst erbringen kann, soll eine zivile Komponente hinzugefügt werden. PolizistInnen, JuristInnen, Verwaltungspersonal bis hin zu Versöhnungsfachleuten, die das militärisch durchgesetzte Protektorat am Laufen halten sollen. Eine solche Ergänzungspolitik liegt durchaus in der Tradition des Militärs, sich viele eigentlich zivile Bereiche zuzuordnen. Ist aber dadurch der Charakter von militärgestützter Politik verändert worden? Im Gegenteil! Es handelt sich um Effektivierung von Militärpolitik, die auf diese Weise weitere Elemente der Politik durchdringt. So auch den rot-grünen Kurs mit seiner überwältigenden Orientierung auf militärische Aufrüstung.

Wo existiert denn eine zivile friedenspolitische Strategie Berlins? Etwa für Montenegro, das die DM als Zahlungsmittel für sein jugoslawisches Teilgebiet eingeführt hat und wo die NATO Belgrad schon wieder unverhohlen militärisch droht? Etwa für die Türkei, die im Kosovo angeblich für die Menschenrechte militärisch kämpfen durfte, die sie im eigenen Land systematisch unterdrückt? Während die PKK-KurdInnen einseitig einen Waffenstillstand verkündet haben, belohnt Berlin diese wichtige, ja dramatische friedenspolitische Weichenstellung mit einer verstärkten PKK-Verfolgung und KurdInnen-Abschiebung. Gleichzeitig liebäugelt es mit der Lieferung von 1.000 Panzern.

Der Stabilitätspakt für Südosteuropa, den die Friedensbewegung schon lange vor dem Kosovo-Krieg gefordert hatte, kommt zumindest gegenwärtig kaum voran. Offensichtlich sitzt für dieses zivile Projekt das Geld nicht so locker wie für Aufrüstung und Militärinterventionen. Auch hat man Serbien den Zugang zu diesem wichtigen Projekt versperrt und ist damit alten Mustern des militärischen Freund-Feind-Denkens treu geblieben. Doch ohne Einbezug Serbiens wird es auf dem Balkan keine Stabilität geben. Auch die Effektivierung von Embargo-Maßnahmen, die Nachtwei unter der Kategorie »zivile Konfliktbearbeitung« anpreist, kann da nicht weiter helfen. Offensichtlich ist Rot-Grün zu kurz gesprungen und voll im Militärgehege gelandet. Das alles bedeutet, Berlin setzt ganz vorrangig auf den Ausbau der militärgestützten Politik. ZKB und ZFD sollen unter diesen Umständen nur ein Bestandteil dieser Politik sein.

Zivile Konfliktbearbeitung als unabdingbarer Orientierungsrahmen

Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, ferner angestoßen durch den Golfkrieg und die Balkankriege, werden zivile und gewaltfreie Konzeptionen in den Diskussionen der Friedensbewegung zunehmend in einem Gesamtkonzept »Ziviler Konfliktbearbeitung« (ZKB) als einem Orientierungsrahmen zusammengeführt. In ihm sollen internationale, staatliche und gesellschaftliche AkteurInnen mit unterschiedlichen Instrumenten je spezifische Aufgaben übernehmen. Dieses normative Gesamtkonzept richtet sich nicht auf Sieg oder Niederlage. Es ist kein Nullsummenspiel, in dem die eine gewinnt, was der andere verliert. Es orientiert sich darauf, dass alle KonfliktpartnerInnen gewinnen sollen und zwar durch die (Wieder)Herstellung ihrer Fähigkeit zur Kooperation bei der Lösung von Konflikten. Der Zivile Friedensdienst ist darin eine wichtige Komponente, soll er doch nicht nur ein Instrument zur Friedensarbeit, sondern auch eines der friedenspolitischen Sozialisation der Gesellschaft werden.

Wenn Formen der Zivilen Konfliktbearbeitung mehr und mehr den kriegerisch-militärischen Konfliktaustrag verdrängen und schließlich ganz beseitigen sollen, so ist dies nur möglich, wenn alle Ebenen der nicht-militärischen AkteurInnen bei Konflikten einbezogen werden. Dazu gehören selbstverständlich sowohl die staatliche Ebene als auch die der internationalen AkteurInnen. Das Verhältnis der zivilgesellschaftlichen TrägerInnen von ZFD zu ihnen wird einen kooperativen und konfliktbereiten Charakter haben müssen. Kooperativ, weil nur gemeinsam ZKB als Alternative zum militärischen Konfliktaustrag zu erreichen ist. Konfliktbereit, weil Staaten und internationale, staatlich-zivile Institutionen einen zivil-militärisch ambivalenten Charakter haben. In ihnen selbst wird der Kampf zwischen zivilen und militärischen Optionen ausgetragen.

Die eigentliche Kontrahentin der ZKB ist nicht das Militär, sondern die militär-gestützte Politik der Nationalstaaten und ihrer Bündnisse. Sie instrumentalisiert das Militär für ihre Zwecke, wobei sie selbst vom Militär zum Teil instrumentalisiert wird. Diese Darstellung entspricht ganz der zivil-militärischen Ambivalenz der Politik, welche sowohl mit Mitteln der ZKB als auch mit militärischen Mitteln in ihren Aktivitäten auftritt. Die militär-gestützte Politik ist also zu überwinden. Eine Kooperation mit ihr würde sie nur stärken. Deshalb dürfen ZKB und ZFD keine Kooperationsverhältnisse mit Militär und militärgestützter Politik eingehen. Selbstverständlich kann man mit RepräsentantInnen dieser Bereiche diskutieren, aber es gilt den eigenen Weg in der eigenen Logik im Sinne von ZKB zu gehen.

Die von Regierungs- und Militärseite immer wieder ins Spiel gebrachte Kooperation von ZFD und Militär dürfte vielmehr dem Wunsch zu verdanken sein, das wichtige Instrument ZFD der eigenen Kontrolle zu unterstellen. So würde aus dem Ansatz für eine Alternative der Konfliktbearbeitung eine erweiterte Palette militärisch-ziviler Handlungsoptionen. Dies jedoch steht im Widerspruch zu allen Zielen, die zu den Bemühungen um eine Alternative zum militärischen Konfliktaustrag geführt haben.

Prof. Dr. Andreas Buro ist friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie

Demokratieförderung und Wahlprozessbegleitung durch externe Akteure

Demokratieförderung und Wahlprozessbegleitung durch externe Akteure

von Sabine Klotz

Die Wahlprozessbegleitung gilt als ein wichtiges Instrument der zivilen Intervention in interne Konflikte. Für Regierungen, internationale und regionale Organisationen sowie NGOs ist sie ein Instrument um Misstrauen zwischen den Konfliktparteien abzubauen, Minderheiten zu schützen, Gewaltaktionen einzudämmen und einen Demokratisierungsprozess einzuleiten. Sabine Klotz geht auf die Problematik ein, vor der externe AkteurInnen bei der Begleitung von Wahlprozessen stehen und darauf, dass Wahlen nicht automatisch den Demokratisierungsprozess fördern. Sie erörtert die Wechselwirkungen zwischen Demokratie und Frieden und untersucht die Möglichkeiten und Grenzen für die Demokratieförderung durch Wahlprozessbegleitung externer AkteurInnen.

Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts verknüpfen westliche Industriestaaten die Entwicklungszusammenarbeit und die Unterstützung der Transitionsgesellschaften in Mittel- und Osteuropa zunehmend damit, dass diese Länder einen Demokratisierungsprozess einleiten. Diese an sich zu begrüßende Konditionalität kann jedoch dazu führen, dass Regierungen in den Empfängerstaaten durch die Abhaltung von Wahlen ein scheinbar demokratisches Verfahren zur Legitimität ihrer Herrschaft inszenieren, ohne dass in Wirklichkeit die Bedingungen für eine tragfähige und gesellschaftlich breit akzeptierte Demokratisierung des betreffenden Staates gegeben sind.

Nicht immer fördern Wahlen den Demokratisierungsprozess

In Ländern, in denen verschiedene ethnische und/oder religiöse Gruppen Konflikte miteinander austragen, kann bereits die Ankündigung von Wahlen ebenso zur Diffusion und Eskalation der Gewalt beitragen wie die Art des Wahlsystems, die Festlegung der Wahlkreise und die Zulassung oder Nichtzulassung von KandidatInnen sowie der unterschiedliche Zugang der politischen Parteien zu den Medien. Die Gefahr einer Zuspitzung der innenpolitischen Lage bis hin zum Ausbruch eines Bürgerkrieges ist besonders groß, wenn sich die zur Wahl antretenden politischen Parteien oder sonstigen Organisationen entlang der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit formieren und zu Wahlkampfzwecken die Unterschiede zwischen den Gruppen stark hervorheben. In diesem Fall können Konflikte zwischen den Gruppen so sehr polarisieren, dass Wahlergebnisse nicht den politischen Willen der WählerInnen, sondern den Bevölkerungsanteil der einzelnen Gruppen widerspiegeln. In einem solchen Fall kann die ethnische Mehrheit dauerhaft über die Minderheit herrschen, ohne dass die Minderheit die Chance hat, selbst durch Wahlen an die Regierung zu kommen. Demokratie droht dann zur »Diktatur der Mehrheit« zu verkommen.

Besonders problematisch sind Wahlen zu den unterschiedlichen politischen Institutionen, wie Parlament, Staatspräsidialamt und Kommunalvertretungen, sowie Volksbefragungen oder Volksentscheide in Staaten, die einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transitionsprozess durchlaufen. Auch viele Friedensverträge oder sonstige Vereinbarungen, mit deren Hilfe langjährige Bürgerkriege beendet werden sollen, sehen (in manchen Fällen erstmalig) die Durchführung von freien und allgemeinen demokratischen Wahlen oder Referenden vor. Beispiele hierfür sind u.a. die Wahlen in Kambodscha, El Salvador und Mosambik, das Referendum in Ost-Timor sowie das seit Jahren geplante Referendum in der Westsahara. Dabei stellt die Akzeptanz des Wahl- oder Referendumsergebnisses insbesondere durch die verlierende(n) Konfliktpartei(en) eine entscheidende Voraussetzung für die zukünftige zivile, d.h. nichtmilitärische Austragung der innergesellschaftlichen Konflikte dar.

Die bloße Existenz eines formal demokratisch verfassten Staates bedeutet jedoch keine Garantie für die friedliche Austragung von Differenzen zwischen den dort lebenden ethnischen, religiösen oder anderen Gruppen oder zwischen einer oder mehrerer dieser Gruppen auf der einen Seite und der Regierung auf der anderen Seite. Wie die Beispiele Nordirland, Korsika, Baskenland, Sri Lanka und Indien zeigen, werden auch in Staaten mit einer demokratischen Verfassung Bürgerkriege ausgetragen.

Wahlprozessbegleitung als Mittel der zivilen Konfliktbearbeitung

Trotz der Problematik, dass Wahlprozesse Konflikte verschärfen können, und trotz der Tatsache, dass auch in demokratischen Staaten Bürgerkriege geführt werden, gibt es aber eine deutliche Wechselwirkung zwischen Demokratie und Frieden. Denn die demokratische Partizipation der Bevölkerung, die Rechtsstaatlichkeit sowie das Gewaltmonopol einer der Demokratie verpflichteten und die Menschen- und Minderheitenrechte achtenden Regierung erleichtern oder ermöglichen erst die zivile, d.h. friedliche Austragung von internen politischen Konflikten. Auch in ihrem Außenverhältnis regeln demokratische Staaten ihre Konflikte untereinander in der Regel ohne den Rückgriff auf den Einsatz militärischer Gewalt.

Deshalb stellen die Unterstützung der Demokratisierung und die Wahlprozessbegleitung wichtige Instrumente der zivilen Intervention in interne Konflikte dar. Mit diesen Instrumenten versuchen Staaten, internationale und regionale Organisationen sowie NGOs, Parteistiftungen und Kirchen – im günstigsten Fall in Kooperation sowohl miteinander als auch mit einheimischen und regionalen Organisationen vor Ort – die Konfliktparteien so zu beeinflussen, dass diese ihre Interessengegensätze nicht (mehr) in einer Atmosphäre austragen, in der sie Gewalt einsetzen oder die Gewaltausübung anderer Gruppen befürchten müssen.

Erfolgsbedingungen

Es kommt darauf an, dass auswärtige staatliche oder nichtstaatliche Institutionen, die die Demokratisierung eines Staates fördern und den Wahlprozess begleiten, ihre Aktivitäten nicht nur auf die Überwachung des Wahlvorgangs, d.h. auf die Stimmenabgabe und -auszählung, beschränken. Sie sollten darüber hinaus aktiv zur Vertrauensbildung zwischen den örtlichen Parteien, zur Vorbeugung von Manipulationen und zur Akzeptanz des Wahlausgangs auch durch den oder die VerliererInnen beitragen. Insbesondere in den Staaten, in denen zum ersten Mal nach demokratischem Verfahren gewählt wird oder in denen die Wahlen Bestandteil einer Friedensvereinbarung sind, sollten sie deshalb auch die Wahlvorbereitung und die Phase nach der Wahl möglichst über einen längeren Zeitraum hinweg begleiten. Dabei sollten die externen AkteurInnen die Bevölkerung, die politischen Parteien, die Regierung sowie das Militär des betreffenden Staates über demokratische Werte, Menschen- und Minderheitenrechte sowie die Mittel der zivilen Austragung von Konflikten informieren und sie möglichst darauf verpflichten. Das Ziel der Demokratisierungsförderung und der Wahlprozessbegleitung kann jedoch nicht darin bestehen, unabhängig von den lokalen Gegebenheiten und über die Köpfe der Einheimischen hinweg die westliche parlamentarische Demokratie einzuführen, sondern es sollten dem lokalem Kontext entsprechende Foren des freien Meinungsaustausches zwischen den örtlichen AkteurInnen gebildet und unterstützt werden.

Diejenigen, die von außen die Demokratisierung fördern oder den Wahlprozess begleiten wollen, sollten zuvor die Interessen der einheimischen Kooperationspartner im Konflikt analysieren. Nur so können sie vermeiden, dass sie von den in den lokalen Konflikt direkt oder indirekt involvierten Parteien instrumentalisiert werden. Darüber hinaus müssen sie allen einheimischen AkteurInnen verdeutlichen, welche Verhaltensweisen sie als akzeptabel ansehen und welche nicht. Die auf diese Weise zivil in den Konflikt intervenierenden externen AkteurInnen haben gleichfalls ständig zu überprüfen, ob die von ihnen gewünschten Ergebnisse eintreten oder ob ihre Tätigkeit eventuell auch unerwünschte Wirkungen hervorruft, die gegebenenfalls dann andere Maßnahmen erfordern. Um nicht unbeabsichtigt den lokalen Konflikt zu verschärfen, sollten die zivil intervenierenden Externen darauf achten, dass nicht nur ihre eigentlichen AdressatInnen, sondern auch ihre lokalen MitarbeiterInnen, die lokalen HändlerInnen, bei denen sie ihre Waren beziehen und die lokalen VermieterInnen der von ihnen benutzten Gebäude möglichst sämtlichen einheimischen, insbesondere auch den marginalisierten Gruppen angehören.

Trotz ihrer unterschiedlichen Organisationsformen, Profile und Interessen sollten sich die verschiedenen auswärtigen Institutionen, die die Demokratisierung fördern und den Wahlprozess begleiten, untereinander bezüglich ihrer Ziele, ihrer Vorgehensweisen, ihres Verhaltenskodexes und auf die bei den Wahlen einzuhaltenden Mindeststandards verständigen. Das ist sowohl notwendig um einem möglichen Versuch der Konfliktparteien vorzubeugen, die auswärtigen Institutionen gegeneinander auszuspielen, als auch im Hinblick auf die Bewertung des Ablaufs und des Ergebnisses der Wahl.

Grenzen externer Demokratieförderung und Wahlprozessbegleitung

Die konkrete Auswirkung der Wahlprozessbegleitung externer AkteurInnen auf den Demokratisierungsprozess, den Verlauf und das Ergebnis einer Wahl oder auf den Friedens- und Versöhnungsprozess in internen Konflikten ist praktisch nicht messbar. Denn zum einen ist der Gegenbeweis nicht zu erbringen, d.h. es ist nicht feststellbar, ob die Entwicklung anders verlaufen wäre, wenn es diese zivile Intervention durch externe AkteurInnen nicht gegeben hätte. Zum anderen haben neben dieser Intervention auch andere, in der innen- und außenpolitischen Situation des betreffenden Staates liegende Faktoren Einfluss auf Wahlverlauf und Demokratisierung.

Wenn die Verlierer der Wahlen oder des Referendums, wie im Fall Angolas und Ost-Timors, den bewaffneten Kampf (wieder) aufnehmen oder wenn die Regierung, wie im Fall Burmas/ Myanmars die Regierungsübernahme durch die demokratisch gewählte vormalige Opposition verhindert oder wenn, wie im Fall Sri Lankas, nur in den Landesteilen gewählt werden kann, in denen nicht gekämpft wird, dann sind die Erfolgschancen durch eine Einflussnahme von außen sehr gering. Trotzdem ist sie wichtig, um diejenigen lokalen AkteurInnen zu unterstützen, die sich für die Menschenrechte und eine Demokratisierung einsetzen und dafür oft ein hohes persönliches Risiko in Kauf nehmen.

Sabine Klotz, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »Theorie und Praxis der zivilen Konfliktbearbeitung« der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), Heidelberg. Teilnahme an der Kosovo Verification Mission der OSZE im Frühjahr 1999 und der OSZE Mission in Bosnien-Herzegowina anlässlich der Kommunalwahl im Frühjahr 2000.

Die OSZE als Instrument ziviler Konfliktbearbeitung

Die OSZE als Instrument ziviler Konfliktbearbeitung

Eine kritische Bilanz

von Sabine Jaberg

Fünfundzwanzig Jahre nach Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki am 1. August 1975 ist die damalige Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und heutige Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)1 kaum wiederzuerkennen: Aus einer stets gefährdeten Konferenzfolge zum Zweck der Entdramatisierung des globalen Macht- und Systemkonflikts ist mit Einschnitt des Pariser Gipfels 1990 schrittweise eine in Wien quasi sesshaft gewordene Institution ziviler Konfliktbearbeitung geworden, die sich mit gewaltfreien Mitteln um die friedliche Austragung von Streitigkeiten bemüht. Seit den Beschlüssen von Helsinki 1992 gilt sie sogar als regionale Abmachung gemäß Kapitel VIII der UNO-Charta. Gerade aber der Krieg der NATO gegen Jugoslawien im letzten Jahr wirft Fragen nach der Leistungsfähigkeit der OSZE auf.2 Ihre Beantwortung erfolgt in drei Schritten: Zuerst geht es um eine kurze Skizzierung der zivilen Instrumente der OSZE, danach werden ihre grundlegenden Defizite bzw. Probleme aufgezeigt, um abschließend eine kurze Bilanz und Schlussfolgerungen ziehen zu können.

Mittlerweile besitzt die OSZE zahlreiche Instrumente ziviler Konfliktbearbeitung, so dass zumindest von Ansätzen eines umfassenden Gewaltvermeidungsregimes gesprochen werden kann:3

  • Langfristige Gewaltprävention: Sie zielt im Wesentlichen auf die Beeinflussung struktureller Rahmenbedingungen; Gewalt begünstigende Faktoren sollen abgebaut und Gewaltfreiheit fördernde Faktoren gestärkt werden. Der Schwerpunkt der OSZE liegt dabei auf zwei Feldern: Zum einen trägt sie zur Stärkung von Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechten bei. Wichtige Instrumente hierzu sind unter anderem Wahlbeobachtungen, Aktivitäten des Beauftragten für Medienfreiheit und vor allem dauerhafte Präsenz vor Ort: Mit Missionen und Verbindungsbüros ist die OSZE auf dem Balkan, im Kaukasus, in Zentral- und Osteuropa sowie in Zentralasien bereits über längere Zeit relativ stark vertreten. Zum anderen unterstützt sie auf militärischem Gebiet Abrüstung, Transparenz und Vertrauensbildung. Demgegenüber zeitigt sie beim ökonomischen Ausgleich – einem entscheidenden Element langfristiger Gewaltprävention – noch keinen signifikanten Mehrwert.4
  • Friedliche Streitbeilegung:In diesem Bereich verfügt die OSZE mit dem Valletta-Verfahren und dem Gerichtshof in Genf über spezialisierte Instrumente.5
  • Frühwarnung: Hier besteht seit den Beschlüssen von Helsinki 1992 ein Verfahren, nach dem die politischen Institutionen bei einer problematischen Entwicklung nicht nur durch die Teilnehmerstaaten, sondern auch durch andere Mechanismen (etwa dem zur Menschlichen Dimension) aktiviert werden können. Mit dem Hohen Kommissar für nationale Minderheiten6 (HKNM) existiert ein Frühwarn-Instrumentarium speziell für Konflikte, in denen nationale Minderheiten involviert sind.
  • Aktive Konfliktintervention: Der HKNM dient nicht nur der Frühwarnung, sondern auch der aktiven Konfliktintervention zum frühstmöglichen Zeitpunkt. Obwohl seine Arbeit wenig sichtbar ist, hat er doch mit seiner Begleitung minderheitenrelevanter Gesetzgebungsverfahren zur Entschärfung mancher Spannungen beigetragen (z.B. in Estland und Rumänien). Das Geheimnis des Erfolgs sieht der gegenwärtige Amtsinhaber Max van der Stoel in seiner Rolle als für die Konfliktparteien akzeptabler „außenstehend(r) ehrliche(r) Makler.7 In den Bereich aktiver Konfliktintervention fallen des weiteren Aktivitäten des Amtierenden Vorsitzenden bzw. seiner Persönlichen Beauftragten (z.B. in Jugoslawien, Albanien und zu Nargono-Karabach). Darüber hinaus befindet sich die OSZE seit dem Istanbuler Gipfel Ende letzten Jahres im Aufbau »Schneller Einsatzgruppen für Expertenhilfe und Kooperation« (REACT) mit dem Ziel, ziviles und polizeiliches Expertenwissen bei Bedarf rasch einsetzen zu können.
  • Zwangsmaßnahmen: Als primär kooperatives Sicherheitssystem verfügt die OSZE kaum über Möglichkeiten zu Maßnahmen, mit denen sie säumige Teilnehmerstaaten zur Einhaltung eingegangener Verpflichtungen zwingen könnte. Eine einzige Ausnahme besteht: In Fällen von eindeutigen, groben und nicht behobenen Verletzungen im Bereich der Menschlichen Dimension sind der OSZE „politische Erklärungen oder andere politische Schritte, die außerhalb des Territoriums des betroffenen Staates anwendbar sind“8 erlaubt, ohne dass der sanktionierte Teilnehmer zustimmen müsste (»Konsens minus eins«). Bei weitläufiger Interpretation wären sogar Embargo-Maßnahmen – nicht jedoch deren gewaltsame Durchsetzung – erfasst. Bislang hat die OSZE von dieser Regelung mit der Suspendierung Jugoslawiens 1992 nur einmal Gebrauch gemacht – mit dem problematischen Resultat der Nichtverlängerung des Mandats für die Langzeitmissionen im Sandschak, im Kosovo und in der Vojvodina.
  • Konfliktnachsorge/Friedensstabilisierung: Hier besitzt die OSZE seit den Beschlüssen von Helsinki 1992 die Option traditionellen Peacekeepings – auch Langzeitmissionen (wie etwa in Georgien) und künftig auch REACT-Ressourcen könnten in diesem Stadium eingesetzt werden. Bereits jetzt übernimmt sie im Kosovo gemeinsam mit der UNO quasi Staatsaufgaben und trägt Verantwortung für den Aufbau einer multiethnischen Polizei.

Defizite/Probleme der OSZE

Die positiven Ansätze dürfen aber nicht über grundlegende Defizite und Probleme hinwegtäuschen.9

Radio Eriwan-Syndrom

Der Sachverhalt, dass die OSZE über Ansätze eines umfassenden Gewaltvermeidungsregimes verfügt, ist Ausdruck der abstrakten Einsicht ihrer Teilnehmerstaaten in dessen Notwendigkeit bzw. Sinnhaftigkeit. Die Umsetzung in konkrete Praxis jedoch leidet unter dem Radio Eriwan-Syndrom (»Im Prinzip ja, aber…«). Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen.

  • Verfahren friedlicher Streitbeilegung: Im Prinzip erkennen die Teilnehmerstaaten den Vorteil friedlicher Beilegung ihrer untereinander bestehenden Streitigkeiten, denn auf dem Wiener Folgetreffen (1986-1989) akzeptieren sie „grundsätzlich die obligatorische Hinzuziehung einer Drittpartei.“10 Das ausgearbeitete Valletta-Dokument scheint diesem Auftrag entsprochen zu haben, denn es proklamiert ausdrücklich die „obligatorische Hinzuziehung einer Drittpartei.“11 Das konkrete Verfahren aber verfehlt den erhobenen Anspruch, denn es unterliegt einem Vorbehalt: So kann eine Partei die Aktivierung bzw. Fortsetzung des Verfahrens verhindern, wenn sie zur Auffassung gelangt sein sollte, dass „der Streitfall Fragen ihrer territorialen Integrität oder ihrer Landesverteidigung, ihrer Hoheitsansprüche auf Landgebiete oder konkurrierende Ansprüche hinsichtlich der Hoheitsgewalt über andere Gebiete berührt.“12 Damit sind besonders eskalationsträchtige Konflikte zumindest der Möglichkeit nach aus dem Verfahren ausgeklammert – ganz abgesehen von dem grundsätzlichen Defizit, dass die äußerst dringliche Problematik innerstaatlicher Konflikte gar nicht erst berücksichtigt worden ist. Auch die Ergebnisse des KSZE-Rates von Stockholm 1992 haben mit dem Vergleich auf Anordnung, der Einrichtung einer Vergleichskommission sowie der Etablierung eines Gerichtshofs auf völkerrechtlicher Grundlage keinen Durchbruch zu einem wirklichen Obligatum erzielt.13 Das Faktum, dass sowohl der Valletta-Mechanismus als auch der Gerichtshof bislang nicht angerufen worden sind, verwundert aufgrund ihrer immanenten Defizite nicht.
  • HKNM: Im Prinzip gestehen die Teilnehmerstaaten mit der Einrichtung dieser Institution 1992 in Helsinki ein14, dass die Entschärfung von Minderheitenkonflikte spezifischer Instrumente bedarf. Tatsächlich stellt der HKNM nicht nur die wohl effektivste, sondern auch die innovativste Einrichtung der OSZE dar: Erstens erlaubt das Mandat dem Amtsinhaber grundsätzlich, aus eigenem Entschluss tätig zu werden, zweitens übernimmt der HKNM eine für erfolgreiche Bewältigung nationaler Minderheitenkonflikte unverzichtbare Scharnierfunktion zwischen Staaten- und Gesellschaftswelt. Die konkrete Tätigkeit des HKNM aber unterliegt zahlreichen Restriktionen. Zum einen kann ein Teilnehmerstaat die Eigeninitiative des HKNM in einem speziellen Fall unterbinden, indem er diesbezüglich an den Hohen Rat/Ständigen Rat eine konkrete Frage heranträgt mit der Folge, dass der HKNM nun ein konsensual zu beschließendes Mandat benötigt. Diese Regelung kommt einem Vetorecht für jeden Teilnehmerstaat gleich.15 Zum anderen ist es dem HKNM strikt untersagt, in – letztlich von den Regierungen definierten – Fällen „organisierte(r), terroristische(r) Handlungen“16 aktiv zu werden. Dieses Verbot trägt dazu bei, virulente Minderheitenkonflikte (vornehmlich in den westlichen Staaten) aus dem Tätigkeitsfeld des HKNM auszuschließen. Schließlich darf sich der HKNM nur mit Fällen zwischenstaatlicher Relevanz befassen. Damit droht die Gefahr, dass explosive Konflikte nicht oder zu spät entschärft werden.

Konkurrenz von ziviler Konfliktbearbeitung
und militärischer Friedenserzwingung

Die OSZE befindet sich mit ihren Bemühungen um friedliche Friedens- und Sicherheitsgewährleistung in zweierlei Hinsicht in Konkurrenz zu militärischen Ansätzen:

  • Inkompatibilität ziviler und militärischer Logik: Beiträge ziviler Konfliktbearbeitung und Versuche militärischer Friedenserzwingung schließen sich im Prinzip gegenseitig aus. So musste die im Zuge des Holebrooke-Milosevic-Abkommens im Oktober 1998 etablierte Verifikationsmission der OSZE im Kosovo (KVM) nach glaubhafter Androhung von Luftschlägen im wahrsten Sinn des Wortes das Feld für den NATO-Krieg im März 1999 räumen.17 Wäre die Mission weiterhin im Land geblieben, hätte ihren Mitgliedern ebenso wie einigen UNO-Blauhelmen zuvor in Bosnien-Herzegowina im Frühjahr 1995 Geiselhaft gedroht. Dies hätte die Angreifer in eine politisch wie moralisch noch prekärere Lage gebracht als jene, in der sie sich aufgrund fragwürdiger völkerrechtlicher Grundlagen ihrer Erzwingungsaktion ohnehin schon befanden.
  • Kampf um knappe Ressourcen: Obwohl der Haushalt der OSZE von zwölf Mio. Euro im Jahr 1993 auf 208 Mio. Euro im Jahr 2000 um den Faktor achtzehn gestiegen ist,18 nimmt er sich im Vergleich mit dem NATO-Haushalt von 270,4 Mrd. US-Dollar im Jahr 1998 relativ bescheiden aus.19 Bereits diese Daten verdeutlichen die tatsächliche Prioritätensetzung jenseits politischer Rhetorik.

Instrumentalisierung für partikulare Anliegen

Dass die OSZE mit relativ wenig finanziellen Mitteln auskommt, lässt sich auf der einen Seite als komparativer Vorteil gegenüber finanziell aufwendigeren Organisationen (z.B. NATO und UNO) interpretieren. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass eine am Existenzminimum gehaltene Einrichtung für erfolgreiche Instrumentalsierungsversuche durch die mächtigeren Mitglieder besonders anfällig ist:

  • Verweigerung einer unabhängigen Organisationsidentität: Zahlreiche Defizite verhindern bislang die Entstehung einer von den Teilnehmerstaaten unabhängigen Organisationsidentität mit der Fähigkeit zur Erfahrungs- und Wissensakkumulation als Kern:20 Da die Aufgabe des Konfliktverhütungszentrums als Teil des Sekretariats im Wesentlichen darin besteht, Missionen infrastrukturell zu stützen, fehlt es erstens immer noch an einer Einrichtung, die problematische Entwicklungen unabhängig systematisch analysiert, Gegenmaßnahmen entwirft und Vorschläge in den politischen Prozess einspeist. Zweitens muss die OSZE im Einzelfall Personal aus den Teilnehmerstaaten rekrutieren und die Tätigkeitsdauer der – ohnehin relativ geringen – OSZE-eigenen Angestellten ist auf maximal sieben Jahre beschränkt. Drittens fehlen der OSZE Ausbildungskapazitäten. Damit gerät die OSZE in Abhängigkeit jener Staaten, die in der Lage sind, auftretenden Engpässen fallweise abzuhelfen.
  • Missbrauch von OSZE-Einrichtungen zu partikularen Zwecken: Zweifelsohne bietet der relativ große eigenständige Handlungsspielraum einiger Einrichtungen die Chance auf ein hohes Maß an Problemorientierung, sofern sich die jeweils handelnden Personen darum bemühen – wie etwa der gegenwärtige HKNM Max van der Stoel. Problematisch wird relative Autonomie aber dann, wenn AmtsinhaberInnen sich als verlängerte Arme ihrer jeweiligen Regierungen begreifen. Heinz Loquai, ehemaliger Militärberater der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der OSZE, kritisiert mit dem Leiter der KVM William Walker einen besonders prominenten Fall: „Es war kein Geheimnis, dass Missionschef Walker nicht so sehr Leiter einer internationalen Mission war, sondern die amerikanische Kosovo-Politik durchzusetzen hatte und von Washington gesteuert wurde.“21 Ähnlichen – von Alexander Matwejew geäußerten – Vorwürfen sieht sich der damalige Amtierende Vorsitzende, der Norweger Knut Vollebaek ausgesetzt: „Die Tatsache, dass der Amtierende Vorsitzende aus einem Staat kommt, der Mitglied der NATO ist und an dem Krieg beteiligt war, hat natürlich die Unabhängigkeit dieses Amtes und seine Fähigkeit, im Namen der ganzen OSZE zu sprechen, deutlich reduziert.“22

Zweiklassengesellschaft

Obwohl die Instrumente der OSZE bei Bedarf auf alle Teilnehmerstaaten gleichermaßen anwendbar sind, kristallisiert sich in der Praxis eine Zweiklassengesellschaft heraus.23 Auf der einen Seite befinden sich die Mitglieder westlicher Organisationen (insbesondere NATO und EU), auf der anderen Seite stehen die Staaten, welche in diese Einrichtungen drängen oder wie Russland auf massive wirtschaftliche Unterstützung angewiesen sind. Dieses Kräfteverhältnis verursacht ein geografisches wie politisches Ungleichgewicht innerhalb der OSZE: Sie dient im Wesentlichen der Intervention in Konflikte östlich der alten Systemgrenze. Dort entfaltet der HKNM seine Tätigkeiten, befinden sich Langzeitmissionen und werden Wahlen beobachtet. Dies mag auch Ausdruck davon sein, dass in diesem Gebiet immenses Konfliktpotenzial besteht und Demokratie noch weitgehender Unterstützung bedarf. Wenn jedoch massive Minderheitenkonflikte in westlichen Staaten (z.B. Spanien, Großbritannien und Türkei) systematisch ausgegrenzt und grundsätzliche Probleme bei der Beachtung der Menschenrechte (insbesondere in der Türkei) gleichsam tabuisiert sind, dann untergräbt diese Einseitigkeit langfristig Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der OSZE vor allem in jenen Staaten, die ihrer Unterstützung am meisten bedürfen.

Hegemoniale Ordnungspolitik

Parallel zur Etablierung kooperativer Sicherheitselemente haben nahezu sämtliche OSZE-Staaten mit einseitiger Machtpolitik ihren Vorteil gesucht. Der NATO bzw. ihren Mitgliedern ist es sogar gelungen, hegemoniale Ambitionen schrittweise durchzusetzen:24 Bereits auf dem Pariser Gipfel 1990 scheiterten weitergehende Vorschläge im Bereich ziviler Gewaltvorsorge und kollektiver Sicherheit nicht zuletzt am Widerstand der USA und Großbritanniens. Auf dem Budapester Gipfel wurde zwar die KSZE in OSZE umbenannt, die dort vorgesehene Diskussion über ein europäisches Sicherheitssystem war aber von der NATO mit ihrer Entscheidung über die Bündniserweiterung bereits unterlaufen. Ihr Beschluss symbolisierte den Anspruch »NATO first«. Der Luftkrieg gegen Jugoslawien setzte ihn in politische Praxis um: Spätestens mit der Entscheidung des Amtierenden Vorsitzenden der OSZE über den Abzug der KVM war endgültig „die Entscheidungskompetenz von Wien zur NATO nach Brüssel transferiert“25 (Heinz Loquai).

Bilanz und Perspektive

Fünfundzwanzig Jahre nach Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki und zehn Jahre nach dem Pariser Gipfel muss gemeinsam mit Hans-Dietrich Genscher26 eine gemischte Bilanz gezogen werden: Einerseits ist die OSZE als Dienstleistungsunternehmen im Bereich ziviler Konfliktbearbeitung fester Bestandteil gesamteuropäischer Ordnung geworden. Ihre Stärke liegt in der Thematisierung und Beobachtung problematischer Entwicklungen. Mit dem Beschluss zur Einrichtung von REACT wird ihre eklatante Lücke zwischen early warning und early action ein wenig verringert. Andererseits müssten mittlerweile selbst diejenigen, welche die OSZE lediglich als Serviceleisterin erhalten wollen, sich die Frage stellen, wie lange dies bei ihrer politischen Marginalisierung und Instrumentalisierung noch möglich ist. Schließlich basiert der Erfolg ziviler Konfliktintervention auf der Legitimität der durchführenden Institution. Aber bereits jetzt begreifen betroffene Staaten (z.B. die Ukraine) den Einsatz von OSZE-Instrumenten als Makel.27 Letztlich führt im Interesse friedlicher Konfliktbearbeitung kein Weg an der politischen Aufwertung der OSZE und der Optimierung ihrer Instrumente vorbei. Insbesondere jene Regierungen, die wie die bundesdeutsche die Singularität des NATO-Krieges betonen, werden durch Initiativen zur Stärkung der OSZE, aber auch der UNO, beweisen müssen, dass ihr Bekenntnis keine bloße Rhetorik zum Zweck moralischer Eigenentlastung darstellt.

Anmerkungen

1) Die KSZE ist auf dem Budapester Gipfel 1994 mit Wirkung zum 1. Januar 1995 in OSZE umbenannt worden. Eine Organisation im völkerrechtlichen Sinne ist sie damit aber nicht geworden, sondern sie basiert weiterhin auf politischer Übereinkunft. Die Teilnehmerstaaten bekräftigen ausdrücklich: „Durch den Namenswechsel (…) ändert sich weder der Charakter unserer KSZE-Verpflichtungen noch der Status der KSZE und ihrer Institutionen.“ – Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Treffen der Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der KSZE am 5. und 6. Dezember in Budapest. Budapester Dokument 1994. Der Weg zu echter Partnerschaft in einem neuen Zeitalter, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Bulletin, Nr. 120. Bonn, 23. Dezember 1994, S. 1097-1115; hier: S. 1101 (Beschlüsse von Budapest, Pkt. I/29.).

2) Vgl.: Schlotter, Peter: Die OSZE – Leistungsfähigkeit einer internationalen Organisation, in: Die Friedens-Warte, 1/2000, S. 11-30.

3) Vgl.: Jaberg, Sabine: Unvermeidbare Gewalt? Chancen und Grenzen präventiver Friedenssicherung, in: Solms, Friedhelm u.a. (Hrsg.): Friedensgutachten 1997. (…)Münster 1997. (zit.: Friedensgutachten 1997.) S. 171-184; hier: S. 181-184.

4) Vgl.: Switalski, Piotr: Die wirtschaftliche Dimension – Auf der Suche nach dem Mehrwert der OSZE, in: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg/IFSH (Hrsg.): OSZE-Jahrbuch 1999. (…) Baden-Baden 1999. (OSZE-Jahrbuch; 5.) (zit.: OSZE-Jahrbuch 1999.) S. 415-424.

5) Siehe unten.

6) Die deutsche Bezeichnung »Hoher Kommissar für nationale Minderheiten« (Herv. SJ) ist missverständlich. Es handelt sich nicht um einen Ombudsmann für nationale Minderheiten, sondern ausschließlich um ein Instrument der Frühwarnung und Konfliktbewältigung. Die englische Bezeichnung »High Commissioner on National Minorities« (und eben nicht »High Commissioner for National Minorities«) trifft den Sachverhalt präziser.

7) Stoel, Max van der: Gedanken zur Rolle des Hohen Kommissars der OSZE für nationale Minderheiten als Instrument zur Konfliktverhütung, in: OSZE-Jahrbuch 1999, S. 429-441; hier: S. 433. – Vgl.: Zellner, Wolfgang: Was der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten bewirkt, in: Lutz, Dieter S./Tudyka. Kurt P. (Hrsg.): Perspektiven und Defizite der OSZE. Baden-Baden 1999/2000. (Demokratie, Sicherheit, Frieden; 123.) S. 141-171.

8) Zweites Treffen des Rates der Außenminister der Teilnehmerstaaten der KSZE. Am 30. und 31. Januar 1992 in Prag. Prager Dokument über die weitere Entwicklung der KSZE-Institutionen und Strukturen, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Bulletin, Nr. 12. Bonn, 4. Februar 1992, S. 83-88; hier: S. 84 (Pkt. IV/16.).

9) Vgl.: Jaberg, Sabine: Die OSZE: Zwischen kooperativem Anspruch und hegemonialer Ordnungspolitik (zit.: Jaberg: Die OSZE.), in: antimilitarismus information, 11/1999, S. 23-30. Meyer, Berthold/Schlotter, Peter: Zwischen Marginalisierung und Überforderung – die OSZE vor einer Renaissance?, in: Friedensgutachten 1997, S. 143-155. Zellner, Wolfgang: Die OSZE zwischen organisatorischer Überforderung und politischem Substanzverlust (zit.: Zellner: Die OSZE.), in: Ratsch, Ulrich u.a. (Hrsg.): Friedensgutachten 2000. [_] Münster 2000, S. 99-108.

10) Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Abschließendes Dokument des Wiener KSZE-Folgetreffens, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Bulletin, Nr. 10. Bonn, 31. Januar 1989, S. 77-95; hier: S. 79 (Fragen der Sicherheit in Europa, Prinzipien, Pkt. 6.).

11) Bericht über das KSZE-Expertentreffen über die friedliche Regelung von Streitfällen. Valletta 1991. (zit.: Valletta-Bericht.) S. 6.

12) Valletta-Bericht, Pkt. XII Absatz 1, S. 13.

13) Vgl.: Jaberg, Sabine: Systeme kollektiver Sicherheit in und für Europa in Theorie, Praxis und Entwurf. Ein systemwissenschaftlicher Versuch. Baden-Baden 1998. (Demokratie, Sicherheit, Frieden; 112.) S. 680-690.

14) Eine kritische Analyse des Mandats findet sich in Jaberg, Sabine: KSZE 2001. Profil einer Europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung. Bilanz und Perspektiven ihrer institutionellen Entwicklung. Hamburg 1992. (Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik; 70.) S. 45-50.

15) Auch nach Abgabe einer Frühwarn-Erklärung durch den HKNM wird ein Mandat der politischen Gremien erforderlich. Deshalb bemüht sich der HKNM, diese Schwelle nicht zu überschreiten.

16) Vgl.: Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Helsinki-Dokument 1992. Herausforderung des Wandels, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Bulletin, Nr. 82. Bonn, 23. Juli 1992, S. 777-804; hier: S. 783 (Beschlüsse von Helsinki, Pkt. II/5b.).

17) Vgl.: Loquai, Heinz: Die OSZE-Mission im Kosovo – eine ungenutzte Friedenschance?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/1999, S. 1118-1126.

18) Vgl.: OSCE: Administration and Finance – facts & figures, in: http://www.osce.org/general/budget/old_budget.htm (abgerufen am 27. Juli 2000).

19) Vgl.: Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) (Hrsg.): Yearbook 1999. Armaments, Disarmament and International Security. Oxford 1999, S. 326.

20) Auf wichtige Probleme verweist hier: Zellner: Die OSZE, a.a.O, S. 99 f.

21) Loquai, Heinz: Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999. Baden-Baden 2000. (Demokratie, Sicherheit, Frieden; 129.) (zit.: Loquai: Der Kosovo-Konflikt.) S. 62.

22) Matjewew, Alexander: Die Identitätskrise der OSZE, in: OSZE-Jahrbuch 1999, S. 67-90; hier: S. 75.

23) Vgl.: Jaberg: Die OSZE, a.a.O., S. 24-26.

24) Vgl.: Jaberg: Die OSZE, a.a.O., S. 26-29.

25) Loquai: Der Kosovo-Konflikt, S. 63.

26) Vgl.: Rede von Bundesminister a.D. Hans-Dietrich Genscher bei der Festveranstaltung anlässlich 25 Jahre Schlussakte von Helsinki am 19. Juli 2000 in Wien. (PC.DEL/407/00 vom 18. Juli 2000.).

27) Vgl.: Meyer, Berthold: In der Endlosschleife. Die OSZE-Langzeitmissionen auf dem Prüfstand. Frankfurt/M. 1998. (HSFK-Report; 3/1998.) S. 48-50.

Dr. Sabine Jaberg ist Lehrbeauftragte für Friedensforschung an der WWU Münster und Dozentin für Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg

Utopie im ausgehenden 20. Jahrhundert

Utopie im ausgehenden 20. Jahrhundert

von Hans Holzinger

Die Gesellschaften – beziehungs-weise politische Systeme – sind am friedensstabilsten, in denen die Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnung, Kleidung (Umwelt- und Sozialraum) befriedigt werden, in denen zumindest ansatzweise Verteilungsgerechtigkeit herrscht und in denen die individuellen und politischen Grundrechte gewährleistet sind. Die Knappheit an Nahrung, Wasser und Raum (Afrika, teilweise Südasien), die Nicht-Einlösung von Wohlstandserwartungen und daraus resultierende politische Krisen (etwa Russland) sowie der Zugang zu den knapper werdenden Industrie-Ressourcen wie Erdöl (etwa USA) können zu Kriegsgründen im 21. Jahrhundert werden, wenn es nicht gelingt, das Leitbild einer ökologisch und sozial nachhaltigen Entwicklung umzusetzen.

Die Vereinten Nationen erinnern neuerdings mit ganzseitigen Inseraten in grossen Tageszeitungen an die Armut in der Welt: „Alle 3 Sekunden stirbt ein Kind. Weltweit sind 1,3 Milliarden Menschen unmittelbar betroffen. Jedes Jahr kommen weitere 25 Millionen Opfer hinzu“, so heißt es im Anzeigentext. „Extreme Armut hindert ein Fünftel der Weltbevölkerung daran, vorhandene Talente zu nutzen und eigene Fähigkeiten zu entfalten.“ (zit. n. Salzburger Nachrichten, 23.9.99).

In der selben Zeitung beruhigt eine Bank ebenfalls in einem Inserat ihre AnlegerInnen: „Unbegründete Angst vor steigenden Rohstoffpreisen. Unter dem Zwang, mehr Deviseneinnahmen zu generieren, werden die Entwicklungsländer bereits in naher Zukunft damit beginnen, devisenbringende Rohstoffe zu praktisch jedem Preis zu verkaufen. Damit erwarten wir auf mittlere Frist eine markante Korrektur der Rohstoffpreise und, in der Folge, tiefere Kapitalmarktsätze in den Industriestaaten. Diese Korrektur wird für zinssensitive Titel sehr positiv sein.“ Präziser lässt sich die strukturelle Gewalt in der gegenwärtigen Weltgesellschaft wohl nicht fassen.

Doch auch im reichen Teil der Welt zeigen sich Risse. Wachsenden Gewinnen an den Börsen stehen eine sich hartnäckig verfestigende Arbeitslosigkeit und die Rückkehr der »Dritten Welt« in die Metropolen der »Ersten« gegenüber. Volle Regale in den Supermärkten und Einkaufszentren, den neuen Tempeln des säkulären Zeitalters, korrespondieren mit zunehmender Vereinsamung, psychischen Erkrankungen und Suiziden. Eine »Ideologie der Knappheit« suggeriert, wir hätten noch immer zu wenig, wir müssten uns noch mehr anstrengen im weltweiten Konkurrenzkampf um Standortvorteile.

Wer zu spät kommt,
den bestraft der Markt

Ängste vor dem Nicht-Mehr-Mithalten-Können, eine um sich greifende Ellbogen-Mentalität – für Thea Bauriedl (1999) der eigentliche Rechtsruck unserer Gesellschaft –, Sinnverlust im Taumel einer oberflächlichen Waren- und Entertainmentwelt – all das sind moderne Befindlichkeiten in unseren Wohlstandsländern, die kanalisiert werden in Schreckgebilden wie der »Globalisierung« mit den uns »beherrschenden« multinationalen Konzernen, dem »ökologischen Weltuntergang«, dem wir zusteuerten, oder – regressiver und gefährlicher – im Wiederauflammen eines dumpfen Ausländerhasses und Rassismus.

Die Jahrtausendwende beflügelt die modernen Weissager der »Zukunftsbranche«: Technikfaszination und Machbarkeitswahn bestimmt die einen (versprochen werden uns viereckige Gentomaten, Fabriken für menschliche Körperteile oder Fernreisen auf den Mond – es soll schon erste Buchungen geben), eine gefährliche Mischung von religiös-esoterisch, bisweilen auch mythisch verbrämten Weltuntergangsphantasien die anderen.

Wo liegen die utopischen Potenziale heute?

Die Utopie als geschlossener Gesellschaftsentwurf ist gestorben. Dies bestätigt auch der wohl einzige Utopieforscher in Deutschland, Richard Saage (1997). Er spricht von postmaterialistischen und postmodernen Utopien, von Ausformungen eines anderen Lebens, Wirtschaftens, Arbeitens in Nischen. Diese Pluralisierung individueller Lebensentwürfe macht jedoch die Reflexion über das Wohin und Wozu des Ganzen nicht obsolet.

Wo liegen die utopischen Potenziale heute? Ich sehe drei Bereiche: All jene Versuche alternativer Lebens-, Wohn- und Wirtschaftsformen – der Journalist Ulrich Grober (1998) beschreibt Beispiele hierfür in »Ausstieg in die Zukunft« – stellen wichtige Inseln der Differenz dar die zeigen, dass alternative Zukunftsentwürfe nicht nur gedacht, sondern auch gelebt werden können. Denn Christa Wolf (1998) beklagt zu Recht, dass die Verzweiflung vieler von unserem »Fortschritt« abhängiger Menschen daher komme, „dass sie, die ihr materielles Leben nicht aufs Spiel setzen wollen, nicht die Spur einer Alternative sehen.“ Die Ansätze, unabhängiger vom Geld- und Marktsystem zu leben, haben daher mittelbar oder unmittelbar auch politische Kraft, die etwa in der Subsistenzperspektive von Veronika Bennholdt-Thomsen u.a. (1999) als weltweite Widerstandskulturen gegen den globalisierten Markt verstanden werden.

Nachhaltigkeit als Leitbild

Zum Zweiten finden sich in allen Diskussionen, Versammlungen, Runden Tischen und Kampagnen, die mit der Nachhaltigkeitsdebatte einhergehen, Vorstellungen und Leitbilder realutopischen Gehalts. In Büchern wie »Zukunftsfähiges Deutschland« (1996) oder auch »Nachhaltiges Deutschland« (1997), den mittlerweile vielen Ergebnissen von Agenda 21-Prozessen sowie den ersten »Handbüchern« für einen nachhaltigen Lebensstil (Ferenschild u.a., 1998; Jakubowicz, 1999) werden real mögliche Veränderungen auf individueller und politischer Ebene thematisiert. Der Wandel der Arbeitsgesellschaft und sozialen Sicherung (Strasser, 1999), überlegterer Konsum, ein neuer Umgang mit Zeit sowie lokale Verortung (Muschg, 1998; Krippendorff, 1999) spielen dabei eine wichtige Rolle. Über diese Konzepte wird auch der Gerechtigkeits- und Verteilungsaspekt des Nachhaltigkeitsprinzips angesprochen.

Verteilungsgerechtigkeit
in der Weltgesellschaft

Dies führt zum dritten Strang der »Utopien von einer gerechteren Welt«, die im lauten Getöse des Redens von der Weltgesellschaft leider allzu oft untergehen. Dazu zählen die Bemühungen etwa des UNDP mit seinen aufrütteln wollenden jährlichen »Berichten zur menschlichen Entwicklung« (zuletzt 1999) ebenso wie der Vorschlag der Gruppe von Lissabon (1997) für einen »globalen Gesellschaftsvertrag«, dem gemäß der Ausstattung aller Menschen mit den Basisleistungen Priorität eingeräumt werden solle (etwa Wasserleitungen vor Internet-Kabeln). Die theoretische Grundlage hierfür liefert der Ansatz der grundbedürfnisorientierten Ökonomie, wie er etwa von Hermann Daly (1999) entwickelt wurde und der zwischen den begrenzten »needs« und den scheinbar unbegrenzten »wants« unterscheidet.

Auch wenn diese Konzepte voluntaristischen Charakter haben – die prägende Zukunftskraft ist derzeit der Markt, das zentrale Steuerungsmedium Geld beziehungsweise Profit – , so halten sie doch den moralischen Anspruch auf eine gerechtere Welt aufrecht. Ihre Umsetzung bedarf freilich der Materialisierung in Form konkreter Verträge, fairer Handelsabkommen, aber auch gewerkschaftlicher Kämpfe in den Ländern des Südens um fairen Lohn. Die ökologischen Nutzungsrechte und -grenzen (Kontingentierungen) bedürfen konkreter globaler Vereinbarungen. Das Abkommen zum Schutz der Ozonschicht ist hier ein erfolgreiches, jenes zur Begrenzung des Treibhauseffektes ein – zumindest bislang – wenig erfolgreiches Beispiel.

Eine Globalisierung, die die »Grundbedürfnisstrategie« ins Zentrum ihrer Bemühungen rückt, der Aufbau pluraler Ökonomien, in denen sich Weltmarktintegration und lokale Versorgungsstrukturen ergänzen – ebenso wie Lohnarbeit und Subsistenz sowie das Leitbild sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit wären demnach die Grundpfeiler für eine zukunftsfähige Entwicklung im nächsten Jahrtausend.

Literatur

Bauriedl, Thea (1999): Vom Wissen zum Handeln. Wege und Widerstände. In: Nachhaltig – aber wie? Hg. von der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen. Salzburg (im Erscheinen).

Bennholdt-Thomsen, Veronika u.a. (1999, Hg.): Das Subsistenzhandbuch. Widerstandskulturen in Europa, Asien und Lateinamerika. Wien, Promedia.

Daly, Hermann (1999): Wirtschaft jenseits von Wachstum. Die Volkswirtschaftslehre nachhaltiger Entwicklung. Salzburg, Pustet-Verlag.

Ferenschild, Sabine u.a. (1998, Hg.): Weltkursbuch – Globale Auswirkungen eines »Zukunftsfähigen Deutschlands«. Berlin u.a., Birkhäuser.

Grober, Ulrich (1998): Ausstieg in die Zukunft. Eine Reise zu Ökosiedlungen, Energie-Werkstätten und Denkfabriken. Berlin, Chr. Links-Verlag.

Gruppe von Lissabon (1997): Grenzen des Wettbewerbs. Die Globalisierung der Wirtschaft und die Zukunft der Menschheit. München, Luchterhand.

Jakubowizc, Dan (1999): Genuss und Nachhaltigkeit. Handbuch zur Veränderung des persönlichen Lebensstils. Wien, Promedia.

Krippendorff, Ekkehart (1999): Die Kunst, nicht regiert zu werden. Ethische Politik von Sokrates bis Mozart. Frankfurt/M., Suhrkamp.

Muschg, Adolf (1998): Die neue Beliebigkeit – ein unglaublich trübes Medium. In: Was kommt von Links. Hg. v. Jochen Reinert. Wien, Promedia.

Saage, Richard (1997): Utopieforschung. Eine Bilanz. Darmstadt, Primus.

Strasser, Johano (1999): Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Zürich, Pendo.

Wolf, Christa (1999): Hierzulande. Andernorts. München, Luchterhand.

MA Hans Holzinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen, Salzburg, und Mitherausgeber der Zeitschrift »Pro Zukunft«.

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Interview mit Mari Fitzduff

von Mari Fitzduff und Corinna Hauswedell

Nach 25 Jahren Bürgerkrieg deutete sich Mitte der Neunzigerjahre eine Wende an: politische Verhandlungen mit allen Beteiligten, eine vielversprechende Vereinbarung 1998 – das Good Friday-Abkommen, der Friedensnobelpreis für John Hume und David Trimble als Repräsentanten der beiden Lager und dann doch immer wieder neue Probleme, Blockaden.
Vier Wochen nach Durchführung des folgenden Interviews ein hoffnungsvolles Ende der »no guns – no goverment«-Sackgasse: Am 2. Dezember wurde nach 27 Jahren britischer Herrschaft die Macht an eine nordirische Regionalregierung mit gleichberechtigter Beteiligung von ProtestantInnen und KatholikInnen übertragen, die politische Verwirklichung des Abkommens kann beginnen und mit ihr der Abrüstungsprozess.
Nach den Ursachen des Konflikts, seinen Mustern und den Lösungsstrategien fragte Corinna Hauswedell die Direktorin von INCORE, Mari Fitzduff.

Hauswedell: Wo sehen sie die Gründe dafür, dass nach über 25 Jahren Bürgerkrieg in der Mitte der Neunzigerjahre ein Neuanfang möglich wurde?

Fitzduff: Als der Bürgerkrieg 1969 ausbrach, war die soziale und kulturelle Ungleichheit zwischen den beiden nordirischen Communities, den Katholiken und Protestanten, riesengroß. Weil diese Ungleichheiten in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren nicht schnell genug aufgegriffen und verändert wurden, sind wir in diesen schrecklichen Krieg hineingeraten, der über 3.000 Menschen das Leben gekostet hat. Doch seitdem haben sich viele Dinge grundlegend verändert.

Vor 1969 war die Mehrheit der katholischen Kinder schlecht oder sogar unterernährt, die Protestanten hatten überall die führenden Positionen. In den 70er-Jahren begann ein langsamer Prozess des Eindringens der Katholiken in den Business-Sektor und in Positionen des öffentlichen Lebens. Eine inzwischen fast drei Jahrzehnte währende neue Gesetzgebung sichert den Katholiken inzwischen grundsätzlich den gleichen Zugang zu allen Positionen in Nordirland. So konnte sich das 1969 bei der katholischen Minderheit vorherrschende Grundgefühl der Ausgrenzung und Zurückweisung von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wandeln. Ein weiterer Faktor war das vor 1969 vorherrschende Klima kultureller Enteignung: Der offizielle Gebrauch der irischen Sprache war untersagt, keine irische Straßennamen erlaubt, es gab keine irischen Schulen. Vieles hat sich seither verändert. Wenngleich die katholische Bevölkerung noch immer von der Langzeitarbeitslosigkeit überproportional betroffen und in den öffentlichen Berufen unterrepräsentiert sind.

Der andere große Faktor für die Veränderung war die in der Mitte der 80er-Jahre wachsende Überzeugung, dass die Probleme militärisch nicht zu lösen waren. Und zwar von beiden Krieg führenden Parteien in einer gewissen zeitlichen Kohärenz. Beispielhaft dafür sind Frank Kitson, ein führender Vertreter der britischen Armee in Nordirland, der den Krieg gegen die Taktik der IRA nicht mehr für gewinnbar hielt und etwas später seitens der IRA Leute wie Gerry Adams, die begannen, das Primat der Politik gegenüber den Waffen ins Feld zu führen.

Sie haben einige der internen Akteure und Bedingungen für die beginnende Veränderung genannt. Welche Rolle spielten äußere Faktoren bzw. die internationale Wahrnehmung des Konfliktes für die Situation in Nordirland?

Der Bürgerkrieg begann in einer Zeit, in der die nationale Souveränität unangefochtene völkerrechtliche Realität war. Das Gebot der Nichteinmischung machte etwa das Eingreifen auf der Basis einer UN-Mission unmöglich. In den 70er-Jahren wuchs aber – parellel zu der Frustration auf dem britischen Mainland – auch die Furcht in der Republik Irland, dass die Gewalt aus dem Norden auf den Süden übergreifen würde und den gerade beginnenden ökonomischen Aufschwung empfindlich stören könnte. In so fern ging die erste deutlichere Einmischung von außen in den frühen 80er-Jahren von der Republik Irland aus. Sie bildete die Grundlage für eine neue Qualität der Kooperation zwischen der irischen und britischen Regierung, die ihren Niederschlag 1985 im Anglo-Irish-Agreement fand. Diese Zusammenarbeit und Kommunikation war bekanntlich nicht immer stabil über die Jahre, bildete aber schließlich einen wesentlichen Rahmen für die Friedensgespräche der 90er-Jahre. Der zweite relevante Faktor äußerer Einmischung war die sich verändernde Rolle der USA als zentraler internationaler Akteurin in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren. Bis dahin hatten die USA – bedingt vor allem durch die starke irische Lobby – vor allem als Unterstützer des Republikanismus fungiert. Das änderte sich in dem Maße wie wirtschaftliche Förderung über die Irish Funds und andere Geldgeber zunehmend die Gebote ziviler, sozialer und ökonomischer Entwicklung auf die Tagesordnung setzte, und zwar für beide nordirischen Seiten, die grüne und die orangene. Die finanzielle Unterstützung für die militärischen Ziele der IRA ging deutlich zurück zugunsten sozialer Förderprogramme, Investoren aus den USA verstärkten den politischen Druck auf die Provisional IRA und Sinn Fein und begannen, Kontakte auch zu den Loyalisten zu entwickeln und Unionisten erfolgreich in die Wirtschaftskooperation einzubinden.

Glauben Sie, dass diese spezifische irisch-amerikanische Connection bedeutsamer war als die globalen Veränderungen am Ende des Kalten Krieges, die auch eine Infragestellung des revolutionären bewaffneten Kampfes mit sich brachten, oder handelt es sich hier um parallele Entwicklungen?

Ich denke durchaus, dass die internationalen Veränderungen im Verständnis von Nationalismus einen wichtigen Kontext auch für die nordirische Situation beschreiben, alles was sich mit der Relativierung des Souveränitätsanspruches bzw. des Nichteinmischungsgebots verbindet. Das erleben wir seit einigen Jahren in den Auseinandersetzungen um das frühere Jugoslawien, aktuell im Kosovo, in Ost-Timor und in anderen Konflikten in der Welt. Ich erinnere mich an Gespräche mit dem britischen Minister of Security in den frühen 90er-Jahren, der zwar der Republik Irland eine Rolle zugestehen wollte, aber einem diplomatischen Engagement der USA sehr skeptisch gegenüberstand…

Das hat sich mit dem Beginn der Friedensgespräche, wo die USA eine wichtige Moderationsfunktion übernahmen, geändert…

In der Tat. In diese Zeit fällt auch eine Veränderung der Art der internationalen Kontakte, die zwischen den verschiedenen revolutionären oder Guerillaorganisationen bestanden, wie zwischen der IRA, entsprechenden Gruppierungen etwa in Korsika oder im Baskenland. An die Stelle des Austausches von Militärstrategien und Informationen zur Waffenbeschaffung trat mehr und mehr ein Dialog über politische Konzepte zur Lösung der ethno-nationalen Konflikte.

Ich möchte gern noch einmal etwas weiter ausgreifen hinsichtlich der historischen Wurzeln und der Muster, die dem Nordirland-Konflikt möglicherweise zu Grunde liegen. Handelt es sich in Ihren Augen eher um das auslaufende Modell eines Jahrtausendkonfliktes oder um die allmähliche Lösung eines für unser Jahrhundert nicht untypischen Konfliktmusters?

Wir haben es mit den Spätfolgen einer kolonialen Politik zu tun, die sich insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert in Nordirland raumgreifend entwickelte und ein Muster der sozialen Separierung etablierte. Die ursprüngliche irische, mehrheitlich katholische Bevölkerung lebte seither getrennt, arbeitete getrennt und führte ein gesellschaftliches Leben, das von dem der britischen Siedler, die außerdem eine andere Religionszugehörigkeit besaßen, getrennt verlief. Der Religionsunterschied hätte für sich genommen nicht die besondere Bedeutung erlangen müssen, wenn es nicht die ausdrückliche politische Strategie der Separation gegeben hätte, die im unmittelbaren Interesse der damaligen britischen Regierungen lag. In den frühen Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts – der Charakter des Kolonialismus verlagerte sich im internationalen Maßstab von militärisch-territorialen stärker auf ökonomische Strategien – veränderte sich entsprechend zwar auch die britische Einflussnahme in Nordirland; aber man war auch zum Gefangenen der Jahrhunderte alten Separationspolitik geworden. Denn zu diesem Zeitpunkt, als die Chance für ein vereinigtes Irland virulent auf die Tagesordnung kam, war die Separation der Protestanten verbunden mit einer Dominanz der Gesellschaft im Norden so manifest und ihre Sorge in einem mehrheitlich katholischen Gesamtirland unter zu gehen so groß, dass eine flexiblere britische Strategie auf taube Ohren stieß. Im Gegenteil, die Dinge verhärteten sich mit der Übernahme der protestantischen Herrschaft in Stormont/Belfast, die bis zum Beginn der »Troubles« andauerte.

Wenn man also gefragt wird, was für eine Art von Bürgerkrieg ist das, ein religiöser, politischer oder sozialer, kann man nur sagen, der Bürgerkrieg brach aus, weil alle diese Faktoren als Ausdruck der Separationspolitik zusammenkamen. Und die Kirchen haben sicherlich ihren eigenen Teil dazu beigetragen, indem sie die Trennung der Communities durch ein separates Erziehungswesen, durch die Betonung der kulturellen Differenz immer weiter befördert haben. Diese Koinzidenz aller Formen von Separatismus hat in Nordirland, anders als in anderen ethnischen Konflikten in denen es in einzelnen Bereichen mehr Durchlässigkeit gab, die vergleichsweise große Schärfe, Traditionslast und Unversöhnlichkeit bewirkt.

Apropos kulturelle Identitäten: lassen sich Veränderungen in dem kulturellen Selbstverständnis der Konfliktparteien im Verlaufe dieses Jahrhunderts festmachen, insbesondere bei den Unionisten, möglicherweise ein Wandel zu einem eigenen »irischen« Selbstverständnis, das in dem jetzigen Friedensprozess eine förderliche Rolle spielen könnte?

Kultur wird in einem Krieg immer benutzt, um ein Bollwerk gegen den Feind zu errichten. Erinnern wir uns, irische Kultur wurde als ein Kampfbegriff im Krieg gegen die Engländer zwischen 1919 und 1921 entwickelt. De Valeras Schlachtruf 1921 war »Ein katholischer Staat für ein katholisches Volk«.

In ähnlicher Weise haben die Unionisten, vor allem weil sie sich immer als bedrohte Minderheit auf der irischen Insel gefühlt haben, ihre Identität in strenger Anlehnung an das Gefühl britisch zu sein gepflegt. Die Unionisten sind aber mit eben dieser Identität in den letzten Jahrzehnten immer mehr in ein Dilemma geraten, weil britisch zu sein selbst in die Krise geraten ist. Die stärkere regionale Differenzierung eines schottischen, walisischen, oder eben englischen Selbstverständnisses, der Zerfall des britischen Empire haben die Verunsicherung bei den nordirischen Unionisten darüber verstärkt, wohin sie sich orientieren sollen.

Liegt hier nicht auch eine Chance – genau im Sinne der Entstehung einer neuen nordirischen Identität, in der die Separation in einem, wenn man so will, positiven, dialektischen Sinne aufgehoben werden könnte?

Nun ja, die Frage ist, wer kann eine solche Identität kreieren? Es gibt z.B. Versuche, so etwas wie eine Ulster-Scots-Identität zu schaffen, aber viele Protestanten in Nordirland fühlen sich dabei nicht wohl, nicht zuletzt wegen des sprachlichen Aspekts, der das Englische ausgrenzt. Wir diskutieren diese Fragen in unserer Arbeit intensiv mit Unionisten und ein Problem besteht ja gerade darin, dass diese in ihrer Identität verunsicherte Gruppe sich mit einer Gruppe konfrontiert sieht, die sich ihrer katholisch-nationalistischen Identität sehr sicher ist. Deshalb haben wir besonders im Rahmen der Friedensgespräche großen Wert darauf gelegt, eine Art kulturelle Rückversicherung zu geben, den Unionisten die Angst zu nehmen, dass sie nur die Wahl hätten, irisch, gälisch oder katholisch zu werden. Die Verunsicherung der Protestanten, die mit der erwähnten britischen Desintegration zusammenhängt, lässt sich nicht einfach weg diskutieren. Die wenigsten Unionisten würden sich gern als englisch verstehen, es gibt eine ganze Bandbreite von Sympathien etwa in Richtung schottischer Identität oder in Richtung einer nordirisch-britischen Prägung. Aber das Unwohlsein bleibt, da man sich historisch eben nicht auf die besondere nordirische Geschichte bezogen, sondern sich im Kontext einer umfassenden britischen Geschichte verortet hat. Das heißt, wir haben es mit einer Gruppe zu tun, die mehr und mehr von ihren historischen Wurzeln wegdriftet – ein ernstes Problem.

Würden Sie hierin, auch im Vergleich mit anderen ethnischen Konfliktkonstellationen, eine spezifische ethnische Komponente des nordirischen Konflikts sehen – den Versuch einer Neukonstituierung der sich auflösenden unionistischen Identität?

Wie wir wissen, wird das Konzept der Ethnizität und solcher Begriffe wie Rasse oder Volksgruppenzugehörigkeit gegenwärtig einer kritischen Prüfung unterzogen – in einer, wie ich finde, viel versprechenden und konstruktiven, internationalen Diskussion. Was definiert eine ethnische Gruppe? Was bedeutet es, einer Gruppe zuzugestehen, sich als ethnische Einheit zu verstehen? Ein diesbezüglich spezifisch nordirisches Problem liegt ja auch darin, dass viele der individuellen Akteure in ihrem familienhistorischen Hintergrund gemischte Ursprünge vorfinden und ihre Unterschiedlichkeit erst in dem Moment definieren, wenn sie mit dem »anderen« Gegenüber Differenzen verhandeln müssen oder wollen. Dies ist ein großes Dilemma, was insbesondere bei der katholisch-nationalistischen Community dazu geführt hat, den Konflikt nicht als ethnisch, sondern als primär politisch zu definieren, d.h. als bedingt durch die britische Anwesenheit in Nordirland. Die Unionisten tendieren auch eher zu einer politischen Definition, denn sie stellen den Machtanspruch der Republik Irland auf das Gesamtterritorium der Insel in den Vordergrund – trotz der offensichtlichen, auch konstitutionellen Veränderungen der jüngeren Zeit. Es gibt sicher bei den Protestanten noch eine kleinere, aber relevante Gruppe, die die religiöse Dimension betonen, die sich als Bollwerk des Protestantismus, der richtigen Gotteslehre auf der irischen Insel verstehen. Dominant sind aber sicher die politischen und kulturellen Perzeptionen der Differenzen. Wir als akademische Einrichtung, die sich mit ethnischen, politischen, und religiösen Konflikten beschäftigt, halten es nicht für adäquat, den Menschen mit denen wir zusammen arbeiten ihre Sicht der Konfliktdimension vorzuschreiben, sondern vielmehr ihre jeweiligen Perzeptionen ernst zu nehmen und auf dieser Grundlage an Lösungen zu arbeiten.

Wir haben die militärische Dimension der »Troubles« bereits angesprochen. Die beidseitige Einsicht, dass militärische Gewalt keine politische Lösung brachte, der 1994 erklärte und 1997 erneuerte Waffenstillstand der IRA haben den Weg für die Friedensverhandlungen auf der Basis einer gleichberechtigten Einbeziehung der Konfliktparteien – »inclusiveness« statt »separation« – geebnet. Das Good Friday Agreement sieht sowohl einen bemerkenswert modernen Kanon der Institutionalisierung sozialer, politischer und kultureller Rechte im Rahmen einer weitgehend souveränen Teilung der Regierungsmacht in Nordirland vor als auch ein Programm der Demilitarisierung, der Abrüstung der paramilitärischen Organisationen sowie der staatlichen Sicherheitskräfte, einschließlich einer umfassenden Reform der Sicherheitsstrukturen. Welchen Stellenwert geben Sie der Waffenfrage, die die politische Implementierung des Abkommens bis heute zu verhindern scheint?

Die Realität nicht nur der nordirischen Geschichte seit 1921 – das reicht eben auch weit in die Geschichte Irlands zurück – ist, dass die Leute, die die Waffen hatten und einsetzten, seien es die Loyalist Volunteers oder Provisional IRA, kleine, aber zentrale Akteursgruppen waren, an denen sich die politische Geschichte des Konfliktes abarbeitete. Es gibt so etwas wie Wellenbewegungen oder Moden, in denen sich das Verhältnis von Waffen und Politik in Nordirland konstituierte. Für jede Gesellschaft ist es eine problematische Herausforderung, die Waffen in den Händen Weniger zu kontrollieren. Der Kontext der Akzeptanz oder Inakzeptanz in dem Waffen angewendet werden bedarf jedoch einer besonderen Analyse – besonders wenn wie in Nordirland Waffengewalt zwar nie mehrheitlich unterstützt wurde, aber eine gewisse soziale Akzeptanz aus dem Gefühl der Deklassierung heraus besaß. Die Aufgabe der Politik ist es, eine gesellschaftliche Situation zu schaffen, in der die Waffen weder die Emotionen (verletzter Rechte) noch die Logik (der Durchsetzung politischer Ziele) für sich in Anspruch nehmen können. Die positive Veränderung der 90er-Jahre bestand auch darin, dass es mehr und mehr gelang, den Interessen der Gruppen, die am Rande der loyalistischen bzw. republikanischen Community agieren, eine politische Stimme und Einfluss zu geben. Das heißt nicht, dass dies schon ausreicht und diejenigen militanten Splittergruppen auf beiden Seiten, die nach wie vor auf Waffengewalt setzen, sind eben in den politischen Dialog auch noch nicht hinreichend einbezogen. Es gibt auch fließende Übergänge in den Bereich einer Alltagskriminalität hinein, die mit den politischen Wurzeln des Konflikts kaum etwas zu tun hat, statistisch gesehen allerdings in Nordirland noch in geringerem Maße als in anderen vergleichbaren Gesellschaften.

Um auf die Beendigung des Krieges zu sprechen zu kommen: Ja, es gibt ein größeres Problem in Nordirland mit »decommissioning«, der Entwaffnung der paramilitärischen Organisationen, und das ist angesichts der Geschichte des Konfliktes nicht überraschend. Leute unterzeichnen einen Friedensvertrag nicht wegen, sondern trotz ihrer Gefühle. Es dominieren nach wie vor Gefühle der Verletzung und des Misstrauens zwischen den Konfliktparteien. Beide Seiten haben mit dem Friedensabkommen nicht das bekommen was sie wollten. Von außen mag es wie ein Doppelsieg aussehen, aber die Konfliktparteien fühlen sich beide als Verlierer. Die Unionisten mussten in eine Teilung künftiger Regierungsgewalt (power-sharing) mit Sinn Fein einwilligen, Sinn Fein musste – zumindest zunächst – den Anspruch auf eine vereinigtes Irland aufgeben. Das Agreement ist in so fern die zweitbeste Lösung für beide Seiten und dafür lässt sich nicht immer die notwendige emotionale Energie aufbringen. In der Diskussion um »Decommissioning« oder auch die anstehende Polizeireform kommt dieses Dilemma exemplarisch zum Ausdruck…

Aber die Diskussion um den im September veröffentlichten Patten-Report für eine neue Polizeistruktur umreißt sowohl das komplizierte Verhältnis legaler und illegaler Waffen als auch die sehr weitreichenden neuen Aufgaben einer Sicherheitsarchitektur in einer modernen zivilen Gesellschaft…

Ich sehe uns hier in Nordirland mit diesen Themen in einer Art zeitlicher Verzögerung zur internationalen Diskussion konfrontiert, die z.B. von den größeren NGOs, Oxfam und anderen, im Bereich der Kleinwaffenkontrolle mit Blick auf post-conflict-Situationen geführt wird. Das ist in Nordirland noch nicht ganz angekommen. Die Gewehre haben in der irischen Geschichte einen spezifisch hohen Symbolwert, dies gilt für beide Seiten, aber besonders für die republikanische. Es mangelt noch an einer gewissen Kreativität hinsichtlich politischer Gesten, die von den Republikanern nicht als Unterwerfung gegenüber den Unionisten verstanden werden wollen. Ich habe die Hoffnung, dass die internationalen Erfahrungen, die wir gegenwärtig in der Arbeit unserer Organisationen machen, zunehmend Eingang finden in den nordirischen Kontext. Wir haben in Nordirland auch die Erfahrung, dass es immer Bewegung gab, wenn die Zeit hinsichtlich der Beziehungen zwischen den Konfliktparteien reif war. Die Lösung der Waffenfrage ist in so fern kein technisches Problem, sondern ein Problem des Vertrauenszuwachses. Daran arbeiten wir im Augenblick.

Sind die Schwierigkeiten, die es jetzt bei der Implementierung des Good Friday Agreements gibt, für Sie ein déjà vu-Erlebnis im Vergleich zum Scheitern des Sunningdale-Abkommens 1974 oder des Anglo-Irish-Agreements von 1985?

Nein, das kann man auf keinen Fall sagen. Sunningdale war ein erster großer Versuch, power-sharing zu etablieren, und ich kenne viele private, nicht öffentlich geäußerte Meinungen von Unionisten, die es sehr bedauern, dass das Abkommen damals von ihnen zu Fall gebracht wurde. Es hätte 25 Jahre der Gewalt ersparen können. Dies gilt in ähnlicher Weise für die irische-britische Übereinkunft vor 14 Jahren. Aber auch hier sind historische Entwicklungen zu berücksichtigen, die die Veränderungen in diesem Zeitraum erst ermöglicht haben. Die Republik Irland hat sehr allmählich, seit dem Eintritt in die Europäische Gemeinschaft 1973, begonnen, sich aus der vollständigen wirtschaftlichen Abhängigkeit Großbritanniens zu lösen und eine eigene, inzwischen sehr anerkannte Rolle im Rahmen Europas bzw. der EU zu spielen. Erst auf dieser Basis wurde es möglich, großzügiger im Umgang mit dem alten verhassten Kolonialherren zu werden. Erst seit wenigen Jahren treffen sich die Staatsoberhäupter regelmäßig und offiziell. Geschichte braucht ihre Zeit…

… und die jüngeren irischen Entwicklungen vollziehen sich parallel zu den weltweiten Prozessen der Globalisierung. Ehemals nationale Akteure stehen angesichts der Internationalisierung der Finanzmärkte und der Kommunikationstechnologien vor neuen Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten zur Gestaltung des regionalen Kontextes…

In der Tat wäre das Good Friday Agreement vor zehn Jahren nicht denkbar gewesen. Nicht bevor wir begannen, das alte »Millennium des Nationalismus« hinter uns zu lassen und den Weg für ein Millennium neuer konstitutioneller Möglichkeiten zu öffnen. Das Agreement ist ein faszinierendes Beispiel für diese Suche nach neuen Wegen und es kann sich im internationalen Vergleich sehen lassen. Es erkennt die großen globalen Veränderungen, die Notwendigkeit von Pluralismus, Mobilität und grenzüberschreitender Kooperation an. Erstmals gibt es das gesetzlich verbriefte Recht, die britische oder irische Staatsbürgerschaft – oder beide – und damit die politische und kulturelle Identität frei zu wählen. Ein vereinigtes Irland war eine Lösung des letzten Jahrhunderts, eine Integration Nordirlands in Großbritannien ebenfalls. Das Belfast Agreement ist die Lösung für das nächste Jahrhundert. Und wir suchen nach vergleichbaren Modellen auch in anderen post-conflict-Situationen.

Prof. Mari Fitzduff ist Direktorin der akademischen Einrichtung »Initiative on Conflict Resolution and Ethnicity« (INCORE.) an der Ulster University in Derry/Londonderry, Nordirland (http://www.incore.ulst.ac.uk).
Dr. Corinna Hauswedell ist Gastwissenschaftlerin am »Bonn International Center for Conversion« (BICC) mit einem Forschungsprojekt über Demilitarisierung in Nordirland.

El Salvador – Problematische Dynamik institutionalisierter Konfliktlösung

El Salvador – Problematische Dynamik institutionalisierter Konfliktlösung

von Ulf Baumgärtner

Seit fast acht Jahren ist das kleine mittelamerikanische Land El Salvador auf dem Weg zu einem »dauerhaften Frieden«, dem Ziel, das sich die unter dem Namen »Esquipulas II« bekannte Initiative der damaligen mittelamerikanischen Präsidenten 1987 setzte. Der »nicht internationale bewaffnete Konflikt« – so die Definition des Protokolls II zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 – begann 1980, dem Jahr, in dem Erzbischof Romero ermordet und die FMLN (Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí) als Zusammenschluss von fünf Guerilla-Organisationen gegründet wurde. Beendet wurde er mit den Friedensverträgen zwischen der salvadorianischen Regierung und der FMLN am 16. Januar 1992. Der salvadorianische Friedensprozess gilt als erfolgreich. Ist er es wirklich?

Erfolgreich ist der salvadorische Friedensprozess in dem Sinne, dass die beiden vormaligen direkten Konfliktparteien nicht mehr auf einander schießen und die Vereinten Nationen ihre Überwachungsmission praktisch abgeschlossen haben, weil alle Vereinbarungen umgesetzt wurden. Dies allerdings in vielen Punkten (Menschenrechts-Ombudsbüro, Justizreform, Wahlrechtsreform, neue Polizei, Landübertragungsprogramm, wirtschaftliche und soziale Konzertation u.a.) mehr schlecht als recht. Trotz der von den neoliberalen MusterschülerInnen, zu denen die Regierungen der rechtsextremen ARENA-Partei (Republikanische Nationalistische Allianz) seit 1989 zählen, bekannten günstigen makroökonomischen Indices hat die Massenarmut weiter zugenommen. Täglich versuchen Hunderte von SalvadorianerInnen illegal in die USA zu kommen. Die Überweisungen derjenigen, die es geschafft haben, halten die Wirtschaft in Gang: Sie sind mit jährlich weit über einer Milliarde Dollar die wichtigste Devisenquelle El Salvadors. Seit Kriegsende ist die Zahl der Morde Jahr für Jahr gestiegen und liegt heute mit über 10.000 pro Jahr höher als während des Krieges. Der Schriftsteller Manlio Argueta spricht in diesem Zusammenhang von einem »sozialen Krieg«.

Die Beendigung einer bewaffneten Auseinandersetzung bedeutet also noch lange nicht Frieden. Warum das so ist, wird im Folgenden am salvadorianischen Beispiel erläutert. Dazu wird an die Ursachen des Krieges erinnert und werden die Bedingungen und die Dynamik der Konfliktschlichtung beschrieben.

Die Ursachen des Krieges
in El Salvador

Die extrem ungleiche Landverteilung, die mit Landvertreibungen vor allem im Zuge des Kaffee-Booms Ende des letzten Jahrhunderts erzwungen und mit den Mitteln des Staatsterrorismus von den Streit- und Sicherheitskräften und einem flächendeckenden Apparat von paramilitärischen Gruppen aufrecht erhalten wurde, gilt als Ursache der lang anhaltenden sozialen Krise, die wiederholt zu Aufständen geführt hat. So im Jahr 1932, als die Kaffeebarone ihre Entschlossenheit gegebenenfalls für Friedhofsruhe zu sorgen bewiesen, indem sie ca. 30.000 Menschen umbringen ließen.

Wie der Aufstand von 1932 von den in der Weltwirtschaftskrise zusammengebrochenen Kaffeepreisen mit verursacht worden war, bescherte die Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg El Salvador hohe Deviseneinnahmen aus dem Kaffee-Export. Das Land wurde elektrifiziert, der Baumwollanbau kam als neue Devisenquelle (und wurde bis zum ökologischen Selbstmord forciert) und mit dem Aufbau einer Leichtindustrie wurde Importsubstitution betrieben. Es entstand der Mittelamerikanische Gemeinsame Markt, der aber schon bald von den Ungleichgewichten zwischen den beteiligten Ländern gefährdet wurde. Zum endgültigen Bruch kam es, als sich Honduras und El Salvador 1969 den kurzen »Fußballkrieg« lieferten. Seine wesentliche Ursache war die Politik des damaligen honduranischen Präsidenten, der die Forderungen der eigenen Bauernschaft nach einer Agrarreform mit der Vertreibung von salvadorianischen SiedlerInnen meinte erfüllen zu können. Das Militärregime in El Salvador war weder willens, die aus Honduras Vertriebenen zu integrieren, noch den wachsenden sozialen Konflikte mit längst überfälligen Reformen zu begegnen. Die entstehende soziale Bewegung speiste sich aus zwei Quellen: den christlichen Basisgemeinden, die im Gefolge der lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Medellín (1968) entstanden, und den Guerillaorganisationen, die sich ab 1970 entwickelten. Die massiven Wahlfälschungen, mit denen 1972 und 1977 die Opposition um ihre Siege gebracht wurde, taten ein Übriges.

Im Oktober 1979 wurde der gerade regierende General von jungen Offizieren hinter denen auch zivile Reformkräfte standen gestürzt – der letzte Versuch, den offenen Krieg zu verhindern. Er scheiterte, weil die US-Regierung, von der Sandinistischen Revolution in Nicaragua (1979) alarmiert, eingriff. Die erste Reagan-Regierung (ab 1981) war entschlossen, in El Salvador die »Entscheidungsschlacht gegen das Vordringen des Kommunismus« in Lateinamerika zu schlagen – und ließ sich das 10 Jahre lang ca. eine Million US-Dollar pro Tag an Militär- und Wirtschaftshilfe kosten.

Der Beginn
des Friedensprozesses

Verschiedene nationale und regionale Dialog-Versuche in den Jahren zwischen 1981 und 1987 scheiterten. Die FMLN beharrte darauf, dass es keinen Waffenstillstand und schon gar keine Demobilisierung ihrer Truppen ohne substanzielle militärische, politisch-institutionelle und wirtschaftlich-soziale Reformen geben konnte. Die regierenden ChristdemokratInnen hatte keine wirkliche Macht. In der Tradition der Kaffeediktatur setzten die in der ARENA-Partei neu formierten Kräfte der Oligarchie und die Streitkräfte auf eine Zerschlagung der »Subversion«.

Die Wende wurde mit dem Esquipulas II-Abkommen eingeleitet. Im Kern ging es darum, die Unterstützung von »irregulären Kräften« (gemeint war die nicaraguanische Contra) und »Aufstandsbewegungen« (gemeint war die FMLN) durch ausländische Regierungen zu unterbinden. Die Reagan-Regierung war mit Esquipulas II einverstanden, weil dadurch die Sandinisten zu vorgezogenen Wahlen gezwungen wurden, bei denen sie geschlagen werden konnten. Das war dann auch im Februar 1990 der Fall. Zu diesem Zeitpunkt war die Mauer in Berlin bereits gefallen. Der endgültige Rückzug der UdSSR aus der Region wurde zum ersten Punkt auf den Tagesordnungen der sowjetisch-amerikanischen Präsidentengipfel. Er wurde bekanntlich flott abgearbeitet. Damit war das strategische Ziel der US-Intervention in Mittelamerika erreicht.

In El Salvador selber hatten sich die Bedingungen ebenfalls verändert. Im März 1989 gewann die ARENA-Partei die Präsidentschaftswahlen. Da Wirtschafts- und Finanzlobby, welche die christdemokratische Regierung fünf Jahre lang bekämpft hatten, hinter dem neuen Präsidenten standen, waren die Voraussetzungen für ernsthafte Verhandlungen gegeben. Ein erster Versuch im September 1989 scheiterte jedoch, weil die Regierungen in Washington und San Salvador die FMLN für schwächer hielten als sie tatsächlich war und sich entsprechend intransigent zeigten. So löste die FMLN 1989 ihre parallel zu den Verhandlungsbemühungen vorbereitete Offensive aus. Sie machte allen Beteiligten klar, dass die Guerilla auf absehbare Zeit militärisch nicht zu besiegen war. In der Situation des zu Ende gehenden Kalten Krieges wurde eine Verhandlungslösung für die US-Regierung akzeptabel. Die Rolle des Vermittlers konnte dabei getrost den Vereinten Nationen übergeben werden.

So begannen im April 1990 die Verhandlungen. Da die FMLN-Offensive klargestellt hatte, dass es keine Demobilisierung auf der Grundlage vager Versprechungen geben würde, wurde vereinbart, zunächst eine Reihe von Reformen und dann erst einen Waffenstillstand auszuhandeln. Dazu gehörten: Reform der Streit- und Sicherheitskräfte, Justizreform, Menschenrechte, Wahlrechtsreform, ökonomische und soziale Themen, politische Teilnahme der FMLN, Beendigung des bewaffneten Konfliktes, Überwachung durch die Vereinten Nationen. Zum ersten Themenkomplex gehörten so heikle Fragen wie Säuberung der Streitkräfte, Beendigung der Straffreiheit für Uniformierte, Unterordnung der Streitkräfte unter die Zivilgewalt, Ersatz der dem Kriegsministerium unterstellten Sicherheitskräfte durch eine Zivilpolizei, Auflösung der paramilitärischen Strukturen und Truppenreduktion.

Der Verlauf
der Konfliktschlichtung
am Beispiel der Militärfrage

Da es den Rahmen dieser Abhandlung sprengen würde, den Verlauf der Verhandlungen zwischen April 1990 und Januar 1992 detailliert nachzuzeichnen (z.B. wie der Punkt »wirtschaftliche und soziale Fragen« zu kurz kam und die neoliberale Wirtschaftspolitik ausdrücklich festgeschrieben wurde), wird im Folgenden nur die Auseinandersetzung um die Zukunft der bewaffneten Kräfte beider Seiten skizziert. An diesem Beispiel werden das reale Kräfteverhältnis zwischen den Parteien und die Dynamik der Verhandlungen deutlich.

Die Frage nach der Zukunft ihrer Militärapparate war für beide Seiten entscheidend. Für die FMLN war klar, dass sie mit der Demobilisierung ihr wichtigstes Instrument zur Durchsetzung gesellschaftlicher Reformen aus der Hand geben würde. Für die Streitkräfte war klar, dass sie mit den Reformen, die zur Diskussion standen, ihre zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung der inneren Ordnung verlieren würden. Nachdem die Verhandlungen an entscheidenden Aspekten der Militärfrage mehrfach zu scheitern drohten, ging die FMLN im August 1990 das Thema von einer neuen Seite an. Sie schlug die Abschaffung beider Streitkräfte vor. Die Regierung lehnte es ab, auch nur darüber zu verhandeln. Erst nach intensiver UNO-Diplomatie und einem weiteren militärischen Vorstoß der FMLN, bei dem sie zum ersten Mal Luftabwehrraketen einsetzte, gelang im März 1991 ein erster Durchbruch: Die Regierung stimmte Verfassungsänderungen zu, mit denen die Rolle der Streitkräfte auf die Landesverteidigung beschränkt wurde. Danach stagnierten die Verhandlungen erneut. Wieder ergriff die FMLN die Initiative: Sie schwenkte auf die Zimbabwe-Lösung ein und schlug im Juli 1991 die Integration ihrer KämpferInnen in die Regierungsstreitkräfte vor. Der UNO-Generalsekretär rief die Parteien nach New York. Als die Verhandlungen dort zu scheitern drohten, machte die FMLN neue Konzessionen: Sie begnügte sich mit einer zwanzig prozentigen Beteiligung an der neu zu schaffenden Zivilen Nationalpolizei. Die Zugangsbedingungen zu dieser Polizei wurden dann so hoch geschraubt, dass später nur wenige FMLN-Kader in Führungspositionen kamen. Am 31. Dezember 1991 wurden die Verhandlungen abgeschlossen, die Friedensverträge am 16. Januar 1992 unterzeichnet und am 1. Februar begann der Waffenstillstand.

Einige Hinweise auf die mühselige Entstehung der neuen Zivilen Nationalpolizei (Policia Nacional Civil, PNC) illustrieren, wie sich die Dynamik der Verhandlungen in die Umsetzung ihrer Ergebnisse hinein verlängert hat. In der Waffenstillstandsphase sollte die schrittweise Demobilisierung der FMLN-KämpferInnen mit der Auflösung der alten Sicherheitskräfte und dem Aufbau der neuen PNC verzahnt werden. Als Erstes versuchte die Regierung, die Verträge zu unterlaufen, indem sie die Finanzpolizei und die Nationalgarde in eine Militär- bzw. Grenzpolizei umwandelte, statt sie aufzulösen. Dann schleuste sie die Kriminalabteilung der alten Nationalpolizei, die z.B. in die Vertuschung der Ermordung von sechs Jesuiten-Priestern, ihrer Haushälterin und deren Tochter im November 1989 verwickelt war, geschlossen und ohne vorherige Säuberung in die neue PNC. Der bis Anfang diesen Jahres amtierende erste Inhaber des neuen Vizeministeriums für öffentliche Sicherheit Hugo Barrera ließ nichts unversucht, innerhalb der PNC mit ehemaligen Angehörigen der Streit- und Sicherheitskräfte Parallelstrukturen aufzubauen. Wann immer die UNO für deren Entfernung aus dem Polizeidienst sorgte, machte er diese kurzerhand zu »Beratern«. In den Jahren, in denen Victoria Velásquez de Avilés das auf die Friedensverträge zurückgehende Amt der Ombudsfrau für Menschenrechte bekleidete (1995-98), spiegelten ihre Berichte solche Entwicklungen wider: 1996 z.B. waren Beamte der PNC für 55,7 Prozent der bei dem Ombudsbüro angezeigten 4.455 Fälle von Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Wurde diese Einrichtung in der Amtszeit von Frau de Avilés in Meinungsumfragen als vertrauenswürdigste Institution des Landes genannt, so hat ihr Nachfolger, ein mittelmäßiger, in Korruptionsfälle verwickelter vormaliger Richter, diesen Kredit längst verspielt. Und auch mit der PNC scheint es weiter abwärts zu gehen. Ihr neuer Direktor Mauricio Sandoval hat sein Handwerk Anfang der 70er-Jahre an der Polizeiakademie von Taiwan gelernt und war zuvor Chef des neuen Geheimdienstes OIE, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit und praktisch auch der UNO aufgebaut wurde und gegenüber dem Parlament nicht rechenschaftspflichtig ist.

Bilanz

Der Weg von der Forderung der FMLN nach Entmilitarisierung von Staat und Gesellschaft bis zur heutigen Situation, in der die Menschen auch der neuen Polizei wieder misstrauen müssen, illustriert die Reichweite des salvadorianischen Friedensprozesses und das soziopolitische Kräfteverhältnis in diesem Land. Mit Beginn der Friedensverhandlungen ging es der salvadorianischen Regierung und ihren internationalen Verbündeten darum, die Demobilisierung der FMLN zu einem möglichst niedrigen Preis zu bekommen; der FMLM ihrerseits darum, für diese Demobiliserung möglichst viele politische, wirtschaftliche und soziale Reformen auszuhandeln. Im Tauziehen darum entstanden die Friedensverträge und wurde um deren Umsetzung gerungen. Selbst im Kernbereich der Verhandlungen, den militärisch-politischen Reformen, gelang eine Einigung nur durch wiederholte Konzessionen seitens der FMLN. Mehr noch: Obwohl alle Beteiligten wussten, dass die soziale Ungleichheit die wichtigste Ursache des Krieges war, wurden in den Friedensverträgen die Vorherrschaft des ungebundenen Privateigentums an Produktionsmitteln und die Politik der Strukturanpassung festgeschrieben. So wurde die Gelegenheit verpasst, einen Neuanfang auf der Grundlage des gesellschaftlichen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit zu machen. Den US-Regierungen ist die Wiedereingliederung der Region in ihren Hinterhof gelungen. Die »Kriegsführung niedriger Intensität« hat ihr Ziel erreicht: Der aufbegehrende Teil der Bevölkerung hat seine Haltung geändert, Befreiung von der Vorherrschaft der USA und grundlegende Strukturveränderungen sind heute keine Themen mehr.

Vor diesem Hintergrund sind Kriminalität und Alltagsgewalt nicht erstaunlich. Die Ursachen des Massenelends wurden nicht beseitigt, weshalb Tausende von Demobilisierten beider Seiten auch nicht produktiv integriert werden konnten – und Waffen gibt es mehr als genug. So zählt die Kriminalität neben der Abwanderung in die USA zu den individuellen Lösungsversuchen. Dem Gefühl des »Rette sich, wer kann«, das in der salvadorianischen Gesellschaft vorherrscht, folgt der Ruf nach der »starken Hand«. Meinungsumfragen ergeben so regelmäßig Mehrheiten für die Einführung der Todesstrafe.

In der Abfolge von struktureller Gewalt, revolutionärer Gewalt, Staatsterrorismus und Krieg ist jetzt im Frieden niedriger Intensität eine Phase neuerlicher struktureller Gewalt gefolgt.

Einige Schlussfolgerungen bezüglich der Mediations- fähigkeit von Konflikten

Je nachdem, ob es sich um einen Beziehungskonflikt, einen Konflikt in der Gruppe, einen sozialen Konflikt oder eben einen Großkonflikt mit internen und internationalen Aspekten handelt, sind die Ausgangsbedingungen für eine Mediation sehr verschieden. Bei einem Friedensprozess wie dem in El Salvador muss nicht nur der Krieg beendet, sondern es müssen auch die Konfliktursachen beseitigt werden. Dies wiederum ist schwer vorstellbar ohne die Herstellung von Wahrheit und Gerechtigkeit, ohne Vergangenheitsbewältigung. Versöhnungsarbeit an der Basis kann aber wirtschaftliche Strukturen nicht verändern und gesellschaftliche Probleme nicht lösen.

Neben der Komplexität der Konfliktlage sind weitere Faktoren wichtig für die Erfolgsaussichten einer Mediation: das Interesse der KontrahentInnen an einer einvernehmlichen Lösung, Zeit, die Machtunterschiede zwischen den Konfliktparteien. Das Machtgefälle zwischen ehemaligen Soldaten und ehemaligen Guerilla-KämpferInnen, die in einer Gruppe oder Gemeinde aufeinander treffen, ist z.B. gering. Ihre gegenseitigen Vorurteile sind vor allem durch Indoktrinierung und Abbruch der Kommunikation entstanden. Im Interesse eines einvernehmlichen Zusammenlebens und bei entsprechender Hilfestellung lassen sich die Vorurteile abbauen, ist Konfliktschlichtung relativ leicht möglich.

Bei gesellschaftlichen oder gar internationalen Konflikten sind eine Vielzahl von Machtstrukturen (zwischen Klassen, sozialen Gruppen, Geschlechtern, Ethnien usw.) im Spiel und die Machtgefälle sind groß. Hier reichen die Beseitigung von Kommunikationsbarrieren und Verhaltensänderungen nicht aus, um die Konflikte zu lösen. Oft wollen eine oder mehrere der beteiligten Machtgruppen die sozialen Ursachen des Konfliktes gar nicht beseitigen und Basis-MediatorInnen können dies auf der Beziehungs- und gruppendynamischen Ebene nicht leisten.

Eine Schlussfolgerung für die praktische Versöhnungsarbeit hieße dann, dass sie blind bleibt ohne die genaue Analyse der verschiedenen Machtstrukturen innerhalb derer sie sich bewegt und ohnmächtig ohne das gleichzeitige Bestehen auf gesellschaftlichen Reformen zur Beseitigung der Konfliktursachen.

Zivile Friedensdienste dürfen sich deshalb nicht blind und ohnmächtig da und dort einsetzen lassen, sonst laufen sie Gefahr schlimmstenfalls integraler Bestandteil von »out-of-area«-Einsätzen zu werden.

Ulf Baumgärtner ist Diplom-Agraringenieur und Mitarbeiter der Informationsstellen El Salvador und Lateinamerika (ILA).

Internationale Gerichtsbarkeit und friedliche Streitbeilegung

Internationale Gerichtsbarkeit und friedliche Streitbeilegung

von Dieter Deiseroth

Das sog. »klassische« (europäische) Völkerrecht gewährleistete und legitimierte seit dem Aufkommen souveräner Nationalstaaten im 17. und 18. Jahrhundert bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein den Trägern staatlicher Souveränität im Grundsatz das »Recht zum Krieg« (ius ad bellum). Die (einzelstaatliche) Gewaltanwendung diente im Wesentlichen zwei Zwecken: einerseits kam sie zur Rechtsdurchsetzung gegenüber dem Rechtsverletzer in Betracht, der sich weigerte, den vom Völkerrecht geforderten Zustand herzustellen; zweitens griffen die Völkerrechtssubjekte aber auch zur Gewalt, um eine formell rechtmäßige, von ihnen aber als unbefriedigend oder ungerecht empfundene Situation zu ändern.
Spätestens seit dem im Jahre 1945 erfolgten Inkrafttreten der Charta der Vereinten Nationen, die von der gegen die Achsenmächte (Deutschland, Japan und Verbündete) gerichteten großen »Weltbürger-Koalition« erarbeitet und beschlossen wurde, ist das strikte Verbot der Androhung und Anwendung zwischenstaatlicher Gewalt (Art. 2 Nr. 4 UN-Charta) völkerrechtlich verbindlich normiert und im Grundsatz als zwingendes Völkerrecht (ius cogens) allgemein anerkannt. Außer zur grundsätzlichen Nichtanwendung von Gewalt verpflichtet die UN-Charta alle Mitgliedstaaten, „ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei(zulegen),“ dass der Weltfriede“, die internationale Sicherheit“ und die Gerechtigkeit“ nicht gefährdet werden (Art. 2 Nr. 3 i.V.m. Kap. VI UN-Charta). Die friedliche Streitbeilegung ist damit die völkerrechtlich zwingend vorgegebene Alternative zur gewaltförmigen Konfliktaustragung.

Als Mittel der friedlichen Streitregelung sieht Art. 33 UN-Charta (neben der Konfliktbeilegung durch Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen und Abmachungen und andere friedliche Mittel eigener Wahl) den von einem internationalen Schiedsgericht gefällten »Schiedsspruch« (engl.: arbitrial award) und die »gerichtliche Entscheidung« durch eine Instanz der »Internationalen Gerichtsbarkeit« vor.

Überblick über die Internationale Gerichtsbarkeit

Der Begriff der »Internationalen Gerichtsbarkeit« setzt – völkerrechtlich betrachtet – ein justizförmig organisiertes, ständiges und mit unabhängig vom Einfluss der aktuellen Streitparteien bestellten RichterInnen besetztes Gericht voraus, das nach Maßgabe des geltenden Völkerrechts mit dem Ziel der Durchsetzung der Völkerrechtsordnung zu entscheiden hat.

Davon zu differenzieren ist die »Internationale Schiedsgerichtsbarkeit« (engl.: International Arbitration; franz.: Arbitrage internationale). Mit diesem Terminus bezeichnet man im Völkerrecht die Entscheidung von Staatenstreitigkeiten durch ein vor oder nach der Entstehung von Meinungsverschiedenheiten seitens der Parteien gebildetes Schiedsgericht auf Grund der durch sie bezeichneten oder zugelassenen Normen. Von der Internationalen Gerichtsbarkeit unterscheidet sich die Internationale Schiedsgerichtsbarkeit damit in drei Punkten: Zum einen sind Schiedsgerichte keine ständigen, justizförmig organisierten Gerichte, sondern treten jeweils zur Behandlung und Entscheidung eines Einzelfalles zusammen; zweitens bestimmen regelmäßig die konkreten Streitparteien die Zusammensetzung des Schiedsgerichts; drittens können die Streitparteien grundsätzlich vorschreiben, welches Recht zur Grundlage der Entscheidung gemacht werden soll.

Im Folgenden soll zunächst ein kurzer Überblick über einige wichtige, durch das Völkerrecht geschaffene Einrichtungen der Internationalen Gerichtsbarkeit und der Internationalen Schiedsgerichtsbarkeit gegeben werden. Dieser Überblick ist nicht vollständig. Er geht insbesondere nicht auf die verschiedenen regionalen Menschenrechts-Gerichtshöfe (z.B. den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg) sowie spezielle internationale Gerichte und Schiedsgerichte, die auf völkerrechtlicher Grundlage errichtet worden sind, ein.

Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag

Der seit 1945 bestehende Internationale Gerichtshof (International Court of Justice), der Nachfolger des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, ist – neben dem UN-Sicherheitsrat, der UN-Generalversammlung und dem UN-Wirtschafts- und Sozialrat – ein Hauptorgan der Vereinten Nationen. Er hat seinen Sitz im sog. »Friedenspalast« in Den Haag (Niederlande). Ihm gehören 15 RichterInnen an, die auf Vorschlag des UN-Sicherheitsrates von der UN-Generalversammlung auf 9 Jahre gewählt werden, wobei alle drei Jahre jeweils ein Drittel neu- oder wiedergewählt wird.

Vor dem IGH gibt es im Wesentlichen zwei Verfahrensarten: Das Klageverfahren und das Gutachtenverfahren. Der IGH trifft seine Entscheidungen auf der Basis des geltenden Völkerrechts, d.h. er greift zur Beantwortung der ihm in den Klage- oder Gutachtenverfahren vorgelegten Rechtsfragen auf das geltende Völkerrecht zurück. Die Rechtsquellen, also die Basis seiner Judikate und Erkenntnisse, sind in Art. 38 des IGH-Statuts normiert, nämlich das Völkervertragsrecht, das Völkergewohnheitsrecht, die „von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“ sowie „richterliche Entscheidungen und die Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler“.

Vor dem IGH können nur Staaten klagen. Gutachtenanträge können beim IGH nur von der UN-Generalversammlung, dem UN-Sicherheitsrat sowie von anderen Organen und Sonderorganisationen der UNO angefordert werden, soweit die beiden Letzteren dazu durch die UN-Generalversammlung ermächtigt worden sind. Der IGH besitzt in Klageverfahren Jurisdiktion, also eine Zuständigkeit zum tätig Werden

  • in allen Streitfällen die die Parteien ihm ad hoc einverständlich unterbreiten;
  • in Angelegenheiten die in völkerrechtlichen Verträgen, Schiedsverträgen oder Schiedsklauseln dafür besonders vorgesehen sind;
  • in Rechtsstreitigkeiten für die nach der sogenannten Fakultativklausel des Art. 36 II des IGH-Statuts die obligatorische Gerichtsbarkeit im Voraus anerkannt ist; die Fakultativklausel besagt, dass der erklärende Staat die Jurisdiktion des IGH auch gegenüber jedem anderen Staat, der dieselbe Verpflichtung übernimmt, als obligatorisch anerkennt. Nur eine Minderheit von Staaten hat bislang eine Erklärung zur Fakultativklausel abgegeben; die meisten dieser Erklärungen sind zudem mit weitreichenden Vorbehalten verbunden.

Dass die Zuständigkeit des IGH an sehr enge Voraussetzungen geknüpft ist, ist naturgemäß keine »Schuld« des Völkerrechts, sondern eine Frage der mangelnden Bereitschaft sehr vieler Staaten – bisher auch Deutschlands –, sich der obligatorischen Zuständigkeit des IGH zu unterwerfen.

Zwischen 1946 und dem 1. Juli 1996 wurden vom IGH 74 Streitfälle (Klageverfahren) entschieden sowie 22 Gutachtenverfahren durchgeführt.

Die Entscheidungen des IGH werden im Regelfall von den Staaten beachtet. Allerdings weisen die Regelungen über die Vollstreckung Schwächen auf, was sich in jüngerer Zeit etwa bei den IGH-Entscheidungen über die Klage der USA im Fall der Geiselnahme von US-BürgerInnen im Iran (1979/80) und auch (»umgekehrt«) im Falle der US-Aggressionen gegen Nicaragua (1985ff) gezeigt hat. Die Vollstreckung obliegt, wenn die Staaten der IGH-Entscheidung nicht freiwillig nachkommen, dem UN-Sicherheitsrat, dessen Entscheidungsstrukturen jedoch sehr unzureichend sind. Die fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates (USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien) dürfen bei Beschlüssen im Rahmen des Kapitels VII der UN-Charta auch in eigenen Angelegenheiten mit abstimmen und haben auch in diesem Fall ein Veto-Recht, mit dem sie alle gegen sie selbst oder enge Verbündete gerichteten Beschlüsse – und damit auch die Vollstreckung eines Urteils des IGH – verhindern können.

Ständiger Schiedshof

Der Ständige Schiedshof (Permanent Court of Arbitration; Cour Permanente d'Arbitrage) findet seine Rechtsgrundlage in den auf den Haager Friedenskonferenzen unterzeichneten – weiterhin nebeneinander geltenden – Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle vom 29.7.1899 und 18.10.1907. Das Deutsche Reich ist dem Abkommen vom 18.10.1907 beigetreten; die Bundesrepublik Deutschland ist weiterhin Vertragspartei. Der Ständige Schiedshof verfügt über keine obligatorische Jurisdiktion. Es ist Sache der Vertragsstaaten, ob sie sich in einem konkreten Streitfall einem solchen Schiedsgerichtsverfahren unterwerfen wollen. Sie müssen dann insoweit eine entsprechende Vereinbarung (»Kompromiss«) treffen.

Der Ständige Schiedshof dient mit seinem Ständigen Büro, das für die Verwaltungsgeschäfte und die technischen Angelegenheiten zuständig ist und von dem Ständigen Verwaltungsrat beaufsichtigt wird, als Informations- und Vermittlungsorgan, das die Errichtung eines Schiedsgerichtes im Streitfall erleichtert. Aus den bei ihm bereitgehaltenen Listen von Persönlichkeiten, die bereit sind ein Schiedsrichteramt zu übernehmen können die Staaten, wenn sie ein Schiedsgerichtsverfahren durchführen wollen, die notwendigen SchiedsrichterInnen auswählen.

Internationale (Schieds-) Gerichtsbarkeit
im Rahmen der WTO

Die Welthandelsorganisation (WTO), die 1994 aus dem Allgemeinen Zoll- und Handelsübereinkommen (GATT) hervorgegangen ist und der zwischenzeitlich 135 Mitgliedsstaaten angehören, verfügt über ein Streitbeilegungsverfahren, das einen schiedsgerichtlichen Charakter hat. Eine Entscheidung des zuständigen WTO-Schlichtungsgremiums (Panel), die vor einer WTO-Berufungsinstanz angefochten werden kann, bedarf zu ihrer völkerrechtlichen Verbindlichkeit nicht mehr – wie bis 1994 – der Annahme durch die Streitparteien. Seit 1994 genügt vielmehr die Billigung eines solchen Panel-Reports durch ein spezielles WTO-Organ (Dispute Settlement Body, DSB). Das WTO-Streitbeilegungsverfahren (einschließlich Rechtsmittelverfahren), das allein von einem WTO-Mitgliedsstaat eingeleitet werden kann, muss nach den strengen Verfahrensregeln spätestens innerhalb von 15 Monaten abgeschlossen sein.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass dieser schiedsgerichtliche WTO-Streitbeilegungsmechanismus eine beträchtliche Wirksamkeit entfaltet. Beispiele dafür sind in jüngster Zeit etwa die von den USA eingeleiteten Verfahren gegen das EU-Importverbot für hormonbehandeltes Rindfleisch sowie gegen die EU-Bananen-Marktordnung, bei denen die EU jeweils verlor und sich dem WTO-Spruch beugen musste.

Die Verfahren vor der WTO sind sehr teuer. Die wenigen, auf das schwierige internationale Handelsrecht spezialisierten RechtsanwältInnen in Washington, London und Brüssel beginnen ihre Tätigkeit oftmals erst ab einem Stundenlohn von 1.000 US-Dollar. Zieht sich ein Konflikt über Monate oder Jahre hin, ergeben sich Rechnungen in Millionenhöhe, welche sich viele afrikanische und lateinamerikanische Staaten nicht leisten können. Deshalb wird diskutiert, ein unabhängiges Institut für WTO-Recht zur kostengünstigen Beratung von Entwicklungsländern in Rechtsfragen in Genf oder innerhalb des WTO-Sekretariats eine entsprechende »unabhängige Beratungs-Einheit« zu etablieren.

Internationale Strafgerichtsbarkeit

1. Ad-hoc-Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda

Durch Resolution 808 (1993) des UN-Sicherheitsrates ist auf der Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta im Jahre 1993 ein Internationaler Strafgerichtshof zur Verfolgung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien errichtet worden. Nach dem Statut dieses Gerichtshofes können neben Verstößen gegen die Genfer Konventionen von 1949 und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäß Art.4 des Statuts auch Handlungen bestraft werden, die unter die Völkermord-Konvention fallen. Die Strafverfolgung kann sowohl von dem in Den Haag errichteten Internationalen (Jugoslawien-)Strafgerichtshof als auch durch nationale Strafverfolgungsbehörden eingeleitet werden (Art. 9).

Der Jugoslawien-Strafgerichtshof, vor dem u.a. Anklage gegen den jugoslawischen Präsidenten Milosevic erhoben worden ist, ist nach dem Anfang November 1999 vorgelegten Bericht seiner scheidenden Präsidentin McDonald von der „Gnade der internationalen Gemeinschaft“ abhängig, da er selbst über keine Zwangsmechanismen verfügt. An diesem Beistand mangele es „allzu oft“. Es gebe, so die scheidende Präsidentin des Gerichtshofs, drei Arten von Schwierigkeiten: Die Staaten hätten angeklagte Personen nicht festgenommen oder überstellt, sich geweigert, die Rechtsprechung des Tribunals anzuerkennen oder den ErmittlerInnen des Tribunals keinen Zutritt zu mutmaßlichen Tatorten gestattet. Der UN-Sicherheitsrat habe, so Frau McDonald, die Autorität und die erforderlichen Mittel, um das zu ändern.

Nach dem Vorbild des Jugoslawien-Tribunals wurde 1994 durch die Resolution 955 des UN-Sicherheitsrates des weiteren das »International Tribunal for Rwanda« errichtet. Dieses hat bislang große Schwierigkeiten gehabt, seine Funktion zu erfüllen.

2. Internationaler Strafgerichtshof nach dem Abkommen vom 17. Juli 1998

Das »Statut von Rom« für den Internationalen Strafgerichtshof ist durch die von der UNO einberufenen Staatenkonferenz am 17. Juli 1998 mit der Mehrheit von 120 Ja-Stimmen (darunter alle EU-Staaten) gegen 7 Nein-Stimmen (USA, China, Indien, Israel, Qatar, Vietnam und ein nicht allgemein bekannter siebter Staat) bei 21 Enthaltungen angenommen worden. Das Statut von Rom ist jedoch bisher nicht in Kraft getreten. Sein Inkrafttreten setzt nach seinem Art. 126 die Ratifikation durch mindestens 60 Staaten voraus. Diese Mindestzahl ist bislang nicht erreicht worden.

Folgende Deliktarten sollen nach dem Statut – unter bestimmten Voraussetzungen – vom Internationalen Strafgerichtshof abgeurteilt werden können: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Mord, Vernichtung, Versklavung, Deportation, Freiheitsberaubung unter schwerer Menschenrechtsverletzung, Folter, Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, erzwungene Prostitution oder Schwangerschaft etc.), Kriegsverbrechen, Verbrechen der Aggression.

Wie weit die Hoffnung trägt, mit der Einrichtung eines solchen allgemeinen Strafgerichtshofs generalpräventiv potenzielle TäterInnen von der Begehung schwerer Verstöße gegen das Völkerstrafrecht abzuschrecken und so zur Stärkung des Rechts in den internationalen Beziehungen sowie in Bürgerkriegskonflikten beizutragen, lässt sich schwer prognostizieren. Ausgeschlossen erscheint dies nicht. Deshalb sollte die Ratifizierung des Statuts von allen Staaten mit Nachdruck betrieben werden. Der im Statut als »Leertitel« ausgewiesene strafrechtliche Aggressionstatbestand sollte trotz des Widerstands der US-Regierung baldmöglichst normiert werden.

Neun Thesen zur Rolle gerichtlicher Instanzen
bei der friedlichen Beilegung internationaler Streitfälle

These 1: Die UN-Charta und das geltende Völkerrecht sichern das »völkerrechtliche Gewaltverbot« (Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta) nicht hinreichend durch ein ergänzendes System friedlicher Streitbeilegung und ein spezielles Verfahren des »peaceful change«.

Art. 33 I UN-Charta enthält nur die schwache Verpflichtung der Staaten, sich um die Lösung eines Streites mit irgendeinem der aufgeführten Mittel friedlicher Streitbeilegung zu bemühen: Gute Dienste, Konsultation, Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleichs- und Schlichtungsverfahren, Schiedsspruch, gerichtliche Entscheidung, die Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen oder Abmachungen sowie andere friedliche Mittel. Bei der Auswahl des Mittels sind sie hinsichtlich des »Ob« und des »Wie« frei. Bleibt eine Streitbeilegung zwischen den Parteien erfolglos, so kann von jeder Partei der UN-Sicherheitsrat angerufen werden, der aber nur Empfehlungen abgeben kann, die die Parteien nicht binden. Art. 34 UN-Charta gibt dem Sicherheitsrat zwar die Befugnis, eine Untersuchung des Streits und der Situation durchzuführen; die Durchführung einer solchen Untersuchung ist jedoch an die Voraussetzung geknüpft, dass sie – neben der Mehrheit aller SR-Mitglieder – auch von allen ständigen SR-Mitgliedern beschlossen wird. Die UN-Charta enthält keine Norm, die den Staaten die Verpflichtung auferlegt, einen Streit auf friedlichem Wege – in welchem Verfahren auch immer – wirklich beizulegen. Insbesondere normiert die UN-Charta keine Verpflichtung, sich der Gerichtsbarkeit des IGH zu unterwerfen. Die UN-Charta enthält auch keine wirksamen Mechanismen und institutionellen Verfahren, die die Beilegung eines Streits über eine friedliche Veränderung des status quo mit dem eine oder mehrere streitende Parteien unzufrieden sind (peaceful change) ermöglichen und sicher stellen.

These 2: Im Falle einer »Friedensbedrohung«, eines »Friedensbruchs« oder einer »Angriffshandlung« (Art. 39 UN-Charta) kann der UN-Sicherheitsrat zwar Zwangsmaßnahmen nach Kap. VII der UN-Charta beschließen. Das Sanktionssystem des Kap. VII ist jedoch unzureichend.

Da die Anwendung von Zwangsmaßnahmen durch die UN stets eine vorherige entsprechende Beschlussfassung durch den »politisch besetzten« UN-Sicherheitsrat und die Nichtausübung des Veto-Rechts voraussetzt, ist sein Funktionieren vor allem von der Einigkeit der fünf ständigen Mitglieder abhängig. Gegen ein ständiges Mitglied ist der Einsatz des Sanktionssystems nicht möglich. Der Entscheidungsmechanismus des UN-Sicherheitsrates hat darüber hinaus eine weitere strukturelle Schwäche. Gerade wenn es um die Klärung der Voraussetzungen für die Anwendung militärischer Waffengewalt gegen AggressorInnen oder MenschenrechtsverletzerInnen geht, müssen »politische« Sachverhaltsklitterungen und »double standards« vermieden werden. Der UN-Sicherheitsrat ist hierzu aber schon aufgrund seiner Zusammensetzung kaum in der Lage. Denn er besteht aus politischen VertreterInnen der in ihm vertretenen Staaten; diese StaatenvertreterInnen im UN-Sicherheitsrat sind den sie entsendenden Regierungen weisungsunterworfen. Von einem rechtsstaatlichen Mindeststandard zumindest im Rahmen des »fact finding« kann bei den gegenwärtigen Entscheidungsstrukturen des UN-Sicherheitsrates nicht gesprochen werden. Eine weitere strukturelle Schwäche des Entscheidungsmechanismus des UN-Sicherheitsrates in Menschenrechtsfragen, zumal wenn es um den Einsatz von militärischer (Gegen-)Gewalt geht, beruht auf der finanziellen Situation der Vereinten Nationen, die nicht zuletzt durch Beitragsschulden der USA von mehr als 1 Milliarde US-Dollar verursacht ist. Ein effektives Handeln der UN ist schon deshalb nicht möglich.

These 3: Der Streitregelungsmechanismus des Europäischen Übereinkommens zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten vom 29.4.1957 ist bislang von den Vertragsparteien nur wenig genutzt worden. Bei einer Ausdehnung des Übereinkommens auf alle Staaten des Europarats, namentlich auf die neuen Beitrittsländer in Mittel- und Osteuropa (einschließlich Russlands) könnte er künftig an Bedeutung gewinnen.

Deutschland ist seit dem 18.4.1961 Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten. Es sieht drei Arten der Streitbeilegung vor: (1) die »gerichtliche Beilegung« (Art. 1 bis 3), (2) das Vergleichsverfahren (Art. 4 bis 18) sowie (3) das Schiedsverfahren (Art. 19 bis 26). Die »gerichtliche Beilegung« erfolgt ausschließlich durch den Internationalen Gerichtshof (IGH): Nach Art. 1 werden die Vertragsstaaten ihm „alle zwischen ihnen entstehenden völkerrechtlichen Streitigkeiten (…) zur Entscheidung vorlegen, (…) insbesondere über (a) die Auslegung eines Vertrages, (b) eine Frage des Völkerrechts, (c) das Bestehen einer Tatsache die, wenn sie bewiesen wäre, die Verletzung einer internationalen Verpflichtung bedeuten würde, (d) Art und Umfang der wegen Verletzung einer internationalen Verpflichtung geschuldeten Wiedergutmachung.“

Alle zwischen ihnen entstehenden Streitigkeiten, die nicht unter Art. 1 fallen, werden die Vertragsstaaten gem. Art. 4 einem »Vergleichsverfahren« unterwerfen, dessen nähere Ausgestaltung in den Art. 5 ff geregelt ist.

In Art. 19 sind die Vertragsstaaten die Verpflichtung eingegangen, dem im Übereinkommen vorgesehenen Schiedsverfahren „mit Ausnahme der in Art. 1 bezeichneten alle zwischen ihnen entstehenden Streitigkeiten“, über die ein Vergleichsverfahren vereinbarungsgemäß nicht in Anspruch genommen worden oder erfolglos geblieben ist, zu unterwerfen. Dazu wird jeweils ad hoc nach Maßgabe der Art. 20 ff ein Schiedsgericht gebildet

Nach Art. 39 I sind alle Vertragsstaaten verpflichtet, der Entscheidung des IGH oder dem Schiedsspruch des Schiedsgerichts in jeder Streitigkeit, an der sie beteiligt sind, nachzukommen. Wird diese Verpflichtung nicht erfüllt, kann sich die andere Streitpartei gemäß Art. 39 II an das Ministerkomitee des Europarats wenden, das (mit Zweidrittelmehrheit) Empfehlungen aussprechen kann, um die Durchführung der IGH-Entscheidung oder des Schiedsspruchs sicher zu stellen.

These 4: Auch der Streitregelungsmechanismus des Übereinkommen über Vergleichs- und Schiedsverfahren innerhalb der KSZE/OSZE vom 15. Dezember 1992 ist bislang nur unzureichend genutzt worden. Bedeutung kann er nur gewinnen, wenn die Staaten in Konfliktfällen (z.B. im Ägais-Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei, im Konflikt der NATO-Staaten mit Jugoslawien, in den Auseinandersetzungen zwischen Russland und den Kaukasus-Republiken) von ihm Gebrauch machen. Die NGOs sollten sich im Zusammenwirken mit kooperationswilligen Regierungen hierauf orientieren.

Das OSZE-Abkommen geht auf frühere Schweizer Vorschläge zurück, die im Ergebnis eine (regionale) obligatorische Gerichtsbarkeit vorsahen, jedoch keine hinreichende Unterstützung durch die anderen KSZE-Staaten fanden. Es sieht zwei Verfahren vor:

  • ein Vergleichsverfahren vor einer Vergleichskommission der OSZE (Kap. III, Art. 20 bis 25);
  • ein Schiedsverfahren vor einem Schiedsgericht der OSZE (Kap. IV, Art. 26 bis 32).

Die Gesamtheit der SchlichterInnen und SchiedsrichterInnen bildet den »Vergleichs- und Schiedsgerichtshof« (Art. 2 Abs.3). Jeder Vertragsstaat benennt zwei SchlichterInnen sowie eine/n SchiedsrichterIn (nebst StellvertreterIn). Sie werden für eine Amtszeit von 6 Jahren ernannt (Art. 3 Abs. 3 und Art. 4 Abs. 3). Der Vergleichs- und Schiedsgerichtshof der OSZE gibt sich eine Verfahrensordnung. Das Vergleichsverfahren endet mit einem die Parteien nicht bindenden Vergleichsvorschlag. Der im Schiedsverfahren ergehende Schiedsspruch ist für die Streitparteien verbindlich (Art. 31 Abs. 2); er wird vom Kanzler des Schiedsgerichts veröffentlicht.

These 5: Die schwerwiegenden bisherigen Mängel des geltenden völkerrechtlichen Systems des Gewaltverbots, der Kriegsverhütung und Streitbeilegung sind nicht primär juristischer Natur. Der wirkliche Grund liegt in der Struktur der Staatengemeinschaft, in den soziologischen Grundlagen des Völkerrechts.

Rechtstechnisch wäre es kein Problem, z.B. in Art. 33 Abs. 1 UN-Charta oder durch eine andere Norm die Staaten zu verpflichten, ausschließlich die darin aufgeführten Mittel friedlicher Streitbeilegung zu nutzen, dem Sicherheitsrat das Recht zu bindenden Streitbeilegungsvorschlägen zu geben und das Veto-Recht der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates zu beseitigen.

Der grundlegende soziologische Unterschied zwischen dem innerstaatlichen Rechtsbereich und der Völkerrechtsordnung liegt in Grundfakten:

  • Die Rechtssubjekte des Völkerrechts sind mit Macht begabte Gebilde, denen bislang keine überlegende und demokratisch legitimierte überstaatliche Macht zur Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung gegenüber steht; sie erkennen grundsätzlich nur die völkerrechtlichen Regeln als bindend an, an deren Entstehung sie selbst mitgewirkt haben oder denen sie sich freiwillig unterwerfen.
  • Die eigentlichen und unmittelbaren Aktionszentren sind im Völkerrecht nicht die Gemeinschaft der Völkerrechtssubjekte, sondern ihre Teile, die unabhängigen Staaten. Über den Grundsatz der souveränen Gleichheit erkennt das geltende Völkerrecht den Interessen und dem Willen jedes einzelnen Staates – in den Grenzen des Völkerrechts – einen grundsätzlich unbedingten Wert zu.

These 6: Das Völkerrecht ist dennoch nicht lediglich der Ausfluss der realen Machtlage, die bloße Beschreibung des tatsächlichen Verhaltens der Staaten. Wie jedes Rechtssystem hat es zugleich die Tendenz, sich weiter zu entwickeln und gestaltend auf die ihm zugrunde liegenden soziologischen Tatsachen und Verhältnisse zurück zu wirken (Wechselwirkung)

Die programmatische Erklärung des damaligen US-Präsidenten Eisenhower vom 31. Oktober 1956, „There can be no peace without law“,ist nach wie vor richtig und zukunftsweisend. Dies gilt sowohl für die Veränderung der gewalt- und kriegsfördernden Strukturen innerhalb und zwischen den Staaten (soziale und wirtschaftliche Not, einzelstaatliche kriegstaugliche Rüstungs- und Waffenpotenziale einschließlich des internationalen Waffenhandels, Gefährdung und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, politische Unterdrückung) als auch für die Schaffung adäquater Mechanismen zur zivilisierten Konfliktartikulation, -regelung und -lösung auf innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Ebene. Die Bewältigung dieser Aufgaben, vor allem die Bekämpfung der Ursachen gewaltförmiger Konflikte, muss sicherlich in erster Linie mit politischen Mitteln angegangen werden. Das Völkerrecht in seinen vielfältigen Dimensionen erfüllt hierbei jedoch eine wichtige Funktion. Auch hier gilt: erreichte Interessenkonvergenzen müssen in Rechtssätzen fixiert werden. Bestehende institutionalisierte Formen und Verfahren für die Kooperation und Konfliktaustragung auf der Basis der Gleichheit und Nichtdiskriminierung müssen genutzt, neue müssen geschaffen werden. Ohne völkerrechtliche Regelungen geht dies nicht. Ein Prozess der verstärkten Nutzung des Völkerrechts zur Eindämmung von Krieg und Gewalt bedarf freilich sowohl im Hinblick auf die Formen und Verfahren als auch hinsichtlich der materiellen Inhalte der Demokratisierung, also der verstärkten Einmischung »von unten«, gerade auch durch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und ihre Mitglieder. Die herausragende Rolle von amnesty international für die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte, von Greenpeace für den ubiquitären Kampf um die natürlichen Lebensgrundlagen und zum Beispiel auch der Ärzteorganisation IPPNW (Trägerin des Friedensnobelpreises 1985), der Juristenorganisation IALANA und des in Genf ansässigen Internationalen Friedensbüros (Trägerin des Friedensnobelpreises 1910) im Zusammenhang mit dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eingeleiteten Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (betr. die Frage der Völkerrechtswidrigkeit des Einsatzes von Atomwaffen) sind hierfür illustrative Beispiele.

These 7: Die Rolle des IGH muss gestärkt werden. Der IGH muss stärker in das öffentliche Bewusstsein gebracht werden, insbesondere in aktuellen Kontroversen und Streitfällen völkerrechtlicher Art.

Es wäre bereits viel gewonnen, wenn das geltende Völkerrecht zur Domestizierung von Gewalt effektiver implementiert, d.h. verbindlich interpretiert und durchgesetzt werden könnte. Zur dringend notwendigen Stärkung der Rolle des IGH hat der frühere UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali in seinem wichtigen Bericht »Agenda für den Frieden« vom 17.6.1992 eine Reihe von Vorschlägen entwickelt. In der Öffentlichkeit sind diese leider bisher viel zu wenig beachtet worden. Sie sollten aufgegriffen werden. Es empfehlen sich aktuell zumindest fünf Schritte:

  • Die Organe der UN, vor allem ihre Generalversammlung und der UN-Sicherheitsrat, aber auch ihre Unterorganisationen sollten in internationalen Konfliktfällen verstärkt von der gutachterlichen Kompetenz des IGH zur Klärung strittiger völkerrechtlicher Fragen Gebrauch machen (Art. 96 UN-Charta). Das Vorgehen der UN-Generalversammlung, ein Rechtsgutachten zur Frage der Vereinbarkeit des Einsatzes und der Androhung von Nuklearwaffen mit dem geltenden Völkerrecht einzuholen, sollte ein nachahmenswertes Beispiel sein. Für die nähere Zukunft käme in Betracht, dass die UN-Generalversammlung erneut ein Rechtsgutachten beim IGH beantragt, falls sich die Atomwaffenstaaten (und ihre Verbündeten) weiterhin weigern, ihrer rechtlichen Verpflichtung aus Art. VI des Atomwaffensperrvertrages Rechnung zu tragen, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen (…) zur nuklearen Abrüstung (…) unter strenger und wirksamer Kontrolle“. Die NGOs sollten einen Musterantrag vorbereiten.
  • Der UN-Generalsekretär sollte entsprechend dem Vorschlag von Boutros-Ghali (vgl. Ziffer 38 seiner Agenda für den Frieden) baldmöglichst nach Art. 96 Abs. 2 der UN-Charta durch die UN-Generalversammlung ermächtigt werden, Rechtsgutachten (advisory opinion) beim Internationalen Gerichtshof anfordern zu können. Für die Handlungsfähigkeit des UN-Generalsekretärs in Konflikt- und Krisenfällen ist es nämlich von großer Bedeutung, wenn er zur Klärung strittiger völkerrechtlicher Fragen präventiv oder ad hoc den IGH einschalten kann.
  • In Übereinstimmung mit Ziffer 39 der Agenda für den Frieden sollten sich alle Mitgliedsstaaten nach Art. 36 des Statuts des IGH ohne Vorbehalt bis spätestens zum Jahre 2005 der allgemeinen Gerichtsbarkeit des IGH unterwerfen (vgl. dazu auch unten These 8).
  • In alle, zumindest in alle neuen internationalen Verträge sollten Streitbeilegungsklauseln aufgenommen werden, die eine Anrufung des IGH im Falle von Meinungsverschiedenheiten über die Vertragsauslegung vorsehen.
  • Zur Verbesserung der Vollstreckung und Durchsetzung von Entscheidungen des IGH sollte die UN-Generalversammlung eine internationale JuristInnenkommission einsetzen, die binnen drei Jahren entsprechende Vorschläge ausarbeitet.

These 8: Eine völkerrechtliche Erklärung Deutschlands zur Anerkennung der obligatorischen Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag nach Art. 36 II des IGH-Statuts ist überfällig. Die weitere Verweigerung einer solchen Erklärung ist mit Art. 24 III GG nicht vereinbar; zumindest ist sie rechtspolitisch nicht länger vertretbar. Gefordert sind die Bundesregierung und der deutsche Gesetzgeber.

Die Bundesrepublik Deutschland ist seit ihrem Beitritt zur UNO und zur UN-Charta Vertragspartei des IGH-Statuts. Sie hat auch in mehreren völkerrechtlichen Verträgen die Zuständigkeit des IGH zur Streitentscheidung vereinbart sowie ad hoc als Partei an Verfahren vor dem IGH teilgenommen. Eine Unterwerfungserklärung nach Art. 36 II des IGH-Statuts, die die obligatorische Zuständigkeit des IGH für zwischenstaatliche Streitigkeiten Deutschlands mit anderen Staaten begründen würde, ist von Deutschland bisher jedoch noch nicht abgegeben worden.

Ob diese deutsche Staatspraxis mit Art. 24 III GG vereinbar ist, ist vom BVerfG bislang nicht entschieden worden; im Fachschrifttum wird diese Frage kontrovers beurteilt. M.E. liegt ein Verstoß gegen Art. 24 III GG vor. Denn Art. 24 III GG normiert: „Zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird der Bund Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beitreten.“ Aus dem Umstand, dass bisher nicht alle UN-Mitgliedsstaaten, sondern nur eine Minderheit diese Erklärung nach Art. 36 II des IGH-Statuts – davon in den meisten Fällen mit Vorbehalten versehen – abgegeben haben, wird im deutschen verfassungsrechtlichen Schrifttum teilweise gefolgert, der IGH stelle keine »obligatorische« internationale Gerichtsbarkeit im Sinne des Art. 24 III GG dar, sodass auch die Verpflichtung aus Art. 24 III GG nicht greife. Die im Fachschrifttum ebenfalls vertretene gegenteilige und m.E. zutreffende Auffassung kann demgegenüber darauf verweisen, dass der IGH sehr wohl für diejenigen Staaten als »obligatorische« internationale Gerichtsbarkeit im Verhältnis zu denjenigen Staaten zu qualifizieren ist, die gemäß der Fakultativklausel des Art. 36 II des IGH-Statuts sich dessen Jurisdiktion unterworfen haben. Letzteres haben immerhin mehr als 50 UN-Mitgliedsstaaten getan. Wenn es in Art. 24 III GG heißt, der Bund „wird“ Vereinbarungen über eine „obligatorische“ internationale Gerichtsbarkeit beitreten, so kann festgestellt werden, dass Deutschland mit der Abgabe der Erklärung nach Art. 36 II des IGH-Statuts einer für sie dann »obligatorischen« Gerichtsbarkeit beitreten würde. Diese Auslegung entspricht auch dem erkennbaren Willen des Verfassungsgebers. Denn in den Beratungen des Parlamentarischen Rates ist in großer Übereinstimmung die Absicht des Normgebers und das mit der Regelung verfolgte Ziel zum Ausdruck gebracht worden, „in der umfassendsten Weise den Anschluss Deutschlands an ein System internationaler Schiedsgerichtsbarkeit und kollektiver Sicherheit vor(zusehen).“ Mit diesem Regelungsziel ist – jedenfalls endgültig nach dem im Jahre 1991 erfolgten Wegfall aller alliierten (besatzungsrechtlichen) Vorbehaltsrechte aus der Nachkriegszeit – eine Auslegung nicht (mehr) vereinbar, die davon ausgeht, die zuständigen deutschen Staatsorgane könnten sich unter Verweis auf das »schlechte Beispiel« zahlreicher anderer Staaten dem Beitritt zu einer für Deutschland obligatorischen internationalen Gerichtsbarkeit weiterhin entziehen.

These 9: Die Bedeutung des Rechts bei der friedlichen Beilegung und Regelung internationaler Streitigkeiten kann auch durch innerstaatliche Gerichte gestärkt werden. Es gäbe weit weniger Anlass, den Mangel an effektiver Durchsetzung völkerrechtlicher Normen zu beklagen, wenn die innerstaatlichen Gerichte die politischen EntscheidungsträgerInnen strikt an ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen binden würden.

Den nationalen Judikativen, allen voran den nationalen Verfassungsgerichten, fällt die Aufgabe zu, die »Stärke des Rechts« (rule of law) gegenüber der »Macht des Stärkeren« (rule of power or force) dezentral gewissermaßen schon an der Wurzel zur Geltung zu bringen. Diese Aufgabe ist – normativ betrachtet – Ausfluss des Rechtsstaatsgebots der jeweiligen nationalen Verfassung, auf das jedenfalls alle OSZE-Staaten verpflichtet sind; denn Rechtsstaaten zeichnen sich gerade auch dadurch aus, dass sie die Einhaltung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen institutionell effektiv gewährleisten.

Die Relevanz völkerrechtlicher Regelungen gerade auf dem Gebiet von Krieg und Frieden reicht tief in die nationalen Rechtsordnungen hinein. Dies ist vielfach nur unzureichend bekannt. Es fehlt hierfür bisher nicht selten auch an entsprechenden fachlichen Vorarbeiten. Einige aktuelle Beispiele mögen dies illustrieren.

  • Aus dem Bereich des zivilen Schadensersatz- und Produkthaftungsrechts: Konnten etwa Opfer irakischer Kriegshandlungen in Israel vor deutschen oder anderen Zivilgerichten Ersatz für Schäden verlangen, die sie im letzten Golfkrieg im Jahre 1991 durch den völkerrechtswidrigen Beschuss mit irakischen Scud-Raketen erlitten hatten? Könnten israelische Geschädigte Schadensersatzforderungen mit Erfolg etwa gegenüber deutschen Unternehmen mit der Begründung erheben, diese Unternehmen hätten dem irakischen Staat wichtige Bestandteile für die (Fort-)Entwicklung und Produktion der Scud-Raketen geliefert und damit die entstandenen Schäden unter Verstoß gegen geltendes nationales und internationales Recht zumindest mit verursacht?
  • Aus dem Bereich des Staatshaftungsrechts: Haften unter Umständen (auch) deutsche staatliche Stellen für erteilte Ausfuhrgenehmigungen oder für die fahrlässige Nicht-Unterbindung solcher Exporte? Ist die BRD gegenüber kurdischen BürgerInnen in der Türkei staatshaftungsrechtlich für Schäden verantwortlich, die diesen BürgerInnen oder ihren Angehörigen durch die türkische Armee mit Waffen aus NVA-Beständen oder z.B. demnächst mit deutschen Leopard-II-Panzern zugefügt werden, die durch deutsche Organe an die türkische Regierung geliefert worden sind?
  • Könnten Privatpersonen in Jugoslawien, deren privates Eigentum oder deren Gesundheit im Luftkrieg der NATO-Staaten (März bis Juni 1999) durch Bomben, Raketen o.ä. beschädigt worden ist, vom deutschen Staat nach den Regeln des Staatshaftungsrechts (Art. 34 GG i.V.m. 839, 840 BGB) Schadensersatz verlangen und Klage vor deutschen Zivilgerichten erheben?
  • Aus dem Bereich des Ausländerrechts: War zum Beispiel während des Kosovo-Konflikts die Abschiebung desertierter oder wehrpflichtiger Männer durch deutsche Ausländerbehörden in den Machtbereich serbischer Behörden oder serbischer Militär-Einheiten völkerrechtlich zulässig, wenn davon auszugehen war, dass die jugoslawische Armee im Kosovo in völkerrechtswidriger Weise Gewalt angewendet hat bzw. zu befürchten stand, dass diese Männer durch die serbischen Militärs (erneut) als Soldaten rekrutiert und ggf. in völkerrechtswidrigen Kriegshandlungen eingesetzt wurden? War dies eine völkerrechtswidrige Unterstützung der serbischen Kriegsseite entgegen den nach Art. 25 UN-Charta verbindlichen Beschlüssen des UN-Sicherheitsrates? Bestanden insoweit rechtlich relevante Abschiebungshindernisse?
  • Aus dem Bereich des Verfassungsrechts: Ist die bisherige Weigerung der zuständigen Organe Deutschlands, sich der obligatorischen Gerichtsbarkeit des IGH gem. Art. 36 des IGH-Status zu unterwerfen, mit Art. 24 Abs. 3 GG vereinbar, der vorsieht, dass Deutschland zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten „Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beitreten“ wird?

Dr. Dieter Deiseroth ist Richter und einer der stellvertretenden Vorsitzenden der IALANA.

Kosovo – Gewalt löst keine Probleme

Kosovo – Gewalt löst keine Probleme

Interview mit Horst Grabert

von Horst Grabert und Paul Schäfer

Menschen leben unter unwürdigen Bedingungen, Minderheiten werden verfolgt und vertrieben und eine Lösung des Konflikts ist auch 5 Monate nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien nicht in Sicht. Die Geschichte Europas lehrt, dass Gewaltlösungen früher oder später schief gehen, meint Horst Grabert, und das bestätige sich jetzt im Kosovo.
Im Interview mit Paul Schäfer zieht er eine bittere Bilanz der deutschen und »westlichen« Balkanpolitik und spricht sich für ein Zurück zu einer Politik des Gewaltverzichts und die Stärkung der internationalen zivilen Institutionen aus.

Schäfer: Herr Grabert, Sie waren von 1979 bis Ende 1984 als deutscher Botschafter in Belgrad. Kam für Sie die gesamte Entwicklung der 90er-Jahre völlig überraschend oder welche Erkenntnisse haben Sie damals in Ihrer Tätigkeit gewonnen?

Grabert: Ich habe die Entwicklung des Verfalls der alten Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien schon 84 sehen können und auch darüber berichtet. Die Bruchstelle war die Zeit, die unmittelbar dem Tode Titos folgte. Und 1981 begann der Aufstand des Kosovo, wo die albanische Bevölkerung – bei bestehender Autonomie – die Forderung erhob, eine eigene Republik zu werden – mit dem erklärten Ziel, danach aus der SFRJ auszuscheiden, um eine Vereinigung mit dem Land Albanien unter Führung der Kosovo-Albaner anzustreben.

Das war damals die Situation und der Konflikt heute ist eine späte, aber bei weitem nicht die letzte Stufe dieser Entwicklung. Es würde zu weit führen, jetzt die lange Vorgeschichte dieses Konflikts zu erörtern. Aber es ist notwendig darüber nachzudenken, was die Motive und der eigentliche Drive der albanischen Bevölkerung – jedenfalls von Teilen der albanischen Bevölkerung – war und ist: Diese Wurzeln findet man im Aufstand von 1981.

Gab es denn in der außenpolitisch verantwortlichen Elite der Bundesrepublik Diskussionen, wie man auf diese Zerfallsprozesse in einem politisch wichtigen Land Europas hätte reagieren müssen?

Man hielt das Problem nicht für dringlich. Das ist ja eine der Tragiken des Balkankonfliktes. Die eine ist, dass man wegen der wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit dieser Region kein gravierendes Problem sah. Globalstrategisch spielte Jugoslawien eine gewisse Rolle: Jugoslawien war ein führendes Mitglied der Blockfreien, sogar Mitbegründer. Das dort prägende Dreieck »Indien – Ägypten – Jugoslawien« schien festgefügt. Die Bundesrepublik hatte gute Beziehungen und Belgrad erfüllte alle Wünsche, die speziell die deutsche Politik an einen Staat »zwischen den Blöcken« richtete. Die Situation war stabil.

Die Vorgänge im Lande selbst waren Randfragen, darum musste sich die europäisch-westliche Politik nicht kümmern. Sie wurden erst relevant, als mit dem Eintreten eines Machtvakuums durch den Wegfall des Weltpols »Sozialistische Staaten« eine völlig neue Situation eintrat. Dieser Vorgang wurde auch dadurch wichtig, dass in dieses Vakuum in den auseinander brechenden sozialistischen Staaten neue Machtträger hinein stießen.

Da begann die Geschichte interessant zu werden, aber da war es schon fast zu spät. Man hätte sie vorher, in den Achtzigerjahren, natürlich leicht verbessern können. Aber selbst zu Beginn der 90er-Jahre waren die Möglichkeiten groß: Stellen Sie sich doch einmal vor was geworden wäre, wenn damals die Europäische Gemeinschaft Vorschläge eines Stabilitätspakts im Koffer gehabt hätte bevor der erste Krieg ausbrach.

Damit will ich nur andeuten, dass die Behauptung, es habe keine Alternativen zu den verheerenden Entwicklungen der 90er-Jahre gegeben hätte, in die Irre führt.

Heute spricht man viel davon, neue diplomatische Frühwarnsysteme würden benötigt und denkt dabei an den Aufbau neuer Institutionen. Ist denn der bestehende diplomatische Dienst Ihrer Kenntnis nach nicht dazu in der Lage oder liegt das Problem eher auf der Seite der politischen Exekutive, die von »early warning« nichts wissen will?

Es hat im Fall Jugoslawien genügend Hinweise der bestehenden »Nachrichtenorganisationen« gegeben – wenn ich jetzt mal den Diplomatischen Dienst so nennen darf, der ja zum Teil diese Funktionen wahrzunehmen hat.

Es ist also nicht wahr, dass in den europäischen Hauptstädten keine genauen Kenntnisse vorlagen. Ich erinnere mich noch deutlich daran, dass die Botschafter der Europäischen Gemeinschaft 1983 in Belgrad ein gemeinsames Papier über den beginnenden Zerfall Jugoslawiens verfasst haben. Diese Berichte hat man offensichtlich nicht aus dem großen Stoss der Papiere, die im Auswärtigen Amt immer anfallen, heraus gezogen. Sie sind nicht beachtet worden. Kenntnisse können eben »hinderlich« sein, wenn man Politik betreibt. Mit bestimmten Problemen möchte man nicht behelligt werden. Hinterher stellt sich raus, dass man leider etwas übersehen hat.

Man sollte also nicht immer die Ausreden ins Feld führen, wir brauchten andere, natürlich bessere Organisationen – in Wahrheit wurden nur die bestehenden nicht richtig genutzt.

Sie erwähnten, dass ein Ausweg aus der Krise auch darin gelegen hätte wenn die Europäische Gemeinschaft Ende der Achtzigerjahre eine aktive Kooperation angeboten hätte. Das verweist auf den Punkt, dass bei der Eskalation dieses Nationalitätenkonflikts auch wirtschaftliche und soziale Verwerfungsprozesse eine große Rolle gespielt haben. Wie hoch schätzen Sie denn den Anteil dieser Faktoren ein?

In Jugoslawien handelt es sich nicht um einen ethnischen Konflikt. Auch nicht um einen religiösen Konflikt. Das Konfliktpotenzial ergab sich aus dem Zerfall der zentralen Steuerung in Belgrad, in erster Linie aus dem Prozess des Zerfalls des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens. Als erstes traten die Slowenen nämlich aus dem Bund der Kommunisten aus – der eine oder andere Experte wird sich erinnern. Das geschah auf der Basis bestehender wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Die Slowenen beklagten, dass sie einen erheblichen Teil ihres erwirtschafteten Bruttosozialprodukts in andere Republiken, speziell in den Süden Jugoslawiens abliefern mussten. Diese Form eines »Länderfinanzausgleiches« schien ihnen ein Fass ohne Boden. Hier, aber auch anderswo, begann unter dem Vorzeichen wirtschaftlicher Krisenerscheinungen die Diskussion, warum man die Unfähigkeit »derer da im Süden« bezahlen müsse. Das war ein objektiver Grund. Er wurde verschärft dadurch, dass nach dem Tode Titos eine zentrale Machtposition geräumt war. Und jeder »Republikfürst«, der in aller Regeln auch ein Parteifürst war, sah die Chance, seine Macht zu erweitern. Wir haben hier einen typischen Vorgang, dass versucht wird, ein Machtvakuum durch regionalen Machtzuwachs auszufüllen.

Ich selber habe ein praktisches Beispiel erlebt, dass wegen dieser regionalen Rivalitäten ein Geschäft mit einem deutschen Unternehmen nicht zustande kam. Die von diesem Unternehmen zu liefernden Produkte sollten durch Warenlieferungen aus Jugoslawien abgegolten werden. Dieses »Gegengeschäft« scheiterte daran, dass man sich nicht über den Standort der in Jugoslawien zu errichtenden Fabrik einig werden konnte. Der Interessenausgleich zwischen den Republiken funktionierte nicht mehr. Schon damals haben die Republiken untereinander inoffiziell viel lieber in D-Mark als in Dinar gerechnet.

So begann die Geschichte. In dieser Phase eine europäische Orientierung zu geben, wäre natürlich das adäquate Rezept gewesen. Aber vielleicht war auch die europäische Entwicklung zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht so weit, um eine gemeinsame Politik formulieren zu können.

Es wäre interessant, diese Verlaufsgeschichte mit den ordnungspolitischen Vorstellungen zu konfrontieren, die heute unter neoliberalen Vorzeichen für die Zukunft des internationalen Systems gehandelt werden. Ihrer Schilderung konnte man entnehmen, welche negativen Folgen ein Standortwettbewerb, der als gnadenlose Konkurrenz gegeneinander geführt wird, gerade für die nicht wohlhabenden Regionen haben kann. Und doch wird im neoliberalen Diskurs geradezu als Wunschvorstellung formuliert, dass man die Nationalstaaten nicht mehr brauche, sondern nur noch die einzelnen Regionen untereinander konkurrieren sollten.

Deshalb redet selbst Henry Kissinger von der »Neuen Weltunordnung«, weil er der Meinung ist – und ich teile diese Meinung – dass es eine Illusion wäre zu meinen, die Märkte und Marktinteressen könnten Staaten und Staatsinteressen ersetzen. Das funktioniert nicht. Nicht nur, weil der Markt nicht demokratisch legitimiert ist.

Wir haben uns jetzt stark mit der Vorgeschichte des Konflikts beschäftigt. Es erscheint plausibel, wenn man sagt, dass in solchen Konfliktstadien eine Einmischung von außen mit zivilen, v.a. wirtschaftlichen Mitteln aussichtsreich ist. Doch man gerät immer wieder in Situationen, in denen der Verweis, man hätte früher eingreifen müssen, nicht weiterhilft.
Was ist aber mit Konflikten, die schon in hohem Maße gewaltträchtig eskaliert sind? Gab es in der Situation der Verhandlungen von Rambouillet noch Alternativen zum gewaltförmigen Eingreifen?

Rambouillet war eine PR-Aktion. Man kann beim besten Willen nicht behaupten, dass dies eine Verhandlung gewesen sei. Man hat vorher die Ergebnisse in einem Papier nahezu vollständig vorgegeben, das veröffentlicht und gesagt: »Friss Vogel oder stirb!« Im Grunde genommen hat natürlich Madame Albright auch nicht damit gerechnet, dass auch nur der Hauch einer Chance bestand, die Serben könnten da unterschreiben. Sie war irritiert, dass die Albaner nicht unterschrieben haben, deswegen musste »nachverhandelt« werden.

Rambouillet war eine, wie man im Fachjargon sagt, »face saving operation« um sagen zu können: »Wir haben ja alles versucht!«

Natürlich hatten wir Alternativen. Nehmen Sie nur die von der OSZE beschlossene Mission. Milosevic hat ihr zugestimmt und sie nicht behindert. Sie nahm unter der Stabführung des Amerikaners Walker sehr zögerlich ihre Arbeit auf. Es ist überzeugend in dem Bericht des deutschen Brigadegenerals a.D. Heinz Loquai dargelegt, dass die OSZE-Beobachtermission bestenfalls halbherzig verfolgt wurde – weil die Maßgeblichen wollten, dass es zu einem NATO-Einsatz kommt.

Alternativlose Situationen gibt es in der Politik übrigens wirklich ganz selten. Die Frage, ob es Alternativen bis zum Beginn der Bombardierung gab, ist falsch gestellt. Wollte man sie, muss die Frage lauten. Die OSZE-Mission, konsequent durchgeführt, war eine Möglichkeit. Weil man aber zu der militärischen Variante entschlossen war, hat man die OSZE-Beobachter abgezogen. Dies hat die Vertreibungsperiode, die ja schrecklich war, mit ausgelöst. Es gab vorher auch Vertreibungen, aber nicht in einem vergleichbaren Umfang.

Nun halten sich Bundesregierung und NATO zugute, dass man mit dem Militäreinsatz, der heutigen KFOR-Administration im Kosovo und dem angeschobenen Stabilitätspakt die Region befriede, sie unter Kontrolle habe. Die Richtung stimme also. Teilen Sie diesen Optimismus?

Nein, ich sehe, dass ein wichtiges Instrument – der Stabilitätspakt ist ja im Prinzip richtig – falsch eingesetzt wird. Wenn er gleich mit der aufschiebenden Bedingung etabliert wird, dass Herr Milosevic erst verschwunden sein muss, dann kann man ihn nicht für ganz ernst gemeint halten. Jeder Mensch auf dem Balkan weiß, dass der zentrale Punkt Serbien ist. Und ohne eine Regelung unter Einschluss Serbiens wird es immer nur, wenn überhaupt, sehr marginale Erfolge geben.

Außerdem: Wir haben zunehmende Probleme in der Beherrschung der Situation – nicht nur in Bosnien, sondern auch gerade im Kosovo. Ich will jetzt gar nicht von den Aktionen der UCK, die ja weiter existiert, im Einzelnen reden. Es ist eine Selbsttäuschung zu meinen, dass sich die UCK auf das Konzept eines multiethnischen Kosovo im Rahmen Jugoslawiens einlassen würde. Davon kann keine Rede sein. Auch der neue, starke Mann Thaci hält an den 1981 eingenommenen Positionen fest. Wenn Frau Albright dann Thaci, wie kürzlich geschehen, als »Mister Prime Minister« bezeichnet hat, dann wird diese Entwicklung gestützt. Will man das vielleicht? Das wird sich noch rächen. Das »albanische Kosovo« ist nach wie vor das Ziel der UCK, aber überwiegend nicht aus ethnischen Gründen. Bei dieser politischen Richtung sind die Albaner, die nicht der Meinung von Herrn Thaci sind, genau solche Feinde wie die Serben oder die Roma oder wie jetzt die Kroaten. Die ersten Toten, die aufgrund der Aktivitäten der UCK festgestellt worden sind, waren Albaner, Anhänger von Herrn Rugova. Wie Europa mit diesen Machtansprüchen zu Rande kommt, bleibt abzuwarten.

Die Schlussfolgerung ist aber grundsätzlicher: Protektorate sind die ultima ratio einer falschen Politik. Sie können nicht zu einem befriedigenden Erfolg führen. Sie können nur in eine »Erstickungssituation« hineinführen. Dies blockiert auch in gewisser Weise den Stabilitätspakt. Natürlich werden einige Länder versuchen, auf diese Art und Weise Finanzierungsquellen zu erschließen – was ja legitim ist. Aber beim Stabilitätspakt müsste es um eine selbsttragende, nachhaltige Entwicklung für die gesamte Region gehen. Ein solcher Ansatz wird schon durch die Bedingung des Sturzes von Milosevic in Frage gestellt. Ich sage, man muss sich eine andere Serbienpolitik überlegen. Herr Milosevic ist kein Friedensengel, ganz im Gegenteil. Ich kenne ihn sehr gut und habe oft mit ihm gesprochen. Da war er noch Bankdirektor. Aber das regionale Befriedungsprojekt der EU an die Frage nach der Person Milosevic zu hängen, nur um die Legitimität des NATO-Krieges nicht in Zweifel geraten zu lassen, ist irrwitzig.

Man ist versucht zu sagen, dass es bei der ganzen Geschichte gar nicht um die Lösung der regionalen Probleme geht, sondern dass vielleicht auf der Bühne »Jugoslawien« bzw. »Balkan« ganz andere Stücke aufgeführt werden.

Sehen Sie denn noch die Möglichkeit, die »Unabhängigkeit« des Kosovo, die ja wiederum ein Präludium für den Anschluss an Albanien wäre, zu verhindern? Schon heute ist aus dem State Department der USA zu hören: „Zunächst nicht.“ Da scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen zu sein?

Es gibt natürlich kein letztes Wort. Die Amerikaner sind eine Weltmacht, die viele andere Dinge in Betracht zu ziehen haben. Die Dekolonisierung Afrikas gelang nur unter dem Regime der bestehenden Grenzen. Hätte man damals an einer Stelle in Afrika begonnen, Grenzen zu ändern um getrennte Stämme zu vereinigen, was ja viele humanitäre Organisationen – durchaus verständlich – gefordert haben, dann wäre die Dekolonisierung Afrikas nicht gelungen. Sie wäre viel früher in ein fürchterliches Gemetzel abgeglitten.

Sehen Sie sich heute die relativ ungeordnete Situation in dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion an. Wenn da versucht würde, mit Bezug auf den Kosovo, Grenzen gewaltsam zu ändern, was ja an einigen Stellen schon beginnt, dann weiß niemand mehr, wie eine solche Entwicklung weitergeht oder wo sie endet. An dem Prinzip der Nichtveränderbarkeit der Grenzen, mit der Ausnahme freiwilliger Übereinkünfte, darf nicht gerüttelt werden.

Willy Brandt hatte mit seiner Friedenspolitik genau dies verstanden als er sagte: „Wir wollen den Charakter der Grenzen ändern.“ Dies ist natürlich auch für den Balkan eine Möglichkeit. Das setzt allerdings ein anderes Herangehen der westlichen Staaten an das Problem voraus.

Man sollte zum Beispiel eng mit den Russen zusammenarbeiten. Für Russland ist der Balkan von großer Bedeutung. Weniger als Region und nicht wegen der »fiktiven« Jahrhunderte alten religiösen Verbindungen. Es ist ein Weg an den großen Tisch. Russland muss dabei sein, wenn es seine 1B-Position als Weltmacht wieder erringen will, oder wie ein Russe sagen würde, um sie aufrecht zu erhalten.

Für die NATO scheint der Kosovo-Krieg doch ein Präzedenzfall gewesen zu sein, welche Rolle die Allianz bei Krisen im euro-atlantischen Raum zu spielen gedenkt. Gleichzeitig mehren sich die Stimmen, die sagen: So nicht. War Kosovo ein »Muster ohne Wert«?

Es hat sich erwiesen, dass die NATO nicht geeignet ist, eine wirklich krisenbewältigende Politik zu machen. Wenn sich die Politik des Westens unter Führung der Vereinigten Staaten nicht erheblich ändert, wird es sogar immer schwerer werden, regionale Konflikte dieser Art zu lösen. Die eigentlichen Krisen haben wir noch vor uns. Wir sollten nicht der Illusion anhängen, mit dem Kosovo wäre das Schlimmste überstanden.

In spätestens zwanzig Jahren werden wir mit sehr viel schlimmeren Krisengefahren zu tun haben – v.a. was das Gebiet um das Kaspische Meer betrifft. Da geht es real um die letzten großen Erdölreserven der Welt. Insofern sollte niemand den gegenwärtigen Tschetschenien-Krieg falsch einordnen. Es handelt sich auch dort nicht um die Verfolgung von Terroristen, genauso wenig wie in Armenien, in Georgien oder der ganzen Kaukasusregion.

Wir befinden uns immer noch im Anfangsstadium. Das alles hängt auch mit dem Kosovo-Krieg zusammen. Wer auf die Schaffung von Protektoraten aus ist, wird zukünftig in große Schwierigkeiten kommen.

Sie haben Protektorate als „ultima ratio einer falschen Politik“ bezeichnet. Die Frage bleibt aber doch, soll man diese krisenhaften Entwicklung sich selbst überlassen. Wir sehen am Beispiel Somalia, dass dies auch keinen Ausweg bietet. Was also kann man von außen machen, was sollte man machen und wovon sollte man die Finger lassen?

Die Entwicklung des Europas der Sechs, des Europas der Neun – von immer mehr Staaten – führte über gleichberechtigte Verhandlungen. Keiner, auch kein kleiner Staat wurde untergebuttert. Dies ist ein entscheidendes Prinzip. Gleichberechtigung statt ständiger Bevormundung durch die Großen.

Ein europäische zivilisierte Gemeinschaft wird es auch nur geben, wenn Europa an einem weiteren Prinzip festhält. Es wurde 1975 in Helsinki verankert: Die Androhung und die Anwendung von Gewalt müssen geächtet bleiben. Wir haben Helsinki und dieses Gewaltanwendungs- und Androhungsverbot im Westen als einen großen Sieg unserer moralischen Überlegenheit im Kampf der Systeme betrachtet. 24 Jahre danach wurde dieses Prinzip über Bord geworfen. Wir haben Gewalt angedroht, in Rambouillet. Danach wurde ein Land angegriffen, das nicht seinerseits einen Krieg begonnen hatte. Heute heißt es wieder bei vielen Gelegenheiten: »Wenn Ihr euch nicht wohl verhaltet, dann kommt der dicke Stock!« Und es gibt wieder verbreitet die Meinung bei aktiven Politikern: Diplomatie braucht immer eine starke Gewalt hinter sich. Was für ein Unsinn! Natürlich kann es Situationen geben, in denen man so argumentieren könnte. Aber grundsätzlich ist die Geschichte Europas der Gegenbeweis. Wenn wir Gewaltlösungen versucht haben, sind sie früher oder später schief gegangen. Da will ich erst gar nicht Herrn Hitler erwähnen. Dieser deutsche Versuch war nur der schrecklichste. Und aus diesen Erfahrungen heraus haben wir 1975 – das war eine sozialdemokratische Musterleistung unter den Kanzlern Brandt und Schmidt – diesen Gewaltverzicht etabliert. Alle Staaten von Vancouver bis Wladiwostok haben unterschrieben.

Der durch die Bombardierung Serbiens verletzte Status des strikten Gewaltverzichtes muss wieder hergestellt werden.

Wir müssen ein Zweites tun. Mit dem Krieg der NATO hat unter Führung der Vereinigten Staaten ein kleiner Teil der Welt entschieden und sich über die UNO in die globale Führungsposition gestellt. Die Bundesregierung hat damit eine Politik aufgegeben, die gerade Deutschland seit Jahrzehnten verfolgt hat. Wir haben uns damals sehr bemüht, dass die beiden deutschen Staaten gemeinsam beitreten. Wir haben in allen Programmen der Regierungs- und Oppositionsparteien eine hohe Wertschätzung der Vereinten Nationen.

Nun wurde mit deutscher Beteiligung ohne Not ein Krieg begonnen, der die UNO an den Rand drängte und der nicht durch die Vereinten Nationen legitimiert war. Es war ein glatter Völkerrechtsbruch, nur mit sehr fadenscheiniger Camouflage versehen. Wir müssen die Konsequenz daraus ziehen und das vereinbarte Völkerrecht wieder herstellen. Erst dann wird man es entwickeln und ändern können – im Konsens, aber nicht mit Androhung und Anwendung von Gewalt.

Wir müssen die Anwendung des Gewaltpotenzials in die Hände des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zurück geben. Die Akzeptierung des Gewaltmonopols der Vereinten Nationen ist eine Grundvoraussetzung für die friedliche Entwicklung in Europa.

Inzwischen hat sich bei der Kindererziehung herumgesprochen, dass das Verprügeln der Kinder keinen pädagogischen Erfolg hat. Wir sollten diese Erfahrung auch auf andere Lebensbereiche übertragen.

Die Amerikaner sind meines Erachtens auf dem Holzwege wenn sie meinen, durch die Fähigkeit jeden Ort der Welt mit Präzisionswaffen aus der Luft angreifen zu können würde sich ihre Weltmachtstellung verbessern. Ich behaupte es ist der Anfang des Niedergangs dieser Weltmacht. Es gibt kluge Leute in Amerika, die darüber diskutieren und zu ähnlichen Auffassungen kommen. Selbst ein Mann, der nun wirklich Realpolitik betrieben hat wie Henry Kissinger hat erkannt, dass diese Politik zu einer Weltunordnung führt.

Nun ziehen ja Leute gerade den Schluss daraus, dass Europa sich von den Vereinigten Staaten emanzipieren müsse. Gerade Kosovo hätte gezeigt, dass Europa als eigene Militärmacht auftreten sollte. Wie sehen Sie das?

Leider ist die Welt nicht so schön wie wir sie uns erträumen. Und ich bin nicht in dem Sinne Pazifist, dass ich echte Verteidigungskriege für unmoralisch hielte. Daher hielte ich es für fahrlässig, wenn Europa, oder Teilstaaten von Europa, sich nicht auf Situationen vorbereiteten, in denen man sich verteidigen muss. Ich rede davon, dass die Androhung und Anwendung von Gewalt als Element aktiver Politik verwerflich ist – nicht die Vorkehrung gegen eine verwerfliche Politik.

Eine europäische Verteidigungspolitik wäre für Sie ein Instrument das zur europäischen Einigung dazu gehört?

Ja. Auch ein gemeinsames Europa, was ja noch nicht existiert, wird ein Instrumentarium haben müssen, um sich, wie die Österreicher sagen, allfälligen Bedrohungen stellen zu können. Und kein Mensch kann sagen, wie sich die Welt weiterentwickelt. Sollte sich beispielsweise die Entwicklung in Russland weiter chaotisieren, wer ist dann sicher dass es nicht der abschirmenden Gewalt einer Verteidigungskraft bedarf? Das hat nichts damit zu tun, dass ich das Militär wieder als Komponente von Außenpolitik sehen würde. Auch in Deutschland wird dieser Unterschied zwischen Verteidigungspolitik und militärisch aktiver Außenpolitik zusehends verwischt. Ein außenpolitischer Gestaltungsanspruch, der unsere Interessen aktiv militärisch verteidigen bzw. durchsetzen will, ist äußerst gefährlich und führt in die Irre.

Von der Frage, ob wir auf der Welt weniger Militär, weniger Abschreckung, weniger militärische Gewalt bekommen, hängt nicht zuletzt das Wohl und Wehe der weiteren Entwicklung ab. Wir sind immer noch in der Situation, dass sich die Menschheit selber vernichten kann. Das ist durch die Auflösung der Blockkonfrontation auf der nördlichen Halbkugel nicht geändert. Diese Gefahr wird nicht geringer dadurch, dass die Atomwaffenbesitzer an ihrem Monopol festhalten wollen und ständig mit ihrer überlegenen militärischen Macht drohen. Die Gefahr, dass kleinere Länder sich bemühen werden, auch Massenvernichtungswaffen in die Hand zu bekommen, wächst ständig. Sicherheit bekommen die Nicht-Atom-Staaten aber erst dadurch, dass die Großen ihre Atomarsenale stark abbauen und darauf verzichten, mit ihrer Überlegenheit zu drohen bzw. sie anzuwenden.

Dieses Beispiel zeigt, dass ein Mehr an militärischer Macht die Welt nicht sicherer macht. Im Gegenteil. Außenpolitik die meint, sich v.a. auf militärische Macht stützen zu müssen, führt uns nur näher an den Abgrund.

Horst Grabert war von 1972 bis 1974 Chef des Bundeskanzleramtes, danach Botschafter der BRD, von 1974 bis 1979 in Wien, von 1979 bis 1984 in Belgrad und von 1984 bis 1987 in Dublin.
Paul Schäfer ist Diplom-Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag und Redakteur von W&F.