Israel am Scheideweg

Israel am Scheideweg

Interview mit Moshe Zuckermann

von Moshe Zuckermann und Connection e.V

Moshe Zuckermann zählt seit Jahren zu den israelischen Persönlichkeiten, die sich für ein Ende der Gewalt und einen Friedensprozess mit den Palästinensern einsetzen. Am 11. Mai 2002 interviewten ihn Rudi Friedrich und Karin Fleischmann für Connection e.V. Das Interview erscheint demnächst in: »Gefangen zwischen Terror und Krieg? Israel – Palästina: Stimmen für Frieden und Verständigung«, Hrsg. Connection e.V., Offenbach, Trotzdem-Verlagsgenossenschaft, Grafenau. Mit Genehmigung des Verlags und des Autors veröffentlichen wir vorab Auszüge aus diesem Interview.

Gegenwärtig eskaliert die Gewaltspirale. Um dem ein Ende zu setzen, sprechen Sie davon, dass Israel zuallererst die Okkupation beenden müsse. Welche denkbaren Szenarien sehen Sie für die israelische Gesellschaft?

Ich sehe es als ein Horrorszenario. Israel steht am Scheideweg. Eine finale Lösung des Konflikts stellt für die jüdische Bevölkerung Israels mehr oder weniger eine Entscheidung dar zwischen Skylla und Charybdis, zwischen Pest und Cholera. Ich will die verschiedenen Szenarien kurz darstellen:

Im ersten Szenario würde Israel die besetzten Gebiete – und hier rede ich vor allem von der West Bank – zurückgeben. Dann reicht es durchaus aus, dass sich 5.000 Hardliner der Siedlerbewegung in der West Bank verschanzen und sagen: „Nur über unsere Leichen.“ Damit käme es zu einer Situation, in der der Staat Israel gefordert wäre, sein Gewaltmonopol gegen die Siedler einsetzen zu müssen, in der unter Umständen Juden auf Juden schießen würden, was eine Spaltung der israelisch-jüdischen Gesellschaft zur Folge hätte. Dieses Szenario birgt zumindest potenziell die Tendenz eines Bürgerkrieges in sich. Ich sage nicht, dass es so kommen muss, aber es ist eine für viele Israelis zu befürchtende Bedrohung.

Sollte sich Israel aber entscheiden, die Gebiete nicht zurückzugeben, was ja bislang der Fall ist, dann gibt es zwei mögliche Varianten für das zweite Szenario:

Eine Variante würde ich als »linke« bezeichnen, die unter anderem von dem Jerusalemer Meron Benvenisti vertreten wird. Er sagt, dass die in den letzten 25 Jahren entstandene Infrastruktur in den besetzten Gebieten im Grunde irreversibel sei. Es sei schlechterdings unmöglich geworden, alles zurückzugeben, da so viel investiert worden sei und in diesen Territorien inzwischen sehr viele Menschen, über 200.000 Juden, lebten.

Die zweite Variante ist die rechtsextreme, die postulierte Nichtrückgabe der Gebiete. Dies würde objektiv bedeuten, dass Israel in einem Dauerzustand der Okkupation und der akuten Gewalt verharrt.

Weigert man sich, die Gebiete zu räumen – unabdingbare Voraussetzung einer jeglichen künftigen Regelung – dann müsste die gesamte palästinensische Bevölkerung in den israelischen Staat integriert werden. Unabhängig davon, ob sich die Palästinenser je auf eine solche Lösung einlassen würden, hätten damit beide Varianten objektiv zur Folge, dass eine binationale Struktur geschaffen würde, dass quantitativ die Verhältnisse binational durchwirkt sind. So hat Israel also, wenn es von zionistischer Warte zum Schlimmsten kommt, letztlich die Wahl zwischen einem potenziellen Bürgerkrieg und einer binationalen Struktur.

Der entscheidende Punkt ist: Damit wären gerade die zentralen Postulate des Zionismus aufgehoben. Alle aufgezeigten Varianten bedeuten für den jüdischen Israeli, der sich als Zionist versteht, dass das zionistische Projekt historisch mehr oder weniger ad acta gelegt wäre.

Das ist der Grund, warum die israelische Gesellschaft in einem Zustand verharrt, in dem keine Entscheidung getroffen wird. Lieber werden Terroranschläge hingenommen, es wird sogar hingenommen, dass das eigene, so hoch gelobte Militär in die West Bank eindringt und sich dort barbarisch gebärdet. Die jüdische Bevölkerung Israels ist eher bereit, dies alles hinzunehmen, als eine historische Entscheidung an dieser Weggabelung zu treffen. Diese muss aber getroffen werden. Es ist eine Entscheidung, die bedeuten könnte, dass das große zionistische Experiment beendet wird, dass die eigene Identität wesentlich zu transformieren ist, dass man sich von nationalen Mythen verabschieden muss, die seit nunmehr über hundert Jahren bestehen.

Wie stellt sich denn die Situation für die Palästinenser dar?

Was für die jüdischen Israelis 1948 die Gründung eines eigenen Staates und somit ihre nationale Emanzipation war, bedeutete für die Palästinenser, ihre Nachbarn, eine Katastrophe. Diese besteht seit nunmehr über fünfzig Jahren fort, nicht nur als Ideologie, sondern als tagtägliche Realität, als eine Degeneration von ganzen Lebenswelten. Sie zeigt sich in Ausbeutung, Verfolgung, Gewalt und Ermordungen. Es ist eine Repression, die nicht nur dann zutage tritt, wenn Blut fließt, sondern auch im alltäglichen Leben, wenn man beispielsweise sieht, wie Menschen im Flüchtlingslager leben.

Daher wird es eine Sache nicht geben: Dass die Palästinenser mit dem Widerstand, dem Guerillakrieg, auch nicht mit dem barbarischen Terror aufhören, solange die Ursache für all diese Aktionen der Palästinenser nicht aus der Welt geschafft ist: die Okkupation. Ich kenne historisch kein einziges Beispiel eines Landes, eines Volkes, das längerfristig bereit war, die Unterdrückung durch ein anderes Kollektiv hinzunehmen.

Die Gewalt ist geprägt von einem massiv handelnden israelischen Militär und den Guerilla- bzw. Terroraktivitäten der Palästinenser. Es kann nicht von einer militärischen Auseinandersetzung die Rede sein, sondern von einer asymmetrischen Situation zwischen einer der stärksten Militärapparate der Welt und einer Befreiungsbewegung, die zwangsläufig auf den Guerillakrieg angewiesen ist.

Kann denn der von der israelischen Regierung forcierte militärische Einsatz die Selbstmordanschläge beenden?

Den Terror der Selbstmordanschläge kann man gar nicht militärisch bekämpfen – gerade wegen seiner Unsichtbarkeit, wegen seiner elastischen Infrastruktur. Das dürfte eigentlich allen klar sein. Das Militär kann zeitweise Stützpunkte des Terrors ausheben, aber nur um in Kauf zu nehmen, dass dabei immer neue Terroristen geschaffen werden. Man kann nur die ökonomischen, mithin sozialen Ursachen des Terrors bekämpfen. Aber auch der palästinensische Terror, so gezielt und durchdacht er eingesetzt werden mag, kann den fortwährenden Zustand einer Jahrzehnte dauernden Okkupation nicht beseitigen. Es gibt keine militärische Lösung für das politische Problem.

Wenn Israel weiterhin ein Okkupationsregime bleibt, dann wird sich der Terror nicht in Wohlgefallen auflösen. Er stellt doch in diesem Fall die Kampfwaffe der Armen, der Unterlegenen, der Verfolgten dar, so brutal und inhuman er an sich sein mag. Bleibt die Situation so, wird Israel für meine Begriffe längerfristig in seiner Existenz bedroht sein. Es kann nicht ewig im Zustand des Krieges existieren.

Israel – eine militarisierte Gesellschaft

Israel ist ein stark militarisiertes Land. Das spiegelt sich ja unter anderem in einer hohen personellen Übereinstimmung des politischen Establishments mit dem Militär wider. Viele Politiker haben eine Karriere in der Armee durchlaufen. Wie drückt sich diese Situation in Israel aus?

Ich glaube, in der Frage ist schon die Antwort angelegt. Der Übergang vom militärischen zum zivilen Bereich ist sehr fließend. Jeder Jugendliche ist wehrpflichtig und erfährt im Militär eine bestimmte Form der Sozialisation zum israelischen Bürger. Im Militär ist eine eigene, viele Bereich umfassende Subkultur entstanden

Darüber hinaus produziert ein nicht zu unterschätzender Teil der israelischen Industrie Rüstungswaren. Die zivile Ökonomie ist mit dem Militär verkettet; die gegenseitigen Interessen werden tagtäglich ausgetragen und gewahrt.

Letzten Endes gründet sich diese starke Stellung des Militärs darauf, dass die Begriffe der Sicherheit und Wehrhaftigkeit von Anbeginn wesentliche Momente der klassischen zionistischen Ideologie ausmachten.

Nun führt die Allgegenwärtigkeit des Militärs ja nicht nur zur sichtbaren Präsenz von Soldaten, zur Durchdringung der Ökonomie, sondern bestimmt auch den Diskurs der Gesellschaft. Indem auf die Anschläge der palästinensischen Seite nur mit Gewalt reagiert wird, ist offensichtlich die militärische Option gewählt worden. Erklärt sich das allein aus der Ideologie des Zionismus und der Erfahrung des Holocaust?

Das Problem ist nicht so sehr darin zu sehen, dass das Militärische mit der Erfahrung des Holocaust und dem damit einhergehenden historischen Angstsyndrom begründet wird, sondern vielmehr, inwieweit es wiederum ideologisiert, fetischisiert, verdinglicht, mithin zum destruktiven Machtinstrument verkommt. Die zweitausendjährige Verfolgungsgeschichte verstärkt natürlich das Selbstverständnis, dass »wir« stark werden und bleiben müssen. Das Problem liegt ja nicht darin, dass der Zionismus nicht das Recht hätte, sich zu wehren, falls er angegriffen würde. Das Problem ist vielmehr darin zu sehen, dass die Ideologie der Sicherheit und Selbstverteidigung gewendet und umfunktionalisiert wurde, und zwar in ein Aggressionsideologem, welches das Militär zwangsläufig zu einem verlängerten Arm der Aggressionspolitik Israels werden lässt.

Die gesellschaftlich homogenisierende Identifikation kann bis heute nur über das Negative geschaffen werden. Das bedeutet mutatis mutandis, dass das Sicherheitsthema immer die Funktion erfüllte, die normalerweise das staatsbürgerliche Bewusstsein oder die Zivilgesellschaft hätte positiv liefern müssen.

Sie wissen ja, es ist das erste Gesetz der Sozialpsychologie: Will man eine Gruppe solidarisieren, will man sie zusammenbringen und festigen, muss man einen äußeren Feind schaffen. Solch ein Feind entstand jüngst bzw. wurde wiederbelebt durch die von den Palästinensern entfachte Intifada. In dem Moment, als die Intifada für Israel eine Bedrohung darstellte, als sie im Alltagsleben Opfer von Terroranschlägen forderte, rückte der allergrößte Teil der jüdischen Bevölkerung zusammen. Gerade in der derzeitigen Situation scheinen die inneren Widersprüche und Gegensätze »gelöst« zu sein, da es einen neuen-alten Feind von außen gibt.

Welche Gruppen haben denn in Israel ein Interesse an der Fortsetzung des Krieges?

Es gibt zunächst mal die militärische Elite, die bei Sicherheit fast immer in Kategorien militärischer Gewalt denkt. Selbst wenn es keinen Krieg gibt, argumentiert diese für die Aufrechterhaltung einer (in sich durchaus verständlichen) ständigen Bereitschaft des Militärs, was mutatis mutandis heißt, dass militaristisch gedacht wird.

Es ist aber auch das Militär selbst, das mit der Begründung der Wehrhaftigkeit argumentiert, um vergrößerte Budgetanteile zu erhalten. Als jemand, der lange genug selbst beim Militär war, sage ich, dass es dabei seine Forderungen immer völlig überspannt. Das Militär stellt in Israel eine ausgesprochene Berufssparte dar, mithin eine Option für eine Karriere, die sogar politische Perspektiven eröffnet. Auch die Waffenindustrie hat ein sehr starkes Interesse, dass die Wehrhaftigkeit Israels weiter auf der Tagesordnung steht. Auf keinen Fall sollten wir in diesem Zusammenhang diejenigen vergessen, die aus ideologisch-politischen Gründen die besetzten Gebiete nicht zurückgeben wollen. Das können sie am besten garantieren, wenn kein Frieden eintritt, der Krieg oder zumindest ein Ausnahmezustand aufrechterhalten wird.

Wie werten Sie die Rolle der Hardliner auf der israelischen wie auf der palästinensischen Seite?

Zwischen den israelischen und palästinensischen Fundamentalisten gibt es ein Komplementärverhältnis. In ihrem je eigenen Interesse instrumentalisiert jede Seite die Untaten der anderen und macht sie öffentlich-moralisch zum Politikum. Das würde ich in gewissem Maße sogar für die hohe Politik konstatieren. Nichts kann dem israelischen Ministerpräsidenten Sharon mehr zupass kommen, als die Selbstmordanschläge der Palästinenser. Sie gaben ihm die Möglichkeit, das zu tun, was er seit Jahren will: Die Autonomiebehörde zerschlagen, die Palästinenser niederkämpfen. Wäre es ihm nur von Seiten der USA gestattet worden, hätte er auch Arafat liquidiert und damit alle aktuellen Vorbereitungen für einen zukünftigen palästinensischen Staat zunächst mal außer Kraft gesetzt.

Auf der palästinensischen Seite stellt sich die Sache ähnlich dar, obwohl es ja kein palästinensisches Militär gibt. Die palästinensische Elite instrumentalisiert das ideologische Interesse für den Befreiungskampf. Sie plant nicht den infrastrukturellen, ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Aufbau der Gesellschaft, sondern erhält über die militärischen Apparate den eigenen Machtstatus aufrecht. Das gilt ganz bestimmt für Arafat, aber auch für nicht wenige Leute in seinem Umfeld. Die haben die von außen eingeflossenen Gelder vor allem dazu benutzt, die militärische Infrastruktur aufzubauen, wie auch die Gewaltapparate für den innerpalästinensischen Gebrauch. Darüber hinaus gibt es auch bei den Palästinensern eine durch den nun schon lange andauernden militärischen Widerstand gestählte und geschärfte Militärelite, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo hat.

Das heißt, allein aus dieser Perspektive heraus gibt es einen komplementär verschwisterten Interessenverbund, der sich dahin ausgewirkt hat, dass die hohe Politik auf beiden Seiten bislang eher eine Politik des Machterhalts ist als eine Politik der Versöhnung und Konfliktbeilegung.

Internationale Interessen und Handlungsoptionen

Es ist auch diskutiert worden, ob eine internationale Friedenstruppe sozusagen handstreichartig für Ruhe in Nahost sorgen könnte. Inwieweit kann Ihres Erachtens internationaler Einfluss der USA oder der Europäischen Union zur Beendigung des Krieges und Konfliktes führen?

Der entscheidendere Punkt ist doch: Israel ist eine der stärksten Militärmächte der Welt. Eine von außen oktroyierte, per Gewalt durchgesetzte Lösung würde – zumindest tendenziell – bedeuten, dass der Nahe Osten in Schutt und Asche gelegt wird.

Wir müssen uns aber zunächst fragen, ob denn die USA oder die Europäische Union überhaupt ein ernsthaftes Interesse daran haben, den Konflikt zu lösen. Die immer wieder zu hörende Rhetorik einer vermeintlich amerikanisch-israelischen Gesinnungsgemeinschaft beruht meines Erachtens auf einer Täuschung. Man muss sich von all den diesbezüglichen Slogans der USA verabschieden. Es geht den USA nicht um den Kampf für Menschenrechte, den Kampf für Demokratie und seit dem 11. September den so genannten »Krieg gegen den Terror«. Meines Erachtens geht es vielmehr um die Weichenstellung für die Machtkonstellation des 21. Jahrhunderts, in dem die USA auch weiterhin eine große wirtschaftliche Rolle spielen werden.

Unter diesem Gesichtspunkt betreiben die US-Amerikaner eine Politik der hegemonialen Einflussnahme. Neben der Präsenz der NATO im Balkan und neben den Aktivitäten der USA in Südamerika betrifft das vor allem zwei Gebiete: die Golfregion und Zentralasien.

Ich will hier nur auf die Golfregion eingehen. Bush senior hatte im Zuge des Krieges des Irak gegen den Iran zunächst Saddam Hussein mit aufgebaut und bewaffnet. Anfang der 90er Jahre, als sich herausstellte, dass Saddam Hussein den US-amerikanischen Interessen entgegen handelte, wurde dieser schlagartig zum neuen »Hitler« erklärt und Krieg gegen ihn geführt. Was der Senior angefangen hatte, könnte der Junior zu Ende führen wollen.

Die USA werden sich daher nur dann in den Nahostkonflikt einmischen, wenn es ihren geopolitischen Interessen konkret entspricht. Es ist ihnen letztlich ziemlich egal, ob die Menschen im Nahen Osten ausbluten oder nicht. Schon während des Kalten Krieges mit der Sowjetunion wurde der Nahe Osten wiederholt zum Experimentierfeld für die Erprobung neuer Waffenmaschinerien gemacht. Wenn es aber im Interesse der USA liegt, könnten sie durchaus Israel unter starken ökonomischen und politischen Druck setzen.

Was meinen Sie mit starkem ökonomischen und politischen Druck?

Ich gehe z.B. davon aus: Bei einem totalen Boykott Israels, das Israel ins ökonomische Matt setzte, mithin ans existenziell Eingemachte ginge, würde Druck von der israelischen Bevölkerung kommen.

Aber in anderen Ländern, wie in der Bundesrepublik Jugoslawien mit Serbien und Montenegro, hat das über Jahre eher dazu geführt, dass sich die Bevölkerung zusammengeschlossen hat und das Regime gestärkt wurde. Sähe das in Israel wirklich anders aus?

Man kann gerade in einer globalisierten Gesellschaft, gerade in einer Gesellschaft, die so stark vom Export abhängig ist wie Israel, durch einen Boykott Druck erzeugen. Israel könnte aber auch schon politisch dadurch unter Druck gesetzt werden, wenn die Vereinten Nationen und der Sicherheitsrat Israel die Unterstützung entziehen würde, mitunter wenn gegen Israel gerichtete Beschlüsse mit zusätzlicher Zustimmung der USA und der Europäer gefasst werden würden. Spätestens dann, meine ich, geriete Israel in Zugzwang, wenn es keinen politischen Selbstmord begehen wollte.

Unter den israelischen Linken in Israel ist die Frage eines Gesamtboykotts strittig. Die Geister scheiden sich, ob eine solche Initiative aus Israel oder von außen kommen muss. Aber man ist sich sehr wohl im Klaren, dass es objektive Möglichkeiten gibt. Es stimmt wohl, dass sich die Israelis ideologisch verschanzen, viele auch den beliebten Spruch »Die ganze Welt ist gegen uns« leichtfertig benutzen. Aber wenn es wirklich ernst wird, es eine wirklich bedrohliche wirtschaftliche Rezession gäbe, die die Lebensgrundlagen zerstörte: Dann würden, meine ich, viele zur Vernunft kommen.

Kritik an Israel = Antisemitismus?

In Deutschland wird eine intensive Debatte darüber geführt, ob eine Kritik an der israelischen Politik per se auch antisemitisch ist oder doch zumindest den latent vorhandenen Antisemitismus schürt. Wie stehen Sie dazu?

Wo es Antisemitismus gibt, das Paradigma des rassischen Vorurteils, das im Nationalsozialismus in der Shoah kulminierte, muss er ganz unabhängig vom Nahostkonflikt permanent und unnachgiebig bekämpft werden.

Aber sehen Sie, linkes Denken ist für mich ohne eine emanzipative Ausrichtung nicht denkbar. Die Kategorie der Emanzipation muss danach überall in der Welt, in jeder Gesellschaft, zu jedem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte anwendbar sein. Im Verhältnis zu Palästina z. B. präsentiert sich Israel als ein Land brutaler Repressionen und Unterdrückung, zumindest in den letzten 33 Jahren. Und wenn dem so ist, muss man in Begriffen der universellen Kategorie der Emanzipation sagen: Jede Linke auf der Welt – auch eine deutsche – hat das gute Recht, Israel unter diesem Gesichtspunkt zu kritisieren. Ich werde mir als Linker die Kritik an diesem Zustand von niemandem verbieten lassen, und es bleibt sich für mich gleich, ob ich nun die Sache in Berlin, in Jerusalem oder in New York vortrage.

Ich glaube, das Dilemma liegt nicht in der Frage, ob die deutsche Linke das Recht hat, Israel zu kritisieren. Entscheidender ist, in welcher Absicht kritisiert wird; ob sich in die Kritik Elemente einschleichen, die sich als zutiefst anti-emanzipativ erweisen und mit denen die Kritik lediglich instrumentalisiert wird.

Prof. Dr. Moshe Zuckermann ist Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv und lehrt am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas. Deutschsprachige Veröffentlichungen sind unter anderem: Gedenken und Kulturindustrie, Berlin und Bodenheim 1999; Zweierlei Holocaust – Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands, Göttingen 1998; Kunst und Publikum – Das Kunstwerk im Zeitalter seiner gesellschaftlichen Hintergehbarkeit, Göttingen 2002.

Die Gewaltspirale wird weiter gedreht

Die Gewaltspirale wird weiter gedreht

von Jürgen Nieth

Die Gewaltspirale wird weitergedreht. Am ersten Dezember-Wochenende starben in Israel erneut zwei Dutzend vor allem junge Menschen in Folge von Selbstmordattentaten gleichfalls junger Palästinenser. Die Bilder von zerrissenen Kindern brachten das Grauen vielleicht noch nachhaltiger in unsere Wohnzimmer als die fast technisch anmutenden Bilder einstürzender Wolkenkratzer. Das Entsetzen ist verständlich und es darf keine Diskussion darüber geben: Die Hintermänner dieser Verbrechen müssen zur Verantwortung gezogen, den Terrororganisationen muss das Handwerk gelegt werden.

Die Frage ist wie? Und kein verantwortlicher Politiker, der in dieser Situation handeln muss, ist zu beneiden. »Überreaktionen« sind in solchen Momenten menschlich, deshalb manchmal auch zu verstehen und zu entschuldigen. Manchmal haben sie aber auch System, entspringen einem elitären Machtdenken und Machtinteressen, die ursächlicher Teil der Gewaltspirale sind.

{li}Präsident Bush nimmt den 11. September zum Anlass, um den Terroristen den »Krieg« zu erklären, ein Krieg von unbestimmter Dauer mit offenen Kriegszielen. Zuerst geht es um die Vernichtung Bin Ladens und von Al Qaida, nachdem hier der Erfolg ausbleibt geraten die Taliban ins Fadenkreuz. Und wer ist der Nächste? Ein offenes Geheimnis, dass ein Teil der Bush-Administration die Gelegenheit zur Endabrechnung mit Saddam Hussein nutzen möchte, auch in Somalia gilt es noch eine alte Scharte auszuwetzen. Der Sudan ist im Gespräch und selbst über Nordkorea wird spekuliert.

Es geht in diesem Krieg nicht nur um den Kampf gegen den Terrorismus, auch nicht nur um Rache, die sowieso kein Bestandteil von Politik sein sollte; die USA demonstrieren ihren Führungsanspruch in einer »Neuen Weltordnung«.

Dieser Machtdemonstration wird alles andere untergeordnet: Da werden notfalls Freund und Feind ausgetauscht, da werden vielkritisierte Diktatoren und Feudalherrscher zu umworbenen Staatsmänner, da wird auf einmal Verständnis gezeigt für Menschenrechtsverletzungen in anderen Regionen. Zerbombte UN- und Rote-Kreuz-Stationen, ungezählte tote und vertriebene Zivilisten, die vielleicht in die Hunderttausende gehende Zahl der Hunger-Toten des nächsten Winters, die Massaker an Gefangenen, das alles wird zu »Kollateralschäden« heruntergespielt.

{li}Ministerpräsident Sharon übernimmt nach dem 1. Dezember nicht nur Bushs Wortwahl. Er spricht vom Krieg gegen den Terrorismus und führt Krieg gegen die Palästinenser. Bereits unmittelbar nach dem 11.9. hatte die israelische Regierung die nachlassende Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für den Nahost-Konflikt zielgerichtet genutzt, um die Macht der Palästinensischen Autonomiebehörde zu unterminieren. Angesichts der erschütternden Bilder getöteter Kinder eskaliert sie den Militäreinsatz weiter. Für Sharon sind Arafat und die Palästinensische Autonomiebehörde verantwortlich für die Terroranschläge, obwohl sich deren politische Konkurrenz, die Hamas, zu den Verbrechen bekennt. Die Regierung Israels fordert (zu Recht) einen schärferen und konsequenteren Einsatz der palästinensischen Polizei gegen die Hamas, aber wie vereinbart sich das mit der gleichzeitigen Zerstörung der Infrastruktur des palästinensischen Sicherheitsapparates, der Zentrale der Präsidentengarde und der Polizeistationen, dem praktischen Ausgehverbot für palästinensische Polizisten?

Trotz aller Dementis: Der israelische Militäreinsatz gilt nicht nur der Hamas und dem Islamischen Dschihad, er zielt offensichtlich auf die Zerstörung der palästinensischen Autonomie.

Vielleicht gelingt es den amerikanischen Militärs im Bündnis mit der Nordallianz Bin Laden, ein paar Hundert Al Qaida Kämpfer und ein paar Tausend Taliban zu töten. Vielleicht liquidiert das israelische Militär in den nächsten Tagen weitere Hamas-Funktionäre, wird durch das Vorgehen Israels die Palästinensische Autonomiebehörde zerstört oder Arafat weiter entmachtet. Und dann?

Die Fragen nach der Zukunft Afghanistans bleiben – die Kompromisse vom Petersberg mögen bestenfalls eine Atempause bringen. Die Probleme im Nahen Osten werden sich nach dem Bruch der Osloer Verträge weiter zuspitzen. Kaum vorstellbar, dass sich die Palästinenser mit einer Bantustan-Regelung zufrieden geben.

Tausende sind in den letzten Monaten durch Terroraktionen gestorben, Tausende aber auch durch Kriegsterror. Und wenn Präsidenten schon nach Vergeltung schreien, darf man sich nicht wundern über ein entsprechendes Echo der Kriegsgeschädigten.

Vor allem aber bleibt die Frage: Wie reagieren die Menschen im Nahen Osten und im südlichen Asien auf die Machtdemonstration der Militärgroßmächte USA und Israel? Kurzfristig vielleicht mit wegducken, aber auf weite Sicht droht die gegenwärtige Arroganz der Mächtigen den Boden zu bereiten, auf dem neue Kämpfer für Terrororganisationen gedeihen.

Nein, Bush und Sharon werden den Terrorismus nicht mit Kriegen besiegen. Es wäre gut, sie würden – statt mit an der Gewaltspirale zu drehen – aus Oslo lernen: Nie spielte der Terrorismus im Nahen Osten in den letzten Jahrzehnten eine geringere Rolle als nach den damaligen Vereinbarungen.

Jürgen Nieth

Kontrolle der Erdöleinkünfte Angolas

Kontrolle der Erdöleinkünfte Angolas

Ein Schritt gegen Korruption und Kriegsfinanzierung?

von Human Rights Watch

Am 3. April 2001 kündigten der Internationale Währungsfonds (IWF) und die angolanische Regierung den Beginn eines »Staff Monitored Programs« (SMP) an, einer Übereinkunft zur Durchführung zahlreicher wirtschaftlicher und institutioneller Reformen in Angola, als Voraussetzung für weitere Kreditvergabe und Zusammenarbeit mit dem IWF und der Weltbank. Das SMP enthält eine Klausel zur Überwachung von Einkünften aus der Ölproduktion, Oil Diagnostic (Öl-Diagnose) genannt. Human Rights Watch (HRW) glaubt, dass das Öl-Einkünfte-Diagnose-Verfahren, wenn es durchgeführt werden sollte, zu einen zwar begrenzten, aber positiven Schritt in Richtung auf mehr Transparenz in der Haushaltsführung, öffentliche Rechnungslegung und auch zu stärkerer Beachtung der Menschenrechte führen würde. Gleichzeitig äußert HRW die Sorge, dass die angolanische Regierung nicht in der Lage sein wird, die mit der Vereinbarung verbundenen Bedingungen zu erfüllen. In einem Hintergrundbericht – den wir im Folgenden stark gekürzt veröffentlichen – geht HRW ein auf die Entwicklung der Oil Diagnostic in der jüngeren Vergangenheit und die mit Öl und Menschenrechten zusammenhängenden Themen.
Die Oil Diagnostic ist von besonderer Bedeutung, da die Einkünfte aus der Ölproduktion die größte Einkommensquelle der angolanischen Regierung waren und sind. Von 1995 bis 1999 betrug der Erlös aus dem Öl, nach Schätzungen des IWF, etwa 70 bis 89 Prozent der Regierungseinkünfte und etwa 85 bis 92 Prozent der Exporteinnahmen.1 Die Öl-Ressourcen ermöglichten es der Regierung ihren Konflikt mit Jonas Savimbis UNITA (Uniao Nacional da Independenca Total da Angola) fortzusetzen.

Die Undurchsichtigkeit des Haushalts und der Ausgaben der angolanischen Regierung hat unter multilateralen Finanzinstitutionen, NROs, Firmen und Regierungen wie auch in Angola selbst Besorgnis hervorgerufen. Insbesondere trifft das zu auf die Verwendung öffentlicher Gelder aus Öl-Einkünften für heimliche Waffenkäufe und die Beleihung zukünftiger Öl-Einkünfte im Austausch für direkte Regierungsanleihen. In einigen Fällen der jüngsten Vergangenheit flossen die Einnahmen am Finanzministerium und an der Zentralbank vorbei entweder direkt durch die Kassen des Präsidialbüros oder durch die Kassen der staatseigenen Firma Sonangol und wurden heimlich zum Kauf von Waffen verwendet. Dies nährte natürlich Korruptionsvorwürfe (…).2 Zudem reagierte die Regierung auf die Kritik in Presse und Öffentlichkeit an der Verwendung der Öl-Einkünfte mit der Bestrafung von Journalisten und der Einschränkung der Pressefreiheit. Deshalb hängen in Angola fiskalische Transparenz, politische Verantwortlichkeit und Menschenrechte untrennbar zusammen.

Einzelheiten der Oil Diagnostic

Die Oil Diagnostic untersucht nicht, wie die Regierung ihre Einkünfte aus dem Öl verwendet, nachdem sie in der Zentralbank eingegangen sind. Zweck der Diagnose ist es zu bestimmen, ob die Höhe der Einkünfte aus dem Erdöl mit der Höhe der Einlagen in der Zentralbank übereinstimmt. Es sollen Mechanismen entwickelt werden, mit denen die Regierung ihre Einkünfte genau kontrollieren.kann (…)

Im Idealfall wird die Übereinkunft zu einer wesentlichen Verbesserung der Verwendung der Öl-Einkünfte führen und größere Transparenz und verantwortliche Rechnungslegung in der Verwendung solcher Einkünfte nach sich ziehen. Es gibt aber eine Reihe von Einschränkungen, die eine solche Entwicklungen behindern können. Dazu gehören:

  • Die angolanische Regierung hat sich nicht verpflichtet die KPMG-Berichte (KPMG, mit der Überprüfung beauftragte international tätige Wirtschaftsprüfer-Gesellschaft) öffentlich zu machen, einschließlich des Abschlussberichts; IWF und Weltbank dürfen ohne Zustimmung der angolanischen Regierung die Diagnose-Berichte nicht herausgeben. HRW fordert deshalb die angolanische Regierung auf sich zu verpflichten, alle Öl-Diagnose-Berichte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der IWF und die Weltbank sollen auf der Veröffentlichung bestehen und sie zu einer Bedingung jeglicher weiterer Zusammenarbeit machen. Angesichts der Ernsthaftigkeit der Empfehlungen, die für den Abschlussbericht zu erwarten sind, ist es wichtig, dass die Regierung Angolas den Bericht in ganzer Länge veröffentlicht und regelmäßig der Öffentlichkeit ihres Landes einen Sachstandbericht über die Umsetzung der Empfehlungen gibt (…)
  • Das Diagnoseprogramm ist nicht rückwirkend, obwohl es in der Vergangenheit Kontroversen über Öl-für-Waffen-Geschäfte und Kredite gegen künftige Öl-Einnahmen gab. KPMG soll nur Daten bis zurück zum Jahr 1998 untersuchen, als Vergleichsgrundlage für die gegenwärtige Produktions- und Einnahmenhöhe. Es ist nicht klar, ob diese Daten in die Quartalsberichte einfließen. HRW ist der Ansicht, dass die Daten aus den Jahren vor 2000 in den ersten Bericht einfließen sollten.
  • Die Regierung sollte ausführlich öffentliche Rechenschaft über alle von KPMG festgestellten Diskrepanzen zwischen den projektierten und den aktuellen Einkünften, die in die Zentralbank eingeflossen sind, ablegen. Besonders bedeutsam ist dies, weil die Fähigkeit von KPMG zur Aufklärung dieser Diskrepanzen von der Bereitstellung von Informationen durch die Regierung abhängt.
  • Das Diagnoseprogramm untersucht nicht die Verwendung oder den Missbrauch von Öl-Einkünften durch Einzelpersonen in der Regierung. HRW vertraut darauf, dass der IWF, die Weltbank und die Regierung Angolas eine umfassende Untersuchung einleiten werden, wenn hier Diskrepanzen auftreten sollten (…)

Die Zusammenarbeit zwischen KPMG und den Öl-Firmen in Angola ist wesentlich für das Gelingen der Diagnose. Die Firmen verfügen über eigene Daten über die Ölförderung und Abgaben an die Regierung, die wichtig sind für Vergleiche mit den amtlichen Angaben.

Das Übereinkommen zwischen KPMG und der Regierung sieht vor, „dass die Regierung alle betroffenen Firmen zur vollen Zusammenarbeit“ mit den Beratern „verpflichten wird, unter Berücksichtigung der in der Industrie üblichen Vertraulichkeit“.3 (…) Die meisten Firmen haben KPMG bereits Informationen zur Verfügung gestellt (…)4

Waffen, Öl und mangelnde Transparenz

Angolas Regierung ist in einen lang andauernden Krieg gegen die UNITA verwickelt. Verteidigungsausgaben sind der größte Ausgabenposten der Regierung. Nach IWF-Schätzungen betrugen die Verteidigungsausgaben zwischen 1995 und 1999 im Durchschnitt 34,6 Prozent der Gesamtausgaben, nach dem Zusammenbruch des Friedensprozesses von Lusaka Ende 1998 erreichten sie 1999 sogar 41 Prozent.5 In einigen Fällen liefen Zahlungen für Waffenkäufe an Finanzministerium und Zentralbank vorbei und wurden direkt durch Sonangol oder das Präsidialbüro getätigt. Es gab erhebliche Differenzen zwischen amtlichen Angaben über die Verteidigungsausgaben und unabhängigen Angaben. Zum Beispiel besagten die amtlichen Zahlen, dass die Verteidigungsausgaben für 1997 bis 1998 sich auf 11,1 Prozent beliefen6. Der IWF schätzt jedoch, dass 40 Prozent für Verteidigungszwecke ausgegeben wurden und stellte fest, dass weniger als die Hälfte dieser Ausgaben, nämlich nur 18,1 Prozent, offiziell angegeben wurden.7 (…) Öffentliche Rechenschaft ist besonders wichtig bei Waffenkäufen durch Regierungen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben und bei denen eine große Gefahr besteht, dass die Waffen missbraucht werden. Alle Konfliktparteien in Angola haben schwere Menschenrechtsverletzungen begangen. Der Regierung werden Massenerschießungen, wahlloses Töten von Zivilisten, Plünderungen, Zwangsrekrutierungen, Vertreibungen, der Einsatz von Antipersonenminen, die Verfolgung der politischen Opposition und Beschränkung der Pressefreiheit zur Last gelegt. Besonders beunruhigend ist die Tatsache, dass die angolanische Regierung neue Minenfelder angelegt hat, obwohl sie den Anti-Landminen-Vertrag (Mine Ban Treaty) im Dezember 97 unterzeichnet hat.

Die UNITA ist ihrerseits verantwortlich für Massenhinrichtungen, Folter, Verstümmelungen, Menschenraub, Geiselnahme und für die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Zivilisten.8

Einige Vorfälle lenkten die internationale Aufmerksamkeit auf die Verbindung zwischen Waffen, Öl und der Notwendigkeit regierungsamtlicher Transparenz und Rechenschaft in Angola. So etwa der Waffen-gegen-Öl-Deal zu Beginn der 90er Jahre, der zur Verhaftung einiger Personen durch die französischen Behörden führte; die mit »oil signature bonus payments« bezahlten Waffenbeschaffungen, die nach dem geplatzten Lusaka-Abkommen stattfanden; ein Waffen-gegen-Öl-Geschäft mit der Slowakei im Jahr 2000 und der Aufgriff eines ukrainischen Frachters bei den Kanarischen Inseln, der Waffen für Angola geladen hatte, im Februar 2001.

Waffenbeschaffung nach dem Zusammenbruch des Lusaka-Friedensvertrags 1998

Nach dem Ende des Friedensabkommens von Lusaka im Dezember 1998 flammten die Kämpfe zwischen der Regierung Angolas und der UNITA wieder auf. Neue Waffenlieferungen fachten Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das Kriegsrecht an und die internationale Gemeinschaft zeigte wenig Willen, das 1993 gegen die UNITA verhängte Waffenembargo der Vereinten Nationen durchzusetzen. Ende 1998 erwarb die UNITA (finanziert durch die Einnahmen aus dem Diamantenhandel, d.R.) große Mengen Waffen aus dem Ausland, Nachbarstaaten unterliefen die Sanktionen, insbesondere Südafrika, Kongo, Zaire, Sambia, ebenso Togo und Burkina Faso.9

Es gab auch Waffenlieferungen an die Regierung während des Friedensprozesses. Diese waren zwar nicht illegal, unterminierten aber den Geist des Vertrags von Lusaka und das Vertrauen in den Friedensprozess. Die Waffen stammten vor allem aus Weißrussland, Brasilien, Bulgarien, China, Israel, der Ukraine und Südafrika.10 Russland, dessen Regierung eine der Mediatoren der Troika in dem Friedensprozess war, unterminierte seine Stellung, indem es große Mengen Waffen an die Regierung Angolas verkaufte. Portugal, das zweite Troika-Mitglied, nahm eine militärische Zusammenarbeit mit der angolanischen Regierung auf (…)

Der drastische Ölpreisverfall 1998 verursachte Einnahmeausfälle der angolanischen Regierung. Aber etwa 870 Millionen US-Dollar in Fonds von Signature Bonus Payments auf Ölexploration und Off-Shore Tiefsee-Konzessionen der Blocks 31, 32 und 33 wurden von der Regierung für die Bezahlung ihrer Waffenkäufe verwendet. Diese Fonds waren nach Aussage des Außenministers zweckgebunden für die »Kriegsanstrengungen«.11 Die multinationalen Firmen BP, Exxon-Mobil und Elf sind stark in diesen Blocks engagiert, hauptsächlich weil nur diese »Majors« die technische Expertise und das Investmentkapital haben, das benötigt wird, um diese schwierigen und teuren Tiefseekonzessionen auszubeuten.

Waffentransfers an die angolanische Regierung aus jüngerer Zeit

(…) Angola und die Slowakei unterzeichneten am 3. April 2000 – am gleichen Tag, an dem das SMP bekannt gegeben wurde – einen Öl-gegen-Waffen-Tauschvertrag. Dieser Deal beinhaltet nach Berichten 6 SU-22 Bomber und möglicherweise T-72 Kampfpanzer.12

Am 24. Februar 2001 ergriffen die spanischen Behörden auf den Kanarischen Inseln einen ukrainischen Frachter mit Waffen, die nach Angola geliefert werden sollten. Sie fanden etwa 636 Tonnen Waffen, darunter Granaten, Nachtsichtgeräte, und Munition (…)13 Angolanische Regierungsvertreter bestätigten, dass die Fracht für Angola bestimmt sei und dass angolanische Staatsunternehmen Simportex sie legal von der staatlichen russischen Waffenfirma Rosvooruzhenie erworben habe (…) Am 11. Januar 2001 deklarierte ein deutscher Frachter seine Ladung russischer und tschechischer Waffen, die in Plymouth konfisziert wurden, als „landwirtschaftliche Güter“.14

Oil Mortgaging

(…) Weil sie weder Reserven an ausländischer Währung noch Rückstellungen für den Schuldendienst hat, verwandte die angolanische Regierung ihre zukünftige Ölproduktion als Garantie für Kredite. Der IWF schätzte, dass Öl-gestützte Kredite im Jahr 1999 33 Prozent der gesamten Auslandsschulden des Landes in Höhe von 8,78 Milliarden US-Dollar ausmachten.15 Diese Öl-finanzierten Kredite liefen manchmal an der Zentralbank vorbei (…) Zu diesen hoch verzinsten Krediten zählten vier Verträge mit dem Schweizerischen Banken-Verein (Union Bancaire Suisse, UBS) und andere mit Paribas, der Banque Nationale de Paris (BNP) und dem Bankers´ Trust. Die Kredite umfassen etwa 300 Millionen US-Dollar und haben eine Laufzeit von drei Jahren oder weniger.16

Im Frühjahr 1998 schloss die angolanische Regierung einen Vertrag mit der schweizerischen Ölhandelsfirma Glencore, in dem sie buchstäblich das letzte Barrel aus der regierungseigenen Ölförderung als Garantie für Vorauszahlungen in Höhe von etwa 900 Millionen US-Dollar vergab. Der Vertrag missachtete grundlegende Standards an Transparenz, da er durch Sonangol und das angolanische Präsidialbüro zuwege gebracht wurde und nicht durch das Finanzministerium oder die Zentralbank. Seine Klauseln garantierten Glencore etwa 75.000 Barrels pro Tag vom Produktionsanteil der Regierung. Der Rest war gebunden durch Vorfinanzierungen der Lloyd´s Bank, BP, Chevron und Elf-Aquitaine (heute TotalFina-Elf).17 (…) Sonangol kündigte die Unterzeichnung eines Kreditvertrags über 575 Millionen US-Dollar mit der UBS in London am 18. Mai 1999 an. Ein wesentlicher Teil dieses Kredits war zur Rückzahlung vorher aufgenommener Kredite bestimmt.18 Nur etwa 35 Millionen US-Dollar waren »frisches Geld«.19 Der letzte Kredit streckte tatsächlich die Rückzahlungsfristen für Angola über eine längere Zeit und erleichterte damit die kurzfristigen Rückzahlungsbedingungen (…).

Die Regierung und die öffentliche Kritik an der Verwendung der Öl-Gelder

Die Regierung sieht sich wachsendem Unmut über ihre Wirtschaftspolitik und andere Politikfelder ausgesetzt. Nach Angaben des Economic Intelligence Unit (EIU) vom August 2000, „wuchs die öffentliche Kritik an der Regierung beträchtlich. Sie betraf hauptsächlich Korruption im Amt. Die erstarkende Friedensbewegung äußerte wachsende Unzufriedenheit mit der politischen Führung des Landes, weil sie den Eindruck hat, dass der riesige Ölreichtum keine spürbaren Wohltaten für die allgemeine Bevölkerung erbracht habe.“20

Tatsächlich sind die Sozialausgaben in Angola ziemlich niedrig. Der IWF schätzte, dass sie zwischen 1995 und 1999 nur etwa 11,6 Prozent der Staatsausgaben betrugen. Dann, mit dem erneuten Beginn des Bürgerkrieges Ende 1998, erreichten die Verteidigungsausgaben 1999 den höchsten Stand seit fünf Jahren und die Sozialausgaben fielen weiter auf 9,4 Prozent zurück.21 Die Weltbank berichtete, dass „die Einkommensschere in Angola zwischen 1995 und 1998 stark auseinander gegangen ist. Das Einkommen der reichsten 10 Prozent der Bevölkerung erhöhte sich deutlich um 44 Prozent, während die ärmsten 10 Prozent der Einwohner Einbußen von 59 Prozent hinnehmen mussten.“22 Das Land nahm im UN-Entwicklungsprogramm Human Development Index (HDI) Platz 160 von 174 Ländern ein. Der IWF berichtet, dass von den 13 Millionen Einwohnern 9 Millionen in „absoluter Armut“ leben23, und laut UNICEF hatte Angola im Jahr 2000 die zweithöchste Kindersterblichkeitsrate der Welt.24 Der UN-Flüchtlingskommissar schätzt die Zahl der Vertriebenen auf etwa 4 Millionen, darunter 2,7 Millionen Menschen in den letzten drei Jahren.25

Die Regierung hat sich zwar verpflichtet, die Situation der Menschenrechte zu verbessern, reagiert aber auf Kritik an der Verwendung der Öl-Gelder besonders feindselig. Das wird sichtbar an der zunehmenden Beschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit und an einer Reihe von Maßnahmen gegen einheimische Journalisten.

Im Juli 2000 sollte das Presserecht neu geregelt werden (…) Der Gesetzentwurf sah Haftstrafen von 2 bis 8 Jahren vor für jeden Journalisten, der die Ehre oder den Ruf des Präsidenten beschädigte; er ermächtigte die Behörden festzulegen, wer als Journalist arbeiten dürfe und Publikationen – auch ausländische – nach Gutdünken zu beschlagnahmen oder zu verbieten. Er erlaubte die Festnahme und Verhaftung von Journalisten für 30 Tage ohne Anklage. (…) Angesichts der weit verbreiteten Kritik im In- und Ausland zog die Regierung den Gesetzesentwurf im Oktober 2000 zurück und kündigte die Bildung eines Komitees aus Regierungsmitgliedern und Nichtregierungsmitgliedern an, das das Gesetz revidieren soll.26 Zum Zeitpunkt des vorliegenden Berichts hatte die Regierung das Komitee aber noch nicht gebildet.

Die Regierung ergriff ebenfalls Maßnahmen gegen die Parteien der politischen Opposition, die ihre Politik kritisierten. Am 24. Januar 2001 nahm die Polizei 8 Mitglieder der PADPA (Partei für Demokratie und Fortschritt in Angola) fest, nachdem diese einen friedlichen Hungerstreik vor Dos Santos’ Residenz durchgeführt und den Präsidenten zum Rücktritt wegen wirtschaftlichen Missmanagements und Korruption aufgefordert hatten. Die Demonstranten forderten auch die Offenlegung von Einzelheiten über den französischen Waffen-für-Öl-Skandal und kritisierten, dass die Regierung keine weiteren Friedensverhandlungen mit der UNITA betreibe. Zwei der Demonstranten wurden kurz nach ihrer Festnahme wieder freigelassen, aber sechs von ihnen wurden des „illegalen Protests“ beschuldigt. Vor Gericht wurden die Anklagen allerdings fallen gelassen.27

Schlussbemerkung

Während des Fortganges des Öl-Diagnose-Verfahrens sollte die Regierung Angolas die Gelegenheit nutzen, sich von einem Umfeld, das von Krieg, schlechter Regierungspraxis, Wirtschaftskrise und weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen geprägt ist, zu lösen und ein Klima der Transparenz, offizieller Rechenschaftslegung und Gesetzmäßigkeit, »good governance« und nachhaltiger sozialer Entwicklung zu schaffen. All dies sind Bedingungen für eine dringend notwendige Verbesserung der Menschenrechtslage im Land. In diesem Zusammenhang könnte die Oil Diagnostic einen wichtigen Schritt zu Transparenz und öffentlicher Rechenschaftslegung darstellen (…).

Anmerkungen

1) Internationaler Währungsfonds (IMF): Angola – Recent Economic Developments, IMF Staff Country Report Number 00/111, August 2000, S. 13, 41.

2) Siehe z. B. Global Witness: A Crude Awakening: the Role of the Oil and Banking Industries in Angola´s Civil War and the plunder of the State Assets, Dezember 1999.

3) Gespräch von HRW-Vertretern mit KPMG in Luanda am 6. Dez. 2000.

4) Verschiedene Gespräche zwischen HRW und Vertretern der Öl-Firmen und des IWF sowie Korrespondenz mit Royal Dutch/Shell in Dez. 2000 und Jan 2001. Sowie Economist Intelligence Unit: Angola: Country Report, Febr. 2001, S. 17.

5) IWF: Angola – Recent Economic Development, S. 43.

6) HRW-Gespräch mit einem Vertreter des angolan. Verteidigungsministerium, Luanda, Aug. 1998.

7) IWF: a.a.O, S. 43

8) Für umfassende Berichte über Menschenrechtsverletzungen aller Konfliktparteien siehe Angola Unravels: The Rise and Fall of the Lusaka Peace Process (New York, Human Rights Watch, 1999) und HRW: Angola – Arms Trade and Violations of the Laws of War Since the 1992 Elections (New York, Human Rights Watch, 1994).

9) Ebda, S. 108-154; siehe auch United Nations: Report of the Panel of Experts on Violation of Security Council Sanctions against UNITA, U. N. Security Council Report S/2000/203, 10. März 2000; und United Nations: Final Report of the Monitoring Mechanism on Angola Sanctions, U. N. Security Council Report S/2000/1225, 21. Dez. 2000.

10) siehe allgemein Angola Unravels, S. 103-108.

11) Angola Unravels, S. 94-98, und HRW-Gespräch mit Außenminister Venancio de Moura am 9. Dez. 1998 in Luanda.

12) HRW: Human Rights Watch World Report 2001 (New York: Human Rights Watch), S. 32-33; und Economist Intelligence Unit (EIU): Angola – Country Report, June 2000, S. 27.

13) nach Berichten von Agence France Presse (AFP), 1. März 2001, und Radio Ecclesia, Luanda, 2. März 2001.

14) HRW-Gespräch mit britischen Zöllnern am 14. Januar 1994 in Plymouth.

15) Angola – Recent Economic Developments, S. 15, 39.

16) HRW-Gespräch mit Vertreter der Banco Nacional de Angola, Luanda, Aug. 1998.

17) HRW hatte Einsicht in eine Kopie der vertraulichen Memoranden zwischen Glencore und Sonangol-Vertretern. Siehe auch Africa Confidential, Vol. 39, Nr. 14, 10. July 1998.

18) Oil Company Signs 575m-dollar Loan Agreement, Reuters , 21. Mai 1999.

19) HRW-Gespräch mit einem Informanten aus der Öl-Industrie, London, 21. Mai 1999; s. a. Standard Chartered Bank Pressemitteilung vom 9. März 2001.

20) Economist Intelligence Unit (EIU): Angola – Country Report, Aug. 2000, S. 17-18.

21) IWF: Angola – Recent Economic Developments, S. 43.

22) Weltbank: Angola – Country Brief, Sept. 2000.

23) IWF: Angola – Recent Developments, S. 19.

24) UNICEF: State of the World´s Children 2001 (New York: UNICEF, Dez. 2000, Abb. 1: Basic Indicators).

25) United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR): 2001 Global Appeal, Addendum I: Angola IDP Programme in Short, Jan 2001, S. 12-16; und Economist Intelligence Unit (EIU): Angola – Country Report, Nov. 2000, S. 14.

26) siehe das Kapitel über Angola im Bericht des U.S. Department of State: Country Human Rights Reports 2000 (Washington D.C.: U.S. Department of State, 2001).

27) HRW-Gespräch mit Fernando Macedo von der angolanischen Menschenrechtsorgani- sation »Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie« in London, 13. März 2001.

Zur Konversion von Gewaltökonomien

Zur Konversion von Gewaltökonomien

Eine Anregung zum Handeln

von Wolf-Christian Paes

Die Spirale aus Gewalt und Gegengewalt, Ausbeutung und Widerstand, Ressourcenabfluss und Waffenimport erscheint nur schwer zu unterbrechen. Tatsächlich steht auch der Westen – mitsamt seinen humanistisch gebildeten Eliten – vor schwierigen Handlungsalternativen: Soll Nothilfe wirklich eingestellt werden, nur weil, wie etwa im Sudan, auch die Kriegsparteien von der ausländischen Hilfe profitieren – weil in Konflikten immer zuerst diejenigen essen, die Waffen haben? Und umgekehrt gefragt – sollen weit reichende Embargos, etwa gegen den Irak, aufgehoben werden, obwohl Bagdad sich weiterhin weigert, seine Abrüstungsmaßnahmen durch internationale Beobachter überprüfen zu lassen. Und wie lange hält der politische Atem unserer Regierenden bei der Durchsetzung einer an »ethischen Kriterien« orientierten Außenpolitik, wenn es um den Zugang der Industrienationen zu strategischen Rohstoffen geht?
Sanktionen gehören bereits seit langer Zeit zum diplomatischen Waffenarsenal – verhängt von einzelnen Staaten oder von internationalen Organisationen, sollen sie den Handel mit dem sanktionierten Staat unterbinden und einem bewaffneten Konflikt auf diesem Wege das Wasser abgraben. Häufig werden Sanktionen jedoch erst spät – in aller Regel erst nach dem Ausbruch eines Konfliktes verhängt, so dass beide Seiten ausreichend Zeit zur Aufrüstung bzw. zum Transfer von Werten in das Ausland haben. So wurde das UN-Waffenembargo gegen Äthiopien und Eritrea erst im Mai 2000 verhängt, nachdem die Regierungen beider Länder ausreichend Zeit für ausgedehnte Einkaufsreisen zu den Waffenmärkten der Welt hatten. Noch problematischer ist die mangelnde Treffsicherheit von Sanktionen. Gerade Wirtschaftssanktionen treffen eher die Unter- und Mittelschichten, während die Regierenden oft sogar – durch den Zugang zum Schwarzmarkt – von Embargos profitieren. Auch politisch ist die Wirkung von Sanktionen zumindest ein zweischneidiges Schwert. Internationaler Druck führt nur selten zu einem Volksaufstand gegen ein Regime, viel häufiger sind Solidarisierungseffekte, bei denen die Regierenden den Zorn der Massen gegen unpopuläre Maßnahmen zum eigenen Vorteil kanalisieren.

Auch die Frage, wer Sanktionen beschließen und durchsetzen darf, bleibt umstritten – so bestehen die US-amerikanischen Sanktionen gegen Kuba bereits seit zwei Generationen und werden von den meisten anderen Staaten als ein anachronistisches Stück aus der Mottenkiste US-amerikanischer Innenpolitik begriffen. Der Versuch, im Rahmen des Helms-Burton-Gesetzes auch Unternehmen aus Drittstaaten, die mit Kuba Handel trieben, in den USA gesetzlich zu belangen, scheiterte am wütenden Protest Kanadas und der europäischen Länder, deren Wirtschaftsinteressen durch die exterritoriale Wirkung des Gesetzes bedroht waren. Gleichzeitig reagieren dieselben Staaten pikiert, wenn die politische Legitimität von Maßnahmen, die etwa im Rahmen der Vereinten Nationen verhängt werden, mit zunehmenden Entfernung vom Hudson River abnimmt. Es scheint an der Zeit, verbindliche Regelungen für Sanktionen auf internationaler Ebene zu treffen, die erstens zwischen Regierenden und Regierten unterscheiden und zweitens auf alle Staaten der UN-Familie Anwendung finden. Die Grenzen einer werte-orientierten Politik dürfen nicht durch die strategischen Interessen der Großmächte definiert werden, die Forderung nach dem Schutz von Menschen- und Bürgerrechten muss nicht nur an die Staaten der Peripherie, sondern auch (und gerade) an Verbündete und Nuklearmächte gerichtet werden. Dabei dürfen Sanktionen nicht daran scheitern, dass die Industrienationen nicht bereit sind, die notwendigen Ressourcen zur Durchsetzung derselben zur Verfügung zu stellen. Viele Sanktionsbeschlüsse im multilateralen Rahmen sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind, da es sowohl an Personal zur Überwachung der Grenzen als auch an Geldern mangelt, um die Nachbarn des sanktionierten Staates für den entgangenen Handel zu entschädigen. Vor diesem Hintergrund wundert es kaum, wenn internationale Beschlüsse kaum Wirkung zeigen.

Korruption beseitigen – Verbrechen verfolgen – Profiteure anklagen

Wirksamer als allgemeine Handelssanktionen gegen einen Staat kann es sein, die regierenden Eliten gezielt zu treffen. So ist es etwa möglich, den Bewegungsspielraum des Führungspersonals durch die Verweigerung von Einreiseerlaubnissen und die Sperrung von Auslandskonten zu beschneiden. Es ist ein offenes Geheimnis, dass führende Funktionäre der angolanischen Rebellengruppierung UNITA mit ausländischen Diplomatenpässen durch Europa und Nordamerika reisen, Häuser und Wertpapierdepots im Ausland haben. Ähnliches gilt auch für andere Akteure auf den Schlachtfeldern dieses Planeten: Während die Bevölkerung leidet, haben die meisten Hintermänner für den Frieden vorgesorgt – und zwar in aller Regel im Ausland.

Ausländische Banken müssen noch stärker zur Kontrolle von Geldflüssen – sowohl zugunsten von Organisationen als auch von Privatleuten – angehalten werden. Die Durchsetzung international verbindlicher Standards zur Bekämpfung der Geldwäsche ist längst überfällig. Auch die Unterstützernetzwerke bewaffneter Gruppierungen, welche in der ethnischen Diaspora, etwa in Nordamerika und Westeuropa, häufig getarnt als kulturelle Vereinigungen existieren, müssen entschiedener bekämpft werden. Organisationen wie die kosovo-albanische »Befreiungsarmee« UCK, die kurdische PKK oder auch die Tamil Tigers beziehen ihren Nachschub an Rekruten und finanzieller Unterstützung im Wesentlichen aus der Diaspora, wo mehr oder weniger freiwillig Revolutionssteuern gezahlt werden.

Die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofes und die Verfolgung von in Drittstaaten begangenen Kriegsverbrechen gehören zu den bemerkenswertesten Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit. Während noch vor kurzem ein abgesetzter Potentat in aller Regel ein friedliches (und dank der vorsorglich außer Landes geschaffenen Schätze auch komfortables) Exil in einem freundlich gesonnen Drittstaat erwarten konnte, wächst nun der Druck der internationalen Gemeinschaft, die Kriegstreiber vor ein internationales Tribunal zu stellen. Auch hier gilt natürlich die Einschränkung, dass diese Politik nur dann von Erfolg gekrönt sein kann, wenn diese Regelungen auch für die Großmächte gelten. So wirkt etwa die Forderung der USA, den ehemaligen jugoslawischen Staatschef Milosevic vor ein internationales Gericht zu stellen, so lange unglaubwürdig, wie Washington sich weigert die Geltung des Internationalen Strafgerichtshofes für die eigenen Staatsbürger zu akzeptieren.

Erstaunlich wirksam ist auch das »naming and shaming«, die öffentliche Benennung von Staaten, individuellen Politikern oder Unternehmen, die an der Umgehung von Sanktionen beteiligt waren oder direkt oder indirekt wirtschaftliche Vorteile aus bewaffneten Konflikten gezogen haben. Die wütenden Reaktionen der ruandischen und ugandischen Regierung auf den Expertenbericht zum Kongokonflikt oder die Proteste Togos gegen die Bezeichnung als Nachschubbasis der UNITA zeigen, dass die Schaffung von Öffentlichkeit nicht ohne Wirkung auf Staatsmänner und Unternehmen bleibt, die Grund haben um den eigenen Ruf zu fürchten.

Internationalen Waffenhandel stoppen

Das Ende des Kalten Krieges hat dazu geführt, dass gebrauchte Waffen aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks die Gebrauchtwaffenmärkte überfluteten. Einerseits bereiten sich viele Staaten Mitteleuropas auf eine zukünftige NATO-Mitgliedschaft vor und trennen sich daher von Waffensystemen sowjetischer Bauart, andererseits gehören militärische Güter für eine ganze Anzahl von Staaten zu den wenigen Produkten, die auf dem Weltmarkt eine Chance haben. Rumänien, Bulgarien und eine Reihe von Nachfolgestaaten der Sowjetunion spielen heute eine wichtige Rolle auf dem Waffenmarkt als Produzenten oder Transitstaaten.

Auch westliche Staaten – inklusive der Bundesrepublik Deutschland – haben in der Vergangenheit alte Waffenbestände eher an Verbündete verschenkt, als sie zu vernichten. Trotzdem ist innerhalb der Europäischen Union ein Umdenken bei der Rüstungsexportpolitik erkennbar, die lange Zeit von einer Konkurrenz um Marktanteile anstelle von Kooperation gekennzeichnet war. Eine stärkere Abstimmung zwischen den europäischen Hauptstädten – und der Abschied von nationalen Erbhöfen, etwa im französischsprachigen Afrika – könnte einen Beitrag zur Deeskalation leisten.

Dabei darf nicht übersehen werden, dass die meisten Konflikte der jüngeren Vergangenheit mit Waffen ausgetragen werden, die bereits in den Konfliktregionen existierten. Als Erbschaft des Kalten Krieges sind Kleinwaffen, d.h. automatische Gewehre, Granaten und Mörser, in den meisten Weltregionen weit verbreitet. Exportbeschränkungen können vor diesem Hintergrund nur einen kleinen Beitrag leisten; wichtiger ist es, vorhandene Waffen nach dem Ende eines Konfliktes konsequent einzusammeln und zu vernichten, um zu verhindern, dass sie ihren Weg in benachbarte Konfliktregionen finden. Das gilt übrigens gleichermaßen für Staaten der »Dritten Welt« wie für überzählige Bestände in den Arsenalen der NATO.

Es darf nicht übersehen werden, dass die friedenspolitische Maxime »Keine Waffen in Krisengebiete« ethisch durchaus angreifbar sein kann, wenn etwa – wie in Sierra Leone geschehen – eine Regierung um Waffen bittet, um einer Niederlage (und einem Massaker) durch eine besser bewaffnete Oppositionsgruppe zu entgehen. Die britische Regierung lieferte in diesem Fall die gewünschte Munition und verabschiedete sich somit von einem Grundpfeiler ihrer ethischen Außenpolitik. Auch die Forderung nach dem Gewaltmonopol des Staates kling wohlfeil im Kontext unserer demokratisch-verfassten Staatswesen, was aber ist mit sozialen Bewegungen in autoritären Staaten, denen der bewaffnete Kampf als einziger Ausweg erscheint.

Konsumentenbewusstsein

Erdöl aus Angola, Diamanten aus Sierra Leone oder Kaffee aus dem Kongo – Endverbraucher sind häufig Menschen in den Ländern des Nordens. Die erfolgreiche Strategie von Nichtregierungsorganisationen im Norden, durch eine aktive Öffentlichkeitsarbeit und den Aufruf zum Boykott von Shell-Tankstellen die Mineralölfirma zu einer transparenteren Politik in Nigeria aufzufordern, zeigt die Wirksamkeit dieses Instrumentes.

Eine internationale Kampagne zur Ächtung von Diamanten aus Kriegsgebieten (»Blutdiamanten«) unter dem Motto »Fatal Transactions« hat immerhin bereits eine Verunsicherung der Märkte erreicht. Während noch vor kurzem die Meinung vorherrschte, die Herkunft von ungeschliffenen Diamanten sei nicht zweifelsfrei zu klären und Kontrollen daher unmöglich, beschäftigt sich die Branche jetzt verstärkt mit diesem Thema. Das südafrikanische Diamantenunternehmen De Beers – mit Abstand der wichtigste Produzent – hat sich sogar, besorgt um das lukrative Privatkundengeschäft, selbst verpflichtet, keine Diamanten aus Bürgerkriegsregionen mehr zu verkaufen.

Auch bei anderen Produkten (Kaffee, Tropenhölzer etc.), bei denen eine Verbindung zur Kriegsfinanzierung erkennbar ist, wären vergleichbare Kampagnen denkbar und wünschenswert. Grundsätzlich sollten ethische Mindeststandards für internationale Unternehmen gelten, die mit Kriegsparteien Geschäfte machen. Der Anstoß für diese Diskussion muss wohl von kritischen Aktionären und Konsumenten kommen.

Demobilisierung und gute Regierungsführung

Wo die einzige Überlebensstrategie im Morden und Plündern besteht, müssen wirtschaftliche Anreize geschaffen werden, die Erfolg versprechender erscheinen. Eine Reintegration der ehemaligen Kämpfer und »Gewaltunternehmer« in das soziale Gefüge der Konfliktregion mag schwierig, ja vielleicht sogar aussichtslos,erscheinen, ist aber die einzige Möglichkeit für einen dauerhaften Frieden.

Schwache Staaten, die kaum genug Geld haben um die eigenen Grenztruppen mit Fahrzeugen und Treibstoff zu versorgen, können nicht ernsthaft den illegalen Handel mit ihren Nachbarn unterbinden. Wo es an Ressourcen fehlt um den Sold der Sicherheitskräfte zu bezahlen, steigen die Anreize, bei der nächsten Kontrolle nicht so genau hinzusehen. Die Reform des Sicherheitssektors ist daher ein wichtiger Bestandteil jeder Ausstiegsstrategie.

Der Aufbau von tragfähigen öffentlichen Institutionen erlaubt es, einerseits durch den Schutz von Recht und Ordnung den tödlichen Kreislauf von Gewalt, Selbstschutz und Gegengewalt zu unterbrechen, andererseits trägt ein funktionierendes, alle gesellschaftlichen Gruppen vertretendes Staatswesen auch zum Interessenausgleich bei und erlaubt es, Konflikte friedlich zu lösen.

Langfristig kann eine Konversion von Gewaltökonomien nur dann gelingen, wenn wirtschaftliche Ungleichheiten nicht nur innerhalb von Staaten, sondern auch im Welthandelssystem beseitigt und friedliche Entwicklungsperspektiven aufgezeigt werden können.

Wolf-Christian Paes ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bonner Konversionszentrums (BICC).

Wege zu einer neuen Präventionskultur?

Wege zu einer neuen Präventionskultur?

Der Stabilitätspakt für Südosteuropa

von Hans-Georg Ehrhart

Im Juni 2000 jährte sich das auf dem Gipfeltreffen von Sarajewo feierlich von 38 Staats- und Regierungschefs bekräftigte Vorhaben eines Stabilitätspaktes für Südosteuropa. Der von der EU initiierte Pakt ist ein wichtiger Schritt in Richtung regionaler Friedenskonsolidierung und nachholender Prävention. Es handelt sich um ein einzigartiges Experiment, weil damit erstmals seit dem Mashallplan ein integratives Friedensprojekt für eine ganze Region angegangen wird. Es ist allerdings ein Projekt im Werden, dessen Erfolgschancen noch nicht absehbar sind. Das gleiche gilt für die im Dezember 1998 vom Europäischen Rat angekündigte gemeinsame Strategie für den Westbalkan. Sie sollte durch den im Herbst 2000 veranstalteten Gipfel der EU mit Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Albanien und der Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) neue Schubkraft entfalten. Der im Vorfeld dieses Gipfels aufgeflammte Streit, ob der Sonderkoordinator für den Stabilitätspakt, Bodo Hombach, der zugleich auch Sonderbeauftragter der EU für den Stabilitätspakt ist, an diesem Treffen teilnehmen soll1, verdeutlichte einmal mehr, dass sich die Union schwer tut, als »cooptive power« 2 im Rahmen des Stabilitätspaktes zu agieren und zugleich ihrem Anspruch auf eine zentrale Rolle in der Region gerecht zu werden.
Die Geschichte des Stabilitätspaktes verlief in drei Phasen. Die erste Phase umfasst die Vorgeschichte angefangen vom EU inspirierten »Royaumont-Prozess für Stabilität und gute Nachbarschaft in Südosteuropa« der 1995 parallel zum Dayton-Prozess initiiert wurde, über das Regionalkonzept der EU von 1996 bis zum Ausbruch des Kosovo-Krieges im März 1999, dem Vorschlag eines Stabilitätspaktes für Südosteuropa im »Fischer-Plan« zwei Wochen später und der Verabschiedung eines darauf beruhenden gemeinsamen Standpunktes der EU im Mai 1999 sowie der feierlichen Verabschiedung des Stabilitätspaktes auf der Gipfelkonferenz von Sarajewo.3 Es folgt die Institutionalisierungsphase mit der Bildung eines Regionaltisches für Südosteuropa, an dem unter dem Vorsitz von Bodo Hombach über vierzig Staaten, internationale Organisationen und Regionalinitiativen sitzen. Diesem nachgeordnet sind drei Arbeitstische für Demokratisierung, Wirtschaft und Sicherheit. Diese Phase endete mit der ersten Finanzierungskonferenz für den Stabilitätspakt Ende März 2000 in Brüssel, auf der 2,4 Mrd. Euro für sogenannte Schnellstartprojekte zugesagt wurden.

Mit dem Ende der Finanzierungskonferenz sind die grundlegenden institutionellen und finanziellen Voraussetzungen für die Umsetzung des Stabilitätspaktes während der nächsten zwölf Monate geschaffen worden. Der Pakt ist damit in eine neue Phase getreten: Nun geht es zum einen darum, die bereit stehenden Finanzmittel möglichst effizient im Sinne des strategischen Zieles der Stabilisierung der Region einzusetzen und neue Gelder für die Fortsetzung des Prozesses nach dem Ende der Schnellstartphase einzuwerben. Auf der zweiten Sitzung des Regionaltisches am 8. Juni 2000 wurde deshalb die Notwendigkeit klarer Prioritäten betont und die Einrichtung eines Gebernetzwerkes beschlossen, das als flexibles Informations- und Koordinierungsforum dienen soll.4 Zum anderen muss die Struktur des Paktes überprüft und gegebenenfalls der sich verändernden Lage angepasst sowie im Hinblick auf seine Funktionsweise optimiert werden. Vor allem aber müssen die Reformen vor Ort vorangetrieben werden. Die Länder aus der Region müssen also die versprochene Gegenleistung durchführen und sich stärker in den Stabilitätspakt einbringen.5

Vorbild Marshallplan-Hilfe?

Während die einen bislang mit dem Stabilitätspakt sehr große, wenn nicht zu große Hoffnungen verbanden, begegneten ihm andere bereits nach kurzer Zeit mit beißender Kritik, die nicht selten nach der Devise »too little, too late« verfuhr. Natürlich wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Stabilitätspakt in eine weniger komplexe Struktur gegossen worden wäre. Als idealtypisches Vorbild hätte die Marshallplanhilfe dienen können. Die USA machten damals den kriegsgebeutelten Europäern klar, dass für die Verteilung der Hilfsmittel eine gemeinsame Organisation notwendig sei. So kam es zur Gründung der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa (OEEC), der späteren OECD. Ohne diese Einrichtung wäre der Wiederaufbauerfolg in Westeuropa nur schwer möglich gewesen, trug sie doch nicht nur zur effizienten Verteilung der Marshallplangelder bei, sondern auch zur Liberalisierung des Außenhandels und zur Konvertierbarkeit der Währungen.

Im Gegensatz zu damals, als die USA in der gänzlich anderen historischen Lage des beginnenden Kalten Krieges eine unbestrittene politische und wirtschaftliche Führungsrolle inne hatte, war die EU 1999 weder in der Lage, eine Organisation aus einem Guss zu schaffen, die etwa unter Leitung des Hohen Beauftragten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, und des für Außenbeziehungen zuständigen Kommissars, Chris Patten, hätte stehen können, noch konnte sie alleine die erforderlichen Finanzmittel aufbringen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie reichen von der komplizierten Struktur der EU und konzeptionellen Defiziten über mangelnden politischen Willen bis zu nationalen Egoismen und Eifersüchteleien zwischen internationalen Organisationen. Da eine einheitliche und straffe Organisation nicht möglich war, blieb nur die verbesserte Koordination internationaler Unterstützung als andere Option.

Wenn man bedenkt, dass etwa in Bosnien-Herzegowina viel von Koordination die Rede gewesen ist, letztlich aber jeder auf eigene Faust handelte, ist das durch den Stabilitätspakt bislang Erreichte und potentiell Erreichbare nicht wenig. So arbeiten die drei internationalen Finanzierungsinstitutionen Weltbank, EBWE und EIB erstmals arbeitsteilig zusammen. NATO und Weltbank verfolgen erstmals ein gemeinsames Projekt (Berufsausbildung für ehemalige rumänische und bulgarische Offiziere). Und erstmals ist es gelungen, alle an einem Tisch zusammenzubringen, die sich mit einer speziellen Materie befassen, wie etwa mit der Frage der Minenräumung oder der Kleinwaffenproblematik.

Dem Stabilitätspakt liegt zudem ein innovativer Ansatz zugrunde, der verschiedene Neuerungen umfasst. Dazu gehören die Betonung der »public-private partnership« bei der Projektförderung, die Einbindung von Nichtregierungsorganisationen bei der Projektumsetzung, die Erarbeitung von Aktionsplänen mit klaren Maßstäben (benchmarks) und Zeitplänen zur Evaluierung der Projekte. Der Stabilitätspakt hat zudem bereits in vielen Bereichen zur Entstehung regionaler Zusammenarbeit beigetragen. Schließlich waren bis Ende Juni 2000 von ca. 200 Projekten, die kurz vor dem Start stehen, immerhin zwanzig Prozent bereits angelaufen.6

Die jetzige Struktur des Stabilitätspaktes hat den großen Vorteil, dass sie flexibel ist. Die vielfachen Klagen über die »Balkanisierung« der internationalen Balkanpolitik7 haben insofern ein gewisses Gehör gefunden, als sowohl im Rahmen des Stabilitätspaktes als auch innerhalb der EU Bemühungen erkennbar sind, die Instrumente und Strukturen anzupassen. So ist die Royaumont-Initiative am 08. Juni 2000 offiziell in den Arbeitstisch I integriert worden. Ihr Koordinator, der griechische Diplomat Panagiotis Roumeliotis, hat bereits Anfang des Jahres den Vorsitz von Max van der Stoel übernommen.8 Es wird auch diskutiert, die Regionalinitiative SECI (South East European Cooperative Initiative) im Stabilitätspakt aufgehen zu lassen. Schließlich ist der Status des Unterstützerstaates abgeschafft werden. Japan und Kanada werden somit Vollmitglieder des Stabilitätspaktes. Das gleiche gilt für die Schweiz und Norwegen, die nach heftigem Drängen von ihren bisherigen Status als nicht stimmberechtigter Beobachter in den eines stimmberechtigten Vollmitgliedes erhoben worden sind. Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass der Stabilitätspakt eine zu komplexe Struktur hat und immer noch nicht viel mehr ist „als eine vage Koordinierung von bisher zersplitterten, zum Teil konkurrierenden Initiativen der Vereinigten Staaten und der EU“.9

Rolle der EU

Die Kritik an der Komplexität der Balkanhilfe richtet sich auch und vor allem auf die EU selbst. Einerseits beansprucht die EU eine Führungsrolle für den Stabilitätspakt, andererseits leidet auch sie an Überkomplexität. Zudem entwickelte sich mit der Installierung des Sonderkoordinators ein verdecktes Ringen mit dem für die Außenbeziehungen zuständigen Kommissar und dem Hohen Beauftragten für die GASP um Einfluss in einem Politikbereich, der als das Filetstück der Außen- und Sicherheitspolitik der EU gilt. Halten wir uns nur einmal deren Rolle vor Augen: Die EU ist der Initiator des Paktes und der größte Geldgeber für die Region. Sie hat – ebenso wie die UNO – mehrere Balkanbeauftragte, von denen Hombach einer ist. Sie hat eine Wiederaufbauagentur für das Kosovo und zahlreiche Förderprogramme für die Gesamtregion, die von den unterschiedlichsten Stellen verwaltet werden. Der Rat wacht eifersüchtig über seine außenpolitische Kompetenz, die Kommission über ihren Einfluss bei der Mittelvergabe und der hohe Beauftrage für die GASP sucht auch noch seinen Platz im EU-internen Kompetenzgerangel.

Ende März 2000 erkannte der Europäische Rat selbstkritisch, dass das finanzielle, administrative und politische Engagement der Union so komplex sei, dass sich dadurch für die operative Wirksamkeit Probleme ergäben. Zu viele Akteure beeinträchtigten die Effizienz, und langatmige Entscheidungsverfahren machten rasche Reaktionen unmöglich. Sie erteilten daraufhin Javier Solana und Chris Patten den Auftrag, die Kohärenz der Politik der EU auf dem Balkan sicher zu stellen und die Koordination mit dem Stabilitätspakt zu verstärken. Zugleich bekräftigten sie die Rolle Hombachs und erteilten damit Bestrebungen, seine Position zu schwächen, eine Absage.

In den zurückliegenden Jahren unternahm die EU drei Schritte zur Anpassung ihrer Balkanpolitik. An erster Stelle ist die Weiterentwicklung des Regionalkonzeptes zu nennen, die im konditionierten Angebot von Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) – einschließlich der Perspektive einer EU-Mitgliedschaft – besteht. Ein Problem dieses Ansatzes liegt darin, dass nur diejenigen Länder dafür in Frage kommen, die bestimmte Mindeststandards erfüllen. So konnten bislang nur mit Mazedonien ein SAA abgeschlossen werden, mit Kroatien sind entsprechende Verhandlungen aufgenommen worden. Die EU muss im Hinblick auf den laufenden Erweiterungsprozess auch darauf achten, nicht mit unterschiedlichen Maßstäben zu operieren. Schon der Eindruck einer Mitgliedschaft »light« für einige Balkanstaaten könnte den Reformeifer der aktuellen Beitrittskandidaten dämpfen. Die Eröffnung der Perspektive einer Mitgliedschaft in der EU ist mit Sicherheit als starker Anreiz zu begrüßen. Es handelt sich allerdings um einen langfristigen Prozess, der erhebliche Fortschritte bei der Transformation von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft voraussetzt.10

Der zweite Schritt besteht in der Verstärkung und Weiterentwicklung der Hilfsprogramme. Dazu gehört die Schaffung einer einheitlichen Rechtsgrundlage, welche die Hilfen der Unterstützungsprogramme Phare und Obnova für die betreffenden fünf Länder in dem neuen CARDS-Programm (European Community Assistence, Reconstruction, Development and Stabilisation Programme) zusammenfasst aber auch Überlegungen, einen größeren asymmetrischen Marktzugang zu erlauben.11 Freilich stoßen solche Innovationen auf Widerstände bei den Mitgliedstaaten. So wurde die von der Kommission vorgelegte mittelfristige Finanzplanung in Höhe von 11 Mrd. DM für die fünf Balkanländer von Frankreich und Deutschland als unrealistisch bezeichnet. Das sich im Vorwahlkampf befindende Frankreich sperrte sich vor allem dagegen, dass Gelder aus dem Agrarhaushalt abgezweigt werden sollen. Deutschland wollte auf keinen Fall Mehrausgaben hinnehmen. Beide Länder forderten von der Kommission Haushaltspläne für konkrete Projekte, keine allgemeinen Zahlenspiele.12

Auch ist es bislang noch nicht gelungen, die im Dezember 1998 angekündigte gemeinsame Strategie für den Westbalkan zu verabschieden. Während Finnland zur Zeit seiner EU-Präsidentschaft einen ersten, allerdings unzulänglichen Versuch unternommen hat, zeigte Portugal kein Interesse an der Materie. Danach ruhten die Hoffnungen auf der französischen Präsidentschaft. Auf Initiative von Jacques Chirac hat der EU-Ministerrat im Juli 2000 zwar ein Gipfeltreffen zwischen den EU-Mitgliedstaaten und Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien sowie Albanien beschlossen, welches dann auch am 24. November 2000 in Zagreb unter Beteiligung des neuen jugoslawischen Präsidenten Kostunica sowie Vertretern Montenegros und des Kosovos stattfand.13

Der Gipfel verlief aber insgesamt enttäuschend. Positiv ist zu vermerken, dass die EU-Staaten sich letztlich noch auf ein Hilfspaket über 4,65 Mrd. Euro (statt der von der EU-Kommission angesetzten 5,5 Mrd.) einigen konnten. Skeptisch stimmen zum einen die Zweifel der Staaten aus der Region am Sinn der ganzen Veranstaltung. Dahinter steckt die große Sorge insbesondere Kroatiens, mit den anderen in einen Topf geworfen zu werden. Auf keinen Fall will man auf den Nachzügler BRJ warten, finanzielle Einschränkungen wegen ihm hinnehmen oder gar mit den anderen als eine regionale Gruppe behandelt werden.14 Zum anderen konnte bis zu dieser Gelegenheit die gemeinsame Strategie der Union noch nicht verabschiedet werden. Sie wäre der dritte Anpassungsschritt.

Vor dem Hintergrund der Entwicklungsunterschiede der fünf »Kernländer«, Bosnien-Herzegowina, BR Jugoslawien, Kroatien, Mazedonien und Albanien, die (in unterschiedlichem Ausmaß) mit ähnlichen Problemlagen konfrontiert sind, müsste die EU eine Entwicklungsstrategie entwickeln, die sich in den Stabilitätspakt einfügt. So könnte z.B. der bislang noch fehlende Zusammenhang zwischen dem Stabilitätspakt und der Wiederaufbauagentur für das Kosovo hergestellt sowie – wie in ihrem Mandat auch perspektivisch vorgesehen – deren Kompetenzen auf die ganze Region ausgeweitet werden.15 Ein weiteres wesentliches Element müsste die politisch konditionierte, uneingeschränkte und nicht-reziproke Öffnung des EU-Marktes sein. Ferner sollte das Engagement im Bereich der Förderung der Humanressourcen drastisch verstärkt werden. Schließlich sollten mit allen betroffenen Staaten Verhandlungen über ein Stabilitäts- und Assoziationsabkommen aufgenommen werden.

Stabilisierung durch demokratischen Wandel?

Bereits die Entwicklung in Kroatien zeigte was möglich ist, wenn sich die politischen Vorzeichen verändern. Auch in Bosnien-Herzegowina drängt langsam eine neue, pragmatischere Generation von Politikern nach vorn und gibt erstmals Anlass zu einem vorsichtigen Optimismus.16 Das bisherige Hauptproblem bei der Stabilisierung des Balkans war zweifellos die BRJ. Es ist unstrittig, dass regionale Stabilität ohne sie nicht möglich ist. Erwähnt seien nur ihre geographische Zentrallage in Südosteuropa, ihr Bevölkerungsreichtum oder die Notwendigkeit, die sowohl in den Verhandlungen gemäß Artikel V des Dayton Vertrages (mit der BRJ) als auch innerhalb des Stabilitätspaktes (bis vor kurzem ohne die BRJ) behandelten Sicherheitsfragen zu regeln. Der friedliche Wandel in Jugoslawien von Milosevic zu Kostunica und der überwältigende Sieg der Demokratiebewegung DOS bei den Parlamentswahlen im Dezember 2000 hat nun neue Chancen für Jugoslawien, die Region und die internationale Staatengemeinschaft eröffnet.

Am 26. Oktober 2000 wurde auf einer Sondersitzung des Regionaltisches beschlossen, die BRJ als gleichberechtigtes Mitglied in den Stabilitätspakt aufzunehmen. Bodo Hombach konnte im Namen der EU eine Soforthilfe für Nahrung, Medizin und Energie im Werte von 200 Mio. Euro ankündigen. Doch die Aufgabe der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation hat gerade erst begonnen. Angesichts von 700.000 Flüchtlingen und Kriegsschäden von schätzungsweise dreißig Mrd. Dollar scheint es nicht übertrieben, die Lage in der BRJ als dramatisch und die geleistete Hilfe als nicht adäquat zu bezeichnen.

Bei aller Unzulänglichkeit des Stabilitätspaktes sollte allerdings bedacht werden, dass von außen nur Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden kann. Bisherige Erfahrungen haben gezeigt, dass materielle und politische Anreize nicht notwendigerweise zu den gewünschten Reformen führen. Entscheidend ist zunächst der – unterschiedlich ausgeprägte – politische Wille in den betroffenen Ländern, die zugesagten Reformen auch in die Praxis umzusetzen. Daran mangelt es aber gerade bei nationalistisch gesinnten Politikern in der Region. Sie haben es in der Vergangenheit immer wieder verstanden, das in der Bevölkerung virulente Angstsyndrom zu aktivieren und dadurch zu verhindern, dass ein stabiler Frieden erwächst. So lange der Krieg in den Köpfen aber anhält, kann es keine Vertrauensbildung und keine Stabilität geben.

Hans Koschnik hat unter Verweis auf die historischen Beispiele Jahrzehnte währender Aussöhnungsprozesse nach dem spanischen Bürgerkrieg oder in den deutsch-polnischen Beziehungen zu Recht darauf hingewiesen, dass wir nicht erwarten können, „dass in Bosnien oder auf dem Balkan in fünf Jahren oder gar wie im Kosovo nur in fünf Monaten alles geregelt ist.“17 Unverzichtbar sind langer Atem – also eine äußerst knappe Ressource im politischen Alltag – und Lösungen, die von einem großen Teil der jeweiligen Bevölkerung mit getragen werden können. Das dürfte aber nur der Fall sein, wenn sich deren wirtschaftliche Lage verbessert.

Für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse müssen bestimmte strukturelle Voraussetzungen geschaffen werden. Der aus der Ökonomie bekannte Grundsatz »strategy follows structure« ist auch für Südosteuropa gültig. Um eine im umfassenden Sinne verstandene Entwicklungsstrategie erfolgreich umsetzen zu können, müssen bestimmte Basisstrukturen etabliert sein. Dazu gehören etwa eine legitimierte politische Ordnung, funktionsfähige Verwaltungsstrukturen, ein Mindestmaß an Rechtssicherheit und eine infrastrukturelle Grundausstattung. Die grassierende Korruption muss eingedämmt, das häufig politisch verbrämte Krebsgeschwür der organisierten Kriminalität bekämpft werden. Notwendig ist also nichts weniger als die Auflösung des Dilemmas, dass einerseits wirtschaftliche Entwicklung zu politischer Stabilisierung führen soll, andererseits aber eine gewisse politische Stabilität Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung ist. Diese Aufgabe ist nur zu bewältigen, wenn immer mehr Menschen vor Ort die ganze Region als einen Raum verstehen, in dem Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung gemeinsam organisiert werden müssen.

Perspektiven

Der Stabilitätspakt für Südosteuropa ist der einzigartige Versuch, durch die Kombination der beiden erfolgreichen Friedenskonzepte des Helsinki-Prozesses und der EU-Integration, mit denen der Ost-West-Konflikt überwunden und Westeuropa vereint wurde, nachhaltige Stabilität in einer konfliktreichen Region zu fördern. Es handelt sich um einen umfassenden präventiven Ansatz, der auf der fundamentalen Einsicht basiert, dass Sicherheit, Wohlstand und Demokratie eng miteinander verbunden sind und der Kooperation und Integration als entscheidende Methoden für die Entwicklung friedensbildender Strukturen zu Grunde legt. So weit die theoretische Konzeption.

Betrachtet man die praktische Umsetzung, so gleicht der Stabilitätspakt für Südosteuropa gegenwärtig eher politischer Flickschusterei als einem großen strategischen Wurf. Das ist nicht verwunderlich, denn die Phase der Implementierung hat gerade erst begonnen. Gleichwohl läuft die internationale Staatengemeinschaft Gefahr, Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, wenn es nicht gelingt, das Dickicht der involvierten Akteure, Initiativen und Institutionen weiter zu lichten, klarere politische Verantwortlichkeiten herzustellen und die Voraussetzungen für eine nachhaltige Politik zu schaffen.

Der Pakt selbst ist eben kein Akteur, sondern ein politisch-konzeptioneller Rahmen für einen langfristigen Prozess. Was fehlt ist eine reibungslos funktionierende Antriebskraft. Erste Bemühungen, Fehlzündungen zu reduzieren sind erkennbar. Die Frage ist nur, ob sie ausreichen werden. Gelingt es der EU als dem potentiell wichtigsten Akteur, ihre Politik besser zu bündeln, so wird dadurch auch der Stabilitätspakt gestärkt. Gelingt es ihr nicht, so wird sich bestenfalls ein Flickenteppich von Einzelprojekten herausbilden, aber keine integrierte Entwicklungsstrategie. Selbst wenn diese existieren würde, wäre ein Erfolg angesichts der vielfältigen Widerstände vor Ort noch lange nicht ausgemacht. Den Einwirkungsmöglichkeiten von außen sind nun einmal Grenzen gesetzt.

Gleichwohl müssen die internationale Staatengemeinschaft und insbesondere die EU ein vitales Interesse am Erfolg des Stabilitätspaktes haben. Er ist nach vielen gescheiterten Versuchen des reaktiven Konfliktmanagements ein zentraler Glaubwürdigkeitstest für die angestrebte neue Präventionskultur. Nach dem völkerrechtlich umstrittenen Gewalteinsatz im Jugoslawienkrieg ist er auch eine Frage der politischen Moral und Verantwortung. Schließlich ist er eine politisch-strategische Notwendigkeit, wenn ganz Südosteuropa schrittweise und langfristig in die EU integriert werden soll.

Anmerkungen

1) Frankfurter Rundschau, 11. Juli 2000.

2) B = Eine kooptierende Macht zeichnet dich durch die Fähigkeit aus, ihren Beitrag in einem internationalen Geber-Netzwerk zu erbringen, die Zusammenarbeit wichtiger Akteure zu organisieren und die internationale Agenda entscheidend zu beeinflussen. Vgl. Reinhard Rummel, Beyond Maastricht: Alternative Futures for a Political Union, in: ders.(Hrsg.), Toward Political Union, Baden-Baden 1992, S. 319.

3) Vgl. dazu Hans-Georg Ehrhart, Preventive Diplomacy or Neglected Initiative? The Royaumont Process and the Stabilization of Southeastern Europe, in: Hans-Georg Ehrhart/Albrecht Schnabel (Ed.), The Southeast European Challenge: Ethnic Conflict and the International Response, Baden-Baden: Nomos Verl.-Ges.; 1999, S. 177 – 195.; Heinz-Jürgen Axt, Der Stabilitätspakt für Südosteuropa, in: Südosteuropa, Nr. 7-8/1999, S. 401- 416.

4) Vgl. Agenda for Stability, Regional Table, 8th June 2000, Thessaloniki, S. 5f.

5) Vgl. Hans-Georg Ehrhart, Der Stabilitätspakt für Südosteuropas, in: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, OSZE-Jahrbuch 2000, Baden-Baden 2000, S. 173 – 187.

6) Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Juni 2000, S. 4; vgl. auch Statement by Mr. Bodo Hombach to the OSCE Permanent Council, Vienna, 20 January 1999, www.stabilitypact.org/Speeches/Speech%20 Vienna%20Jan%2000.htm

7) Vgl. Erhard Busek, Balkanisierung als politische Strategie?, in: Europäische Rundschau, 1/2000, S. 41 – 43.

8) Vgl. Déclaration sur le Processus de Royaumont, www.stabilitypact.org/Regional%…%20le&20 Processus%20de%20Royaumont.htm

9) Nebosja Vukadinovic, Die Wirtschaftsregion Balkan am Tropf fes Westens, in: Le Monde diplomatique, Nr. 6293, 10.November 2000, S. 3f.

10) Das EP geht davon aus, dass das SAA mit Mazedonien frühestens 2004 in Kraft treten wird. Vgl. Europäisches Parlament, Bericht über die Mitteilung über den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess für die Länder Südosteuropas, A5-0069/2000 vom 22. März 2000, S. 17.

11) Es wird erwogen, die Handelserleichterungen von derzeit 80 auf 95 Prozent der Waren auszudehnen.

12) Vgl. Le Monde, 22. April 2000, S. 2.

13) Vgl. Süddeutsche Zeitung, 25./26.11.2000, S.2.

14) Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.11.00, S. 8.

15) Die EU-Kommission hat die Erweiterung des Mandats der Wiederaufbauagentur auf die BRJ angekündigt. Vgl. Report on the Special Meeting of the Regional Table, Bucharest, 26 October 2000, www.stabilitypact.org/Regional%…ble%Bucharest%2026,%20Oct%202000.htm

16) Vgl. Joseph Ingram, Ground for Optimism in Bosnia, International Herald Tribune, 10.1.2001, S.8.

17) Hans Koschnick, Frieden auf dem Balkan – politische Lösung und militärische Absicherung, in: Clausewitz-Information 2/2000, S. 14.

Dr. Hans-Georg Ehrhart ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Warnung vor den Raketenabwehrplänen der USA

Warnung vor den Raketenabwehrplänen der USA

Plädoyer für ein europäisches »DiplomatieZuerst!«-Konzept

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Memorandum

Am 16. November 2000 haben auf Einladung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) Persönlichkeiten aus der Friedensforschung die Raketenabwehrpläne der USA diskutiert und ein Memorandum »Warnung vor den Raketenabwehrplänen der USA – Plädoyer für ein europäisches Diplomatie Zuerst!-Konzept« beschlossen. Zu den Unterzeichnern gehören: Prof. Dr. Ulrich Albrecht, FU Berlin, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK), Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Vorsitzender des Beirats der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), Prof. Dr. Horst Fischer, Bochum, Dr. Bernd W. Kubbig, Projektleiter in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Dr. Wolfgang Liebert, Sprecher der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit der Technischen Universität Darmstadt (IANUS), Prof. Dr. Dr. Dieter S. Lutz, Direktor des Instituts für Friedens- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Prof. Dr. Harald Müller, Geschäftsführendes Mitglied des Vorstandes der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Dr. Götz Neuneck, Vorsitzender des Forschungsverbundes Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS), Dr. Ulrich Ratsch, Stellvertreter des Leiters der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), Dr. Jürgen Scheffran, Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit der Technischen Universität Darmstadt (IANUS) und Dr. Herbert Wulf, Direktor des Bonn International Center for Conversion (BICC). Das Memorandum hat folgenden Wortlaut:

1. Unser Anliegen – unser Vorschlag im Überblick

Der neue Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird sich höchst wahrscheinlich bald für den Aufbau eines landesweiten Raketenabwehrsystems (National Missile Defense, NMD) entscheiden. Wir sind besorgt, dass ein solcher Beschluss zu einer neuen Runde des Wettrüstens führt – und damit weltweit nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Unsicherheit schafft. Davon ist auch die Bundesrepublik Deutschland gravierend betroffen. Darum melden wir uns zu Wort.

Mit unserer Besorgnis über die Einführung eines umfangreichen Abwehrsystems stehen wir nicht allein, wie die Reaktionen auf die Pläne der Vereinigten Staaten weltweit zeigen. Auch innerhalb der USA stoßen die Vorhaben auf Kritik. Wir sehen die Gefahr, dass politische Maßnahmen gegenüber militärischen Mitteln mehr und mehr ins Hintertreffen geraten und nicht ausgelotet werden, wenn es darum geht, die Proliferation (Verbreitung) von Massenvernichtungswaffen (Trägersysteme insbesondere mit atomaren, biologischen und chemischen Sprengköpfen) wirksam zu bekämpfen. Bei den militärischen Vorhaben geht es nicht nur um die Pläne zum Aufbau eines Nationalen Verteidigungsgürtels, sondern auch um vorschnell aufgestellte regionale Abwehrsysteme (Theater Missile Defense, TMD). Sie können leicht zu regionalen Rüstungswettläufen führen.

Vor diesem Hintergrund zielt unser »Diplomatie Zuerst!«-Vorschlag darauf ab, der Politik als Mittel zur Lösung insbesondere des Proliferationsproblems wieder zu ihrem Recht zu verhelfen und ihr den Vorrang einzuräumen. Die »Diplomatie Zuerst!-Initiative« richten wir insbesondere an den deutschen Außenminister und an die Mitglieder der verantwortlichen Parlamentsausschüsse.

Unser Vorschlag hat drei Dimensionen:

  • Erstens fordern wir vor allem die Bundesregierung auf, ihre diplomatischen Anstrengungen gegenüber Washington zu intensivieren. Das Hauptziel gegenüber der neuen US-Administration und dem neuen Kongress muss es sein, ein Nationales Raketenabwehrsystem wegen der absehbaren negativen Folgen zu verhindern. Der nach wie vor wichtige Raketenabwehr-Vertrag von 1972 (Anti-Ballistic Missile Treaty, ABM) muss in seiner jetzigen Substanz erhalten bleiben. Wir befürchten, dass die Schwächung oder gar die einseitige Aufkündigung des ABM-Abkommens durch die Vereinigten Staaten das gesamte Rüstungskontrollgebäude der letzten Jahrzehnte zum Einsturz bringt, insbesondere den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag. Der Prozess der nuklearen Abrüstung wäre nachhaltig gestört und würde möglicherweise zum Erliegen kommen. Washington ist auch in erster Linie angesprochen, wenn es darum geht, eine weitere Militarisierung des Weltraums zu beschränken. Aber auch Moskau und Beijing müssen stärker dazu gebracht werden, dass sie glaubwürdiger als bisher unter Beweis stellen, es ernst mit der Nichtverbreitung von Massenvernichtungsmitteln zu meinen.
  • Zweitens drängen wir im Rahmen der »Diplomatie Zuerst!«-Initiative darauf, durch den Ausbau eines internationalen Frühwarn- und Kontrollsystems für ballistische Raketen und Weltraumwaffen eine präventiv angelegte Rüstungskontrolle zu betreiben. Zu denken ist hier zum einen an Maßnahmen der Vertrauensbildung und Risikominderung, wie z.B. die rechtzeitige Meldung von Raketenstarts oder die getrennte Lagerung von Sprengköpfen und Raketen. Bedeutsam sind zum anderen eine Beschränkung oder gar ein Teststopp von bestimmten ballistischen Raketen sowie ein globales oder regionales Aufstellungsverbot für neue Raketen. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass diese Forderung aus gegenwärtiger Sicht nur schwer zu verwirklichen ist. Dies muss jedoch nicht für erste gezielte Schritte gelten.
  • Drittens fordern wir deshalb die Bundesregierung und den Bundestag auf, auf diesem langen Weg zusammen mit den europäischen Partnern eine »Diplomatie Zuerst!«-Initiative gegenüber einzelnen Problemstaaten zu starten. Länder wie Iran, Irak, Syrien und Libyen liegen in einer graduell nach Süden zu erweiternden »Sphäre europäischer Verantwortung«. Eine solche Initiative dürfte insbesondere gegenüber Iran gute Chancen haben, zu wirksamen Ergebnissen zu gelangen. Mit Blick auf den EU-Gipfel im Dezember in Nizza empfehlen wir, ein solches Konzept zu einem Kernelement der viel beschworenen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu machen.

2. Lagebericht: Stagnierende Abrüstung, bedrohliche Aufrüstung

Zum vielfach erhofften Aufschwung bei der Abrüstung ist es nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht gekommen. Die weltweite Verminderung der Rüstungspotenziale hat sich in einigen Bereichen deutlich verlangsamt, in anderen ist sie gar zum Stillstand gekommen. So hat der amerikanische Senat den Umfassenden Teststopp-Vertrag (CTBT) nicht ratifiziert, auch die Umsetzung der Chemiewaffen-Konvention kommt nur schleppend voran. Ein Abkommen zur weiteren Reduktion der strategischen Nukleararsenale in den Vereinigten Staaten und Russland auf rund je 1500 Sprengköpfe (START III) ist derzeit genauso wenig in Sicht wie ein Vertrag zur Beendigung der Produktion von atomwaffenfähigen Materialien (»Fissile Material Cut-off«) oder die Einbeziehung taktischer Nuklearwaffen in den Abrüstungsprozess. Die russische Duma hat zwar den START II-Vertrag verabschiedet, seine Umsetzung jedoch an Erhalt und Einhaltung des Raketenabwehr-Vertrages seitens der Vereinigten Staaten gekoppelt. Dieses Abkommen haben die damalige Sowjetunion und die Vereinigten Staaten 1972 abgeschlossen, um ein politisch wie finanziell kostspieliges Wettrüsten zwischen Raketen und Abwehrraketen zu vermeiden.

Zur vielfach paralysierten Abrüstung kommt der deutliche Gegentrend zur Aufrüstung im Kontext der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln hinzu. Die Nukleartests in Indien und Pakistan von 1998 und die Folgeentwicklung zeigen, dass diese zusätzlichen Kernwaffenstaaten im Begriff sind, ihre Potenziale auszubauen. Die Erprobungen der iranischen Shahab-Rakete verdeutlichen beispielhaft, dass einige Dritt-Welt-Länder dabei sind, ein Arsenal von Trägersystemen für Massenvernichtungswaffen zu entwickeln; große Teile der Türkei und andere Nachbarländer des Iran liegen bereits in der Reichweite der iranischen Shahab, die sich noch im Teststadium befindet.

Zum Gegentrend der Aufrüstung gehören auch die amerikanischen Pläne, ein landesweites Raketenabwehrsystem (NMD) aufzustellen. Dies bedeutet das Ende des ABM-Vertrages in seiner bisherigen Substanz und Form. Denn sein zentrales Anliegen ist es, die Stationierung eines solchen Systems und die Vorbereitungen hierfür zu verbieten. Mit dem geplanten NMD-Abwehrschirm soll das gesamte Staatsgebiet der Vereinigten Staaten vor einem begrenzten Raketenangriff geschützt werden – also vor einer Attacke mit einigen wenigen Langstreckenraketen, die entweder versehentlich von russischem Boden aus oder absichtlich von einem der Risikostaaten, wie beispielsweise Nordkorea, abgeschossen werden könnten. Um ihre Aufrüstungspläne zu verwirklichen, hat die Clinton-Administration in den Gesprächen mit Moskau angestrebt, die Vertragsinhalte gravierend zu verändern. Dabei ging vielen Republikanern in beiden Häusern des Kongresses bereits die Gesprächsbereitschaft der Clinton-Regierung zu weit. Sie forderten eine einseitige Aufkündigung des Vertrages, den auch die scheidende US-Administration als »Eckstein strategischer Stabilität« bezeichnet hat.

Die Zukunft des ABM-Vertrages ist nicht nur eine Sache der beiden Vertragsparteien. Seine Aufweichung oder gar sein Bruch werden weltweite Folgen haben, denen sich auch Europa nicht verschließen kann. Ein weiterer Rüstungsschub droht. Denn die amerikanischen Rüstungspläne haben zu heftigen internationalen Reaktionen geführt. Russland und China haben mit dem Ende des feinmaschigen Netzwerks von Rüstungskontrollabkommen und mit der Aufrüstung bei ihren Kernwaffenarsenalen gedroht. Das NMD-Programm, das für die Vereinigten Staaten Sicherheit stiften soll, hat globale Auswirkungen und führte zu einer Belastung der transatlantischen Beziehungen, da die meisten europäischen Staaten das amerikanische Vorhaben weitgehend ablehnen. Nicht nur die absehbaren negativen weltweiten Folgen betreffen die Europäer gravierend. Zumindest Großbritannien und Dänemark werden direkt durch die Pläne für die Umrüstung zweier NMD-Radarstationen in Fylingdales und Thule (Grönland) in das amerikanische Militärprogramm involviert sein. Die meisten europäischen Regierungen fürchten zu Recht, dass die Sicherheit auch auf dem Alten Kontinent stark beeinträchtigt wird.

3. Nach der amerikanischen Wahl: Optionen

US-Präsident Clinton hat am 1. September 2000 bekanntgegeben, dass er seinem Nachfolger die Entscheidung über die Stationierung des umstrittenen Systems überlässt. Clintons Beschluss, nichts zu beschließen, bedeutet aus heutiger Sicht nur eine begrenzte Hinauszögerung der historischen Entscheidung, ein Nationales Abwehrsystem aufzustellen. Denn die beiden Präsidentschaftskandidaten Al Gore und George W. Bush haben sich – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – für den Aufbau eines Abwehrsystems ausgesprochen.

Setzt der Demokrat Gore seine Wahlkampf-Rhetorik um, dann kommt es zu einem eher begrenzten System. Ein US-Präsident Gore würde wie sein Amtsvorgänger versuchen, die notwendigen Veränderungen des ABM-Vertrages möglichst einvernehmlich mit Russland zu erzielen. Macht der republikanische Kandidat George W. Bush seine Wahlkampf-Äußerungen wahr, dann ist mit einem umfassenderen Abwehrsystem zu rechnen. Er will einen mehrschichtigen Gürtel aufbauen und die US-Alliierten einbeziehen; Bush will weniger Rücksicht auf die Sorgen Russlands nehmen. In jedem Falle bleibt die Gefährdung des Raketenabwehr-Vertrages weiterhin real.

Von entscheidender Bedeutung wird die Zusammensetzung des ebenfalls neu gewählten Kongresses bleiben. Die entschlossenen NMD-Stationierer vor allem im Senat waren in den vergangenen Jahren der Motor der militärischen Abwehrpläne. Diese ideologische Gruppierung von Senatoren ist auch im neuen Kongress unvermindert stark vertreten. Es ist daher zweifelhaft, dass sich die geschrumpften Mehrheiten der Republikaner in Senat und Repräsentantenhaus automatisch auf eine rüstungskontrollpolitisch wünschenswerte Verlangsamung der amerikanischen Raketenabwehrpolitik auswirken. In jedem Falle wird es sich auch der 107. Kongress nicht nehmen lassen, die Politik des neuen Präsidenten und seiner Administration in diesem Bereich maßgeblich mitzubestimmen.

4. Nationale Raketenabwehrsysteme: Wenig wirksam und doch gefährlich

Wie immer das mehr oder minder stark veränderte NMD-Design der neuen Administration und ihr Zeitplan für Weiterentwicklung und Stationierung aussehen werden: Auch diese amerikanische Regierung muss die technischen Probleme, die bereits durch die Tests in der Clinton-Ära ans Tageslicht kamen, bewältigen. Im Falle eines umfassenderen und anspruchsvolleren Systems, das stärker als bisher Weltraumkomponenten einschließt, dürften die technischen Schwierigkeiten noch wachsen. In den USA sind bislang bereits deutlich mehr als 100 Milliarden Dollar für Raketenabwehr ausgegeben worden, seit den SDI-Plänen des Jahres 1983 rund 70 Milliarden. Bis heute wurde kein funktionsfähiges System stationiert. Zur Zeit werden jährlich etwa 4 Milliarden Dollar in Forschung, Entwicklung und Erprobung investiert. Nach Angaben des Congressional Budget Office werden für die NMD-Pläne der Clinton-Administration 60 Milliarden Dollar – ohne Weltraum-Konzepte – bis 2011 benötigt. Trotz der ausgegebenen großen Summen sind die technischen Ergebnisse kläglich. Von den 16 ab 1982 im Weltraum durchgeführten Abfangversuchen waren nur zwei erfolgreich – und das, obwohl sie unter extrem günstigen Versuchsbedingungen stattfanden, die mit der Realität eines möglichen tatsächlichen Raketenangriffs kaum etwas zu tun haben.

Insbesondere das fehlende Vertrauen in die Wirksamkeit der NMD-Technologie veranlasste den Präsidenten, seinen Stationierungsbeschluss zu verschieben. Kein militärischer Planer in den USA würde sich in einem Ernstfall auf einen derartig unzuverlässigen Abwehrschirm verlassen können. Unabhängig davon, wie erfolgreich die unter der neuen Regierung in Washington durchgeführten Versuche sein werden, wird jedes NMD-System mit gravierenden Herausforderungen von anderen Staaten konfrontiert sein. Eine im April 2000 von amerikanischen Wissenschaftlern veröffentlichte Studie zeigt u.a. drei verhältnismäßig einfache Gegenmaßnahmen auf, mit denen sich ein Abwehrsystem »überlisten« und »täuschen« lässt. Dies ist deshalb möglich, weil das Grundproblem, echte feindliche Sprengköpfe von bloßen Attrappen zu unterscheiden, nach wie vor völlig ungelöst ist:

  • Die betreffenden Länder können Bio- und Chemiewaffen, die in vielen kleinen Behältern (»submunition«) im Kopf der Rakete transportiert werden, einsetzen. Gegen diese vielen kleinen Ziele sind sowohl der landesweite Abwehrschirm als auch die regional aufzustellenden Raketenabwehrsysteme (Theater Missile Defense, TMD) machtlos. Ob andere Konzeptionen (etwa zum Abfangen in der Startphase durch seegestützte Waffen) dieses Problem lösen, lässt sich heute noch nicht sagen.
  • Im Innern von metallbeschichteten Ballons lassen sich Kernsprengköpfe unterbringen, die das Abwehrsystem nicht zu erkennen vermag. Diese Gefechtsköpfe können gemeinsam mit einer größeren Anzahl leerer Ballons freigesetzt werden, die die amerikanischen Abfangwaffen auf sich lenken.
  • Wird der Gefechtskopf innerhalb einer großen Wolke von kleinen Metallfäden freigesetzt, lässt sich eine genaue Ortung durch das Radar verhindern.

Bei diesen Gegenmaßnahmen handelt es sich, anders als bei den Abfangtechnologien, nicht um Reißbrett-Phantasien. Länder, die in der Lage sind, Trägersysteme und Gefechtsköpfe zu bauen, können auch derartige technische Gegenmittel verwirklichen. Hinzu kommt – und dies wird in der Diskussion oft übersehen –, dass Regierungen oder terroristische Vereinigungen, die die Vereinigten Staaten erpressen wollen, eine große Bandbreite von Möglichkeiten zur Verfügung hätten, gegen die Raketenabwehrsysteme nichts auszurichten vermögen. Hierzu gehören:

  • Die Stationierung von Kurzstreckenraketen oder Marschflugkörpern auf Frachtschiffen oder U-Booten in der Nähe des amerikanischen Territoriums, die mit A-, B- oder C-Sprengköpfen ausgerüstet sind,
  • deponierte Sprengladungen mit Massenvernichtungsmitteln auf Schiffen, die in amerikanischen Häfen zur Explosion gebracht werden können und
  • das Einschmuggeln dieser Waffen auf US-Gebiet.

Mit ihren grundsätzlichen Zweifeln an den NMD-Fähigkeiten und der Effizienz von Gegenmaßnahmen stehen unsere Naturwissenschaftler-Kollegen in den Vereinigten Staaten nicht allein. Auch die öffentlich zugänglichen Bedrohungsanalysen aller amerikanischen Geheimdienste (»National Intelligence Estimates«) weisen neuerdings auf die Bedeutung und die Machbarkeit derartiger Gegenmaßnahmen hin. Darüber hinaus betonen die Geheimdienstberichte die beträchtlichen Möglichkeiten, über die (sub-)staatliche Akteure mit Erpressungsabsichten verfügen.

Trotz der relativ leichten Möglichkeit, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, gehört es zu den Paradoxien der Militärpolitik, dass in einer Reihe von Ländern die langfristig kalkulierenden Militärplaner und Politiker von Szenarien des »schlimmsten Falles« ausgehen – sie bauen also in ihre Überlegungen ein, dass die Nuklearkapazitäten ihrer Länder, wenn nicht heute oder morgen, so doch übermorgen durch ein NMD-System bedroht sein könnten. Diese Praxis hat aber ein fortschreitendes Offensiv-Defensiv-Wettrüsten zur Folge.

Denn China mit seinem begrenzten strategischen Nukleararsenal von ca. 20 Interkontinentalraketen wird wahrscheinlich die US-Raketenabwehrsysteme zum Anlass nehmen, um sein Atomarsenal auszubauen. Denn, so das Kalkül in Beijing, selbst ein begrenztes Abwehrsystem der USA wird die eigenen Nuklearwaffen entwerten. Dies würde aller Wahrscheinlichkeit nach einen weiteren nuklearen Rüstungswettlauf in Südostasien provozieren. Eine Kettenreaktion von China über Indien und Pakistan, die bis zu Taiwan und Japan reichen könnte, ist zu befürchten.

China dürfte in der amerikanischen Raketenabwehrpolitik die zentrale Rolle spielen, auch wenn es in den offiziellen Begründungen kaum vorkommt. Die Vereinigten Staaten, die das »Reich der Mitte« mit beiden Abwehrvarianten offenbar militärisch eindämmen wollen, versprechen sich von NMD und TMD zusätzliche Handlungsmöglichkeiten, etwa im Konflikt zwischen der Volksrepublik und Taiwan. Wir sind der Auffassung, dass ein solcher erhöhter Aktionsspielraum zweifelhaft ist, denn der Zugewinn an Handlungsspielraum könnte durch die Gefährdung der regionalen Stabilität wieder zunichte gemacht werden.

5. Wesentlich: Der Erhalt des ABM-Vertrages

Wird das NMD-Vorhaben verwirklicht, muss der ABM-Vertrag aufgekündigt oder beträchtlich verändert werden. Er ist seit fast drei Jahrzehnten in Kraft und begrenzt die gegenwärtig erlaubte Raketenabwehr drastisch. Die Vertragspartner Vereinigte Staaten und Russland haben sich verpflichtet, „keine ABM-Systeme zur Verteidigung des Territoriums des eigenen Landes zu stationieren und keine Basis für solch eine Verteidigung vorzusehen.“ Der bilaterale Vertrag hat eine präventive Funktion, da er beide Vertragsparteien laut Artikel V (1) verpflichtet „keine ABM-Systeme oder Bestandteile zu entwickeln, zu erproben oder aufzubauen, die see-, luft- oder weltraumgestützt sind oder als bewegliches System landgestützt sind.“

Der ABM-Vertrag ist auch unter den veränderten internationalen Rahmenbedingungen ein wesentlicher Baustein im komplizierten Geflecht internationaler Abmachungen zur Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung nuklearer Waffen. Er ist daher weiterhin von substanzieller und politisch-symbolischer Bedeutung.

Obwohl der Ost-West-Konflikt beendet ist, besteht das nukleare Abschreckungssystem weiter, und zwar nicht nur im US-russischen Verhältnis, sondern auch im Hinblick auf China. Die Vertragskritiker, die das Abkommen für ein Überbleibsel aus der Zeit des ideologischen Antagonismus halten, übersehen diese Ungleichzeitigkeit. Insbesondere auf der Ebene der operativen Zielplanung haben sich Moskau und Washington (so unzeitgemäß dies ist) einander nach wie vor im Visier.

Selbst unter den stark veränderten internationalen Bedingungen lässt sich das gegenwärtige Abschreckungssystem noch verschlechtern. Eine »Kostprobe« hierfür enthalten die unlängst bekannt gewordenen US-Verhandlungsvorschläge gegenüber Moskau (so gen. Talking Points des amerikanischen Verhandlungsleiters John Holum). Befolgte Moskau die dort enthaltenen Empfehlungen, würde nicht nur der Prozess der Rüstungsverminderung ins Stocken geraten. Denn die Amerikaner legten ihren Verhandlungspartnern ferner nahe, ihre Atomwaffen im Zustand hoher Alarmbereitschaft zu halten. Für eine Krisensituation könnte sich diese Empfehlung als fatal erweisen.

Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Im Gegensatz zu den Gegnern des ABM-Vertrages schließen wir nicht aus, dass Moskau als Reaktion auf ein amerikanisches NMD-System finanzierbare Aufrüstungsmaßnahmen trifft. Das Argument, Russland sei hierzu wegen seiner bekannten wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht in der Lage, greift nicht. Denn die Wiedereinführung von Mehrfachsprengköpfen (MIRVs) ist nicht nur finanziell erschwinglich. Vielmehr ist sie stabilitätspolitisch äußerst problematisch. Sie bedeutet ferner das Ende des START II-Vertrages. Damit wird das in ihm enthaltene MIRV-Verbot für landgestützte Raketen – ein Meilenstein in der Geschichte der Rüstungskontrolle – ausgehebelt.

Fällt der ABM-Vertrag, erhöht sich das Risiko, dass auch andere Abkommen entwertet werden, die die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen einhegen wollen. Angesprochen ist hier insbesondere der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag. Die zunehmende Militarisierung der Nonproliferationspolitik der USA signalisiert eine sich verstärkende Abkehr von internationalen Normen. Von besonderer Bedeutung (wenn auch in der Diskussion weitgehend ignoriert) ist in diesem Zusammenhang der Ausbau des Nationalen Abwehrsystems mit dem Ziel, Abfangwaffen im Weltraum zu stationieren. Weltraumgestützte Komponenten können Zielscheiben von Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) werden, die wiederum militärische Gegenmaßnahmen herausfordern. Dies bedeutet ein Wettrüsten auch im Weltraum.

Die Konsequenzen einer Kündigung oder weitgehenden Aufweichung des ABM-Vertrags können als Einstieg in einen kontinuierlichen Aufbau von Raketenabwehrsystemen angesehen werden. Eine stetige quantitative und qualitative Weiterentwicklung ist absehbar. Nach der in den USA bislang geplanten letzten Aufbaustufe für das Jahr 2011 wären im Weltraum stationierte Waffensysteme der nächste Schritt.

Zudem könnten weitere Staaten versucht sein – gewissermaßen noch rechtzeitig – in eigene Nuklearpotenziale zu investieren, denn die beste Rückversicherung gegen den Aufbau eines zunächst begrenzten – oder gar nicht – wirksamen Raketenabwehrsystems der USA ist in der Denkweise nuklearer Abschreckung der Aufbau bzw. Ausbau eigener Nukleararsenale. Neue regionale Rüstungswettläufe können entstehen. Das Nichtverbreitungsregime insgesamt würde in Gefahr geraten.

Auch wenn Russland nicht gemäß der inneren Logik der nuklearen Rüstung reagieren würde oder könnte, wäre die schrittweise nukleare Abrüstung bedroht. Russland wird insbesondere aufgrund ökonomischer Gründe zwar gezwungen sein, seine Nukleararsenale weiter zu reduzieren, die untere Grenze der Nukleararsenale wird aber wesentlich bestimmt durch die Bedrohungspotenziale der nuklearen Konkurrenten. Jeder Kernwaffenstaat muss seine Zweitschlagsfähigkeit erhalten, um eine stabile Abschreckung zu gewährleisten. Bei Einführung von umfassender Raketenabwehr wird somit die schrittweise und tiefgreifende nukleare Abrüstung bedroht. Das Ziel der nuklearwaffenfreien Welt rückt in weite Ferne. Ein Prozess der vollständigen nuklearen Abrüstung ohne Gefährdung globaler strategischer Stabilität ist weit schwerer, bei der Existenz umfangreicherer Raketenabwehr vielleicht gar nicht organisierbar.

Deshalb plädieren wir entschieden dafür, den ABM-Vertrag in seiner jetzigen Substanz zu erhalten.

6. Das vernachlässigte Problem: Aufrüstung durch regionale Abwehrsysteme

Es wird in der gegenwärtigen Diskussion nicht ausreichend gesehen, dass es sich beim kontroversen National Missile Defense System nur um eine Variante der Raketenabwehr – und damit um eine Form der Aufrüstung – handelt. Erst ab der Jahreswende 1998/99 betonte die Clinton-Administration den Aufbau eines Nationalen Abwehrsystems. Sie tat dies aufgrund des Drucks von Seiten der Republikaner im Kongress. Er war nach dem Test der nordkoreanischen Rakete am 31. August 1998 beträchtlich angewachsen. Bis dahin hatte der Schwerpunkt der Clinton-Administration auf der zweiten Variante, den regional aufzustellenden Abwehrsystemen (Theater Missile Defense, TMD) gelegen. Sie sind gegen Mittel- und Kurzstreckenraketen ausgelegt. Beide Varianten können nicht isoliert voneinander gesehen werden.

Auch mit diesen regionalen Abfangraketen sind perspektivisch beträchtliche rüstungskontrollpolitische Probleme verbunden. Sie betreffen einerseits den ABM-Vertrag (und damit das amerikanisch-russische Verhältnis). Andererseits – und diese Gefahr ist einer der blinden Flecken der Debatte – können sie regionale Rüstungswettläufe anheizen, die Europa (und damit die Bundesrepublik) unmittelbar angehen.

Regionale Abfangsysteme (TMD), von denen die Vereinigten Staaten derzeit mehrere entwickeln, verletzen den ABM-Vertrag »im Prinzip« nicht. Denn das Abkommen von 1972 verbietet nur Abwehrwaffen, die sich gegen strategische Trägersysteme mit einer großen Reichweite richten. Allerdings besteht das Manko des Vertrages darin, dass er nicht definiert, was unter »strategisch« zu verstehen ist. In jahrelangen Verhandlungen einigten sich Moskau und Washington im September 1997 auf eine Definition, die die Grauzone teilweise schließt. Beide Seiten legten fest, welche Waffen als strategisch und damit als verboten gelten und welche Systeme als sub-strategisch (taktisch) bezeichnet werden können und damit erlaubt sind (so gen. Demarcation Agreement, das im Übrigen nur die russische Duma ratifiziert hat und das dem US-Senat zur Verabschiedung bisher nicht vorliegt).

Allerdings konnten sich beide Seiten nicht auf die Kategorisierung der so genannten seegestützten Navy Theater Wide-Systeme einigen. Die Russen sehen sie wegen ihrer Reichweite als strategisch und damit als nicht erlaubt an; aus der Sicht der Amerikaner sind diese seegestützten Potenziale als taktisch einzustufen und verstoßen damit nicht gegen den ABM-Vertrag. Ein weiteres Problem kommt hinzu, das der Streit um dieses Theater Wide System der amerikanischen Marine beispielhaft deutlich macht. Die Unterscheidung zwischen taktisch und strategisch verschwimmt – und zwar in dem Ausmaß, in dem die ursprünglich gegen Mittelstreckenraketen einzusetzenden Abfangwaffen im Laufe der Zeit so verbessert werden, dass sie auch strategische Systeme vernichten können. Perspektivisch – und dies ist die auch von China geäußerte Sorge – ließen sich die landesweite NMD-Variante und die regionalen TMD-Varianten zu einem umfassenden System integrieren.

Insgesamt ist es uns wichtig, festzustellen: Die Waffensysteme, auf die sich Washington und Moskau im Demarcation Agreement 1997 geeinigt haben, sind nicht per se die »guten«, weil mit dem ABM-Vertrag vereinbar gemachten Systeme. Denn die Aufstellung von taktischen Abwehrwaffen etwa in Asien, im Nahen Osten, Persischen Golf oder in Europa bedeutet ein weiteres Drehen an diesen regionalen Rüstungsspiralen. Dies gilt es durch Initiativen, die den Primat auf die Diplomatie setzen, zu vermeiden.

7. Notwendig und erfolgversprechend: Eine europäische »Diplomatie Zuerst!«-Initiative

Erste Dimension: Vorschläge zur Rüstungsbeschränkung und -verminderung

Die Europäer sollten die Vereinigten Staaten auf den Erhalt des ABM-Vertrages drängen und auch der neuen US-Administration klar machen, wie wichtig es ist, die europäischen Sicherheitsbelange und die Sorgen Moskaus ernst zu nehmen. Dies heißt auf das NMD-Projekt zu verzichten oder ein System zu entwickeln, das mit dem ABM-Vertrag in seiner jetzigen Form vereinbar ist. Ebenso sollte die Weiterentwicklung luft- und weltraumgestützter Lasersysteme unterbunden werden, um nicht einer weiteren Militarisierung des Weltraums Vorschub zu leisten. Als Basis für entsprechende deutsche und europäische Initiativen bietet sich die 1999 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen nahezu einstimmig angenommene Resolution »Verhütung eines Wettrüstens im Weltraum« an.

Vor dem Hintergrund der Entwicklung neuer destabilisierender Waffentechnologien, der zunehmenden Verwundbarkeit moderner Industriegesellschaften und der beschleunigten Verbreitung militärisch relevanter Technologie erscheint es nötig zu sein, vorbeugende Rüstungskontrollmaßnahmen zu etablieren. Wichtig ist hierbei die Kontrolle besonders gefährlicher Waffensysteme bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt. Dabei sollte vor dem Beschaffungsprozess, möglichst in der Phase von Forschung und Entwicklung, angesetzt werden. Ein Gesamtkonzept vorbeugender Rüstungskontrolle, das die technologische Dynamik in den Blick nimmt und in die Rüstungskontrollbemühungen integriert, erscheint notwendig. Der ABM-Vertrag stellt einen Baustein dieses geforderten neuen Konzepts dar.

Es bleibt abzuwarten, ob sich die Kreml-Führung für einen Kompromiss mit der neuen US-Administration entscheidet. Würde der ABM-Vertrag doch gemäß dem Wunsch Washingtons abgeändert und gleichzeitig weitere nukleare Abrüstung vereinbart, so wären einige offensichtliche Probleme auf diplomatischer Ebene möglicherweise gelöst. Andere – insbesondere ein Rüstungsschub in Asien – dürften sich verschärfen. Denn China steht einem solchen US-russischen Kompromiss ablehnend gegenüber, da er das amerikanische Militärvorhaben legitimieren würde.

Zweite Dimension: Vorschläge zum Ausbau eines internationalen Frühwarn- und Kontrollsystems für ballistische Raketen und Weltraumwaffen

Die Europäer – und damit die Berliner Regierung – sollten bei der Moskauer Führung nicht nur auf eindeutige Abrüstungsmaßnahmen drängen. Darüber hinaus sollten sie – wie auch gegenüber Beijing – entsprechende aktive Schritte für eine entschiedene und konstruktive Nichtverbreitungspolitik einklagen. Hier ergibt sich zunächst der Befund, dass mit Exportkontrollen der Lieferländer von Raketentechnologie allein (etwa im Rahmen des Missile Technology Control Regime, MTCR) die Verbreitung der Raketentechnik für militärische Zwecke nicht verhindert, sondern allenfalls verlangsamt werden kann. Deshalb sind weitergehende Schritte notwendig.

Zur erforderlichen gemeinsamen Strategie zur internationalen Eindämmung der Raketenproliferation und zur Vertrauensbildung gehören aus unserer Sicht Maßnahmen zur Erhöhung der Krisenstabilität; gemeinsame Frühwarnsysteme für versehentliche Raketenstarts; die Vorabmeldung von Satellitenstarts und Startanlagen sowie die getrennte Lagerung von Sprengköpfen und Raketen. Hieran sollten sich weitergehende Maßnahmen anschließen – etwa eine Beschränkung oder gar ein Teststopp bestimmter Raketentypen, oder ein Aufstellungsstopp für neue ballistische Flugkörper. Hierfür könnte der Mittelstreckenraketen-Vertrag von 1987, der eine ganze Waffenkategorie mit einer Reichweite von 500 bis 5500 km verbot, als Modell dienen. Einige dieser Forderungen sind derzeit möglicherweise schwer zu verwirklichen. Das Fernziel sollten wir dennoch nicht aus den Augen verlieren: Die Schaffung raketenfreier Zonen und die hiermit verbundene dauerhafte Etablierung der internationalen Norm gegen ballistische Waffensysteme.

Dritte Dimension: Vorschläge zur Einrichtung eines beständigen Dialogforums mit Problemstaaten

Um in Washington, Moskau und Beijing ernst genommen zu werden, muss sich Europa durch einen eigenständigen, sichtbaren und politisch erfolgversprechenden Beitrag zur Bekämpfung der Weiterverbreitung von Trägersystemen und Sprengköpfen als glaubwürdiger Akteur positionieren. Hier sind die diplomatischen Initiativen Europas gegenüber denjenigen Ländern angesprochen, die in Nordafrika, im Nahen Osten und in der Persischen Golfregion eine Bedrohung darstellen können. Gefragt sind hier langfristige Konzepte im Rahmen einer »Diplomatie Zuerst!«-Initiative. Sie kann gleichermaßen dazu dienen, das Fernziel internationale Abrüstung zu fokussieren und kleinschrittig anzugehen.

Wir fordern die Bundesregierung und die zuständigen Ausschüsse im Bundestag auf, hier mit einer vorbeugenden Politik aktiv zu werden. Die derzeitigen europäischen Rahmenbedingungen sind für die Entwicklung und die Umsetzung eines solchen Konzepts günstig. Denn mit ihrer Kritik an den amerikanischen NMD-Plänen und mit ihrer geäußerten Besorgnis über weitere globale und regionale Rüstungsschübe gibt es einen großen gemeinsamen Nenner unter den europäischen Regierungen. Dies bedeutet gleichzeitig, die offiziellen Gründe der USA für den Ausbau eines Nationalen Verteidigungssystem konstruktiv anzugehen – und sie mit politischen Mitteln gegenstandslos zu machen, zumindest aber sichtlich zu entschärfen.

Die Chancen für einen durch den Primat der Politik ausgezeichneten Ansatz halten wir auch deshalb für groß, weil die offiziellen Bedrohungsanalysen in gewisser Weise Entwarnung geben, was das Tempo der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln anbelangt. Der damalige CIA-Direktor William Webster hatte 1989 für das Jahr 2000 mehr als 15 Staaten mit einem entsprechenden Potenzial von Raketen vorausgesagt. In ihren Einschätzungen aus jüngster Zeit nennen sowohl der Bundesnachrichtendienst als auch die »National Intelligence Estimates« der USA nur eine Handvoll von Ländern, die auf absehbare Zeit in puncto Massenvernichtungswaffen problematisch sind. Es sind neben Nordkorea vor allem Iran, Irak, Syrien und Libyen. Diese auf wenige Länder konzentrierte – also gerade nicht diffuse – Bedrohung stufen die US-Analysen zudem noch ab („real“, „(höchst) wahrscheinlich“, „möglich“). Die europäische Initiative müsste – und könnte – entsprechend zielgerichtet ausgelegt werden.

Ihr konzeptioneller Kern ist, dass sie auf einen institutionalisierten Dialog mit diesen Staaten setzt. Deshalb ist es erforderlich, im EU-Rahmen ein hierfür zuständiges Forum einzurichten. Es sollte in der Bürokratie der Europäischen Union hoch angesiedelt sein, etwa im Kompetenzbereich von »EU-Außenminister« Javier Solana, der über Aktivitäten, Fortschritte und Probleme in regelmäßigen Abständen öffentlich berichten müsste. Nur so wird die EU als Akteur sichtbar. Gesprächsgegenstand des Forums dürften von europäischer Seite die sicherheitspolitischen Sorgen und von Seiten der Problemstaaten die vorgebrachten (möglicherweise primär regional verursachten) Motive für ihre Aufrüstung sein.

Die folgenden Ergebnisse des Dialogforums sind denkbar:

  • In den Problemstaaten könnte die Motivation für einen Verzicht auf relevante Entwicklungen im Bereich von Massenvernichtungswaffen durch attraktive Kooperationsangebote erhöht werden.
  • Anstreben ließen sich im Sinne eines Tauschhandels nachprüfbar begrenzte Reichweiten der Raketen gegen Wirtschaftshilfe oder einen Ausbau der Handelsbeziehungen.
  • Ein Angebot zur Partizipation an zivilen europäischen Programmen zur Weltraumnutzung könnte den Verzicht auf eigene Anstrengungen zur eigenständigen Entwicklung von Trägersystemen erleichtern, die sich auch militärisch nutzen ließen.
  • Das Angebot zur Kooperation im Bereich regenerativer Energietechnologien könnte mit dem Verzicht auf den Zugriff auf sensitive Nukleartechnologien, die für Atomwaffenprogramme wesentlich sind, gekoppelt werden. Deutschland ist zur Zeit mit einigen anderen europäischen Ländern Vorreiter bei der zunehmenden Entwertung der Rolle der Nuklearenergie als nachhaltiger Zukunftsoption.
  • Weitere gemeinsame Programme im Bereich Wissenschaft und Forschung aber auch im Bereich Landwirtschaft, Stadtplanung, Umweltmonitoring etc. sind auszuloten.

8. Zukunftsweisend: Ein europäisches Engagement für die Umsetzung der »Diplomatie Zuerst!«-Initiative

Wir, die Unterzeichner, sind der Auffassung, dass eine am Primat der Politik ausgerichtete Initiative konzeptionelle Vorteile gegenüber dem Ansatz der USA hat, die mehr und mehr auf technische Lösungen und Waffen setzen, um das Problem der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln in den Griff zu bekommen. Unsere Vorschläge

  • setzen auf nicht-militärische Kooperation und Einbindung – und nicht auf Unilateralismus und Ausgrenzung;
  • entwerten gerade nicht die durch die Raketenabwehrpolitik der USA bedrohten, mühsam geschaffenen und über Jahrzehnte am Leben erhaltenen bilateralen (ABM-Vertrag) sowie internationalen Abkommen (Nuklearer Nichtverbreitungsvertrag, Raketentechnologie-Kontrollregime);
  • erweitern die Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle durch zusätzliche Initiativen zur präventiven Begrenzung gefährlicher Rüstungstrends auf der Erde und im Weltraum, anstatt Aufrüstung zu forcieren;
  • sind insofern selbstbewusst, als sie andere Gewichte als die USA setzen. Und doch sind sie gleichzeitig in hohem Maße bündnisverträglich. Denn die diplomatischen Schritte, die wir am Beispiel Iran vorschlagen, führen die Vereinigten Staaten gegenüber Nordkorea bereits mit Erfolg durch (aber eben auf diesen Einzelfall beschränkt, und nicht systematisch und auf breiter Basis). Hinzu kommt, dass ein stärkeres Engagement der Europäer eine glaubwürdige Antwort auf die Forderung vieler moderater US-Senatoren nach einer sichtbaren und glaubwürdigen europäischen Anstrengung im Nonproliferationssektor darstellt. Eine Initiative, die den bisherigen Erfolg der amerikanischen Nordkorea-Politik in der eigenen regionalen »Sphäre europäischer Verantwortung« auslotet, ist daher nicht »anti-amerikanisch«, die Gefahr einer europäischen Abkopplung von den USA ergibt sich ebenfalls nicht. Wohl aber macht sich das Konzept den Wettbewerbsvorteil Europas zu eigen; denn dem Alten Kontinent haftet nicht das Bild des »Großen Satans« an.

Mit seinem Fokus auf den Erhalt existierender Rüstungskontrollabkommen und dem notwendigen Ausbau vor allem präventiv angelegter Maßnahmen übernimmt Europa deutliche Verantwortung in einem Bereich, den die Vereinigten Staaten in den letzten Jahren vernachlässigt haben. Europa wird dabei nicht zum politischen Lückenbüßer, sondern zum konzeptionellen Mitgestalter. Auch mit dem Blick auf eine »Sphäre der Verantwortung« (Nordafrika, Naher Osten/Persische Golfregion) zeigt sich Europa als sichtbarer Akteur im Politikbereich Nonproliferation und vorbeugender Rüstungskontrolle.

Wir fordern die Bundesregierung und den Bundestag auf, die derzeitigen günstigen Umstände entsprechend zu nutzen. Die Überprüfung der bisherigen Raketenabwehrpolitik durch die neue US-Administration gibt den Europäern noch etwas Zeit. Hinzu kommt, dass der EU-Gipfel im Dezember in Nizza dazu genutzt werden sollte, den von führenden Politikern wie Jacques Chirac, Hubert Védrine und Joschka Fischer oft beschworenen deutsch-französischen Motor auf diesem wichtigen Politikfeld in Gang zu setzen. Eine vom Primat der Politik angeleitete Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungsstrategie ist über die »Avantgarde-Gruppe« hinaus bündnisfähig. Nach dem NMD-kritischen Bericht des Auswärtigen Ausschusses im britischen Unterhaus lassen sich auch in Großbritannien »inhaltliche Alliierte« finden.

Die Forderung nach gemeinsamen großen Projekten steht auf der europäischen Agenda, inhaltlich ist sie aber bisher weitgehend leer geblieben. Eine gemeinsame »Diplomatie Zuerst!«-Initiative könnte der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Façon und Schwung verleihen. Sie würde Europa als eigenständigem und doch kooperationsbereitem Akteur Profil geben, drohende Rüstungswettläufe konstruktiv anzugehen und zu vermeiden.

Schützende Begleitung in Krisen- und Konfliktgebieten

Schützende Begleitung in Krisen- und Konfliktgebieten

von Christoph Klotz

Der Gedanke, gewaltfrei durch internationale »Peace Brigades« in Konfliktgebieten zu intervenieren geht auf Gandhi und andere Persönlichkeiten der indischen gewaltfreien Bewegung zurück. Gandhi beschrieb diese Idee erstmals 1938 im Zusammenhang mit Straßenunruhen in Bombay. Die Peace Brigades sollten zwischen die Fronten treten und durch eine gewaltfreie Arbeit deeskalierend wirken. Mit der sogenannten »Shanti Sena«, der Friedensarmee, die 1957 von Vinoba Bhave gegründet wurde und in den 60er Jahren bei Unruhen zwischen Hindus und Moslems zum Einsatz kam, wurde Gandhis Idee erstmals in die Tat umgesetzt. Die mehrere tausend Personen starke Organisation übernahm Vermittlungsfunktionen, wirkte mit einer unabhängigen und verlässlichen Informationspolitik Gerüchten entgegen und half bei Wiederaufbau- und Versöhnungsprojekten.

Die Shanti Sena war wiederum Vorbild für spätere internationale gewaltfreie Organisationen, so etwa für die »World Peace Brigades«, die 1962 in Beirut von den »War Resisters International« und dem »Internationalen Versöhnungsbund« mitbegründeten wurden. Diese hatten einige beachtliche Erfolge vorzuweisen. So gelang es ihnen in 1964, einen Waffenstillstand in Nagaland (Nord-Indien) zwischen Aufständischen und der Zentralregierung auszuhandeln und zu überwachen. In 1972/73 begleitete eine Freiwilligengruppe während der Zypernkrise die Wiederansiedlung türkisch-zypriotischer Flüchtlinge.

Als 1981 auf Grindstone Island (Kanada) FriedensaktivistInnen aus vier Kontinenten zusammen kamen, um mit den Peace Brigades International den erneuten Versuch zu unternehmen, eine dauerhafte internationale Organisation aufzubauen, da waren mehrere Mitbegründer der World Peace Brigades wieder dabei.

Damals stand die Idee am Anfang, friedensstiftende, friedenserhaltende und friedensschaffende Initiativen auf der Grundlage aktiver Gewaltfreiheit und humanitärer Einsatzbereitschaft zu ergreifen. Diese Arbeit sollte geleitet sein von den Prinzipien der Gewaltfreiheit, der Nichtparteinahme (unabhängige Position), der Nichteinmischung (weder ihre Präsenz noch Lösungen irgendeiner Art aufzudrängen und nur auf Anfrage tätig zu werden), der Basisdemokratie und des Konsensprinzips im Inneren, der Internationalität der Einsätze und der finanziellen und politischen Unabhängigkeit der Friedensarbeit. Damals verfügte die Organisation noch über keine eigenen Erfahrungen. Dennoch lässt sich heute sagen, dass diese Prinzipien unverändert ihre Gültigkeit und sich bewährt haben – sowohl für die Bestimmung der inhaltlichen Arbeit als auch in der Beständigkeit der Organisation.

Der Aufgabenbereich der Peace Brigades wurde damals sehr breit angelegt: Er umfasst die schützende Begleitung und Präsenz internationaler Freiwilligen-Teams in Krisen- und Kriegsgebieten, die Augenzeugen- und Informationsfunktion zur Verbreitung verlässlicher Informationen durch unabhängige BeobachterInnen vor Ort, die Friedenserziehung und Vermittlung gewaltfreier Methoden der Konfliktbearbeitung, die Vermittlung und Unterstützung von Verhandlungen sowie die Unterstützung von Versöhnungsarbeit.

In der Folge waren PBI-Freiwilligen-Teams in Guatemala (1983-1999), El Salvador (1987-1992), Sri Lanka (1989-1998), Nordamerika (1991-1999) sowie zu Kurzeinsätzen in Nord-Nicaragua und beim World Uranium Hearing in Salzburg. Aktuell ist PBI mit Projekten in Kolumbien, Haiti, Mexiko, Ost-Timor/Indonesien sowie im Rahmen von zwei Friedenskoalitionen im Kosovo (Balkan Peace Team) und in Chiapas/Mexico (SIPAZ) engagiert.

Heute, nach nahezu 20 Jahren hat sich die Organisation natürlich verändert, es gibt bestimmte Akzente und Schwerpunkte. In einigen Bereichen verfügt die Organisation über bedeutende Erfahrungen, andere wurden kaum praktiziert und weiterentwickelt. Als ein Resümee lässt sich vielleicht festhalten, dass die bedeutendste Arbeit von PBI darin liegt, gewaltfreie Methoden im Bereich von Sicherheitsfragen und dem Schutz bedrohter Personen und Opfergruppen, die von politischer Gewalt betroffen sind, praktisch umgesetzt zu haben.

PBI-Freiwilligen-Teams beschützen durch ihren persönlichen Einsatz Menschen, die von politisch motivierter Gewalt, Entführung, Folter, Ermordung oder Massakern bedroht sind. Das können engagierte MenschenrechtlerInnen sein, Flüchtlinge oder interne Kriegsvertriebene. Dazu gehören aber auch Mitglieder von Bauernverbänden und Gewerkschaften, Frauenorganisationen und Indigenagemeinschaften, die für soziale, politische und ökonomische Rechte gewaltfrei eintreten.

Indem PBI sie physisch begleitet, erfahren sie zugleich eine Ermutigung, selbst gewaltfreie Lösungen für die Probleme zu entwickeln. In diesen Bemühungen werden sie von PBI unterstützt. Dies kann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen: durch eine 24 Stunden-Präsenz bei bedrohten Personen und ihren Familien-Angehörigen, durch einen zeitweisen Eskortendienst z.B. wenn eine Augenzeugin vor Gericht aussagen möchte oder bei der Rückkehr einer Flüchtlingsgemeinschaft, durch kontinuierliche Besuche in den Büros der betroffenen Organisationen oder in den Wiederansiedlungen und Flüchtlingsherbergen zu wechselnden Zeiten, durch die Anwesenheit bei Kundgebungen und Demonstrationen oder in der Menschenrechts- und Gemeinwesenarbeit.

Das von PBI entwickelte Konzept einer schützenden Begleitung der lokalen Zivilbevölkerung leistet einen unmittelbaren Beitrag zur Gewaltprävention und trägt langfristig zur Stärkung ziviler Konfliktlösungsmöglichkeiten bei. PBI hat sich deshalb das Motto »Making space for peace« gegeben.

Darüber hinaus spielen als zweiter Bereich die Bildungsarbeit und die Weitervermittlung von Methoden der gewaltfreien Konfliktbearbeitung an lokale Menschenrechtsorganisationen und Basis-Initiativen eine große Rolle. Abhängig von Anfragen und insoweit leistbar, veranstaltet PBI auch Seminare und Trainings in der Traumarbeit und vermittelt Techniken zum Schutz gegen Repression (Kolumbien) sowie in der Friedenserziehung und Ausbildung von MultiplikatorInnen in gewaltfreier Konfliktbearbeitung (Haiti und Ost-Timor/West-Timor/Indonesien).

Auch Dialog-Initiativen und eine generelle Informationsarbeit gegenüber den Konfliktparteien können eine Rolle spielen, so z.B. im interreligiösen Dialog im SIPAZ-Projekt in Chiapas, Mexiko. PBI ist an der Friedenskoalition im Trainingskomitee beteiligt und eine PBI-Freiwillige ist vor Ort.

Die interkulturelle Jugendbegegnungsarbeit des Balkan-Peace-Teams im Kosovo ist eine andere Form, um zur Deeskalation und Prävention gewaltförmiger Konflikte beizutragen. PBI unterstützt diese Arbeit mit Informationsarbeit in der Bundesrepublik und international.

Wohin die Zukunft geht, ist eine offene Frage. So wird zum Beispiel derzeit bei PBI diskutiert, ob die Organisation sich auf Sicherheitsfragen und schützende Begleitung weiter spezialisieren oder eher einen breiten Ansatz vertreten sollte. Eine andere Frage ist, wie lassen sich schützende Begleitung und Friedenserziehung kombinieren. Das Ost-Timor/Indonesien-Projekt von PBI arbeitet in dieser Richtung.

Ganz besonders leben die Praxis und Relevanz von PBI von den internationalen Freiwilligen. Mehr als 1.000 Freiwillige sind seit 1983, dem ersten Projekt in Guatemala, mit PBI in einem mehrmonatigen bis zu zweijährigen Einsatz gewesen. Sie waren als internationale BeobachterInnen und AugenzeugInnen in Krisen- und Konfliktgebieten in Lateinamerika, Asien, Nordamerika und auf dem Balkan. Sie nahmen dabei erhebliche Risiken auf sich – und doch ist das Risiko der Freiwilligen ungleich geringer, verglichen mit dem Risiko jener Menschen, die sie tagtäglich in ihrer engagierten Arbeit begleiten (siehe dazu auch den Erfahrungsbericht von Annette Finqscheidt im Kasten).

Ansichten einer Rückkehrerin
von Annette Finqscheidt

Ist die Arbeit einer PBI-Freiwilligen gefährlich, so aufregend wie der Gang durch eine fremde Stadt, in der man nicht weiß, was einen an der nächsten Ecke erwartet oder wird sie irgendwann einmal wie fast jede Tätigkeit zur Routine? Nach einem Jahr im tropischen Urabá, unter armen Flüchtlingen und reichen Geschäftsleuten, Soldaten und BürokratInnen, AnalphabetInnen und Intellektuellen, in Urwalddörfern ohne Weg und Steg und in einem mit moderner Technologie ausgestattetem Büro sowie in einem aus sehr verschiedenen Menschen zusammengesetzten Team würde ich sagen, es ist beides. Begleiten in Urabá bedeutet unzählige Dinge tun. In Turbo, ein nicht gerade idyllisches Hafenstädtchen, in dem unser Büro und Wohnhaus liegt, leben etwa 3.500 Vertriebene, die von PBI begleitet werden. Das bedeutet mehrmals täglich mit dem Fahrrad oder Auto und mit einem T-Shirt bekleidet, das deutlich aussagt, dass man zu PBI gehört, die sogenannte Runde zu machen, die Sporthalle von Turbo und zwei Herbergen, in denen die Flüchtlinge provisorisch untergebracht sind, zu besuchen. Es ist wichtig, dass sie uns dort sehen, damit sie die Flüchtlinge in Ruhe lassen. »Sie«, das sind Polizisten und Soldaten, aber auch Zivile, die auf Motorrädern oder in Autos ohne Nummernschild herumfahren, oft mit einer Waffe unter dem Hemd, und wehrlose Menschen bedrohen. Manchmal, wenn die Situation gespannt ist, müssen diese »Runden« auch nachts gedreht wwerden, dann im Auto, zu zweit und mit Telefon. Das gehört dazu: Sicherheit geht vor; wir müssen uns von überall und zu jeder Zeit mit den KameradInnen im Büro verständigen können.

Begleiten bedeutet, um 6 Uhr morgens verschlafen am Hafen von Turbo zu stehen und die Abfahrt eines Bootes abzuwarten, mit dem einige Vertriebene und die MitarbeiterInnen einer sie beratenden Menschenrechtsorganisation ins Flussgebiet Cacarica begleitet werden möchten. Schon im Hafen wird klar, dass man beobachtet wird. Manchmal versucht jemand die Vertriebenen auszufragen, wohin sie fahren, wie viele sie sind, warum sie Lebensmittel mitnehmen. Begleiten bedeutet, an einem Kontrollposten der Marine vorbeizufahren, oft stundenlang auf dem Fluss unterwegs zu sein, das Boot mühsam durch viel zu flaches Wasser zu schieben, in Gummistiefeln durch matschiges Gelände zu waten und tage- oder gar wochenlang in einem kleinen, abgelegenen Dorf zu leben, in dem es weder Strom noch fließendes Wasser oder Zufahrtswege gibt. Das Satellitentelefon ist die einzige Verbindung zur Außenwelt.

Begleiten bedeutet, das einzige gute Kleid anzuziehen, um in der Militärgarnison in Carepa dem Kommandanten unsere Besorgnis um die Sicherheit der Vertriebenengemeinden in Urabá mitzuteilen, ihn daran zu erinnern, dass wir innerhalb seines Zuständigkeitsgebietes arbeiten. Es bedeutet, ihm die Hand zu schütteln und freundlich zu lächeln, obwohl man weiß, dass er an Menschenrechtsverletzungen beteiligt ist oder sie zumindest mit seinem Einverständnis begangen werden.

Begleiten bedeutet aber auch stunden- oder tagelange Büroarbeit, das Schreiben von Berichten und Informationen, das Lesen der Berichte aus Bogotá, Barrancabermeja und Medellín (die anderen drei Teams in Kolumbien), Teamsitzungen von bis zu 12 Stunden, in denen die Arbeit geplant und über die allgemeine politische Situation gesprochen wird, Sitzungen mit kolumbianischen oder anderen internationalen Organisationen, das Bedienen des fast pausenlos klingelnden Telefons.

Wir sind immer froh, wenn unsere KameradInnen, die gerade unterwegs sind, anrufen: Alles in Ordnung? Im Ernstfall ist unser kleines Haus in Turbo das Zentrum aller Operationen. Von hier unternehmen wir die nötigen Schritte, um den Schutz der von uns begleiteten Menschen und auch der eigenen Teammitglieder zu verstärken. Deshalb sind die zwei Telefone und die Computer ständig besetzt: Kommunikation und Information sind einige der wichtigsten Bestandteile der Arbeit.

Wie gesagt, Begleitarbeit in Urabá kann vieles bedeuten und kein Tag sieht aus wie der andere, Freizeit gibt es selten, dafür oft zu wenig Schlaf. Doch man gewöhnt sich an die Hektik, die Unvorhersehbarkeit der Lage und an die unglaublich vielen und verschiedenen Menschen, die man kennen lernt. Die Ausnahmesituation wird zum Alltag, das tägliche Risiko fast zur Routine. Im Nachhinein habe ich noch nicht einmal das Gefühl, etwas Außergewöhnliches getan zu haben.

Annette Finqscheidt, gelernte Sozialanthropologin aus Wuppertal, war mit PBI ein Jahr lang in der Region Urabá im Nordosten Kolumbiens im Einsatz.

Peace Brigades International

PBI ist eine internationale Friedensorganisation, die 1981 gegründet wurde und seither in mehreren Projekten erfolgreich tätig war, u.a. in Guatemala, Sri Lanka und El Salvador. Derzeit sind PBI-Teams in Kolumbien, Mexiko, Haiti und Indonesien im Einsatz. PBI entsendet internationale BeobachterInnen als AugenzeugInnen in Krisen- und Konfliktgebiete. PBI-Freiwilligen-Teams beschützen durch ihren persönlichen Einsatz Menschen, die von politisch motivierter Gewalt, Entführung und Ermordung bedroht sind. Dabei setzt PBI direkter und struktureller Gewaltausübung die Mittel der Gewaltfreiheit entgegen. PBI ist als internationale Nichtregierungsorganisation bei den Vereinten Nationen akkreditiert und hat dort Beobachterstatus inne. Bis dato gehören ihr 12 voll anerkannte Ländersektionen und 5 assoziierte Ländergruppen aus Europa und Nordamerika sowie Australien und Neuseeland an. Die deutsche Sektion PBI – Deutscher Zweig e.V. besteht seit 1986 und ist seit 1991 ein gemeinnützig anerkannter Verein mit Sitz in Hamburg. Sitz des Internationalen Sekretariates ist London.

Christoph Klotz ist Referent für Öffentlichkeitsarbeit bei PBI – Deutscher Zweig
PBI – Deutscher Zweig e.V., Hohenesch 72, D-22765 Hamburg, www.igc.org/pbi

Konfliktprävention im türkischen Kurdenkonflikt

Konfliktprävention im türkischen Kurdenkonflikt

Chancen und Probleme

von Gülistan Gürbey

Obwohl die Türkei durch die Festnahme und Aburteilung Abdullah Öcalans einen entscheidenden strategischen Sieg errungen hat, scheint die türkische Staatselite diese Position der Stärke nicht für eine politische Neuorientierung und für Zugeständnisse an die KurdInnen zu nutzen. Ein kurzer Blick auf die innenpolitischen Kräfteverhältnisse zeigt, dass die Türkei auch heute noch zwischen dem unbeirrbaren Festhalten am ideologischen Dogma und den nur halbherzig gewollten Liberalisierungsversuchen schwankt. Eine Lockerung der zum Dogma erhobenen ideologischen Grundlagen des Staates konnte bisher nicht erreicht werden. Dies umfasst vor allem die offizielle Doktrin von der unteilbaren Einheit der türkischen Nation und ihres Staates, die eine institutionelle Anerkennung der kurdischen nationalen und kulturellen Identität nach wie vor verbietet.

Wie in der Vergangenheit bedeutet der ethnische und kulturelle Homogenisierungsanspruch für die KurdInnen auch heute noch eine umfassend und kontinuierlich umgesetzte Politik der zwangsweisen Assimilierung, d.h. Türkisierung. Tabuisierung, Verbot, politische und rechtliche Verfolgung, Vertreibung mit militärisch-staatlichen Repressionsmitteln waren und sind noch immer die Grundlagen dieser Politik.1 Dies ging und geht zugleich einher mit einer Verhinderung der Legalisierung von historisch gewachsenen kurdischen Autonomiebestrebungen. Höhepunkte dabei bilden vor allem die Verbote der prokurdischen Parteien HEP/DEP2 (und möglicherweise auch HADEP) und die Verhaftung und Verurteilung von legitimierten kurdischen Abgeordneten zu langjährigen Haftstrafen.

Der kurdische Widerstand gegen türkische Vormacht und ihre Politik ist nicht erst mit der PKK3 entstanden. Er reicht bis in die späten Phasen des Osmanischen Reiches hinein. In nicht weniger als 27 größeren und kleineren Aufständen prallten bis Ende der dreißiger Jahre der neue türkische Nationalismus und das erwachende kurdische Nationalbewusstsein aufeinander. Zur dauerhaften Unterbindung der Unruhen verfolgte der Staat ein umfassendes Programm der zwangsweisen Assimilierung der KurdInnen. Die forcierte Etablierung des türkischen Nationalverständnisses und die rücksichtslose Durchsetzung der Doktrin vom türkischen Einheitsstaat haben wesentlich zur Reifung der kurdisch-nationalen Identität im Widerstand gegen diese Politik beigetragen.

Ansatzpunkte für eine Annäherung der Kontrahenten

Grundlegende Interessendivergenzen kennzeichnen das Selbstverständnis der Konfliktparteien und ihre Grundeinstellungen zum Minderheitenschutz.4 Die Regierung der Türkei lehnt grundsätzlich Minderheitenschutz oder Autonomieregelungen ab, da sie den Konflikt als eine Bedrohung für die nationale und territoriale Integrität des Staates perzipiert. Lediglich tendenziell ist eine Bereitschaft hinsichtlich einer Lockerung im kulturellen Bereich und einer Kompetenzerweiterung lokaler Verwaltungen festzumachen. Diese ansatzweise Liberalisierung der Kurdenpolitik, die inzwischen von verschiedenen Regierungen und politischen Entscheidungsträgern (mit Ausnahme der rechtsextremen Nationalistischen Aktionspartei und des Militärs) vorsichtig zum Ausdruck gebracht wurde, hat seinen Ursprung in erster Linie in der späten Phase der Özalschen Ära. Die Ablehnung von Autonomieregelungen oder von Minderheitenschutz wird durch die Angst vor Sezession begründet.

Im Selbstverständnis der kurdischen AkteurInnen in der Türkei sind zwei maßgebliche Lager auszumachen: Die traditionell-konservativen Stämme lehnen zwar Sezession und Autonomieregelungen grundlegend ab, da sie dadurch eine deutliche Schwächung ihrer lokalen Machtposition befürchten. Der Gewährung von kulturellen Rechten stehen sie jedoch nicht entgegen. Die national-kurdischen Organisationen und Parteien (PKK, PSK5, DEP/HADEP) betrachten den Konflikt als eine nationale Frage, da die KurdInnen – bisher in einem zusammenhängenden Gebiet lebend – entgegen ihrem Willen auf verschiedene Nationalstaaten aufgeteilt wurden. Die Grenzziehung habe sie zu künstlichen Minderheiten gemacht, wobei der Konflikt selbst nicht als eine Minderheitenfrage betrachtet werden könne. Entsprechend dieser Sichtweise wird die Lösung in der Gewährung des Selbstbestimmungsrechts der Völker gesehen, wobei dieses nicht als einseitiger Anspruch auf die Gründung eines kurdischen Nationalstaates verstanden wird. Die Errichtung eines kurdischen Nationalstaates wird wegen der politischen Interessen- und Machtkonstellation in der Region als unrealistisch bewertet, so dass die Forderungen auf die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes innerhalb bestehender Staatsgrenzen konzentriert werden. Damit bildet die Forderung nach Autonomie den politischen Konsens zwischen den national-kurdischen Kräften, der auch die PKK einschließt. Die Form der Autonomie wird im einzelnen nicht konkretisiert. Die Ausführungen reichen von kulturellen Rechten über territoriale Autonomie bis hin zu konföderativen Modellen. Konkrete Forderungen betreffen dagegen die Einleitung sofortiger Schritte unter Einschluss der Gewährung von kultureller Autonomie, die den Krieg beenden, den Friedensprozess einleiten und die Atmosphäre für eine freie und offene Diskussion über eine weitergehende politische Autonomie schaffen sollen.

Trotz Interessendivergenzen gibt es dennoch »Schnittpunkte«, die mit externer Unterstützung der internationalen Organisationen und der BündnispartnerInnen möglicherweise eine Annäherung zwischen den Konfliktparteien bewirken können. Anknüpfungspunkte sind dabei auf der türkischen Seite die Bereitschaft zu Liberalisierungstendenzen im kulturellen Bereich und in der lokalen Verwaltungsebene und auf gesellschaftlicher Ebene die Forderungen nach Beendigung des Krieges, nach Demokratisierung und Umsetzung von kulturellen Rechten für die KurdInnen. Auf kurdischer Seite bestehen konkrete Forderungen, die eine sofortige Beendigung des Krieges und eine kulturelle Autonomie beinhalten. An diesen Schnittpunkt anknüpfend kommt es primär auf den Staat an, durch konkrete Maßnahmen den Weg für eine politische Lösung zu ebnen. Voraussetzung für die beidseitige militärische Deeskalation ist nach wie vor ein beidseitiger Gewaltverzicht und Waffenstillstand. Eine kombinierte Kurdenpolitik mit Bestandteilen einer Demilitarisierung der kurdischen Region (Aufhebung des Ausnahmezustandes und aller anderen militärisch-polizeilichen Maßnahmen inklusive der Ermöglichung der Rücksiedlung ehemaliger BewohnerInnen und einer Generalamnestie), einer umfassenden Garantie der demokratischen Menschen- und Bürgerrechte sowie kulturelle Autonomie wären die ersten Schritte zu einer dauerhaften politischen Regelung. Diese Maßnahmen tangieren weder die staatliche Integrität noch die nationale Einheit des Landes. Sie würden lediglich die bestehende kurdische Parallelkultur legalisieren und ihre Entwicklung fördern; zugleich bedeuten sie für die KurdInnen noch keinen Zugewinn an politischer Autonomie.

Externe Einwirkungsmöglichkeiten: Grundlagen des modernen Minderheitenschutzes

Grundlegendes Ziel des modernen Minderheitenschutzes6 ist der Schutz der Existenz und der Identität von Minderheiten. Nach wie vor überwiegt der individual-menschenrechtliche Ansatz: Es werden nicht die Gruppenrechte von Minderheiten geregelt, sondern die Individualrechte von Angehörigen der Minderheiten zur Pflege ihrer Kultur, zur Ausübung ihrer Religion und Nutzung ihrer Sprache. Der Minderheitenschutz weist trotz Fortentwicklung Defizite auf. So ist es z.B. noch nicht gelungen, sich auf eine völkerrechtlich verbindliche Definition des Minderheitenbegriffs zu einigen. Trotz dieses definitorischen Mangels erachten die internationalen Rechtsinstrumente die ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Merkmale, in denen sich die Minderheit von der Bevölkerungsmehrheit unterscheidet, als schützenswerte Güter. Dieser Umstand führt dazu, dass es jedem Staat selbst überlassen bleibt, welche seiner StaatsbürgerInnen er als Minderheit ansieht. Dies hat zur Folge, dass einige Staaten, vom Konzept eines einheitlichen Staatsvolkes ohne Ansehen der Ethnizität ausgehend, die Existenz von Minderheiten abstreiten, so z. B. die Türkei. Schließlich ist zu betonen, dass es keine Patentlösung für Minderheitenregelungen gibt. Es kommt darauf an, jeweils eine Einzelfalllösung zu finden.

Auf der Ebene der UNO ist das Selbstbestimmungsrecht (SBR) der Völker in der UN-Charta und in UN-Menschenrechtsdeklarationen verankert: Das Volk hat das Recht, seinen Status selbst zu bestimmen. Es muss bei der Wahrnehmung des SBR auf die Staatengemeinschaft Rücksicht nehmen. Es darf weder das Recht auf Eigenstaatlichkeit seitens des Volkes noch die territoriale Integrität durch die Staatengemeinschaft verabsolutiert werden. Art. 27 des »Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte« von 19667 geht auf die Minderheitenproblematik ein. Er formuliert zwar keine weitreichenden Gruppenrechte, enthält aber völkervertragsrechtliche Verpflichtungen für die Staaten auf diesem Gebiet. Die Staaten sind nur verpflichtet, die Wahrnehmung von Sprach-, Religions- und Kulturrechten für Minderheitenangehörige zu gewährleisten. Art. 27 schreibt den Staaten jedoch keinen Weg vor, wie die Minderheitenrechte zu gewährleisten sind. Einige Staaten entgehen den Verpflichtungen aus Art. 27, in dem sie die Existenz von Minderheiten auf ihrem Staatsgebiet einfach leugnen, z. B. Türkei, Frankreich. Die UN-Minderheitendeklaration von 1992 fordert die Staaten auf, günstige Bedingungen zu schaffen, um Minderheiten die Entwicklung ihrer Kultur, Sprache, Religion zu ermöglichen. Mit der Deklaration wird die Notwendigkeit von Fördermaßnahmen für Minderheiten grundsätzlich akzeptiert. Dennoch fehlt der Deklaration eine Rechtsverbindlichkeit und eine konkretere Ausgestaltung.

Auch europäische Initiativen im Rahmen des Europarats, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) und der Europäischen Union (EU) widmen sich der Fortentwicklung des modernen Minderheitenschutzes. Das »Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten« des Europarates (Februar 1998 in Kraft getreten) verpflichtet die Staaten, die darin festgelegten Grundsätze in nationales Recht zu übernehmen und Maßnahmen zu ergreifen, die dem Schutz der Freiheitsrechte der Angehörigen von Minderheiten dienen: dem Schutz der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, der Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit. Den Vertragsstaaten wird auferlegt, die Bedingungen zur Erhaltung und Pflege der Identität der Minderheiten zu fördern. Dazu gehören Bestimmungen für die Bereiche Sprache, Erziehung und Unterricht. Auch hierbei überlässt das Rahmenübereinkommen den Vertragsstaaten, seinen Anwendungsbereich festzulegen. Die fehlende Minderheitendefinition lässt den Staaten freie Hand, selbst zu bestimmen, welche Gruppe als Minderheit angesehen wird. Sie haben somit einen weiten Spielraum bei der Durchführung des Vertrages. Neben dem Rahmenübereinkommen befasst sich die »Europäische Charta für Regional- oder Minderheitensprachen«, die im März 1998 in Kraft getreten ist, mit dem Minderheitenschutz. Die Türkei und Frankreich haben sie bisher nicht unterschrieben. Andererseits stellte der »Ausschuss für die Einhaltung der Verpflichtungen und Zusagen der Mitgliedsländer des Europarats« in seinem Türkei-Bericht im Januar 1999 fest, der wesentliche Punkt sei, dass die türkischen BürgerInnen kurdischer Herkunft über die Möglichkeit und die materiellen Mittel verfügen sollten, ihr eigene Sprache und ihre kulturellen Gepflogenheiten unter den Bedingungen und Voraussetzungen zu praktizieren und zu wahren, die in den oben genannten zwei wichtigen Konventionen des Europarats klar und angemessen definiert wurden. Auch die EU-Kommission verweist in ihrem Türkei-Bericht 1999 auf diesen Punkt.

Das Kopenhagener Dokument der OSZE vom 29. Juni 1990 stellt die Minderheitenproblematik in ihren wesentlichen Dimensionen dar und fordert für Minderheiten Diskriminierungsschutz und Minderheitenrecht. Das Dokument bedeutet die Herausbildung von gemeinsamen europäischen Standards des Minderheitenschutzes. Gefordert wird u. a. die Sicherung der Minderheitensprachen, die Bildung eigener Bildungs-, Kultur- und Religionseinrichtungen, Prinzip der Selbstverwaltung und Autonomie sowie spezifisches Vertretungsrecht im Parlament. Die Teilnehmerstaaten werden dazu verpflichtet, die Minderheitenrechte zu schützen, dem Prinzip der Gleichheit und Nichtdiskriminierung zu folgen, geeignete lokale und autonome Verwaltungen einzurichten, die den spezifischen historischen und territorialen Gegebenheiten der Minderheiten Rechnung tragen. Gleichzeitig wird jedoch im Kopenhagener Dokument betont, dass sich diese Rechte lediglich auf staatsloyale Aktivitäten beziehen und keinen Widerspruch zum Prinzip der territorialen Integrität der Staaten darstellen. Die »Charta von Paris für ein neues Europa« der OSZE erwähnt das Recht nationaler Minderheiten, ihre Identität ohne jede Diskriminierung frei zu bekennen und weiterzuentwickeln. Im minderheitenrechtlich als Durchbruch anzusehenden Kopenhagener Dokument wird die Autonomie als Möglichkeit zum Minderheitenschutz herausgestellt. Die OSZE-Staaten räumen in ihrer Gesamtheit der Autonomie nicht den Status ein, der es Minderheiten gestatten würde, von einem Rechtsanspruch auf Autonomie auszugehen. Es heißt darin, dass die Teilnehmerstaaten die Bemühungen zur Kenntnis nehmen, die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität bestimmter nationaler Minderheiten zu schützen und Bedingungen für ihre Förderung zu schaffen, indem sie als eine der Möglichkeiten zur Erreichung dieser Ziele geeignete lokale oder autonome Verwaltungen einrichten, die den spezifischen historischen und territorialen Gegebenheiten dieser Minderheiten Rechnung tragen und im Einklang mit der Politik des betreffenden Staates stehen. Bedeutsam ist aber, dass die Möglichkeit ausdrücklich betont wird, obwohl ein Konsens über die Angemessenheit derartiger Lösungen nicht besteht.

Der »Hohe Kommissar für Nationale Minderheiten« (HKNM) der OSZE hat die Hauptaufgabe der Konfliktverhütung. Er soll zum frühest möglichen Zeitpunkt Spannungen erkennen und zu ihrer Eindämmung beitragen und Frühwarnung an die OSZE-Gremien aussprechen. Das HKNM-Mandat ist begrenzt: Erstens durch Bezug auf nur solche Situationen, die die Sicherheit zwischen den Staaten gefährden, Situationen innerhalb der Staaten sind also nicht erfasst. Folglich werden Minderheiten ohne Titularnation vom Mandat nicht berücksichtigt; dies betrifft auch die KurdInnen oder die KorsInnen in Frankreich (Ausnahme: Roma und Sinti); Zweitens ist dem HKNM eine Befassung mit Situationen ausdrücklich untersagt, bei denen Akte von Terrorismus vorliegen (dies betraf bisher auch die KurdInnen). Der HKNM kann sich nur mit Minderheiten auseinandersetzen, die von den einzelnen Staaten als solche anerkannt werden.

Resümierend kann festgehalten werden, dass es bereits eine Reihe von Instrumenten zum Minderheitenschutz gibt, welche die Selbstbestimmung innerhalb eines Staates wahrzunehmen gestatten; eine rechtliche Absicherung von Minderheitenrechten gibt es aber bisher nicht. Verträge und politische Vereinbarungen bedürfen bei ihrer Umsetzung immer der Kooperationsbereitschaft der Staaten; die Durchsetzungsmechanismen sind schwach ausgebildet. Die Umsetzung von Rechtsnormen hängt vom politischen Willen der Staaten ab.

Aufgrund des Spannungsverhältnisses zwischen den völkerrechtlichen Prinzipien der nationalstaatlichen Souveränität und der territorialen Integrität, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und den Geboten des Minderheitenschutzes, die in den Vereinbarungen zum Schutze von Minderheiten im Rahmen der UNO, der OSZE und des Europarates enthalten sind und die normalerweise Regelungen unterhalb der Sezession sind, konnte sich die Türkei bisher von der Bindewirkung dieser Bestimmungen weitgehend befreien, obwohl sie sich als Mitglied dieser Organisationen einem gemeinsamen Werte- und Handlungssystem unterworfen und sich zu dessen Schutz und Realisierung verpflichtet hat. Die Türkei vertritt in ihrem Vorbehalt die klassische türkische Auffassung, dass es rechtlich keine Minderheiten außerhalb der Regelungen des Lausanner Vertrages (JüdInnen, ArmenierInnen, GriechInnen) gebe.

Beitrag der EU, der OSZE und UNO zur friedlichen Konfliktbeilegung

Ansatzpunkte im Rahmen der UNO, der NATO, der OSZE, der EU und des Europarates für ein konstruktives Einwirken in Richtung auf eine deutliche Umorientierung der türkischen Kurdenpolitik sind bisher nicht konsequent aktiviert worden. Ohne ein konzertiertes und kontinuierliches externes Einwirken, das es bisher in dieser Form nicht gegeben hat, bestehen aber kaum Erfolgsaussichten auf einen Wandel in der türkischen Kurdenpolitik und auf eine friedliche Konfliktbeilegung. Vor dem Hintergrund des türkischen Sieges über die PKK einerseits und der Beendigung des bewaffneten Kampfes und der Friedensbemühungen durch die PKK andererseits sind konsequent gebündelte Friedensinitiativen durch das Zusammenwirken externer AkteurInnen notwendiger denn je.

Ein wichtiger Hebel für die Einflussnahme und konstruktive Hilfestellung liegt gegenwärtig in der Frage des EU-Beitritts der Türkei. Nur durch eine an Bedingungen gekoppelte attraktive Beitrittsperspektive und Annäherungsstrategie der Türkei an die EU kann die EU Einfluss auf die türkischen Entscheidungsträger nehmen und friedensfördernd wirken. Dabei ist es aus verschiedenen Gründen notwendig, dass die EU über den Ad-hoc-Umgang mit der Kurdenfrage hinauskommt und ein umfassenderes Konzept dafür entwickelt, wie europäische Politik mit dem Problem umgehen soll. Nur eine europäische Strategie, die eine EU-Beitrittsperspektive für die Türkei klar und eindeutig formuliert und diese gleichzeitig an die Bereitschaft zur friedlichen Konfliktbeilegung und die Einleitung von konkreten Schritten zur Umsetzung von Menschenrechten und Minderheitenschutz konditioniert, ist erfolgversprechend.8 Dies setzt aber voraus, dass der Beitrittsprozess anhand eines detaillierten »road map« festgelegt wird, der die Kriterien, Pflichten und Aufgaben für beide Seiten definiert und zugleich Fortschritte im Beitrittsprozess an deren Erfüllung knüpft.

Ausschlaggebend ist dabei vor allem, dass die EU die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien durch Ankara inhaltlich definiert und konkretisiert und zeitliche Umsetzungsfristen vorgibt. Zur Erarbeitung und Koordinierung einer umfassenden Kurdenpolitik sollte die EU in Analogie zur »Balkan-Kontaktgruppe« eine ständige »KurdInnen Kontaktgruppe« einrichten und einen ständigen Gedankenaustausch mit Washington pflegen. Dabei ist angesichts des besonderen US-türkischen Verhältnisses vor allem ein koordiniertes Zusammenwirken mit den USA von zentraler Bedeutung, um ein einheitliches Auftreten gegenüber Ankara zu gewährleisten und damit einen nachhaltigen Druck ausüben zu können.

Auch die OSZE und die UNO sollten sich stärker als bisher für eine Vermittlung und Vertrauensbildung bereitstellen, z. B. durch die Entsendung von UN-BeobachterInnen, ständigen Fact-Finding Missionen und OSZE-Langzeitmissionen in die Region, durch die Ernennung einer/eines OSZE-Beauftragten für friedliche Konfliktbeilegung, durch intensive Dialogaufnahme und Förderung zivilgesellschaftlicher und demokratischer Kräfte.

Resümee

Eine institutionelle Anerkennung der kurdischen Identität und Kultur ist conditio sine qua non auf dem Wege zur friedlichen Beilegung des Kurdenkonfliktes. Zu einer flexibleren Kurdenpolitik gehört es vor allem, politische und rechtliche Schritte einzuleiten, die Wege für eine politische Repräsentation und Integration der KurdInnen öffnen, die Bedingungen für eine freie und offene Auseinandersetzung schaffen und auf mindestens sechs Ebenen eine kulturelle Autonomie aufzubauen, nämlich auf der Ebene der Sprache, der Präsenz im Medien- und Kulturbereich, im Bildungs- und Erziehungswesen, der Vereinigungsfreiheit, der politischen Repräsentation und der Selbstverwaltung. Die Gewährung von Rechten in diesen Bereichen würde weder die nationalstaatlichen Grenzen noch die unitäre Staatsstruktur tangieren, sondern lediglich die bestehende kurdische Parallelkultur legalisieren und an den gemeinsamen Schnittmengen zwischen den Haltungen der KurdInnen und Teilen der türkischen Politik und Gesellschaft über Vorstellungen von Regelungen im kulturellen Bereich und in der lokalen Verwaltung anknüpfen.

Mit der Entführung und Verurteilung des »Staatsfeindes Nr. 1« hat die Türkei zwar einen strategischen Sieg über die PKK erlangt, der Kurdenkonflikt existiert aber weiterhin und bedarf einer dringenden politischen Verregelung. Auch eine nachhaltige Schwächung bzw. Ausschaltung der PKK und der Verzicht der Organisation auf Gewalt würden keinen endgültigen Sieg des Staates bedeuten, solange ein Politikwechsel in der Kurdenfrage sich nicht vollzieht. Die kurdische Bevölkerungsgruppe ist zu groß, die internationale Wiederbelebung ethno-nationaler Politik zu umfassend und die Internationalisierung des Kurdenkonfliktes zu weit fortgeschritten, als dass der türkische Staat sich gegen kurdisch-nationale politische Strömungen isolieren und immunisieren könnte. Damit bliebe der Türkei der latente Unruheherd und ein andauerndes Element potenzieller Stabilitätsgefährdung weiterhin erhalten.

Anmerkungen

1) Ausführlicher dazu siehe Gülistan Gürbey: Wandel in der Kurdenpolitik? Die Türkei zwischen Dogma und Liberalisierung, in: Internationale Politik, Bonn, Nr. 1, Januar 1998, S. 39-44.

2) HEP: Arbeiterpartei des Volkes; DEP: Partei der Demokratie. HADEP: Demokratiepartei des Volkes.

3) PKK: Arbeiterpartei Kurdistans.

4) Näheres dazu vgl. Gülistan Gürbey: Autonomie- Option zur friedlichen Beilegung des Kurdenkonfliktes in der Türkei, Frankfurt am Main, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, HSFK-Report 5/1997.

5) PSK: Sozialistische Partei Kurdistans.

6) Vgl. Hans-Joachim Heintze (Hg.): Moderner Minderheitenschutz. Rechtliche oder politische Absicherung?, Bonn 1998; derselbe: Selbstbestimmungsrecht der Völker – Herausforderung der Staatenwelt. Zerfällt die internationale Gemeinschaft in Hunderte von Staaten?, Bonn 1997.

7) Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, Bonn 1991, S. 45-75.

8) Gülistan Gürbey: Die »Europäisierung« des Kurdenkonflikts. Eine Chance für den Frieden?, in: Internationale Politik, Bonn, Nr. 2-3, Februar/März 1999, S. 101-102; dieselbe: Die Europäisierung des Kurdenkonflikts, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, Heft 4/1999, S. 404-407.

Dr. Gülistan Gürbey lehrt an der Freien Universität Berlin am FB Politik- und Sozialwissenschaften

Frühwarnung und Konfliktprävention

Frühwarnung und Konfliktprävention

Was haben wir gelernt?

von Susanne Schmeidl

Frühwarnung (early warning) setzt sich aus zwei Wörtern zusammen: früh und Warnung; d.h. es gilt vor einer Gefahr früh zu warnen. Obwohl Frühwarnung also solche nicht unbedingt von allen richtig verstanden – oder angewendet – wird, zählt es doch zum Erfolg der Idee, dass Frühwarnung inzwischen mehr oder weniger ein Allgemeinbegriff geworden ist. Aber was ist Frühwarnung eigentlich und woher kommt die Idee?

Der Ursprung der Frühwarnung liegt nicht im Bereich der Politik, sondern in der Warnung vor Naturkatastrophen (Fluten, Stürme, Erdbeben) – hier ist es schwierig, die Katastrophen zu verhindern so war der Fokus auf einem verringerten Ausmaß der Katastrophe. Humanitäre Frühwarnung hat sich deshalb am Anfang auch sehr an der Linderung von Leid, und nicht so sehr an der Verhinderung von Leid durch ein Aufhalten der Katastrophe orientiert. Humanitäre (um sie von den Naturkatastrophen abzugrenzen) Frühwarnung entsprang dem Bereich der Hungersnöte (famine early warning) und wiederum ging es weniger darum, die Hungersnot zu verhindern, als viel mehr zu vermeiden, dass Tausende von Menschen verhungerten – also um die Bereitstellung von Lebensmittelhilfen. Als nächstes kam die Frühwarnung von der Flüchtlingsforschung mit der einflussreichen Studie von Prinz Sahruddin Aga Khan (Special Rapporteur für die UNO-Kommission für Menschenrechte) und Studien der Refugee Policy Group.1 Da es sich hier um Opfer im eigentlichen Sinn des Wortes handelt (Flüchtlinge), war Frühwarnung in diesem Bereich, wie bei den Hungersnöten, politisch relativ neutral. Es ging am Anfang auch nicht so sehr um die Konflikte in den Ursprungsländern, sondern um die Richtung und Größe einer Flüchtlingsbewegung, um entsprechende Hilfsmaßnahmen vorbereiten zu können.

Dieser symptomorientierte Ansatz der humanitären Frühwarnung änderte sich allerdings ziemlich schnell. Einerseits wurde realisiert, dass es sich um keine richtige Frühwarnung mehr handelt, wenn ein Flüchtlingsstrom bereits begonnen hat und andererseits, dass weder das Leid der Vertriebenen verhindert noch die Asylländer von der zusätzlichen Belastung geschützt werden konnten. So begann die Entwicklung der humanitären Frühwarnung wie wir sie heute kennen : die Analyse von Konflikten (Ursache, Entwicklung und Dynamik) mit dem Ziel diese zu verhindern.2

Der »Warning-Response Gap«

Allerdings muss nach den Debakeln in Kosovo, Ost-Timor und auch Tschetschenien reflektiert werden, wie ernst die internationale Gemeinschaft und die starken Staaten im Norden es wirklich mit Frühwarnung meinen – oder ob es nur ein erneutes Lippenbekenntnis zu Friedensförderung und Menschenrechten ist. Jedoch muss unterschieden werden, ob Frühwarnung als solche stattgefunden hat oder ob sie nur nicht effizient genug mit präventivem Handeln verbunden wurde. Dies kann auch als Streitpunkt gesehen werden, nämlich ob Frühwarnung unabhängig von »early action« betrachtet werden kann und somit erfolgreich ist, auch wenn kein präventives Handeln erfolgt. Es gibt viele, die Frühwarnung als nutzlos betrachten, wenn sie nicht auch an entsprechende Aktionen gekoppelt ist. Gerade der Genozid in Ruanda hat die Notwendigkeit der Verknüpfung von Frühwarnung und präventiven Maßnahmen noch stärker hervorgehoben. Er bewirkte eine Wandlung in der Debatte der Frühwarnung von der Suche nach dem perfekten Modell (Theorie der Frühwarnung) zu einem Fokus auf die kritische Verknüpfung von Warnung und Handlung (im Englischen auch oft als »warning-response gap« bezeichnet).

Definition der Frühwarnung

Aus diesem Grund ist es wichtig, die Definition der Frühwarnung besser aufzuschlüsseln.3 Frühwarnung als solche beinhaltet:

  • das Sammeln von Information (oft auch spezifischen Indikatoren);
  • die Analyse dieser Informationen (das Verständnis der Wichtigkeit der Indikatoren);
  • das Senden eines Frühwarnsignals und
  • die Formulierung von Szenarien und adäquaten Handlungsoptionen.

Auch wenn hier die frühe Aktion oder das Handeln als solches nicht unbedingt in der Definition inbegriffen sind, kann die Verknüpfung doch von den letzten beiden Elementen abgeleitet werden. Der springende Punkt ist auf jeden Fall das pro-aktive (frühe) und nicht reaktive (späte) Handeln. In den vielen Fällen, wo letzteres geschah, wird von »missed opportunities«gesprochen. Allerdings sollte zwischen den folgenden Fällen unterschieden werden:

  • in denen es »early warning«, aber keine »early action« (Iraks Invasion in Kuwait 1990) oder überhaupt keine Handlung gab (Tschetschenien);
  • in denen es genug Informationen aber zu wenig Analyse gab (Ruanda 1994);
  • in denen zu langsam oder nicht adäquat gehandelt wurde (Ost Timor 2000);
  • in denen falsch gehandelt wurde (frühe Anerkennung von Kroatien ohne den negativen Einfluss auf den Rest von Jugoslawien in Betracht zu ziehen, 1995 Friedensvertrag in Bosnien ohne Kosovo einzubeziehen);
  • in denen die Reaktion inkonsistent war (Jugoslawienkrise);
  • in denen die Reaktion in einer komplexen Situation nicht zu Ende geführt wurde (Somalia) und
  • in denen die Reaktion widersprüchlich war (1999 militärischer Eingriff in Kosovo ohne Bodentruppen in Betracht zu ziehen).4

So ist es nicht nur wichtig ein Ereignis vorherzusehen, sondern es auch wirklich zu begreifen und akkurat zu antizipieren. Dieser Unterschied sollte in gewisser Weise nicht nur technisch, sondern auch psychologisch verstanden werden, denn eine Warnung ernst zu nehmen hat die Konsequenz des Handlungsentscheides zur Folge (auch wenn entschieden wird »nicht« zu handeln). Sobald die Warnung als solche wahrgenommen und verstanden wurde, besteht keine Entschuldigung mehr, dass man von nichts wusste, auch wenn der Drang des Verleugnens für die involvierten AkteurInnen (im Falle des Nicht-Handeln) fast unwiderstehlich ist. Doch ist es wichtig zu erörtern, warum oft nicht gehandelt wird oder warum Frühwarnungen oft so nicht verstanden werden.

Dilemmata der Frühwarnung

Erstens genügt es nicht eine Menge Wissen über Krisensituationen zu sammeln (Informationen, Indikatoren), es muss auch analysiert werden. Die Analyse der Information ist der erste Schritt zur Erkennung der Gefahr und auch zur Reflexion über adäquate Handlungsoptionen. Allerdings scheint die Analyse als solche noch oft zweitrangig im Vergleich zur Informationsansammlung gesehen zu werden. So wird vor allem bei den Nachrichtendiensten – zumindest in den USA – 90 Prozent des Budgets für Informationsbeschaffung ausgegeben und nur 10 Prozent für die Analyse.5 Gerade das Internet hat den Zugang zu einer Unmenge von Informationen ermöglicht, was die Analyse dieser Informationen noch wichtiger macht, um nicht an einem »information overload« zu ersticken.

Zweitens, wie bereits erwähnt, reicht es nicht, wenn die Krisengebiete nur identifiziert werden, was das kleinere der Übel zu sein scheint. Wie gesagt: Der Ausbruch einer Krise muss akkurat antizipiert werden – des öfteren gibt es Übereinstimmung darüber, wo es in der Zukunft zu Konflikten kommen könnte, allerdings nicht unbedingt wann und wie sich das Ausmaß der Krise äußern wird. Diese Information ist allerdings notwendig um zu entscheiden, wann und wo AkteurInnen knappe Ressourcen zur Konfliktprävention frei machen können und wollen. Die größte Angst der AnalystInnen ist auch das »crying wolf syndrom«, das Vorhersagen einer Krise, die dann nicht stattfindet, obwohl das eigentliche Ziel der Frühwarnung das Nichteintreten von Krisen ist (weil sie verhindert wurden). Der Beweis allerdings, dass die Krise durch Prävention – und nicht durch den normalen Lauf der Dinge – nicht eingetreten ist, ist in der Regel schwer.

Drittens, von Laborexperimenten darüber, wie Menschen auf Signale reagieren, weiß man, dass Signale deutlich genug sein müssen um wahrgenommen zu werden. Die Erkennung des Signals ist zusätzlich abhängig von der Umgebung, in der das Signal gesendet wurde, d.h. von der Anzahl und Stärke anderer Hintergrundgeräusche. Das zeigt, dass eine gute Analyse der Informationen ein notwendiger aber nicht ausreichender Bestandteil der Frühwarnung ist. Um das Signal hervorzuheben sollte die Analyse mit Szenarien der Weiterentwicklung (Einschätzung des Risikos) und Handlungsoptionen ergänzt werden.

Viertens, verknüpft mit drittens: Zuviel »Hintergrundgeräusch« kann auch ablenken; d.h. es gibt ja nicht nur einen Krisenherd, sondern viele Krisenherde. Die Auswahl, welchem Krisenherd sich eine politische Akteurin/ein politischer Akteur am besten zuwenden soll, ist oft schwierig. Hier gilt es eine Prioritätensetzung für die Verteilung knapper Ressourcen (welche Konflikte sind schlimmer oder wichtiger) und eine Abwägung zwischen humanitären Hilfs- oder präventiven Maßnahmen anzustellen. Auch bekommen politische AkteurInnen mehr Bonuspunkte, wenn sie humanitäre Hilfe leisten, als wenn ein Konflikt irgendwo verhindert wurde. Hilfsmaßnahmen sind sichtbar (daher messbar). Konfliktprävention in dem Sinne ist eher unsichtbar und daher nicht direkt messbar; es könnte auch purer Zufall sein, dass es nicht zur Konflikteskalation kam.

Fünftens, auch wenn eine politische Akteurin/ein politischer Akteur eine Frühwarnung ernst genommen hat, steht sie/er vor der Frage, ob eine Einmischung die Lage evtl. noch verschlimmert. Das gilt vor allem für Konflikte, die schon länger bestehen oder wieder aufgeflammt sind. Erschwerend kommt dann Versagen (failures) hinzu, wie z.B. in Somalia. Darum hüten sich politische AkteurInnen oft vor einer Einmischung, um Blamage oder Versagen zu vermeiden. Ein Verhalten nach dem Motto: Besser nichts tun, als das Falsche zu tun.

Sechstens, für viele politische AkteurInnen der wichtigste der Punkt: Frühwarnung bezieht sich im Grunde genommen nicht auf den Eigenschutz des Staates (im Vergleich zu Nachrichtendiensten), sondern auf den Schutz von anderen. Sie muss in diesem Sinne also strikt humanitär gesehen werden. Das ist wohl auch der ausschlaggebende Punkt, warum präventives Handeln in Verknüpfung mit Frühwarnung oft sehr schwer ist. Wenn es uns selber betrifft, dann ist Handeln oft selbstverständlich. Wenn es andere betrifft, dann kann Handeln abgewogen oder verzögert werden. Nicht zuletzt können sich politische AkteurInnen hinter der Maske der Unantastbarkeit der Staatssouveränität verstecken, da ein Einmischen in die Affären anderer Staaten oft noch ein Tabu ist. Zumindest ist es eine gute Ausrede für das Nicht-Handeln, obwohl es doch oft genug passiert, dass sich politische Akteure, wenn es zu ihren Gunsten ist, über Staatssouveränität hinwegsetzten (siehe vor allem Irak und Kosovo).

Das Beispiel Ruanda

Der Genozid in Ruanda kann als gutes Beispiel für das Problem der Frühwarnung oder besser das Problem der Verknüpfung zwischen Frühwarnung und präventivem Handeln genommen werden, denn es gab genug Frühwarnung von außen, nicht zuletzt die berühmte Faxmitteilung von UNAMIR-General Dallaire.6 Doch erstens war die UNO damals – und das gilt auch sicher heute noch – nicht gut genug ausgerüstet, um notwendige Informationen zu sammeln und vor allem in den richtigen Kontext (Analyse) zu setzten. Letzteres gilt auch für andere Staaten, die die Informationen von Menschenrechtsverletzungen nicht erfolgreich mit einem möglichen Konflikt in Zusammenhang gebracht haben. Zweitens wollten viele Staaten und die UNO die Möglichkeit eines Genozides nicht in Betracht ziehen, denn eine Akzeptanz dieser Möglichkeit hätte bedeutet, dass ein schnelles Eingreifen notwendig und moralisch unabdingbar geworden wäre. Im Falle eines ethnischen Konfliktes war der Handlungsdruck nicht so groß, da im Vergleich zu einem Genozid kein Massenmord geplant und ausgeführt wird. Drittens gab es gleichzeitig andere Konflikte, die die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Zum Beispiel war Europa mit dem Krieg in Bosnien in Beschlag genommen und die Möglichkeit einer Eskalation des Konflikts im Nachbarland Burundi sah größer aus. Viertens hatte die internationale Gemeinschaft große Hoffnung in das Arusha-Friedensabkommen gesetzt und wollte aus diesen Grund einen neuen Konflikt nicht wahrnehmen (hatte sozusagen Scheuklappen auf). Fünftens lastete das Versagen (falsches Handeln) in Somalia noch schwer auf bestimmten politischen Akteurinnen, vor allem den USA, und man war nicht auf eine Reprise aus. Sechstens hatten sich viele politische AkteurInnen an den gewaltsamen Alltag in Afrika gewöhnt. So war eine notwendige Sensibilität bezüglich der zunehmenden Ausschreitungen in Ruanda einfach nicht vorhanden. Der letzte und evtl. schwerwiegendste Grund allerdings lag darin, dass das Ausmaß der Katastrophe sicher auch unterschätzt wurde. Warum sollte ein politischer Konflikt in einem kleinem afrikanischen Land schon von Interesse sein? Es wurde nicht an den Genozid geglaubt und es wurde nicht bedacht, dass dieser Konflikt so weitgreifende und lang andauernde Ausschreitungen wie der jetzige Konflikt in der DR Kongo haben würde.

Selektierte Vorschläge zur Verbesserung der Frühwarnung

Nach all diesen Kritiken an der Frühwarnung sollte ein Artikel doch mit einigen Vorschlägen enden, die einen Erfolg (auch in kleinen Schritten) möglich machen können. Obwohl jeder Punkt in sich noch weiter erörtert werden müsste, können die folgenden Vorschläge trotzdem zur einer vertieften Reflexion Anlass geben:

  • Es ist wichtig, alle Elemente der Definition (siehe oben) in einem Frühwarnmodell zu vereinigen; d.h. weder die Analyse noch die Handlungsoptionen sollten weggelassen werden, um den Einfluss zu maximieren. Dies sollte allerdings nicht das Sammeln der angemessenen, rechtzeitigen und relevanten Informationen ersetzten (letzteres ist nach wie vor unabkömmlich).
  • Frühwarnung darf nicht »ad hoc«, sondern muss kontinuierlich praktiziert werden. Krisen können aus dem Nichts plötzlich auftreten, wenn nur alle sechs bis zwölf Monate eine Aufarbeitung der Informationen und Analyse betrieben wird.
  • Es sollte ein Dialog mit politischen AkteurInnen gesucht werden um die Frühwarnanalysen zu verfeinern und auf den Geschmack der »Klienten« abzustimmen. Ein solcher Dialog erhöht auch die Wahrscheinlichkeit des Zugzwangs zum politischen Handeln (für diesen und den vorhergehenden Punkt ist das Projekt FAST der Schweizerischen Friedensstiftung ein gutes Beispiel).7
  • Da Frühwarnung im Moment von »außen« betrieben wird, sollte in Betracht gezogen werden, dass die Warnung nicht nur an interessierte Drittländer gerichtet wird, sondern auch an die Länder, die es direkt betrifft. So kann der betreffende Staat versuchen selber zu handeln oder zumindest kann die zivile Bevölkerung gewarnt werden, um Druck von unten zu erzielen (letzteres kann auch auf die zivile Bevölkerung von Drittstaaten ausgeweitet werden, nach dem Motto »Je mehr die Information nach außen dringt, desto stärker der Handlungsdruck auf politische AkteurInnen«).
  • Konsequentes politisches Handeln ist wichtig, vor allem wenn präventive Handlung ernst genommen werden soll. So kann die internationale Gemeinschaft nicht in Kosovo eingreifen, es aber in Tschetschenien unterlassen. Solch inkonsequentes Handeln unterbindet den Effekt einer ausgesprochenen Drohung in der Zukunft.
  • Frühwarnung sollte, im Vergleich zu Nachrichtendiensten, transparent und kollaborativ ausgestaltet werden; d.h. der Erfolg wird erhöht, wenn Informationen und Analysen geteilt, Handlungsoptionen miteinander besprochen und das Handeln kollektiv ausgetragen wird.

Anmerkungen

1) S. Aga Khan: Study on Human Rights and Massive Exodus. Question of the Violation of Human Rights and Fundamental Freedoms in any Part of the World, with Particular Reference to Colonial and Other Dependent Countries and Territories. Special Report to the Commission on Human Rights, 38th session. United Nations Economic and Social Council (GE.82-10252), 1981. L. Clark. Early Warning of Refugee Flows. Washington, D.C.: Refugee Policy Group, 1989.

2) Hier muss man kurz Konflikte definieren, da nicht alle Konflikte negative Auswirkungen haben. Manche Konflikte (soziale K.) sind für eine politische Weiterentwicklung und Umstrukturierung notwendig und sollten daher nicht verhindert werden. Konflikte allerdings (vor allem bewaffnete Konflikte) mit erheblichen Menschenrechtsverletzungen (vor allem bezüglich der Zivilbevölkerung), die ein großes Zerstörungspotenzial haben, bilden diejenigen Konflikte, mit denen sich die humanitäre Frühwarnung beschäftigt.

3) Es wird hier keine spezifische Quelle angegeben, da die meisten Definitionen der Frühwarnung letztendlich ähnliche Elemente beinhalten.

4) A.L. George und J.E. Holl: The Warning-Response Problems and Missed Opportunities in Preventive Diplomacy, in B.W. Jentlseon. Opportunities Missed, Opportunities Seized.Rowman & Littlefield Publishers, Inc., 2000, 21-39., S.34.

5) Ibid

6) Für eine genaue Analyse, siehe H. Adelman und A. Suhrke.: The International Response to Conflict and Genocide. Lessons from the Rwanda Experience. Part 2: Early Warning and Conflict Management: Genocide in Rwanda. Joint Evaluation of Emergency Assistance to Rwanda, 1996.

7) Für mehr Information siehe H. Krummenacher, G. Baechler und S. Schmeidl: Beitrag der Frühwarnung zur Krisenprävention: Möglichkeiten in Theorie und Praxis. In: Friedensbericht 1999. Verlag Rüegger, 1999, S.77-99 oder .swisspeace.ch

Susanne Schmeidl, Ph.D., Senior Research Analyst, Swiss Peace Foundation, Institute for Conflict Resolution

Vermittelnd eingreifen

Vermittelnd eingreifen

Zur Rolle der Mediation in großen Konflikten

von Gert Sommer

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können dazu beitragen, die Wahrscheinlichkeit gewaltfreier Konfliktaustragungen zu erhöhen oder die Wahrscheinlichkeit gewaltträchtiger Konfliktaustragungen zu mindern. In der Agenda für den Frieden (1992) des früheren UNO-Generalsekretärs Boutros-Ghali sind Verhandlungslösungen und dazu erforderliche Strategien unter dem Begriff »peace-making« zusammengefasst. In diesem Zusammenhang spielen die psychologischen Erkenntnisse eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Psychologie hat sich u.a. mit Mediation befasst, denn das »vermittelnde Eingreifen« nimmt einen immer größeren Stellenwert ein. Eine zivile Lösung vieler Großkonflikte ist ohne Mediation nicht denkbar. Gert Sommer untersucht die Möglichkeiten und Grundmuster der Mediation.

Mediation ist die Intervention einer dritten Partei in einem Konflikt mit dem Ziel, diesen durch Verhandlungen zu bearbeiten bzw. zu lösen. Durch das Einbeziehen einer dritten Partei kann – im Sinne einer strukturellen Veränderung bzw. eines systemischen Effektes – die Interaktion zwischen den Konfliktparteien positiv beeinflusst werden (vgl. Überblicke bei Bercovitch & Rubin, 1992, Kressel & Pruitt, 1989).

MediatorInnen können offizielle RepräsentantInnen von Staaten, regionalen oder internationalen Organisationen sein oder aber Privatpersonen (z.B. Geschäftsleute) oder WissenschaftlerInnen ohne offizielles Mandat (z.B. Rubin, 1992). Der Vorteil offizieller RepräsentantInnen kann darin bestehen, dass sie die politische, ökonomische und militärische Macht ihrer Institution effektiv einsetzen; der Vorteil von inoffiziellen Personen liegt häufig in der informellen Arbeit, wenn die üblichen politischen Kommunikationskanäle zwischen den Konfliktparteien bereits blockiert sind (Carnevale, 1985).

MediatorInnen benötigen spezifische Kompetenzen, um erfolgreich intervenieren zu können. Dazu gehört, dass sie über den Konflikt und die beteiligten Parteien gut informiert sind (inhaltliche Kompetenzen) und dass sie hervorragende Fertigkeiten in Konfliktanalyse, Konfliktaustragung und zwischenmenschlicher Kommunikation besitzen (prozessuale Kompetenzen; Rubin, 1992).

Konfliktparteien sind dann zur Austragung ihres Konfliktes mit Hilfe von Mediation motiviert, wenn sie damit positivere Konsequenzen erreichen und/oder negativere Konsequenzen vermeiden können als mit alternativen Vorgehensmöglichkeiten oder wenn diese Alternativen mit unakzeptablen Kosten verbunden sind (Susskind & Babbitt, 1992).

Mediation mag für eine Regierung z.B. dann wenig attraktiv erscheinen, wenn einseitige – z.B. ökonomische oder militärische – Aktionen eine schnellere und höhere subjektive Erfolgswahrscheinlichkeit haben. Voraussetzung zur Akzeptanz von Mediation ist zudem, dass die Person der Mediatorin/des Mediators Vertrauen und Respekt der Parteien genießt. Mediation kann dadurch erschwert werden, dass die MediatorInnen selbst nicht neutral sind, sondern ausgeprägte eigene Interessen haben (Carnevale, 1985; Bercovitch,1992), z.B. die Sicherung von Einflusssphären (dies war ein wesentliches Motiv von Kissingers Reisediplomatie im Mittleren Osten; vgl. Wessells, 1993).

Zu den Aktivitäten von MediatorInnen gehören u. a.:

  • für formelle Verhandlungen die Grundlagen schaffen,
  • Treffen organisieren und strukturieren,
  • produktive Kommunikation unterstützen,
  • den Konfliktparteien bei der Definition der zentralen Probleme sowie beim Erarbeiten der zugrundeliegenden und der gemeinsamen Interessen helfen,
  • Ansätze zur Problemlösung unterstützen.

Eine wesentliche Aufgabe der Mediation ist die Eingrenzung des Konflikts, also das Verhindern einer Konflikteskalation, insbesondere hin zum Krieg. Dies geschieht u.a. durch Einflussnahme auf die Kommunikation und die Einstellungen der Konfliktparteien oder auch dadurch, da die zugrundeliegenden – zunächst unvereinbar erscheinenden – Interessen so umformuliert oder uminterpretiert werden, dass sie als gemeinsame Interessen der Konfliktparteien erscheinen. Solche gemeinsamen Interessen können etwa sein: intensiver Handel; Verhindern eines Krieges; Sichern einer intakten Umwelt. Damit ist konstruktives Denken im Sinne von Gewinn-Gewinn-Strategien verbunden, d.h. beide Konfliktparteien gewinnen mit einem für beide vorteilhaften Kompromiss.

Eine wichtige Mediationsstrategie besteht darin, die Gesamtproblematik so zu fragmentieren, dass möglichst mit einem kleineren Problem begonnen werden kann, bei dem eine Einigung wahrscheinlich ist. Kleine anfängliche Erfolge können dann für die weiteren Verhandlungen von großer Bedeutung sein (Carnevale & Pruitt, 1992). Bei einer ähnlichen Strategie werden die unterschiedlichen Bedeutsamkeiten einzelner Konfliktpunkte für die Konfliktparteien herausgearbeitet: Jede Partei kann dann bei den Themen nachgeben, die für sie selbst relativ wenig, für die andere Partei jedoch hoch bedeutsam sind (zu weiteren Mediationsstrategien vgl. Zartmann & Tuval, 1985).

In schwierigen Situationen können die Parteien räumlich getrennt werden, so dass die Mediatorin/der Mediator die wesentliche Kommunikationsinstanz ist. Dies kann besonders bedeutsam sein bei ausgeprägten Feindbildern, also bei hochemotionalen Konflikten, wenn z.B. jede Partei in Äußerungen der anderen Seite nur Versuche der einseitigen Gewinnmaximierung sieht (Nullsummen-Denken). Eine Möglichkeit, dies zu überwinden, besteht darin, dass die Mediatorin/der Mediator Verhandlungsvorschläge macht, die sie/er als die eigenen ausgibt und mit denen die Konfliktparteien sich dann sachlich auseinandersetzen können; beim Akzeptieren eines solchen Vorschlages können die Parteien zugleich ihr »Gesicht wahren«.

Konfliktparteien haben – insbesondere zu Verhandlungsbeginn – häufig den starken Wunsch, jeden Anschein von Schwäche zu vermeiden. Anfängliche Zugeständnisse werden daher vermieden, da sie von der Gegenseite ausgenutzt werden könnten. Zur Motivierung einer produktiven Konfliktaustragung können MediatorInnen ggf. Druckmittel einsetzen, indem sie u.a. mit Sanktionen oder dem Abbruch der Verhandlungen drohen oder aber substanzielle Anreize politischer, ökonomischer oder militärischer Art bieten.

Internationale Mediation ist wegen der meist hoch komplexen Problemkonstellation sinnvollerweise, wenn nicht notwendigerweise ein multidisziplinäres Vorgehen. Dabei ist die Bedeutung von Psychologie offensichtlich, z.B. bei der Analyse der wesentlichen Strukturen und Prozesse von Mediation und bei Vorbereitung, Training und Beratung von MediatorInnen, z.B. durch Unterweisung in effektiver Kommunikation und Problemlösekompetenz (Wessells, 1993).

Bercovitch, Anagnoson & Wille (1991) haben die Relevanz von Mediation bei 79 bewaffneten zwischenstaatlichen Konflikten (Kriterium: Mindestens 100 Tote) von 1945-1989 empirisch analysiert. Bei 44 dieser Konflikte wurde Mediation eingesetzt, bei vielen sogar wiederholt in verschiedenen Konfliktphasen. Das Gesamtergebnis ist ernüchternd. Insgesamt 62 mal wurde Mediation von den Autoren als Erfolg eingeschätzt, 134 mal als Misserfolg und 61 mal wurde sie angeboten, aber nicht akzeptiert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Kriterium »Erfolg« weit definiert wurde: Dazu zählen nicht nur Beendigung des Konfliktes, sondern auch Beginn von Verhandlungen sowie auch schon das Beenden bzw. Unterbrechen der bewaffneten Auseinandersetzung. Bercovitch et al. (1991) leiten aus ihrer Analyse Bedingungen ab, unter denen Mediation mit erhöhter Wahrscheinlichkeit erfolgreich ist. Dazu gehören u.a.

  • geringer Machtunterschied zwischen den Konfliktparteien;
  • geringe Intensität des Konfliktes;
  • Grenzen und Territorium als Konfliktgegenstand (gegenüber ideologischen und Unabhängigkeits-Konflikten, bei denen Mediation erheblich weniger erfolgreich war);
  • Regierungschefs mit hohem Rang und Prestige als MediatorInnen, die zudem Druckmittel einsetzen können;
  • aktive Strategien der MediatorInnen, mit denen u.a. direkt die Kosten und Nutzen für die Parteien beeinflusst werden; Entwickeln eigener Vorschläge, zu deren Annahme die Parteien gedrängt werden.

Mediation ist eine wichtige Form gewaltfreier Konfliktaustragung. Es ist daher eine bedeutsame Aufgabe, die Bedingungen weiter zu erforschen, die ihre Erfolgswahrscheinlichkeit erhöhen.

Mediation und andere gewaltfreie Lösungsstrategien haben vor allem dann eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit, wenn die Konfliktparteien grundsätzlich an einer nicht-militärischen Konfliktaustragung interessiert sind. Das ist häufig nicht der Fall, wenn sich die RepräsentantInnen bzw. Eliten einer Konfliktpartei größeren Gewinn an Macht, Einfluss und materiellen Ressourcen erhoffen, wenn sie den Konflikt gewaltsam austragen und wenn sie dabei von mächtigen Verbündeten ideell und materiell unterstützt werden. Zudem muss beachtet werden, dass viele Konflikte nicht mehr mit militärischen, sondern mit ökonomischen Mitteln ausgetragen werden (z.B. Embargo, Übernahme von Wirtschaftszweigen) – die Folgen für die Zivilbevölkerung aber können ähnlich zerstörerisch sein.

Literatur

Bercovitch, J. (1992): The structure and diversity of mediation in international relations. In J. Bercovitch & J.Z. Rubin, (Eds.) (pp.1-29): Mediation in international relations. Multiple approaches to conflict management (1992). New York, St. Martin's Press.

Bercovitch, J., Anagnoson, J. T. & Wille, D. L. (1991): Some conceptual issues and empirical trends in the study of successful mediation in international relations. Journal of Peace Research, 28, 7-17.

Bercovitch, J. & Rubin, J. Z. (Eds.) (1992): Mediation in international relations. Multiple approaches to conflict management (1992). New York, St. Martin's Press.

Besmer, C. (1993): Mediation – Vermittlung in Konflikten. Karlsruhe, Pazifix.

Carnevale, P. J. (1985) : Mediation of international conflict. In S. Oskamp (Ed.): International conflict and national public policy issues. Applied Social Psychology Annual (Vol. 6, pp 87-106). Beverly Hills, Sage.

Carnevale, P. J. & Pruitt, D. G. (1992) : Negotiation and Mediation. Annual Review of Psychology, 43, 531-582.

Kressel, K. & Pruitt, D. G. (Eds.) (1989): Mediation research. San Francisco, Jossey-Bass.

Rubin, J. Z. (1992): Conclusion: International mediation in context. In J. Bercovitch & J. Z. Rubin (Eds.): Mediation in international relations. Multiple approaches to conflict management (pp 249-272). New York, St. Martin's Press.

Susskind, L. & Babbitt, E. (1992): Overcoming the obstacles to effective mediation of international disputes. In J. Bercovitch & J. Z. Rubin (Eds.): Mediation in international relations (pp. 30-51). New York: St. Martin's Press.

Wessells, M. G. (1993): Psychologische Dimensionen internationaler Mediation. In W. Kempf, W. Frindte, G. Sommer & M. Spreiter (Hrsg.): Gewaltfreie Konfliktlösungen (S. 71-90). Heidelberg, Asanger.

Zartmann, I. W. & Tuval, S. (1985): International mediation. Conflict resolution and power politics. Journal of Social Issues, 41, 27-46.

Der vorliegende Text basiert auf dem Beitrag von Gert Sommer »Internationale Gewalt: Friedens- und Konfliktforschung«, in H. W. Bierhoff und U. Wagner (1998): Aggression und Gewalt. Stuttgart, Kohlhammer.

Dr. Gert Sommer ist Professor für Klinische Psychologie an der Universität Marburg und Vorsitzender des Forum Friedenspsychologie