Der Fluch des »Ressourcenfluchs«


Der Fluch des »Ressourcenfluchs«

Postkoloniale Bedenken zu ökonomischem Determinismus

von Jasper A. Kiepe

Bewaffnete Konflikte im Globalen Süden, insbesondere in Afrika, werden oft mit einem angeblichen »Ressourcenfluch« in Verbindung gebracht. Dieser Begriff ist problematisch, da er in einer rassistischen Tradition steht und vorgibt, das Problem sei im afrikanischen Boden verwurzelt. Zudem macht der Wortgebrauch die kapitalistische Ausbeutung, auf der die Ressourcenausbeutung basiert, sowie die damit verbundene koloniale und neokoloniale Gewalt unsichtbar. Der Begriff steht so einer holistischen Betrachtung von Konflikt, die auch Kritik an den Prämissen des weltweiten Marktes beinhaltet, im Weg.

Bewaffnete Konflikte im Globalen Süden, und damit auch in Subsahara-Afrika, werden oft unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Die unter dem Stichwort »Ressourcenfluch« bekannt gewordene Theorie wurde geprägt von Autor*innen wie Humphreys, Sachs und Stiglitz (2007) sowie Collier (z.B. in Bannon und Collier 2003; Collier und Hoeffler 2004). Sie besagt, in aller Kürze, dass das Vorkommen von Rohstoffen, insbesondere Mineralien und Erdöl, die Entwicklung in Ländern des Globalen Südens hemmt und Konflikte begünstigt.

Kritische Wissenschaftler*innen verweisen dagegen auf die Überbewertung wirtschaftlicher Faktoren und die mangelnde Komplexität der Theorie, die insbesondere wenig Raum für nuancierte Erklärungen multidimensionaler Konflikte lässt (Vogel und Havenith 2014). Andere Autor*innen hinterfragen die Beziehung zwischen der Hypothese des »Fluchs« und den verwendeten empirischen Daten, sowie die Übertragbarkeit der Theorie auf beliebige Staaten (Di John 2011).

Das Bild vom »Ressourcenfluch« hält sich allerdings in der journalistischen Berichterstattung und den Populärwissenschaften – z. B. im Artikel »Der Afrikanische Fluch« in der ZEIT (Berbner, Henk und Uchatius 2018). Hier werden zunächst bedeutungsschwere Fragen aufgeworfen: u.a. „Was ist geschehen, das Afrika so verlassenswert macht?“. Diese werden dann (voller Klischees) in direkten Zusammenhang mit dem Ressourcenfluch gestellt. Auch in der populären Kultur, z.B. im Theaterstück »Das Kongo-Tribunal« (2017) und spätestens seit den Hollywood-Filmen »Blood Diamond« (2006) oder »Lord of War« (2005), hat sich das Bild von den »Blutdiamanten« beim europäischen Publikum verfestigt und sogar die Terminologie des Kimberley-Prozesses, dem internationalen Abkommen über die Ausweisung der Herkunft von Diamanten, geprägt (Vogel und Havenith 2014).

Der Mythos des »Ressourcenfluchs«

Der Begriff »Ressourcenfluch« ist zwar eingängig, aber dennoch aus einer Vielzahl von Gründen problematisch, nicht zuletzt aufgrund der Sprache: »Fluch« (engl. curse) behauptet hier einen von außen zugeschriebenen, pseudo-spirituellen Determinismus, der an eine lange Tradition orientalisierender, rassistischer Außenbezeichnungen anknüpft (Mazrui 2005) und Afrika als einen dunklen, bedrohlichen Ort portraitiert, an dem selbst Reichtum zum Fluch wird.

Die vermeintliche Schicksalshaftigkeit des »Fluchs« verlegt die Verantwortung nach Afrika und macht ihn zu einem Phänomen des Globalen Südens – die Folgen kolonialer und neo-kolonialer Praktiken werden zu einem afrikanischen Problem. Dabei wird nur gelegentlich das Augenmerk auf die Rolle früherer Kolonialmächte oder ihrer Unternehmen gerichtet und dies, ohne die Problematik der damit verbundenen Ausbreitung der globalen Weltwirtschaft anzusprechen. Diese Verschiebung spiegelt eine koloniale Fantasie: dass die Gründe für Krieg, Korruption und Elend quasi im afrikanischen (oder generell tropischen) Boden liegen. Dies ist eine Reproduktion rassistischer, kolonialer Stereotype, die die Menschen Afrikas als »brutale Wilde« darstellten. Gleichzeitig untermauert diese Sicht das problematische – und widerlegte – Klischee vom verarmten, chancenlosen, homogenen Kontinent Afrika.

Ökonomische Kritik des Begriffes

Neben der sprachlichen Problematik des Begriffes, gilt es auch die ökonomische Analyse hinter dem Begriff zu kritisieren. Die gewaltsame Kolonialisierung Afrikas war vor allem ein kapitalistisches Projekt, und dieses hat tiefe Wurzeln geschlagen. Diesen Ursprüngen wird allerdings in vielen Forschungsprojekten und Literatur über die Situation Afrikas keine Aufmerksamkeit entgegengebracht und wenn, dann in einer anderen Verpackung (z.B. Armut; siehe Wiegratz 2018). Die Verantwortung für die Auswirkungen des »Ressourcenfluchs« wird »Afrika« zugeschoben.

Ein solcher Fluch muss aber dazu einladen, über Kapitalismus und Ausbeutung zu sprechen, genauer: über Neokolonialismus. Schon 1965 kritisierte der erste Präsident Ghanas, Kwame Nkrumah (1965, S. IX), „dass das wirtschaftliche System und dadurch die Politik eines Staates von außerhalb kontrolliert sind“.

Somit müssten auch die Triebkräfte des Marktes, die Verantwortung der (nicht nur) europäischen Konsument*innen oder die Verantwortung ehemaliger Kolonialmächte in den Fokus der Analyse gestellt werden. Beispielhaft berechnete ein Bericht einiger Nichtregierungsorganisationen für das Jahr 2014 einen jährlichen Finanzzufluss von 134 Mrd. US$ nach Afrika, vor allem in Form von Krediten, Investitionen und Entwicklungshilfe, bei einem gleichzeitigen Abfluss von 192 Mrd. US$ in Form von Profiten (Health Poverty Action et al. 2014). Dies deutet auf etwas anderes als einen »Ressourcenfluch« hin.

Überdies wird Afrika immer noch als europäisches Privileg verstanden. Die zeitgenössische Sorge über die »chinesische Expansionspolitik«, die sich häufig in populären Debatten findet, ist besonders interessant, scheint sie doch oft nicht Sorge über die Selbstbestimmtheit moderner afrikanischer Staaten zu sein, sondern vielmehr Sorge in Bezug auf »europäische Interessen« in Afrika. Die problematische Rolle europäischer Unternehmen und europäischer Entwicklungshilfe, die oft Hand in Hand mit politischen Forderungen kommt, wird dagegen verharmlost. Häufig wird auch unterschlagen, dass vielerorts Menschen von chinesischen Investitionen profitieren (van Mead 2018). Es scheint sich vielmehr um eine »Gefahr-im-Osten-Rhetorik« zu handeln, die der des »Kalten Krieges« ähnelt; eines Krieges der in den oft vergessenen Stellvertreterkriegen in Angola, in der Demokratischen Republik Kongo oder in Mosambik erschreckend heiß wurde (de Souza 2016).

Der Fluch der Armut: (k)ein Problem Afrikas

Die Bezeichnung »Ressourcenfluch« vernachlässigt außerdem, dass nicht die Ressourcen selbst das Problem darstellen, sondern dass in Regionen, die von struktureller Ungleichheit geprägt sind, Konflikte durch die Dynamik des Marktes (z. B. die Nachfrage nach wertvollen, seltenen Ressourcen) angefacht werden können.

Die Beteiligung am globalen Weltmarkt wurde Afrika in kolonialer Zeit zwangsverordnet. Moderne strukturelle Probleme resultieren aus dieser Zwangsverordnung und sind in der postkolonialen Epoche institutionell verankert in Form von internationalen Organisationen, transnationalen Handelsregimen und auch der Entwicklungshilfe. Zudem werden die Internationalen Organisationen Weltbank und Internationaler Währungsfonds seit Langem heftig kritisiert, u.a. wegen der Untergrabung demokratischer Strukturen in Förderländern oder wegen Menschenrechts- und Nachhaltigkeitsbedenken bei Projekten, und das nicht nur in Subsahara-Afrika (für einen Überblick vgl. Bretton Woods Project 2019).

Der Anschluss postkolonialer Staaten Afrikas an internationale Märkte ist für diese prägend und, so schreibt der Ökonom Kenneth Amaeshi (2015), „stimmt nicht immer mit den Bedürfnissen von Menschen in Afrika überein. Es bleibt übermäßig beeinflusst und wird von Agenden außerhalb des Kontinents bestimmt – ob das nun Europa oder die neuen Weltmächte (zum Beispiel China) sind. Auch wenn die früheren Kolonialmächte sich auf dem Papier verabschiedet haben: Kapitalismus in seiner heutigen, institutionalisierten Form ist ein Exportgut der Kolonialzeit und in modernen Institutionen (politischen Systemen, Regierungen, Bildungssystemen etc.) fest verankert. Die Theorie des »Ressourcenfluchs« lässt außer Acht, dass die Prämissen für Konflikt nicht endogen sind, sondern erst durch ein kapitalistisches System erzeugt wurden.

Diese Kritik ernst zu nehmen hieße, Armut und Chancenlosigkeit als eine problematische Folge des globalen Kapitalismus zu benennen, und diese nicht als ein »Problem Afrikas« zu sehen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Afrika ist nicht per se arm oder chancenlos und war es nie. Weder in einer, in Europa oft vergessenen und als ahistorisch jeder ernsthaften Analyse entzogenen, vorkolonialen Zeit noch seit Beginn des von Anfang an auf Widerstand stoßenden Kolonialismus. Auch die postkoloniale Gegenwart des 21. Jahrhunderts unterliegt der Dynamik von Jahrhunderten systematischer Ausbeutung, Gewalt und kolonialer Vernichtungspolitik, die schwer zu überkommen sind und z. B. in der Demokratischen Republik Kongo in den Tagen nach der Unabhängigkeit durch kleptokratische Eliten fortgeführt wurden (Stearns 2012, S. 338).

Die fragile Gegenwart

Nun bedarf es nicht unbedingt »­großer« Armut und Chancenlosigkeit, um Konflikte zu begünstigen. Es reicht, dass einige Menschen sehr wenig haben – es handelt sich eher um ein Klassen- und Stratifizierungsproblem mit hohem Konfliktpotential. Armut und Chancenlosigkeit sind nicht primär Ursache von bewaffnetem Konflikt, sondern zunächst Symptom des Kapitalismus.

Die Kivu-Region in der Demokratischen Republik Kongo wird oft zitiert als Beispiel für den »Ressourcenfluch« und tatsächlich spielen ökonomische Dimensionen in den Konflikten, die die Region erschüttern, eine große Rolle: Das Land leidet in manchen Teilen unter strukturellen Ungleichheiten, Armut und dem Fehlen kritischer Infrastruktur. Hinzu kommen jedoch auch allerhand weitere Faktoren: mehrere Ebola-Epidemien (die von einigen Autor*innen auch eng mit dem Ressourcenfluch in Zusammenhang gebracht werden; Garrett 2019), Naturkatastrophen, koloniale Geister und ein eingeschränkter zivilgesellschaftlicher Raum. Klar ist, dass die Ursachen von Konflikten in dieser Region extrem komplex sind und sich häufig einer schematischen Betrachtung entziehen (vgl. Kalyvas 2003). Die Fluch-Terminologie dagegen simplifiziert komplexe Konfliktursachen, reproduziert antiquierte »Finsternis«-Metaphern und objektifiziert Menschen als »Verfluchte«, anstatt einer differenzierten Analyse struktureller Probleme – und damit auch einer differenzierten Betrachtung von Konflikt selbst Raum zu geben.

Hinzu kommt die mit dem Fluch verbundene Kurzsichtigkeit, die Menschen ihre Handlungsfähigkeit abspricht. Der Anfang einer differenzierten Betrachtung müsste sein, die DR Kongo insgesamt als fragiles, konfliktanfälliges politisches System zu verstehen, in dem »Political Space« noch verhandelt wird (Vogel et al. 2019), anstatt den Staat einfach als »verflucht« abzutun. Denn genau dieses fragile System und den politischen Handlungsraum seiner Bürger*innen zu stabilisieren ist auch ohne »Fluch« schwierig genug. Umso mehr in einem autokratisch regierten, qua Verfassung vermeintlich hochgradig zentralisierten Land, das, in den Wirren internationaler Politik gefangen, nie richtig die Chance hatte, sich von den kolonialen Zerstörungen zu erholen. Verschiedene bewaffnete Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und regionalen oder internationalen Allianzen tragen zur Instabilität in einer Region bei, in der eine fundamentale Infrastruktur und ein staatliches Gewaltmonopol fehlen (Vogel und Stearns 2018). Eine simplifizierte Konfliktursache (»der Kampf um Konfliktmineralien«) lädt dann schnell zu eurozentrischen, die oben genannten komplexen Zusammenhänge ignorierenden, vereinfachenden Lösungen ein, die ebenfalls zu kurz greifen: z.B. die Forderung, unspezifisch »Governance« nach europäischem Vorbild zu schaffen (Vircoulon 2011).

Fazit: Sprache und Forschung dekolonisieren

Politikwissenschaftler*innen und auch Journalist*innen, Politiker*innen und Künstler*innen müssen sich von einer passiven, mystifizierenden, die Problematik verschiebenden Terminologie lösen. Stattdessen sollte, unter Einbeziehung postkolonialer Kritik und mit kritischem Blick auf die liberale Weltordnung, die Debatte um Konfliktursachen erweitert werden. Dies muss eine Kritik an den institutionellen kapitalistischen Prämissen und an der begrifflichen Verschiebung der Ursachen »nach Afrika« beinhalten. Ein kleiner, jedoch entscheidender Schritt hierzu wäre eine sensiblere Sprache, die nicht länger suggeriert, dass der Konflikt um Rohstoffe ein »afrikanischer Fluch« sei. Gleichzeitig dürfen wirtschaftliche Interpretationen bewaffneter Konflikte nicht länger eine fundamentale Kritik an der internationalen politischen Ökonomie ausblenden.

Literatur

Amaeshi, K. (2015): Why Africa needs capitalism that is aligned with its development needs. The Conversation. 20.10.2015.

Bannon, I.; Collier, P. (2003): Natural resources and conflict. What can we do. In: Bannon, I.; Collier, P. (Hrsg.): Natural Resources and Violent Conflict. Washington, D. C.: The World Bank, S. 1-16.

Berbner, B.; Henk, M.; Uchatius, W. (2018): Der afrikanische Fluch. DIE ZEIT, 20.6.2018.

Bretton Woods Project (2019): What are the main criticisms of the World Bank and the IMF? 4.6.2019.

Collier, P.; Hoeffler, A. (2004): Greed and grievance in civil war. Oxford Economic Papers, Vol. 56, Nr. 4, S. 563-595.

de Souza, A. N. (2016): Between East and West. The cold war‘s legacy in Africa. Al Jazeera. 22.2.2016.

Di John, J. (2011): Is there really a resource curse? A critical survey of theory and evidence. Global Governance, Vol. 17, Nr. 2, S. 167-184.

Garrett, L. (2019): Your cellphone is spreading Ebola. Foreign Policy, 17.4.2019.

Health Poverty Action et al. (2014): Honest Accounts? The true story of Africa’s billion dollar losses. London.

Humphreys, M.; Sachs, J.; Stiglitz, J. (Hrsg.) (2007): Escaping the Resource Curse. New York: Columbia University Press.

Kalyvas, S. (2003): The ontology of »Political Violence«. Action and identity in civil wars. Perspectives on Politics, Vol. 1, Nr. 3, S. 475-494.

Mazrui, A. (2005): The Re-Invention of Africa: Edward Said, V. Y. Mudimbe, and beyond. Research in African Literatures, Vol. 36, Nr. 3, S. 68-82.

Nkrumah, K. (1965): Neo-Colonialism. New York: International Publishers.

Stearns, J. (2012): Dancing in the glory of monsters. The collapse of the congo and the great war of Africa. New York: Public Affairs.

The Fund for Peace (2020): Fragile States Index – Measuring Fragility: Risk and Vulnerability in 178 Countries. Fragility in the World 2020. fragilestatesindex.org.

Van Mead, N. (2018): China in Africa. Win-win development, or a new colonialism? The Guardian, 31.7.2018.

Vircoulon, T. (2019): Behind the problem of ­conflict minerals in DR Congo governance. International Crisis Group, 19.4.2011.

Vogel, C.; Havenith, J. (2014): Beyond greed or grievance: understanding conflict in resource-rich states. African Arguments, 17.4.2014.

Vogel, C.; Stearns, J. (2018): Kivu’s intractable security conundrum, revisited. African Affairs, Vol. 117, Nr. 469, S. 695-707.

Vogel, C.; et al. (2019): Cliches can kill in Congo. Foreign Policy, 30.4.2019.

Wiegratz, J. (2018): The silences in academia about capitalism in Africa. africasacountry.com, 13.12.2018.

Jasper A. Kiepe hat einen Master in Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Konflikte und Menschenrechte von der SOAS University of London, arbeitet bei einer humanitären Hilfsorganisation und beschäftigt sich mit gesamtheitlichen, postkolonialen und intersektionalen Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung.

Das grüne Gold


Das grüne Gold

Konflikte um die Avocado in Mexiko

von Jana Mara Burke, Dana Milena Enss und Friederike Hildebrandt

Die Avocado hat in den letzten Jahren eine Entzauberung erlebt, wie schon viele andere Exportfrüchte vor ihr: Im positiven Bild vom »Superfood«, das für einen gesunden, jungen und weltgewandten Lebensstil steht, haben sich Nachrichten von ökologischen Schäden, Landraub und blutigen Konflikten in den Anbauregionen festgesetzt. Doch die Konsument*innen zeigen sich weitgehend unbeeindruckt: Das globale Exportvolumen der Avocado ist selbst während der Corona-Pandemie weiter gestiegen (Bernal 2020).

Mexiko ist weltweit sowohl der größte Produzent als auch Exporteur von Avocados. Rund 77 Prozent der mexikanischen Produktion befindet sich im Bundesstaat Michoacán (USDA 2019).1 Im Rahmen eines explorativen, ethnographischen Forschungsprojektes in Mexiko im Jahr 2019 wurden daher Gespräche mit Exporteur*innen, Landwirt*innen, Staatsangestellten und Wissenschaftler*innen aus der Region geführt, um ermöglichende Faktoren und Auswirkungen des Avocado­booms nachzuzeichnen.2 Dabei erklärten sich ausschließlich Personen zu Interviews bereit, die Profiteur*innen des Avocadohandels oder externe Beobachter*innen sind.3 In dieser Forschung zeigte sich, dass die Konflikte um das sogenannte »grüne Gold« nicht nur Begleiterscheinung, sondern auch Antrieb des exportorientierten Anbaus in Michoacán sind.

In diesem Artikel werden drei zentrale Konflikte im Kontext des Avocadohandels hervorgehoben: Erstens die nahezu allmächtige Stellung der Produzent*innen- und Exporteur*innenvereinigung APEAM; Zweitens die anhaltenden Gewaltkonflikte im Bundesstaat Michoacán aufgrund der Aktivitäten der Drogenkartelle im Avocadohandel; Drittens die ökologischen und ökonomischen Risiken durch die Avocadoproduktion, die das Fortbestehen des Avocadoexportbooms an sich gefährden.

Die Geschichte des modernen Avocadoanbaus in Michoacán beginnt mit einem Naturereignis: Dort, wo heute das Hauptanbaugebiet für Avocados liegt, entstand 1943 der jüngste Vulkan Amerikas, der Paricutín. An dessen Hängen herrschen Mikroklimata, die jährlich bis zu vier Blütezeiten der Avocadobäume und damit eine ganzjährige Ernte ermöglichen. Im Rahmen eines von 1942 bis 1964 bestehenden Farmarbeiterabkommens priorisierte Mexiko in Folge des Vulkanausbruchs die Entsendung von Arbeiter*innen aus Michoacán in die USA. Interviewte betonten, dass besonders aus diesen Familien heutzutage Remissen zurück in die Heimatregion fließen und in Avocadoplantagen investiert werden.

Die großflächige Avocadoproduktion entstand allerdings erst in den 1990er Jahren: Bis dahin wurde sie vom sogenannten »ejido-System« eingeschränkt. Ejidos sind in Parzellen geteiltes genossenschaftliches Gemeindeland, das in Michoacán insbesondere den indigenen Gemeinden der Purépecha zugeschrieben wird und bis 1992 unverkäuflich war. Mit der neoliberalen Politik des Präsidenten Salinas de Gortari in den 1990er Jahren wurden der Verkauf und die Verpachtung von Gemeindeland und damit die großflächige agrarindustrielle Produktion möglich. Mit diesem Wandel der Wirtschaftspolitik stieg auch der finanzielle Druck auf die Parzellenbesitzer*innen, ihr Land entweder landwirtschaftlich effizient zu nutzen oder abzugeben.

Die zentralisierte Macht des Verbandes APEAM

Trotz stark begünstigender Faktoren auf lokaler Ebene, wurde Michoacán im Avocadohandel erst durch Abkommen mit den USA, als größtem Abnehmer, international erfolgreich. Diese Verhandlungen rücken den einflussreichsten Akteur im Avocadohandel Michoacáns in den Mittelpunkt: Die Asociación de Productores y Empacadores Exportadores de Aguacate de México, kurz APEAM. Bis 1997 galt in den USA für Avocados aus Mexiko ein Einfuhrverbot zum Schutz vor Schädlingen. Seit 2007 ist der Export mexikanischer Avocados in alle US-Bundesstaaten erlaubt, bisher allerdings nur aus Michoacán. APEAM war von Beginn an den Verhandlungen beteiligt und ist ein zentrales Scharnier für den gesamten Handel. Der Verband fungiert als Kooperationspartner zwischen dem mexikanischen und dem US-amerikanischen Agrarministerium und den jeweiligen Behörden für Lebensmittelsicherheit. Außerdem erfüllt er die Funktion der Qualitätssicherung für den US-amerikanischen Markt, vergibt Zulassungen für neue Produktionen und Verpackungsstationen und ist an der Preissetzung beteiligt. Ein Interviewpartner, Experte für den mexikanischen Agrarsektor, bewertete APEAM als entscheidenden Faktor für die starke Position der mexikanischen Avocados auf dem US-amerikanischen Markt. Für alle Produzent*innen und Exporteur*innen in Mexiko bildet er ein unumgängliches Nadelöhr, um Avocados exportieren zu können. Kleinproduzent*innen, die sich die Mitgliedschaft bei APEAM nicht leisten können, verkaufen ihre Avocados häufig an andere, größere Produzent*innen, die sie dann über APEAM exportieren.

Gleichzeitig ist der Verband einer der Akteure, die im Avocadohandel Konflikte auszulösen oder zumindest zu fördern scheinen. Die Mitgliedsbeiträge seien, laut einiger Interviewten, so hoch, dass sich nur große Produzent*innen diese leisten könnten, womit Landwirt*innen kleinen Landbesitzes systematisch vom internationalen Handel mit den USA ausgeschlossen werden. Interviewte Wissenschaftler*innen warfen dem Verband zudem Intransparenz und undemokratische Entscheidungen vor. Einen Streik mehrerer Produzent*innen gegen zu niedrige Grundpreise beispielsweise beendete APEAM im Jahr 2018 mit dem schlichten Verweis auf den Arbeitsplan, an den alle beteiligten Parteien gebunden seien, ohne danach den Preis zu verändern. Hinzu kommt der geäußerte Verdacht, dass der Verband enge Beziehungen zu den Gruppen organisierter Kriminalität hat, die in Michoacán den Drogenhandel kontrollieren. Der Hauptsitz APEAMs in Uruapan, der Hochburg der Drogenkartelle, bestärkt diesen Eindruck laut einer Wissenschaftlerin.4

Drogengeld im Superfood

Schon vor dem internationalen Erfolg der Avocado war Michoacán ein strategischer Standort für die Produktion von Drogen und für den Schmuggel primär in die USA. Das Geschäft wird von konkurrierenden Gruppen der organisierten Kriminalität kontrolliert und führt kontinuierlich zu gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Gruppen und mit der Zivilbevölkerung. Im Jahr 2011 erreichte nicht nur das Geschäft mit den Avocados einen Höhepunkt, sondern auch die Mordrate durch Beteiligte am Drogenhandel in Mexiko und Michoacán. Der damalige Präsident Calderón hatte zu Beginn seiner Amtszeit im Jahr 2006 dem Drogenhandel den Krieg erklärt, was die Sicherheitslage jedoch weiter destabilisierte. Laut eines Wissenschaftlers aus der Region wurde Michoacán so zu einer »Kriegszone«.

Die Befragten wiesen mehrheitlich auf die Verwobenheit der organisierten Kriminalität mit dem Avocadosektor hin. Drogenhändler*innen profitieren demnach auf mehreren Ebenen von diesem Geschäft. Da die Bäume bis zur ersten fruchttragenden Blüte mindestens drei Jahre wachsen müssen, sind einige Jahre lang Investitionen nötig, bevor mit den Avocados Gewinne erzielt werden können. Neue Plantagen eignen sich daher zur Geldwäsche. Drogenkartelle nutzen und profitieren zudem von der für den Avocadohandel ausgebauten Infrastruktur, die sie für den Transport von Drogen nutzen (mitunter in der Avocadofracht versteckt).

Hier stellt sich auch die Frage, inwieweit Drogenkartelle den Ausbau der Infra­struktur genau für diese Zwecke förderten. Zudem erwies sich das Geschäft mit den Avocados bislang als so lukrativ, dass sich einige Gruppen sogar vom Drogenhandel abwandten, um sich auf Schutzgeld­erpressung bei Avocadoproduzent*innen und den eigenen Anbau zu konzentrieren. Die Zeitung »El Universal« berichtet, dass zwischen 2009 und 2013 umgerechnet etwa 454 Millionen Euro von Drogenkartellen aus dem Avocadohandel „gestohlen“ wurden (Carrión 2014).

Einige Gemeinden reagierten ab 2013 auf die zunehmende Gewalt (z.B. Schutzgelderpressungen, Besetzung von Avocadofeldern, Angriffe gegen die Zivilbevölkerung, erzwungener Transport von Drogen in Avocadotransporten) mit dem Aufbau von Selbstverteidigungsstrukturen, sogenannten »autodefensas«, um sich und ihr Avocadogeschäft unabhängig von staatlichen Sicherheitskräften vor den Drogenkartellen zu schützen, wie ein Avocadoproduzent berichtete. Allerdings sind die Motive der autodefensa-Gruppen nicht immer klar skizzierbar, da einige selbst Strukturen organisierter Kriminalität aufbauen (Asfura-Heim und Espach 2013, S. 144).

Trotz dieser Sicherheitslage bedient Michoacán zuverlässig die Weltmarktnachfrage nach Avocados. Mehrere Befragte betonten, dass die Präsenz organisierter Kriminalität zwar für die Bevölkerung Unsicherheit schaffe, aber die wirtschaftliche Lage insgesamt stabil halte, da auch die Kartelle ein Interesse am Erfolg der Avocadoproduktion haben. Durch die Machtstrukturen der Drogenkartelle wird die staatliche Präsenz geschwächt, was einen noch ungehemmteren Wirtschaftsraum schafft, in dem Beschränkungen im Avocadosektor, beispielsweise Abholzungsverbote oder andere ökologische Auflagen, verhindert oder umgangen werden können.

Ambivalenter Wohlstand

Die Avocado hat Michoácan grundlegend verändert. Im Januar 2020 wurde international über den Mord am Umwelt­aktivisten Homero Gómez González (Gurk 2020) berichtet, der sich für den Schutz des berühmten Monarchfalters in Michoacán einsetzte, der zusehends durch die Entwaldung zugunsten des Avocadoanbaus bedroht wird. Trotz dieser Gewalt gegen die Zivilbevölkerung ist der ökonomische Wohlstand im Bundesstaat massiv gestiegen. Besonders in Infrastruktur, Bildung und Grundversorgung wurde investiert. Obwohl die neoliberalen Reformen seit den 1990er Jahren explizit ausländische Investitionen fördern, betonten die Befragten, dass das Kapital in der Avocadoproduktion zum größten Teil auf mexikanische Investor*innen und die Diaspora in den USA zurückgehe.

Die Aussagen der Interviewten deuten darauf hin, dass die gesamte Bevölkerung in Michoacán danach zu streben scheint, ein Stück vom »Superfood-Kuchen« abzubekommen. Doch das bleibt besonders Kleinbäuer*innen und weniger privilegierten Teilen der Bevölkerung einerseits durch den zunehmenden finanziellen Druck, Gemeindeland zu verkaufen oder zu verpachten, andererseits durch die Position APEAMs als Export-Nadelöhr sowie durch den hohen Investitionsaufwand verwehrt.

Es ist ebenfalls fraglich, ob der Wohlstand durch den Avocadohandel nachhaltig ist. Die Nachfrage nach der Avocado ist konstant, jedoch hat die Erfahrung mit anderen globalen Exportfrüchten gezeigt, dass politische Regulierungen in den Importländern einem Sektor langfristig schaden können.5 Zudem werden die ökologischen Grenzen der Avocado-Monokultur zusehends deutlich. Es scheint, als sei der Ausweitung der Avocadomonokulturen vor allem eine natürliche Grenze gesetzt. Interviewte berichteten von ihren Beobachtungen, dass die zunehmende Entwaldung für den Anbau sowie der Klimawandel die Mikroklimata verändern, die für das Wachsen der Avocadobäume entscheidend sind. Damit ist gleichzeitig die Monopolstellung Michoacáns im Avocadohandel gefährdet, was den Interviewten sowohl bewusst war als auch Sorgen bereitete. Weder der mexikanische Staat, die US-amerikanischen Importeure noch die Avocadoproduzent*innen möchten das Wachstum bislang freiwillig einschränken. Auch APEAM tut alles, um das gute Image der Avocado auch für die Zukunft zu bewahren. Denn ein Boykott durch Konsument*innen wäre für den Absatz gefährlich. Der Befragte des Verbands beschrieb deutlich, dass Mexiko zur Zeit die Oberhand auf dem US-amerikanischen Markt habe, aber konkurrierende Anbieter aus anderen Ländern in den Startlöchern stünden, sollte das Angebot aus Mexiko aus politischen, ökologischen oder sozialen Gründen einbrechen.

Es zeigt sich, dass die beschriebenen Konflikte um die Avocado den steigenden Umsätzen nicht schaden, sondern im Gegenteil stabile Strukturen für den Export und ökonomischen Wohlstand für Michoacán zu schaffen scheinen. Während Großproduzent*innen, der Verband APEAM oder auch Drogenkartelle am Handel verdienen und Konsument*innen im Globalen Norden damit immer Zugriff auf frische Avocados haben, schafft das „grüne Gold“ jedoch auch Ungleichheiten und Unterdrückungsstrukturen bis hin zu direkter Gewalt in Michoacán.

Anmerkungen

1) Trotz der steigenden medialen Aufmerksamkeit um die Avocado gibt es zur Thematik bisher nur wenige wissenschaftliche Publikationen im sozialwissenschaftlichen Kontext.

2) Die ganze Forschungsarbeit ist als Working Paper im Fachgebiet Demokratieforschung am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg erschienen (Burke et al. 2021).

3) Zur persönlichen Sicherheit der Befragten wurden alle Interviewten stark anonymisiert.

4) Spezifische Aussagen über die Verwebungen von Drogenkartellen mit dem Avocadohandel wurden von den Interviewten zu ihrer persönlichen Sicherheit trotz starker Anonymisierung vermieden und nur angedeutet.

5) Nachdem die Nutzung von Palmöl in europäischem Biodiesel von der EU verboten wurde, drohte der Sektor in den Hauptanbauländern Indonesien und Malaysia wegzubrechen (Hein 2019).

Literatur

Asfura-Heim, P.; Espach, R. (2013): The Rise of Mexico’s Self-Defense Forces. Vigilante Justice South of the Border, Foreign Affairs, Jg. 92, No. 4, S. 143-150.

Bernal, R. (2020): Mexican avocado imports booming during pandemic. The Hill, 02.12.2020.

Burke, J. M. et al. (2021): Der Avocado-Boom in Mexiko: Eine explorative Forschung, Working Paper 19, Forum. Demokratieforschung – Beiträge aus Studium und Lehre, Philipps-Universität Marburg.

Carrión, L. (2014): Templarios controlaron aguacate. El Universal, 08.08.2014.

Gurk, Ch. (2020): Der Beschützer der Schmetterlinge ist tot. Süddeutsche Zeitung, 21.01.2020.

Hein, Ch. (2019): Südostasien schlägt zurück im Palmölstreit mit der EU. FAZ, 11.04.2019.

USDA (2019): Avocado Annual. Foreign Agricultural Service, U.S. Department of Agriculture.

Jana Mara Burke hat einen Bachelor der Vergleichenden Kultur- und Religionswissenschaft und studiert im Master Friedens- und Konfliktforschung.
Dana Milena Enss hat einen Bachelor in Politikwissenschaft und einen Master in International Development Studies.
Friederike Hildebrandt hat einen Master in International Development Studies und einen Bachelor der Volkswirtschaftslehre.

Geopolitik der Energiewende


Geopolitik der Energiewende

Infrastrukturen für den nachhaltigen Frieden

von Jürgen Scheffran

Geopolitische Konflikte im fossil-­nuklearen Zeitalter haben das vergangene Jahrhundert bestimmt und prägen auch das 21. Jahrhundert. Mit dem Ende des fossilen Kapitalismus nehmen Krisen zu. Die Alternative »Krieg um Öl« oder »Frieden durch Sonne« betrifft neben dem Wandel der Energieversorgung auch einen Systemwandel. Erneuerbare Energien gelten als konfliktärmer, sind jedoch nicht konfliktfrei. Eine sozial-ökologische Transformation geht einher mit Infrastrukturen einer nachhaltigen Friedenssicherung und schafft kooperative Strukturen auf allen Ebenen.

Energie ist wesentlich für Entwicklung und Wohlstand, kann aber auch Risiken verursachen. Physikalische Kräfte können in politische Macht umgewandelt werden. Energiemangel wird als Sicherheitsbedrohung wahrgenommen. Konflikte erwachsen aus dem Missbrauch von Energie und ihrer ungerechten Verteilung. Gewaltkonflikte erschweren den Zugang zu Energieressourcen, während das Energiesystem selbst Ziel oder Mittel von Angriffen und Widerstand sein kann. Die Komponenten des fossil-nuklearen Energiesystems haben immer wieder internationale Konflikte provoziert. Im 19. Jahrhundert waren Kohle und Dampfkraft Macht- und Konflikttreiber, im 20. Jahrhundert Öl und Erdgas, zunehmend auch die Kernenergie. Auch im 21. Jahrhundert ist Energie eine Voraussetzung für die Durchsetzung nationaler Interessen, aber auch für Kooperation.

Die Transformation von fossilen zu erneuerbaren und kohlenstoffarmen Energieformen kann die globalen Machtverhältnisse verändern. Geopolitische Konfliktlinien verschieben sich mit wachsendem Energiebedarf, abnehmenden Brennstoffreserven und ungleicher Verteilung, zunehmenden Umweltschäden und Klimawandel sowie Nord-Süd-Differenzen. Komplexe Konfliktkonstellationen zeigen sich in jüngsten Streitigkeiten. So wurde die Gaspipeline zwischen Europa und Russland zum Spielball im Fall Nawalny. Territorialkonflikte im Südchinesischen Meer, zwischen Türkei und Griechenland im östlichen Mittelmeer oder in der Arktis haben auch mit vermuteten Gas- und Ölvorräten zu tun. Der Bedarf an strategischen Materialien für die Energiewende schafft neue Konfliktmuster.

Produktionsketten und Handelsströme

Länder mit fossilen Brennstoffen verfügen über erhebliche Macht und Gewinne, die in die sozioökonomische Entwicklung, aber auch in militärische Fähigkeiten investiert werden. Mit der Energiewende und Dekarbonisierung verlieren sie an geopolitischem Einfluss und geraten in die Defensive. Damit verbunden sind steigende Preise fossiler Brennstoffe und sinkende Einnahmen. Verstärkt durch schwache Regierungsführung kann dies zu einem Machtvakuum führen, mit sozialen Unruhen, Rechtspopulismus, Machtkämpfen und Gewalt, die sich über Landesgrenzen ausbreiten. Der Zerfall der Sowjetunion dient hier als Beispiel.

Einige ölexportierende Länder verfolgen das Ziel, von den Ölrenten weniger abhängig zu werden und ihre Wirtschaft zu diversifizieren. Der rasche Anstieg erneuerbarer Energien transformiert die geopolitische Landkarte. Zunehmend werden sie vom Wettlauf um technologische Innovation und Dominanz erfasst. Die meisten Länder verfügen über ein tragfähiges Potenzial erneuerbarer Energien, um von fossilen Brennstoffen unabhängig zu werden, Energiesicherheit und eine bessere Handelsbilanz zu schaffen. Eine Transformation bietet für diese Länder strategische Vorteile, macht sie weniger anfällig gegen Versorgungsengpässe und Preisschwankungen, politische Instabilität, Terroranschläge und bewaffnete Konflikte. Eine vollständig erneuerbare Stromversorgung ist technisch machbar, wenn verschiedene Quellen zur Verfügung stehen und die Variabilität der Stromerzeugung im Netz durch einen Energiemix abgefedert wird.

Globale Verschiebungen

Nachdem die USA über Jahrzehnte von Öl und Gas aus konfliktreichen Regionen abhingen, konnten sie durch Fracking und Schiefergas einen großen Teil ihres Energiebedarfs selbst decken und wurden zum Nettoexporteur von Erdgas, zunehmend auch von Erdöl. Auch wenn die Regierung Trump weiter auf fossile Energien setzt, arbeiten Teile der USA an der Energiewende und nutzen dabei technologische Fähigkeiten der US-Industrie.

Die Europäische Union kann die Abhängigkeit durch fossile Brennstoffe mit erneuerbaren Energien mindern und ihre technologischen Fähigkeiten nutzen. Deutschland wurde zum Vorreiter der Energiewende und ist in Europa bei Patenten für erneuerbare Energien führend. Island entwickelte sich mit dem Ausbau erneuerbarer Energien von einem der ärmsten Länder Europas zu einem Land mit hohem Lebensstandard, das seine Elektrizität aus Wasserkraft und Erdwärme gewinnt. Ähnliche Vorteile eröffnen sich in Japan. Große Herausforderungen bedeutet die Energiewende für Russland, den weltweit größten Gas- und zweitgrößten Ölexporteur. Öl- und Gaseinnahmen sind mit rund 40 % ein wichtiger Bestandteil des Staatshaushalts. Obwohl Russland zunehmend in erneuerbare Energien investiert, liegt es bei den Patenten weit zurück.

China verfügt zwar über große Kohleressourcen, ist aber von Gas- und Ölimporten abhängig. Da eine Energiewende der eigenen Energiesicherheit dient, fördert die Regierung seit Jahren Innovationen in erneuerbare Energietechnologien. Mit mehr als 45 % der weltweiten Investitionen war China 2017 der weltweit größte Produzent, Exporteur und Installateur von Sonnenkollektoren, Windturbinen, Batterien und Elektrofahrzeugen. Zudem hat es eine Vorreiterrolle bei Technologien, wie Silizium-Photovoltaik-Modulen oder Lithium-Ionen-Batterien, und ist führend bei den Patenten für erneuerbare Energien. Das Infrastrukturprojekt einer »neuen Seidenstraße« stärkt Chinas geostrategische Position.

Nordafrika und Nahost

Die MENA-Region (Middle East, North Africa) ist reich an fossilen Brennstoffressourcen, die eine wichtige Einkommensquelle bilden, ist damit aber auch besonders verwundbar gegen Einnahmenverluste, die sich negativ auf Wirtschaftswachstum und Staatseinnahmen auswirken. Die Abhängigkeit hat zu gewaltsamen Konflikten beigetragen, die Ressourcen absorbieren, die Demokratie untergraben und Umweltschäden verursachen. Ein Teil der Einnahmen wurde verwendet, um den Zugang zu Wasser und Nahrungsmittelimporten zu sichern. Um bei Erschöpfung fossiler Reserven damit verbundene Instabilitäten zu vermeiden, ist die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern, die den für die Region bedrohlichen Klimawandel fördern. Die wachsende Energienachfrage lässt sich nicht mit Kernenergie befriedigen, auch wegen ihrer militärischen Sicherheitsrisiken in dieser konfliktträchtigen Region.

Der MENA-Raum verfügt über hohe Potenziale an Sonnenenergie und Windkraft. Mit dem Desertec-Konzept entstand die Vision einer Energiezusammenarbeit zwischen Europa und MENA, die erneuerbare Energiesysteme rund um das Mittelmeer über ein Stromnetz verbindet, um verschiedene Ziele zugleich zu erreichen (Energiesicherheit, Klimaschutz, Entwicklung, Arbeitsplätze, Versorgung mit Wasser und Nahrung). Aufgrund der Destabilisierung durch den Arabischen Frühling konnte das Konzept nicht realisiert werden. Einzelne Staaten planen jedoch, die erneuerbaren Potentiale stärker zu nutzen. Marokko will bis 2030 etwa die Hälfte des Stroms aus erneuerbaren Quellen liefern und zum Nettoexporteur von Elektrizität werden.

Perspektiven für den Globalen Süden

Auch andere Entwicklungsländer können von der Nutzung erneuerbarer Energie profitieren, um ihre Ölabhängigkeit zu senken, den Klimawandel zurückzudrängen und die Resilienz zu stärken. Die eingesparten Importkosten lassen sich in neue Technologien investieren. Indien gehört zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften und könnte China bald als weltgrößten Wachstumsmarkt im Energiebereich überholen. Geplant ist ein massiver Ausbau erneuerbarer Energien.

Auch in vielen Ländern Subsahara-­Afrikas lassen sich durch die eigenständige Erzeugung erneuerbarer Energien Arbeitsplätze schaffen und Entwicklung vorantreiben. Probleme ergeben sich für Ölproduzenten, wie Nigeria und Angola, die bei einer Energiewende große Einnahmeverluste fürchten. Ob es gelingt, das fossile Entwicklungsmodell zu überspringen, hängt auch davon ab, ob Staaten der Verlockung schnellen Reichtums durch neu entdeckte fossile Ressourcen folgen.

Die gilt auch für den Ölboom in einigen Staaten Lateinamerikas, die sich durch den Fall Venezuelas nicht abschrecken lassen. Viele haben große Ressourcen erneuerbarer Energien. Am bekanntesten ist das brasilianische Ethanolprogramm, das nach dem Ölschock 1973 eingeführt wurde, um die Energieautarkie zu stärken. Heute ist Brasilien der zweitgrößte Produzent und größte Exporteur von Ethanol. Kleine Inselstaaten, die durch den Klimawandel besonders bedroht sind, versuchen mit ihren erneuerbaren Energiequellen den Großteil ihres heimischen Energiebedarfs zu decken.

Konfliktpotentiale der Energiewende

Eine nachhaltige Energiewende vermeidet die für fossil-nukleare Energiesysteme typischen Konflikte. Beispiele sind Liefer­embargos des OPEC-Kartells im Gefolge des arabisch-israelischen Konflikts, Machtkämpfe um Pipelines oder Kriege um Öl am Persischen Golf. Mit einer Energiewende könnte auf militärische Operationen, Stützpunkte und Streitkräfte zur Sicherung fossiler Ressourcen verzichtet werden. Teile des Militärs versuchen, erneuerbare Ressourcen in ihre Planungen einzubeziehen.

Erneuerbare Energieträger und ihre Infrastrukturen sind jedoch nicht konfliktfrei. Sie benötigen wichtige natürliche Ressourcen (Land, Wasser, Nahrungspflanzen, Mineralien), deren konkurrierende Nutzungen Spannungen hervorrufen. Umweltauswirkungen führen zu meist lokalen Protesten und Widerständen in der Bevölkerung, gegen Stromnetze, Staudämme, Bioenergie, große Windkraft- und Solaranlagen.

Die Verbreitung erneuerbarer Energien erhöht die Elektrifizierung und stimuliert den Stromhandel, was regionale Kooperation und den Ausgleich zwischen Energiequellen fördert; Verbundnetze gibt es auf praktisch allen Kontinenten. Die Möglichkeit, Stromnetze kontrollieren, abschalten oder zerstören zu können, mag als Bedrohung angesehen werden, eignet sich aber nur bedingt als Druckmittel, solange Staaten auf verschiedene Weise Strom beziehen können. Regulierungen können die Risiken minimieren.

Kritische Materialien und Cyber-Sicherheit in Energienetzen

Es spricht einiges dafür, dass durch die Energiewende geopolitische Instrumente an Bedeutung verlieren, aber nicht verschwinden. Auch wenn ein „Embargo gegen die Sonne“ (Jimmy Carter) nicht möglich ist, könnten neue Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten entstehen. Sonnenkollektoren, Windturbinen, Elektrofahrzeuge und Energiespeicher benötigen für ihre Herstellung nicht-­erneuerbare Mineralien und Metalle, wie Kobalt, Lithium, Gallium und Seltene Erden. Davon finden sich große Reserven in Lateinamerika und Afrika, in China, Süd- und Südostasien sowie am Meeresboden. Oft handelt es sich um fragile oder autoritäre Staaten. Mehr als 60 % des weltweiten Kobaltvorrats stammen aus der Demokratischen Republik Kongo. In Kolumbien beuteten bewaffnete Gruppen illegale Rohstoffvorkommen aus. Strategien zur Kontrolle von Konfliktmineralien zielen auf eine Verbesserung der Transparenz entlang globaler Lieferketten.

Länder mit reichen Vorkommen kritischer Materialien könnten ihre Macht nutzen. Als der größte Produzent China 2008 die Lieferung von Seltenen Erden einschränkte, gerieten die Märkte in Panik, und die Preise stiegen stark an. Obwohl sie weltweit reichlich vorkommen, sind Abbau und Produktion der Materialien teuer, umweltschädlich und mit Preisschwankungen verbunden, was andere Länder bislang abgehalten hat. Zudem gibt es Alternativen, wenn auch zu höheren Kosten. Zunehmend wird darauf gesetzt, kritische Mineralien in einer Kreislaufwirtschaft zu recyceln und wiederzuverwenden, was einer Kartellbildung entgegenwirkt.

Für die globale Machtprojektion entscheidend ist die Kontrolle der Netzinfra­struktur, die physische Vermögenswerte ebenso umfasst wie virtuelle Verbindungen, die sich mit der Digitalisierung des Energiesektors vervielfachen. Dies schafft Risiken für Sicherheit und Datenschutz, durch kriminelle Gruppen, Terrorist*inn en oder auswärtige Geheimdienste, die Versorgungs- und Stromnetze manipulieren. Oft zitiert wird der Cyberangriff auf das Stromnetz der Westukraine im Dezember 2015, wodurch mehr als 230.000 Menschen bis zu sechs Stunden im Dunkeln blieben. Konsequenzen sollen mit »Smart Grids« minimiert oder durch Gegenmaßnahmen und Regeln eingedämmt werden. Zukünftige Energiepfade sind systematisch anhand geeigneter Kriterien zu bewerten und zu vergleichen

Neue Allianzen in Energielandschaften

Erneuerbare Energien ermöglichen Allianzen aus Staaten, transnationalen und substaatlichen Akteuren (Bürger*innen, Städte und Unternehmen). In der neuen Energiediplomatie geht es um Partnerschaften in nachhaltigen Energielandschaften, mit Verbindungen zwischen Stadt und Land, globalen Netzen und regionalen Märkten. Um den üblichen Konzentrations- und Akkumulationsprozessen im Kapitalismus entgegenzuwirken, braucht es einen Systemwandel mit der partizipativ-demokratischen Kontrolle von Machtstrukturen. Chancen bestehen durch die Verbindung von dezentralen Energiesystemen und interkontinentalen Verteilungsnetzen, die die Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern fördern. Daran können alle als »Prosumer« (Produzenten und Konsumenten) mitwirken, die ein Dach oder etwas Land besitzen, um Energie zu produzieren, für den Eigenverbrauch oder für das Netz.

In einer solchen »Viable World« werden die Menschen im Sinne von »Power to the People« befähigt, die sozial-ökologische Transformation mit anderen zusammen in die eigenen Hände zu nehmen. Wenn Konflikte durch die Kohabitation der Nationalstaaten im gemeinsamen Haus der Erde bewältigt werden, kann die globale Energietransformation eine nachhaltige Friedensdividende erzeugen.

Literatur

Alt, F. (2002): Krieg um Öl oder Frieden durch die Sonne. Riemann-Verlag.

Bazilian, M. et al. (2019): Model and manage the changing geopolitics of energy. Nature, Vol. 569, S. 29-31.

Economist (2020): 21st century power – How ­clean energy will remake geopolitics. The Econo­mist, 19.9.2020, S. 19-25.

Hafner, M.; Tagliapietra, S. (2020): The Geopol­itics of the Global Energy Transition. Cham: Springer.

IANUS (1996): Energiekonflikte – Kann die Menschheit das Energieproblem friedlich lösen? W&F-Dossier 22.

IRENA (2019): A New World – The Geopolitics of the Energy Transformation. International Renewable Energy Agency.

Link, P.M.; Scheffran, J. (2017): Impacts of the German Energy Transition on Coastal Communities in Schleswig-Holstein, Germany. Regions Magazine, Vol. 307, Nr. 1, S. 9-12.

O’Sullivan, M.; Overland, I.; Sandalow, D. (2017): The Geopolitics of Renewable Energy. Working Paper, Harvard Kennedy School.

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Scheffran, J.; Froese, R. (2016): Enabling environments for sustainable energy transitions. In: Brauch, H.G. (ed.): Handbook on Sustainabil­ity Transition and Sustainable Peace. Cham: ­Springer, S. 721-756.

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Tänzler, D.; Oberthür, S.; Wright, E. (2020): The Geopolitics of Decarbonization – Reshaping European foreign relations. Berlin: adelphi.

Vakulchuk, R.; Overland, I.; Scholten, D. (2020): Renewable energy and geopolitics – A review. Renewable and Sustainable Energy Reviews, Vol. 122, 109547.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.

Welthunger nach Rohstoffen


Welthunger nach Rohstoffen

Soziale und umweltpolitische Konflikte um Ressourcen in der Tiefsee

von Ulrike Kronfeld-Goharani

In den vergangenen Jahrzehnten ist der weltweite Bedarf an Rohstoffen rasant gewachsen. Computer, Flachbildschirme, Hybridfahrzeuge, Windkraft- und Solaranlagen – alle brauchen große Mengen an Metallen.1 Die mineralischen Rohstoffe werden heute fast ausschließlich in Bergwerken unter Tage oder im Tagebau gewonnen. Zwar kann der Vorrat der Reserven an Land die derzeitige Nachfrage decken, aber steigende Rohstoffpreise und ein schwieriger werdender Abbau in schwer zugänglichen Regionen oder in politisch instabilen Staaten haben die mineralischen Rohstoffe der Tiefsee verstärkt in den Fokus gerückt. Für Staaten – im Folgenden solche im Südpazifik –, die Landnutzungskonflikten aus dem Weg gehen oder sich eine größere Unabhängigkeit von Exportnationen verschaffen wollen, erscheint die Tiefsee als willkommene Möglichkeit. Allerdings birgt der Tiefseebergbau auch ein erhebliches Konfliktpotential.

In der Tiefsee sind drei verschiedene Typen von Rohstofflagerstätten von Interesse: Manganknollen, Kobaltkrusten und Massivsulfide. Die kartoffelförmigen Manganknollen setzen sich aus verschiedenen Metallen zusammen, u.a. Mangan, Eisen, Kobalt und Kupfer, und sind unterhalb von 4.000 Metern auf dem Meeresboden verstreut zu finden.

Bei den Kobaltkrusten handelt es sich um Ablagerungen von Mangan, Eisen, Kobalt, Kupfer, Nickel, Platin und Spurenmetallen auf vulkanischen Substraten, die in 1.000-3.000 Metern Tiefe an den Flanken submariner Vulkane auftreten. Sie sind wegen ihres relativ hohen Kobaltgehaltes attraktiv. Manganknollen und Kobaltkrusten wachsen nur wenige Millimeter pro eine Million Jahre und zählen somit zu den nicht erneuerbaren Ressourcen (World Ocean Review 2014, S. 68, 74).

Massivsulfide sind erkaltete Schwefelverbindungen, die sich in 500-4.000 Metern Tiefe in der Umgebung von heißen, mineralienreichen Tiefseequellen abgelagert haben und wegen ihres hohen Wertstoffgehalts an Kupfer, Gold, Silber und Zink von Bedeutung sind.

Bisher kein kommerzieller Tiefseebergbau

Noch findet kommerzieller Tiefseeberg­bau nicht statt, zum einen, weil die Produktion an Land den Bedarf noch decken kann, zum anderen, weil der Abbau in der Tiefsee extrem teuer, technisch kompliziert und bisher unwirtschaftlich ist. So müssen für den Bergbau in Wassertiefen bis zu 4.000 Metern spezielle Fördertechniken entwickelt werden. Als besonders schwierig gilt der Abbau von Mineralien an den schroffen und steilen Flanken von unterseeischen Vulkanen. Dennoch haben viele Staaten, vorwiegend reiche Industrieländer, Erkundungslizenzen erworben. Besonders gefragt ist das pazifische Manganknollengebiet der Clarion-Clipperton-Zone zwischen Hawaii und Mexiko im Zentralpazifik. Geschätzt wird, dass hier rund fünf Milliarden Tonnen Mangan vorkommen, das Zehnfache von dem, was heute auf dem Land wirtschaftlich abbaubar ist (World Ocean Review 2014, S. 93).

Ist also ein Goldrausch in der Tiefsee zu befürchten? Wer könnte sich daran beteiligen? Wie sind die Nutzung der Unterwasserwelt und die Vergabe von Bergbaulizenzen geregelt?

Die Internationale Meeresbodenbehörde

Völkerrechtlich macht es einen Unterschied, ob der Meeresbergbau in den Hoheitsgewässern eines Staates stattfindet oder auf dem Meeresboden im Bereich der Hohen See, die gemäß Art. 136 Seerechtsübereinkommen (SRÜ) als gemeinsames Erbe der Menschheit gilt. Zuständig für die Vergabe von Erkundungslizenzen auf der Hohen See ist die Internationale Meeresbodenbehörde (IMB), eine eigenständige internationale Organisation, die 1994 mit Inkrafttreten des SRÜ in Kingston, Jamaica, eingerichtet wurde.

Das SRÜ, bisher von 168 Staaten und der Europäischen Union ratifiziert, regelt nahezu alle Belange des Seevölkerrechts, u.a. die Einteilung in fünf Meereszonen: die Hoheitszone (Küstenmeer) von zwölf Seemeilen, die Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) bis zu 200 Seemeilen mit eingeschränkter Hoheitsbefugnis, den Kontinentalschelf (Festlandsockel) bis zu 350 Seemeilen, den Bereich der Hohen See sowie den Meeresboden und dessen Untergrund unter der Hohen See, der in offiziellen Dokumenten als »das Gebiet« bezeichnet wird.

Die Aufgabe der IMB ist es, den Tiefseebergbau zu regulieren und den Schutz der Umwelt zu gewährleisten. Die Behörde verfügt über das alleinige Recht, Schürflizenzen zur Erkundung des Meeresbodens und dessen Untergrunds in internationalen Gewässern zu vergeben. Antragsberechtigt sind sowohl staatliche als auch private Unternehmen. Gegen eine Gebühr von 500.000 US$ und unter Vorlage eines Arbeitsplans können sie ein 150.000 Quadratkilometer großes Gebiet am Meeresboden auswählen und das Erkundungsrecht für 15 Jahre beantragen, mit einer Option auf fünf Jahre Verlängerung. Voraussetzung ist, dass die Lizenzanträge von ihrem Heimatstaat, der das SRÜ ratifiziert haben muss, genehmigt sind.

Bisher wurden 29 Erkundungslizenzen vergeben: zwölf Antragsteller kommen aus Asien, zwölf aus Europa,2 vier von pazifischen Inselstaaten und einer aus Südamerika. Der Lizenznehmer hat das Vorrecht auf einen späteren Abbau (Rühlemann et. al 2019, S. 228). Anträge können abgelehnt werden, wenn schwere Schäden für die Umwelt zu befürchten oder Zonen für andere Nutzungen vergeben sind. Ferner verpflichten sich die Lizenznehmer, die Hälfte des gesamten Gebietes, das sie auf eigene Kosten erkunden, als Ausgleichsleistung für benachteiligte Staaten im Sinne des gemeinsamen Erbes der Menschheit spätestens nach acht Jahren wieder an die IMB zurückzugeben. Die IMB kann diese vorerkundeten Gebiete an Antragsteller aus Entwicklungsländern vergeben oder an Unternehmen, die zum Nutzen dieser tätig sind.

In den vergangenen Jahren geriet die Arbeit der IMB zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik. Vorgeworfen wurde ihr u.a. mangelnde Transparenz, das Fehlen einer unabhängigen Kontrolle und die Eile, mit der Vorschriften unter zu geringer Beachtung des Vorsorgeprinzips und ohne öffentliche Debatte durchgesetzt würden (Chin und Hari 2020, S. 11).

Tiefseebergbau in den Aus­schließlichen Wirtschaftszonen

In den AWZ verfügen allein die Küstenländer über die Nutzungsrechte. Während die Meeresbodenbehörde eine unkontrollierte Ausbeutung des Meeresbodens auf der Hohen See verhindert, können Staaten in ihren AWZ eigene Lizenzen vergeben. Beispielsweise erhielt 2011 das kanadische Unternehmen Nautilus Minerals eine Bergbaulizenz von der Regierung in Papua-Neuguinea für ein in der Bismarcksee gelegenes Gebiet. Das als »Solwara 1« bezeichnete Gebiet ist nicht nur reich an Schwarzen Rauchern3 mit Metallsulfidvorkommen, sondern liegt auch im so genannten Korallendreieck,4 einer der artenreichsten Meeresregionen der Welt. Rund 130 Millionen Menschen sind hier in ihrer Existenz von Meeresressourcen und gesunden Ökosystemen abhängig (Lass 2018).

Am »Solwara 1«-Projekt entzündete sich ein Konflikt zwischen der Regierung von Papua-Neuguinea und der Zivilgesellschaft, die umfassende wissenschaftliche Informationen über die Auswirkungen des Tiefseebergbaus vor ihrer Haustür einforderte. 2017 leiteten Küstengemeinden ein Gerichtsverfahren gegen die Regierung ein, um Einblick in die Dokumente der Lizenzierung zu bekommen. Als das Projekt 2019 aufgrund der Insolvenz von Nautilus Minerals eingestellt wurde, noch bevor es operationell geworden war, blieb die Regierung von Papua-Neuguinea auf einem Schuldenberg von 125 Mio. US$ aus bereits getätigten Investitionen sitzen. Der Premierminister musste das Projekt zum „Totalausfall“ erklären (Chin und Hara 2020, S. 44).

Dennoch erhoffen sich Regierungen, die in ihren AWZ Lizenzen für den Tiefseebergbau vergeben, dadurch nationalen Wohlstand und Fortschritte in der Entwicklung ihrer Staaten. Die Cookinseln, Kiribati, Neuseeland, Palau und Tuvalu besitzen Manganknollenvorkommen in ihren AWZ und haben Bergbaulizenzen ausgegeben.

Am Beispiel der Cookinseln lässt sich die schwierige Abwägung zwischen Abbauinteressen und Umweltschutz gut illustrieren. Die Cookinseln und Nauru kooperieren mit dem Unternehmen DeepGreen Metals. Die Regierung der Cookinseln hat dazu 2013 eine eigene Tiefseebergbaubehörde gegründet und 2015 Prospektions- und Explorationsvorschriften entwickelt. Umweltschützer*innen befürchten jedoch negative Auswirkungen für den 2017 gegründeten »Marae Moana«-Meerespark, der sich über die gesamte AWZ der Cookinseln erstreckt und den Schutz und die Erhaltung der Artenvielfalt und des kulturellen Erbes der Meeresumwelt zum Ziel hat (Marae Moana o.J.).

Ohne Umweltschäden geht es nicht

Aus den Erfahrungen an Land ist bekannt, dass Bergbau nicht ohne Beeinträchtigung der Umwelt möglich ist. Neben Lärm, Abraum und zerstörtem Meeresboden treten in der Tiefsee weitere meeresspezifische Faktoren hinzu: Als problematisch wird die mögliche Trübung des Seewassers angesehen, die durch den Einsatz von Bergbaumaschinen am Meeresboden entstehen könnte, wenn Bodensedimente aufgewirbelt werden. Der Teil der Sedimente, der in die Wassersäule gelangt, könnte durch Meeresströmungen im Bodenbereich über größere Distanzen verdriften. Noch ist unklar, welche Auswirkungen die Trübung des Meerwassers auf Tiefseelebewesen hat, z.B. eine Einschränkung der Biolumineszenz, von der angenommen wird, dass sie zur Kommunikation eingesetzt wird. Erste Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass Tiefseeorganismen wenig anpassungsfähig sind und sehr lange Zeiträume benötigen, um sich von schädlichen Umweltauswirkungen zu erholen (Miller et al. 2018, Sharma 2015). Auch andere Prozesse in der Tiefsee laufen aufgrund kleiner Sedimentationsraten und sehr geringer Strömungsgeschwindigkeiten nur langsam ab, sodass Spuren am Meeresboden viele Jahre erkennbar bleiben. So zeigten Untersuchungen der Umweltstudie DISCOL zu den Folgen des Manganknollenabbaus vor der Küste Perus (1988-1997),5 dass sich die Schleppkarrenspuren der ersten Erkundungsfahrten in den 1980er Jahren am Meeresboden auch nach zwei und vier Jahren kaum verändert hatten. Eine weitere Überprüfung 2015 ergab, dass im Untersuchungsgebiet eine Wiederbesiedelung stattgefunden hatte, aber bestimmte Arten fehlten (Schriever 2017).

In der Umgebung von Schwarzen Rauchern wurde eine große Vielfalt von Lebensformen entdeckt. Zum Teil handelt es sich um Arten, die nur in bestimmten Meeresgebieten vorkommen. Der Abbau von Kobaltkrusten oder Sulfidschlämmen, der im Gegensatz zum Einsammeln von Manganknollen am Meeresboden nur mit schwerem Gerät durchführbar wäre, würde diese einzigartige Lebenswelt nachhaltig schädigen. Umweltschützer*innen befürchten, dass unter Umständen auch heute noch unbekannte Arten verschwinden könnten.

Proteste gegen den Tiefseebergbau

Nicht nur in Papua-Neuguinea, auch in anderen Pazifikstaaten haben Tiefseebergbauvorhaben bereits zu lokalen, nationalen und regionalen Konflikten geführt. Auf nationaler Ebene sind Konflikte zwischen Ressourcenmanagement, Gemeinden, traditionellen Depotbanken, Regierungen und Berg­bau­unter­neh­men entstanden. Anlass waren wahrgenommene Ungleichheiten in Bezug auf Eigentum, Zugang und Nutzen sowie Zweifel an der Legitimität von Tiefseebergbau-Operationen. Andere Konflikte beruhen auf unzureichenden wissenschaftlichen Informationen über die Auswirkungen des Tiefseebergbaus und damit verbundenen Risiken für die Meeresumwelt, die Gesundheit der Bevölkerung und den Lebensunterhalt, insbesondere für die Kleinfischerei. Im Inselstaat Tonga wurde Kritik geübt, dass die Entscheidungsfindung für den Tiefseebergbau durch Machtungleichgewichte zwischen Regierungsbeamten sowie internationalen Unternehmen und der lokalen Ebene bestimmt gewesen sei. Auch würde die Kultur der Bewohner*innen der Pazifikinseln, die von einer tiefen spirituellen Verbindung zum Meer geprägt sei, zu wenig berücksichtigt (Chin und Hari 2020, S. 3).

Des Weiteren spielt eine Rolle, dass beim Bergbau im Pazifikraum Konflikte um Leistungen, Entschädigungen und Umweltzerstörungen eine lange Tradition haben und sogar in bewaffnete Auseinandersetzungen münden können. Dafür steht insbesondere der Bürgerkrieg auf Bougainville (Nördliche Solomonen, Papua-Neuguinea) von 1988-1998, der sich aus den politischen und sozialen Konsequenzen der Ausbeutung der weltgrößten Kupfermine entwickelte. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit sind die Proteste von Landbesitzer*innen gegen den Mangel an Vorteilen aus dem »EXXonMobil Liquefied Natural Gas«-Projekt im Hochland von Papua-Neuguinea (Chin und Hari 2020, S. 43).

Nach dem Desaster mit Nautilus Minerals wurde von der Zivilgesellschaft in Papua-Neuguinea ein Stopp der Bergbauprojekte gefordert. Auch in Neuseeland haben sich verschiedene Organisationen gegen den Tiefseeberg­bau zusammengeschlossen. Auf den Cookinseln haben Umweltverbände unabhängige Studien in Auftrag gegeben, Informationsveranstaltungen durchgeführt und Materialien zusammengestellt, um über die Risiken des Tiefseebergbaus zu informieren. 2013 verabschiedete die Zehnte Generalversammlung der Pazifischen Kirchenkonferenz einen Beschluss, dass Tiefseebergbau im Pazifik gestoppt werden soll. Der Präsident von Fidschi und die Premierminister von Vanuatu und Papua-Neuguinea teilten solche Bedenken und forderten ein zehnjähriges Moratorium für den Abbau von Tiefseerohstoffen in pazifischen Gewässern. Die Cookinseln, Nauru und Tonga halten dagegen an ihrem Vorhaben fest, metallische Rohstoffe in ihren AWZ abzubauen (Chin und Hari 2020, S. 43).

Fazit

Trotz des immensen Erkenntnisgewinns in den vergangenen Jahrzehnten ist die Tiefsee noch immer vergleichsweise wenig erforscht. Die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass mit dem Tiefseebergbau erhebliche Risiken für die Meeresumwelt mit weitreichenden, schwerwiegenden, über Generationen andauernden und irreversiblen Schäden verbunden sein könnten. Schwer einzuschätzen sind auch die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen.

Für die Pazifikstaaten sind die Aussichten auf soziale und wirtschaftliche Gewinne durch den Tiefseebergbau mit ungewissen Risiken behaftet, wie das gescheiterte »Solwara 1«-Unternehmen gezeigt hat.

Noch findet weltweit kein kommerzieller Tiefseebergbau statt. Ob er kommen wird, hängt von den Vorräten an Land und den Metallpreisen auf dem Weltmarkt ab. Als Verbraucher*innen zahlreicher hochwertiger Elektronikprodukte sind wir mitverantwortlich für die hohe Nachfrage nach mineralischen Rohstoffen. Eine Begrenzung des Ressourcenverbrauchs durch ein verändertes Konsumverhalten und eine bessere Wiederverwertung wichtiger Mineralien könnten dazu beitragen, die Erschließung neuer Vorkommen in der Tiefsee zu bremsen und ökologische Schäden durch den Abbau von Rohstoffen am Meeresboden zu verringern.

Anmerkungen

1) Allein ein Mobiltelefon enthält ca. 30 verschiedene Metalle, u.a. Kobalt und Seltene Erden. In einer einzigen Windkraftturbine sind 1.000 Kilogramm Seltene Erden verbaut.

2) Deutschland ist seit 2006 Besitzer zweier »Claims« in der Clarion-Clipperton-Zone, die zusammen etwa zweimal so groß wie Bayern sind.

3) Als »Schwarze Raucher« werden Hydrothermalquellen bezeichnet, aus denen Wasser mit bis zu 380 Grad Celsius austritt. Das Wasser enthält bestimmte Schwefelverbindungen, die es dunkel färben.

4) Das Korallendreieck umfasst ein Meeresgebiet von den Inseln der Salomonen im Osten über die Nordküste Neuguineas bis zu den Kleinen Sundainseln im Westen und vorbei an der Ostküste Borneos bis zu den Philippinen im Norden.

5) Von 1988 bis 1996 förderte das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Forschungsprojekte DISCOL (DISturbance and reCOLonization experiment of a manganese nodule area of the southeastern Pacific) und TUSCH (Tiefseeforschung und Forschungsverbund Tiefsee-Umweltschutz).

Literatur

Chin, A.; Hari, K. (2020): Predicting the impacts of mining of deep sea polymetallic nodules in the Pacific Ocean – A review of scientific litera­ture. o.O.: Deep Sea Mining Campaign and MiningWatch Canada.

Lass, M. (2018): Tiefseebergbau – Die Gier der Menschheit hat den Meeresgrund erreicht. Utopia.de, 27.7.2018.

Miller, K.A.; Thompson, K.F.; Johnston, P.; Santillo, D. (2018): An Overview of Seabed Mining Including the Current State of Development, Environmental Impacts, and Knowledge Gaps. Frontiers in Marine Science, Vol 4, Article 418.

Marae Moana (o.J.): What is Marae Moana? Rarotonga, Cook Islands: Office of the Prime Minister; maraemoana.gov.ck.

Ru¨hlemann, C.; Kuhn, Th.; Vink, A. (2019): Marine Rohstoffe. Tiefseebergbau – Ökologische und sozioökonomische Auswirkungen. In: Frech, S. (Hrsg.): Bürger und Staat – Ozeane und Meere. Stuttgart: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, S. 226-236.

Schriever, G. (2017): Tiefseebergbau – Risiken und Gefahren für die Umwelt? Projekthomepage Wissenschaftsjahr 2016-2017. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Sharma, R. (2015): Environmental issues of deep-sea mining. Procedia Earth and Planetary ­Science, Vol. 11, S. 204-211.

World Ocean Review (2014): Rohstoffe aus dem Meer – Chancen und Risiken. Hamburg: maribus.

Ulrike Kronfeld-Goharani ist promovierte Ozeanografin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Kiel. Sie ist Mitglied des Zentrums für Interdisziplinäre Meereswissenschaften an der Universität Kiel.

Bedrohlicher denn je


Bedrohlicher denn je

Die Nutzung von Wasser als Waffe in Zeiten des Klimawandels

von Christina Kohler

Um ihre Macht zu festigen, Gegner zu schwächen oder territoriale Gewinne zu erzielen, bedienten sich staatliche und nicht staatliche Gewaltakteure im Verlauf der Geschichte immer wieder der Kontrolle über Wasser und Wasserinfrastrukturen. Angesichts des globalen Klimawandels und der damit verbundenen Wasserknappheit gewinnen die Manipulation und Kontrol­le über Wasser an Bedeutung und werden noch wirksamer und gefährlicher. Die Nutzung von Wasser und Wasserinfrastruktur als Waffe wird jedoch sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft weiterhin vernachlässigt. Für Entscheidungsträger*innen und Wissenschaftler*innen ist es längst überfällig, das Bewusstsein für dieses Phänomen zu schärfen und Maßnahmen zu dessen Bekämpfung anzustoßen.

Seit der Ära des alten Mesopotamiens ist die gewaltförmige Nutzung von Wasser und Wasserinfrastrukturen Teil der Kriegsführung. Bei dieser Taktik greifen die Gewaltakteure Brunnen, Dämme, Reservoirs, Kläranlagen oder Wasserleitungen direkt an und zerstören sie, oder sie manipulieren Wasserressourcen, indem sie diese z.B. mit Krankheitserregern verseuchen. So kam es beispielsweise im Zweiten Weltkrieg in Europa und Asien wiederholt zu Vorfällen, bei denen verschiedene kriegsführende Parteien Wasserinfrastrukturen, wie Staudämme, als strategische Angriffsziele auswählten. Nichtsdestotrotz galt die Verwendung von Wasser als Waffe in bewaffneten Konflikten lange Zeit eher als sporadisches Ereignis (von Lassow 2020). Heute ist der Einsatz von Wasser als Waffe für Gewaltakteure jedoch effektiver und damit attraktiver, da der globale Klimawandel und die damit verbundene Wasserknappheit die strategische Bedeutung von Wasserressourcen und Wassersystemen zunehmend verstärken.

Der Nahe und Mittlere Osten ist besonders stark von regional variierender Wasserknappheit geprägt. Seit 2011, als es dort zu Massenaufständen kam, nimmt die Anzahl von Berichten über die Verwendung von Wasser und Wasserinfrastruktur als Waffe zu. Dabei handelt es sich sowohl um staatliche als auch um nicht-staatliche Gewaltakteure, insbesondere im Irak, in Syrien und im Jemen. Die Medien berichteten beispielsweise über Bombenangriffe auf Wasserressourcen durch die syrische Regierung im Jahr 2017, in deren Folge 5,5 Millionen Menschen den Zugang zur Wasserversorgung verloren. Zur Monopolisierung von Macht und zur Errichtung eines Kalifats bediente sich der »Islamische Staat« (IS) ebenfalls dieser Strategie und verwendete im Irak und in Syrien Dämme, Kanäle und Reservoirs, um den Regionen außerhalb seiner Herrschaftsgebiete Wasser und Energie zu entziehen und die Fahrwege feindlicher Truppen zu zerstören.

Die Verwendung von Wasser und Wasserinfrastruktur als Waffe reicht jedoch weit über den Nahen und Mittleren Osten hinaus. So starben 2017 in Somalia 32 Zivilist*innen, die aus einem vergifteten Brunnen tranken, den die al-Shabaab-Miliz angeblich vergiftet hatte, um Mitgliedern der somalischen Regierung den Zugang zu Wasser zu verwehren. Die Nutzung von Wasser als Waffe wurde kürzlich auch von der umstrittenen Halbinsel Krim gemeldet.

Zahlreiche Beispiele, die das Pacific Institute (Pacific Institute 2020) sammelt, zeigen, dass sowohl staatliche als auch nicht-staatliche Akteure Wasser als Waffe nutzen und diese Strategie bei verschiedenen Arten von Konflikten zum Einsatz kommt, einschließlich bei bewaffneten Konflikten, Bürgerkriegen, interkommunaler Gewalt und sozialen Konflikten. Weitere Forschungsergebnisse (Kohler et al. 2019; Gleick 2014) zeigen deutlich, dass diese Strategie besonders in von Dürre geplagten Regionen in Syrien katastrophale Konsequenzen für vulnerable Gesellschaften hatte und Migrationsbewegungen innerhalb des Landes und nach Europa auslöste.

Die Rolle des Wassers als Auslöser von Konflikten oder Kooperationen wird zwar schon seit einiger Zeit thematisiert, die gezielte Verwendung von Wasser als Waffe wird bislang jedoch vernachlässigt. Politische Entscheidungsträger*innen, Wissenschaftler*innen und Medien fokussierten sich vor allem auf »Wasserkriege«, bei denen Wasser den Auslöser für Konflikte oder Kooperationen darstellt, wie im Falle der regionalen Streitigkeiten zwischen Äthiopien, Sudan und Ägypten über Infrastrukturprojekte, wie Staudämme, Bewässerungsnetze und Pipelines am Nil. Dass grenzüberschreitende Wasserressourcen zu Konflikten führen, scheint auf der Hand zu liegen. So sind beispielsweise die Länder im Einzugsgebiet des Nils in hohem Maße von diesem abhängig, da er die einzige bedeutsame erneuerbare Wasserquelle in der Region ist und somit die Grundlage für die Nahrungsmittel- und Wassersicherheit sowie für die Erzeugung hydroelektrischer Energie darstellt. Allerdings hat die jüngste Vergangenheit gezeigt, dass die Anzahl und Intensität kooperativer Aktionen in der grenzüberschreitenden Wassernutzung die der Konflikte deutlich übertraf (Wolf et al. 2020)

Im Gegensatz dazu geht es hier darum, dass Gewaltakteure Wasser und Wasserinfrastruktur als Waffe nutzen und dabei das Ziel verfolgen, Personen Schaden zuzufügen oder Teilen der Bevölkerung den Zugang zu Wasser zu verweigern. Hinter dieser Strategie steckt mehr, als sich auf den ersten Blick erkennen lässt: Da alles menschliche Leben auf Wasserressourcen und damit verbundenen Systemen beruht, kann die Verwendung von Wasser und Wasserin­frastruktur als Waffe ganze Gesellschaften destabilisieren. Zusätzlich entsteht durch Synergien zwischen dieser Praxis und dem sich entwickelnden Klimawandel sowie der damit zusammenhängenden Wasserknappheit ein neuer Wirkmechanismus.

Der Missbrauch klimabedingter Wasserknappheit

Wasserknappheit ist bereits heute ein gravierendes Problem in vielen Regionen, das die Lebensgrundlage ganzer Gesellschaften beeinträchtigt und die Bevölkerung besonders vulnerabel für die Verwendung von Wasser und Wasserinfrastruktur als Waffe macht. Die Prognosen des Intergovernmental Panel on Climate Change besagen, ein Temperaturanstieg von 1,5 Grad Celsius bis 2050 werde dazu führen, dass 243,3 Millionen Menschen, also vier Prozent der Weltbevölkerung, unter einer neuen oder verstärkten Wasserknappheit leiden werden. Somit ist der Klimawandel – neben einer wachsenden Bevölkerung, schwachen Institutionen und einer ineffektiven Verwaltung und Verteilung der Wasserressourcen – ein wesentlicher Faktor, der die Verknappung von Wasser ankurbelt. Angesichts dessen ist davon auszugehen, dass die Zahl der Menschen, die potenziell von der Nutzung von Wasser und Wasserinfrastruktur als Waffe betroffen sein können, zunimmt. Parallel dazu verschärfen sich durch den Klimawandel die Auswirkungen dieser Strategie und nehmen so noch gefährlichere und wirksamere Dimensionen an.

Unter Wissenschaftler*innen besteht bereits ein breiter Konsens, dass der Klimawandel in Gestalt von beispielsweise Dürre, Hochwasser oder Knappheit natürlicher Ressourcen schon heute in vielen Regionen die Lebensgrundlagen der Menschen beeinträchtigt, das Konfliktrisiko steigert und eine nachhaltige Friedenssicherung erschwert (Benner et al. 2020). Es bleibt jedoch umstritten, inwiefern der Klimawandel mit verschiedenen Arten von Konflikten in Verbindung gebracht werden kann. Die empirische Forschung identifizierte aber bereits vor einiger Zeit klimabedingte Veränderungen der Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen als einen wichtigen Faktor, der den Klimawandel mit dem Thema der Sicherheit verbindet.

Aktuell werden in der Literatur zwei mögliche Zusammenhänge diskutiert: Einerseits weist ein Teil der Literatur darauf hin, dass die Beschleunigung des Klimawandels über physiologische und/oder psychologische Faktoren sowie Ressourcenknappheit direkt die Wahrscheinlichkeit von Konflikten beeinflusst. So können Wetterereignisse, wie Stürme, Überschwemmungen und Erdrutsche, eine Wasserknappheit direkt verursachen oder verstärken, indem z.B. die öffentliche und private Wasserinfrastruktur beschädigt, die Ernte zerstört oder Vieh getötet wird, was zu Konflikten führen kann.

Andererseits zeigen Forschungsergebnisse, dass sich der Klimawandel über die Verringerung der Wirtschaftsleistung und der agrarwirtschaftlichen Einkommen, steigende Nahrungsmittelpreise und zunehmende Migrationsströme auch indirekt auf verschiedene Arten von Konflikten auswirkt (Koubi 2019). So sind Länder mit einem hohen Maß an Armut und einer hohen Abhängigkeit von der Wasserverfügbarkeit für landwirtschaftliche Aktivitäten sehr anfällig für klimabedingte Auswirkungen und weisen häufig eine höhere Konfliktwahrscheinlichkeit auf (Ide et al. 2014).

Beide in der Literatur diskutierten Zusammenhänge zwischen Klima und Konflikt müssen jedoch auch die kontextspezifischen sozioökonomischen und politischen Faktoren berücksichtigen, die die Auswirkungen zusätzlich verstärken oder abmildern.

Die Nutzung von Wasser und Wasser­infrastruktur als Waffe könnte also auf einen besonderen Wirkmechanismus hinweisen, der – losgelöst von dem direkten oder indirekten Ansatz – Klima­wandel und Konflikt miteinander ver­bindet. Gewaltakteure nutzen die klimabedingte Wasserknappheit zu ihrem Vorteil und integrieren die gesteigerte Vulnerabilität der Bevölkerung in Strategien zur Schädigung oder Kontrolle von Menschen. Infolgedessen beeinflusst das Klima die taktischen Überlegungen der Gewaltakteure und damit den Konflikt.

Ein drängendes Sicherheits­risiko, das es anzugehen gilt

In Anbetracht dieser Aussichten ist es dringend notwendig, sich dieses Phänomens, der Nutzung von Wasser und Wasserinfrastruktur als Waffe, bewusst zu werden, Entscheidungsträger*innen zu Maßnahmen zu bewegen und die wissenschaftliche Forschung diesbezüglich zu unterstützen.

Als Erstes muss ein globales Bewusstsein bei den multilateralen Institutionen und den nationalen Regierungen über die Verwendung dieser Taktik gefördert werden.

Entscheidungsträger*innen erkennen zunehmend, dass klimabedingte Sicherheitsrisiken eine große Herausforderung für den Frieden der kommenden Jahrzehnte darstellen. Das Thema »Klima und Sicherheit« wurde bereits bei hochrangigen Tagungen, wie der Berliner Klima- und Sicherheitskonferenz, dem informellen und interaktiven Sitzungsformat der »Arria-Formel«1 der Vereinten Nationen (VN) und offenen Sitzungen des Sicherheitsrates diskutiert. Darüber hinaus ist die Ressourcensicherheit seit jeher ein zentrales Ziel zahlreicher lokaler, nationaler und internationaler Initiativen, wie die Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) verdeutlichen.

Dennoch wird der Einsatz von Wasser als Waffe im SDG 6 (Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen) kaum erwähnt sowie bei Tagungen vernachlässigt. Folglich könnte das Thema auch innerhalb des »Klima-Sicherheit-Mechanismus« behandelt werden, einer im Oktober 2018 neu gegründeten Einrichtung im VN-System, die einen ersten Ansatz darstellt, klimabedingte Sicherheitsrisiken umfassend anzugehen.

So wie in Deutschland klimabedingte Sicherheitsbedrohungen zum wiederkehrenden Thema auf der politischen Agenda wurden, sollte auch der Einsatz von Wasser als Waffe in der nationalen, der Außen- und der Sicherheitspolitik verstärkt berücksichtigt und in den bestehenden Diskurs über Klimasicherheit integriert werden. Als Sicherheitsratsmitglied hat Deutschland jetzt und auch schon in der Vergangenheit die Diskussion über Klima und Sicherheit maßgeblich vorangetrieben und weltweit das Bewusstsein für das Thema geschärft. Der Einsatz von Wasser und Wasserin­frastruktur als strategische Waffe in Konflikten wurde bislang aber vernachlässigt.

Im akademischen Bereich ist dringend mehr Forschung über den Zusammenhang zwischen klimabedingter Wasserknappheit und dem Einsatz von Wasser als Waffe erforderlich. Künftige Forschung sollte sich verstärkt den komplexen Risiken widmen, die sich aus dem Nexus zwischen Klimawandel und Sicherheit ergeben, inklusive der Nutzung von Wasser und Wasserinfrastruktur als Waffe. Zudem müssen Gewaltakteure ebenso wie Opfer dieser Strategie identifiziert und kartiert werden, um die sicherheitspolitischen Implikationen sowie deren globale Dimension nachvollziehen zu können. Damit Erkenntnisse darüber gewonnen werden können, wo der Klimawandel und die damit verbundene Wasserknappheit die Vulnerabilität von Gesellschaften erhöht und in der Folge das Risiko des Einsatzes von Wasser als Waffe verstärkt, sind interdisziplinäre Studien von entscheidender Bedeutung. Um die betroffene Bevölkerung zu unterstützen und diesem Phänomen entgegenzusteuern, muss die Entwicklung von Gegenstrategien angestoßen werden.

Es ist höchste Zeit, das Thema auf die politische Agenda zu setzen, denn durch die Verknappung infolge des sich beschleunigenden Klimawandels ist Wasser bereits jetzt ein Sicherheitsrisiko, das dringendes Handeln erfordert.

Anmerkung

1) An den informellen und vertraulichen Treffen nach der Arria-Formel nehmen außer den im Sicherheitsrat vertretenen Staaten je nach Thema auch nicht im Sicherheitsrat vertretene Staaten, nationale Politiker*innen, Fachexpert*innen und Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen teil.

Literatur

Benner, A.-K.; Brzoska, M.; Kohler, Ch.; Kroll, S.; Rothe, D.; Scheffran, J.; Schetter, C.; Schröder, U.; Wirkus, L. (2020): Fokus – Friedenspolitik in Zeiten des Klimawandels. In: Bonn International Center for Conversion (BICC); Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK); Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)/Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) (Hrsg.): 2020 – Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa. Friedensgutachten. Bielefeld: transcript, S. 24-43.

Gleick, P. H. (2014): Water, Drought, Climate Change, and Conflict in Syria. Weather, Cli­mate, and Society, Vol. 6, Nr. 3, S. 331-340.

Ide T.; Schilling J.; Link J.S.A.; Scheffran J.; ­Ngaruiya G.; Weinzierl T. (2014): On exposure, vulnerability and violence – Spatial distribution of risk factors for climate change and violent conflict across Kenya and Uganda. Political Geography, Vol. 43, S. 68-81.

Koubi, V. (2019): Climate Change and Conflict. Annual Review Political Science, Vol. 22, Nr. 1, S. 343-360.

Kohler, Ch; Denner dos Santos, C.; Bursztyn, M. (2019): Understanding environmental terrorism in times of climate change – Implications for asylum seekers in Germany. Research in Glob­alization, Vol. 1.

Pacific Institute (2020): The World’s Water – Information on the World’s Freshwater Resources: Water Conflict. worldwater.org/water-conflict.

von Lassow, T. (2020): The Role of Water in the Syrian and Iraqi Civil Wars. Italian Institute for International Political Studies.

Wolf, A.T. et al. (2020): International Water Event Database. Oregon State University; ­transboundarywaters.science.oregonstate.edu/content/international-water-event-database.

Dr. Christina Kohler ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in den Programmbereichen »Glokale Verflechtungen« und »Internationale Institutionen«. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf den Wechselwirkungen zwischen globalen Umweltveränderungen und Frieden, Konflikt und Sicherheit. Dazu gehört ihre Forschung zu den Zusammenhängen zwischen klimabedingter Knappheit natürlicher Ressourcen und Konflikt und Sicherheit; grenzüberschreitende Wasserressourcen und kooperative Aktionen und Konflikt; klimabedingte Migration.

Brennpunkt Nordwestkenia

Brennpunkt Nordwestkenia

Zwischen Klimawandel, Konflikten, Öl und Wind

von Janpeter Schilling

Häufigere Dürren, unzuverlässiger Regen und Gewaltkonflikte um Vieh, Land und Wasser plagen die Hirtenvölker im Nordwesten Kenias. Vor einigen Jahren wurden nun erhebliche Ölreserven in der Region gefunden, und es wurde der größte Windpark Afrikas gebaut. Welche Auswirkungen haben diese Entwicklungen auf die Bevölkerung?

Der Nordwesten Kenias ist eine trockene, dünn besiedelte Region. Die Menschen in den Counties (vergleichbar mit deutschen Bundesländern) Turkana und Marsabit leben überwiegend von ihren Herden aus Ziegen, Schafen, Kühen und Kamelen, mit denen sie auf der Suche nach Wasser und Weideflächen im Norden Kenias und in den Grenzregionen der Nachbarländer Uganda, Südsudan und Äthiopien umherziehen (Abb. 1). Am Turkanasee, einem der größten Salzseen der Welt, betreiben einige Gemeinschaften Fischfang. Landwirtschaft spielt aufgrund des trockenen Klimas so gut wie keine Rolle.

Die größte Herausforderung für die Menschen, besonders in Turkana, sind Gewaltkonflikte zwischen Hirtenvölkern. In bewaffneten Überfällen stehlen sich verschiedene Gruppen, besonders die Turkana, Pokot, Samburu und Rendille, gegenseitig ihr Vieh und kämpfen um die Kontrolle von Wasserstellen und Weideflächen. Die Konflikte kosten jedes Jahr mehrere hundert Menschen das Leben und führen zu Angst und Verunsicherung in der Bevölkerung (Schilling et al. 2012).

Die zweite große Herausforderung für die Menschen in Nordwestkenia ist der Klimawandel. Er führt durch einen Anstieg der Temperaturen zu einem erhöhten Dürrerisiko und zu veränderten Niederschlagsmustern. Üblicherweise fällt der meiste Niederschlag während der »langen Regenzeit« zwischen März und Mai sowie in der »kurzen Regenzeit« zwischen Oktober und Dezember. In den letzten Jahrzehnten löst sich dieses Muster zunehmend auf, und Dürren treten in geringeren Abständen auf. Für die nomadischen Viehhalter wird es daher schwieriger zu wissen, wann und wo Wasser und Weideflächen verfügbar sind (Schilling et al. 2014). Die Bevölkerung im Nordwesten Kenias steckt in der Klima-Konflikt-Zange.

Seit Kenia 1963 die Unabhängigkeit vom Vereinten Königreich erlangte, interessierte sich die Zentralregierung in Nairobi kaum für den Norden des Landes und dessen Probleme. Jahrzehnte der politischen und ökonomischen Marginalisierung führten dazu, dass der Norden der ärmste Teil des Landes wurde und sich nur eine sehr schwache Wirtschafts-, Bildungs- und Transport­infrastruktur entwickelte. Seit 2012 hat sich das Interesse der Zentralregierung an Turkana schlagartig erhöht. Der Grund: Es wurden signifikante Ölvorkommen entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt waren außerdem die Pläne für einen Windpark am Turkanasee in Marsabit bereits weiter fortgeschritten; Anfang 2017 wurden die letzten der insgesamt 365 Turbinen aufgestellt (Schilling et al. 2018).

Bieten Erdöl und Windenergie für die lokale Bevölkerung einen Ausweg aus der Klima-Konflikt-Zange, oder verschlechtert die Ausbeutung der Ressourcen gar die Situation? Dieser Frage geht der vorliegende Beitrag nach. Dazu werden zunächst die Auswirkungen der Ölexploration und des Windparks diskutiert, bevor eine abschließende Bewertung erfolgt.

Die Auswirkungen von Öl auf die lokale Bevölkerung

Die Bevölkerung, die in Turkana in der Nähe der Erdölexploration lebt, profitiert von dieser insbesondere durch Beschäftigungsmöglichkeiten, einer (zumindest kurzfristig) höheren Wasserverfügbarkeit, neuen Straßen und Schulgebäuden sowie einer verbesserten Sicherheitslage in der Nähe der Ölanlagen, der Stimulation der lokalen Wirtschaft und den Einnahmen aus der Ölförderung. Allerdings sind all diese Vorteile im Umfang und zeitlich sehr begrenzt (Schilling et al. 2018). In einer Region, in der formale Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten kaum vorhanden sind, ist es für die lokale Bevölkerung besonders wichtig, auf diesem Weg vom Öl zu profitieren. Das sehr geringe Bildungsniveau in Turkana ermöglicht der lokalen Bevölkerung jedoch nur Zugang zu sehr einfachen Jobs, deren Verfügbarkeit sich zudem meist auf die frühe Phase der Ölerschließung beschränkt. Zu dieser Zeit werden vor allem Arbeitskräfte gebraucht, die Büsche für die infrastrukturelle Erschließung entfernen, und weitere Arbeiter, die aufpassen, dass es nicht zu Unfällen zwischen Fahrzeugen und Personen oder Vieh kommt. Später werden dann nur noch Sicherheitskräfte benötigt, die jedoch überwiegend nicht aus Turkana kommen.

Nach entsprechenden Forderungen der lokalen Bevölkerung ließ die operierende Ölfirma Tullow an einigen Hauptstraßen Tanks errichten, die regelmäßig von der Firma gefüllt werden und so zusätzliche Wasserstellen für die lokale Bevölkerung und ihre Herden bieten. Allerdings schaffen die Wasserstellen eine Abhängigkeit von der Firma, die die Befüllung der Tanks jederzeit stoppen kann. Mittel- bis langfristig ist davon auszugehen, dass sich die Wasserverfügbarkeit für die lokale Bevölkerung verschlechtern wird, da für die Ölförderung erhebliche Mengen an Wasser benötigt werden. Tullow hat selbst bestätigt, dass zur Förderung von einem Fass Öl die drei- bis vierfache Menge an Wasser gebraucht wird (Mbugua 2017). Das Ölvorkommen in Turkana wird auf 560 Millionen Fass geschätzt. Ab 2022 sollen bis zu 100.000 Fass pro Tag gefördert werden (Akwiri 2019). Tullow und die lokale Bevölkerung konkurrieren damit um die selbe Ressource, jedoch mit sehr ungleichen Mitteln.

Die geplante Ölförderung verbessert die bestehende, überwiegend marode Straßeninfrastruktur, jedoch werden nur jene Straßen aus- bzw. neu gebaut, die zu den Ölförderanlagen führen. Der Nutzen für die lokale Bevölkerung ist daher begrenzt. Der Bau von einigen neuen Schulgebäuden wurde durch Tullow finanziert, ebenso die Anschaffung von Schulbüchern. In der direkten Umgebung der Ölförderung verbesserte sich zudem die Sicherheitslage, da Tullow eigene Sicherheitskräfte beschäftigt und Viehdiebstähle dadurch zurückgegangen sind. Allerdings beschäftigte Tullow zumindest zu Beginn auch Sicherheitskräfte aus der Region, die dann in ihren Dörfern nicht mehr zum Schutz zur Verfügung standen (Schilling et al. 2018). Seit die Ölexploration im Jahr 2012 begann, kommen viel mehr Menschen in die Region. Dies führte zu einem Anstieg an Übernachtungsmöglichkeiten, einfachen Restaurants und Bars. Diese Entwicklung ist besonders in der Kleinstadt Lokichar zu beobachten, die zu einer Boomtown und zum Zentrum der Ölförderung wurde (Abb. 1). Von den staatlichen Einnahmen aus der Ölförderung profitieren die lokalen Gemeinden kaum. Lediglich 5 % der Einnahmen sind für sie vorgesehen, während 20 % an die County-Regierung und 75 % an die Zentralregierung gehen (Akwiri 2019).

Den Vorteilen aus der Ölexploration und -förderung stehen erhebliche negative Auswirkungen entgegen. Die Diskrepanz zwischen der Erwartung der lokalen Bevölkerung, einen (dauerhaften) Job bei Tullow zu erhalten, und dem tatsächlichen Beschäftigungsangebot führte zu anhaltenden Spannungen zwischen der lokalen Bevölkerung und Tullow. Diese zeigen sich in Straßenblocken und vereinzelten Angriffen auf Ölförderungseinrichtungen. Da die lokale Bevölkerung keine Landrechte besitzt, wurde sie für das zur Ölförderung eingezäunte und damit verlorene Land nicht entschädigt. Auch wenn die geplante Ölpipeline überwiegend unter der Erdoberfläche verlaufen soll, darf aufgrund der erheblich höheren Kosten bezweifelt werden, dass dies tatsächlich realisiert wird. Eine oberirdisch verlaufende Pipeline würde aber die Migrationsrouten der Viehhalter und ihrer Herden beinträchtigen. Ohnehin ist zu befürchten, dass ohne strenge Umweltauflagen und deren Einhaltung die Ölförderung zu einer erheblichen Verschmutzung von (Grund-) Wasservorkommen und (Weide-) Land führen wird (Schilling et al. 2018). Dies wird sich jedoch erst zeigen, wenn die Ölproduktion in einigen Jahren voll angelaufen ist. Dann wird auch der bereits erwähnte Effekt auf die Wasserverfügbarkeit zum Tragen kommen.

Die Auswirkungen des Windparks auf die lokale Bevölkerung

Die Region, in der der Windpark errichtet wurde, ist sehr dünn besiedelt. Sarima, ein Dorf mit etwa 2.000 Einwohner*innen, musste um zwei Kilometer verlegt werden, um dem Windpark und dessen Zufahrtsstraßen Platz zu machen (Schilling and Werland, im Erscheinen). Im Vergleich zu der Ölexploration fallen sowohl die Vorteile als auch die Nachteile für die Bevölkerung von Sarima und der gut zwei Autostunden entfernten Siedlung Loiyangalani geringer aus (Schilling et al. 2018). Der Beschäftigungseffekt beschränkte sich fast ausschließlich auf die Bauphase des Parks, die im März 2017 endete. Auch hier standen einfache Tätigkeiten im Vordergrund, wie die Entfernung von Büschen. Seit der Fertigstellung des Windparks werden nur noch sehr wenige Mitglieder der Gemeinde von Sarima beschäftigt, insbesondere als Wachleute oder zur Versorgung des Camps des Windkraftbetreibers Lake Turkana Wind Power (LTWP).

Da die Anlieferung der Windkraftanlagen aus Süden erfolgte, verbesserte sich die Anbindung von Sarima an Loiyangalani nicht, wohl aber die Erreichbarkeit von South Horr, einer südlich gelegenen Kleinstadt. Dies führte unter anderem zu einem schnelleren Busverkehr zwischen South Horr und Sarima. Die Wasserversorgung verbesserte sich für Sarima nur vorübergehend. LTWP bohrte einen Brunnen im Dorf und installierte eine Entsalzungsanlage, die jedoch nach kurzer Zeit nicht mehr funktionierte, sodass die Dorfgemeinschaft seitdem das unbehandelte Wasser konsumiert. Anders als bei der Ölförderung sind für die Produktion von Windkraft keine größeren Wassermengen nötig, da es sich bei der Kühlung der Turbinen um einen geschlossenen Kreislauf handelt. Inwieweit der Schattenwurf und die Geräusch­emissionen die Bevölkerung von Sarima beeinträchtigen, ist bisher nicht untersucht. Allgemein haben Studien negative Gesundheitsfolgen von Windkraftanlagen, z.B. Stress, nachgewiesen (siehe Freiberg et al. 2019 für einen Überblick). In Sarima sind diese besonders wahrscheinlich, da der Windpark aufgrund fehlender gesetzlicher Mindestabstände direkt an das Dorf angrenzt (Abb. 2).

Der Windpark hat eine Gesamtkapazität von 310 Megawatt; damit ist er der größte auf dem afrikanischen Kontinent. Seit Oktober 2018 ist der Windpark an das Stromnetz Kenias angeschlossen, 1,5 Jahre nach seiner Fertigstellung. Allerdings gehört sowohl die Bevölkerung von Sarima als auch die von Loiyangalani weiterhin zu dem Viertel der kenianischen Bevölkerung, das über keinen Stromanschluss verfügt (Schilling and Werland, im Erscheinen).

Lösungsperspektiven

Auf der einen Seite bewaffnete Konflikte, auf der anderen der Klimawandel – die Bevölkerung im Nordwesten Kenias steckt in der Zange. Die erheblichen Erdölvorkommen und der größte Windpark Afrikas bieten keinen Ausweg. Im Gegenteil, die kaum regulierte Erdölförderung bedroht die Wasser- und Landressourcen und damit die Lebensgrundlage der Hirtenvölker. Öl könnte für sie zur Sackgasse werden. Am Turkanasee wiederum wird klimafreundlicher Strom für das nationale Stromnetz produziert, während die direkten Nachbarn des Windparks weiter im Dunkeln sitzen. Gerechte Entwicklung sieht anders aus.

Was also müsste passieren, damit Öl und Wind der lokalen Bevölkerung eine positive Perspektive bieten? Zunächst müsste die Zentralregierung in Nairobi die Ölvorkommen und den Windpark als Chance verstehen, die lange Geschichte der Vernachlässigung und Marginalisierung des Nordwestens hinter sich zu lassen, massiv in die Wirtschafts-, Bildungs- und Verkehrsinfrastruktur der Region zu investieren und gleichzeitig die Lebensform der Hirtenvölker anzuerkennen und zu stärken. Sowohl die Einnahmen aus der Ölproduktion als auch die neuen Strukturen im Rahmen des kenianischen Dezentralisierungsprozesses bieten die Chance, erhebliche Investitionen vor Ort zu tätigen, anstatt Öl als Bereicherungsinstrument für die Zentralregierung zu verstehen. Da sich die negativen Effekte der Ölförderung und der Windenergiegewinnung auf der lokalen Ebene entfalten, muss dies auch für die Vorteile gelten. Der Großteil der Öleinnahmen sollte daher der lokalen Bevölkerung zugesprochen werden. Sarima und Loiyangalani müssen umgehend an das Stromnetz Kenias angeschlossen werden. Aufgrund der Nähe zum Windpark wäre dies nach Einschätzungen von Ingenieuren kostengünstig und einfach machbar (Schilling and Werland, im Erscheinen). Dies würde zudem sehr wahrscheinlich die Akzeptanz des Windparks in der Bevölkerung erhöhen.

Darüber hinaus muss die lokale Bevölkerung vor den negativen Umweltauswirkungen der Ölförderung und der Windkraftanlagen geschützt werden. Hierzu bedarf es einer strengeren (Umwelt-) Gesetzgebung, die aktuell verschleppt wird, und deren konsequenten Anwendung und Kontrolle. Die bisherigen Governance-Strukturen und das insgesamt hohe Korruptionsniveau in Kenia geben jedoch wenig Hoffnung, dass die hier formulierten Vorschläge bei der kenianischen Zentralregierung auf offene Ohren stoßen. Es ist daher wichtig, auch andere Akteure in den Blick zu nehmen. Tullow und LTWP haben zwar Recht, wenn sie anführen, dass der Bau von Straßen und Schulen nicht ihre, sondern die Aufgabe des Staats ist. Dennoch sind die Unternehmen für negative (Umwelt-) Auswirkungen verantwortlich, und sie müssen daher alles dafür tun, diese Auswirkungen und falsche Erwartungen in der lokalen Bevölkerung zu vermeiden.

Die lokalen Gemeinschaften sind aufgrund ihres geringeren Bildungsniveaus und der kaum vorhandenen Finanzmittel in einer schwachen Position. Bisher reagieren sie auf die Ungerechtigkeit vor allem mit dem Einsatz von Gewalt, meist in Form von Straßensperren. Unterstützt von nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), könnten sie sich auch auf anderen Wegen für ihre Interessen einsetzen. Zum Beispiel könnten NGOs als Vermittler im Konflikt auftreten, helfen, kooperative (Netzwerk-) Strukturen aufzubauen, und die verschiedenen Parteien, insbesondere Vertreter der Unternehmen, der lokalen Gemeinschaften und der Regierung, an einen Tisch bringen und für regelmäßigen Austausch sorgen. Eine Studie aus Südkenia zeigt, dass solche Ansätze Konflikte um Ressourcen entschärfen können (siehe Ngaruiya and Scheffran 2016). In Turkana und Marsabit fehlen solche Initiativen bislang, obwohl gerade in Turkana viele internationale Entwicklungs- und Peacebuilding-Organisationen vertreten sind.

Letztlich müssen der Jugend der beteiligten Konfliktparteien attraktive Einkommensalternativen zu bewaffneten Überfällen und Straßenblockaden gegeben werden, wenn der Nordwesten Kenias eine echte Chance auf eine friedliche Entwicklung haben soll. Gelingt dies nicht, wird besonders in Turkana das Öl weiter Gewaltkonflikte anheizen.

Literatur

Akwiri, J. (2019): Kenya’s First Crude Oil Export Sparks Demands Over Revenue Sharing. reuters.com, 26.8.2019.

Freiberg, A.; Schefter, C.; Girbig, M.; Murta, V.C.; Seidler, A. (2019): Health Effects of Wind Turbines on Humans in Residential Settings – Results of a Scoping Review. Environmental Research, Vol. 169, Nr., S. 446-463.

Mbugua, S. (2017): Oil-rich yet on Edge in Turkana. The New Humanitarian, 6.11.2017.

Ngaruiya, G.W.; Scheffran, J. (2016): Actors and Networks in Resource Conflict Resolution Under Climate Change in Rural Kenya. Earth System Dynamics, Vol. 7, Nr. 2, S. 441-452.

Schilling, J.; Opiyo, F.; Scheffran, J. (2012): Raid­ing Pastoral Livelihoods – Motives and Effects of Violent Conflict in North-western Kenya. Pastoralism, Vol.. 2, Nr. 25, S. 1-16.

Schilling, J.; Akuno, M.; Scheffran, J.; Weinzierl, T. (2014): On Raids and Relations – Climate Change, Pastoral Conflict and Adaptation in Northwestern Kenya. In: Bob, U.; Bronkhorst, S. (eds.): Conflict-sensitive Adaptation to Climate Change in Africa. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag, S. 241-268.

Schilling, J.; Locham, R.; Scheffran, J. (2018): A Local to Global Perspective on Oil and Wind Exploitation, Resource Governance and Conflict in Northern Kenya. Conflict, Security & Development, Vol. 18, Nr. 6, S. 571-600.

Schilling, J.; Werland, L. (im Erscheinen): Interaction between Wind Energy, Climate Vulner­ability and Violent Conflict in Northern Kenya. In: Brzoska, M.; Scheffran, J. (eds.): Climate Change, Security Risks, and Violent Conflicts. Hamburg: Universität Hamburg, S. 65-79.

Dr. Janpeter Schilling ist Klaus-Töpfer-Stiftungsjuniorprofessor für Landnutzungskonflikte am Institut für Umweltwissenschaften der Universität Koblenz-Landau und wissenschaftlicher Leiter der Friedensakademie Rheinland-Pfalz.

Ressourcenverteilung in der Pandemie


Ressourcenverteilung in der Pandemie

Eine Chance für menschliche Sicherheit?

von Kathrin Vogler

Wer kommt für die Milliardenkosten für die Bewältigung der Corona-Pandemie auf? Auch wenn es am Anfang hieß, Corona treffe alle gleich, zeigte sich bald, dass es sehr wohl große Unterschiede gibt, wie belastend der Lockdown war und wie gefährlich die Krankheit. Eine ähnliche Schieflage zeichnet sich bei der Frage ab, wer die Krisenkosten tragen soll. Einige sind offenbar von vornherein davon ausgenommen: So scheint ausgerechnet der Militär- und Rüstungsbereich sogar zu profitieren.

Am 20. April 2020, Deutschland diskutierte gerade über erste Lockerungen der strengen Corona-Massenquarantäneregeln, wurde der Vorschlag der Verteidigungsministerin öffentlich, 135 neue Kampfflugzeuge für die Bundeswehr zu beschaffen. Die Empörung gegen diese Ankündigung machte sich besonders daran fest, dass ein Teil der Flugzeuge für die so genannte nukleare Teilhabe vorgesehen ist (siehe dazu Nassauer 2020). Der Vorschlag machte aber zugleich deutlich, dass große Teile von Regierung und Parlament, trotz der durch die Corona-Krise offenbar gewordenen Schieflagen in den öffentlichen Haushalten, weiter an ihren wahnwitzigen Aufrüstungsplänen festhalten wollen. Die falsche Prioritätensetzung geht weiter, als hätte die Pandemie nicht gezeigt, dass es eben nicht dem Gemeinwohl dient, wenn die Bundeswehr unvorstellbar teures Kriegsgerät anhäuft, u.a. zulasten eines krisenfesten Gesundheitssystems. Der Mangel an medizinischer Ausstattung über Wochen – z.B. fehlte es an Atemschutzmasken für ein paar Cent das Stück – und die Auswirkungen der skandalösen Unterfinanzierung unseres Gesundheitswesens legen offen, wie wenig wir gegen tatsächliche Bedrohungen gewappnet sind.

Das zweite Krisenbewältigungspaket, das der Koalitionsausschuss von CDU, CSU und SPD Anfang Juni vorlegte und das Parlament einen Monat später verabschiedete, sieht dementsprechend keine Kürzungen im Rüstungshaushalt vor. Im Gegenteil: Unter der Überschrift „Die Konjunktur stärken und die Wirtschaftskraft Deutschlands entfesseln“ heißt es in dem Beschluss: „Der Bund wird in allen Bereichen prüfen, inwieweit geplante Aufträge und Investitionen jetzt vorgezogen werden können. Insbesondere sollen Digitalisierungsvorhaben in der Verwaltung, Sicherheitsprojekte sowie neue Rüstungsprojekte mit hohem deutschen Wertschöpfungsanteil, die noch in den Jahren 2020 und 2021 beginnen können, sofort umgesetzt werden. (Projektvolumen: 10 Mrd. Euro)“ (Bundesministerium der Finanzen 2020a)

Die krisensichere Rüstungsbranche

Welcher Anteil der zehn Milliarden tatsächlich an die Bundeswehr geht, bleibt abzuwarten. Viele Rüstungsprojekte haben einen langen Vorlauf und können nicht so einfach vorgezogen werden. Außerdem schränkt der „hohe deutsche Wertschöpfungsanteil“ die Kreativität der Beschaffer ein. Aber die Entscheidung macht deutlich, dass Einschränkungen im Rüstungshaushalt als Folge von Corona nicht zu erwarten sind.

Dabei wäre die Rüstungsindustrie der letzte Bereich, der bedacht werden sollte, wenn es darum geht, die Binnenkonjunktur anzukurbeln. 2019 war für Deutschlands Rüstungsbranche ein Rekordjahr, mit genehmigten Exporten im Wert von über acht Mrd. Euro (BMWi 2020). Auch aktuell wird gemeldet, dass das Geschäft mit Krieg und Sterben in den Konfliktregionen dieser Welt nicht unter Auswirkungen der Corona-Pandemie leidet. Schon im ersten Quartal 2020 wurden durch die Bundesregierung mehr Rüstungsexporte genehmigt, als im gleichen Zeitraum 2019. Der Wert dieser Lieferungen zwischen Januar und März 2020 lag bei 1,16 Mrd. Euro und damit 45 Mio. Euro höher als im ersten Quartal des vergangenen Jahres (tagesschau.de 2020). Ende März, auf dem Höhepunkt der ersten Pandemiewelle in Deutschland, rieten Börsenexperten sogar ausdrücklich zum Kauf von Rüstungsaktien. „Die Rüstungsbranche gilt als krisensicher, denn Verteidigungsbudgets sind auf Jahre hinaus fest eingeplant“, hieß es beim Branchendienst Börse-Online (Peter 2020). Vor allem aufgrund der massiven Aufrüstung in den westlichen Staaten sei die Rüstungsbranche in der Krise nicht gefährdet.

Zusätzlich zu den Milliarden für Rüstungsprojekte sieht die Vereinbarung der Koalitionsparteien 500 Mio. Euro für ein »Zentrum für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr« vor, um, wie es im Beschluss heißt, „die nationale Verfügbarkeit digitaler und technologischer Innovationen für öffentliche und private Bereiche zu verbessern und innovative und interdisziplinäre Forschung in einem sicheren Umfeld zu betreiben“ (Bundesministerium der Finanzen 2020a). Völlig unklar bleibt, warum bestehende Forschungseinrichtungen diese Aufgaben nicht übernehmen dürfen und warum ausgerechnet die Bundeswehr die Defizite angehen muss.

Daneben geht die ohnehin vorgesehene Aufrüstung weiter. Der »Eckwertebeschluss« der Regierung zum Bundeshaushalts 2021, beschlossen am 16. März 2020, also mitten in der Corona-Pandemie, bekräftigt, dass an der Rekordaufrüstung festgehalten werden soll: „Es besteht Einvernehmen innerhalb der Bundesregierung, dass bestimmte wesentliche Großvorhaben zum Schließen von Fähigkeitslücken […] finanziert werden […].“ Genannt wird eine ganze Palette von Rüstungsgroßprojekten: „Dies gilt insbesondere für Vorhaben im Rahmen der deutsch-französischen und deutsch-norwegischen Rüstungskooperationen, den Ersatz der Luftfahrzeuge des Typs EUROFIGHTER – Tranche 1, die Schließung der Fähigkeitslücke zur luftgestützten, signalerfassenden Aufklärung (PEGASUS), die Nachfolge des Kampfflugzeuges TORNADO, die Beschaffung von Marinebordhubschraubern auf Basis des Typs NH90, den Ersatz der veralteten Flottendienstboote, die Beschaffung von Luftfahrzeugen zur U-Boot-Abwehr sowie eines Taktischen Luftverteidigungssystems.“ (Bundesministerium der Finanzen 2020b)

Dass man an diesen Plänen festzuhalten gedenkt, zeigt der Beschluss über die Beschaffung neuer Kriegsschiffe MKS 180, die noch im Juni vertraglich vereinbart wurde (BMVg 2020). Die reinen Baukosten der vier Schiffe belaufen sich auf mehr als vier Mrd. Euro. Insgesamt sieht der Haushalt vor, sechs Mrd. Euro für „Überlegenheit im Seekrieg“ (Bundeswehr 2020) zu verpulvern.

Offensichtlich ist jedoch, dass die aktuelle Krise eine Umschichtung in den öffentlichen Haushalten erfordert. Die durch die Pandemie notwendig gewordene Kreditaufnahme wird die öffentlichen Haushalte über Jahre belasten. Sollen sie nicht durch Kürzungen bei den Sozialleistungen ausgeglichen werden, dann bietet es sich an, auf Militärausgaben zu verzichten. Die Bundeswehr hat in der Krise ja bereits unter Beweis gestellt, dass ihre Unterstützungsmöglichkeiten in keinem Verhältnis zu den Ausgaben stehen, die sie verschlingt. (Siehe dazu » Bundeswehr als Katastrophenschutz?« von Martin Kirsch auf S. 24.)

Der Beirat der Bundesregierung »Zivile Krisenprävention und Friedensförderung« (2020) resümiert: „Nicht-traditionelle Sicherheitsrisiken, wie Pandemien oder auch der Klimawandel, sind im Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und Zukunft der Bundeswehr und den Leitlinien der Bundesregierung »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen und Frieden fördern« aus 2017 benannt. Allerdings wurde ihre zentrale Bedeutung für den Schutz der Bevölkerung nicht ausreichend reflektiert und politische Entscheidungen für gesellschaftliche Resilienz wurden nicht getroffen.“

Das profitbasierte Gesundheitssystem

Ein falsches Verständnis von Sicherheit und die neoliberale Privatisierungsideologie haben dazu geführt, dass wir in der Corona-Krise eine Krise der Staatlichkeit, wie wir sie kennen, erleben. Die für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger entscheidende soziale Sicherheit, zu der ein leistungsfähiges, für alle zugängliches Gesundheitssystem gehört, das auch auf Krisen vorbereitet ist, wurde in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt. Der Staat hat seine Aufgaben in der Krisenvorsorge zugunsten der ökonomischen Verwertbarkeit des Gesundheitswesens aufgegeben. Er hat die Kommunen kaputtgespart, die daraufhin den öffentlichen Gesundheitsdienst herunterfuhren. Er hat Krankenhäuser zu profitorientierten Unternehmen gemacht, angebliche Überkapazitäten abgebaut und das Pflegepersonal, die technischen Dienste und die Hygiene vernachlässigt. Wenn die Situation in den vergangenen Monaten in Deutschland einigermaßen erträglich geblieben ist, dann ist das nicht nur dem schnellen Lockdown zuzuschreiben, sondern auch den wohnortnahen Krankenhausbetten in der Fläche, deren Fortbestand durch den Widerstand der Bevölkerung und der Beschäftigten vor der Abschaffung aus Kostengründen gerettet wurden. Es hat auch damit zu tun, dass die Gewerkschaften schon in den Anfängen der Bundesrepublik mit beharrlichen Streiks die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erkämpft und später verteidigt haben und die Menschen bei uns somit nicht gezwungen sind, krank zur Arbeit zu gehen, wo sie viele andere Menschen anstecken könnten.

Dieser Widerstand konnte allerdings nicht verhindern, dass das Gesundheitssystem in der Bundesrepublik schlechter für die Pandemiebekämpfung aufgestellt ist, als es sein könnte. In den 20 Jahren zwischen 1991 und 2011 hat sich der Anteil der privaten Klinikkonzerne an den Kliniken in Deutschland von 14,8 % auf 33,2 % mehr als verdoppelt. Dabei ist die Zahl der Kliniken insgesamt von 2.411 (1991) auf 1.925 (2018) gesunken, die der Krankenhausbetten sank im gleichen Zeitraum von 665.565 auf 498.192 (Statistisches Bundesamt 2020). Im Pandemiefall gibt es also in Deutschland ein Viertel weniger Krankenhausbetten als 1991. Auch beim Klinikpersonal ging es bergab: Die Gewinnerwartungen der Aktionäre realisieren die Klinikkonzerne durch Rationalisierung und Stellenstreichungen. Das heißt für das Personal höherer Arbeitsdruck und schlechtere Bedingungen. In Deutschland betreut ein Beschäftigter im Schnitt 21 Patient*innen, in Dänemark zehn, in Norwegen neun und selbst in den USA acht. Die Versorgungsqualität in der Bundesrepublik ist also nicht so gut, wie sie bei angemessener Personalausstattung sein könnte. Das bedeutet, dass im Pandemiefall die knappen Personalressourcen früher erschöpft sind. Es liegt auf der Hand, dass Krankenhäuser, die nun mal zur öffentlichen Daseinsvorsorge dazugehören, in ausreichendem Maße vorgehalten und finanziert werden müssen.

Die globale Dimension der Krise

Die globale Dimension der Krise ist damit allerdings noch gar nicht angesprochen. Die Weltgesundheitsorganisation warnte schon im April davor, die Subsahara-Region könnte zu einem Epizentrum der Corona-Pandemie werden. Sie rechnete dort mit 300.000 Toten und 30 Mio. Hungernden (Schwarte 2020). Die Bundesregierung stellt in den Jahren 2020 und 2021 zwar jeweils 1,5 Mrd. Euro zusätzlich für humanitäre Hilfe zur Verfügung, es ist jedoch zu bezweifeln, ob das ausreichen wird.

Allein für die UN-Arbeit innerhalb Syriens gehen die Leiter der UN-Agenturen für humanitäre, Entwicklungs- und Flüchtlingsangelegenheiten von einem Bedarf von 3,8 Mrd. US$ aus und von weiteren sechs Mrd. für die Nachbarländer. Auch wenn diese Bedarfe nicht allein auf Corona zurückzuführen sind, so hat die Pandemie die Situation für die Menschen in der Region massiv verschärft: „Die COVID-19-Krise hat unmittelbare und verheerende Auswirkungen auf den Lebensunterhalt von Millionen syrischer Flüchtlinge und ihrer Gastgeber in der Region, sagte der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi. „Die Schwächsten in der Gesellschaft – darunter Millionen Flüchtlinge – haben ihr ohnehin unregelmäßiges und dürftiges Einkommen verloren.“ (UNHCR 2020)

Syrien ist aber nur ein Schlaglicht. Nach Angaben der Weltbank haben 3,4 Milliarden Menschen, fast die Hälfte der Weltbevölkerung, Schwierigkeiten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen (World Bank 2018). Diese Menschen sind in besonderem Maß durch die Pandemie bedroht, weil sie sich weniger schützen können, im Erkrankungsfall schlechter oder gar nicht behandelt werden und durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ihrer ohnehin prekären Erwerbsmöglichkeiten beraubt werden. Nach Angaben des World Food Programme könnte sich die Zahl der vom Hungertod Bedrohten weltweit aufgrund des Coronavirus bis Ende 2020 auf 265 Millionen Menschen verdoppeln (WFP 2020). Laut den Vereinten Nationen ist der Finanzbedarf zur Bekämpfung der Corona-Krise von März bis Juli von zwei Mrd. auf 10,3 Mrd. US$ gestiegen. Gerade einmal 1,64 Milliarden davon waren zu diesem Zeitpunkt eingetroffen. Und bei diesen Summen geht es nur um Bedarfe im Zusammenhang mit Corona. Der gesamte Bedarf im humanitären Bereich liegt bei 40,2 Mrd. US$ (UN OCHA 2020).

Es gibt also gute Gründe, die Budgets im Lichte der Corona-Erfahrung zu überprüfen. „Rüstung bietet uns kaum Schutz vor Gesundheits- und Umweltgefahren. Eine weitere Stärkung unseres militärischen Arsenals wird der dringend benötigten internationalen Zusammenarbeit, der Vertrauensbildung und der Diplomatie nicht helfen, sondern eher Angst und Misstrauen nähren, mit anderen Worten, den Weg für mögliche Kriege ebnen, die aus ungelösten Herausforderungen resultieren“, sagt Jordi Calvo, Koordinator der Kampagne zu den weltweiten Militärausgaben des International Peace Bureau (IPB 2020).

Ein Aufruf von mehr als 200 Politikerinnen sowie zivilgesellschaftlich und kirchlich organisierten Frauen aus 40 Ländern rückt angesichts dieser Probleme die menschliche Sicherheit ins Zentrum: „Die COVID-19 Pandemie hat zweifellos bewiesen, dass Schlüsselbereiche der menschlichen Sicherheit nicht durch militärische Mittel oder im Alleingang von Nationen gelöst werden können, sondern weltweite Zusammenarbeit und gewaltfreie Konfliktlösung benötigen.“ (PNND 2020)

Es wäre zu begrüßen, wenn es in der Aufarbeitung der Corona-Pandemie gelänge, die Defizite eines militärisch verkürzten Sicherheitsverständnisses herauszuarbeiten. Die bestimmenden Krisen unserer Zeit, neben Pandemien der Klimawandel und die Armut, sind mit militärischen Mitteln nicht zu bearbeiten. Im Gegenteil, Militär und Kriege sind verantwortlich für gigantische Umweltschäden und sie tragen direkt oder indirekt zu Armut bei. Ein Verständnis von menschlicher Sicherheit würde helfen, sich auf die Bedürfnisse von Individuen zu konzentrieren.

In einer Welt, in der die Grundbedürfnisse von Milliarden Menschen nicht befriedigt werden und die Mittel für die angemessene Reaktion auf eine Virus­pandemie fehlen, sind die gigantischen Rüstungsausgaben eine obszöne Geld­verschwendung.

Literatur

Beirat der Bundesregierung Zivile Krisenprävention und Friedensförderung (2020): Die Covid-19-Pandemie und ihre Folgen – ­Herausforderung für Krisenprävention und Friedensförderung. Stellungnahme, 10.6.2020; konfliktbearbeitung.net.

Bundesministerium der Finanzen (2020a): Corona-Folgen bekämpfen, Wohlstand sichern, Zukunftsfähigkeit stärken – Ergebnis Koalitionsausschuss 3.Juni 2020.

Bundesministerium der Finanzen (2020b): Eckwertebeschluss der Bundesregierung zum Regierungsentwurf des Bundeshaushalts 2021 und zum Finanzplan 2020 bis 2024. März 2020.

Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) (2020): Vertrag zum Bau der MKS 180 unterzeichnet. bmvg.de, 19.6.2020.

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (2020): Rüstungsexportbericht 2019 – Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung im Jahr 2019. Pressemitteilung vom 17.6.2020.

Bundeswehr (2020): Erklärstück-Update – Das Mehrzweckkampfschiff 180. 19.6.2020; ­bundeswehr.de.

International Peace Bureau (IPB) (2020): Fund Peace, Not Arms Dealers. GCOMS/ENAAT Press Release, 8.5.2020.

Nassauer O. (2020): Weniger Sprengkraft, aber mehr Risiko – Kleine Atomsprengköpfe auf großen U-Boot-Raketen. W&F 2-2020, S. 43-46.

Parliamentarians for Nuclear Non-Proliferation and Disarmament et al. (PNND) (2020): Menschliche Sicherheit für das Gesundheitswesen, Frieden und nachhaltige Entwicklung – Ein weltweiter Appel von Frauen zur Feier des Internationalen Frauentags für Frieden und Abrüstung (24. Mai) und dem 75. Jahrestag der Vereinten Nationen. 12.5.2020.

Peter, D. (2020): Rüstung – Globale Ausgaben steigen, das sind die Profiteure. boerse-online.de, 25.3.2020.

Schwarte, G. (2020): Corona-Folgen in Afrika Müller warnt vor „Hunger-Pandemie“. 28.4.2020, tagesschau.de.

Statistisches Bundesamt (2020): Krankenhäuser – Einrichtungen, Betten und Patientenbewegung. 19.6.2020, destatis.de.

tagesschau.de (2020): Rüstungsexporte – Deutsche Waffen sind gefragt. 9.4.2020.

UN High Commissioner for Refugees/UNHCR (2020): UN chiefs urge sustained support to Syrians and the region ahead of fourth Brussels conference. Press Release, 29 June 2020.

United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UN OCHA) (2020): Global Humanitarian Response Plan – Covid-19. GHRP July Update, 16.7.2020.

World Bank (2018): Nearly Half the World Lives on Less than $5.50 a Day. Press Release, 17.10.2018.

World Food Programme (WFP) (2020): WFP-Chef warnt vor Hungerpandemie wegen COVID-19 (Erklärung vor dem UN-Sicherheitsrat). 21.4.2020.

Kathrin Vogler, MdB, ist friedenspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und Obfrau im Unterausschuss Zivile Krisenprävention.

Rohstoffe, Konflikte und Governance


Rohstoffe, Konflikte und Governance

von Michael Brzoska

An Rohstoffen entzünden sich häufig Konflikte, Beispiele dafür sind Erdöl, Diamanten oder Coltan. Manchmal geht es geht es um die Nutzung des Landes, auf dem die Rohstoffe liegen, andere Male um die Verteilung des Profits aus dem Rohstoffverkauf. Der Entstehung oder dem Wiederaufflammen von Rohstoffkonflikten lässt sich mit einer klugen und fairen Rohstoff-Governance und mit Partizipationsmöglichkeiten für alle Betroffenen vorbeugen. Der Autor zeigt gelungene und missglückte Beispiele auf und buchstabiert dabei durch, welche Faktoren für den konfliktfreien Umgang mit Ressourcen hilfreich sind.

Viele natürliche Ressourcen sind knapp und werden immer knapper. Bewaffnete Konflikte über ihre Ausbeutung, Verteilung und Nutzung sind damit vorprogrammiert: zum einen, weil Knappheit bedeutet, dass nicht alle so viel von den Rohstoffen bekommen, wie sie gerne hätten, zum anderen, weil Knappheit mit großen Profitmöglichkeiten bei der Gewinnung und Vermarktung einhergeht. Die Bedeutung von Rohstoffen für das weltweite Konfliktgeschehen wurde wissenschaftlich intensiv untersucht, besonders bekannte Beispiele sind Erdöl1 und Diamanten.2 Anfangs der 2000er Jahre identifizierte der bekannte Weltbank-Ökonom Paul Collier das Vorkommen von Rohstoffen als den mit Abstand wichtigsten Verursachungsfaktor für Bürgerkriege.3 Auf der Grundlage dieser Vergangenheitsanalyse und zahlreicher Einzelfälle von Gewalt und Krieg entstanden düstere Prognosen für die Zukunft: Kriege um Erdöl, Kriege um Wasser oder auch Klimakriege um geringer werdende Nahrungsmittel.4

Allerdings sind solche Prognosen über die Konfliktwirkung von Ressourcen einseitig. Sie beruhen auf sehr einfachen Annahmen über menschliches Verhalten und die Organisation von Gesellschaften. Die Möglichkeiten, mit Rohstoffen reich zu werden, sind für einzelne Menschen – vor allem für Machthaber und solche, die es werden wollen– ein wichtiger Antriebsfaktor, der bewaffnete Konflikte herbeiführen und schüren kann. Aber für die meisten Menschen dürfte es wichtiger sein, in Frieden zu leben. Darüber hinaus kann eine als gerecht angesehene Verteilung der Einnahmen statt bewaffneter Konflikte die Kooperation fördern. Entscheidend dafür, welche Wirkung – Konflikt oder Kooperation – die Verfügung über Rohstoffe entfaltet, ist vor allem die Kombination zweier Faktoren: der Art des Rohstoffes sowie der Regeln des Umgangs mit ihm und deren Umsetzung, oder anders gesagt: der Rohstoff-Governance, die zwischen der lokalen und der globalen mehrere weitere Ebenen haben kann.5

Die Rohstoff-Governance ist in vielen Bereichen gegenwärtig schwach ausgeprägt, in einigen hingegen bereits etabliert. Den Beispielen für die Konflikthaftigkeit von Rohstoffen stehen deshalb auch Beispiele gegenüber, in denen Rohstoffe kooperatives Verhalten und gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Nicht zuletzt deswegen hat sich die These von Paul Collier als verkürzt erwiesen und kranken die Prognosen über zukünftige Rohstoffkriege an Einseitigkeit. Im Folgenden will ich zunächst auf vier Beispiele eingehen, an denen gelungene Rohstoff-Governance, oder zumindest Ansätze dazu, deutlich werden. Abschließend versuche ich, daraus Lehren für eine friedensfördernde Rohstoff-Governance zu ziehen.

Wasserkonflikte

Der Vorstellung, dass um Wasser gekämpft werden wird, liegen sehr einfache, fast könnte man sagen biologistische Vorstellungen über eine lokale Knappheit von Ressourcen und deren Verteilung zu Grunde. Da Wasser als Trinkwasser, aber auch für die Nahrungsmittelproduktion eine für den Menschen unmittelbar notwendige Ressource ist, ist schnell der Schluss gezogen, dass die Menschen um Wasser kämpfen werden.

Diese Logik der Argumentation ist aber nur bedingt plausibel. Trinkwasser wird, da sind sich die Hydrolog*innen einig, trotz Klimawandel im globalen Maßstab keineswegs knapp sein. Zudem ist Wasser transportier- und handelbar, wird heute auch schon in großem Maße in der Welt umverteilt, insbesondere als »virtual water«, als virtuelles Wasser in Futter- und Nahrungsmitteln. Zwar dürfte lokale Knappheit, die es auch in der Vergangenheit schon gab, insbesondere im Zuge des Klimawandels zunehmen. Aber, das zeigen empirische Studien, die Bedeutung von Wasser für die Entstehung oder Eskalation von bewaffneten Konflikten in der jüngeren Vergangenheit war gering. Eine Gruppe um den US-amerikanischen Ökologen Aaron Wolf 6 hat in der bisher umfassendsten Untersuchung grenzüberschreitender Wasserressourcen festgestellt, dass es in den 1831 erfassten Konflikten über die Verteilung von Wasser nur in 21 Fällen zu bewaffneten Konflikte kam, bei denen Wasser tatsächlich eine Rolle spielte. Im Gegenteil: Vor allem da, wo Wasser grenz­überschreitend genutzt werden kann, wurde ein Großteil der potenziellen Konflikte zwischen Anrainerstaaten durch Hunderte von Verträgen und Dutzende von Flussgebietskommissionen entschärft.7 Gelegentlich, etwa im Verhältnis Israel-Palästina,8 ist die Zusammenarbeit beim Wassermanagement immerhin besser als in anderen Problemfeldern.

Warum ist das so? Es lassen sich rationalistische ebenso wie eher ethische Gründe finden. Wasser ist vor allem zwischenstaatlich kein Rohstoff, der sich teuer vermarkten lässt. Andererseits ist Wasser lebensnotwendig. So kann zwar das Verweigern des Zugangs zu Wasser zur Machtausübung genutzt werden, aber dies rührt an existenzielle Interessen der Benachteiligten und kann zu einer Eskalation von Konflikten führen, die weit über die mit dem Konflikt über das Wasser verbundenen Gewinne und Verluste hinausgeht. Die lebensstiftende Bedeutung von Wasser ist Grundlage des ethischen Arguments: Zugang zum Wasser zum Nachteil anderer einzusetzen, wird von vielen Akteuren abgelehnt.

Kontrolle von Konfliktrohstoffen

In der empirischen Forschung zu bewaffneten Konflikten ist gesichert, dass lokaler »Überfluss« von Rohstoffen ein größerer Triebfaktor von Konflikten ist als deren Knappheit. Dort, wo Machthaber Rohstoffeinnahmen für die eigene Bereicherung oder zur Finanzierung der Unterdrückung gesellschaftlicher oder ethnischer Gruppen nutzen können, steigt die Wahrscheinlichkeit bewaffneter Auseinandersetzungen. Für Rebellengruppen verbessert Rohstoffreichtum die Möglichkeiten zur Finanzierung der eigenen militärischen Kampagne. Auch international agierende Rohstoffvermarkter können ein Interesse an bewaffneten Konflikten haben, z.B. um billig an Konzessionen zu kommen, die sie erhalten, weil sie die kriegerischen Aktivitäten von Kriegsbeteiligten finanzieren.

Es liegt daher nahe zu versuchen, die internationale Vermarktung von Rohstoffen zu kontrollieren, um die konfliktfördernde Nutzung von Rohstoffeinnahmen zu begrenzen. Seit den späten 1990er Jahren wurden zahlreiche Initiativen in diese Richtung gestartet, so zu Diamanten, Zinn oder Coltan.

Die erste völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung war das 2003 abgeschlossene Kimberly-Abkommen zu Diamanten, das neben den Regierungen praktisch aller Staaten, in denen Diamanten gefördert werden, und den wichtigsten Käuferstaaten auch die großen privaten Konzerne, die mit Diamanten Geschäfte machen, und eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen umfasst. Kern des Kimberley-Systems ist die Vereinbarung, nur Diamanten zu handeln, für die ein Herkunftszertifikat der jeweiligen Regierung vorliegt. Dadurch soll verhindert werden, dass Rebellengruppen, wie in den Kriegen in Angola, Sierra Leone9 und Liberia geschehen, Diamanten zur Finanzierung ihrer Aktivitäten nutzen können. Und in der Tat hat die Bedeutung von Diamanten für die Kriegsfinanzierung stark nachgelassen. Durch das Kimberley-System werden allerdings auch Regierungen gestärkt, deren Verhalten selbst konfliktverschärfend ist. Ein Beispiel ist Zimbabwe, wo die Regierung ihre repressive Politik u.a. mit Einnahmen aus dem Diamantenhandel finanziert. Die ursprüngliche Begeisterung über das Kimberly-Abkommen hat daher, insbesondere bei einer Reihe von Nichtregierungsorganisationen, deutlich abgenommen.

Während das Kimberley-Abkommen zumindest die Regierungen der Herkunftsländer einschließt, sind andere Regelungen zu Konfliktrohstoffen exklusiv. So haben die Vereinigten Staaten 2013 ein umfassendes nationales Zertifizierungssystem beschlossen, um zu verhindern, dass in den USA verkaufte elektronische Geräte Coltan oder Zinn aus dem von bewaffneten Auseinandersetzungen geschüttelten Ostkongo enthalten. In der Europäischen Union ist ein ähnliches Gesetz bisher am Widerstand der Elektronikindustrie gescheitert, die die Kosten des Zertifizierungssystems scheut. Aber auch von Nichtregierungsorganisationen kommt Kritik, trifft doch ein Importverbot von Rohstoffen aus dem Ostkongo nicht nur bewaffnete Gruppen, sondern auch die Tausende von Menschen, die mit dem Schürfen metallischer Rohstoffe ihren Lebensunterhalt verdienen.10

Verteilung von Rohstoff-Einnahmen nach Konflikten

Insbesondere in Fällen, in denen Rohstoffe ein Faktor in bewaffneten Auseinandersetzungen waren, sind Regelungen über die zukünftige Rohstoffförderung und die gerechte Verteilung von Rohstoffeinnahmen eine Voraussetzung für die Konfliktbeendigung und für eine dauerhafte Friedensregelung. Hohe Rohstoffeinnahmen, die aufgrund des Bereicherungspotenzials zu bewaffneten Auseinandersetzungen beigetragen haben, können dann zu einer wichtigen Grundlage für den Wiederaufbau von Nachkriegsökonomien werden und zur Friedenskonsolidierung beitragen.

Diese Erkenntnis veranlasste sowohl Konfliktparteien wie die internationale Staatengemeinschaft, auf Fragen der Regelung von Rohstoffausbeutung und -einnahmenverteilung vor und in Friedensprozessen besonderes Gewicht zu legen. Die Bilanz ist gemischt.

So enthielt das Friedensabkommen von Naivasha von 2005 zwischen dem Sudan und südsudanesischen Rebellen ausführliche Regelungen zur wirtschaftlichen Nutzung des vor allem im Südsudan vorhandenen, aber nur über sudanesisches Hoheitsgebiet an einen Hafen transportierbaren Rohöls. Aber schnell entwickelten sich wieder Streitigkeiten, und das Öl wurde erneut zu einem Konfliktfaktor.

Anders verlief die Rohstoffnutzung nach dem bewaffneten Konflikt in Liberia. Für das Land ist Tropenholz von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung. Als erster Schritt der Regierung Sirleaf-Johnson wurden nach einer Überprüfung der Verträge alle Konzessionen zum Abbau von Rohstoffen gekündigt. Neue Verträge mit deutlich besseren Bedingungen für den Staat Liberia wurden ausgehandelt. Um zu erschweren, dass wie vor dem Ende des Krieges sich wieder einzelne Personen oder Gruppen an den Konzessionen bereichern, wurde ein hohes Maß an Transparenz über die abgeschlossenen Verträge eingeführt. Die internationale Gemeinschaft unterstützte diese Maßnahmen durch Expert*innen und ein von den Vereinten Nationen verhängtes Embargo auf den Import von aus Liberia stammenden Rohstoffen, z.B. Holz, soweit es nicht aus offiziellen Kanälen stammte und entsprechend zertifiziert war. Damit verbunden war die Kontrolle der liberianischen Regierung bei der Umsetzung der vereinbarten Regelungen und der Verwendung der Einnahmen.11 Schlechte Erfahrungen, etwa im Tschad, wurden zur Rechtfertigung dieses Eingriffs in die Souveränität der liberianischen Regierung angeführt.

Ein weiteres Land, in dem Rohstoffreichtum in wirtschaftliche Entwicklung umgesetzt wurde, ist Botswana. Zwar wird das Land autokratisch, aber doch im globalen Vergleich mit geringer Korruption und hohen Sozialausgaben regiert.12 Im Tschad hatten Regierung und gesellschaftliche Organisationen auf Druck der internationalen Gebergemeinschaft Anfang der 2000er Jahre eine Vereinbarung über die Nutzung von Ölreserven geschlossen, die jedoch nach Fertigstellung einer international finanzierten, durch Kamerun verlaufenden Pipeline von der Regierung gebrochen wurde.13

Entscheidungen über Rohstoffverwertung

Ein weiteres Bündel von Ideen und Initiativen, um Gewinnung und Vermarktung von Rohstoffen nicht zu einer Quelle von Gewalt werden zu lassen, sondern im Gegenteil zu einem Faktor für den Zusammenhalt von Gesellschaften und internationale Kooperation, setzt an den Entscheidungsprozessen entlang der Kette von Rohstoffexploration, -abbau und -vermarktung bis zur Verwendung der Einnahmen an. An allen Stellen besteht die Gefahr, dass sie in bewaffnete Konflikte eskalieren, wenn die Betroffenen ihre Interessen verletzt sehen. Das als ehrlich empfundene Bemühen, diese Interessen ernst zu nehmen und entsprechend zu entscheiden, kann Konflikte deutlich entschärfen.

Als wichtiges Instrument dafür gilt die Ausweitung der Partizipation betroffener und relevanter Akteure. Das beginnt bei der Frage, ob etwa angesichts ökologischer Auswirkungen Rohstoffe überhaupt abgebaut werden sollen, bis hin zu Fragen der privaten oder öffentlichen Verfügung über bestimmte Ressourcen, wie etwa Land, oder die Frage, wie Rohstoffeinnahmen verwendet werden sollen. Partizipation hat viele Facetten und kann vom Recht auf Gehör bis hin zur Beteiligung an Entscheidungen gehen. Je umfassender Partizipation gestaltet wird, umso besser sind die Chancen auf einen tragfähigen Interessenausgleich zwischen relevanten Gruppen. Allerdings zeigen Studien, dass auch umfassende Partizipation kein Allheilmittel ist, um eine Eskalation in die Gewalt zu verhindern. Sie kann bestehende Machtverhältnisse nicht ändern, lässt sich manipulieren und ist vom guten Willen der Beteiligten abhängig.

Eine Grundvoraussetzung für Partizipation ist ein umfassender Kenntnisstand aller Beteiligten. Dies ist aber häufig nicht gegeben. Viele Entscheidungen über Rohstoffgewinnung und -vermarktung sind intransparent. Damit werden Korruption, die Übervorteilung nationaler Regierungen durch internationale Konzerne, aber auch die Bevorzugung oder Benachteiligung gesellschaftlicher und ethnischer Gruppen aus Machtinteressen ermöglicht.

Eine Reihe internationaler Initiativen zielt daher auf die Verbesserung der Transparenz im Rohstoffbereich. Mehrere zielen auf Transparenz bezüglich der finanziellen Arrangements der internationalen Rohstoffvermarktung, etwa die durch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen unterstützte »publish what you pay«-Kampagne14 oder die vor allem von Regierungen getragene Extractive Industries Transparency Initiative.15 Bei anderen, etwa im Bereich des »land grabbing« (Landraub), geht es eher um Transparenz für die lokale Bevölkerung, in diesem Falle über landwirtschaftlich nutzbares Land.16

Gemeinsam ist diesen Initiativen der Gedanke, dass Transparenz und Partizipation zu einer gerechteren, weniger gegen Bereicherung anfälligen Rohstoffausbeutung und -vermarktung führen. Vorbild sind dabei Staaten wie Norwegen, wo der Umgang mit großen Ölvorkommen weitgehend im gesellschaftlichen Konsens geregelt wird, oder auch Ghana, wo vor Beginn der Ausbeutung von Öl und Gas ein gesellschaftlicher Diskussionsprozess in Gang gesetzt wurde.17 Typischerweise liegen beim dem vom Natural Resource Governance Institute entwickelten Index für Rohstoff-Governance westliche Industriestaaten an der Spitze. Der Index kombiniert Indikatoren, die Transparenz, Korruption, Gesetzeswerke und andere Rahmenbedingungen für Entscheidungen über die Gewinnung und Vermarktung von Rohstoffen in einzelnen Ländern abbilden, nicht jedoch die Akzeptanz solcher Entscheidungen bei gesellschaftlichen Gruppen.18 Zu den (nur) elf Staaten mit »befriedigender« Rohstoff-Governance werden deshalb auch einige südamerikanische Demokratien gezählt, in denen es auf lokaler Ebene durchaus zu (gelegentlich auch gewalttätigen Konflikten) über Rohstoffausbeutung kommt. Ghana und Liberia hingegen werden auf Grund schlechterer Zugangsmöglichkeiten zu Informationen und eines problematischen rechtlichen Umfeldes schlechter bewertet.

Rohstoffe als Faktor für den Frieden?

Die Ausbeutung von Rohstoffen hat, wie die Beispiele andeuten, durchaus das Potenzial, Frieden zu fördern. Allerdings bedarf es darauf ausgerichteter gesellschaftlicher und politischer Organisation und Strukturen, um dieses Potenzial zu heben. Ohne gezielte Maßnahmen ist bei vielen Rohstoffen die Gefahr groß, dass sie ein Faktor für Gewalt und sogar bewaffnete Konflikte werden. Das zeigt sich besonders oft in der Bedeutung von Rohstoffen für die Finanzierung bewaffneter Konflikte.

Gerade im letzteren Bereich bestehen, wie etwa die Bemühungen um die Einschränkung des Handels mit »Blutdiamanten« gezeigt haben, Einflussmöglichkeiten für externe Akteure. Dasselbe gilt in beschränkterem Maße für Initiativen zur Stärkung von Rohstoff-Governance. Auch gut durchdachte Bemühungen führen allerdings in Dilemmata, so in der Frage, welche Bedeutung nationaler Souveränität beigemessen wird oder inwieweit lokale Machtverhältnisse, zum Beispiel zwischen staatlichen Institutionen und im Kleinbergbau tätigen Menschen, reproduziert werden.

Auch partizipative und transparente Entscheidungsprozesse können zu Ergebnissen führen, die bei den Betroffenen auf Ablehnung nehmen. So ist selbst in Ghana, trotz seiner zahlreichen Maßnahmen, die Begeisterung der Bevölkerung über die Ergebnisse der Öl- und Gaspolitik der letzten Jahre sehr begrenzt. In einer Umfrage von 2014 bewerteten sieben von zehn Ghanaer*innen die Nutzung der Öleinnahmen als ineffizient.19 Im Falle Ghana gibt es aber keine Anzeichen dafür, dass die Unzufriedenheit zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen könnte.

Trotzdem zeigt das Beispiel, dass über Entscheidungsprozesse hinaus deren Ergebnisse und insbesondere deren Akzeptanz durch relevante Gruppen entscheidend für ihren Beitrag zur Förderung von Konflikten oder von gesellschaftlichem Zusammenhalt ist. Die Vermittlung ist gerade bei Konflikten besonders schwierig, die sich an Rohstoffen entzünden, seien es Ressourcen für die grundlegende Versorgung, wie Land und Wasser, oder Rohstoffe, die häufig sehr hohe, scheinbar »vom Himmel gefallene« Renteneinnahmen ermöglichen. Wo relevante gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht vorliegen, ist dies besonders schwierig, wie die Beispiele Liberia, Ghana und Botswana zeigen, aber keineswegs unmöglich.

Anmerkungen

1) Michael Ross (2012): The Oil Curse – How Petroleum Wealth Shapes the Development of Nations. Princeton: Princeton University Press.

2) Philippe Le Billon (2014): Wars of Plunder – Conflicts, Profits and the Politics of Resources Oxford: Oxford University Press.

3) Collier, P. et al. (2003): Breaking the Conflict Trap – Civil War and Development Policy. A World Bank policy research report. Washington, DC: World Bank and Oxford University Press.

4) Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) (2007): Welt im Wandel – Sicherheitsrisiko Klimawandel. Hauptgutachten 2007. Berlin, Heidelberg: Springer.
Klare M.T. (2008): Rising Powers, Shrinking Planet – The New Geopolitics of Energy. New York: Metropolitan Books.
Andrews-Speed, P. et al. (2015):Want, Waste or War? The Global Resource Nexus and the Struggle for Land, Energy, Food, Water and Minerals. London: Routledge.

5) Bleischwitz, R. et al. (2012): International resource politics – new challenges demanding new governance approaches for a green econ­omy. Berlin: Wuppertal Institut und Heinrich Böll Stiftung.

6) Yoffe S. et al. (2004): Geography of international water conflict and cooperation – Data sets and applications. Water Resources Research, Vol . 40, No. 5.
Petersen-Perlman, J.D.; Veilleux, J.D.; Wolf, A.T. (2017): International water conflict and cooperation – challenges and opportunities. Water International, Vol. 42, S. 105-120.

7) Link, M; Scheffran, J.; Ide, T. (2016): Conflict and cooperation in the water-security nexus – a global comparative analysis of river basins under climate change. Wiley International Reviews: Water, Vol. 3, No. 4, S. 495-515.
Giordano, M. et al. (2014): A review of the evolution and state of transboundary fresh­water treaties. International Environmental Agreements: Politics, Law and Economics, Vol. 14, No. 3, S. 245-26.
Bernauer, T. and Böhmelt, T. (2014): Basins at Risk – Predicting International River Basin Conflict and Cooperation. Global Environmental Politics, Vol. 14, No. 4, S. 116-138.

8) Ide, T. and Fröhlich, C. (2015): Socio-environmental cooperation and conflict? A discursive understanding and its application to the case of Israel and Palestine. Earth System Dynamics, Vol. 6, S. 659-671.

9) Zum Beispiel Sierra Leone siehe Nina Engwicht (2017): Rohstoffe als Mittel zum Friedensaufbau? Environmental Peace Building in Sierra Leone. S. 10 dieser W&F-Ausgabe.

10) Kelly J.T.D. (2014): “This mine has become our farmland” – Critical perspectives on the coevolution of artisanal mining and conflict in the Democratic Republic of the Congo. Resources Policy, Vol. 40, No. 2, S. 100-108.

11) Lujala, P.; Rustad, S.A.; Kettenmann, S. (2016): Engines for Peace? Extractive Industries, Host Countries, and the International Community in Post-Conflict Peacebuilding. Natural Resources, Vol 7, No. 5, S. 239-250.
Lujala, P. and Rustad, S.A. (2013): High-value natural resources and post-conflict peacebuild­ing. London: Routledge.
Carbonnier, G. and Wennmann, A. ( eds.) (2013): Natural Resource Governance and Hybrid Political Orders. London: Routledge.

12) Korinek, J. (2014): Mineral Resource Policies for Growth and Development – Good Practice Examples. In: OECD: Export Restrictions in Raw Materials Trade. Paris, OECD, S. 225-269.

13) Yorbana, S. (2017): Representations of Oil in Chad: A Blessing or a Curse? Africa Spectrum, Vol. 52, No. 1, S. 65-83.

14) Siehe publishwhatyoupay.org.

15) Siehe eiti.org.

16) International Land Coalition, siehe landcoalition.org.

17) Gyimah-Boadi, E. and Prempeh, H.K. (2012): Oil, Politics, and Ghana’s Democracy. Journal of Democracy, Vol 23, No. 3, S. 94-108.

18) Siehe resourcegovernance.org/resource-­governance-index.

19) Obeng-Odoom, F. (2015): Oil Rents, Policy and Social Development Lessons from the Ghana Controversy. Geneva: UNRISD, ­Research Paper, S. 1.

Prof. Dr. Michael Brzoska ist ehemaliger Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik und PI im Exzellenzcluster für Klimaforschung an der Universität Hamburg.

Rohstoffe als Mittel zum Friedensaufbau?


Rohstoffe als Mittel zum Friedensaufbau?

Environmental Peacebuilding in Sierra Leone

von Nina Engwicht

Lange wurde der Zusammenhang zwischen Rohstoffvorkommen und gesellschaftlichen Konflikten vor allem darauf untersucht, ob und wie natürliche Ressourcen bewaffnete Gewalt verursachen. Derzeit rückt stärker die Fragestellung in den Vordergrund, ob natürliche Ressourcen auch als Mittel zum Friedensaufbau eingesetzt werden können. Besonders in Konfliktkontexten, in denen natürliche Ressourcen bereits als Konfliktgegenstand den Gewaltverlauf prägten, kann der Einbezug von Umwelt- und Rohstoffaspekten in den Friedens­aufbau­prozess ein zentraler Faktor für die ­langfristige Stabilität des Friedenszustands sein. Am Beispiel des Friedens- und Staatsaufbaus im sierra-leonischen Diamantensektor erläutert die Autorin, welche Herausforderungen beim »Environmental Peacebuilding« zu bewältigen sind.

Nachdem über Jahrzehnte die Auswirkungen von Ressourcenreichtum oder -knappheit die wissenschaftliche Debatte über den Zusammenhang zwischen Primärrohstoffen und bewaffneten Konflikten prägten, gewinnt aktuell eine neue Perspektive an Aufwind: die Analyse des Zusammenhangs zwischen natürlichen Ressourcen und Friedensprozessen, die oft unter dem Begriff »Environmental Peacebuilding« subsumiert wird (z.B. Bruch et al. 2016). Environmental Peacebuilding geht von der grundlegenden Annahme aus, dass Umweltaspekte von Krieg und Frieden – die bislang in Friedensaufbauprozessen eher stiefmütterlich behandelt wurden – keineswegs ein »weiches« Thema sind, sondern vielmehr ein Kernproblem darstellen, dessen politische Handhabung für die Zukunft konfliktbetroffener Gesellschaften entscheidend sein kann (Conca/Wallace 2012). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn natürliche Ressourcen bereits den gewaltsamen Konfliktaustrag ursächlich beeinflussten, beispielsweise wenn die Nutzung knapper Umweltressourcen Konfliktgegenstand war oder Einnahmen aus dem Ressourcenhandel bewaffnete Gewalt finanzierten und motivierten.

Das Konzept des Environmental Peacebuilding bezieht sich auf mehrere Dimensionen der Wechselwirkung zwischen natürlichen Ressourcen und Dynamiken von Krieg und Frieden. Ebenso vielfältig wie die Umweltaspekte des Krieges sind auch die diskutierten Lösungsansätze: Wo Umweltschäden als direkte Konsequenz von Kriegshandlungen (z.B. Einsatz von chemischen Waffen oder Anti-Personen-Minen) oder infolge indirekter Kriegsauswirkungen (z.B. nicht-nachhaltige Ressourcennutzung, Abholzung oder die Verschmutzung von Gewässern) die menschliche Sicherheit gefährden, kann die Wiederherstellung überlebenswichtiger Umweltressourcen ein wichtiges Instrument des Friedensaufbaus darstellen (UNEP 2009). Wo die Zukunft umkämpfter Territorien, auf denen möglicherweise auch nach dem formalen Friedensschluss noch Streitkräfte angesiedelt sind, ungeklärt ist, können »Peace Parks« ein Mittel sein, Konflikte über Gebietsherrschaft zu entschärfen und Umweltschutz mit der Entmilitarisierung sozialer Beziehungen zu verbinden (Walters 2015). In Situationen, in denen die Eigentümerschaft, die Verteilung oder die Nutzung von natürlichen Ressourcenvorkommen umstritten sind, kann Mediation Konfliktparteien dazu verhelfen, ein nachhaltiges Ressourcenmanagement als gemeinsame Zielsetzung zu definieren, strukturelle Ungleichheiten und Ausgrenzungsprozesse in Bezug auf Ressourcenverteilung zu reduzieren und sich auf eine Strategie der friedlichen Ressourcennutzung zu einigen (Wennmann 2011; UNEP 2015).

Wenn Ressourcenkonflikte als Sach­themen – also losgelöst von ­identitären Ansprüchen – verhandelt werden können, bieten sie Konfliktparteien die Möglichkeit, anhand eines gemeinsamen Interesses kooperativ miteinander in Beziehung zu treten, und dienen in polarisierten und militarisierten Kontexten somit als Instrument für den Vertrauensaufbau. Mediation kann jedoch in der Regel nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer verbesserten Ressourcen-Governance sein, deren Ziel es ist, die Rohstoffvorkommen eines Landes nachhaltig, egalitär und zum Wohle der Bevölkerung zu nutzen. Institutionelle Reformen in Ressourcensektoren zielen dementsprechend häufig auf die Schaffung legaler und transparenter Marktstrukturen, auf die Bekämpfung von Korruption und auf die Erhöhung von Steuereinnahmen aus dem Rohstoffexport.

Die gestiegene Aufmerksamkeit für die Rolle natürlicher Ressourcen in Friedensprozessen spiegelt sich zunehmend auch in der Praxis wieder. In seinem Fortschrittsbericht zum Friedensaufbau forderte der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon im Jahr 2010 die UN-Mitgliedsstaaten dazu auf, „die Frage der Zuteilung und Eigentümerschaft von natürlichen Ressourcen sowie des Zugangs zu diesen zum integralen Bestandteil von Friedensaufbaustrategien zu machen“ (A/64/866-S2010/386). Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Environmental Program/UNEP) definiert Umweltimplikationen von Naturkatastrophen und bewaffneten Konflikten als eine seiner sechs Prioritäten. Verschiedene nationale und transnationale Gesetze sowie nicht-staatliche Kontrollregime sollen dabei helfen, den Handel mit »Konfliktrohstoffen« zu unterbinden. Schließlich finden Ressourcenfragen immer häufiger Eingang in Friedensschaffungs- und Friedensaufbaumissionen.

Herausforderungen einer friedensfördernden Ressourcen-Governance

Welche Herausforderung die Nutzung von Rohstoffen für den Friedensaufbau darstellt, lässt sich am Beispiel Sierra Leones illustrieren. Sierra Leone eignet sich zur Analyse des Erfolgs von Friedensaufbaumaßnahmen in Rohstoffsektoren aus zwei Gründen. Zum einen gilt der sierra-leonische Bürgerkrieg als paradigmatischer Fall eines Krieges, in dem natürliche Ressourcen den gewaltsamen Konfliktaustrag ursächlich (mit-) bedingten. Die Gewalt konnte erst infolge drastischer externer Interventionen in die Diamantenproduktion und den Diamantenhandel beendet werden. Zum anderen handelt es sich um einen der wenigen Fälle, in denen ein konfliktbetroffener Rohstoffsektor nach Kriegsende umfassend reformiert wurde. Die Reformen hatten zum Ziel, die Produktion und den Handel mit Sierra Leones Rohdiamanten zu legalisieren, Korruption und Steuerhinterziehung einzudämmen und den Ressourcenreichtum des Landes für die Bevölkerung nutzbar zu machen. Die UN-Friedensaufbaumission in Sierra Leone war eine der ersten Missionen, die die Wiedererlangung staatlicher Kontrolle über die Rohstoffproduktion in ihrem Mandat formulierte.

Auf der internationalen Ebene der Rohstoff-Governance führte die zunehmende Skandalisierung des Handels mit »Blutdiamanten« zur Entwicklung des Kimberley-Prozesses, eines globalen Regulationsmechanismus, der den Handel mit Rohdiamanten kontrollieren soll.1 Sierra Leone ist seit 2003 Mitglied des Kimberley-Prozesses. Seit 2014 erfüllt es zudem die Vorgaben der »Extractive Industries Transparency Initiative«, deren Ziel es ist, Unternehmenszahlungen an Regierungen in ressourcenproduzierenden Ländern transparent zu machen.

Auf der nationalen Ebene wurde der Diamantensektor (ebenso wie der Bergbausektor insgesamt) seit dem Ende des Bürgerkrieges umfänglich und unter intensiver Unterstützung durch internationale Organisationen reformiert. So wurde mit der National Minerals Agency eine neue Institution geschaffen, die mit der Durchsetzung der Bergbaupolitik beauftragt ist. Auf diese Weise sollen die Politikentwicklung, die nach wie vor in den Händen des Bergbauministeriums liegt, und ihre Umsetzung institutionell getrennt werden. Neben der Professionalisierung der staatlichen Bergbaupolitik soll dadurch der intransparente und informelle Vergabeprozesse von Bergbaulizenzen, die den Bergbausektor jahrzehntelang prägten, unterbunden werden. Rechtliche Reformen im Diamantensektor umfassen unter anderem die Bergbaugesetzgebung, das Arbeitsrecht und das Umweltrecht.

Auf der lokalen Ebene der Diamantenabbaugebiete soll mittels eines »Diamond Area Community Development Fund« zum einen garantiert werden, dass ein Teil der Profite aus dem Ressourcenabbau direkt an rohstoffproduzierende Gemeinden zurückfließt. Zum anderen soll ein monetäres Anreizsystem geschaffen werden, das »Chiefs« motiviert, die Ausstellung möglichst vieler legaler Schürflizenzen zu unterstützen, anstatt informelle Schürfaktivitäten auf den ihnen unterstellten Gebieten zuzulassen. Der Nutzen der sierra-leonischen Bevölkerung am industriellen Bergbau soll mittels einer »Local Content Policy« (Politik zugunsten einer größtmöglicher Wertschöpfung im eigenen Land) sowie Vereinbarungen über die soziale Verantwortung der Unternehmen (Corporate Social Responsibility) mit allen größeren Bergbaufirmen gesichert werden.

Es wurde also auf verschiedenen Ebenen der Rohstoff-Governance viel dafür getan, den sierra-leonischen Diamantensektor so zu reformieren, dass die Gewinne aus dem Edelsteinabbau der Bevölkerung zugute kommen. Dementsprechend wird der sierra-leonische Diamantensektor häufig als Erfolgsfall für Governance-Reformen in konfliktgeprägten Ressourcenmärkten gehandelt. Die Zahlen scheinen dieser Einschätzung Recht zu geben. So stiegen die offiziellen Diamantenexporte bereits direkt nach Einführung des ersten UN-mandatierten Zertifikationsregimes für Rohdiamanten, dem Vorläufer des Kimberley-Prozesses, von 1,2 Mio. US$ im Jahr 1999 auf über 26 Mio. US$ im Jahr 2001 (Gberie 2002). 2012 exportierte Sierra Leone über 540.000 Karat Diamanten im Wert von über 163 Mio. US$ und zählt damit zu den zehn größten Diamantenproduzenten weltweit. Aus dem starken Anstieg der legalen Exporte lässt sich schließen, dass der weitaus größte Teil sierra-leonischer Diamantenexporte heute auf legalem Wege erfolgt. Neben der weitgehenden Legalisierung des Diamantenexports wird auch die Entkopplung von Diamantenhandel und kriegerischer Gewalt als außergewöhnlicher Erfolg gewertet. So sind die maßgeblichen Akteure der sierra-leonischen »Kriegsökonomie« heute ausnahmslos von der Bildfläche des Marktgeschehens verschwunden.

Bei genauerem Hinsehen, zeigt sich jedoch, dass die Reformbemühungen auch fünfzehn Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges auf der lebensweltlichen Ebene der sierra-leonischen Gesellschaft kaum Veränderungen herbeigeführt haben. Nach wie vor sind die Steuereinkommen aus dem Diamantensektor sehr gering: 2012 lagen die Einnahmen aus Exportsteuern bei unter 8 Mio. US$, bei einem Exportvolumen von 163 Mio. US$ (GoSL 2012). Noch immer zählen die diamantenproduzierenden Gebiete zu den ärmsten Regionen des Landes, in denen extreme Armut, Arbeitslosigkeit und Nahrungsmittelunsicherheit den Alltag der Bevölkerung prägen. Der Klein- und Kleinstbergbau ist nach wie vor von denselben informellen und großenteils ausbeuterischen Marktstrukturen geprägt, die den Diamantenmarkt schon seit fast einem Jahrhundert kennzeichnen (Engwicht 2016).

Entgegen der weit verbreiteten Annahme, dass vor allem der schwer zu kontrollierende Kleinbergbau besonders konfliktanfällig sei, zeugen die Entwicklungen auf dem sierra-leonischen Diamantenmarkt von den Konfliktpotentialen, die von – durch Geberorganisationen häufig favorisierten – Großprojekten ausgehen. So waren die Minen des größten Diamanten abbauenden Unternehmens Sierra Leones, Koidu Holdings/Octea, in den letzten Jahren wiederholt Schauplatz gewaltsam eskalierender Proteste, die mehrere Tote forderten. Die Demonstrationen gegen die Schürffirma sind im breiteren Kontext der Unzufriedenheit der Bewohner*innen der Schürfgebiete zu verstehen, die dem Unternehmen unter anderem autoritäres und gewaltsames Vorgehen – etwa in Bezug auf Umsiedelungen –, Rassismus gegenüber einheimischen Arbeitskräften und mangelnde Transparenz vorwerfen. Sie werden des Weiteren genährt durch das Gefühl, nicht vom Ressourcenreichtum des Landes zu profitieren. Dies verweist auf die Konfliktrisiken, die enttäuschte Erwartungen in ressourcenreichen Nachkriegsgesellschaften verursachen können, insbesondere wenn im Zuge des Friedensaufbaus Hoffnungen auf ressourcenbasierten Wohlstand geweckt wurden.

Fazit

Die Vernachlässigung von zentralen Fragen der Ressourcen-Governance, etwa der nachhaltigen und friedlichen Nutzung knapper Ressourcen, des gerechten Zugangs und des gesamtgesellschaftlichen Nutzens vom Ressourcenabbau, kann den Frieden in Postkonfliktgesellschaften gefährden. Wie sehr im Umkehrschluss gute Regierungsführung in Ressourcensektoren als Mittel zur Friedenssicherung genutzt werden kann, ist nach wie vor offen.

Sierra Leone kann einerseits als Erfolgsfall des Environmental Peacebuilding gewertet werden. Durch Interventionen in den Diamantensektor konnten kriegsökonomische Marktstrukturen abgeschafft, bewaffnete Gewalt beendet und die Rohstoffausfuhr formalisiert werden. Das sierra-leonische Beispiel zeigt jedoch zugleich, vor welch enormen Herausforderungen Postkonfliktgesellschaften stehen, die natürliche Ressourcen als Mittel zum Friedensaufbau nutzen wollen. Dies ist selbst dann der Fall, wenn ein vergleichsweise hohes Maß an (finanziellen, materiellen und personellen) Mitteln in die Schaffung nachhaltiger und friedensförderlicher Strukturen in Rohstoffsektoren investiert werden.

Anmerkung

1) Obwohl der Kimberley-Prozess seither u.a. für sein enges Konzept von »Konfliktdiamanten« und seine eingeschränkte Durchsetzungskraft in Kritik geraten ist, gilt er nach wie vor als eines der erfolgreichsten Instrumente im Kampf gegen den Handel mit Konfliktrohstoffen und war dementsprechend Vorbild für weitere nationale und internationale Regulationsregime, wie den amerikanischen Dodd-Frank Act und die kürzlich beschlossene EU-Verordnung zur Kontrolle des Handels mit Gold, Zinn, Coltan und Wolfram.

Literatur

Bruch, C.; Muffett, C.; Nichols, S. (eds.) (2016): Governance, Natural Resources, and Post-Conflict Peacebuilding. London: Routledge.

Conca, K.;Wallace, J. (2012): Environment and Peacebuilding in War-Torn Societies – Lessons from the UN Environment Programme’s Experience with Post-Conflict Assessment. In: Jensen, D.; Lonergan, S. (eds.), Assessing and Restoring Natural Resources in Post-Conflict Peacebuild­ing. London: Routledge, S. 63-84.

Engwicht, N. (2016): Illegale Märkte in Postkonfliktgesellschaften – Der sierra-leonische Diamantenmarkt. Frankfurt a. M.: Campus.

Gberie, L. (2002): War and Peace in Sierra Leone – Diamonds, Corruption and the Lebanese Connection. Ottawa: Diamonds and Human Security Project, Occasional Paper, Nr. 6.

Government of Sierra Leone (2012): Gold and Diamonds Exports Report 2012. Unveröffentlichter Bericht. Freetown: Government of Sierra Leone.

United Nations Environment Programme/UNEP (2009): From Conflict to Peacebuilding – The Role of Natural Resources and the Environment.

United Nations Environment Programme/UNEP (2015): Natural Resources and Conflict – A Guide for Mediation Practitioners.

United Nations General Assembly and Security Council (2010): Progress report of the Secretary-General on peacebuilding in the immediate aftermath of conflict. Dokumentnr. A/64/866-S2010/386.

Walters, J.T. (2015): A peace park in the Balkans – Cross-border cooperation and livelihood creation through coordinated environmental conservation. In: Young, H.; Goldman, L. (eds): Livelihoods, Natural Resources, and Post-ConflictPeacebuilding. London: Routledge, S. 155-166.

Wennmann, A. (2011): The Political Economy of Peacemaking. London: Routledge.

Dr. Nina Engwicht ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedensakademie Rheinland-Pfalz. Sie leitet dort, gemeinsam mit Dr. Sascha Werthes, den Arbeitsschwerpunkt »Umweltveränderungen und Ressourcen als Konfliktursache und Bedrohung der menschlichen Sicherheit«.

Ressourcen für den Frieden


Ressourcen für den Frieden

von Klaus Harnack

„Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift sei.“ So sprach Paracelsus und verwies damit nicht zuletzt auf die Erkenntnis, dass wenn ein Ding im Übermaß konsumiert wird, Krankheiten selten ausbleiben.

Eine ökonomische Krankheit, die sich derselben Logik bedient und ihren Ursprung im übermäßigen Konsum von materiellen Ressourcen hat, ist die »Holländische Krankheit«. Seinen Namen bekam dieses Wirtschaftsmodell, das im Kern die negativen Konsequenzen einer zu starken Fokussierung auf Rohstoffexporte beschreibt, in den 1980er Jahren. Rund zwanzig Jahre zuvor kam es in den Niederlanden zu umfangreichen Erdgasfunden, die letztlich der Grund für die folgende Wirtschaftskrise waren.Seitdem steht die Holländische Krankheit stellvertretend für die negativen Konsequenzen auf die Wirtschaft eines Landes, wenn sich das Land zu sehr auf die direkte (Aus-) Nutzung einer einzigen Ressource, meistens eines Rohstoffs, konzentriert. Der Krankheitsverlauf ist immer ähnlich: Im Zuge starker Rohstoffexporte kommen vermehrt Devisen ins Land, damit einher geht die Aufwertung der eigenen Währung. Durch die verteuerte Währung werden Exporte anderer inländischer Produkte teurer und schaffen somit ein erschwertes Umfeld für die übrigen Agar- und Industriebereiche. Im selben Zuge verbilligen sich Importe, was zur weiteren Vernachlässigung eigener Wirtschaftszweige führt. Im Resultat wird die eigene Wirtschaft geschwächt, und es entstehen starke Abhängigkeiten von einzelnen Märkten, Unternehmen oder Ländern. Der ursprüngliche Segen einer Ressource kehrt sich in einen Fluch. Zwar sind die Niederlande inzwischen von ihrer eigenen Krankheit genesen, aber in Länder wie z.B. Venezuela kam es zu einer Chronifizierung dieser Krankheit.

Diese negativen Konsequenzen einer zu starken Fokussierung auf die Rohstoffe eines Landes werden in einer umfassenderen Betrachtung oft auch als Ressourcenfluch (resource curse) bezeichnet. Der Kern dieses Begriffes bezieht sich allerdings weniger auf die wirtschaftswissenschaftlichen Zusammenhängen als vielmehr auf die Bündelung menschlichen Fehlverhaltens, das oft im Zusammenhang mit einer dominanten Rohstoffquelle auftritt. Klassische Merkmale hierfür sind die im Zusammenhang mit der Rohstoffförderung zunehmenden Umweltzerstörungen, das Aufkommen von Korruption und antidemokratischen Staatsstrukturen, die geprägt sind von politischer Instabilität und oft auch bewaffneten Konflikten. In der Folge kommt es dann meist zur Vernachlässigung des Bildungssektors und der öffentlichen Gesundheits- und Sozialversorgung. Der Gier folgt die menschliche Verachtung oder wie es so schön heißt: Gier frisst Gehirne.

Dennoch sind Ressourcen nicht per se schlecht für ein Land, sie haben vielmehr einen ambivalenten Charakter. Es liegt an den Rahmenbedingungen, die entscheiden, ob sich Ressourcen zum Wohle einer Gesellschaft auswirken oder zu einer Last entwickeln. Ein Paradebeispiel für diese starke Ambivalenz materieller Ressourcen, besonders des Rohöls, sind die Unterschiede zwischen Nigeria und Norwegen – beides Länder mit riesigen Erdölvorkommen, allerdings mit komplett unterschiedlichen Rahmenbedingungen und somit gegensätzlichen Auswirkungen auf die jeweiligen Gesellschaften.

Folgerichtig fragt W&F in der Ausgabe »Ressourcen für den Frieden« nach Dingen, Personen, Systemen und Gegebenheiten, die dem Frieden zuträglich sind, ihn unterstützen, ermöglichen und nähren. Die vorliegende Ausgabe beleuchtet weitergehend die Frage, wie und unter welchen Umständen Ressourcen nicht zum Fluch, sondern zum Segen für den Frieden werden können. Wichtig ist hierbei die Erweiterung des Ressourcenbegriffs, der nicht auf materielle Ressourcen reduziert, sondern in seiner ganzen Breite betrachtet wird. Jenseits materieller Ressourcen, unter denen meist Betriebs- oder Geldmittel, Boden, Rohstoffe, Energie, Personen und Arbeit verstanden werden, stehen in dieser Ausgabe hauptsächlich immaterielle Ressourcen im Zentrum der Analysen. Jenseits von Öl, Gold und Seltenen Erden fragen wir deshalb nach Ressourcen wie Bildung, Gesundheit, Geschichtsbewusstsein, Handel, Religion, Kultur, Rechtstaatlichkeit und Medien, die als Unterbau und Mittel für friedliche Gesellschaften dienen können. Besonders diese immateriellen Ressourcen müssen aus ihrem Schattendasein geführt werden, um sie als bewusstes Mittel einsetzen zu können und als Erweiterung des gängigen Ressourcenbegriffs zu nutzen.

Das Hauptanliegen dieser Ausgabe ist es dementsprechend, Ressourcen wieder als Chance für den Frieden zu begreifen, im Gegensatz zu den klassischen Headlines wie »Kampf um Ressourcen«, »Der Krieg ums Wasser«, »Der Fluch der Ressourcen«, etc. Steckt doch im Wort Ressource das lateinische Wort »resurgere« für Quelle und Mittel, welche in ihrem ursprünglichen Sinne positive Konstrukte sind, aber im gegenwärtig politischen Sinne eher negativ assoziiert werden.

Viel Spaß bei der Erkundung neuer Ressourcen für den Frieden wünscht Ihnen

Ihr Klaus Harnack