Energiewende und Frieden?

Energiewende und Frieden?

Gemeinsame Sicherheit durch den Energiesektor in Zypern und der Nachbarschaft

von Emine Eminel Sülün

Der Nexus von nachhaltiger Energie und Frieden in Zypern bedarf einer strategischen Ausrichtung der Entwicklung erneuerbarer Energieerzeugung in Verbindung mit kollektiven Maßnahmen auf der gesamten Insel. Zypern, gelegen in einer von der globalen Klimakrise stark gefährdeten Region, muss auf nachhaltige Energie umsteigen, um Umweltgefahren zu mindern und die regionale Stabilität zu fördern. Die Nutzung erneuerbarer Energiequellen hat Potenzial, als Eckpfeiler für eine stärkere Zusammenarbeit auf dem geteilten Zypern und im breiteren Kontext des Mittelmeerraums zu dienen. Dies unterstreicht die Bedeutung aufeinander abgestimmter regionaler und lokaler Initiativen beim Übergang zu »sauberer« Energie und bei der Förderung des Friedens.

Die Hinweise verdichten sich, dass menschliche Aktivitäten seit dem Beginn der industriellen Revolution die globale Umwelt verändert haben. Diese Störungen wirken sich auf das Wohlergehen aller Bevölkerungen aus, auch auf die im Mittelmeerraum. Hier Strategien für eine nachhaltige Bewältigung dieser Störungen zu finden gestaltet sich auf Zypern besonders schwierig. Die Insel wurde durch den gewaltsamen Konflikt in zwei Teile gespalten: die international anerkannte Republik Zypern (RoC) im Süden, die von den griechischen Zypriot*innen regiert wird, und die Türkische Republik Nordzypern (TRNC) im Norden, die 1983 ausgerufen und nur von der Türkei anerkannt wurde. Die TRNC hält trotz ihrer begrenzten Anerkennung ihre Regierung aufrecht, beansprucht Souveränität und tritt in den internationale Beziehungen in Erscheinung (Bouris und Kyris 2017). Als de-facto-Staat verfügt sie über interne Regierungskapazitäten und regelt externe Angelegenheiten im Rahmen ihres einzigartigen, umstrittenen Status, einschließlich der Interaktion mit Organisationen wie der EU (De Waal 2018). Die Republik Zypern ist zwar international anerkannt, hat aber keine Gerichtsbarkeit über den Nordteil der Insel.

Während Zypern damit beschäftigt ist, eine dauerhafte und friedliche politische Lösung für seinen langjährigen Konflikt zu finden, wurde es gleichzeitig mit der aufkommenden Herausforderung des Klimawandels konfrontiert. Der Klimawandel vollzieht sich in allen Teilregionen des Mittelmeerraums sowohl an Land als auch auf See schneller als im globalen Durchschnitt (Vizoso 2021), doch das Tempo der regionalen politischen Zusammenarbeit bei der Umweltpolitik hinkt erheblich hinterher. Die de-facto-Teilung Zyperns in zwei Entitäten bringt zusätzliche Komplexität mit sich im Angesicht des signifikanten Drucks für eine Energiewende, die durch eine stärkere Abhängigkeit von erneuerbaren Energiequellen gekennzeichnet sein wird. Zypern befindet sich damit im Zentrum eines entscheidenden Wandels hin zu einem kohlenstoffneutralen Energie-Framework, ein Wandel, der einen kollektiven Ansatz zur Bekämpfung des Klimawandels erfordert. Doch wie kann Zypern trotz seiner ethnischen Spaltung und der faktischen territorialen Trennung den für diesen Wandel in der Energiepolitik erforderlichen Geist der Zusammenarbeit fördern und aufrechterhalten? Wie lässt sich der Übergang zu sauberer Energie mit den Bemühungen um eine friedliche Koexistenz vereinbaren? Und was bedeutet dieser Nexus von sauberer Energie und Frieden für die gesamte Mittelmeerregion?

Zyperns derzeitige Energiesituation

Gegenwärtig sind sowohl der nördliche als auch der südliche Teil Zyperns bei der Deckung ihres Energiebedarfs in hohem Maße auf Erdölimporte angewiesen. Die RoC strebt daher eine Diversifizierung der verwendeten Energieträger an. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Einführung erneuerbarer Energien in verschiedenen Sektoren wie Strom, Verkehr und Heizung/Kühlung sowie auf der Verbesserung der Energieeffizienz (EU 2023). Das Fehlen ausreichender Stromspeicherkapazitäten stellt ein erhebliches Hindernis für die vollständige Nutzung des Potenzials der Insel für Solarenergie dar. Die RoC gehört zu den EU-Ländern, die am stärksten von der Energieabhängigkeit betroffen sind, und steht vor großen Herausforderungen bei der Gewährleistung einer sicheren Energieversorgung. Im Jahr 2021 dominierte Öl die Energiesituation der RoC mit einem Anteil von 85 % an der Gesamtenergieversorgung, während nur 6,3 % im selben Jahr aus erneuerbaren Quellen wie Wind- und Solarenergie gewonnen wurden (siehe IEA o. J.).

Im Norden der Insel hat die Energieinfrastruktur eine noch geringere Kapazität, hauptsächlich von Dieselgeneratoren, und ist ebenfalls weitgehend von importiertem Öl abhängig. Im Norden gibt es auch eine PV-Solaranlage mit einer vergleichsweise minimalen Kapazität. Die gesamte Solarkapazität, einschließlich privater Photovoltaikanlagen, macht nur 6 % des gesamten Stromverbrauchs im Norden aus, ein Wert, der auch deutlich hinter den EU-Benchmarks zurückbleibt. Darüber hinaus verursacht die Integration erneuerbarer Energien in das nördliche Stromnetz derzeit Probleme mit der Netzstabilität, die denen im Süden ähneln. Folglich scheint es keinen gangbaren Weg zu geben, den Beitrag der Solarenergie zu erhöhen, ohne das Problem der Netzkapazität auf der gesamten Insel zu lösen.

Allgemein wird die Ansicht vertreten, dass gemeinsame Anstrengungen das Erreichen der Ziele in den Bereichen Klima und saubere Energie erheblich beschleunigen können. In Zypern sind die Interaktion und die Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten in Bezug auf die Anpassung an den Klimawandel jedoch nur minimal: Es fehlt an einer gemeinsamen Industriestrategie, diplomatischem Engagement, grenzüberschreitender Infrastruktur und public-private-Partnerschaften für Forschung und Entwicklung sowie an einheitlichen Politikabsichten (Sülün 2022, S. 21). Die Umsetzung einer umfassenden politischen Koordination über die Sektoren und die Grenze hinweg, die gemeinsame Entwicklung der Infrastruktur und die Reform der sektoralen Vorschriften wären dann auch wesentliche Bestandteile eines möglichen »grünen Dialogs« über die Trennlinie hinweg.

Im Hinblick auf die gemeinsame Energieinfrastruktur muss hervorgehoben werden, dass die beiden Seiten in Krisensituationen, wie z. B. bei größeren Stromausfällen, über die 2019 eingerichtete synchronisierte Verbindungsleitung (»Interkonnektor«) Strom austauschen können. Diese Netzverbindung gilt als Garant für die dauerhafte Sicherheit der Stromversorgung für beide Parteien. Es besteht jedoch die dringende Notwendigkeit, die reichhaltigen erneuerbaren Energieressourcen der Insel zu nutzen, um die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen (insbesondere bei der Stromerzeugung) zu verringern, die Ziele der EU im Bereich der erneuerbaren Energien zu erreichen und die eigenen Ziele Zyperns zur Verringerung der Kohlenstoffemissionen zu verwirklichen.

Sind gemeinsame Energie­projekte die friedliche Zukunft?

In der RoC sind die hohen Kosten für die Stromversorgung ein spürbares Problem, denn im Vergleich zu anderen Ländern der Europäischen Union (EU) sind die Strompreise deutlich höher (siehe Eurostat o.J.). Die Energiepreise werden von verschiedenen Faktoren beeinflusst, die sich auf Angebot und Nachfrage auswirken, wie z.B. die geopolitischen Aussichten, die Zusammensetzung der Energiequellen eines Landes und die Diversifikation der Energieimporte. Zwar rechnet die Region mit der Erschließung kürzlich entdeckter Erdgasvorkommen, und sowohl die Republik Zypern als auch die Türkei haben sich aktiv an der Erkundung dieser Kohlenwasserstofflager beteiligt (Gürel et al. 2014), doch scheint die praktische Nutzung dieser Ressourcen nicht unmittelbar bevorzustehen (Sülün 2022, S. 10f.). Daher sind erneuerbare Energien eine Lösung für Zypern, um sowohl die finanzielle als auch die ökologische Last der Stromerzeugung zu verringern. Die Solarenergie und die Windenergie sind Schlüsseltechnologien in dieser bedeutenden Energiewende. Für die optimale Integration erneuerbarer Energiequellen in die Stromversorgung und die Bewertung der technischen und finanziellen Machbarkeit müssen Strategien entwickelt werden, die die gesamte Insel als ein System betrachten. Dies ist der kritische Punkt an dem die Projekte der nachhaltigen Energietransformation und der Friedenskonsolidierung in Zypern miteinander verbunden sind.

Es muss harmonisierte Strategien und Ziele geben, insbesondere in den Bereichen der Energiespeicherung, des Lastmanagement, der Reaktion auf Nachfrage und der Entwicklung eines intelligenten Netzes. Die größte Herausforderung bei der Verfolgung von Kooperationsbemühungen liegt daher in der Notwendigkeit, Ressourcen, Fachwissen und Technologie gemeinsam zu nutzen, da eine effektive Zusammenarbeit dies erfordert.

Es gibt verschiedene potenzielle Politikoptionen, wie z.B. die Einführung des Handels mit grüner Energie über das bestehende Netz zwischen dem Norden und dem Süden und der Aufbau bi-kommunaler Energiespeicherlösungen in der Pufferzone (Sülün 2022, S. 22-25). Ebenso wichtig scheint ein Dialog über die Kombination verschiedener Formen erneuerbarer Energien mit der thermischen Energiespeicherung als dem zentralen Hub. Auch wenn es essentiell ist, Forschungspartnerschaften und Wissensaustausch zu fördern, könnten an der Basis unternommene erste Schritte für die gemeinsame Erarbeitung von Projekten einer nachhaltigen Energiewende auch langfristig zu einer effektiveren und kooperativen Problemlösung führen. Solche Bemühungen könnten auch eine wichtige Rolle beim Aufbau und Erhalt friedlicher Beziehungen sowie der Vertrauensbildung zwischen den beiden ethnischen Gemeinschaften in Zypern spielen. Darüber hinaus fördert die grenzüberschreitende Integration in technischen Fragen die Interdependenz und veranlasst die Staaten somit, bei gegenseitiger Abhängigkeit die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit zu priorisieren, was zu einer Verringerung von Konflikten führen kann. Diese in der Forschung der Internationalen Beziehungen verankerte Perspektive charakterisiert Interdependenz als Beziehungen zwischen Akteuren, die schwer oder nur unter hohen Kosten zu trennen sind.

Die besondere Rolle von Interkonnektoren

Vor diesem Hintergrund wird eine kritische Untersuchung der Funktion sogenannter »Interkonnektoren« immer wichtiger. Projekte wie der »EuroAsia Interconnector«, der »EuroAfrica Interconnector« und der »Türkiye-Northern Cyprus Interconnector« sind bedeutende infrastrukturelle Vorhaben im östlichen Mittelmeerraum, mit denen verschiedene energiepolitische Ziele erreicht werden sollen. Ihr grundlegendes Ziel ist es, eine stabile und dauerhafte Stromversorgung für die beteiligten Länder zu gewährleisten und gleichzeitig die energiepolitische Isolation Zyperns und Israels zu beenden. Es wird davon ausgegangen, dass Zypern die Hälfte des exportierten Stroms aus seinen erneuerbaren Energiequellen erzeugen könnte (AP News 2023).

Daher ist es spannend, dass im östlichen Mittelmeerraum eine zunehmende »Netzdiplomatie« zu beobachten ist, da diese unterstreicht, dass die entscheidende Bedeutung miteinander verbundener Energiesysteme zunehmend erkannt wird. Solche Kooperationsbemühungen im Bereich der elektrischen Energieversorgung sind wichtig, um den Mittelmeerraum in ein dynamisches Netzwerk für Handel und Wachstum zu transformieren. Das Zusammenspiel zwischen der strategischen Entwicklung der Infrastruktur von »Interkonnektoren« und der regionalen Diplomatie kündigt eine transformative Ära an, in der die Nachhaltigkeit der Energieversorgung mit geopolitischer Zusammenarbeit Hand in Hand geht.

Mediterraner Kontext: Netzan­bindung und regionaler Frieden?

Die Netze miteinander zu verbinden bedeutet, bilaterale Gespräche zu führen, Vereinbarungen auszuarbeiten und politische Maßnahmen zu synchronisieren, um die erfolgreiche Umsetzung und Wartung von solchen »Interkonnektoren« zu ermöglichen. In diesem Prozess ist die Zusammenarbeit zwischen Energieminister*innen, Regulierungsbehörden und anderen wichtigen Akteuren von grundlegender Bedeutung (Sülün 2023, S. 8). Auf regionaler Ebene erfordert die Zusammenarbeit im Energiesektor eine schrittweise Angleichung der Energiepolitiken und -vorschriften mit dem letztendlichen Ziel, einen einheitlichen Energiemarkt in der Region zu schaffen. Von grundlegender Bedeutung dabei sind auch: Energieeinsparung und -effizienz sowohl bei der Produktion als auch beim Verbrauch anzupreisen, den Einsatz erneuerbarer und anderer emissionsarmer Energiequellen deutlich zu steigern sowie eine stärkere Konzentration auf den Umweltschutz. Außerdem müssen geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die Investitionsaussichten verbessern, insbesondere solche, die einen Mix von Energieressourcen gewährleisten, die Gas- und Stromverbindungen stärken und die die Einführung sowie die Erprobung von »best practices« energieeffizienter Technologien erleichtern (Bahgat 2011, S. 200).

All diese Anreize müssen auf geteilten Werten von Einigkeit und der gegenseitigen Unterstützung aufbauen. Die übergreifenden Herausforderungen des Klimawandels und die Umstellung auf erneuerbare Energien können als einende Kraft wirken, um eine gemeinsame Perspektive im Mittelmeerraum zu schaffen. Dennoch bleibt ein drängendes Problem bestehen: Wie können angesichts der vorherrschenden geopolitischen Dynamiken die derzeitige Infrastruktur und die geplanten Initiativen genutzt werden, um ein vollständig integriertes regionales Energiesystem zu schaffen?

Der Mittelmeerraum mit seiner Vielzahl politischer, wirtschaftlicher und kultureller Unterschiede weist auch beträchtliche Unterschiede im Grad der elektrischen Interkonnektivität zwischen den Staaten auf. Während die Verwirklichung eines regionalen Marktes noch im Gange ist, gibt es verschiedene Initiativen, die darauf abzielen, den grenzüberschreitenden Stromhandel zu verbessern und die Entwicklung der Verbindungsinfrastruktur innerhalb der Region zu fördern. Neben den Projekten »EuroAsia«-, »EuroAfrica«- und »Türkiye-NorthCyprus«-Interconnector gibt es weitere beachtenswerte Initiativen, die derzeit durchgeführt werden: Das »GREGY«-Kabel (Griechenland-Ägypten) befindet sich derzeit in der Planungsphase; eine zweite 400-Kilovolt-Verbindungsleitung zwischen Griechenland und der Türkei soll bis 2029 fertiggestellt werden. Auch in Nordafrika sind zudem verschiedene bedeutende Projekte für erneuerbare Energien und Verbindungsleitungen im Gange. So treibt Tunesien die Verbindungsleitung zu Italien (TUNITA) voran, und Algerien entwickelt das »Algeria-Italy Submarine Cable Project«, um seine Solarinfrastruktur mit Europa zu verbinden. Darüber hinaus gibt es eine Initiative zur Errichtung eines Stromverbunds zwischen Marokko und Portugal, der eine Kapazität von 1.000 Megawatt haben wird.

Die Schaffung eines zusammenhängenden Marktes im Mittelmeerraum ist besonders wichtig, um mehr erneuerbare Ressourcen in das Netz zu integrieren. Um jedoch nachhaltige Ergebnisse bei solchen Energieinfrastrukturprojekten zu erzielen, ist politische Harmonie zwischen wichtigen regionalen Akteuren wie Ägypten, Israel und der Türkei erforderlich. Spannungen und Konflikte, wie die zwischen Israel und Palästina, Israel und dem Libanon sowie Zypern, der Türkei und Griechenland, stellen erhebliche Hürden dar. Frühere »gaszentrierte« Diplomatieversuche konnten die Ursachen dieser Konflikte nicht lösen, und es besteht die berechtigte Sorge, dass die von neuen Stromnetzprojekten angetriebene Diplomatie auf ähnliche Probleme stoßen könnte (Sülün 2023, S. 8).

Fazit

Eine wirksame Nachhaltigkeitspolitik im Energiesektor in Zypern muss kollektive Handlungsansätze fördern, um effizientere Antworten auf die gemeinsamen Energieprobleme zu finden und kooperative Initiativen auf der gesamten Insel voranzubringen. Eine solche Politik sollte auf dem Prinzip »ein Ökosystem, gemeinsame Herausforderungen, gemeinsames Schicksal« beruhen, einer Philosophie, die über traditionelle energiepolitische Ansätze hinausgehen könnte, indem sie die Erhaltung der Umwelt mit dem Streben nach Frieden verbindet.

Es besteht ein offensichtlicher Bedarf, die Zusammenarbeit im gesamten Mittelmeerraum zu beschleunigen, wobei der Schwerpunkt auf der Verbesserung des Handels, der Förderung bilateraler Investitionen und der Erleichterung des grenzüberschreitenden Verkehrs zwischen den Ländern im nördlichen, südlichen und östlichen Teil des Mittelmeeres liegen müsste. Diese Maßnahmen gelten als entscheidend, um die Umstellung auf eine nachhaltige Energienutzung voranzutreiben und den wirtschaftlichen Fortschritt in der Region zu fördern. In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, umfassende und integrierte Strategien zu entwickeln, die die Interdependenz zwischen Klimasicherheit, Frieden und wirtschaftlichem Wohlstand anerkennen. Es ist jedoch wichtig, die geopolitischen Hindernisse im Auge zu behalten. Anstelle von übertriebenem Optimismus bedarf es robuster regionaler Krisenmanagementstrategien, insbesondere im Energiesektor, um potenzielle geopolitische Herausforderungen wirksam anzugehen.

Literatur

AP News (2023): Minister: Cyprus exceeds renewable energy source targets. Apnews.com, 17.01.2023.

Bahgat, G. (2011): Energy cooperation in the Mediterranean Sea. The Euro-Mediterranean Partnership/Union for the Mediterranean and its Economic and Financial Dimension, Girona, European Institute of the Mediterranean, 200-208.

Bouris, D.; Kyris, G. (2017): Europeanisation, sovereignty and contested states: The EU in Northern Cyprus and Palestine. The British Journal of Politics and International Relations, 19(4), 755-771.

De Waal, T. (2018): Uncertain ground: Engaging with Europe’s de facto states and breakaway territories. Carnegie Endowment for International Peace

EU (2023): The update of the nationally determined contribution of the European Union and its Member States. Submission to UNFCCC NDC Registry, 16.10.2023.

Eurostat (n.Y.): Electricity price statistics. Homepage, last updated: October 2023.

Gürel, A.; Tzimitras, H.; Faustmann, H. (Eds.) (2014): East Mediterranean Hydrocarbons: Geopolitical Perspectives, Markets, and Regional Cooperation. PRIO Cyprus Centre Report 3. Cyprus: PRIO Cyprus Centre.

International Energy Agency (IEA) (n.Y.): Cyprus. Energy mix. Homepage, iea.org/countries/cyprus

Sülün, E. (2022): Energy Transition Geopolitics in the Eastern Mediterranean and Prospects for a Green Energy Dialogue in Divided Cyprus. Re-Imagining the Eastern Mediterranean Series: PCC Report 6/2022. PRIO.

Sülün, E. (2023): Repowering the Mediterranean: Reflections on Grid Infrastructure Diplomacy. OCCASIONAL PAPER SERIES 6. Friedrich-Ebert-Stiftung.

Vizoso, J. C. (2021): Introduction. In J. C. Vizoso et al. (Ed.), a Euro-mediterranean green deal? Towards a Green Economy in The Southern Mediterranean (pp.12-16). EuroMesco.No.18.

Dr. Emine Eminel Sülün ist Assistenzprofessorin und Leiterin der Abteilung »Internationale Beziehungen« an der World Peace University in Nikosia. Ihre Forschung fokussiert sich auf die Energie- und Geopolitik im Mittelmeerraum.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

Klimawandel als Herausforderung

Klimawandel als Herausforderung

Sicherheitsrisiken und Chancen der Kooperation bei Umwelt­veränderungen im Mittelmeerraum

von Manfred A. Lange

Die schon heute zu beobachtenden Klimaveränderungen im Mittelmeerraum werden sich in den kommenden Jahrzehnten weiter verstärken. Die Region steht zunehmend vor der Herausforderung, die vielfach miteinander verbundene Wasser-, Energie- und Nahrungssicherheit der Bevölkerungen zu gewährleisten. Vermeidungs- und Anpassungsmaßnahmen werden bisher aber nur unzureichend eingesetzt. Die Einführung und Realisierung innovativer Technologien eröffnet daher erhebliche Chancen für eine verbesserte Lebensqualität der Menschen in den Mittelmeerländern. Verstärkte bi- und multilaterale Kooperation bei technischen und gesellschaftlichen Lösungen könnte ein wichtiger Beitrag zu Sicherheit und Frieden in der Region sein.

Der Mittelmeerraum ist Heimat für etwa 480 Millionen Menschen, Tendenz wachsend (Lange 2019). Mit einer städtischen Bevölkerung von derzeit 350 Millionen (entsprechend etwa 70 % der Gesamtbevölkerung) ist die Region stark urban geprägt (Abbildung 1). Die zunehmende Urbanisierung in Kombination mit einer fortschreitenden Klimaerwärmung stellen ein erhöhtes Risiko für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Stadtbevölkerung dar.

Abbildung 1: Verteilung der Bevölkerung im Mittelmeerraum; Quelle: UNEP – Mediterranean Action Plan and Plan Bleu.

Deutliche räumliche, ökologische und sozioökonomische Differenzen kennzeichnen den Mittelmeerraum, dessen terrestrische und marine Ökosysteme zunehmend durch Klima- und Umweltveränderungen belastet sind (siehe z.B. MedECC 2020). Vielfältige Belastungen hinsichtlich Wasserverfügbarkeit, Energieversorgung, Nahrungssicherheit und Umweltintegrität führen zur Überschreitung der gesellschaftlichen und ökologischen Tragfähigkeit in der Region. Aufgrund der derzeitigen Klimabedingungen sowie der zu erwartenden Veränderungen der klimatischen Bedingungen gilt die Mittelmeerregion als einer der globalen Klima-Brennpunkte der Erde (Cramer et al. 2018).

Politische und gesellschaftliche Veränderungen, Krisen und (bewaffnete) Konflikte der jüngeren Vergangenheit stellen eine ernsthafte Herausforderung für die davon betroffenen Bevölkerungen dar und gefährden die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität sowie die nachhaltige Entwicklung der Region. Kriegerische Auseinandersetzungen – insbesondere in nahöstlichen und nordafrikanischen Staaten – fordern nicht nur erhebliche menschliche Opfer, sondern zerstören die Grundlagen und Infrastrukturen wirtschaftlichen Handelns in diesen Ländern.

Die derzeit zu beobachtende Migration von Menschen aus den südlichen und östlichen Anrainerstaaten sowie aus afrikanischen und asiatischen Ländern in den Mittelmeerraum hat Ausmaße angenommen, die frühere Bevölkerungsbewegungen in der Region bei weitem übersteigen. Das vielfach zu beobachtende menschliche Leid der Migrant*innen und die Spannungen und Herausforderungen in den Kommunen der Zielländer der nördlichen und westlichen Mittelmeerperipherie sind eine erhebliche politische und gesellschaftliche Herausforderung in diesen Staaten (siehe etwa: Lange et al., 2022). Obgleich ein strikt quantifizierbarer Zusammenhang zwischen Umweltveränderungen und Migrationsbewegungen nicht ableitbar ist, bilden erstere wichtige Gründe für das Verlassen der Heimat.

Klimaveränderungen und deren Folgen

Lässt sich aus den Klimaaufzeichnungen der jüngeren Vergangenheit schon jetzt zeigen, dass die Jahresmitteltemperaturen im Mittelmeerraum deutlich über den globalen Mittelwerten liegen, so geben numerische Klimamodelle Aufschluss über die mögliche zukünftige Klimaentwicklung auf globaler und regionaler Skala. Entscheidende Randbedingungen für solche Modelle sind sogenannte Emissions­szenarien, in denen plausible Projektionen der zukünftigen Entwicklung der globalen Emissionen von strahlungsaktiven Treibhausgasen1 dargestellt werden (siehe z.B. van Vuuren et al. 2011).

Abbildung 2 (siehe auch: Lange 2019) zeigt die repräsentativen Konzentrationspfade (RCP) der CO2-Äquivalente für vier Emissionsszenarien (in a eingefügt), die Entwicklung der mittleren Jahrestemperaturen (a) für ein gemäßigtes (RCP2.6) sowie ein maximales (RCP8.5) Emissionsszenario mit der Angabe von Unsicherheiten (farbige Flächen um die Temperaturlinie) von 1950 bis 2100, relativ zu mittleren Temperaturen einer Referenzperiode von 1980 bis 1999; ebenfalls dargestellt ist die geographische Verteilung der Erwärmung (b und c) im Mittelmeerraum gegen Ende des 21. Jahrhunderts (2080 bis 2099). Der angezeigte, auf Messungen beruhende atmosphärische CO2e Konzentrationswert für 2021 zeigt deutlich, dass die tatsächlichen Konzentrationswerte deutlich über den projizierten Werten des maximalen Emissionsszenarios liegen. Damit sind die in der Abbildung ebenfalls gezeigten Richtwerte der maximalen Erwärmung (+2° für RCP2.6 sowie +5,5° für RCP8.5) als eher konservative Abschätzungen anzusehen.

Abbildung 2: a: Projizierte Änderungen der jährlichen Durchschnittstemperaturen im Vergleich zum Referenzzeitraum (1980 bis 1999) im Mittelmeerbecken über Land, basierend auf moderaten (RCP2.6) und hohen Treibhausgaskonzentrationen (RCP8.5); eingefügt: Repräsentative Konzentrationspfade und daraus resultierende atmosphärische CO2e-Konzentrationen für das 21. Jahrhundert; außerdem wird eine gemessene mittlere atmosphärische CO2e-Konzentration für das Jahr 2021 gezeigt [UBA 2021]; b: geographische Verteilung der Erwärmung im Mittelmeerraum gegen Ende des 21. Jahrhunderts (2080 bis 2099) für RCP2.6; c: dasselbe für RCP8.5 (MedECC 2020; Umweltbundesamt 2023; van Vuuren et al. 2011).

Die Veränderungen in den Niederschlagswerten als Teil der Klimaveränderung im Mittelmeerraum sind nur scheinbar weniger drastisch (siehe Lange 2019; MedECC 2020). Die abgeschätzten Maximalreduzierungen der Niederschläge belaufen sich gegen Ende des 21. Jahrhunderts relativ zu den Referenzwerten von 1980 bis 1999 auf ca. -20 % für RCP2.6 und ca. -50 % für RCP8.5. Ähnlich wie bei den Temperaturveränderungen sind die verringerten Niederschläge jedoch geographisch deutlich inhomogen verteilt. Damit werden einige Regionen, insbesondere die südlichen und östlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers, besonders signifikante Dürreperioden erleiden, vor allem in den Sommermonaten.

Diese Dürreperioden repräsentieren nur ein Beispiel für die zu erwartende deutliche Zunahme an Extremereignissen im Mittelmeerraum. Weitere Beispiele sind extreme Hitzewellen und deutlich wärmere Sommer- sowie mildere Wintermonate (Zittis et al. 2021). Aufgrund des sogenannten städtischen Wärmeinsel­effekts (»urban heat island effect«; siehe: Santamouris 2007) ist zu erwarten, dass die urbanen Temperaturerhöhungen noch extremer ausfallen werden als im ländlichen Umland von Städten (Lange 2019).

Rückwirkungen und Verknüpfungen

Die genannten Konsequenzen des Klimawandels sind nicht isoliert zu betrachten, sondern auf vielfältige Weise miteinander verknüpft und durch komplexe Wechselwirkungen gekennzeichnet. Die zu erwartende, sich weiter verschärfende Wasserknappheit ist dabei ein entscheidender Faktor. Größter Wassernutzer im Mittelmeerraum ist die Landwirtschaft, die im Schnitt bis zu 80 % des national verfügbaren Wassers für die Bewässerung von Nutzpflanzen benötigt. Ein Rückgang der Niederschläge und damit verbunden die reduzierte Bewässerung von Nutzpflanzen hat unmittelbar Einfluss auf die Erzeugung agrarischer Produkte und damit auf die lokale bis nationale Nahrungssicherheit von Mittelmeerländern.

Verminderte Regenfälle führen zum Rückgang des Wassers in Grundwasser­aquiferen oder in Flüssen, Seen und Staudämmen, das für die Trinkwasserversorgung der Bevölkerung von entscheidender Bedeutung ist. Um diesem Mangel zu begegnen, werden in einer Reihe von Mittelmeerländern Anlagen zur Meerwasserentsalzung gebaut und betrieben. Die sogenannte Umkehrosmose ist die häufigste für die Meerwasserentsalzung eingesetzte Technologie, die allerdings sehr energieintensiv ist. Für die Erzeugung von Frischwasser aus salzhaltigem (Meer-)Wasser für eine Stadt von etwa 100.000 Einwohner*innen würde durchschnittlich ein erforderlicher Energieaufwand von 15 Gigawattstunden pro Jahr anfallen. Dies entspricht etwa 0,4 % der Leistung eines typischen Gaskraftwerks mit einer Kapazität von 750 MW und einem Kapazitätsfaktor von 70 % und erscheint damit durchaus tragbar. Legt man jedoch die zu erwartende Verknappung des Trinkwasserangebots und die Versorgung eines großen Teils der Bevölkerung eines Landes mit aus Meerwasserentsalzung gewonnenen Wassers zugrunde (dies ist etwa für Zypern der Fall), so ist zu erwarten, dass die derzeitigen Kraftwerksreserven dem erhöhten Energiebedarf nicht werden nachkommen können.

Dies auch deshalb, weil eine weitere Belastung der Kraftwerkskapazitäten hinzukommt. Schon heute ist zu beobachten, dass der Strombedarf im Jahresverlauf zunehmend in den Sommermonaten maximale Werte erreicht (siehe: Lange 2023a) vor allem aufgrund der vermehrten Nutzung von Raumkühlungsanlagen (Klimaanlagen) in geschlossenen Räumen. Insbesondere im Hinblick auf die zu erwartenden Hitzewellen in Städten und größeren Ortschaften des Mittelmeerraums ist gerade beim Urbanisierungsgrad der Mittelmeerregion mit einer weiteren Steigerung des sommerlichen Strombedarfs zu rechnen. Es ist also damit zu rechnen, dass der Bau neuer Kraftwerke unabdingbar wird.

Die wenigen hier genannten Beispiele zeigen, dass zwischen der Aufrechterhaltung von Wasser-, Energie- und Nahrungssicherheit enge Verbindungen und gegenseitige Abhängigkeiten bestehen. Diese werden durch das Konzept des sogenannten »Wasser-Energie-Nahrungs-Nexus« beschrieben (Hoff 2011; Lange 2019, 2022).

Vermeidungs- und Anpassungsstrategien

Um den Folgen des Klimawandels wirkungsvoll zu begegnen, ist die Erstellung von Vermeidungs- und Anpassungsstrategien auf nationaler bis regionaler Skala unabdingbar. Dabei geht es zum einen um eine Reduzierung bzw. weitgehende Vermeidung (»Mitigation«) von Treibhausgasemissionen und damit einen Rückgang der globalen Erwärmung, zum anderen um die Anpassung (»Adaptation«), mit der sich Menschen möglichst wirkungsvoll auf die unvermeidbaren Konsequenzen von Klima- und Umweltveränderungen einrichten können. Hier sollen nur einige wenige bereits ergriffenen Maßnahmen und erprobte Lösungen vorgestellt werden. (vgl. Lange i.E.)

Die meisten Mittelmeerländer sind Vertragsparteien der Rahmenvereinbarung der Vereinten Nationen zu Klimaänderungen (UNFCCC) und wichtiger Klimaschutzstrategien, die auf einer Reihe von Konferenzen der Vertragsparteien (COP) eingeführt und von diesen akzeptiert wurden, z.B. im Pariser Abkommen von 2015. Konkrete Minderungsmaßnahmen einzelner Länder bleiben jedoch häufig hinter den angenommenen COP-Verpflichtungen zurück.

  • In Bezug auf Anpassungsmaßnahmen stehen landwirtschaftliche Praktiken im Vordergrund. So sollten also etwa vor allem trockenresistente Nutzpflanzen angebaut und Regenwasser sowie innovative Bewässerungstechnologien (»smart agriculture«) eingesetzt werden.
  • Im Bereich der Wasserversorgung sollte die Planung für Extreme (Überschwemmungen) durch präzisere Modellierung und Kartierung von Überschwemmungsausdehnungen und -gefahren sowie eine verbesserte Leckerkennung in städtischen Wasserverteilungssystemen vorangetrieben werden.
  • Die Verwendung von tertiär aufbereitetem Abwasser in privaten Haushalten, öffentlichen Anlagen und in der Landwirtschaft sowie Maßnahmen zur Reduzierung des Wasserbedarfs durch Anreizsysteme sollten eingeführt werden.
  • Bei der Sicherstellung der Energieversorgung sollte die Nutzung erneuerbarer Energien im Vordergrund stehen. Die Potentiale für die Gewinnung von Solar- und Windenergien in Kombination mit einer verbesserten Energieeffizienz bieten gerade in Ländern des Mittelmeerraums erhebliche Chancen (IRENA 2019; Nematollahi et al. 2016; vgl. Sülün in dieser Ausgabe, S. 17).
  • Zum anderen bieten sich innovative Lösungen an, die auf der kombinierten Nutzung unterschiedlicher erneuerbarer Energien in einem hybriden Energiesystem beruhen (Abbildung 3; Lange 2023a).

Abbildung 3: Schematische Darstellung eines hypothetischen hybriden Systems erneuerbarer Energien in Kombination mit verschiedenen Speichertechnologien (modifiziert nach: Lange 2023)

Friedenssicherung durch Klimaadaption?

Diese Herausforderungen erfordern umfassendes, konsequentes und zeitnahes Handeln (nicht nur) in den Ländern des Mittelmeerraums. Der Umgang und die Bewältigung dieser Herausforderungen wird in jedem dieser ökonomisch und politisch unterschiedlich aufgestellten Ländern ganz eigene Lösungen erfordern. Dabei ist insbesondere die konfliktsensible und folgenbewusste Implementierung von Anpassungsmaßnahmen unabdingbar, denn die Gefährdung der Wasser-, Energie- und Nahrungssicherheit birgt deutliche politische Sprengkraft in vielen Ländern des Mittelmeerraums und kann zu erheblichen innen- und außenpolitischen Krisen und Konflikten führen.

Damit verbundene Risiken können auch Auslöser für interne und grenzüberschreitende Migrationsbewegungen sein. Im Rahmen der »Mediterranean Expert Group on Environmental and Climate Change« (MedECC) wird daher dem komplexen Thema der Zusammenhänge zwischen und möglichen Milderung der Auswirkungen von Klimawandel, Migration und Konflikten nachgegangen (Lange et al. 2022).

Die Bewältigung der genannten Herausforderungen dient also der Konfliktvermeidung und bietet zugleich erhebliche Chancen der Zusammenarbeit für den Mittelmeerraum, obgleich sie für einige Länder mit erheblich mehr Aufwand als für andere zu realisieren sind. Viele der genannten Mitigations- und Adaptationsmaßnahmen bieten im ganzheitlichen Kontext des Wasser-, Energie- und Nahrungs-Nexus die Möglichkeit einer umfassenden Neuorientierung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen. Es ist zu erwarten, dass sich diese in gesteigerten wirtschaftlichen Wachstumszahlen und der insgesamt verbesserten Lebensqualität der Bürger*innen niederschlagen würden.

Da alle Länder des Mittelmeerraums vor ähnlichen Herausforderungen durch den Klimawandel stehen, ist auch die Entwicklung und Realisierung bi- und multilateraler Kooperationen geboten, die im Rahmen einer Klimadiplomatie zugleich einen Beitrag für Frieden und Nachhaltigkeit leisten, wie es im Konzept des »environmental peacebuilding« zum Ausdruck kommt (Scheffran 2021). Erste Ansätze hierzu finden sich etwa im »Blue-Green-Deal«, einem gemeinsamen Programm zwischen Israel, Jordanien und den Palästinensischen Autonomiegebieten (Bromberg et al. 2020) und der von der Republik Zypern vorgeschlagene »Eastern Mediterranean and Middle East Climate Change Initiative« (EMME-CCI).

Anmerkung

1) Treibhausgase sind Substanzen, die für die Erwärmung der Atmosphäre aufgrund des sog. Treibhauseffekts verantwortlich sind. Hierzu zählen: Kohlendioxid (CO2) Methan (CH4), Stickoxide (NOx), Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe (FCKWs) und andere Spurengase.

Literatur

Bromberg, G.; Majdalani, N.; Taleb, Y. A. (2020): A Green Blue Deal for the Middle East. Tel Aviv, Ramallah, Amman: EcoPeace Middle East, Dezember 2020.

Cramer, W. et al. (2018): Climate change and interconnected risks to sustainable development in the Mediterranean. Nature Climate Change 8(11), S. 972-980.

Hoff, H. (2011): Understanding the Nexus. Background Paper for the Bonn 2011 Conference: The Water, Energy and Food Security Nexus. Stockholm: Stockholm Environment Institute.

IRENA (2019): Renewable capacity statistics 2019. Abu Dhabi: International Renewable Energy Agency (IRENA). März 2019.

Lange, M. A. (2019): Impacts of Climate Change on the Eastern Mediterranean and the Middle East and North Africa Region and the Water–Energy Nexus. Atmosphere 10(8), 455.

Lange, M. A. (2022): Climate Change and the Water‒Energy Nexus in the MENA Region. In: Naddeo, V.; Choo, K.-H.; Ksibi, M. (Hrsg.): Water-Energy-Nexus in the Ecological Transition: Natural-Based Solutions, Advanced Technologies and Best Practices for Environmental Sustainability. Cham: Springer International, S. 93-98.

Lange, M. A. (2023a): The Climate Change Crisis in the Eastern Mediterranean and in Cyprus in the Context of the Water-Energy-Nexus. KAS-REMENA Publication Series: Climate Change Mitigation in the Eastern Mediterranean.

Lange, M. A.; et al. (2022): Environmental Change, Conflict and Human Migration in the Mediterranean: Challenges and Open Issues. Presentation, EGU General Assembly 2022, Wien, 23–27 May 2022.

Lange, M. A. (im Erscheinen, 2024): Climate ­Change Mitigation and Adaption in the Mediterranean: Synthesis Report and Future Perspectives. KAS-REMENA Publication Series: Climate Change Mitigation in the Eastern Mediterranean.

MedECC (2020): Climate and Environmental Change in the Mediterranean Basin – Current Situation and Risks for the Future. First Mediterranean Assessment Report, Union for the Mediterranean, Plan Bleu, UNEP/MAP. Marseille.

Nematollahi, O.; Hoghooghi, H.; Rasti, M.; Sedaghat, A. (2016): Energy demands and renewable energy resources in the Middle East. Renewable and Sustainable Energy Reviews 54 (C), S. 1172-1181.

Santamouris, M. (2007): Heat Island Research in Europe: The State of the Art. Advances in Building Energy Research 1, S. 123-150.

Scheffran, J. (2021): Environmental Security and Climate Diplomacy in the Mediterranean. In: Agency for Peacebuilding; Bologna Peacebuilding Forum (Hrsg.): Peacebuilding and Climate Change. Dokumentation Bologna Peacebuilding Forum 2021, S. 28-44.

Umweltbundesamt (2023): Atmosphärische Treibhausgas-Konzentrationen. Unterkapitel: Kohlendioxid. Homepage, umweltbundesamt.de, Stand 20.03.2023.

van Vuuren, D. P.; et al. (2011): The representative concentration pathways: an overview. Climatic Change 109(1), 5.

Zittis, G.; et al. (2021): Business-as-usual will lead to super and ultra-extreme heatwaves in the Middle East and North Africa. npj Climate and Atmospheric Science 4(1), 20.

Manfred A. Lange ist Emeritus Professor am »Energy, Environment and Water Research Center« des Cyprus Institute in Nicosia, Zypern. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Klimafolgenforschung für den Mittelmeerraum. Er ist Mitglied im Wissenschaftlichen Lenkungskomitee der Gruppe der »Mediterranean Experts on Climate and Environmental Change« (MedECC).

Frieden durch Dekarbonisierung?

Frieden durch Dekarbonisierung?

Kolumbiens Energiewende und ihre Schattenseiten

von Benno Fladvad

Erneuerbare Energien schaffen Frieden. Dieses Argument ist vor allem seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine immer öfter zu hören. Auch wenn es nicht grundsätzlich falsch ist, greift es doch zu kurz: Anhand konzeptioneller Überlegungen zu den sicherheitspolitischen Dimensionen der Energiewende und am Beispiel Kolumbiens verdeutlicht dieser Beitrag, dass eine globale Dekarbonisierung keineswegs automatisch zu einer friedlicheren Welt führt, sondern auch neue Konflikte und koloniale Ausbeutungsformen hervorbringen kann.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Vorstellungen von Krieg und Frieden und damit verbundene sicherheitspolitische Prioritäten in Europa in vielerlei Hinsicht verändert. Ging man zuvor davon aus, dass Kriege relativ ferne Phänomene sind, die uns in unserem Alltag nicht direkt betreffen, so herrscht spätestens seit der »Zeitenwende-Rede« von Olaf Scholz die weit verbreitete Vorstellung, dass die friedenspolitische Architektur in Europa brüchig geworden ist. Vor diesem Hintergrund sind auch die geopolitischen Dimensionen der Energiewende und die Rolle von Energieinfrastrukturen in kriegerischen Auseinandersetzungen in den Fokus gerückt. So argumentierte beispielsweise die Energieökonomin und Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen, Claudia Kemfert, in einem Interview vom März 2022: „Nur eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien schafft dauerhaft Frieden, stärkt Demokratie und Freiheit. Zudem sichert sie Wohlstand und Frieden auf der Welt. Die Energiewende ist das beste Friedensprojekt, welches wir weltweit haben.“ (Kemfert 2022) Ähnlich äußerte sich der UN Generalsekretär António Guterres, der im Rahmen einer Pressekonferenz im Mai 2022 betonte, dass bei gemeinsamem und entschlossenem Handeln „die Energiewende das Friedensprojekt des 21. Jahrhunderts werden kann“ (Guterres 2022).

Angesichts der zentralen Rolle fossiler Rohstoffe in Kriegen, die häufig als strategisches Instrument in kriegerischen Auseinandersetzungen und als Finanzierungsquelle militärischer Gewalt dienen, sind diese Aussagen nur verständlich und auch nicht grundsätzlich falsch. Jedoch sind sie zugleich vereinfachend und durchaus problematisch, da sie Frieden als einen Zustand verstehen, der durch die bloße Abwesenheit von durch fossile Ressourcen ermöglichten Kriegen charakterisiert ist. Johann Galtung, einer der wichtigsten Theoretiker der Friedens- und Konfliktforschung, würde hier wohl von einem »negativen Frieden« sprechen (Galtung 1997). Ein »positiver Frieden« hingegen zeichnet sich nach Galtung nicht nur durch die Abwesenheit von militärischer Gewalt aus, sondern vor allem durch die Abwesenheit von »struktureller Gewalt«, d.h. diffuseren aber gleichwohl wirkmächtigen Ungerechtigkeiten, die in soziale, ökonomische und politische Strukturen eingeschrieben sind (ebd.). Es sind genau diese aus westlicher bzw. eurozentrischer Sicht oftmals verdeckten Gewaltformen und die daraus resultierenden sicherheitspolitischen Risiken, die Guterres und Kemfert in ihren Plädoyers für erneuerbare Energien als Friedensinstrumente ausblenden.

Auch in der friedenspolitischen Literatur wurden sie lange kaum beachtet – u.a. in Veröffentlichungen von W&F. So galt insbesondere in der Frühphase der Energiewende das kaum widersprochene Argument, dass erneuerbare Energien die „friedliche Antwort Europas auf die Falle von Konkurrenz, Gewalt und Kriegen um die zur Neige gehenden Vorräte an Öl und Gas“ seien (Bimboes und Spangenberg 2004, S. 36) oder aber, dass ihr Konfliktpotenzial aus „vergleichsweise harmlos anmuten[den] gesellschaftliche[n] Akzeptanzkonflikte[n]“ (Krämer 2006, S. 50) bestünde.

Die sicherheitspolitischen Dimensionen der Energiewende

Die aktuelle Literatur zu den sicherheitspolitischen Dimensionen erneuerbarer Energien zeichnet hingegen ein etwas differenzierteres Bild. Im Prinzip gibt es zwei Lager – eines, das davon ausgeht, dass der Übergang zu erneuerbaren Energien geopolitische Spannungen und Abhängigkeiten, die durch fossile Energieträger hervorgerufen werden, reduzieren kann; und ein anderes, demzufolge erneuerbare Energien und ihre politischen Ökonomien nicht weniger Konflikte und Kriege hervorrufen als fossile Energien (vgl. dazu Vakulchuk et al. 2020, S. 3ff.).

Ein Kernargument des ersten Lagers, innerhalb dessen sich auch die Aussagen Guterres‘ und Kemferts verorten lassen, ist, dass die dezentrale Verteilung von erneuerbaren Energiequellen mit einer Dezentralisierung politischer Macht einhergeht und somit demokratischere, gerechtere und langfristig friedlichere Energiesysteme ermöglicht. Zudem wird häufig argumentiert, dass erneuerbare Energien im Vergleich zu fossilen Energieressourcen, die nur in vergleichsweise wenigen Ländern vorkommen, eine höhere Energieunabhängigkeit (z.B. für Staaten) ermöglichen und aufgrund ihrer dispersen geographischen Verteilung deutlich schwerer zu kontrollieren und zu manipulieren seien. Damit würden Konfliktpotenziale und Anreize für Kriege reduziert und die Voraussetzungen für einen negativen Frieden wären geschaffen. Eine grundsätzliche Schwäche dieser These besteht jedoch darin, dass ihre Vertreter*innen implizit davon ausgehen, dass ein solcher politischer Wandel tatsächlich eintritt und die Energiewende sozusagen von sich aus Machtverhältnisse verändern und geopolitische Spannungen abbauen wird. Dies ist mit Ausnahme kleinskaliger, alternativer Energieprojekte, die oft unter dem Begriff Energiedemokratie zusammengefasst werden (Becker und Neumann 2017), aktuell jedoch nicht zu beobachten und es deutet vieles darauf hin, dass der Ausbau erneuerbarer Energien in seiner jetzigen Form bestehende Machtstrukturen eher noch stärken wird.

Das zweite Lager vertritt daher die These, dass auch erneuerbare Energien geopolitische Spannungen und Kriege erzeugen, da sich ihre politische Ökonomie nicht grundsätzlich von der fossiler Energieträger unterscheide. Gerade zentralisierte Energiemegaprojekte, die als dominante Form der globalen Energiewende zunehmend in peripheren Regionen des Globalen Südens errichtet werden und den Energiebedarf industrialisierter Zentren des Globalen Nordens decken sollen, folgen im Kern einer extraktivistischen Logik und basieren auf einem hohen Kapitaleinsatz und Ressourcenbedarf. Zudem gehen sie häufig mit gewaltsamen Konflikten um den Zugang zu Land und Wasser sowie mit einer Konzentration politischer Macht einher (Burke und Stephens 2018). Im Fokus stehen dabei vor allem diverse kritische Rohstoffe, wie Lithium, Kupfer, Kobalt, Bauxit, Nickel und sog. seltene Erden, die für eine Vielzahl an »grünen« Technologien (z.B. erneuerbare Energien, Übertragungsleitungen, Elektrolyseure, Elektroautos) benötigt werden. Der Abbau dieser Mineralien ist häufig mit der Finanzierung und Stärkung paramilitärischer Gruppen, sozialökologischen Konflikten und Menschenrechtsverletzungen verbunden (Church und Crawford 2018). Zudem führt die Extraktion dieser Rohstoffe zu neuen geo-ökonomischen Abhängigkeiten, die einen Nährboden für zwischenstaatliche Spannungen und Kriege bilden können. Ein positiver Frieden im Sinne eines sozial gerechten Friedens, so lassen es diese Tendenzen vermuten, ist durch den Übergang zu erneuerbaren Energien in seiner jetzigen Form nicht gegeben.

Diese Konfliktpotenziale, und die systematische Verlagerung von Umweltlasten in periphere Regionen des Globalen Südens, sind bereits jetzt an vielen Beispielen dokumentiert, u.a. im sogenannten Lithium-Dreieck, im Grenzgebiet von Argentinien, Bolivien und Chile. In den riesigen Salzseen dieser Region lagern enorme Mengen des begehrten Leichtmetalls, das einen der wichtigsten Bestandteile leistungsstarker Akkus darstellt und somit für die Elektroindustrie von großer Bedeutung ist. Der Abbau von Lithiumkarbonat ist jedoch sehr wasserintensiv und führt zu einer Absenkung des Grundwasserspiegels, was die oftmals ohnehin prekäre Wasserversorgung in diesen Gebieten weiter verschärft und einer Enteignung bäuerlicher und indigener Gemeinden durch international agierende Konzerne gleichkommt. Problematisch sind aber nicht nur die daraus resultierenden sozialökologischen Konflikte und die Folgen für die lokale Bevölkerung, sondern auch, dass dieser »grüne Extraktivismus« im Gegensatz zu früheren Formen der Ressourcenausbeutung über eine enorm wirkungsmächtige Legitimation verfügt – nämlich, dass er trotz seiner negativen Folgen zur Bewältigung der Klimakrise unumgänglich sei (Voskoboynik und Andreucci 2021).

Die Kolumbianische Energiewende und die Politik des »absoluten Friedens«

Noch deutlicher werden diese Schattenseiten der Energiewende, wenn man einen Blick auf Regionen wirft, die seit Jahrzehnten von Kriegen zerrüttet sind und gleichzeitig als Hotspot-Regionen der Energiewende gelten. Eines dieser Länder ist Kolumbien, das derzeit vor einer doppelten Herausforderung steht. Zum einen gilt es, den langjährigen bewaffneten Konflikt zwischen dem kolumbianischen Staat und der Guerillaorganisation FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia), dem allein zwischen 1985 und 2018 fast eine halbe Million Menschen zum Opfer fielen, endgültig zu beenden; und zum anderen die hohe wirtschaftliche Abhängigkeit von fossilen Ressourcen zu reduzieren, erneuerbare Energien auszubauen und Klimaneutralität zu erreichen. Während die rechtskonservative Vorgängerregierung unter Iván Duque nur das letztgenannte Ziel verfolgte und das 2016 geschlossene Friedensabkommen nicht unterstützte, behandelt die Regierung des neuen linksgerichteten Präsidenten Gustavo Petro beiden Themen mit hoher Priorität. So verfolgt seine Regierung zum einen eine Politik eines »absoluten Friedens«, die auf konsequente Verhandlungen mit und Demobilisierung von paramilitärischen Gruppen abzielt und gleichzeitig abgelegene und benachteiligte Regionen und Gruppen stärken will, um die grassierende soziale Ungleichheit im Land zu bekämpfen. Zum anderen stellt auch die Energiewende eines der wichtigsten politischen Projekte der neuen Regierung dar, was Petro gleich zu Beginn seiner Amtszeit verdeutlichte, indem er die enormen Potenziale Kolumbiens für Wind- und Solarenergie hervorhob und seine Regierung im Juni 2023 zusammen mit der deutschen Bundesregierung eine Absichtserklärung für eine »Partnerschaft für Klima und eine gerechte Energiewende« unterzeichnete, in der es u.a. um den Export von grünem Wasserstoff nach Deutschland gehen soll.

Die wichtigste Region ist dabei das Departamento La Guajira – eine aride und dünn besiedelte Region im Norden des Landes, die der ehemalige Energieminister Kolumbiens zum »Epizentrum der Energiewende« erklärte und die zuletzt insbesondere für die Produktion grünen Wasserstoffs in den Fokus gerückt ist. Allein bis 2034 sollen für diesen Zweck rund 40 Windparks mit einer Gesamtleistung von etwa 8.000 MW entstehen – die meisten davon auf dem kollektiven Land der indigenen Bevölkerung La Guajiras, den Wayuu, die unter Energiearmut, Wassermangel, Unterernährung und hoher Kindersterblichkeit leiden. Entgegen dem in der nationalen Wasserstoff-Roadmap festgehaltenen Versprechen, die Bedürfnisse lokaler Gemeinschaften von Beginn an zu einem Kernanliegen dieses Transformationsprozesses zu machen (Ministerio de Minas y Energía 2021, S. 24), geht der von internationalen Unternehmen vorangetriebene Ausbau der Windenergie derzeit mit der Missachtung indigener Rechte und einer Reihe an sozialökologischen Konflikten einher. Zugleich sind die gesetzlich vorgeschriebenen Konsultationsprozesse unzureichend, v.a. aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu Informationen für die betroffenen Gemeinden und eines generellen Mangels an Transparenz. Zudem werden oftmals nur Teile der betroffenen Gemeinden in die Verfahren einbezogen (Vega Araújo et al. 2023). Es kommt zu Vertreibungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen – auch innerhalb der Wayuu Gemeinden – und damit im Kern zu einer Fortsetzung der gewaltsamen und kolonialen Ausbeutungsgeschichte in La Guajira, die durch den Kohletagebau El Cerrejón weltweit Bekanntheit erlangt hat (Bachmann 2022). In den letzten Jahren wuchs daher der Widerstand gegen den Ausbau der Windenergie, der darin gipfelte, dass das kolumbianische Militär zu Beginn des Jahres 2022 Truppen an den Windparks stationierte und dies mit der „Gewährung der Sicherheit der lokalen Bevölkerung und dem Schutz der strategischen Güter des Landes“ (Ejército Nacional de Colombia 2022) rechtfertigte.

Damit wird deutlich, dass die Energiewende in La Guajira derzeit weder friedlich noch gerecht verläuft und in den letzten Jahren von einer Militarisierung begleitet wurde. Dies zeigt sich nicht nur in der Stationierung von Militär, sondern auch darin, dass die Provinz im Jahr 2019 zu einer »Strategischen Interventionszone« erklärt wurde (Ramirez et al. 2022, S. 8) – also zu einem »Raum der Ausnahme«, in dem das Recht zugunsten außergewöhnlicher Interventionsmöglichkeiten partiell außer Kraft gesetzt werden kann. Angesichts der anhaltenden Gewalt in La Guajira und des wachsenden Einflusses paramilitärischer und in den internationalen Drogenhandel verstrickter Gruppen, ist diese Strategie der »Versicherheitlichung« wenig überraschend, steht aber in krassem Widerspruch zum Anspruch – im Sinne eines positiven Friedens – eine gerechte Energiewende herbeizuführen und die vielfältigen Gewaltformen in dieser umkämpften Region zu beenden.

Umso bedeutender ist daher der im Juni 2023 durch Gustavo Petro verkündete und von über 200 Wayuu-Vertreter*innen, 12 internationalen Energieunternehmen und verschiedenen Regierungsvertreter*innen unterzeichnete »Pakt für eine gerechte Energiewende in La Guajira« (Ministerio de Minas y Energía 2023). Dahinter verbirgt sich im Wesentlichen ein neues energiepolitisches Modell, das vorsieht, Energieprojekte in La Guajira nicht wie bisher nach einem oberflächlichen Konsultationsprozess zu genehmigen, sondern die Wayuu Gemeinden als gleichberechtigte Partnerinnen dauerhaft an den laufenden Gewinnen zu beteiligen. Zwar ist dieser Pakt derzeit noch als eine reine Absichtserklärung zu verstehen, doch die Tatsache, dass er von einer hohen Zahl von Wayuu Vertreter*innen unterstützt wird und er im Kern darauf abzielt, die Lebensbedingungen in La Guajira zu verbessern (u.a. durch Projekte in den Bereichen Wasserversorgung, Bildung, Infrastrukturentwicklung), lässt hoffen, dass die Energiewende in dieser Region tatsächlich mit der Politik des »absoluten Friedens« in Einklang gebracht werden kann.

Erneuerbare als Friedensprojekt?

Am Beispiel der Entwicklungen in La Guajira wird deutlich, dass eine Wende hin zu erneuerbaren Energien keineswegs automatisch zu einer friedlicheren Welt führt. Vielmehr geht der massive Ausbau erneuerbarer Energie vielerorts und insbesondere in peripheren Regionen des Globalen Südens mit neuen Konflikten und Ausbeutungsformen einher und droht damit die koloniale und gewaltsame Logik des fossilen Extraktivismus fortzusetzen – wenn auch auf eine weniger klimaschädliche Weise. Entscheidend ist dabei, dass es sich nicht allein um lokale Konflikte handelt, sondern um Ausdrucksformen globaler Abhängigkeiten, Ungleichheiten und Machtverhältnisse, die in der Zukunft auch zu neuen zwischenstaatlichen Konflikten führen können. Zugleich aber – und auch dafür eignet sich das kolumbianische Beispiel sehr gut – hat die Energiewende durchaus das Potenzial, zu einem Friedensprojekt zu werden. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die durch die Energiewende erzeugten Formen struktureller Gewalt sichtbar gemacht und problematisiert werden. Gleichzeitig ist es unerlässlich, dass Gerechtigkeitsprinzipien im Sinne eines positiven Friedens von vornherein in Entscheidungsprozesse, Planungsverfahren und langfristige politische Strategien integriert werden, d.h. dass sie zu einer Grundmaxime der Energiewende werden. Initiativen wie der »Pakt für eine gerechte Energiewende in La Guajira« zeigen, dass dies durchaus möglich ist. Es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit sich aus dieser Absichtserklärung tatsächliche spürbare Veränderungen in Richtung einer friedlichen und gerechten Energiewende ergeben.

Literatur

Bachmann, T. (2022): Der Preis der Energiewende. Koloniale Machtgefüge und die Kohlemine »El Cerrejón« in Kolumbien. W&F 2/2022, S. 32-34.

Becker, S.; Neumann, M. (2017): Energy democracy: Mapping the debate on energy alternatives. Geography Compass 11(8), Art. e12321.

Bimboes, D.; Spangenberg, J. H. (2004): Klimapolitik ist Friedenspolitik. Wird weniger Öl und Gas verbraucht profitieren Frieden und Umwelt. W&F 3/2004, S. 35-38.

Burke, M. J.; Stephens, J. C. (2018): Political power and renewable energy futures: A critical review. Energy Research & Social Science 35, S. 78-93.

Church, C.; Crawford, A. (2018): Green conflict minerals. The fuels of conflict in the transition to a low-carbon economy. International Institute for Sustainable Development (IISD). Winnipeg.

Ejército Nacional de Colombia (2022). Twitter Post vom 06.01.2022. URL: https://twitter.com/COL_EJERCITO/status/1479139196778389506, zuletzt geprüft am 12.10.2023.

Galtung, J. (1997): Frieden mit friedlichen Mitteln. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Guterres, A. (2022): Remarks at Press Conference on WMO State of the Global Climate 2021 Report. Pressekonferenz am 18.05.2022. United Nations.

Kemfert, C. (2022): Nur Erneuerbare Energien schaffen Frieden. Interview vom 04.03.2022. In: Energiezukunft. Das Portal für Erneuerbare Energien und die bürgernahe Energiewende.

Krämer, (2006): Erneuerbare Energien: Sichere und konfliktarme Energieversorgung? W&F 3/2006, S. 50-52.

Ministerio de Minas y Energía (2021): Colombia´s Hydrogen roadmap. Ministerio de Minas y Energía de Colombia. Bogotá.

Ministerio de Minas y Energía (2023): Comunidades Wayuu, empresas del sector energético y el Gobierno del Cambio firman pacto por la Transición Energética Justa en La Guajira. Pressemitteilung, 28.06.2023.

Ramirez, J.; Angelino Velázquez, D.; Vélez-Zapata, C. (2022): The potential role of peace, justice, and strong institutions in Colombia’s areas of limited statehood for energy diversification towards governance in energy democracy. Energy Policy 168 (1), Art. 113135.

Vakulchuk, R.; Overland, I.; Scholten, D. (2020): Renewable energy and geopolitics: A review. Renewable and Sustainable Energy Reviews 122 (1), Art. 109547.

Vega Araújo, J. A.; Muñoz Cabré, M.; Ramirez, Y.; Lerma, R. (2023): Energía eólica y comunidades Wayuu: Retos en La Guajira. Hrsg. v. Stockholm Environment Institute.

Voskoboynik, D. M.; Andreucci, D. (2021): Greening extractivism: Environmental discourses and resource governance in the ‘Lithium Triangle’. Environment and Planning E: Nature and Space 5 (2), S. 787-809.

Benno Fladvad ist Juniorprofessor für Naturwissenschaftliche Friedensforschung mit Schwerpunkt Klima und Sicherheit an der Universität Hamburg. In seiner Forschung beschäftigt er sich u.a. mit Fragen der Umwelt- und Klimagerechtigkeit, zuletzt vorrangig mit Bezug zur Energiewende und infrastrukturellen Transformationsprozessen.

Transformation durch Eskalation?

Transformation durch Eskalation?

Klimaprotest zwischen Demokratie und Kriminalisierung

von Rebecca Froese, Jürgen Scheffran und Janpeter Schilling

Spätestens seit dem Aufkeimen der Klimaproteste und der von vielen als Radikalisierung der Klimabewegung beschriebenen Entwicklung der letzten Jahre ist klar geworden, dass Klimakonflikte nicht nur im Globalen Süden sondern auch in Deutschland an Relevanz gewinnen. Im Fokus steht hierzulande vor allem der politische Umgang mit Klimaschutzmaßnahmen bzw. deren Unzulänglichkeit. Der folgende Beitrag systematisiert drei Formen des Klimaprotestes, von Massenprotesten bis zu Aktionen gesellschaftlicher Disruption, und diskutiert ihre Relevanz für den demokratischen Umgang mit sozial-ökologischen Transformationskonflikten.

82 % der Deutschen sahen im November 2022 einen großen bis sehr großen Handlungsbedarf beim Klimaschutz (Statista 2022b). Zusätzlich zur Verantwortung der Bürger*innen (63 %) und Unternehmen (64 %) bescheinigten 57 % der Befragten auch der Politik, deutlich zu wenig Verantwortung im Klimaschutz zu übernehmen (Statista 2022a). Trotz dieser expliziten Forderung in der deutschen Bevölkerung fehlt es an der Umsetzung effektiver und umfassender Klimaschutzmaßnahmen. Stattdessen werden seitens der Politik Entscheidungen für Energiewende und Klimaschutz u.a. mit der Begründung der Reaktion auf andere Krisen vertagt oder sogar zurückgenommen. Dies wurde zuletzt im Koalitionsbeschluss vom 28. März 2023 deutlich, in dem der noch im Koalitionsvertrag gestärkte Klimaschutzplan 2050 durch die Streichung der bereits beschlossenen Sektorziele aufgeweicht wurde.

Gegen diese Verzögerungen, Unentschlossenheit und Handlungsdefizite stemmen sich Protestierende diverser Gruppen und Allianzen der Klima- und Umweltbewegung mit Protestmärschen, Besetzungen von Dörfern, Wäldern und Konzernzentralen, der Blockierung von Straßen und anderen Aktionen. Während der Großteil dieser Proteste gewaltfrei und friedlich verläuft, sehen sich die Protestierenden vermehrt Repressionen und Kriminalisierung ausgesetzt, bis hin zum Vorwurf des „Klimaterrorismus“ (Poscher und Werner 2022). Doch welche Handlungsoptionen haben staatliche Akteure und Zivilgesellschaft, um den eskalierenden Klimarisiken friedlich und konstruktiv zu begegnen?

Konflikte um Klimapolitik

Seitdem die damals 15-jährige Greta Thunberg im August 2018 mit ihrem »Schulstreik für das Klima« begann, hat sich die Klimaprotestbewegung in ihren Methoden des zivilen Ungehorsams diversifiziert. Die damit einhergehenden politischen Auseinandersetzungen und innergesellschaftlichen Konflikte zeichnen wir hier entlang dreier Protestformen nach (Tabelle 1). Alle drei Protestformen richten sich, verstärkt durch mediale Berichterstattung, an erster Stelle an politisch Entscheidungstragende und die allgemeine Öffentlichkeit, unterscheiden sich jedoch in der Orts- und Methodenwahl und damit auch in ihrer gesellschaftlichen Resonanz und den Gewaltsituationen, denen die Akteur*innen ausgesetzt sind. Damit kann dieser Artikel im Kontext der Forschung zu sozial-ökologischen Transformationskonflikten verstanden werden, in denen nicht „die ökologische Krise […] die unmittelbare Ursache von Transformationskonflikten“ darstellt, sondern vielmehr die spezifischen Verarbeitungsweisen von Krisentendenzen und das sozial selektive Abwälzen von Krisenfolgen“ (Graf et al. 2023, S. 7).

Große Protestmärsche

Ausgelöst durch dezentrale Schulstreiks und Freitagsdemonstrationen weitete sich die »Fridays for Future (FFF)« Bewegung in kurzer Zeit vom zivilen und gewaltfreien Ungehorsam Einzelner zu einer Massenprotestbewegung aus (Sommer et al. 2019). Kontroversen in den Massenmedien und große Demonstrationen in hunderten Städten schafften 2019 weltweit Aufmerksamkeit. Die Leitfiguren der Bewegung wurden auf die nationale und internationale Bühne der UN oder zu Gesprächen mit führenden Repräsentant*innen der Politik eingeladen. Dadurch rückten klimapolitische Missstände ins Zentrum der öffentlichen Debatte und erhöhten den Druck auf die Politik, Maßnahmen für Klimagerechtigkeit und das Pariser Klimaabkommen zu ergreifen, um Schaden durch die Klimakrise für zukünftige Generationen zu verhindern. Die Aktionen mobilisierten verschiedene Unterstützergruppen, darunter die Scientists-, Doctors-, Teachers-, Entrepreneurs- oder auch Artists for Future. Aus der Kooperation entstanden wissenschaftlich begründete Vorschläge für Kohleausstieg, CO2-Steuer und das Ende fossiler Subventionen, Investitionen in eine nachhaltige Energiewende und den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs im Rahmen einer Verkehrswende. Darüber hinaus förderte die Bewegung auch das Engagement durch etablierte Gruppen, Nichtregierungsorganisationen, Kirchen und Kommunen. So folgten dem Beispiel der Stadt Konstanz, die im Mai 2019 als erste deutsche Stadt den Klimanotstand ausrief, viele Städte weltweit, und am 28.11.2019 auch das Europäische Parlament. Rucht (2019) sieht in den FFF gewisse Ähnlichkeiten mit anderen Bewegungen, wie der westdeutschen Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre, Occupy, Pulse of Europe und #unteilbar. Mit der Covid-19-Pandemie ab dem Frühjahr 2020 und dem Ukrainekrieg ab dem Frühjahr 2022 wurde die Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit, Medien und Entscheidungstragenden abgelenkt und große Massenproteste schwieriger, auch durch Auflagen des Infektionsschutzes.

(Massen-)Blockaden fossiler Industrie

Der Protest an Orten großer, sichtbarer Präsenz der fossilen Industrie, beispielsweise die Aktionen der Gruppe »Ende Gelände« im rheinischen Braunkohlerevier, reicht von friedlichen Großdemonstrationen über Protestcamps, Mahnwachen und die Besetzung von Gebäuden, Baggern und Bäumen bis hin zu Sabotageakten. Zuletzt wurde im Januar 2023 das Protestcamp im Dorf Lützerath mit einem Großaufgebot der Polizei geräumt, einem der größten Polizeieinsätze in der Geschichte Nordrhein-Westfalens. Die Räumung verlief überwiegend friedlich und die zuvor befürchtete „Schlacht um Lützerath“ blieb aus (Stukenberg 2023). Dennoch wurde, ähnlich wie bei vorhergegangenen Einsätzen z.B. im Hambacher Wald, unverhältnismäßiger Gewalteinsatz seitens der Polizei beobachtet (Keller et al. 2023). Nach zweijähriger Besetzung Lützeraths konnten die Aktivist*innen die Räumung zwar verzögern aber nicht aufhalten. Während das ausgesprochene Betretungs- und Aufenthaltsverbot auf dem der RWE AG gehörenden Gelände voraussichtlich rechtmäßig war, wurde das demokratisch legitimierte und geschützte Recht der Protestierenden auf Versammlungsfreiheit kritisch diskutiert (Hohnerlein 2023). Unabhängig davon dürften die Bilder und Berichte der Räumung Lützeraths und die Zusammenstöße zwischen der Polizei und Aktivist*innen, die in der nationalen und internationalen Presse stark resonierten, dem Image des Konzerns und Deutschland als vermeintlichem Vorreiter in der Klimapolitik eher geschadet haben. Ähnliches gilt für die Landesregierung Nordrhein-Westfalens, der vorgeworfen wird, durch den massiven Polizeieinsatz die Staatsgewalt für den Schutz von Privatbesitz bzw. der „Festung eines Energieunternehmens“ (Nolting 2023) eingesetzt und damit gegen ebenfalls geltendes Recht des Klimaschutzes, wie es das Bundesverfassungsgericht jüngst bestätigte (BVerfGE 2021), verstoßen zu haben. Dieses Beispiel zeigt, dass Protest am Ort des Geschehens, zumindest für den Zeitraum der Räumung, starke mediale Aufmerksamkeit erzeugen und damit die Symbolwirkung derartiger Aktionen unterstreichen kann.

Gesellschaftliche Disruption

Unter die gesellschaftlich-disruptive Protestform fallen derzeit Aktionen zivilen Ungehorsams Einzelner oder kleinerer Gruppen, insbesondere der Gruppe »Letzte Generation«. Diese verfolgen das Ziel, eine gesellschaftlich kritische Protest-Masse für einen Systemwandel aufzubauen, einen „sozialen Kipppunkt und einen internationalen Dominoeffekt“ herbeizuführen (Letzte Generation 2023) und damit die Regierung in eine Dilemmasituation zu bringen, in der diese entweder repressiv handeln oder nachgeben kann. Die Gruppe setzt auf rapides Wachstum der eigenen Anhänger*innenschaft, zu dessen Zweck sie neben den bekannten Protestaktionen auch Vorträge und Trainings anbietet und sich mit diversen gesellschaftlichen Gruppen vernetzt, insbesondere mit NGOs, Kirchen, Gewerkschaften und der Wissenschaft. Die Protestaktionen der Letzten Generation werden von eigenen Öffentlichkeitsarbeitsteams dokumentiert und verbreitet. Auf der Suche nach Akzeptanz in der Bevölkerung setzt die Gruppe zudem auf ein »bürgerliches« Erscheinungsbild sowie auf »absolute« (körperliche und verbale) Gewaltfreiheit. Dennoch spalten die Aktionen der Letzten Generation die gesellschaftlichen Meinungen und führen zu Abwehrreaktionen, von der Ablehnung der Methoden und massivem Unverständnis, auch durch einseitige Narrative in Medien und Politik (z.B. die Darstellung blockierter Rettungswege), bis hin zu staatlicher Gewaltausübung. Neben Repressionen am Ort des Protestes werden Aktivist*innen durch Strafprozesse und Verwahrung kriminalisiert und nicht nur in den Medien, sondern auch von bekannten Politiker*innen als „Grüne RAF“ und Klimaterrorist*innen verurteilt (Schaible 2021), während viele Expert*innen keinen Grund für härtere Strafen gegen Klimaaktivist*innen sehen (Bundestag 2023). Gegen die Kriminalisierung richtet sich auch eine Erklärung von mehr als eintausend Unterstützer*innen aus der Wissenschaft vom 21.4.2023 (Paganini et al. 2023). Inwieweit die Protestierenden erfolgreich sind, scheint umstritten. So bescheinigt Rucht (2023) der Gruppe eine gesteigerte Aufmerksamkeit, die durch die Aufsplittung der geforderten Ziele jedoch an Schlagkraft verliert, und damit intern langfristig auch Fragen einer weiteren Radikalisierung aufwerfen könnte.

Protestform

Große Protestmärsche

(Massen-)Blockaden fossiler Industrie

Gesellschaftlich disruptive Aktionen Einzelner/kleinerer Gruppen

Ort

Zentren meist größerer Städte

(Groß-)Aktionen am Ort des Geschehens, Orte großer Präsenz fossiler Unternehmen

Im alltäglichen Straßenverkehr, Orte mit Symbolcharakter

Ziele

Mehrheitsverhältnisse in der Gesellschaft verändern

Widerstand gegen ein bestehendes System und konkrete Anlagen

Widerstand gegen ein bestehendes System

Forderungen

Effektiverer Klimaschutz in allen Bereichen

Beendigung der Nutzung fossiler Energieträger, insbesondere Kohle

Tempolimit, Einführung eines Gesellschaftsrats, Verlängerung des 9-Euro Tickets

Methoden

Angekündigte und angemeldete Demonstrationen

Protestcamps, Besetzungen, Sabotageakte

(Spontane) Straßenblockaden, Protestaktionen mit (vermeidlicher) Sachbeschädigung, Erpressung, Hungerstreik

Akteur*innen

Schüler*innen, (Groß-)Eltern, Klimaschützer*innen, Wissenschaftler*innen, Naturschützer*innen, NGOs, Kirchen

Klimaschützer*innen,
Naturschützer*innen

Einzelne Mitglieder der Organisation »Letzte Generation«

Betroffene der Protestform

Allg. Öffentlichkeit, insb. Verkehrsteilnehmende

Akteure der fossilen Industrie

Allg. Öffentlichkeit, insb. Verkehrsteilnehmende

Ergebnis

Starke mediale und politische Aufmerksamkeit

Punktuelle, starke mediale und politische Aufmerksamkeit, besonders vor und während Räumungen

Starke mediale und politische Aufmerksamkeit, Denunzierung

Gesellschaftliche Resonanz

In großen Teilen akzeptiert und unterstützt

Punktuelle Wahrnehmung und generell Verstärkung von Polarisierung (bei Ereignissen wie Lützerath)

Geteilte Meinungen, Polarisierung und Zuspitzung

Gewaltsituation

Niedrig

Vereinzelte Beschimpfungen von frustrierten Verkehrsteilnehmenden, Gefährdung durch rücksichtsloses Fahrverhalten

Mittel-hoch

Polizeigewalt zur Durchsetzung von RWE-Interessen, Einkesseln, Körperverletzung durch Schlagstöcke, vereinzelte Steinwürfe, Pyrotechnik, ein Todesfall

Mittel-hoch

Handgreiflichkeiten von Verkehrsteilnehmenden, Repression, ungerechtfertigte Verhaftungen, Bezichtigung des Klimaterrorismus (Grüne RAF)

Ergebnis-Einschätzung

Mittel-hoch

Erhöht Druck auf politischen Entscheidungsprozess, zwischenzeitlich ambitioniertere Klimapolitik

Mittel-hoch

Erhöht Druck auf politischen Entscheidungsprozess und Industrie, erschwert den Einsatz von Polizeikräften für Räumungen

Niedrig-mittel

Aktionen scheinen geringen politischen Erfolg zu haben, wecken aber Emotionen der Faszination oder Empörung, die disruptive Transformation in die Debatte bringen

Beispiele

Fridays for Future, andere solidarisierende »for Future«-Bewegungen etc.

Ende Gelände, Protest im Hambacher Forst, Besetzung von Lützerath, Blockaden der Automesse IAA Mobility etc.

»Letzte Generation« mit punktuellen Blockaden und symbolischen Aktionen

Tabelle 1: Systematisierung von drei Protestformen

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Mit den Defiziten der Regierung in der Klimapolitik werden die Forderungen nach radikaleren Aktionen innerhalb der Klimabewegung lauter und von den Protestierenden vermehrt in Betracht gezogen. Bisher eint die Klimabewegten in ihren Protestformen die weitgehend friedliche Ausübung des zivilen Ungehorsams, wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausprägung. Denn auch wenn FFF im Schulstreik ihre eigene Form des zivilen Ungehorsams gefunden hat, so sehen viele unter ihnen die Aktionen der Letzten Generation kritisch und polarisierend (FAZ 2023). Sichtlich unterscheiden sich die Bewegungen auch in ihren Zielen, die sich zwischen der Veränderung der Mehrheitsverhältnisse für eine effektivere Klimapolitik und dem Widerstand gegen ein bestehendes System bewegen. Entsprechend divers ist auch der bisherige gesellschaftliche Umgang mit den verschiedenen Protestformen, der von breiter Unterstützung bis hin zu starker Ablehnung und Kriminalisierung reicht und innerhalb der Gesellschaft die Meinungen polarisiert.

Und jetzt?

Die Diskussion über die Legitimität des zivilen Ungehorsams sagt viel mehr über das »bequeme« Demokratieverständnis einer Wohlstandsgesellschaft aus, als über den „ungehorsamen Klimaprotest“ (Mullis 2023). Solange der Einsatz von Gewalt sich nicht mehrheitlich zur Durchsetzungsmethode der Protestziele entwickelt, womit zunächst nicht zu rechnen ist, sollten die Protestbewegungen für Akzeptanz und Legitimität des zivilen Ungehorsams werben, denn in einem weiteren internationaleren und historischen Kontext betrachtet, müssen alle beschriebenen Protestbewegungen als weitgehend gemäßigt gelten (siehe auch Celikates 2023; Mullis 2023).

Zudem haben diese Bewegungen nicht nur die Wissenschaft auf ihrer Seite, z.B. in der Aussage, dass die Kohleverstromung zur Gewährleistung der Stromversorgung in Nordrhein-Westfalen nicht erforderlich ist (DIW Berlin 2023), sondern auch das geltende Recht, dessen Bruch in der konstanten Missachtung des Klimagesetzes und der Reproduktion struktureller Gewalt durch den Klimawandel billigend in Kauf genommen wird. Nicht zuletzt haben die Bewegungen die Option der sozial-ökologischen Bündnisbildung als Reaktion auf Transformationskonflikte, wie sie zuletzt in der gemeinsamen Mobilisierung während der ÖPNV Kampagne von ver.di und FFF im März 2023 zu beobachten war. In dieser Hinsicht sollte eine demokratische Gesellschaft sich die Frage stellen, welches Demokratieverständnis sie mit der Durchsetzung undemokratischer Mittel, Repressionen und Kriminalisierung von Klimaprotestierenden an jüngere Generationen weitergibt.

Literatur

Bundestag (2023): Expertenmehrheit gegen härtere Strafen für Klima-Aktivisten. Deutscher Bundestag, Parlamentsnachrichten, hib 34/2023, 18.1.2023.

BVerfGE (2021): Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz teilweise erfolgreich. Pressemitteilung 31/2021, 29.4.2021.

Celikates, R. (2023): Protest in der Klimakrise: Die Legitimität zivilen Ungehorsams. Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2023, S. 99-106.

DIW Berlin (2023): Lützerath wird zum Symbol einer fehlerhaften Energie- und Klimapolitik: Statement vom 9. Januar 2023, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e.V.

FAZ (2023): Nach Blockaden in Hamburg: Fridays for Future kritisiert „Letzte Generation“. FAZ, 12.4.2023.

Graf, J.; Liebig, S.; Lucht, K.; Rackwitz, H.; Wissen, M (2023): Editorial: Sozial-ökologische Transformationskonflikte und linke Strategien. PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 53(210), S. 4-12.

Hohnerlein, J. (2023): Versammlungsfreiheit in Lützerath – zur Disposition von RWE und Behörden? Verfassungsblog, 13.1.2023.

Keller, T.; Rabe, B.; Winkler, M. (2023): Entscheidung für Gewalt: Bericht über die Demonstrationsbeobachtung rund um die Räumung von Lützerath, Januar 2023. Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.

Letzte Generation (2023): Mobilisierung – Selbstverständnis. Letzte Generation Wiki. URL: wiki.letztegeneration.de/de/öffentlich/struktur/Selbstverständnisse/Mobilisierung.

Mullis, D. (2023): Ungehorsamer Klimaprotest: Proteste werden intensiver – eine Radikalisierung in die Gewalt ist nicht in Sicht. HSFK/PRIF Spotlight 1/2023, 20.2.2023.

Nolting, I. B. (2023): The eviction of Lützerath: the village being destroyed for a coalmine – a photo essay. The Guardian, 24.1.2023.

Paganini, C.; Lambsdorff, J. G.; Guggenberger, W.; Lob-Hüdepohl, A.; Rehbein, M. (2023): Handeln statt Kriminalisieren. Erklärung zur Unterstützung von Klimaaktivist:innen. Unterzeichnet von Wissenschaftler:innen aus dem deutschen Sprachraum. URL: handeln-statt-kriminalisieren.com.

Poscher, R.; Werner, M. (2022): Gewahrsam als letztes Mittel gegen die „Letzte Generation“? Verfassungsblog, 24.11.2022.

Rucht, D. (2019): Faszinosum Fridays for Future. APuZ 69(47/48), S. 4-9.

Rucht, D. (2023): Die Gratwanderung der Letzten Generation. Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2023, S. 94-98.

Schaible, J. (2021): Aktivist Tadzio Müller im Interview: »Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF«. SPIEGEL, 21.11.2021.

Sommer, M.; Rucht, D.; Haunss, S.; Zajak, S. (2019): Fridays for Future: Profil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewegung in Deutschland. ipb working papers 2/2019. Berlin.

Statista (2022a): Was meinen Sie, tun Politik, Unternehmen und die Bürger genug oder zu wenig für den Klimaschutz? Umfrage, 11.11.2022.

Statista (2022b): Was meinen Sie, wie groß ist der Handlungsbedarf beim Klimaschutz? (im November 2022). Umfrage, 2.12.2022.

Stukenberg, K. (2023). SPIEGEL-Klimabericht: Die Schlacht um Lützerath ist noch nicht entschieden. SPIEGEL, 3.2.2023.

Dr. Rebecca Froese ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung der Universität Münster.
Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.
Dr. Janpeter Schilling ist Klaus-Töpfer-­Juniorprofessor für Landnutzungskonflikte am Institut für Umweltwissenschaften der RPTU und wissenschaftlicher Leiter der Friedensakademie Rheinland-Pfalz.

Fehlgeleitete Debatte

Fehlgeleitete Debatte

Klimakrise als Steigbügelhalter der Atomenergie?

von Franz Fujara und Ernst Rößler

Die Klimakrise ist und wird ein zukünftiger Konflikttreiber sein; die Gefahren, die von ihr ausgehen, sind außerordentlich. Bei den Debatten um Anpassung, Technologietransfer und Treibhausgasreduktionen wird jedoch überraschenderweise immer wieder die Atomenergie als mögliche (temporäre) Lösung genannt. Der Beitrag thematisiert die damit einhergehenden Fehlschlüsse und regt dazu an, grundlegender zu denken – gerade auch angesichts des Ukrainekrieges.

Ein Sommer von außerordentlicher Hitze, bisher unbekannter Dürre und europaweiter Waldbrände steckt uns noch in den Knochen. Waren das weitere Boten des Klimawandels infolge der Erwärmung der Erdatmosphäre? Was werden wir erst sagen, wenn wir in Brandenburg kein Getreide mehr anbauen können oder der Rhein nicht mehr schiffbar ist? Sind das die prophezeiten Kipppunkte, nach denen nichts mehr so sein wird wie früher?

UmweltexpertInnen sind nicht überrascht, sie haben es erwartet. Klar ist ihnen auch, dass die notwendige Dekarbonisierung unseres gesellschaftlichen Lebens so schnell wie eben möglich in Angriff genommen werden muss. Denkfabriken haben die Marschrouten bis hin zu den zu erwartenden Kosten festgelegt. Der Nobelpreisträger für Ökonomie, Joseph Stiglitz, verkündete gar: „Der Klimawandel ist unser Dritter Weltkrieg“ (Stiglitz 2019). So war die Hoffnung groß, dass nach 16 Jahren umweltpolitischer Versäumnisse die neue rot-gelb-grüne Regierung die heißen Eisen der Umweltpolitik endlich anpacken würde – und sie hat es im Koalitionsvertrag versprochen.

CO2-Reduktion im Mittelpunkt

Im Mittelpunkt steht die Menge an Kohlendioxid (CO2), dem wichtigsten Treibhausgas, die noch emittiert werden darf. Das seit ca. 250 Jahren1 durch verstärkte Verbrennung von Kohle, Öl und Erdgas entstandene CO2 sammelt sich in der Atmosphäre an, was den Temperaturanstieg auf der Erde verursacht. Es gibt deshalb nur einen Ausweg, der globalen Überhitzung zu entkommen: Wir müssen die Verbrennung fossiler Energieträger praktisch auf Null zurückfahren. Es wird uns im Wesentlichen nur die Energie der Son­neneinstrahlung (und ihrer sekundären Effekte) bleiben2, so wie vor dem Einsatz der Dampfmaschine.

Um den Temperaturanstieg auf noch verträgliche 1,5 bis 2 Grad zu begrenzen, hat der Weltklimarat die für Emissionen noch zur Verfügung stehende Menge an CO2 global ermittelt. Für Deutschland gibt es dazu seitens des Sachverständigenrates für Umweltfragen mehrere Stellungnahmen in den letzten Jahren, und auch das Bundesverfassungsgericht zog das CO2-Budget als Maßstab für die Bewertung der Klimapolitik des Bundes heran. Danach bleiben uns noch ca. zwei Milliarden Tonnen CO2, die bis 2027 ausgestoßen werden dürfen. Anders formuliert: Von einem derzeitigen jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von ca. zehn Tonnen CO2 müssen wir auf unter eine Tonne kommen und das bis 2027. Dieses Datum ist verdammt nah und erlaubt keinen Umweg, keine »Übergangstechnologien« und insbesondere kein Weiter-so. Ohne Zweifel eine Herkulesaufgabe!

Veränderte Situation, falsche Reaktionen

Der Ukrainekrieg stellt alle diese Vorhaben und Vorsätze auf den Kopf. Wenn man vor Putins Angriff von einer Notstandssituation sprach, dachte man an den Klimanotstand – eine beträchtliche Zahl von Kommunen riefen ihn übrigens sogar formell aus. Jetzt erfährt dieser Begriff eine völlige Umdeutung: alles dreht sich um die Verteidigung des Status Quo. Trotz drohender Kipppunkte im Erdsystem, trotz Hitze und Dürre wird damit die Abkehr vom bisherigen Wohlstandsmodell und insbesondere von fossilen Energien vertagt. Statt Alternativen voranzubringen wird auf wiederhergestellte Importe über die Pipeline » Nord Stream 1« gehofft, werden Terminals für Flüssiggas ausgebaut und Kohlekraftwerke wieder hochgefahren. Auch ohne den Krieg wäre die Dringlichkeit der Transformation nicht kleiner gewesen und ihre Umsetzung würde der Ukraine sogar eher (unmilitärisch) helfen.

Von der in Deutschland insgesamt aus der Gasverbrennung bereitgestellten Energie geht etwa ein Drittel in die Industrie. Aber es kann doch kein Staatsziel sein, die industriellen Hauptabnehmer von Gas, die Chemie-, die Papier- und die Glasbranche, in ihrer derzeitigen Form unbesehen zu erhalten. Denn wenn mit Hilfe von Gas zu einem großen Teil ökologisch schädliche oder verzichtbare Produkte hergestellt werden, dann muss eine Produktionsumstellung oder gar ein Rückbau dieser Bereiche vorgenommen werden (Meier und Hofmann 2022).

  • Der größte industrielle Gasverbraucher ist die Chemische Industrie. Ein Teil des Gases wird zur Herstellung von Stickstoffdünger genutzt. Aber war nicht geplant, das Ausbringen von Dünger deutlich zu reduzieren? Von den neun wissenschaftlich etablierten »planetarischen Grenzen« – u.a. Temperatur der Erdoberfläche, Frischwasserversorgung, Ozongehalt der Atmosphäre – überschreiten der jetzt schon eingebrachte Phosphor und Stickstoff die entsprechende Grenze deutlich (siehe Abbildung).
  • Ein weiterer Teil des Gases wird für die Kunststoffproduktion eingesetzt. Doch brauchen wir die bisherigen Mengen? Die toten Zonen in den Ozeanen werden immer größer, Mikroplastik ist überall. Dabei wäre es beispielsweise ein Leichtes, recyclebare Verpackungen per Gesetz einzuführen.
  • Entsprechendes gilt für die Glasindustrie. Ein Großteil der Produktion besteht aus Getränkeflaschen und Gläsern für Nahrungsmittel. Eine konsequente Pfandpflicht würde schnell den Gasverbrauch reduzieren.
  • Noch grundsätzlicher: Wenn unsere Autos, Kühlschränke, Wachmaschinen und Handys langlebiger wären, dann könnte ihre Produktion entsprechend zurückgefahren werden. Hinzukommen könnten kurzfristig umsetzbare Maßnahmen wie eine Beschränkung der Ladenöffnungszeiten, ein begrenzter Gebrauch von Klimaanlagen, Reduzierung der städtischen Beleuchtung usw. – und ein Tempolimit. Allen an der politischen Umsetzung Beteiligten war ohnehin klar, dass der ökologische Umbau strukturelle wie persönliche Kosten verursachen wird, also Sparen angesagt ist.

Planetarische Grenzen, „P“ und „N“ stehen für Phosphor bzw. Stickstoff (nach Wikipedia: J. ­Lokrantz/Azote, basierend auf Steffen et al. 2015).

CO2-Reduktion durch Atomkraft?

Doch jetzt gerät stattdessen sogar der Atomausstieg ins Wanken. Einige sprechen von Streckbetrieb, andere von einer mehrjährigen Laufzeitverlängerung der noch nicht abgeschalteten AKW. Verwegene fordern gar AKW-Neubauten. Solche Forderungen kommen vor allem von denjenigen, die den Ausstiegsbeschluss im Grunde nie wirklich akzeptiert hatten, die den Ausbau der Erneuerbaren Energieträger am wenigsten forciert haben und die jetzt angesichts der Gaskrise die Chance einer »Renaissance der Kernenergienutzung« wittern. Ob die durch den Bundeskanzler entschiedene Streckung des Betriebs dreier AKW das letzte Wort in Sachen Atomenergie ist, bleibt daher fraglich.

Lassen wir im Lichte dieser Debatte die Probleme bzw. vermeintlichen Vorzüge der Atomenergie noch einmal Revue passieren. Die grundsätzlichen BefürworterInnen der Kernenergie bringen dafür im Wesentlichen drei Argumente vor: Atomenergie ist CO2-frei, sicher und lässt auf neue vielversprechende Reaktortypen hoffen.

Beginnen wir von hinten:

  • Neue Reaktortypen werden seit Jahrzehnten diskutiert, Versuchstypen verschlangen enorme Geldsummen, ihre erfolgreiche Erprobung ist bislang nie gezeigt worden und sie kämen für die Bewältigung der Klimakrise zu spät. Auch die sogenannten »Small Modular«-Reaktoren3 werfen mehr neue Probleme auf als sie alte lösen, und die Fusionsenergie käme, wenn überhaupt jemals, viel zu spät.
  • Die Gefahr einer großen Havarie (GAU) und ihrer Folgen ist weiterhin das größte Problem der Atomenergienutzung, wenngleich sich BefürworterInnen und GegnerInnen in ihrer Beurteilung stark unterscheiden. Festzustellen bleibt aber, dass ein intrinsisch sicherer Reaktortyp nicht existiert und dass die bisherigen Unglücke neben den großen Opfern an menschlichem Leben, Natur und Umwelt exorbitante finanzielle Kosten verursachen. So werden Kosten aller Hinterlassenschaften für die Entsorgung der verstrahlten Abfälle und Gebäude von Fukushima auf mehrere hundert Milliarden US$ geschätzt (Vettese und Pendergras 2022). Unabhängig davon bleiben die gewaltigen Probleme des Uranbergbaus, der zivil-militärischen Ambivalenz und der Endlagerung. Hinzu kommt, dass sich Planung und Bau neuer Atommeiler über Jahrzehnte hinzieht und zu extrem teuren Anlagen führt.
  • Damit kommen wir zur Frage, wie hoch die tatsächliche CO2-Emission eines AKW ist, und zwar der gesamten technischen Prozesskette, beginnend mit dem bergmännischen Uran-Abbau bis hin zum Endlager und Rückbau. Diese Frage wird in der Öffentlichkeit in der Regel schnell beantwortet: AKW sind CO2-frei, heißt es – dies sei ihr entscheidender Vorteil, um mit der Klimakrise zurechtzukommen! Aber ist das wirklich so?

Die von der IPCC ermittelten Rahmenbedingungen kann man auf die noch zulässige CO2-Menge (in g) pro erzeugter elektrischer Energiemenge (in kWh) herunterrechnen. Klimamodelle kommen für die Einhaltung des 2-Grad-Ziels auf einen nicht zu überschreitenden Emissionswert von ca. 15 gCO2/kWh (Vettese und Pendergras 2022). Um diesen Wert einschätzen zu können, ein Beispiel eines Berliner Wohnblocks mit ca. 20 Wohneinheiten: Der Betrieb der Ölheizung verursacht einen jährlichen Verbrauch von 320.000 kWh, die mit einer Emission von ca. 100 Tonnen CO2 verbunden ist. Das entspricht etwa 300 gCO2/kWh, also einem um den Faktor 20 zu hohen Wert. Zurzeit bietet der Anschluss an die Berliner Fernheizung einen erstaunlich niedrigen Wert von 42 gCO2/kWh an; deutlicher besser, aber noch immer zu hoch.

Den CO2-Wert für den Betrieb eines Atomkraftwerkes über alle Unwägbarkeiten der Prozesskette hinweg abzuschätzen, führt zu einer großen Bandbreite der emittierten CO2-Menge. Ein Literaturüberblick kommt zu einem Mittelwert von 66 gCO2/kWh (Sovacool 2008), das World Information Service on Energy gibt sogar 88-146 gCO2/kWh an (WISE International 2017). Zum Vergleich: Sonnen- und Windenergie kommen auf Werte bis hinunter zu 1 gCO2/kWh (Nugent and Sovacool 2014), das Umweltbundesamt veranschlagt bei Wind 8-11 gCO2/kWh (UBA 2021). Wichtig ist hier, dass bei einem breiten Einsatz von Kernenergie zunehmend auf minderwertige Uranlagerstätten zurückgegriffen werden muss. Entsprechend steigt aber der gCO2/kWh-Wert weiter. Obwohl beim Normalbetrieb der Atommeiler wenig CO2 produziert wird, fällt die Gesamtbilanz im Vergleich zu den nicht-fossilen Energieträgern deutlich negativ aus. Das ist übrigens beim Elektroauto sehr ähnlich. Die reine Produktion des Autos führt zurzeit zu einer CO2-Emission von mehr als zehn Tonnen. Unser persönliches CO2-Guthaben wäre für die nächsten zehn Jahre verbraucht.

Es bleibt die Frage, warum uns nach Ansicht der BefürworterInnen nicht ein »kleines Strecken« der Laufzeit, bis die zurzeit installierten Brennstäbe endgültig abgebrannt sind, weiterhilft. Dies würde ja die Endlager praktisch nicht mehr belasten, und der weitgehend sichere etwas längere Betrieb könnte wahrscheinlich gewährleistet werden. Das wären durchaus nachvollziehbare Argumente, wenn tatsächlich der endgültige Ausstieg nicht infrage gestellt würde – woran, wie gesagt, aber Zweifel aufkommen. Schon der Streckbetrieb – wie übrigens sogar die Notfallvorhaltung – bedürfen einer Gesetzesänderung, die dazu genutzt werden könnte, den Wiedereinstieg in die Atomkraft zu erreichen.

Es sollte klar geworden sein, dass es genügend schnell wirkendes Spar- bzw. ökologisch sogar notwendiges Reduktionspotential gibt, dessen Umsetzung gerade nicht durch Einsatz von Atomenergie verzögert werden darf.

Ernsthafte Antworten suchen

Nochmal: Der Um- bzw. Rückbau der Wirtschaft war von der neuen Regierung versprochen, der Krieg in der Ukraine ändert daran nichts. Die jetzt vorgenommenen Investitionen in fossile Infrastruktur sind fehl am Platz. Letztendlich zeigen sie, dass man die Klimakrise noch immer nicht ernst nimmt.

All dies verdeutlicht, wie schwer es der Demokratie fällt, die von der Wissenschaft aufgezeigten planetarischen Grenzen umzusetzen. Wir wissen zwar um ihre Notwendigkeit für unser Überleben, sind aber nicht in der Lage, zugunsten unserer langfristigen Überlebensinteressen auf kurzfristige Vorteile zu verzichten. Kognitive Dissonanzen werden verdrängt; man greift zur scheinbar einfachsten Lösung, jetzt der Atomenergie, damit sich nichts ändert. Zu welchen Ausflüchten werden wir greifen, wenn große Teile Deutschlands im Sommer nicht mehr bewohnbar sind, wenn der Meeresspiegel steigt und wenn schließlich die Lebensmittel knapp werden? Werden wir dann dem modernistischen Reflex folgen und uns auf das irrsinnige Abenteuer des »geo-engineering« einlassen, d.h. die Erdatmosphäre durch Eintrag von reflektierenden Partikeln zu managen – und für immer in das Grau des aerosolgetrübten Himmels blicken?

Angesichts der Widersprüchlichkeit, ja Irrationalität unserer Lebensführung stellt sich die grundsätzliche Frage, wie eine demokratisch verfasste Gesellschaft dem Klimawandel begegnen kann. Denn sie ist zutiefst verwurzelt in einem System, das durch billige Energie und den materiellen Überfluss stabilisiert wird. Unser Wirtschaftssystem kennt nur Wachstum, und Wachstum bedeutet erhöhten Ressourcennachschub, insbesondere vom Globalen Süden in den Norden. »Überfluss und Freiheit« (Charbonnier 2022) – Freiheit im Sinne der Unabhängigkeit von Naturzwängen – hängen in der Neuzeit zusammen und dafür gibt es im Anthropozän, im Zeitalter der Kollision der menschlichen mit den planetarischen Geschichte, keine einfache Grundlage mehr.

Anmerkungen

1) Analysen mehrerer Eisbohrkerne aus Hima­laya-Gletschern erlauben die Luftverschmutzung in einem Zeitraum von 1499-1992 zu dokumentieren. Danach ist der Gehalt von Schwermetallen im Eis ab ca. 1780 deutlich angestiegen. Weil diese Schwermetalle bei der Verbrennung von Kohle entstehen und diese fossilen Brennstoffe damals in Asien noch nicht genutzt wurden, ist Europa dafür verantwortlich (Gabrielli et al. 2020).

2) Neben der direkten Sonnenenergienutzung (Photovoltaik, Solarthermie) zählt dazu auch die Wind- und Wasserenergie sowie die Energie aus Biorohstoffen. Von anderer Natur sind die Geothermie und die Gezeitenenergie.

3) »Small Modular Reactors« (SMR) werden seit den 1950er Jahren vor allem als U-Boot-Reaktoren gebaut. Sie werden wegen ihrer Kleinheit als zukünftige Alternative zu den heutigen großen Kernkraftwerken propagiert. Ein BASE-Forschungsbericht setzt sich kritisch mit der zivilen Anwendung von SMR-Konzepten auseinander (Pistner 2021).

Literatur

Charbonnier, P. (2022): Überfluss und Freiheit: Eine ökologische Geschichte der politischen Ideen. S. Fischer.

Gabrielli, P., et al. (2020): Early atmospheric contamination on the top of the Himalayas since the onset of the European Industrial Revolution. PNAS 117, S. 3967-3973.

Meier, K. und Hofmann, C. (2022): Ist ohne Gas unser Wohlstand in Gefahr? Oder nur der schlechte Status Quo? Der Freitag 30/2022.

Nugent, D. und Sovacool, B.K. (2014): Assessing the life cycle green house gas emissions from solar PV and wind energy: Acritical meta-survey. Energy Policy 65, S. 229–244.

Pistner C. et al. (2021): Sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung einer Anwendung von SMR-Konzepten (Small Modular Reactors). BASE-Forschungsbericht, 17. März 2021.

Sovacool, B.K. (2008): Valuing the greenhouse gas emissions from nuclear power: A critical survey. Energy Policy 36, S. 2950-2963.

Steffen, W., et al. (2015): Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet. Science 347, 1259855.

Stiglitz, J. (2019): The climate crisis is our third world war. It needs a bold response. The Guardian, 4.6.2019.

UBA (2021): Aktualisierung und Bewertung der Ökobilanzen von Windenergie- und Photovoltaikanlagen unter Berücksichtigung aktueller Technologieentwicklungen. Umweltbundesamt, Climate Change 35/2021.

Vettese, T. und Pendergras, D. (2022): Half-earth socialism: A plan to save the future from extinction, climate change and pandemics. Verso.

WISE International (2017): Climate change and nuclear power. An analysis of nuclear greenhouse gas emissions. Studie im Auftrag des WISE.

Franz Fujara ist pensionierter Experimentalphysiker der TU Darmstadt. Seine Forschungsthemen liegen in der Neutronenforschung, der Kernspinresonanz und im Bereich der zivil-militärischen Ambivalenz nuklearer Technologien.
Ernst Rößler ist pensionierter Experimentalphysiker der Universität Bayreuth. Seine Forschung untersuchte molekulare Gläser mit Hilfe der dielektrischen und kernmagnetischen Spektroskopie.

Der Preis der Energiewende

Der Preis der Energiewende

Koloniale Machtgefüge und die Kohlemine »El Cerrejón« in Kolumbien

von Theresa Bachmann

Weltgeschichtlich betrachtet ist die Zeit der Kolonialreiche längst vorbei. De facto aber prägen neokoloniale Beziehungsmuster bis heute die Beziehungen zwischen Staaten und Konzernen aus dem sogenannten Globalen Norden und dem Globalen Süden. Ausgehend von Überlegungen kritischer Intellektueller des Globalen Südens zur Rolle von Kolonialität im globalen Machtgefüge, zeigt dieser Beitrag am Beispiel der Cerrejón-Mine auf, welch hohen Preis Kolumbien für Deutschlands Energiesicherheit bezahlt.

Der bereits eingeleitete Ausstieg aus Atom- und Kohlestrom ist ein zentraler Bestandteil von Deutschlands Energiewende. Während die stärkere Förderung erneuerbarer Energien alternativlos ist, muss gleichzeitig jedoch auch die Energiesicherheit gewährleistet werden. In der aktuellen Übergangsphase heißt das, dass eine geringe Stromproduktion durch deutsche Windkraftanlagen durch vermehrte Importe, beispielsweise von französischem Atom- oder polnischem Kohlestrom, kompensiert wird. In einer zunehmend globalisierten Welt bleibt Deutschlands Energiemix also nicht ohne Folgen für und in anderen Staaten. Diese Verflechtungen spielen zwar in der öffentlichen Debatte in Deutschland zumeist nur eine untergeordnete Rolle, sind aber zum Teil gerade deswegen sozial-ökologisch, ökonomisch wie politisch besonders problematisch. Der globale Abbau und Handel mit Kohle zu Stromgewinnungszwecken ist diesbezüglich ein Paradebeispiel.

Obwohl in Deutschland der Steinkohleabbau bereits beendet wurde, stammt ein signifikanter Anteil in Deutschland verbrauchten Stroms weiterhin aus Steinkohle. Angaben des Vereins der Kohlen­importeure (VDKi 2022) zufolge, betrug dieser 2021 ca. 8,6 % am gesamten Primärenergieverbrauch. Die dafür notwendigen Kohleimporte steigerten sich allein im letzten Jahr um 24,5 % – das entspricht einer Menge von 7,2 Mio. Tonnen – auf insgesamt 39 Mio. Tonnen (Ibid.). Während in Deutschland intensiviert über einen früheren Kohleausstieg diskutiert wird, wird dabei kaum thematisiert, dass dasselbe Deutschland seit Jahren mit großem Abstand größter Steinkohleimporteur Europas ist. Die Steinkohle wird dabei nicht nur aus Australien oder den USA eingekauft, sondern auch aus Südafrika und Kolumbien, wo niedrigere Förderstandards mit großen Umweltschäden sowie zum Teil schwersten Menschenrechtsverletzungen in direktem Zusammenhang mit dem Export von Kohle stehen. So werden in Förderregionen lebende Gemeinschaften vertrieben, von der Wasserversorgung abgeschnitten, Proteste kriminalisiert sowie Gegner*innen aktiv mundtot gemacht. Selektive Gewalt in Form von gezielten Tötungen von Umwelt- und Menschenrechtsaktivist*innen erreicht – global gesehen – derzeit einen traurigen Höchststand. Global Witness (2020) beschreibt die Lage in Kolumbien, Zentralamerika und den Philippinen, gerade für die indigene Bevölkerung, als besonders prekär. Nichtsdestotrotz beziehen Deutschlands fünf größte Stromversorger allesamt auch Kohle aus Kolumbien.

Neokolonialismus und globale Machtgefüge

Auf dem Höhepunkt der »Dekolonisierung«, während immer mehr Staaten formal ihre Unabhängigkeit erlangten, wies Ghanas Unabhängigkeitsheld Kwame Nkrumah bereits auf die reale Möglichkeit des Neokolonialismus hin. In seinen Worten ist die „Essenz des Neokolonialismus, dass der Staat, der ihm unterworfen ist, theoretisch unabhängig ist und nach außen hin internationale Souveränität genießt. Praktisch jedoch ist sein ökonomisches System und damit einhergehend seine Politik von außen gesteuert“ (Nkrumah 1963: ix). Für Nkrumah sind die Regierungen neokolonial regierter Staaten dabei nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems, da sie „ihre Autorität zum Regieren von der Unterstützung ihrer neokolonialen Vorgesetzten ableiten. Sie haben daher nur wenig Interesse daran, […] Schritte jedweder Art einzuleiten, die koloniale Handelsbeziehungen herausfordern würden“ (Ibid., S. 1). Wenngleich die Hochphase der Kolonialreiche weltgeschichtlich passé ist, so setzen sich koloniale Beziehungsmuster – mit denselben, klar definierten Gewinner*innen und Verlierer*innen – demnach bis in die Gegenwart fort.

Die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Neokolonialismus galt in akademischen Kreisen lange Zeit als marxistisch und nicht zeitgemäß. Manche assoziierten Neokolonialismus „mit modernen Tyrannen wie Robert Mugabe, die das Konzept in ihren politischen Diskurs eingebunden haben. Und für viele wird es zu Unrecht als dreistes polemisches Mittel angesehen, um den „Westen“ für die anhaltende Misswirtschaft afrikanischer Eliten verantwortlich zu machen“ (Langan 2018, S. 4). Nichtsdestotrotz erscheinen Überlegungen wie die oben dargelegten angesichts der politischen und ökonomischen Realität in weiten Teilen des Erdballs hoch relevant und haben daher in den letzten Jahren zu einem klaren Umschwung beigetragen.

In Anbetracht der Thematik dieses Beitrages1 ist dabei die intellektuelle Arbeit im sogenannten Globalen Süden besonders hervorzuheben: Lange bevor sich kritische Forschende in Universitäten des Globalen Nordens verstärkt post- und dekolonialen Theorien zuwandten, dekonstruierten zahlreiche Denker*innen weit über den afrikanischen Kontext hinaus anhaltende koloniale Kontinuitäten. An dependenztheoretische Arbeiten anknüpfend, ist für Lateinamerika in diesem Zusammenhang insbesondere die interdisziplinäre Forschungsgruppe »Modernität/Kolonialität« von Bedeutung. Den ihr angehörenden Autor*innen zufolge kann das Phänomen scheinbar universeller Formeln wie »Modernität« und »Fortschritt« nicht „ohne Bezugnahme auf die damit einhergehenden Kolonialität von Macht sowie die Marginalisierung von Kulturen und Wissen subalterner Gruppen“ (Escobar 2008, S. 181) verstanden werden. Das global aktuell dominierende Machtgefüge entsteht dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano (2019, S. 1) zufolge aus dem Zusammenspiel von: „1) der Kolonialität der Macht, d. h. die Idee von „Rasse“ als universeller Grundlage sozialer Klassifizierung und Herrschaft; 2) Kapitalismus als universelle[m] Muster sozialer Ausbeutung; 3) dem Staat als universeller, zentraler Kontrollinstanz kollektiver Autorität und dem modernen Nationalstaat als seiner hegemonialen Variante; 4) dem Eurozentrismus als besondere[r] Form der Wissensproduktion.“ Die im lateinamerikanischen Fall zumeist von europäischstämmigen, weißen Eliten vorangetriebenen Unabhängigkeitsbestrebungen von den Mutterländern ist dabei nicht als Bruch zu verstehen, da diese nicht mit einer „Dekolonisierung der Gesellschaft einhergingen (Quijano 2019, S. 34). Stattdessen veränderten diese lediglich die institutionellen Grundlagen, auf Basis derer sich Macht innerhalb und zwischen Staaten ungleich verteilt und Gesellschaften, Wirtschaften und Politik prägt.

Eine Einordnung am Beispiel von »El Cerrejón«

Die konkreten Wirkungsmechanismen und die Auswirkungen dieses Machtgefüges werden mit Blick auf Kolumbiens Kohlesektor im Allgemeinen und den Fall »El Cerrejón« im Besonderen schnell sichtbar. Seit Kolonialtagen ist der Abbau und Export von natürlichen Rohstoffen eine tragende Säule der kolumbianischen Wirtschaft. Bedingt durch stark ansteigende Weltmarktpreise, nahm der Abbau und die wirtschaftliche Relevanz von Rohstoffexporten Anfang des Jahrtausends weiter zu. Wurden zu Beginn der 1980er Jahre noch weniger als 5 Mio. Tonnen Kohle jährlich abgebaut, so stieg die Fördermenge zwischen 2010 und 2020 auf jährliche 80 bis 91 Mio. Tonnen (Urrego 2021). Der weitaus größte Teil wird dabei in den beiden nördlichen Bundesstaaten La Guajira und Cesar abgebaut, wo ausländische Bergbauunternehmen einige der größten Kohleminen weltweit betreiben und von dort aus in die ganze Welt verschiffen.2 Alle kolumbianischen Regierungen der letzten Jahrzehnte haben diese Entwicklung explizit gefördert. So wird in den nationalen Entwicklungsplänen das durch die sogenannte »Bergbau-Energie-Lokomotive« erzielte wirtschaftliche Wachstum und damit einhergehende Staatseinnahmen als zentral für die Reduzierung von Armut und Ungleichheit dargestellt.

Die Lebensrealität vieler Kolumbianer*innen widerspricht dieser Argumentation. Trotz konstantem ökonomischem Wachstum seit 2000 lebt mindestens ein Drittel der Bevölkerung in Armut, mit stark ansteigender Tendenz und verschärft durch die Effekte der Covid-19-Pandemie. Gerade die Regionen, in denen die meisten natürlichen Reichtümer liegen, sind besonders stark betroffen. Besonders extrem ist die Lage in dem bereits genannten La Guajira, wo 63 % der Bevölkerung in Armut lebt und rund ein Viertel in extremer Armut. Die Lage der indigenen Bevölkerung der Wayúu – die rund 45 % der Bevölkerung La Guajiras ausmacht – ist noch prekärer: Allein zwischen 2010 und 2018 verhungerten ca. 5.000 Kinder unter 5 Jahren, die meisten davon Wayúus (Guerrero 2018). Die an der Grenze zu Venezuela gelegenen Halbinsel La Guajira ist zu 97 % von Wüste bedeckt. Seit 1983 beherbergt sie den größten Kohletagebau Lateinamerikas. Bis zuletzt wurde die gemeinhin nur als »El Cerrejón« bekannte Mine vom schweizerischen Konzern Glencore, dem britischen BHP und dem US-Konzern Anglo American betrieben.3

Die Geschichte El Cerrejóns liest sich bis dato wie eine Chronologie der Gewalt und Straflosigkeit. Mehrere tausend Menschen und Gemeinden wurden aus dem »Kohlekorridor« zwangsumgesiedelt bzw. vertrieben. Den damit einhergehenden Verpflichtungen, beispielsweise für adäquaten Ersatz zu sorgen, kamen weder Betreiber noch staatliche Behörden nach. Während die Mine in einer der trockensten Regionen des Landes täglich 24 Mio. Liter Wasser verbraucht bzw. verschmutzt, wird der Zugang zu Wasser für die Bevölkerung immer schwieriger. Trotz gerichtlicher Verbote wurden seit 2016 Teile der letzten für die Bevölkerung noch zugänglichen Wasserzuflüsse zugunsten der Mine umgeleitet. Eine durch den Klimawandel begünstigte Dürre hat die humanitäre Krise in den letzten Jahren weiter verschärft und Befürchtungen eines Ethnozids sowie eines Ökozids an den Wayúus und mehreren afrokolumbianischen Gemeinschaften geweckt. Deren Rechte sind durch die kolumbianische Verfassung und die ILO-Konvention 169 eigentlich besonders gut geschützt, doch wurden diese seit Inbetriebnahme missachtet und entsprechende Gerichtsurteile nicht oder nur stark verzögert umgesetzt. Mittlerweile 14 Gerichtsurteile (Stand: 25. Januar 2022) bestätigen den Betroffenen allesamt, dass u.a. ihre territorialen Rechte, ihr Recht auf Wasser und auf Gesundheit durch El Cerrejón verletzt werden und damit drohen, ihren angestammten Lebensraum unbewohnbar zu machen.

Betroffene und ihre Unterstützer*innen leisten seit Jahren Widerstand. Angesichts miserabler Arbeitsbedingungen solidarisierten sich zuletzt auch Minenarbeiter*innen mit ihnen. Dennoch zieht sich die Kriminalisierung von Protest und Repression wie ein roter Faden durch die Geschichte El Cerrejóns. In Einklang mit Kwame Nkrumahs Befürchtungen, ist das Handeln des kolumbianischen Staates für die Betroffenen nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems, da dieser gemeinsame Sache mit den Betreibern macht. Häufig zeichnen Armee und Polizei für gewaltsame Räumungen und Vertreibungen verantwortlich. Lokale Armeeeinheiten werden durch die Minenbetreiber direkt mit Lebensmitteln und Logistik unterstützt. Anwohner*innen wurden in der Vergangenheit durch den Konzern zudem Subventionen aus staatlichen Kompensationsprogrammen angeboten, der behauptete, diese Mittel stammten aus seinen eigenen Entschädigungszahlungen an den kolumbianischen Staat. Die Vorzugsbehandlung der El Cerrejón-Betreiber durch den Staat wird auch durch eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung des australischen Centre for International Corporate Tax Accountability and Research (CICTAR) (2021) belegt, die aufdeckt, dass Glencore in Kolumbien so drastische Steuernachlässe gewährt bekommt, dass das Unternehmen nahezu zum Nulltarif die Reichtümer La Guajiras ausbeuten darf. Gleichzeitig müssen die Anführer*innen der Proteste mit Bedrohungen, Verschwindenlassen oder ihrer gezielten Ermordung rechnen. Oft genug sind dafür direkt Paramilitärs zu verantworten, zu denen sowohl Minenbetreiber als auch der Staat zweifelhafte Kontakte pfleg(t)en.

Fazit

Seit Jahrhunderten bestehende Machtgefälle und „weiße Privilegien“ (Escobar 2008, S. 38) werden im Namen von »Globalisierung« und »Fortschritt« weiter zementiert. Nicht nur in Kolumbien, weltweit wird diese neokoloniale Ordnung mithilfe von Gewalt durchgesetzt. Mitnichten eine veraltete, marxistische Debatte, beeinflussen in der Kolonialzeit entstandene Beziehungsgefüge weiterhin Politik, Wirtschaft und Gesellschaften und konsolidieren die dramatische Ungleichheit zwischen Gewinner*innen und Verlierer*innen dieses globalen Systems. Unwissenheit und/oder Ignoranz kann dieses System durchaus begünstigen, wie das El Cerrejón-Beispiel zeigt. Obwohl die Vorgänge in der Region sehr gut dokumentiert und international bekannt sind, gibt es in Deutschland, der Schweiz und anderen Staaten, wo die zu Strom verarbeitete kolumbianische Kohle verbraucht wird, nur wenig substantiellen öffentlichen Druck, diese Kohle nicht mehr zu importieren. Dies ermöglicht die aktuelle paradoxe Situation, in der in Deutschland im Rahmen der Energiewende möglicherweise der vorgezogene Kohleausstieg bis 2030 durchgesetzt wird, während durch die dadurch steigende Nachfrage nach Kohle in Kolumbien und anderswo mehr Umweltschäden, Treibhausgasemissionen und Menschenrechtsverletzungen verursacht werden: „Das ist globale Kolonialität in ihrem unmittelbarsten Sinne“ (Escobar 2008, S. 38).

Anmerkungen

1) Viele der hier zitierten Autor*innen weisen in ihrer Arbeit auch auf die geopolitische Dimension von Wissen und seiner Produktion hin (s. folgender Absatz). Die »Kolonialität des Wissens« drückt sich demnach u. a. darin aus, dass global als relevant betrachtetes Wissen sowie die Art, es zu produzieren, bis heute ausschließlich in Zentren des Weltsystems definiert und hervorgebracht wird, während die Peripherien des Globalen Südens lediglich Forschungsobjekt oder Empfänger*innen von Wissen sind.

2) Ungefähr 95 % der in Kolumbien geförderten Kohle wird exportiert.

3) Seit Januar 2022 ist Glencore der einzige Betreiber.

Literatur

CICTAR (2021) Broke: Coal mining giant games global tax system. 26.10.2021. cictar.org/glencore.

Escobar, A. (2008): Territories of difference: Place, movements, life, redes. Durham/ London: Duke University Press.

Global Witness (2020): Defending tomorrow: The climate crisis and threats against land and environmental defenders. London: Global Witness.

Guerrero, S. (2018): “4.770 niños muertos en La Guajira es una barbarie”: Corte. El Heraldo, 15.10.2018.

Langan, M. (2018): Neo-colonialism and the poverty of ‘development’ in Africa. Cham: Palgrave Macmillan.

Nkrumah, K. (1963): Neo-colonialism: The last stage of imperialism. New York: International Publishers.

Quijano, A. (2019): Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina. Espacio abierto, Vol. 28, Nr. 1, S. 260-301.

Urrego, A. (2021): Colombia ya es el tercer exportador de carbón coque y metalúrgico a nivel mundial. La República, 26.08.2021.

Verein der Kohlenimporteure (2022): Pressemitteilung 1/2022. Berlin, 14.01.2022.

Theresa Bachmann ist Doktorandin der Friedens- und Konfliktforschung an der University of Kent (GB). Im Rahmen ihrer Dissertation forscht sie zu Räumen der Bürger*innenbeteiligung im Kontext des aktuellen kolumbianischen Friedensprozesses.

Nahrungsmittel­verschwendung


Nahrungsmittel­verschwendung

Systemische Ursachen und global organisierte Unverantwortlichkeit

von Tobias Gumbert

Etwa ein Drittel der global produzierten Nahrungsmittel werden Schätzungen zufolge über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg verschwendet. Das Ausmaß verweist auf immense Distributionsprobleme im globalen Agrar-Ernährungssystem, die nicht selten lokal bestehende Konfliktkonstellationen weiter verschärfen. Die globale Gemeinschaft hat mit verstärkten Kooperationsbemühungen und dem Versuch einer besseren Zuordnung und Zuschreibung von Verantwortlichkeiten unter den beteiligten Akteuren auf die Herausforderungen reagiert. Doch wie mit systemischen Ursachen von Nahrungsmittelverschwendung umzugehen ist, bleibt ein ungelöstes Problem.

Mit zunehmender Dringlichkeit stellt sich die Frage nach der Sicherung des Nahrungsmittelangebots für künftig mehr als neun Mrd. Menschen auf dem Planeten. Die Welternährungsorganisation (FAO) hat in ihrem letzten Bericht die Zahl der Menschen, die schon heute von einem schwerwiegenden Ausmaß an Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind, auf 750 Millionen beziffert; der Trend ist negativ und soll bis zum Jahr 2030 auf 840 Millionen ansteigen (FAO 2020, S. xvi). Diese extremen Formen von Hunger und Unterernährung gefährden ein gesichertes Zusammenleben und die zukünftige Entwicklung ganzer Regionen. Bestehende Konflikte des Zugangs zu Land und sauberem Trinkwasser weltweit, u.a. als Folge großflächiger Landinvestitionen, könnten durch ein sinkendes Nahrungsmittelangebot weiter verschärft werden. Bislang beschrieb der dominante Diskurs technologische Innovationen und Produktivitätssteigerungen als die zentralen Hebel, um die globale Nahrungsmittelsituation an die sich verändernden Rahmenbedingungen anzupassen. Doch spätestens seit die Größe des Problems der globalen »Nahrungsmittelverschwendung« vor gut einem Jahrzehnt zum ersten Mal annäherungsweise beziffert werden konnte (Gustavsson et al. 2011), ist deutlich geworden, dass die politische Adressierung von Verteilungsfragen stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken sollte – nicht nur die Verteilung von Ressourcen, sondern vor allem die Verteilung von Verantwortung.

Globale Ziele

In den letzten 10-15 Jahren ist der Problemkomplex der Nahrungsmittelverschwendung auf der globalen politischen Agenda immer wichtiger geworden. Die Studie »Global Food Losses and Food Waste« (Globale Nahrungsmittelverluste und Nahrungsmittelverschwendung) der FAO stellte den Beginn dieser Entwicklung dar: trotz schlechter Datenlage schätzte die Studie die globale Menge der jährlich nicht dem menschlichen Konsum zugeführten Nahrungsmittel auf 1,3 Mrd. Tonnen – etwa ein Drittel der globalen Erzeugung (Gustavsson et al. 2011). Seitdem hat die FAO eine Reihe verschiedener Foren zur weltweiten Reduzierung von Lebensmittelverlusten und Lebensmittelverschwendung organisiert und geleitet. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) folgte bald darauf mit eigenen Initiativen, um die Eindämmung von Lebensmittelverschwendung als Beitrag zu nachhaltigen Ernährungssystemen zu nutzen.

Diese und weitere Entwicklungen mündeten schließlich darin, dass das Thema Lebensmittelverluste und -verschwendung als spezifisches Ziel innerhalb der »Ziele für Nachhaltige Entwicklung« (SDGs) der Vereinten Nationen aufgenommen wurde. Das Unterziel 12.3 benennt eine weltweite Halbierung der Lebensmittelabfälle pro Kopf im Handel und auf Konsument*innenebene bis 2030 und ist bestrebt, Lebensmittelabfälle entlang der Produktions- und Lieferkette allgemein zu verringern. Kurz nach Verabschiedung des Ziels rief das World Resources Institute die »Champions 12.3«-Koalition von Führungskräften aus Regierungen, Unternehmen sowie weiteren staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen ins Leben, deren Ziel es ist, bei allen Akteuren mehr Bewusstsein für Lebensmittelverschwendung zu schaffen, das wachsende Netzwerk von Akteuren zu erweitern und sie aufzufordern, gemeinsame Politikempfehlungen und Lösungsansätze zu entwickeln.

Globales Mismanagement?

All die dazugehörigen Maßnahmen zur Verbesserung der globalen Datenbasis, der Optimierung technischer Prozesse, der Ausweitung von Kooperationsbemühungen und Partnerschaften entlang der Wertschöpfungskette, oder die Erinnerung an Eigeninitiative verorten das zugrunde liegende Problem beim individuellen Mismanagement der beteiligten Akteure.

Grundlegend kann demnach zwischen zwei Formen der Verschwendung unterschieden werden:

  • In den Phasen Ernte, Lagerung, Transport, Verarbeitung und Verpackung fallen »Nahrungsmittelverluste« an, die als unbeabsichtigtes Ereignis definiert und daher am besten durch technologische Lösungen (Effizienzsteigerung, verbesserte Kühlung, intelligente Verpackungen etc.) adressiert werden können.
  • »Nahrungsmittelverschwendung« wird hingegen als „das Ergebnis einer Fahrlässigkeit oder einer bewussten Entscheidung, Lebensmittel wegzuwerfen“ dargestellt (Lipinski et al. 2013, S. 4). Diese Problematik wird den Ebenen des Konsums und des Einzelhandels zugeschrieben, und könne demnach durch transparentere Informationen und Aufklärungsmaßnahmen gehandhabt werden.

Diese Problemdiagnosen basieren häufig auf der Vorstellung der Linearität von Wertschöpfungsketten. Diese lässt die Idee naheliegend erscheinen, dass Verantwortung individualisiert und unterteilt werden kann, indem Akteure innerhalb spezifischer Sektoren (Produktion, Transport, Fertigung, Verarbeitung, Einzelhandel usw.) bei den Prozessen, die sie überblicken und beeinflussen können, Verluste reduzieren können. Da die Sektoren über die gehandelten Güter wiederum linear miteinander verknüpft sind, scheint es zudem möglich, sich auf das Management von Endpunkten (Konsumebene) zu konzentrieren, um damit die gesamte Wertschöpfungskette zu beeinflussen. Diese Logiken führen zu der Annahme, dass das Agrar-Ernährungssystem durch die Summe vieler individueller, kausal wirksamer und kalkulierbarer Handlungen verantwortungsbewussten Handelns (insbesondere von den »Enden« ausgehend) transformiert werden kann (Gumbert und Fuchs 2022).

Doch neuere Studien, die einen weiteren Anstieg der globalen Nahrungsmittelverschwendung prognostizieren (Boston Consulting Group 2018) und exaktere Messmethoden anführen (UNEP 2021), legen nahe, dass die eingeschlagenen Reduktionspfade noch lange nicht ausreichen, um das Problem an der Wurzel zu packen. Mehr noch: die zu beobachtenden Ansätze scheinen nur Teile des Problems zu adressieren und die eigentlichen Gefahren zu verkennen.

Ausdruck organisierter Unverantwortlichkeit

Auf den ersten Blick erscheinen die politischen Lösungsansätze plausibel. Sie gehen davon aus, dass kein Akteur ein legitimes Interesse an Verlusten oder Verschwendung von Lebensmitteln haben könne. Daher sei es zielführend, Aufklärung zu betreiben, Best Practices zu teilen, die Koordination zu erhöhen, sprich: das Netz notwendiger Verantwortlichkeiten enger zu knüpfen (so dass hier weniger Nahrungsmittel durch das Netz fallen, um im Bild zu bleiben) und verlorene Kontrolle über die ungewollte Verschwendung von Nahrungsmitteln wiederzuerlangen.

Bereits in den 1980er Jahren wies der Soziologe Ulrich Beck darauf hin, dass genau diese Rationalität bei der politischen Bearbeitung von Umweltproblemen einem Trugschluss unterliegt (Beck 1986). Menschliche Kontrollversuche hätten – insbesondere durch ein hohes Vertrauen in das Innovationspotenzial neuer Technologien – den Effekt, dass die eigentlichen Gefahren verkannt, nur Teile des Problems adressiert, oder gänzlich neue, unerwünschte Nebeneffekte produziert würden. Diese Effekte vollzögen und akkumulierten sich sozusagen im Rücken und außerhalb des Sichtfelds der aktiv Handelnden, und könnten daher selten individuellen Akteuren zugeschrieben werden. Die Akkumulation von Plastikmüll in den Meeren ist dafür ein Paradebeispiel: während sich Recycling-Infrastrukturen seit den frühen 1990er Jahren global im Aufbau befinden, ist das Thema der Vermüllung der Meere erst seit wenigen Jahren auf der politischen Agenda und im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Trotz Koordination und Kontrolle bleibt so verantwortliches Handeln aus. Beck führt diese Dynamik nicht auf »Nichtwissen«, mangelnde Kompetenz oder fehlende Verantwortlichkeit der Akteure zurück. Er beschreibt in seinem Buch »Risikogesellschaft« (1986), wie Institutionen moderner Gesellschaften Bedrohungen zunehmend als kalkulierbare Risiken erfassen und managen, wodurch sie als standardisierte Operationen von Bürokratien institutionell eingeschrieben werden. Dadurch können Prozesse, welche vorhersehbar und unerwünscht sind, einzelnen Akteursgruppen oder Sektoren kausal zugeschrieben und die Aufgaben für die Behebung bzw. Reduzierung sogenannter „negativer Externalitäten“ übertragen werden. Die Adressierung unerwünschter, aber unvorhersehbarer Entwicklungen bleibt dabei jedoch strategisch unberücksichtigt, oder anders gesagt: gerade weil alle Akteure sich auf ihre individuellen Verantwortlichkeiten konzentrieren, entsteht Unverantwortlichkeit in den Zwischenräumen koordinierten Handelns und wird damit zu einem konstitutiven Merkmal rechtlicher, ökonomischer und politischer Strukturen.

Warum spricht Beck jedoch von organisierter Unverantwortlichkeit, wenn es scheinbar um ungewollte Nebeneffekte geht? Über Zeit werden gesellschaftliche Bearbeitungsstrategien zu einem Bestandteil der – in den Worten Becks – „sozialen Definitionsverhältnisse“, das heißt die vorherrschenden Problemdiagnosen und korrespondierenden Lösungsstrategien (hier: globale Nahrungsmittelverschwendung als Ursache von Mismanagement) werden normalisiert und dadurch legitimiert (Beck 1988, S. 100). Sie konstituieren fortan den „normalen Umgang“ mit Sachfragen und Problemlagen und es wird zunehmend schwieriger, diese Strategien zu hinterfragen. Durch diese Form der Organisation würden, so Beck, sowohl die dynamische Entwicklung von Umweltproblemen als auch deren Bedeutung und Tragweite verkannt. Mehr noch: einzelne Akteure ziehen ihren Nutzen daraus, die sozialen Definitionsverhältnisse ständig zu reproduzieren, wodurch es problematisch wird, hier nur von Nebeneffekten zu sprechen.

Becks Diagnose legt also nahe, dass eine in seinem Sinne systemische, organisierte Unverantwortlichkeit nicht nur parallel zu einer Vielzahl individuell und verantwortlich handelnder Akteure bestehen kann, sondern dadurch gerade gestützt oder sogar hervorgebracht wird. Im nächsten Abschnitt soll näher ausgeführt werden, wie diese recht abstrakten Konzepte dabei helfen können, die Gründe für das Ausmaß der globalen Nahrungsmittelverschwendung näher zu beleuchten.

Verschwendung als strategischer Effekt

Das Ausmaß der globalen Nahrungsmittelverschwendung ist ohne den Fokus auf seine strukturellen Treiber kaum zu verstehen. Diese Treiber sind in erster Linie Prozesse, die ursächlich nicht auf das strategische Handeln Einzelner zurückgeführt werden können und in ihrer Verbreitung globalen Charakter haben. Hier sind Prozesse anzuführen, die weltweit zu einem massiven Überangebot an Lebensmitteln führen, wie etwa die kommerzielle Intensivierung der Nahrungsmittelproduktion oder den wachsenden Einfluss des Einzelhandels entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Diesen Entwicklungen zugrunde liegen wiederum Wachstumszwänge und globaler Wettbewerb, die für konstante Überproduktion sorgen, ohne dass diese der menschlichen Bedürfnisbefriedigung zukommen würde.

Dafür lassen sich viele Anhaltspunkte liefern. Das Management von Nahrungsmittelverschwendung ist mittlerweile zu einem global rasant wachsenden Markt geworden: 36,04 Mrd. US$ Umsatz verzeichnete dieser im Jahr 2020, bei einer jährlichen Wachstumsrate von 5,8 % (Fior Markets 2021). Die in diesem Markt aktiven Unternehmen sind zunehmend auf anhaltende Flüsse von Nahrungsmittelabfällen angewiesen. Das Segment der Biogasproduktion erfährt hier besonders hohe Zuwächse: obwohl Prävention von Verschwendung (z.B. auf EU-Ebene) das präferierte Politikziel ist und Energiegewinnung nur eine nachrangige Stelle in der Liste möglicher Reduktionsmaßnahmen einnimmt, bestehen in vielen EU-Staaten finanzielle Anreize für Unternehmen, Abfälle der Energiegewinnung zuzuführen (Bradshaw 2018). Technologische Pfadabhängigkeiten führen zudem dazu, dass viele Anlagen darauf angewiesen sind, energiereichere Bestandteile zusätzlich zu Abfällen zu vergären, um hochwertigeres Biogas zu produzieren, wodurch der Verbrauch an Nutzpflanzen steigt (Alexander 2016). Werden die Begriffe Nahrungsmittelverluste und -verschwendung weiter gefasst, um auch jene Nahrungsmittel zu berücksichtigen, die nicht dem menschlichen Konsum zugeführt werden und stattdessen z.B. für die Biokraftstoffproduktion genutzt werden, ist das Ausmaß des Problems noch wesentlich größer.

Cloke (2013) betrachtet als techno-­regulatorische Ursachen“ auch Technologien der Lebensmittelkonservierung wie Gefriertrocknung oder Vakuumierung, welche die Möglichkeit für sämtliche Akteure ausweiten, mehr Nahrungsmittel zu produzieren, als tatsächlich benötigt werden. Auch hohe Anforderungen an Lebensmittelsicherheit veranlassen Akteure (bzw. verpflichten sie rechtlich) dazu, weitaus mehr Nahrung zu entsorgen, als tatsächlich nicht mehr genießbar ist. Gleichzeitig bestehen weiterhin entweder rechtliche Hürden für Unternehmen, übriggebliebene Nahrungsmittel an Hilfsorganisationen weiterzugeben, oder zivilgesellschaftliche Organisationen werden dadurch abgeschreckt, dass sie mit den »Resten« von Händlern auch das »Restrisiko« übernehmen und für eventuelle gesundheitliche Folgeerscheinungen haftbar gemacht werden können (Bradshaw 2018).

In diese Kategorie fallen außerdem Abfälle, die durch global agierende Supermärkte und Großhändler anfallen, etwa indem diese ihre riesige Nachfragemacht nutzen. Der Handel schützt sich vor Risiken im Zusammenhang mit Verderblichkeit und Hygienevorschriften, indem er die Verantwortung und die Kosten für Nahrungsmittelabfälle auf die Lieferant*innen und Produzent*innen verlagert; bestellte Lieferungen werden abgelehnt oder Verträge einseitig gekündigt (Gille 2013). Beispielsweise berichteten Landwirt*innen und Exporteur*innen aus Kenia, die mit europäischen Einzelhändler*innen zusammenarbeiten, dass durchschnittlich 30 Prozent der Lebensmittel auf Farmebene abgelehnt werden und 50 Prozent vor dem Export (Feedback 2015, S. 5). Gründe für die Ablehnung sind in der Regel kosmetische Vorgaben, aber ebenso Auftragsstornierungen aufgrund von Last-Minute-Lieferanpassungen, die zu finanziellen Einbußen und einer erhöhten Verschuldung der Landwirt*innen aufgrund fehlender Entschädigungen führen. Darüber hinaus verbieten diese Akteure den Erzeuger*innen in vielen Fällen vertraglich, ihre Produkte auf alternativen Märkten zu verkaufen, was zu noch größeren Mengen verschwendeter Produkte führt (Stuart 2009).

Viele weitere Prozesse könnten an dieser Stelle angeführt werden, die allesamt ein Zeugnis davon wären, dass Nahrungsmittelabfälle entstehen, obwohl sämtliche Akteure im Rahmen der vorgegebenen ökonomischen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen agieren. Dieses Ausmaß ist unverantwortlich, und doch organisiert. Für Cloke ist Nahrungsmittelverschwendung in dieser Hinsicht sogar ein gewollter Kernbestandteil des unternehmensdominierten globalen Agrar-Ernährungssystems. Er bezeichnet dieses daher auch als „vastogenic system“ (Cloke 2013, S. 622), als Abfall und Verschwendung hervorbringendes und förderndes System. Verluste und Verschwendung werden nicht nur kalkuliert und eingepreist, sondern sind notwendig, um den beschleunigten Fluss von Gütern über und durch Wertschöpfungsketten anzutreiben. Solange politische Lösungsansätze diese strukturellen Treiber nicht adressieren, wird sich das Problem der globalen Nahrungsmittelverschwendung im Lichte gut sichtbarer und teilweise sogar sehr ambitionierter, individueller Reduktionsbemühungen weiter verschärfen.

Hin zu kollektiven Verantwortlichkeiten

Keine Frage, die globale Aufmerksamkeit, die das Thema der globalen Nahrungsmittelverschwendung in den letzten Jahren erfahren hat, ist wichtig und lange überfällig gewesen. Die gegenwärtig global koordinierten Reduktionsbemühungen weisen in die richtige Richtung, insbesondere, wenn sich nationale Regierungen an den Indikatoren und Lösungsvorschlägen zur Umsetzung des SDG 12.3 beteiligen. Doch der Prozess birgt die Gefahr, an sektorspezifischen Vorgaben und »zumutbaren« Richtwerten Halt zu machen. Wie also ist politisch in Zukunft zu verfahren?

Einflussreichen Akteuren, die bislang von „vastogenic systems“ profitiert haben, sollte eine größere Verantwortung für Schadensminderung zugemutet werden können, selbst wenn kein direkter kausaler Zusammenhang zwischen ihren Handlungen und negativen Auswirkungen hergestellt werden kann. Von Unternehmen, die eine besondere Machtposition innehaben und die die Ressourcen und Fähigkeiten zur Veränderung bestehender systemischer Rahmenbedingungen besitzen, sollte daher öffentlich eine stärkere Verpflichtung zu verantwortungsvolleren Geschäftspraktiken eingefordert werden können, insbesondere unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen von Landwirt*innen.

Relevante Governance-Initiativen müssen ökologische und soziale Fürsorge und Vorsorge beinhalten und können durch transparente und partizipative Institutionen gefördert werden. Diese sollten kollektives Handeln (ermöglicht durch wechselseitige Beobachtung, Motivation und ggf. Sanktion der beteiligten Stakeholder) statt der Zuweisung partieller Verantwortlichkeiten betonen und den Umgang mit den hier geschilderten unbeabsichtigten, unabsehbaren Folgen zu einem wichtigen, zusätzlichen Ziel erklären. Ferner sollten nicht nur wirtschaftliche Sektoren und Branchen entlang der Wertschöpfungskette zu kollektivem Handeln verschränkt, sondern ebenso räumliche und zeitliche Fernbeziehungen berücksichtigt werden (bspw. durch die Repräsentation von Produzent*innennetzwerken und Fürsprecher*innen zukünftiger Generationen). Dies könnte konkret zu stärkeren Monitoring-Instrumenten führen, etwa um Missbräuche durch transnationale Unternehmen umfassend aufzuklären oder anonyme Beschwerdeverfahren einzurichten, und so dazu beizutragen, die „organisierte Unverantwortlichkeit“ (Beck 1988) nach und nach abzubauen.

Literatur

Alexander, C. (2016): When Waste Disappears, or More Waste Please! In: Mauch, C. (Hrsg.): Out of Sight, Out of Mind. The Politics and Culture of Waste. RCC Perspectives, Transformations in Environment and Society, S. 31-39.

Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Beck, U. (1988): Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Boston Consulting Group (2018): Tackling the 1.6-Billion-Ton Food Loss and Waste Crisis. The Boston Consulting Group.

Bradshaw, C. (2018): Waste Law and the Value of Food. In: Journal of Environmental Law 30(2) S. 311–331.

Cloke, J. (2013): Empires of Waste and the Food Security Meme. In: Geography Compass 7/9, S. 622-636.

FAO et al. (2020): The State of Food Security and Nutrition in the World 2020. Transforming food systems for affordable healthy diets. Rom: FAO.

Feedback (2015): Food Waste in Kenya. Uncovering Food Waste in the Horticultural Export Supply Chain. London: Feedback.

Fior Markets (2021): Global Food Waste Management Market. Business Marketing Report.

Gille, Z. (2013): From Risk to Waste: Global Food Waste Regimes. In: The Sociological Review 60(S2), S. 27-46.

Gumbert, T.; Fuchs, D. (2022): Moral Geographies of Responsibility in the Global Agrifood System. In: Hansen-Magnusson, H.; Vetterlein A. (Hrsg.): The Routledge Handbook on Responsibility in International Relations. London/New York: Routledge, S. 153-163.

Gustavsson, J. et al. (2011): Global Food Losses and Food Waste. Extent, Causes, And Prevention. Rom: Food and Agriculture Organization of the United Nations.

United Nations Environment Programme (UNEP) (2021): Food Waste Index Report 2021. Nairobi.

Tobias Gumbert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung der WWU Münster. Er forscht zu Fragen globaler Umweltgovernance und demokratischer Nachhaltigkeitspolitik.

Verflochtene Machtstrukturen


Verflochtene Machtstrukturen

Ökologie, Klima- und Energiepolitik in China

von Anja Senz

Der Beitrag gibt einen Einblick in die aktuelle umwelt- und klimapolitische Situation der Volksrepublik China. Betrachtet werden einerseits die ökologischen Herausforderungen, die aus einer langen Phase des Wirtschaftswachstums resultieren und andererseits die Umsetzungsprobleme in der Umwelt- und Klimapolitik, die sich aus den gegenwärtigen ökonomischen und politischen Strukturen ergeben. Neben den offiziellen klimapolitischen Ambitionen werden unterschiedliche innerchinesische Interessenlagen und Vollzugsdefizite betrachtet, die ein klimapolitisches Umsteuern erschweren.

Die Entwicklungen in China sind seit vielen Jahren Thema in internationalen Debatten zu Umwelt- und Klimaschutz. Als großer Emittent von Treibhausgasen gilt das Land als »Klimasünder« und internationalen Umweltindizes zu Folge hat sich im Zuge der rapiden Wirtschaftsentwicklung in den letzten drei Jahrzehnten die Umweltsituation erheblich verschlechtert. Gesellschaftliche Unzufriedenheit ist ein Resultat des enormen Ausmaßes der Umweltzerstörung. Allerdings ist »Umweltstress« kein neues Phänomen in China. Neben den von Menschen erzeugten Problemen stellen schwierige naturräumliche Gegebenheiten eine Langzeitherausforderung dar. Chinas agrarisch nutzbare Fläche steht seit jeher in ungünstiger Relation zur Bevölkerungsgröße, denn nur etwa 12,5 % des Territoriums ist landwirtschaftlich nutzbar, wobei durch Urbanisierung und Industrialisierung in den letzten Dekaden viele Agrarflächen verlorengingen. Problematisch ist auch die Verfügbarkeit von Wasser: mit sechs Prozent der weltweiten Frischwasserreserven müssen heute knapp 20 % der Weltbevölkerung versorgt werden. Schwer wiegt, dass die Wasserressourcen in Nord-Süd-Richtung ungleich verteilt sind, wodurch der Süden von Wasserreichtum, der Norden jedoch von Trockenheit und häufigen Dürreperioden gekennzeichnet ist. Großprojekte zur Kanalisierung des Wassers nach Norden bewegen die politische Führung daher seit langem.

Die Umweltsituation heute

Luftverschmutzung, ausgelaugte oder mit Schadstoffen belastete Böden und schlechte Wasserqualitäten kennzeichnen China heute landesweit. Besonders die alten Industrieregionen im Nord­osten sowie die Industriezentren am Yangzi- und am Perlflussdelta sind von Emissionseinträgen durch sauren Regen, Chemikalien aus der Landwirtschaft, Industrie- und Bergbauaktivitäten sowie einer ungeregelten Müllbeseitigung betroffen. Großflächige Infrastrukturprojekte, forcierte Ressourcenextraktion, Intensivierung der Landwirtschaft, Urbanisierung, zunehmende Mobilität und Binnenmigration, der steigende Energiebedarf und die Lebensgewohnheiten der wachsenden urbanen Mittelschicht haben als Ausdruck einer auf rasches Wirtschaftswachstum ausgerichteten Entwicklungsstrategie enorme ökologische Konsequenzen.

Bereits Mitte der 2000er Jahre wies die nationale chinesische Umweltbehörde erstmals darauf hin, dass die Steigerung des Bruttoinlandsproduktes durch die Umweltzerstörung aufgezehrt würde, weil die Kosten der Umweltdegradation dem Wert des jährlichen Wirtschaftswachstums entsprächen. Eine aktuelle Weltbankstudie kommt zu einem ähnlichen Resultat. So geraten viele Menschen in finanzielle Not, weil sie die Erträge ihrer verseuchten Böden nicht mehr verkaufen können. Knapp 300 chinesische Städte, deren bisherige ökonomische Basis die Rohstoffextraktion (Kohle, Mineralien, Forstwirtschaft) war, gelten offiziell als »ressourcenerschöpft«. Für Millionen von Menschen bedeutet das den Verlust des Arbeitsplatzes und das Angewiesensein auf staatliche Grundversorgung.

Staat und Gesellschaft

Die Anzahl der (Umwelt-)Proteste hat in den letzten zwei Jahrzehnten stetig zugenommen. Das Internet und neue Möglichkeiten der digitalen Vernetzung erweisen sich als wichtige Informations- und Mobilisierungsinstrumente. Während Effekte des Klimawandels nur in geringem Maße als gesellschaftliche Herausforderung thematisiert werden, rangieren die vielfältigen Umweltprobleme in Umfragen zu den Sorgen der chinesischen Bevölkerung stets auf den vorderen Plätzen. Die Menschen erwarten Lösungen von der Politik (vgl. auch Klabisch und Straube in dieser Ausgabe). Das ist nicht erstaunlich in einem Staat, der der Gesellschaft wenig Freiraum für Debatten und Selbstorganisation lässt und für alle relevanten Fragen Zuständigkeit reklamiert. Doch Chinas Führung hat nicht nur aus Gründen der politischen Stabilität und Legitimation inzwischen ein vitales Interesse an der Verbesserung der Umwelt. Für eine weitere positive ökonomische Entwicklung sind Innovation und die Produktion hochwertiger Güter essentiell. Neue Umwelttechnologien und beispielsweise die Elektromobilität sind mögliche Wege aus der Sackgasse billiger Massenproduktion und ein internationaler Markt mit großem Potential (Senz 2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Dynamiken ab 1978 mit Liberalisierung und Dezentralisierung haben ein politisches System geschaffen, das durch eine Vielzahl von Akteuren mit diversen Eigen­interessen gekennzeichnet ist, die sich in einer komplizierten Matrix aus vertikalen und horizontalen behördlichen Kompetenzen bewegen. Dies erschwert die landesweite Steuerung und Durchsetzung von Politiken, Gesetzen und Mindeststandards und lokale Behörden nutzen die vielfältigen Spielräume für eigene politische Ziele (Senz 2017). Viele Gesetzestexte formulieren nur allgemeine Prinzipien und erweisen sich als lückenhaft im Hinblick auf eindeutige Verantwortlichkeiten. Ein schwaches Rechtssystem vermag die Durchsetzung von Ansprüchen nicht sicherzustellen. Lokaler Protektionismus, Korruption und ein doppeltes Berichtswesen (­Heberer und Senz 2011), in dessen Rahmen inhaltlich variierende Ergebnissen nach oben gemeldet werden sowie eine oft mangelhafte Ausstattung und Qualifikation der lokalen Verwaltungen resultieren in großen Vollzugsdefiziten, gerade auch bei der Implementierung von Umweltgesetzen. Normativ geht Wirtschaft vor Klimaschutz und administrativ erweist sich die Umsetzung umwelt- und klimapolitischer Maßnahmen als kompliziert.

Die Herausforderung der Dekarbonisierung

Etwa 25 % des weltweiten Energieverbrauchs entfallen auf China. Kohlekraft dominiert im chinesischen Energiemix (ca. 58 % in 2019), der Anteil der erneuerbaren Energien liegt derzeit bei ca. 15 %. Während pandemiebedingt der Stromverbrauch in den großen Industrie- und Schwellenländern im Jahr 2020 sank, verzeichnet China weiterhin einen wachsenden Stromverbrauch. Eine Auswertung statistischer Daten ist aufgrund sich teils ändernder Berechnungsgrundlagen u.a. im Bereich der Windenergie sowie der Vermischung mit politischen Zielgrößen (z.B. aus den Fünfjahresplänen) schwierig.

Für die chinesische Ökobilanz wird die langfristige Stromerzeugung über erneuerbare Energien entscheidend sein. Neben der Reduzierung von CO2-Emmissionen durch den Ausbau erneuerbarer Energien und der Verbesserung der Energieeffizienz sowie des Stromnetzes (Yang et al. 2016), ist die Regulierung der heimischen Kohleindustrie von Bedeutung. Eingeleitete, aber oft nur halbherzig umgesetzte Maßnahmen reichen vom Baustopp bei Kohlekraftwerken, strengeren Grenzwerten und Effizienzstandards für Kraftwerke, Importabgaben auf Kohle bis zur angestrebten Deckelung der Kohlekapazitäten bei 55 % im Energiemix.

Doch stellt die Kohleindustrie nicht nur den Löwenanteil der genutzten Energie bereit – etwa die Hälfte der weltweit geförderten Kohle wird in China verbrannt –, sondern war und ist auch ein wichtiger Arbeitgeber. Während strukturell zunächst Staatsunternehmen dominierten, wuchs ab den späten 1970er Jahren die Bedeutung lokaler Minen im kommunalen Besitz. Hiermit konnte der Energiebedarf flexibler gedeckt werden, die kleineren Unternehmen wirtschafteten profitabler, allerdings vielfach um den Preis schwerster Umweltschäden. Neben dem Abbau sind hierbei auch die Effekte des Transportes und der Infra­struktur zu berücksichtigen. Ab den 1990er Jahren waren in der Kohleindustrie nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen sechs und zehn Millionen Menschen direkt beschäftigt (Wright 2012). Die Regulierung dieses Industriezweigs gestaltet sich schwierig: Kleinminen, die aufgrund der gefährlichen Arbeitsbedingungen, ihrer negativen Ökobilanz und der Konkurrenz zu den Großunternehmen in der Kritik stehen, sind zwar in den letzten zwei Jahrzehnten nach und nach geschlossen worden – allerdings mit gravierenden sozialpolitischen Folgen besonders in Regionen, die einseitig von der Kohle abhingen. Auch wirken sich Eingriffe in die Branche auf die Verfügbarkeit von Elektrizität sowie die Strom- und die Verbraucherpreise aus, so dass Regulierungsmaßnahmen auf vielfältige Widerstände stoßen. Häufig werden daher Minen »formal« geschlossen, arbeiten jedoch de facto weiter, wie sich aus nachträglich korrigierten Daten zur Kohleproduktion schlussfolgern lässt.

Klimaschutzambitionen und die Interessen des Energiesektors

Zentral regulierende Akteure des Energiesektors sind die Nationale Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC), die Nationale Energiebehörde (NEA) und das Ministerium für Umwelt und Ökologie (MEE). Mit dem zwölften Fünfjahresplan (2011-2015) wurde der Emissionshandel als marktorientierte Maßnahme zur Steuerung von Emissionen testweise in sieben Pilotstädten eingeführt (Heggelund 2021). Nach Auswertung und Anpassung wurde schließlich im Juli 2021 der Startschuss für den nationalen Emissionshandel gegeben. Der Handel erstreckt sich vorerst nur auf Firmen des Energiesektors mit CO2-Emissionen über 26.000 Tonnen pro Jahr (Raiser, Eckardt und Ruta 2021). Bereits der dreizehnte Fünfjahresplan (2016-2020) deckelte erstmals den Kohleanteil an der gesamten Energieproduktion auf 58 %. Ein Aktionsplan gegen Luftverschmutzung sollte zwischen 2013 und 2017 zur Reduktion von Kohlekraft beitragen, wurde jedoch durch ein Gesetz von 2014, nach dem die Provinzen selbst über die Inbetriebnahme von Kohlekraftwerken entscheiden können, konterkariert. Ein Ampelsystem zur Inbetriebnahme von Kohlekraftwerken, das daraufhin im Jahr 2016 angestrebt wurde, erweist sich als zu unspezifisch.

Neben vertikalen Interessen zwischen der Zentrale und den Regionen spielen auch horizontale Belange eine Rolle. Hier stehen zum Beispiel der nationalen Energiebehörde die Staatsbetriebe und der Elektrizitätsrat gegenüber, der die Stromerzeuger vertritt. Das Umsteuern im Energiesektor ist auch bezüglich der Energiesicherheit tückisch: Stromausfälle in zahlreichen Provinzen über das gesamte Jahr 2021 deuten auf erhebliche Engpässe hin; Unternehmen wurden aufgefordert, den Energieverbrauch während der Spitzenlastzeiten zu reduzieren oder die Anzahl der Betriebstage zu begrenzen. Energieintensive Industrien wie die Stahlindustrie, die Aluminiumverhüttung, die Zementherstellung und die Düngemittelproduktion gehören zu den Unternehmen, die am stärksten von den Ausfällen betroffen sind.

Innovativer Klimaschutz?

Zu innovativen Ansätzen des Klimaschutzes gehören seit 2010 Pilotprojekte im Bereich »kohlestoffarmer Städte« (Low Carbon Cities). In diesen Städten sollen Pläne zur Emissionsreduktion erarbeitet und implementiert werden, um den Menschen einen nachhaltigen Lebensstil zu ermöglichen. Allerdings gibt es keine projektspezifischen Ziele. Eine andere Initiative zur »Grünen Finanzierung« soll große Banken dazu bewegen, nachhaltige Projekte durch Kredite und Fonds zu unterstützen, den Nachhaltigkeitsaspekt in ihre Invest­ment­ent­schei­dungen aufzunehmen und u.a. die Pilotstädte zu unterstützen (­Sandalow 2020, S. 108f.). Bisher ist der Erfolg in den Städten und Provinzen jedoch gering. Vielen lokalen Entscheidungsträger*innen fehlt es an Fachkenntnis, wissenschaftlichen Partnern, oft ist auch die Amtszeit schlicht zu kurz, um langfristige Strategien zu verfolgen (Lo, Li und Chen 2020, S. 109). Weil viele Lokalregierungen vor allem in den ärmeren Landesteilen ihren Arbeitsschwerpunkt auf die Förderung der Wirtschaft legen, ist in den letzten Jahren eine Rezentralisierung eingeleitet worden. Unter diesen Bedingungen vermeiden lokal Verantwortliche jedoch zwecks Reduzierung politischer Risiken oftmals innovative Strategien (Zhang, Orbie und Delputte 2020).

Internationale Klimadiplomatie

Nach langer Zurückhaltung verfolgt die chinesische Regierung seit 2015 offiziell einen neuen Klimakurs und formulierte im Kontext der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCC) als nationale Ziele einige Absichten, darunter vor 2030 den Höhepunkt der Emissionen zu erreichen, den Anteil von nicht fossilen Energiequellen auf 20 % zu erhöhen und die CO2-Intensität im Vergleich zu 2005 um 60-65 % senken. Im Jahr 2020 kündigte Staatspräsident Xi Jinping weiterhin an, China solle bis 2060 klimaneutral werden. Im September 2021 sagte er zu, China werde im Ausland keine Kohlekraftwerke mehr bauen. Bisher hatte die chinesische Regierung die Ausrichtung auf fossile Brennstoffe in den Zielländern zum Beispiel im Rahmen von Auslandsinvestitionen der sogenannten »neuen Seidenstraße« unterstützt und gilt mit Blick auf Bau und Finanzierung als einer der globalen Hauptförderer.

Insgesamt erscheint das Land damit in puncto Klima- und Umweltschutz heute als durchaus ambitioniert, ob angesichts der vielen innerchinesischen Herausforderungen die anvisierten Ziele aber auch umgesetzt werden können, bleibt abzuwarten.

Literatur

Heberer, Th.; Senz, A. (2011): Streamlining local behaviour through communication, incentives and control: a case study of local environmental policies in China. Journal of Current Chinese Affairs 3, S. 77-112.

Heggelund, G. M. (2021): China’s climate and energy policy: at a turning point?. International environmental agreements: politics, law and economics 21, S. 9-23.

Lo, K.; Li, H.; Chen, K. (2020): Climate experimentation and the limits of top-down control: local variation of climate pilots in China. Journal of Environmental Planning and Management 63(1), S. 109-126.

Raiser, M.; Eckardt, S.; Ruta, G. (2021): Carbon Market Could Drive Climate Action. The World Bank. Opinion, 19.07.2021.

Sandalow, D. (2020): Guide to Chinese climate policy 2019. Columbia University Sipa, Center on Global Energy Policy.

Senz, A. (2017): Zwischen zerstörter Umwelt und Ökolabor – Perspektiven einer sozial-ökologischen Transformation in China. In: Brand, K.-W. (Hrsg.): Die sozial-ökologische Transformation der Welt. Ein Handbuch. Frankfurt/M.: Campus, S. 351-372.

Senz, A. (2020): China als Trendsetter in der E-Mobilität? Von Smog, industriepolitischen Ambitionen und dem Statussymbol Auto. In: Brunnengräber, A.; Haas, T. (Hrsg.): Baustelle Elektromobilität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Transformation der (Auto-)Mobilität. Bielefeld: transcript, S. 229-254.

Yang, X. J. et al. (2016): China’s renewable energy goals by 2050. Environmental Development 20, S. 83-90.

Zhang, Y.; Orbie, J.; Delputte, S. (2020): China’s climate change policy: central–local governmental interaction. Environmental Policy and Governance 30(3), S. 128-140.

Anja Senz ist Professorin für gegenwartsbezogene Chinaforschung an der Universität Heidelberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen u.a. auf den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in der chinesischsprachigen Welt sowie Umwelt- und Ressourcenfragen in China.

Mut zur Komplexität


Mut zur Komplexität

BSV-Studientag »Konflikte und Nachhaltige Entwicklung«, online, 30. Oktober 2020

von Krischan Oberle

„Der Zusammenhang zwischen Hunger und bewaffneten Konflikten ist ein Teufelskreis : Krieg und Konflikte können zu Ernährungsunsicherheit und Hunger führen ; Hunger und Ernährungsunsicherheit können latente Konflikte aufflammen lassen und Gewaltanwendung auslösen.“1

Mit diesem Zitat aus der Begründung zur Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreises an das Welternährungsprogramm eröffnete Jakim Essen (Schulministerium NRW) den Studientag und gab damit einen Ausblick auf die zentralen Fragen der Veranstaltung : Wie müssen nachhaltige Entwicklung, Klima und Frieden zusammengedacht werden ? Was hat der Klima­notstand mit weltweiten und regionalen Kon?ikten zu tun ?

Die verschiedenen Inputs und Workshops des Studientages machten dabei immer wieder deutlich, welche komplexen Zusammenhänge zwischen gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitischen Feldern bestehen.

Im Zentrum des Auftaktbeitrages von Prof. Jürgen Scheffran (Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit, Hamburg) stand die These, dass es keinen Frieden ohne eine intakte Natur, aber ebenso keine intakte Natur ohne Frieden geben könne. Prof. Scheffran betonte, dass die heutige Zeit durch eine Anhäufung von Krisen gekennzeichnet sei : Ressourcenmangel, ökonomische Stagnation, atomare Risiken, Pandemien, der Kollaps von Ökosystemen. Die massiv gestiegene Anzahl bewaffneter Konflikte und globale Rüstungsausgaben von fast zwei Billionen US$ seien Indikatoren für diese Krisenhaftigkeit des „von Menschen geprägten Erdzeitalters“.

Der Klimawandel führe zu Risiken für menschliche Sicherheit, sozialer Instabilität und Konflikten. Letztlich komme es laut Prof. Scheffran darauf an, Entscheidungspunkte zu nutzen, um Zukunftspfade hin zu mehr Sicherheit und nachhaltiger Entwicklung zu beschreiten. Strategien gegen den Klimawandel, für die Erhaltung von Ökosystemen sowie für die Prävention von gewaltförmigen Konflikten seien auf allen Ebenen der Wirkungskette möglich. Dabei betonte Prof. Scheffran die folgenden elementaren Bausteine für einen nachhaltigen Frieden :

  • Erhaltung von Natur(ressourcen) und menschlicher Existenz
  • Entfaltung von Fähigkeiten und Entwicklungschancen insbesondere für benachteiligte Personen und Weltregionen
  • Gestaltung einer lebensfähigen und lebenswerten Welt

Prof. Scheffran schloss mit der Beobachtung, dass sich die Welt an einem Scheideweg befinde und eine doppelte Transformation dringend notwendig sei : einerseits im Bereich »Frieden und Sicherheit« und andererseits bei der »nachhaltigen Entwicklung«.

Der Beitrag von Dr. Martina Fischer (Brot für die Welt) fokussierte den Zusammenhang zwischen dem menschengemachten Klimawandel und der Eskalation von Konflikten. Sie erläuterte diesen Zusammenhang am Beispiel von Syrien. Es sei unumstritten, dass Faktoren wie Dürren, Bevölkerungs- und Migrationsdruck einen Einfluss auf die Konfliktdynamik hätten, eine direkte kausalen Verknüpfung könne aber wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden. Es sei jedoch zu befürchten, dass die Zuspitzung »Klimawandel führt zu Krieg«, die „politische[…] Lobbyarbeit für eine bessere Klimapolitik eher beeinträchtigt“, wenn Belege nicht eindeutig angeführt werden könnten, so Dr. Fischer.

Aus ihrer Sicht seien nachhaltige Entwicklung, Klimaschutz und Friedenspolitik zusammenzudenken, da Naturkatastrophen und Extremwetterlagen Lebensgrundlagen zerstörten und Konfliktdynamiken negativ beeinflussen könnten. Daher sei ein Umsteuern in allen Bereichen notwendig. Insbesondere seien zivile Formen der Konfliktbearbeitung zu fördern, um Alternativen zu militärischer Terrorbekämpfung und Migrationsabwehr aufzuzeigen.

Der Zivilgesellschaft komme bei diesen Aufgaben eine besondere Rolle zu : Politikgestaltung müsse kritisch begleitet, Partnerinnen im Globalen Süden bei Anpassungen unterstützt werden.

Der letzte Beitrag des Tages unter dem Titel »Who cares ? Wer kümmert sich um die Welt ?« von Nadine Kaufmann (Konzeptwerk neue Ökonomie, Leipzig) stellte Konflikte um Sorgearbeit in den größeren Kontext von nachhaltiger Entwicklung. Ihr Beitrag betonte den Umstand, dass die gegenwärtige Wirtschaftsweise die Transformation zu einer Post-Wachstumsgesellschaft behindere. Care- oder Sorgearbeit wird hier als eine Form der Arbeit verstanden, mit der sich Menschen a) um sich selbst, b) um andere und c) um die Natur kümmern.

Wie bei einem Eisberg sei in der kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft allerdings nur ein kleiner Teil der Ökonomie sichtbar, in Form von Kapital und Lohnarbeit. Ein großer Teil von Sorgearbeit, Subsistenz, informeller Arbeit, aber besonders auch die Beiträge der Natur sowie in neokolonialen Räumen geleistete Arbeit werde nicht wertgeschätzt, weder ideell noch monetär. Sie werde nur in Bruchteilen und schlecht bezahlt und zu einem sehr großen Teil von Frauen* übernommen. Während ansässigen Frauen durch die Verlagerung von Sorgearbeiten an migrantische Frauen, insbesondere in der Pflege, emanzipatorische Räume ermöglicht würden, entstünden so zeitgleich Versorgungslücken in ökonomisch benachteiligten Weltregionen, die dort wiederum Entwicklungsprozesse erschwerten.

Interaktiv ermöglichte der Beitrag im Anschluss die gemeinsame Identifikation von Chancen für nachhaltige Entwicklung mit den Teilnehmenden. Chancen bestünden demnach in der Überwindung des Wachstumszwangs, einer Umgestaltung der Wirtschaft, wie bspw. die Konversion der Rüstungsindustrie, in Investitionen in entwicklungsrelevante Bereiche und die Abschaffung von Abhängigkeitsstrukturen wie bspw. Fürsorgeketten in der Pflege. Es gehe also um nichts weniger, als eine systemweite Veränderung.

Die Teilnehmenden diskutierten zum Abschluss des Studientages die Bedeutung der in den Beiträgen wiederkehrenden »Komplexität« für Friedensbildung. Es wurde deutlich, dass Friedensbildung weit über die Thematisierung von Krieg und Gewalt hinaus gedacht werden müsse, indem sie zudem Themen wie Klimapolitik, Umweltschutz oder Geschlechterverhältnisse aus einer konfliktsensiblen Per­spektive vermittele. Frieden und Konflikt seien Querschnittsthemen für die Bildung zu nachhaltiger Entwicklung. Allerdings müssten dabei gute Abwägungen zwischen gebotener Komplexität und hilfreicher Vereinfachung getroffen werden, um die Bildungsarbeiter*innen und Teilnehmenden eines Workshops zu »nachhaltiger Entwicklung« nicht konstant zu überfordern.

Der hier entwickelte »Mut zur Komplexität« wird in der Friedensbildung notwendig sein, denn „wir bilden die zukünftige Generation aus, die darüber entscheidet, wie unsere Welt mit den folgenreichen Zusammenhängen von Klimawandel, Armut, nachhaltiger Entwicklung umgeht“, wie es Herr Essen zu Beginn des Studientages formulierte.

Der Studientag wurde vom Netzwerk Friedensbildung NRW ausgerichtet und finanziell von der Stiftung Umwelt und Entwicklung im Rahmen des Projekts »Share Peace« beim Bund für Soziale Verteidigung e.V. (BSV) unterstützt. Eine umfassende Dokumentation des Studientags ist beim BSV erschienen.

Anmerkung

1) Norwegisches Nobelpreiskommittee (2020): Ankündigung des Friedensnobelpreises für 2020. www.nobelprize.org/prizes

Krischan Oberle

Rekolonisierung des Sahel


Rekolonisierung des Sahel

Kapitalistische Akkumulation und westliche Militärinterventionen

von Dolly Katiutia Alima Afoumba

Die Sahelregion wird in den Medien häufig als Pulverfass (»poudrière«) bezeichnet, ein im doppelten Sinne interessantes Sprachspiel: Es verweist einerseits auf die enorme Menge an Waffen und bewaffneten Akteuren in der Region und andererseits darauf, dass sich in diesem Risikogebiet jede Spannung schnell in einen allgemeinen Konflikt verwandeln kann (vgl. Chtatou 2019). Doch die Metapher vom Pulverfass sagt nichts darüber aus, wer das Pulverfass befüllt und wer an seiner Lunte zündelt. Im Folgenden soll der Hypothese nachgegangen werden, dass sich hinter der Hypermilitarisierung des Sahel eine Kampagne der Rekolonisierung verbirgt, vorangetrieben von der zunehmenden Präsenz ausländischer Armeen, erweitert und gefestigt von der darauf folgenden Ansiedlung multinationaler Firmen.

Im Rahmen dieses Artikels möchte ich mich mit einer Form der kolonialen Kontinuität beschäftigen, der westlichen Militärpräsenz in der Sahelzone und der im gleichen Zuge verstärkten Investition ausländischer Firmen eben dort. Mit Blick auf die Sicherheitslage im Sahel haben wir es mit einem sich selbst verstärkenden Teufelskreis zu tun: Westliche Staaten begründen ihr militärisches Engagement im Sahel damit, einer bestehenden Unsicherheit Einhalt gebieten zu wollen. Die neokolonialen Tendenzen der Militärpräsenz ausländischer Staaten auf dem afrikanischen Kontinent werden von terroristischen Gruppen wiederum als Argument genutzt, um ihre Handlungen zu legitimieren und Rekruten aus der Bevölkerung zu gewinnen. Es ist zu beachten, dass terroristische Gruppen in der Sahelzone auch deshalb so stark gewachsen sind, weil sie auf das Versagen der lokalen Regierungen hinweisen, die Sicherheit der Bevölkerung nicht gewährleisten zu können. In der ausländischen Militärpräsenz auf ihrem Boden sehen sie einen Beweis für die erzwungene Rekolonisierung des Gebiets. Dies lässt sich am Beispiel von Boko Haram (»Westliche Bildung ist eine Sünde«) oder der »Bewegung für die Einheit und Dschihad in Westafrika« (MUJAO) sehen, bekannt für ihren antiwestlichen Radikalismus: „Dies materialisierte sich in ihren unablässigen Feindseligkeiten gegen die Westler mit der beispiellosen Verun­glimpfung ihrer kulturellen und zivilisatorischen Werte“ (Sarambe 2018, S. 57).

Zum Verständnis dessen, was in der aktuellen Krise in der Sahelzone wirklich auf dem Spiel steht, sollte man sich folgendes Zitat von Kwame Nkrumah aus seiner Rede vor dem Plenum der OUA am 24. Mai 1963 vor Augen halten: „Dies ist der große Plan der imperialistischen Interessen, die den Kolonialismus und Neokolonialismus stärken, und wir werden uns selbst auf die grausamste Weise täuschen, wenn wir ihre individuellen Handlungen als getrennt und nicht miteinander verbunden betrachten.“ (Nkrumah 1963) Wie Chems Eddine Chitour genauer ergänzte: Die westliche Welt und selbst die Schwellenländer haben keine Bedenken, die alten Länder wieder zu kolonisieren.“ (Chitour 2013) Die starke ausländische Militärpräsenz in der Sahelzone und die gehäufte Ansiedlung von Firmen sprechen eine deutliche Sprache.

Ursachen und alternative Lösungen

Die Staaten in der Sahelregion haben ihren Teil der Verantwortung für den Anstieg der Unsicherheit zu tragen, insbesondere durch die Verbreitung von Waffen als Folge von Bürgerkriegen und Militärputschen. In Mali zum Beispiel haben terroristische und widerständige Gruppen vom Militärputsch gegen Präsident Touré 2012 profitiert, um den Norden des Landes zu besetzen (Sarambe 2018, S. 62). Die politische Instabilität und die dadurch resultierende Militarisierung des Sahel förderte die Verbreitung von terroristischen Gruppen wie Ansar Dine, MUJAO und Al Mourabitoun.

Häufige Dürren und Nahrungsmittelkrisen, staatliche Korruption und Diktatur tragen zur Unsicherheit in der Region erschwerend bei. Wie Achille Mbembe es zusammenfasste, haben diese Länder auch immer noch Schwierigkeiten, „die Kunst der Politik von der Kunst des Kriegs zu trennen“ (Mbembe 2011). Ihre Systeme sind stark durch militärisch-autokratische Parteien beeinflusst.

Trotz dieser Probleme ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich die Staaten der Region insofern von westlichen Akteuren unterscheiden, als sie versucht haben, die Sicherheitskrisen auch auf diplomatischen Wegen zu lösen. Allerdings torpedieren westliche Mächte diese Wege immer wieder und halten die Staaten des Sahel so in militärischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit.

Am Beispiel Nigers lässt sich dies gut illustrieren: Im Jahr 2016 beschloss die Regierung Nigers, ihren militärischen Kampf gegen »Boko Haram« zu verändern und den »Reumütigen« unter ihren Kämpfern »die Hand entgegenzustrecken«, indem sie ihnen Amnestie anbot (vgl. Abba 2017). Ein Jahr später, im März 2017, öffnete das Land auch den rechtlichen Weg der Terrorismusbekämpfung, indem es fast 1.200 ehemalige Rebellen vor Gericht stellte. Die militärische Lösung wird gerne damit gerechtfertigt, dass „man mit Terroristen nicht verhandeln kann“. Allerdings, durch regelmäßige Entführungen und Geiselnahmen zeigen die Rebellengruppen eher, dass ein Dialog nicht ausgeschlossen wird. Auf diese Entführungen folgen denn auch Verhandlungen mit ausländischen Mächten, um die Freilassung von inhaftierten Rebellen zu fordern. Hier lässt das Vorgehen westlicher Mächte die Anstrengungen lokaler Regierungen wirkungslos werden, denn „viele europäische, südamerikanische und asiatische Regierungen zahlen Millionen Euro für die Befreiung ihrer Bürger. Bestimmte Mächte, wie Frankreich betreiben Lobbyarbeit bei den Sahelstaaten, um die Freilassung ihrer Bürger im Austausch gegen inhaftierte Terroristen zu erreichen“ (Sarambe 2018, S. 69). So kommt es oft zu drastisch ungleichen Verhältnissen. Das jüngste Beispiel hierfür ist die Freilassung von 200 verdächtigten Terroristen in Mali im Austausch für die Befreiung von vier westlichen Geiseln (vgl. DW 2020).

Ein großer Teil der Refinanzierung und Verstärkung von Terrorgruppen stammt daher aus der Leichtigkeit, mit der einige Staaten in der Lage sind, Millionen für die Freilassung ihrer Geiseln zu zahlen und auch aus dieser Art von unverhältnismäßigem Gefangenenaustausch. Die Verhandlungsbereitschaft allerdings zeigt, dass es durchaus möglich ist, dialogorientierte Mechanismen zur Lösung der Sicherheitskrise im Sahel zu entwickeln. Der vom Westen favorisierte militärische Ansatz kann nicht die einzige Lösung sein, er verfestigt viel eher den Teufelskreis der Unsicherheit im Sahel.

Was den bewaffneten Einsatz betrifft, so hat sich die G5 Sahel (Tschad, Mali, Niger, Burkina Faso, Mauretanien) verpflichtet, eine afrikanische Armee zur Bekämpfung des Terrorismus zu bilden. Diese Initiative wird allerdings nicht von den westlichen Mächten unterstützt. Insbesondere die USA und Großbritannien scheinen die Initiative abzulehnen, da sie den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufforderten, die Finanzierung dieser Armee abzulehnen. Dies bringt die herablassende Haltung der Vormundschaft der westlichen Mächte gut zum Ausdruck, die es vorziehen, afrikanische Regierungen durch ihre Finanzen und ihre eigenen Armeen zu kontrollieren. Das führt uns zu der Frage, welche Interessen der Westen im Sahel verfolgt.

Ausländische Militärpräsenz in der Sahelregion

Der westliche Interventionismus, auch wenn er offiziell mit dem Schutz der Menschen(rechte) legitimiert wird, wird dennoch von Zielen der geopolitischen Einflussnahme und der »Sicherung« von Rohstoffen geleitet. Das gilt auch für die militärische Präsenz ausländischer Mächte in der Sahelzone.

Angesichts der Schwierigkeiten der westlichen Staaten, im Nahen Osten im Wettlauf um Rohstoffe mithalten zu können, kann die ausländische Militärpräsenz im Sahel als Ausweichbewegung des Westens hin zu »neuen Ressourcenquellen« gesehen werden. Laut Mahdi Taje, besteht das Ziel der ausländischen Mächte in der Sahelzone darin, „sich innerhalb dieses strategischen Korridors zu positionieren, um ihre Versorgung mit […] energetischen und mineralischen Stoffen zu sichern; in Richtung des Golfs von Guinea für Amerika, der Sahara und des Mittelmeers für Europa und schließlich des Roten Meeres für Asien.“ (Algeria-Watch 2012). Ein Bericht des US-Rats für Auslandsbeziehungen aus dem Jahr 2005 weist bereits auf die Chance hin, die Afrika zukünftig für die Energieversorgung des Landes darstellen wird: „Bis zum Ende des Jahrzehnts (2000) wird Afrika südlich der Sahara wahrscheinlich eine ebenso wichtige Quelle für US-Energieimporte werden wie der Nahe Osten. In Westafrika gäbe es etwa 60 Milliarden Barrel an nachgewiesenen Ölreserven.“ (Fodé 2010) Im Jahr 2013, dem Jahr der Militäroperation »Serval« in Mali, legte der französische Senat dann auch einen Bericht vor, der von der Arbeitsgruppe „Frankreichs Präsenz in einem begehrten Afrika“ erstellt wurde. In ihrem Bericht forderte sie „einen sicheren Zugang zu Energie- und Bergbauressourcen zu gewährleisten“ (Rigouste 2017).

Die Sahelzone bietet dafür enorme Kapazitäten. Sie ist ein Glücksfall für die Goldindustrie, die die Goldvorkommen in Burkina Faso und vor allem in Mali (die drittgrößte Reserve Afrikas) ausgiebig nutzen kann. Mit neu entdeckten Ölvorkommen im Tschad und in Mauretanien (z.B. im Taoudéni-Becken) bietet der Sahel zudem einen großen Spielraum bei der Extraktion von Gasvorkommen und Öl. Ebenso bestehen enorme Kapazitäten in Bezug auf Uran, Diamanten, Phosphat, Bauxit, Plutonium, Mangan und Kobalt. All diese natürlichen Ressourcen machen die Region zu einem Ort der Begierde.

Frankreichs Interessen im Sahel

Nachdem die französischen Militärinterventionen der frühen 2000er Jahre in Afrika, insbesondere in der Elfenbeinküste, in Zentralafrika und in Libyen, enorme Kritik auf sich gezogen hatten, erklärte das Land, es wolle mit seiner Vergangenheit in Afrika und vor allem mit seinem Ruf als Neokolonisator brechen. François Hollande sagte im Oktober 2012 in Dakar vor dem Nationalrat Senegals, er wolle „rompre avec la Françafrique“ („mit der Idee von Françafrique brechen“).

Die Ankündigung des französischen Präsidenten im Januar 2013, militärisch im Kampf gegen den Terrorismus in Mali zu intervenieren, wurde daher von der Öffentlichkeit mit großer Überraschung und Kritik aufgenommen. Diese Intervention wurde deswegen als imperialistisch bezeichnet, weil es sich nicht um einen indirekten Eingriff handelte (z.B. Versorgung malischer bzw. sahelischer Truppen mit Kampflogistik), sondern vielmehr direkt Tatsachen schaffte mit der Entsendung französischer Truppen vor Ort. Dies nachdem Hollande nicht einmal ein halbes Jahr zuvor versprochen hatte, dass „es niemals französische Truppen vor Ort geben würde“.

Ein weiteres kompromittierendes Moment ist die Tatsache, dass Frankreich nicht auf die Zustimmung der Vereinten Nationen wartete, um zunächst die Militärmission »Serval« (2013) und dann »Barkhane« (2014) zu entsenden. Laut der malischen Aktivistin Amina Traoré nutze Frankreich den Anti-Terror-Kampf aus, um sich an dem Land zu rächen, nachdem die französische Armee am 20. Januar 1961 vom damaligen Präsident Modibo Keita vertrieben wurde (Tchangari 2017, S. 21). Die Aktivistin prangert eine exzessive Ausweitung der militärischen Präsenz des ehemaligen Kolonisators in dem Gebiet an.

Laut Michel Galy war die französische Intervention in Mali „geopolitischer Natur: Es geht darum, dass Frankreich einen Einflussbereich in Afrika aufrechterhält, auch wenn dies bedeutet, Staaten unter Vormundschaft zu stellen und illegitime Regierungen zu unterstützen“ (Galy 2013, S. 89). Es ist daher nicht überraschend, dass seit der Operation »Serval« die französischen Militäraktionen in andere Länder der Sahelzone (Niger, Burkina Faso) ausgeweitet wurden.

Der französische Präsident Macron sagte gar zu, dass „die Operation Barkhane erst an dem Tag enden wird, an dem es keine islamistischen Terroristen mehr in der Region geben wird“ (Granvaud 2017). Laurent Bigot, ehemaliger Diplomat, wird mit der Antwort zitiert, dass man: „mit einer solchen Ankündigung (…) einen 100-Jahres-Pachtvertrag für Barkhane“ unterschreibe (ebd.). Seit der Stationierung französischer Truppen setzen aber weiterhin terroristische Gruppen die sicherheitspolitische Agenda und sind noch einflussreicher als zuvor.

Die US-amerikanischen Interessen im Sahel

Die Stationierung amerikanischer Soldat*innen in der Sahelzone folgt ebenso der Logik des Schutzes strategischer Interessen: Sicherung des Zugriffs auf Energieressourcen und der Kampf gegen terroristische Gruppen. Der Einsatz der USA kombiniert finanzielle Hilfe, fokussiert auf die Sicherheitsprogramme afrikanischer Länder, mit der militärischen Präsenz vor Ort. Dazu zählen eine Militärbasis in Ouagadougou, Burkina Faso; Trainingslager für ausländische Söldner in Libyen; je eine Basis für Überwachungsdrohnen im nördlichen und südlichen Afrika in Niamey, Niger; sowie im erweiterten Sinne Militärflugzeuge, Mitglieder der US Navy Special Forces, AFRICOM und sogar CIA-Geheimdienstler in Europa, die jederzeit bereit sind, in der Sahelzone zu intervenieren.

Es ist nur ein scheinbares Paradox, wie sich die US-Regierung verhält mit ihrem militärischen und finanziellen Einsatz für den Anti-Terror-Kampf und dem gleichzeitigen Veto im UN-Sicherheitsrat gegen die Gründung einer unabhängigen afrikanischen Armee, die die Führung im Kampf gegen Terrorismus im Sahel hätte übernehmen sollen. Denn in diesem scheinbaren Paradox steckt der Wunsch, diese Länder unter westlicher Vormundschaft zu halten und ihnen eine externe militärische Präsenz und finanzielle Hilfe aufzuzwingen. Darin liegt der neokoloniale Aspekt der amerikanischen Militärpräsenz in der Sahelzone.

Neokolonialismus im Sahel: Rohstoffsicherung und Firmenexpansionen

Wie im Nahen Osten scheint der Krieg seit der militärischen Stationierung des Westens in der Sahelzone endlos zu werden. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass diese Hypermilitarisierung der Region von der Ansiedlung multinationaler Firmen begleitet wird.

Wie in der Kolonialzeit ist die Eroberung von Land nicht nur von der Suche nach Rohstoffen motiviert, sondern auch von der Suche nach neuen Märkten. Die Länder des Sahel bieten nicht nur Möglichkeiten zur Ausbeutung ihres Naturreichtums, sondern auch menschlicher (Arbeitskraft) und finanzieller (Markt) Ressourcen. Wie Nkrumah es voraussagte, sind die kolonialen Mechanismen unverändert geblieben.

An einigen exemplarischen Beispielen im Falle von Frankreich lässt sich das verdeutlichen: Frankreich hat beispielsweise den zweithöchsten Uranverbrauch der Welt, aber seit einigen Jahren gar keine eigene Produktion mehr im Lande. Allerdings kann Frankreich dank seines Unternehmens »Areva« (heute: »Orano«) seit 2012 seine Position als zweitgrößter Uranproduzent der Welt halten (vgl. World Nuclear Association 2020). Das französische Unternehmen sieht sich einer starken ausländischen Konkurrenz gegenüber (Kazatomprom, Kasachstan; Cameco, Kanada) und unternimmt daher große Anstrengungen, um Märkte zu besetzen oder sein Interesse zu schützen.

Der französische Konzern fördert vor allem Uranabbau in den Arlit-Minen in Niger. So wundert es nicht, dass der Schutz seiner wirtschaftlichen Interessen und seiner Energieversorgung eine der Motivationen für die militärische Intervention des Landes in der Sahelzone war. General Vincent Desportes gab dies auch offen zu: „Wenn Frankreich am 11. Januar 2013 (in Mali) keine Verpflichtung eingegangen wäre, hätten die größten Risiken […] für die sehr wichtigen Uranvorkommen in Niger bestanden“ (Chitour 2018). Trotz seines Urans bleibt der Niger am Ende der Rangliste der ärmsten Länder der Welt. Es handelt sich also um einen Reichtum, der nicht der Staatskasse zugutekommt, sondern den Firmen, die ihn ausbeuten.

Frankreich ist durch das Unternehmen »Total« auch an der Erdölförderung und der Förderung der Solarenergie in Mauretanien und Burkina Faso beteiligt. Im Jahr 2012 hatte »Total« angekündigt, „zwei Genehmigungen zur Erdölförderung mit den mauretanischen Behörden im Becken von Taoudéni unterzeichnet zu haben“ (Algeria-Watch 2012). Nicht wenige Analyst*innen sehen auch in diesem Engagement einen weiteren Grund für die französischen Interventionen der letzten Jahre.

Auch die Konsument*innen haben französische Konzerne im Blick, wie beispielsweise der Telekommunikationsanbieter »Orange«, der 2017 schon 110 Millionen Kund*innen in Afrika gegenüber 6,4 Millionen im Jahr 2004 vorweisen konnte (Piot 2017) oder erst kürzlich die Supermarktkette »Carrefour«, die sich allmählich in Ländern niederlässt, in denen eine entstehende Mittelschicht und eine beschleunigte Urbanisierung genügend potenzielle Kund*innen versprechen.

Die gehäufte Ansiedlung ausländischer Firmen auf afrikanischem Boden wird nicht immer wohlwollend betrachtet, weil sie keinen Platz für lokale Firmen lassen, die ebenfalls in diese Sektoren einsteigen möchten. Die multinationalen Konzerne dagegen profitieren von den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die Frankreich den afrikanischen Ländern aufgezwungen hat, und von der Verwendung der Kolonialwährung, dem Franc-CFA.

In der Tat gewähren die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen den multinationalen Konzernen eine Steuerbefreiung von fast 80 %; so können sie mit viel Freiheit in den westafrikanischen Markt expandieren, während die Einheimischen gezwungen sind, Steuern an den Staat zu zahlen und wegen Franc-CFA Beschränkungen kaum Subventionen von den Banken erhalten, um ihre Produktionskapazitäten zu erhöhen.

Die externalisierte Ausbeutung von Arbeitskräften durch den Imperialismus lässt sich am Beispiel von »Orano« in Niger gut illustrieren, denn diese ruft in der afrikanischen Öffentlichkeit viel Kritik hervor. Im Gespräch mit Matteo Maillard (2018) porträtiert die Regisseurin eines Films über die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Uranminen Nigers, Amina Weira, eine übermächtige »Orano«, gegen die aus Angst vor Repressionen nichts gesagt werden darf. Im Interview erzählt sie vom vergifteten Trinkwasser, den Häusern, die mit der Erde aus den Minen gebaut wurden, der verseuchten Nahrung und dem sterbenden Vieh. Sie schildert die unerträglichen Arbeitsbedingungen, das Schicksal der Mitarbeiter, die an den Folgen der Radioaktivität erkranken und sterben, das Leid der durch die Verschmutzung der Fabrik kontaminierten Frauen, die keine Kinder bekommen können oder Kinder mit Missbildungen haben. Sie spricht auch über den politischen Einfluss des staatlich geschützten Konzerns, der ohne Rücksicht auf internationale Gesundheitsforderungen produziert. Neben Amina Weira beklagen auch einige Nichtregierungsorganisationen wie »Aghir In‘man« und die »Kommission für unabhängige Forschung und Information über Radioaktivität« (CRIIRAD), dass die lokale Bevölkerung in den Uranabbaugebieten den schädlichen Auswirkungen der Radioaktivität ausgesetzt ist.

Diese Beispiele verdeutlichen eindrücklich, warum die Stationierung ausländischer Firmen und die westliche Militärpräsenz in der Sahelregion Misstrauen bei der Bevölkerung und den Rebellengruppen erzeugt, die darin die Rekolonisierung der Region sehen. Angesichts dieses imperialistischen Raubzugs können wir nur für ein vereintes Afrika eintreten, denn, wie Nkrumah weiter sagte, „der Kampf gegen den Kolonialismus endet nicht, wenn die nationale Unabhängigkeit erreicht ist. Diese Unabhängigkeit ist nur das Vorspiel zu einem neuen und komplexeren Kampf … für die Rückgewinnung des Rechts, unsere wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten selbst zu regeln, frei von den überwältigenden und demütigenden Fesseln neokolonialer Herrschaft und Intervention“ (Nkrumah 1963).

Literatur

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Dolly Katiutia Alima Afoumba hat einen Master in Geschichte und Friedens- und Konfliktforschung. Derzeit promoviert sie an der Philipps-Universität Marburg im Fachbereich Neue Geschichte. Als Aktivistin und Journalistin gibt sie Workshops und schreibt über (Neo-)Kolonialismus in der afrikanischen Wirtschafts- und Währungspolitik.