Fehlgeleitete Debatte

Fehlgeleitete Debatte

Klimakrise als Steigbügelhalter der Atomenergie?

von Franz Fujara und Ernst Rößler

Die Klimakrise ist und wird ein zukünftiger Konflikttreiber sein; die Gefahren, die von ihr ausgehen, sind außerordentlich. Bei den Debatten um Anpassung, Technologietransfer und Treibhausgasreduktionen wird jedoch überraschenderweise immer wieder die Atomenergie als mögliche (temporäre) Lösung genannt. Der Beitrag thematisiert die damit einhergehenden Fehlschlüsse und regt dazu an, grundlegender zu denken – gerade auch angesichts des Ukrainekrieges.

Ein Sommer von außerordentlicher Hitze, bisher unbekannter Dürre und europaweiter Waldbrände steckt uns noch in den Knochen. Waren das weitere Boten des Klimawandels infolge der Erwärmung der Erdatmosphäre? Was werden wir erst sagen, wenn wir in Brandenburg kein Getreide mehr anbauen können oder der Rhein nicht mehr schiffbar ist? Sind das die prophezeiten Kipppunkte, nach denen nichts mehr so sein wird wie früher?

UmweltexpertInnen sind nicht überrascht, sie haben es erwartet. Klar ist ihnen auch, dass die notwendige Dekarbonisierung unseres gesellschaftlichen Lebens so schnell wie eben möglich in Angriff genommen werden muss. Denkfabriken haben die Marschrouten bis hin zu den zu erwartenden Kosten festgelegt. Der Nobelpreisträger für Ökonomie, Joseph Stiglitz, verkündete gar: „Der Klimawandel ist unser Dritter Weltkrieg“ (Stiglitz 2019). So war die Hoffnung groß, dass nach 16 Jahren umweltpolitischer Versäumnisse die neue rot-gelb-grüne Regierung die heißen Eisen der Umweltpolitik endlich anpacken würde – und sie hat es im Koalitionsvertrag versprochen.

CO2-Reduktion im Mittelpunkt

Im Mittelpunkt steht die Menge an Kohlendioxid (CO2), dem wichtigsten Treibhausgas, die noch emittiert werden darf. Das seit ca. 250 Jahren1 durch verstärkte Verbrennung von Kohle, Öl und Erdgas entstandene CO2 sammelt sich in der Atmosphäre an, was den Temperaturanstieg auf der Erde verursacht. Es gibt deshalb nur einen Ausweg, der globalen Überhitzung zu entkommen: Wir müssen die Verbrennung fossiler Energieträger praktisch auf Null zurückfahren. Es wird uns im Wesentlichen nur die Energie der Son­neneinstrahlung (und ihrer sekundären Effekte) bleiben2, so wie vor dem Einsatz der Dampfmaschine.

Um den Temperaturanstieg auf noch verträgliche 1,5 bis 2 Grad zu begrenzen, hat der Weltklimarat die für Emissionen noch zur Verfügung stehende Menge an CO2 global ermittelt. Für Deutschland gibt es dazu seitens des Sachverständigenrates für Umweltfragen mehrere Stellungnahmen in den letzten Jahren, und auch das Bundesverfassungsgericht zog das CO2-Budget als Maßstab für die Bewertung der Klimapolitik des Bundes heran. Danach bleiben uns noch ca. zwei Milliarden Tonnen CO2, die bis 2027 ausgestoßen werden dürfen. Anders formuliert: Von einem derzeitigen jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von ca. zehn Tonnen CO2 müssen wir auf unter eine Tonne kommen und das bis 2027. Dieses Datum ist verdammt nah und erlaubt keinen Umweg, keine »Übergangstechnologien« und insbesondere kein Weiter-so. Ohne Zweifel eine Herkulesaufgabe!

Veränderte Situation, falsche Reaktionen

Der Ukrainekrieg stellt alle diese Vorhaben und Vorsätze auf den Kopf. Wenn man vor Putins Angriff von einer Notstandssituation sprach, dachte man an den Klimanotstand – eine beträchtliche Zahl von Kommunen riefen ihn übrigens sogar formell aus. Jetzt erfährt dieser Begriff eine völlige Umdeutung: alles dreht sich um die Verteidigung des Status Quo. Trotz drohender Kipppunkte im Erdsystem, trotz Hitze und Dürre wird damit die Abkehr vom bisherigen Wohlstandsmodell und insbesondere von fossilen Energien vertagt. Statt Alternativen voranzubringen wird auf wiederhergestellte Importe über die Pipeline » Nord Stream 1« gehofft, werden Terminals für Flüssiggas ausgebaut und Kohlekraftwerke wieder hochgefahren. Auch ohne den Krieg wäre die Dringlichkeit der Transformation nicht kleiner gewesen und ihre Umsetzung würde der Ukraine sogar eher (unmilitärisch) helfen.

Von der in Deutschland insgesamt aus der Gasverbrennung bereitgestellten Energie geht etwa ein Drittel in die Industrie. Aber es kann doch kein Staatsziel sein, die industriellen Hauptabnehmer von Gas, die Chemie-, die Papier- und die Glasbranche, in ihrer derzeitigen Form unbesehen zu erhalten. Denn wenn mit Hilfe von Gas zu einem großen Teil ökologisch schädliche oder verzichtbare Produkte hergestellt werden, dann muss eine Produktionsumstellung oder gar ein Rückbau dieser Bereiche vorgenommen werden (Meier und Hofmann 2022).

  • Der größte industrielle Gasverbraucher ist die Chemische Industrie. Ein Teil des Gases wird zur Herstellung von Stickstoffdünger genutzt. Aber war nicht geplant, das Ausbringen von Dünger deutlich zu reduzieren? Von den neun wissenschaftlich etablierten »planetarischen Grenzen« – u.a. Temperatur der Erdoberfläche, Frischwasserversorgung, Ozongehalt der Atmosphäre – überschreiten der jetzt schon eingebrachte Phosphor und Stickstoff die entsprechende Grenze deutlich (siehe Abbildung).
  • Ein weiterer Teil des Gases wird für die Kunststoffproduktion eingesetzt. Doch brauchen wir die bisherigen Mengen? Die toten Zonen in den Ozeanen werden immer größer, Mikroplastik ist überall. Dabei wäre es beispielsweise ein Leichtes, recyclebare Verpackungen per Gesetz einzuführen.
  • Entsprechendes gilt für die Glasindustrie. Ein Großteil der Produktion besteht aus Getränkeflaschen und Gläsern für Nahrungsmittel. Eine konsequente Pfandpflicht würde schnell den Gasverbrauch reduzieren.
  • Noch grundsätzlicher: Wenn unsere Autos, Kühlschränke, Wachmaschinen und Handys langlebiger wären, dann könnte ihre Produktion entsprechend zurückgefahren werden. Hinzukommen könnten kurzfristig umsetzbare Maßnahmen wie eine Beschränkung der Ladenöffnungszeiten, ein begrenzter Gebrauch von Klimaanlagen, Reduzierung der städtischen Beleuchtung usw. – und ein Tempolimit. Allen an der politischen Umsetzung Beteiligten war ohnehin klar, dass der ökologische Umbau strukturelle wie persönliche Kosten verursachen wird, also Sparen angesagt ist.

Planetarische Grenzen, „P“ und „N“ stehen für Phosphor bzw. Stickstoff (nach Wikipedia: J. ­Lokrantz/Azote, basierend auf Steffen et al. 2015).

CO2-Reduktion durch Atomkraft?

Doch jetzt gerät stattdessen sogar der Atomausstieg ins Wanken. Einige sprechen von Streckbetrieb, andere von einer mehrjährigen Laufzeitverlängerung der noch nicht abgeschalteten AKW. Verwegene fordern gar AKW-Neubauten. Solche Forderungen kommen vor allem von denjenigen, die den Ausstiegsbeschluss im Grunde nie wirklich akzeptiert hatten, die den Ausbau der Erneuerbaren Energieträger am wenigsten forciert haben und die jetzt angesichts der Gaskrise die Chance einer »Renaissance der Kernenergienutzung« wittern. Ob die durch den Bundeskanzler entschiedene Streckung des Betriebs dreier AKW das letzte Wort in Sachen Atomenergie ist, bleibt daher fraglich.

Lassen wir im Lichte dieser Debatte die Probleme bzw. vermeintlichen Vorzüge der Atomenergie noch einmal Revue passieren. Die grundsätzlichen BefürworterInnen der Kernenergie bringen dafür im Wesentlichen drei Argumente vor: Atomenergie ist CO2-frei, sicher und lässt auf neue vielversprechende Reaktortypen hoffen.

Beginnen wir von hinten:

  • Neue Reaktortypen werden seit Jahrzehnten diskutiert, Versuchstypen verschlangen enorme Geldsummen, ihre erfolgreiche Erprobung ist bislang nie gezeigt worden und sie kämen für die Bewältigung der Klimakrise zu spät. Auch die sogenannten »Small Modular«-Reaktoren3 werfen mehr neue Probleme auf als sie alte lösen, und die Fusionsenergie käme, wenn überhaupt jemals, viel zu spät.
  • Die Gefahr einer großen Havarie (GAU) und ihrer Folgen ist weiterhin das größte Problem der Atomenergienutzung, wenngleich sich BefürworterInnen und GegnerInnen in ihrer Beurteilung stark unterscheiden. Festzustellen bleibt aber, dass ein intrinsisch sicherer Reaktortyp nicht existiert und dass die bisherigen Unglücke neben den großen Opfern an menschlichem Leben, Natur und Umwelt exorbitante finanzielle Kosten verursachen. So werden Kosten aller Hinterlassenschaften für die Entsorgung der verstrahlten Abfälle und Gebäude von Fukushima auf mehrere hundert Milliarden US$ geschätzt (Vettese und Pendergras 2022). Unabhängig davon bleiben die gewaltigen Probleme des Uranbergbaus, der zivil-militärischen Ambivalenz und der Endlagerung. Hinzu kommt, dass sich Planung und Bau neuer Atommeiler über Jahrzehnte hinzieht und zu extrem teuren Anlagen führt.
  • Damit kommen wir zur Frage, wie hoch die tatsächliche CO2-Emission eines AKW ist, und zwar der gesamten technischen Prozesskette, beginnend mit dem bergmännischen Uran-Abbau bis hin zum Endlager und Rückbau. Diese Frage wird in der Öffentlichkeit in der Regel schnell beantwortet: AKW sind CO2-frei, heißt es – dies sei ihr entscheidender Vorteil, um mit der Klimakrise zurechtzukommen! Aber ist das wirklich so?

Die von der IPCC ermittelten Rahmenbedingungen kann man auf die noch zulässige CO2-Menge (in g) pro erzeugter elektrischer Energiemenge (in kWh) herunterrechnen. Klimamodelle kommen für die Einhaltung des 2-Grad-Ziels auf einen nicht zu überschreitenden Emissionswert von ca. 15 gCO2/kWh (Vettese und Pendergras 2022). Um diesen Wert einschätzen zu können, ein Beispiel eines Berliner Wohnblocks mit ca. 20 Wohneinheiten: Der Betrieb der Ölheizung verursacht einen jährlichen Verbrauch von 320.000 kWh, die mit einer Emission von ca. 100 Tonnen CO2 verbunden ist. Das entspricht etwa 300 gCO2/kWh, also einem um den Faktor 20 zu hohen Wert. Zurzeit bietet der Anschluss an die Berliner Fernheizung einen erstaunlich niedrigen Wert von 42 gCO2/kWh an; deutlicher besser, aber noch immer zu hoch.

Den CO2-Wert für den Betrieb eines Atomkraftwerkes über alle Unwägbarkeiten der Prozesskette hinweg abzuschätzen, führt zu einer großen Bandbreite der emittierten CO2-Menge. Ein Literaturüberblick kommt zu einem Mittelwert von 66 gCO2/kWh (Sovacool 2008), das World Information Service on Energy gibt sogar 88-146 gCO2/kWh an (WISE International 2017). Zum Vergleich: Sonnen- und Windenergie kommen auf Werte bis hinunter zu 1 gCO2/kWh (Nugent and Sovacool 2014), das Umweltbundesamt veranschlagt bei Wind 8-11 gCO2/kWh (UBA 2021). Wichtig ist hier, dass bei einem breiten Einsatz von Kernenergie zunehmend auf minderwertige Uranlagerstätten zurückgegriffen werden muss. Entsprechend steigt aber der gCO2/kWh-Wert weiter. Obwohl beim Normalbetrieb der Atommeiler wenig CO2 produziert wird, fällt die Gesamtbilanz im Vergleich zu den nicht-fossilen Energieträgern deutlich negativ aus. Das ist übrigens beim Elektroauto sehr ähnlich. Die reine Produktion des Autos führt zurzeit zu einer CO2-Emission von mehr als zehn Tonnen. Unser persönliches CO2-Guthaben wäre für die nächsten zehn Jahre verbraucht.

Es bleibt die Frage, warum uns nach Ansicht der BefürworterInnen nicht ein »kleines Strecken« der Laufzeit, bis die zurzeit installierten Brennstäbe endgültig abgebrannt sind, weiterhilft. Dies würde ja die Endlager praktisch nicht mehr belasten, und der weitgehend sichere etwas längere Betrieb könnte wahrscheinlich gewährleistet werden. Das wären durchaus nachvollziehbare Argumente, wenn tatsächlich der endgültige Ausstieg nicht infrage gestellt würde – woran, wie gesagt, aber Zweifel aufkommen. Schon der Streckbetrieb – wie übrigens sogar die Notfallvorhaltung – bedürfen einer Gesetzesänderung, die dazu genutzt werden könnte, den Wiedereinstieg in die Atomkraft zu erreichen.

Es sollte klar geworden sein, dass es genügend schnell wirkendes Spar- bzw. ökologisch sogar notwendiges Reduktionspotential gibt, dessen Umsetzung gerade nicht durch Einsatz von Atomenergie verzögert werden darf.

Ernsthafte Antworten suchen

Nochmal: Der Um- bzw. Rückbau der Wirtschaft war von der neuen Regierung versprochen, der Krieg in der Ukraine ändert daran nichts. Die jetzt vorgenommenen Investitionen in fossile Infrastruktur sind fehl am Platz. Letztendlich zeigen sie, dass man die Klimakrise noch immer nicht ernst nimmt.

All dies verdeutlicht, wie schwer es der Demokratie fällt, die von der Wissenschaft aufgezeigten planetarischen Grenzen umzusetzen. Wir wissen zwar um ihre Notwendigkeit für unser Überleben, sind aber nicht in der Lage, zugunsten unserer langfristigen Überlebensinteressen auf kurzfristige Vorteile zu verzichten. Kognitive Dissonanzen werden verdrängt; man greift zur scheinbar einfachsten Lösung, jetzt der Atomenergie, damit sich nichts ändert. Zu welchen Ausflüchten werden wir greifen, wenn große Teile Deutschlands im Sommer nicht mehr bewohnbar sind, wenn der Meeresspiegel steigt und wenn schließlich die Lebensmittel knapp werden? Werden wir dann dem modernistischen Reflex folgen und uns auf das irrsinnige Abenteuer des »geo-engineering« einlassen, d.h. die Erdatmosphäre durch Eintrag von reflektierenden Partikeln zu managen – und für immer in das Grau des aerosolgetrübten Himmels blicken?

Angesichts der Widersprüchlichkeit, ja Irrationalität unserer Lebensführung stellt sich die grundsätzliche Frage, wie eine demokratisch verfasste Gesellschaft dem Klimawandel begegnen kann. Denn sie ist zutiefst verwurzelt in einem System, das durch billige Energie und den materiellen Überfluss stabilisiert wird. Unser Wirtschaftssystem kennt nur Wachstum, und Wachstum bedeutet erhöhten Ressourcennachschub, insbesondere vom Globalen Süden in den Norden. »Überfluss und Freiheit« (Charbonnier 2022) – Freiheit im Sinne der Unabhängigkeit von Naturzwängen – hängen in der Neuzeit zusammen und dafür gibt es im Anthropozän, im Zeitalter der Kollision der menschlichen mit den planetarischen Geschichte, keine einfache Grundlage mehr.

Anmerkungen

1) Analysen mehrerer Eisbohrkerne aus Hima­laya-Gletschern erlauben die Luftverschmutzung in einem Zeitraum von 1499-1992 zu dokumentieren. Danach ist der Gehalt von Schwermetallen im Eis ab ca. 1780 deutlich angestiegen. Weil diese Schwermetalle bei der Verbrennung von Kohle entstehen und diese fossilen Brennstoffe damals in Asien noch nicht genutzt wurden, ist Europa dafür verantwortlich (Gabrielli et al. 2020).

2) Neben der direkten Sonnenenergienutzung (Photovoltaik, Solarthermie) zählt dazu auch die Wind- und Wasserenergie sowie die Energie aus Biorohstoffen. Von anderer Natur sind die Geothermie und die Gezeitenenergie.

3) »Small Modular Reactors« (SMR) werden seit den 1950er Jahren vor allem als U-Boot-Reaktoren gebaut. Sie werden wegen ihrer Kleinheit als zukünftige Alternative zu den heutigen großen Kernkraftwerken propagiert. Ein BASE-Forschungsbericht setzt sich kritisch mit der zivilen Anwendung von SMR-Konzepten auseinander (Pistner 2021).

Literatur

Charbonnier, P. (2022): Überfluss und Freiheit: Eine ökologische Geschichte der politischen Ideen. S. Fischer.

Gabrielli, P., et al. (2020): Early atmospheric contamination on the top of the Himalayas since the onset of the European Industrial Revolution. PNAS 117, S. 3967-3973.

Meier, K. und Hofmann, C. (2022): Ist ohne Gas unser Wohlstand in Gefahr? Oder nur der schlechte Status Quo? Der Freitag 30/2022.

Nugent, D. und Sovacool, B.K. (2014): Assessing the life cycle green house gas emissions from solar PV and wind energy: Acritical meta-survey. Energy Policy 65, S. 229–244.

Pistner C. et al. (2021): Sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung einer Anwendung von SMR-Konzepten (Small Modular Reactors). BASE-Forschungsbericht, 17. März 2021.

Sovacool, B.K. (2008): Valuing the greenhouse gas emissions from nuclear power: A critical survey. Energy Policy 36, S. 2950-2963.

Steffen, W., et al. (2015): Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet. Science 347, 1259855.

Stiglitz, J. (2019): The climate crisis is our third world war. It needs a bold response. The Guardian, 4.6.2019.

UBA (2021): Aktualisierung und Bewertung der Ökobilanzen von Windenergie- und Photovoltaikanlagen unter Berücksichtigung aktueller Technologieentwicklungen. Umweltbundesamt, Climate Change 35/2021.

Vettese, T. und Pendergras, D. (2022): Half-earth socialism: A plan to save the future from extinction, climate change and pandemics. Verso.

WISE International (2017): Climate change and nuclear power. An analysis of nuclear greenhouse gas emissions. Studie im Auftrag des WISE.

Franz Fujara ist pensionierter Experimentalphysiker der TU Darmstadt. Seine Forschungsthemen liegen in der Neutronenforschung, der Kernspinresonanz und im Bereich der zivil-militärischen Ambivalenz nuklearer Technologien.
Ernst Rößler ist pensionierter Experimentalphysiker der Universität Bayreuth. Seine Forschung untersuchte molekulare Gläser mit Hilfe der dielektrischen und kernmagnetischen Spektroskopie.

Der Preis der Energiewende

Der Preis der Energiewende

Koloniale Machtgefüge und die Kohlemine »El Cerrejón« in Kolumbien

von Theresa Bachmann

Weltgeschichtlich betrachtet ist die Zeit der Kolonialreiche längst vorbei. De facto aber prägen neokoloniale Beziehungsmuster bis heute die Beziehungen zwischen Staaten und Konzernen aus dem sogenannten Globalen Norden und dem Globalen Süden. Ausgehend von Überlegungen kritischer Intellektueller des Globalen Südens zur Rolle von Kolonialität im globalen Machtgefüge, zeigt dieser Beitrag am Beispiel der Cerrejón-Mine auf, welch hohen Preis Kolumbien für Deutschlands Energiesicherheit bezahlt.

Der bereits eingeleitete Ausstieg aus Atom- und Kohlestrom ist ein zentraler Bestandteil von Deutschlands Energiewende. Während die stärkere Förderung erneuerbarer Energien alternativlos ist, muss gleichzeitig jedoch auch die Energiesicherheit gewährleistet werden. In der aktuellen Übergangsphase heißt das, dass eine geringe Stromproduktion durch deutsche Windkraftanlagen durch vermehrte Importe, beispielsweise von französischem Atom- oder polnischem Kohlestrom, kompensiert wird. In einer zunehmend globalisierten Welt bleibt Deutschlands Energiemix also nicht ohne Folgen für und in anderen Staaten. Diese Verflechtungen spielen zwar in der öffentlichen Debatte in Deutschland zumeist nur eine untergeordnete Rolle, sind aber zum Teil gerade deswegen sozial-ökologisch, ökonomisch wie politisch besonders problematisch. Der globale Abbau und Handel mit Kohle zu Stromgewinnungszwecken ist diesbezüglich ein Paradebeispiel.

Obwohl in Deutschland der Steinkohleabbau bereits beendet wurde, stammt ein signifikanter Anteil in Deutschland verbrauchten Stroms weiterhin aus Steinkohle. Angaben des Vereins der Kohlen­importeure (VDKi 2022) zufolge, betrug dieser 2021 ca. 8,6 % am gesamten Primärenergieverbrauch. Die dafür notwendigen Kohleimporte steigerten sich allein im letzten Jahr um 24,5 % – das entspricht einer Menge von 7,2 Mio. Tonnen – auf insgesamt 39 Mio. Tonnen (Ibid.). Während in Deutschland intensiviert über einen früheren Kohleausstieg diskutiert wird, wird dabei kaum thematisiert, dass dasselbe Deutschland seit Jahren mit großem Abstand größter Steinkohleimporteur Europas ist. Die Steinkohle wird dabei nicht nur aus Australien oder den USA eingekauft, sondern auch aus Südafrika und Kolumbien, wo niedrigere Förderstandards mit großen Umweltschäden sowie zum Teil schwersten Menschenrechtsverletzungen in direktem Zusammenhang mit dem Export von Kohle stehen. So werden in Förderregionen lebende Gemeinschaften vertrieben, von der Wasserversorgung abgeschnitten, Proteste kriminalisiert sowie Gegner*innen aktiv mundtot gemacht. Selektive Gewalt in Form von gezielten Tötungen von Umwelt- und Menschenrechtsaktivist*innen erreicht – global gesehen – derzeit einen traurigen Höchststand. Global Witness (2020) beschreibt die Lage in Kolumbien, Zentralamerika und den Philippinen, gerade für die indigene Bevölkerung, als besonders prekär. Nichtsdestotrotz beziehen Deutschlands fünf größte Stromversorger allesamt auch Kohle aus Kolumbien.

Neokolonialismus und globale Machtgefüge

Auf dem Höhepunkt der »Dekolonisierung«, während immer mehr Staaten formal ihre Unabhängigkeit erlangten, wies Ghanas Unabhängigkeitsheld Kwame Nkrumah bereits auf die reale Möglichkeit des Neokolonialismus hin. In seinen Worten ist die „Essenz des Neokolonialismus, dass der Staat, der ihm unterworfen ist, theoretisch unabhängig ist und nach außen hin internationale Souveränität genießt. Praktisch jedoch ist sein ökonomisches System und damit einhergehend seine Politik von außen gesteuert“ (Nkrumah 1963: ix). Für Nkrumah sind die Regierungen neokolonial regierter Staaten dabei nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems, da sie „ihre Autorität zum Regieren von der Unterstützung ihrer neokolonialen Vorgesetzten ableiten. Sie haben daher nur wenig Interesse daran, […] Schritte jedweder Art einzuleiten, die koloniale Handelsbeziehungen herausfordern würden“ (Ibid., S. 1). Wenngleich die Hochphase der Kolonialreiche weltgeschichtlich passé ist, so setzen sich koloniale Beziehungsmuster – mit denselben, klar definierten Gewinner*innen und Verlierer*innen – demnach bis in die Gegenwart fort.

Die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Neokolonialismus galt in akademischen Kreisen lange Zeit als marxistisch und nicht zeitgemäß. Manche assoziierten Neokolonialismus „mit modernen Tyrannen wie Robert Mugabe, die das Konzept in ihren politischen Diskurs eingebunden haben. Und für viele wird es zu Unrecht als dreistes polemisches Mittel angesehen, um den „Westen“ für die anhaltende Misswirtschaft afrikanischer Eliten verantwortlich zu machen“ (Langan 2018, S. 4). Nichtsdestotrotz erscheinen Überlegungen wie die oben dargelegten angesichts der politischen und ökonomischen Realität in weiten Teilen des Erdballs hoch relevant und haben daher in den letzten Jahren zu einem klaren Umschwung beigetragen.

In Anbetracht der Thematik dieses Beitrages1 ist dabei die intellektuelle Arbeit im sogenannten Globalen Süden besonders hervorzuheben: Lange bevor sich kritische Forschende in Universitäten des Globalen Nordens verstärkt post- und dekolonialen Theorien zuwandten, dekonstruierten zahlreiche Denker*innen weit über den afrikanischen Kontext hinaus anhaltende koloniale Kontinuitäten. An dependenztheoretische Arbeiten anknüpfend, ist für Lateinamerika in diesem Zusammenhang insbesondere die interdisziplinäre Forschungsgruppe »Modernität/Kolonialität« von Bedeutung. Den ihr angehörenden Autor*innen zufolge kann das Phänomen scheinbar universeller Formeln wie »Modernität« und »Fortschritt« nicht „ohne Bezugnahme auf die damit einhergehenden Kolonialität von Macht sowie die Marginalisierung von Kulturen und Wissen subalterner Gruppen“ (Escobar 2008, S. 181) verstanden werden. Das global aktuell dominierende Machtgefüge entsteht dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano (2019, S. 1) zufolge aus dem Zusammenspiel von: „1) der Kolonialität der Macht, d. h. die Idee von „Rasse“ als universeller Grundlage sozialer Klassifizierung und Herrschaft; 2) Kapitalismus als universelle[m] Muster sozialer Ausbeutung; 3) dem Staat als universeller, zentraler Kontrollinstanz kollektiver Autorität und dem modernen Nationalstaat als seiner hegemonialen Variante; 4) dem Eurozentrismus als besondere[r] Form der Wissensproduktion.“ Die im lateinamerikanischen Fall zumeist von europäischstämmigen, weißen Eliten vorangetriebenen Unabhängigkeitsbestrebungen von den Mutterländern ist dabei nicht als Bruch zu verstehen, da diese nicht mit einer „Dekolonisierung der Gesellschaft einhergingen (Quijano 2019, S. 34). Stattdessen veränderten diese lediglich die institutionellen Grundlagen, auf Basis derer sich Macht innerhalb und zwischen Staaten ungleich verteilt und Gesellschaften, Wirtschaften und Politik prägt.

Eine Einordnung am Beispiel von »El Cerrejón«

Die konkreten Wirkungsmechanismen und die Auswirkungen dieses Machtgefüges werden mit Blick auf Kolumbiens Kohlesektor im Allgemeinen und den Fall »El Cerrejón« im Besonderen schnell sichtbar. Seit Kolonialtagen ist der Abbau und Export von natürlichen Rohstoffen eine tragende Säule der kolumbianischen Wirtschaft. Bedingt durch stark ansteigende Weltmarktpreise, nahm der Abbau und die wirtschaftliche Relevanz von Rohstoffexporten Anfang des Jahrtausends weiter zu. Wurden zu Beginn der 1980er Jahre noch weniger als 5 Mio. Tonnen Kohle jährlich abgebaut, so stieg die Fördermenge zwischen 2010 und 2020 auf jährliche 80 bis 91 Mio. Tonnen (Urrego 2021). Der weitaus größte Teil wird dabei in den beiden nördlichen Bundesstaaten La Guajira und Cesar abgebaut, wo ausländische Bergbauunternehmen einige der größten Kohleminen weltweit betreiben und von dort aus in die ganze Welt verschiffen.2 Alle kolumbianischen Regierungen der letzten Jahrzehnte haben diese Entwicklung explizit gefördert. So wird in den nationalen Entwicklungsplänen das durch die sogenannte »Bergbau-Energie-Lokomotive« erzielte wirtschaftliche Wachstum und damit einhergehende Staatseinnahmen als zentral für die Reduzierung von Armut und Ungleichheit dargestellt.

Die Lebensrealität vieler Kolumbianer*innen widerspricht dieser Argumentation. Trotz konstantem ökonomischem Wachstum seit 2000 lebt mindestens ein Drittel der Bevölkerung in Armut, mit stark ansteigender Tendenz und verschärft durch die Effekte der Covid-19-Pandemie. Gerade die Regionen, in denen die meisten natürlichen Reichtümer liegen, sind besonders stark betroffen. Besonders extrem ist die Lage in dem bereits genannten La Guajira, wo 63 % der Bevölkerung in Armut lebt und rund ein Viertel in extremer Armut. Die Lage der indigenen Bevölkerung der Wayúu – die rund 45 % der Bevölkerung La Guajiras ausmacht – ist noch prekärer: Allein zwischen 2010 und 2018 verhungerten ca. 5.000 Kinder unter 5 Jahren, die meisten davon Wayúus (Guerrero 2018). Die an der Grenze zu Venezuela gelegenen Halbinsel La Guajira ist zu 97 % von Wüste bedeckt. Seit 1983 beherbergt sie den größten Kohletagebau Lateinamerikas. Bis zuletzt wurde die gemeinhin nur als »El Cerrejón« bekannte Mine vom schweizerischen Konzern Glencore, dem britischen BHP und dem US-Konzern Anglo American betrieben.3

Die Geschichte El Cerrejóns liest sich bis dato wie eine Chronologie der Gewalt und Straflosigkeit. Mehrere tausend Menschen und Gemeinden wurden aus dem »Kohlekorridor« zwangsumgesiedelt bzw. vertrieben. Den damit einhergehenden Verpflichtungen, beispielsweise für adäquaten Ersatz zu sorgen, kamen weder Betreiber noch staatliche Behörden nach. Während die Mine in einer der trockensten Regionen des Landes täglich 24 Mio. Liter Wasser verbraucht bzw. verschmutzt, wird der Zugang zu Wasser für die Bevölkerung immer schwieriger. Trotz gerichtlicher Verbote wurden seit 2016 Teile der letzten für die Bevölkerung noch zugänglichen Wasserzuflüsse zugunsten der Mine umgeleitet. Eine durch den Klimawandel begünstigte Dürre hat die humanitäre Krise in den letzten Jahren weiter verschärft und Befürchtungen eines Ethnozids sowie eines Ökozids an den Wayúus und mehreren afrokolumbianischen Gemeinschaften geweckt. Deren Rechte sind durch die kolumbianische Verfassung und die ILO-Konvention 169 eigentlich besonders gut geschützt, doch wurden diese seit Inbetriebnahme missachtet und entsprechende Gerichtsurteile nicht oder nur stark verzögert umgesetzt. Mittlerweile 14 Gerichtsurteile (Stand: 25. Januar 2022) bestätigen den Betroffenen allesamt, dass u.a. ihre territorialen Rechte, ihr Recht auf Wasser und auf Gesundheit durch El Cerrejón verletzt werden und damit drohen, ihren angestammten Lebensraum unbewohnbar zu machen.

Betroffene und ihre Unterstützer*innen leisten seit Jahren Widerstand. Angesichts miserabler Arbeitsbedingungen solidarisierten sich zuletzt auch Minenarbeiter*innen mit ihnen. Dennoch zieht sich die Kriminalisierung von Protest und Repression wie ein roter Faden durch die Geschichte El Cerrejóns. In Einklang mit Kwame Nkrumahs Befürchtungen, ist das Handeln des kolumbianischen Staates für die Betroffenen nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems, da dieser gemeinsame Sache mit den Betreibern macht. Häufig zeichnen Armee und Polizei für gewaltsame Räumungen und Vertreibungen verantwortlich. Lokale Armeeeinheiten werden durch die Minenbetreiber direkt mit Lebensmitteln und Logistik unterstützt. Anwohner*innen wurden in der Vergangenheit durch den Konzern zudem Subventionen aus staatlichen Kompensationsprogrammen angeboten, der behauptete, diese Mittel stammten aus seinen eigenen Entschädigungszahlungen an den kolumbianischen Staat. Die Vorzugsbehandlung der El Cerrejón-Betreiber durch den Staat wird auch durch eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung des australischen Centre for International Corporate Tax Accountability and Research (CICTAR) (2021) belegt, die aufdeckt, dass Glencore in Kolumbien so drastische Steuernachlässe gewährt bekommt, dass das Unternehmen nahezu zum Nulltarif die Reichtümer La Guajiras ausbeuten darf. Gleichzeitig müssen die Anführer*innen der Proteste mit Bedrohungen, Verschwindenlassen oder ihrer gezielten Ermordung rechnen. Oft genug sind dafür direkt Paramilitärs zu verantworten, zu denen sowohl Minenbetreiber als auch der Staat zweifelhafte Kontakte pfleg(t)en.

Fazit

Seit Jahrhunderten bestehende Machtgefälle und „weiße Privilegien“ (Escobar 2008, S. 38) werden im Namen von »Globalisierung« und »Fortschritt« weiter zementiert. Nicht nur in Kolumbien, weltweit wird diese neokoloniale Ordnung mithilfe von Gewalt durchgesetzt. Mitnichten eine veraltete, marxistische Debatte, beeinflussen in der Kolonialzeit entstandene Beziehungsgefüge weiterhin Politik, Wirtschaft und Gesellschaften und konsolidieren die dramatische Ungleichheit zwischen Gewinner*innen und Verlierer*innen dieses globalen Systems. Unwissenheit und/oder Ignoranz kann dieses System durchaus begünstigen, wie das El Cerrejón-Beispiel zeigt. Obwohl die Vorgänge in der Region sehr gut dokumentiert und international bekannt sind, gibt es in Deutschland, der Schweiz und anderen Staaten, wo die zu Strom verarbeitete kolumbianische Kohle verbraucht wird, nur wenig substantiellen öffentlichen Druck, diese Kohle nicht mehr zu importieren. Dies ermöglicht die aktuelle paradoxe Situation, in der in Deutschland im Rahmen der Energiewende möglicherweise der vorgezogene Kohleausstieg bis 2030 durchgesetzt wird, während durch die dadurch steigende Nachfrage nach Kohle in Kolumbien und anderswo mehr Umweltschäden, Treibhausgasemissionen und Menschenrechtsverletzungen verursacht werden: „Das ist globale Kolonialität in ihrem unmittelbarsten Sinne“ (Escobar 2008, S. 38).

Anmerkungen

1) Viele der hier zitierten Autor*innen weisen in ihrer Arbeit auch auf die geopolitische Dimension von Wissen und seiner Produktion hin (s. folgender Absatz). Die »Kolonialität des Wissens« drückt sich demnach u. a. darin aus, dass global als relevant betrachtetes Wissen sowie die Art, es zu produzieren, bis heute ausschließlich in Zentren des Weltsystems definiert und hervorgebracht wird, während die Peripherien des Globalen Südens lediglich Forschungsobjekt oder Empfänger*innen von Wissen sind.

2) Ungefähr 95 % der in Kolumbien geförderten Kohle wird exportiert.

3) Seit Januar 2022 ist Glencore der einzige Betreiber.

Literatur

CICTAR (2021) Broke: Coal mining giant games global tax system. 26.10.2021. cictar.org/glencore.

Escobar, A. (2008): Territories of difference: Place, movements, life, redes. Durham/ London: Duke University Press.

Global Witness (2020): Defending tomorrow: The climate crisis and threats against land and environmental defenders. London: Global Witness.

Guerrero, S. (2018): “4.770 niños muertos en La Guajira es una barbarie”: Corte. El Heraldo, 15.10.2018.

Langan, M. (2018): Neo-colonialism and the poverty of ‘development’ in Africa. Cham: Palgrave Macmillan.

Nkrumah, K. (1963): Neo-colonialism: The last stage of imperialism. New York: International Publishers.

Quijano, A. (2019): Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina. Espacio abierto, Vol. 28, Nr. 1, S. 260-301.

Urrego, A. (2021): Colombia ya es el tercer exportador de carbón coque y metalúrgico a nivel mundial. La República, 26.08.2021.

Verein der Kohlenimporteure (2022): Pressemitteilung 1/2022. Berlin, 14.01.2022.

Theresa Bachmann ist Doktorandin der Friedens- und Konfliktforschung an der University of Kent (GB). Im Rahmen ihrer Dissertation forscht sie zu Räumen der Bürger*innenbeteiligung im Kontext des aktuellen kolumbianischen Friedensprozesses.

Nahrungsmittel­verschwendung


Nahrungsmittel­verschwendung

Systemische Ursachen und global organisierte Unverantwortlichkeit

von Tobias Gumbert

Etwa ein Drittel der global produzierten Nahrungsmittel werden Schätzungen zufolge über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg verschwendet. Das Ausmaß verweist auf immense Distributionsprobleme im globalen Agrar-Ernährungssystem, die nicht selten lokal bestehende Konfliktkonstellationen weiter verschärfen. Die globale Gemeinschaft hat mit verstärkten Kooperationsbemühungen und dem Versuch einer besseren Zuordnung und Zuschreibung von Verantwortlichkeiten unter den beteiligten Akteuren auf die Herausforderungen reagiert. Doch wie mit systemischen Ursachen von Nahrungsmittelverschwendung umzugehen ist, bleibt ein ungelöstes Problem.

Mit zunehmender Dringlichkeit stellt sich die Frage nach der Sicherung des Nahrungsmittelangebots für künftig mehr als neun Mrd. Menschen auf dem Planeten. Die Welternährungsorganisation (FAO) hat in ihrem letzten Bericht die Zahl der Menschen, die schon heute von einem schwerwiegenden Ausmaß an Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind, auf 750 Millionen beziffert; der Trend ist negativ und soll bis zum Jahr 2030 auf 840 Millionen ansteigen (FAO 2020, S. xvi). Diese extremen Formen von Hunger und Unterernährung gefährden ein gesichertes Zusammenleben und die zukünftige Entwicklung ganzer Regionen. Bestehende Konflikte des Zugangs zu Land und sauberem Trinkwasser weltweit, u.a. als Folge großflächiger Landinvestitionen, könnten durch ein sinkendes Nahrungsmittelangebot weiter verschärft werden. Bislang beschrieb der dominante Diskurs technologische Innovationen und Produktivitätssteigerungen als die zentralen Hebel, um die globale Nahrungsmittelsituation an die sich verändernden Rahmenbedingungen anzupassen. Doch spätestens seit die Größe des Problems der globalen »Nahrungsmittelverschwendung« vor gut einem Jahrzehnt zum ersten Mal annäherungsweise beziffert werden konnte (Gustavsson et al. 2011), ist deutlich geworden, dass die politische Adressierung von Verteilungsfragen stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken sollte – nicht nur die Verteilung von Ressourcen, sondern vor allem die Verteilung von Verantwortung.

Globale Ziele

In den letzten 10-15 Jahren ist der Problemkomplex der Nahrungsmittelverschwendung auf der globalen politischen Agenda immer wichtiger geworden. Die Studie »Global Food Losses and Food Waste« (Globale Nahrungsmittelverluste und Nahrungsmittelverschwendung) der FAO stellte den Beginn dieser Entwicklung dar: trotz schlechter Datenlage schätzte die Studie die globale Menge der jährlich nicht dem menschlichen Konsum zugeführten Nahrungsmittel auf 1,3 Mrd. Tonnen – etwa ein Drittel der globalen Erzeugung (Gustavsson et al. 2011). Seitdem hat die FAO eine Reihe verschiedener Foren zur weltweiten Reduzierung von Lebensmittelverlusten und Lebensmittelverschwendung organisiert und geleitet. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) folgte bald darauf mit eigenen Initiativen, um die Eindämmung von Lebensmittelverschwendung als Beitrag zu nachhaltigen Ernährungssystemen zu nutzen.

Diese und weitere Entwicklungen mündeten schließlich darin, dass das Thema Lebensmittelverluste und -verschwendung als spezifisches Ziel innerhalb der »Ziele für Nachhaltige Entwicklung« (SDGs) der Vereinten Nationen aufgenommen wurde. Das Unterziel 12.3 benennt eine weltweite Halbierung der Lebensmittelabfälle pro Kopf im Handel und auf Konsument*innenebene bis 2030 und ist bestrebt, Lebensmittelabfälle entlang der Produktions- und Lieferkette allgemein zu verringern. Kurz nach Verabschiedung des Ziels rief das World Resources Institute die »Champions 12.3«-Koalition von Führungskräften aus Regierungen, Unternehmen sowie weiteren staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen ins Leben, deren Ziel es ist, bei allen Akteuren mehr Bewusstsein für Lebensmittelverschwendung zu schaffen, das wachsende Netzwerk von Akteuren zu erweitern und sie aufzufordern, gemeinsame Politikempfehlungen und Lösungsansätze zu entwickeln.

Globales Mismanagement?

All die dazugehörigen Maßnahmen zur Verbesserung der globalen Datenbasis, der Optimierung technischer Prozesse, der Ausweitung von Kooperationsbemühungen und Partnerschaften entlang der Wertschöpfungskette, oder die Erinnerung an Eigeninitiative verorten das zugrunde liegende Problem beim individuellen Mismanagement der beteiligten Akteure.

Grundlegend kann demnach zwischen zwei Formen der Verschwendung unterschieden werden:

  • In den Phasen Ernte, Lagerung, Transport, Verarbeitung und Verpackung fallen »Nahrungsmittelverluste« an, die als unbeabsichtigtes Ereignis definiert und daher am besten durch technologische Lösungen (Effizienzsteigerung, verbesserte Kühlung, intelligente Verpackungen etc.) adressiert werden können.
  • »Nahrungsmittelverschwendung« wird hingegen als „das Ergebnis einer Fahrlässigkeit oder einer bewussten Entscheidung, Lebensmittel wegzuwerfen“ dargestellt (Lipinski et al. 2013, S. 4). Diese Problematik wird den Ebenen des Konsums und des Einzelhandels zugeschrieben, und könne demnach durch transparentere Informationen und Aufklärungsmaßnahmen gehandhabt werden.

Diese Problemdiagnosen basieren häufig auf der Vorstellung der Linearität von Wertschöpfungsketten. Diese lässt die Idee naheliegend erscheinen, dass Verantwortung individualisiert und unterteilt werden kann, indem Akteure innerhalb spezifischer Sektoren (Produktion, Transport, Fertigung, Verarbeitung, Einzelhandel usw.) bei den Prozessen, die sie überblicken und beeinflussen können, Verluste reduzieren können. Da die Sektoren über die gehandelten Güter wiederum linear miteinander verknüpft sind, scheint es zudem möglich, sich auf das Management von Endpunkten (Konsumebene) zu konzentrieren, um damit die gesamte Wertschöpfungskette zu beeinflussen. Diese Logiken führen zu der Annahme, dass das Agrar-Ernährungssystem durch die Summe vieler individueller, kausal wirksamer und kalkulierbarer Handlungen verantwortungsbewussten Handelns (insbesondere von den »Enden« ausgehend) transformiert werden kann (Gumbert und Fuchs 2022).

Doch neuere Studien, die einen weiteren Anstieg der globalen Nahrungsmittelverschwendung prognostizieren (Boston Consulting Group 2018) und exaktere Messmethoden anführen (UNEP 2021), legen nahe, dass die eingeschlagenen Reduktionspfade noch lange nicht ausreichen, um das Problem an der Wurzel zu packen. Mehr noch: die zu beobachtenden Ansätze scheinen nur Teile des Problems zu adressieren und die eigentlichen Gefahren zu verkennen.

Ausdruck organisierter Unverantwortlichkeit

Auf den ersten Blick erscheinen die politischen Lösungsansätze plausibel. Sie gehen davon aus, dass kein Akteur ein legitimes Interesse an Verlusten oder Verschwendung von Lebensmitteln haben könne. Daher sei es zielführend, Aufklärung zu betreiben, Best Practices zu teilen, die Koordination zu erhöhen, sprich: das Netz notwendiger Verantwortlichkeiten enger zu knüpfen (so dass hier weniger Nahrungsmittel durch das Netz fallen, um im Bild zu bleiben) und verlorene Kontrolle über die ungewollte Verschwendung von Nahrungsmitteln wiederzuerlangen.

Bereits in den 1980er Jahren wies der Soziologe Ulrich Beck darauf hin, dass genau diese Rationalität bei der politischen Bearbeitung von Umweltproblemen einem Trugschluss unterliegt (Beck 1986). Menschliche Kontrollversuche hätten – insbesondere durch ein hohes Vertrauen in das Innovationspotenzial neuer Technologien – den Effekt, dass die eigentlichen Gefahren verkannt, nur Teile des Problems adressiert, oder gänzlich neue, unerwünschte Nebeneffekte produziert würden. Diese Effekte vollzögen und akkumulierten sich sozusagen im Rücken und außerhalb des Sichtfelds der aktiv Handelnden, und könnten daher selten individuellen Akteuren zugeschrieben werden. Die Akkumulation von Plastikmüll in den Meeren ist dafür ein Paradebeispiel: während sich Recycling-Infrastrukturen seit den frühen 1990er Jahren global im Aufbau befinden, ist das Thema der Vermüllung der Meere erst seit wenigen Jahren auf der politischen Agenda und im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Trotz Koordination und Kontrolle bleibt so verantwortliches Handeln aus. Beck führt diese Dynamik nicht auf »Nichtwissen«, mangelnde Kompetenz oder fehlende Verantwortlichkeit der Akteure zurück. Er beschreibt in seinem Buch »Risikogesellschaft« (1986), wie Institutionen moderner Gesellschaften Bedrohungen zunehmend als kalkulierbare Risiken erfassen und managen, wodurch sie als standardisierte Operationen von Bürokratien institutionell eingeschrieben werden. Dadurch können Prozesse, welche vorhersehbar und unerwünscht sind, einzelnen Akteursgruppen oder Sektoren kausal zugeschrieben und die Aufgaben für die Behebung bzw. Reduzierung sogenannter „negativer Externalitäten“ übertragen werden. Die Adressierung unerwünschter, aber unvorhersehbarer Entwicklungen bleibt dabei jedoch strategisch unberücksichtigt, oder anders gesagt: gerade weil alle Akteure sich auf ihre individuellen Verantwortlichkeiten konzentrieren, entsteht Unverantwortlichkeit in den Zwischenräumen koordinierten Handelns und wird damit zu einem konstitutiven Merkmal rechtlicher, ökonomischer und politischer Strukturen.

Warum spricht Beck jedoch von organisierter Unverantwortlichkeit, wenn es scheinbar um ungewollte Nebeneffekte geht? Über Zeit werden gesellschaftliche Bearbeitungsstrategien zu einem Bestandteil der – in den Worten Becks – „sozialen Definitionsverhältnisse“, das heißt die vorherrschenden Problemdiagnosen und korrespondierenden Lösungsstrategien (hier: globale Nahrungsmittelverschwendung als Ursache von Mismanagement) werden normalisiert und dadurch legitimiert (Beck 1988, S. 100). Sie konstituieren fortan den „normalen Umgang“ mit Sachfragen und Problemlagen und es wird zunehmend schwieriger, diese Strategien zu hinterfragen. Durch diese Form der Organisation würden, so Beck, sowohl die dynamische Entwicklung von Umweltproblemen als auch deren Bedeutung und Tragweite verkannt. Mehr noch: einzelne Akteure ziehen ihren Nutzen daraus, die sozialen Definitionsverhältnisse ständig zu reproduzieren, wodurch es problematisch wird, hier nur von Nebeneffekten zu sprechen.

Becks Diagnose legt also nahe, dass eine in seinem Sinne systemische, organisierte Unverantwortlichkeit nicht nur parallel zu einer Vielzahl individuell und verantwortlich handelnder Akteure bestehen kann, sondern dadurch gerade gestützt oder sogar hervorgebracht wird. Im nächsten Abschnitt soll näher ausgeführt werden, wie diese recht abstrakten Konzepte dabei helfen können, die Gründe für das Ausmaß der globalen Nahrungsmittelverschwendung näher zu beleuchten.

Verschwendung als strategischer Effekt

Das Ausmaß der globalen Nahrungsmittelverschwendung ist ohne den Fokus auf seine strukturellen Treiber kaum zu verstehen. Diese Treiber sind in erster Linie Prozesse, die ursächlich nicht auf das strategische Handeln Einzelner zurückgeführt werden können und in ihrer Verbreitung globalen Charakter haben. Hier sind Prozesse anzuführen, die weltweit zu einem massiven Überangebot an Lebensmitteln führen, wie etwa die kommerzielle Intensivierung der Nahrungsmittelproduktion oder den wachsenden Einfluss des Einzelhandels entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Diesen Entwicklungen zugrunde liegen wiederum Wachstumszwänge und globaler Wettbewerb, die für konstante Überproduktion sorgen, ohne dass diese der menschlichen Bedürfnisbefriedigung zukommen würde.

Dafür lassen sich viele Anhaltspunkte liefern. Das Management von Nahrungsmittelverschwendung ist mittlerweile zu einem global rasant wachsenden Markt geworden: 36,04 Mrd. US$ Umsatz verzeichnete dieser im Jahr 2020, bei einer jährlichen Wachstumsrate von 5,8 % (Fior Markets 2021). Die in diesem Markt aktiven Unternehmen sind zunehmend auf anhaltende Flüsse von Nahrungsmittelabfällen angewiesen. Das Segment der Biogasproduktion erfährt hier besonders hohe Zuwächse: obwohl Prävention von Verschwendung (z.B. auf EU-Ebene) das präferierte Politikziel ist und Energiegewinnung nur eine nachrangige Stelle in der Liste möglicher Reduktionsmaßnahmen einnimmt, bestehen in vielen EU-Staaten finanzielle Anreize für Unternehmen, Abfälle der Energiegewinnung zuzuführen (Bradshaw 2018). Technologische Pfadabhängigkeiten führen zudem dazu, dass viele Anlagen darauf angewiesen sind, energiereichere Bestandteile zusätzlich zu Abfällen zu vergären, um hochwertigeres Biogas zu produzieren, wodurch der Verbrauch an Nutzpflanzen steigt (Alexander 2016). Werden die Begriffe Nahrungsmittelverluste und -verschwendung weiter gefasst, um auch jene Nahrungsmittel zu berücksichtigen, die nicht dem menschlichen Konsum zugeführt werden und stattdessen z.B. für die Biokraftstoffproduktion genutzt werden, ist das Ausmaß des Problems noch wesentlich größer.

Cloke (2013) betrachtet als techno-­regulatorische Ursachen“ auch Technologien der Lebensmittelkonservierung wie Gefriertrocknung oder Vakuumierung, welche die Möglichkeit für sämtliche Akteure ausweiten, mehr Nahrungsmittel zu produzieren, als tatsächlich benötigt werden. Auch hohe Anforderungen an Lebensmittelsicherheit veranlassen Akteure (bzw. verpflichten sie rechtlich) dazu, weitaus mehr Nahrung zu entsorgen, als tatsächlich nicht mehr genießbar ist. Gleichzeitig bestehen weiterhin entweder rechtliche Hürden für Unternehmen, übriggebliebene Nahrungsmittel an Hilfsorganisationen weiterzugeben, oder zivilgesellschaftliche Organisationen werden dadurch abgeschreckt, dass sie mit den »Resten« von Händlern auch das »Restrisiko« übernehmen und für eventuelle gesundheitliche Folgeerscheinungen haftbar gemacht werden können (Bradshaw 2018).

In diese Kategorie fallen außerdem Abfälle, die durch global agierende Supermärkte und Großhändler anfallen, etwa indem diese ihre riesige Nachfragemacht nutzen. Der Handel schützt sich vor Risiken im Zusammenhang mit Verderblichkeit und Hygienevorschriften, indem er die Verantwortung und die Kosten für Nahrungsmittelabfälle auf die Lieferant*innen und Produzent*innen verlagert; bestellte Lieferungen werden abgelehnt oder Verträge einseitig gekündigt (Gille 2013). Beispielsweise berichteten Landwirt*innen und Exporteur*innen aus Kenia, die mit europäischen Einzelhändler*innen zusammenarbeiten, dass durchschnittlich 30 Prozent der Lebensmittel auf Farmebene abgelehnt werden und 50 Prozent vor dem Export (Feedback 2015, S. 5). Gründe für die Ablehnung sind in der Regel kosmetische Vorgaben, aber ebenso Auftragsstornierungen aufgrund von Last-Minute-Lieferanpassungen, die zu finanziellen Einbußen und einer erhöhten Verschuldung der Landwirt*innen aufgrund fehlender Entschädigungen führen. Darüber hinaus verbieten diese Akteure den Erzeuger*innen in vielen Fällen vertraglich, ihre Produkte auf alternativen Märkten zu verkaufen, was zu noch größeren Mengen verschwendeter Produkte führt (Stuart 2009).

Viele weitere Prozesse könnten an dieser Stelle angeführt werden, die allesamt ein Zeugnis davon wären, dass Nahrungsmittelabfälle entstehen, obwohl sämtliche Akteure im Rahmen der vorgegebenen ökonomischen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen agieren. Dieses Ausmaß ist unverantwortlich, und doch organisiert. Für Cloke ist Nahrungsmittelverschwendung in dieser Hinsicht sogar ein gewollter Kernbestandteil des unternehmensdominierten globalen Agrar-Ernährungssystems. Er bezeichnet dieses daher auch als „vastogenic system“ (Cloke 2013, S. 622), als Abfall und Verschwendung hervorbringendes und förderndes System. Verluste und Verschwendung werden nicht nur kalkuliert und eingepreist, sondern sind notwendig, um den beschleunigten Fluss von Gütern über und durch Wertschöpfungsketten anzutreiben. Solange politische Lösungsansätze diese strukturellen Treiber nicht adressieren, wird sich das Problem der globalen Nahrungsmittelverschwendung im Lichte gut sichtbarer und teilweise sogar sehr ambitionierter, individueller Reduktionsbemühungen weiter verschärfen.

Hin zu kollektiven Verantwortlichkeiten

Keine Frage, die globale Aufmerksamkeit, die das Thema der globalen Nahrungsmittelverschwendung in den letzten Jahren erfahren hat, ist wichtig und lange überfällig gewesen. Die gegenwärtig global koordinierten Reduktionsbemühungen weisen in die richtige Richtung, insbesondere, wenn sich nationale Regierungen an den Indikatoren und Lösungsvorschlägen zur Umsetzung des SDG 12.3 beteiligen. Doch der Prozess birgt die Gefahr, an sektorspezifischen Vorgaben und »zumutbaren« Richtwerten Halt zu machen. Wie also ist politisch in Zukunft zu verfahren?

Einflussreichen Akteuren, die bislang von „vastogenic systems“ profitiert haben, sollte eine größere Verantwortung für Schadensminderung zugemutet werden können, selbst wenn kein direkter kausaler Zusammenhang zwischen ihren Handlungen und negativen Auswirkungen hergestellt werden kann. Von Unternehmen, die eine besondere Machtposition innehaben und die die Ressourcen und Fähigkeiten zur Veränderung bestehender systemischer Rahmenbedingungen besitzen, sollte daher öffentlich eine stärkere Verpflichtung zu verantwortungsvolleren Geschäftspraktiken eingefordert werden können, insbesondere unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen von Landwirt*innen.

Relevante Governance-Initiativen müssen ökologische und soziale Fürsorge und Vorsorge beinhalten und können durch transparente und partizipative Institutionen gefördert werden. Diese sollten kollektives Handeln (ermöglicht durch wechselseitige Beobachtung, Motivation und ggf. Sanktion der beteiligten Stakeholder) statt der Zuweisung partieller Verantwortlichkeiten betonen und den Umgang mit den hier geschilderten unbeabsichtigten, unabsehbaren Folgen zu einem wichtigen, zusätzlichen Ziel erklären. Ferner sollten nicht nur wirtschaftliche Sektoren und Branchen entlang der Wertschöpfungskette zu kollektivem Handeln verschränkt, sondern ebenso räumliche und zeitliche Fernbeziehungen berücksichtigt werden (bspw. durch die Repräsentation von Produzent*innennetzwerken und Fürsprecher*innen zukünftiger Generationen). Dies könnte konkret zu stärkeren Monitoring-Instrumenten führen, etwa um Missbräuche durch transnationale Unternehmen umfassend aufzuklären oder anonyme Beschwerdeverfahren einzurichten, und so dazu beizutragen, die „organisierte Unverantwortlichkeit“ (Beck 1988) nach und nach abzubauen.

Literatur

Alexander, C. (2016): When Waste Disappears, or More Waste Please! In: Mauch, C. (Hrsg.): Out of Sight, Out of Mind. The Politics and Culture of Waste. RCC Perspectives, Transformations in Environment and Society, S. 31-39.

Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Beck, U. (1988): Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Boston Consulting Group (2018): Tackling the 1.6-Billion-Ton Food Loss and Waste Crisis. The Boston Consulting Group.

Bradshaw, C. (2018): Waste Law and the Value of Food. In: Journal of Environmental Law 30(2) S. 311–331.

Cloke, J. (2013): Empires of Waste and the Food Security Meme. In: Geography Compass 7/9, S. 622-636.

FAO et al. (2020): The State of Food Security and Nutrition in the World 2020. Transforming food systems for affordable healthy diets. Rom: FAO.

Feedback (2015): Food Waste in Kenya. Uncovering Food Waste in the Horticultural Export Supply Chain. London: Feedback.

Fior Markets (2021): Global Food Waste Management Market. Business Marketing Report.

Gille, Z. (2013): From Risk to Waste: Global Food Waste Regimes. In: The Sociological Review 60(S2), S. 27-46.

Gumbert, T.; Fuchs, D. (2022): Moral Geographies of Responsibility in the Global Agrifood System. In: Hansen-Magnusson, H.; Vetterlein A. (Hrsg.): The Routledge Handbook on Responsibility in International Relations. London/New York: Routledge, S. 153-163.

Gustavsson, J. et al. (2011): Global Food Losses and Food Waste. Extent, Causes, And Prevention. Rom: Food and Agriculture Organization of the United Nations.

United Nations Environment Programme (UNEP) (2021): Food Waste Index Report 2021. Nairobi.

Tobias Gumbert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung der WWU Münster. Er forscht zu Fragen globaler Umweltgovernance und demokratischer Nachhaltigkeitspolitik.

Verflochtene Machtstrukturen


Verflochtene Machtstrukturen

Ökologie, Klima- und Energiepolitik in China

von Anja Senz

Der Beitrag gibt einen Einblick in die aktuelle umwelt- und klimapolitische Situation der Volksrepublik China. Betrachtet werden einerseits die ökologischen Herausforderungen, die aus einer langen Phase des Wirtschaftswachstums resultieren und andererseits die Umsetzungsprobleme in der Umwelt- und Klimapolitik, die sich aus den gegenwärtigen ökonomischen und politischen Strukturen ergeben. Neben den offiziellen klimapolitischen Ambitionen werden unterschiedliche innerchinesische Interessenlagen und Vollzugsdefizite betrachtet, die ein klimapolitisches Umsteuern erschweren.

Die Entwicklungen in China sind seit vielen Jahren Thema in internationalen Debatten zu Umwelt- und Klimaschutz. Als großer Emittent von Treibhausgasen gilt das Land als »Klimasünder« und internationalen Umweltindizes zu Folge hat sich im Zuge der rapiden Wirtschaftsentwicklung in den letzten drei Jahrzehnten die Umweltsituation erheblich verschlechtert. Gesellschaftliche Unzufriedenheit ist ein Resultat des enormen Ausmaßes der Umweltzerstörung. Allerdings ist »Umweltstress« kein neues Phänomen in China. Neben den von Menschen erzeugten Problemen stellen schwierige naturräumliche Gegebenheiten eine Langzeitherausforderung dar. Chinas agrarisch nutzbare Fläche steht seit jeher in ungünstiger Relation zur Bevölkerungsgröße, denn nur etwa 12,5 % des Territoriums ist landwirtschaftlich nutzbar, wobei durch Urbanisierung und Industrialisierung in den letzten Dekaden viele Agrarflächen verlorengingen. Problematisch ist auch die Verfügbarkeit von Wasser: mit sechs Prozent der weltweiten Frischwasserreserven müssen heute knapp 20 % der Weltbevölkerung versorgt werden. Schwer wiegt, dass die Wasserressourcen in Nord-Süd-Richtung ungleich verteilt sind, wodurch der Süden von Wasserreichtum, der Norden jedoch von Trockenheit und häufigen Dürreperioden gekennzeichnet ist. Großprojekte zur Kanalisierung des Wassers nach Norden bewegen die politische Führung daher seit langem.

Die Umweltsituation heute

Luftverschmutzung, ausgelaugte oder mit Schadstoffen belastete Böden und schlechte Wasserqualitäten kennzeichnen China heute landesweit. Besonders die alten Industrieregionen im Nord­osten sowie die Industriezentren am Yangzi- und am Perlflussdelta sind von Emissionseinträgen durch sauren Regen, Chemikalien aus der Landwirtschaft, Industrie- und Bergbauaktivitäten sowie einer ungeregelten Müllbeseitigung betroffen. Großflächige Infrastrukturprojekte, forcierte Ressourcenextraktion, Intensivierung der Landwirtschaft, Urbanisierung, zunehmende Mobilität und Binnenmigration, der steigende Energiebedarf und die Lebensgewohnheiten der wachsenden urbanen Mittelschicht haben als Ausdruck einer auf rasches Wirtschaftswachstum ausgerichteten Entwicklungsstrategie enorme ökologische Konsequenzen.

Bereits Mitte der 2000er Jahre wies die nationale chinesische Umweltbehörde erstmals darauf hin, dass die Steigerung des Bruttoinlandsproduktes durch die Umweltzerstörung aufgezehrt würde, weil die Kosten der Umweltdegradation dem Wert des jährlichen Wirtschaftswachstums entsprächen. Eine aktuelle Weltbankstudie kommt zu einem ähnlichen Resultat. So geraten viele Menschen in finanzielle Not, weil sie die Erträge ihrer verseuchten Böden nicht mehr verkaufen können. Knapp 300 chinesische Städte, deren bisherige ökonomische Basis die Rohstoffextraktion (Kohle, Mineralien, Forstwirtschaft) war, gelten offiziell als »ressourcenerschöpft«. Für Millionen von Menschen bedeutet das den Verlust des Arbeitsplatzes und das Angewiesensein auf staatliche Grundversorgung.

Staat und Gesellschaft

Die Anzahl der (Umwelt-)Proteste hat in den letzten zwei Jahrzehnten stetig zugenommen. Das Internet und neue Möglichkeiten der digitalen Vernetzung erweisen sich als wichtige Informations- und Mobilisierungsinstrumente. Während Effekte des Klimawandels nur in geringem Maße als gesellschaftliche Herausforderung thematisiert werden, rangieren die vielfältigen Umweltprobleme in Umfragen zu den Sorgen der chinesischen Bevölkerung stets auf den vorderen Plätzen. Die Menschen erwarten Lösungen von der Politik (vgl. auch Klabisch und Straube in dieser Ausgabe). Das ist nicht erstaunlich in einem Staat, der der Gesellschaft wenig Freiraum für Debatten und Selbstorganisation lässt und für alle relevanten Fragen Zuständigkeit reklamiert. Doch Chinas Führung hat nicht nur aus Gründen der politischen Stabilität und Legitimation inzwischen ein vitales Interesse an der Verbesserung der Umwelt. Für eine weitere positive ökonomische Entwicklung sind Innovation und die Produktion hochwertiger Güter essentiell. Neue Umwelttechnologien und beispielsweise die Elektromobilität sind mögliche Wege aus der Sackgasse billiger Massenproduktion und ein internationaler Markt mit großem Potential (Senz 2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Dynamiken ab 1978 mit Liberalisierung und Dezentralisierung haben ein politisches System geschaffen, das durch eine Vielzahl von Akteuren mit diversen Eigen­interessen gekennzeichnet ist, die sich in einer komplizierten Matrix aus vertikalen und horizontalen behördlichen Kompetenzen bewegen. Dies erschwert die landesweite Steuerung und Durchsetzung von Politiken, Gesetzen und Mindeststandards und lokale Behörden nutzen die vielfältigen Spielräume für eigene politische Ziele (Senz 2017). Viele Gesetzestexte formulieren nur allgemeine Prinzipien und erweisen sich als lückenhaft im Hinblick auf eindeutige Verantwortlichkeiten. Ein schwaches Rechtssystem vermag die Durchsetzung von Ansprüchen nicht sicherzustellen. Lokaler Protektionismus, Korruption und ein doppeltes Berichtswesen (­Heberer und Senz 2011), in dessen Rahmen inhaltlich variierende Ergebnissen nach oben gemeldet werden sowie eine oft mangelhafte Ausstattung und Qualifikation der lokalen Verwaltungen resultieren in großen Vollzugsdefiziten, gerade auch bei der Implementierung von Umweltgesetzen. Normativ geht Wirtschaft vor Klimaschutz und administrativ erweist sich die Umsetzung umwelt- und klimapolitischer Maßnahmen als kompliziert.

Die Herausforderung der Dekarbonisierung

Etwa 25 % des weltweiten Energieverbrauchs entfallen auf China. Kohlekraft dominiert im chinesischen Energiemix (ca. 58 % in 2019), der Anteil der erneuerbaren Energien liegt derzeit bei ca. 15 %. Während pandemiebedingt der Stromverbrauch in den großen Industrie- und Schwellenländern im Jahr 2020 sank, verzeichnet China weiterhin einen wachsenden Stromverbrauch. Eine Auswertung statistischer Daten ist aufgrund sich teils ändernder Berechnungsgrundlagen u.a. im Bereich der Windenergie sowie der Vermischung mit politischen Zielgrößen (z.B. aus den Fünfjahresplänen) schwierig.

Für die chinesische Ökobilanz wird die langfristige Stromerzeugung über erneuerbare Energien entscheidend sein. Neben der Reduzierung von CO2-Emmissionen durch den Ausbau erneuerbarer Energien und der Verbesserung der Energieeffizienz sowie des Stromnetzes (Yang et al. 2016), ist die Regulierung der heimischen Kohleindustrie von Bedeutung. Eingeleitete, aber oft nur halbherzig umgesetzte Maßnahmen reichen vom Baustopp bei Kohlekraftwerken, strengeren Grenzwerten und Effizienzstandards für Kraftwerke, Importabgaben auf Kohle bis zur angestrebten Deckelung der Kohlekapazitäten bei 55 % im Energiemix.

Doch stellt die Kohleindustrie nicht nur den Löwenanteil der genutzten Energie bereit – etwa die Hälfte der weltweit geförderten Kohle wird in China verbrannt –, sondern war und ist auch ein wichtiger Arbeitgeber. Während strukturell zunächst Staatsunternehmen dominierten, wuchs ab den späten 1970er Jahren die Bedeutung lokaler Minen im kommunalen Besitz. Hiermit konnte der Energiebedarf flexibler gedeckt werden, die kleineren Unternehmen wirtschafteten profitabler, allerdings vielfach um den Preis schwerster Umweltschäden. Neben dem Abbau sind hierbei auch die Effekte des Transportes und der Infra­struktur zu berücksichtigen. Ab den 1990er Jahren waren in der Kohleindustrie nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen sechs und zehn Millionen Menschen direkt beschäftigt (Wright 2012). Die Regulierung dieses Industriezweigs gestaltet sich schwierig: Kleinminen, die aufgrund der gefährlichen Arbeitsbedingungen, ihrer negativen Ökobilanz und der Konkurrenz zu den Großunternehmen in der Kritik stehen, sind zwar in den letzten zwei Jahrzehnten nach und nach geschlossen worden – allerdings mit gravierenden sozialpolitischen Folgen besonders in Regionen, die einseitig von der Kohle abhingen. Auch wirken sich Eingriffe in die Branche auf die Verfügbarkeit von Elektrizität sowie die Strom- und die Verbraucherpreise aus, so dass Regulierungsmaßnahmen auf vielfältige Widerstände stoßen. Häufig werden daher Minen »formal« geschlossen, arbeiten jedoch de facto weiter, wie sich aus nachträglich korrigierten Daten zur Kohleproduktion schlussfolgern lässt.

Klimaschutzambitionen und die Interessen des Energiesektors

Zentral regulierende Akteure des Energiesektors sind die Nationale Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC), die Nationale Energiebehörde (NEA) und das Ministerium für Umwelt und Ökologie (MEE). Mit dem zwölften Fünfjahresplan (2011-2015) wurde der Emissionshandel als marktorientierte Maßnahme zur Steuerung von Emissionen testweise in sieben Pilotstädten eingeführt (Heggelund 2021). Nach Auswertung und Anpassung wurde schließlich im Juli 2021 der Startschuss für den nationalen Emissionshandel gegeben. Der Handel erstreckt sich vorerst nur auf Firmen des Energiesektors mit CO2-Emissionen über 26.000 Tonnen pro Jahr (Raiser, Eckardt und Ruta 2021). Bereits der dreizehnte Fünfjahresplan (2016-2020) deckelte erstmals den Kohleanteil an der gesamten Energieproduktion auf 58 %. Ein Aktionsplan gegen Luftverschmutzung sollte zwischen 2013 und 2017 zur Reduktion von Kohlekraft beitragen, wurde jedoch durch ein Gesetz von 2014, nach dem die Provinzen selbst über die Inbetriebnahme von Kohlekraftwerken entscheiden können, konterkariert. Ein Ampelsystem zur Inbetriebnahme von Kohlekraftwerken, das daraufhin im Jahr 2016 angestrebt wurde, erweist sich als zu unspezifisch.

Neben vertikalen Interessen zwischen der Zentrale und den Regionen spielen auch horizontale Belange eine Rolle. Hier stehen zum Beispiel der nationalen Energiebehörde die Staatsbetriebe und der Elektrizitätsrat gegenüber, der die Stromerzeuger vertritt. Das Umsteuern im Energiesektor ist auch bezüglich der Energiesicherheit tückisch: Stromausfälle in zahlreichen Provinzen über das gesamte Jahr 2021 deuten auf erhebliche Engpässe hin; Unternehmen wurden aufgefordert, den Energieverbrauch während der Spitzenlastzeiten zu reduzieren oder die Anzahl der Betriebstage zu begrenzen. Energieintensive Industrien wie die Stahlindustrie, die Aluminiumverhüttung, die Zementherstellung und die Düngemittelproduktion gehören zu den Unternehmen, die am stärksten von den Ausfällen betroffen sind.

Innovativer Klimaschutz?

Zu innovativen Ansätzen des Klimaschutzes gehören seit 2010 Pilotprojekte im Bereich »kohlestoffarmer Städte« (Low Carbon Cities). In diesen Städten sollen Pläne zur Emissionsreduktion erarbeitet und implementiert werden, um den Menschen einen nachhaltigen Lebensstil zu ermöglichen. Allerdings gibt es keine projektspezifischen Ziele. Eine andere Initiative zur »Grünen Finanzierung« soll große Banken dazu bewegen, nachhaltige Projekte durch Kredite und Fonds zu unterstützen, den Nachhaltigkeitsaspekt in ihre Invest­ment­ent­schei­dungen aufzunehmen und u.a. die Pilotstädte zu unterstützen (­Sandalow 2020, S. 108f.). Bisher ist der Erfolg in den Städten und Provinzen jedoch gering. Vielen lokalen Entscheidungsträger*innen fehlt es an Fachkenntnis, wissenschaftlichen Partnern, oft ist auch die Amtszeit schlicht zu kurz, um langfristige Strategien zu verfolgen (Lo, Li und Chen 2020, S. 109). Weil viele Lokalregierungen vor allem in den ärmeren Landesteilen ihren Arbeitsschwerpunkt auf die Förderung der Wirtschaft legen, ist in den letzten Jahren eine Rezentralisierung eingeleitet worden. Unter diesen Bedingungen vermeiden lokal Verantwortliche jedoch zwecks Reduzierung politischer Risiken oftmals innovative Strategien (Zhang, Orbie und Delputte 2020).

Internationale Klimadiplomatie

Nach langer Zurückhaltung verfolgt die chinesische Regierung seit 2015 offiziell einen neuen Klimakurs und formulierte im Kontext der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCC) als nationale Ziele einige Absichten, darunter vor 2030 den Höhepunkt der Emissionen zu erreichen, den Anteil von nicht fossilen Energiequellen auf 20 % zu erhöhen und die CO2-Intensität im Vergleich zu 2005 um 60-65 % senken. Im Jahr 2020 kündigte Staatspräsident Xi Jinping weiterhin an, China solle bis 2060 klimaneutral werden. Im September 2021 sagte er zu, China werde im Ausland keine Kohlekraftwerke mehr bauen. Bisher hatte die chinesische Regierung die Ausrichtung auf fossile Brennstoffe in den Zielländern zum Beispiel im Rahmen von Auslandsinvestitionen der sogenannten »neuen Seidenstraße« unterstützt und gilt mit Blick auf Bau und Finanzierung als einer der globalen Hauptförderer.

Insgesamt erscheint das Land damit in puncto Klima- und Umweltschutz heute als durchaus ambitioniert, ob angesichts der vielen innerchinesischen Herausforderungen die anvisierten Ziele aber auch umgesetzt werden können, bleibt abzuwarten.

Literatur

Heberer, Th.; Senz, A. (2011): Streamlining local behaviour through communication, incentives and control: a case study of local environmental policies in China. Journal of Current Chinese Affairs 3, S. 77-112.

Heggelund, G. M. (2021): China’s climate and energy policy: at a turning point?. International environmental agreements: politics, law and economics 21, S. 9-23.

Lo, K.; Li, H.; Chen, K. (2020): Climate experimentation and the limits of top-down control: local variation of climate pilots in China. Journal of Environmental Planning and Management 63(1), S. 109-126.

Raiser, M.; Eckardt, S.; Ruta, G. (2021): Carbon Market Could Drive Climate Action. The World Bank. Opinion, 19.07.2021.

Sandalow, D. (2020): Guide to Chinese climate policy 2019. Columbia University Sipa, Center on Global Energy Policy.

Senz, A. (2017): Zwischen zerstörter Umwelt und Ökolabor – Perspektiven einer sozial-ökologischen Transformation in China. In: Brand, K.-W. (Hrsg.): Die sozial-ökologische Transformation der Welt. Ein Handbuch. Frankfurt/M.: Campus, S. 351-372.

Senz, A. (2020): China als Trendsetter in der E-Mobilität? Von Smog, industriepolitischen Ambitionen und dem Statussymbol Auto. In: Brunnengräber, A.; Haas, T. (Hrsg.): Baustelle Elektromobilität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Transformation der (Auto-)Mobilität. Bielefeld: transcript, S. 229-254.

Yang, X. J. et al. (2016): China’s renewable energy goals by 2050. Environmental Development 20, S. 83-90.

Zhang, Y.; Orbie, J.; Delputte, S. (2020): China’s climate change policy: central–local governmental interaction. Environmental Policy and Governance 30(3), S. 128-140.

Anja Senz ist Professorin für gegenwartsbezogene Chinaforschung an der Universität Heidelberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen u.a. auf den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in der chinesischsprachigen Welt sowie Umwelt- und Ressourcenfragen in China.

Mut zur Komplexität


Mut zur Komplexität

BSV-Studientag »Konflikte und Nachhaltige Entwicklung«, online, 30. Oktober 2020

von Krischan Oberle

„Der Zusammenhang zwischen Hunger und bewaffneten Konflikten ist ein Teufelskreis : Krieg und Konflikte können zu Ernährungsunsicherheit und Hunger führen ; Hunger und Ernährungsunsicherheit können latente Konflikte aufflammen lassen und Gewaltanwendung auslösen.“1

Mit diesem Zitat aus der Begründung zur Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreises an das Welternährungsprogramm eröffnete Jakim Essen (Schulministerium NRW) den Studientag und gab damit einen Ausblick auf die zentralen Fragen der Veranstaltung : Wie müssen nachhaltige Entwicklung, Klima und Frieden zusammengedacht werden ? Was hat der Klima­notstand mit weltweiten und regionalen Kon?ikten zu tun ?

Die verschiedenen Inputs und Workshops des Studientages machten dabei immer wieder deutlich, welche komplexen Zusammenhänge zwischen gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitischen Feldern bestehen.

Im Zentrum des Auftaktbeitrages von Prof. Jürgen Scheffran (Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit, Hamburg) stand die These, dass es keinen Frieden ohne eine intakte Natur, aber ebenso keine intakte Natur ohne Frieden geben könne. Prof. Scheffran betonte, dass die heutige Zeit durch eine Anhäufung von Krisen gekennzeichnet sei : Ressourcenmangel, ökonomische Stagnation, atomare Risiken, Pandemien, der Kollaps von Ökosystemen. Die massiv gestiegene Anzahl bewaffneter Konflikte und globale Rüstungsausgaben von fast zwei Billionen US$ seien Indikatoren für diese Krisenhaftigkeit des „von Menschen geprägten Erdzeitalters“.

Der Klimawandel führe zu Risiken für menschliche Sicherheit, sozialer Instabilität und Konflikten. Letztlich komme es laut Prof. Scheffran darauf an, Entscheidungspunkte zu nutzen, um Zukunftspfade hin zu mehr Sicherheit und nachhaltiger Entwicklung zu beschreiten. Strategien gegen den Klimawandel, für die Erhaltung von Ökosystemen sowie für die Prävention von gewaltförmigen Konflikten seien auf allen Ebenen der Wirkungskette möglich. Dabei betonte Prof. Scheffran die folgenden elementaren Bausteine für einen nachhaltigen Frieden :

  • Erhaltung von Natur(ressourcen) und menschlicher Existenz
  • Entfaltung von Fähigkeiten und Entwicklungschancen insbesondere für benachteiligte Personen und Weltregionen
  • Gestaltung einer lebensfähigen und lebenswerten Welt

Prof. Scheffran schloss mit der Beobachtung, dass sich die Welt an einem Scheideweg befinde und eine doppelte Transformation dringend notwendig sei : einerseits im Bereich »Frieden und Sicherheit« und andererseits bei der »nachhaltigen Entwicklung«.

Der Beitrag von Dr. Martina Fischer (Brot für die Welt) fokussierte den Zusammenhang zwischen dem menschengemachten Klimawandel und der Eskalation von Konflikten. Sie erläuterte diesen Zusammenhang am Beispiel von Syrien. Es sei unumstritten, dass Faktoren wie Dürren, Bevölkerungs- und Migrationsdruck einen Einfluss auf die Konfliktdynamik hätten, eine direkte kausalen Verknüpfung könne aber wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden. Es sei jedoch zu befürchten, dass die Zuspitzung »Klimawandel führt zu Krieg«, die „politische[…] Lobbyarbeit für eine bessere Klimapolitik eher beeinträchtigt“, wenn Belege nicht eindeutig angeführt werden könnten, so Dr. Fischer.

Aus ihrer Sicht seien nachhaltige Entwicklung, Klimaschutz und Friedenspolitik zusammenzudenken, da Naturkatastrophen und Extremwetterlagen Lebensgrundlagen zerstörten und Konfliktdynamiken negativ beeinflussen könnten. Daher sei ein Umsteuern in allen Bereichen notwendig. Insbesondere seien zivile Formen der Konfliktbearbeitung zu fördern, um Alternativen zu militärischer Terrorbekämpfung und Migrationsabwehr aufzuzeigen.

Der Zivilgesellschaft komme bei diesen Aufgaben eine besondere Rolle zu : Politikgestaltung müsse kritisch begleitet, Partnerinnen im Globalen Süden bei Anpassungen unterstützt werden.

Der letzte Beitrag des Tages unter dem Titel »Who cares ? Wer kümmert sich um die Welt ?« von Nadine Kaufmann (Konzeptwerk neue Ökonomie, Leipzig) stellte Konflikte um Sorgearbeit in den größeren Kontext von nachhaltiger Entwicklung. Ihr Beitrag betonte den Umstand, dass die gegenwärtige Wirtschaftsweise die Transformation zu einer Post-Wachstumsgesellschaft behindere. Care- oder Sorgearbeit wird hier als eine Form der Arbeit verstanden, mit der sich Menschen a) um sich selbst, b) um andere und c) um die Natur kümmern.

Wie bei einem Eisberg sei in der kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft allerdings nur ein kleiner Teil der Ökonomie sichtbar, in Form von Kapital und Lohnarbeit. Ein großer Teil von Sorgearbeit, Subsistenz, informeller Arbeit, aber besonders auch die Beiträge der Natur sowie in neokolonialen Räumen geleistete Arbeit werde nicht wertgeschätzt, weder ideell noch monetär. Sie werde nur in Bruchteilen und schlecht bezahlt und zu einem sehr großen Teil von Frauen* übernommen. Während ansässigen Frauen durch die Verlagerung von Sorgearbeiten an migrantische Frauen, insbesondere in der Pflege, emanzipatorische Räume ermöglicht würden, entstünden so zeitgleich Versorgungslücken in ökonomisch benachteiligten Weltregionen, die dort wiederum Entwicklungsprozesse erschwerten.

Interaktiv ermöglichte der Beitrag im Anschluss die gemeinsame Identifikation von Chancen für nachhaltige Entwicklung mit den Teilnehmenden. Chancen bestünden demnach in der Überwindung des Wachstumszwangs, einer Umgestaltung der Wirtschaft, wie bspw. die Konversion der Rüstungsindustrie, in Investitionen in entwicklungsrelevante Bereiche und die Abschaffung von Abhängigkeitsstrukturen wie bspw. Fürsorgeketten in der Pflege. Es gehe also um nichts weniger, als eine systemweite Veränderung.

Die Teilnehmenden diskutierten zum Abschluss des Studientages die Bedeutung der in den Beiträgen wiederkehrenden »Komplexität« für Friedensbildung. Es wurde deutlich, dass Friedensbildung weit über die Thematisierung von Krieg und Gewalt hinaus gedacht werden müsse, indem sie zudem Themen wie Klimapolitik, Umweltschutz oder Geschlechterverhältnisse aus einer konfliktsensiblen Per­spektive vermittele. Frieden und Konflikt seien Querschnittsthemen für die Bildung zu nachhaltiger Entwicklung. Allerdings müssten dabei gute Abwägungen zwischen gebotener Komplexität und hilfreicher Vereinfachung getroffen werden, um die Bildungsarbeiter*innen und Teilnehmenden eines Workshops zu »nachhaltiger Entwicklung« nicht konstant zu überfordern.

Der hier entwickelte »Mut zur Komplexität« wird in der Friedensbildung notwendig sein, denn „wir bilden die zukünftige Generation aus, die darüber entscheidet, wie unsere Welt mit den folgenreichen Zusammenhängen von Klimawandel, Armut, nachhaltiger Entwicklung umgeht“, wie es Herr Essen zu Beginn des Studientages formulierte.

Der Studientag wurde vom Netzwerk Friedensbildung NRW ausgerichtet und finanziell von der Stiftung Umwelt und Entwicklung im Rahmen des Projekts »Share Peace« beim Bund für Soziale Verteidigung e.V. (BSV) unterstützt. Eine umfassende Dokumentation des Studientags ist beim BSV erschienen.

Anmerkung

1) Norwegisches Nobelpreiskommittee (2020): Ankündigung des Friedensnobelpreises für 2020. www.nobelprize.org/prizes

Krischan Oberle

Rekolonisierung des Sahel


Rekolonisierung des Sahel

Kapitalistische Akkumulation und westliche Militärinterventionen

von Dolly Katiutia Alima Afoumba

Die Sahelregion wird in den Medien häufig als Pulverfass (»poudrière«) bezeichnet, ein im doppelten Sinne interessantes Sprachspiel: Es verweist einerseits auf die enorme Menge an Waffen und bewaffneten Akteuren in der Region und andererseits darauf, dass sich in diesem Risikogebiet jede Spannung schnell in einen allgemeinen Konflikt verwandeln kann (vgl. Chtatou 2019). Doch die Metapher vom Pulverfass sagt nichts darüber aus, wer das Pulverfass befüllt und wer an seiner Lunte zündelt. Im Folgenden soll der Hypothese nachgegangen werden, dass sich hinter der Hypermilitarisierung des Sahel eine Kampagne der Rekolonisierung verbirgt, vorangetrieben von der zunehmenden Präsenz ausländischer Armeen, erweitert und gefestigt von der darauf folgenden Ansiedlung multinationaler Firmen.

Im Rahmen dieses Artikels möchte ich mich mit einer Form der kolonialen Kontinuität beschäftigen, der westlichen Militärpräsenz in der Sahelzone und der im gleichen Zuge verstärkten Investition ausländischer Firmen eben dort. Mit Blick auf die Sicherheitslage im Sahel haben wir es mit einem sich selbst verstärkenden Teufelskreis zu tun: Westliche Staaten begründen ihr militärisches Engagement im Sahel damit, einer bestehenden Unsicherheit Einhalt gebieten zu wollen. Die neokolonialen Tendenzen der Militärpräsenz ausländischer Staaten auf dem afrikanischen Kontinent werden von terroristischen Gruppen wiederum als Argument genutzt, um ihre Handlungen zu legitimieren und Rekruten aus der Bevölkerung zu gewinnen. Es ist zu beachten, dass terroristische Gruppen in der Sahelzone auch deshalb so stark gewachsen sind, weil sie auf das Versagen der lokalen Regierungen hinweisen, die Sicherheit der Bevölkerung nicht gewährleisten zu können. In der ausländischen Militärpräsenz auf ihrem Boden sehen sie einen Beweis für die erzwungene Rekolonisierung des Gebiets. Dies lässt sich am Beispiel von Boko Haram (»Westliche Bildung ist eine Sünde«) oder der »Bewegung für die Einheit und Dschihad in Westafrika« (MUJAO) sehen, bekannt für ihren antiwestlichen Radikalismus: „Dies materialisierte sich in ihren unablässigen Feindseligkeiten gegen die Westler mit der beispiellosen Verun­glimpfung ihrer kulturellen und zivilisatorischen Werte“ (Sarambe 2018, S. 57).

Zum Verständnis dessen, was in der aktuellen Krise in der Sahelzone wirklich auf dem Spiel steht, sollte man sich folgendes Zitat von Kwame Nkrumah aus seiner Rede vor dem Plenum der OUA am 24. Mai 1963 vor Augen halten: „Dies ist der große Plan der imperialistischen Interessen, die den Kolonialismus und Neokolonialismus stärken, und wir werden uns selbst auf die grausamste Weise täuschen, wenn wir ihre individuellen Handlungen als getrennt und nicht miteinander verbunden betrachten.“ (Nkrumah 1963) Wie Chems Eddine Chitour genauer ergänzte: Die westliche Welt und selbst die Schwellenländer haben keine Bedenken, die alten Länder wieder zu kolonisieren.“ (Chitour 2013) Die starke ausländische Militärpräsenz in der Sahelzone und die gehäufte Ansiedlung von Firmen sprechen eine deutliche Sprache.

Ursachen und alternative Lösungen

Die Staaten in der Sahelregion haben ihren Teil der Verantwortung für den Anstieg der Unsicherheit zu tragen, insbesondere durch die Verbreitung von Waffen als Folge von Bürgerkriegen und Militärputschen. In Mali zum Beispiel haben terroristische und widerständige Gruppen vom Militärputsch gegen Präsident Touré 2012 profitiert, um den Norden des Landes zu besetzen (Sarambe 2018, S. 62). Die politische Instabilität und die dadurch resultierende Militarisierung des Sahel förderte die Verbreitung von terroristischen Gruppen wie Ansar Dine, MUJAO und Al Mourabitoun.

Häufige Dürren und Nahrungsmittelkrisen, staatliche Korruption und Diktatur tragen zur Unsicherheit in der Region erschwerend bei. Wie Achille Mbembe es zusammenfasste, haben diese Länder auch immer noch Schwierigkeiten, „die Kunst der Politik von der Kunst des Kriegs zu trennen“ (Mbembe 2011). Ihre Systeme sind stark durch militärisch-autokratische Parteien beeinflusst.

Trotz dieser Probleme ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich die Staaten der Region insofern von westlichen Akteuren unterscheiden, als sie versucht haben, die Sicherheitskrisen auch auf diplomatischen Wegen zu lösen. Allerdings torpedieren westliche Mächte diese Wege immer wieder und halten die Staaten des Sahel so in militärischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit.

Am Beispiel Nigers lässt sich dies gut illustrieren: Im Jahr 2016 beschloss die Regierung Nigers, ihren militärischen Kampf gegen »Boko Haram« zu verändern und den »Reumütigen« unter ihren Kämpfern »die Hand entgegenzustrecken«, indem sie ihnen Amnestie anbot (vgl. Abba 2017). Ein Jahr später, im März 2017, öffnete das Land auch den rechtlichen Weg der Terrorismusbekämpfung, indem es fast 1.200 ehemalige Rebellen vor Gericht stellte. Die militärische Lösung wird gerne damit gerechtfertigt, dass „man mit Terroristen nicht verhandeln kann“. Allerdings, durch regelmäßige Entführungen und Geiselnahmen zeigen die Rebellengruppen eher, dass ein Dialog nicht ausgeschlossen wird. Auf diese Entführungen folgen denn auch Verhandlungen mit ausländischen Mächten, um die Freilassung von inhaftierten Rebellen zu fordern. Hier lässt das Vorgehen westlicher Mächte die Anstrengungen lokaler Regierungen wirkungslos werden, denn „viele europäische, südamerikanische und asiatische Regierungen zahlen Millionen Euro für die Befreiung ihrer Bürger. Bestimmte Mächte, wie Frankreich betreiben Lobbyarbeit bei den Sahelstaaten, um die Freilassung ihrer Bürger im Austausch gegen inhaftierte Terroristen zu erreichen“ (Sarambe 2018, S. 69). So kommt es oft zu drastisch ungleichen Verhältnissen. Das jüngste Beispiel hierfür ist die Freilassung von 200 verdächtigten Terroristen in Mali im Austausch für die Befreiung von vier westlichen Geiseln (vgl. DW 2020).

Ein großer Teil der Refinanzierung und Verstärkung von Terrorgruppen stammt daher aus der Leichtigkeit, mit der einige Staaten in der Lage sind, Millionen für die Freilassung ihrer Geiseln zu zahlen und auch aus dieser Art von unverhältnismäßigem Gefangenenaustausch. Die Verhandlungsbereitschaft allerdings zeigt, dass es durchaus möglich ist, dialogorientierte Mechanismen zur Lösung der Sicherheitskrise im Sahel zu entwickeln. Der vom Westen favorisierte militärische Ansatz kann nicht die einzige Lösung sein, er verfestigt viel eher den Teufelskreis der Unsicherheit im Sahel.

Was den bewaffneten Einsatz betrifft, so hat sich die G5 Sahel (Tschad, Mali, Niger, Burkina Faso, Mauretanien) verpflichtet, eine afrikanische Armee zur Bekämpfung des Terrorismus zu bilden. Diese Initiative wird allerdings nicht von den westlichen Mächten unterstützt. Insbesondere die USA und Großbritannien scheinen die Initiative abzulehnen, da sie den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufforderten, die Finanzierung dieser Armee abzulehnen. Dies bringt die herablassende Haltung der Vormundschaft der westlichen Mächte gut zum Ausdruck, die es vorziehen, afrikanische Regierungen durch ihre Finanzen und ihre eigenen Armeen zu kontrollieren. Das führt uns zu der Frage, welche Interessen der Westen im Sahel verfolgt.

Ausländische Militärpräsenz in der Sahelregion

Der westliche Interventionismus, auch wenn er offiziell mit dem Schutz der Menschen(rechte) legitimiert wird, wird dennoch von Zielen der geopolitischen Einflussnahme und der »Sicherung« von Rohstoffen geleitet. Das gilt auch für die militärische Präsenz ausländischer Mächte in der Sahelzone.

Angesichts der Schwierigkeiten der westlichen Staaten, im Nahen Osten im Wettlauf um Rohstoffe mithalten zu können, kann die ausländische Militärpräsenz im Sahel als Ausweichbewegung des Westens hin zu »neuen Ressourcenquellen« gesehen werden. Laut Mahdi Taje, besteht das Ziel der ausländischen Mächte in der Sahelzone darin, „sich innerhalb dieses strategischen Korridors zu positionieren, um ihre Versorgung mit […] energetischen und mineralischen Stoffen zu sichern; in Richtung des Golfs von Guinea für Amerika, der Sahara und des Mittelmeers für Europa und schließlich des Roten Meeres für Asien.“ (Algeria-Watch 2012). Ein Bericht des US-Rats für Auslandsbeziehungen aus dem Jahr 2005 weist bereits auf die Chance hin, die Afrika zukünftig für die Energieversorgung des Landes darstellen wird: „Bis zum Ende des Jahrzehnts (2000) wird Afrika südlich der Sahara wahrscheinlich eine ebenso wichtige Quelle für US-Energieimporte werden wie der Nahe Osten. In Westafrika gäbe es etwa 60 Milliarden Barrel an nachgewiesenen Ölreserven.“ (Fodé 2010) Im Jahr 2013, dem Jahr der Militäroperation »Serval« in Mali, legte der französische Senat dann auch einen Bericht vor, der von der Arbeitsgruppe „Frankreichs Präsenz in einem begehrten Afrika“ erstellt wurde. In ihrem Bericht forderte sie „einen sicheren Zugang zu Energie- und Bergbauressourcen zu gewährleisten“ (Rigouste 2017).

Die Sahelzone bietet dafür enorme Kapazitäten. Sie ist ein Glücksfall für die Goldindustrie, die die Goldvorkommen in Burkina Faso und vor allem in Mali (die drittgrößte Reserve Afrikas) ausgiebig nutzen kann. Mit neu entdeckten Ölvorkommen im Tschad und in Mauretanien (z.B. im Taoudéni-Becken) bietet der Sahel zudem einen großen Spielraum bei der Extraktion von Gasvorkommen und Öl. Ebenso bestehen enorme Kapazitäten in Bezug auf Uran, Diamanten, Phosphat, Bauxit, Plutonium, Mangan und Kobalt. All diese natürlichen Ressourcen machen die Region zu einem Ort der Begierde.

Frankreichs Interessen im Sahel

Nachdem die französischen Militärinterventionen der frühen 2000er Jahre in Afrika, insbesondere in der Elfenbeinküste, in Zentralafrika und in Libyen, enorme Kritik auf sich gezogen hatten, erklärte das Land, es wolle mit seiner Vergangenheit in Afrika und vor allem mit seinem Ruf als Neokolonisator brechen. François Hollande sagte im Oktober 2012 in Dakar vor dem Nationalrat Senegals, er wolle „rompre avec la Françafrique“ („mit der Idee von Françafrique brechen“).

Die Ankündigung des französischen Präsidenten im Januar 2013, militärisch im Kampf gegen den Terrorismus in Mali zu intervenieren, wurde daher von der Öffentlichkeit mit großer Überraschung und Kritik aufgenommen. Diese Intervention wurde deswegen als imperialistisch bezeichnet, weil es sich nicht um einen indirekten Eingriff handelte (z.B. Versorgung malischer bzw. sahelischer Truppen mit Kampflogistik), sondern vielmehr direkt Tatsachen schaffte mit der Entsendung französischer Truppen vor Ort. Dies nachdem Hollande nicht einmal ein halbes Jahr zuvor versprochen hatte, dass „es niemals französische Truppen vor Ort geben würde“.

Ein weiteres kompromittierendes Moment ist die Tatsache, dass Frankreich nicht auf die Zustimmung der Vereinten Nationen wartete, um zunächst die Militärmission »Serval« (2013) und dann »Barkhane« (2014) zu entsenden. Laut der malischen Aktivistin Amina Traoré nutze Frankreich den Anti-Terror-Kampf aus, um sich an dem Land zu rächen, nachdem die französische Armee am 20. Januar 1961 vom damaligen Präsident Modibo Keita vertrieben wurde (Tchangari 2017, S. 21). Die Aktivistin prangert eine exzessive Ausweitung der militärischen Präsenz des ehemaligen Kolonisators in dem Gebiet an.

Laut Michel Galy war die französische Intervention in Mali „geopolitischer Natur: Es geht darum, dass Frankreich einen Einflussbereich in Afrika aufrechterhält, auch wenn dies bedeutet, Staaten unter Vormundschaft zu stellen und illegitime Regierungen zu unterstützen“ (Galy 2013, S. 89). Es ist daher nicht überraschend, dass seit der Operation »Serval« die französischen Militäraktionen in andere Länder der Sahelzone (Niger, Burkina Faso) ausgeweitet wurden.

Der französische Präsident Macron sagte gar zu, dass „die Operation Barkhane erst an dem Tag enden wird, an dem es keine islamistischen Terroristen mehr in der Region geben wird“ (Granvaud 2017). Laurent Bigot, ehemaliger Diplomat, wird mit der Antwort zitiert, dass man: „mit einer solchen Ankündigung (…) einen 100-Jahres-Pachtvertrag für Barkhane“ unterschreibe (ebd.). Seit der Stationierung französischer Truppen setzen aber weiterhin terroristische Gruppen die sicherheitspolitische Agenda und sind noch einflussreicher als zuvor.

Die US-amerikanischen Interessen im Sahel

Die Stationierung amerikanischer Soldat*innen in der Sahelzone folgt ebenso der Logik des Schutzes strategischer Interessen: Sicherung des Zugriffs auf Energieressourcen und der Kampf gegen terroristische Gruppen. Der Einsatz der USA kombiniert finanzielle Hilfe, fokussiert auf die Sicherheitsprogramme afrikanischer Länder, mit der militärischen Präsenz vor Ort. Dazu zählen eine Militärbasis in Ouagadougou, Burkina Faso; Trainingslager für ausländische Söldner in Libyen; je eine Basis für Überwachungsdrohnen im nördlichen und südlichen Afrika in Niamey, Niger; sowie im erweiterten Sinne Militärflugzeuge, Mitglieder der US Navy Special Forces, AFRICOM und sogar CIA-Geheimdienstler in Europa, die jederzeit bereit sind, in der Sahelzone zu intervenieren.

Es ist nur ein scheinbares Paradox, wie sich die US-Regierung verhält mit ihrem militärischen und finanziellen Einsatz für den Anti-Terror-Kampf und dem gleichzeitigen Veto im UN-Sicherheitsrat gegen die Gründung einer unabhängigen afrikanischen Armee, die die Führung im Kampf gegen Terrorismus im Sahel hätte übernehmen sollen. Denn in diesem scheinbaren Paradox steckt der Wunsch, diese Länder unter westlicher Vormundschaft zu halten und ihnen eine externe militärische Präsenz und finanzielle Hilfe aufzuzwingen. Darin liegt der neokoloniale Aspekt der amerikanischen Militärpräsenz in der Sahelzone.

Neokolonialismus im Sahel: Rohstoffsicherung und Firmenexpansionen

Wie im Nahen Osten scheint der Krieg seit der militärischen Stationierung des Westens in der Sahelzone endlos zu werden. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass diese Hypermilitarisierung der Region von der Ansiedlung multinationaler Firmen begleitet wird.

Wie in der Kolonialzeit ist die Eroberung von Land nicht nur von der Suche nach Rohstoffen motiviert, sondern auch von der Suche nach neuen Märkten. Die Länder des Sahel bieten nicht nur Möglichkeiten zur Ausbeutung ihres Naturreichtums, sondern auch menschlicher (Arbeitskraft) und finanzieller (Markt) Ressourcen. Wie Nkrumah es voraussagte, sind die kolonialen Mechanismen unverändert geblieben.

An einigen exemplarischen Beispielen im Falle von Frankreich lässt sich das verdeutlichen: Frankreich hat beispielsweise den zweithöchsten Uranverbrauch der Welt, aber seit einigen Jahren gar keine eigene Produktion mehr im Lande. Allerdings kann Frankreich dank seines Unternehmens »Areva« (heute: »Orano«) seit 2012 seine Position als zweitgrößter Uranproduzent der Welt halten (vgl. World Nuclear Association 2020). Das französische Unternehmen sieht sich einer starken ausländischen Konkurrenz gegenüber (Kazatomprom, Kasachstan; Cameco, Kanada) und unternimmt daher große Anstrengungen, um Märkte zu besetzen oder sein Interesse zu schützen.

Der französische Konzern fördert vor allem Uranabbau in den Arlit-Minen in Niger. So wundert es nicht, dass der Schutz seiner wirtschaftlichen Interessen und seiner Energieversorgung eine der Motivationen für die militärische Intervention des Landes in der Sahelzone war. General Vincent Desportes gab dies auch offen zu: „Wenn Frankreich am 11. Januar 2013 (in Mali) keine Verpflichtung eingegangen wäre, hätten die größten Risiken […] für die sehr wichtigen Uranvorkommen in Niger bestanden“ (Chitour 2018). Trotz seines Urans bleibt der Niger am Ende der Rangliste der ärmsten Länder der Welt. Es handelt sich also um einen Reichtum, der nicht der Staatskasse zugutekommt, sondern den Firmen, die ihn ausbeuten.

Frankreich ist durch das Unternehmen »Total« auch an der Erdölförderung und der Förderung der Solarenergie in Mauretanien und Burkina Faso beteiligt. Im Jahr 2012 hatte »Total« angekündigt, „zwei Genehmigungen zur Erdölförderung mit den mauretanischen Behörden im Becken von Taoudéni unterzeichnet zu haben“ (Algeria-Watch 2012). Nicht wenige Analyst*innen sehen auch in diesem Engagement einen weiteren Grund für die französischen Interventionen der letzten Jahre.

Auch die Konsument*innen haben französische Konzerne im Blick, wie beispielsweise der Telekommunikationsanbieter »Orange«, der 2017 schon 110 Millionen Kund*innen in Afrika gegenüber 6,4 Millionen im Jahr 2004 vorweisen konnte (Piot 2017) oder erst kürzlich die Supermarktkette »Carrefour«, die sich allmählich in Ländern niederlässt, in denen eine entstehende Mittelschicht und eine beschleunigte Urbanisierung genügend potenzielle Kund*innen versprechen.

Die gehäufte Ansiedlung ausländischer Firmen auf afrikanischem Boden wird nicht immer wohlwollend betrachtet, weil sie keinen Platz für lokale Firmen lassen, die ebenfalls in diese Sektoren einsteigen möchten. Die multinationalen Konzerne dagegen profitieren von den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die Frankreich den afrikanischen Ländern aufgezwungen hat, und von der Verwendung der Kolonialwährung, dem Franc-CFA.

In der Tat gewähren die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen den multinationalen Konzernen eine Steuerbefreiung von fast 80 %; so können sie mit viel Freiheit in den westafrikanischen Markt expandieren, während die Einheimischen gezwungen sind, Steuern an den Staat zu zahlen und wegen Franc-CFA Beschränkungen kaum Subventionen von den Banken erhalten, um ihre Produktionskapazitäten zu erhöhen.

Die externalisierte Ausbeutung von Arbeitskräften durch den Imperialismus lässt sich am Beispiel von »Orano« in Niger gut illustrieren, denn diese ruft in der afrikanischen Öffentlichkeit viel Kritik hervor. Im Gespräch mit Matteo Maillard (2018) porträtiert die Regisseurin eines Films über die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Uranminen Nigers, Amina Weira, eine übermächtige »Orano«, gegen die aus Angst vor Repressionen nichts gesagt werden darf. Im Interview erzählt sie vom vergifteten Trinkwasser, den Häusern, die mit der Erde aus den Minen gebaut wurden, der verseuchten Nahrung und dem sterbenden Vieh. Sie schildert die unerträglichen Arbeitsbedingungen, das Schicksal der Mitarbeiter, die an den Folgen der Radioaktivität erkranken und sterben, das Leid der durch die Verschmutzung der Fabrik kontaminierten Frauen, die keine Kinder bekommen können oder Kinder mit Missbildungen haben. Sie spricht auch über den politischen Einfluss des staatlich geschützten Konzerns, der ohne Rücksicht auf internationale Gesundheitsforderungen produziert. Neben Amina Weira beklagen auch einige Nichtregierungsorganisationen wie »Aghir In‘man« und die »Kommission für unabhängige Forschung und Information über Radioaktivität« (CRIIRAD), dass die lokale Bevölkerung in den Uranabbaugebieten den schädlichen Auswirkungen der Radioaktivität ausgesetzt ist.

Diese Beispiele verdeutlichen eindrücklich, warum die Stationierung ausländischer Firmen und die westliche Militärpräsenz in der Sahelregion Misstrauen bei der Bevölkerung und den Rebellengruppen erzeugt, die darin die Rekolonisierung der Region sehen. Angesichts dieses imperialistischen Raubzugs können wir nur für ein vereintes Afrika eintreten, denn, wie Nkrumah weiter sagte, „der Kampf gegen den Kolonialismus endet nicht, wenn die nationale Unabhängigkeit erreicht ist. Diese Unabhängigkeit ist nur das Vorspiel zu einem neuen und komplexeren Kampf … für die Rückgewinnung des Rechts, unsere wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten selbst zu regeln, frei von den überwältigenden und demütigenden Fesseln neokolonialer Herrschaft und Intervention“ (Nkrumah 1963).

Literatur

Abba, S. (2017): Niger: La victoire sur Boko Haram ne sera pas que militaire. LeMonde, 16.04.2017.

Algeria-Watch (2012): Instabilité dans la région du Sahel. Les ressources minières et énergétique attisent les convoitises. 30.04.2012.

Chitour, Ch. E. (2013): Les huit plaies de l‘Afrique. Cinquante ans d‘errance. L‘Expression, 11.06.2013.

Chitour, Ch. E. (2018): Grande bouffe du Sommet de l’Afrique: Un coup d’épée dans l’eau. Mondialisation.ca, 23.11.2018.

Chtatou, M. (2019): Sahel, poudrière internationale. Article 19.ma, 02.12.2019.

Deutsche Welle (DW) (2020): Mali. 4 hostages released in ‚prisoner swap‘. 08.10.2020.

Fondé, D.R. (2010): Otages, Areva, Total, Africom: Les enjeux cachés d’une occupation militaire du Sahel. Mondialisation.ca, 15.12.2010.

Galy, M. (2013): Pourquoi la France est-elle intervenue au Mali? In: (Ders.) (Hrsg.): La Guerre au Mali. Comprendre la crise au Sahel et au Sahara. Enjeux et Zones d’Ombre. Paris: La Découverte, S. 76-90.

Granvaud, R. (2017): Barkhane.Chronique d’un naufrage annoncé. Survie, Billets d‘Afrique No. 268, 05.06.2017.

Maillard, M. (2018): Niger. „A Arlit, les gens boivent de l’eau contaminée par la radioactivité“ Le Monde Afrique, 26.02.2018.

Mbembe, A. (2011): „En Côte d’Ivoire, c’est une démocratie sans éthique qui se construit“, Interview mit Sabine Cessou, Slate Afrique, 22.06.2011.

Nkrumah, K. (1963): Speech at the inaugural ceremony of the OAU Conference in Addis Ababa, Ethiopia, »We must unite now or perish«, 24.05.1963.

Piot, O. (2017): Les entreprises françaises défiées dans leur pré carré. Le monde diplomatique, April 2017, S. 22f.

Rigouste. M. (2017): Que fait l’armée française au Sahel? OrientXXI, 13.10.2017.

Sarambe, L. A. (2018): Les Mécanismes De Lutte Contre Le Terrorisme En Afrique De L’ouest: Quel Impact? Masterarbeit an der Universität von Ottawa.

Tchangari, M. (2017): Sahel. Aux origines de la crise sécuritaire. Conflits armés, crise de la démocratie et convoitises extérieures, Niamey.

World Nuclear Association (2020): World Uranium Mining Production. www.world-nuclear.org, Dezember 2020.

Dolly Katiutia Alima Afoumba hat einen Master in Geschichte und Friedens- und Konfliktforschung. Derzeit promoviert sie an der Philipps-Universität Marburg im Fachbereich Neue Geschichte. Als Aktivistin und Journalistin gibt sie Workshops und schreibt über (Neo-)Kolonialismus in der afrikanischen Wirtschafts- und Währungspolitik.

Der Fluch des »Ressourcenfluchs«


Der Fluch des »Ressourcenfluchs«

Postkoloniale Bedenken zu ökonomischem Determinismus

von Jasper A. Kiepe

Bewaffnete Konflikte im Globalen Süden, insbesondere in Afrika, werden oft mit einem angeblichen »Ressourcenfluch« in Verbindung gebracht. Dieser Begriff ist problematisch, da er in einer rassistischen Tradition steht und vorgibt, das Problem sei im afrikanischen Boden verwurzelt. Zudem macht der Wortgebrauch die kapitalistische Ausbeutung, auf der die Ressourcenausbeutung basiert, sowie die damit verbundene koloniale und neokoloniale Gewalt unsichtbar. Der Begriff steht so einer holistischen Betrachtung von Konflikt, die auch Kritik an den Prämissen des weltweiten Marktes beinhaltet, im Weg.

Bewaffnete Konflikte im Globalen Süden, und damit auch in Subsahara-Afrika, werden oft unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Die unter dem Stichwort »Ressourcenfluch« bekannt gewordene Theorie wurde geprägt von Autor*innen wie Humphreys, Sachs und Stiglitz (2007) sowie Collier (z.B. in Bannon und Collier 2003; Collier und Hoeffler 2004). Sie besagt, in aller Kürze, dass das Vorkommen von Rohstoffen, insbesondere Mineralien und Erdöl, die Entwicklung in Ländern des Globalen Südens hemmt und Konflikte begünstigt.

Kritische Wissenschaftler*innen verweisen dagegen auf die Überbewertung wirtschaftlicher Faktoren und die mangelnde Komplexität der Theorie, die insbesondere wenig Raum für nuancierte Erklärungen multidimensionaler Konflikte lässt (Vogel und Havenith 2014). Andere Autor*innen hinterfragen die Beziehung zwischen der Hypothese des »Fluchs« und den verwendeten empirischen Daten, sowie die Übertragbarkeit der Theorie auf beliebige Staaten (Di John 2011).

Das Bild vom »Ressourcenfluch« hält sich allerdings in der journalistischen Berichterstattung und den Populärwissenschaften – z. B. im Artikel »Der Afrikanische Fluch« in der ZEIT (Berbner, Henk und Uchatius 2018). Hier werden zunächst bedeutungsschwere Fragen aufgeworfen: u.a. „Was ist geschehen, das Afrika so verlassenswert macht?“. Diese werden dann (voller Klischees) in direkten Zusammenhang mit dem Ressourcenfluch gestellt. Auch in der populären Kultur, z.B. im Theaterstück »Das Kongo-Tribunal« (2017) und spätestens seit den Hollywood-Filmen »Blood Diamond« (2006) oder »Lord of War« (2005), hat sich das Bild von den »Blutdiamanten« beim europäischen Publikum verfestigt und sogar die Terminologie des Kimberley-Prozesses, dem internationalen Abkommen über die Ausweisung der Herkunft von Diamanten, geprägt (Vogel und Havenith 2014).

Der Mythos des »Ressourcenfluchs«

Der Begriff »Ressourcenfluch« ist zwar eingängig, aber dennoch aus einer Vielzahl von Gründen problematisch, nicht zuletzt aufgrund der Sprache: »Fluch« (engl. curse) behauptet hier einen von außen zugeschriebenen, pseudo-spirituellen Determinismus, der an eine lange Tradition orientalisierender, rassistischer Außenbezeichnungen anknüpft (Mazrui 2005) und Afrika als einen dunklen, bedrohlichen Ort portraitiert, an dem selbst Reichtum zum Fluch wird.

Die vermeintliche Schicksalshaftigkeit des »Fluchs« verlegt die Verantwortung nach Afrika und macht ihn zu einem Phänomen des Globalen Südens – die Folgen kolonialer und neo-kolonialer Praktiken werden zu einem afrikanischen Problem. Dabei wird nur gelegentlich das Augenmerk auf die Rolle früherer Kolonialmächte oder ihrer Unternehmen gerichtet und dies, ohne die Problematik der damit verbundenen Ausbreitung der globalen Weltwirtschaft anzusprechen. Diese Verschiebung spiegelt eine koloniale Fantasie: dass die Gründe für Krieg, Korruption und Elend quasi im afrikanischen (oder generell tropischen) Boden liegen. Dies ist eine Reproduktion rassistischer, kolonialer Stereotype, die die Menschen Afrikas als »brutale Wilde« darstellten. Gleichzeitig untermauert diese Sicht das problematische – und widerlegte – Klischee vom verarmten, chancenlosen, homogenen Kontinent Afrika.

Ökonomische Kritik des Begriffes

Neben der sprachlichen Problematik des Begriffes, gilt es auch die ökonomische Analyse hinter dem Begriff zu kritisieren. Die gewaltsame Kolonialisierung Afrikas war vor allem ein kapitalistisches Projekt, und dieses hat tiefe Wurzeln geschlagen. Diesen Ursprüngen wird allerdings in vielen Forschungsprojekten und Literatur über die Situation Afrikas keine Aufmerksamkeit entgegengebracht und wenn, dann in einer anderen Verpackung (z.B. Armut; siehe Wiegratz 2018). Die Verantwortung für die Auswirkungen des »Ressourcenfluchs« wird »Afrika« zugeschoben.

Ein solcher Fluch muss aber dazu einladen, über Kapitalismus und Ausbeutung zu sprechen, genauer: über Neokolonialismus. Schon 1965 kritisierte der erste Präsident Ghanas, Kwame Nkrumah (1965, S. IX), „dass das wirtschaftliche System und dadurch die Politik eines Staates von außerhalb kontrolliert sind“.

Somit müssten auch die Triebkräfte des Marktes, die Verantwortung der (nicht nur) europäischen Konsument*innen oder die Verantwortung ehemaliger Kolonialmächte in den Fokus der Analyse gestellt werden. Beispielhaft berechnete ein Bericht einiger Nichtregierungsorganisationen für das Jahr 2014 einen jährlichen Finanzzufluss von 134 Mrd. US$ nach Afrika, vor allem in Form von Krediten, Investitionen und Entwicklungshilfe, bei einem gleichzeitigen Abfluss von 192 Mrd. US$ in Form von Profiten (Health Poverty Action et al. 2014). Dies deutet auf etwas anderes als einen »Ressourcenfluch« hin.

Überdies wird Afrika immer noch als europäisches Privileg verstanden. Die zeitgenössische Sorge über die »chinesische Expansionspolitik«, die sich häufig in populären Debatten findet, ist besonders interessant, scheint sie doch oft nicht Sorge über die Selbstbestimmtheit moderner afrikanischer Staaten zu sein, sondern vielmehr Sorge in Bezug auf »europäische Interessen« in Afrika. Die problematische Rolle europäischer Unternehmen und europäischer Entwicklungshilfe, die oft Hand in Hand mit politischen Forderungen kommt, wird dagegen verharmlost. Häufig wird auch unterschlagen, dass vielerorts Menschen von chinesischen Investitionen profitieren (van Mead 2018). Es scheint sich vielmehr um eine »Gefahr-im-Osten-Rhetorik« zu handeln, die der des »Kalten Krieges« ähnelt; eines Krieges der in den oft vergessenen Stellvertreterkriegen in Angola, in der Demokratischen Republik Kongo oder in Mosambik erschreckend heiß wurde (de Souza 2016).

Der Fluch der Armut: (k)ein Problem Afrikas

Die Bezeichnung »Ressourcenfluch« vernachlässigt außerdem, dass nicht die Ressourcen selbst das Problem darstellen, sondern dass in Regionen, die von struktureller Ungleichheit geprägt sind, Konflikte durch die Dynamik des Marktes (z. B. die Nachfrage nach wertvollen, seltenen Ressourcen) angefacht werden können.

Die Beteiligung am globalen Weltmarkt wurde Afrika in kolonialer Zeit zwangsverordnet. Moderne strukturelle Probleme resultieren aus dieser Zwangsverordnung und sind in der postkolonialen Epoche institutionell verankert in Form von internationalen Organisationen, transnationalen Handelsregimen und auch der Entwicklungshilfe. Zudem werden die Internationalen Organisationen Weltbank und Internationaler Währungsfonds seit Langem heftig kritisiert, u.a. wegen der Untergrabung demokratischer Strukturen in Förderländern oder wegen Menschenrechts- und Nachhaltigkeitsbedenken bei Projekten, und das nicht nur in Subsahara-Afrika (für einen Überblick vgl. Bretton Woods Project 2019).

Der Anschluss postkolonialer Staaten Afrikas an internationale Märkte ist für diese prägend und, so schreibt der Ökonom Kenneth Amaeshi (2015), „stimmt nicht immer mit den Bedürfnissen von Menschen in Afrika überein. Es bleibt übermäßig beeinflusst und wird von Agenden außerhalb des Kontinents bestimmt – ob das nun Europa oder die neuen Weltmächte (zum Beispiel China) sind. Auch wenn die früheren Kolonialmächte sich auf dem Papier verabschiedet haben: Kapitalismus in seiner heutigen, institutionalisierten Form ist ein Exportgut der Kolonialzeit und in modernen Institutionen (politischen Systemen, Regierungen, Bildungssystemen etc.) fest verankert. Die Theorie des »Ressourcenfluchs« lässt außer Acht, dass die Prämissen für Konflikt nicht endogen sind, sondern erst durch ein kapitalistisches System erzeugt wurden.

Diese Kritik ernst zu nehmen hieße, Armut und Chancenlosigkeit als eine problematische Folge des globalen Kapitalismus zu benennen, und diese nicht als ein »Problem Afrikas« zu sehen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Afrika ist nicht per se arm oder chancenlos und war es nie. Weder in einer, in Europa oft vergessenen und als ahistorisch jeder ernsthaften Analyse entzogenen, vorkolonialen Zeit noch seit Beginn des von Anfang an auf Widerstand stoßenden Kolonialismus. Auch die postkoloniale Gegenwart des 21. Jahrhunderts unterliegt der Dynamik von Jahrhunderten systematischer Ausbeutung, Gewalt und kolonialer Vernichtungspolitik, die schwer zu überkommen sind und z. B. in der Demokratischen Republik Kongo in den Tagen nach der Unabhängigkeit durch kleptokratische Eliten fortgeführt wurden (Stearns 2012, S. 338).

Die fragile Gegenwart

Nun bedarf es nicht unbedingt »­großer« Armut und Chancenlosigkeit, um Konflikte zu begünstigen. Es reicht, dass einige Menschen sehr wenig haben – es handelt sich eher um ein Klassen- und Stratifizierungsproblem mit hohem Konfliktpotential. Armut und Chancenlosigkeit sind nicht primär Ursache von bewaffnetem Konflikt, sondern zunächst Symptom des Kapitalismus.

Die Kivu-Region in der Demokratischen Republik Kongo wird oft zitiert als Beispiel für den »Ressourcenfluch« und tatsächlich spielen ökonomische Dimensionen in den Konflikten, die die Region erschüttern, eine große Rolle: Das Land leidet in manchen Teilen unter strukturellen Ungleichheiten, Armut und dem Fehlen kritischer Infrastruktur. Hinzu kommen jedoch auch allerhand weitere Faktoren: mehrere Ebola-Epidemien (die von einigen Autor*innen auch eng mit dem Ressourcenfluch in Zusammenhang gebracht werden; Garrett 2019), Naturkatastrophen, koloniale Geister und ein eingeschränkter zivilgesellschaftlicher Raum. Klar ist, dass die Ursachen von Konflikten in dieser Region extrem komplex sind und sich häufig einer schematischen Betrachtung entziehen (vgl. Kalyvas 2003). Die Fluch-Terminologie dagegen simplifiziert komplexe Konfliktursachen, reproduziert antiquierte »Finsternis«-Metaphern und objektifiziert Menschen als »Verfluchte«, anstatt einer differenzierten Analyse struktureller Probleme – und damit auch einer differenzierten Betrachtung von Konflikt selbst Raum zu geben.

Hinzu kommt die mit dem Fluch verbundene Kurzsichtigkeit, die Menschen ihre Handlungsfähigkeit abspricht. Der Anfang einer differenzierten Betrachtung müsste sein, die DR Kongo insgesamt als fragiles, konfliktanfälliges politisches System zu verstehen, in dem »Political Space« noch verhandelt wird (Vogel et al. 2019), anstatt den Staat einfach als »verflucht« abzutun. Denn genau dieses fragile System und den politischen Handlungsraum seiner Bürger*innen zu stabilisieren ist auch ohne »Fluch« schwierig genug. Umso mehr in einem autokratisch regierten, qua Verfassung vermeintlich hochgradig zentralisierten Land, das, in den Wirren internationaler Politik gefangen, nie richtig die Chance hatte, sich von den kolonialen Zerstörungen zu erholen. Verschiedene bewaffnete Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und regionalen oder internationalen Allianzen tragen zur Instabilität in einer Region bei, in der eine fundamentale Infrastruktur und ein staatliches Gewaltmonopol fehlen (Vogel und Stearns 2018). Eine simplifizierte Konfliktursache (»der Kampf um Konfliktmineralien«) lädt dann schnell zu eurozentrischen, die oben genannten komplexen Zusammenhänge ignorierenden, vereinfachenden Lösungen ein, die ebenfalls zu kurz greifen: z.B. die Forderung, unspezifisch »Governance« nach europäischem Vorbild zu schaffen (Vircoulon 2011).

Fazit: Sprache und Forschung dekolonisieren

Politikwissenschaftler*innen und auch Journalist*innen, Politiker*innen und Künstler*innen müssen sich von einer passiven, mystifizierenden, die Problematik verschiebenden Terminologie lösen. Stattdessen sollte, unter Einbeziehung postkolonialer Kritik und mit kritischem Blick auf die liberale Weltordnung, die Debatte um Konfliktursachen erweitert werden. Dies muss eine Kritik an den institutionellen kapitalistischen Prämissen und an der begrifflichen Verschiebung der Ursachen »nach Afrika« beinhalten. Ein kleiner, jedoch entscheidender Schritt hierzu wäre eine sensiblere Sprache, die nicht länger suggeriert, dass der Konflikt um Rohstoffe ein »afrikanischer Fluch« sei. Gleichzeitig dürfen wirtschaftliche Interpretationen bewaffneter Konflikte nicht länger eine fundamentale Kritik an der internationalen politischen Ökonomie ausblenden.

Literatur

Amaeshi, K. (2015): Why Africa needs capitalism that is aligned with its development needs. The Conversation. 20.10.2015.

Bannon, I.; Collier, P. (2003): Natural resources and conflict. What can we do. In: Bannon, I.; Collier, P. (Hrsg.): Natural Resources and Violent Conflict. Washington, D. C.: The World Bank, S. 1-16.

Berbner, B.; Henk, M.; Uchatius, W. (2018): Der afrikanische Fluch. DIE ZEIT, 20.6.2018.

Bretton Woods Project (2019): What are the main criticisms of the World Bank and the IMF? 4.6.2019.

Collier, P.; Hoeffler, A. (2004): Greed and grievance in civil war. Oxford Economic Papers, Vol. 56, Nr. 4, S. 563-595.

de Souza, A. N. (2016): Between East and West. The cold war‘s legacy in Africa. Al Jazeera. 22.2.2016.

Di John, J. (2011): Is there really a resource curse? A critical survey of theory and evidence. Global Governance, Vol. 17, Nr. 2, S. 167-184.

Garrett, L. (2019): Your cellphone is spreading Ebola. Foreign Policy, 17.4.2019.

Health Poverty Action et al. (2014): Honest Accounts? The true story of Africa’s billion dollar losses. London.

Humphreys, M.; Sachs, J.; Stiglitz, J. (Hrsg.) (2007): Escaping the Resource Curse. New York: Columbia University Press.

Kalyvas, S. (2003): The ontology of »Political Violence«. Action and identity in civil wars. Perspectives on Politics, Vol. 1, Nr. 3, S. 475-494.

Mazrui, A. (2005): The Re-Invention of Africa: Edward Said, V. Y. Mudimbe, and beyond. Research in African Literatures, Vol. 36, Nr. 3, S. 68-82.

Nkrumah, K. (1965): Neo-Colonialism. New York: International Publishers.

Stearns, J. (2012): Dancing in the glory of monsters. The collapse of the congo and the great war of Africa. New York: Public Affairs.

The Fund for Peace (2020): Fragile States Index – Measuring Fragility: Risk and Vulnerability in 178 Countries. Fragility in the World 2020. fragilestatesindex.org.

Van Mead, N. (2018): China in Africa. Win-win development, or a new colonialism? The Guardian, 31.7.2018.

Vircoulon, T. (2019): Behind the problem of ­conflict minerals in DR Congo governance. International Crisis Group, 19.4.2011.

Vogel, C.; Havenith, J. (2014): Beyond greed or grievance: understanding conflict in resource-rich states. African Arguments, 17.4.2014.

Vogel, C.; Stearns, J. (2018): Kivu’s intractable security conundrum, revisited. African Affairs, Vol. 117, Nr. 469, S. 695-707.

Vogel, C.; et al. (2019): Cliches can kill in Congo. Foreign Policy, 30.4.2019.

Wiegratz, J. (2018): The silences in academia about capitalism in Africa. africasacountry.com, 13.12.2018.

Jasper A. Kiepe hat einen Master in Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Konflikte und Menschenrechte von der SOAS University of London, arbeitet bei einer humanitären Hilfsorganisation und beschäftigt sich mit gesamtheitlichen, postkolonialen und intersektionalen Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung.

Das grüne Gold


Das grüne Gold

Konflikte um die Avocado in Mexiko

von Jana Mara Burke, Dana Milena Enss und Friederike Hildebrandt

Die Avocado hat in den letzten Jahren eine Entzauberung erlebt, wie schon viele andere Exportfrüchte vor ihr: Im positiven Bild vom »Superfood«, das für einen gesunden, jungen und weltgewandten Lebensstil steht, haben sich Nachrichten von ökologischen Schäden, Landraub und blutigen Konflikten in den Anbauregionen festgesetzt. Doch die Konsument*innen zeigen sich weitgehend unbeeindruckt: Das globale Exportvolumen der Avocado ist selbst während der Corona-Pandemie weiter gestiegen (Bernal 2020).

Mexiko ist weltweit sowohl der größte Produzent als auch Exporteur von Avocados. Rund 77 Prozent der mexikanischen Produktion befindet sich im Bundesstaat Michoacán (USDA 2019).1 Im Rahmen eines explorativen, ethnographischen Forschungsprojektes in Mexiko im Jahr 2019 wurden daher Gespräche mit Exporteur*innen, Landwirt*innen, Staatsangestellten und Wissenschaftler*innen aus der Region geführt, um ermöglichende Faktoren und Auswirkungen des Avocado­booms nachzuzeichnen.2 Dabei erklärten sich ausschließlich Personen zu Interviews bereit, die Profiteur*innen des Avocadohandels oder externe Beobachter*innen sind.3 In dieser Forschung zeigte sich, dass die Konflikte um das sogenannte »grüne Gold« nicht nur Begleiterscheinung, sondern auch Antrieb des exportorientierten Anbaus in Michoacán sind.

In diesem Artikel werden drei zentrale Konflikte im Kontext des Avocadohandels hervorgehoben: Erstens die nahezu allmächtige Stellung der Produzent*innen- und Exporteur*innenvereinigung APEAM; Zweitens die anhaltenden Gewaltkonflikte im Bundesstaat Michoacán aufgrund der Aktivitäten der Drogenkartelle im Avocadohandel; Drittens die ökologischen und ökonomischen Risiken durch die Avocadoproduktion, die das Fortbestehen des Avocadoexportbooms an sich gefährden.

Die Geschichte des modernen Avocadoanbaus in Michoacán beginnt mit einem Naturereignis: Dort, wo heute das Hauptanbaugebiet für Avocados liegt, entstand 1943 der jüngste Vulkan Amerikas, der Paricutín. An dessen Hängen herrschen Mikroklimata, die jährlich bis zu vier Blütezeiten der Avocadobäume und damit eine ganzjährige Ernte ermöglichen. Im Rahmen eines von 1942 bis 1964 bestehenden Farmarbeiterabkommens priorisierte Mexiko in Folge des Vulkanausbruchs die Entsendung von Arbeiter*innen aus Michoacán in die USA. Interviewte betonten, dass besonders aus diesen Familien heutzutage Remissen zurück in die Heimatregion fließen und in Avocadoplantagen investiert werden.

Die großflächige Avocadoproduktion entstand allerdings erst in den 1990er Jahren: Bis dahin wurde sie vom sogenannten »ejido-System« eingeschränkt. Ejidos sind in Parzellen geteiltes genossenschaftliches Gemeindeland, das in Michoacán insbesondere den indigenen Gemeinden der Purépecha zugeschrieben wird und bis 1992 unverkäuflich war. Mit der neoliberalen Politik des Präsidenten Salinas de Gortari in den 1990er Jahren wurden der Verkauf und die Verpachtung von Gemeindeland und damit die großflächige agrarindustrielle Produktion möglich. Mit diesem Wandel der Wirtschaftspolitik stieg auch der finanzielle Druck auf die Parzellenbesitzer*innen, ihr Land entweder landwirtschaftlich effizient zu nutzen oder abzugeben.

Die zentralisierte Macht des Verbandes APEAM

Trotz stark begünstigender Faktoren auf lokaler Ebene, wurde Michoacán im Avocadohandel erst durch Abkommen mit den USA, als größtem Abnehmer, international erfolgreich. Diese Verhandlungen rücken den einflussreichsten Akteur im Avocadohandel Michoacáns in den Mittelpunkt: Die Asociación de Productores y Empacadores Exportadores de Aguacate de México, kurz APEAM. Bis 1997 galt in den USA für Avocados aus Mexiko ein Einfuhrverbot zum Schutz vor Schädlingen. Seit 2007 ist der Export mexikanischer Avocados in alle US-Bundesstaaten erlaubt, bisher allerdings nur aus Michoacán. APEAM war von Beginn an den Verhandlungen beteiligt und ist ein zentrales Scharnier für den gesamten Handel. Der Verband fungiert als Kooperationspartner zwischen dem mexikanischen und dem US-amerikanischen Agrarministerium und den jeweiligen Behörden für Lebensmittelsicherheit. Außerdem erfüllt er die Funktion der Qualitätssicherung für den US-amerikanischen Markt, vergibt Zulassungen für neue Produktionen und Verpackungsstationen und ist an der Preissetzung beteiligt. Ein Interviewpartner, Experte für den mexikanischen Agrarsektor, bewertete APEAM als entscheidenden Faktor für die starke Position der mexikanischen Avocados auf dem US-amerikanischen Markt. Für alle Produzent*innen und Exporteur*innen in Mexiko bildet er ein unumgängliches Nadelöhr, um Avocados exportieren zu können. Kleinproduzent*innen, die sich die Mitgliedschaft bei APEAM nicht leisten können, verkaufen ihre Avocados häufig an andere, größere Produzent*innen, die sie dann über APEAM exportieren.

Gleichzeitig ist der Verband einer der Akteure, die im Avocadohandel Konflikte auszulösen oder zumindest zu fördern scheinen. Die Mitgliedsbeiträge seien, laut einiger Interviewten, so hoch, dass sich nur große Produzent*innen diese leisten könnten, womit Landwirt*innen kleinen Landbesitzes systematisch vom internationalen Handel mit den USA ausgeschlossen werden. Interviewte Wissenschaftler*innen warfen dem Verband zudem Intransparenz und undemokratische Entscheidungen vor. Einen Streik mehrerer Produzent*innen gegen zu niedrige Grundpreise beispielsweise beendete APEAM im Jahr 2018 mit dem schlichten Verweis auf den Arbeitsplan, an den alle beteiligten Parteien gebunden seien, ohne danach den Preis zu verändern. Hinzu kommt der geäußerte Verdacht, dass der Verband enge Beziehungen zu den Gruppen organisierter Kriminalität hat, die in Michoacán den Drogenhandel kontrollieren. Der Hauptsitz APEAMs in Uruapan, der Hochburg der Drogenkartelle, bestärkt diesen Eindruck laut einer Wissenschaftlerin.4

Drogengeld im Superfood

Schon vor dem internationalen Erfolg der Avocado war Michoacán ein strategischer Standort für die Produktion von Drogen und für den Schmuggel primär in die USA. Das Geschäft wird von konkurrierenden Gruppen der organisierten Kriminalität kontrolliert und führt kontinuierlich zu gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Gruppen und mit der Zivilbevölkerung. Im Jahr 2011 erreichte nicht nur das Geschäft mit den Avocados einen Höhepunkt, sondern auch die Mordrate durch Beteiligte am Drogenhandel in Mexiko und Michoacán. Der damalige Präsident Calderón hatte zu Beginn seiner Amtszeit im Jahr 2006 dem Drogenhandel den Krieg erklärt, was die Sicherheitslage jedoch weiter destabilisierte. Laut eines Wissenschaftlers aus der Region wurde Michoacán so zu einer »Kriegszone«.

Die Befragten wiesen mehrheitlich auf die Verwobenheit der organisierten Kriminalität mit dem Avocadosektor hin. Drogenhändler*innen profitieren demnach auf mehreren Ebenen von diesem Geschäft. Da die Bäume bis zur ersten fruchttragenden Blüte mindestens drei Jahre wachsen müssen, sind einige Jahre lang Investitionen nötig, bevor mit den Avocados Gewinne erzielt werden können. Neue Plantagen eignen sich daher zur Geldwäsche. Drogenkartelle nutzen und profitieren zudem von der für den Avocadohandel ausgebauten Infrastruktur, die sie für den Transport von Drogen nutzen (mitunter in der Avocadofracht versteckt).

Hier stellt sich auch die Frage, inwieweit Drogenkartelle den Ausbau der Infra­struktur genau für diese Zwecke förderten. Zudem erwies sich das Geschäft mit den Avocados bislang als so lukrativ, dass sich einige Gruppen sogar vom Drogenhandel abwandten, um sich auf Schutzgeld­erpressung bei Avocadoproduzent*innen und den eigenen Anbau zu konzentrieren. Die Zeitung »El Universal« berichtet, dass zwischen 2009 und 2013 umgerechnet etwa 454 Millionen Euro von Drogenkartellen aus dem Avocadohandel „gestohlen“ wurden (Carrión 2014).

Einige Gemeinden reagierten ab 2013 auf die zunehmende Gewalt (z.B. Schutzgelderpressungen, Besetzung von Avocadofeldern, Angriffe gegen die Zivilbevölkerung, erzwungener Transport von Drogen in Avocadotransporten) mit dem Aufbau von Selbstverteidigungsstrukturen, sogenannten »autodefensas«, um sich und ihr Avocadogeschäft unabhängig von staatlichen Sicherheitskräften vor den Drogenkartellen zu schützen, wie ein Avocadoproduzent berichtete. Allerdings sind die Motive der autodefensa-Gruppen nicht immer klar skizzierbar, da einige selbst Strukturen organisierter Kriminalität aufbauen (Asfura-Heim und Espach 2013, S. 144).

Trotz dieser Sicherheitslage bedient Michoacán zuverlässig die Weltmarktnachfrage nach Avocados. Mehrere Befragte betonten, dass die Präsenz organisierter Kriminalität zwar für die Bevölkerung Unsicherheit schaffe, aber die wirtschaftliche Lage insgesamt stabil halte, da auch die Kartelle ein Interesse am Erfolg der Avocadoproduktion haben. Durch die Machtstrukturen der Drogenkartelle wird die staatliche Präsenz geschwächt, was einen noch ungehemmteren Wirtschaftsraum schafft, in dem Beschränkungen im Avocadosektor, beispielsweise Abholzungsverbote oder andere ökologische Auflagen, verhindert oder umgangen werden können.

Ambivalenter Wohlstand

Die Avocado hat Michoácan grundlegend verändert. Im Januar 2020 wurde international über den Mord am Umwelt­aktivisten Homero Gómez González (Gurk 2020) berichtet, der sich für den Schutz des berühmten Monarchfalters in Michoacán einsetzte, der zusehends durch die Entwaldung zugunsten des Avocadoanbaus bedroht wird. Trotz dieser Gewalt gegen die Zivilbevölkerung ist der ökonomische Wohlstand im Bundesstaat massiv gestiegen. Besonders in Infrastruktur, Bildung und Grundversorgung wurde investiert. Obwohl die neoliberalen Reformen seit den 1990er Jahren explizit ausländische Investitionen fördern, betonten die Befragten, dass das Kapital in der Avocadoproduktion zum größten Teil auf mexikanische Investor*innen und die Diaspora in den USA zurückgehe.

Die Aussagen der Interviewten deuten darauf hin, dass die gesamte Bevölkerung in Michoacán danach zu streben scheint, ein Stück vom »Superfood-Kuchen« abzubekommen. Doch das bleibt besonders Kleinbäuer*innen und weniger privilegierten Teilen der Bevölkerung einerseits durch den zunehmenden finanziellen Druck, Gemeindeland zu verkaufen oder zu verpachten, andererseits durch die Position APEAMs als Export-Nadelöhr sowie durch den hohen Investitionsaufwand verwehrt.

Es ist ebenfalls fraglich, ob der Wohlstand durch den Avocadohandel nachhaltig ist. Die Nachfrage nach der Avocado ist konstant, jedoch hat die Erfahrung mit anderen globalen Exportfrüchten gezeigt, dass politische Regulierungen in den Importländern einem Sektor langfristig schaden können.5 Zudem werden die ökologischen Grenzen der Avocado-Monokultur zusehends deutlich. Es scheint, als sei der Ausweitung der Avocadomonokulturen vor allem eine natürliche Grenze gesetzt. Interviewte berichteten von ihren Beobachtungen, dass die zunehmende Entwaldung für den Anbau sowie der Klimawandel die Mikroklimata verändern, die für das Wachsen der Avocadobäume entscheidend sind. Damit ist gleichzeitig die Monopolstellung Michoacáns im Avocadohandel gefährdet, was den Interviewten sowohl bewusst war als auch Sorgen bereitete. Weder der mexikanische Staat, die US-amerikanischen Importeure noch die Avocadoproduzent*innen möchten das Wachstum bislang freiwillig einschränken. Auch APEAM tut alles, um das gute Image der Avocado auch für die Zukunft zu bewahren. Denn ein Boykott durch Konsument*innen wäre für den Absatz gefährlich. Der Befragte des Verbands beschrieb deutlich, dass Mexiko zur Zeit die Oberhand auf dem US-amerikanischen Markt habe, aber konkurrierende Anbieter aus anderen Ländern in den Startlöchern stünden, sollte das Angebot aus Mexiko aus politischen, ökologischen oder sozialen Gründen einbrechen.

Es zeigt sich, dass die beschriebenen Konflikte um die Avocado den steigenden Umsätzen nicht schaden, sondern im Gegenteil stabile Strukturen für den Export und ökonomischen Wohlstand für Michoacán zu schaffen scheinen. Während Großproduzent*innen, der Verband APEAM oder auch Drogenkartelle am Handel verdienen und Konsument*innen im Globalen Norden damit immer Zugriff auf frische Avocados haben, schafft das „grüne Gold“ jedoch auch Ungleichheiten und Unterdrückungsstrukturen bis hin zu direkter Gewalt in Michoacán.

Anmerkungen

1) Trotz der steigenden medialen Aufmerksamkeit um die Avocado gibt es zur Thematik bisher nur wenige wissenschaftliche Publikationen im sozialwissenschaftlichen Kontext.

2) Die ganze Forschungsarbeit ist als Working Paper im Fachgebiet Demokratieforschung am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg erschienen (Burke et al. 2021).

3) Zur persönlichen Sicherheit der Befragten wurden alle Interviewten stark anonymisiert.

4) Spezifische Aussagen über die Verwebungen von Drogenkartellen mit dem Avocadohandel wurden von den Interviewten zu ihrer persönlichen Sicherheit trotz starker Anonymisierung vermieden und nur angedeutet.

5) Nachdem die Nutzung von Palmöl in europäischem Biodiesel von der EU verboten wurde, drohte der Sektor in den Hauptanbauländern Indonesien und Malaysia wegzubrechen (Hein 2019).

Literatur

Asfura-Heim, P.; Espach, R. (2013): The Rise of Mexico’s Self-Defense Forces. Vigilante Justice South of the Border, Foreign Affairs, Jg. 92, No. 4, S. 143-150.

Bernal, R. (2020): Mexican avocado imports booming during pandemic. The Hill, 02.12.2020.

Burke, J. M. et al. (2021): Der Avocado-Boom in Mexiko: Eine explorative Forschung, Working Paper 19, Forum. Demokratieforschung – Beiträge aus Studium und Lehre, Philipps-Universität Marburg.

Carrión, L. (2014): Templarios controlaron aguacate. El Universal, 08.08.2014.

Gurk, Ch. (2020): Der Beschützer der Schmetterlinge ist tot. Süddeutsche Zeitung, 21.01.2020.

Hein, Ch. (2019): Südostasien schlägt zurück im Palmölstreit mit der EU. FAZ, 11.04.2019.

USDA (2019): Avocado Annual. Foreign Agricultural Service, U.S. Department of Agriculture.

Jana Mara Burke hat einen Bachelor der Vergleichenden Kultur- und Religionswissenschaft und studiert im Master Friedens- und Konfliktforschung.
Dana Milena Enss hat einen Bachelor in Politikwissenschaft und einen Master in International Development Studies.
Friederike Hildebrandt hat einen Master in International Development Studies und einen Bachelor der Volkswirtschaftslehre.

Geopolitik der Energiewende


Geopolitik der Energiewende

Infrastrukturen für den nachhaltigen Frieden

von Jürgen Scheffran

Geopolitische Konflikte im fossil-­nuklearen Zeitalter haben das vergangene Jahrhundert bestimmt und prägen auch das 21. Jahrhundert. Mit dem Ende des fossilen Kapitalismus nehmen Krisen zu. Die Alternative »Krieg um Öl« oder »Frieden durch Sonne« betrifft neben dem Wandel der Energieversorgung auch einen Systemwandel. Erneuerbare Energien gelten als konfliktärmer, sind jedoch nicht konfliktfrei. Eine sozial-ökologische Transformation geht einher mit Infrastrukturen einer nachhaltigen Friedenssicherung und schafft kooperative Strukturen auf allen Ebenen.

Energie ist wesentlich für Entwicklung und Wohlstand, kann aber auch Risiken verursachen. Physikalische Kräfte können in politische Macht umgewandelt werden. Energiemangel wird als Sicherheitsbedrohung wahrgenommen. Konflikte erwachsen aus dem Missbrauch von Energie und ihrer ungerechten Verteilung. Gewaltkonflikte erschweren den Zugang zu Energieressourcen, während das Energiesystem selbst Ziel oder Mittel von Angriffen und Widerstand sein kann. Die Komponenten des fossil-nuklearen Energiesystems haben immer wieder internationale Konflikte provoziert. Im 19. Jahrhundert waren Kohle und Dampfkraft Macht- und Konflikttreiber, im 20. Jahrhundert Öl und Erdgas, zunehmend auch die Kernenergie. Auch im 21. Jahrhundert ist Energie eine Voraussetzung für die Durchsetzung nationaler Interessen, aber auch für Kooperation.

Die Transformation von fossilen zu erneuerbaren und kohlenstoffarmen Energieformen kann die globalen Machtverhältnisse verändern. Geopolitische Konfliktlinien verschieben sich mit wachsendem Energiebedarf, abnehmenden Brennstoffreserven und ungleicher Verteilung, zunehmenden Umweltschäden und Klimawandel sowie Nord-Süd-Differenzen. Komplexe Konfliktkonstellationen zeigen sich in jüngsten Streitigkeiten. So wurde die Gaspipeline zwischen Europa und Russland zum Spielball im Fall Nawalny. Territorialkonflikte im Südchinesischen Meer, zwischen Türkei und Griechenland im östlichen Mittelmeer oder in der Arktis haben auch mit vermuteten Gas- und Ölvorräten zu tun. Der Bedarf an strategischen Materialien für die Energiewende schafft neue Konfliktmuster.

Produktionsketten und Handelsströme

Länder mit fossilen Brennstoffen verfügen über erhebliche Macht und Gewinne, die in die sozioökonomische Entwicklung, aber auch in militärische Fähigkeiten investiert werden. Mit der Energiewende und Dekarbonisierung verlieren sie an geopolitischem Einfluss und geraten in die Defensive. Damit verbunden sind steigende Preise fossiler Brennstoffe und sinkende Einnahmen. Verstärkt durch schwache Regierungsführung kann dies zu einem Machtvakuum führen, mit sozialen Unruhen, Rechtspopulismus, Machtkämpfen und Gewalt, die sich über Landesgrenzen ausbreiten. Der Zerfall der Sowjetunion dient hier als Beispiel.

Einige ölexportierende Länder verfolgen das Ziel, von den Ölrenten weniger abhängig zu werden und ihre Wirtschaft zu diversifizieren. Der rasche Anstieg erneuerbarer Energien transformiert die geopolitische Landkarte. Zunehmend werden sie vom Wettlauf um technologische Innovation und Dominanz erfasst. Die meisten Länder verfügen über ein tragfähiges Potenzial erneuerbarer Energien, um von fossilen Brennstoffen unabhängig zu werden, Energiesicherheit und eine bessere Handelsbilanz zu schaffen. Eine Transformation bietet für diese Länder strategische Vorteile, macht sie weniger anfällig gegen Versorgungsengpässe und Preisschwankungen, politische Instabilität, Terroranschläge und bewaffnete Konflikte. Eine vollständig erneuerbare Stromversorgung ist technisch machbar, wenn verschiedene Quellen zur Verfügung stehen und die Variabilität der Stromerzeugung im Netz durch einen Energiemix abgefedert wird.

Globale Verschiebungen

Nachdem die USA über Jahrzehnte von Öl und Gas aus konfliktreichen Regionen abhingen, konnten sie durch Fracking und Schiefergas einen großen Teil ihres Energiebedarfs selbst decken und wurden zum Nettoexporteur von Erdgas, zunehmend auch von Erdöl. Auch wenn die Regierung Trump weiter auf fossile Energien setzt, arbeiten Teile der USA an der Energiewende und nutzen dabei technologische Fähigkeiten der US-Industrie.

Die Europäische Union kann die Abhängigkeit durch fossile Brennstoffe mit erneuerbaren Energien mindern und ihre technologischen Fähigkeiten nutzen. Deutschland wurde zum Vorreiter der Energiewende und ist in Europa bei Patenten für erneuerbare Energien führend. Island entwickelte sich mit dem Ausbau erneuerbarer Energien von einem der ärmsten Länder Europas zu einem Land mit hohem Lebensstandard, das seine Elektrizität aus Wasserkraft und Erdwärme gewinnt. Ähnliche Vorteile eröffnen sich in Japan. Große Herausforderungen bedeutet die Energiewende für Russland, den weltweit größten Gas- und zweitgrößten Ölexporteur. Öl- und Gaseinnahmen sind mit rund 40 % ein wichtiger Bestandteil des Staatshaushalts. Obwohl Russland zunehmend in erneuerbare Energien investiert, liegt es bei den Patenten weit zurück.

China verfügt zwar über große Kohleressourcen, ist aber von Gas- und Ölimporten abhängig. Da eine Energiewende der eigenen Energiesicherheit dient, fördert die Regierung seit Jahren Innovationen in erneuerbare Energietechnologien. Mit mehr als 45 % der weltweiten Investitionen war China 2017 der weltweit größte Produzent, Exporteur und Installateur von Sonnenkollektoren, Windturbinen, Batterien und Elektrofahrzeugen. Zudem hat es eine Vorreiterrolle bei Technologien, wie Silizium-Photovoltaik-Modulen oder Lithium-Ionen-Batterien, und ist führend bei den Patenten für erneuerbare Energien. Das Infrastrukturprojekt einer »neuen Seidenstraße« stärkt Chinas geostrategische Position.

Nordafrika und Nahost

Die MENA-Region (Middle East, North Africa) ist reich an fossilen Brennstoffressourcen, die eine wichtige Einkommensquelle bilden, ist damit aber auch besonders verwundbar gegen Einnahmenverluste, die sich negativ auf Wirtschaftswachstum und Staatseinnahmen auswirken. Die Abhängigkeit hat zu gewaltsamen Konflikten beigetragen, die Ressourcen absorbieren, die Demokratie untergraben und Umweltschäden verursachen. Ein Teil der Einnahmen wurde verwendet, um den Zugang zu Wasser und Nahrungsmittelimporten zu sichern. Um bei Erschöpfung fossiler Reserven damit verbundene Instabilitäten zu vermeiden, ist die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern, die den für die Region bedrohlichen Klimawandel fördern. Die wachsende Energienachfrage lässt sich nicht mit Kernenergie befriedigen, auch wegen ihrer militärischen Sicherheitsrisiken in dieser konfliktträchtigen Region.

Der MENA-Raum verfügt über hohe Potenziale an Sonnenenergie und Windkraft. Mit dem Desertec-Konzept entstand die Vision einer Energiezusammenarbeit zwischen Europa und MENA, die erneuerbare Energiesysteme rund um das Mittelmeer über ein Stromnetz verbindet, um verschiedene Ziele zugleich zu erreichen (Energiesicherheit, Klimaschutz, Entwicklung, Arbeitsplätze, Versorgung mit Wasser und Nahrung). Aufgrund der Destabilisierung durch den Arabischen Frühling konnte das Konzept nicht realisiert werden. Einzelne Staaten planen jedoch, die erneuerbaren Potentiale stärker zu nutzen. Marokko will bis 2030 etwa die Hälfte des Stroms aus erneuerbaren Quellen liefern und zum Nettoexporteur von Elektrizität werden.

Perspektiven für den Globalen Süden

Auch andere Entwicklungsländer können von der Nutzung erneuerbarer Energie profitieren, um ihre Ölabhängigkeit zu senken, den Klimawandel zurückzudrängen und die Resilienz zu stärken. Die eingesparten Importkosten lassen sich in neue Technologien investieren. Indien gehört zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften und könnte China bald als weltgrößten Wachstumsmarkt im Energiebereich überholen. Geplant ist ein massiver Ausbau erneuerbarer Energien.

Auch in vielen Ländern Subsahara-­Afrikas lassen sich durch die eigenständige Erzeugung erneuerbarer Energien Arbeitsplätze schaffen und Entwicklung vorantreiben. Probleme ergeben sich für Ölproduzenten, wie Nigeria und Angola, die bei einer Energiewende große Einnahmeverluste fürchten. Ob es gelingt, das fossile Entwicklungsmodell zu überspringen, hängt auch davon ab, ob Staaten der Verlockung schnellen Reichtums durch neu entdeckte fossile Ressourcen folgen.

Die gilt auch für den Ölboom in einigen Staaten Lateinamerikas, die sich durch den Fall Venezuelas nicht abschrecken lassen. Viele haben große Ressourcen erneuerbarer Energien. Am bekanntesten ist das brasilianische Ethanolprogramm, das nach dem Ölschock 1973 eingeführt wurde, um die Energieautarkie zu stärken. Heute ist Brasilien der zweitgrößte Produzent und größte Exporteur von Ethanol. Kleine Inselstaaten, die durch den Klimawandel besonders bedroht sind, versuchen mit ihren erneuerbaren Energiequellen den Großteil ihres heimischen Energiebedarfs zu decken.

Konfliktpotentiale der Energiewende

Eine nachhaltige Energiewende vermeidet die für fossil-nukleare Energiesysteme typischen Konflikte. Beispiele sind Liefer­embargos des OPEC-Kartells im Gefolge des arabisch-israelischen Konflikts, Machtkämpfe um Pipelines oder Kriege um Öl am Persischen Golf. Mit einer Energiewende könnte auf militärische Operationen, Stützpunkte und Streitkräfte zur Sicherung fossiler Ressourcen verzichtet werden. Teile des Militärs versuchen, erneuerbare Ressourcen in ihre Planungen einzubeziehen.

Erneuerbare Energieträger und ihre Infrastrukturen sind jedoch nicht konfliktfrei. Sie benötigen wichtige natürliche Ressourcen (Land, Wasser, Nahrungspflanzen, Mineralien), deren konkurrierende Nutzungen Spannungen hervorrufen. Umweltauswirkungen führen zu meist lokalen Protesten und Widerständen in der Bevölkerung, gegen Stromnetze, Staudämme, Bioenergie, große Windkraft- und Solaranlagen.

Die Verbreitung erneuerbarer Energien erhöht die Elektrifizierung und stimuliert den Stromhandel, was regionale Kooperation und den Ausgleich zwischen Energiequellen fördert; Verbundnetze gibt es auf praktisch allen Kontinenten. Die Möglichkeit, Stromnetze kontrollieren, abschalten oder zerstören zu können, mag als Bedrohung angesehen werden, eignet sich aber nur bedingt als Druckmittel, solange Staaten auf verschiedene Weise Strom beziehen können. Regulierungen können die Risiken minimieren.

Kritische Materialien und Cyber-Sicherheit in Energienetzen

Es spricht einiges dafür, dass durch die Energiewende geopolitische Instrumente an Bedeutung verlieren, aber nicht verschwinden. Auch wenn ein „Embargo gegen die Sonne“ (Jimmy Carter) nicht möglich ist, könnten neue Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten entstehen. Sonnenkollektoren, Windturbinen, Elektrofahrzeuge und Energiespeicher benötigen für ihre Herstellung nicht-­erneuerbare Mineralien und Metalle, wie Kobalt, Lithium, Gallium und Seltene Erden. Davon finden sich große Reserven in Lateinamerika und Afrika, in China, Süd- und Südostasien sowie am Meeresboden. Oft handelt es sich um fragile oder autoritäre Staaten. Mehr als 60 % des weltweiten Kobaltvorrats stammen aus der Demokratischen Republik Kongo. In Kolumbien beuteten bewaffnete Gruppen illegale Rohstoffvorkommen aus. Strategien zur Kontrolle von Konfliktmineralien zielen auf eine Verbesserung der Transparenz entlang globaler Lieferketten.

Länder mit reichen Vorkommen kritischer Materialien könnten ihre Macht nutzen. Als der größte Produzent China 2008 die Lieferung von Seltenen Erden einschränkte, gerieten die Märkte in Panik, und die Preise stiegen stark an. Obwohl sie weltweit reichlich vorkommen, sind Abbau und Produktion der Materialien teuer, umweltschädlich und mit Preisschwankungen verbunden, was andere Länder bislang abgehalten hat. Zudem gibt es Alternativen, wenn auch zu höheren Kosten. Zunehmend wird darauf gesetzt, kritische Mineralien in einer Kreislaufwirtschaft zu recyceln und wiederzuverwenden, was einer Kartellbildung entgegenwirkt.

Für die globale Machtprojektion entscheidend ist die Kontrolle der Netzinfra­struktur, die physische Vermögenswerte ebenso umfasst wie virtuelle Verbindungen, die sich mit der Digitalisierung des Energiesektors vervielfachen. Dies schafft Risiken für Sicherheit und Datenschutz, durch kriminelle Gruppen, Terrorist*inn en oder auswärtige Geheimdienste, die Versorgungs- und Stromnetze manipulieren. Oft zitiert wird der Cyberangriff auf das Stromnetz der Westukraine im Dezember 2015, wodurch mehr als 230.000 Menschen bis zu sechs Stunden im Dunkeln blieben. Konsequenzen sollen mit »Smart Grids« minimiert oder durch Gegenmaßnahmen und Regeln eingedämmt werden. Zukünftige Energiepfade sind systematisch anhand geeigneter Kriterien zu bewerten und zu vergleichen

Neue Allianzen in Energielandschaften

Erneuerbare Energien ermöglichen Allianzen aus Staaten, transnationalen und substaatlichen Akteuren (Bürger*innen, Städte und Unternehmen). In der neuen Energiediplomatie geht es um Partnerschaften in nachhaltigen Energielandschaften, mit Verbindungen zwischen Stadt und Land, globalen Netzen und regionalen Märkten. Um den üblichen Konzentrations- und Akkumulationsprozessen im Kapitalismus entgegenzuwirken, braucht es einen Systemwandel mit der partizipativ-demokratischen Kontrolle von Machtstrukturen. Chancen bestehen durch die Verbindung von dezentralen Energiesystemen und interkontinentalen Verteilungsnetzen, die die Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern fördern. Daran können alle als »Prosumer« (Produzenten und Konsumenten) mitwirken, die ein Dach oder etwas Land besitzen, um Energie zu produzieren, für den Eigenverbrauch oder für das Netz.

In einer solchen »Viable World« werden die Menschen im Sinne von »Power to the People« befähigt, die sozial-ökologische Transformation mit anderen zusammen in die eigenen Hände zu nehmen. Wenn Konflikte durch die Kohabitation der Nationalstaaten im gemeinsamen Haus der Erde bewältigt werden, kann die globale Energietransformation eine nachhaltige Friedensdividende erzeugen.

Literatur

Alt, F. (2002): Krieg um Öl oder Frieden durch die Sonne. Riemann-Verlag.

Bazilian, M. et al. (2019): Model and manage the changing geopolitics of energy. Nature, Vol. 569, S. 29-31.

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Hafner, M.; Tagliapietra, S. (2020): The Geopol­itics of the Global Energy Transition. Cham: Springer.

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Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.

Welthunger nach Rohstoffen


Welthunger nach Rohstoffen

Soziale und umweltpolitische Konflikte um Ressourcen in der Tiefsee

von Ulrike Kronfeld-Goharani

In den vergangenen Jahrzehnten ist der weltweite Bedarf an Rohstoffen rasant gewachsen. Computer, Flachbildschirme, Hybridfahrzeuge, Windkraft- und Solaranlagen – alle brauchen große Mengen an Metallen.1 Die mineralischen Rohstoffe werden heute fast ausschließlich in Bergwerken unter Tage oder im Tagebau gewonnen. Zwar kann der Vorrat der Reserven an Land die derzeitige Nachfrage decken, aber steigende Rohstoffpreise und ein schwieriger werdender Abbau in schwer zugänglichen Regionen oder in politisch instabilen Staaten haben die mineralischen Rohstoffe der Tiefsee verstärkt in den Fokus gerückt. Für Staaten – im Folgenden solche im Südpazifik –, die Landnutzungskonflikten aus dem Weg gehen oder sich eine größere Unabhängigkeit von Exportnationen verschaffen wollen, erscheint die Tiefsee als willkommene Möglichkeit. Allerdings birgt der Tiefseebergbau auch ein erhebliches Konfliktpotential.

In der Tiefsee sind drei verschiedene Typen von Rohstofflagerstätten von Interesse: Manganknollen, Kobaltkrusten und Massivsulfide. Die kartoffelförmigen Manganknollen setzen sich aus verschiedenen Metallen zusammen, u.a. Mangan, Eisen, Kobalt und Kupfer, und sind unterhalb von 4.000 Metern auf dem Meeresboden verstreut zu finden.

Bei den Kobaltkrusten handelt es sich um Ablagerungen von Mangan, Eisen, Kobalt, Kupfer, Nickel, Platin und Spurenmetallen auf vulkanischen Substraten, die in 1.000-3.000 Metern Tiefe an den Flanken submariner Vulkane auftreten. Sie sind wegen ihres relativ hohen Kobaltgehaltes attraktiv. Manganknollen und Kobaltkrusten wachsen nur wenige Millimeter pro eine Million Jahre und zählen somit zu den nicht erneuerbaren Ressourcen (World Ocean Review 2014, S. 68, 74).

Massivsulfide sind erkaltete Schwefelverbindungen, die sich in 500-4.000 Metern Tiefe in der Umgebung von heißen, mineralienreichen Tiefseequellen abgelagert haben und wegen ihres hohen Wertstoffgehalts an Kupfer, Gold, Silber und Zink von Bedeutung sind.

Bisher kein kommerzieller Tiefseebergbau

Noch findet kommerzieller Tiefseeberg­bau nicht statt, zum einen, weil die Produktion an Land den Bedarf noch decken kann, zum anderen, weil der Abbau in der Tiefsee extrem teuer, technisch kompliziert und bisher unwirtschaftlich ist. So müssen für den Bergbau in Wassertiefen bis zu 4.000 Metern spezielle Fördertechniken entwickelt werden. Als besonders schwierig gilt der Abbau von Mineralien an den schroffen und steilen Flanken von unterseeischen Vulkanen. Dennoch haben viele Staaten, vorwiegend reiche Industrieländer, Erkundungslizenzen erworben. Besonders gefragt ist das pazifische Manganknollengebiet der Clarion-Clipperton-Zone zwischen Hawaii und Mexiko im Zentralpazifik. Geschätzt wird, dass hier rund fünf Milliarden Tonnen Mangan vorkommen, das Zehnfache von dem, was heute auf dem Land wirtschaftlich abbaubar ist (World Ocean Review 2014, S. 93).

Ist also ein Goldrausch in der Tiefsee zu befürchten? Wer könnte sich daran beteiligen? Wie sind die Nutzung der Unterwasserwelt und die Vergabe von Bergbaulizenzen geregelt?

Die Internationale Meeresbodenbehörde

Völkerrechtlich macht es einen Unterschied, ob der Meeresbergbau in den Hoheitsgewässern eines Staates stattfindet oder auf dem Meeresboden im Bereich der Hohen See, die gemäß Art. 136 Seerechtsübereinkommen (SRÜ) als gemeinsames Erbe der Menschheit gilt. Zuständig für die Vergabe von Erkundungslizenzen auf der Hohen See ist die Internationale Meeresbodenbehörde (IMB), eine eigenständige internationale Organisation, die 1994 mit Inkrafttreten des SRÜ in Kingston, Jamaica, eingerichtet wurde.

Das SRÜ, bisher von 168 Staaten und der Europäischen Union ratifiziert, regelt nahezu alle Belange des Seevölkerrechts, u.a. die Einteilung in fünf Meereszonen: die Hoheitszone (Küstenmeer) von zwölf Seemeilen, die Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) bis zu 200 Seemeilen mit eingeschränkter Hoheitsbefugnis, den Kontinentalschelf (Festlandsockel) bis zu 350 Seemeilen, den Bereich der Hohen See sowie den Meeresboden und dessen Untergrund unter der Hohen See, der in offiziellen Dokumenten als »das Gebiet« bezeichnet wird.

Die Aufgabe der IMB ist es, den Tiefseebergbau zu regulieren und den Schutz der Umwelt zu gewährleisten. Die Behörde verfügt über das alleinige Recht, Schürflizenzen zur Erkundung des Meeresbodens und dessen Untergrunds in internationalen Gewässern zu vergeben. Antragsberechtigt sind sowohl staatliche als auch private Unternehmen. Gegen eine Gebühr von 500.000 US$ und unter Vorlage eines Arbeitsplans können sie ein 150.000 Quadratkilometer großes Gebiet am Meeresboden auswählen und das Erkundungsrecht für 15 Jahre beantragen, mit einer Option auf fünf Jahre Verlängerung. Voraussetzung ist, dass die Lizenzanträge von ihrem Heimatstaat, der das SRÜ ratifiziert haben muss, genehmigt sind.

Bisher wurden 29 Erkundungslizenzen vergeben: zwölf Antragsteller kommen aus Asien, zwölf aus Europa,2 vier von pazifischen Inselstaaten und einer aus Südamerika. Der Lizenznehmer hat das Vorrecht auf einen späteren Abbau (Rühlemann et. al 2019, S. 228). Anträge können abgelehnt werden, wenn schwere Schäden für die Umwelt zu befürchten oder Zonen für andere Nutzungen vergeben sind. Ferner verpflichten sich die Lizenznehmer, die Hälfte des gesamten Gebietes, das sie auf eigene Kosten erkunden, als Ausgleichsleistung für benachteiligte Staaten im Sinne des gemeinsamen Erbes der Menschheit spätestens nach acht Jahren wieder an die IMB zurückzugeben. Die IMB kann diese vorerkundeten Gebiete an Antragsteller aus Entwicklungsländern vergeben oder an Unternehmen, die zum Nutzen dieser tätig sind.

In den vergangenen Jahren geriet die Arbeit der IMB zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik. Vorgeworfen wurde ihr u.a. mangelnde Transparenz, das Fehlen einer unabhängigen Kontrolle und die Eile, mit der Vorschriften unter zu geringer Beachtung des Vorsorgeprinzips und ohne öffentliche Debatte durchgesetzt würden (Chin und Hari 2020, S. 11).

Tiefseebergbau in den Aus­schließlichen Wirtschaftszonen

In den AWZ verfügen allein die Küstenländer über die Nutzungsrechte. Während die Meeresbodenbehörde eine unkontrollierte Ausbeutung des Meeresbodens auf der Hohen See verhindert, können Staaten in ihren AWZ eigene Lizenzen vergeben. Beispielsweise erhielt 2011 das kanadische Unternehmen Nautilus Minerals eine Bergbaulizenz von der Regierung in Papua-Neuguinea für ein in der Bismarcksee gelegenes Gebiet. Das als »Solwara 1« bezeichnete Gebiet ist nicht nur reich an Schwarzen Rauchern3 mit Metallsulfidvorkommen, sondern liegt auch im so genannten Korallendreieck,4 einer der artenreichsten Meeresregionen der Welt. Rund 130 Millionen Menschen sind hier in ihrer Existenz von Meeresressourcen und gesunden Ökosystemen abhängig (Lass 2018).

Am »Solwara 1«-Projekt entzündete sich ein Konflikt zwischen der Regierung von Papua-Neuguinea und der Zivilgesellschaft, die umfassende wissenschaftliche Informationen über die Auswirkungen des Tiefseebergbaus vor ihrer Haustür einforderte. 2017 leiteten Küstengemeinden ein Gerichtsverfahren gegen die Regierung ein, um Einblick in die Dokumente der Lizenzierung zu bekommen. Als das Projekt 2019 aufgrund der Insolvenz von Nautilus Minerals eingestellt wurde, noch bevor es operationell geworden war, blieb die Regierung von Papua-Neuguinea auf einem Schuldenberg von 125 Mio. US$ aus bereits getätigten Investitionen sitzen. Der Premierminister musste das Projekt zum „Totalausfall“ erklären (Chin und Hara 2020, S. 44).

Dennoch erhoffen sich Regierungen, die in ihren AWZ Lizenzen für den Tiefseebergbau vergeben, dadurch nationalen Wohlstand und Fortschritte in der Entwicklung ihrer Staaten. Die Cookinseln, Kiribati, Neuseeland, Palau und Tuvalu besitzen Manganknollenvorkommen in ihren AWZ und haben Bergbaulizenzen ausgegeben.

Am Beispiel der Cookinseln lässt sich die schwierige Abwägung zwischen Abbauinteressen und Umweltschutz gut illustrieren. Die Cookinseln und Nauru kooperieren mit dem Unternehmen DeepGreen Metals. Die Regierung der Cookinseln hat dazu 2013 eine eigene Tiefseebergbaubehörde gegründet und 2015 Prospektions- und Explorationsvorschriften entwickelt. Umweltschützer*innen befürchten jedoch negative Auswirkungen für den 2017 gegründeten »Marae Moana«-Meerespark, der sich über die gesamte AWZ der Cookinseln erstreckt und den Schutz und die Erhaltung der Artenvielfalt und des kulturellen Erbes der Meeresumwelt zum Ziel hat (Marae Moana o.J.).

Ohne Umweltschäden geht es nicht

Aus den Erfahrungen an Land ist bekannt, dass Bergbau nicht ohne Beeinträchtigung der Umwelt möglich ist. Neben Lärm, Abraum und zerstörtem Meeresboden treten in der Tiefsee weitere meeresspezifische Faktoren hinzu: Als problematisch wird die mögliche Trübung des Seewassers angesehen, die durch den Einsatz von Bergbaumaschinen am Meeresboden entstehen könnte, wenn Bodensedimente aufgewirbelt werden. Der Teil der Sedimente, der in die Wassersäule gelangt, könnte durch Meeresströmungen im Bodenbereich über größere Distanzen verdriften. Noch ist unklar, welche Auswirkungen die Trübung des Meerwassers auf Tiefseelebewesen hat, z.B. eine Einschränkung der Biolumineszenz, von der angenommen wird, dass sie zur Kommunikation eingesetzt wird. Erste Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass Tiefseeorganismen wenig anpassungsfähig sind und sehr lange Zeiträume benötigen, um sich von schädlichen Umweltauswirkungen zu erholen (Miller et al. 2018, Sharma 2015). Auch andere Prozesse in der Tiefsee laufen aufgrund kleiner Sedimentationsraten und sehr geringer Strömungsgeschwindigkeiten nur langsam ab, sodass Spuren am Meeresboden viele Jahre erkennbar bleiben. So zeigten Untersuchungen der Umweltstudie DISCOL zu den Folgen des Manganknollenabbaus vor der Küste Perus (1988-1997),5 dass sich die Schleppkarrenspuren der ersten Erkundungsfahrten in den 1980er Jahren am Meeresboden auch nach zwei und vier Jahren kaum verändert hatten. Eine weitere Überprüfung 2015 ergab, dass im Untersuchungsgebiet eine Wiederbesiedelung stattgefunden hatte, aber bestimmte Arten fehlten (Schriever 2017).

In der Umgebung von Schwarzen Rauchern wurde eine große Vielfalt von Lebensformen entdeckt. Zum Teil handelt es sich um Arten, die nur in bestimmten Meeresgebieten vorkommen. Der Abbau von Kobaltkrusten oder Sulfidschlämmen, der im Gegensatz zum Einsammeln von Manganknollen am Meeresboden nur mit schwerem Gerät durchführbar wäre, würde diese einzigartige Lebenswelt nachhaltig schädigen. Umweltschützer*innen befürchten, dass unter Umständen auch heute noch unbekannte Arten verschwinden könnten.

Proteste gegen den Tiefseebergbau

Nicht nur in Papua-Neuguinea, auch in anderen Pazifikstaaten haben Tiefseebergbauvorhaben bereits zu lokalen, nationalen und regionalen Konflikten geführt. Auf nationaler Ebene sind Konflikte zwischen Ressourcenmanagement, Gemeinden, traditionellen Depotbanken, Regierungen und Berg­bau­unter­neh­men entstanden. Anlass waren wahrgenommene Ungleichheiten in Bezug auf Eigentum, Zugang und Nutzen sowie Zweifel an der Legitimität von Tiefseebergbau-Operationen. Andere Konflikte beruhen auf unzureichenden wissenschaftlichen Informationen über die Auswirkungen des Tiefseebergbaus und damit verbundenen Risiken für die Meeresumwelt, die Gesundheit der Bevölkerung und den Lebensunterhalt, insbesondere für die Kleinfischerei. Im Inselstaat Tonga wurde Kritik geübt, dass die Entscheidungsfindung für den Tiefseebergbau durch Machtungleichgewichte zwischen Regierungsbeamten sowie internationalen Unternehmen und der lokalen Ebene bestimmt gewesen sei. Auch würde die Kultur der Bewohner*innen der Pazifikinseln, die von einer tiefen spirituellen Verbindung zum Meer geprägt sei, zu wenig berücksichtigt (Chin und Hari 2020, S. 3).

Des Weiteren spielt eine Rolle, dass beim Bergbau im Pazifikraum Konflikte um Leistungen, Entschädigungen und Umweltzerstörungen eine lange Tradition haben und sogar in bewaffnete Auseinandersetzungen münden können. Dafür steht insbesondere der Bürgerkrieg auf Bougainville (Nördliche Solomonen, Papua-Neuguinea) von 1988-1998, der sich aus den politischen und sozialen Konsequenzen der Ausbeutung der weltgrößten Kupfermine entwickelte. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit sind die Proteste von Landbesitzer*innen gegen den Mangel an Vorteilen aus dem »EXXonMobil Liquefied Natural Gas«-Projekt im Hochland von Papua-Neuguinea (Chin und Hari 2020, S. 43).

Nach dem Desaster mit Nautilus Minerals wurde von der Zivilgesellschaft in Papua-Neuguinea ein Stopp der Bergbauprojekte gefordert. Auch in Neuseeland haben sich verschiedene Organisationen gegen den Tiefseeberg­bau zusammengeschlossen. Auf den Cookinseln haben Umweltverbände unabhängige Studien in Auftrag gegeben, Informationsveranstaltungen durchgeführt und Materialien zusammengestellt, um über die Risiken des Tiefseebergbaus zu informieren. 2013 verabschiedete die Zehnte Generalversammlung der Pazifischen Kirchenkonferenz einen Beschluss, dass Tiefseebergbau im Pazifik gestoppt werden soll. Der Präsident von Fidschi und die Premierminister von Vanuatu und Papua-Neuguinea teilten solche Bedenken und forderten ein zehnjähriges Moratorium für den Abbau von Tiefseerohstoffen in pazifischen Gewässern. Die Cookinseln, Nauru und Tonga halten dagegen an ihrem Vorhaben fest, metallische Rohstoffe in ihren AWZ abzubauen (Chin und Hari 2020, S. 43).

Fazit

Trotz des immensen Erkenntnisgewinns in den vergangenen Jahrzehnten ist die Tiefsee noch immer vergleichsweise wenig erforscht. Die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass mit dem Tiefseebergbau erhebliche Risiken für die Meeresumwelt mit weitreichenden, schwerwiegenden, über Generationen andauernden und irreversiblen Schäden verbunden sein könnten. Schwer einzuschätzen sind auch die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen.

Für die Pazifikstaaten sind die Aussichten auf soziale und wirtschaftliche Gewinne durch den Tiefseebergbau mit ungewissen Risiken behaftet, wie das gescheiterte »Solwara 1«-Unternehmen gezeigt hat.

Noch findet weltweit kein kommerzieller Tiefseebergbau statt. Ob er kommen wird, hängt von den Vorräten an Land und den Metallpreisen auf dem Weltmarkt ab. Als Verbraucher*innen zahlreicher hochwertiger Elektronikprodukte sind wir mitverantwortlich für die hohe Nachfrage nach mineralischen Rohstoffen. Eine Begrenzung des Ressourcenverbrauchs durch ein verändertes Konsumverhalten und eine bessere Wiederverwertung wichtiger Mineralien könnten dazu beitragen, die Erschließung neuer Vorkommen in der Tiefsee zu bremsen und ökologische Schäden durch den Abbau von Rohstoffen am Meeresboden zu verringern.

Anmerkungen

1) Allein ein Mobiltelefon enthält ca. 30 verschiedene Metalle, u.a. Kobalt und Seltene Erden. In einer einzigen Windkraftturbine sind 1.000 Kilogramm Seltene Erden verbaut.

2) Deutschland ist seit 2006 Besitzer zweier »Claims« in der Clarion-Clipperton-Zone, die zusammen etwa zweimal so groß wie Bayern sind.

3) Als »Schwarze Raucher« werden Hydrothermalquellen bezeichnet, aus denen Wasser mit bis zu 380 Grad Celsius austritt. Das Wasser enthält bestimmte Schwefelverbindungen, die es dunkel färben.

4) Das Korallendreieck umfasst ein Meeresgebiet von den Inseln der Salomonen im Osten über die Nordküste Neuguineas bis zu den Kleinen Sundainseln im Westen und vorbei an der Ostküste Borneos bis zu den Philippinen im Norden.

5) Von 1988 bis 1996 förderte das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Forschungsprojekte DISCOL (DISturbance and reCOLonization experiment of a manganese nodule area of the southeastern Pacific) und TUSCH (Tiefseeforschung und Forschungsverbund Tiefsee-Umweltschutz).

Literatur

Chin, A.; Hari, K. (2020): Predicting the impacts of mining of deep sea polymetallic nodules in the Pacific Ocean – A review of scientific litera­ture. o.O.: Deep Sea Mining Campaign and MiningWatch Canada.

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Miller, K.A.; Thompson, K.F.; Johnston, P.; Santillo, D. (2018): An Overview of Seabed Mining Including the Current State of Development, Environmental Impacts, and Knowledge Gaps. Frontiers in Marine Science, Vol 4, Article 418.

Marae Moana (o.J.): What is Marae Moana? Rarotonga, Cook Islands: Office of the Prime Minister; maraemoana.gov.ck.

Ru¨hlemann, C.; Kuhn, Th.; Vink, A. (2019): Marine Rohstoffe. Tiefseebergbau – Ökologische und sozioökonomische Auswirkungen. In: Frech, S. (Hrsg.): Bürger und Staat – Ozeane und Meere. Stuttgart: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, S. 226-236.

Schriever, G. (2017): Tiefseebergbau – Risiken und Gefahren für die Umwelt? Projekthomepage Wissenschaftsjahr 2016-2017. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Sharma, R. (2015): Environmental issues of deep-sea mining. Procedia Earth and Planetary ­Science, Vol. 11, S. 204-211.

World Ocean Review (2014): Rohstoffe aus dem Meer – Chancen und Risiken. Hamburg: maribus.

Ulrike Kronfeld-Goharani ist promovierte Ozeanografin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Kiel. Sie ist Mitglied des Zentrums für Interdisziplinäre Meereswissenschaften an der Universität Kiel.