Energiewende? Ja – aber wie?

Energiewende? Ja – aber wie?

von Michaele Hustedt

Die Bundesregierung hat sich vom Ziel des Klimaschutzes verabschiedet. Das kürzlich vorgestellte Prognos-Gutachten, erstellt im Auftrag des Wirtschaftsministeriums, belegt eindeutig, daß es in Zukunft wieder zu steigenden CO2-Emissionen kommen wird und das Reduktionsziel weit verfehlt wird. Die Selbstverpflichtungen der Industrie reichen nicht aus: die Bundesrepublik steht tief in den roten Klimazahlen. Jetzt schon zeichnet sich also der Bruch der von Kanzler Kohl in Rio und Berlin gegebenen Versprechen ab. Man setzt darauf, daß die Gesellschaft kollektiv bereit ist, die drohenden ökologischen Gefahren zu verdrängen und daß dem einzelnen der Arbeitsplatz näher ist als die Klimakatastrophe. Diese Geisteshaltung manifestiert sich in der in letzter Zeit feststellbaren aktiven Absetzbewegung von der Zielvorstellung einer ökologischen Steuerreform. Mittlerweile hat sich die energiepolitische Zielsetzung der Bundesregierung auf die Senkung der Energiepreise, insbesondere für die Großabnehmer in der Industrie, reduziert.

Aber auch für Teile der SPD gilt neuerdings das alte Motto: „Umwelt ist out, Arbeit ist in“. So ließen der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Clement, der wirtschaftspolitische Sprecher Schröder und die Spitzenkandidaten Beck und Spörri in letzter Zeit mehrmals verlauten, daß die Ökosteuer zugunsten der Beschäftigungssicherung zu warten habe. Damit sind sie auf deutliche Distanz zu den Positionen ihrer Partei und Bundestagsfraktion gegangen. Der Plan, die Lohnnebenkosten zu senken und im Gegenzug den Naturverbrauch stärker zu besteuern, ist selbst im Urteil der Skeptiker noch vernünftig. Aber ausgerechnet in der Wirtschaftskrise damit ernst zu machen, halten sie für fahrlässig. Ihre Devise lautet: In alten Strukturen durchstarten, damit in besseren Zeiten die Reformen angepackt werden können. Dieses Denk- und Verhaltensmuster ist nicht unbekannt. Ob es um Subventionsabbau geht, um Entrümpelung der zu komplizierten Steuervorschriften oder die Sanierung der Staatsfinanzen – stets wurde das Anpacken von als Daueraufgabe erkannten Herausforderungen vertagt, weil die Umstände nicht danach waren. Doch die alten Trampelpfade der Wirtschaftspolitik haben die Krise mit heraufbeschworen. Wenn sich Politiker gegenseitig – quasi in großer Koalition – auf den Status quo einschwören, läßt das deshalb nichts Gutes erhoffen: weder für die Arbeitslosen noch für die Umwelt.

Energiewende: Chance für den Standort Deutschland

Die Zukunft der Arbeit im Wirtschaftsstandort Deutschland liegt nicht bei den ausgereiften Industriezweigen. Denn dort geht es im weltweiten Wettbewerb vor allem um Produktivitätssteigerung, d.h. die Herstellung der Produkte in kürzerer Arbeitszeit. Neue Arbeitsplätze können damit nicht geschaffen werden. Die Sicherung des Standorts Deutschland nur über Kostensenkung in der Produktion ist deshalb völlig defensiv. Die Zukunft der hochentwickelten Industrienationen liegt in der Innovation. Und hier stellt selbst die Bundesregierung ein Defizit fest. Nur durch neue Produkte, neue Produktionsverfahren, neue Maschinen, neue Industriebranchen können auch neue dringend benötigte Arbeitsplätze geschaffen werden. Arbeitsplätze mit Zukunft, die nicht am Dauertropf von Subventionsgeldern hängen. Wir brauchen deshalb Innovationsförderung und nicht in erster Linie eine Wirtschaftspolitik, die sich lediglich auf den Erhalt der Altindustrien konzentriert. Das sieht die Bundesregierung durchaus ein, aber sie ist nicht in der Lage, Lobbydruck und Interessensverquickung zwischen Politik und Großindustrie zu überwinden. Innovationsförderung heißt: Risikokapital, Netzwerke und Innovationsverbünde für klein- und mittelständische Unternehmen und anwendungsorientierte Forschung und Bildung und Hilfe bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit weltweit. Innovationsförderung heißt aber auch eine Strukturpolitik, die ausgerichtet ist auf die Märkte von morgen. Heute sind dies Telekommunikation und die Herausforderung der ökologischen Katastrophe. Hier gibt es ein großes Bedürfnis nach neuen Produkten, das erst in Ansätzen gedeckt ist, und dieser Bedarf wird weltweit wachsen. Ein entscheidender Anstoß für Innovation in heutiger Zeit besteht deshalb in der großen Aufgabe, die ökologische Krise durch den Strukturwandel zu bewältigen.

Dabei ist die Zukunft der Energieversorgung der zentrale Bestandteil. Und es muß deutlich sein, daß die jetzige Art und Weise, wie wir unsere Energie erzeugen und verwenden noch nicht die Lösung für die Zukunft ist. Ob Dampfturbine oder Atomkraftwerke – jede Zeit hatte eine Energieform, die das Symbol für die Zukunft war. Heute sind dies die regenerativen Energieträger und die Einsparkraftwerke. Und jede Zeit hat es sich geleistet, diese Hoffnungsträger mit aller Kraft zu fördern. Wer nicht in Zukunftstechnologien der Energieversorgung investiert, gefährdet die Basis der wirtschaftlichen Entwicklung. Für die Förderung von deutscher Steinkohle wurden Milliarden investiert. Und die Atomkraft war und ist ein schwarzes Loch in den Haushaltskassen. Ein klares eindeutiges und entschlossenes Ja für die regenerativen Energieträger und das Ausreizen aller Energieeinsparpotentiale ist der beste Anreiz für breite Forschung und Massenproduktion. Es gibt keinen Grund, dabei zögerlich zu sein.

Ein Beispiel: Ulrich Aderhold von ASE (Angewandte Solarenergie GmbH) begründet die Verlagerung der letzten Photovoltaikproduktion nach Amerika mit der fehlenden Binnenmarktnachfrage. Siemens Solar ging es nicht anders. Auch sie haben ihre Produktion in die USA verlagert und und es dort mit 12,6 Megawatt zum weltweiten Marktführer gebracht. Obwohl Deutschland weltweit führend bei der Erforschung und Entwicklung der Photovoltaik ist, hapert es bei der Umsetzung in die Praxis. Auch der Computermarkt wurde auf dieselbe Art und Weise verschlafen. Zögernde Unternehmer und zaudernde Politiker bilden eine unheilvolle Allianz.

Wer seine Wirtschaftsweise auf Nachhaltigkeit umstellt, wird die beste Ausgangspositionen in der Zukunft haben, denn diese Produkte werden weltweit gebraucht. Die ökologische Steuerreform schafft einen Anreiz, Energie zu sparen und sie macht die Erzeugung von Strom und Wärme durch regenerative Energien wirtschaftlicher, weil diese aus der Besteuerung ausgeklammert sein sollen. Eine Ökosteuerreform ist notwendig, um die derzeit längst nicht ausgeschöpften Beschäftigungspotentiale des ökologischen Umbaus in der Bundesrepublik zu erschließen.

Ökologische Steuerreform statt Erhöhung der Mehrwertsteuer

Wenn jetzt über die Notwendigkeit der Senkung der Lohnnebenkosten geredet wird, so wird eine große Chance für eine ökologische Steuerreform bewußt verschenkt. Statt der Erhöhung der Mehrwertsteuer, die die Nachfrage im Inland drosseln würde, könnten die Lohnnebenkosten über eine ökologische Steuerreform gesenkt werden. Das Aktionsprogramm der Bundesregierung für Investitionen und Beschäftigung verzichtet jedoch auf jegliche ökologische Akzente in der Finanz- und Steuerpolitik. Nicht einmal die überfällige substantielle Überprüfung umweltschädlicher Steuersubventionen, wie sie beispielsweise auch der Bundesverband der jungen Unternehmer und Vertreter des Mittelstandes im Dezember 1995 forderten, wird in Angriff genommen. Immer wieder läßt sich die Bundesregierung von der FDP zum Büttel machen. Die steuerpolitischen Finanzkonzepte reduzieren sich auf Wahlkampfhilfe für den angeschlagenen Koalitionspartner.

Die Kosten für Arbeit senken, den Umweltverbrauch verteuern – das ist die moderne Antwort auf die Arbeitsplatz- und Umweltkrise. Die Verknüpfung von Umweltschutz, Senkung der Lohnnebenkosten zu einer Innovationsinitiative, – das wäre ein Erfolgsbündnis. Nicht nur wirtschaftspolitisch, sondern auch für die Stimmung im Land, denn es könnte gelingen, zwei Ängste, die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und die Angst vor der ökologischen Katastrophe in konstruktive Energien zu verwandeln. Ein neuer Aufbruch, eine Gründerstimmung könnte entstehen.

Von Gründerstimmung weit entfernt

Doch bei der Förderung der erneuerbaren Energien sind wir inzwischen auf dem absoluten Tiefstand in Deutschland angelangt. Der letzte Hersteller von Solarmodulen (ASE in Wedel) hat das Handtuch geworfen und ist in die USA ausgewandert. Relevante Förderprogramme liegen nicht vor. Die Ausweitung des Stromeinspeisungsgesetzes auf kostendeckende Vergütung für Windkraft im Binnenland, Biogasanlagen, Kraftwärmekopplung und Photovoltaik wird von der Bundesregierung zum jetzigen Zeitpunkt abgelehnt. Für die Erzeugung von Wärme durch Sonnenenergie wird absolut nichts getan. Gefördert wird lediglich die Dinosauriertechnologie Atomkraft.

Dabei ist diese Gesellschaft bereit, die Förderung der erneuerbaren Energieträger in die eigenen Hände zu nehmen und dafür auch in Zeiten enger Haushaltskassen in den eigenen Geldbeutel zu greifen: Greenpeace hat innerhalb von zwei Monaten Kaufinteressenten von Hausdach-Solaranlagen zur Stromerzeugung im Wert für 30 Millionen DM gewonnen und täglich kommen neue umfangreiche Bestellungen hinzu. Das bisherige Stromeinspeisungsgesetz garantiert für eine kostendeckende Vergütung für den Strom aus Windkraftanlagen an Küstenstandorten. Damit ist es in den letzten fünf Jahren gelungen, die Windkraft um 1400 % (!) zu steigern. Dieses Instrument hat sich also in der Praxis bewährt. Insgesamt ist es gelungen, unbürokratisch, ohne Belastung der öffentlichen Haushalte über eine Milliarde DM privates und mittelständische Kapital für den Klimaschutz zu aktivieren und gleichzeitig 2,5 Millionen Tonnen CO2 einzusparen. Und das winzige Programm der Bundesregierung zur Förderung von erneuerbaren Energieträgern ist hoffnungslos unterdimensioniert. Schon am 7. Januar '96 lagen für 1996 über 19.000 Anträge auf dem Tisch. Damit war das Programm für ein Jahr bereits nach einer Woche ausgeschöpft. Weitere Anträge, so ließ die Bundesregierung verlauten, bräuchten nicht mehr gestellt zu werden.

Dieser außerordentlichen Resonanz, dieser Bereitschaft, am Einstieg in das Solarzeitalter mitzuwirken, wird kein Resonanzboden geliefert. Anstatt Rahmenbedingungen zu schaffen, wo sich dieses Potential in voller Kraft entfalten kann, herrscht verantwortungslose Untätigkeit in den Reihen der CDU/CSU/FDP.

Land der Stromer

Begründeter Zweifel daran, daß der Energiehunger der Menschheit die Erdatmosphäre aufheizt, gibt es nicht mehr, aber eine Energiewende kommt nicht in Gang. Nur die Ausnutzung aller Energieeinsparpotentiale und die breite Anwendung von Sonne, Wind, Wasser und Biogasanlagen bieten eine Alternative. Doch dem stehen Interessen der Stromwirtschaft entgegen.

Im Bundestag steht aktuell die Debatte über den Erfahrungsbericht über das bisherige Stromeinspeisungsgesetz an. Dieses Gesetz war ins Gespräch gekommen, weil es die Energieversorgungsunternehmen offensiv boykottierten. Es ist uns gelungen, einen Antrag im Bundestag durchzusetzen, in dem dieses z.T. gesetzwidrige Verhalten der Stromkonzerne einstimmig verurteilt wird. Doch die Stromkonzerne machen weiter Druck. Sie drohen damit, ab sofort nicht nur in Einzelfällen, sondern flächendeckend nur noch unter Vorbehalt zu zahlen. Die Bundesregierung will dennoch an dem bisherigen Gesetz festhalten und wird durch verschiedene Gutachter und von einem ersten Urteil des Verfassungsgerichtes in der Auffassung gestützt, daß diese im Gegensatz zum Kohlepfennig auch verfassungskonform ist. Das ist gut. Schlecht ist, daß die Bundesregierung dem massiven Druck der Konzerne nachgibt und eine Ausweitung und Verbesserung dieses Gesetzes nicht mehr anstrebt. Dies, obwohl aufgrund der positiven Erfahrungen mit diesem Gesetz auch viele Abgeordnete der Regierungsparteien eine Reform wünschen.

Die mächtigen Stromkonzerne bekämpfen den Einstieg in Solarzeitalter mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln: Es gibt aufgrund der Fehlprognosen über den Energiebedarf der 70er Jahre erhebliche Überkapazitäten der Stromindustrie. Viel entscheidender aber ist, daß für die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energieträgern die Stromkonzerne tendenziell überflüssig gemacht werden: Dieses Energieangebot muß dezentral genutzt werden. BürgerInnen, Kommunen, Regionen, klein- und mittelständische Investoren können auf vielfältige Weise aktiv werden. Wenn Dächer und Fassaden sich in viele kleine Kraftwerke wandeln, wenn Dorfgemeinschaften Windparks bauen, junge Ingenieurbüros Energieeinsparprogramme für Krankenhäuser, Verwaltungsgebäude, Kaufhäuser entwickeln, Bauern Biogasanlagen auf dem Hof errichten, wenn Energiesparen selbstverständlich wird, dann lösen die Menschen durch ihr Handeln zunehmend die Macht der starren Stromkonzerne auf.

Deshalb ist die Zeitenwende in der Energiewirtschaft zur Zeit nur gegen die Stromkonzerne durchzusetzen. Da diese die Macht über das Netz, Verbindungen, Know-how und gigantische Finanzpolster besitzen, gleicht das Ringen um Marktanteile für erneubare Energieträger dem Kampf von David gegen Goliath. Deshalb ist zentraler Bestandteil für den Aufbruch ins Solarzeitalter der Ersatz des bisherigen Energiewirtschaftsgesetzes, das die Energieversorgungsstruktur im Lande festlegt und die Macht der Stromkonzerne begründet, durch ein Energiegesetz, daß die Macht über das Netz neutralisiert und Neuanbietern insbesondere von erneuerbaren Energieträgern eine Chance gibt. Die Zeit ist reif, das 60 Jahre alte Energiewirtschaftsgesetz (EnWG), welches in der Nazizeit eine bis heute geltende, unzeitgemäße Monopolstruktur festgeschrieben hat, durch ein neues Gesetz abzulösen. Die auf dem EnWG basierende Struktur fördert weder den sparsamen Umgang mit Energie oder den Durchbruch zur Sonnenwirtschaft, noch die Förderung von Wind, Biogas, Erdwärme und Photovoltaik.

Die innere Logik der Energieversorgungsstruktur lenkt die wirtschaftlichen Interessen der Stromkonzerne nicht in die umweltpolitisch und volkswirtschaftlich wünschenswerte Richtung. Je mehr Strom die Energieversorger verkaufen, desto höhere Gewinne fahren sie ein. Je mehr Strom sie produzieren, desto mehr können sie auch verkaufen. Je größer – und umweltschädlicher – die Kraftwerke sind, desto preisgünstiger kann der Strom produziert werden. Es kommt für die Politik jetzt darauf an, ihren Gestaltungsanspruch durch das Setzen von neuen Rahmenbedingungen auszufüllen. Die Novellierung des 60 Jahre alten Energiewirtschaftsgesetzes ist dabei ein zentraler Bestandteil. Mit dem „Eckpunktepapier für ein neues Energiegesetz“ hat die bündnisgrüne Bundestagsfraktion im November 1995 als erste von allen Fraktionen ein umfassendes Konzept für die Neustrukturierung der Energiewirtschaft nach ökologischen Gesichtspunkten vorgelegt.

Die ökologische Steuerreform und die Neustrukturierung der Energiewirtschaft sind zwei seit langer Zeit überfällige große Reformprojekte, die den Rollback des Umweltschutzes und die überkommene Ideologie von der Unvereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie überwinden. Moderne zukunftsfähige Energiepolitik heißt, sich den Herausforderungen des ökologischen Strukturwandels zu stellen. Die Energiewende ist dabei ein Beitrag zur Innovation und für die Schaffung von Arbeitsplätzen und damit ein Beitrag zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland.

Das Eckpunktepapier für ein neues Energiegesetz kann bestellt werden bei: Büro Michaele Hustedt (MdB), Bundeshaus, Rheinweg 6, 53113 Bonn. Fax 0228 – 16 8 6303

Michaele Hustedt ist energie- und umweltpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen

»Perpetuum solare« ist möglich

»Perpetuum solare« ist möglich

von Hermann Scheer

Viele Jahrzehnte galt im politischen Alltagsbewußtsein Energiepolitik als ein unpolitisches Thema. Sie stand außerhalb des ideellen oder tagespolitischen Parteienstreits. Über die beiden Grundziele der Energieversorgung bestand bei allen Einigkeit, ob Sozialdemokrat oder Christdemokrat, ob in »West« oder in »Ost«: Es galt, eine kontinuierliche und möglichst billige Energieversorgung sicherzustellen. Diese Aufgaben wurden an die Energiewirtschaft delegiert, und diese formulierte sachverständig die Rahmenbedingungen, die von der Politik dann gesetzlich festgelegt wurden. Die Energiepolitik war eine Angelegenheit nur der energiewirtschaftlichen Fachleute. Es gab »Energiekonsens«.

Dieses innenpolitische Verständnis von Energiepolitik stand in merkwürdigem Kontrast zu den energiepolitischen Konflikten früherer Jahrzehnte und der außenpolitischen Behandlung der Energiefrage, die stets hochpolitisch war. Innenpolitisch gab es in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts massive Auseinandersetzungen zwischen den Kommunen, die mittels ihrer Stadtwerke eine eigene kommunale Energiewirtschaft betrieben (und daraus auch – insbesondere in ihrer Finanzkrise in der Weimarer Republik – teilweise erhebliche kommunale Einnahmen erzielten) und den sich herausbildenden Großunternehmen der Stromversorgung. Dieser Konflikt wurde mit dem Energiewirtschaftsgesetz von 1935 – tatsächlich eine Art Ermächtigungsgesetz – zugunsten letzterer entschieden. Und in der internationalen Politik stand die, notfalls erpresserische, Sicherung der Energiequellen stets im Vordergrund von außenpolitischen Strategien, was jedoch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg aus den innenpolitischen Konsensidyllen über die Energieversorgung verdrängt wurde.

Letzteres änderte sich schlagartig seit den Konflikten um die Atomenergie, die Mitte der siebziger Jahre entbrannten und die den Start der Ökologiebewegung markierten. Der Konflikt eskalierte: anfangs zwischen der Anti-AKW-Bewegung und den Parteien und politischen Institutionen; danach in den Parteien und zwischen den Parteien, besonders nach dem Einzug der Grünen ins Parlament; danach auch zwischen den Institutionen. Er spitzte sich weiter zu, als mit der seit Mitte der achtziger Jahre aufkeimenden Klimadebatte auch die fossilen Energieträger mehr und mehr grundsätzlich infragegestellt wurden. Je konfliktreicher die Energiedebatte wurde, desto mehr erschallte die Forderung der Energiewirtschaft an die Politik, doch endlich wieder einen Energiekonsens sicherzustellen. Sie meinen damit, daß sie doch bitte wieder in Ruhe gelassen werden sollten. Sie wollen endlich wieder als »Fachleute« unter sich sein, beanspruchen das Monopol des Sachverstandes und verwahren sich gegen »ideologische«, vermeintlich sachfremde und irrationale Interventionen einer irregeleiteten Öffentlichkeit.

Doch ein Konsens wird erst wieder möglich sein, wenn die grundlegende Weichenstellung zu den Energiequellen definitiv und unumkehrbar eingeleitet ist, die als einzige die Bezeichnung »Zukunftsenergien« verdienen: die erneuerbaren Energien. Der Grund ist eindeutig: Da die Gefahren der Atomenergie und der fossilen Energien keine eingebildeten, sondern höchst reale sind, wird sich die Infragestellung der sich auf diese Ener<~>gien stützenden Unternehmen der Energiewirtschaft und der Strukturen der Energieversorgung zuspitzen – einhergehend mit den sich dadurch zuspitzenden Gefahren. Irrational und »ideologisch« ist nicht die Forderung nach einer Ablösung des atomar/fossilen Energiesystems, sondern das Festhalten daran.

Die Politik steht damit immer deutlicher vor der Wahl, ob sie sich weiterhin zum Sachverwalter einer strukturkonservativen Energiewirtschaft macht, und damit eine zunehmende Entfremdung zwischen Bürgern und politischen Institutionen riskiert – oder ob sie sich zum Entscheidungsträger für die Durchsetzung der erneuerbaren und ökologisch verträglichen Zukunftsenergien macht, und dafür den unvermeidlichen Konflikt mit der gegenwärtigen Energiewirtschaft auszuhalten bereit ist. Sie steht damit vor der Frage, ob sie bereit ist, das öffentliche Interesse vor das Interesse eines monopolisierten Wirtschaftszweiges zu stellen. Denn eines ist sicher: Die verheerenden Konsequenzen der atomar/fossilen Energiewandlung sind weltweit unübersehbar geworden, und mit dem wachsenden Energiebedürfnis einer wachsenden Menschheit breiten sich die unbezahlbaren Hypotheken für die kommenden Generationen und die Verwüstungen der Umwelt rapide aus. Gleichzeitig drohen, wegen der dabei zusehends knapper werdenden Energieressourcen, dramatische internationale Konflikte.

Die erneuerbaren Energien sind angesichts dessen eine einzigartige Chance: kein »deus ex machina«, sondern ein »deus ex sole«. Es ist nachvollziehbar, warum sich die Energiewirtschaft in einer breiten Ablehnungshaltung befindet. Ihre Investitionen in die herkömmlichen Energieträger und in die darauf zugeschnittenen Versorgungsstrukturen stehen bei einem grundlegenden energiepolitischen Prioritätenwechsel in einem Ausmaß zur Disposition wie es bei keinem Wirtschaftszweig bisher auch nur annähernd der Fall war. Die Energiewirtschaft befindet sich in der Situation eines selbstentfesselten Dinosauriers. Doch nicht nachvollziehbar ist, warum die Politik die sich mit den erneuerbaren Energien ergebenden handgreiflichen Zukunftschancen nicht schon lange mit vollen Händen ergriffen hat. Diese zeigen, daß – bei konsequenter Nutzung und forcierter Weiterentwicklung der Technologien zur Umwandlung der erneuerbaren Energien in nutzbare Energien – ein »Perpetuum solare« möglich ist, das die Eigenschaften eines »Perpetuum mobile« erfüllt, wenn wir uns die von der Natur kostenlos angebotene Sonnenenergie hinzudenken.

Die Sonnenenergie, so erklärte uns bereits der Chemienobelpreisträger Wilhelm Ostwald Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Buch über „Die energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft“, ist das einzige wirkliche Zusatzeinkommen, das die Erde regelmäßig hat. Demgegenüber ist die Nutzung der in der Erde gelagerten Energiespeicher nichts weiter als eine riesige Umverteilung vorhandener Ressourcen, und bekanntlich geht jede Umverteilung zu Lasten anderer. Wirtschaftliches Wachstum, aufbauend auf atomarer und fossiler Energienutzung, ist deshalb ein endliches Konzept für die Zivilisation – endlich in bezug auf die Verfügbarkeit der Ressourcen und auf die ökologischen Umwandlungsfolgen, die uns eine »Ökonomie des Todes« bescheren. Es ist naturwisenschaftlich eindeutig, daß dauerhaftes Wirtschaften nur mit dem »perpetuum solare« möglich ist – und damit eine Perspektive für die Menschheit ohne fatale Folgen und fatalistische Rücksichtslosigkeiten. Deshalb sind die erneuerbaren Energien weit mehr als nur alternative, umweltfreundlichere Energietechniken – sie sind eine neue Basis für ein tragfähigeres Zivilisationsmodell, ein neues politisches Grundlagenprogramm für Wirtschaft und Gesellschaft.

Dennoch überwiegen immer noch Einstellungen bei politischen Repräsentanten, das gute Einvernehmen mit den Interessen der strukturkonservativen Energiewirtschaft einem neuen Einvernehmen mit dem öffentlichen Interesse vorzuziehen, das heute ohne konsequenten ökologischen Bezug nicht mehr zu definieren ist. Was auch immer die Gründe dafür sind (in meinem Buch „Sonnenstrategie“ mit dem Untertitel „Politik ohne Alternative“ habe ich sie zu beschreiben versucht ), sie sind nicht hinnehmbar, vor allem nicht von den politischen Akteuren selbst.

Hermann Scheer ist Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion und Präsident der Eurosolar

Tschad: Hirse, Schwarzes Gold und Menschenrechte

Tschad: Hirse, Schwarzes Gold und Menschenrechte

von Barbara Dietrich

in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Frieden in Forschung und Lehre an den Fachhochschulen

„Shell: der schmutzige Krieg im Ogoni Land“, „ 30 Jahre Ölausbeutung contra Umweltschutz“, „Todesurteil gegen Ken Saro-Wiwa“ – so oder ähnlich lauteten die Schlagzeilen, als im Oktober 1995 in den Medien über einen Strafprozeß in Nigeria berichtet wurde, in dessen Verlauf neun Angeklagte, darunter der bekannte Autor und Bürgerrechtler Ken Saro-Wiwa, von einem Sondergericht zum Tode verurteilt worden waren und die Todesstrafe – trotz weltweiter Proteste – umgehend vollstreckt wurde.

Ken Saro-Wiwa war führendes Mitglied einer Anfang der neunziger Jahre im Niger- Delta entstandenen »Bewegung für das Überleben der Ogoni« (Movement for the Survival of the Ogoni People – MOSOP), eines Zusammenschlusses von Intellektuellen und Ogoni-Dorfbevölkerung mit dem Ziel politischer Autonomie und gerechter Verteilung der Einnahmen aus der Ölförderung. Das Gebiet der Ogoni, ca. 1.000 km2 groß und von ca. 500.000 Menschen bewohnt, ist nur ein kleiner Teil des Niger-Deltas und eines der ersten Fördergebiete der Firma Shell-Niger, welche die Ölförderung dort bereits seit 1958 betreibt (Danler/Brunner, 1996: 34; Shell, 1995: 3) und die 14 % ihrer gesamten weltweit organisierten Ölproduktion aus dem Niger-Delta bezieht (Danler/Brunner, 1996: 11). Die durch die Ölausbeutung im Niger-Delta verursachten Umweltschäden sind massiv und vielfältig: permanente und zeitweilig auftretende Ölaustritte bewirken die Verschmutzung / Kontaminierung von Böden, Flüssen und schließlich des Trinkwassers, die Ölschicht auf Wasser und Land entzündete sich an manchen Stellen und brannte, ohne daß die Verantwortlichen bei Shell dagegen einschritten (Danler/Brunner, 1996: 26).

Durch das Abfackeln des mit dem Öl assoziierten Erdgases über 24 Stunden am Tag entsteht schwerer Ruß, der sich auf Haut, Schleimhäute und Atemwege der im Delta lebenden Bevölkerung legt, sich auf Feldern und Gewässern absetzt und somit auch in die Nahrung gelangt. Das mit der Abfackelung entstehende Methan-Gas – 12 Mio. t im Jahr – gilt als wichtigster Verursacher des Treibhauseffekts und wird – trotz seit 1996 bestehenden Verbots – fortgesetzt (Danler/Brunner, 1996: 28 f.).

Ein umweltverträgliches Konzept für die Müllentsorgung fehlt: Der bei den Bohrungen zutage geförderte – teilweise kontaminierte – Schlamm wird meist in die nahen Flußläufe gekippt oder im Land vergraben, darin enthaltene Salze, Chemikalien etc. geraten ebenfalls ins Wasser. Auch anderer Müll wird vergraben, verbrannt oder in Flüsse und Sümpfe entsorgt (Danler/Brunner, 1996: 25 ff.). Es ist nur folgerichtig, wenn 80 % der gemeldeten Krankheiten auf verunreinigtes Trinkwasser zurückgeführt worden sind (Danler/Brunner, 1996: 15).

Andere Folgeprobleme der Ölproduktion sind z.B. die Landnahme, die seitens Shell und anderer Ölgesellschaften (z.B. Chevron, Mobil etc. (Danler/Brunner, 1996: 5,10)) ohne weiteres erfolgt, seit durch das Landnutzungsdekret der nigerianischen Regierung im Jahre 1978 sämtliches Land einschließlich der darunter liegenden Rohstoffe – aller bisherigen Tradition zuwider – zu staatlichem Eigentum deklariert worden war (Danler/Brunner, 1996: 7,14 f.).

Nachdem im Januar 1993 etwa 300.000 Menschen an einem von der MOSOP initiierten Protestmarsch gegen die Umweltzerstörung teilgenommen hatten, wurde die Organisation und ihre Anliegen in weiten Teilen Nigerias und international bekannt und damit eine wachsende Gefahr für die Militärregierung, der es bislang gelungen war, etwaige Proteste mit militärischen Mitteln im Keim zu ersticken.

Nachdem Ken Saro-Wiwa als führender Oppositioneller seine Kandidatur für die Constitutional Conference erklärt und MOSOP zuvor Shell zur Zahlung von Gewinnanteilen und von Schadensersatz für die vergangenen 30 Jahre Ölförderung aufgefordert hatte, wurden Ken Saro-Wiwa und einige Mitstreiter unter dem Vorwurf der Anstiftung zum Mord an Gegnern der MOSOP verhaftet. Der Vorwurf gegen Ken Saro-Wiwa war insbesondere deshalb absurd, weil er sich zur Tatzeit nachweisbar nicht an Ort und Stelle aufgehalten hatte (Danler/Brunner, 1996: 35). Gegen die Todesurteile, die gegen Ken Saro-Wiwa und acht weitere Angeklagte ausgesprochen wurden, gab es keine Rechtsmittel, vielmehr wurden sie alsbald vom Obersten Militärrat bestätigt und am 10.11.1995 vollstreckt.

<-2>Die Verurteilung und Hinrichtung der Angeklagten wurde begleitet von einem Feldzug des Militärs gegen die BewohnerInnen der Ogoni-Dörfer: Mord, Schläge, Brandstiftungen waren an der Tagesordnung; Ziel war es, die MOSOP zu zerschlagen (Danler/Brunner, 1996: 35).

In einer von Shell-London im Jahre 1995 herausgegebenen Studie »Die Erdölindustrie in Nigeria« verweist Shell zu seiner Rechtfertigung darauf, Anfang 1995 eine Umweltstudie »Niger Environment Survey« in Auftrag gegeben, bis Ende 1994 Rohrleitungen im Umfang von 1.300 km Länge erneuert zu haben und neue Ansätze hinsichtlich des Exports von Erdgas mit zu entwickeln (Shell, 1995: 6 ff.). Was die politische Lage in Nigeria betrifft, so propagiert Shell als der größte und einflußreichste der in Nigeria tätigen Ölkonzerne (Danler/Brunner, 1996: 5,10; Shell, 1995: 2) die »stille Diplomatie« gegenüber der Militärregierung mit dem Ziel, mäßigend auf die sozialen Konflikte im Land einzuwirken bzw. mit der Bitte um Nachsicht „aus humanitären Gründen“ im Falle Ken Saro-Wiwas (Shell, 1995: 8 ff). Jedenfalls im letzteren Fall ohne Erfolg.

Tschad – (k)ein neues Ogoni-Land ?

Droht im Tschad eine Entwicklung, die der in Nigeria vergleichbar ist? Oder nutzt die Regierung im Tschad die Chance, maximale Gewinne aus der geplanten Ölförderung für das eigene Land zu reklamieren, zum Nutzen der benachteiligten Bevölkerung einzusetzen und damit auch die Demokratisierung zu entwickeln?

Tschad, seit 1960 formal unabhängig, Nachbarland von Nigeria, Nachbar auch von Sudan, Libyen, Niger, Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik: ein Land ohne eigenen Zugang zum Meer.

Der äußerste Norden mit fast 50 der Gesamtfläche des Tschad – etwa zweieinhalbmal so groß wie Frankreich –, ist Wüste, der mittlere Teil – der Norden genannt wird – ist Teil der semiariden Sahelzone. Im Süden – tropisches bzw. randtropisches Gebiet – konzentrieren sich auf 25 der Gesamtfläche ca. 60 der insgesamt 6,4 Mio. Einwohner des Tschad (1995). An Verkehrswegen besitzt der Tschad insgesamt ca. 250 km asphaltierte Straßen; im Süden gibt es wegen des Baumwollanbaus und der Vermarktung dieses Produkts ein regelmäßig gewartetes Pistennetz (Matthes, 1993: 488; Fischer Weltalmanach, 1997: 705).

Im Tschad leben – Resultat der kolonialen Grenzziehung – ca. 200 Ethnien. Es gibt zwölf verschiedene Sprachgruppen mit mindestens 110 Sprachen und Dialekten. Französisch ist Amtssprache, seit 1982 auch arabisch.

<-2>In der Sahelzone leben Angehörige islamisch-sunnitischen Glaubens, die – teilweise nomadisierend – Viehzucht und Handel betreiben. Im Süden leben dagegen christlich und animistisch orientierte Ethnien, die Ackerbau treiben (Ki-Zerbo, 1992: 579). Die Ethnie der seßhaften Sara dominiert im Süden (1 Mio.) und stellt bis heute die administrative Elite, wiewohl seit 1982 ein Muslim Präsident ist (Matthes, 1993: 489; Nohlen, 1993: 679f.).

Wirtschaftlich zählt der Tschad zu den ärmsten Ländern der Welt und ist als LLDC (Least Developed Country) klassifiziert (Klassifikation nach UN-Kriterien, vgl. Michler, 1991: 42; ab 1992 gelten modifizierte Kriterien, vgl. Beermann, 1992: 58f.). Als Indikatoren hierfür seien genannt (Angaben für 1995):

  • Bevölkerungswachstum 1985 – 1995: durchschnittlich 2,5 pro Jahr.
  • Kindersterblichkeit: 15,2 (Fischer Weltalmanach, 1997: 705).
  • Schulbesuch der Kinder: 25 (Duppel/Petry, 1997: 1).
  • Analphabetenrate: 52 (Fischer Weltalmanach, 1997: 705).
  • <-3>Zugang zu sauberem Trinkwasser: 1/3 der Bevölkerung (Duppel/Petry, 1997: 1).
  • Durchschnittseinkommen pro Kopf 1993: 210 US $ jährlich (amnesty international, 1993: 6).
  • <-2>Bruttosozialprodukt: 1.144 Mio. US $.
  • Auslandsverschuldung: 908 Mio. US $ (Fischer Weltalmanach, 1997: 705f.).

Importprodukte sind Industriegüter, Maschinen, Transportausrüstungen, Nahrungsmittel, Brennstoffe. Exportgüter sind Baumwolle (mit 80 Anteil), Erdnüsse, Gummi Arabicum sowie Produkte aus der Viehzucht (Fischer Weltalmanach, 1997: 706).

Der Tschad besitzt bisher nicht erschlossene Bodenschätze: Uran, Gold, Zinn, Bauxit im äußersten Norden (Nohlen, 1993: 680), in dem von Libyen ehemals besetzten Azouzou-Streifen (SIPRI, 1988: 178 f.; Herz, 1988: 94 f.) sind es Wolfram, Zinn, Blei und Uran (Matthes, 1993: 488 f.), vor allem aber ist es Erdöl (dazu i. e. unten).

Der mehr als 30 Jahre dauernde Krieg und Bürgerkrieg und die Dürre der Jahre 1982 bis 1985, während der 80 des Viehbestandes zugrunde ging, haben zu Migrationsbewegungen größeren Umfangs geführt (Herz, 1988: 95): von Norden nach Süden (ca. 500.000 Flüchtlinge), dort vor allem in die Städte und in andere Nachbarländer. Dort lebten Tausende von Flüchtlingen in Lagern. Die Überschwemmungen durch die beiden großen Flüsse im Jahre 1988 machten ca. 50.000 Personen obdachlos, die ebenfalls im Süden Zuflucht suchten. Dadurch verschob sich das Ungleichgewicht zwischen Norden und Süden erneut nach Süden, mit der Folge, daß die ohnehin unzulänglich entwickelte Infrastruktur hier, z.B. im Hinblick auf Gesundheits- und Wohnungsversorgung, Ausbildungs- und Transportmöglichkeiten, total überlastet wurde (Matthes, 1993: 489; Nohlen, 1993: 680).

Politisch wird der Tschad durch den im Jahre 1990 nach einem Militärputsch an die Macht gekommenen Idriss Déby regiert, der durch die Wahl vom Juli 1996 in seinem Amt bestätigt wurde . Allerdings wurden bei Durchführung der Präsidentschaftswahlen u.a. zwei aussichtsreiche Kandidaten gerichtlich von der Teilnahme ausgeschlossen, ein anderer Kandidat wurde inhaftiert und mußte seinen Wahlkampf vom Gefängnis aus führen (Auswärtiges Amt, 1995: 1).

In der neuen Verfassung des Tschad vom März 1996 ist das Prinzip der Gewaltenteilung verankert. Der Katalog der Grundrechte enthält zugleich die Verpflichtung des Staates, diese zu achten und zu schützen. Willkürliche Verhaftungen sind verboten, es gilt die Unschuldsvermutung; die Möglichkeit der Verteidigung wird garantiert, ebenso wie der Anspruch des Einzelnen auf rechtliches Gehör. Auch Polizei und Gendarmerie werden zur Beachtung der Menschenrechte verpflichtet. Die Regierung des Tschad hat überdies die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948, die Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker von 1981, das Übereinkommen gegen Folter von 1984 sowie andere internationale Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte unterzeichnet und hat durch Gesetz vom August 1994 eine nationale Menschenrechtskommission etabliert, welche die Regierung in Angelegenheiten der Menschenrechte, in Frauen- und Minderheitenfragen beraten soll (Auswärtiges Amt, 1995: 1f.).

Menschenrechte stehen nur auf dem Papier

Diese rechtsstaatlich-liberalen Grundpositionen stehen jedoch nur auf dem Papier. Das von Déby bei Amtsantritt und in Abgrenzung zu seinem Vorgänger, dem seit 1982 diktatorisch herrschenden Oberst Hissène Habré, abgegebene Versprechen der Demokratisierung von Staat und Gesellschaft wurde nicht umgesetzt (amnesty international, 1993: 4 ff.). Vertreter von tschadischen Menschenrechtsorganisationen sowie MitarbeiterInnen von amnesty international und anderen Organisationen berichten seit Débys Amtsantritt kontinuierlich und detailliert von

  • willkürlichen Verhaftungen
  • Langzeitinhaftierungen ohne Anklage bzw. Gerichtsverfahren
  • Isolationshaft
  • Verschwinden von Personen
  • Überfällen auf Häuser, Wohnungen oder ganze Dörfer
  • Morddrohungen
  • außergerichtlichen und öffentlichen Hinrichtungen
  • Vergewaltigungen und Mißhandlungen von Frauen

seitens der Sicherheitskräfte, von einer Zunahme unterschiedlicher Erscheinungsformen von Gewalt also, bei der die Täter unverfolgt und unbestraft blieben (amnesty international, 1993; amnesty international, 1996a; Beassemda: 3 f.; amnesty international, 1997b: 1; amnesty international, 1997c). Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Gewaltspirale Ende 1996, als der Generaldirektor der Gendarmerie mit Unterstützung des Präsidenten Déby anordnete, Taschendiebe, die auf frischer Tat ertappt werden, sofort zu erschießen, ein Befehl, dem Anfang 1997 seitens Polizei und Militär in zahlreichen Fällen Folge geleistet wurde (amnesty international, 1996b: 1; Fischer Weltalmanach,1997: 706; amnesty international, 1997c: 1).

Die Ursachen für die gravierende Mißachtung der Menschenrechte sind vielfältig: Sie resultieren aus der kolonialen Vergangenheit ebenso wie aus bestehenden krassen ökonomischen und politischen Disparitäten. Nicht zuletzt aber sind die Ende der achtziger Jahre entdeckten Ölvorkommen im Umfang von ca. 930 Mio. t Grund für eine weitere Zunahme von massiven Verletzungen der Menschenrechte (Horta, 1997: 1; Bauchmüller, 1997: 63). Die Ölfelder, deren Ausbeutung anvisiert wird, liegen im Tschad-See (Sidigui) und im Doba-Becken im südlichen Tschad (Miandoum, Bolobo, Komé) (Zint, 1997: 3; Ngarlejy, 1997: 1). Ein Konsortium von Esso (Exxon; 40 ), Shell (40 ) und elf aquitaine (20 ) (Horta, 1997: 3) bereitet auf der Grundlage eines Vertrages mit der Regierung des Tschad vom Februar 1995 die Ölförderung vor: Die Vorkommen sollen mit 300 Bohrbrunnen erschlossen und ab dem Jahr 2001 täglich 225.000 barrel gefördert werden (Horta, 1997: 2; Rademaker, 1997: 1). Der Abtransport des Öls wird mittels einer neuen unterirdisch geplanten Pipeline erfolgen, die 170 km durch tschadisches und knapp 1.000 km durch kamerunisches Territorium geführt werden soll. Sie geht mitten durch das Siedlungsgebiet von Pygmäen und endet in Kribi, einer kamerunischen Hafenstadt, die von Naturschutzgebiet umgeben ist (Leurres, 1997: 6 ff.; Horta, 1997: 9). Dort wird das Öl zum Weitertransport auf Schiffe verladen (Bauchmüller, 1997: 63). Die Mitbenutzung der bereits vorhandenen Pipeline nach Limbé, die ausschließlich durch anglophones kamerunisches Gebiet führt, wurde von elf aquitaine abgelehnt, weil die neue Pipeline ausschließlich durch den frankophonen Teil Kameruns geführt und damit gleichzeitig dem französischen Militär ein rascher Zugangsweg zum Tschad für den Fall künftig notwendiger Kriseninterventionen eröffnet werden soll (Horta, 1997: 9; Ngarlejy, 1997: 1).

Die Weltbank soll mitfinanzieren

Nach Vorbereitungsarbeiten für die Ölförderung wird die Durchführung des mindestens 3,5 Mrd. US $ teuren Projekts seitens des Konsortiums von der externen Mitfinanzierung durch die Weltbank und ihre Tochtergesellschaften IDA (International Development Association) und IFC (International Finance Corporation) abhängig gemacht (Rademaker, 1997: 1; Ngarlejy, 1997: 1; Deutsche Bundesbank, 1992: 54 f.). Dabei wollen sich die Ölgesellschaften den Ruf der Weltbank, nur ethisch integere Projekte zu fördern, zunutze machen (Bauchmüller, 1997: 1). Nicht zuletzt sichert eine Beteiligung seitens der Weltbank ihnen auch die Möglichkeit, nachfolgend weitere Kredite auf dem internationalen Kapitalmarkt zu erlangen (Koordinationsbüro Erdölprojekt, 1998a: 1).

Von seiten der Weltbank wurde das Projekt als eines der Kategorie A identifiziert, als ein Projekt also, dessen Umweltverträglichkeit fraglich ist und vor der Entscheidung über die Kreditvergabe umfassender Prüfung bedarf (Tschad-Kamerun, 1998: 1; Commission for environmental impact assessment, 1998: 2).

Riesige Probleme für Menschen und Umwelt

Die Probleme, die durch die Erdölförderung im Tschad hervorgerufen werden, sind immens. Das Doba-Becken, als Zentrum der Ölförderung vorgesehen, ist das fruchtbarste Gebiet im Tschad: Hier wird der größte Teil der Nahrungsmittel, vor allem Hirse, Sorghum, Maniok, Süßkartoffeln produziert – ebenso wie Baumwolle, das wichtigste Exportprodukt (Zint, 1997: 2; Nohlen, 1993: 680).

Landenteignungen für die Herstellung der erforderlichen Infrastruktur haben bereits begonnen: Aus den Fördergebieten werden mindestens 1.500 Familien vertrieben werden, weitere werden der projektierten Pipeline weichen müssen (Ngarlejy,1997; Horta, 1997). Damit einher geht die Zerstörung von Häusern, Bäumen, fruchtbaren Feldern, also die Gefährdung der ausreichenden Versorgung mit Nahrungsmitteln (Rademaker, 1997: 2; WEED, 1997: 2). Der von ESSO zur Vorlage bei der Weltbank konzipierte »Compensation and Resettlement Plan« vom Februar 1998 wirft vielfältige Probleme auf hinsichtlich der Voraussetzungen, des Umfangs und des Verfahrens der Entschädigung. Bemerkenswert erscheint zudem, daß die Bevölkerung vor Ort in die Kontrolle der Entschädigungs- und Umsiedlungsprogramme nicht einbezogen wird, die Kontrolle selber nur punktuell stattfinden soll. Es besteht begründeter Anlaß zu der Annahme, daß die zuvor für die Betroffenen vorhandenen Reproduktionsmöglichkeiten mittels dieser Programme nicht adäquat ersetzt bzw. wiederhergestellt werden (Schönegg, 1998: 1 ff.).

Es ist außerdem – auch wiederum mit Rücksicht auf die im Niger-Delta gemachten Erfahrungen – vorhersehbar, daß sich die bestehenden sozialen Strukturen grundlegend verändern werden: Die geplante Erdölförderung wird zusätzliche Arbeitskräfte erfordern, zusätzliches Geld wird in die Region fließen, Korruption, Kriminalität und auch die Ausbreitung von AIDS werden damit wahrscheinlich einher gehen, bisher bestehende Familien- und Dorfstrukturen zerstört werden (Danler/Brunner, 1996: 15,19; 36, S.2).

Experten gehen überdies davon aus, daß – auch bei Einsatz modernster Technik – Lecks entstehen, Öl in den Boden sickern wird, und Grundwasser, Flüsse sowie Böden im Umfeld der Pipeline kontaminiert werden, eine Konsequenz, die besonders schwer wiegt, weil der Tschad mit seinem trockenen und heißen Klima auf das vorhandene Wasser existentiell angewiesen ist. Daß die Pipeline unterirdisch verlegt wird, erschwert zudem Reparaturen, die angesichts erhöhter Korrosionsgefahren um so notwendiger sein werden (36, S.2; Horta, 1997: 9f.).

Das Ölprojekt birgt aber auch politische Gefahren, wurde es doch – gemessen an den von der Weltbank aufgestellten Kriterien partizipatorischer Entwicklung (Adams/Rietbergen-McCracken, 1994: 36 f.) – ohne Einbeziehung der Betroffenen vorbereitet (Dames and Moore, 1997: 15; Zint/Petry, 1997: 19 f.; urgewald, 1998a: 2.; Tschad-Kamerun, 1998: 1) bzw. wurden Ansätze zur Information der betroffenen Bevölkerung vor Ort unter militärischer Präsenz durchgeführt (Commission for environmental impact assessment, 1998: 9; Zint, 1998a), eine Konstellation, die eher geeignet ist, die Bevölkerung abzuschrecken bzw. zu vertreiben. Ein zusätzlicher Unsicherheitsfaktor ist die Tatsache, daß die Angehörigen der Armee überwiegend aus der Ethnie rekrutiert werden, welcher der Präsident angehört, bzw. aus verbündeten Ethnien (Horta, 1997: 5; amnesty international, 1993: 23).

Schließlich gibt es in verschiedenen Landesteilen einen bewaffneten Widerstand: Z.B. die in der südlich gelegenen Doba-Region operierende Rebellenbewegung, die einen föderativen Staatsaufbau zu ihrem Hauptziel erklärt hat. Der in Aussicht stehende Ölreichtum aus den Förderquellen des Südens hat nämlich Forderungen nach größerer Autonomie dieses Landesteils bzw. nach einem föderativen Staatsaufbau reaktualisiert, nicht zuletzt, weil die Entscheidungen über die Verwendung der Gewinne aus der Ölförderung ausschließlich im Norden gefällt werden (Horta, 1997: 5; WEED, 1997: 2).

Die Bevölkerung – soweit sie über die Ölvorkommen informiert ist – verbindet Hoffnung mit deren Ausbeutung: Hoffnung auf Förderung des Wirtschaftswachstums und der Infrastruktur, auf Arbeitsplätze und eine Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Chancen hierfür sind minimal. Zum einen, weil die Gelder der Weltbank-Organisationen nicht in konkrete soziale Projekte fließen, sondern in den Bau der Pipeline und anderer Infrastruktureinrichtungen im Kontext des Ölprojekts bzw. an das Konsortium direkt ausbezahlt werden sollen (WEED, 1997: 1; Bauchmüller, 1997: 64). Erst Einnahmen aus dem Ölgeschäft sollen in einen staatlichen Entwicklungsfonds zur Bekämpfung der Armut eingezahlt werden. Doch allein die tschadische Regierung entscheidet über die Verwendung dieses Geldes, so daß begründete Zweifel bestehen, ob es tatsächlich all jenen zugute kommt, die es am dringendsten brauchen (Horta, 1997: 3 f.; Bauchmüller, 1997: 64f.).

Diese Zweifel werden verstärkt durch die Tatsache, daß die Regierung dem Konsortium – mit Rücksicht auf die hohen Kosten für den Bau der Pipeline und den Erdölhafen von Kribi – hohe und total unangemessene Steuervorteile eingeräumt hat: Während der ersten dreißig Jahre der Ölförderung resultiert daraus ein Verzicht auf Steuereinnahmen in Höhe von 21 Mrd. US $. De facto bezahlt somit der Tschad dafür, daß elf aquitaine sich geweigert hat, die bereits vorhandene Pipeline zu nutzen. 3 Mrd. US $ – Tantiemen aus dem Verkauf des Erdöls – bezahlt die Regierung außerdem an das Konsortium für die Errichtung einer kleinen Raffinerie am Tschad-See, von der aus das dort gewonnene Öl nach N’Djamena gepumpt und im Tschad verbraucht werden soll (Ngarlejy, 1997: 1 f.). Schließlich sieht das Übereinkommen zwischen der tschadischen Regierung und dem Konsortium vor, daß der Tschad Ausgleichszahlungen leisten muß im Fall, daß der Ölpreis 17 $ pro Barrel unterschreiten wird (Le pipeline Phantom, 1997). Die derzeitigen jährlichen Einnahmen des Staates betragen hingegen lediglich etwa 100 Mio. US $ für die Erteilung der Erdöllizenzen (Ngarlejy, 1997: 1f; 36, S.2).

Pipeline Verträge im Interesse der Ölkonzerne

An dieser Stelle sollen wichtige Regelungen vorgestellt werden, die in dem Vertrag zwischen der Regierung der Republik Kamerun einerseits und der Cameroon Oil Transportation Company (COTCO) andererseits enthalten sind und der am 7.8.1997 per Gesetz anerkannt worden ist (FERN, 1998: 1).

In COTCO sind auf der einen Seite die Regierungen Tschads und Kameruns zu je 25 vertreten, auf der anderen Seite ein Konsortium der Ölgesellschaften Shell, ESSO und elf aquitaine zu insgesamt 50 (FERN, 1998: 1). Der Vertrag zwischen den Parteien wird als privater Vertrag verstanden, der 25 Jahre lang gelten soll und auf Wunsch von COTCO um 25 Jahre verlängert werden kann: Eine demokratische Mitbestimmung Betroffener zumindest bei der Festlegung der Nutzungsbedingungen für die folgenden 25 Jahre ist nicht vorgesehen, so daß zwischenzeitlich aufgetretene Probleme keine Berücksichtigung finden (FERN, 1998: 1).

Der Vertrag selbst enthält umfangreiche Ermächtigungen zugunsten von COTCO, z.B. was die Nutzung der Umwelt betrifft. Darüber hinaus erhält COTCO das Recht, sich in dringenden Notfällen oder im Falle plötzlicher Gefahr für Menschen oder Umwelt in ausschließlich eigener Verantwortung Zugang zu jedwedem privaten oder öffentlichen Land zu verschaffen, um die Ursachen für die Gefahrenlage herauszufinden bzw. ihr abzuhelfen. Nach Ansicht von FERN, einer NGO in Belgien, die den Vertrag analysiert hat, handelt es sich hier um eine Ermächtigung, die COTCO weitestreichende Kompetenzen verleiht, bis hin zu paramilitärischen Interventionen, z.B. für den Fall, daß sich irgendein Widerstand gegen das Pipeline-Projekt oder seine Folgen entwickeln wird (FERN, 1998: 3).

Abschließend legt der Vertrag zwischen der Regierung Kameruns und COTCO fest, daß nationales Recht der Republik Kamerun gegenüber dem Vertrag nachrangig ist, soweit es diesem Vertrag widerspricht . Die gleiche Regelung wird im Verhältnis zum internationalen Recht getroffen (FERN, 1998: 3). Unabhängig davon, ob dieser Vertrag oder einzelne seiner Bestimmungen überhaupt rechtswirksam sind, dokumentieren sie jedenfalls eindeutig die Machtverhältnisse und das Rechtsverständnis der beteiligten Vertragsparteien.

Ein analoger Vertrag zwischen der Regierung des Tschad und der privaten Gesellschaft TOTCO (Tchad Oil Transportation Company) ist in Vorbereitung (Commission for environmental impact assessement, 1998, Appendix 2), sein Inhalt bisher nicht bekannt. Es besteht allerdings Grund zu der Annahme, daß in ihm ebenso weitreichende Befugnisse zugunsten des Ölkonsortiums enthalten sein werden.

Wege aus der Gewalt: Die Arbeit der Menschenrechts- organisation ATNV (Association Tchadienne Non Violente)

Die krassen Erscheinungsformen physischer und struktureller Gewalt haben zur Entstehung aktiver zivilgesellschaftlicher Organisationen im Tschad geführt. Sie arbeiten mit dem Ziel, der Gewalt entgegenzuwirken, den Schutz und die Erhaltung der Umwelt zu sichern, zur Entwicklung der Demokratie im Land beizutragen und für die bestehende Pressefreiheit zu kämpfen (Horta, 1997: 4; amnesty international, 1993: 7; EIRENE, 1998a: 2).

Stellvertretend soll hier die ATNV vorgestellt werden, die im Jahre 1991, kurz nachdem sich Präsident Déby an die Macht geputscht hatte, von Christen im südlichen Tschad als erste gewaltfreie Organisation in Anknüpfung an Theorie und Praxis der Gewaltlosigkeit bei Gandhi und in der christlichen Tradition gegründet wurde.

Die Gründer setzen sich für den Frieden im Land, für Freiheit und Menschenrechte, für Versöhnung und Demokratie, gegen Unwissenheit, Elend und Unterentwicklung ein. Heute hat die Organisation 5.000 aktive Mitglieder und 61 lokale Komitees. Auch Frauen sind in dieser Organisation aktiv (Beassemda, 1997).

Die ATNV hat im Konflikt zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern aktiv vermittelt mit dem Ziel, ihn ohne weitere Gewalt einer Lösung zuzuführen. Nachdem die lokalen »Dialog-Komitees« zunächst mit beiden Parteien getrennt zusammen gekommen waren, um die jeweiligen Sichtweisen kennenzulernen, und nachdem sie die durch die Nomaden-Viehzüchter verursachten Schäden auf den Feldern inspiziert hatten, brachten sie die Konfliktparteien zusammen, um über Schaden und Entschädigung gemeinsam zu beraten und zu beschließen.

Ähnlich ging die Organisation bei der Konfliktvermittlung zwischen Rebellen und Regierung vor, jeweils Schlichtungstraditionen, wie sie in afrikanischen Gesellschaften existieren, mit einbeziehend. Im April 1997 führte diese Mediation zum Friedensschluß zwischen der Regierung und den Rebellen. Ein Friedensschluß, der zwar nur wenige Monate andauerte, der aber dennoch ein erstes Beispiel praktischer und – zumindest zeitweilig – effektiver Mediations- und Friedensarbeit darstellt. Vor allem aber wird daran deutlich, welche Bedeutung und Einflußmöglichkeiten zivilgesellschaftliche Organisationen im Tschad inzwischen erlangt haben.

Neben der aktuellen Konfliktlösung ist es Ziel der Arbeit von ATNV, dauerhafte Strukturen zu entwickeln, die dazu geeignet sind, immer dann, wenn Konflikte erstmals auftreten oder erneut aufbrechen, zwischen den Kontrahenten zu vermitteln. Den in diesem Zusammenhang auftauchenden Gegensatz zwischen dem neu geschaffenen »Dialog der Kontrahenten« und den gesellschaftlich tradierten »Chef-Strukturen« , bei denen die Dorfchefs – oftmals stark parteiisch – als Schlichter fungieren, versuchen die Mitglieder der ATNV produktiv aufzulösen. Sie führten z.B. Seminare für die Chefs du Village und Unterpräfekten durch und legten dabei das inhaltliche Hauptgewicht auf die Verwirklichung der Menschenrechte für alle am Konflikt Beteiligten und auf die Entwicklung und Förderung gewaltfreier Konfliktlösungen zwischen ihnen (FR, 1998: 1f.).

Neben Mediationsarbeit ist die ATNV bestrebt, in die Öffentlichkeit hineinzuwirken: Sie prangert Menschenrechtsverletzungen an, appelliert an die Regierung, die in der Verfassung garantierten Grundrechte zu beachten, fordert die Ahndung repressiver und gewaltsamer Menschenrechtsverstöße seitens der Sicherheitskräfte und macht der Bevölkerung ihre Rechte und Pflichten als Staatsbürger in einer Demokratie bewußt. So übersetzt sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN in lokale Sprachen und macht die Menschen in öffentlichen Versammlungen mit deren Inhalt vertraut. Sie macht die Frauen mit ihren spezifischen Rechten nach tschadischen Gesetzen und aufgrund internationaler Konventionen bekannt (Beassemda, S.2; Equipe du CEFOD, 1994; Association pour la promotion).

Im Kontext der Öffentlichkeitsarbeit ist auch das Bildungszentrum vorzustellen, das ATNV in Moundou seit 1996 einrichtet mit dem Ziel, der Idee der gewaltlosen Konfliktregelung weiterreichende Geltung zu verschaffen. Dieses – Martin-Luther-King-Zentrum genannt – soll zu einem Treffpunkt in der Region werden und soll Raum bieten für eine Beratungsstelle, für Versammlungen und Bildungskonferenzen, sowie für eine Dokumentationsstelle zu Menschenrechten, Gewaltlosigkeit, Erdölförderung, etc.. Außerdem sollen im MLK-Zentrum Menschen aus verschiedenen Teilen der Sahel-Zone und aus dem gesamten Land zusammengeführt werden, um miteinander ins Gespräch und in Austausch kommen zu können (Duppel/Petry, 1997: 4; Beassemda, S.4).

<-3>Aus Protest gegen schwere Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär organisierten ATNV und andere Menschenrechtsorganisationen seit 1993 immer wieder die Aktion »ville morte« – gestorbene Stadt, eine afrikanische Version gewaltfreien Widerstandes. Alle in einer Region oder Stadt lebenden Menschen verweigern die Arbeit, bleiben zu Hause, kaufen nicht ein. Die Form des Generalstreiks wurde von vielen Menschen mitgetragen und machte die Organisationen und ihre Zielsetzungen in der Bevölkerung bekannt (Duppel/Petry, 1997: 3; 38; amnesty international, 1998b: 1).

<-2>Die Organisation hat auch gegen die Einführung der Todesstrafe für Taschendiebe öffentlich und scharf protestiert und erreicht, daß sie zumindest vorübergehend suspendiert wurde (Beassemda, 1997).

Bereits seit 1994 beschäftigen sich die MitarbeiterInnen von ATNV – ebenso wie andere Menschenrechts- und Umweltorganisationen im Tschad – mit dem Erdölprojekt. Anlaß hierfür war damals die Erschießung eines Bauern, der zu einem Esso-Flugplatz gelaufen kam, weil er die Landung eines Flugzeugs beobachten wollte. Die Erschießung durch die für die Sicherheit von ESSO zuständige Gendarmerie wurde mit der Behauptung legitimiert, es habe sich bei dem Getöteten um einen Rebellen gehandelt. Nachforschungen durch ATNV und andere Organisationen ergaben die Unwahrheit dieser Behauptung; eine Strafverfolgung der Täter und eine Entschädigung der Familie des getöteten Bauern blieben trotzdem aus (Beassemda: 4; Zint, 1997: 6).

Folgeschäden des Erdölprojekts minimieren

ATNV geht nicht davon aus, daß das Erdölprojekt verhindert werden kann. Im Gegenteil: Auch ihre MitarbeiterInnen versprechen sich davon einen wirtschaftlichen Aufschwung im Lande, vorausgesetzt, ein großer Teil des erwarteten Gewinns kommt dem Tschad zugute und wird insbesondere zugunsten der Betroffenen verwendet (Beassemda, 1997: 5). Vor allem aber geht es ATNV und anderen Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) darum, die vorprogrammierten Folgeschäden des Ölabbaus zu verhindern bzw. zu minimieren. Durch beharrliche Öffentlichkeitsarbeit und Forderung nach Offenlegung hat ATNV in Kooperation mit anderen bereits einige Erfolge zu verzeichnen. So wurde z.B. die Entscheidung der Weltbank über deren finanzielle Beteiligung am Ölprojekt von September 1997 auf Ende 1998 verschoben, nachdem die NGOs darauf hingewiesen hatten, daß die tschadische Bevölkerung über das Projekt bisher so gut wie nicht informiert wurde (Collectif des Assiciations, 1998: 2; Beassemda, 1997; Bauchmüller, 1997: 64 f.), dies aber im Widerspruch zu den Förderrichtlinien der Weltbank stehe, in denen als Voraussetzung für die Kreditvergabe u.a. die Information und Partizipation der betroffenen Bevölkerung festgeschrieben sei (Adams/Rietbergen-McCracken, 1994: 36 ff.; Rademaker, 1997: 1; Koordinationsbüro Erdölprojekt, 1998a: S.2). Eine Umweltverträglichkeitsstudie wurde – statt von der tschadischen Regierung – von Esso, der führenden Gesellschaft innerhalb des Konsortiums, in Auftrag gegeben (urgewald, 1998a: 2), Ende 1997 der Weltbank überreicht und veröffentlicht. Auch hier wurde der Forderung der zivilgesellschaftlichen Organisationen nach Information Rechnung getragen (Dames and Moore, 1997; EIRENE, 1997).

Liest man allerdings die zusammenfassenden Ergebnisse dieser Auftragsstudie, so entsteht der Eindruck, daß eine Reihe von Problemen, die das Ölprojekt mit sich bringt (Sicherheitslage, Folgen des Projekts für die ansässige Bevölkerung, insbesondere im Hinblick auf Reproduktionsbedingungen, Folgen für die Umwelt), thematisiert, sie aber zugleich als mehr oder minder gelöst dargestellt bzw. verharmlost werden (Dames and Moore, 1997): Eine »Verträglichkeitsstudie« also, im wahrsten Sinne dieses Wortes.

Im Kontext des Ölförderungsprojekts haben sich die tschadischen Menschenrechts- bzw. Umweltorganisationen untereinander vernetzt und verstärkt. Gleichermaßen ist die Kooperation mit anderen afrikanischen und europäischen Organisationen weiterentwickelt worden, um die Probleme in Tschad und Kamerun einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und vielseitige Unterstützung zu initiieren. Um die Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit in der BRD zu intensivieren, haben sich amnesty international, Brot für die Welt, WEED, urgewald, Misereor und andere NGOs auf die Durchführung gemeinsamer Aktionen -vor allem bezogen auf Öffentlichkeitsarbeit – verständigt (EIRENE, 1997: 1; Koordinationsbüro Erdölprojekt, 1998a).

Im Januar 1998 organisierten ATNV und andere lokale Organisationen eine Zusammenkunft im südtschadischen Donia – in der Förderregion gelegen –, an der Repräsentanten von Esso, der Weltbank, der tschadischen Regierung, Gäste aus Nigeria, Kamerun und Europa sowie mehr als 100 Repräsentanten/innen von NGOs teilnahmen.

Wiederum die Erfahrungen in Nigeria als Präzedenzfall vor Augen, wurde die Umweltverträglichkeitsstudie auf der Konferenz seitens der NGO-Vertreter heftig kritisiert. Auf der Grundlage dieser Kritikpunkte und ihres Selbstverständnisses initiierten sie den Dialog mit Regierung, Konsortium und Weltbank und forderten u.a. Rahmenbedingungen für die friedliche und sichere Durchführung des Ölprojekts zu schaffen unter Einbeziehung der betroffenen Bevölkerung und der Nutzung ihrer Kompetenzen vor Ort. Dazu müßten gesetzliche Regelungen bezüglich des Umweltschutzes und der Ölgewinnung formuliert, die Einnahmen aus dem Projekt kontrolliert werden und eine Entschädigung in adäquater Höhe erfolgen. Außerdem müßten weitere Untersuchungen zu den soziokulturellen und anderen Folgeproblemen seitens der Regierung in Auftrag gegeben werden. Die Weltbank wird aufgefordert, strengstens auf Einhaltung der von ihr aufgestellten Verfahrensregelungen und Vergabekriterien zu bestehen und die Regierung in Richtung auf eine Verhandlungslösung mit der Rebellenbewegung zu beeinflussen. Kompetente und erfahrene Fachleute sollten eingesetzt werden, um die Kontrolle der Ölförderung zu sichern (Zint, 1998a; Zint, 1998b; Zint, 1998c; siehe auch Erklärung von Donia im Kasten).

Diese Forderungen werden mittlerweile auch von der GCA (Groupe de Concertation et d’Action sur le Projét Pétrolier et d’Oléoduc Tchad-Cameroun), einem Zusammenschluß tschadischer und kamerunischer NGOs, und von fachkompetenten Organisationen im Ausland vertreten, nachhaltig unterstützt und um weitere Forderungen ergänzt (Commission for environmental impact assessment, 1998; Centre pour l’Environment, 1998; Tschad-Kamerun, 1998).

Brutale Gewalt soll Widerstand brechen

Seit Ende des Jahres 1997 hat sich die politische Situation im Tschad nochmals dramatisch und kontinuierlich verschärft:

Im November 1997 führten die Sicherheitskräfte eine geplante Militäraktion in der Region Moundou durch, bei der es 98 Tote sowie Verletzte, Verhaftete, Gefolterte und Verschleppte gab. Auch das Haus des Vorsitzenden der ATNV wurde zerstört. Anlaß dieser Gewaltaktion war der Aufenthalt führender Mitglieder der Rebellenbewegung FARF (Forces Armées pour la République Fédérale), die sich zur Unterzeichnung des mit der Regierung im April 1997 geschlossenen Friedensabkommens in Moundou aufhielten (EIRENE, 1998a: 2; amnesty international, 1997a: 1; amnesty international, 1998a: 1; Collectif des Associations, 1997).

Ende März 1998 verbot die Regierung jegliche Aktivitäten von Menschenrechts-Organisationen (amnesty international, 1998b). Zuvor – Anfang März – wurden bei Kämpfen im Süden des Landes mehr als 100 Menschen, zumeist unbewaffnete Zivilisten, getötet (amnesty international, 1998a; FR, 1998).

Mitte März wurden 12 Dorfvorsteher und andere Personen vom stellvertretenden Präfekten von Benoye, einem Ort nördlich von Moundou, zu Gesprächen über Steuerprobleme geladen. Am Ort der Zusammenkunft wurden sie von Sicherheitskräften festgenommen und mit anderen Personen zusammen erschossen. Uniformierte Truppen durchsuchten etwa zur gleichen Zeit das Dorf Talade – ebenfalls in der Region der Ölförderung gelegen –, 25 Einwohner wurden gefesselt und ermordet (amnesty international, 1998c: 2).

<-2>Am 18.3.1998 stürmten Militärs die Kathedrale von Moundou, nahmen den Abt und die anwesenden Personen fest. Der Abt wurde nach schweren Mißhandlungen mit einigen anderen freigelassen, die übrigen GottesdienstbesucherInnen verschwanden spurlos (AG Erdölförderung, 1998). Am folgenden Tag wurde ein Stadtteil in Moundou von Militärs durchsucht. Alle Jugendlichen wurden zusammengetrieben und ermordet, ihre Beerdigung vom Militär verboten (Koordinationsbüro Erdölprojekt, 1998b).

Am 22.3.1998 stürmten Militärs das Haus eines führenden Menschenrechtlers. Er mußte fliehen, ebenso wie Vertreter anderer lokaler Menschenrechtsorganisationen und der Vorsitzende des ATNV, der vorübergehend aus Angst um sein Leben untertauchen mußte (Koordinationsbüro Erdölprojekt, 1998b; amnesty international, 1998b).

All die genannten schwersten Menschenrechtsverletzungen weisen darauf hin, daß die Regierung neuerdings und mit großer Zielgenauigkeit daran geht, jegliche Opposition, insbesondere den Widerstand gegen das Ölprojekt, mit brutalster militärischer Gewalt niederzuschlagen bzw. im Keim zu ersticken, um so die Region zu befrieden und den Weg für die Ölförderung freizumachen (EIRENE, 1998b; 38; FR, 1998; FAZ, 1998).

Das Europäische Parlament hat in seinen Sitzungen vom Februar 1997 und Juni 1998 die anhaltenden Verletzungen der Menschenrechte im Tschad scharf verurteilt und die Regierung aufgefordert, für die Einführung rechtsstaatlicher Verhältnisse, insbesondere in Polizei und Justiz zu sorgen (Zint, 1998d: 2).

<-3>Für den Fall einer positiven Entscheidung der Weltbank fordert das Europäische Parlament von der tschadischen Regierung bzw. dem Konsortium u.a. eine umfassende Information der Öffentlichkeit, Inkraftsetzung und Einhaltung strengster Vorschriften zum Schutz der Umwelt, lokale Reinvestition eines angemessenen Anteils der Gewinne aus der Ölförderung. Die Mitgliedstaaten der EU werden aufgefordert, Druck auf die Regierung des Tschad auszuüben, damit sie die Militäraktionen im Süden des Landes beende. Das EP verlangt überdies von den EU-Staaten, ihre weitere Kooperation mit und Hilfe für den Tschad von der Einhaltung der Menschenrechte seitens der tschadischen Regierung abhängig zu machen (Europäisches Parlament, 1998: Ziff. F).

Europäische Bedenken gegen Erdölprojekt

Am 13. Februar 1998 war der Außenminister des Tschad, Annadi, zu Gesprächen mit dem Außenminister und dem Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Bonn. Von deutscher Seite wurden Bedenken gegen das Projekt zur Ölförderung im Hinblick auf potentielle Umweltschäden geäußert, Bedenken auch im Hinblick darauf, daß die Erträge möglicherweise nicht der Bevölkerung zugute kämen, daß gegen die Opposition mit Repressionen vorgegangen werde und ein neuer Bürgerkrieg entstehen könne (FAZ, 1998).

Bedenken sind keine Bedingungen – das hat die Entwicklung nach diesen Gesprächen allzu deutlich gezeigt. Die Regierung der BRD könnte eine gewichtige Rolle im Hinblick auf die von der Weltbank zu treffende Entscheidung über die Beteiligung am Ölprojekt im Tschad übernehmen, ist Bonn doch einer der größten Geldgeber der Weltbank und ihrer Tochtergesellschaften IDA und IFC und ständiges Mitglied in den Exekutivdirektorien dieser Organisationen mit Stimmrecht in Relation zur Höhe des eingezahlten Kapitalanteils (Deutsche Bundesbank, 1992: 56 ff., 83 ff., 88 ff.).

Demgemäß hat der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des Deutschen Bundestages im Juni 1998 einem Entschließungsantrag zugestimmt, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, ihre Zustimmung zu einer Beteiligung der Weltbank am Tschad-Kamerun-Ölprojekt davon abhängig zu machen, daß das Vorhaben umweltverträglich und unter Beteiligung der Betroffenen durchgeführt wird, daß es zur Entwicklung der Volkswirtschaft und zur Bekämpfung der Armut beiträgt und die Menschenrechte Beachtung finden (Deutscher Bundestag, 1998: 3).

Immerhin hat die Bundesregierung inzwischen die von ESSO vorgelegte Umweltverträglichkeits-Studie überprüfen lassen und das Ergebnis an die Weltbank übersandt.

Die Regierung der Niederlande hat ein unabhängiges Fachgremium mit der Erstellung einer Expertise beauftragt: Sie bezieht sich auf die Umweltprobleme in Tschad und Kamerun. Die Autoren empfehlen im Falle der Förderung des Projekts seitens der Weltbank, eine internationale interdisziplinäre Beraterkommission einzusetzen, die dazu beitragen soll, die Weltbank in der Umsetzung ihrer Politik des Umweltschutzes, der Armutsbekämpfung, der Wiederansiedlung und der Partizipation der Betroffenen zu unterstützen (Commission for environmental impact assessment, 1998: 2). Die Regierung der Niederlande selbst hat der Weltbank eine Vertagung der Entscheidung empfohlen (urgewald, 1998a: 2f.).

Am 3.6.1998 wurde der Parlamentarier Ngarlejy Yorongar zusammen mit zwei Journalisten wegen angeblicher Verleumdung des Präsidenten der Nationalversammlung verhaftet. Er hatte jenem vorgeworfen, Geld zur Finanzierung seines Wahlkampfes von elf aquitaine angenommen zu haben. Die Interparlamentarische Union in Genf untersuchte diesen Fall und kam zum Ergebnis, daß Yorongars Meinungsäußerung durch das Abgeordnetenmandat gedeckt sei (Resolution zu Cas No. CHD/01- Ngarlejy Yorongar – Tchad) (amnesty international, 1998e; AG Erdölprojekt Tschad-Kamerun, 1998). Yorongar ist schärfster Kritiker der tschadischen Regierung und des Ölprojekts: Er stand damals kurz vor einer Reise nach Brüssel zum Vortrag über die Probleme dieses Vorhabens (urgewald, 1998b; Telkämper, 1998; Collectif des Associations, 1998).

Das Europäische Parlament hat auch die Verhaftung Yorongars entschieden verurteilt und die tschadische Regierung aufgefordert, ihn sofort frei- sowie eine demokratische Diskussion über die Lage im Land und über das Ölprojekt zuzulassen (Europäisches Parlament, 1998: Ziff.F 2). Am 20. Juli 1998 wurde Yorongar nach einem Verfahren unter Vorenthaltung elementarer Verteidigungsrechte zu 3 Jahren Haft verurteilt: Das Strafmaß übersteigt die gesetzlich für Beleidigung vorgesehene Haftstrafe um ein Jahr! Die beiden Journalisten erhielten jeweils eine Geldstrafe: auch sie ist doppelt so hoch wie die gesetzlich vorgeschriebene Höchstsumme (amnesty international, 1998e).

Nach Ansicht des Generaldirektors von ESSO-Tschad, Jean-Pierre Petit, handelt es sich bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen und Menschenrechtsverletzungen um eine innere Angelegenheit des tschadischen Staates, welche die Planungen des Konsortiums nicht tangiert (Zint, 1998d). Aus dieser Sicht ist es nur konsequent, daß mit den Vorbereitungsarbeiten – Bau der Camps und der Zufahrtsstraßen – für die Verlegung der Pipeline bereits begonnen wurde (AG Erdölprojekt Tschad-Kamerun, 1998b). Die Röhren für die Pipeline werden von Mannesmann und Preußag geliefert.

Menschenrechtsverletzungen im Tschad

Entschließung des Europa-Parlaments vom 20.02.1997

Das Europäische Parlament,

A…beunruhigt über die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen im Tschad, einem Land, in dem Militär- und Polizeiangehörige systematisch ohne vorheriges Gerichtsverfahren Hinrichtungen an Bürgern vornehmen, die der Zugehörigkeit zu Oppositionsgruppen verdächtigt oder als Straftäter angesehen werden,

B…bestürzt darüber, daß Vergewaltigung auch zu den üblichen Repressions- und Einschüchterungsmitteln gegenüber Opfern gehört, und über die alltägliche Anwendung der Folter, bei der einige traditionelle und besonders grausame Formen – wie »Arbatachar« von den Ordnungskräften als völlig normale Amtshandlungen betrachtet werden,

C…betroffen über das Telegramm mit Weisungen an die »Gruppierungen der Spezialeinheiten«, durch das mit dem Befehl zur physischen Vernichtung aller auf frischer Tat ertappten Diebe willkürlichste staatliche Gewalt legalisiert wurde,

D…in der Erwägung, daß einige Mitgliedstaaten der Regierung des Tschad politische, finanzielle und vor allem militärische Hilfe gewährt haben, ohne die Folgen der Menschenrechtsverletzungen für die Opfer zu berücksichtigen,

E…unter Hinweis auf die derzeit im Land laufenden Wahlen und die Tatsache, daß der Tschad das Abkommen von Lomé unterzeichnet hat, das zur vollen Achtung der Menschenrechte verpflichtet,

Das Europäische Parlament,

1…verurteilt alle im Tschad gegenwärtig weiterbestehenden Formen der Gewalt wie Hinrichtungen, willkürliche Verhaftungen, Folter und Vergewaltigung;

2…verlangt die sofortige und bedingungslose Freilassung aller politischen Häftlinge, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten;

3…fordert die Behörden des Tschad auf, die Weisungen an die »Gruppierungen der Spezialeinheiten« unverzüglich zu widerrufen und sich für einen Rechtsstaat und eine auf die Achtung der Menschenwürde gegründete Justiz einzusetzen;

4…betont, daß es unerläßlich ist, den Menschenrechtsverletzungen ein Ende zu setzen, die dafür Verantwortlichen vor Gericht zu stellen und das Gerichtssystem und die Ordnungskräfte zu reformieren, und fordert den Rat und die Kommission auf, diese Reformen im Richtprogramm des Tschad vordringlich zu unterstützen;

5…fordert den Rat, die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, ihrer Verantwortung angesichts der Lage im Tschad nachzukommen, ihre Zusammenarbeit von der Einhaltung der Menschenrechte durch die Behörden abhängig zu machen und insbesondere darüber zu wachen, daß die Militärhilfe nicht zur Begehung von Menschenrechtsverletzungen mißbraucht wird;

6…ist der Auffassung, daß der Status des Tschad als Empfänger von Hilfsleistungen gemäß dem Abkommen von Lomé im Lichte der Fortschritte, die die künftigen Machthaber des Landes hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte erzielen, überprüft werden muß;

7…beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, der Regierung des Tschad, den Kopräsidenten der Paritätischen Versammlung AKP-EU, der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen und der OAE zu übermitteln.

Deklaration des Seminares von Donia

Am 20.-25.1.1998 trafen sich in Donia im Süden des Tschad ca. 130 Teilnehmer aus Nichtregierungsorganisationen, Menschenrechtsorganisationen, Bauernvereinigungen, religiöse und lokale Führer zu einem Informationsseminar über das Erdölprojekt. ESSO-Vertreter, ein Weltbankmitarbeiter und Mitarbeiter des Energie- und des Umweltministeriums standen Rede und Antwort. Im Mittelpunkt stand die Umweltverträglichkeitsstudie. Am Ende des Seminares erklärten die Teilnehmenden:

Wir, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Informations- und Austauschseminars über das tschadische und kamerunische Erdöl, versammelt am 20.-25.1.1998 in Donia im Tschad haben folgenden Zustand festgestellt:

Die Dokumentation der Zone – genauer gesagt: präzise Daten über die natürlichen Ressourcen und die Bevölkerung, Karten der Förderzone, die Größe der zu erwartenden Auswirkungen des Erdöls – steht jetzt zur Verfügung.

Zweiter positiver Aspekt ist die geistige Offenheit für den Dialog bei der Regierung, den Mitgliedern des Konsortiums, der Weltbank und der Zivilgesellschaft, die Fähigkeit der Vertreter der Regierung, des Konsortiums, der Zivilgesellschaft, der Weltbank und der Basisgemeinden zuzuhören und sich positiv auszutauschen.

Demgegenüber haben wir folgende Mängel festgestellt:

  • Einige Etappen des Verfahrens der Weltbank im Bereich der Konsultation und Leitung des Projektes wurden von dem Konsortium und der Regierung nicht respektiert.
  • Es gibt Mängel in der Umweltverträglichkeitsstudie und im Umweltmanagementplan.
  • Vernachlässigung sozio-kultureller Aspekte.
  • Die schwache Bewertung und Bedeutung lokaler Kompetenzen, namentlich des CIRAD, des ONDR (Organisation National pour la Development Rural) und der Nichtregierungsorganisationen.
  • Die Nichtexistenz eines Umweltrechts.
  • Das permanente Klima der Unsicherheit, das den Tschad und insbesondere die Zone, in der das Öl gefördert wird, regiert.
  • Unangemessene Entschädigungs- und Ausgleichsmaßnahmen.
  • Fehlende Klarheit über die Verwaltung der Einnahmen aus der Erdölförderung.
  • Negative Effekte, die das Erdölprojekt auf biophysischer, sozio-ökonomischer und kultureller Ebene haben könnte.

Aus dem, was voraus geht, haben wir einige Vorschläge gewonnen…:

Wir schlagen der Weltbank vor, die Einhaltung ihrer Richtlinien und Verfahrensweisen schärfstens zu kontrollieren.

Wir schlagen der Regierung vor:

  • vor Beginn des Erdölprojektes eine Studie über sozio-ökonomische Begleitauswirkungen durchzuführen,
  • juristische Texte über das Umweltmanagement und die Erdölförderung zu erarbeiten,
  • alles in ihrer Macht stehende zu tun, um Frieden und Sicherheit zu schaffen,
  • die Zivilgesellschaft in der Verwaltung, Begleitung und Kontrolle der Erdöleinnahmen zu beteiligen,
  • eine kompetente und erfahrene Equipe einzusetzen, um die Begleitung und Kontrolle des Projektes sicherzustellen.

Wir schlagen der Regierung und dem Konsortium vor, ein System angemessener Entschädigungen und Ausgleichszahlungen zu schaffen, das allen betroffenen Werten, Gütern und Erbgütern Rechnung trägt.

Die Nichtregierungsorganisationen laden wir ein,

  • ihre Informationsprogramme zu intensivieren, um die betroffenen Gemeinschaften zu sensibilisieren und zu informieren,
  • Mechanismen zu schaffen, um bei der Verwaltung der Ressourcen – bei Kompensationen und Entschädigungen – zu helfen,
  • ein Informationsnetzwerk über das Erdölthema auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene zu entwickeln.

Zuletzt laden wir die Nichtregierungsorganisationen und die lokalen Gemeinschaften ein, eine neue Strategie für den Umgang mit der Umwelt vor Ort zu entwickeln.

Donia, den 25.1.1998.

(Abschrift vom Band auf Französisch: Martin Zint, Übersetzung: Günter Schönegg)

Europa-Parlament zur Lage im Tschad

Das Europäische Parlament beschloß am 18.6.1998 „unter Hinweis auf seine vorangegangenen Entschließungen zur Lage im Tschad,

  • in Anbetracht der schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen im Tschad seit Oktober 1997, die mit dem Massaker an 100 unbewaffneten Zivilisten in der Region Logone im März 1998 ihren Höhepunkt gefunden haben und gekennzeichnet durch Hinrichtungen, willkürliche Inhaftierungen und Folter durch die tschadischen Sicherheitskräfte, wie Amnesty International und tschadische Menschenrechtsorganisationen anprangern,
  • in der Erwägung, daß Ngarlejv Yorongar, Mitglied der Opposition im tschadischen Parlament, am 2. Juni 1998 aufgrund einer Anklage wegen Diffamierung verhaftet wurde,
  • zutiefst besorgt über die kürzliche Inhaftierung der Journalisten Koumbo Synga und Polycarpe Togamessi,
  • in der Erwägung, daß Ngarlejv Yorongar ein vehementer Kritiker des Tschad-Kamerun-Ölförderungs- und Pipelineprojektes gewesen ist, das von einem internationalen Konsortium angeführt wird und bei der Weltbank anhängig ist, die ihre Bewilligung an den Abschluß einer Umweltverträglichkeitsprüfung geknüpft hat, die noch vor Herbst 1998 erfolgen soll,
  • in der Erwägung, daß das internationale Konsortium öffentlich erklärt hat, daß es ohne Beteiligung der Weltbank das Projekt nicht weiterbetreiben will,
  • unter Hinweis auf die prekäre Situation der örtlichen Gemeinschaften in dem Projektgebiet, die auf die fortdauernde politische Instabilität und die Menschenrechtsverletzungen zurückzuführen ist, sowie unter Hinweis auf die Bedeutung dieser Region für die nationale Landwirtschaft,
  • fordert (das Europäische Parlament) den Rat, die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, Druck auf die tschadische Regierung auszuüben, die Menschenrechte und die Gesetze im ganzen Land anzuerkennen und die militärischen Aktionen im Süden unverzüglich zu beenden;
  • verlangt (das europäische Parlament) die sofortige Freilassung von Ngarlejv Yorongar und fordert die tschadische Regierung ferner auf, demokratische Diskussionen sowohl über die Lage im Land als auch über das geplante Ölprojekt in der Doba-Region zuzulassen;
  • fordert (das Europäische Parlament) die tschadische Regierung und das internationale Konsortium auf, das Ölförderprojekt nur im Falle einer positiven Bewertung durch die Weltbank fortzusetzen und u.a. folgende Garantien zu geben:
  • umfassendere Unterrichtung der Öffentlichkeit über das Ölförderprojekt;
  • Schutz der einheimischen Bevölkerungsgruppen und angemessener Ausgleich für die Menschen, die gezwungen sind, ihren Wohnort zu verlassen, und zwar unter strikter Wahrung der Menschenrechte;
  • überaus strenge Umweltschutzvorschriften, die sich auf Verhütung von Ölaustritt, Streckenführung der Pipelines, Luftqualität, »Disease-Control« und Unfallverhütung erstrecken;
  • lokale Reinvestition eines angemessenen Anteils der Projektgewinne;
  • beauftragt (das Europäische Parlament) seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Regierungen der Mitgliedstaaten, den Regierungen und Parlamenten des Tschad und Kameruns sowie der Weltbank zu übermitteln.“

Für die Überlassung von Materialien und Dokumenten und für Diskussion bei der Abfassung des Manuskripts danke ich Susanne Breitkopf (urgewald), Martin Petry (Brot für die Welt), Günter Schönegg (EIRENE) und Martin Zint (Journalist).

Literatur

Adams, James/ Rietbergen-McCracken, Jennifer (1994): Partizipatorische Entwicklung: Wie können die Hauptbeteiligten einbezogen werden?, in: Finanzierung und Entwicklung, 31. Jg., September, S. 36 f.

AG Erdölförderung Tschad/Kamerun (1998), Aufruf zur Solidaritätsmahnwache »Wir trauern mit den Opfern der Massaker im Tschad«, 27. 3. 1998

AG Erdölprojekt Tschad/Kamerun (1998a): Mitteilung an die Medien, Abgeordneter zu 3 Jahren Haft verurteilt, Bad Kreuznach, 21. Juli.

AG Erdölprojekt Tschad/Kamerun (1998b): Protokoll der Arbeitsgruppensitzung, Bonn, 2. Juli.

amnesty international (1993): Tschad, Nie wieder? Das Morden geht weiter in den neunziger Jahren, Düsseldorf.

amnesty international (1996a): Chad, A country under the arbitrary rule of the security forces with the tacit consent of other countries, London, 10. 0ktober.

amnesty international (1996b): urgent action, UA 296/96, Tschad: Drohende staatliche Morde, Bonn, 19. Dezember.

amnesty international (1997a): urgent action, Extra 151/97: Tschad: Staatliche Morde/Sorge um Sicherheit, Bonn, 4. November.

amnesty international (1997b): urgent action, UA 315/97-1, Tschad: Mißhandlung/Sorge um Sicherheit, Bonn, 11. Dezember.

amnesty international (1997c): CHAD, Hope betrayed, March.

amnesty international (1998a): urgent action, UA 89/98, Staatlicher Mord / Sorge um Sicherheit, Bonn, 19. März.

amnesty international (1998b): urgent action, UA 97/98, Sorge um Sicherheit, Bonn, 27. März.

amnesty international (1998c): Zur Menschenrechtslage im Tschad, Bonn, 23. März.

amnesty international (1998d): urgent action UA 166/98: Tschad: Ngarlejy Yorongar le Moiban, Bonn, 29. Mai.

amnesty international (1998e): urgent action 166/98-2, Sorge um Sicherheit/Gesundheitszustand/Gewaltloser politischer Gefangener/Rechtslage, Bonn, 22. Juli.

Aslam, Abid (1998): Environment-Chad: Fears for Safety of Oil Pipeline Critics, InterPress Service, 10. Juni.

Association pour la promotion des libertés fondamentales au Tchad (o.J.): Les droits de la femme tchadienne, o.O.

Auswärtiges Amt (1995): Lagebericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Situation im Tschad, Stand: Dezember 1996, Bonn, 16. Dezember.

Bauchmüller, Michael (1997): Ölrausch im Doba-Becken, in: BUNDmagazin 4/1997, S. 63 ff.

Beassemda, Julien (o.J.): Présentation de l’ATNV et Projet Pétrolier au Tchad.

Beassemda, Julien, Vors. des ATNV (1997): »Schwarzes Gold – schwarze Zukunft« Ölförderung im Tschad und Auswirkungen auf die Menschenrechtssituation, Vortrag, gehalten am 24.10.1997 in Herrenberg (Notizen der Verf.)

Beermann, Victor (1992): Wirtschaft und Entwicklung, in: Vereinte Nationen, Heft 2, S. 58 f.

Centre pour l’Environnement et de Developpment Yaounde (1998): Environmental Defense Fund, Washington D.C., The Exxon-Shell-Elf Oil & Pipeline Project. Comments on the Environmental Assessment (EA)-Cameroon Portion, May.

Collectif des Associations des Droits de l’Homme et de la Non-Violence (1997): Rapport Mission d’enquete Moundou, 7-13 Novembre.

Collectif des Associations de défense des Droits de l’Humanité et de la non-violence (1998): Communiqué conjoint No 002/ADH/98, „Diffamation: sacré alibi…“

Commission for environmental impact assessment (1998): Advisory review of the environmental assessments of the Chad export project in Chad and Cameroon, Utrecht, 2 July.

Dames and Moore, ESSO Exploration and Production Chad Inc., Environmental Assessment, Chad Export Project (Chad Portion), Executive Summary, October 1997.

Danler, Doris/ Brunner, Markus (1996): Shell in Nigeria, Multinationale Konzerne in der Dritten Welt am Beispiel von Shell im Niger-Delta (Studie für Brot für die Welt, Stuttgart), Lagos/Köln.

Deutsche Bundesbank (1992): Internationale Organisationen und Gremien im Bereich von Währung und Wirtschaft, Sonderdrucke Nr. 3, 4. Auflage, Frankfurt am Main.

Deutscher Bundestag (1998): 13. Wahlperiode, Drucksache 13 / 11 017 vom 17. 6. 1998, Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (20. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Schmidt etc., – Drucksache 13/8321-, Ablehnung einer Weltbankbeteiligung am Tschad/Kamerun Öl- und Pipelineprojekt.

Duppel, Claudia/ Petry, Martin (1997): Rundbrief vom Oktober 1997, Gärtringen.

EIRENE (1997): Informationsbrief, Odernheim, 13. November.

EIRENE (1998a): Informationsbrief vom 3. März.

EIRENE (1998b): Informationsbrief vom 23. März.

Europäisches Parlament (1997): Entschließung zu den Menschenrechtsverletzungen im Tschad, Straßburg, 20. Februar.

Europäisches Parlament (1998): Protokoll der Sitzung vom Donnerstag, 18. Juli 1998, Teil II – Angenommene Texte, Punkt d: Entschließung zum Tschad.

Equipe du CEFOD (1994): La société civile, N’djaména.

FAZ (1998): Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 2. 1998.

FERN (1998): The Law in Whose Hands? An analysis of the COTCO Convention of Establishment, Brüssel, 6 July.

Fischer Weltalmanach 1998 (1997): Stichwort Tschad; Frankfurt am Main, S. 705.

FR (1998): Frankfurter Rundschau, 19. 3. 1998.

Herz, Dietmar (1988): Tschad, in: Opitz, Peter J., Das Weltflüchtlingsproblem, München, S. 92 ff.

Horta, Korinna (Environmental Defense Fund) (1997): The World Bank and Chad/Cameroon Oil and Pipeline Project, February.

Ki-Zerbo, Joseph (1992): Die Geschichte Schwarz-Afrikas, Frankfurt am Main, S. 579 f.

Koordinationsbüro Erdölprojekt Tschad/Kamerun (1998a): Das Erdölprojekt Tschad/Kamerun. Kein neues »Ogoni-Land«!

Koordinationsbüro Erdölprojekt Tschad/Kamerun (1998b): Pressemitteilung, 23.3.1998

Le pipeline Phantom (1997): in: L’autre Afrique, 24. Dezember, S. 48.

Leurres à l’heure de l’oléoduc (1997): in: le Messager No 658 vom 27. August, S.5ff.

Matthes, Hanspeter (1993): Tschad, in: Nohlen, Dieter/ Nuscheler, Franz, Handbuch der Dritten Welt, Westafrika und Zentralafrika, 3. Aufl., Hamburg, S. 488 ff.

Michler, Walter (1991): Weißbuch Afrika, 2. Aufl., Bonn.

Ngarlejy, Yorongar (1997): Memorandum über das von der Weltbank finanzierte Tschad-Kamerun-Ölprojekt, o.O., Maschinen Manuskript, September.

Nohlen, Dieter (Hrsg.) (1993): Lexikon Dritte Welt, Stichwort Tschad, Reinbek, S. 679 ff.

Rademaker, Maike (1997): Ein zweites Ogoniland ? Die Weltbank und das Chad/Kamerun Öl- und Pipeline Projekt, o.O., o.J., Maschinen Manuskript.

Schönegg, Gunter (1998): Kommentierte Zusammenfassung des Compensation and Resettlement Plan – Chad Portion, Juni.

Shell International Petroleum Company (1995): Die Erdölindustrie, Probleme und Perspektiven, London.

SIPRI Jahrbuch 1988 (1988): Rüstung und Abrüstung, Stichwort Tschad, Baden-Baden, S. 91.

Telkämper, Wilfried , MEP (1998): The European Commissioner, etc., Brüssel, Brief vom 4. Juni.

Tschad-Kamerun (1998): Öl und Pipeline Projekt, GCA-OBC Gemeinsame Erklärung, Yaounde, 9.und 18. April.

urgewald (1998a): Brief an den Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vom 26. Mai 1998.

urgewald (1998b): To Mr. James D. Wolfensohn, President, The World Bank, Washington; Subject: Urgent – Arrest of Opposition Parlamentarian Mr. Yorongar in Connection with the Chad/Cameroon Oil and Pipeline Projekt, Brief vom 4.6.1998, Sassenberg.

WEED (Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung e.V.) (1997): Weltbankpräsident Wolfensohn zu Besuch in der Bundesrepublik, Der Tschad: Mit der Weltbank auf dem Weg in ein neues Ogoniland?, Pressemitteilung vom 14. November.

Yorongar à la barré (1998) in: N’Djaména Hebdo No. 331 du 28 Mai 1998.

Zint, Martin (1997): Ölrausch im Tschad – die Christen und das Erdöl, Hörfunkfeature, Hessischer Rundfunk, 2. Programm, Maschinen Manuskript, 12. Februar.

Zint, Martin (1998a): Neues aus Westafrika, Moundou, Maschinen Manuskript, 26. Januar.

Zint, Martin (1998b): Déclaration du séminaire de Donia, Donia, Maschinen Manuskript, 25 Januar.

Zint, Martin (1998c): Bedenken gegen Ölprojekt, Umweltschützer in Tschad sehen Landwirtschaft in Gefahr, in: Frankfurter Rundschau, 2. Februar 1998, S. 6.

Zint, Martin (1998d): Die tödliche Wohlstandsquelle, Milliardeneinnahmen aus dem Ölexport sollen den bitterarmen Wüstenstaat Tschad reich machen, in: die tageszeitung, 14. Mai, S. 13.

Zint, Martin/ Petry, Martin (1997): Manna oder Gift, in: Eine Welt 2/1997, S. 17 f.

Prof. Dr. Barbara Dietrich lehrt am FB Sozialwesen der FH Wiesbaden

Energiekonflikte

Kann die Menschheit das Energieproblem friedlich lösen?

Energiekonflikte

von IANUS

In Zusammenarbeit mit der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der TH Darmstadt

I. Was sind Energiekonflikte?

I.1 Der Kampf um Gorleben – Momentaufnahme eines Konflikts

Die Presse sprach von Krieg. Im „größten internen Sicherheitseinsatz der deutschen Nachkriegsgeschichte“1 setzten 19.000 Polizisten anfang Mai den Atommülltransport aus Frankreich gewaltsam durch, begleitet von Protesten in der ganzen Bundesrepublik. Besonders in der Region um Gorleben sah sich die Bonner Atompolitik dem massiven Widerstand der Bevölkerung gegen den Castortransport ausgesetzt, die in ihrer Mehrheit auf gewaltfreie Aktionen setzte und auch vor zivilem Ungehorsam nicht zurückschreckte, um ihre Heimat vor dem nuklearen »Teufelszeug« zu verteidigen. Der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Jürgen Trittin, geißelte die „brutalen Methoden des Atomstaats“, und eine Beobachterin des Komitees für Grundrechte und Demokratie stellte fest „Die erste Gewalt ist die, die im Atomstaat steckt.“ Der Kommentator der Frankfurter Rundschau schließlich fragte sich: „Soll das nun also der Anfang eines neuen Abschnitts der friedlichen Nutzung der Atomenergie sein?“2

Das offizielle Bonn zeigte sich erschüttert über den neuerlichen Ausbruch der Gewalt. Die Regierung betonte, sich nicht durch den Druck der Straße vom eingeschlagenen Kurs abbringen zu lassen. Das Gewaltmonopol des Staates dürfe nicht in Frage gestellt werden. Innenminister Kanther: Der Staat könne es nicht zulassen, daß er durch „Chaoten und Kriminelle“ handlungsunfähig gemacht werde. Es könne auch nicht geduldet werden, daß Atomkraftgegner über den Umweg der Behinderung von Transporten die Verwendung dieser Energieform zu stoppen suchten.

Besorgter gab sich die Gewerkschaft der Polizei (GdP). Ihrer Ansicht nach beeinträchtigen die massiven Einsätze langfristig die innere Sicherheit in Deutschland. 50 Mio. DM hatte der Einsatz gekostet, mehr als 100 weitere Castortransporte sind geplant. Dazu wieder das Time Magazine: „Doch der Krieg ist nicht vorbei. Die Demonstranten warnten, daß sie weiterkämpfen werden, um den nächsten Transport im gleichen Jahr zu blockieren, mit gleicher wilder Entschlossenheit. Ihr Ziel: Deutschland zu zwingen, die Atomenergie aufzugeben.“

I.2 Handlungsblockaden in der Energiepolitik

Auch wenn der Vergleich mit Krieg überzogen ist, hat der jüngste Konflikt um den Castor-Transport auf drastische Weise das Dilemma der derzeitigen Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland vor Augen geführt. Der Stillstand der Energiegespräche, die sich ohnehin nur auf die Scheinalternative Kohle oder Kernenergie konzentrierten, ist Ausdruck einer gesellschaftlich-politischen Handlungsblockade, die zukunftsweisende Entscheidungen verhindert.3 Die energiepolitische Situation ist gekennzeichnet durch ein Patt zwischen den Parteien, die den Ausstieg aus der Kernenergie und den Ausbau erneuerbarer Energien befürworten, und jenen, die für einen – die Kernenergie einbeziehenden – Energiemix eintreten. Das Ergebnis ist eine Stagnation, die die Entwicklung und Anwendung erneuerbarer Energietechniken bremst.4

Dabei sind zukunftsweisende Entscheidungen dringend erforderlich. Angesichts der drohenden Verknappung fossiler Energieträger und der Gefahr einer globalen Erwärmung kann die Politik sich nicht länger hinter traditioneller Interessen- und Machtpolitik verstecken. Lösungskonzepte für eine verantwortbare Energieversorgung bis Mitte des nächsten Jahrhunderts sind längst bekannt.5 Die politischen Institutionen scheinen zur Zeit allerdings nicht in der Lage, die nötigen Weichenstellungen einzuleiten. Auch das jüngste Energieprogramm der Bundesregierung hält lieber am Status quo fest. Eine Erklärung ist wohl darin zu suchen, daß eine Änderung im oben beschriebenen Sinne in Konflikt mit bestehenden Macht- und Interessenstrukturen gerät, die vom Status quo profitieren und daran festhalten wollen. Dies wurde schon 1984 in einem Aufsatz formuliert, der die Widerstände und Hindernisse gegen eine veränderte Energiepolitik im kapitalistischen System benennt:

„Die Vertreter von Industrie- und Kapitalinteressen bilden wohl die wichtigsten gesellschaftlichen Kräfte, die einer veränderten Energiepolitik ablehnend gegenüberstehen und sich mit vielfältigen Mitteln einer solchen Veränderung widersetzen. Die Gründe hierfür sind vielschichtiger Natur. So kann das dominierende Kapitalverwertungsinteresse weitaus wirksamer mittels kapitalintensiver Großerzeugungssysteme verwirklicht werden. Auch lassen sich im kapitalistischen System die erwünschten Profite in der Tendenz nur durch eine langfristige Ausweitung des Absatzvolumens erreichen, so daß nur wenig Interesse besteht, Programme zur Energieeinsparung zu unterstützen. Grundsätzlich stehen den Leitvorstellungen dieser Interessengruppen die ökologischen Basisorientierungen mit ihren Ausgangsannahmen entgegen: Dezentralisierung der Erzeugung und des Verbrauchs, Vielfältigkeit der Energieerzeugungs- und -verbrauchsformen, effiziente Energienutzung, Ablehnung eines quantitativen Wachstumsdenkens, usw.“ 6

In heutiger Sprachregelung würde dies etwa wie folgt formuliert: das kurzfristige Partikularinteresse einflußreicher Einzelakteure dominiert gegenüber dem langfristigen Interesse der Gesellschaft. Die Politik, zumal unter dem Druck der Wirtschaftskrise, scheut den offenen Konflikt mit einflußreichen Interessengruppen und nimmt dafür längerfristig andere Konflikte in Kauf, die möglicherweise weit schwerer wiegen. Statt innovativ neue Optionen zu schaffen, wird an »bewährten Leitbildern« festgehalten, ohne zu erkennen, daß es sich dabei um Auslaufmodelle handelt.

Eine Konsequenz der Handlungsblockade ist, daß kurz vor der Jahrtausendwende das Spannungsgefälle zwischen dem, was getan werden müßte und dem, was tatsächlich getan wird, unerträglich wird. Das Streben der etablierten Politik nach Wirtschaftswachstum durch höheren Energieverbrauch gerät zunehmend in Widerspruch zu den beschränkten Optionen und Möglichkeiten dieser Politik. Die Auseinandersetzung um Castor ist Ausdruck dieser sich zuspitzenden Konfliktsituation. Daß die davon betroffenen Menschen sich das Risiko der Kernenergie und damit die Defizite der Energiepolitik nicht aufbürden lassen wollen, ist verständlich.

Das der Energiepolitik innewohnende Konfliktpotential ist von der Friedens- und Konfliktforschung bislang nur sporadisch behandelt worden. So wurde etwa der Krieg um Öl angesprochen oder das Sicherheitsrisiko der Kerntechnik, wenn auch vornehmlich unter dem Aspekt militärischer Angriffe auf kerntechnische Anlagen. Selbst die sehr ernst genommenen Gefahren der nuklearen Proliferation, die aus zivilen Kernenergieprogrammen resultierten, werden in der Regel nicht unter dem Gesichtspunkt nationaler energiepolitischer Entscheidungen diskutiert. Die Geschichte hat gezeigt, daß die Verbindungen zwischen zivilen und militärischen Kernenergieaktivitäten wesentlich enger waren, als unterstellt und gehofft wurde, was eine stärkere Beachtung durch die Friedens- und Konfliktforschung verdient.7

Zunehmend rückt nun auch die Umweltdimension des Sicherheitsbegriffs ins Blickfeld oder wird die Thematik der Umweltkonflikte behandelt.8 Doch wurden Konflikte um und durch verschiedene Energieformen bislang nicht systematisch und vergleichend untersucht. Im folgenden wird der Versuch unternommen, Energiekonflikte im Zusammenhang zu behandeln und an Fallbeispielen zu erläutern. Ziel ist es, durch die Berücksichtigung der Friedens- und Konfliktdimension ein bislang vernachlässigtes Bewertungskriterium hinzuzuziehen, mit dem ein Vergleich verschiedener Energieoptionen ermöglicht werden kann (zur Beschreibung des IANUS-Projekts siehe Kasten 4 am Ende dieses Dossiers).

I.3 Das Konfliktpotential der Energieversorgung

Wie die wissenschaftlich-technische Entwicklung insgesamt, ist auch die Entwicklung und Nutzung von Energiesystemen von widersprüchlichen Tendenzen gekennzeichnet. Zum einen ist die Gewinnung, Nutzung und Verteilung von Energie eine Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung und trägt in vielfacher Hinsicht zur Globalisierung bei. Das Wachstum des Energieverbrauchs – vielfach als Indikator für Wohlstand angesehen – war eine Voraussetzung für die globale Industrialisierung und den internationalen Güteraustausch, der auch den grenzüberschreitenden Technologietransfer im Energiesektor umfaßt. Immer schnellere und weiterreichende Transport- und Kommunikationssysteme erhöhen die Mobilität und ermöglichen einer wachsenden Zahl von Menschen die unmittelbare Kommunikation mit Menschen in anderen Kulturkreisen.

Andererseits verändert jede Form der Energienutzung die soziale und natürliche Umwelt, mit teilweise erheblichen Risiken für Mensch und Natur. Die Frage ist, ob die Energienutzung in einer auf Dauer mit der Umwelt verträglichen (nachhaltigen) Weise geschieht oder ob sie zu tiefgreifenden, irreparablen Schädigungen der natürlichen Umwelt führt, die wiederum negative Rückwirkungen auf die Gesellschaft haben. Sofern Interessen von gesellschaftlichen Akteuren erheblich beeinträchtigt werden, können Konflikte die Folge sein (zum Konfliktbegriff siehe Kasten 1).

Konflikte um Energie sind in der Geschichte nichts Neues, wenn man an die Kriege um fossile Energieressourcen wie Kohle, Erdöl oder Erdgas denkt, bei denen es immer auch um das Streben nach Macht ging.9 Der Golfkrieg, der auch ein Krieg um Öl und ein Krieg durch Öl war, ist hier das jüngste Beispiel. Das Fanal der brennenden Ölquellen ist allen in Erinnerung geblieben. Zunehmend wird offensichtlich, daß auch die »falsche« Nutzung von Energie Folgen mit sich bringen kann, die gewaltsamen Konflikten Vorschub leisten, weil bei den Betroffenen elementare Lebensinteressen berührt werden. Beispiele hierfür sind die sozialen und ökologischen Folgen von Staudammprojekten, die Abholzung von Wäldern zur Brennholzgewinnung, radioaktiver Müll und die grenzüberschreitende Ausbreitung radioaktiver Schadstoffe bei einem Kernreaktorunfall oder die Klimaänderungen als Folge der Verbrennung fossiler Brennstoffe, die zu einer Zuspitzung des »Nord-Süd-Konflikts« und einer Zunahme regionaler Umweltkonflikte führen können. Auch die Verbreitung kernwaffenrelevanter Technologien durch Kernenergie (Proliferation) bleibt ein sicherheitspolitisches Problem der Zukunft. Einige aktuelle Beispiele sollen dies belegen, in Ergänzung zu den folgenden Kapiteln.

Die rücksichtslose Erschließung von Öl- und Gasquellen im Nigerdelta durch ausländische Ölkonzerne, mit Rückendeckung durch die nigerianische Militärregierung, geschieht auf Kosten der dort lebenden Volksgruppen, insbesondere der Ogoni, ohne daß diese dafür entschädigt werden. Die sehr einseitige Risikozuweisung führt zu massiven Protesten der einheimischen Bevölkerung, die gewaltsam unterdrückt werden. Durch die Hinrichtung Ken Saro-Wiwas erhielt der Konflikt internationale Aufmerksamkeit.10

Die neuen Staaten im Transkaukasus und in Zentralasien haben nach dem Zerfall der Sowjetunion große Erdöl- und Gasvorkommen übernommen, die mit Hilfe westlicher und östlicher Geldgeber rasch erschlossen werden sollen. In dieser Schlüsselregion zwischen Europa, Asien und Nahost kämpfen Staaten wie Rußland, USA, Türkei, China, Indien, Pakistan, Iran und Irak um politischen und wirtschaftlichen Einfluß, der sich in einem Wettlauf um die besten Zugriffsmöglichkeiten auf Öl und Gas niederschlägt. Konkrete Konflikte gibt es um die besten Transportwege (insbesondere Pipelinerouten), den rechtlichen Status des Kaspischen Meeres oder die Embargopolitik der USA gegenüber Iran.11

In Indien sind von der Inbetriebnahme des Narmada-Staudammes in den kommenden Jahrzehnten etwa eine Million Menschen betroffen, Hunderttausenden droht die Umsiedlung bei Inbetriebnahme, viele werden indirekt ihrer Überlebensbasis beraubt. Die Entschädigung ist unzureichend, gewachsene Gemeinschaften, familiäre, soziale und kulturelle Zusammenhänge werden auseinandergerissen. Die Folge sind teilweise heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei.12

Die chinesische Regierung plant, zur Befriedigung des wachsenden Strom- und Transportbedarfs den größten hydroelektrischen Staudamm der Erde zu bauen, den Drei-Schluchten-Damm über den wegen seiner landschaftlichen Reize berühmten Jangtsekiang. Was von einigen als Wunder der Modernisierung gepriesen wird, ist für Kritiker eine beispiellose ökologische und soziale Katastrophe. 1,4 Millionen Menschen müssen umgesiedelt werden, Arten würden gefährdet, archäologische Stätten überschwemmt. Zudem könnten bei einem Unfall oder einem Gewaltanschlag Millionen Menschen durch das Bersten des Dammes gefährdet sein.13

Das unter sozialistischer Herrschaft begonnene ungarisch-slowakische Staustufenprojekt Gabcikovo an der Donau hat sich zu einem internationalen Streitfall entwickelt. Umstritten sind nicht nur die ökologische Folgen, da Gabcikovo eine einzigartige Flußlandschaft an der Donau bedroht, sondern auch die sozialen Folgen, da die Verschmutzung und Kanalisierung der Donau eines der größten Trinkwasserreservoire Mitteleuropas gefährdet und damit die Lebensbedingungen der ansässigen ungarischen Minderheit. Daneben sind wirtschafts- und staatspolitische sowie völkerrechtliche Fragen betroffen. Während Ungarn, unter dem Druck von Umweltschützern, 1989 aus dem Projekt ausstieg, weigerte sich die Slovakei, die das Kraftwerk zur Verminderung der Energieabhängigkeit von Tschechien und als nationales Prestigeobjekt braucht, die Bauarbeiten einzustellen, was zu gegenseitigen Drohgebährden führte. Die EG hat sich bemüht, einer weiteren Eskalation durch Vermittlung vorzubeugen.14

Diese konkreten Konflikte sind keine Einzelfälle, sondern Ausdruck einer allgemeinen Problemlage, die – bei aller Unsicherheit hinsichtlich der Aussagekraft der Energieszenarien – vor allem durch vier Faktoren gekennzeichnet ist:15

1) Wachsender Energiebedarf bei sinkenden Reserven: Angesichts eines stetigen Anstiegs des Energieverbrauchs, bedingt durch das explosive Anwachsen der Weltbevölkerung und den Konsum einer immer größer werdenden Anzahl von Innovationen und Produkten, sind die Grenzen der Verfügbarkeit nichterneuerbarer Primärenergieträger wie Erdöl, Erdgas und Uran abzusehen. Die meisten Energieszenarien gehen davon aus, daß sich der weltweite Energieverbrauch langfristig vervielfacht: von derzeit knapp 400 Exajoule jährlich auf 1.500 bis 1.700 Exajoule bis zum Jahre 2100 (Exa=1018=Trillion). Die in den Industrieländern teilweise zu beobachtende Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch würde von der nachholenden Entwicklung der Dritten Welt und ihrem Bevölkerungswachstum deutlich übertroffen. Die heute bekannten Reserven reichen noch etwa 40 bis 60 Jahre. So wird gegen Ende des 21. Jahrhunderts der auf ein Maximum gestiegene Bedarf auf ein Minimum gesicherter Reserven an fossilen Energieträgern treffen. Nur Kohle und erneuerbare Energien sind dann noch verfügbar. Die Begrenztheit herkömmlicher Energievorräte und die begrenzte Aufnahmefähigkeit der Erdatmosphäre für Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energie zwingt zur Umgestaltung der westlichen Produktions- und Lebensweise. Statt die Emissionen zu verdoppeln, müßten sie in den nächsten 50 Jahren mindestens halbiert werden, um folgenschwere Klimaveränderungen zu verhindern.

2) Nord-Süd-Gefälle im Energiesektor: Während in den westlichen Industriestaaten der materielle Lebensstandard bislang mit großem Energieverbrauch und vergleichsweise hoher Energieeffizienz verbunden war, sind die östlichen Industriestaaten gekennzeichnet von niedrigen Lebensstandards, hohen Energieverbräuchen und geringer Energieeffizienz. In den Ländern des Südens ist der Energieverbrauch pro Kopf im Durchschnitt weit niedriger, bei geringer Energieeffizienz. In manchen Ländern liegt er unter dem zur Sicherung der physischen Existenz notwendigen Minimum, in vielen unter dem Minimum zur Befriedigung der Grundbedürfnisse einschließlich Gesundheitsvorsorge und Bildung. Entwicklungsländer, die eine konsequente Industrialisierung forcieren, betreiben eine expansive Energiepolitik, die kaum auf ökologische Erfordernisse Rücksicht nimmt. Dies gilt vor allem für das menschenreichste Land der Erde, China.

3) Geopolitisches Konfliktpotential der Erdölabhängigkeit: Sowohl die Energiereserven als auch der Energiekonsum sind ungleich über die Welt verteilt, woraus sich eine Abhängigkeit von wenigen Akteuren ergibt. Während Kohlevorräte noch in unterschiedlichen Weltregionen zu finden sind, konzentrieren sich die Erdölvorräte zu ca. 67% im Nahen Osten, die Gasvorräte zu 43% in der GUS und zu 29% ebenfalls im Nahen Osten, und die bekannten Uranreserven Australien (28%), Niger (18%) und Südafrika (13%) sowie Brasilien und Kanada (je 10%). Aus der Konzentration und der Verknappung fossiler Energieträger ergibt sich eine wachsende Abhängigkeit der Weltenergieversorgung von wenigen Quellen. Die vom OPEC-Kartell ausgelösten Ölpreiskrisen der siebziger Jahre haben das internationale politische Klima belastet; als Folge wurde damit begonnen, Energie zu sparen und Öl aus verschiedenen Lieferländern zu beziehen. Dies betrifft besonders die Entwicklungsländer, die selbst keine Öl- oder Gasvorräte haben und deren Ökonomien in hohem Maße von Ölimporten abhängen. Die privilegierten Industriestaaten werden versuchen, ihre Interessen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen, um nicht von den Quellen abgeschnitten zu werden. So war ein wesentliches Motiv des Golfkriegs auch die Aufrechterhaltung des freien Zugangs zu den Ölquellen des Nahen und Mittleren Ostens.

4) Ökologische Risiken: Jede Energieform weist ein spezifisches ökologisches Belastungs- und Risikoprofil auf. Das Erdöl verschmutzt die Weltmeere und die Atmosphäre. Die Kohleförderung verursacht erhebliche Schäden an Landschaft und Grundwasser und setzt bei ihrer Verbrennung säurebildende Schadstoffe, photochemische Substanzen und klimarelevante Spurengase frei. Die Kernenergie weist ein katastrophenhaftes Risikoprofil auf und führt zu langanhaltenden radioaktiven Belastungen der natürlichen Kreisläufe. Die Schädigung der Erdatmosphäre, unter anderem durch Treibhausgase, ist so weit fortgeschritten, daß zusätzliche Belastungen zu weiteren Klimaveränderungen – verbunden mit einem Ansteigen der Meeresspiegel und Verschiebungen der Klimazonen – führen werden.

Betrachtet man diese Faktoren für sich wie auch in ihren Wechselzusammenhängen, wird erkennbar, daß die ungelösten Probleme einer ausreichenden, gerechten und umweltorientierten Energieversorgung in der Zukunft zu erheblichen internationalen Konflikten führen können. Eine prospektive konfliktvorbeugende und konfliktregelnde »Weltenergiepolitik« ist noch nicht in Sicht. Die Zuspitzung der globalen Energiesituation kann sich in vier Typen von Energiekonflikten äußern:

1) Knappheitskonflikte: Sofern die Nutzung von Energie mit der Schaffung von Wohlstand verknüpft ist, kann der Mangel an Energie zu Wohlstandseinbußen, Einschränkungen der Lebensqualität, gesamtwirtschaftlicher Stagnation sowie damit verbundenen sozialen Abstufungen und Konflikten führen.

2) Verfügbarkeits-, Verteilungs- und Gerechtigkeitskonflikte: Die Verteilung, Verfügbarkeit und Finanzierung von Energie, im nationalen, regionalen oder globalen Maßstab, ist ein Faktor, der heftig umkämpft sein kann, besonders wenn das Gerechtigkeitsprinzip verletzt ist. Ein Beispiel ist der Zugriff auf Öl, ein anderes der gleichberechtigte Zugang zur Hochtechnologie Kernenergie, die ein Prestige- und Machtymbol darstellt.

3) Konflikte um die Form und das Risiko der Energie: Diese werden ausgetragen, um die unmittelbaren Folgen und Risiken der Energienutzung zu verhindern oder zu begrenzen. Die Gefährdung von Wohlstand, Gesundheit und Leben kann zu heftigen Abwehrmaßnahmen der Betroffenen gegen das verursachende Energiesystem führen (z.B. die Risiken der Kernenergie).

4) Konflikte durch energiebedingte Auswirkungen: Hierbei handelt es sich um Konflikte, die indirekt durch energiebedingte Wirkungen und Folgen hervorgerufen werden, nicht aber das Energiesystem selbst zum Konfliktgegenstand haben (z.B. Sicherheitsrisiken durch Proliferation von Atomwaffen, globale Erwärmung und daraus folgende Konflikte).

In realen Konfliktkonstellationen gibt es Überschneidungen und Querbezüge zwischen den vier Konflikttypen. Um einen Knappheitskonflikt zu vermeiden, kann etwa ein Verteilungskonflikt ausgetragen werden, der wiederum die Bereitschaft erhöht, Risiken und damit verbundene Konflikte einzugehen.

Je nachdem, welche Konfliktakteure beteiligt sind, können verschiedene Ebenen des Konfliktaustrags unterschieden werden:

1) Intrapersonale Konflikte zwischen Werten und Interessen: In der Energiedebatte spielen die unterschiedlichsten Werte und Interessen eine Rolle, von individueller Wohlstandssicherung und Profitstreben bis zu übergeordneten Zielsetzungen wie nachhaltige Entwicklung, Gerechtigkeit oder Gewaltfreiheit, die alle zugleich nicht zu harmonisieren sind. Unterschiedliche Leitbilder, welches Ziel bevorzugt verfolgt werden soll, können zu Konflikten innerhalb von Personen oder sozialen Gruppen führen. Solche Konflikte wurden bislang eher der Psychologie als der Friedens- und Konfliktforschung zugewiesen.

2) Innergesellschaftliche Konflikte: Sind die genannten Ziele mit verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren (Parteien, Firmen, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, usw.) verbunden, können innergesellschaftliche Konflikte die Folge sein, die nicht immer auf nationale Grenzen beschränkt sein müssen.

3) Zwischenstaatliche und interregionale Konflikte: Wenn Staaten oder ganze Staatengruppen jeweils unterschiedliche Ziele verfolgen, sind zwischenstaatliche Konflikte möglich. Ein Beispiel ist die bevorzugte Unterstützung des Umweltziels durch den »Norden« bei starkem Einsatz des »Südens« für das Entwicklungs- und Gerechtigkeitsziel.

4) Intergenerationelle Konflikte: Die heute lebenden Menschen profitieren von der bislang weitgehend unbegrenzten Nutzung von Naturressourcen zur Schaffung von Wohlstand auf Kosten zukünftiger Generationen, deren Lebensbedingungen erheblich beeinträchtigt werden. Spätere Generationen haben auf jetzige Entscheidungen keine Einflußmöglichkeiten, es sei denn indirekt über die ethische Reflexion, die Verantwortungsübernahme und die Solidarität der heutigen Generation. Ein Konfliktaustrag im herkömmlichen Sinne ist nicht möglich, da die Wirkung von Handlungen nur in die Zukunft reichen kann, nicht jedoch umgekehrt.16

Während Knappheits- und Verteilungskonflikte sowie indirekte Konflikte durch energiebedingte Auswirkungen bereits zu zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen geführt haben, bleiben die Mittel und der Verlauf des Austrags von Konflikten über die Form oder das Risiko der Energieversorgung bislang weitgehend im innergesellschaftlichen Rahmen: legitime Demonstrations- und Protestformen, Blockaden und Sabotagemaßnahmen, polizeiliche Gewalt. Im Extremfall ist jedoch auch hier der Einsatz organisierter Gewalt bis zum Krieg zwischen Staaten denkbar. Gewaltkonflikte zeichnen sich besonders dann ab, wenn die Energienutzung einiger Akteure elementare Lebensinteressen anderer Akteure berührt, die über ausreichende Gewaltmittel verfügen. Dabei können auch Teile des Energiesystems selbst (Reaktoren, Stromleitungen, Staudämme, Bauzäune) Ziel des Einsatzes von Konfliktmitteln sein, was wiederum erhebliche Risiken in sich bergen kann.

Durch die vergleichende Behandlung der genannten Konflikttypen, Konfliktebenen und Konfliktmittel im Bereich der Umwelt- und Energiekonflikte ist ein weites Spektrum zukünftiger Konfliktforschung umrissen, wobei nicht nur das komplexe Ursache-Wirkungsgeflecht, sondern auch neuartige Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung, -prävention und -lösung zu untersuchen sind. Im folgenden sollen exemplarisch einige Energiekonflikte behandelt werden, die schon heute international (und intergenerationell) politisch relevant sind (Konfliktebenen 3 und 4).

II. Konflikte um fossile Energien: Handlungs- optionen der Internationalen Energie-Agentur

Mit der Entwicklung des Automobils durch Carl Benz im Jahre 1886 verwandelte sich die übelriechende, schwarze Flüssigkeit Erdöl zur schier unerschöpflichen, bequem zu transportierenden und billigen Energiequelle. Die Firmen konnten ihre Produkte aufgrund des Einsatzes von Lastwagen, Diesellok und später Flugzeug, verbunden mit der mühelosen Überwindung großer Entfernungen, weltweit absetzen und bescherten wegen der enormen Steigerung der Warenproduktion der wachsenden Bevölkerung der nördlichen Hemisphäre einen bis dahin nicht gekannten Wohlstand.17 Der Aufstieg von Erdöl zum bedeutendsten strategischen Rohstoff des 20. Jahrhundert hatte seinen Anfang genommen.18

Gleichzeitig hatte sich damit aber die gesamte industrialisierte Welt in eine zunächst nicht erkannte Abhängigkeit begeben, da die ergiebigsten Quellen spätestens seit Ende des 2. Weltkrieges außerhalb der Grenzen der Industriestaaten lagen. Erst die Ölkrise 1973/74, verbunden mit drastischen Preiserhöhungen und weltweiter Rezession führten zu einer Bewußtseinsänderung der Industriestaaten hinsichtlich der Verletzbarkeit ihrer Volkswirtschaften durch die hohe Importabhängigkeit von Erdöl aus der Golfregion.

Vor diesem Hintergrund wurde eine langfristig angelegte internationale Lösung des Energieproblems thematisiert, und im November 1974 wurde auf Initiative des damaligen US-Außenministers Henry Kissinger die Internationale Energie-Agentur (IEA) gegründet, der inzwischen bis auf Island alle Mitgliedsländer der OECD angehören.

Nicht zuletzt auch aus den Erfahrungen des Golfkrieges 1990/91 ist in jüngster Zeit wieder eine verstärkte Diskussion darüber in Gang gekommen, mit welchen Gefahren für das westliche Wirtschaftswachstum durch die Instabilitäten im arabischen Raum zukünftig zu rechnen sei und welche Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen seien.

II.1 Versorgungssicherheit und Konfliktpotentiale

Wie Erfahrungen in der Vergangenheit gezeigt haben, können bestehende Konfliktpotentiale zu realen Gefährdungen der Versorgungssicherheit mit Erdöl führen:

Innerarabische Verteilungs- und Verfügbarkeitskonflikte wie der Überfall von Irak auf Kuwait am 2. August 1990 oder der iranisch/irakische Krieg in den achtziger Jahren: Ursache für solche Verteilungskonflikte kann dabei neben der Ressource Erdöl auch das aufgrund der steigenden Verstädterung und der zunehmenden Bewässerung in der Landwirtschaft immer knapper werdende Gut Wasser sein.

Arabisch-israelische Konflikte wie etwa der Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973: Da der Westen ein starkes Interesse an der Aufrechterhaltung der Souveränität des Staates Israel hat, wird er auch zukünftig der Gefahr ausgesetzt sein, daß die arabischen Gegner Israels die »Ölwaffe« zücken. Dabei ist zu bedenken, daß im Falle einer erneuten Zuspitzung des hier beschriebenen Konfliktes die erdölreichen Staaten der Golfregion auch aufgrund des innenpolitischen Druckes nur einen sehr engen Handlungsspielraum besitzen und sich gezwungen sehen könnten, die arabischen »Brudervölker« im Kampf gegen den »Erzfeind« Israel und seine westlichen Schutzpatrone zu unterstützen.

Soziale und politische Spannungen innerhalb der OPEC-Staaten könnten zu einer Stärkung des islamischen Fundamentalismus führen, wie seit Ende der achtziger Jahre in Algerien, oder sogar zu politischen Umstürzen wie bei den Revolutionen in Libyen 1969 oder im Iran 1979. Dabei könnte die Strategie der IEA-Staaten zur Verringerung der Ölabhängigkeit diese Entwicklung sogar noch beschleunigen, da dann durch die Einnahmeausfälle aus dem Ölgeschäft die wirtschaftliche Entwicklung vor allem der großen Erdölexporteure wie Algerien oder Nigeria nachhaltig gestört wird.

Die Bedeutung solcher Konflikte in der Golfregion für die westlichen Industrienationen wird dadurch untermauert, daß nach den wichtigsten Energieszenarien Erdöl auch in den nächsten Jahren der wichtigste Energieträger bleiben wird. Die IEA erwartet, daß die Ölimporte der OECD-Länder in den kommenden 10-15 Jahren mit 70% den Stand der siebziger Jahre erreichen.19 Gleichzeitig werden sich die Erdölvorräte zunehmend wieder auf den Nahen Osten konzentrieren, da die Ressourcen außerhalb dieser Region (z.B. Norwegen, ehemalige Sowjetunion …) zur Erschöpfung gelangen.

Angesichts der wieder steigenden Abhängigkeit von Lieferländern aus der Golfregion und der damit verbundenen politischen Unabwägbarkeiten sowie der großen Ungewißheit über die weitere Entwicklung in der GUS als größtem Exporteur des bedeutenden Energieträgers Erdgas stellt sich die Frage nach den Zusammenhängen von Energieversorgung und internationaler Sicherheit.

Im folgenden soll nunmehr der Frage nachgegangen werden, warum die Entwicklung zur Importabhängigkeit von Erdöl ungebrochen ist und welche Folgen sich daraus aus dem Blickwinkel der westlichen Industriestaaten für die zukünftige weltweite politische Stabilität ergeben könnten.

II.2 Handlungsoptionen bei Ölkrisen

Hierzu sollen zunächst einmal die Interaktionen zwischen OPEC und IEA genauer beleuchtet werden. Die IEA besitzt verschiedene Handlungsoptionen, um auf eine Erdölpreissteigerung der OPEC bzw. politische Krisensituationen in der Golfregion reagieren zu können.

Im Golfkrieg zu Beginn 1991 wurde die Fähigkeit der IEA, leistungsstarke Krisenprogramme zu verwirklichen, erstmals an einem der zuvor beschriebenen Konfliktherde umfassend getestet. Angesichts dieser Erfahrungen werden die IEA-Mitgliedsstaaten auch zukünftig ihre Anstrengungen forcieren, um auf alle zuvor beschriebenen potentiellen Konflikte angemessen reagieren zu können bzw. die angestrebte Verringerung der Verletzbarkeit ihrer Länder gegenüber Ölversorgungsstörungen fortzusetzen.

Hierbei wird allerdings hinsichtlich der praktischen Umsetzung der Ziele der IEA bislang zu sehr nur auf kurzfristig erfolgsorientierte Strategien zur Weiterentwicklung des Krisenmechanismus der IEA gesetzt, wie etwa die Erhöhung der öffentlichen Bevorratungsmengen über die Reichweite von 90 Tagen hinaus und die Freigabe von gewissen Lagervorräten schon im Vorfeld physischer Engpässe. Dabei ist zu bedenken, daß das Anlegen von Tanklagern für die Notstandsreserven zum einen mit enormen Kosten verbunden ist und zum anderen sich für länger anhaltende Versorgungsschwierigkeiten als völlig unwirksam erweist. Darüber hinaus scheinen die Substituierbarkeits- und Einspareffekte, welche als Reaktion auf Krisensituationen in der Golfregion kurzfristig erzielt werden können, an ihre Grenzen gelangt zu sein.

So ist die Energieintensität in den OECD-Ländern zwischen 1973 und 1990 um jährlich 1,7% gesunken, so daß die einzelnen OECD-Staaten heute nur noch 74% der Energie benötigen, die sie 1973 brauchten, um eine Einheit des Bruttosozialprodukts zu produzieren. Weitere Fortschritte in diese Richtung sind jedoch nur bei langfristiger Planung zu erzielen.20

Angesichts der Ereignisse in der Vergangenheit scheinen die Aussichten eher gering, mit einer kooperationswilligen OPEC einen Dialog über faire Rahmenbedingungen zu führen, damit Joint Ventures vom „Bohrloch bis zur Tankstelle“ zwischen Verbraucher- und Produzentenländern fortentwickelt werden könnten.21 Bei welcher Institution könnte die IEA im Falle eines »Vertragsbruches« durch die OPEC klagen? Bei der Auswahl und Bewertung der Handlungsoptionen dürfte die IEA daher vielmehr jene bevorzugen, mit welchen es möglich ist, Drohpunkte gegenüber den Aktionen der OPEC zu entwickeln.

II.3. Drohpunkte: Militär oder Substitution?

Als Handlungsoptionen mit »Drohpunktcharakter« der IEA sind hierbei in erster Linie der Einsatz von militärischen Mitteln (siehe Golfkrieg) sowie die Entwicklung von Erdölsubstituten (Backstop-Technologien) zu nennen. Hierbei ist es nunmehr interessant zu untersuchen, welche Hemmnisse einer erfolgreichen Entwicklung einer Backstop-Technologie entgegenstehen und welche Möglichkeiten (auch aus dem Blickwinkel der Erdölexporteure) es geben kann, diese zu beseitigen.

Der IEA stehen bei der Erforschung, Entwicklung und Demonstration neuer fortschrittlicher Energietechnologien eine Reihe von Kooperationsmechanismen zu Verfügung, wodurch Doppelarbeit auf nationaler Ebene vermieden wird. Technologische Entwicklungen können aber nur dann wirklich zügig umgesetzt werden und damit einen wirklichen Drohpunktcharakter gegenüber der OPEC darstellen, wenn sie auf den bestehenden Infrastrukturen des Energiesektors aufbauen. Nur so scheint es für zukünftige Energiequellen möglich zu sein, die Zeitspanne von 50-60 Jahren deutlich zu reduzieren, welche in der Vergangenheit bei der Einführung der Energieträger Kohle, Erdöl und Erdgas verging, ehe diese einen nennenswerten Beitrag zur Energiebereitstellung leisten konnten. Da die Investitionskosten hoch und die Reinvestionszyklen energietechnischer Umwandlungsanlagen sowie die Lern- und Einführungszeiten lang sind, ist eine langfristige Vorausplanung in den Entscheidungsorganen der Energiewirtschaft der OECD-Länder erforderlich.22

Als problematisch könnten sich die Erfahrungen aus der Vergangenheit erweisen, welche zeigen, daß erst durch die Markteinführung die wesentlichen Impulse zur Kostenreduktion, zur Erhöhung der technischen Effizienz und damit auch zur kommerziellen Verbreitung von technischen Innovationen gegeben werden.23 Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß trotz der jüngsten Erfolgsmeldungen hinsichtlich der Entwicklung der Brennstoffzelle bislang kein wirklicher technologischer Durchbruch hin zur vollständigen Substituierbarkeit von Erdöl im Verkehrsbereich absehbar ist.

Angesichts des starken Preisverfalls beim Mineralöl seit Mitte der achtziger Jahre mag die Frage erlaubt sein, ob der rationelleren Energieverwendung bzw. der Entwicklung von neuen Energietechnologien derzeit überhaupt noch eine volkswirtschaftliche Bedeutung zukommt. Hierbei ist nach Gründen zu suchen, um die bisweilen erheblichen finanziellen F&E-Anstrengungen der IEA-Staaten im Energiesektor zu legitimieren. Welche Folgen sind zu erwarten, wenn die IEA-Staaten ihre F&E-Budgets im Energiebereich an die reale Preisentwicklung für Erdöl koppeln? Bei fallenden Erdölpreisen könnte es dann als gesamtwirtschaftlich legitim angesehen werden, die staatlichen F&E-Ausgaben im Energiebereich zu senken und eher für andere Projekte zu verwenden.

Eine genauere Analyse der Ursachen für die Phase der niedrigen Erdölpreise seit Mitte der achtziger Jahre kommt zu dem Ergebnis, daß weniger die gestiegene physische Verfügbarkeit für den Preisverfall verantwortlich ist als vielmehr institutionelle Probleme des OPEC-Kartells. Selbst wenn man von einer sehr langen Reichweite der Erdölressourcen ausginge, müßte eine Konzentration der Lagerstätten in der Golfregion aus der Sichtweise der IEA-Staaten pessimistisch bewertet werden. Für sie wäre es erforderlich, derartige externe Effekte zu internalisieren. Ein Ansatz zur Lösung dieses Problems könnte z.B. in der Besteuerung des Erdölpreises liegen, um trotz der scheinbar grenzlosen Verfügbarkeit von billigem Erdöl aus der Golfregion einen größeren Anreiz für das Suchen nach alternativen Energieträgern zu schaffen.

Es kann also nicht einfach eine Kopplung der F&E-Ausgaben an den empirisch beobachtbaren Erdölpreis erfolgen, ohne eine genauere Analyse der potentiellen (möglicherweise auch wechselnden) Einflußgrößen auf den Ressourcenpreis vorgenommen zu haben.

Sollte die Entwicklung einer Backstop-Technologie nicht in absehbarer Zeit gelingen, könnte die IEA in Handlungszwänge geraten. Aus ihrer Perspektive könnte dann u.U. nur der Einsatz von militärischen Mitteln als einzig wirkliche Handlungsoption verbleiben, was mit unabsehbaren Folgen verbunden wäre. Somit muß die Förderung der Suche nach Backstop-Technologien nicht nur unter dem Aspekt der Versorgungssicherheit, sondern auch hinsichtlich einer globalen Friedenssicherung positiv bewertet werden. Folglich müssen alle Anstrengungen unternommen werden, die Hemmnisse im Staats- und Unternehmenssektor zu beseitigen.

III. Krieg im Treibhaus? Das Konfliktpotential der globalen Erwärmung24

III.1 Neue Bedrohungen durch den Klimawandel

Die Produktion und Nutzung fossiler Energie, die den größten Anteil an der heutigen Energieversorgung ausmacht, ist mit etwa 46% der größte Verursacher des Treibhauseffekts,25 der durch die Emission von Spurengasen (neben Kohlendioxid auch Stickoxide, Kohlenmonoxid, Methan und Ozon) entsteht und für die globale Erwärmung und daraus folgende Klimaveränderungen verantwortlich gemacht wird. Neben dem verschwenderischen Verbrauch fossiler Brennstoffe sind weitere Hauptursachen die Zerstörung von Wäldern und Böden (18%) sowie die Nutzung von FCKW und Halonen vor allem in den Industrieländern (24%). Trotz verbleibender Unsicherheiten rechnet des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) bei einer Verdopplung des CO2-Gehalts in der Atmosphäre mit einer Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur um 1,5-4 Grad Celsius.26

Für das Konfliktverhalten in Öffentlichkeit und Politik ist nicht allein die Sicherheit der wissenschaftlichen Aussage ausschlaggebend, sondern schon die Wahrnehmung der durch den Treibhauseffekt angenommenen Klimaänderungen entfaltet Wirkung. Ein letzter Nachweis ist ohnehin erst möglich, wenn die Klimaveränderungen tatsächlich eingetreten sind und die Folgen für alle spürbar werden. Für die politische Realität bedeutsam ist schon jetzt die in den vergangenen Jahren beobachtete Zunahme ungewöhnlicher Wetterphänomene, die als Vorboten der prophezeiten Klimakatastrophe angesehen werden. Messungen zeigen, daß seit Anfang der achtziger Jahre eine extrem warme Klimaphase begonnen hat, unterbrochen durch den Pinatubo-Effekt, der die globale Erwärmung in den vergangenen zwei Jahren abgebremst hat, nunmehr aber an Kraft zu verlieren scheint. Das Sommerhalbjahr 1994 war nach Erhebungen amerikanischer und britischer Meteorologen das wärmste seit weltweit Messungen angestellt wurden. Das Climate Prediction Center der US-Regierung hat für die Monate März bis Oktober 1994 weltweit eine Durchschnittstemperatur errechnet, die um rund 0,4 Grad Celsius über normal lag.27

Auch die Zahl und Stärke der klimabedingten Naturkatastrophen (Wirbelstürme und Überschwemmungen, Dürreperioden und Waldbrände) in verschiedenen Regionen der Welt war in den achtziger Jahren tendenziell steigend, ebenso die Zahl der damit verbundenen Opfer und Schäden, die von Versicherungen Zahlungen in Milliardenhöhe verlangten. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen:28

Im Januar und Februar 1990 richteten vier aufeinanderfolgende Orkane in Mitteleuropa Schäden in Höhe von 17 Mrd. DM an.

Im Mai 1991 überflutete ein Zyklon weite Teile des tiefliegenden Küstenlandes in Bangladesh. Etwa 139.000 Menschen wurden getötet und mehr als eine Million Häuser beschädigt oder zerstört. Die Sachschäden wurden auf insgesamt etwa drei Milliarden DM geschätzt, was etwa zehn Prozent des Bruttosozialprodukts von Bangladesch entspricht.

Den finanziell größten Schaden richtete der Hurrikan Andrew an, der am 24. August 1992 das südliche Florida traf. Obwohl Andrew nur der drittstärkste in den USA registrierte Hurrikan war, lag der Schaden mit 42 Mrd. DM so hoch wie bei den drei verheerendsten Stürmen zusammen, die die USA zuvor erlebt hatten.

Wenn auch davon ausgegangen werden kann, daß die wachsende Schadenshöhe zum Teil auf den zunehmenden versicherten Besitz zurückgeführt werden kann, ist doch die Häufung und Intensität derartiger Naturkatastrophen ungewöhnlich. Mehr noch als für die Versicherungsindustrie, die ihre auf historischen Meßreihen basierenden Schätzungen hinsichtlich Schadensmaß und Häufigkeit von Naturkatastrophen überdenken muß, um nicht bankrott zu gehen, sind die betroffenen Menschen gefährdet, für die eine Naturkatastrophe ein Schicksalsschlag ist, auch wenn sie von ihnen möglicherweise mitverursacht wurde.

Die bisherigen Beispiele zeigen auch, daß in den Industrieländern Naturkatastrophen vor allem finanzielle Schäden anrichten, da sich die Menschen durch Vorwarnzeiten und sichere Häuser meist schützen können. In Entwicklungsländern sind dagegen oft weit mehr Todesopfer zu beklagen, während die materiellen Schäden aufgrund des niedrigeren Wohlstandsniveaus geringer liegen.

III.2. Risiken der globalen Erwärmung

Auch wenn noch nicht mit letzter Sicherheit erwiesen ist, ob die genannten Wettererscheinungen mehr sind als nur statistische Ausreißer, werden diese auch von Experten als Vorgeschmack für das gedeutet, was bei Eintreten der vorhergesagten Klimaänderungen erwartet wird. Je mehr die noch verbleibenden Unsicherheiten beseitigt werden, desto mehr verlagert sich die Diskussion von klimatologischen Fragen hin zu den Folgen und Risiken der Klimaänderung sowie ihrer Beseitigung bzw. Begrenzung.

Was möglich erscheint, wird in in einer wachsenden wissenschaftliche Literatur über die Konsequenzen der globalen Erwärmung analysiert (siehe Kasten 2).29 Zumeist wird als Standardfall eine Erwärmung bei einer CO2-Verdopplung gegenüber dem vorindustriellen Niveau angenommen, bei dem sich die mittlere globale Temperatur um 1,5-4,5 Grad erhöht, verbunden mit einer Erhöhung des Niederschlages um 10-15% und einem Meeresspiegelanstieg von 50 cm.

Zu den Kosten der Folgen von Klimaänderungen wurden eine Reihe ökonomischer Untersuchungen durchgeführt, die sich auf die Abschätzung der monetären Schadensvermeidungskosten und den Vergleich mit den Verminderungskosten bei einer Verringerung der Treibhausgas-Emissionen konzentrierten.30 Die ökonomischen Studien stimmen weitgehend überein in der Größenordnung der jährlichen Verminderungskosten – 1 bis 3% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – und kommen mit Unterschieden zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der jährlichen Schäden durch globale Erwärmung – etwa 1 bis 2% des BIP.31 Diese aggregierten Zahlen können weiter aufgeschlüsselt werden hinsichtlich verschiedener Länder und der einzelnen Schadensdimensionen. Die Grenzen und Gefahren einer rein monetären Betrachtung dürfen jedoch nicht übersehen werden:

Bestimmte Schadensdimensionen lassen sich nur unzureichend in Geldeinheiten umrechnen, wie etwa der Verlust von Arten oder von Menschenleben. Dies stößt auch auf ethische Grenzen.

Unvorhersehbare Katastrophen und nichtlineare Effekte (Rückkopplungen) können Schadensberechnungen völlig über den Haufen werfen. Dies wäre etwa der Fall, wenn Klimasprünge über das im IPCC-Szenario prognostizierte Maß auftreten oder der Golfstrom nicht mehr Europa erreicht.

Das Argument, eine CO2-Verminderung könne teurer sein als die Schadensbeseitigung beim Treibhauseffekt, übersieht, daß erstere Maßnahmen auch aus anderen Gründen sinnvoll und damit Zukunftsinvestitionen sind, während letztere unproduktive Reparaturkosten sind.

Die sozialen Aspekte und die Konfliktdimension der globalen Erwärmung lassen sich monetär nicht erfassen.

III.3 Alle in einem Boot oder nach mir die Sintflut?

Die Vorstellung, alle Menschen säßen, wie bei der von Überschwemmungen und Stürmen geschüttelten Arche Noah, in einem »gemeinsamen Boot«, war eine Klammer, die die UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro im Juni 1992 zusammenhielt. Das Gefühl gemeinsamen Bedrohtseins von Nord und Süd erleichterte, trotz aller sonstigen Divergenzen, die Unterzeichnung verschiedener Verträge, darunter der Klimakonvention.32

Nachdem im Anschluß an die Rio-Konferenz erst einmal Ruhe an der öffentlichen Klimafront eingekehrt war, ist auf der Weltklimakonferenz in Berlin vom 28. März bis zum 7. April 1995 der ohnehin schwierige Konsens von Rio brüchig geworden; weitergehende Maßnahmen wurden fraglich. Neuere Untersuchungen haben nicht nur ein erschreckendes Bild der möglichen Folgen der Klimaveränderungen erkennen lassen, sondern auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten und die Widerstände gegen die notwendigen Anpassungsprozesse zur Vermeidung des Treibhauseffekts den Entscheidungsträgern vor Augen geführt. Gefürchtet werden bei Politikern, die auf den kurzfristigen Erfolg der Wiederwahl orientiert sind, die mit der Durchsetzung verbundenen Konfliktpotentiale innerhalb der eigenen Gesellschaft. Unter Verweis auf andere schwarze Schafe, scheinen einige Akteure zu glauben, als Trittbrett-Fahrer noch so lange wie möglich der Formel „Ressourcenverbrauch=Wohlstand“ nachhängen zu können, zugleich jedoch von den Emissionsreduzierungen anderer profitieren zu können. Ein solches ungerechtes und nicht-nachhaltiges Vorgehen verlagert jedoch den Konflikt nur auf die internationale Ebene.

Eine Konsequenz der neuen Nach-mir-die-Sintflut-Mentalität ist, daß das Bild vom gemeinsamen Boot Risse zeigt. Ein Indiz dafür ist die kurz vor der Weltklimakonferenz erschienene Zeitschrift „Bild der Wissenschaft“, die unter dem Titel „Kampf ums Klima“ angesichts einer sehr unterschiedlichen Verteilung der Risiken die Alle-in-einem-Boot-Metapher in Zweifel zieht.33 Während nördliche Regionen von der Verschiebung der Klimaänderung profitieren könnten, wird die in wärmeren südlichen Regionen liegende Dritte Welt eindeutig zu den Verlierern gerechnet. Im einzelnen werden Gewinner und Verlierer der Klimaerwärmung aufgelistet.

Grundlage des Zeitschriftenberichts ist ein Aufsatz von Klaus Meyer-Abich, der in differenzierter Weise die naturwissenschaftlich erfaßbaren Auswirkungen der Klimaänderungen in die soziale und politische Realität übersetzt, d.h. in bestehende Macht- und Gesellschaftsverhältnisse einbettet.34 Ausgangspunkt ist die Kernthese, daß die Implikationen der Klimaänderungen verschiedene gesellschaftliche Gruppen (verschiedene Länder, Männer und Frauen, reich und arm, Berufsgruppen, verschiedene Gemeinschaften) in unterschiedlichem Maße treffen. Selbst die scheinbar kleinsten Veränderungen können einigen Akteuren Vorteile und anderen Nachteile bringen. Selbst wenn auf lange Sicht die Nachteile die Vorteile für jedermann übertreffen, würden einige weniger Nachteile als andere haben und damit relative Vorteile.

Dabei werden gewisse Analogien zwischen biologischen und sozialen Systemen nahegelegt. Besonders empfindlich und damit gefährdet gegenüber Klimaänderungen sind Arten an der Grenze ihres optimalen Lebensraums oder ihrer Belastbarkeit (z.B. geographisch eingegrenzte oder genetisch verarmte Arten, spezialisierte Organismen in spezifischen Nischen oder Lebewesen, die sich zu langsam reproduzieren oder fortbewegen). Entsprechend verwundbar gegenüber Klimaänderung sind Länder,

  • die35 in starkem Maße von der Landwirtschaft abhängen, da dieser Sektor besonders vom Klima beeinflußt wird;
  • sich nicht leicht selbst helfen können, wenn die Landwirtschaft geschädigt wird;
  • bereits von Dürren betroffen sind oder anders von der Klimavariabilität beeinträchtigt werden;
  • unter Überflutungen zu leiden haben, wenn der Meeresspiegel ansteigt.

Es stimmt bedenklich, daß diese Kriterien besonders auf arme Länder in südlichen Regionen der Erde zutreffen.

III.4. Die Verschärfung des Nord-Süd-Konflikts

Die bestehenden Asymmetrien zwischen Industrie- und Entwicklungsländern würden durch die globale Erwärmung in dreifacher Weise verstärkt:

Die industrialisierte Welt ist Hauptverursacher des Treibhauseffekts. Die G7-Staaten und die ehemalige Sowjetunion sind für etwa 55 Prozent der energiebedingten CO2-Emissionen verantwortlich, obwohl dort nur ein Sechstel der Menschheit lebt. Ein US-Amerikaner verursacht pro Kopf und Jahr das 25-fache der CO2-Emissionen eines Inders.

Entwicklungsländer sind in der Regel verwundbarer gegenüber den Folgen der globalen Erwärmung (Dürren, Meeresspiegelanstieg, Sturmfluten oder Orkane), die ihre Landwirtschaft und Nahrungsmittelversorgung stärker treffen. Besonders in Regionen, in denen die Ressourcenverfügbarkeit bereits durch das Bevölkerungswachstum unter Druck ist, kann die Klimaänderung Hunger und Flüchtlingskrisen fördern. Für einige Länder kann die mit der globalen Erwärmung verbundene Bedrohung der eines Krieges gleichkommen (etwa für die Malediven, Bangladesch oder Ägypten).

Entwicklungsländer haben weniger Mittel als die Industrieländer, um die Folgen zu begrenzen oder zu beseitigen. Die Möglichkeiten zur institutionalisierten Konfliktregelung sind unterentwickelt. Der Norden wäre dagegen ökonomisch und technologisch in einer besseren Position als der Süden, seine Ressourcen und sein Territorium zu verteidigen, falls sich die Konsequenzen der globalen Erwärmung als katastrophal erweisen sollten (etwa durch die Verstärkung von Schutzdämmen oder auch mit militärischen Mitteln).

Kurz gesagt: der Treibhauseffekt wird besonders vom Norden verursacht, trifft aber den Süden zunächst in weit stärkerem Maße, der zudem verwundbarer ist und weit weniger Mittel hat, um die Folgen zu begrenzen oder zu beseitigen. Ähnliches gilt für den Schwund der Ozonschicht, der bislang vor allem von den Industrieländern verursacht wurde, aber im Süden, nahe der Antarktis, am stärksten ausgeprägt ist.36 Zwar hängen auch Industrieländer vom Klima ab, mögen jedoch bei ausreichender wirtschaftlicher Leistungskraft glauben, sich selbst helfen zu können, wobei auch hier die Folgen die verwundbarsten und schwächsten Bevölkerungsschichten am stärksten treffen würden. Dagegen könnten einige Industriezweige darauf hoffen, von möglichen Vorteilen der Erwärmung (Tourismusbranche, Klimaanlagenhersteller) oder auch von der Schadensbeseitigung im Verlauf der Klimakatastrophe zu profitieren (vergleichbar dem Aufbau nach einem Krieg).

Meyer-Abich zieht den Schluß, daß die Dritte Welt wieder einmal damit rechnen muß, bei den erwarteten Klimaänderungen auf der Verliererseite zu stehen, während die Industrieländer eher zu den Gewinnern gehören dürften, zumindest relativ. Die Dritte Welt wird noch mehr als bisher zur Hochrisikozone der Erde. Das gemeinsame Boot erweist sich als marodes Schiff, bei dem die Rettungsboote bereits der ersten Klasse zugewiesen wurden.

Mit einer Einteilung in Gewinner und Verlierer wird jedoch davon abgelenkt, daß letztlich alle verlieren. Langfristig wird auch der Norden von den Folgen nicht verschont bleiben, die derzeit bestehende räumliche Distanz zu den Krisenherden wird im Verlauf der Zeit schwinden. Eine Nord-Süd-Spaltung darüber, wie auf die Klimänderungen reagiert werden soll, würde die Ursachen und Folgen weiter verschlimmern und wirksame globale Aktionen erschweren. Der Streit wird sich an Themen wie Handel, Einwanderung und Technologietransfer entzünden.

Wenn sich durch die globale Erwärmung die Lücke zwischen Industrie- und Entwicklungsländern vergrößert, sind daher langfristige und tiefgreifende Konflikte im Nord-Süd-Verhältnis zu erwarten, das durch das unterschiedliche Niveau der industriellen Entwicklung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern ohnehin stark belastet ist. Mit nur 20% der Weltbevölkerung verbraucht der Norden derzeit 80% der Weltressourcen und emittiert den größten Teil der industriellen Umweltverschmutzung.

Zwar gibt es einen wachsenden Druck auf alle Länder, ihren Verbrauch an fossilen Brennstoffen einzuschränken, doch werden Länder im Frühstadium ihrer industriellen Entwicklung besonders betroffen und werden sich nicht einschränken wollen. Sie argumentieren, daß vor allem die reichen Industrieländer des Nordens, die das nicht-nachhaltige Niveau des Ressurcenverbrauchs bereits überschritten haben, die Bürde tragen sollten, die globalen Treibhausgasemissionen zu beschneiden. Das im Süden vorhandene Mißtrauen wird weiter genährt, wenn der Norden auf den Süden Druck ausübt, um die Zerstörung der tropischen Wälder und anderer Ökosysteme zu vermeiden, die als Senken für Treibhausgase dienen.

III.5. Die Zunahme von Umweltkonflikten

Wenn der Süden die Hauptlast der Risiken der globalen Erwärmung zu tragen hat, dürften sich dort bereits bestehende Konfliktursachen (Wettstreit um Ressourcen, Unterentwicklung, soziale und wirtschaftliche Unterschiede, ethnische oder religiöse Differenzen) weiter verschärfen. Die Knappheit an erneuerbaren Ressourcen trägt in vielen Entwicklungsländern ohnehin schon zu bewaffneten Konflikten bei, den sogenannten Umweltkonflikten. Betroffen sind auch hier vor allem die ärmeren Länder, in denen die Verknappung von Wasser, Wäldern und vor allem fruchtbarem Land in Verbindung mit einer rapide wachsenden Bevölkerung großes Elend bedeutet.

Umweltkonflikte im weiteren Sinne umfassen Konflikte, die um die Nutzung natürlicher Ressourcen ausgetragen werden oder durch die Schädigung natürlicher Ressourcen ausgelöst bzw. deutlich verschärft werden. Im Unterschied zu Kriegen um erschöpfbare Ressourcen (Mineralien, fossile Brennstoffe, Territorium) geht es bei Umweltkonflikten im engeren Sinne um die Degradation erneuerbarer Ressourcen als Folge einer anthropogenen Störung ihrer Reproduktion.37

Beispiele für erneuerbare Ressourcen sind landwirtschaftliche Produkte, Süßwasser und Fischbestände, günstigere klimatische Bedingungen sowie die Qualität von Wasser, Boden und Luft, die als frei verfügbare Güter gelten. Sie werden in Stoffwechselkreisläufen regelmäßig regeneriert, abhängig von der Funktionsfähigkeit und Stabilität der Ökosysteme. Ihre Schädigung (etwa durch Wüstenbildung und Anstieg des Meeresspiegels infolge des Treibhauseffektes) kann die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen dauerhaft beeinträchtigen. Eine Degradation kann sich auf drei Ebenen erstrecken:

1. die Übernutzung einer erneuerbaren Ressource (Quelle);

2. die Überbeanspruchung der Umwelt als Senke für Abfälle und Verschmutzung;

3. die irreversible Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen.

Die schwindende Ressourcenbasis verschärft den Wettbewerb um die Ressourcennutzung, der in Umweltkonflikte umschlagen kann, wenn Akteure ihre Nutzungsziele als nicht miteinander vereinbar ansehen. Eine wesentliche Ursache für Umweltkonflikte ist die asymmetrische Verteilung von Nutzen und Schaden durch Umweltveränderungen, wenn Verursacher, Nutznießer und Leidtragende des Ressourcenverbrauchs verschieden sind oder die Mittel zur Bedürfnisbefriedigung und Risikovermeidung bei Betroffenen unterschiedlich vorhanden sind. Umweltveränderungen sind insofern nicht »gerecht«.

Oftmals geht die Verknappung erneuerbarer Ressourcen schleichend vor sich, wobei die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen sich aufsummieren und erst langfristig zu Konflikten zwischen ethnischen Gruppen bis hin zu Bürgerkrieg und Aufständen führen können. Bei einer Reihe aktueller Konflikte wird der Faktor Umwelt als konfliktauslösend oder -verschärfend angesehen, so beim Streit um die Wasserversorgung in Nahost, bei Umweltflüchtlingen in Afrika oder Südasien, die ihre Heimat aufgrund von Desertifikation oder Überschwemmungen verlassen müssen, oder auch bei den gewaltförmigen Auseinandersetzungen in Haiti oder Ruanda. Meist bleiben die Folgen auf die Region begrenzt.

Umweltkonflikte haben internationale Bedeutung, wenn die Nutzung erneuerbarer Ressourcen durch ein Land die Landesgrenzen überschreitet und negative Umweltkonsequenzen für ein anderes Land (oder eine Ländergruppe) hat. Dies ist angesichts der globalen Verflechtung natürlicher Ressourcen zunehmend der Fall. Länder und Regionen können heute in wenigen Jahrzehnten entwaldet werden. Der ganze Globus ist von Klimaänderungen und Ozonabbau betroffen. Damit verbundene Umweltänderungen erzeugen immer neue Konfliktherde, besonders in der Dritten Welt, wo die institutionalisierten Konfliktregelungsmechanismen unterentwickelt sind. Umweltkonflikte in der Dritten Welt enthalten daher eine vergleichsweise größere Kriegsgefahr in sich als im industrialisierten Norden oder zwischen Nord und Süd.

Eine Konfrontation zwischen Nord und Süd ist dann wahrscheinlich, wenn der Norden seinen wirtschaftlichen Wachstumspfad ebenso beibehält wie sein militärisches Droh- und Gewaltpotential gegen »widerspenstige« Staaten im Süden, die wiederum glauben, Industrialisierung auf Kosten der Umwelt erreichen und mit militärischen Mitteln eine Intervention abschrecken zu können. Ein daraus folgendes neues Wettrüsten würde auf unheilvolle Weise mit den negativen Entwicklungen in den anderen Bereichen korrelieren.

Bei einer Zunahme entsprechender Konfliktursachen sind herkömmliche Verfahren zur Konfliktbearbeitung und -lösung immer weniger wirksam. Dies betrifft insbesondere den Einsatz von UNO-Blauhelmen zur Befriedung von Krisengebieten. Auch zivile Maßnahmen des Umwelt- und Katastrophenschutzes können nicht mehr, als die Zahl der Opfer regional zu begrenzen. Um mit der Energienutzung verbundene Konflikte zu vermeiden oder in ihrer destruktiven Wirkung abzuschwächen, ist ein Bündel von Maßnahmen erforderlich, das sich nicht auf traditionelle Mittel des Konfliktmanagements, der Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie der Katastrophen- und Flüchtlingshilfe beschränkt. Das Konzept einer nachhaltigen Ressourcennutzung, das sich präventiv darum bemüht, die Konfliktursachen auszuschließen (durch Energieeinsparung, Effektivierung, angepaßte Energieformen, Beseitigung der Asymmetrien, Verbesserung der Kooperation, Änderung der Lebensweise), ist somit ein wesentlicher Beitrag zur Friedenssicherung.

IV. Der Streit um die Kernenergie zwischen Treibhaus, Risiko und Proliferation

IV.1 Atomstaat und Atomkonflikt

Keine Technologie war und ist in so starkem Maße Gegenstand gesellschaftlicher Kontroversen wie die Atomtechnologie. Der Gegensatz zwischen den überzogenen Versprechungen der fünziger Jahre, in denen das friedliche Atom zum Heilsbringer der Welt hochstilisiert wurde, den enttäuschten Erwartungen der siebziger und den Katastrophenerfahrungen der achtziger Jahre hätte kaum größer ausfallen können. Kernenergie wurde zum Synonym für eine komplexe, fehleranfällige und zentralisierte Großtechnologie, ja zum Symbol für das Scheitern der Moderne. Nach Robert Jungk sind die gesellschaftlichen und politischen Implikationen der Atomtechnologie derart folgenschwer, daß vom »Atomstaat« die Rede ist. In seinem Vorwort zum gleichnamigen Buch stellt er einen Zusammenhang zur Gewalt her:38

„Mit der technischen Nutzbarmachung der Kernspaltung wurde der Sprung in eine ganz neue Dimension der Gewalt gewagt. Zuerst richtete sie sich nur gegen militärische Gegner. Heute gefährdet sie die eigenen Bürger. Denn »Atome für den Frieden« unterscheiden sich prinzipiell nicht von »Atomen für den Krieg«. Die erklärte Absicht, sie nur zu konstruktiven Zwecken zu benutzen, ändert nichts am lebensfeindlichen Charakter der neuen Energie.“

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 hat in tragischer Weise deutlich gemacht, daß Versuche zur Kontrolle der enormen Zerstörungskraft des gespaltenen Atoms fehlschlagen können. Weltweit wurden Millionen von Menschen auf unsichtbare Weise einer radioaktiven Strahlung ausgesetzt, die einem Vielfachen der Hiroshima-Bombe entspricht. In den besonders betroffenen Regionen der Ukraine und Belorus ist Tschernobyl eine soziale Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes: hunderttausende mußten ihre Heimat verlassen, zehntausende von Menschen, darunter viele Kinder, müssen sterben, wenn neueren Studien über die Wirkung radioaktiver Niedrigstrahlung Glauben geschenkt werden darf. Schließlich dürften die immensen volkswirtschaftlichen und politischen Schäden dazu beigetragen haben, die Reformpolitik Gorbatschows zu unterminieren.39 Durch die atmosphärische Ausbreitung sind v.a. Nachbarstaaten, letztlich aber auch die ganze Welt betroffen.40

In den Augen der Bevölkerung führt das hohe – und eigentlich unvorstellbare – Schadenspotential im Falle der Havarie eines Reaktors zu erheblichen Akzeptanzproblemen. Mit den Risiken der Kernenergie ist daher zugleich eine Gegenbewegung mit hohem Widerstandspotential entstanden.41 Die Bewegung gegen die Atomenergie hat ein breites Arsenal von Protestformen entwickelt, von der Bürgerinitiative über friedliche Massendemonstration bis zu eher »militanten«, aber gewaltfreien Aktionen wie Blockaden und Bauplatzbesetzungen, die anderen sozialen Bewegungen als Vorbild dienten. Die Entschlossenheit der Auseinandersetzung ist zum einen auf die wahrgenommenen existentiellen Gefahren der Kernenergie zurückzuführen, zum anderen aber auch durch das teilweise harte Vorgehen der Gegenseite zu erklären, der durch starke Polizeikräfte repräsentierten Staatsmacht im Verein mit der interessierten Industrie.

Während die Erfahrungen von Tschernobyl das Kräfteverhältnis deutlich zu Gunsten der Atomenergiegegner verschoben hatten, arbeiten die Befürworter seit Beginn der neunziger Jahre zielstrebig an einer Rennaissance der Kernenergie. Neben der Energieknappheit, die bei Festhalten am derzeitigen Wachstumsmodell und dem Auslaufen fossiler Energieträger für Mitte oder Ende des nächsten Jahrhunderts erwartet wird, spielt zunehmend die globale Erwärmung eine Schlüsselrolle in der Argumentationskette für die Kernenergie.42

Zweifellos birgt die globale Erwärmung ein enormes Risiko- und Konfliktpotential in sich, wie im letzten Kapitel gezeigt wurde. Geflissentlich wird in der Argumentation jedoch übersehen, daß die Kernenergie in den nächsten Jahren gar keinen nennenswerten Beitrag zur Ersetzung fossiler Energieträger leisten kann, um dem befürchteten Treibhauseffekt entgegenzuwirken, und auch langfristig aufgrund begrenzter Uranvorräte nicht in der Lage ist, eine dauerhaft tragfähige Energieversorgung für die Erde bereit zu stellen. Selbst ein drastischer Ausbau der Kernenergiekapazität wäre kein wesentlicher Beitrag zum Schutz der Erdatmosphäre. Eine Verdoppelung des derzeitigen Anteils der Kernenergie am Weltenergieverbrauch würde – bei konstantem Energieverbrauch – nur eine CO2-Minderung von 5% im Weltmaßstab ergeben, die durch den wachsende Energiehunger im Süden alsbald wieder überkompensiert wäre. Erforderlich ist jedoch mindestens die globale Halbierung der CO2-Emissionen bis Mitte des nächsten Jahrhunderts.43

Unter rein ökonomischen Gesichtspunkten ist es zweifelhaft, ob die Kernergie mit regenerativen Energien konkurrieren kann, vorausgesetzt, diese erhalten eine vergleichbare Förderung und alle Folgekosten der Kernenergie werden in die Berechnung einbezogen. Bei einer ökologischen Gesamtrechnung, die versucht, beispielsweise auch Abfallentsorgung, ökologische Kosten für Bergbau, weitere Brennstoffbearbeitung und Normalbetriebsemissionen monetär auszudrücken, würden schon heute einige regenerative Energieträger (wie Wasser und Wind) deutlich besser abschneiden als der Nuklearstrom (und fossile Energieträger). Der nukleare Billigstrom ist Fiktion geblieben. Dies erklärt im Wesentlichen den anscheinend stattfindenden langsamen Rückzug der Stromversorgungsunternehmen aus der Nuklearenergie, der sich zunächst – solange die Altanlagen nicht abgeschrieben sind – in einem erlahmten Interesse an einem weiteren Ausbau der Kernenergie ausdrückt. Das Investitionsrisko ist überdies durch den Protest der Bevölkerung gewachsen und durch die gestiegenen Anforderungen bei der staatlich kontrollierten Genehmigungsprozedur einiger Länder (darunter Deutschland und USA).

Ob Kernenergie einen relevanten Beitrag zu einer klimaverträglichen Energiepolitik leisten kann, war auch einer der wesentlichen Streitpunkte in der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“ des Deutschen Bundestages. Während das Mehrheitsvotum sich für „eine weitere Nutzung einer verantwortbaren, weil risikoarmen und umweltverträglichen Kerntechnik“ aussprach (S. 1056), vertrat das Minderheitsvotum die Ansicht, daß „nicht trotz, sondern wegen eines effektiven Klimaschutzes (…) aus der Atomkernenergie ausgestiegen werden“ müsse, denn diese sei „quasi die »Speerspitze« eines »harten« Energiepfades, der bislang sowohl das atomare als auch das Treibhausrisiko verschärft hat.“44

Eine genauere Betrachtung des Risiko- und Konfliktpotentials der Kernenergie zeigt, daß diese keine attraktive Variante zu den fossilen Energieträgern und den damit verbundenen Risiken darstellt.

IV.2 Militärische Risiken

Ein hohes sicherheitspolitisches Risiko- und Konfliktpotential ist durch die Überschneidung von zivilen und militärischen Nukleartechnologien gegeben. An verschiedenen Stellen der nuklearen Brennstoffspirale sind Übergänge zur Atomwaffentechnologie möglich, die zur Gefahr ihrer weltweiten Verbreitung (Proliferation) beitragen. Besonders problematisch ist die zivil-militärische Ambivalenz bei Technologien und Anlagen, in denen waffengrädiges Material produziert bzw. verarbeitet wird. Hierzu gehören Urananreicherung, Wiederaufarbeitung und Teile der Brennelementfertigung. Etwa 20 Länder haben bereits den Zugriff auf solche Technologien erreicht. Die Tendenz wird steigen bei weiterem weltweiten Ausbau der Kernenergie.

Schon heute liegen mehr als 1.000 Tonnen Plutonium im zivilen Bereich vor – allerdings zum größten Teil noch eingebettet in den radioaktiven Nuklearabfall, der eine radiologische Barriere darstellt, die nur durch Wiederaufarbeitungstechnologie überwunden werden kann. Etwa bis zu 130 Tonnen Plutonium – theoretisch ausreichend für etwa 25.000 atomare Sprengkörper – liegen in abgetrennter Form vor, ohne daß eine baldige Nutzung im zivilen Kreislauf abzusehen wäre. Eine wachsende Tendenz im Bereich der aufgehäuften Plutoniummengen ist auszumachen.

Solange eine Plutoniumnutzung im weltweitem Maßstab betrieben wird, ist ein unumkehrbarer Weg in die atomwaffenfreie Welt nicht möglich. Die offensichtlichen Probleme durch die Gefahr der Atomwaffenproliferation und die fortdauernde Beibehaltung von existierenden Atomwaffenprogrammen und -optionen wären nicht mehr zu lösen bei gleichzeitiger Existenz nationaler Nuklearprogramme, die den Zugriff auf Waffenstoffe willentlich oder unwillentlich zulassen.

Betroffen sind auch Forschungsprogramme wie der geplante neue Garchinger Forschungsreaktor, der mit waffengrädigem hochangereicherten Uran (HEU) arbeiten soll und damit Programme zur Vermeidung von HEU für zivile Zwecke torpediert.

Ein erheblicher internationaler Aufwand an Inspektionen wird durch die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO, Wien) betrieben, um zu vermeiden, daß Nicht-Kernwaffenstaaten, die Mitglied des Nichtverbreitungsvertrages sind, kein Material für Kernwaffen abzweigen. Eine wirkliche Kontrolle, die zivil-militärische Übergänge ausschließt, existiert aber nicht und ist auch nicht als lückenlos vorstellbar.

Der Bestand an Kernwaffen in den USA und Rußland ist zwar reduziert worden, aber in weiteren acht Ländern sind Kernwaffenarsenale aufgebaut worden, existieren noch, werden erweitert und modernisiert oder mit guten Gründen vermutet. In anderen Ländern wie Deutschland sind Kernwaffen immer noch stationiert. Weitere Staaten werden verdächtigt, den Bau von Kernwaffen anzustreben.

Selbst wenn es keine reale Intention gibt, eine Kernwaffe zu bauen, kann technologisch eine Option vorbereitet oder beibehalten werden. Dadurch haben andere Länder sowie Kritiker im eigenen Land immer wieder Anlaß für Spekulationen über aktuelle oder zukünftige Absichten, ein Kernwaffenprogramm zu starten. Das wirkt eher als Same für Konfrontation als für Kooperation und Vertrauen. Die berechtigten Verdächtigungen gegen den Irak wurden neben der Besetzung von Kuwait von den Aliierten als Hauptgrund dafür angegeben, den Krieg zu führen. Regional können undeklarierte Atomwaffenprogramme oder ambivalente Nuklearprogramme als zusätzlicher Risikofaktor in Krisen oder als Krisenverstärkungsfaktor wirken. Befürchtet wird dies zur Zeit insbesondere im südlichen Asien.

Die Konsequenz ist, daß Kernwaffen mit ihrer Verbindung zur Kernenergie eine ständige Quelle für Diskriminierung, Drohung, Mißtrauen und Angst in den internationalen Beziehungen bleiben. Bei ihrer Fortexistenz besteht die Gefahr, daß an Waffen und Strategien zu ihrer militärischen Bekämpfung gearbeitet wird. Dies zeigen insbesondere die US-Strategie der Counterproliferation sowie Programme zur Raketenabwehr, die ein neues Wettrüsten zwischen Nord- und Süd forcieren und zur Destabilisierung der Sicherheitslage beitragen können.45

Meist unterschätzt wird das Risiko der Kernenergie durch Kriegs- und sonstige Gewalteinwirkungen, insbesondere durch Terror- und Sabotageakte in Gebieten mit politischen und sozialen Spannungen. Schon dreimal wurden Nuklearanlagen Ziel militärischer Angriffe (Israel gegen Irak 1981, Irak gegen Iran im ersten Golfkrieg, USA gegen Irak im zweiten Golfkrieg). Würde ein größerer Leistungsreaktor bombardiert, sind Unfallszenarien vorstellbar, die mit der Tschernobyl-Katastrophe vergleichbar sind. Die bewußte Verseuchung durch einen militärisch erzeugten Kernschmelzunfall mit massiver Radioaktivitätsfreisetzung hätte eine Wirkung auf die betroffenenen Menschen und einen ganzen Landstrich, die länger wirksam sein wird als ein Atomwaffenangriff.

IV.3. Radioaktive Strahlung und die Umweltrisiken der nuklearen Spaltstoffspirale

Die gesamte nukleare Spaltstoffspirale enthält eine Vielzahl von Problemen und Risiken,46 die Werte und Interessen von Menschen empfindlich berühren und damit zu Konflikten beitragen können. In allen Phasen der Spaltstoffspirale, vom Uranbergbau, über die Brennelementfertigung, den Reaktorbetrieb und die Wiederaufarbeitung bis zum Transport und zur Lagerung fallen radioaktive Stoffe an, deren Freisetzung eine Gefahr darstellt. Es ist schon im Normalbetrieb kaum zu vermeiden, daß auf jeder Verfahrensstufe radioaktive Stoffe in die Umwelt gelangen, ganz abgesehen von den immer wieder auftretenden Stör- und Unfällen. Gerade im Normalbetrieb stellen radioaktive Belastungen ein Konfliktpotential mit internationalen Dimensionen dar. Die Hauptrisiken erwachsen aus dem Uranbergbau und der Wiederaufarbeitung. Die deutschen Kernenergienutzer haben beide Risikoquellen ins Ausland verlagert. Die Leukämiefälle rund um die irische See sind somit auch durch die Wiederaufarbeitung deutscher Brennelemente in Sellafield zu verantworten.

Bei der Urangewinnung und Erzaufbereitung werden große Mengen schwachaktiver Abfälle produziert, die in Halden gelagert werden und die Umgebung kontaminieren. Reaktoren produzieren hochradioaktive Gase und Flüssigkeiten, die an die Umwelt abgegeben werden, und müssen nach einer Betriebszeit von 25 bis 35 Jahren demontiert und als radioaktiver Abfall behandelt werden. Auch der Umgang mit hochaktiven, strahlenden Materialien bei der Uranbearbeitung und -anreicherung sowie der Brennelementfertigung führt zur Produktion weiterer radiotoxischer Abfälle. Die abgebrannten Brennelemente selbst sind hochaktiver Atommüll, der über Jahrtausende radioaktive Strahlung abgibt.

Im Uranbergbau werden jährlich mehrere Millionen Tonnen von Material bewegt, um die benötigten etwa 100.000 Tonnen Uranerz zu schürfen, die den Uranbrennstoffbedarf von zur Zeit knapp 10.000 Tonnen pro Jahr befriedigen. Die Abraumhalden enthalten bis zu 85% der ursprünglichen Radioaktivität. Neben den radioaktiven Emissionen geben die Abraumhalden auch andere toxische Substanzen ab, darunter Schwermetalle, Nitrate und Phosphate. Die deutsche Wismut-AG produzierte 220.000 Tonnen Uran und hinterließ 48 Halden mit mehr als 300 Millionen Kubikmetern radioaktiv verseuchten Materials. Zwischen 1946 und 1990 erkrankten mehr als 7.000 Menschen an Lungenkrebs. 13 Mrd. DM soll die Sanierung kosten.47

Rund 70% der Uranerzstätten liegen in Gebieten indigener Völker, besonders in den großen Abbaugebieten Australiens, Südafrikas oder der USA.48 Dabei geht es nicht nur um radioökologische Folgen und Eingriffe in die Landschaft. Erstaunlich häufig finden sich Uranminen unter Tabuzonen und Heiligtümern der UreinwohnerInnen, die durch den Abbau zerstört wurden und werden. Die Folgen des Uranabbaus sind somit ein trauriges Beispiel für vernachlässigte Folgen, von denen weit entfernt lebende Menschen betroffen sind, die nicht profitieren von der Nutzung des Urans in Kernreaktoren.

Anlaß zur Sorge bereiten auch Unfallrisiken und Strahlenbelastungen durch Transporte von Nuklearmaterial auf dem Schienen-, Straßen- und Luftweg sowie die dabei gegebene Möglichkeit terroristischer Anschläge. Bei den Transporten abgebrannter Brennelemente in den Castorbehältern wird das Begleitpersonal einer unverantwortbar hohen zusätzlichen Strahlenbelastung ausgesetzt.

Die tatsächliche Wirkung niedriger Strahlendosen auf die belebte Natur, die auch im Normalbetrieb von Nuklearanlagen auftritt, kann nicht sicher angegeben werden, doch gewichten neuere Untersuchungen (z.B. bei Arbeitern in der Atomindustrie und dem größten Teil der Atombombenüberlebenden) die Schadenswirkung radioaktiver Niedrigstrahlung heute höher als früher.

Letztlich kann jede freigesetzte Radioaktivität Schäden in biologischen Kreisläufen anrichten, die über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg wirksam werden können. Auch wenn die Risiken zunächst lokal in Erscheinung treten, wird letztlich die Anzahl der global durch Emissionen betroffenen Menschen noch wesentlich größer sein als die regional Betroffenen, u.a. weil die Emissionen aus den Kernkraftwerken irgendwann aufhören, die global verteilten Radioisotope aber nur langsam zerfallen. Weniger als 2% der für alle Zeit aufsummierten Kollektivdosis als Folge der Kernenergienutzung wird von den Menschen getragen, die in der regionalen und lokalen Umgebung und in der historischen Zeit ihrer Nutzung leben, d.h. von den Menschen, die wahrscheinlich fast 100% des Nutzens haben. Nicht berücksichtigt sind hierbei der Anteil von beruflich strahlenexponierten Personen an der Kollektivdosis (etwa 5%) und die Folgen möglicher unfallbedingter Emissionen. Die über Jahrtausende hinweg weltweit akkumulierte Schadenswirkung an menschlichen Organismen durch Krebs oder genetische Defekte mag somit zu unzähligen Opfern führen, die auf das Konto der heute lebenden Generationen gehen.

Bei der durch Radioaktivität erhöhten Krebswahrscheinlichkeit handelt es sich um ein reales Risiko; dagegen gerichtete Handlungen von potentiell Betroffenen sind keineswegs irrational oder Panikmache, wie von interessierter Seite gerne suggeriert wird. Die Betroffenen werden zu einem Verhalten genötigt, daß zu Konfliktsituationen führen kann.

IV.4 Reaktorunfälle

Im Zentrum der öffentlichen Debatte über die Kernenergie steht die Sorge über das Versagen von Atomkraftwerken und die damit verbundenen Folgen. Im schlimmsten Fall kann der Reaktorkern mit den Brennelementen schmelzen. Bei Durchbrechen des Sicherheitsbehälters kann massiv Radioaktivität freigesetzt werden. Die Reaktorunfälle im englischen Windscale in den fünfziger Jahren, im Kernkraftwerk Three Mile Island in Harrisburg 1978 sowie die Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 haben das öffentliche Mißtrauen gegenüber Kernkraftwerken verstärkt.

Alle Versuche, die Gefahren des Reaktorbetriebs vollständig unter Kontrolle zu bekommen, sind bislang an den enormen technischen Anforderungen an das Sicherheitssystem und am »Unsicherheitsfaktor Mensch« gescheitert. Da es perfekte Sicherheit nicht geben kann, führt das Versagen des hochkomplexen, eng-gekoppelten und zeitkritischen Gesamtsystem zu »normalen Katastrophen«. Entgegen der Vorstellung, alles technisch beherrschen zu können, lassen sich nicht alle Unfallszenarien erfassen, können unvorhergesehen Fehlermöglichkeiten aufreten, die zum GAU mit unabsehbaren Folgen führen können. Die Möglichkeit dazu wurde in Katastrophenplänen immer ins Kalkül gezogen. Nach der ersten deutschen Risikostudie aus dem Jahre 1979 etwa sei, bezogen auf den Referenzreaktor Biblis, im schlimmsten Falle mit bis zu 14.500 Soforttoten und 104.000 Fällen von Spätfolgen zu rechnen; desweitern könnte eine Fläche von bis zu 5.600 Quadratkilometern so stark kontaminiert werden, daß 2.9 Millionen Menschen evakuiert werden müßten.

Auch wenn die Unfallwahrscheinlichkeit klein erscheinen mag, so ist doch im Falle des Eintretens wenig Hoffnung auf Hilfe durch den Katastrophenschutz zu setzen. Auswirkungen über die Region hinaus sind zu erwarten, wie der Tschernobyl-Unfall vor Augen geführt hat. Die Atomtechnologie »bestraft« schwerwiegende Fehler mit Folgen katastophalen Ausmaßes, die soziale Strukturen destabilisieren oder gar zerstören können. Derartige Risiken sind inakzeptabel, zwingen davon Betroffene zu Abwehrhandlungen und können zu Konflikten zwischen Staaten führen.

Von Experten wird die Meinung vertreten, daß zur Zeit kein Reaktortyp verfügbar ist, der nach dem modifizierten deutschen Atomgesetz genehmigungsfähig wäre.49 Ob »inhärent sichere« oder »katastrophenfreie« Reaktoren entwickelt werden können, die folgenschwere Unfälle völlig ausschließen, bleibt abzuwarten. Auch wenn ein Reaktor theoretisch vorstellbar wäre, der viel »sicherer« sein könnte als alle bisher betriebenen, so bleibt doch ein erhebliches »Restrisiko« der Kernenergienutzung, das unabhängig von der Wahl eines speziellen Reaktortyps ist.

IV.5. Das Abfallproblem: ein Konflikt mit zukünftigen Generationen

Offensichtlich ist das langfristige Risiko der Kernenergie am Ende der Brennstoffspirale. Über Jahrzehnte hinweg wurde in Atomreaktoren Atommüll produziert, ohne daß ein schlüssiges Abfallkonzept für den anfallenden radioaktiven Müll realisiert worden wäre. Täglich wächst der Atommüllberg, und das damit verbundene Risiko wird über Hunderttausende von Jahren wirksam sein. Daher wird das Problem der langfristigen Lagerung radioaktiver Abfälle als ein internationales Problem betrachtet, das internationale Lösungsansätze erfordert.

Aufgrund der langen Halbwertszeit einiger Isotope (beispielsweise 24.110 Jahre für Plutonium-239 oder 210.000 Jahre für Technecium-99) sind derart viele zukünftige Generationen von den radioaktiven Abfällen betroffen, daß die menschliche Vorstellungskraft und Prognosefähigkeit überfordert sind. Erst nach 1.000 Generationen ist die Hälfte des Plutonium-239 zerfallen. Dieser Zeitraum ist länger als die Geschichte des modernen Menschen, die nach Ende der letzten Eiszeit vor etwa 10.000 Jahren begann. Die Notwendigkeit, den Atommüll über so lange Zeiträume von der Biosphäre zu isolieren, übertrifft bei weitem die gesellschaftlichen Perspektiven, dies sicherzustellen.

Alle derzeit diskutierten Lösungsvorschläge sind mit großen Problemen behaftet. Bis zum Anfang der siebziger Jahre gab es bei den Kernenergiebetreibern keinen internationalen Konsens, wie hochradioaktive Abfälle sicher auf lange Zeit gelagert werden können. Versenkung im Meer, Lagerung im Eis der Antarktis, die Verschießung ins All, Injizierung flüssiger Abfälle unter grundwasserführende Schichten und verschiedenste Varianten der unterirdischen Lagerung wurden ernsthaft in Erwägung gezogen und teilweise praktiziert. Erst in den siebziger Jahren etablierte sich zunehmend das Konzept der „wartungsfreien, zeitlich unbefristeten und sicheren Beseitigung in tiefen geologischen Formationen“ (kurz: »Endlagerung«), wobei Salz, Granit, Mergel, Ton und einige andere Materialien auf ihre Eignung geprüft wurden. Zunächst setzte sich dieses Konzept der Endlagerung weltweit durch und ermöglichte den Abschluß der Londoner Konvention, die die einzige noch ernsthaft vertretene Alternative, die Meeresversenkung, unter Verbot stellt.50

Bis heute, nach rund vier Jahrzehnten Kernenergienutzung, gibt es auf der Welt jedoch nicht ein einziges Endlager für hochradioaktive Abfälle mit Betriebsgenehmigung, und es ist ungewiß, ob jemals der Nachweis für ein Endlager erbracht werden kann, der die Langzeitsicherheit zufriedenstellend garantiert. Etwa 90.000 Tonnen abgebrannter Brennelemente haben sich in Zwischenlagern angesammelt.

Ob überhaupt eine verantwortbare Lösung für die langfristige sichere Lagerung von radioaktiven Abfällen geschaffen werden kann, und welche Folgen diese für viele Tausende zukünftiger Generationen haben wird, ist ungewiß. Während die meisten Regierungen und internationalen Organisationen heute ein Konzept der Endlagerung in tiefen geologischen Formationen favorisieren, wird vor allem von BürgerInneninitiativen die Forderung entgegengehalten, den Müll rückholbar und kontrolliert zu lagern. Eine gezielte langfristige Überwachung zwecks Kontrolle und Reparatur der Schutzbehälter erscheint nötig, weil jedes Behältermaterial korrodiert und Radioaktivität durch jede Art geologischer Barriere über lange Zeit in nicht genau vorhersagbarer Weise entweicht. Die Lagerung soll auf den jeweils technologisch besten Stand gebracht werden.

Obwohl diese Gegenposition nicht mit einem schlüssigen und technisch weit entwickelten Konzept auftreten kann, muß die dauerhaft bewachte Lagerung als ernsthafte Alternative zur Endlagerung dieser Abfälle in Betracht gezogen werden. Diese Gegenposition bekommt dann mehr Gewicht, wenn man einerseits gelten läßt, daß neben rein technischen Kriterien auch soziale, politische, ethische und psychologische eine Rolle spielen, und wenn man zugesteht, daß andererseits schon bei Beschränkung auf technische Kriterien kein Konsens über die Erreichbarkeit der Schutzziele hergestellt werden kann.

Angesichts fehlender Entscheidungen stellen sich verantwortliche Stellen und die Nuklearindustrie zunehmend darauf ein, daß hochradioaktive Abfälle langfristig zwischengelagert werden müssen, weil ein für hinreichend sicher bewertbares Endlager innerhalb der nächsten Generation nicht und vielleicht nie errichtet werden kann. Dies hat tiefgehende ethische Implikationen, insbesondere hinsichtlich des Verursacherprinzips sowie bezüglich Entscheidungsfreiheit und Selbstschutz zukünftiger Generationen.

Die wesentlichen Konflikte sind dabei:51

1. Vermeidung von Abfällen durch Einstellung des Reaktorbetriebs vs. Bereitstellung eines Entsorgungnachweises zur rechtlichen Sicherung des Reaktorbetriebs

2. Vermeidung irreversibler unerwünschter Folgen (z.B. durch Rückholbarkeit) vs. Wahl einer endgültigen Lösung (Endlager) mit Restrisiko

3. Schutz der weit entfernten Generationen vor potentiellen radiologischen Gefährdungen vs. Schutz der heutigen und nahen Generation vor bekannten Risiken (zeitliche Aufteilung des Risikos)

4. Weitgehende Partizipation der Öffentlichkeit bei Entscheidungen, Informationsvermittlung und Bewachung vs. Effektivierung der Entscheidungsprozesse und Beauftragung von Fachleuten

5. Dauerhafte Bewachung der radioaktiven Abfälle als soziale Aufgabe vs. Endlagerung als technische Aufgabe.

Eine Klärung der verschiedenen Positionen anhand solcher Zielkonflikte könnte vielleicht zur Konfliktbearbeitung und zu einer Lösung des Problems beitragen. Stattdessen wird derzeit versucht, das Problem durch administrative Entscheidungen von oben in den Griff zu bekommen, beispielsweise durch eine Weisung vom Bundesminister an eine Landesregierung, oder es wird versucht, in einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozeß einen Konsens herbeizuführen. Bisher sind in dieser Frage allerdings weder ein »herrschaftsfreier Diskurs« noch eine demokratisch tragfähige Entscheidung erreicht worden. Die verschiedenen Interessenparteien müßten sich stärker von ihren kurzfristigen Partikularinteressen lösen können, wenn sie eine auf die Dauer haltbare Umgangsweise mit den radioaktiven Abfällen finden wollen und damit die Interessen zukünftiger Generationen gleichberechtigt anerkennen wollen. Ohne eine absehbare Lösungsperspektive wäre es unverantwortlich, den Problemberg durch atommüllproduzierende Reaktoren weiter anwachsen zu lassen.

IV.6 Kriterien für eine verantwortbare zukünftige Nutzung der Kernenergie

Durch den bestehenden Betrieb von Kernreaktoren ist bereits eine »nukleare Hinterlassenschaft« entstanden, die weitere – auch wissenschaftliche – Arbeit in diesem Bereich dringend erforderlich macht. Die sichere Lagerung bzw. Beseitigung des nuklearen Abfalls und der aktivierten Anlagenteile muß ein wesentliches Thema bleiben. Ebenso muß die Sicherheit laufender Nuklearanlagen ständig überprüfbar und verbesserbar bleiben – auch wenn diese nur noch im Ausland betrieben werden sollten.

Offen ist die Frage, wie eine Weiterentwicklung nuklearer Energieoptionen bewertet werden soll, die für den längerfristig anstehenden teilweisen Ersatz fossiler Energieträger vorbereitet werden. Vorschläge für eine neue Generation von Kernspaltreaktoren werden dazu in verschiedenen Labors und Firmen erarbeitet. Mit großem finanziellen Aufwand wird die Kernfusion als mögliche neue nukleare Energiequelle erforscht. Weiterhin gibt es Ansätze, mittels beschleunigergestützter unterkritischer Reaktoren eine neuartige Kernspaltenergiequelle zu entwickeln bzw. eine Maschine zur Umwandlung von hochaktivem Nuklearabfall in kurzlebigen radioaktiven Abfall zu erfinden (Transmutation).

Wenn wirklich eine neue überzeugende Generation von Reaktoren entwickelt werden soll, die breite Akzeptanz nicht nur der Reaktorbetreiber, sondern auch der Bevölkerung erreichen will, muß bereits im Entstehungsprozeß von Forschung und Entwicklung darüber nachgedacht werden. Einerseits müssen die neuen Technologien insgesamt akzeptabler erscheinen als die bislang genutzten Technologien auf der Basis fossiler Rohstoffe und andererseits müssen sie den Wettbewerb mit weiterzuentwicklenden regenerativen Energieträgern aufnehmen können – und dies nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Zu den Kriterien für eine verantwortbare Verfolgung von Zukunftsoptionen im Bereich nuklearer Technologien, die die mögliche Entwicklung selbst mitbeeinflussen, sollten gehören:52

1. Es muß nachprüfbar erkennbar sein, daß das Ziel einer wohldefinierten Katastrophenfreiheit erreichbar erscheint, d.h. das Unfallrisiko und das Schadensausmaß müßten drastisch reduziert werden können (vergl. Paragraph 7 des revidierten Atomgesetzes).

2. Die Proliferationsresistenz aller verwendeten und vorgeschlagenen Nukleartechnologien sollte angestrebt werden, d.h. waffengrädiges Nuklearmaterial sollte weder produziert noch genutzt werden.

3. Absehbare Langzeitfolgen aus dem Betrieb entwickelter Anlagen sollten auf ein vertretbares Minimum reduziert werden; dies bedeutet u.a., daß die Notwendigkeit einer Langfristlagerung von großen radioaktiven Abfallmengen ausgeschlossen sein sollte.

4. Die erforderlichen Rohstoffe sollten von vorneherein in die Betrachtung miteinbezogen werden, so daß ein langer Horizont der Technologienutzung möglich erscheint, der weit über den theoretisch nutzbaren Zyklus für fossile Brennstoffe hinausgehen sollte.

5. Der Investitionsbedarf und die erwartbaren Betriebskosten sollten nicht größer sein als diejenigen, die man für die wesentlichen regenerativen Energieträger erwartet.

6. Der tatsächliche Beitrag zur Erreichung von Klimaschutzzielen (beispielsweise Reduktion der CO2-Emissionen) muß in Konkurrenz zu demjenigen Beitrag durch mögliche Installierung erneuerbarer Energiequellen überzeugend sein – auch hinsichtlich der spezifischen Kosten.

Gemäß dieser Kriterien müßte beispielsweise die Weiterentwicklung der Brütertechnologie wohl als zu risikoreich und wenig erfolgversprechend angesehen werden. Die bisherigen negativen Erfahrungen mit dieser Technologie und die Tatsache, daß höchstens eines der genannten Kriterien erfüllbar erscheint, sprechen eine deutliche Sprache.

Es besteht die Hoffnung, durch die Debatte anhand dieser Kriterien eine frühzeitige und vorausgreifende Konfliktminderungsstrategie im erwartbaren Streit um zukünftige Nukleartechnologien herbeiführen zu können. Es wäre wünschenswert, wenn durch die implizite Definition eines Leitbildes die zukünftige Forschung und Entwicklung sinnvoll und transparent gesteuert werden kann.

V. Leitbilder, Zielkonflikte und Handlungsperspektiven – Aspekte einer ethischen Urteilsbildung

Angesichts des erkennbaren Konflikt- und Katastrophenpotentials der bestehenden Energieversorgung stellt sich die Frage, wie eine verantwortbare Energieversorgung für das nächste Jahrhundert aussehen könnte, die gefährlichen Energiekonflikten vorbeugt. Das soll nicht heißen, daß alle Risiken und Konflikte grundsätzlich auszuschließen sind (was kaum möglich und auch nicht immer wünschenswert erscheint), sondern daß es keine Katastrophen und Gewaltkonflikte geben soll, die verheerende Zerstörungen und soziale Deformationen nach sich ziehen können.

Die wesentlichen Lösungskonzepte sind bekannt. Um das gewünschte Ziel einer verantwortbaren Energieversorgung bis Mitte des nächsten Jahrhunderts zu erreichen, bedarf es einer Reihe ordungspolitischer Maßnahmen, von denen einige hier angedeutet werden:

Wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen steuern die Energiepreise, um sowohl erhebliche Einsparungen beim Energieverbrauch zu erzielen wie auch die Wirtschaftlichkeit ressourcen-schonender und risikoärmerer Energien sicherzustellen.

Technologiepolitische Entscheidungen fördern die Entwicklung und Erprobung regenerierbarer Energien.

Verkehrspolitische Entscheidungen entwickeln ein neues Verkehrskonzept, das sich sowohl auf das Verhältnis von öffentlichem und privatem Verkehr als auch auf die Antriebsart der Kraftfahrzeuge bezieht.

Gesellschaftspolitische Entscheidungen fördern die Dezentralisierung und setzen damit kleinere gesellschaftliche Einheiten in die Lage, über Energieversorgungskonzepte selbst zu bestimmen.

Um Handlungsoptionen bewerten, vergleichen und im Rahmen eines Gesamtkonzepts umsetzen zu können, sind Beurteilungskriterien erforderlich, die für eine konkrete Fragestellung zu operationalisieren sind. Dabei ist zu berücksichtigen, daß jeder Beurteilung Leitbilder zugrundeliegen, die den kommunikativen Prozeß der ethischen Urteilsbildung maßgeblich beeinflussen. Im folgenden sollen mit den Begriffen »Erhaltung und Entfaltung« zwei Leitkriterien zur Beurteilung der Energiepolitik herangezogen werden, die Schlüsselbegriffe sowohl für die Friedensdiskussion wie auch für die Debatte über nachhaltige Entwicklung sind.53

V.1 Ethische Urteilsbildung – ein kommunikativer Prozeß

Ethische Urteilsbildung ist als ein kommunikativer Prozeß zu verstehen, in den die Beteiligten ihre Kenntnisse, Reflexionen, Argumentationen, Bewertungen und Betroffenheiten mit dem Ziel der Verständigung einbringen. Dabei bedeutet Verständigung nicht sofort Konsens. Ein erstes wichtiges Ziel ist vielmehr, die unterschiedlichen Interessen, kompetenzbedingten Sichtweisen und moralischen Positionen – also die entscheidenden Punkte des Dissenses – herauszuarbeiten. Erst dann kann die Frage nach einem möglichen Kompromiß aus Gründen dringender Handlungsnotwendigkeit gestellt oder weiter nach einem möglichen Konsens gesucht werden.

Was Kompromisse angeht, so ist zwischen solchen auf der Ebene der strategischen und der praktischen, sprich ethischen Diskurse zu unterschieden. Kompromisse auf der strategischen Ebene sind immer wieder notwendig, um politische, gesellschaftliche und persönliche Handlungsfähigkeiten zu erhalten; sie sind schon schwierig genug. Noch schwieriger sind ethische Kompromisse; angesichts des Pluralismus von kulturellen Traditionen und ethischen Grundüberzeugungen, repräsentiert in einer Vielfalt sozialer Bewegungen, sind sie oft nicht möglich und vor allem dann auch gar nicht wünschenswert, wenn sie das Selbstverständnis von Personen oder Gruppen beschädigen würden.

Wenn auch immer wieder Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen getroffen werden müssen, bleibt der ethische Urteilsbildungsprozeß – selbst bei einem erreichten Konsens – prinzipiell offen. Neue Erkenntnisse und Erfahrungen, in unserem Zusammenhang gerade auch aufgrund wissenschaftlich-technischen Handelns, machen es immer wieder notwendig, in ethische Urteilsbildungsprozesse einzutreten. Ethische Urteilsbildungsprozesse sind iterativ.

Die Offenheit ethischer Urteilsbildungsprozesse darf allerdings nicht so verstanden werden, als ob in ihnen schlechterdings alles zur Disposition gestellt werden sollte. Es gibt notwendige Bedingungen für Urteilsbildungsprozesse, die gleichzeitig normative Ansprüche an die Beteiligten enthalten: die wechselseitige Anerkennung und Achtung als Personen, das Bemühen um sachlich zutreffende Aussagen und um Wahrhaftigkeit, die Bereitschaft zur Revision eigener Auffassungen. Darüber hinaus werden im folgenden Abschnitt Leitwerte eingeführt, an denen Urteilsbildungsprozesse sich orientieren sollten: Erhaltung und Entfaltung. Die nähere Präzisierung dieser Bedingungen bzw. dieser Leitwerte bleibt allerdings wieder Angelegenheit der Urteilsbildungsprozesse.

V.2 Politische und ethische Zielperspektiven

a) Das politische Leitbild der nachhaltigen Entwicklung

In dem Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung „Unsere gemeinsame Zukunft“ wird »sustainable development« als politischer Leitbegriff eingeführt. Damit ist in diesem Dokument eine Entwicklung gemeint, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können. Im Vordergrund stand damals die dauerhafte Überwindung der Armut. Dieser sogenannte Brundtland-Bericht ebnete den Weg zur UNCED, der United Nations Conference on Environment and Development, die 1992 in Rio de Janeiro stattfand.

Bei dem Konzept des »sustainable development« – im Deutschen am häufigsten mit »nachhaltiger Entwicklung« wiedergegeben – handelt es sich um einen politisch-normativen Begriff, der drei Imperative umfaßt: den Imperativ der internationalen Gerechtigkeit, der eine gerechte Verteilung von Gütern (outputs) und Einflußmöglichkeiten (inputs) zwischen allen heute lebenden Menschen verlangt, den Imperativ der intergenerationellen Gerechtigkeit, der auf die Gerechtigkeit zwischen den Generationen zielt, und den Imperativ der Bewahrung der Natur.54

b) Die ethischen Leitkriterien von Erhaltung und Entfaltung

Die ethischen Dimensionen von nachhaltiger Entwicklung lassen sich ausdrücken durch die Leitkriterien der Erhaltung und Entfaltung der Menschheit (siehe auch Kasten 3).55 Erhaltung meint die Fortdauer menschlichen Lebens im Kontext natürlicher und kultureller Lebenszusammenhänge. Entfaltung bezieht sich auf die innere Dynamik menschlicher Personen und Gesellschaften, die ihre Erhaltung nur im Prozeß der Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Anlagen sinnvoll anerkennen können. Beschreibt man Entfaltung bezugnehmend auf die Personalität der Menschen, so sind in diesem Begriff zwei Inhalte von gleicher Wichtigkeit: Autonomie und Partizipation oder Mündigkeit und Partnerschaft.

Autonomie bzw. Mündigkeit betont die Fähigkeit zu eigenständigem Denken und Urteilen und damit zur Selbstentscheidung und Eigenverantwortlichkeit. Die Ausdrücke Partizipation bzw. Partnerschaft bezeichnen einen zur Autonomie komplementären Gesichtspunkt im Begriff der Personalität: die Person als Beziehungswirklichkeit. Personen können sich nur in kommunikativen Prozessen entfalten, die ihrerseits an gesellschaftliche Rahmenbedingungen – nämlich die Autonomie und die personale Integrität zu achten und Kommunikationen zu fördern – geknüpft sind.

c) Die Zielformulierung angesichts des Energieproblems

Als verantwortbare Zielsetzung – unter Berücksichtigung der Kriterien von Erhaltung und Entfaltung sowie des politischen Leitbilds des »sustainable development« – läßt sich formulieren:

Sicherstellung einer human-, sozial- und umweltorientierten Energieversorgung bis zum Jahr 2050 und darüber hinaus.

Der Begriff der Humanorientierung bezieht sich in unserem Zusammenhang besonders auf die Sicherung des Existenzminimums, die Befriedigung der Grundbedürfnisse unter Beachtung regionaler und kultureller Besonderheiten sowie auf die Sicherheit der menschlichen Gesundheit und des menschlichen Lebens vor technikbedingten Bedrohungen. Zum Begriff der Sozialorientierung gehören die Aspekte der gerechten Verteilung der verfügbaren Energie wie auch der Vermeidung von gravierenden Vorgriffen auf die Entscheidungsfreiheit künftiger Generationen. Der Gesichtspunkt der Umweltorientierung verbietet die weitere Belastung des Ökosystems und verlangt eine Minderung oder Beseitigung der eingetretenen Schädigungen.56

V.3 Die Mittel zur Lösung und ihre Beurteilung

Bei der Frage nach den Mitteln zur Erreichung des vorgestellten Ziels ist die weiter oben beschriebene Problemlage im Auge zu behalten: Bevölkerungswachstum und somit erhöhter Energiebedarf in den betroffenen Ländern, Vermeidung einer folgenreichen Klimaveränderung und somit drastische Reduzierung vor allem der Belastung der Atmosphäre mit Kohlendioxid, Verteilungsgerechtigkeit hinsichtlich der Energiemengen und damit verbundener Risiken. Von hier ergeben sich die Themenschwerpunkte dieses Abschnitts. Sie sind allerdings auch mitbestimmt von der Auseinandersetzung mit jenen Autoren, die aus ethischen Gründen die weitere Nutzung und den Ausbau der Kernenergie – zumindest für die nächsten 50 bis 100 Jahre fordern.57

a) Energiesparende Maßnahmen

Unbestritten ist, daß im Hinblick auf eine verantwortbare Energieversorgung für die Zukunft den energiesparenden Maßnahmen hohe Priorität zukommt. Einsparungen können erreicht werden durch effizienzsteigernde Techniken, durch Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen – z.B. im Verkehrsbereich – sowie durch Änderung von Lebensformen – z.B. im Konsum- oder Freizeitbereich.

Die erste Strategie – Effiziensteigerung – betrifft sowohl die Industrie- wie auch die Entwicklungsländer. Sie wird in den ersteren leichter politisch durchsetzbar sein als in den letzteren; allerdings stimmen die Erfahrungen nach der Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklung und bei der Weltklimakonferenz in Berlin nicht optimistisch.

Die zweite Strategie – Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen – wird von den politischen Entscheidungsinstanzen höchst zögerlich behandelt, weil fehlende gesellschaftliche Akzeptanz – wohl zu recht – unterstellt wird.

Änderungen der Lebensformen sind nur über bewußtseinsverändernde Prozesse im Zusammenhang mit sozialen Bewegungen möglich und mit der Bereitschaft, experimentierend neue Lebenserfahrungen zu sammeln. Es ist offen, ob die nachfolgenden Generationen sich diese Optionen zu eigen machen. Zunächst ist eher festzustellen, daß relevante soziale Bewegungen wie die Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung den Anschluß an die jüngere Generation nicht gefunden haben.

b) Kohlendioxidärmere oder kohlendioxidfreie Energieträger

Ein weiterer wichtiger Beitrag zur Entlastung der Erdatmosphäre kann durch die Umstellung auf kohlendioxidärmere Energieträger geleistet werden. Zur Zeit wird der größte Anteil der verbrauchten Energie aus fossilen Energieträgern gewonnen (1990 weltweit 87%). Gerade diese Art der Energieerzeugung ist mit dem hohen Ausstoß von Kohlendioxid verbunden. Aus Gründen der Sozial- und Umweltorientierung muß der Einsatz fossiler Energieträger – dies gilt vor allem für Kohle und Erdöl – drastisch verringert werden. Deshalb dürften auf keinen Fall neue Kohlekraftwerke in Betrieb genommen werden. Dies wäre ein erster notwendiger, aber nicht hinreichender Schritt. Die derzeitige Diskussion um die Zukunft des Steinkohlebergbaus und der Braunkohleförderung in Deutschland zeugt allerdings von erheblichen Denk- und Handlungsblockaden, durch die verhindert wird, längst vorhandene ökologische Einsichten umzusetzen.

Überlegungen, aus wirtschaftlichen Gründen solchen tiefgreifenden und natürlich auch kostenintensiven Umstellungen in der Energieversorgung die Finanzierung von Schutzmaßnahmen (z.B. Deiche und Dämme) vorzuziehen, gewichten zu wenig die Kriterien der Umwelt- und vor allem der Zukunftsorientierung. Sie nehmen in Kauf, daß heute getroffene und mit nicht mehr revidierbaren Folgen verbundene Entscheidungen den Gestaltungsspielraum kommender Generationen erheblich einschränken.

Vor allem aber läßt sich an diesem Beispiel der Unterschied zwischen technizistisch-probabilistischen und ökologisch-tutioristischen Entscheidungsvorgängen verdeutlichen. Als technizistisch wird hier eine Denk- und Verhaltensweise bezeichnet, die durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation bedingte Probleme ausschließlich durch technische Reparaturmaßnahmen zu beheben sucht, ohne deren Ursachen zu beseitigen. Probabilistisch ist ein Entscheidungsverhalten, dem wahrscheinlich gute Gründe für die zu wählende Alternative ausreichen, wenn auch wahrscheinlichere Gründe gegen sie sprechen mögen. Die Entscheidung für Schutzmaßnahmen wie das Eindeichen riesiger überflutungsbedrohter Gebiete wäre eine technizistische Entscheidung, wenn sie nicht auch die Ursachen des Ansteigens der Meeresspiegel angehen würde. Sie ist probabilistisch, weil gute Gründe für das Gelingen dieser Maßnahmen sprechen mögen, da nach Meinung einiger Experten die Klimaveränderung durch Sonnenflecken verursacht sei und deshalb wieder rückläufig werden könne.

Ökologisch wird dagegen ein Entscheidungsverhalten genannt, das den komplexen Wechselwirkungsverhältnissen auf unserem Planeten Rechnung zu tragen versucht und deshalb um eine Beseitigung von Störungen und Zerstörungen dieser Synergismen bemüht ist. Tutioristisch ist eine Entscheidung, die eine deutliche Begrenzung von Risiken anstrebt und deshalb den Nachweis sicherer (tutior=sicherer) Gründe verlangt, um eine Handlung verantworten zu können. Hans Jonas hat den Tutiorismus pointiert ausgelegt, indem er das Prinzip vom Vorrang der schlechten Prognose vor der guten aufgestellt hat, nach welchem „der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu geben ist als der Heilsprophezeiung. … Es ist das Gebot der Bedächtigkeit im Angesicht des revolutionären Stils, den die evolutionäre Entweder-Oder-Mechanik im Zeichen der Technologie, mit dem ihr immanenten und der Evolution fremden »aufs Ganze Gehen«, annimmt.“58 Tutioristisch ist einzig die Entscheidung, den Ausstoß von Kohlendioxid sofort und drastisch zu verringern.

c) Begrenzte Möglichkeiten der erneuerbaren Energien

Der risikoärmste Weg zu diesem Ziel wäre, die fossilen Energieträger durch erneuerbare zu ersetzen. Letztere – vor allem die solare Strahlungsenergie – genügen am besten den Kriterien des »sustainable development«, der Umwelt- und Zukunftsorientierung. Auch wenn erneuerbare Energien und ihre Durchsetzung nicht völlig konfliktfrei sind (wie sich etwa am Streit um Windenergieanlagen ersehen läßt), so muß den dezentralen erneuerbaren Energiekonzepten zugute gehalten werden, daß sie weit besser sozialverträglich sind als zentralisierte Großtechnologien wie Kohle- und Kernkraftwerke oder riesige Staudämme. Die Frage ist, ob und wie schnell vor allem die Solarenergie so genutzt werden kann, daß wesentliche Anteile des Energiebedarfs durch sie gedeckt werden. Zu klären ist auch, in welcher Weise – als Solarthermik, Photovoltaik, solare Wasserstofftechnik – und wo sie eingeführt werden soll.

Das Ob scheint – jedenfalls was Solarthermik und Photovoltaik betrifft – positiv entschieden, da die entsprechenden Techniken zur Verfügung stehen. Wie schnell sie eingeführt werden können, hängt von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen ab, die unverzüglich zu treffen wären. Aber auch im besten Fall wird die Solarenergie bis zum Jahr 2020 nicht in der Lage sein, die fossilen Energieträger, vor allem Kohle und Erdöl, in einem umweltverträglichen Ausmaß zu substituieren.59

d) Die Kernenergienutzung: bedingtes Veto, aber kein kategorisches Verbot

Diese Substitution sei in den zu prognostizierenden Zeiträumen nur durch verstärkte Nutzung der Spaltungsenergien erreichbar, betonen die Befürworter der Kernenergie. Als Argument führen sie die Unterlassungsfolgenregel an. Diese bezieht sich auf das Verhältnis von Handeln und Nichthandeln und bedenkt, daß auch das Unterlassen von Handlungen mit Folgen verbunden sein kann. Wenn die mit dem Nichthandeln verbundenen negativen Folgen bedeutend schwerwiegender sind als die Nebenfolgen des Handelns, dann kann das Unterlassen der Handlung nicht gerechtfertigt werden. Bezogen auf die Frage „Nutzung der Kernenergie: Ja oder Nein?“ wird argumentiert: „Das Ausmaß möglicher Schäden ist … bei globalem Energiemangel um vieles größer als bei den schlimmsten denkbaren Unfällen der Kernenergie. Bei dem Verzicht auf Kernenergie ist außerdem die Wahrscheinlichkeit solcher Schäden erheblich größer als die Wahrscheinlichkeit großer Unfälle durch Kernreaktoren mit hohem Sicherheitsstandard. In beiden Risikokategorien, sowohl im Schadensumfang als auch in der Eintrittswahrscheinlichkeit, ist der Energiemangel bedrohlicher als die Kernenergie.“60

Die Anwendung der Unterlassungsfolgenregel setzt voraus, daß überhaupt eine Güterabwägung zwischen Nutzung oder Nicht-Nutzung der Kernenergie unter den gegenwärtigen Bedingungen vorgenommen werden kann. Dies wäre nicht der Fall, wenn ethische Prinzipien deontologischer Art gegen die zivile Nutzung der Kernenergie sprechen würden. Deontologische Prinzipien verpflichten immer und in jeder Hinsicht. I. Kants kategorischer Imperativ ist ein solches Prinzip; es ist formal, weil es ein verbindliches Verfahren zur Überprüfung von Handlungsabsichten oder -maximen formuliert. Es gibt auch inhaltlich bestimmte deontologische Prinzipien, z.B. kann in keinem Fall sittlich gerechtfertigt werden, einen Menschen zu foltern oder einen unschuldigen Menschen zu töten.

Liegen vergleichbar verbindliche Imperative vor, die die Nutzung der Kernenergie verbieten würden? Drei Imperative dieser Art sind vorgetragen worden: 1. Es ist nicht erlaubt, über die in der Natur schon vorhandenen Gefahrenquellen hinaus weitere in sie einzubauen. 2. Es ist nicht erlaubt, durch irreversible und folgenreiche Entscheidungen in der Gegenwart die Entscheidungsmöglichkeiten kommender Generationen einzuengen. 3. Es ist nicht erlaubt, eine Wette auf das Überleben kommender Generationen einzugehen.61

Zunächst ist festzustellen, daß das kulturtechnische Handeln der Menschen in vielfältiger Weise in Konflikt mit diesen Imperativen gerät – nicht erst im Fall der Kernenergienutzung. Sie sind in dieser Allgemeinheit als kategorisch verpflichtende Imperative nach vielen Seiten hin anwendbar, was zu Widersprüchlichkeiten und auch zu folgenreichen, nicht vertretbaren Handlungsblockaden führen kann. Unter den immer bewußter werdenden Bedingungen der Risikogesellschaft allerdings gewinnen sie ein zunehmendes Gewicht als regulative Prinzipien, die die Richtung von Handlungsoptionen bestimmen. Alle drei Imperative sind im übrigen auch auf die Situationen zu beziehen, die möglicherweise durch den Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie entstehen. Eine deontologische Argumentation führt also zu keiner kategorischen Entscheidung gegen die Kernenergie.

Befürworter eines weiteren Ausbaus der Kernenergie zählen diese zu den kohlendioxidfreien Energieträgern und argumentieren mit der Notwendigkeit, die Nutzung fossiler Energieträger massiv zu reduzieren und dennoch einen bei allem Sparen doch steigenden Energiebedarf zu decken.

Von den Kriterien der Sicherheit, Human-, Sozial- und Umweltorientierung her ergeben sich allerdings aus der oben durchgeführten Risikoanalyse schwerwiegende Gründe gegen die weitere Nutzung und vor allem gegen den Ausbau der Kernenergie. Sie beziehen sich auf die Freisetzung radioaktiver Strahlung durch die nukleare Brennstoffspirale, die Möglichkeit atomarer Unfälle oder Katastrophen, die Gefahr der Weiterverbreitung atomarer Waffen und die ungeklärte Beseitigung atomaren Mülls. Die Gründe sind derart schwerwiegend, daß von einer verantwortbaren Nutzung der Kernergie derzeit keine Rede sein kann.

Allerdings ist der Grundsatz zu berücksichtigen, durch heutige Entscheidungen die Freiheitsspielräume kommender Generationen nicht einzuschränken. Daher kann weitere Kernenergieforschung gerechtfertigt werden, um mit den Belastungen bisheriger militärischer und ziviler Kernenergienutzung sicher umgehen zu können, insbesondere um die sichere Lagerung atomarer Abfälle zu ermöglichen oder um Verfahren zur Beseitigung der großen Mengen von Waffenplutonium zu entwickeln. Auch die Forschung zu inhärent sicheren Spaltungsreaktoren oder zur Nutzung der Fusionsenergie soll nicht ausgeschlossen sein, sofern die Bedingungen für solche Zielperspektiven im Bereich nuklearer Technologien klar formuliert werden (vgl. Kap. IV). Dazu gehören die Katastrophenfreiheit der Reaktoren ebenso wie die Proliferationsresistenz, der nachprüfbar sichere Umgang mit verbleibenden radioaktiven Materialien und die Möglichkeit einer langfristigen Nutzung – weit über den Nutzungshorizont fossiler Energiequellen hinaus. Zudem dürfen die finanziellen Mittel für Kernergieforschung die vordinglichere Entwicklung und Einführung erneuerbarer Energien nicht behindern.

V.4 Plädoyer für regional-partizipative Lösungen

In der gegenwärtigen Energiediskussion werden zwei Strategien zur Lösung des Problems vertreten.

Der global-deduktive Lösungsweg geht von Annahmen über die Entwicklung der Weltbevölkerung bis zur Mitte des nächsten Jahrhunderts, über den damit verbundenen Weltenergiebedarf sowie über die notwendige Senkung der Kohlendioxidemissionen aus. Dann wird errechnet, wieviele Solaranlagen weltweit zu errichten wären, um das Ziel einer ausreichenden Energieversorgung sowie das einer Umweltentlastung zu erreichen. Dabei ergibt sich aus technischen und aus finanziellen Erwägungen die Unmöglichkeit dieser Lösung im vorgesehenen Zeitraum. Nach dieser Argumentationsstrategie bleibt – auf jeden Fall für die nächsten 50 bis 100 Jahre – keine Alternative zur weiteren Nutzung, d.h. zum weiteren Ausbau der Kernenergie. Diese Argumentation hat allerdings drei Schwächen. Sie muß mit Annahmen über künftige Entwicklungen arbeiten, die nicht genügend abgesichert sind, um wichtige Entscheidungen auf sie zu stützen. Sie muß eine Weltinstanz, einen weisungsbefugten Weltenergierat, voraussetzen, der »top-down«-Prozesse einleiten wird. Schließlich bleiben bei dieser Denk- und Argumentationsweise die kulturellen und regionalen Unterschiede unberücksichtigt.

Der regional-partizipative Ansatz dagegen konzentriert sich auf die spezifischen Gegebenheiten und Möglichkeiten einzelner Regionen.62 Er will in einem Prozeß (vermittelt etwa durch einen regionalen runden Tisch), an dem möglichst viele Experten und Betroffene beteiligt sind, zu je spezifischen schrittweisen Lösungen für die jeweiligen Regionen kommen. Der Vorteil dieses Ansatzes besteht darin, daß eine größere Vielfalt von Möglichkeiten genutzt werden und durch die mit dem partizipativen Prozeß verbundene höhere gesellschaftliche Akzeptanz auch größere Effizienz erzielt werden kann. Ein Nachteil dieses Ansatzes ist allerdings, daß ein überzeugender Nachweis nicht zu erbringen ist, wie auf diesem Weg in allen Regionen der Erde eine ausreichende und umweltorientierte Energieversorgung sichergestellt werden kann. Die Tatsache, daß ein dringender Handlungsbedarf hinsichtlich einer verantwortbaren Energieversorgung für die Zukunft besteht, macht es notwendig, an möglichst vielen Orten Initiativen regionaler Art fortzuführen oder zu beginnen.

Es ist von Interesse zu untersuchen, inwieweit derartige regionale Initiativen zur Bewältigung der globalen Energieproblematik beitragen können. Für die interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung ist es eine lohnende Zukunftsaufgabe herauszufinden, welche Instrumente zur Verfügung stehen bzw. zu entwickeln sind, um Energiekonflikte bewältigen und eine nachhaltige Energieversorgung friedlich durchsetzen zu können.

Kasten 1: Zum Konfliktbegriff

Im allgemeinen Sinne ist Voraussetzung für einen Konflikt ein Spannungsgefälle (Konfliktpotential) zwischen Sein (Ist-Zustand) und Wollen/Sollen (Soll-Zustand). Die Überbrückung dieser Differenz ist Anlaß zum Konflikthandeln. Wird trotz wiederholten Handelns das Konfliktpotential nicht abgebaut, kann der Einsatz der Mittel bis zum äußersten eskalieren (einschließlich Gewalt). Die Konfliktspannung kann aber auch dadurch abgebaut werden, daß der Soll-Zustand zurückgenommen, an den Ist-Zustand angepaßt wird: man findet sich ab. Dies ist dann nicht möglich, wenn der Ist-Zustand als unerträglich oder gar lebensbedrohend empfunden wird, es sich also um ein existenzielles Bedürfnis handelt.

In der Konfliktforschung werden vorwiegend die zwischenmenschlichen Konflikte untersucht, in denen mindestens zwei Akteure (Personen, Gruppen, Organisationen, Staaten oder Staatengruppen) beteiligt sind, die Absichten und Ziele (Interessen) verfolgen, sich gegenseitig wahrnehmen, durch ihr Handeln und ihre Kommunikation gegenseitig beeinflussen können. Ist der eine dem anderen im Wege, handelt es sich um einen Gegensatz (Zusammenstoß, Inkompatibilität) von Interessen.

Ob ein oder mehrere Akteure ihre Interessen im Verlauf des Konflikts wahren können, hängt ab von der Art und dem Ausmaß der vorhandenen Mittel des Konfliktaustrags, der Wirksamkeit und dem Geschick bei ihrem Einsatz sowie von der Kompromißbereitschaft der Akteure. Handlungen können darauf gerichtet sein, den geplanten Weg zu gehen und den anderen dabei zu verdrängen oder gar zu vernichten (Konfrontation), oder darauf, diesen zu einem erwünschten Verhalten zu bewegen, durch Überzeugungsarbeit mittels Argumentation und Kommunikation (Kooperation). Eine Konfliktlösung ist dann nicht zu erreichen, wenn die Akteure sich im Verlaufe des Konflikts trotz verstärkter Anstrengungen mehr und mehr von dem Ziel entfernen (Eskalation). Ziel von Konfliktlösungsstrategien ist es, zwischen den Akteuren über die Wahl der Mittel und auch der Ziele zu verhandeln, um diese kompatibel zu machen oder zumindest zu regulieren (z.B. durch internationale Regime). Am ehesten ist eine Konfliktlösung zu erreichen durch eine Strategie beiderseitigen Vorteils, wenn beide ihre gewünschten Ziele annähernd erreichen, bei möglichst geringen Reibungsverlusten (Kompromiß, Konsens).

Da zur Konfliktbewältigung zuvor schlummernde geistige und physische Potentiale freigesetzt werden, sind Konflikte ein wesentliches Moment der sozialen Bewegung, können jedoch bei den Betroffenen erhebliches Leid verursachen. Ausschlaggebend ist letztlich, ob im Konfliktverlauf die destruktiven oder die konstruktiven Mittel überwiegen.

Quelle: J. Scheffran, Frieden und nachhaltige Entwicklung, in: W. Vogt (Hrsg.), Kultur des Friedens, Beiträge zum UNESCO-Programm „Culture of Peace“ (in Vorbereitung)

Kasten 2: Potentielle Gefahren durch die globale Erwärmung (Nach Cline 1992, Bach 1995 a.a.O.)

1. Landwirtschaft und Ernährungssicherung

  • Anfälligkeit gegen extreme Wetterphänomene (Stürme, Dürre, Überschwemmungen)
  • Wassermangel
  • Ausbreitung der Wüsten
  • Kohlenstoff-Düngung und verstärktes Pflanzenwachstum
  • Polwärtige Verlagerung der Anbauzonen
  • Verringerung der Weltgetreide-Produktion
  • Mehr Ungeziefer und Krankheiten
  • Zunahme des Hungers

2. Verluste von Wald und biologischer Vielfalt

  • Destabilisierung von Ökosystemen durch raschen Klimawechsel
  • Verringerung der Artenvielfalt
  • Schrumpfung des Waldbestandes
  • Weitere Streßfaktoren: Schadstoffbelastungen, Radioaktivität, Bodenversauerung, Grundwasserabsenkung, Schädlingsbefall, Änderung des Lokalklimas, vermehrte UV-Bestrahlung durch Ozonabbau

3. Anstieg des Meeresspiegels

  • Einflußfaktoren: Wärmeausdehnung des Ozeanwassers, Abschmelzen der Gebirgsgletscher, Abschmelzen des grönländischen und antarktischen Eisschildes.
  • Historische Beobachtung: bei 2°C höherer Temperatur 6 m höherer Meeresspiegel
  • Vergangene Jahrzehnte: Meeresspiegelanstieg um 25 cm an der deutschen Nordseeküste
  • Berechneter Meeresspiegelanstieg: ca. 20 bis 100 cm zwischen 1990-2100 (Business as Usual); Überflutung von bis zu 3% der Erdoberfläche
  • Folgen eines Meerespiegelanstiegs: verstärkte Küstenerosion, Sturm- und Flutkatastrophen, Eindringen von Salzwasser in Trinkwasser- und Bewässerungsanlagen, Schrumpfen des Lebensraums

4. Änderung der Ozeanzirkulation

  • Mögliche Änderung der atlantischen Ozeanzirkulation und Ablenkung des Golfstroms: Abkühlung in Europa

5. Wasserversorgung

  • Wasserabflüsse schrumpfen durch höhere Verdunstung
  • Höhere Klär-Kosten
  • Wüstenbildung und Dürre

6. Naturkatastrophen, Krankheit, Tod

  • Zunahme von Wirbelstürmen, Überschwemmungen, Dürreperioden, mit hohen Schäden
  • Ausbreitung von Seuchen und Krankheiten nach Norden
  • Verlust menschlichen Lebens

7. Weitere Schäden

  • Elektrizitätsbedarf: höhere Kosten für Klimaanpassung, z.B. Klimaanlagen
  • Luftverschmutzung: wächst mit steigenden Temperaturen
  • Industrie: Abhängigkeit bestimmter Industriezweige (z.B. Landwirtschaft, Ski-Industrie) von klimatischen Bedingungen

Kasten 3: Frieden und nachhaltige Entwicklung:
Begriffliche Verknüpfungen

Die negative Definition des Friedens (Abwesenheit von Krieg bzw. organisierter Gewalt) ist zur Behandlung von Energiekonflikten nicht ausreichend, da sie den Bedürfnissen und positiven Voraussetzungen für Frieden nicht gerecht wird, auf deren Zustandekommen die Energienutzung Einfluß hat. Auch die Bindung an den Gerechtigkeitsbegriff hilft nicht weiter, da dies zum Dilemma vom »gerechten Kriege« führen kann, in dem Gewalt zur Herstellung von Gerechtigkeit eingesetzt wird. Fruchtbarer ist der Ansatz, in Anknüpfung an die Menschenrechte, die die Grundrechte des Individuums zur Existenzerhaltung und Entfaltung sichern sollen, Frieden zu charakterisieren durch:63

„1. Existenzerhaltung des einzelnen aufgrund abnehmender Gewalt,

2. kontinuierliche Existenzentfaltung des einzelnen aufgrund zunehmender Gleichverteilung von Entfaltungschancen.“

Die Begriffe Erhaltung und Entfaltung sind zur Einordnung der Energiekonflikte gut geeignet, da sie zugleich zentrale Kategorien nachhaltiger Entwicklung sind. Während mit der Nachhaltigkeit die Entfaltung des Individuums an die Erhaltung der Umwelt gebunden ist, wird im Frieden die Existenzerhaltung des Individuums zur Grundvoraussetzung für seine Entfaltung. Zugleich ist menschliche Existenz ohne Entfaltung, die zur Selbstverwirklichung des einzelnen gehört, nicht denkbar. Sie schafft rückwirkend auch die Voraussetzungen für die Existenzerhaltung in einer sich ändernden Welt.

So wie nachhaltige Entwicklung eine Voraussetzung für die zukünftige Friedenssicherung ist, so ist auch der Erhalt des Friedens eine wesentliche Rahmenbedingung für die kooperative Durchsetzung von nachhaltiger Entwicklung. In der Negation beider Begriffe wird ein Teufelskreis sichtbar: Bleibt die Welt unfriedlich, besteht die Gefahr des Scheiterns nachhaltiger Entwicklung, was wiederum Ursache neuer gewalttätiger Konflikte wäre. Um die bei der Durchsetzung eines gerechten nachhaltigen Verteilungsniveaus (etwa des Energieverbrauchs oder der CO2-Emissionen pro Kopf der Bevölkerung) auftretenden Konflikte gewaltfrei zu halten, werden geeignete Konfliktregelungsmechanismen und Vermittlungsprozesse benötigt.

Quelle: J. Scheffran, in: W. Vogt, a.a.O.

IANUS-Projekt zu Energiekonflikten

Seit 1994 wird bei IANUS an der TH Darmstadt das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Globale Sicherheit und nachhaltige Entwicklung als Kriterien für Technikbewertung am Beispiel von Energiesystemen“ durchgeführt. Ziel ist die Entwicklung, Operationalisierung und Anwendung von Kriterien für Technikbewertung, besonders der Schlüsselbegriffe globale Sicherheit und nachhaltige Entwicklung, auf den Bereich der globalen Energieversorgung und damit verbundener Konflikte. Damit möchte IANUS einen Beitrag zu einer global orientierten und verantwortlichen Forschungs- und Technologiepolitik in einer Weltgesellschaft leisten.

Das auf mehrere Jahre angelegte fächerübergreifende Rahmenprojekt besteht aus vier Teilprojekten, in denen jeweils sozialethische, ökonomische, physikalische und mathematische Aspekte im Vordergrund stehen. Die verschiedenen Dimensionen werden in einem interdisziplinären Diskurs behandelt, zusammen mit interdisziplinärer Lehre. Die ersten beiden Jahre des Projekts wurden vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst mitfinanziert. Vom 28. Februar bis 3. März 1995 veranstaltete IANUS mit Unterstützung durch die Berghof-Stiftung für Konfliktforschung einen Workshop „Verantwortbare Energieversorgung für die Zukunft“ in Darmstadt; eine Buchpublikation ist in Vorbereitung. Im November dieses Jahres ist IANUS Mitveranstalter eines Fachgesprächs zu „Frieden und nachhaltige Entwicklung“, auf der es u.a. auch um Energiekonflikte geht.

Anmerkungen

1) Time Magazine vom 29.5.1996. Zurück

2) Frankfurter Rundschau, 9.5.1996. Zurück

3) M. Teschner, Klima, Verkehr und Gesellschaft, VDW info, Nr.3, September 1995, S.12-16. Zurück

4) Zur Kritik der Konsensgespräche siehe: „Ein Parteienkonsens nur über Kernenergie und Kohle wäre fatal“, Ein gemeinsames Positionspapier von BUND, Öko-Institut, IPPNW und Peter Hennicke, Frankfurter Rundschau, 29.5.1995. Zurück

5) Für Deutschland sei hier nur genannt G. Altner, H.-P. Dürr, G. Michelsen, J. Nitsch, Zukünftige Energiepolitik, Bonn: Economica Verlag 1995. Zurück

6) Zitat aus: D. Viefhues, Sanfte Energiezukunft – Wege und Widerstände, in: H. Müller, D. Puhl (Hrsg.), Ressourcenpolitik – Konfliktpotentiale und Kooperationschancen bei der westlichen Rohstoffsicherung, Haag + Herchen, 1984, S. 260. Zurück

7) Siehe z.B. R. Kollert, Die Politik der latenten Proliferation. Militärische Nutzung »friedlicher« Kerntechnik in Westeuropa, Dissertation, Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden, 1994. IANUS hat die Themen Ambivalenz und Proliferation zu Arbeitsschwerpunkten gemacht. Siehe J. Scheffran et al., Ambivalenz der Forschung – Dual-use der Technik. Zivil-militärische Wechselbeziehungen, in: U. Kronfeld, W. Baus, B. Ebbesen, M. Jathe (Hg.), Naturwissenschaft und Abrüstung. Forschungsprojekte an deutschen Hochschulen, Münster: Lit-Verlag, 1993, S. 87-119; W. Liebert et al., Proliferation von Massenvernichtungswaffen aus naturwissenschaftlicher Sicht, in: U. Kronfeld et.al., 1993, a.a.O., S. 120-174; W. Liebert, R. Rilling, J. Scheffran (Hrsg.), Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik – Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz, Marburg: BdWi-Verlag, 1994. Zurück

8) Zum Thema Umweltkonflikte siehe Kapitel III. Zur Diskussion über die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs siehe C. Daase, Ökologische Sicherheit: Konzept oder Leerformel?, in: B. Meyer, C. Wellmann (Red.), Umweltzerstörung: Kriegsfolge und Kriegsursache, Edition Suhrkamp, 1993 S. 21-52; L. Brock, Weder für alles Gute noch für alles Schlechte in der Welt zuständig, Frankfurter Rundschau, 9.5.95; Environment and Security Debates: An Introduction, Report of the Environmental Change and Security Project, Washington, DC: The Woodrow Wilson Center, Spring 1995. Zurück

9) Nicht zufällig hat das englische Wort »Power« im deutschen zwei Bedeutungen: Macht und Energie/Leistung. Zurück

10) Zu den Hintergründen siehe P. Bushel Okoh, Environmental Conflicts in the Niger-Delta Region, Aufsatz präsentiert beim ENCOP-Meeting, Zürich/Bern, Schweiz, 29.4.-1.5.1993; eine überarbeitete Kurzfassung ist erschienen in: Frankfurter Rundschau, 5.7.1995; K. Saro-Wiwa, Flammen der Hölle, Reinbek: rororo aktuell 1996. Zurück

11) Siehe hierzu weiter A. Bozdag, Um Öl und Gas. Internationale Konfliktlinien im Kaukasus und in der kaspischen Region, Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/96, S. 587-597; C. Gasteyger, Ölpoker am Kaspischen Meer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.5.96, S. 12. Zurück

12) Siehe hierzu V. Boege, Das Sardar-Sarovar-Projekt an der Narmada in Indien – Gegenstand ökologischen Konflikts, ENCOP-Report No. 8, 1993; G. Sen, National development and local environmental action – the case of the River Narmada, in: V. Bhaskar, A. Glyn (Eds.), The North – the South. Ecological Constraints and the Global Economy, London: Earthscan, 1995 S. 184-200. Zurück

13) A. Waldron, Ecological Roulette: Daming the Yangtze, Foreign Affairs, September/October 1995. Zurück

14) S. Kloetzli, Der slowakisch-ungarische Konflikt um das Staustufenprojekt Gabcíkovo, ENCOP Report, No.7, 1993. Zurück

15) Die folgenden Angaben stützen sich weitgehend auf: I. Hauchler, Globale Trends 1996, Stiftung Entwicklung und Frieden, Fischer, 1995. Zurück

16) Siehe hierzu M. Kalinowski, Zukunfts- und Ganzweltverträglichkeit. Versuche zur Einbeziehung der Interessen zeitlich und räumlich weit entfernt Betroffener in die Technikfolgen-Abschätzung am Beispiel der Kerntechnik, Schriftenreihe der Gesellschaft für Technikfolgen-Abschätzung Nr. 9/1992, Berlin 1992; M. Kalinowski, Über den engen Horizont hinaus. Versuche zur Einbeziehung der Interessen zeitlich und räumlich weit entfernt Betroffener in die Technikfolgen-Abschätzung, Wechselwirkung Nr. 60, April 1993, S. 11-14. Zurück

17) Vgl. E. Müller, Das Ende der Ölzeit. Strategie für eine saubere Wirtschaft in Deutschland, Frankfurt a.M., 1993, S. 20. Zurück

18) Die wechselhafte Geschichte des Kampfes um Öl ist in aller Breite beschrieben in D. Yergin, The Prize – The Epic Quest for Oil, Money and Power, New York et al: Simon & Schuster, 1992. Zurück

19) Vgl. M. Stürmer, Energieversorgung und internationale Sicherheit (Interview), In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen, 1993, S. 376-380 (S. 376). Zurück

20) Vgl. G. Maass, Die Internationale Energieagentur. Lehren aus der Vergangenheit – Herausforderung an die Zukunft, In: Energie-Politik-Geschichte, Wiesbaden, 1993, S. 191-203 (S. 197). Zurück

21) Vgl. H.-J. Schürmann, Golfkrise und Weltölversorgung, In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen, 1990, S. 680-682 (S. 682). Zurück

22) Vgl. U. Widmaier, T. König, Engpaßdiagnosen und Handlungsoptionen im Energiesektor, in: U. Widmaier, T. König (Hrsg.), Technische Perspektiven und gesellschaftliche Entwicklung, Baden-Baden, 1989, S. 259-277 (259). Zurück

23) Vgl. M. Meliß, Trends und Schwerpunkte bei der Entwicklung regenerativer Energieträger, in: Widmaier/König 1989, a.a.O., S. 279-306 (303). Zurück

24) Der folgende Abschnitt ist eine gekürzte und modifizierte Version von: J. Scheffran, Konfliktfolgen energiebedingter Umweltveränderungen am Beispiel des globalen Treibhauseffekts, in: W. Bender (Hrsg.), Verantwortbare Energieversorgung für die Zukunft, Tagungsband zum gleichnamigen IANUS-Workshop, Darmstadt, 28.2.-3.3.1995 (in Vorbereitung). Zurück

25) Davon entfielen 18 % auf die Industrie, 16 % auf den Verkehr und 12 % auf Haushalte und Kleinverbraucher; vgl. W. Bach, Anthropogene Klimaveränderungen – Übersicht zum aktuellen Kenntnisstand, Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/95, S. 67-79. Zurück

26) Intergovernmental Panel on Climate Change, Climate Change: The IPCC Scientific Assessment, Cambridge University Press, 1990. Der zweite IPCC Assessment Report wurde 1995 veröffentlicht. Zurück

27) Treibhaus 1994: Das heißeste Sommerhalbjahr weltweit, Bulletin Klimaforum '95, 9. Dezember 1994, S. 1. Zurück

28) C. Flavin, Keine Ruhe vor dem Sturm, World-Watch, Januar/Februar 1995, S. 11-23. Zurück

29) Siehe insbesondere J.B. Smith, D.A. Tirpak, The Potential Effects of Global Climate Change on the United States, U.S. Environmental Protection Agency, 1989; W. Cline, The Economics of Global Warming, Institute for International Economics, Washington 1992; Preparing for an Uncertain Climate, 2 Volumes, Washington, DC: Office of Technology Assessment, OTA-O-567, October 1993; S. Frankhauser, D.W. Pearce, The Social Costs of Greenhouse Gas Emissions, in: The Economics of Climate Change, Proceedings of an OECD/IEA Conference, Paris: OECD, 1994, S. 71-86; C. Krupp, Klimaänderungen und die Folgen, Berlin: edition sigma, 1995. Zurück

30) Die Kosten der CO2-Verminderung sind hauptsächlich die Verluste an wirtschaftlichem Output, die mit den Beschränkungen von Energie-Inputs einhergehen. Zurück

31) W.R. Cline, Costs and Benefits of Greenhouse Abatement: A Guide to Policy Analyis, in: The Economics of Climate Change, Proceedings of an OECD/IEA Conference, Paris: OECD, 1994, S. 87-105. Zurück

32) Zur Analyse des Nord-Süd-Verhältnisses nach Rio siehe L. Brock, Nord-Süd Kontroversen in der internationalen Umweltpolitik: Von der taktischen Verknüpfung zur Integration von Umwelt und Entwicklung? Frankfurt: HSFK-Report 1/1992. Zurück

33) H.-D. Heck, Die Mär vom gemeinsamen Boot – Gewinner und Verlierer der weltweiten Klimaerwärmung, Bild der Wissenschaft, 3/1995, S. 58-61. Zurück

34) Siehe K.M. Meyer-Abich, Im gemeinsamen Boot? Gewinner und Verlierer beim Klimawandel, in: W. Sachs, Der Planet als Patient, Berlin/Basel/Boston: Birkhäuser, 1994, S. 194-210. Zurück

35) Vgl. Meyer-Abich 1994, a.a.O., S. 190. Zurück

36) Zudem wird ein FCKW-Verzicht die Entwicklungsländer am härtesten treffen; siehe F. Biermann, Nord-Süd-Gerechtigkeit als Schlüssel – Zehn Jahre Ozonpolitik, Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/95, S. 1492-1500. Zurück

37) Zur Einführung in Umweltkonflikte siehe G. Bächler, V. Böge, S. Klötzli, S. Libiszewski, Umweltzerstörung: Krieg oder Kooperation?, Münster: agenda Verlag, 1993; S. Libiszewski, Umweltkonflikte. Die Konfliktform im post-ideologischen Zeitalter? Wissenschaft & Frieden, 2/93; K.R. Spillmann, G. Bächler (Eds.), Environmental Crisis: Regional Conflicts and Ways of Cooperation, ENCOP Occasional Papers No.14, September 1995; T.F. Homer-Dixon, J.H. Boutwell, G.W. Rathjens, Umwelt-Konflikte, Spektrum der Wissenschaft, April 1993, S.36-44; T. Homer-Dixon, On the Threshold – Environmental Changes as Causes of Acute Conflict, International Security, Vol. 16, No.2, Fall 1991, S. 76-116; T. Homer-Dixon, Environmental Scarcity and Violent Conflict: Evidence from Cases, International Security, Vol.19, No.1, Sommer 1994, S. 5-40. Zurück

38) R. Jungk, Der Atomstaat, Reinbek: rororo 1979, S.9. Zurück

39) Zu den ökologischen und sozialen Folgen des Tschernobyl-Unglücks siehe die Schwerpunkthefte von Wissenschaft und Frieden 1/96 und Wechselwirkung Nr. 78, April/Mai 1996 sowie: K.-H. Karisch, J. Wille, Der Tschernobyl-Schock, Frankfurt: Fischer, 1996; E. Lengfelder et al., 10 Jahre nach der Tschernobyl-Katastrophe. Schildrüsenkrebs und andere Folgen für die Gesundheit in der GUS, Münchner Medizinische Wochenschrift, Vol. 138 (1996) 15, S. 259-264. Zurück

40) Das internationale Recht kennt daher eine Reihe von Vereinbarungen, die grenzüberschreitende Atomkonflikte regeln sollen, insbesondere die Nuclear Safety Convention. Zurück

41) Zu den Anfängen siehe L. Mez (Hg.), Der Atomkonflikt, Reinbek: rororo, 1981. Zurück

42) Siehe hierzu G. Rosenkranz, I. Meichsner, M. Kriener, Die neue Offensive der Atomwirtschaft, München: Beck-Verlag, 1992. Zurück

43) Globale Trends 1996, a.a.O., S. 321. Zurück

44) Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“ des Deutschen Bundestages (Hrsg.), Mehr Zukunft für die Erde – Nachhaltige Energiepolitik für dauerhaften Klimaschutz, Bonn: Economica-Verlag, 1995, S. 1137. Zurück

45) Siehe hierzu J. Scheffran, P. Schäfer, M. Kalinowski, Nichtverbreitung mit militärischen Mitteln? Nordkorea und die Strategie der Counter-Proliferation, Blätter für deutsche und internationale Politik, Juli 1994, S. 834-847. Zurück

46) Siehe hierzu ausführlicher W. Liebert, Das Risiko der Kernenergie, Wissenschaft und Frieden 1/1996, S. 18-22. Zurück

47) P. Diehl, Uranium Mining in Europe – The Impact on Man and Environment, WISE News Communique 439/440, Sept. 1995. Zurück

48) Siehe hierzu G. Hensel, »Strahlende« Opfer: Amerikas Uranindustrie, Indianer und weltweiter Überlebenskampf, Ökozid extra, Gießen, 1987; H. Schuhmann et al., Das Uran und die Hüter der Erde. Atomwirtschaft, Umwelt, Menschenrechte, Stuttgart, 1990; P.H. Eichstaedt, If You Poison US – Uranium and Native Americans, Santa Fe: Red Crane Books, 1994. Zurück

49) Vgl. K. Kugeler, Inhärent sichere Reaktoren – Anstoß zur Überprüfung der Ablehnungshaltung zur Kerneenergie, In: W. Bender (Hrsg.), a.a.O. Zurück

50) Beschluß im November 1983 auf dem 16ten Treffen der Vertragsparteien der Londoner Konvention von 1972. Zurück

51) Ausführlich wurde dies dargestellt in: M. Kalinowski, Was sollen wir tun mit radioaktiven Abfällen? Vergleich von Endlagerung in geeigneten geologischen Formationen mit dauerhaft zugänglich bewachter Lagerung, Internationales Endlager-Hearing, 21.-23. September 1993 in Braunschweig. Zurück

52) Vgl. W. Liebert, Aussichten nuklearer Energieversorung für die Zukunft, erscheint in: W. Bender (Hrsg.), a.a.O. Zurück

53) Diese Abschnitt basiert teilweise auf den gemeinsamen Thesen zur IANUS-Tagung „Verantwortbare Energievesorgung für die Zukunft“, Darmstadt, 28.2.-3.3.1995. Zurück

54) BUND/Misereor (Hrsg.), Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung, Studie des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie, Basel u.a.: Birkhäuser 1996, S.11-88. Zurück

55) Vgl. W. Bender, Erhaltung und Entfaltung als Kriterien für die Gestaltung von Wissenschaft und Technik, IANUS-Arbeitsbericht 9/1991. Zur Verknüpfung beider Begriffe mit Frieden und nachhaltiger Entwicklung siehe J. Scheffran, Frieden und nachhaltige Entwicklung, in: W. Vogt (Hrsg.), Kultur des Friedens, Beiträge zum UNESCO-Programm „Culture of Peace“ (in Vorbereitung). Zurück

56) Zu den Leit- und Überprüfungskriterien vgl. W. Bender, Zukunft der Wissenschaft – Prospektive Ethik, Nova Acta Leopoldina, NF 74, 297, 1996, S. 39-51; W. Bender, K. Platzer, K. Sinemus, On the Assessment of Genetic Technology: Reaching Ethical Judgement in the Light of Modern Technology, In: Science and Engineering Ethics (1995), 1, S. 21-32. Zurück

57) Vgl. z.B. H. Henssen, Energie zum Leben. Die Nutzung der Kernenergie als ethische Frage, München u.a.: Bonn Aktuell 1993. Zurück

58) H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M.: Insel 1984, S. 70f. Zurück

59) Vgl. M. Fischedick, Globale und regionale Energieszenarien im Vergleich, In: W. Bender (Hrsg.) a.a.O. Zurück

60) H. Henssen 1993, a.a.O., S. 175. Zurück

61) Vgl. R. Spaemann, Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik, In: D. Birnbacher (Hrsg.), Ökologie und Ethik, Stuttgart: Reclam 1990, S. 180-206; H. Jonas, a.a.O., S. 76-83. Zurück

62) In zahlreichen Untersuchungen wurden die Möglichkeiten alternativer regionaler Energie- und Verkehrskonzepte unter Beweis gestellt; siehe z.B. C.C. Noack, D.v. Ehrenstein, J. Franke (Hrsg.), Energie für die Stadt der Zukunft – Das Beispiel Bremen, Marburg: SP-Verlag Norbert Schüren, 1989; W. Bach, Konkrete kommunale Klimaschutzpolitik am Beispiel Münsters, in: Enquete-Kommission 1995, a.a.O., S.1354-1385. Zurück

63) E.-O. Czempiel, Der Friede – sein Begriff, seine Strategien, in: D. Senghaas (Hrsg.), Den Frieden denken, edition suhrkamp, 1995, S. 165-176, hier S. 170. Zurück

An diesem Dossier haben folgende IANUS-Autoren mitgewirkt:
Wolfgang Bender (Sozialethik); Sven Brückmann (Politische Ökonomie); Martin Kalinowski, Wolfgang Liebert und Jürgen Scheffran (Physik/Mathematik).
Koordination und Endredaktion: Jürgen Scheffran
Kontakt: IANUS, c/o Institut für Kernphysik, Schloßgartenstr. 9, 64289 Darmstadt, Fax: (06151) 166039, email: ianus@hrzpub.th-darmstadt.de

Zündstoff Öl und Gas

Die alte und neue Konfliktregion Kaukasus – Kaspisches Meer

Zündstoff Öl und Gas

von Detlef Bimboes

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle
Wissenschaft und Frieden (IWIF) e.V.

Die Südflanke der ehemaligen Sowjetunion ist eine alte, geschichtlich gewachsene Konfliktregion. Hier kreuzten sich bereits vor Jahrhunderten türkische, persische und russische Interessen. Nachdem sich Russland im Verlauf des 19. Jahrhunderts Mittelasien einverleibt hatte wuchs die Rivalität mit dem englischen Kolonialreich um den Export von Baumwolle und später um das Erdöl. Im Zweiten Weltkrieg wollte die deutsche Wehrmacht die Ölquellen von Baku erobern, dann war für fast 50 Jahre »Ruhe«. Doch nach dem Zerfall der bipolaren Nachkriegsordnung und im Übergang zur Globalisierung ist die Region wieder zum Krisenherd geworden. Alte Interessengegensätze leben auf. Hinzu kommen nicht gelöste ethnische Konflikte aus der Vergangenheit und verschlechterte Lebensbedingungen. Forderungen nach Selbstbestimmung und nationalistische Bewegungen verschärfen die Lage. In Kaukasien und Mittelasien sind in den letzten 10 Jahren acht neue selbstständige Nationalstaaten entstanden; Staaten mit großen Minderheiten-Problemen, einem krassen Sozial- und Einkommensgefälle; Staaten, die von einer parlamentarischen Demokratie noch weit entfernt sind. Territoriale Ansprüche werden mit Gewalt ausgetragen. Der Krieg zwischen Armenien und Aserbeidschan um Nagorni Karabach, der Krieg um die Separation Abchasiens, der blutige Konflikt um die Unabhängigkeit Südossetiens von Georgien sowie der erste Tschetschenienkrieg kennzeichneten die Neunzigerjahre. Am Ende des Jahrzehnts steht der zweite Tschetschenienkrieg.
Die Tatsache, dass der »weiche Unterleib« der ehemaligen Sowjetunion reich an energetischen und teilweise auch mineralischen Rohstoffen ist (Simonitsch, 1999), hat zusätzlich die Begierde führender Industrienationen und großer internationaler Energiekonzerne geweckt. Die Europäische Union, vor allem aber die USA haben erfolgreich begonnen ihren wirtschaftlichen und politischen Einfluss auszubauen. Das Interessengeflecht wird dadurch weiter kompliziert.

Rückblick: Russlands Niederlage im Krim-Krieg und das Ölfieber in Baku

Das Erdöl, das in der Region Baku bereits seit alters her bekannt war und in bescheidenem Umfang im Wesentlichen als Beleuchtungs- und Brennstoff diente, wurde für Russland erst nach dem Ende des Krim-Krieges, also nach 1856, von immer größerer wirtschaftlicher Bedeutung (Bimboes, 1999a).

Das Krim-Debakel offenbarte schonungslos die Rückständigkeit Russlands in Verwaltung, Wirtschaft und Armee, die Modernisierung des Zarenreichs wurde unausweichlich. Die Industrialisierung verwandelte Russland in ein Treibhaus des Kapitalismus. Zu dem rasanten Umbau der russischen Wirtschaft trugen wesentlich Kapitalimporte – insbesondere privates Aktienkapital und Anleihen – und Erlöse aus Agrarexporten bei. Größter Kapitalexporteur war Frankreich, gefolgt von Großbritannien, Deutschland und Belgien.

Die russische Regierung erkannte schnell die Bedeutung des Erdöls für den Staatshaushalt. Das aus dem Erdöl gewonnene Petroleum war als Lampenöl begehrt. Ein riesiger Binnen- und Exportmarkt stand bereit. Die Petroleumlampe hatte in Russland und Europa wie auch in den USA zu einer Umwälzung im öffentlichen und privaten Leben geführt, durchaus z. B. mit der des Kühlschranks vergleichbar. Bereits 1873 gab es in Baku nicht weniger als 23 Raffinerien. Größtes Problem für den Absatz der Produkte war jedoch die fehlende Anbindung Bakus an den südrussischen Markt und den Welthandel. Mit der transkaspischen Bahnlinie wurde die Verbindung zwischen Baku und Batumi am Schwarzen Meer geschaffen. Sie war nicht nur von großer wirtschaftlicher Bedeutung – ab 1906 noch verstärkt durch eine parallel verlaufende Erdölleitung – , sie verstärkte auch den russischen Einfluss in Aserbeidschan und besaß zugleich militärische Bedeutung. Russland hatte hier ja nicht nur das Osmanische und Iranische Reich zum Gegner, sondern zugleich wuchs auch seit der weitgehenden Annexion von Mittelasien im Jahre 1864 die Rivalität mit England. Mit der Bahnlinie kam auch die Stunde des Einstiegs für Banken und Konzerne in das Ölgeschäft. Russland wurde zwischen 1898 und 1901 kurzzeitig, beherrscht von westeuropäischem Kapital, zum größten Ölzentrum der Erde. Öl wurde wirtschaftlich und militärisch immer wichtiger (Massarrat, 1998), vor allem als Treibstoff für die Kriegsflotten der Großmächte. Um die Rohstoffbeschaffung für die englische Kriegsflotte sicherstellen zu können, kaufte der Royal-Dutch-Shell Konzern 1912 die Besitzungen des französischen Bankiers Rothschild am Kaspischen Meer. Damit hatte englisches Kapital die Vorhand in diesem Gebiet.

Die Oktoberrevolution
und westliche Erdölinteressen

Nach der Oktoberrevolution von 1917 entstand eine neue Situation. England unterstützte zur Wahrung seiner Interessen am kaspischen Öl den antibolschewistischen Widerstand in Russland. Bereits 1916 hatten England und Frankreich in einem Geheimabkommen ihre Interessensphären abgegrenzt (Massarrat, 1998 und Rauch, 1990). Danach gehörten der gesamte Kaukasus und der transkaspische Raum zum englischen Einflussgebiet. Dementsprechend hatte England bereits mit dem Ausbruch der Oktoberrevolution das angrenzende Persien besetzt um seine strategischen Interesssen zu sichern. Auch Deutschland unternahm noch kurz vor der Niederlage im Ersten Weltkrieg einen ersten Anlauf um Zugang zu den Bodenschätzen und dem Erdöl Transkaukasiens zu erhalten. Und zwar über den Weg als Protektoratsmacht des unabhängigen Georgiens. Zwischen 1918 und 1920 besetzten dann aber englische Truppen neben Batumi auch ganz Aserbeidschan inklusive Baku. England und die Entente hatten hier tatsächlich viel zu verlieren; insgesamt 68 britische Firmen hatten 21,6 Millionen Pfund, alle Unternehmer der Entente rund 40 Millionen Pfund in das Geschäft mit dem Öl dieser Region investiert.

Nachdem die Rote Armee die kaukasischen Ölfelder zurückerobert hatte, wurde die gesamte Ölindustrie verstaatlicht. Westlichen Forderungen nach Reparationsleistungen kam man nicht nach. Ölkonzessionen, die zur Beschaffung von Kapital und Technik dienen sollten, wurden zwar angeboten, konnten aber wegen des Drucks der USA und ihrer Erdöllobby auf der Haager Konferenz 1922 nicht genutzt werden. Damit setzte sich die Standard Oil gegen ihre europäischen Konkurrenten durch. Ab Herbst 1923 änderte sich die Lage; Russland bot Erdöl auf dem Weltmarkt an. Die zerstörte Wirtschaft brauchte dringend Devisen und alle kauften. Von der italienischen und französischen Kriegsflotte über die Standard Oil of New York bis zu Shell. Der Shell-Konzern unterstützte zugleich massiv antisowjetische Exilkreise. Er gab erst 1929 seine Kampfstellung gegenüber der Sowjetunion auf, just zu einem Zeitpunkt, als sich US-amerikanische Ölfirmen – mit Rockefeller an der Spitze – erfolgreich um günstige Lieferverträge mit der Sowjetunion bemühten.

Der Verkauf sowjetischen Öls sank dann aber aufgrund des hohen Eigenbedarfs rapide bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Erst Ende der Fünfzigerjahre meldete sich die Sowjetunion wieder auf dem europäischen Erdölmarkt zurück.

Die kaspischen Ölfelder
als strategisches Kriegsziel Hitler-Deutschlands

Erklärtes Kriegsziel Hitlers war es, die Ölquellen um Baku und Grosny zu erobern und Russland von der Ölversorgung abzuschneiden. Die Ölgebiete um Baku deckten 1940 ca. 70 Prozent des Ölbedarfs Russlands. Im Verlauf der Sommeroffensive 1942 gelang es dem 40. Panzerkorps der Wehrmacht zeitweilig bis auf 80 km an das Kaspische Meer vorzustoßen. Unterstützt wurde der Vormarsch durch Kosakenschwadronen und kaukasische Freiwilligenverbände, die sich der Wehrmacht angeschlossen hatten. Deutsche Gebirgsjäger bestiegen im August 1942 – als Symbol des Sieges – den Elbrus, den höchsten Berg des Kaukasus. Die Ölfelder von Grosny in Tschetschenien wurden von der SS-Division Wiking in Brand gesteckt und die hier noch verbliebenen Ölraffinerien und Ölvorräte vom Luftwaffengeschwader Richthofen zerstört (Semjonow, 1973). Die Sowjetunion hatte diese Gefahren vorausgesehen, die Ölproduktion teilweise eingestellt, große Teile der Anlagen demontiert und in das Wolga-Ural-Gebiet verlagert. Dort waren große Ölvorkommen entdeckt worden. Sie konnten aber erst nach und nach verstärkt genutzt werden. Versorgungsengpässe im Kriege wurden teilweise durch die USA behoben. Als Verbündete lieferten sie mehrere Ölraffinerien und beträchtliche Mengen an Ölprodukten.

Erst Mitte der Siebzigerjahre konnten das Wolga-Ural-Gebiet und die ab Mitte der Sechzigerjahre hinzu gekommenen Ölreviere in Westsibirien über 70 Prozent der gesamten sowjetischen Ölförderung sicher stellen (Diercke, 1981). Dem gegenüber verlor das kaukasische Erdöl an Bedeutung. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg hatten dort die alten, landseitigen Fördergebiete immer deutlichere Anzeichen der Erschöpfung gezeigt. Die gewaltigen, unter dem Boden des Kaspischen Meeres verborgenen Öl- und Gasschätze wurden aber bis zum Ende der Sowjetunion nur begrenzt erforscht und eine veraltete Fördertechnik beschränkte ihre Nutzung. Bedeutende Investitionen blieben auf Sibirien konzentriert.

Für die Energieversorgung hat seit dem Zweiten Weltkrieg weltweit die Rolle des Erdgases enorm zugenommen und mit dem Erdöl praktisch gleichgezogen. Die verstärkte Förderung von Erdgas in den Fünfzigerjahren im Nordkaukasus und neue Ölfunde hatten insbesondere für die Entwicklung in Dagestan und Tschetschenien beträchtliche Bedeutung. In den mittelasiatischen Republiken wurden Ende der Fünfzigerjahre große Erdgaslagerstätten – in etwa zeitgleich dazu auch große Erdölvorräte – entdeckt und genutzt. Inzwischen sind weitere bedeutende Erdöl- und Erdgasfunde in der kaspischen Region hinzu gekommen.

Die neue Lage
nach dem Ende der Sowjetunion

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war es ruhig in der Region am Kaspischen Meer. Das änderte sich jedoch schlagartig nach dem Ende der Sowjetunion. Als sie sich 1991 auflöste, entstanden in diesem Gebiet acht selbstständige Staaten, Staaten mit undemokratischen Verhältnissen, großen Minderheiten-Problemen und einem krassem Sozial- und Einkommensgefälle. Alle Staaten gehören zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), deren mächtigstes Mitglied die Russische Föderation ist.

Gleichzeitig haben die teils bekannten, teils neu entdeckten Öl- und Gasreichtümer in der Region einen weltweiten Wettlauf um ihre Ausbeutung ausgelöst. Die neuen Nationalstaaten sind gemeinsam mit großen internationalen Öl- und Gaskonzernen dabei, ihre Rohstoffvorkommen zu erschließen und auszubeuten. Zu einem Anwachsen des Lebensstandards der verarmtem Massen hat das bisher nicht geführt.

Zur Größenordnung der Bodenschätze gibt es unterschiedliche Angaben. Als tatsächlich gesichert gelten beim Öl ca. drei Milliarden Tonnen (Zum Vergleich: Saudi-Arabien verfügt allein über gesicherte Vorkommen von 35 Milliarden Tonnen Rohöl). Das entspricht zwei Prozent der Weltreserven und erreicht in etwa die Größenordnung der Nordseevorkommen (SPD-Bundestagsfraktion, 1998). Die Erwartungen reichen aber bis zu 28 Milliarden Tonnen. Erschließbare Bestände bis zehn Milliarden Tonnen (das wären sieben Prozent der bekannten Weltreserven) sind wahrscheinlich. Beim Erdgas gelten in der Region acht Billionen Kubikmeter (sechs Prozent der Weltreserven) als gesichert, vermutet werden aber 18 Billionen Kubikmeter. Detaillierten Aufschluss über die Vorkommen gibt eine 1998 erschienene, umfangreiche Studie der Internationalen Energie Agentur, eine Einrichtung der OECD, die für Politik und Investoren erarbeitet wurde (International Energy Agency, 1998).

Ölpipelines und Großmacht- interessen in der kaspischen Region

In den Siebzigerjahren gelang es den in der Organisation Erdöl exportierender Staaten (OPEC) zusammengeschlossenen Ländern kurzzeitig anstelle der Ölkonzerne die Regieführung bei der Preis- und Angebotsregulierung auf den internationalen Energiemärkten (»Ölkrise« 1973) zu übernehmen. Eine Herausforderung für die seit 1961 in der OECD zusammengeschlossenen Industriestaaten, in ihrem Mittelpunkt die »Triade« USA-Japan-EU. Die Gegenstrategie wurde maßgeblich vom damaligen US-Außenminister Kissinger bestimmt. Sie bestand darin unabhängig von der OPEC eine dauerhaft störungsfreie Ölversorgung auf Billigpreisniveau – auch unter Einsatz militärischer Mittel – sicher zu stellen. Sie setzte auf eine Steigerung des Angebots der Energieträger Öl, Gas, Kohle und die Atomenergie. Dafür wurde auf die Förderung von Energierohstoffen in allen Weltregionen außerhalb der OPEC-Staaten gesetzt. Das Konzept ist aufgegangen und leitete zugleich die Schwächung und Spaltung der OPEC ein.

Erst diese Zusammenhänge verdeutlichen, weshalb der »weiche Unterleib« der früheren Sowjetunion mit seinen strategisch wichtigen energetischen und teilweise mineralischen Rohstoffen ins Visier der OECD-Länder, allen voran von USA und NATO, gerückt ist. Um ihre Interessen durchsetzen zu können bedurfte es einer veränderten militärpolitischen Strategie. Sie wurde bereits 1991 auf dem NATO-Gipfel in Rom mit dem »Neuen Strategischen Konzept des Bündnisses« geschaffen (Scheer, 1999a) und auf dem Jubiläumsgipfel zum 50-jährigen Bestehen der NATO im April 1999 in Washington weiterentwickelt um der NATO die Möglichkeit zu geben, auch in Ländern jenseits des Bündnisgebietes und nicht nur im Verteidigungsfall militärisch einzugreifen. Die beschworene Verteidigung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten kann nicht verbergen, dass es den großen, in der OECD zusammengeschlossenen Industriestaaten im Kern letztlich um die Durchsetzung ihrer wirtschaftspolitischen Interessen geht und die NATO deshalb für »out-of-area«-Einsätze um- und ausgerüstet wird. Transkaukasien ist für die OECD-Staaten, allen voran die USA, eine hervorragende Möglichkeit sich von den längerfristig versiegenden Ölquellen am Persischen Golf unabhängiger zu machen. Schließlich verbrauchen allein die USA jährlich etwa 25 Prozent des weltweiten Ölangebots. Die Europäische Union hat ebenfalls Interessen, weil mittelfristig ihre eigenen Vorräte schrumpfen. Es geht also um die Kontrolle der Ressourcen in der Region, um den Einstieg in lukrative Geschäfte in allen Wirtschaftsbereichen und den Aufbau stabiler marktwirtschaftlicher Systeme, die mit dem Westen langfristig verbunden sind.

Die politischen Bestrebungen der USA laufen darauf hinaus, strategisch gesehen einen Keil zwischen Russland und den ölreichen mittleren Osten zu treiben und zugleich die NATO bis an die innerasiatische Grenze Chinas und zum Himalaya auszudehnen (Ronnefeldt, 1999 und Scheer, 1999b). Ohne die europäischen Mitgliedstaaten der NATO ist das nicht möglich. Nur mit ihnen kann eine geographisch ununterbrochene militärische Bündnislinie bis ins Innere Asiens geschaffen werden. Diese Bestrebungen werden dadurch erleichtert, dass die Völker der neuen Nationalstaaten am Kaspischen Meer aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen mit der Sowjetunion selbst Anschluss an den »Westen« suchen.

Politisch gefährlich ist das Ganze inzwischen dadurch geworden, dass osteuropäische und transkaukasische Staaten der ehemaligen Sowjetunion quasi offiziell schon einen Kandidatenstatus bei der NATO erhalten haben. Zu den »NATO-Partnerschaftsländern« die am Jubiläumsgipfel teilnahmen, gehörten nicht nur die Ukraine und Moldawien, Georgien, Kasachstan und Aserbeidschan, sondern auch die mittelasiatischen Staaten Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgistan. Inzwischen haben Georgien, die Ukraine, Usbekistan, Aserbeidschan und Moldawien einen Pakt (GUUAM) geschlossen, mit dessen Hilfe die Beziehungen zum Westen ausgebaut werden sollen. Aserbeidschan hat der NATO und den USA bereits die Einrichtung von Militärbasen auf seinem Staatsgebiet angeboten und strebt eine vollwertige NATO-Mitgliedschaft an. Letzteres ist seit kurzem auch das Ziel Georgiens. Es betrachtet enge Beziehungen zur NATO als wichtigste Garantie für Stabilität im Kaukasus. Usbekistan ist seit April 1999 aus dem von Russland geführten Militärbündnis innerhalb der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ausgeschieden.

Vielerorts im Transkaukasus und Mittelasien beginnt die NATO immer besser Fuß zu fassen (Spiegel, 1999). Militärpersonal wird in ihren Führungsakademien geschult, Verbindungen zu den NATO-Stäben werden hergestellt und gemeinsame Manöver durchgeführt. Vor allem aber wird durch den Kauf von Militärtechnik der Weg zu lukrativen Geschäften für die westlichen Rüstungskonzerne geöffnet. So rüstet beispielsweise Usbekistan konsequent auf US-amerikanische Militärtechnik um und die russischen Rüstungskonzerne haben das Nachsehen. Lediglich Armenien – erbitterter Gegner Aserbeidschans im Karabach-Krieg – ist bislang fester Verbündeter Russlands im Kaukasus. Mit ausschlaggebend dafür sind historische Gründe.

Interesse an den Energieressourcen hat nicht nur der Westen. Ebenso besteht wachsende Energienachfrage aus Süd- und Südostasien. Indien und China stellen ein Drittel der Weltbevölkerung. Beide Länder haben einen dramatisch wachsenden Bedarf an Öleinfuhren. Er steigt jährlich um zwanzig bis dreißig Prozent. Und das bei längerfristig sich erschöpfenden Ölreserven. Interessenkonflikte sind also vorprogrammiert. Gleichzeitig mischen sich die Regionalmächte Türkei und Iran zunehmend in die Verteilungskämpfe ein. Hatte bislang Russland noch aus den Zeiten der Sowjetunion ein Pipeline-Monopol, so wird jetzt besonders hart darum gerungen über welche Trassen Öl und Gas zu den Weltmärkten geschafft werden soll.

Hierbei sind folgende Konflikte und Interessenlagen zu unterscheiden (siehe auch SPD-Bundestagsfraktion, 1998):

  • Strategisches Ziel der USA wie auch der mittelasiatischen Staaten und denen des Kaukasus ist es, das Transportmonopol Russlands um jeden Preis zu brechen. Russland soll dauerhaft aus der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens verdrängt und jede Neuauflage einer Sowjetunion verhindert werden (Linke, 1998). Das russische Transportmonopol kann aber nur mit zusätzlichen Pipelines gebrochen werden, weil die kaspische Region keinen natürlichen Zugang zu den Weltmeeren hat. Alle Staaten der Region sind außerdem an der Durchleitung von Öl und Gas über ihr eigenes Gebiet interessiert. Es geht schließlich um hohe Gebühreneinnahmen und den Einsatz der Durchleitungsrechte als politisches Druckmittel. Doch die in Frage kommenden Routen führen durch Kriegsregionen wie Tschetschenien in Russland, Georgien und Armenien oder die kurdischen Gebiete in der Türkei. Von größtem strategischen Interesse für die USA ist eine Trassenführung von Baku über Georgien zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan. Zu diesem Projekt haben die weltweit größten Ölkonzerne Chevron, Mobil und Shell eine Machbarkeitsstudie finanziert. Eine entsprechende Übereinkunft wurde im Dezember 1998 in Washington im Beisein des US-Energieministers unterzeichnet. Aserbeidschan, Georgien und die Türkei haben sich inzwischen über den Bau der Pipeline geeinigt. Diese Trassenführung schränkt die Kontrolle Russlands weitgehend ein, da seine Pipelines in absehbarer Zeit für die Durchleitung zum Schwarzen Meer nicht mehr gebraucht werden. Dem Westen steht damit zukünftig eine eigene und militärisch abgesicherte Versorgungsmöglichkeit offen. Die Sicherung der Pipeline dürfte das NATO-Mitglied Türkei übernehmen und zugleich den Löwenanteil der Transportprofite einstreichen.

Eine weitere Planung für eine Gaspipelineroute führt von Turkmenistan über Afghanistan nach Pakistan mit späterem Ausbau bis nach Indien. Diese Route wird politisch von den USA und Saudi-Arabien gestützt. Aufbau und Unterstützung der Taliban-Milizen in Afghanistan finden hier ihren eigentlichen Grund. Das Projekt erlitt allerdings im Dezember 1998 einen schweren Rückschlag. Der US-amerikanische Ölkonzern Unocal verließ das Konsortium, dem die Saudiarabische Deltaoil und die japanische Itochu angehören. Die Hoffnungen Turkmenistans haben sich danach mehr auf den Bau einer Gaspipeline gerichtet, die quer durch das Kaspische Meer über Aserbeidschan in die Türkei und nach Europa liefern soll. Inzwischen liegen auch hierfür die Voraussetzungen durch ein Rahmenabkommen vor.

  • Die Europäische Union verfolgt in der kaspischen Region ebenfalls politische und wirtschaftliche Interessen. In diesen Zusammenhang gehören die Partnerschafts- und Kooperationsabkommen und darauf aufbauende Unterstützungsprogramme (TACIS, TRACEA). Die Politik der EU ist jedoch bislang noch von keiner in sich schlüssigen Gesamtstrategie bestimmt. Es fehlt eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). In der Kommission ist dieser Handlungsbereich in zu viele Zuständigkeiten aufgesplittet und die nationalen Interessen liegen häufig zu weit auseinander. Kurzum, das Gewicht der EU ist in der Region noch nicht stark (Erhardt, 1998).

Deutschlands Interessen wie auch die der übrigen Staaten der EU richten sich zum einen auf die langfristige Sicherung der Energieversorgung Europas über die direkte Beteiligung an den großen kaspischen Öl- und Gaskonsortien. Sie richten sich zum anderen auf verschiedene Schwerpunkte: Deutschlands wirtschaftliche Interessen liegen u.a. bei der Beteiligung an Infrastrukturaufträgen sowie bei der Erzeugung und Verteilung von Elektroenergie.

Westeuropa beansprucht etwa 20 Prozent des Welterdölverbrauchs, besitzt aber nur 2 Prozent aller Vorräte. Beim Erdgas ist die Situation nur wenig (3,1 Prozent) besser. Das Interesse Westeuropas an der kaspischen Region ist daher langfristig strategisch angelegt und erfordert den Ausbau der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen. Kaspisches Öl ist aber bis auf weiteres nicht erforderlich (DIW, 1998). Die Länder der EU beziehen heute ca. 80 Prozent des verbrauchten Erdöls aus Drittländern. Dabei verfügen sie derzeit über eine breit angelegte, risikomindernde Importstruktur (Golfregion, Nord- und Westafrika, Russland ). Die Gasvorkommen in der kaspischen Region dürften auf längere Sicht selbst als Ersatzreserve von geringem Interesse sein. Das aktuell realistische Exportpotenzial von Gas aus Turkmenien (es besitzt die größten Vorkommen) von ca. 20 Milliarden Kubikmetern spielt für den europäischen Gasimport (1996: 215 Milliarden Kubikmeter bei einem Gesamtverbrauch von 500 Milliarden Kubikmetern) nur eine untergeordnete Rolle. Zudem ist der Export teuer und derzeit politisch riskant.
Ganz anders sieht die Situation angesichts geringerer Transportkosten für südosteuropäische Länder wie die Türkei, Bulgarien, Rumänien oder die Ukraine aus. Sie sind daher auch immer stärker am Ausbau ihrer politischen Einflusssphäre in der kaspischen Region interessiert. Die Türkei hat zudem wegen ihres wachsenden Erdgasverbrauchs im Dezember 1997 einen Vertrag mit dem russischen Energieriesen Gazprom geschlossen. Gazprom baut eine Erdgaspipeline quer durch das Schwarze Meer (das sogenannte Blue Stream Project) von Russland nach Samsun in die Türkei. Sie soll im Jahr 2000 fertiggestellt sein und wachsende Mengen an Erdgas (16 Milliarden m3 im Jahr 2007) liefern. Die ehemaligen Mitglieder des Comecon wollen sich über den Ausbau ihrer Beziehungen zur kaspischen Region aus der Abhängigkeit von russischen Öl- und Gaslieferungen befreien. Rumänien und Bulgarien streben zudem die Aufnahme in die Europäische Union an und haben vor kurzem den EU-Kandidatenstatus erhalten. Darüber und durch das bereits assoziierte Mitglied Türkei dürfte die Europäische Union nun näher an die Kaspische Region heran rücken. Es ist abzusehen, dass die Europäische Union ihre Interessen dort in den kommenden Jahren verstärkt geltend machen wird.
Künftige profitable Geschäfte wollen gut vorbereitet sein. Deshalb beteiligen sich transnationale europäische Ölkonzerne wie Agip, British Gas, BP, Royal Dutch Shell, Statoil und Total an Förderaktivitäten und Pipeline-Projekten. Sie erreichen allerdings nicht annähernd die Anteile der großen US-amerikanischen Gesellschaften wie Chevron, Exxon, Mobil Oil, Conoco, die bei den wichtigsten Konsortien in Kasachstan und Aserbeidschan inzwischen bei 40 bis 50 Prozent liegen. 1996 flossen 2,5 Milliarden US-Dollar in die Öl- und Gasgebiete der kaspischen Region. im Jahre 1997 waren es bereits 5 Milliarden US-Dollar (Massarrat, 1998).

  • Russland möchte den traditionellen politischen und wirtschaftlichen Einfluss in der Region nicht aufgeben. Es betrachtet die Rolle der USA und der mit ihr verbündeten Türkei mit Sorge und will sich durch den Transit der kaspischen Rohstoffe über russische Pipelines Kontrolle und Profit sichern. Einfluss auf die Öl- und Gasgeschäfte nehmen deshalb auch die halbstaatlichen russischen Konzerne Lukoil und Gazprom. Der Ölkonzern Lukoil ist in den wichtigsten Konsortien Aserbeidschans (AIOC) und Kasachstans vertreten. Lukoil ist aber vor allem am Absatz russischen Erdöls aus seinen sibirischen Vorkommen interessiert. Eine schnelle Entwicklung der Erdölwirtschaft in der kaspischen Region liegt daher nicht unbedingt im Konzerninteresse. Ähnliches gilt für den Gaskonzern Gazprom. Beide Konzerne befinden sich in einem Interessenwiderspruch: Einerseits wollen sie am Erdöl- und Erdgasgeschäft in der Region profitieren, andererseits fürchten sie entstehende Konkurrenz. Sie sind daher nicht wie die westlichen Gesellschaften an einem starken, sondern nur an einem selektiven Engagement interessiert. Aus russischer Sicht heißen hier die Ziele Kontrolle und Dominanz (Götz, 1998).
  • Der Iran, selbst Anrainer des Kaspischen Meeres, sieht sich als natürliche islamische Vormacht der Region und bietet sein gut ausgebautes Pipelinenetz als ideales Transportmittel an. Die kürzeste und sicherste Route für eine Pipeline führt tatsächlich von Baku nach Täbris im Iran und von dort weiter zum Persischen Golf. Durch die Einigung über den Bau der Ölpipeline nach Ceyhan haben sich die USA durchgesetzt. Sie lehnen bislang eine Alternativroute über den Iran aus Sicherheitsgründen ab, auch deswegen, um den Iran in der kaspischen Region zu isolieren (Mac Farlane, 1998). Derzeit ist offen inwieweit mit der sich abzeichnenden Öffnung Irans und dem Ende seiner Isolation seine Pipelines zukünftig doch noch gebraucht werden, denn Erdöl- oder Gasleitungen von Baku bzw. Mittelasien durch den Iran sind wirtschaftlich weitaus günstiger als alle Westrouten. Daran haben gerade die US-Konzerne keinen Zweifel gelassen. Die Isolierung des Iran durch die USA gelingt auch bisher nicht vollständig. So wurde beispielsweise am 29. Dezember 1997 eine Gaspipeline von Turkmenistan nach Iran eröffnet. Sie verfügt vorläufig über eine Kapazität von 2 Milliarden m3 pro Jahr und soll in den nächsten Jahren auf 8 Milliarden m3 erhöht werden.
  • China verschafft sich über eine gigantische Pipeline aus Kasachstan (Vertragssumme: 9,5 Milliarden Dollar) einen Teil der für die eigene wirtschaftliche Zukunft nötigen Energieversorgung und avanciert damit zum Konkurrenten sowohl Russlands als auch der westlichen transnationalen Konzerne (Müller, 1998).

Hinzu kommen die latenten bis offenen ethnischen Konflikte und Minderheitenprobleme. Einige Beispiele kennzeichnen diese für die ganze Region besonders charakteristische Situation:

  • Wenn Aserbeidschan die Interessen Russlands zu sehr mit Füßen tritt, kann Moskau über seinen Einfluss in Armenien auf Baku erheblichen Druck über das Problem Nagorno-Karabach oder eine Unterstützung der Lesgier-Minorität ausüben. Ähnliches gilt für Moskaus Möglichkeiten gegenüber Georgien mit seinen Bürgerkriegsherden in Abchasien und Süd-Ossetien. Diese sind derzeit zwar ruhig gestellt aber nicht beigelegt und beide Konflikte können von Russland genutzt werden. Georgien ist nicht zuletzt deshalb im April 1999 Mitglied des Europarats geworden. Im Hintergrund für diese Entscheidung könnte auch die neu in Betrieb gegangene Ölpipeline stehen, die nun auch Georgien unabhängiger von Russland macht.
  • Eine russlandfeindliche Haltung Kasachstans könnte Moskau beantworten, indem es die kasachischen RussInnen (sie stellen ca. 35 % an der Gesamtbevölkerung) aufwiegelt. Damit dürfte jedoch eher nicht zu rechnen sein, da vor kurzem am Schwarzmeerhafen Noworossijsk der Grundstein für den Bau einer neuen 1580 km langen Ölpipeline gelegt worden ist (Neue Zürcher Zeitung, 1999). Sie wird von hier bis zu den Ölfeldern Tengiz in der Nähe des Kaspischen Meeres in Kasachstan führen. Die Endkapazität der neuen Ölleitung soll 67 Millionen Jahrestonnen erreichen. Die erste Lieferung ist für den 30. Juni 2001 vorgesehen. Die Ölleitung ist die größte Auslandsinvestition Russlands. Der US-Ölkonzern Chevron erschließt seit Jahren das Tengiz-Ölfeld. Das Erdöl wird derzeit über alternative Routen abgesetzt.
  • Umgekehrt könnte ein zu starker russischer Druck die Regierungen von Aserbeidschan und Kasachstan veranlassen den Transit ihrer Öl- und Gasvorkommen endgültig so zu organisieren, dass russischer Boden umgangen wird und die bestehenden russischen Pipelinenetze boykottiert werden.

Krieg, Kriminalität und Chaos im Kaukasus

Nordkauskasus und Transkaukasus stehen in widersprüchlicher Beziehung zueinander. Sie sind einerseits in Konflikten eng verbunden. Andererseits bestehen objektiv gemeinsame wirtschaftliche Interessen. Solche »friedensschaffenden« Gemeinsamkeiten können bislang aber nur ungenügend ausgeschöpft werden, da sie massiv durch miteinander im Konflikt stehende politische und militärstrategische Interessen behindert werden (Kreikemeyer, 1998). Es liegt wesentlich an Moskau, dass sich die Situation nicht bessert. Allerdings werden energiewirtschaftliche Vorhaben häufig auch durch Unabhängigkeitsbewegungen hintertrieben, die die Loslösung von Russland anstreben. Dasselbe gilt für bewaffnete Verbände mit den unterschiedlichsten Zielsetzungen. Hier dominieren Clans, die den Schwarzmarkt, den Drogen- und Waffenhandel beherrschen.

Der Hintergrund für sämtliche Konflikte weist weit in die Geschichte zurück: Das zaristische Russland hatte die Kaukasusvölker mit aller Brutalität in seinen Herrschaftsbereich gezwungen. Anfangs wurden lediglich Steuern eingetrieben und Loyalität abgefordert, aber kaum in die von den KaukasierInnen praktizierte Selbstverwaltung eingegriffen. Später wurde immer weniger Rücksicht auf die Selbstverwaltung genommen, unter Stalin wurde sie dann völlig beseitigt. Die vielen kleinen Völker wurden an den Rand ihrer Existenz gebracht. Sie wurden in das Hochgebirge abgedrängt, von Weide- oder Küstenland abgeschnitten, in großem Umfang vertrieben und zum Teil gewaltsam umgesiedelt. Die Völker des Nordkaukasus erlebten die Besetzung ihrer Heimat als gewaltsame Kolonialisierung. Im Gegensatz dazu verstanden es die führenden Eliten Georgiens und Armeniens sich bereits mit dem zaristischen Russland zu arrangieren und zogen auch später Nutzen aus der Zusammenarbeit. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sind diese nicht gelösten Probleme wieder aufgebrochen und haben zu nationalistischen und separatistischen Bewegungen geführt, die in hohem Maße mitverantwortlich dafür sind, dass missliebige Minderheiten unterdrückt, verfolgt und vertrieben werden.

Die besondere Härte der Konflikte im Nordkaukasus und die Schwierigkeiten ihrer Lösung hängen auch damit zusammen, dass sich vielfach uralte Traditionen entweder zäh halten oder nach dem Ende der Sowjetunion wieder aufleben konnten. So ist das Zusammenleben der Völker dort seit alters her über einen eigenen Moralkodex definiert, die Adat – ein Gemeinschaftsrecht, das sich innerhalb der Sippe, eines Dorfes oder eines Dorfverbandes herausgebildet hat und meist schwerer wiegt als nationales oder religiöses Recht: Mord wird per Blutrache gesühnt, Verfehlungen können mit Sippenhaft bestraft werden. Zugleich ist ein Kriegerethos mit einem eigenen Ehrenkodex lebendig geblieben, der einst den Männern Kampf und Raub auferlegte. Das Tragen privater Waffen ist in weiten Landesteilen nach wie vor unverzichtbarer Teil der Tradition. Selbstverwaltung und Zusammenleben gründen auf Stammes- und Clanstrukturen, die auch in der Sowjetunion nie ganz aufgebrochen werden konnten (Neef, 1997).

Unruhen in Dagestan

Die Islamisten um Schamil Bassajew streben – ganz unabhängig davon, wo die Gründe für den Einmarsch in Dagestan nun tatsächlich gelegen haben mögen –, einen heiligen islamischen Bund der Kaukasusprovinzen an. Er soll Tschetschenien und Dagestan umfassen. Damit würde Russland auch hier an einer weiteren national und geopolitisch hoch empfindlichen Stelle getroffen. Eine Abspaltung Dagestans würde Russland größtenteils vom Kaspischen Meer und den dortigen Öl- und Gasvorräten abschneiden (Bimboes, 1999b). Zusätzlich würde eine Ölpipeline mit bislang hoher strategischer Bedeutung für die russische Außenwirtschaftspolitik verloren gehen, zumindestens aber stark gefährdet. Die Ölpipeline führt kommend von Baku ab der Grenze Aserbeidschans zu Russland durch ganz Dagestan über Tschetschenien nach Noworossijsk am Schwarzen Meer. Diese sogenannte Nordroute wird für Russland in absehbarer Zeit aber keine wichtige Rolle mehr im internationalen Pipeline-Poker spielen können. Durch den beschlossenen Bau der Pipeline nach Ceyhan hat sie nur noch für kurze Zeit eine gewisse Bedeutung.

Derzeit ist nicht damit zu rechnen, dass in Dagestan eine Entwicklung wie in Tschetschenien droht. Bislang liegen die Loyalitäten weitest gehend auf Seiten der russischen Föderation, das war bereits zu Zeiten der Sowjetunion so. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass Dagestan im Gegensatz zu Tschetschenien nach der Rückeroberung des Kaukasus durch die Rote Armee im Jahre 1944 nicht stalinschem Terror ausgesetzt und von brutalen Zwangsumsiedlungen nach Mittelasien betroffen war. Die Deportationen erfolgten, weil Tschetschenien bis in die Vierzigerjahre nicht ganz in den Sowjetstaat integriert werden konnte und eine Hochburg des islamischen Nakschbandiye-Ordens (ein Derwischorden) war. Das ganze Volk wurde vertrieben, obwohl sich die überwiegende Mehrheit am Verteidigungskrieg gegen den Faschismus beteiligte und nur ein kleiner Teil mit ihm kollaborierte. Dieses düstere Kapitel der stalinschen Nationalitätenpolitik erklärt – im Gegensatz zu Dagestan – den starken Willen der Tschetschenen nach Unabhängigkeit von Russland.

Weder die in ihren Clans verwurzelten Geschäftsleute, noch islamische Würdenträger denken an eine Abkehr von Russland. Auch die rasche Aufstellung von Freiwilligenverbänden (zu den Initiatoren zählt u.a. der Chef der Ölgesellschaft Dagneft) zum Kampf gegen die Aufständischen zeigt, dass Basajew mit erbittertem Widerstand aus der Bevölkerung rechnen müsste. Fremden Boden zu erobern – und sei es unter der Losung einer »Befreiung von den Ungläubigen« – gilt im Kaukasus von jeher als schweres Verbrechen.

Der Widerstand könnte aber auch umschlagen und sich nicht nur gegen Eindringlinge, sondern ebenso gegen die Zustände und ihre Verantwortlichen im eigenen Land richten. Schließlich sind die Wurzeln für die blutigen Unruhen nicht nur bei den AnhängerInnen einer konservativen Ausrichtung des Islam (sog. Wahhabiten), sondern gerade auch in der katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Schieflage Dagestans zu suchen. So sind drei Viertel der erwerbsfähigen Bevölkerung arbeitslos! Zugleich wird das kleine Land durch unkontrollierte Binnenwanderung, starke Flüchtlingswellen aus Tschetschenien und wachsende Kriminalität erschüttert. Das und ein weiterer Grund können zum Flächenbrand führen. Nämlich dann, wenn die militärische »Hau-drauf-Mentalität« der derzeit politisch führenden Elite Russlands nicht durch diplomatische Geschmeidigkeit (wie im ersten Tschetschenienkrieg durch Ex-General Lebed) und leistungsfähige Wirtschaftshilfe abgelöst wird. Sie ist entscheidende Voraussetzung dafür, den Kreislauf von Gewalt und Gesetzeslosigkeit zu durchbrechen und ansatzweise innergesellschaftlichen Frieden herzustellen.

Krieg und gesellschaftlicher Verfall
in Tschetschenien

Nach dem Ende der Sowjetunion kamen diverse russische Finanzclans mit ehemaligen Kommunisten an die Macht. In der Zeit der Privatisierung wurden sie reich. Milliarden Rubel standen für Geschäfte mit dem Ausland bereit. Tschetschenien wurde hierfür als »schwarzes Loch« genutzt. Hier gab es keinen Zoll und absolut keine Wirtschaftskontrolle. Mit Hilfe bestochener Staatsangestellter konnten Schmuggelgeschäfte in allen Größenordnungen organisiert werden. Die Wende trat ein, als der damalige Chef der TschetschenInneen, Dudajew, die Gewinne nicht mehr mit den russischen Finanzclans teilen wollte. Das war, so alle Hinweise, im Wesentlichen der Auslöser für den ersten Tschetschenienkrieg zwischen 1994 und 1996 (Info-Radio Berlin, 1999). Der Krieg konnte erst nach mühseligen Verhandlungen durch Ex-General Lebed im Jahre 1997 beendet werden. Die tatsächlichen Gründe für diesen Krieg lagen allerdings tiefer.

Russland geht es in Tschetschenien nicht nur um die Bedeutung als Standort einer Ölraffinerie in Grosny und wichtigem Abschnitt der Ölpipeline (insgesamt 147 km) von Baku nach Noworossijsk. Die Abspaltung Tschetscheniens von Russland hätte den ohnehin drohenden Einflussverlust Russlands in der Region verstärkt. Tschetschenien ist Russlands wichtigster wirtschaftlicher Verkehrsknotenpunkt im Kaukasus. Durch das Land verläuft außerdem die einzige russische Eisenbahnverbindung in den Transkaukasus. Hinzu kommt die erhebliche militärstrategische Bedeutung des Nordkaukasus als Truppenstützpunkt. Er ermöglicht den Zugang zum Krisengebiet Transkaukasus und zur gesamten türkisch-iranischen Grenze. Das radikale tschetschenische Streben nach Unabhängigkeit stellte also nicht nur die territoriale Unverletzlichkeit Russlands in Frage, es traf auch dessen ökonomische und strategische Interessen.

Beide Gegner schafften es dennoch, am 28. April 1998 ein Abkommen über die Durchleitung kaspischen Öls durch Tschetschenien zu unterzeichnen. Dieser Baustein zu verbesserten gemeinsamen Beziehungen ist aber ständig in Frage gestellt worden. So haben rivalisierende tschetschenische Gruppen die Friedenslösung mit Moskau immer wieder gefährdet. Zudem haben sich seit Kriegsende 1997 Kriminalität und Gesetzeslosigkeit ausgebreitet. Wesentliche Stichworte sind hier Geldbeschaffung über das Anzapfen der Ölpipeline und den Verkauf des Öls (Hassel, 1999), Geiselnahmen und Lösegelderpressung, Rauschgiftschmuggel und illegaler Waffenhandel. Inzwischen gibt es sogar wieder einen Sklavenmarkt. Hier werden Menschen an die Clans weiter verkauft. Dort müssen sie kostenlos für den Aufbau des Landes arbeiten. Die Zahl der bewaffneten Aufständischen wird auf fast 20.000 geschätzt. Die hierfür notwendigen Gelder und Waffen können nicht allein aus Schwarzmarktgeschäften und dem Drogenhandel finanziert werden. Bereits im ersten Tschetschenienkrieg sind Milliarden Dollars aus dem Persischen Golf nach Tschetschenien geflossen (Info-Radio Berlin, 1999). Als dafür verantwortliche Staaten wurden Saudi-Arabien, der Jemen und der Iran genannt (Segbers, 1999).

Seit Mai 1998 kam es zu bürgerkriegsartigen Unruhen und bewaffneten Zwischenfällen. Die Ursachen hierfür lagen in Machtkämpfen zwischen den sogenannten Wahhabiten und der gemäßigten Regierung Maschadow. Ihr Machtbereich ist im Wesentlichen auf die engere Umgebung von Grosny beschränkt. Der islamistische Guerilla-Kommandeur Schamil Bassajew und andere »Warlords« haben immer wieder rücksichtslos die Autorität des gewählten Präsidenten untergraben und zugleich das eigene Volk terrorisiert. Eine Stärkung der gemäßigten Kräfte wäre denkbar gewesen, bei einer greifbaren Verbesserung der Lebensverhältnisse. Doch zur Einleitung der dafür notwendigen Maßnahmen war die russische Regierung offensichtlich nicht Willens oder nicht in der Lage.

Inzwischen herrscht seit September 1999 wieder Krieg. Starke russische Militärverbände sind einmarschiert um die abtrünnige Kaukasus-Republik gewaltsam zu besetzen. Nach verlustreichen Kämpfen haben sie Anfang Februar 2000 die Hauptstadt Tschetscheniens, Grosny, eingenommen und müssen sich jetzt wahrscheinlich auf einen langwierigen und blutigen Guerillakrieg einstellen.

Den äußeren Anlass für diesen zweiten Tschetschenienkrieg lieferte der Einmarsch bewaffneter Einheiten des islamistischen Guerilla-Kommandeurs Schamil Bassajew in Dagestan. Hinzu kamen verheerende Bombenanschläge in Moskau, deren Urheber nie gefasst wurden, für die aber pauschal das gesamte Volk von Tschetschenien verantwortlich gemacht wurde. Die tatsächlichen militärstrategischen und ökonomischen Ursachen dieses Krieges sind aber die selben wie beim ersten Tschetschenienkrieg. Bei den politischen Gründen kommt hinzu, dass der Krieg zu diesem Zeitpunkt dem herrschenden Machtkartell im Kreml entgegen kam, da er die Chance bot durch ein hartes militärisches »Durchgreifen« die Popularität des amtierenden russischen Präsidenten Putin zu steigern und damit die Wahrscheinlichkeit, dass er auch der nächste gewählte Präsident Russlands wird. Der Krieg als Mittel zur Sicherung bestehender Machtstrukturen.

Die Entwicklung in Armenien

Bei dem misslungenen Staatsstreich vom 27. Oktober 1999 sind der Premierminister, der Parlamentspräsident und fünf weitere Spitzenpolitiker ermordet worden. Das hat die Krise im Land weiter verschärft. Das Attentat hat nicht nur das Land erschüttert, sondern trägt auch zur Destabilisierung der gesamten Kaukasus-Region bei. Mit dem Anschlag ist ein funktionierendes Machtdreieck mit unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Verankerungen zerstört worden. Regierungschef Sarkisjan und der vom Attentat nicht betroffene Präsident Kotscharjan entstammen der Unabhängigkeitsbewegung von Berg-Karabach und verfügen über viele AnhängerInnen in Verwaltung und anderen Ämtern. Parlamentspräsident Demirtschan war armenischer KPdSU-Parteichef in der früheren Sowjetunion und verfügte über gute Kontakte zu der ehemaligen Landeselite.

Die Hintergründe für den Mordanschlag sind noch unklar. So ist bisher nicht klar, ob das Attentat auf ersten Schritten zur Verständigung über die heikle Berg-Karabach-Frage mit Aserbeidschan beruht. Nationalistische Kreise hatten nach Gesprächen auf Regierungsebene im August 1999 hier von Verrat gesprochen. Andere BeobachterInnen schließen einen wirtschaftskriminellen Hintergrund nicht aus. Auch bei anderen Mordanschlägen in Armenien gab es Hinweise, dass sie von wirtschaftlich rivalisierenden Clans durchgeführt worden sind (Grobe, 1999).

Seit dem Zerfall der Sowjetunion dauert die Krise um Berg-Karabach an. Es geht um die Frage der endgültigen Zugehörigkeit dieses Gebietes zu Armenien oder Aserbeidschan. Historisch betrachtet handelt es sich um einen Teil Armeniens. Mit Ausbruch des Konflikts im Jahre 1988 begann Aserbeidschan die ArmenierInnen aus Karabach zu vertreiben. Das erinnerte die ArmenierInnen an die endlose Kette türkischer Gewalt gegen ihr Volk. Die AserbeidschanerInnen hatten wiederum nicht vergessen, dass Russland gemeinsam mit den ArmenierInnen bis zum Ende der Sowjetunion in Baku alle Schlüsselposten in Staat, Wirtschaft und Handel besetzte. Die ärmeren MoslemInnen wurden zudem um ihr Land gebracht und als billige Arbeitskräfte eingesetzt. Karabach wurde so zum Auslöser lange untereinander aufgestauten Hasses.

Katzenjammer, Pipelinepoker und ein angeschlagenes Transportmonopol Russlands

Inzwischen ist die Erdöl-Euphorie am Kaspischen Meer gedämpften Erwartungen gewichen (Watzlawek, 1999). Das gilt insbesondere für Aserbeidschan.

Zum einen hat dafür der bis vor kurzem dramatische Verfall der Ölpreise (im Schnitt um 31 % im Jahre 1998) gesorgt. Er lag teilweise bereits im Bereich der Förderkosten. Gemäß einer in Branchenkreisen verbreiteten Schätzung wird die Ausbeutung der kaspischen Vorkommen unwirtschaftlich unterhalb eines Ölpreises von 12 Dollar pro Barrel. Anfang 1999 lag der Preis für aserbeidschanisches Öl bei 10 Dollar pro Barrel. Es bleibt abzuwarten, ob der derzeitige Trend zu steigenden Ölpreisen (ca. 24 Dollar pro Barrel im November 1999) auf Grund der jüngst beschlossenen Förderkürzungen der Öl produzierenden Staaten anhält und zu einem stabil hohen Rohölpreis führt.

Zum anderen endeten bislang die Bohrungen westlicher Konsortien allesamt enttäuschend. Entweder wurde kein Öl gefunden und wenn doch, dann in wirtschaftlich uninteressanten Mengen. Langfristig gehen die Ölkonzerne aber noch von positiven Erwartungen aus. Allerdings haben viele Konsortien inzwischen ihre Aktivitäten zurückgeschraubt oder beginnen sogar auszusteigen.

Ungeachtet dessen hat Washington massiv und erfolgreich Druck auf das von BP-Amoco dominierte AIOC-Konsortium (an dem elf Konzerne, darunter die russische Lukoil mit 10 % beteiligt sind) ausgeübt, trotz wirtschaftlicher Bedenken die Ölpipeline Baku-Ceyhan zu bauen. Am Rande der Gipfelkonferenz der OSZE am 18./19. November 1999 in Istanbul ist ein Rahmenabkommen über den gemeinsamen Bau von Aserbeidschan, Georgien, der Türkei und den USA unterzeichnet worden. Für den Bau einer Erdgaspipeline von Turkmenistan in die Türkei, über die zugleich Gas aus Kasachstan geliefert werden kann, wurde ein Abkommen zwischen Turkmenistan, Kasachstan, der Türkei und den USA geschlossen. Den Vertragsabschlüssen wohnte US-Präsident Clinton bei (Neue Zürcher Zeitung, 1999b und Handelsblatt, 1999).

Damit haben es die USA zusammen mit dem britischen Konzern BP-Amoco erreicht, Russland in der Region weitgehend auszuschalten und von ihm ungehindert Transkaukasiens und Mittelasiens Rohstoffe auf die Weltmärkte gelangen zu lassen (Ehlers, 1999).

Bereits im April 1999 war es gelungen, eine erste Bresche in das russische Transportmonopol zu schlagen. So konnte eine neu erbaute, kleinere Ölpipeline von Baku zum georgischen Schwarzmeerhafen Supsa in Betrieb genommen werden (A.R., 1999). Diesem kleineren Etappenziel kommt inzwischen besonderes Gewicht zu, da die Unruhen in Dagestan und der neuerliche Krieg in Tschetschenien die Nordroute (hier bestehen mit dem AIOC Durchleitungsverträge, falls die Leitungskapazität nach Supsa nicht ausreicht) praktisch seit Juli 1999 lahmgelegt haben.

OSZE stärken –
die Konfliktsituation entschärfen

Unter dem Eindruck dieser konfliktbeladenen Situation haben sich strategische Allianzen gebildet. Ihre Frontlinie verläuft mitten durch die kaspische Region. Auf der einen Seite haben sich die USA, die Türkei, Aserbeidschan und Georgien verbunden. Auf der anderen Seite stehen Russland, Iran, Armenien und mit Einschränkungen Turkmenistan. Zu dieser besorgniserregenden Lagerbildung gesellt sich noch eine instabile Situation im Innern der ehemaligen mittelasiatischen Sowjetrepubliken. Hier eignen sich winzige Eliten, Clans und Oligarchien die Reichtümer an. Gleichzeitig wächst das soziale Elend der breiten Bevölkerung. Menschenrechtsverletzungen, religiöse und ethnische Spannungen sind an der Tagesordnung.

Die Instrumentalisierung dieser Problemlagen durch von außen kommende Interessen, so die zunehmende Rücksichtslosigkeit der US-amerikanischen Außen- und Wirtschaftspolitik gegenüber Russland, droht die Region weiter zu destabilisieren und die Spannungen anzuheizen. Ohne vorbeugende politische Maßnahmen kann hier eine »Zweite Golfregion« samt ihrer Dauerkrise entstehen, allerdings mit einem wesentlich höheren Gefährdungspotenzial für den Weltfrieden. In dieser Region ist die »Atommacht« Russland direkt betroffen und einige politische BeobachterInnen sehen bereits heute die Gefahr, dass es bei einer weiteren Isolation Russlands durch die westliche Staatengemeinschaft zu einem Dreierbündnis Russland-Indien-China kommen könnte. Damit drohe ein neuer »Ost-West-Konflikt«, verbunden mit einer rasant wachsenden Aufrüstung. Bei diesem Konflikt würde es dann gerade auch um fossile Energieressourcen gehen. Dafür spricht die Tatsache, dass der weltweite Verbrauch fossiler Energie – bleibt er so hoch wie bisher ohne jeden Zweifel in den nächsten 20 bis 30 Jahren auf jenen Bereich zusteuern wird, in dem sich die Kurven abnehmender Verfügbarkeit und hohen Verbrauchs immer näher kommen und schließlich kreuzen (Scheer, 1999c).

Vor diesem Hintergrund ist eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung unter Einbeziehung Russlands unabdingbar (Lutz, 1999). Eine geeignete Grundlage für eine solche Politik bietet die OSZE, wenn sie hierfür im Sinne eines wirksamen regionalen Systems kollektiver Sicherheit ausgestaltet wird. Die Ausdehnung der NATO bis an die Grenzen Russlands und auf immer mehr Staaten, gerade auch im Krisengebiet von Kaukasus und Mittelasien, steht dem allerdings diametral entgegen (Bahr, 1999).

Unabhängig von diesen Überlegungen ist bereits kurzfristig die Rolle der OSZE in der kaspischen Region zu stärken. Die betroffenen Staaten scheinen daran interessiert zu sein, schließlich hat sich die OSZE bei ihren Missionen in Georgien und Tschetschenien Verttrauen erworben. Eine Stärkung der Rolle der OSZE kann auch Russland nicht provozieren. Es fordert selbst seit längerem eine Aufwertung der OSZE. Hierfür muss die Organisation aber personell und finanziell besser ausgestattet werden. Erste Zeichen hierfür sind mit der auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul am 18./19.11.1999 verabschiedeten Sicherheitscharta gesetzt worden. Sie ist das wichtigste Dokument dieses Gipfels und enthält Beschlüsse über die Schaffung neuer Intrumente, die der OSZE eine bessere Koordination ihrer verschiedenen Einzelmissionen und ein schnelleres und wirkungsvolleres Eingreifen in Krisen ermöglichen sollen. Erneut bekräftigt wurde – wie bereits auf vorherigen Gipfelkonferenzen – die im Grundsatz gebilligte Aufstellung von OSZE-Friedenstruppen. Eine Absicht, die aber bislang aus bekannten Gründen gescheitert ist.

Ein kleines, zusätzliches Element für mehr Sicherheit in der Region bietet auch der von der EU initiierte Energie-Charta-Vertrag ( ECT ). Er soll eine rechtlich gesicherte, langfristige Zusammenarbeit im Energiesektor ermöglichen. Es ist der erste Versuch, die Länder der GUS künftig in die Weltwirtschaft einzubinden. Der Vertrag trat am 16.4.1998 in Kraft und ist bisher von 32 Staaten, darunter allen acht Staaten der Region, ratifiziert worden, allerdings noch nicht von Russland und den USA. Der Vertrag schafft verlässliche Rahmenbedingungen für Investitionen in Lagerstättenerkundung, Förderprojekte und
Pipelinenetze. Zugleich hält er Instrumente zur garantierten Vertragserfüllung bereit und sichert die freie Durchleitung von Öl und Gas. Ferner bietet er in Streitfällen ein wirksames Schlichtungsverfahren an. Einige Voraussetzungen für eine gemeinsame, friedliche Zukunft bestehen also, wenngleich auch Vieles bislang nur auf dem Papier steht.

Eine dauerhaft friedliche Zukunft wird sich aber nur erreichen lassen, wenn die gesamteuropäische Sicherheitsstruktur zielstrebig mit der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft verbunden wird. Ohne innergesellschaftlichen Frieden ist auf Dauer auch kein äußerer Friede zwischen den Völkern zu erreichen. Vordringlich muss dafür in Mittelasien, insbesondere aber im Kaukasus, das größte Problem gelöst werden: Das Problem zwischen dem Recht eines Staates auf territoriale Unverletzlichkeit einerseits und dem Selbstbestimmungsrecht eines Volkes oder einer Minderheit, die von einer Mehrheit einer anderen Bevölkerung umgeben ist, anderseits. Ohne mehr Gerechtigkeit in der Weltwirtschaft, ohne die Anhebung des Lebensstandards in dieser Region ist dieses Problem sicher nicht zu lösen. Gerade, wenn man die kaspische Region betrachtet, sieht man, dass zu einer neuen Weltwirtschaftsordnung stabile Energierohstoffpreise, eine sparsame Bewirtschaftung der kostbaren fossilen Energierohstoffe, ein nachhaltiger Klimaschutz und der Aufbruch in die Solarwirtschaft gehören müssen. Das gilt auch dann, wenn dafür Macht und Einfluss der Energiekonzerne, die über ihre marktbeherrschende Stellung die Erzeugerpreise drücken und den Raubbau forcieren, eingeschränkt werden müssen.

Literatur:

A.R. (1999): Verflogene Erdöl-Euphorie am Kaspischen Meer; in: Neue Zürcher Zeitung vom 19.04.1999.

Bahr, Egon (1999): Neue Probleme des Friedensschlusses am Ende dieses Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 108.

Bimboes, Detlef (1999a): Zündstoff Öl und Gas – alter und neuer Krisenherd am Kaspischen Meer, überarbeiteter Vortrag für die Frühjahrstagung der Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft, Hannover.

Bimboes, Detlef (1999b): Unruhen in Dagestan, in: Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 109.

Diercke (1981): Weltwirtschaftsatlas 1 – Rohstoffe, Agrarprodukte, dtv-Westermann Verlag, Braunschweig.

DIW-Diskussionspapier Nr. 171 (1998): Die Energiewirtschaft am Kaspischen Meer: Enttäuschte Erwartungen – unsichere Perspektiven, Berlin, Juli.

Ehlers, Kai (1999): Auf Tuchfühlung mit dem Kalten Krieg, in: Freitag vom 26.11.1999.

Erhardt, H. G. und Thränert, O. (1998): Die Rolle von NATO; EU und OSZE in der Kaspischen Region, in: Aus Politik und Zeitgeschichte – Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Nr. B 43 44/98 vom 16.10.

Götz, Roland (1998): Geopolitische Rivalen oder Partner? Russland und China in der Region des Kaspischen Meeres, in: Blätter für deutsche und internationale Politik Nr.10.

Grobe, Karl (1999): Karabach-Streit als Motiv? Hintergrund des des Attentats in Armenien bleibt unklar, in: Frankfurter Rundschau vom 29.10.1999.

Handelsblatt (1999): Bau von neuen Gas- und Öl-Leitungen zum Mittelmeer ist perfekt, in: Handelsblatt vom 22.11.1999.

Hassel, Florian (1999): Kein Krieg aus der Portokasse, in: Frankfurter Rundschau vom 16.10.1999.

Info-Radio Berlin (1999): Forum zu Tschetschenien am 21.11.1999 von 14.00–15.00 Uhr.

International Energy Agency (1998): Caspian Oil and Gas, The Supply Potential of Central Asia and Transcaucasia, OECD-Verlag, Bonn.

Kreikemeyer, A. (1998): Konflikt und Kooperation in der Kaspischen Region, in: Erhardt, 1998.

Linke, Peter (1998): Die letzte Ölung, in: Freitag Nr.12 vom 13. März.

Mac Farlane, S. Neil (1998): Amerikanische Politik in Zentralasien und im Transkaukasus, in: Erhardt, 1998.

Massarrat, Mohssen (1998): Das Dilemma der ökologischen Steuerreform, Metropolis-Verlag, Marburg.

Müller, F. (1998): Ökonomische und politische Kooperation im Kaspischen Raum, in: Erhardt, 1998.

Neef, Christian (1997): Der Kaukasus – Russlands offene Wunde, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin.

NZZ (1999a):Eine Ölleitung von Kasachstan zum Schwarzen Meer, in: Neue Zürcher Zeitung vom 27.05.1999;

NZZ (1999b): Bericht über Einigung beim Bau der Pipeline nach Ceyhan, in: Neue Zürcher Zeitung vom 06./07.11.1999.

Rauch, Georg von (1990): Geschichte der Sowjetunion, Kröner-Verlag, Stuttgart.

Ronnefeldt, Clemens (1999): Stärkung des Rechts statt Recht des Stärkeren – Ein ziviles Europa muss die amerikanische Politik korrigieren, in: Presseerklärung/Artikeldienst des Versöhnungsbund e.V. vom 14.01.1999.

Scheer, Hermann (1999a): Vom unaufhaltsamen Aufstieg der NATO; in: Frankfurter Rundschau vom 21.04.1999.

Scheer, Hermann (1999b): NATO-Erweiterung bis nach Asien?, in: die tageszeitung vom 07.05.1999.

Scheer, Hermann (1999c): Es droht das größte Gemetzel seit Menschengedenken, in: Frankfurter Rundschau vom 9.10.1999.

Segbers, K. (1999): Wir haben dort schon ein Pulverfass, in: Frankfurter Rundschau vom 4.12.1999.

Semjonow, Juri (1973): Erdöl aus dem Osten Die Geschichte der Erdöl- und Erdgasindustrie in der Sowjetunion, Econ-Verlag, Düsseldorf/Wien.

Simonitsch, Pierre (1999): Der Balkan als Teil eines politischen Erdbebengürtels; in: Frankfurter Rundschau vom 27.04.1999.

Spiegel (1999): NATO-Enge Umarmung, in: Der Spiegel vom 05.07.

SPD-Bundestagsfraktion (1998): Positionspapier: Zukunftsregion Kaspisches Meer, Bonn im Juni.

Watzlawek, Georg (1999): Bakus Öl-Bonanza bleibt ein Traum; in: Handelsblatt vom 12./13.03.1999

Lutz, Dieter S. (1999): Dem Frieden dienen! Zur deutschen Sicherheitspolitik nach dem Krieg, in: Friedensgutachten 1999, LIT Verlag Münster.

Der vorstehende Text von Dr. rer. nat. Detlef Bimboes, Wiesbaden, basiert auf einem Beitrag zum 6. Friedenspolitischen Ratschlag in Kassel am 4./5.12.1999.

Das Konfliktpotenzial von Großstaudämmen

Mehr als nur Energie:

Das Konfliktpotenzial von Großstaudämmen

von Heike Drillisch und Evelyn Ebert

Wasserkraft gilt als saubere Energie und damit als gute Alternative zu fossilen Energieträgern und Atomkraftwerken. Bei dieser Betrachtungsweise werden jedoch oft die ökologischen, kulturellen und sozialen Auswirkungen von Staudammbauten vernachlässigt, die ein enormes Konfliktpotenzial in sich bergen. In Ghana, Uganda, Chile, China und Sudan – in allen diesen Ländern führten Staudammbauten zu massiven Auseinandersetzungen. Auch das geplante Ilisu-Wasserkraftwerk in der Türkei verdeutlicht die mit Großstaudämmen verbundenen Konflikte auf drastische Weise, wie die Autorinnen im folgenden Artikel aufzeigen.

Der Ilisu-Staudamm ist das derzeit größte Wasserkraftprojekt der Türkei. Er soll den Tigris kurz vor der Grenze zu Syrien und Irak aufstauen und einen 313 km² großen See schaffen. Das geplante Wasserkraftwerk soll eine Kapazität von 1.200 MW haben und eine Leistung von 3.833 Gigawattstunden erbringen. Ein internationales Konsortium wurde von der türkischen Regierung mit dem Bau beauftragt. Mit dabei ist die deutsche Baufirma Ed Züblin1. Staatliche Exportkreditversicherungen wie die deutschen Hermesbürgschaften sollen das Risiko des Projekts absichern. In den Jahren 2001/02 war ein erster Versuch, das Projekt zu realisieren, gescheitert, da der Großteil der damals beteiligten Firmen sich aufgrund der ungelösten ökologischen und sozialen Probleme aus dem Projekt zurückzog.

Durch die Talsperre werden 50-80.000 Menschen ganz oder teilweise ihre Existenzgrundlage verlieren. Profitieren werden etliche Großgrundbesitzer in der von extrem ungleicher Landbesitzverteilung geprägten Region, da sie hohe Entschädigungszahlungen erhalten werden. Des weiteren werden Tausende von Kulturgütern, die nicht einmal ansatzweise erforscht sind, darunter die 10.000 Jahre alte Stadt Hasankeyf mit ihrem hohen Symbolwert für die Bevölkerung, in den Fluten untergehen. Aus ökologischer Sicht wird die Aufstauung des Tigris zu einer dramatischen Verschlechterung der Wasserqualität, zu gravierenden Veränderungen der Flusshydrologie und zur Abnahme der Biodiversität in der Region führen.

Der Ilisu-Staudamm ist Teil des Südostanatolienprojektes GAP (Güneydogu Anadolu Projesi), das 22 Staudämme und 19 Wasserkraftwerke an den grenzüberschreitenden Flüssen Euphrat und Tigris umfasst. Sind alle Dämme und Kraftwerke errichtet, sollen jährlich 27 Mio. kWh Strom erzeugt2 und damit der wachsende Energiebedarf der Türkei gedeckt werden. Das GAP soll nach Aussage der türkischen Regierung einen Beitrag zur gesellschaftlichen Stabilität und zu wirtschaftlichem Wachstum leisten und den Anschluss des rückständigen Südostanatolien an den Rest des Landes unterstützen. Bisher wurden allerdings vor allem die Staudammbauten vorangetrieben, von einer wirklichen Entwicklung der Region ist wenig zu spüren. In einem geostrategisch brisanten Gebiet, in dem die Interessen wasserarmer und wasserreicher Staaten aufeinander treffen, führt dieses Megaprojekt zu inner- und zwischenstaatlichen Konflikten.

Innerstaatliche Konflikte

Das GAP-Projekt liegt in einem Gebiet, dessen kurdischer Bevölkerung seit Jahrzehnten die Anerkennung ihrer eigenen Identität verweigert wird, was zu einem 16jährigen Bürgerkrieg zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei PKK und dem türkischen Militär und Paramilitärs geführt hat. Trotz Waffenstillstand kommt es in der Region, die noch stark vom Krieg gekennzeichnet ist, immer wieder zu Repressionen gegenüber der kurdischen Bevölkerung. Ende März 2006 kam es z. B. im Zusammenhang mit Militäroperationen zu mehreren Todesfällen von Zivilisten, was zu Massendemonstrationen führte, gegen die wiederum Militär eingesetzt wurde. In einem derartigen Klima der Gewalt ist es für die Betroffenen schwer, ihre Meinung zu äußern und ihre Interessen zu vertreten. Vom Projektbetreiber durchgeführte Befragungen der Bevölkerung dienten offensichtlich vor allem dazu, die internationalen Finanziers zufrieden zu stellen; an internationalen Standards gemessen, waren sie so mangelhaft, dass von einer wirklichen Beteiligung der – häufig uninformierten – Bevölkerung nicht die Rede sein kann. Der im Herbst 2005 vorgelegte Umsiedlungsplan lässt erwarten, dass die große Mehrheit der vom Verlust ihrer Lebensgrundlagen Betroffenen keinen ausreichenden finanziellen Ausgleich bekommen wird. Armut und Entwurzelung sind das zu erwartende Schicksal für die meisten Umzusiedelnden. Von einem Teil der Betroffenen werden die im Rahmen des GAP geplanten Dämme, darunter der Ilisu-Staudamm, deshalb auch als ein Mittel empfunden, mit dem der türkische Staat seine Kontrolle über die Region erhöhen will.

Zwischenstaatliche Konflikte

Das Ilisu-Projekt verschärft darüber hinaus die Auseinandersetzungen um die kostbare Ressource Wasser in der Region. Die türkische Regierung setzte die bestehenden GAP-Dämme am Euphrat bereits als Waffe ein. Sie forderte z. B. von Syrien ein Ende der Unterstützung der PKK mit der Drohung, dass die Wasserfließmenge geändert werden könnte. Als der Atatürk-Stausee gefüllt wurde, musste Syrien einen Monat ohne Euphratwasser auskommen. Während des Golfkrieges 1991 reduzierte die Türkei, NATO-Mitglied und jetzt in der »Koalition der Willigen«, kurzzeitig den Wasserabfluss des Euphrats um 40%. Der ehemalige türkische Staatspräsident Demirel begründet die Anwendung dieses Machtmittels wie folgt: „Mit dem Wasser ist es so wie mit dem Öl: wer an der Quelle des Wassers sitzt, hat ein Recht darauf, das ihm niemand streitig machen kann.“3 Mit dem Bau des Ilisu-Staudamms erhielte die türkische Regierung nun die Möglichkeit, auch den Wasserlauf des Tigris zu unterbrechen oder umgekehrt gezielt Überflutungen herbei zu führen.

Auch in spannungsfreien Zeiten wird der Staudamm gravierende Auswirkungen auf die Wasserqualität und –quantiät der Unteranlieger haben und die Nutzungsmöglichkeiten des Tigriswassers erheblich einschränken. Da die Abwässer aus der Landwirtschaft und den umliegenden Städten und Dörfern großenteils ungeklärt in den Tigris fließen, wird das Wasser des Stausees mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr giftig sein, was große Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung mit sich bringt. Diese machen naturgemäß an den Staatsgrenzen nicht halt. Zudem ist unterhalb von Ilisu ein weiterer Staudamm für Bewässerungszwecke geplant, der Cizre-Staudamm, so dass zu befürchten ist, dass in trockenen Sommermonaten kaum noch Tigriswasser die Grenze passieren wird. Die Planungen für den Ilisu-Staudamm lassen keinerlei Bemühungen von türkischer Seite erkennen, einen Interessenausgleich mit den Nachbarstaaten Syrien und Irak herbeizuführen. Weder die irakische noch die syrische Regierung wurden offiziell informiert, noch wurden sie konsultiert, um ihre Anliegen in die Projektplanung einzubeziehen. Beide Staaten haben beim ersten Projektanlauf vor fünf Jahren bereits gegen das Projekt protestiert.

Wie der Fall des Ilisu-Staudamms zeigt, sollen Staudammprojekte zwar häufig nach Aussage der sie planenden Regierungen durch Bewässerung und/oder Stromgewinnung zum Wohlstand der Bevölkerung beitragen, können aber sowohl interne Konflikte als auch – im Falle grenzüberschreitender Flüsse – Spannungen mit den Nachbarländern verschärfen. So führen sie keineswegs immer zu den erhofften Wohlstandszuwächsen. Die mit ihnen verbundenen Konflikte und Probleme stehen aber meist im Schatten der ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Interessen der Projektbetreiber.

Internationale Regulierungsmechanismen

Als Reaktion auf die zunehmende Kritik an Großstaudämmen und zur Vorbeugung von Konflikten rund um Staudämme entstand 1998 die Weltstaudammkommission (WCD), in der Staudammbefürworter und -gegner die reichhaltigen Erfahrungen gemeinsam auswerteten. Die Kommission kam zu dem Schluss, dass zur Lösung und Vermeidung der mit Staudammbauten verbundenen Konflikte ein viel breiterer Rahmen als bisher betrachtet werden muss. Die WCD entwickelte einen Ansatz, der auf der Anerkennung von Rechten und der Bewertung von Risiken beruht. Risiken bedeuten dabei nicht nur das Risiko der Betreiber und Investoren, sondern auch die unfreiwilligen Risiken, die die Bevölkerung des Projekts zu tragen hat und die sich unmittelbar auf ihre Existenzgrundlage und ihr persönliches Wohlbefinden auswirken. Aus diesem Ansatz heraus hat die Kommission sieben strategische Prioritäten für die Entscheidungsfindung entwickelt, deren Anwendung zu einer faireren Regulierung der aus dem Staudammbau resultierenden Konflikte führen würde:

  • die Gewinnung öffentlicher Akzeptanz,
  • die umfassende Prüfung von Optionen,
  • die Verbesserung bestehender Staudämme,
  • der Erhalt von Flüssen und Existenzgrundlagen,
  • die Anerkennung von Ansprüchen,
  • die gerechte Teilung des Nutzens,
  • die Einhaltung von Verpflichtungen und Vereinbarungen.

Als grundlegende Werte, die die Entscheidungsfindung bei Staudammprojekten leiten sollen, werden Gerechtigkeit, Effizienz, partizipative Entscheidungsfindung, Nachhaltigkeit und Rechenschaftspflicht genannt. Dies bedeutet für die Projektplanung:

  • alle Interessengruppen werden in den Entscheidungsprozess einbezogen;
  • soziale und umweltrelevante Aspekte erhalten das gleiche Gewicht wie technische, wirtschaftliche und finanzielle Faktoren;
  • allseitig annehmbare, formale und rechtlich bindende Vereinbarungen werden getroffen;
  • über gemeinsam genutzte Flussbecken werden Abkommen geschlossen, die auf dem Prinzip der gerechten und angemessenen Nutzung, der Vermeidung größerer Schäden, der vorherigen Unterrichtung der Partner und den strategischen Prinzipien basieren.

Kommt es zu unüberwindbaren Streitigkeiten, sollen diese in letzter Distanz dem internationalen Gerichtshof vorgetragen werden. Wenn ein Staat einen Staudamm plant oder baut, ohne Verhandlungen auf der Basis von Treue und Glaube durchzuführen, sollen externe Finanzorganisationen ihre Unterstützung zurückziehen.

Ein Teil der von der WCD vorgeschlagenen Verfahrenspunkte ist bereits in internationalen Konventionen verankert. Zu diesen gehören z. B. die UN-Konvention über die nicht-schiffbare Nutzung internationaler Wasserläufe und die Konvention über den Schutz und die Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen der UN-Wirtschaftkommission für Europa.4 Diese schreiben die frühzeitige Information und Konsultation der Anrainerstaaten bei Projekten an grenzüberschreitenden Flüssen vor. Bezeichnenderweise hat die türkische Regierung die Unterzeichnung dieser Konventionen abgelehnt. Deutschland gehört jedoch zu den Unterzeichnern. Zudem ist das Prinzip der Konsultation von Flussanliegerstaaten als Teil des Völkergewohnheitsrechts anzusehen, so dass auch die Türkei daran gebunden ist.

Auch die Richtlinien der Weltbank spiegeln einige der später etablierten WCD-Kriterien wider. So sollen z. B. sowohl die Nachbarstaaten als auch die im eigenen Land betroffene Bevölkerung konsultiert werden, ihre Positionen sollen in die Projektplanung einfließen. Die Richtlinien der Weltbank sind angesichts der bei großen Infrastrukturprojekten auftretenden Probleme sehr unzureichend, und sie sind auch in den letzten Jahren mehrfach aufgeweicht worden. Aber immerhin lehnt die Weltbank seit 1984 eine Finanzierung der GAP-Staudämme ab. Obwohl die am Ilisu-Staudamm beteiligten Unternehmen angegeben haben, das Projekt nur durchführen zu wollen, wenn internationale Standards eingehalten werden, wurde eine ganze Reihe von Weltbankrichtlinien bereits in der Planung des Dammes verletzt. Andere, darunter diejenige zur Staudammsicherheit, wurden überhaupt nicht berücksichtigt.

Dies alles zeigt, dass es diverse Ansätze gibt, um die beim Bau von Staudämmen entstehenden Konflikte im Vorfeld zu minimieren. Den Ansätzen fehlt jedoch bisher eine einklagbare Verbindlichkeit, um den Betroffen Rechtssicherheit zu bieten. Gleichzeitig mangelt es den Projektbetreibern, beteiligten Unternehmen und Finanzinstituten am Willen, diese zu befolgen. Im Falle des Ilisu-Staudamms bedeutet dies, dass die europäischen Firmen und – sollten die Bürgschaften bewilligt werden – die Regierungen der Schweiz, Österreichs und Deutschlands die Verantwortung für die zu erwartenden friedenspolitischen, sozialen und ökologischen Auswirkungen mit übernehmen müssen. Denn Staudämme sind nicht zwingend umwelt- und sozialverträgliche Energieträger: sie produzieren weit mehr als Energie.

Anmerkungen

1) Die Federführung obliegt dem österreichischen Unternehmen VA Tech Hydro, das kürzlich von dem ebenfalls österreichischen Unternehmen Andritz aufgekauft wurde. Aus der Schweiz sind zudem Alstom, Stucky, Maggia und Colenco dabei.

2) Vgl. Homepage des GAP: http://www.gap.gov.tr/gap_eng.php?sayfa=English/Ggbilgi/gnedir.html (31.05.2006).

3) Zit. nach Dietziker (1998): Wasser als Waffe. Türkische Dämme und Schweizer Helfer. Zürich.

4) UN Convention on the Law of the Non-Navigational Uses of International Watercourses (New York 1997); UN/ECE Convention on the Protection and Use of Transboundary Watercourses and International Lakes (Helsinki 1992).

Heike Drillisch, Ethnologin, und Evelyn Ebert arbeiten bei WEED – Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung e.V. in der Kampagne zur Reform der Hermesbürgschaften. In diesem Rahmen leitet Heike Drillisch in Deutschland die europäische Kampagne gegen den Ilisu-Staudamm. Weitere Informationen: www.weed-online.org/ilisu.