Quantitative Begrenzungen von Raketenabwehrsystemen

Quantitative Begrenzungen von Raketenabwehrsystemen

von John Pike

Spätestens seit Reykjavik ist der Zusammenhang zwischen der Abrüstung strategischer Nuklearwaffen und der Begrenzung von Raketenabwehrsystemen deutlich geworden. Im Zentrum der Auseinandersetzungen steht der ABM-Vertrag von 1972, der angesichts neuer technischer Entwicklungen und politisch motivierter Interpretationsversuche ernsten Belastungsproben ausgesetzt ist. Um diesen Vertrag zu erhalten und zu stärken, wurde u.a. auf dem Hamburger Naturwissenschaftler-Kongreß und dem Moskauer Friedensforum ein Kompromiß zwischen beiden Seiten gefordert, der den Weg zur nuklearen Abrüstung öffnet. Die bislang konkretesten Vorschläge für eine mögliche Einigung wurden Anfang 1987 von John Pike von der Federation of American Scientists ausgearbeitet und in einem mehr als 100seitigen Papier mit zahlreichen quantitativen Grenzwerten und Tabellen zusammengefaßt, das in Auszügen in den Proceedings zum Hamburger Verifikationsworkshop erschienen ist. Angesichts der Verhandlungen zwischen USA und UdSSR sowie zwischen US-Kongreß und US-Regierung über Grenzen für SDI-Versuche geben wir einige übersetzte Auszüge aus der Einleitung zu diesem Papier wieder.

Neue Entwicklungen bei Raketenabwehrtechnologien (BMD: Ballistic Missile Defense) stellen eine große Herausforderung für den Anti Ballistic Missile (ABM)-Vertrag von 1972 dar. Um einem Dilemma vorzubeugen, wurde eine Reihe verschiedener konzeptueller Ansätze vorgeschlagen, den ABM-Vertrag an die Entwicklung der BMD-Technologie anzupassen. Aber die Schwierigkeit, die richtigen Antworten auf diese Probleme zu finden, läßt vermuten, daß wir die falschen Fragen stellen. Eine neue Art des Denkens über den ABM-Vertrag und über ballistische Raketenabwehrtechnoloqie ist notwendig.

Über die letzten zwei Jahre hinweg hat sich die Diskussion auf die Debatte über die breite Auslegung des ABM-Vertrages durch die Reagan-Administration konzentriert, nach der der Vertrag nicht das Testen von exotischen BMD-Technologien begrenzen würde. Es wird in wachsendem Maße deutlich, daß diese Interpretation des Vertrages ohne rechtlichen oder praktischen Wert ist und nicht eingeführt werden wird.

Die Auflösung der Debatte über die breite Interpretation wird jedoch nicht den Konflikt zwischen der permissiven und der restriktiven Lesart der traditionellen Interpretation des ABM-Vertrages lösen. Der Vertrag verbietet Entwicklung, Test und Stationierung von ABM-Komponenten, die weltraumgestützt, luftgestützt, seegestützt oder mobil landgestützt sind. Der Vertrag gibt mehrere Kriterien dafür an, welche Anlagen Gegenstand dieser Begrenzungen sind:

  1. die Komponenten von ABM-Systemen zur Zeit der Unterzeichnung des Vertrages, nämlich Interzeptoren, Startanlagen und Radaranlagen;
  2. Anlagen, die „in einem ABM-Modus getestet“ worden sind (d.h. gegen strategische ballistische Raketen oder ihre Komponenten auf der Flugbahn);
  3. Anlagen, die „ABM-Fähigkeiten“ haben oder „fähig zur Substitution von“ ABM-Komponenten sind.

Die Reagan-Administration versichert, das SDI-Programm sei konstistent mit dem Vertrag mit der Begründung, SDI entwickle keine Komponenten und würde Tests nicht in einem ABM-Modus durchführen oder ABM-Fähigkeiten aufzeigen; somit seien die in SDI demonstrierten Technologien nicht zur Substitution von ABM-Komponenten fähig. Eine restriktivere Lesart des Vertrages führt jedoch zu dem Schluß, daß viele der Tests von SDI mit dem Vertrag unvereinbar sind. Unglücklicherweise gibt der Vertrag nur unzureichende Richtlinien für die Auswahl der geeigneten Auslegung dieser Begriffe.

Das Kernproblem

Das zentrale Problem ist, daß das Fort schreiten der Technologie die Interpretation der Vertragsbegriffe kompliziert hat. 1972 war die Verifikation von Tests im ABM-Modus ein relativ einfacher Prozeß. Der Betrieb einer Radaranlage konnte durch elektronische Aufklärungssatelliten beobachtet werden, der Start einer Abwehrrakete und der Flug eines Ziel-Eintrittsflugkörpers konnten durch verschiedene Mittel verfolgt werden. Diese Aktivitäten lieferten eine ziemlich unzweifelhafte Basis für die Definition von „im ABM-Modus getestet“.

Aber für die Festlegung, ob eine Verrichtung „im ABM-Modus getestet“ wurde, bedeuten die neuen BMD-Technologien eine größere Herausforderung. Passive Sensoren wie Teleskope, die zur Verfolgung von Zielen verwendet werden können, senden keine Signale ab, und ihr Zusammenwirken mit einem Raketenabwehrtest kann schwierig festzustellen sein. Langreichweitige Abwehrraketen können gegen Satellitenziele getestet. werden, die die Charakteristiken strategischer ballistischer Raketen nachahmen.

Unglücklicherweise ist es auch sehr schwierig zu bestimmen, ob ein Gerät fähig ist, eine ABM-Komponente zu ersetzen oder ob es ABM-Fähigkeiten hat, insbesondere wenn das Gerät auf neuen physikalischen Prinzipien beruht. Der ABM-Vertrag enthält eine präzise quantitative Definition, was eine Radaranlage mit ABM-Fähigkeiten darstellt, aber der Vertrag liefert keine Richtlinie, an welchem Punkt ein Bahnverfolgungs-Teleskop fähig ist, ein ABM-Radar zu ersetzen.

Eine Einigung auf quantitative, numerische Definitionen von ABM-Fähigkeiten könnte dieses Problem lösen. Es mag Fragen darüber geben, was eine „ABM-Komponente“ ist oder was „Entwicklung“ bedeutet, aber es sollte mit einer akzeptablen Fehlerspanne möglich sein zu bestimmen, ob ein Spiegel größer als zwei Meter im Durchmesser ist oder nicht. Diese quantitativen Grenzen würden eine weniger mehrdeutige operationale Definition liefern für die „Entwicklung“ einer „ABM-Komponente“, die „ABM-Fähigkeiten“ hat oder „in einem ABM-Modus getestet“ wurde.

Spezifische Begrenzungen

Ein System zur Abwehr ballistischer Raketen besteht aus vier Elementen – Waffen, Waffenstartanlagen, Sensoren und Gefechtsführung (battle Management). Es wird allgemein anerkannt, daß battle management die größte technische Herausforderung für die Vollendung eines Raketenabwehrsystems bedeutet und daß Sensoren größere technische Anforderungen stellen als Waffen und Waffenstartanlagen. Ein Raketenabwehrsystem erfordert das Funktionieren aller vier Elemente, und bei Abwesenheit eines dieser Elemente sind die anderen nur von begrenzter Bedeutung.

Es ist ein unglückliches Paradoxon, daß der technisch anspruchsvollste Aspekt von BMD-Systemen (battle management) zugleich die größten Anforderungen an die Verifikation stellt, während die am wenigsten anspruchsvollen Teile des Problems (Waffen) die geringsten Anforderungen an die Verifikation stellen. Der ABM-Vertrag setzt keine Begrenzungen für Battle-Management-Systeme fest, da von beiden Seiten erkannt wurde, daß solche Begrenzungen schwierig, wenn nicht unmöglich zu verifizieren sein würden.

Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des ABM-Vertrages waren BMD-Sensoren sehr große Radaranlagen, die mehrere Jahre zur Konstruktion benötigten und daher leicht zu verifizieren waren, so daß der Vertrag ein strenges Regime von Begrenzungen für die Stationierung solcher Radare aufstellte. Aber zukünftige Systeme, die passive Sensoren verwenden, wären viel schwieriger zu verifizieren. Das bedeutet nicht, daß solche zukünftigen Sensorsysteme unmöglich zu verifizieren sein werden, oder daß sie von der Begrenzung ausgenommen werden sollten. Allerdings könnten stringentere Einschränkungen von Waffentests notwendig sein, um die Schwierigkeiten bei der Begrenzung von Sensoren zu kompensieren.

Es gibt wahrscheinlich mehrere Dutzend mögliche Leistungsparameter, die ABM-Fähigkeiten definieren könnten. Aber bereits wenige Hauptparameter – Geschwindigkeit, Höhe, relative Geschwindigkeit, Helligkeit und Öffnung – legen die wichtigsten ABM-Fähigkeiten fest; solche Parameter sind zudem ziemlich einfach zu definieren und zu überwachen. Die Begrenzung eines halben Dutzend der kritischsten Leistungsparameter innerhalb eines Regimes quantitativer Grenzwerte dürfte ausreichend sein und würde den Verhandlungsprozeß nicht unnötig verlängern oder belasten.

Fünf quantitative Grenzen sind besonders aussichtsreich:

Waffen

  1. Eine Grenze für die Helligkeit von Lasern;
  2. Grenzwerte für die Höhe, Vorbeiflugdistanz und relative Geschwindigkeit von Versuchen mit Abfangraketen;

Sensoren

  1. Spezifizierungen für die Zahl und den Ort zugelassener Konstruktionen von großen phasengesteuerten Radaranlagen
  2. Begrenzungen für die Öffnungsweite von Spiegeln oder Fenstern weltraum- oder luftgestützter Teleskopsensoren; Sensoren & Waffen
  3. Grenzen für die thermische Leistung von Nuklearreaktoren im Weltraum.

Eine Schranke für Tests, die besonders vielversprechend aussieht, ist eine Grenze für die Helligkeit von Lasern, die eine Funktion der Wellenlänge des Lasers, der Leistung des Lasers und des Durchmessers des Laserhauptspiegels ist. Die Verifizierung solch einer Grenze würde wahrscheinlich die Verwendung von Überwachungsanlagen in der Nähe von identifizierten oder vermuteten Lasereinrichtungen erfordern.

Im Bereich der Waffen mit kinetischer Energie (kinetic energy weapons) sollten wir vielleicht die Festlegung einer spezifischen Grenze betrachten, unterhalb der es erlaubt wäre, Abfangraketen zu testen, und oberhalb der Versuche verboten würden. Solche Tests würden definiert durch die maximale Geschwindigkeit, mit der eine Rakete oder ein Interzeptor in großer Nähe an einem Ziel vorbeifliegen könnten. So würde der Test einer Abfangrakete oberhalb von 40 Kilometern Höhe und innerhalb von 10 Kilometern Abstand zu einem Ziel mit einer Relativgeschwindigkeit von 3 Kilometern pro Sekunde als Entwicklung einer ABM-Komponente mit ABM-Fähigkeiten angesehen werden, die in einem ABM-Modus getestet wird. Dies würde Befürchtungen über taktische Raketenabwehrsysteme abschwächen. Und wenn alle Versuche oberhalb von 40 Kilometern verboten wären, würde dies alle Besorgnisse über Anti-Satelliten-Waffen auflösen.

Die Festlegung, daß alle großen phasengesteuerten Radaranlagen nicht weiter als 350 Kilometer von den Landesgrenzen entfernt gebaut werden dürften und daß jedes Land nicht mehr als 15 solcher Transmitter stationieren kann, würde eine Wiederholung des Krasnoyarsk/Fylingdales-Streit verhindern. Eine Senkung der Vertragsschwelle für ein ABM-Radar um einen Faktor von zehn würde Sorgen über die taktische Raketenabwehr verringern.

Grenzen für die Öffungsweite passiver Teleskopsensoren würden die BMD-Anwendungen solcher Geräte einschränken. Sensorsatelliten zur Raketenabwehr erfordern viel größere optische Systeme als einfache Frühwarnsatelliten. Und flugzeuggestützte Teleskope benötigen viel größere Fensteröffnungen im Flugzeug, als für Astronomie und Aufklärungszwecke notwendig sind.

Begrenzungen für die thermische Leistung weltraumgestützter Reaktoren könnten indirekt Technologien beschränken, die andernfalls schwierig zu begrenzen wären.

Solch ein Grenzwert könnte verizifiert werden durch die Überwachung der Abfallwärme, die durch den Radiator des Reaktors angestrahlt wird. Multimegawatt-Reaktoren würden notwendig sein, um bestimmte Typen von Raketenabwehr-Waffensystemen mit Energie zu versorgen, wie etwa Generatoren neutraler Teilchenstrahlen. Reaktoren mit einigen zehn oder hundert Kilowatt Leistung wären die Voraussetzung fr den Betrieb mehrerer Raketenabwehr-Sensorsysteme.

Wenn die Verifizierung von Grenzen der thermischen Reaktorleistung sich als zu schwierig erweisen sollte, könnte ein ähnliches Ziel erreicht werden durch ein Startverbot für große Anlagen zur Erzeugung von Nuklearenergie. Die Anwesenheit einer großen Menge von nuklearem Brennstoff könnte entdeckt werden durch die Inspektion eines jeden Satelliten unmittelbar vor seinem Start in den Weltraum.

Literatur

John Pike, Quantitative Limits on Anti-Missile-Systems – A Preliminary Assessment, Fourth Draft, 22 May 1987, Federation of American Scientists,123 Seiten; wesentliche Auszüge sind abgedruckt in: Proceedings of the Workshop „Scientific Aspects of the Verification of Arms Control Treaties“, Part II, S. 137-198, in: Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Vol. 19, Hamburg, June 1987

Weitere aktuelle Literatur zur Diskussion um den ABM-Vertrag ist im Reader der Naturwissenschaftler-Initiative – „SDI und der ABM-Vertrag“ enthalten, zusammengestellt von J. Scheffran im August 1987. Die folgenden Quellen zur ABM-Debatte nach Reykjavik ergänzen eine frühere Literaturliste.

– Erklärung von Generalsekretär Michail Gorbatschow auf der Pressekonferenz in Reykjavik am 12. Oktober 1986, „Blätter für deutsche und internationale Politik“, 11/86, S. 1297-1303; Ronald Reagans Fernsehansprache vom 13.10.1986, „Abrüstungsinfo“, 11/1986, S. 19-21

– Briefing Book on the ABM Treaty and Related Issues, National Campaign to Save the ABM Treaty, Washington 1986; Analysis of the President's Report on Soviet Noncompliance with Arms Control Agreements, „Arms Control Today“, April 1987

– L. Wieland, Testen und Stationieren – Reagan vor heiklen Entscheidungen über SDI, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) vom 7.2.1987; R. Dolzer, Wo endet Forschen, beginnt das Erproben?, „FAZ“ vom 17.2.87; Streit um die weite Auslegung des ABM-Vertrages, „FAZ“ vom 9.2.87; An eine „weite“ Auslegung war nicht gedacht, „FAZ“ vom 18.2.87

– S. Nunn, ABM Reinterpretation, Fundamentally Flawed, „Arms Control Today (ACT)“, April 1987, S. 8-14; Nunn vs. Sofaer, „ACT“, June 1987, S. 9-10; L. N. Cutler, Keeping the Treaty Alive; What Congress Can Do. „ACT“, April 1987, S. 10-11; Six Former Defense Secretaries Support Traditional Interpretation of the ABM Treaty, „ACT“, April 1987; M. Bunn, Kinetic Energy Weapons and the ABM Treaty, „ACT“, March 1987, S. 12, 13, 17; Weinberger Propose Tests Beyond Strict Treaty Interpretation, „ACT“, June 1987, S. 24

– J. B. Rhinelander, J. P. Rubin, Mission Accomplished – An Insider's Account of the ABM Treaty Negotiating Record „ACT“, September 1987, S. 3-14; R. Garthoff, History Confirms the Traditional Meaning, „ACT“, September 1987, S. 15-19; Sofaer´s Last Stand?, „ACT“, October 1987, S. 14-17; M. A. Bryar, Arms Control Legislation Stalls Over SDI Testing and Treaty, „ACT“, November 1987, S. 21; T. K. Longstreth, Latest ABM ploy – old is new, „Bulletin of the Atomic Scientists“, Vol. 43, No. 10, December 1987 S. 3-4; M. Bunn, Shultz Sidesteps ABM Issue, „ACT“ January/Febnuary 1988, S. 24, M. Bunn, Space Laser Raises ABM Treaty Compliance Questions, „ACT“, January/Febnuary 1988, S. 27

John Pike arbeitet bei der Federation of American Scientists

ABM-Vertrag

ABM-Vertrag

von Jürgen Scheffran

Spätestens seit dem Abbruch der Gipfelgespräche zwischen dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan in der isländischen Hauptstadt Reykjavik am 12. Oktober 1986 wurde der Weltöffentlichkeit klar, welche Bedeutung der ABM-Vertrag für die Beziehungen zwischen den beiden Großmächten hat. Während eine Einigung bei der Reduzierung der Nuklearwaffen möglich erschien, ergaben sich hinsichtlich der Interpretation des ABM-Vertrages erhebliche Unterschiede. Ob die bisher gültige „restriktive“ und von Gorbatschow vertretene Auslegung des ABM-Vertrages, die SDI enge Grenzen auferlegen würde, während des Abbaus von Atom Waffen gültig sein soll, oder die von der Reagan-Administration vorgeschlagene „weite“ Auslegung ohne konkrete Grenzen für SDI, das war der wesentliche Streitpunkt in Reykjavik, der eine Einigung verhinderte.

Dies zeigt, wie wichtig es für die Friedensbewegung ist, sich mit dem ABM-Vertrag zu beschäftigen, ohne die Friedensdiskussionen auf rein rechtliche Fragen reduzieren zu wollten. Ohne diesen Vertrag wäre die „Büchse der Pandora“ neuer Waffensysteme im Weltraum völlig offen. Mit der Zukunft dieses Vertrages steht und fällt der Erfolg des Rüstungskontrollprozesses.

Struktur und Begriffe des ABM-Vertrages

Der ABM-Vertrag von 1972, ergänzt durch das Zusatzprotokoll von 1974, wurde im Rahmen des SALT-Prozesses von den USA und der UdSSR unterzeichnet, um Raketenabwehr-Systeme und ihre Komponenten zu begrenzen. Dieser Vertrag ist das Ergebnis der ersten ABM-Debatte in den sechziger Jahren und repräsentiert die Erkenntnis, daß Raketenabwehr technisch fragwürdig, finanziell zu teuer und politisch strategisch gefährlich ist. Durch den ABM-Vertrag wurden Atomwaffen als Kriegsführungswaffen überflüssig und der Weg für ihre Begrenzung in den SALT-Verhandlungen geöffnet. Aus der Sicht Europas ist der ABM-Vertrag ein Markstein auf dem Weg zur Entspannung und das wichtigste Abkommen zur Rüstungsbegrenzung.

Mit Artikel I verbietet der ABM-Vertrag eine umfassende Raketenabwehr zur Landesverteidigung. Unter ABM (Anti Ballistic Missile oder Raketenabwehr)-Systemen werden nach Art. II generell alle Systeme zur „Bekämpfung anfliegender strategischer ballistischer Flugkörper“ verstanden, die bei Abschluß des Vertrages aus Abfangflugkörpern, Abschußvorrichtungen und Radargeräten bestanden und als „gegenwärtige Komponenten“ bezeichnet werden. Bis auf die durch die Artikel III und IV gegebenen Ausnahmen (100 Abschußvorrichtungen an einem Ort und ein bis zwei feste Versuchsgebiete) werden in dem zentralen Art. V Entwicklung, Test und Stationierung von ABM-Systemen und ihren Komponenten verboten, und zwar see-, luft-, weltraumgestützt oder als bewegliches System landgestützt.

Weitere Paragraphen untersagen, Nicht ABM-Systeme mit einer „ABM-Fähigkeit“ auszurüsten (Art. VI) sowie den Transfer von ABM-Technologien bzw. technischer Konstruktionsbeschreibungen in andere Staaten (Art. IX und Interpretation G). Von den verschiedenen „Gemeinsamen Interpretationen“ und „Vereinbarten Stellungnahmen“ beider Seiten zum ABM-Vertrag ist die wichtigste die Interpretation D, die verlangt, daß spezifische Begrenzungen auch für ABM-Systeme mit „anderen physikalischen Prinzipien“ Gegenstand von Gesprächen sein sollen, „um die Erfüllung der Verpflichtung sicherzustellen, keine ABM-Systeme oder deren Komponenten zu stationieren“. Für die mit dem ABM-Vertrag zusammenhängenden Fragen wurde eine Ständige Beratende Kommission (SBK) geschaffen. Der Vertrag wird alle fünf Jahre überprüft (als nächstes 1987), ist von unbegrenzter Dauer, hat jedoch eine Rücktrittsklausel.

Wie andere Verträge auch enthält der ABM-Vertrag einige Begriffe, die Raum für Interpretationen lassen, insbesondere die Begriffe „Entwicklung“, „ABM-Komponente“ oder „ABM-Fähigkeit“. Schwierig ist die genaue Festlegung einer Grenze zwischen erlaubter Forschung und verbotener Entwicklung, doch gibt es eine Richtlinie des SALT Chefunterhändlers Gerard Smith, wonach die Trennungslinie beim Übergang vom Labor in die Feldtestphase verläuft, sofern dies von der anderen Seite beobachtet werden kann. Ohne eine genaue und vereinbarte Klärung wichtiger Begriffe des ABM-Vertrages für neue ABM-Technologien können die Vertragsbestimmungen in den „Grauzonen“ durch neue waffentechnische Entwicklungen unterhöhlt werden.

Grauzonen und neue Waffentechnologien

Hierzu zählen insbesondere phasengesteuerte oder mobile Radaranlagen. Taktische Raketenabwehrsysteme (ATM: Anti Tactical Missiles), Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) und „exotische“ Technologien wie Strahlenwaffen. Ober den „Umweg“ von ATM und ASAT-Technologien könnten zugleich auch neue ABM-Technologien entwickelt werden. Neue Waffentechnologien, die mehreren Funktionen dienen können und schwierig zu unterscheiden sind, stellen eine ernste Herausforderung für Rüstungskontrolle und Verifikation dar und können die strategische Stabilität gefährden. Dies macht vorbeugende Kontrollmaßnahmen wichtig, die eine Waffentechnik bereits im Frühstadium ihrer Entwicklung begrenzen. Nach Abschluß des ABM-Vertrages hatte es einige Streitfälle zur Vertragseinhaltung gegeben ( so bei Tests sowjetischer Luftabwehrraketen oder beim „Low Altitude Defense System“ (LoADS) der USA), die jedoch in der Ständigen Beratenden Kommission (SBK) weitgehend geklärt werden konnten. Bei entsprechendem politischen Willen könnten auch die genannten Problembereiche, die sich z.T. seit Jahren abzeichnen, gelöst werden . Es gibt bereits ausgearbeitete Begrenzungsvorschläge, die zur Ergänzung (nicht Änderung) des ABM-Vertrages und in Erfüllung der Interpretation D gemeinsam vereinbart werden könnten. Möglich wären insbesondere eine genauere Definition wichtiger Vertragsbegriffe, Begrenzungen phasengesteuerter Radaranlagen, ATM-Systeme und ASAT-Waffen sowie Vorschläge für exotische Waffentechnologien wie Strahlenwaffen und Sensoren. Hierzu zählt auch die Verbesserung des Informationsprozesses zwischen beiden Seiten und die Behandlung von Streitfragen in der SBK. Das geeignete Forum für die Diskussion solcher Fragen sind die Genfer Verhandlungen. Konkreter Anlaß könnte die Überprüfungskonferenz zum ABM-Vertrag 1987 sein.

Eine neue Qualität erreichen die Herausforderungen durch das SDI-Programm, wodurch das Fundament des ABM-Vertrages insgesamt erschüttert wird. Abgesehen davon, daß trotz eines Entwicklungsverbots im ABM-Vertrag Reagan in seiner Star-Wars-Rede ein Forschungs- und Entwicklungsprogrammm gefordert hat, enthält SDI für die nächsten Jahre eine Reihe von Großversuchen, die bereits in die Testphase hineinreichen. Das jüngste Beispiel war der SDI-Versuch vom 5. September 1986, bei dem sich zwei von einer Delta-Rakete gestartete Satelliten im Weltraum verfolgten und durch eine Kollision zerstörten. Durch solche Ereignisse, die eher den Charakter von „kosmischen Zauberkunststücken“ als von wissenschaftlichen Experimenten haben, wird der ABM-Vertrag durchlöchert. Weitere Versuche verzögerten sich wegen der Challenger-Katastrophe. Hierzu zählen Programmnamen wie AOA, ERIS, HEDI, KKV, SBL, ATP, BSTS, SSTS u.a., die den USA bereits einige Prototypen für ABM-Komponenten liefern könnten. Einer der ersten Versuche, der an die Substanz des ABM-Vertrages geht, wird der Test des „Airborne Optical Adjunct“ (AOA) sein, eines luftgestützten Infrarotsensors für die Ortung von Gefechtsköpfen in der Wiedereintrittsphase, der die Funktion einer ABM-Komponente übernehmen könnte.

Vorwürfe und Interpretationen

Um den Gegensatz zwischen SDI und dem ABM-Vertrag abzuschwächen, versucht die Reagan-Administration zum einen, die Sowjetunion öffentlich der Vertragsverletzung zu beschuldigen, wie im Falle der Radaranlage von Krasnoyorsk. Diese wirft wegen ihrer Lage im Inneren der Sowjetunion vertragsrechtliche Probleme auf, die Gegenstand der SBK sind. Die Sowjetunion hat die Lösung des Problems in Aussicht gestellt, wenn die USA ebenfalls zur Klärung ansprechender Fragen bei ihren Radaranlagen in Fylingdales (England) und Thule (Grönland) bereit ist. Als Vorwand für einen Ausstieg aus dem ABM-Vertrag ist Krasnoyarsk nicht geeignet, noch weniger gilt dies für andere Vorwürfe.

Zum anderen bemüht sich die Reagan-Regierung, SDI als kurzfristig mit dem ABM-Vertrag vereinbar darzustellen. So werden im SDI-Report des Pentagon unklare Vertragsbegriffe ausgeschöpft und neu bewertet, um eine Zuordnung der SDI-Projekte zu drei vertragskonformen Kategorien zu ermöglichen. Es wird unterschieden zwischen Labortests, Feldtests von ABM-Subkomponenten und Feldtests von festen landgestützen Komponenten. Eine klare Grenzlinie zwischen Forschung und Entwicklung wird nicht gezogen, so daß ein weiter Ermessensspielraum für die SDI-Entwicklungen bleibt. Während der ABM-Vertrag Entwicklung und Tests von ABM-„Komponenten“ verbietet, werden die SDI-Großversuche lediglich als Tests von nicht definierten „Subkomponenten“ bezeichnet, ein Terminus, der bei Abfassung des Vertrages keine Rolle gespielt hat.

Darüber hinaus unternahm im Oktober 1985 der damalige Sicherheitsberater Reagans, Robert McFarlane, gestützt auf Überlegungen des Rechtsberaters des Außenministeriums, Abraham Sofaer, den Versuch einer „weiten“ Interpretation des ABM-Vertrages, im Unterschied zur bis dahin gültigen „engen“ bzw. „traditionellen“ Auslegung. Unter Berufung auf Interpretation D sollen danach Entwicklungen und Tests von ABM-Systemen mit neuen physikalischen Prinzipien wie Strahlenwaffen oder optischen Sensoren generell zulässig sein. Dies widerspricht der Auffassung bisheriger US-Regierungen (einschließlich der Reagan-Administration selbst), wonach neue ABM-Technologien verboten sind, solange hier keine spezifischen Begrenzungen vereinbart wurden.

Streitpunkte und Kompromisse

Sollte sich die Neuinterpretation durchsetzen, könnte der ABM-Vertrag rasch zu einem „wertlosen Stück Papier“ werden. Gemäß der Philosophie des ABM-Vertrages wären dann auch die Möglichkeiten für Begrenzungen oder Reduzierungen von Atomwaffen stark eingeschränkt: einschneidende Abrüstung bei Atomwaffen bei gleichzeitiger Entwicklung und Aufbau von Abwehrsystemen kann stark destabilisierend wirken. Dies erklärt die Abneigung der Sowjetunion in Reykjavik, von einer engen Vertragsauslegung abzuweichen, und ihre Forderung nach einer „Stärkung“ des ABM-Vertrages, die seine Erosion wirkungsvoll aufhalten und den Weg für einschneidende Abrüstungsschritte eröffnen würde.

Nie zuvor waren derart weitreichende Abrüstungsziele wie die Abschaffung aller Atomwaffen in zehn Jahren auf höchster Ebene erörtert worden. Konkret schien in Reykjavik eine Einigung zum Greifen nah, die tiefe Einschnitte (deep Cuts) bei den nuklearstrategischen Offensivwaffen auf 50 % und darunter sowie eine Null-Lösung bei den Mittelstreckenraketen vorsah, was bei Realisierung ein „historisch sensationeller Einbruch in den Rüstungswettlauf" wäre. Während sich beide Seiten in diesem Ziel noch einig schienen, ergaben sich die entscheidenden Differenzen bei der Vereinbarkeit von SDI mit dem ABM-Vertrag.

Zwar erklärten sich beide Seiten für zehn Jahre bereit, den ABM-Vertrag einzuhalten. Während Gorbatschow jedoch auf der Einhaltung der bislang gültigen engen Auslegung des Vertrages in der Abrüstungsphase bestand, die Tests von Abwehrsystemen im Weltraum verboten hätte, schlug Reagan die weite Auslegung vor, die solche Tests erlauben würde und darüber hinaus nach Ablauf der zehn Jahre die Möglichkeit einer Stationierung von SDI offenhielt. Dementsprechend lastete er in seiner Fernsehrede unmittelbar nach Reykjavik der Sowjetunion das „Scheitern“ des Gipfels an, da sie an einem „14 Jahre alten“ Vertrag festhalte.

Eine Realisierung des von Reagan vorgestellten „Pakets von Reykjavik“ wurde von der Sowjetunion als riskant und destabilisierend beurteilt. Es hätte sie aus ihrer Sicht der atomaren Abschreckungsmittel gegen eine mit SDI nach Überlegenheit strebende USA beraubt An irgendeinem Punkt der Abrüstung und des Aufbaus von SDI wäre der Zeitpunkt gekommen, wo eine Seite einerseits noch genügend Atomwaffen besitzen würde, um die andere Seite zu vernichten, aber andererseits schon genügend Abwehrsysteme, um sich vor einem begrenzten Gegenschlag zu schützen. Die Sicherheit beider Seiten in einer solchen destabilisierenden Übergangsphase würde dadurch entschieden, wer bei den Abwehrtechnologien führt oder die Abwehrsysteme der anderen Seite unwirksam macht. Für beide Seiten stellen sich schwierige Fragen: für die Reagan-Regierung, ob sie den durch nukleare Abrüstung geschaffenen öffentlichen Erwartungsdruck vom SDI-Programm ablenken kann, um langfristig militärische Überlegenheit anzustreben, fr die Sowjetunion, ob die Verbesserung der politischen Beziehungen das militärische Risiko von weiteren Zugeständnissen bei SDI wert ist. Bei den Mittelstreckenraketen bot sich eine Entkopplung von SDI an, so daß der Weg für die Null-Lösung frei wurde. Schwieriger ist es bei den strategischen Atomwaffen wegen des engen Zusammenhangs mit SDI. Hier wäre eine Einigung nur im Zusammenhang mit einer gemeinsamen Bewertung des ABM-Vertrages sinnvoll.

Von verschiedenen Seiten wurde im Gefolge von Reykjavik auch hier ein Kompromiß zwischen den verhärteten Fronten gefordert, um damit den Weg für einschneidende Abrüstungsschritte zu öffnen, so auf dem Hamburger Naturwissenschaftler-Kongreß am 14./16. November 1986 und dem Moskauer Friedensforum im Februar 1987. Die Sowjetunion hat ihre prinzipielle Bereitschaft dazu erklärt. Wissenschaftler wie John Pike von der Federation of American Scientists schlugen Grenzen für ABM-Technologien und SDI-Tests im Weltraum vor, die destabilisierende Entwicklungen einschränken würden, so etwa bei der Zahl der Tests, bei der Relativgeschwindigkeit zwischen Raumflugkörpern oder bei technischen Leistungsparametern der Waffensysteme (z.B. von Lasern). Für Laserwaffen wurden konkrete Grenzen bereits von dem Physiker Jürgen Altmann ausgearbeitet.

Mit solchen quantitativen Grenzen für neue Waffentechnologien entstehen hohe Anforderungen an die Verifikation, die ein gewisses Maß an Kooperation voraussetzen. Sie müßten zur Konkretisierung und Festigung des ABM-Vertrages beitragen und verhindern, daß die Reagan-Administration sich immer weiter vom ABM-Vertrag entfernt, während die Sowjetunion hinter der wechselnden US-Interpretation „hinterherläuft“ (J. Pike), die dem jeweiligen technischen Stand des SDI-Programms angepaßt wird. Grundlage solcher Vorschläge ist die Einschätzung, daß SDI-Systeme noch geraume Zeit von ihrer Realisierung entfernt sind und ihre Entwicklung begrenzt werden kann. Trotz der komplizierten Materie dürfte die Machbarkeit eines Kompromisses vor allem von der Bereitschaft der US-Regierung abhängen, das lange Zeit als unantastbar erklärte SDI-Programm für Verhandlungen freizugeben.

Testen und Stationieren

Diese lehnte jedoch nach Reykjavik trotz sowjetischer Angebote jede Einschränkung für das SDI-Programm ab und verstärkte ihre Anstrengungen zur Neuinterpretation durch weitere Gutachten Sofaers, die auf einer Sichtung der bis dahin geheimgehaltenen Verhandlungs- und Ratifizierungsprotokolle zum ABM-Vertrag basierten. Außerdem wurde unmittelbar nach dem Gipfel von rechtsstehenden Kreisen mit Forderungen wie „Deploy Now“ für eine beschleunigte Entwicklung und Stationierung von SDI geworben. Solche Konzeptionen einer vorgezogenen Stationierung (early deployment) beruhten auf Vorschlägen von Rüstungsforschern aus den Waffenlabors sowie des privaten George C. Marshall Instituts, die stark an die High-Frontier-Idee von 1982 erinnerten. Innerhalb von wenigen Jahren (bis 1994) sollte zu Kosten von „nur“ 121 Mrd. $ ein dreischichtiges Abwehrsystem installiert werden, bestehend aus konventionellen Boden-Raketen für die Endphasenabwehr innerhalb und außerhalb der Atmosphäre sowie aus 2000 Kampfstationen im Weltraum mit je fünf kleinen Abfangraketen. Das Pentagon benutzte diese Studie trotz einer Vielzahl fragwürdiger technischer und ökonomischer Annahmen als politisches Druckmittel im US-Kongreß, um für das Haushaltsjahr 1988 höhere SDI-Mittel zu erreichen.

Im Unterschied zu Reagans langfristiger – SDI-Vision, Atomwaffen „unwirksam und überflüssig“ zu machen, setzt diese kurzfristige Option eher auf begrenzte Abwehr, die zur Stärkung der Abschreckung beitragen soll, ohne die langfristige Option aufzugeben. Während der strategische und ökonomische Sinn der „early deployment“-Konzepte umstritten ist, wird von Kritikern vermutet, der Hauptzweck sei eine möglichst frühe Zerstörung des ABM-Vertrages sowie das SDI-Programm auch über die Reagan-Ära hinaus unaufhaltsam zu machen. Solche Pläne können selbst durch eine Neuinterpretation des ABM-Vertrages nicht mehr vertragskonform gemacht werden. Ihre Realisierung hätte eine Abkehr vom ABM-Vertrag zur Folge, die einer Aufkündigung gleichkommt. Folgerichtig drohte US-Verteidigungsminister Weinberger auch damit, den ABM-Vertrag ganz aufzukündigen, wenn der US-Kongreß nicht höhere Mittel für SDI bereitstelle und der weiten Vertragsauslegung zustimme.

Der Verfassungskonflikt mit dem Kongreß

Hier stieß die Reagan-Administration jedoch auf heftigen Widerstand der liberalkonservativen „arms control community“ (Rüstungskontrollschule), denen die „visionären“ Vorschläge von Reykjavik ohnehin zu weit gingen, und die „rationale“ Rüstungskontrolle einer politisch motivierten Abrüstung vorzogen. Für diese politischen Kräfte waren die Vorschläge beider Seiten in Reykjavik, die auf die Abschaffung der Atomwaffen bzw. deren Bekämpfung zielten, unrealistisch und auch nicht wünschenswert, da sie die durch Atomwaffen garantierte Abschreckung untergruben. Sie kritisierten die Reagan-Rüstung als zu wenig „effektiv“ und drängten auf eine Sicherheitspolitik, die militärische Stärke mit Verhandlungen über Rüstungskontrolle verbindet. Spätestens Reykjavik war für sie ein Signal, daß die militärische Sicherheit der USA bei Reagan in unsicheren Händen war. Ein Hinweis darauf ist die vergleichsweise scharfe Reaktion vom konservativen Vorsitzenden des Streitkräfteausschusses Sam Nunn sowie anderen Kongreßabgeordneten und Senatoren wie Carl Levin auf die weite Auslegung des ABM-Vertrages. In ausführlichen Studien und Reden im Frühjahr 1987 griff Nunn die Gutachten Sofaers an und begründete, daß der Kongreß den ABM-Vertrag 1972 in seiner engen Auslegung ratifiziert habe. Er wies anhand teilweise der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Dokumenten nach, daß der US-Senat zum Zeitpunkt der Ratifizierung nicht an eine weite Auslegung gedacht hatte. Forschung an neuen Raketenabwehrtechnologien wurde zwar Eis erlaubt angesehen, nicht aber Erprobung und Stationierung, außer im begrenzten Umfang bei fest landgestützten Systemen. Damit sind insbesondere Weltraumtechnologien ausgeschlossen. Dem Sofaer-Gutachten warf Nunn vor, sie seien „fundamental fehlerhaft“, würden sich in allen wichtigen Punkten irren und durch bewußtes Weglassen i wichtiger Zitate den wirklichen Ratifizierungsprozeß verdrehen. Eine einseitige Abkehr der US-Regierung von der traditionellen Interpretation würde zu einem „Verfassungskonflikt“ mit dem Kongreß führen, der die letzte gesetzgeberische Kompetenz besitze.

Dies zeigt, daß ein rein rechtlicher Streit über den ABM-Vertrag nicht ausreicht, um sein Überleben sichern. Entscheidend ist die politische Unterstützung der bisherigen Interpretation. Aus dieser Erkenntnis heraus versucht in den USA seit Jahren die „Nationale Kampagne zur Erhaltung des ABM-Vertrages“, ein breites Bündnis aus früheren Politikern (darunter Expräsident Carter und die früheren Verteidigungsminister Schlesinger und McNamara), Diplomaten (wie Gerard Smith), Militärs, Wissenschaftlern und Friedensgruppen, dem „Irrsinn des Vertragsbruchs" entgegenzuwirken und die Reagan-Administration zur Einhaltung der restriktiven Interpretation zu drängen. Sie betreibt hierfür Öffentlichkeitsarbeit und hat auch konkrete Maßnahmen zur Stärkung des ABM-Vertrages vorgeschlagen.

Die Mitverantwortung Westeuropas

Eine wichtige Mitverantwortung für die Zukunft des ABM-Vertrages haben auch die NATO-Verbündeten der USA. Obwohl sie nicht Mitunterzeichner dieses Vertrages sind und ihnen der Vorsitzende des US-Abrüstungsausschusses Adelman in dieser Frage die „Kompetenz“ absprach, haben westeuropäische Regierungen offiziell stets die bedeutende Rolle des ABM-Vertrages für Rüstungskontrolle und Entspannung gewürdigt.

Solche Erklärungen wirken jedoch nur dann glaubwürdig, wenn Westeuropa sich nicht selbst direkt oder in Form einer „Europäischen Verteidigungsinitiative“ (EVI) am SDI-Programm beteiligt. Durch den Aufbau eines eigenen Systems zur Abwehr taktischer Raketen und anderer Flugkörper (ATM: Anti Tactical Missiles) oder einen Transfer entsprechender Technologien könnte Westeuropa mit zur Untergrabung des ABM-Vertrages beitragen.

Durch die Artikel VI und IX sowie die Interpretation G wird ein Austausch zwischen ATM- und SDI-Technologien in beiden Richtungen stark eingeschränkt. Dennoch wurde von US-Regierungsvertretern die Absicht geäußert, SDI auf dem „legalen Umweg“ über ATM voranzutreiben, Westeuropa zum ersten Versuchsfeld für SDI zu machen und damit den ABM-Vertrag zu umgehen. Dies geschieht zum Teil mit Unterstützung westeuropäischer Rüstungskonzerne bzw. einiger Regierungsvertreter, die sich auf diesem Weg den Einstieg in das SDI-Rüstungsgeschäft sowie erweiterte politische und militärische Optionen erhoffen. Für sie ist der ABM-Vertrag „zur heiligen Kuh der Rüstungskontrolldogmatiker und Raketenabwehrgegner geworden, in den fast nach Belieben hineininterpretiert wird“ (T. Enders). Der Schwarze Peter für eine Untergrabung des ABM-Vertrages wird schon im Voraus der Sowjetunion angelastet, falls sie als Vertragsunterzeichner die ATM-Entwicklung der nicht direkt an den Vertrag gebundenen Westeuropäer mitmachen sollte.

Ein erster Prüfstein ist hier die Aufrüstung der Luftabwehr-Rakete Patriot für die Raketenabwehr und ihre Stationierung in Westeuropa. Die Entwicklung dieser Rakete war bereits ein Grund für die damalige Ablehnung der US-Regierung, den ABM-Vertrag auch auf taktische Raketen auszudehnen. Während diese Rakete von der US-Regierung als vereinbar mit dem Transferverbot angesehen wird, richtet sie Vorwürfe an die Sowjetunion, sie unterlaufe den ABM-Vertrag, indem sie planmäßig an der Erweiterung ihrer Luftabwehr arbeite, um auch Raketen abfangen zu können. Genannt werden hier die sowjetischen Luftabwehrraketen SA-10 und SA-X-12, deren Leistungsfähigkeit von der US-Regierung von Jahr zu Jahr als bedrohlicher eingeschätzt wird, ohne daß sich an den Waffen selbst etwas wesentliches geändert hätte. Solche übertriebenen Bedrohungsperzeptionen könnten zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden, wenn die Sowjetunion den durch die Patriot-Rakete vorgezeichneten Weg tatsächlich mitmacht. Mit Fortschreiten der technischen Entwicklung wird es schwieriger, eine eindeutige Grenze zwischen der ABM-, ATM- und Luftabwehr-Funktion zu ziehen.

Weitere Literatur zum ABM-Vertrag

Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vom 26. Mai 1972 über die Begrenzung der Systeme zur Abwehr ballistischer Flugkörper (ABM-Vertrag) mit Interimsabkommen sowie Interpretation, „Europa-Archiv“, Folge 17/1972, S. D. 392-405
H. Lin, Evolving the ABM Treaty Towards the Year 2000, Center for International Studies, MIT Cambridge, May 23, 1986 (detaillierte technische Analyse)
A. B. Sherr, A Legal Analysis of the New Interpretation ot the Anti Ballistic Missiles Treaty, Report for the Lawyers Alliance for Nuclear Arms Control, Boston. M.A., 1986
R. Bulkeley, The ,McFarlane Reading of the ABM Treaty, in: Wege aus dem Wettrüsten, S. 379-382, Marburg 1987
W. J. Durch, Technology, Strategy and the ABM Treaty, A Background Paperforthe Barnett Hill Conference, 6-8 May 1986
McGeorge Bundy, George F. Kennan, Robert S. McNamara, Gerard Smith, The Presidents Choice: Star Wars or Arms Control, „Foreign Affairs“, Vol. 63, No.2, 1985: auf deutsch: „Blätter“ 5/85, S. 614-624
Compliance of the Strategic Defense Initiative with the ABM Treaty, Appendix D of: Report to the Congress on the Strategic Defense Initiative, Department of Defense, April 1987; s. auch die SDIO-Reports 1985, 1986
Abram Chayes, Antonia Chayes, The Future of the ABM Treaty, „Arms Control Today“, January/February 1987, pp.2-4
ABM-Treaty, „Arms Control Reporter“, Chronology 1985, 1986
B. W. Kubbig, Die Neuinterpretation des ABM-Vertrages durch die Reagan-Administration, Forschungsbericht 13/1985 der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt, S. 3
H. G. Brauch, Antitactical Missile Defense – Will the European Version of SDI undermine the ABM-Treaty, AG Friedensforschung und Europäische Sicherheitspolitik, Stuttgart, Juli 1985
T. Enders, Raketenabwehr als Teil einer erweiterten NATO-Luftverteidigung, Interne Studien des sozialwissenschaftlichen Instituts der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nr.2/1986, S. 65

Zur Diskussion über Reykjavik und den ABM-Vertrag s.:

W. Bruckmann, Die sowjetische SDI-Junktimspolitik in Reykjavik, „Informationsdienst Wissenschaft und Frieden“, 2/87, S. 7-11; W. Zellner, Abschreckungsmanagement oder Abschreckungskritisch?, „Informationsdienst", 2/87, S. 12-14
C. Levin, Administration wrong on ABM Treaty, „Bulletin of the Atomic Scientists“, April 1987, S. 30-33
Bruce B. Auster, Treaty Reinterpretation Under Attack „Arms Control Today", January/February 1987, S. 11
James, Nunn Senate Move On ABM Treaty Interpretation, „Arms Control Today“, April 1987, S. 27-28;
B. Taylor, Republicans Filibuster as Senators Try to Prevent ABM Reinterpretation, „Arms Control Today“, June 1987, S. 20;
State Department Releases Portions of ABM Treaty Record, „Arms Control Today“, June 1987, S. 21;
P. Mann, Nunn Threatens INF Pact With Link to ABM Treaty, „Aviation Week & Space Technology“ (AWST), May 11, 1987, S. 30;
Nine SDI Tests Planned in 1988-89, „AWST“, April 6, S. 28

Jürgen Scheffran, Physiker und Friedensforscher an der Universität Marburg

Fallbeispiel: Marschflugkörper

Fallbeispiel: Marschflugkörper

von Mario Birkholz

Wenn von Rüstungsforschung die Rede ist, kommt das Gespräch schnell auf die USA und dortige Projekte zu sprechen. Die Rüstungsforschung der Bundesrepublik ist zumeist weithin unbekannt und mangels Informationen selten Gegenstand von Diskussionen. Der verbreitete Mangel an Fakten dürfte zum einen mit einer Tabuisierung des Themas zusammenhängen und zum anderen aber auch damit, daß sich Kritik viel eher an atomaren Erstschlagwaffen entzünden kann als an konventionellen Systemen. Dennoch findet auch in unserem Land die Entwicklung von Waffen statt, die vor allem für offensive Angriffskonzepte taugen. Die grobe Struktur der bundesdeutschen Rüstungsforschung und eines mit dieser kritikwürdigen Projekte werden im folgenden geschildert.

Der größte Teil der bundesdeutschen Rüstungsforschung findet in Firmen wie Siemens 1, MBB, Dornier, MTU, Kraus Maffai, Krupp MaK, Krupp Atlas Elektronik, AEG 2 usw. statt. In diesem Bereich, in dem es weniger um Forschung als um direkte Waffenentwicklung geht, dürften einige Tausend, wenn nicht gar Zehntausende Naturwissenschaftler, Techniker und Ingenieure beschäftigt sein. Daneben gibt es eine Reihe von Institutionen, die unter staatlicher Kontrolle stehen und die Aufgabe haben, in einem Mischbereich zwischen Forschung und Entwicklung die Waffenentwicklung in der Industrie zu unterstützen. Wahrscheinlich dienen sie der Regierung auch dazu, einen gewissen Einblick in die privaten Rüstungsbetriebe zu erlangen und damit ein Minimum an Kontrolle über diese Firmen zu haben, die erhebliche Steuermittel für ihre Arbeit beanspruchen.

Laut offizieller Auskunft 3 sind diese halbstaatlichen Institutionen

  1. die Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwissenschaft (FGAN) und
  2. Deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DFVLR),
  3. das Deutsch-Französische Forschungsinstitut Saint-Louis (ISL),
  4. die Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der Angewandten Wissenschaften (FhG) und
  5. die Forschungsanstalt für Wasserschall und Geophysik (FWG).

Die unter 1., 3. und 5. genannten Institutionen arbeiten ausschließlich für Zwecke der Rüstungsforschung, die DFVLR wird lediglich zu rund 13 % vom Bundesminister der Verteidigung 4 finanziert und bei der FhG sind es nur sechs von insgesamt 26 Instituten, die laut Bundeshaushaltsplan „überwiegend anwendungsnahe Aufgaben von wehrtechnischem Interesse bearbeiten.“5 Bei einer vollständigen Aufzählung der staatlichen Rüstungsforschung wären außerdem noch die Forschungsabteilungen der Bundeswehrhochschulen in Hamburg und München und das Naturwissenschaftliche Institut der Bundeswehr in Münster zu nennen. Doch sind beide nach den vorliegenden Informationen nicht an Waffenentwicklungen beteiligt. Dem letzteren obliegt begrüßenswerterweise sogar die Verbrennung alter Giftgasbestände aus dem 1. und 2. Weltkrieg, also eine echte Abrüstungsaufgabe.

Im folgenden soll ein einzelnes Rüstungsforschungsprojekt der DFVLR vorgestellt werden. Es handelt sich dabei um…6 7

Marschflugkörper großer Transportleistung

Schon seit vielen Jahren erwähnen die Jahresberichte der DFVLRs regelmäßig ein Projekt mit diesem Namen. Den detaillierten DFVLR-Ergebnisberichten ist zu entnehmen, daß dieses Rüstungsforschungsprojekt als Vorhaben 632 im Schwerpunkt 2 (Luftfahrzeuge) abgewickelt wurdet. 1982 fand eine Umstrukturierung einzelner DFVLR-Programme statt, und die Marschflugkörperforschung wurde in den letzten Jahren dem Vorhaben 742, Steigerung der Leistung und Manövriereigenschaften von Flugkörperantrieben, Schwerpunkt 3 (Turboantriebe und Strömungsmaschinen) zugeordnet. Über all die Jahre wird eine Zusammenarbeit mit Rheinmetall, MBB und dem Institut für Raumfahrtantriebe der Universität Stuttgart ausgewiesen. 1978 wurde auch ein „wissenschaftlicher Kontakt“ zur Firma Dornier und der TU Darmstadt angezeigt.

Abgewickelt wurde das Projekt zum einen in der Hauptabteilung Windkanäle der DFVLR in Göttingen und zum anderen im Institut für Chemische Antriebe und Verfahrenstechnik in Lampoldshausen. Daran zeigt sich die Hauptstoßrichtung der Arbeiten, die vor allem auf die Entwicklung eines Triebwerks und eine aerodynamische Formgebung des Flugkörpers abzielen. Ohne direkten Bezug auf das Marschflugkörperprojekt arbeitet die DFVLR an weiteren Technologien, die dafür außerordentlich relevant sind: Verringerung des Flugkörpergewichts durch Verwendung neuer Materialien wie Kohlefaserverstärkte Kunststoffe und Erforschung leistungsfähigerer Treibstoffe, sowie Entwicklung moderner Navigationsverfahren (Laserkreisel, NAVSTAR-Signal-Empfänger, Kalman-Filter) und Sensoren zur Verbesserung der Treffgenauigkeit.

Marschflugkörper sind aus militärischer Sicht interessant, weil sie die gesamte Flugphase über in der Atmosphäre verbleiben und so den Luftsauerstoff zur Verbrennung nutzen können, während ballistische Raketen neben dem Treibstoff noch den sogenannten Oxidator mitführen müssen. Sie machen damit erhebliche Gewichtseinsparungen möglich. Für die Konstruktion des Triebwerks bedeutet das, daß über einen Ansaugstutzen Luft in die Verbrennungskammer des Flugkörpers eingeführt werden muß. Erfolgt die Luftzufuhr entgegen der Flugrichtung, baut sich automatisch ein ausreichend hoher Druck in der Brennkammer auf, um genügend Schubkraft zu erzeugen. Aufwendige und gewichtsverbrauchende Pumpen, die den Treibstoff in die Brennkammer einzuspritzen hätten, entfallen somit. Das ist das Prinzip des Staustrahltriebwerks. Die erste jemals gebaute Staustrahlrakete der Welt war eine der „Geheimwaffen des Führers“, die Vergeltungswaffe 1, oder auch kurz V1.

Die Entwicklungsarbeiten der DFVLR für die Marschflugkörper-Technologie betrafen im einzelnen die folgenden Bereiche:

  1. Untersuchung

    • nahezu aller wesentlichen Antriebsprobleme
    • Steigerung des spezifischen Impulses, speziell durch Bor-, Bor-Lithium- und Metallzusätze des Treibstoffs
    • Konfigurierung von Hybrid- und Kombinationstriebwerken
    • Untersuchung des Abbrennverhaltens
    • Zündungs- und Stabilitätsfragen des Abbrands
  2. Schubvektorregelung

    • Regelung der Größe durch Drosselung der Brennstoffzufuhr
    • Regelung der Richtung durch Injektion eines Sekundärstrahls in den Triebstrahl
  3. Theoretische und experimentelle Strömungsmechanik

    • Berechnung des Strömungswiderstands verschiedener Formen des Ausgangsstupfens und der Heckform, Untersuchung der Aufheizung des Hecks durch den Treibstrahl und Messung entsprechender Parameter im Windkanal.

Die Forschung von heute als die Rüstung von morgen?

Die Arbeiten eines bundesdeutschen, halbstaatlichen Forschungsinstituts an Marschflugkörpern müssen allen Menschen Sorge bereiten, die an Abrüstung und Entspannung in Europa interessiert sind. Für die Zukunft könnten diese Projekte in eine Richtung weichenstellend sein, die kaum zum Abbau der Ost-West-Konfrontation beitragen wird. Am besorgniserregendsten erscheint in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß 1995 der Atomwaffensperrvertrag ausläuft (wenn die Unterzeichnerländer nicht beschließen, ihn zu verlängern) und daß derartige Waffenentwicklungen von heute in die Trägersysteme einer deutschen Atombombe von morgen münden könnten. Erinnert sei an eine Äußerung des FDP-Politikers Ralf Dahrendorf, der 1982 sagte: „Und diese europäische Beteiligung verlangt – das müssen wir unweigerlich anpacken – die Frage des deutschen Fingers am nuklearen Drücker. Da hilft alles nichts, und da ich kein Amt habe, kann ich das unbefangen sagen.“8

Derartige Äußerungen sind wenig angetan, den Glauben in die Kraft des Atomwaffensperrvertrages zu stärken, ebensowenig wie die Tatsache, daß 1974 ein Großteil der damaligen CDU/CSU-Fraktion die Zustimmung zum Vertrag verweigerte und darunter auch Politiker waren, die heute hohe Regierungsämter innehaben. Doch nicht nur sich selbst als christlich bezeichnende Politiker zeigten deutliches Interesse an einer Atomwaffe unter deutscher Kontrolle, auch die Mitglieder der sozialliberalen Regierung konnten sich bei der Inkraftsetzung des Atomwaffensperrvertrages 1975 nicht eindeutig vom Wunsch nach einer Verfügungsgewalt über solche Waffen lossagen. In der Erklärung der Bundesregierung anläßlich der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zum Nicht-Verbreitungsvertrag heißt es: „Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland (…) 3. erklärt, daß keine Bestimmung des Vertrages so ausgelegt werden kann, als behindere sie die weitere Entwicklung der europäischen Einigung, insbesondere die Schaffung einer Europäischen Union mit entsprechenden Kompetenzen (…).“9 Diese Zusatzerklärung heißt in der Sprache der Völkerrechtler Vorbehalt und hat leider rechtliche Gültigkeit. Der Bundesrepublik wäre somit die Beteiligung an einer europäischen Atomstreitmacht erlaubt. Alle Regierungen unserer jungen Republik haben sich also eine Atombewaffnung der Bundeswehr oder wenigstens ein deutsches Mitspracherecht an einer multilateralen Atomstreitmacht offen gehalten. Solange das der Fall ist, muß die Entwicklung von potentiellen Atomwaffen-Trägersystemen – wie die von DFVLR mitentwickelten Marschflugkörper – auf den Widerspruch der Friedensbewegung stoßen.

Durch solche Flugkörper wird aber auch der Erfolg der sich augenblicklich abzeichnenden Null-Null-Lösung bei atomaren Mittelstreckenraketen in Frage gestellt. Denn Marschflugkörpern ist äußerlich weder die Art ihrer Bewaffnung (atomar, konventionell oder chemisch) noch ihre Reichweite anzusehen 10. Wie sollte ein abzuschließender Vertrag überprüft werden, wenn in Europa neue Marschflugkörper stationiert werden, von denen nicht festzustellen wäre, ob es sich um Atomwaffen handelt?

Neben der atomaren ist es aber auch die konventionelle Dimension, die Besorgnis erregen muß. Langreichweitige Flugkörper gehören notwendigerweise in die neue NATO-„Verteidigungs“doktrin, die mit den Namen Air-Land-Battle und Rogers-Plan umschrieben wird und die im Falle eines Krieges in Europa „tiefe Schläge in das Hinterland des Gegners“ vorsieht, „zur Bekämpfung der 2. und 3. Staffel des Angreifers“. Im November 1984 wurde dieses Konzept unter der Bezeichnung „Follow-On-Forces-Attack“ (FOFA) durch die Verabschiedung eines entsprechenden Dokuments auf NATO-Botschafter-Ebene offizielle Doktrin der NATO 11. Bis heute werden der genaue Beschluß und Details der neuen Doktrin geheimgehalten, um die 1983 um Air-Land-Battle entbrannte Diskussion nicht weiter zu entfachen.

Nach den vorliegenden Dokumenten 12 sollen unterschiedlichste Marschflugkörper für das FOFA-Konzept eingesetzt werden, um mit konventioneller Munition bewaffnet strategische Punktziele (Brücken, Straßenkreuzungen und Eisenbahnknotenpunkte) und Flächenziele (Panzerverbände, Start- und Landebahnen) im Hinterland des Gegners zu bekämpfen. Als problematisch an dieser Strategie wird gesehen, daß wieder einmal vorgegeben wird, durch Aufrüstung mehr Sicherheit zu schaffen, tatsächlich dadurch aber das Gefühl der Bedrohung auf der Gegenseite vergrößert wird und die neue Strategie in Krisen nicht konfliktmindernd, sondern -verstärkend wirken würde. Augenblicklich zeichnen sich schon einzelne konventionelle Rüstungsprojekte ab, bei denen die von der DFVLR entwickelte Technologie Verwendung finden soll bzw. könnte. Das sind

  1. der sogenannte Abstandslenkflugkörper größerer Reichweite (Long Range- Stand Off Missile, LRSOM),
  2. Das Container Weapon System Apache/CWS und
  3. die Anti-Schiffsrakete ANS (Anti-Navire Supersonique).

    • Für das letztere System geht aus der Übereinstimmung zwischen den DFLVR-Quellen und den entsprechenden Journalen der Rüstungswirtschaft 13 eindeutig hervor, daß dort die DFVLR-Technologie Verwendung findet (zu erkennen an der Verwendung borhaltiger Treibstoffe, den Lufteinzugsformen und der Angabe der Geschwindigkeit von 2,3 Mach). Im Fall von 1. und 2. ist das nicht so klar, doch sehr wahrscheinlich. An allen drei Systemen war oder ist die Firma MBB wenigstens in der Planungsphase beteiligt. Sie sollen später von französisch-deutschen oder amerikanisch-britisch-deutschen Firmenkonsortien hergestellt – werden. Während die ANS die Rolle einer Exocet Nachfolgerin spielen und somit vor allem – der Schiffsbekämpfung dienen soll, sind der LRSOM und das CWS Systeme, die von Flugzeugen abgeschossen werden, um Ziele am Boden anzugreifen. Die Reichweite des CWS wird zwischen 10 und 40 Kilometer schwanken, je nach der Beladung, die bis zu 1200 Kilogramm Munition betragen kann 14. CWS und LRSOM werden einen Teil der Hardware zum FOFA-Konzept abgeben, egal wie wortreich sich die Bundesregierung von der Software, dem Air-Land-Battle-Konzept, distanziert.

Bewertung

Möglicherweise ist das gewählte Beispiel der Marschflugkörpertechnik nicht typisch für die Beschreibung der halbstaatlichen Rüstungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland. In einem Großteil der Rüstungs-FuE könnte es um weniger offensive Waffensysteme gehen. Doch der um diesen Forschungsbereich gebreitete Mantel der Geheimhaltung läßt die Frage leider unbeantwortet. Auf jeden Fall bleibt m.E. zu bilanzieren, daß auch in unserem Land Waffen entwickelt werden, die den selbstgestellten Anspruch der Regierung „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ nicht einlösen können.

Anmerkungen

1 Eine Beschreibung der Siemens-Rüstungsaktivitäten findet sich z.B. in: „Friedensanalysen für Theorie und Praxis“ Band 5, Hrsg.: Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), S. 195 ff., Frankfurt a. M. 1977. Außerdem finden sich weitere „Firmenportraits“ in der gleichlautenden Rubrik der monatlich erscheinenden Zeitschrift WEHRTECHNIK Zurück

2 „Friedensanalysen für Theorie und Praxis“, Band 2, Hrsg.: HSFK, S. 148 ff., Frankfurt a. M., 1976Zurück

3 Bundesminister für Forschung und Technologie: „Bundesbericht Forschung 1984“, Bundestagsdrucksache 10/1543, S. 162, Bonn, 4. Juni 1984Zurück

4 DFVLR-Jahresbericht 1984, S. 103, Köln-Porz, 1985Zurück

5 Bundeshaushaltsentwurf 1984, Einzelplan 14 (Bundesminister der Verteidigung), Kapitel 20 (Wehrforschung, wehrtechnische und sonstige militärische Entwicklung und Erprobung), S. 202, und: Fraunhofer Gesellschaft: Jahresbericht 1981, S. 54/55, München, 1982Zurück

6 Deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt: Jahresberichte ab 1976, Köln-PorzZurück

7 Deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt: Ergebnisberichte ab 1976, Köln-Porz (z.B. über das Fachinformationszentrum in Karlsruhe erhältlich)Zurück

8 Weser-Kurier, 14. Juli 1982 (zitiert nach WIRTSCHAFTSWOCHE, Düsseldorf)Zurück

9 „Abrüstung und Rüstungskontrolle“, Hrsg.: Auswärtiges Amt, 6. Auflage, S. 66, Bonn, Dezember 1983Zurück

10 Kosta Tsipis: „Marschflugkörper“, Scientific American,2/1977Zurück

11 friedenspolitischer kurier,15. November 1984Zurück

12 European Security Study: „Strengthening Conventional Deterrence in Europe“, London 1983 und S. L. Canby: „The New Technologies“, in: SIPRI – Workshop on Measures to Reduce the Fear of Surprise Attack in Europe, SIPRI, Dez. 1983Zurück

13 MBB international, Mai 1984, S. 4Zurück

14 Frankfurter Rundschau, 10. Juni 1986; Der Spiegel, 9.6.88; Süddeutsche Zeitung, 18.12.84; Wehrtechnik, 5/84Zurück

Mario Birkholz ist Physiker und arbeitet an einem freien Forschungsinstitut in Berlin

Deutsche Blockaden. Die Pershing Ia und die „Doppelte Null-Lösung“

Deutsche Blockaden. Die Pershing Ia und die „Doppelte Null-Lösung“

von Dietrich Schulze-Marmeling

Blockiert das bundesrepublikanische Beharren auf Beibehaltung der Pershing Ia Option ein Abkommen über die Abrüstung landgestützter Nuklearwaffen der Reichweiten 500 bis 1.000 bzw. 1.000 bis 5.000 km (sogenannte „doppelte Null-Lösung“)? Jedenfalls hat die Sowjetunion wiederholt kundgetan, daß sie die westliche Interpretation – wonach es sich bei der Pershing Ia um ein „Drittstaaten-System“ handelt, das von einer sowjetisch-amerikanischen Vereinbarung ausgespart bleiben müsse – nicht akzeptiert.

Doch zunächst zu dem System – als Stein des Anstoßes – selbst: Die Pershing Ia wurde 1962 eingeführt. Ihre Reichweite wird gemeinhin mit 720 km angegeben (andere Quellen sprechen auch schon mal von 750 oder 780 km, was indes am Charakter der Waffe wenig ändert). Damit taugt sie zum Angriff gegen militärische Ziele in der Tiefe des gegnerischen Raumes („deep Strike“) – d.h. zur Ausschaltung zentraler Flughäfen und zur Unterbrechung des sowjetischen Nachschubs an Engpässen (Brücken etc.). Diese Fähigkeit und Zweckbestimmung begründet die ständige Alarmbereitschaft, in der sich das System befindet.

Im Zusammenhang mit der Stationierung der Pershing II, die im Gegensatz zur Pershing Ia auch Ziele in den drei westlichen Militärbezirken der Sowjetunion abdecken kann, haben die USA ihre 108 Pershing Ia Systeme aus der BRD abgezogen. Es verblieben auf bundesrepublikanischem Territorium 72 Ausgaben dieser Waffe, deren Trägersysteme der Bundesluftwaffe zugeordnet sind (sich somit in deutscher Hand befinden), während der atomare Sprengkopf unter US-Verschluß verbleibt (andere Quellen geben die Zahl der noch existierenden Pershing Ia Systeme allerdings mit 126 an, was bedeuten würde, daß ein vollständiger Abzug der amerikanischen Systeme noch nicht erfolgt ist).

Nach den bisherigen Planungen der NATO soll die Pershing Ia, an die sich die BRD nun so klammert, 1991 außer Dienst gestellt werden, da dann die Ersatzteilbevorratung endet. Allerdings keineswegs ersatzlos: Noch zur Amtszeit der sozialliberalen Koalition wurde beschlossen, die auszumusternden Pershing Ia Systeme durch eine entsprechende Anzahl von Pershing Ib Raketen zu ersetzen. Bei der Pershing Ib handelt es sich um eine „gekürzte“ Ausgabe der LRTNF (= Long Range Theater Nuclear Force)-Waffe Pershing II, deren Reichweite unter 1.000 km (und über der der Pershing Ia) liegt und die somit in die Kategorie der MRTNF (= Medium Range Theater Nuclear Forces)-Waffen bzw. unter die „zweite Null-Lösung“ (500 bis 1.000 km Reichweite) fällt. Zudem verfügt die Pershing Ib über eine höhere Zielgenauigkeit als ihre Vorgängerin. Abgesehen davon, daß dies nicht Abrüstung, sondern vielmehr Umrüstung und qualitative Aufrüstung bedeutet, würde die Dislozierung der Pershing Ib erhebliche Probleme bezüglich der Verifizierbarkeit eines Abkommens bei den Waffen der Reichweite 1.000 bis 5.000 km aufwerfen. Denn die Pershing Ib läßt sich binnen 48 Stunden zu einer eurostrategischen – d.h. sowjetisches Territorium erreichenden – Pershing II umbauen.

Doch damit längst nicht genug: Mittlerweile ist bekannt geworden, daß Wörner nicht nur gedenkt, 72 Pershing Ia durch 72 modernere Pershing Ib zu ersetzen, sondern zusätzlich die Anschaffung von 80 weiteren Exemplaren dieses Systems beabsichtigt. Desweiteren impliziert die Annahme des sogenannten „Rogers-Planes“ die Anschaffung eines umfangreichen Arsenals von Waffen der Reichweite 500 bis 1.000 km, die indes mit einem konventionellen Sprengkopf ausgerüstet sind. Auch hier ist die BRD mit von der Partie.28 Mio. US-Dollar, untergebracht in einem insgesamt 50 Mio. US-Dollar-Programm zur Unterstützung deutsch-amerikanischer Vorhaben zur „Stärkung der NATO-Luftverteidigung in Mitteleuropa“ (zu dem sich die BRD im Rahmen des „Roland/Patriot-Abkommens“ verpflichtete), werden für ein Projekt mit dem Namen „Technex“ veranschlagt. „Technex“ ist die Bezeichnung für ein Technologie- und Experimental-Programm, bei dem konventionelle Sprengköpfe, konventionelle Submunition und Startgeräte für Mittelstreckenwaffen erarbeitet werden sollen. Bei diesen handelt es sich offensichtlich um ein Nachfolgesystem der Pershing Ia. Diesbezüglich wird ein Problem evident, das in der aktuellen Debatte um die „doppelte Null-Lösung“ gänzlich ausgeblendet wird: Im Zuge der Modernisierung der NATO-Strategie betreibt der Westen bewußt die „Konventionalisierung“ bestimmter Bereiche der regionalen Kriegsführung, die bislang ausschließlich den Atomwaffen vorbehalten blieben. So erfolgt z.Zt. u.a. die konventionelle Umrüstung der NATO-Luftverteidigung, die bislang auf den „Nike“- und „Hawk“-Raketengürteln basierte und nun durch bivalente (d.h. konventionell wie nuklear armierbare) „Patriot“-Systeme ersetzt werden. Das „Nike“-System – als Rückgrat der Luftverteidigung – hatte den Nachteil, daß sein Einsatz bei einer Reichweite von 150 km und nuklearer Armierung zur Verwüstung des eigenen Territoriums geführt hätte. Eine Eigenschaft, die abschreckungspolitisch Glaubwürdigkeit kostet und eher „selbstabschreckend“ wirkt.

Innerhalb der NATO wird der Streit bei den Waffen mit einer Reichweite von 500 bis 1.000 km darum geführt, ob neben der neuen konventionellen (auch die Pershing Ib ist bivalenten Charakters) auch die alte atomare Option beibehalten werden soll. Hier prallen gleich mehrere NATO-Schulen aufeinander, wie dies auch in anderen Rüstungskategorien – so u.a. bei den LRTNF-Waffen – der Fall ist. Aus der Sicht der BRD würde eine vollständige „Konventionalisierung“ in diesem Bereich auf eine nukleare Entkoppelung von den USA, auf die Errichtung einer Brandmauer zwischen konventioneller und nuklearer Kriegsführung hinauslaufen, was von bundesrepublikanischen Militärs stets abgelehnt wurde, da dies eine Relativierung der Abschreckungskraft der BRD wie der „flexible response“ hinsichtlich ihrer Interpretation als „Kriegsverhinderungsstrategie“ bedeuten würde. In den USA ringen wiederum zwei Schulen miteinander, von denen die eine die Auffassung vertritt, daß sich – sofern sowjetisches Territorium ausgespart bleibt (wobei einige nicht einmal dies als Voraussetzung anerkennen wollen) – ein Krieg in Europa mit nuklearen Mitteln (und abgekoppelt vom nuklearstrategischen Arsenal wie vom Territorium der USA) führen läßt, während die andere hingegen der Einschätzung frönt, daß der Einsatz jeder Nuklearwaffe – ganz gleich welcher Reichweite, welcher Zielbestimmung und welcher Zerstörungskraft – mit dem Risiko der nuklearstrategischen Eskalation belastet und deshalb zu vermeiden ist. Folglich seien Nuklearwaffen nicht als Mittel der Kriegsführung, sondern als „politische Waffen“ zu verstehen und „ins zweite Glied“ zu verbannen. Der Einsatz von Nuklearwaffen – wenn er denn nicht zu umgehen ist – habe lediglich zum Zwecke der Kriegsbeendigung zu erfolgen. Letztere Schule propagiert eine sehr weitgehende „Konventionalisierung“ der NATO-Strategie und der Kriegsführung auf dem potentiellen europäischen Kriegsschauplatz. Vom Standpunkt der bundesrepublikanischen Abschreckungslogik her betrachtet ist weder die eine noch die andere Sichtweise akzeptabel. Was die Schule der „Nuklearisierer“ anbelangt, so herrscht insoweit Übereinstimmung, daß diese an der Notwendigkeit von Nuklearwaffen in Europa festhalten und eher zum frühzeitigen Einsatz dieser Waffen neigen. Andererseits herrscht dort Widerspruch, wo es um die Interpretation des Nuklearwaffeneinsatzes geht bzw. dieser als integraler Bestandteil eines regionalen Kriegsführungskonzeptes erscheint. Mit den „Konventionalisierern“ ist sich die bundesrepublikanische Abschreckungslogik dahingehend einig, daß Nuklearwaffen primär als politische Waffen – und nicht als Kriegsführungsmittel – zu verstehen sind. Andererseits klaffen die Positionen dort auseinander, wo es um den Zeitpunkt des Einsatzes von Nuklearwaffen wie um die Frage einer Brandmauer zwischen nuklearer und konventioneller Kriegsführung geht. Was die bundesrepublikanische Abschreckungslogik von beiden US-Schulen unterscheidet, ist, daß diese – aus der Sicht der BRD – die NATO-Strategie als Kriegsführungsstrategie (denn als Kriegsverhinderungsstrategie) interpretieren wie eine Aufkündigung der NATO-internen „Risikogemeinschaft“ intendieren.

Im Resultat läuft die (alte) NATO-interne Auseinandersetzung darauf hinaus, daß rüstungspolitisch allen Schulen Rechnung getragen wird. Dies ist noch stets so gewesen und bestimmt bis heute die vielschichtige Rüstungsstruktur der NATO. Die NATO-Rüstung ist dadurch gekennzeichnet, daß für jedes, aber wirklich auch jedes irgendwie am Reißbrett vorstellbare Kriegsszenario eine entsprechende Kriegsführungsoption und Bewaffnungsstruktur bereit gehalten wird. Hieraus ergibt sich eine unübersehbare Tendenz zur „Doppelung“ der NATO-Rüstung, die Abrüstung zusätzlich erschweren muß.

Was nun den Bereich landgestützter Raketen der Reichweite 500 bis 1.000 km anbelangt, so darf davon ausgegangen werden, daß die NATO hier sowohl neue konventionell armierte Systeme dislozieren wird, wie aber auch eine nukleare Option beibehalten wird. Dies findet nicht zuletzt in der Orientierung auf bivalente Systeme seinen Ausdruck. Strategie- (Stichwort „Eskalation“) wie anatomiebedingt (Stichwort „Verkoppelung") ist in den Reihen der NATO das „worst case“-Denken wesentlich stärker ausgeprägt, als sich dies für die Sowjetunion konstatieren läßt, die es sich offensichtlich leisten kann, in den Kategorien eines „dynamischen Gleichgewichts“ zu denken.

Die Probleme der BRD mit der „doppelten Null-Lösung“

Aus dem bislang Gesagten resultiert, daß die militärische Bedeutung der Pershing Ia aus der Sicht der BRD eher als gering einzuschätzen ist. Was bleibt, das ist ein politischer und symbolischer Wert, auf den noch einzugehen ist. Zunächst gilt es indes, allgemeiner die Probleme der BRD mit der „doppelten Null-Lösung“ zu eruieren.

Die diesbezüglichen Einsprüche von CDU/CSU und Militärs muten – sofern sie die Waffen der Kategorie 500 bis 1.000 km betreffen – etwas erstaunlich an. Denn es waren exakt diese Kräfte, die im Zusammenhang mit dem Gipfel von Reykjavik eine Abrüstung auch bei den Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite einklagten. Eine „Null-Lösung“ bei den LRTNF-Waffen sollte an eine sowjetische Abrüstung bei den Raketen kürzerer Reichweite gekoppelt werden. Doch seit die UdSSR dieses Junktim positiv aufgenommen hat, ist alles anders. Denn nun taugt es nur noch bedingt dazu, eine Null-Lösung“ bei den LRTNF-Waffen zu torpedieren. Die Angelegenheit wird noch skurriler, wenn man berücksichtigt, daß das Bundesverteidigungsministerium die sowjetischen SS 12/22 etc. Waffen noch 1985 als „keine neue Bedrohung“ qualifizierte, die westlicher Aufmerksamkeit und entsprechender Antworten bedürften. So drängt sich der Verdacht auf, daß es um die „zweite Null-Lösung“ zumindest zunächst nur mittelbar ging. Es spricht einiges dafür, daß die Waffen der Reichweite 500 bis 1.000 km nur thematisiert wurden, um durch „Draufsatteln“ ein Zustandekommen der „ersten Null-Lösung“ zu hintertreiben.

Denn nach der konservativen Sicherheitsphilosophie sind die eurostrategischen Systeme für die BRD von weitaus größerer abschreckungspolitischer Bedeutung, als Waffen wie die Pershing Ia und erst recht solche Nuklearwaffen, deren Reichweite noch unterhalb von 500 km liegt. Nur die LRTNF-Waffen können sowjetisches Territorium erreichen und versprechen so den intendierten Ankoppelungseffekt. Der konservative Sicherheitsstratege Kaltefleiter schreibt dazu in der „Europäischen Wehrkunde“, dem Hausblatt des bundesrepublikanischen Offizierskorps: „Mit der sehr glaubwürdigen Ankündigung der Sowjetunion, sie würde jeden Schlag, der ihr Territorium erreiche, mit einem Gegenschlag auf das Territorium der USA beantworten, war nach der Stationierung der ersten Pershings und Cruise Missiles die nukleare Ankoppelung Europas an die USA erreicht. Es ist das Verdienst von Bundeskanzler Schmidt, dem amerikanischen Präsidenten diese Ankoppelung Europas abgerungen zu haben“ („Europäische Wehrkunde“, 5/1987). Der von Kaltefleiter beschriebene Mechanismus wurde von mir als „negative Verkoppelung“ bezeichnet (siehe D. Schulze-Marmeling: Die NATO. Anatomie eines Militärpaktes, Göttingen 1987): Die Sowjetunion wird von Westeuropa aus in einer Weise (strategisch) bedroht, daß diese nicht nur mit nuklearen Schlägen etwa gegen die BRD (als Stationierungsland eurostrategischer Waffen), sondern auch gegen US-Territorium antworten würde. BRD und USA säßen in einem Boot, eine NATO – interne „Risikogemeinschaft“ wäre hergestellt, die es dem einzelnen Mitgliedsstaat verunmöglicht, seine Interessen von denen der anderen zu trennen. Der BRD gelingt es, mittels des Mechanismus der „negativen Unkoppelung“ sich des gesamten militärischen Potentials von USA und NATO auch dann zu versichern, wenn es zunächst primär um die Wahrung spezifisch bundesrepublikanischer Interessen geht. Zu Lande und in der BRD müssen entsprechende Ankoppelungssysteme deshalb stationiert sein, weil so bereits räumlich (BRD) wie was die Wahl der Kriegsmittel anbelangt (konventionell) begrenzte Kriegshandlungen mit dem Risiko der nuklearstrategischen Eskalation – also einer Eskalation, die sowjetisches Territorium mit einbezieht – belastet sind. Denn, so das Kalkül: bevor diese Systeme der gegnerischen Kriegsführung zum Opfer fallen, wird man sie verschießen. Und zwar mitten in das Herz der Sowjetunion.

Gesetzt den (nicht belegbaren) Fall, das bundesrepublikanische Ankoppelungs- und Abschreckungskalkül ist realitätstüchtig, dann muß es im Interesse der USA liegen, den Einsatz dieser Waffen zu verhindern oder aber zumindest hinauszuzögern. BRD- und US-Interessen treffen sich dort, wo es um die sogenannte vorbedachte Eskalation geht. Diese soll in Form des nuklearen Ersteinsatzes (aus der Sicht der USA können allerdings taktische Nuklearwaffeneinsätze vorgeschaltet werden) gegen sowjetisches Territorium erfolgen, der erkennbar begrenzt ausfallen muß. Denn er soll einerseits die UdSSR bis dicht an den Abgrund zur allgemeinen nuklearen Eskalation führen, ihr andererseits jedoch auch ein Zurückweichen – das den Weg zur Kriegsbeendigung frei machen würde – ermöglichen.

An dieser Option (selektiver strategischer Schläge) sind auch die USA interessiert, als Alternative zum nicht fahrbaren allgemeinen Nuklearkrieg. Zur Durchführung der „vorbedachten Eskalation“ bedarf es extrem eindringfähiger und zielgenauer Waffen, wie der Pershing II, deren Streukreishalbmesser gemeinhin auf 30 bis 40 m beziffert wird. Denn fällt der nuklearstrategische Ersteinsatz nicht erkennbar begrenzt bzw. zu massiv aus (was z.B. bei zu geringer Zielgenauigkeit oder mangelhafter Eindringfähigkeit, die eine Mehrfachabdeckung des selektiven Zieles notwendig macht, der Fall ist), besteht die Gefahr einer Eskalationsfortsetzung seitens der Sowjetunion, die es jedoch exakt zu vermeiden gilt. Die USA sind daran interessiert, daß dieser Ersteinsatz bzw. die Strategie selektiver nuklearstrategischer Schläge oder der vorbedachten Eskalation mit eurostrategischen Waffen durchgeführt wird, da dies den lediglich „quasi-strategischen“ Charakter des eigenen Vorhabens politisch unterstreichen würde. Hier wird der paradoxe Charakter der Strategie- und Ankoppelungsdebatte evident: Soll die USA strategische Waffen zugunsten der BRD einsetzen, dann muß die theoretische Möglichkeit der regionalen Begrenzung aus der Sicht der USA möglichst glaubwürdig gegeben sein. Das BRD-Kalkül der Verkoppelung muß sich also mit dem US-Interesse an einer regionalen Begrenzbarkeit nuklearer Kriegsführung vermengen können!

Zur Bestätigung der These, daß die bundesrepublikanischen Querschüsse bezüglich der zweiten „Null-Lösung“ tatsächlich der Verhinderung der „ersten Null-Lösung“ gelten, sei aus der „FAZ“ zitiert: „Die Bundesregierung hat sich mit ihrer grundsätzlichen Zustimmung zu einer Null-Lösung bei den weitreichenden Mittelstreckenraketen in eine üble Lage manövriert, aus der sie nur mit einer Umkehr wieder herauskommen könnte – was der Außenminister freilich nicht will. Schwer tun sich diejenigen CDU-Politiker, die begründen wollen, warum „null“ bei den Raketen längerer Reichweite wünschenswerte Fortschritte, aber bei den kürzeren verkehrt sein soll. Die Abschreckung muß ja nicht in Warschau oder in Ost-Berlin wirken, sondern in Moskau. Logisch ist es nicht, im Westen auf diejenigen Nuklearwaffen in Europa zuerst und ganz zu verzichten, die sowjetisches Territorium erreichen können, aber der Sowjetunion diejenigen (konventionellen) Mittel zu lassen, mit denen sie am ehesten riskieren könnte, Westeuropa anzugreifen. (…) Der Fehler Bonns lag schon im ersten Schritt, in der Ansicht, die eigene Glaubwürdigkeit verbiete es, 1987 zu einer „Null-Lösung“ (die keine sein wird – DSM) nein zu sagen, weil man 1982 zu einer anderen Null-Lösung ja gesagt habe“ (Günther Gillessen: „Rapacki Plan auf neue Weise?“, in „FAZ“ v. 6.5.1987). Der selbe Autor offerierte wenige Wochen später einen alternativen „Abrüstungs“modus, der bei den Waffenkategorien beginnt, die für die BRD von geringerer abschreckungspolitischer Bedeutung sind bzw. ohnehin rationalisiert und umgerüstet („konventionalisiert“) werden: „Die Bedeutung dieser Waffen (der weitreichenden Mittelstreckenraketen, – DSM) liegt darin, daß sie ermöglichen, von europäischem Boden aus Abschreckungsdruck dorthin zu richten, wo er hingehört: auf die Sowjetunion selbst. Seitdem konnte dafür eine vielmals größere Zahl von Atomwaffen kurzer Reichweite aus Europa weggeschafft werden und die NATO nuklear,abmagern. Auf diesem Wege könnte das Bündnis auch dort noch fortfahren, sogar ohne sowjetische Gegenleistung – solange nur eine gewisse Mindestmenge der weiterreichenden Mittelstreckenwaffen erhalten bliebe“ (Günther Gillessen: „Am Nerv des Bündnisses“, in „FAZ“ v. 26.6.87). Gillessen spricht hier den NATO-Beschluß von Montebello an, der besagt, bis 1988 die in Europa gelagerten amerikanischen taktischen Atomsprengköpfe von 7.000 auf 4.600 abzubauen wie die verbleibenden Sprengköpfe zu modernisieren (Ausbau der Reichweiten, Erhöhung der Zielgenauigkeit, auf daß ein zweckbestimmter – weniger selbstabschreckender und eskalationsträchtiger – Einsatz möglich wird). Tatsächlich ist ein Großteil der bisherigen TNF (= Theater Nuclear Forces) – Struktur militärisch sinnlos und überflüssig. Was die Waffen sehr kurzer Reichweite anbelangt, die z.T. auf dem Territorium der BRD detonieren würden, so benötigt die NATO von diesen lediglich eine Menge, die dazu geeignet erscheint, den Kontrahenten von konventionellen Kräftekonzentrationen, die der Herstellung örtlicher Überlegenheit bei der Vorbereitung eines Durchbruchs auf das Territorium der BRD dienen könnten, abzuhalten. Denn derartige Truppen- und Panzerkonzentrationen würden ein geradezu einladendes Objekt für den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln darstellen.

Welche Bedeutung haben die Waffen der Reichweite 500 bis 1.000 km?

Allerdings geht es nicht ausschließlich um die bloße Torpedierung der „ersten Null-Lösung“, auch wenn die BRD an den bodengestützten LRTNF-Waffen mehr hängt als die USA. Denn was die Option der vorbedachten Eskalation bzw. selektiver nuklearstrategischer Einsätze anbelangt, so sind Pershing II und Ground Launched Cruise Missiles (GLCMs) alsbald ersetzbar. Denn: Zu den Kompensationsmaßnahmen, auf die sich die NATO – für den Fall des Zustandekommens einer „Null-Lösung“ bei den weitreichenden landgestützten Mittelstreckenwaffen – bereits geeinigt hat, zählt u.a. die Ausrüstung von in Europa stationierten nuklearfähigen Bombern mit bis zu 1.500 Air Launched Cruise Missiles (ALCMs). Damit steht der NATO eine Option zur Verfügung, die zum Zeitpunkt der Beschlußfassung über die „Nach“rüstung noch nicht existent war. Bis dahin wurden Ziele in der westlichen Sowjetunion vorrangig durch nuklear bestückte Flugzeuge abgedeckt (abgesehen von den bei Holy Loch (Schottland) dislozierten Submarine Launched Ballistic Missiles/SLBMs, die 1973 dem NATO-Oberkommando Europa unterstellt und für eurostrategische Zwecke ausgewiesen wurden). Die Eignung der alten Bomberstruktur für selektive Einsätze galt indes als problematisch aufgrund der Gefährdung ihrer Überlebensfähigkeit und Eindringfähigkeit in den gegnerischen Luftraum (bedingt durch sowjetische Abwehrmaßnahmen: Boden-Luft-Raketen und Abfangjäger). Um ihr Ziel anzuvisieren, mußten sie zunächst in den gegnerischen Luftraum eindringen. Zudem waren diese Bomber bzw. ihre Waffen von erheblich geringerer Zielgenauigkeit. Dies alles zwang zur Mehrfachabdeckung ausgewählter Ziele, um ganz sicher zu gehen, daß der selektive Einsatz erfolgreich ausgeführt wurde, was jedoch mit dem Ansinnen der für den Gegner erkennbaren Einsatzbeschränkung und Schadensbegrenzung unvereinbar war. „Ungewollte“ größere Kollateralschäden hätten den Kontrahenten vermutlich zur (massiveren) Vergeltung genötigt, was die westliche vorbedachte Eskalation ad absurdum geführt hätte. Aufgrund der Reichweite luftgestützter Marschflugkörper, müssen mit ALCMs ausgerüstete Bomber nicht erst in den gegnerischen Luftraum eindringen, um ein bestimmtes Ziel anzuvisieren. Desweiteren verfügen die ALCMs selbst über eine hohe Eindringfähigkeit (wie alle Marschflugkörper, die für den gegnerischen Radar kaum erfaßbar sind) und Zielgenauigkeit, erfüllen somit die militärtechnischen Voraussetzungen für den selektiven nuklearstrategischen Einsatz. Aus der Sicht der USA sind sie allein schon deshalb landgestützten eurostrategischen Systemen vorzuziehen, weil ihnen nicht der gleiche Eskalationsautomatismus (im Falle konventioneller Kriegshandlungen, s.o.) innewohnt und rückrufbare Bomber mehr zeitlichen Spielraum für die Krisenkommunikation mit dem Kontrahenten gestatten.

Mit den Waffen der Reichweite 500 bis 1.000 km, die sowjetisches Territorium erreichen können, läßt sich – gemäß der Verkoppelungslogik – eine nukleare Kriegsführung eher regionalisieren. Folgerichtig sind sie auch operativ-taktischen Aufträgen zugewiesen („deep Strike“) und in das Air-Land-Battle Kriegsführungskonzept integriert. Die bundesrepublikanischen Probleme werden evident, wenn man mal die folgende These postuliert: Je kürzer die Reichweite einer in Europa stationierten Nuklearwaffe, desto größer die Chance, mit ihr eine vom strategischen Arsenal der USA abgekoppelte, regionale Kriegsführung zu praktizieren. Vor allem dann, wenn diese Waffe auch noch „sauber (Neutronenwaffe) und zielgenau ist. Was die CDU/CSU befürchtet, ist, daß nach zwei „Null-Lösungen“ eine Nuklearwaffenstruktur in der BRD übrig bleibt, mit der sich aus US-Sicht vortrefflich der Nuklearkrieg begrenzen läßt, der BRD hingegen verwehrt bleibt, von ihrem Territorium aus eine nuklearstrategische Drohung gegen die Sowjetunion auszusprechen und somit die USA glaubwürdig strategisch anzukoppeln. Es stünden keine Mittel bereit, der Sowjetunion die Option der räumlich, zeitlich wie von der Wahl der Mittel her begrenzten Kriegsführung – als Alternative zum bedingungslosen Wohlverhalten – zu verwehren. So besehen wird auch die „zweite Null-Lösung“ für konservative Sicherheitsstrategen zu einer unerträglichen Angelegenheit; vor allem deshalb, weil der Aufkündigung der Ankoppelung an die USA das Ende der Verkoppelung mit den anderen westeuropäischen NATO-Staaten – allen voran den Nuklearwaffenbesitzern Frankreich und Großbritannien – folgen würde. Denn gemäß der Ankoppelungslogik wie des Mechanismus der „negativen Verkoppelung“ besteht das Problem der „zweiten Null-Lösung“ pikanterweise nicht nur in der eventuellen Abrüstung der eigenen Waffen (wobei es lediglich um die Pershing Ia/Ib geht), sondern auch (und gerade) der der Sowjetunion. Von daher die Formulierung: gemeinsame Obergrenzen statt Abrüstung auf „Null“. Denn: Wenn Großbritannien und Frankreich – als Folge einer „doppelten Null-Lösung“ – nicht mehr länger von landgestützten sowjetischen Mittelstreckenwaffen (längerer wie geringerer Reichweite) bedroht werden, sondern gegnerische Nuklearwaffen nur noch die BRD betreffen, entfällt für London und Paris ebenfalls der etwaige Zwang zum nuklearen Engagement an der Seite der BRD. „Die einfache „Null-Lösung“, die sich „nur“ auf Mittelstreckenwaffen bezieht, würde – obwohl dies geleugnet wird – die Bindungen Amerikas an Europa zweifellos lockern. Und die „doppelte Null-Lösung“, die auch Kurzstreckenraketen erfaßt, würde zusätzlich die NATO-Mitglieder unseres Kontinents in zwei Sicherheitszonen trennen (…)“ (Wolfram v. Raven: „Demontage der Abschreckung?“, in „Europäische Wehrkunde“, 5/1987). Von daher war auch Kohls Versuch, eine westeuropäische Anti-Abrüstungsfront gegenüber den USA zustande zu bringen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn die Realisierung der „doppelten Null-Lösung“ würde das nukleare Gewicht Großbritanniens und Frankreichs erhöhen. Beide Staaten würden eine erhebliche Aufwertung erfahren, wenn die Bedrohung durch sowjetische Nuklearwaffen längerer wie kürzerer Reichweite verschwindet, während die eigenen Nuklearstreitkräfte, die auf die Sowjetunion zeigen, vom Abrüstungsprozeß ausgenommen bleiben. So zeigten sich die britische und französische Regierung nach kurzem Zögern bereit, gegen gewisse Zusicherungen (Kompensation in Form der Ausrüstung nuklearfähiger Bomber mit ALCMs wie der Verstärkung des für den europäischen Kriegsschauplatz abgestellten SLBM-Arsenals) der „doppelten Null-Lösung“ ihr Plazet erteilen. Zwar bedauert Frankreich den eventuellen Abzug eines auf dem Territorium der BRD dislozierten – unter Einsatzgewalt der USA stehenden – strategischen Eskalationsautomatismus, andererseits ist Paris selbst nicht dazu bereit, diesen dadurch zu ersetzen, indem französische strategische Waffen in die BRD verschoben werden (wie dies Dregger fordert). Was diese Frage anbelangt, so decken sich wiederum die Interessen der Nuklearmächte USA und Frankreich gegenüber denen der BRD, da beide wenig Lust verspüren, in allzu enger Weise an das Wohl und Wehe des Frontstaates BRD angekoppelt zu werden.

Die Pershing Ia/Ib-Debatte

Die Rebellion der CDU/CSU gegen die „zweite Null-Lösung“ war aber auch von der Furcht bestimmt, eine zusätzliche „Null-Lösung“ bei den Waffen der Reichweite 500 bis 1.000 km könnte die Pershing Ia bzw. deren Nachfolgesystem Ib zur Disposition stellen. Ein weiterer Grund, warum man plötzlich gemeinsamen Obergrenzen statt von Abrüstung auf „Null“ sprach. Die Pershing Ia begründet und symbolisiert das nukleare Mitspracherecht der BRD innerhalb der NATO (das sich allerdings auf die Einsatzplanung beschränkt, also nicht die Einsatzstruktur selbst berührt). Sie ist somit für die BRD von primär politischer Bedeutung. Nach dem Abzug von Nuklearwaffen vom Territorium der BRD, mit denen sich die gegnerische Blockführungsmacht bedrohen ließ, würde die Abrüstung der Pershing Ia aus der Sicht der CDU/CSU eine weitere Relativierung der nuklearen Rolle der BRD innerhalb der NATO bedeuten. Mittlerweile haben die USA der Pershing Ia/Ib den Status eines „Drittstaaten Systems“ attestiert, obgleich – im Gegensatz zu den britischen und französischen Waffen – der Sprengkopf unter US-Obhut bleibt. Damit wird die BRD auf der Ebene von Abrüstungsverhandlungen Frankreich und Großbritannien gleichgestellt und nuklearpolitisch aufgewertet. So hat die BRD – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – eine wichtige politische Schwelle in Richtung Eigenbesitz von Atomwaffen überschritten. Frankreich und Großbritannien ist dies wohl bewußt, weshalb beide Staaten zwar die Ausklammerung der Pershing Ia aus einer „zweiten Null-Lösung“ unterstützen, sich jedoch strikt gegen eine Etikettierung dieser als „Drittstaaten-System“ verwahren.

An dieser Stelle seien einige allgemeinere Anmerkungen zur Drittstaaten – Argumentation erlaubt. Politisch bedeutet die Drittstaaten-Argumentation, daß jeder über Nuklearwaffen verfügende oder nach solchen frachtende NATO-Staat eine eigene Abschreckungsoption gegenüber der Sowjetunion beansprucht; obgleich – jedenfalls nach der Ankoppelungslogik – im Fall des Falles – alle westlichen Nuklearstreitkräfte zusammenwirken würden. Allein die französischen Nuklearstreitkräfte besitzen die Fähigkeit, in einem zweiten Schlag 130 bis 150 sowjetische Städte zu bombardieren. Aufgrund ihrer seegestützten Dislozierungsform sind sie zudem gegenüber sowjetischen Schlägen, die ihrer präventiven Ausschaltung dienen, relativ unverwundbar. Wie es auch immer um den Ankoppelungseffekt in der Realität bestellt sein mag: entscheidend ist, daß alle westlichen Nuklearwaffen auf die Sowjetunion oder die Territorien der ihr vorgelagerten Warschauer-Pakt-Staaten zeigen. Umgekehrt wird Moskau das Recht bestritten, gegenüber den auf den eigenen Pakt gerichteten Nuklearwaffen in ihrer Gesamtheit gleichzuziehen, da dies Überlegenheit gegenüber den einzelnen NATO-Nuklearwaffenstaat implizieren würde. Während dies jedoch auf ein globales Gleichgewicht hinauslaufen würde, bedeutet die Drittstaaten-Argumentation – konsequent praktiziert – ein gigantisches Obergewicht an nuklearer Rüstung und nuklearen Optionen zugunsten der NATO.

Was die Pershing Ia/Ib anbelangt, so könnte die Sowjetunion die hier angewandte Drittstaaten-Argumentation konterkarieren, indem sie die Trägersysteme der in der DDR und CSSR stationierten Nuklearwaffen den dortigen Regierungen übereignet (während der Atomsprengkopf – analog zur Pershing Ia – unter sowjetischem Verschluß bleibt). Folgt man der NATO-Logik, dann müßten die in den östlichen Frontstaaten dislozierten Nuklearwaffen dann vom Abrüstungsprozeß ausgespart bleiben (…)

Die Gewährung des Status einer „halben Atommacht“ mag von der Warte der USA her betrachtet wahrscheinlich als das „kleinere Übel“ erscheinen. Denn hätten die USA nach den LRTNF-Waffen auch noch die Pershing Ia, die der BRD immerhin „halb“ gehören, im Verhandlungsprozeß zur Disposition gestellt, dann hätten sich in der bundesrepublikanischen Sicherheitspolitik all jene bestätigt gefühlt, die schon die erste „Null-Lösung“ zum Ruf nach einer Neuorientierung der hiesigen Sicherheitspolitik – inklusive des Eigenbesitzes von Nuklearwaffen – veranlaßte. So dient die Einstufung der Pershing Ia als Drittstaatensystem nicht zuletzt der nuklearen Satisfaktion der BRD. Seitens der BRD wurde die LRTNF-„Nach“rüstung als allianzimmanente und transatlantische Alternative zum französischen Weg der nationalen Verfügungsgewalt über A-Waffen gefeiert.

Noch einmal Günther Gillessen, der nach einer Beschreibung des seinerzeitigen Bruchs zwischen de Gaulle und den Amerikanern konstatiert: „In der historischen Perspektive wird deutlich, was Amerikaner und Europäer mit dem Doppelbeschluß 1979 politisch geleistet haben und was jetzt mit deutscher Zustimmung hergegeben werden soll“ („FAZ“ v. 1.4.1987). Genau betrachtet war die LRTNF-Stationierung die zweitletzte Option unterhalb des französischen Modells: Dislozierung eurostrategischer Nuklearwaffen auf dem Boden der BRD, während die Einsatzgewalt bei den USA verbleibt. (Was – aus der Sicht einiger Fraktionen der herrschenden Sicherheitspolitik – gar von Vorteil ist, da für die BRD keine glaubwürdige Ersatzoption existiert.) Soll heißen: Während man von den USA einen schnellen Einsatz von strategischen Nuklearwaffen verlangt, würde man selbst davor eher zurückschrecken, da ein solcher wohl die Zerstörung der BRD im Vergeltungsschlag provozieren müßte, wozu bedingt durch die Enge ihres Territoriums bereits wenige Einsätze genügen würden. Stellen die USA die Existenz der BRD zur Disposition, so ist dies glaubwürdiger, jedenfalls sofern die Möglichkeit besteht, sich selbst in der nuklearen Auseinandersetzung weitgehend schadlos zu halten.)

Parallel dazu hat die BRD in der Nuklearen Planungsgruppe der NATO durchgesetzt, daß der nukleare „first use“ zukünftig direkt gegen sowjetisches Territorium ausgeführt wird (ob des damit verbundenen Koppelungseffektes, s.o.). Ende 1986 wurden die bis dahin gültigen „Provisional Political Guidelines“ abgelöst. „Besonders wichtig ist die Tatsache, daß sich das Bündnis in den neuen Richtlinien darauf verständigt hat, zur nuklearen Abschreckung nicht vorrangig solche Ziele auszuwählen, die im Vorfeld des Aggressors liegen, sondern solche auf dessen eigenem Territorium. Die hierzu notwendigen weitreichenden Mittelstreckenraketen – wie die Pershing II-Rakete hatte sich das Bündnis mit dem Nachrüstungsbeschluß gesichert“ (Karl Feldmayer: „Die Abrüstung verändert die Voraussetzungen für die Planung der NATO“, in „FAZ“ v. 12.5.1987).

Zwischen das französische und das transatlantische Modell schiebt sich noch die britische Option: eine technologisch von den USA abhängige Nuklearstreitmacht mit doppelter Einsatzstruktur und Einsatzplanung. Für die BRD würde die britische Option in der Übergabe von Pershing II und Cruise Missiles sowie in einem „zweiten Schlüssel“ bezüglich des Einsatzes bestehen, der dann zur Anwendung käme, wenn die BRD ihre Interessen existentiell bedroht sehen würde (so etwa lautet die britisch-amerikanische Regelung).

Zweifellos ist der bundesrepublikanischen Sicherheits- und Abschreckungsphilosophie eine Logik immanent, die in Richtung eigene Nuklearwaffen strebt. Den USA kann kaum daran gelegen sein, diese noch zu fördern. Vielmehr muß es der US-Administration darum gehen, bundesrepublikanische Abkoppelungsbefürchtungen zu beruhigen und den Hunger der BRD nach nuklearstrategischen Optionen gegenüber der Sowjetunion zu stillen. Denn je mehr die BRD NATO-eingebundener nuklearer Optionen beraubt wird, desto evidenter wird, worin der Vorteil eigener Nuklearstreitkräfte besteht. Frankreich und Großbritannien bleiben nicht nur vom Abrüstungsprozeß untangiert, es steht ihnen gar frei, die gemeinsame Produktion eines nuklear armierten Marschflugkörpers anzukündigen, der die durch den Abzug der Ground Launched Cruise Missiles angeblich entstehende Abschreckungslücke auszufüllen hätte. Das Dilemma der konservativen Sicherheitspolitik besteht indes darin, daß der Aufbau einer bundesrepublikanischen Nuklearstreitmacht abgekoppelt von den USA und den westeuropäischen Nuklearmächten keinen Sinn ergibt sowie mit der Gefahr der internationalen Isolierung der BRD belastet ist. Von daher ist der Spielraum der BRD im gegenwärtigen Abrüstungsprozeß von vornherein beschränkt.

Dietrich Schulze-Marmeling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Dokumentationsstelle Friedens- und Sicherheitspolitik e.V. wie der Bundestagsfraktion der GRÜNEN

Von den Füßen auf den Kopf gestellt.

Von den Füßen auf den Kopf gestellt.

Der Versuch der Reagan-Administration, den ABM-Vertrag neu zu interpretieren

von Jürgen Scheffran

Die Sowjetunion hat im Juni 1986 vorgeschlagen, den ABM-Vertrag auf weitere 15 Jahre zu bekräftigen und SDI auf reine Grundlagenforschung zu beschränken, um so den Weg für nukleare Abrüstung freizumachen. Reagan antwortete darauf mit dem Vorschlag, den ABM-Vertrag bis zur Stationierung von SDI im Jahre 1994 einhalten zu wollen (was Entwicklung und Tests nicht ausschließen solle), um ihn danach aufkündigen zu dürfen. Dies ist nur das letzte Glied in einer Kette von Versuchen, durch eine Neuinterpretation den ABM-Vertrag auf den Kopf zu stellen und damit zu einem „wertlosen Fetzen Papier“ zu machen.

Der ABM-Vertrag von 1972, ergänzt durch das Zusatzprotokoll von 1974, wurde im Rahmen des SALT-Prozesses von den USA und der UdSSR unterzeichnet, um Raketen-Abwehrsysteme und ihre Komponenten zu begrenzen. Dieser Vertrag ist das Ergebnis der ersten ABM-Debatte in den sechziger Jahren und repräsentierte die Erkenntnis, daß Raketenabwehr technisch fragwürdig, finanziell teuer und politisch-strategisch gefährlich ist. Durch den ABM-Vertrag wurden Atomwaffen als Kriegsführungswaffen überflüssig und der Weg für ihre Begrenzung in den SALT-Verhandlungen geöffnet. Aus der Sicht Europas ist der ABM-Vertrag ein Markstein auf dem Weg zur Entspannung.

Es kann kein Zweifel bestehen, daß der ABM-Vertrag eine umfassende Raketenabwehr verbietet (Artikel I) und damit in direktem Gegensatz zur Intention des SDI-Programms steht. Unter ABM Systemen (Anti Ballistic Missile oder Raketenabwehr) werden nach Art. II. generell alle Systeme zur „Bekämpfung aufliegender strategischer ballistischer Flugkörper“ verstanden, die bei Abschluß des Vertrages aus Abfangflugkörpern, Abschußvorrichtungen und Radargeräten bestanden. Bis auf die durch die Artikel III und IV gegebenen Ausnahmen (100 Abschußvorrichtungen an einem Ort und ein bis zwei feste Versuchsgebiete) werden in den zentralen Artikeln V Entwicklung, Test und Stationierung von ABM-Systemen und ihrer Komponenten verboten, und zwar see-, luft-, weltraumgestützt oder als bewegliches System landgestützt.

Weitere Paragraphen verbieten eine „ABM-Fähigkeit“ für andere Systeme (Art. VI) sowie den Transfer von ABM-Technologie in andere Staaten (Art. IX.) Von den verschiedenen „Gemeinsamen Interpretationen“ und „Vereinbarten Stellungnahmen“ beider Seiten zum ABM-Vertrag ist die wichtigste Interpretation D, die verlangt, daß spezifische Begrenzungen auch für ABM-Systeme mit andern physikalischen Prinzipien Gegenstand von Gesprächen sein sollen. Für solche und andere mit dem ABM-Vertrag zusammenhängende Fragen wurde eine Ständige Beratende Kommission (SBK) geschaffen. Der Vertrag wird alle fünf Jahre überprüft (als nächstes 1987), ist von unbegrenzter Dauer, enthält jedoch eine Rücktrittsklausel.

Interpretationslücken?

Wie andere Verträge auch, enthält der ABM-Vertrag einige Begriffe, die Raum für Interpretationen lassen. Hierzu zählen „Entwicklung“, „ABM-Komponente“ oder „ABM-Fähigkeit“. Schwierig ist die genaue Festlegung einer Grenze zwischen erlaubter Forschung und verbotener Entwicklung, doch gibt es eine Richtlinie des SALT-Chefunterhändlers Gerard Smith, wonach die Trennungslinie beim Übergang vom Labor in die Feldtestphase verläuft, sofern dies von der anderen Seite beobachtet werden kann. Ohne eine genaue und vereinbarte Klärung wichtiger Begriffe des ABM-Vertrages für neue ABM-Technologien können die Vertragsbestimmungen in den „Grauzonen“ durch neue waffentechnische Entwicklungen unterhöhlt werden.

Hierzu zählen insbesondere phasengesteuerte Radaranlagen, die Taktische Raketenabwehr (ATM: Anti-Tactical Missiles), Anti-Satelliten-Waffen und „exotische“ Technologien wie Strahlenwaffen. Es ist ein erklärtes Ziel der US-Regierung, über den „Umweg“ von ATM- und ASAT-Technologien zugleich auch neue ABM-Technologien zu entwickeln, was wegen der Multifunktionalitat dieser Systeme auch in gewissem Umfang möglich ist. Sollte die Bundesregierung daran gehen, ein europäisches Raketenabwehrsystem in Ergänzung zum SDI-Programm aufzubauen, wie von Verteidigungsminister Wörner gefordert, so könnte sie mit zum „Totengräber des ABM-Vertrages“ werden (H. G. Brauch), obwohl Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung zu SDI vom April 1985 die Einhaltung des ABM-Vertrages gefordert hatte.

Die genannten Problembereiche sind bereits seit Jahren bekannt und ließen sich bei ausreichendem politischen Willen durch zusätzliche Beschränkungen wie ein Verbot von Weltraumwaffen sicherlich lösen. Eine neue Qualität erreichen jedoch die Herausforderungen durch das SDI-Programm, wodurch das Fundament des ABM-Vertrages insgesamt erschüttert wird. Abgesehen davon, daß trotz eines Entwicklungsverbotes im ABM-Vertrag Reagan in seiner Star-Wars-Rede ein Forschungs- und Entwicklungsprogramm gefordert hat, enthält SDI für die nächsten Jahre eine Reihe von Großversuchen, die bereits in die Testphase hineinreichen. Hierzu zählen so wohlklingende Programmnamen wie ERIS, HEDI, KKV, SBL, ATP, BSTS, SSTS usw., die den USA bereits einige Prototypen für ABM-Komponenten liefern könnten. Durch immer neue kosmische Zauberkunststücke wird der ABM-Vertrag durchlöchert wie ein Schweizer-Käse. Das jüngste Beispiel war der SDI-Versuch vom 5. September 1986, bei dem sich zwei von einer Delta-Rakete gestartete Satelliten im Weltraum verfolgten und durch Kollision zerstörten.

Die Erfindung eines neuen Terminus: „Subkomponenten“

Der grundlegende Gegensatz zwischen SDI und ABM-Vertrag ist auch den SDI-Befürwortern klar. Daher versuchen sie zum einen, die Sowjetunion eigener Vertragsverletzungen zu beschuldigen (wie im Falle Krasnoyarsk), zum anderen, die Basis dieses Vertrages schrittweise zu untergraben, indem sie SDI als kurzfristig mit dem ABM-Vertrag vereinbar darstellen. Dabei scheuen sie nicht vor einer einseitigen Neuinterpretation des. Vertrages zurück, indem sie unklare Begriffe in ihr Gegenteil verkehren. Während der ABM-Vertrag Entwicklung und Tests von ABM-„Komponenten“ verbietet, behauptet der Pentagonbericht zum ABM-Vertrag, es handele sich bei den zahlreichen SDI-Großversuchen lediglich um Tests von nicht definierten „Subkomponenten“, ein Terminus, auf den bei Abfassung des Vertrages wohl niemand gekommen wäre.

Darüber hinaus unternahm der damalige Sicherheitsberater Reagans, McFarlane, im Oktober 1985 den Vorstoß, unter Berufung auf Interpretation D Entwicklung und Tests von ABM-Systemen mit neuen physikalischen Prinzipien wie Strahlenwaffen oder optischen Sensoren generell zuzulassen. Dies widerspricht der Auffassung bisheriger US-Regierungen (einschließlich der Reagan-Administration), wonach auch neue ABM-Technologien generell verboten sind, solange hier keine spezifischen Begrenzungen vereinbart wurden. Trotz eines mittleren Aufstandes innerhalb der NATO scheint die Reagan-Adminstration diese Interpretation nach wie vor durchsetzen zu wollen und darauf zu vertrauen, daß sich alle an den Wandel gewöhnen werden.

Damit könnte der ABM-Vertrag (wie auch der SALT II Vertrag) tatsächlich zu einem „wertlosen Stück Papier“ werden (so Gerard Smith), was von jeher ein Wunschtraum der Gegner des Rüstungskontrollprozesses in den USA gewesen ist, die sich Mitte der siebziger Jahre um das „Committee on the Present Danger“ gruppiert hatten. Gemäß der Philosophie des ABM-Vertrages dürften dann auch Begrenzungen oder Reduzierungen von Atomwaffen ausgeschlossen sein.

Dies zeigt, daß ein solcher Vertrag alleine nicht ausreicht, um die Rüstung aufhalten zu können. Es gibt keine internationale juristische Instanz, die über die Einhaltung völkerrechtlicher Verträge wacht, außer der Weltöffentlichkeit selbst. Entscheidend ist die politische Unterstützung, die ein Vertrag genießt. Aus dieser Erkenntnis heraus versucht in den USA die „Nationale Kampagne zur Erhaltung des ABM-Vertrages“, ein breites Bündnis aus früheren Politikern (darunter Ex-Präsident Carter und die früheren Verteidigungsminister Schlesinger und McNamara), Diplomaten (wie Gerard Smith), Militärs, Wissenschaftler und Friedensgruppen, dem Irrsinn des Vertragsbruches entgegenzuwirken und die Reagan-Administration zur Einhaltung der restriktiven Interpretation zu zwingen. Sie betreibt hierfür Öffentlichkeitsarbeit und hat auch konkrete Maßnahmen zur Stärkung des ABM-Vertrages vorgeschlagen.

Hierzu gehören insbesondere eine genauere Definition wichtiger Vertragsbegriffe, Begrenzungen phasengesteuerter Radaranlagen, ATM-Systeme und ASAT-Waffen sowie langfristige Vorschläge für exotische Waffentechnologien wie Strahlenwaffen und Sensoren. Hierzu zählt auch die Verbesserung des Informationsprozesses zwischen beiden Seiten und die Behandlung von Streitfragen in der SBK. Mit solchen Maßnahmen würde die Erosion des ABM-Vertrages wirkungsvoll aufgehalten und der Weg für einschneidende Abrüstungsschritte eröffnet.

Literaturauswahl zum ABM-Vertrag

  • Eine ausführliche und aktualisierte Darstellung zum ABM-Vertrag findet sich in: D. Engels, J. Scheffran. E. Sieker, Die Front im All, 3. überarbeitete Fassung, Köln 1986.
  • Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vom 26. Mai 1972 über die Begrenzung der Systeme zur Abwehr ballistischer Flugkörper (ABM-Vertrag) mit Interimsabkommen sowie Interpretation: Europa-Archiv, Nr. 17/1972, S. D. 392-405.
  • Die umfassendste Analyse zum ABM-Vertrag geben: T. K. Longstreth, J. E. Pike, J. B. Rhinelander, The Impact of Ballistic Missile Defense Programs on the ABM Treaty, A Report for the National Campaign to Save the ABM Treaty, March 1985.
  • Die detailierteste Analyse der mit dem ABM-Vertrag zusammenhängenden technischen Probleme gibt: H. Lin, Evolving the ABM Treaty Towards the Year 2000, Center for international Studies, MIT Cambridge, May 23, 1986.
  • Ballistic Missile Defense and the ABM Treaty, Appendix A of: Ballistic Missile Defense Technologies, Office of Technology Assessment, OTA-ISC-254, p. 263.
  • W. J. Durch, Technology, Strategy and the ABM Treaty, A Background Paper for the Conference on New Approaches to Arms Control, Barnett Hill Conference, 6-8 May 1986.
  • Der grundlegende Gegensatz zwischen SDI und ABM-Vertrag wird herausgearbeitet in: McGeorge Bundy, George F. Kennan, Robert S. McNamara, Gerard Smith, The Presidents´ Choice: Star Wars or Arms Control, Foreign Affairs, Vol. 63, No. 2, 1985; auf deutsch: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/85, S. 614-624.
  • Die Winkelzüge, mit denen das Pentagon SDI vertragskonform macht, wurden entwickelt in: The Strategic Defense Initiative (SDI) and the ABM Treaty (Pentagon-Bericht zum ABM-Vertrag) Appendix B of: Report to the Congress an the Strategic Defense Initiative, Department of Defense, 1985.
  • Eine Darstellung der Versuche zur Neuinterpretation gibt: B. W. Kubbig, Die Neuinterpretation des ABM-Vertrages durch die Reagan-Administration, Forschungsbericht 13/1985 der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt S. 3.
  • Die Auswirkungen eines europäischen ATM-Systems untersucht: H. G. Brauch, Antitactical Missile Defense – Will the European Version of SDI undermine the ABM-Treaty, AG Friedensforschung und Europäische Sicherheitspolitik, Stuttgart, Juli 1985.
  • Eine polemische Abrechnung mit den Anhängern des ABM-Vertrages aus bundesdeutscher Sicht versucht: Thomas Enders, Raketenabwehr als Teil einer erweiterten NATO-Luftverteidigung, Interne Studien des sozialwissenschaftlichen Instituts der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nr.2/1986, S. 65

       

Jürgen Scheffran, Physiker, Arbeitsgebiet Rüstungskontrolle im Weltraum.

US-Wissenschaftler zu Reagans Plan: „Zur Verteidigung ungeeignet“

US-Wissenschaftler zu Reagans Plan: „Zur Verteidigung ungeeignet“

von Redaktion

Unter dem Titel „Space-Based Missile Defense“ hat die Union of Concerned Scientists im März eine ausführliche Analyse der von Reagan vorgeschlagenen Pläne vorgelegt. Wir zitieren einige Passagen, aus denen hervorgeht, daß der Aufbau eines perfekten Schutzschildes gegen einen massiven sowjetischen Angriff technisch unmöglich ist. Dies zeigt: als Mittel der Verteidigung ist das geplante ABM-System untauglich.

„In der Beurteilung jedes BMD-Systems (Ballistic Missile Defense), nehmen wir zuerst an, daß es so gut funktionieren wird, wie es die Einschränkungen der naturwissenschaftlichen Gesetze zulassen daß die Ziele sofort entdeckt und perfekt anvisiert werden können, daß die Software für das Kriegs-Management fehlerfrei ist, daß alle Spiegel optisch perfekt sind, daß die Laser mit der geforderten Leistung verfügbar sind, usw. Außerdem, daß die sowjetischen Streitkräfte unverändert bleiben – daß die Sowjets nicht mehr Raketen bauen oder andere Gegenmittel installieren.

Selbst unter diesen utopischen Voraussetzungen, sind unsere Ergebnisse bezüglich des vorgeschlagenen BMD-Systems:

– chemische Laser-Kampfstationen in niederen Umlaufbahnen oder Weltraumschiffe, die Zerstörungsgeschosse mit sich führen, müßten zu Tausenden vorhanden sein, um eine ausreichende Überdeckung der sowjetischen Silofelder zu gewährleisten; allein der Transport dieser Stationen in die Umlaufbahn würde mehr als 70 Mrd. Dollar kosten.

– Excimer Laser auf der Erde, deren Strahlen von über tausend Spiegeln im Orbit auf die Raketentriebwerke reflektiert würde, erforderten Energiequellen, die allein um die 40 Mrd. Dollar kosten würden.

– Die Atmosphäre und das Magnetfeld der Erde zusammengenommen machen Teilchenstrahlwaffen völlig ungeeignet in absehbarer Zukunft.

Diese Kostenschätzungen beinhalten nicht Forschung und Entwicklung oder die Konstruktion von Weltraumplattformen, Lasern, Zerstörungsgeschossen, Spiegeln und Kommando- und Kontrolleinrichtungen. Vor allem der Forschungs- und Entwicklungsanteil dieses Programms würde nach Aussagen von Dr. Richard de Lauer, (Under Secretary of Defense for Research and Engineering) wenigstens acht Komponenten enthalten, von denen jede einzelne mindestens die Größe des Manhattan-Projekts hätte. Desweiteren würden alle Kosten rapide ansteigen, wenn die Spiegel nicht perfekt wären, die Zeit für das Zielen mehrere Sekunden überschreiten wurde, eine Redundanz nötig wäre. Die vollen Kosten können nicht abgeschätzt werden, weil die vorgesehenen Technologien noch zu wenig entwickelt sind, aber es ist klar, daß mehrere hundert Milliarden Dollar benötigt würden.

Der Vorschlag, durch Nuklearexplosionen gepumpte Röntgenlaser in dem Augenblick eines Angriffs zu starten, würde eine neue Flotte von Unterseebooten erfordern, da es keine geeigneten Landbasen gibt, die nahe genug an den sowjetischen Silos liegen, um rechtzeitiges Abfangen zu ermöglichen.

Die weichen Röntgenstrahlen der Laser können nicht die Atmosphäre durchdringen und sie bewirken nur einen ziemlich leichten Stoß, vor dem die Raketen recht einfach geschätzt werden können. Diese Tatsachen zusammen mit der Möglichkeit, die Startphase zu verkürzen so daß sie zu Ende ist, bevor die Raketen die Atmosphäre verlassen, bedeuten, daß die Röntgen-Laser keine sinnvolle BMD-Waffe sind.“

Desweiteren gehen die Wissenschaftler davon aus, daß die Annahme, die UdSSR würde stillhalten und rüstungstechnologisch stagnieren, nicht haltbar ist. Gegenmaßnahmen seien unausweichlich, zumal die Sowjetunion allen Grund habe, dieses Abwehrsystem zu fürchten als ein Versuch, sie zu entwaffnen.

Sowjetische Reaktionen könnten einschließen:

  • von U-Booten abzufeuernde cruise missiles, die vom Weltraum aus nicht gestört werden können
  • spezielle Härtung der Interkontinentalraketen oder Raketen mit solch hoher Energie, daß die Triebwerke innerhalb der Atmosphäre ausbrennen würden, getarnte Raketen ohne Sprengköpfe usw.

Diese sowjetischen Gegenmaßnahmen würden billiger und weit zuverlässiger sein. Die politischen Folgen der schier aussichtslosen Suche nach einem totalen Verteidigungssystem gegen Nuklearraketen seien schon heute sichtbar. So weigerten sich die USA, auf den sowjetischen Vorschlag zu Verhandlungen über die Anti-Satellitenwaffen (ASAT) einzugehen.

„Unsere Verbündeten in Europa wären nicht durch das amerikanische BMD-System geschützt und dies würde bestehende Befürchtungen nähren, daß die USA nukleare Operationen in Europa durchführen wollten, ohne sich selber zu gefährden.“

Im nuklearen Zeitalter gebe es nur eine realistische Schlußfolgerung:

„(…) wir können nicht Sicherheit bewahren, indem wir geschickt den dünnen, trockenen Ast absägen, auf dem die Sowjets sitzen, denn wir klammern uns an den selben Ast.“

Stars and Stripes

Stars and Stripes

von Michaela Reisin

Hochschullehrer, wiss. Mitarbeiter, Studenten und sonstige Bedienstete der Technischen Universität Berlin haben an das Konzil einen Antrag auf Einrichtung eines Friedenforschungsinstituts an der TU Berlin gestellt. Der Antrag wurde am 10.11. behandelt und angenommen. Die Begründung enthält interessante Ausführungen zum aktuellen Zusammenhang von Computertechnologie und Rüstung. Sie wurde von Michaela Reisin, Dipl. Inform., verfaßt.

Die moderne Waffentechnik ist in entscheidendem Maße durch Forschungsergebnisse der Natur- und Ingenieurwissenschaften bestimmt. Seitdem mit den Atomwaffen der zigfache Overkill der Menschheit möglich ist, gibt nicht mehr die Anzahl sondern die qualitative Verbesserung militärischer Systeme den Ausschlag beim Wettrüsten; es ist auch bisweilen vom Zeitalter des qualitativen Wettrüstens die Rede, wenn vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt gesprochen wird.

Zwar wird die Frage von Krieg und Frieden nicht von uns Natur- und Ingenieurwissenschaftlern entschieden, dennoch stehen wir in den Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen im Zentrum dieser Auseinandersetzungen.

Einige Bemerkungen zum Stellenwert der Informatik und der Computertechnologie für militärische Systeme. Über die Gefahren, die mit der geplanten Stationierung der neuen amerikanischen Mittelstreckenraketen in Westeuropa verbunden sind, ist in den vergangenen Monaten viel gesprochen worden. Bei beiden Raketentypen, der Cruise Missile und der Pershing II sind die wesentlichen Neuerungen computertechnologischer Art.

Die Cruise Missile oder der Marschflugkörper ist an sich keine neue Waffe. Sie geht auf die erste deutsche Vergeltungswaffe des zweiten Weltkrieges V1 zurück. Ein Marschflugkörper ist ein unbemanntes bombentragendes Fluggerät, das im Unterschied zu einer ballistischen Rakete kontinuierlich angetrieben wird und seine Flugbahn bis ins Ziel selbst kontrolliert und steuert. Er ist wie ein Flugzeug geformt, daher auch der Name Flügelrakete – und hat ähnliche aerodynamische Eigenschaften. Seine Geschwindigkeit und seine Flugrichtung sind lokalen Wetterbedingungen ausgesetzt. Frühere Marschflugkörper wie der Matador u.a. waren nicht in der Lage, ihren Kurs zu halten und hatten von daher über größere Entfernungen eine nur geringe Treffwahrscheinlichkeit. Die neue Generation der Marschflugkörper unterscheidet sich genau in diesem Punkt qualitativ von ihren Vorgängerinnen.

Eingebettete Computersysteme machen es möglich, eine Standortbestimmung und eine Kurskorrektur während des Fluges vorzunehmen, wodurch die Treffgenauigkeit um eine entscheidende Größenordnung verbessert wird. Das bisher am weitesten entwickelte Zielleitsystem für Marschflugkörper beruht auf dem Vergleich von Geländereliefs, d.h. es wird die Tatsache ausgenutzt, daß die Geländehöhe über dem Meeresspiegel von Ort zu Ort verschieden ist.

Fertigt man von einem Gebiet eine Höhenkarte an, teilt sie in Quadrate bestimmter Seitenlänge auf und trägt in jedes Quadrat seine durchschnittliche Bodenhöhe ein, dann entsteht eine digitalisierte Landkarte. Jede Zahl gibt die Höhe eines Quadratmittelpunktes an, eines Punktes dessen Koordinaten bekannt sind. Solche digitalisierten Landkarten können im Bordcomputer des Marschflugkörpers eingespeichert werden. Zur Ortsbestimmung ist der Marschflugkörper mit einem Radar-Höhen-Messer ausgestattet. Überfliegt die Cruise Missile ein Gebiet, dessen Karte im Speicher des Bordcomputers mitgeführt wird, so beginnt der Radarhöhenmesser zu arbeiten und liefert eine Folge von gemessenen Höhenzahlen. Der Bordcomputer vergleicht die gemessenen Höhen mit den gespeicherten, bestimmt dabei die momentane Position des Flugkörpers, errechnet den neuen Kurs, der den Flugkörper auf seine vorgesehene Bahn zurückbringt und übermittelt dem Autopiloten die entsprechenden Anweisungen. Dieses Leitsystem macht die modernen Cruise Missiles, ob boden-, see- oder luftgestützt zur Waffe mit höchster Treffsicherheit, die in einem Atomkrieg zur Kategorie der Einsatzwaffen gehört. Solche und ähnliche Zielleitsysteme beruhen im wesentlichen auf dem Prinzip der automatischen Mustererkennung, einer der wichtigsten militärischen Nutzanwendung der Künstlichen Intelligenz, eines Teilgebiets der Informatik.

Auch die Pershing II unterscheidet sich von ihrer Vorgängerin Pershing 1 weder durch die Antriebsmotoren noch durch den Flugkörperbau oder die Bodenhilfseinrichtungen. Der entscheidende technologische Durchbruch, der die Rakete um Klassen treffsicherer macht als alle bisher im Einsatz befindlichen Raketen, ist das computergestützte Endphasenleitsystem des Sprengkopfes. Diese Endphasenlenkung beruht auf einer Radarflächenführung und funktioniert, indem das Radarbild, welches beim Zielanflug aufgenommen wird, mit einem gespeicherten digitalisierten Radarbild des Ziels verglichen wird. Die Abweichungen werden nachkorrigiert. Mit dieser Nachsteuerungsmethode in der letzten Phase des Zielanflugs wird eine bisher ungeahnte Zielgenauigkeit erreicht. Die hohe Treffsicherheit der Rakete erlaubt es, sie mit einem kleineren Atomsprengkopf mit geringerer Sprengkraft auszurüsten. Der gewonnene Platz und das geringere Gewicht der Rakete erlauben es, zusätzlichen Treibstoff zur Verfügung zu stellen, so daß die Pershing II mit einer Reichweite von 1.800 km mehr als doppelt so weit fliegen kann als ihre Vorgängerin und zudem in der Lage ist, in kürzester Zeit, nämlich in 5-8 Minuten die sogenannten harten Ziele in der UdSSR zu erreichen. Prof. Barneby, der ehemalige Leiter des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI vertritt die Auffassung, daß die Entwicklung neuer militärstrategischer Konzeptionen in den letzten Jahren eng mit den Fortschritten in der Mikroelektronik und Informatik in den USA verbunden waren. Die Schlüsselrolle der Computerwissenschaft für die von der US-Regierung in dieser Dekade geplanten rüstungstechnologischen Innovationen ist unbestritten.

Hierbei handelt es sich um:

  • Erhöhung der Treffgenauigkeit und Zuverlässigkeit strategischer Raketen,
  • um die Entwicklung von weltraumstationierten Navigationshilfsmitteln,
  • um die Entwicklung von Methoden und Systemen der Vernichtung der Gefechtsköpfe feindlicher ballistischer Raketen,
  • um die Entwicklung von Methoden und Systemen zur Vernichtung feindlicher Weltraumsatelliten, usw.

Keines dieser rüstungstechnologischen Vorhaben ist ohne den Einsatz sog. eingebetteter Computersysteme denkbar. Das militärstrategische Konzept, das mit diesen Waffensystemen realisiert werden soll, hängt von der Funktionsfähigkeit computergestützter Kommando-, Kontroll- und Kommunikationssysteme (C3I-Systeme) ab, die global vernetzt sind. Die Komplexität der hardware- und softwaretechnologischen Anforderungen solcher Systeme, das Volumen des Datentransfers und die Probleme der Steuerung und Synchronisation entziehen sich dem Vorstellungsvermögen selbst eines Computerwissenschaftlers. Vor diesem Hintergrund vermag jedoch deutlich zu werden, daß es kaum ein Gebiet der Informatik gibt, in dem die Forschung nicht von rüstungstechnologischer Relevanz wäre. Der Umfang der finanziellen und technischen Mittel, die von militärischer Seite insbesondere in den USA zur Durchführung computertechnologischer Rüstungsprojekte bereitgestellt werden, bedingt, daß in allen Teilgebieten der Informatik der fortgeschrittenste Stand sich stets im Kontext militärischer Forschungs- und Entwicklungsaufträge bestimmt. Dies prägt wesentlich die wissenschaftstheoretischen Ansätze sowie die Begrifflichkeit und Methodik dieser Disziplin.

Wie wirken sich diese Umstände auf uns Informatiker an der TUB aus?

Ich möchte mich im Rahmen dieses Beitrages auf das Teilgebiet Softwaretechnik beschränken und die Wirkungsweise militärischer Anforderungen auf unsere Forschung und Lehre hier beispielhaft beleuchten.

Im April dieses Jahres erschien in der international bekanntesten Fachzeitschrift für Softwaretechnik das achtzig Seiten umfassende Strategiedokument des Department of Defense zu seiner neuen wissenschaftspolitischen Initiative im Softwarebereich. Dieses Strategieprogramm, das unter dem Namen STARS (Software Technology for Adaptable and Reliable Systems) in die Geschichte der Informatik eingehen wird, hat die Erhöhung der Softwarezuverlässigkeit und die Effektivierung der Softwareproduktion zum Gegenstand. Es bildet den dritten Abschnitt eines in den 70er Jahren vom Pentagon eingeleiteten Gesamtprogramms. Die anderen beiden Teile heißen ADA und VHSIC. ADA ist eine Programmiersprache, die eigens für den einheitlichen Gebrauch im US-amerikanischen Militärbereich entwickelt wurde und in den nächsten Jahren auf dem internationalen kommerziellen Markt verbreitet und durchgesetzt werden soll. Das Programm VHSIC (Very High Speed Integrated Circuits) beinhaltet die Entwicklung hochintegrierter Schaltkreise, welche uns in den letzten Jahren die mikroelektronische Durchdringung aller gesellschaftlicher Bereiche beschert hat. STARS schließt an diese beiden Programme an. Das starke Interesse des Pentagons für die Softwaretechnik ergibt sich aus der veränderten Bedeutung der Software für rüstungstechnologische Innovationen.

Nahezu jedes System der laufenden und geplanten militärischen Anschaffungen besteht aus computertechnologischen Komponenten. „Die in auftragskritischen militärischen Systemen eingebetteten Computer sind ausschlaggebend für unsere taktische und militärische Stärke. Sie kontrollieren die Ziellenkung und den Flug der Raketen, koordinieren und steuern die komplizierten Manöver der Luftwaffe…

Die militärische Stärke der USA ist untrennbar mit den programmierbaren digitalen Computern verflochten. Software ist die entscheidende Komponente, die viele Systeme steuert, ja sogar definiert. Software ist die Verkörperung der Intelligenz der Systeme. Mit dem zunehmenden Einsatz von Computern in militärischen Systemen hängt das Kräfteverhältnis von Software und Systemtechnologie ab (…)“ S. 10, STARS 83

Hieraus erklären sich auch die hohen Ausgaben des Department of Defense im softwaretechnischen Bereich. Jährlich werden allein für Softwareentwicklung 5-6 Mrd. Dollar ausgegeben. Ende der 80er Jahre sollen es 32 Mrd. sein. Das Programm STARS schreibt die Forschungsschwerpunkte für die Softwaretechnik in den USA in den nächsten sieben Jahren fest und wird von einer Reihe planerischer Maßnahmen im wissenschaftlichen und militärischen Bereich ergänzt. Mit diesem Programm geht es darum, „die technologische und ökonomische Führungsrolle der USA zu erhalten und ihre militärische Vorherrschaft abzusichern“. Schon heute ist absehbar, daß nicht nur die Computerwissenschaftler der USA, sondern die gesamte Informatikergemeinschaft der westlichen Welt in die Umsetzung dieses Programms eingebunden sein wird. Das ist auch der Grund der frühzeitigen Veröffentlichung dieses Strategiedokuments in den Fachzeitschriften (die Laufzeit des Programms selbst beginnt erst im nächsten Jahr).

Die Organisierung der internationalen fachwissenschaftlichen Diskussion ist eine der entscheidenden regulativen Maßnahmen des Department of Defense. Eine Vielzahl, wenn nicht die meisten fachwissenschaftlichen Kongresse der Informatik werden direkt von Gliederungen des Department of Defense oder der NATO einberufen. So erklärt es sich, daß der Rahmen der internationalen fachwissenschaftlichen Diskussion und deren Schwerpunktsetzung weitgehend vom Department of Defense vorgegeben sind. Daran kommt kein Informatiker vorbei.

Vor diesem Hintergrund möchte ich zum Abschluß einige Fragestellungen skizzieren, die sich uns in Forschung und Lehre stellen und damit die Notwendigkeit eines Friedensforschungsinstituts an der TUB aus unserer Sicht motivieren.

  1. Die wissenschaftliche „Frontlinie“ der Informatik entspricht gegenwärtig der rüstungstechnologischen. Fortschritte dort bedeuten Innovationen hier, d.h. Verbesserungen von Vernichtungs- und Zerstörungssystemen.

    Welche Konsequenzen hat das für die Forschungstätigkeit der verantwortungsbewußten Informatiker? Gibt es für uns Oberhaupt noch die Möglichkeit, ruhigen Gewissens einen wissenschaftlichen Beitrag zu leisten oder bleibt uns nur die Alternative, die Beschäftigung mit diesem Fach aufzugeben?

  2. Wir halten den Einsatz großer Softwaresysteme in militärischen Bereichen, die zudem vielfältig vernetzt sind, für unvertretbar. komplexe Softwaresysteme sind grundsätzlich fehlerbehaftet und vom Menschen gegenwärtig nicht beherrschbar. Es ist z.B. nicht möglich, einen Softwarefehler in einer vorhersagbaren und genügend kurzen Zeit zu finden und zu beheben. Die Konsequenzen eines Softwarefehlers in einem automatisierten Frühwarn- und Entscheidungssystem liegen auf der Hand. Welche Möglichkeiten haben wir als Informatiker, dieses Wissen wirksam vorzubringen, d.h. die häufig verfrühten und mißbräuchlichen Anwendungen unserer Forschungsergebnisse zu verhindern? Wäre angesichts der Gefahren, die gegenwärtig mit einem computerfehlerbedingten Krieg verbunden sind ein Moratorium in Forschung und Entwicklung angezeigt?
  3. Die Computertechnologie dringt rasch in sämtliche zivile Bereiche vor. Ihre Standards, Güte- und Wertmaßstäbe sind im Kontext militärischer Anwendung entwickelt worden. Es stellt sich die Frage, welche gesellschaftspolitischen Auswirkungen ihre Übertragung auf soziotechnische Systeme im zivilen Bereich haben. Handelt es sich um eine neue subtile Form der Militarisierung?

Diese komplizierten Fragestellungen können nicht in ausreichendem Maße von einer Friedensinitiative bearbeitet werden. Wenn wir an der TU den Anspruch ernst nehmen, die Technik und ihre Wissenschaften zum Nutzen des Menschen und des Friedens zu entfalten, müssen wir zu diesen, zum Teil menschheitsgeschichtlich neuartigen Problemstellungen, wissenschaftlich Stellung beziehen. Ein Friedensforschungsinstitut, das auf der Basis der Interdisziplinarität arbeitet, könnte uns hierbei unterstützen und einen gesellschaftspolitisch wichtigen Beitrag leisten.

Michaela Reisin ist Diplominformatikerin an dr TU Berlin

Editorial: Auch nach den Pershings

Editorial: Auch nach den Pershings

von Werner Dosch

In einer Situation von Drohung und Gegendrohung wird Rüstung zu einem in sich logischen und unbegrenzten Prozeß, der sich in seiner Zwangsläufigkeit von der ursprünglichen Zielsetzung einer Friedenssicherung verselbständigt und den Frieden stärker bedrohen kann als die ursprüngliche Gefahr, die durch Rüstung gebannt werden sollte.

Dies hängt einmal zusammen mit dem quantitativen Ausmaß, das Rüstung gegenwärtig erreicht hat und durch das Ressourcen und Kräfte so vereinnahmt werden, daß weltweite Verelendung und damit nicht nur Not und Haß, sondern auch Instabilität die Folge sind. Eine andere Konsequenz aus der scheinbaren Zwangsläufigkeit von Rüstung ist der Mangel an Freiheit, die Spirale stoppen zu können. Zwänge, in der Politik gerne als Alibi getarnt, bedeuten Verlust an Freiheit, an Handlungsfähigkeit. Wenn es an der entscheidenden Freiheit mangelt, Massenvernichtungsmittel aus der Welt zu schaffen, sind alle untergeordneten Freiheiten wie z.B. „Frieden in Freiheit“ illusorisch. Andere qualitative Konsequenzen der Rüstung ergeben sich aus der Technologie neuer Waffen. Die Menschheit muß noch mit Massenvernichtungsmitteln leben, die man „militärisch-rational“ bisher nicht verschießen konnte, weil die verfügbaren Trägersysteme zu unpräzis waren, um einen Gegenschlag auszuschließen. Der unausbleibliche technische Durchbruch zur „Erstschlagsqualität“ ist mit Systemen wie Pershing Il und Cruise Missiles erreicht. Der Atomkrieg kann mit derartigen Waffen, und er kann leichter als bisher auch „aus Versehen“ ausgelöst werden.

Die gesellschaftsformende Kraft der Friedensbewegung ist aus mehr als Raketenverweigerung erwachsen. Wir wollten vordringlich die Waffen verhindern, durch die der nukleare Omnicid näher rückt. Tatsächlich wollen und müssen wir mehr, vergessen wir das nicht, auch wenn wir zeitweilig entmutigt werden. Ob die Pershings kommen oder nicht, die Gefahr spitzt sich zu und wir müssen den Kern des Problems anpacken: Die Gesellschaft kann auf Dauer nicht mit den Mitteln zu ihrer Vernichtung leben. Wenn bornierte Logik, Trägheit und Egoismus zur Umkehr unfähig sind, dann muß aus dieser Gesellschaft eine neue Gesellschaft mit einem neuen Denken herauswachsen. Für dieses neue Denken wird Leben, unter dem Aspekt, daß es endgültig ausgelöscht werden könnte, an erster Stelle stehen. Nur so läßt sich der Widerspruch zwischen politischen und wirtschaftlichen Systemen überwinden. Jetzt geht es wirklich darum, daß wir mit unserer Friedensgesellschaft sehr Viele werden. Richten wir jetzt die Leidenschaft unseres Widerstands von den Pershings präzise auf die atomaren, chemischen und sonstigen Vernichtungsmittel und Vernichtungsstrategien. Wir haben die Chance, ausreichend Viele zu werden und somit verändern zu können, weil die Verweigerung, unsere Art auslöschen zu lassen, eine Idee ist, der Menschen aller Völker zustimmen können.

Werner Dosch ist Professor für Mineralogie am Institut für Geowissenschaften an der Universität Mainz und gehört zu den 23 Erstunterzeichnern des Mainzer Appells.

Raketen und die Spaltung Europas:

Raketen und die Spaltung Europas:

Ein neues Wettrüsten bahnt sich an!

von Götz Neuneck

Der Streit um die amerikanischen Raketenabwehrpläne beherrscht nach Jahren relativer Ruhe, aber technischer Entwicklung und kontinuierlicher Finanzierung wieder die Weltpresse. Von einem »unvermeidbaren Wettrüsten« ist die Rede, insbesondere seit der russische Präsident Wladimir Putin im Falle einer Realisierung der amerikanischen Raketenabwehr in Ost-Europa nicht nur mit »Vergeltungsschritten« gedroht hat, sondern auch die »Möglichkeit eines nuklearen Konfliktes« als wahrscheinlicher bezeichnet hat.1

Die US-Administration betrachtet die geplante neue, vorgeschobene Abwehrkomponente für Raketen in Osteuropa (die dritte neben Abfangstellungen in Alaska und Kalifornien) ihres »Ground-based Midcourse Missile Defense Systems« (GMDS, bodengestützte Raketenabwehr für die mittlere Flugphase) als »begrenzte Abwehr«, die insbesondere gegen die ballistischen Raketen der sog. »Schurkenstaaten« wie Nordkorea und Iran, nicht jedoch gegen Russland oder China ausgerichtet sei.2

Russland fühlt sich auch vor dem Hintergrund einer fortschreitenden NATO-Ausdehnung, ungelöster Probleme um den Kosovo und des fortschreitenden Ausbaus der militärtechnischen Überlegenheit der USA (Stichworte sind Weltraumbewaffnung, Global Strike etc.) provoziert. Sogar die Kündigung wichtiger Rüstungskontrollverträge wie des multilateralen Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) oder des US-russischen Intermediate Nuclear Forces-Vertrags (INF) von 1987 über die vollständige Abschaffung von Mittelstreckenraketen wird von russischer Seite in Betracht gezogen.

Vor neuen »Trennlinien« in Europa als Konsequenz einer Stationierung warnte im März der damalige französische Präsident Chirac, und Außenminister Steinmeier befürchtete eine Spaltung des »alten und neuen Europas«. Gerät Europa ein weiteres Mal zwischen die Mühlsteine der USA und Russlands, die auf eine neue nukleare Konfrontation zusteuern? Was ist der Anlass für diese Kontroverse?

Seit Januar 2007 führen Emissäre der Bush-Administration offiziell Verhandlungen mit den Regierungen in Polen und Tschechien, um in den beiden Ländern die Stationierung einer Abwehrstellung mit zehn sog. »Ground-based Interceptors« (GBI, bodengestützten Raketen mit Abfangflugkörpern) bzw. eines hochauflösenden X-Band Radar (FBX) auszuhandeln.3 Die beiden osteuropäischen Regierungen unterstützen diese Pläne vehement. Ihnen geht es dabei weniger um Schutz gegenüber bisher nicht existierenden Raketen aus dem Iran, sondern um eine starke sicherheitspolitische Ankoppelung an die USA. Die Bevölkerung, besonders in Tschechien, lehnt die Pläne hingegen weitgehend ab. Die US-Pläne haben, wenn sie unkoordiniert umgesetzt werden, mehrere Konsequenzen:

  • Sie werden die Weiterverbreitung und den Bau von Raketen in Iran und Russland eher beschleunigen statt verlangsamen.
  • Da die jetzigen Pläne nicht ganz Europa abdecken, werden sie die Stationierung weiterer Abwehrsysteme z.B. im NATO-Kontext, nach sich ziehen.
  • Im Falle eines Abfangvorganges können die dabei entstehenden Trümmer über Russland oder Europa abstürzen und Schaden anrichten.
  • Die begrenzte Einsatzfähigkeit des GMD-Systems wird die Stationierung weiterer Interzeptoren und möglicherweise neuer Abwehrstellungen der USA, z.B. im Kaukasus, nach sich ziehen. Großbritannien, Dänemark und die Ukraine haben ebenfalls bereits Interesse signalisiert.
  • Die nukleare Abrüstung wird begraben werden, da nur der Erhalt des russischen offensiven Abschreckungsarsenals eine begrenzte Abwehr »ausgleichen« kann, wenn man die Abschreckungsidee aufrecht halten möchte, die ja im Wesentlichen auf einer einsetzbaren Zweitschlagsfähigkeit beruht.

Raketenabwehr »sobald technisch möglich«

Eine Kooperation mit Russland hingegen könnte diese Entwicklung in vernünftige Bahnen lenken. Des Weiteren würde die Lösung der Nuklearkrise mit Iran die Abwehr in Osteuropa überflüssig machen. Die US-Pläne wurden im Wesentlichen ohne vorherige umfassende Konsultationen mit den Verbündeten und Russland verfolgt. Nachdem sich Widerstand in Europa abzeichnete, wurde eine Charmeoffensive hochrangiger Beamter aus Washington gestartet. Außenministerin Condoleezza Rice und Verteidigungsminister Robert Gates schrieben in einer Kolumne: »Gerede über ein neues ›Wettrüsten‹ mit Russland ist anachronistisch und wirklichkeitsfremd«.4 Den sichtbaren Gegenbeweis lieferte Russland: Im Mai testete es eine neue mobile Interkontinentalrakete RS-24, die für Mehrfachsprengköpfe zur Überwindung der Raketenabwehr geeignet ist. Auch Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander-N (500 km Reichweite) wurden getestet. Weitere Systeme sind in der Entwicklung.5 Kann ein neues Wettrüsten, in das Europa einbezogen wird, dennoch vermieden werden?

Vor fünf Jahren, am 13. Juni 2002, vollzogen die USA die Kündigung des Raketenabwehrvertrages, um eine begrenzte, aber globale Raketenabwehr aufzubauen und zu stationieren, »sobald dies technologisch möglich ist«.6 Seit 2002 wurden von den USA für Entwicklung und Bau der Raketenabwehr ca. 41 Milliarden US-Dollar aufgewendet, dennoch war in dem Zeitraum nur ein Test am 1. September 2006 erfolgreich.7 Insgesamt hatten von zehn Abfangversuchen seit dem Jahr 2000 lediglich fünf Erfolg. Von einer funktionierenden Abwehr kann deshalb nicht die Rede sein, zumal die Tests nicht unter operativen Bedingungen stattfinden, sondern sorgfältig vorgeplant sind und sich technischer Tricks bedienen, um noch nicht existente Komponenten des Gesamtsystems zu simulieren. Die Achilles-Ferse des GMD-Systems, die Überwindung durch einfach realisierbare Gegenmaßnahmen (Ballone, Attrappen etc., die im Weltraum gemeinsam mit den Sprengkörpern aus der Rakete freigesetzt werden können), ist nach wie vor vorhanden.

Der US-Kongress kürzte die Ausgaben der Missile Defence Agency (MDA, Behörde für Raketenabwehr im US-Verteidigungsministerium) auch für die europäischen Komponenten mit dem Hinweis, die Systeme hätten noch nicht ihre Funktionsfähigkeit gezeigt. Phil Coyle, ehemaliger hoher Pentagon Beamter, und während seiner Amtszeit verantwortlich für die Entwicklung und das Testen von US-Waffensysteme, stellte fest: »Die MDA war bisher noch nicht in der Lage, die effektive Fähigkeit eine idealisierte Bedrohung unter realistischen operativen Bedingungen nachzuweisen«. Diese sehr begrenzte Fähigkeit ist auch den russischen Planern bekannt. Wieso reagiert Putin dennoch so heftig mit dem Hinweis auf eine veränderte strategische Stabilität im Falle der Stationierung von Raketenabwehrkomponenten in Europa?

Raketenrüstung gegen Raketenabwehr

Die russischen Planer gehen zunächst stets vom »best case« aus und nehmen an, die USA werden die genannten technischen Schwierigkeiten überwinden. Für sie ist die GMD-Stellung in Europa nur die Spitze eines Eisbergs. Sie sind überzeugt, dass sukzessive weitere Stellungen und Interzeptoren folgen werden. Natürlich können diese geplanten zehn Anti-Raketen-Raketen zunächst nichts gegen die ca. 493 landgestützte Interkontinentalraketen Russlands ausrichten. Dieses Argument ist zwar zutreffend, lässt aber außer Acht, dass die Zahl der russischen Langstreckenraketen altersbedingt in den nächsten Jahren sinken und die Überlegenheit der US-Systeme weiter steigen wird.

Russische Ängste vor einem Erstschlag werden geschürt, zumal das Radar in Tschechien wichtige Startinformationen von aufsteigenden Raketen aus Russland in Richtung USA an diverse andere Raketenabwehrstellungen in Nordamerika8 melden (oder auch Testflüge von russischen Raketen detailliert beobachten) kann. Insbesondere das Aussetzen der Sprengköpfe und Attrappen kann von Tschechien aus beobachtet werden. Die Einführung umfassender Raketenabwehr und damit die Möglichkeit der USA, einen russischen Zweitschlag abzuwehren, würde die strategische Balance langfristig ändern. Auch die überall kolportierte Aussage des MDA-Direktors General Obering, dass in Polen stationierte Interzeptoren russische Raketen nicht erreichen könnten, trifft nicht zu. Simulationen einer Arbeitsgruppe am Massachusetts Institute for Technology (MIT) widerlegen diese Aussage für die drei westlichen Raketenfelder und die dort stationierten Interkontinentalraketen Russlands – die erheblich näher liegen als der Iran. Ein Ausbau russischer Raketenabwehrsysteme ist in diesem Fall fast unvermeidlich.

Auch die US-Abwehrstellungen in Osteuropa mit russischen Raketen zu bedrohen, ist militärtechnisch »logisch«, trägt aber ebenfalls nicht zur Lösung der Krise bei, denn auf Drohungen reagieren die Osteuropäer mit dem Hinweis, dass ihre Ängste gegenüber Russland offensichtlich doch berechtigt sind. Dass dies als Konsequenz des durch die Raketenabwehr veränderten strategischen Gleichgewichts betrachtet werden muss, wird dann schnell vergessen sein.

Beim G-8-Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007 schlug Präsident Putin zur Überraschung des Westens vor, statt des FBX-Radars in der tschechischen Republik ein russisches Frühwarnradar in Gabala/Aserbaidschan zu nutzen bzw. den Irak oder die Türkei in die Raketenabwehr einzubeziehen. Der vorgeschlagene Standort in Aserbaidschan hat den Vorteil, dass ein dort positioniertes Radar einen guten Blick auf den Iran bietet, aufgrund der Kaukasus-Berge und der Erdrundung jedoch nicht signifikant in das russische Territorium hineinschauen und russische Raketen verfolgen kann. Die Tatsache, dass Russland das Radar betreiben würde, missfällt dem Pentagon jedoch. Immerhin hat Präsident Bush den Vorschlag als interessant bezeichnet, und es wurde eine amerikanisch-russische Arbeitsgruppe eingesetzt, die Einzelheiten diskutieren soll. Hier wird sich zeigen, ob die USA ihre oft wiederholtes Angebot, mit Russland in Sachen Raketenabwehr zusammenzuarbeiten, auch ernst meinen oder ob der Aufbau der Raketenabwehr letztlich doch auch gegen Russland gerichtet ist. Im Juli werden sich die beiden Präsidenten am Sommersitz der Familie Bush in Kennebunkport treffen. Dann wird sich zeigen, ob eine Einigung möglich ist.

Ginge es den USA und der NATO tatsächlich nur um eine potenzielle iranische Bedrohung, wäre eine Zusammenarbeit mit Russland sowie ein ernsthaftes Bemühen um eine Lösung des Nuklearstreits mit dem Iran die naheliegende Lösung. Gelingt eine Einigung nicht, so ist ein neues Wettrüsten fast unvermeidlich. Leidtragende wären in erster Linie die Europäer und auch die europäischen Rüstungskontrollerfolge wie z.B. der KSE- oder der INF-Vertrag, jahrelang wesentliche Stabilitätsanker in Europa, könnten zusammenbrechen. Die wieder aufflammende Kontroverse um die Raketenabwehr zeigt, dass die beiden großen Nuklearmächte immer noch nicht aus der Falle nuklearer Abschreckung und Überrüstung entkommen sind, die sie selbst im Kalten Krieg aufgebaut haben.

Anmerkungen

1) Süddeutsche Zeitung, 4. Juni 2007, 07:16 [http;77www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/922/116806/].

2) White House: National Policy on Ballistic Missile Defense Fact Sheet, 20. Mai 2003 [http://www.whitehouse.gov/news/releases/2003/05/20030520-15.html].

3) S. Hildreth/C. Ek: Long-Range Ballistic Missile Defense in Europe, 22. Juni 2007, Congressional Research Service Report for Congress, Washington D.C. 22. Juni 2007.

4) Süddeutsche Zeitung 16. April 2006, S.1.

5) Florian Rötzer: Neue russische Raketen gegen US-Raketenabwehrsystem, Telepolis 30.05.2007 [http://www.heise.de/tp/r4/html/result.xhtml?url=/tp/r4/artikel/25/25391/1.html&words=Putin&T=Putin].

6) National Missile Defense Act of 1999, Public Law 106-38 [http://Thomas.loc.gov/cgi-bin/query/z?c106:S.269:].

7) Wade Boese: Missile Defense Five Years after the IBM-Treaty, Arms Control Today, Juni 2007.

8) Zur Zeit sind ca. 20 Interzeptoren in Alaska und Kalifornien stationiert. Diese Zahl soll ausgebaut werden. Das taktische System THAAD (Terminal High Altitude Area Defense) zum Abschuss von Sprengkörpern kurz vor dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre kann sogar über 1.000 Interzeptoren verfügen.

Dr. Götz Neuneck ist Wissenschaftlicher Referent am IFSH und Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien

Die heimliche Raketenmacht

Deutsche Beiträge zur Entwicklung und Ausbreitung der Raketentechnik

Die heimliche Raketenmacht

von Jürgen Scheffran

Die irakischen Raketenangriffe auf Israel und Saudi-Arabien haben den Blick auf die globale Verbreitung (Proliferation) der Raketentechnologie gelenkt. Eine wachsende Zahl von Staaten gelangt nicht nur in den Besitz von Massenvernichtungswaffen, sondern bekommt auch die Fähigkeit, ballistische Raketen größerer Reichweite selbst herzustellen.1
Die damit verbundenen wissenschaftlich-technischen Probleme können ohne die Unterstützung durch die raketenbesitzenden Länder gegenwärtig kaum bewältigt werden. Eine wichtige Rolle spielt der Erwerb von Gütern, die sowohl für zivile wie für militärische Zwecke verwendet werden können (Dual-use) und die bislang von den Exportkontrollen nicht ausreichend erfaßt wurden. Die vertikale Proliferation der Raketenproduzenten hin zu immer ausgefeilteren rüstungstechnischen Lösungen ist auf komplexe Weise mit der horizontalen Proliferation vorhandener Raketensysteme in Schwellenländer verknüpft. Die Verbindung beider Dimensionen soll am Beispiel der deutschen Raketenentwicklung und ihrer Ausbreitung untersucht werden. Dies ist auch insofern von Bedeutung, als mit der Wiedervereinigung und der Herstellung der nationalen Souveränität für die Bundesrepublik Deutschland Nachkriegs-Beschränkungen aufgehoben wurden. Ausgehend von Aktivitäten vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, wird die Problematik der Raketenproliferation an ausgewählten Länderbeispielen (Indien, Brasilien, Argentinien, Ägypten, Irak) diskutiert.2 Der Schwerpunkt liegt mehr auf den technologischen Voraussetzungen und dem Entstehungsprozeß der Proliferation, weniger auf den damit verbundenen Folgen.3

Strukturelle Voraussetzungen der Raketenentwicklung

Um eine autonome Raketenkapazität aufzubauen, müssen eine Reihe wissenschaftlich-technischer Probleme bewältigt werden, insbesondere in den Bereichen Triebwerke, Treibstoffe, Werkstoffe, Wiedereintritt, Aerodynamik, Lenkung, Flugkontrolle, Transport, Startanlagen, Computer, Kommunikation sowie bei der Erprobung und Produktion der Raketensysteme. Höchste technische Anforderungen entstehen beim Antrieb, der Lenkung und beim Wiedereintritt moderner Raketen. Die Beobachtung der Forschung und Entwicklung in den genannten Bereichen gibt Hinweise darauf, wieweit ein Land im Besitz der notwendigen Voraussetzungen ist. Eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung spielt die Ambivalenz und Multifunktionalität der Flugkörper. In Frage kommen hier Übergänge zwischen Artillerie, Flugzeugen, Cruise Missiles, Höhenforschungsraketen, Weltraumraketen, ballistischen Boden-Boden-Raketen, Luft-Boden-Flugkörpern, Flugkörpern zur Flug-, Raketen- oder Satellitenabwehr. Im folgenden werden vorwiegend ballistische Raketen längerer Reichweite betrachtet, andere Flugkörper (etwa Cruise Missiles) werden nur am Rand behandelt.

Grundsätzlich stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, um in den Besitz von ballistischen Raketen zu gelangen4:

Kauf fertiger Boden-Boden-Raketen im Ausland, Modifizierung taktischer Raketen (z.B. Boden-Luft), Modifizierung von im Ausland gekauften Weltraum- oder Höhenforschungsraketen, Bau von Raketen mit ausländischer Hilfe, Entwicklung und Herstellung aus eigener Kraft. Durch den Erwerb von Dual-use-Gütern, besonders durch eine internationale Kooperation in der zivilen Luft- und Weltraumfahrt, ist es Schritt für Schritt möglich, ein militärisches Raketenpotential aufzubauen. Anstelle der spektakulären Lieferung fertiger Raketensysteme tritt eine breitgefächerte wissenschaftliche Zusammenarbeit über Jahrzehnte, die erhebliche, waffentechnologisch bedeutsame Grauzonen aufweist. Dabei ist folgendes Grundmuster zu beobachten5:

  1. Erwerb von Grundlagenwissen durch Ausbildung und Schulung von Wissenschaftlern im Ausland
  2. Absorption ausländischer Raketentechnologie durch Sammeln praktischer Erfahrungen und Austausch von Fachpersonal
  3. Direkte technische Hilfe durch gemeinsame Experimente und Betriebserfahrungen (über offizielle oder illegale Firmen, Techno-Söldner)
  4. Aufbau nationaler Entwicklungs- und Produktionskapazitäten für zivile und militärische Raketen durch legalen oder illegalen Erwerb von Subkomponenten.

Einige Faktoren erschweren die Weiterverbreitung:

  • Bei einer Interkontinentalrakete muß die letzte Stufe der Startphase früher beendet werden als bei einer Weltraumrakete, damit die Nutzlast nicht auf eine Umlaufbahn gelangt. Weitaus wichtiger ist die Tatsache, daß im Unterschied zu einem Weltraumsystem eine ballistische Rakete einen Wiedereintrittsflugkörper benötigt, dessen Bestandteile (Hitzeschild, Zielmechanismus, Gefechtskopfzünder) integriert getestet werden müssen. Für den Transport von Atomwaffen mit einer Satellitenträgerrakete wären diverse Modifikationen notwendig, insbesondere müßten entsprechend gehärtete Raketenabschußanlagen und Kontrollzentren geschaffen werden.6
  • Es besteht ein Zusammenhang zwischen der verwendeten Nutzlast, der Reichweite und der Zielgenauigkeit. Während in modernsten Raketentypen der USA und der UdSSR eine Zielgenauigkeit von unter hundert Metern bis zu wenigen Metern den Einsatz konventioneller Sprengköpfe möglich macht, wären die meisten Raketen in der Dritten Welt auf nukleare oder chemische Waffen zur Steigerung des Vernichtungsradius angewiesen. Ein Problem besteht darin, Kernwaffen soweit zu verkleinern, daß sie in den Kopf einer Rakete hineinpassen. Während eine Rakete ohne aufwendige Steuerung dazu verwendet werden kann, eine Atombombe auf eine Stadt abzuwerfen, erfordert ihr Einsatz gegen militärische Ziele einen erheblich größeren Steuerungsaufwand, um die erforderliche Zielgenauigkeit zu erreichen.
  • Besonders erschwert wird die Proliferation der Trägersysteme durch ihre technologische Komplexität. Komplexe Waffensysteme sind meist instabil, d.h. fehleranfällig und wenig widerstandsfähig gegenüber Veränderungen, verursachen hohe Kosten und logistische Probleme durch Wartung und Reparaturen, stehen nur einen geringen Teil der Zeit zur Verfügung. Für die Herstellung wichtig ist die Nachbildung und Integration aller Stufen von der Forschung bis zum Einsatz. Durch die unvollständige Beherrschung komplexer Rüstungstechnologien entstehen Effektivitätseinbußen und Risiken für Betreiber und Gegner.

Die technologische Komplexität ist einer der Gründe, warum nur wenige Staaten in der Lage sind, moderne Raketen selbst herzustellen, obwohl die grundlegenden physikalischen und technischen Voraussetzungen bekannt sind. Eine Konsequenz ist die Herausbildung von Allianzen zwischen Staaten im Sinne einer Arbeitsteilung.

Deutsche Raketenentwicklung bis 1945

Es gibt in Deutschland eine nunmehr 60-jährige Tradition der Raketenentwicklung, die mit dem Ersten Weltkrieg begann und im Zweiten Weltkrieg mit dem Einsatz der Raketen V1 und V2 ihren bisherigen »Höhepunkt« erreichte. Zwar wurden über Jahrhunderte hinweg im Krieg Artillerie-Raketen auf Städte und Truppenverbände abgefeuert, doch waren diese nur von kurzer Reichweite, geringer Sprengkraft, ohne eigene Lenkung und wegen ihres pulverförmigen Sprengstoffs nur schwer zu kontrollieren. Die grundlegenden theoretischen Ideen der Raketentechnik und Weltraumfahrt wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den sogenannten »Vätern der Raumfahrt« gelegt: dem Russen Konstantin Ziolkowski, dem Deutschen Hermann Oberth und dem US-Amerikaner Robert Goddard. Durch ihre Arbeiten waren die wesentlichen theoretischen und technischen Kenntnisse der Raketenentwicklung bereits in den zwanziger Jahren bekannt.

Im Gefolge des Ersten Weltkrieges ergab sich ein wachsendes öffentliches Interesse an der Raumschiffahrt, was sich in Filmen (Fritz Langs »Frau im Mond«) und (Science-Fiction-)Literatur niederschlug. In mehreren Ländern wurden Weltraumgesellschaften gegründet: »Verein für Raumschiffahrt« (VfR) in Deutschland (1927 von Johannes Winkler gegründet), die sowjetische »Arbeitsgruppe zur Erforschung von Raketenantrieben« (GIRD) (1929 u.a. von Sergej Koroljow gegründet), die American Rocket Society (1930) und die British Interplanetary Society (1933). Weitere Gruppen bildeten sich in den dreißiger Jahren in Argentinien, Holland, Frankreich und Japan.7

Die besondere Situation Deutschlands ermöglichte eine rasche Verbindung von Theorie und Praxis mit dem Militär, verkörpert in den drei Koryphäen der deutschen Raketenentwicklung, Hermann Oberth, Wernher von Braun und Walter Dornberger. Oberth hatte 1923 in seinem Buch »Die Rakete zu den Planetenräumen« das theoretische Konzept beschrieben, die Studenten Eugen Sänger und Helmut von Zborowski diskutierten die technischen Möglichkeiten von Raketenmotoren. Der durch Oberth's Buch inspirierte Wernher von Braun, der bei Beginn der Raketenversuche 1929 erst 17 Jahre alt war, verband technische Kenntnisse mit jugendlicher Initiative und Führungsfähigkeit und profilierte sich damit als Leiter des Raketenteams. Der damalige Hauptmann Dornberger brachte Organisationskraft und amtliche Unterstützung mit. Die war auch nötig, denn die bis 1932 noch privat betriebenen Versuche mußten aus finanziellen und Sicherheitsgründen eingestellt werden. Auf der Suche nach Bündnispartnern bot sich das Heereswaffenamt an, das seinerseits einen Ausweg aus den Waffenverboten des Versailler Vertrages suchte. Da kamen die idealistischen Raketenforscher gerade recht, die nach eigenen Aussagen ihr Gewissen mit dem Argument zu erleichtern suchten, ihr Pakt mit dem Militär diene letztlich der »friedlichen Eroberung des Weltraums«. Statt für eine Mondrakete arbeiteten sie jedoch für ein Ferngeschütz. Nur wenige wie der ehemalige Kriegsflieger Rudolf Nebel lehnten ab, um die »Freiheit der Forschung« nicht durch das Militär zu gefährden.8

Der Weg zur V2

Die technische Entwicklung ging, trotz anfänglicher Schwierigkeiten und Rücksschläge, ungewöhnlich rasch voran. Nach der „Minimum-Rakete “ (Mirak) erreichte das Nachfolgemodell »Repulsor« im August 1931 auf dem Raketenflugplatz Berlin-Reinickendorf eine Höhe von mehr als 1500 Metern. Ab Oktober 1932 wurden auf dem Heeresschießplatz Kummersdorf südlich von Berlin Versuche mit dem »Aggregat 1« (A1) durchgeführt, das jedoch beim Start versagte. Ende Dezember 1934 erreichte das Nachfolgemodell A2 auf Borkum eine Gipfelhöhe von 2,2 km, wobei die Fluglage durch einen Kreisel in der Mitte der Rakete stabilisiert wurde. Nach dem bis 1937 erfolgten Umzug zur Heeresversuchsanstalt Peenemünde (HVP) konnte das nunmehr 50 Mann starke Team Versuche mit der von Walter Riedel, Arthur Rudolph und von Braun projektierten A3 durchführen, die einen Schub von 1,5 Tonnen entwickelte.

Die 1936 entworfene A4 (die spätere V2) war das Grundmodell aller weiteren ballistischen Fernraketen: sie war 14 m lang, mehr als 13 Tonnen schwer, erbrachte 25 Tonnen Schubkraft, hatte eine Brenndauer von 65 Sekunden, eine Reichweite von etwa 300 km und trug 1000 kg Sprengstoff.9 Kursänderungen während des Fluges konnten durch Funkbefehle vorgenommen werden. Um Erfahrungen zu sammeln, v.a. mit der bis dahin noch unerreichten Überschall-Geschwindigkeit, wurden bis 1942 mit dem Testgerät A5 Versuche durchgeführt. Das Programm verzögerte sich, da Hitler nach Kriegsbeginn die Mittel für die Raketenentwicklung drastisch kürzte, im Glauben an einen raschen Sieg. Eine Rolle spielte auch die Konkurrenz zu der weit billigeren V1, einem unbemannten, ferngelenkten Düsenflugzeug und Vorläufer der heutigen Marschflugkörper (Cruise Missiles).10 Reibungen mit der SS, die den Wissenschaftlern ihre Weltraum-Ambitionen angeblich übel nahm, führten 1943 sogar vorübergehend zur Verhaftung von Klaus Riedel, Helmut Gröttrup und Wernher von Braun.11

Nachdem der »Blitzkrieg« Deutschlands ins Stocken geraten war und empfindliche Niederlagen eingesteckt werden mußten (Luftschlacht um England, Niederlage bei Stalingrad), glaubte Hitler mit »Wunderwaffen« das Blatt noch wenden zu können. Im Dezember 1942 wurde die Serienfertigung der »Vergeltungswaffe« V2 eingeleitet, im Juli 1943 das A4-Raketenprogramm an die Spitze der Dringlichkeitsstufe im deutschen Rüstungsprogramm gesetzt. Die technische Qualifikation hatte die A4 bereits am 3. Oktober 1942 bewiesen: die Rakete erreichte bei vierfacher Schallgeschwindigkeit eine Gipfelhöhe von 85 km und berührte damit erstmals den Weltraum.

Zahlreiche Fehlschläge und Unfälle konnten die Entwicklung ebensowenig aufhalten wie das massive Bombardement der Alliierten am 17./18. August 1943, das jedoch zu Verzögerungen führte. Die Produktion wurde in das unterirdische »Mittelwerk« bei Nordhausen im Harz verlagert und dort im Mai 1944 fortgesetzt. Um die komplizierte A4 mit ihren 20.000 Einzelteilen auf Fließband produzieren zu können, mußte eine Vereinfachung durchgeführt werden. Allein für die Produktionsreife des A4-Triebwerks wurden über 60.000 Änderungen vorgenommen.12 Pro Tag konnten 10 bis 20 Raketen hergestellt werden. Für jede der etwa 7.000 im Krieg produzierten A4 wurden zwischen 17.000 (Anfangskosten) und 3.500 (ab 5000 A4) Mensch-Arbeitsstunden aufgebracht, was einem Durchschnittspreis von 56,000 Reichsmark entsprach.13 Zwar kostete die A4 nur etwa ein Drittel eines Jagdflugzeugs, doch immer noch mehr als das Zehnfache der V1. Während für die Entwicklung der V1 etwa 200 Millionen Reichsmark benötigt wurden, mußten für die Entwicklung der V2 schon 2 Milliarden Reichsmark aufgebracht werden14, ein deutsches Manhattan-Projekt.

Zeitweise waren 18 000 Beschäftigte an der Herstellung der V1 und V2 beteiligt, darunter 5 000 Wissenschaftler. Mindestens 20.000 Sklavenarbeiter gingen unter den grauenhaften Bedingungen im Mittelwerk oder im nahegelegenen Konzentrationslager »Dora« zugrunde.15 Auch aus anderen Konzentrationslagern wurden Zwangsarbeiter eingesetzt. Eine Reihe deutscher Firmen war in die Produktion einbezogen16: ARGUS (Berlin), BMW (München) in Zusammenarbeit mit BBC (Basel), Junkers (Dessau), Heinkel (Berlin), Fieseler (Kassel), Daimler Benz (Stuttgart), Walter (Kiel), Siemens-Askania (Berlin), Rheinmetall-Borsig (Berlin), Henschel (Berlin, Kassel), VW-Werk (Wolfsburg), Blohm und Voss (Hamburg), Elektromechanische Werke (Karlshagen), Ruhrstahl AG (Essen).

Die V2 konnte von festen Abschußbunkern ebenso abgeschossen werden wie von mobilen Abschußrampen. Nach monatelangen Bombardements durch die V1 wurde im September 1944 mit dem Abschuß der V2 auf England, Frankreich und Belgien von deutschem und niederländischem Boden begonnen, besonders London und Antwerpen waren bevorzugte Ziele. Die Wirkung der Raketenbombardements war verheerend, wenn auch nicht so stark, wie bei den Bombardements der Alliierten. Bei statischen Versuchen hatte der Sprengsatz der A4 einen Krater von 7 m Tiefe und einem Durchmesser von 13 m gerissen.17 Sehr stark war der psychologische Effekt auf die Bevölkerung, die den Raketenangriffen schutzlos und unvorbereitet ausgeliefert war. Bald verging kein Tag ohne Beschuß, im Dezember wurden im Mittel 14 Raketen pro Tag abgefeuert, manchmal 29 bis 33. Insgesamt wurden rund 25.000 V1 und V2 eingesetzt, von denen etwa ein Zehntel fehlschlug. Dadurch wurden fast 13.000 Menschen getötet, mehr als 26.000 Menschen verletzt, 35.000 Häuser zerstört und mehr als 200.000 Häuser beschädigt.18

Wunderwaffen

Die V2 wie auch die V1 konnten jedoch das Blatt in den letzten Kriegsmonaten nicht mehr wenden. Das gleiche gilt für die zahlreichen weiteren »Wunderwaffen«, die der Phantasie deutscher Raketenbauer entsprangen.19 So wurde die A5-Rakete mit Flügeln versehen, um durch Streckung der Flugbahn die Reichweite bis auf 750 km zu steigern (Modelle A7 und A9, später A4b). Bereits im Sommer 1940 lag der erste Planungsentwurf einer zweistufigen Interkontinentalrakete (A9/A10) vor, bei der mehrere A4-Triebwerke gebündelt waren. Bei einer angestrebten Gipfelhöhe von 350 km und einer Reichweite von mehr als 5000 km sollte Amerika in 35 Minuten von der Atlantikküste erreicht werden. Eugen Sänger, der Erfinder des Staustrahl-Rohrs für die V1, und Irene Bredt (seine spätere Frau) konzipierten in der Flugzeugprüfstelle Trauen den Interkontinentalbomber, ein flugzeugähnliches Gefährt von 30 m Länge, das auf einer Teilflugbahn durch den Weltraum eine große Bombenlast von 3,8 Tonnen von Europa aus auf eine Großstadt der USA werfen sollte, um danach auf der Lufthülle der Erde entlangschlitternd ins Landegebiet zu fliegen. 1944 wurde die Idee umgearbeitet zum Projekt eines luftatmenden, hypersonischen Raumgleiters.20 Sogar an Nuklearantriebe für Raketen wurde bereits 1942 gedacht.21

Um den zunehmenden Luftangriffen der Alliierten zu begegnen, wurde eine radargelenkte und computergesteuerte Luftabwehrrakete mit der Bezeichnung WASSERFALL konzipiert, die mit einem 90-kg Gefechtskopf ein schnell fliegendes Flugzeug bis in 20 km Höhe treffen sollte. Trotz technischer Probleme bei hohen Beschleunigungen konnte die erste WASSERFALL-Rakete noch im Februar 1945 getestet werden. Eine weit einfachere und billigere, nur 9 kg schwere Flugabwehrrakete mit der Bezeichnung TAIFUN wurde in einer Stückzahl von Zehntausend beschafft, kam jedoch nicht mehr zum Einsatz. Weitere Raketenprojekte bekamen so wohl klingende Namen wie SCHMETTERLING, ENZIAN, RHEINTOCHTER und ROTKÄPPCHEN (Benecke (1987)).

Angesichts der immer knapper werdenden Ressourcen, der Zerstörung durch Bombenangriffe und der geringen zur Verfügung stehenden Zeit konnten diese und weitere Projekte während des Krieges nicht vollendet werden. Erst im Wettrüsten des Kalten Krieges war der ideale Nährboden für die Fortführung gegeben. Denn nach dem Krieg wurden die deutschen Raketenwissenschaftler kurzerhand von den Alliierten entführt bzw. gingen freiwillig. Profitieren konnten von diesem Wissensschub viele Länder, darunter die USA, die UdSSR, Frankreich, Großbritannien22, aber auch Staaten der Dritten Welt wie Indien, Argentinien und Ägypten. Die Zeit der internationalen Raketenproliferation hatte begonnen.

Deutsche Raketenentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg

Fast alle Erfindungen der Deutschen auf dem Gebiet der Raketen- und Antriebstechnik wurden von den Alliierten zunächst kopiert und danach weiterentwickelt. Besonders die neuen Supermächte konnten das Raketen-Know-how ausbeuten, das mit der »Operation Overcast« und dem »Project Paperclip« in die USA und mit der Operation »Ossavakim« in die UdSSR geschafft wurde. Inklusive war die Befreiung der Wissenschaftler von der Kriegsschuld, obwohl einige der SS angehört hatten.23

Während auf der Seite der USA ein Team unter Leitung Wernher von Brauns darum bemüht war, aus den Resten der V2 neue Raketentypen zu entwickeln, arbeitete in der Sowjetunion bis 1953 eine Gruppe um Herrmann Gröttrup ebenfalls an der Ausschlachtung der V2, die jedoch von sowjetischer Seite als „unvollkommen und technisch nicht ausgereift “ angesehen wurde (Stache (1987)). Mit der SS-6, die das von der A10 stammende und von Koroljow weiterentwickelte Prinzip der Triebwerksbündelung benutzte, gelang es der Sowjetunion am 4. Oktober 1957 mit knappem Vorsprung vor den USA, einen Satelliten in den Weltraum zu bringen. Durch den Sputnik-Schock beflügelt und von der militärischen Last befreit, konnten von Braun und seine Mannschaft mit der Mondlandung von 1969 ihren Traum von 1929 verwirklichen, der auf »Umwegen« ungezählte Opfer gefordert und das Wettrüsten der Supermächte angeheizt hatte. Damit war zugleich das Ende der deutschen Raketenbauer in den USA gekommen. Nicht beendet war jedoch die Perfektionierung der Raketentechnik, die mit den land- und seegestützten atomaren Interkontinentalraketen ihren Gipfelpunkt erreicht hat. Unterhalb der nuklearen Schwelle begannen die Großmächte, an erster Stelle die Sowjetunion, damit, ihre jeweiligen Verbündeten mit Raketen zu versorgen.

Die beiden deutschen Staaten selbst waren unmittelbar nach dem Krieg durch den Abzug von Personen und Anlagen raketentechnisch ein Entwicklungsland. Die Bestimmungen des Alliierten Kontrollrates untersagten bis 1955 die Herstellung von Luft- und Raumfahrtgeräten. Auch nach 1955 war die Bundesrepublik durch die Westeuropäische Union (WEU) verpflichtet, keine Raketen über 32 km Reichweite ohne Genehmigung des WEU-Rates herzustellen. Für das geschwächte deutsche Nationalgefühl kamen der Sputnik-Start und die Berichte über den deutschen Beitrag gerade recht. So meldete die Bild-Zeitung am 7. Oktober 1957 auf der Titelseite fast triumphierend: „Deutsche Raketen starteten künstlichen Mond. “ Und weiter: „Die Konstruktion dieser Rakete verdankt Moskau deutschen Raketenspezialisten, die nach dem Krieg in sowjetische Hände fielen.“ Gemeint war die Gröttrup-Mannschaft.

Vom Bomber zum Raumgleiter

Einige der Raketenforscher waren zu diesem Zeitpunkt bereits heimgekehrt und konnten ihr frisch erworbenes praktisches Wissen für ihre alte Heimat nutzen. Das Ehepaar Sänger übernahm 1954 die wissenschaftliche Führung des Forschungsinstituts für Physik der Strahlantriebe (FPS) in Stuttgart, das von der Bundesregierung, der Landesregierung und verschiedenen Firmen gegründet wurde. In Fortsetzung seines 1944 entworfenen Raumgleiters entwickelte Sänger als Berater bei der Flugzeugfirma Junkers bis zu seinem Tod 1964 einen luftatmenden Hyperschall-Raumtransporter. Nach dem Beschluß von 1960, keine eigenen Trägersysteme zu entwickeln, beteiligte sich die Bundesrepublik im Rahmen der 1964 gegründeten European Launcher Organization (ELDO) am Projekt der Trägerrakete EUROPA-I, die aus der britischen BLUE STREAK als Erststufe, der französischen CORALIE als Zweitstufe und der bundesdeutschen dritten Stufe ASTRIS bestand. Die in Zusammenarbeit der Firmen MBB und ERNO von 200 Wissenschaftlern und Ingenieuren entwickelte ASTRIS wurde auf Prüfständen in Trauen und Lampoldshausen getestet. Nach mehreren Fehlstarts von einem Startplatz in Australien in den Jahren 1967 – 1971 wurde das Projekt der EUROPA-Rakete abgebrochen. Im Rahmen der 1975 gegründeten European Space Agency (ESA) konnte die Bundesrepublik die ARIANE-Rakete mitentwickeln und das SÄNGER-Konzept wiederbeleben, das heute als Alternative zum britischen HOTOL steht.

Die technischen und organisatorischen Voraussetzungen für eine hochentwickelte Raketennation sind in der Bundesrepublik mittlerweile gegeben, insbesondere durch die DLR (Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt, früher DFVLR), die DARA (Deutsche Agentur für Raumfahrtangelegenheiten) und die DASA (Deutsche Aerospace). Praktisch in allen Bereichen der Raketentechnik liegen deutsche Firmen und Forschungseinrichtungen mit an der Weltspitze, vom Antrieb über Lenkung und Eintrittstechnologie bis zu Test und Produktion.24

Die militärische Raketenentwicklung mußte in der Bundesrepublik nach dem Krieg noch zurückhaltend geschehen.25 Zentrum der Entwicklung war das Stuttgarter FPS, das der Entwicklung und Erprobung von Raketen und Flugkörpern diente und u.a. über das BMVg (ab 1956), die US-Air Force und die französische Regierung gefördert wurde. Trotz der Rüstungsbeschränkungen bis 1955 produzierte Bölkow die Panzerabwehrrakete COBRA, die 1956 getestet wurde. 1957 begannen die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Raketentechnik (Bremen) und die Deutsche Gesellschaft für Raketentechnik und Raumfahrt (DGRR) mit Raketenversuchen im Wattenmeer bei Cuxhaven. Nach Protesten durch die Sowjetunion wurden die Versuche eingestellt.

Auf dem Umweg über Auslandsentwicklungen konnte die Bundesrepublik dennoch die notwendigen praktischen Erfahrungen sammeln. Sänger und weitere Mitarbeiter des FPS begannen, in Ägypten Raketen zu entwickeln (siehe den entsprechenden Abschnitt). Die Ergebnisse kamen dem Bundesverteidigungsministerium ebenso zugute wie bei der von Bölkow Mitte der sechziger Jahre gebauten Raketenbasis in Südafrika, auf der die von Frankreich mitentwickelten Flugabwehrraketen CROTALE getestet wurden.

Die OTRAG

Öffentliches Aufsehen erregte in den siebziger und Anfang der achtziger Jahren der Versuch der in der Bundesrepublik ansässigen Privatfirma Orbital Transport- und Raketen-AG (OTRAG), das Know-how der Peenemünder Raketenspezialisten für die Entwicklung von Raketen großer Reichweite zu nutzen. Die Authorisierung durch einen anderen souveränen Staat war notwendig, da die Bundesrepublik durch die WEU-Bestimmungen eingeschränkt war und nach dem Weltraumvertrag von 1967 die Nutzung durch Privatfirmen ausgeschlossen ist. Offizielles Ziel von OTRAG war die Entwicklung und Vermarktung von Raketen für den billigen Zugang in die kommerziell wichtige geostationäre Umlaufbahn.

Dies sollte mit einer modularen Trägerrakete erfolgen, die von dem deutschen Raketeningenieur Lutz Kayser entwickelt wurde. Kayser, gleichzeitig Gründer und Geschäftsführer der OTRAG seit 1974, hatte bereits als Jugendlicher Kontakt zu den Peenemünder Raketenbauern. Er trat 1954 der GfW in Stuttgart bei und studierte bei Wolfgang Pilz, Eugen Sänger und Armin Dadieu. Dadieu war im Dritten Reich für die Uran-Lagerstättenforschung in der Steiermark verantwortlich, arbeitete später für die OTRAG sowie als Gutachter der Bundesregierung in Sachen OTRAG und gehörte den Ausschüssen für Transportsysteme des Appollo-Nachfolgeprogramms und für die Trägerrakete EUROPA-III an. Kurt H. Debus, ehemals Leiter der Peenemünder V2-Raketenversuche und bis 1975 Leiter des US-Raumfahrtzentrums Cap Canaveral, war seit 1975 Aufsichtsratsvorsitzender der OTRAG. Der ehemalige V2-Triebwerksspezialist in Peenemünde und spätere Leiter der Chrysler Space Division der NASA, Richard Gombertz, wurde Technischer Leiter der OTRAG.26

Technische Vorarbeiten waren in sogenannten »Studentengruppen« bereits in den fünziger Jahren geleistet worden. Die Stuttgarter Studentengruppe, deren Mitglieder heute in führende Positionen gerückt sind, veranstaltete seit 1958 auf einem Gelände der Südzucker AG bei Böblingen Flugerprobungen von Feststoffraketen und mischte dort auch Treibstoffe, was vermutlich Ursache eines Großbrandes im September 1967 war. Auch mit dem Bau eines improvisierten Raketenprüfstandes wurde begonnen. Ab 1967 beteiligte sich die staatliche DFVLR an der Entwicklung, und ab 1970 förderte die Bundesregierung die Stuttgarter Firma »Technologieforschung GmbH«, aus der die OTRAG hervorging, für die Entwicklung eines kostenoptimalen Trägersystems mit mehreren Millionen DM.

Nach Aussagen von Wolfgang Pilz basiert die OTRAG-Rakete auf den Raketenentwicklungen in Peenemünde (insbesondere der WASSERFALL) sowie französischen und ägyptischen Typen.27 Etwa 40 Techniker und Ingenieure waren in die Produktion der Modulelemente einbezogen. Um an einen Startplatz in der Nähe des Äquators zu gelangen, schloß OTRAG 1975 mit der Regierung von Zaire ein Abkommen über die Nutzung von 100.000 Quadratkilometern Land in der Provinz Shaba bis zum Jahr 2000. Zum Ausgleich versprach OTRAG, Zaire einen Aufklärungssatelliten zu starten.

In den Jahren 1977 und 1978 erreichten zwei Raketen mit vierfach gebündelten Triebwerken und 6 m Länge Höhen von 20 und 30 km. Ein dritter Versuch mit einer 12 m hohen Rakete bis 100 km Höhe scheiterte. In Planung befand sich eine Rakete mit 5 Tonnen Nutzlast und 1000 km Reichweite. Aufgrund politischen Drucks aus der Bundesrepublik und der Sowjetunion sowie aus den Nachbarländern, die sich bedroht fühlten, wurde der für 1979 geplante Versuch einer zweistufigen Rakete eingestellt.28 Als neues Testgelände bot sich Libyen mit einem Startgebiet 600 km südlich von Tripolis an, wo erste Versuche 1980 erfolgten. Nach internem Streit konnte die OTRAG einen Raketenversuch auf dem ESA-Testgelände in Kiruna/Schweden durchführen, der jedoch abermals mißlang. Der mittlerweile abgedankte Kayser soll noch Mitte der achtziger Jahre auf dem Testgelände in Zaire Versuche mit unbemannten Lenkflugkörpern durchgeführt haben (Lorscheid (1986)).

Nach Bekanntwerden der Vorgänge wurde der Verdacht einer möglichen militärischen Verwendung ausgesprochen. Auf eine entsprechende Anfrage des MdB Norbert Gansel antwortete die damalige Bundesregierung im Jahr 197829: „Nach unseren Feststellungen ist die Rakete … aufgrund ihrer Konstruktionsmerkmale für militärische Zwecke nicht geeignet. “ Im Widerspruch dazu stehen OTRAG-Verlautbarungen, wonach die Rakete theoretisch auch atomare Sprengköpfe tragen könne.30

Europäische Gemeinschaftsprojekte

Während die nationale Entwicklung von Fernraketen in politischen Mißkredit geriet, konnten in deutsch/französischer Gemeinschaftsarbeit, besonders über die Kooperation von MBB mit Euromissile, eine Reihe von militärischen Raketenprojekten kurzer Reichweite realisiert werden. Am bekanntesten sind die Panzer- und Luftabwehrraketen HOT, ROLAND und MILAN, die heute auf dem Rüstungsmarkt weltweit geschätzt sind. Eine Reihe weiterer fortgeschrittener Lenkflugkörper befindet sich in der Bundesrepublik im Stadium von Forschung, Entwicklung oder Produktion, meist im Rahmen europäischer Kooperationsvorhaben. Dazu gehören das Mittlere Artillerieraketensystem (MARS/MLRS), das Panzer-Abwehr-Raketen-System (PARS), die Mittlere Abstandswaffe (MAW/MSOW), das Long Range Stand-Off Missile (LRSOM), das Short Range Anti Radiation Missile (SRARM), das Mittlere Flugabwehrsystem (MFS/MIFLA), das Advanced Short-Range Air-to-Air Missile (ASRAAM), der Lichtleiter-Lenkflugkörper POLYPHEM, sowie verschiedene Kampfdrohnen, Marschflugkörper und Mehrzweckwaffen.31 Bei Entwicklung, Test und Produktion dieser Waffen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, sind Kenntnisse in vielen Bereichen der Raketentechnik erforderlich (z.B. beim Sprengkopfdesign, Startgeräten, Antrieb und Lenkung), die auch bei Raketen größerer Reichweite wichtig sind. Angesichts der Multifunktionalität vieler Komponenten sind Übergänge zwischen den verschiedenen Typen zunehmend fließender geworden.

Indien

Struktur

Mit ihrer auf weitgehende Autonomie (»self-reliance«) gerichteten Zielsetzung ist Indiens Weltraumpolitik Teil der traditionellen indischen Politik der Blockfreiheit. Als Ergebnis dieser Politik verfügt Indien heute über alle wesentlichen Voraussetzungen, die ein Land benötigt, um als Weltraummacht anerkannt zu werden.32

In der Anfangsphase (ab 1962) unterstand das Indian National Committee for Space Research (INCOSPAR) dem Department of Atomic Energy. Heute sind praktisch alle Entscheidungen im indischen Weltraumprogramm im Secretary of Space zusammengefaßt, der die Aktivitäten der Space Commission, des Department of Space und der Indian Space Research Organization (ISRO) leitet. Der 1969 gegründeten ISRO sind eine Reihe großer Forschungs-, Entwicklungs-, Technologie- und Produktionszentren angeschlossen. Im größten, dem Vikram Sarabhai Space Centre (VSSC) in Trivandrum an der Südspitze Indiens, werden vor allem die indischen Höhenforschungsraketen und Trägersysteme entwickelt und hergestellt. Das VSSC ist zuständig für Aerodynamik, Flugführung, Satellitenelektronik, Nachrichtentechnik, Werkstoffe und Bauweisen, Treibstoffe und Antriebstechnik. In Trivandrum ist auch die Startbasis für in- und ausländische Höhenforschungsraketen.

Von der Raketenabschußbasis SHAR auf einer Wattenmeerinsel im Golf von Bengalen werden Indiens Weltraumraketen gestartet. Das Zentrum verfügt auch über große Testanlagen für Raketen sowie über Bahnverfolgungs- und Bodenkontrollstationen. Neben diesen drei wichtigsten Zentren gibt es noch vier kleinere Zentren für die Entwicklung und den Bau von Satelliten-Nutzlasten und -Bodeneinrichtungen, für die Entwicklung von Triebwerken, für Satelliten-Bahnverfolgung und -kontrolle sowie für die Produktion von Satelliten-Fernsehprogrammen. In den 7 ISRO-Zentren werden etwa 90 % des gesamten Weltraumprogramms abgewickelt, mit 14500 Beschäftigten, darunter etwa 4500 Wissenschaftlern und Ingenieuren.33

Schließlich verfügt Indien auch über eine Fabrik zur Produktion von Festtreibstoffen mit einer Jahreskapazität von 250 Tonnen, die 1985 zu den acht größten der Welt gehörte.34 Die verwendete Mischung aus Aluminiumpulver und Ammoniumperchlorat plus Bindemittel hat einen hohen spezifischen Impuls und steht dem Antrieb moderner ballistischer Atomraketen wie auch den Feststoffzusatzraketen des Space Shuttle nicht nach. In einem rein militärischen Programm begann Indien 1983 das Integrated Guided Missile Development Program (IGMDP) zur Entwicklung taktischer und strategischer ballistischer Raketen.35

Trägerraketen

Folgende Raketentypen Indiens werden genannt (Shuey (1989)):

  • Seit 1963 wurde mit der Entwicklung von Höhenforschungsraketen begonnen, zunächst mit einer Lizenzproduktion der französischen CENTAURE. 1976 hatte die erste selbstentwickelte Höhenforschungsrakete der ROHINI-Reihe ihren Erstflug. Ein Nachfolgemodell ist die zweistufige MENAKA, welche heute noch zu meteorologischen Zwecken benutzt wird.
  • Die ersten Arbeiten an der vierstufigen, Feststoff-Trägerrakete SLV-3 (Space Launch Vehicle) begannen 1973. Nach mehreren Fehlstarts konnte am 18.7.1980 der Forschungssatellit ROHINI (35 kg) mit der SLV-3 erfolgreich in eine niedrige Umlaufbahn gebracht werden. Trotz eines Vierstufentriebwerks, der Verwendung leichter Werkstoffe und des Einsatzes moderner elektronischer Leit- und Steuerungssysteme ist die Nutzlast der SLV-3 auf 50 kg in eine erdnahe Umlaufbahn begrenzt.
  • Daher wurde die SLV-3 zum Augmented Satellite Launch Vehicle (ASLV) weiterentwickelt, indem eine fünfte Stufe hinzugefügt und die Schubkraft durch Ergänzung der ersten Stufe mit zwei Zusatzraketen wesentlich gesteigert wurde. Dadurch sollen Nutzlasten bis zu 150 kg in Erdumlaufbahnen zwischen 400 – 500 km Höhe gebracht werden. Außerdem wird das elektronische Regel- und Steuersystem an Bord der Raketen wesentlich verbessert.
  • Das in Entwicklung befindliche Polar Satellite Launch Vehicle (PSLV) (250 Tonnen schwer, 40 m hoch) soll ab Anfang der neunziger Jahre 1000 kg Nutzlast in eine sonnensynchrone polare Umlaufbahn bringen. Die zweite Stufe der PSLV erhält einen mit Flüssigtreibstoff betriebenen Viking-Motor, der auf der Grundlage eines Lizenzvertrages mit der französischen Firma SEP hergestellt wird.
  • Die PSLV soll bis Mitte der neunziger Jahre weiterentwickelt werden, unter anderem für die Beförderung von INSAT-2 Mehrzweck-Satelliten der 1200-kg Klasse in die geostationäre Umlaufbahn (GSLV). Diese Rakete hätte interkontinentale Reichweite.
  • Indiens erste ballistische Rakete, mit der Bezeichnung PRITHVI (auch SS-150 genannt) wurde am 25. Februar 1988 zum ersten Mal versuchsweise gestartet. Die von der indischen Armee entwickelte und mit der sowjetischen SCUD-B vergleichbare einstufige Flüssigkeitsrakete ist mobil und soll in der Lage sein, einen 1000 kg schweren Gefechtskopf über eine Distanz von 250 km zu tragen.37 Das Lenksystem verwendet einen Bordcomputer zur Überprüfung und Korrektur der Flugbahn.
  • Die zweistufige AGNI-Rakete legte bei einem Test am 22. Mai 1989 eine Strecke von rund 2500 km zurück, bei einer möglichen Nutzlast von 500-1000 kg. Die erste Stufe ist mit der SLV-3 identisch, mehrere AGNI-Booster sollen die erste Stufe der PSLV-Rakete bilden.
  • Weiterhin konnten verschiedene kleinere Lenkflugkörper entwickelt werden38: die TRISHUL Boden-Boden-Rakete, the AKASH Boden-Luft-Rakete mittlerer Reichweite, die NAG Anti-Panzer-Waffe sowie ferngelenkte Zielflugzeuge.

Zusammenarbeit mit dem Ausland

Trotz Autonomiebestrebungen suchte Indien von Anbeginn Unterstützung aus dem Ausland, wobei eine Diversifizierung über verschiedene Staaten angestrebt wurde. Am intensivsten hat Indien bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums mit der Sowjetunion zusammengearbeitet, die, wie auch die USA und die ESA, Trägersysteme für Satellitenstarts zur Verfügung stellte. Das indische Raumfahrtprogramm begann im November 1963 mit dem Start einer US-Höhenforschungsrakete von indischem Boden. Zwischen 1963 und 1975 wurden mehr als 350 Höhenforschungsraketen der USA, Frankreichs, der Sowjetunion und Großbritanniens von der Thumba Startanlage abgeschossen38p>, die 1963 mit UNO-Hilfe aufgebaut wurde.

Die erste Gruppe indischer Ingenieure hatte Erfahrungen mit Raketenstarts in den USA gemacht, darunter AGNIS's Chefkonstrukteur A.P.J. Abdul Kalam. Er hatte NASA's Langley Research Center und das Wallops Island Flight Center in Virginia besucht, wo die Scout Rakete der USA entwickelt und gestartet wurde.

Nachdem ein indisches Gesuch zum Nachbau der Scout aufgrund des US-Kriegswaffengesetzes abgelehnt wurde, baute Kalam in Indien die SLV-3, die im wesentlichen mit der Scout identisch ist: beide sind 23 m lang, haben vier Festtreibstoff-Stufen, ein open-loop Lenksystem und können 40 kg in eine niedrige Erdumlaufbahn befördern.39

In den späten sechziger Jahren erlaubte Frankreich Indien den Nachbau der CENTAURE Höhenforschungsraketen aufgrund einer Lizenz von Sud Aviation.

Auf der Grundlage eines langfristigen Lizenzvertrages mit der französischen Firma SEP hat Indien bereits seit 1972 französisches Know-how zur Herstellung von Festtreibstoffen für Trägerraketen erhalten. Auf derselben Grundlage wurde Indien von SEP die Genehmigung zum Nachbau des Viking-Triebwerks der ARIANE unter Verwendung von Flüssigtreibstoff gegeben. Der »Vikas« genannte Antrieb findet sich nun wieder in der zweiten Stufe der PSLV-Rakete (Gatland (1981)). 1977 schloß Indien mit Frankreich ein Regierungsabkommen, das vor allem die Triebwerk- und Treibstofftechnologie betrifft, aber auch die Nutzung des französischen SPOT-Aufklärungssatelliten.

Auch die Bundesrepublik Deutschland half mit, die technischen Voraussetzungen für das indische Raumfahrtprogramm zu schaffen. Am 5.10.1971 wurde ein deutsch-indisches Regierungsabkommen über die Zusammenarbeit bei der friedlichen Verwendung der Kernenergie und der Weltraumforschung geschlossen, das 1974 um eine Einzelvereinbarung zwischen der DFVLR und ISRO ergänzt wurde (von Welck (1987)). Die Kooperation wurde vom BMFT und der DFVLR getragen und vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit koordiniert. Die Zusammenarbeit ISRO-DFVLR seit 1973 erstreckte sich von der Ausbildung indischer Wissenschaftler an deutschen Instituten, der Beratung der ISRO durch deutsche Wissenschaftler in Indien, über Geräte- und Literaturbeschaffung für die ISRO bis hin zur kompletten Durchführung von Experimenten für das indische Raumfahrtprogramm sowie der Erstellung umfangreicher Software. Folgende Beiträge können im einzelnen aufgeführt werden40:

  • Test eines Modells der SLV-3 im Hyperschallwindkanal der DFVLR in Köln-Porz
  • Beratung bei der Planung und Konstruktion von indischen Höhenprüfständen für Raketentriebwerke sowie entsprechende Trainingsprogramme für indisches Personal
  • Untersuchung von Wiedereintrittsproblemen bei Flugkörpern bis 1000 kg
  • Durchführung von Seminaren in Indien, u.a. über Kreiseltechnik, Bahnkorrekturen, Fernerkundung sowie Werkstoffe und Bauweisen.
  • Softwareentwicklung für Aufstiegsbahnen, Lagebestimmung und geostationäre Positionierung von Satelliten.
  • Bilaterale Zusammenarbeit zu chemischen Antrieben (Trainingsprogramme in Indien, Ausbildung indischer Wissenschaftler bei der DFVLR)
  • Entwicklung von Trans- und Überschallberechnungsverfahren mit dem indischen Institute of Science
  • Strukturmechanische Berechnungsverfahren
  • Gemeinsame Höhenforschungsprogramme

Bei Lehrgängen in Stuttgart und Braunschweig Mitte der siebziger Jahre bekamen indische Wissenschaftler das Know-how über Verbundwerkstoffe vermittelt, insbesondere über Zusammensetzung, Herstellung, Qualitätskontrolle und Fehlersuche (z.B. von Glasfaser-verstärkten Kunststoffen mit imprägnierten Materialien oder Kohlefaser-verstärkten Verbundwerkstoffen). Damit wurde der Zugang zur Herstellung von Raketendüsen und Raketenköpfen erleichtert. Bis Mitte der achtziger Jahre konnte Indien eine Faserwickel-Maschine nach Plänen der DLR bauen. Aufgrund offizieller indischer Erklärungen nach dem AGNI-Test darf angenommen werden, daß Indien an Hitzeschildern für atmosphärische Eintritts-Flugkörper arbeitet (Milhollin (1987)).

Besondere Unterstützung erhielt das indische Raketenprogramm in den Bereichen Raketenlenkung, Raketentests und der Verwendung von Verbundmaterialien, die für die Verwendung in militärischen Raketen gleichermaßen bedeutsam sind. Ein erster Schritt war 1978 der Einsatz eines deutschen Interferometers auf einer indischen Höhenforschungsrakete, mit dem über die Messung von Phasendifferenzen die Stellung der Rakete ermittelt werden kann.41 Nachdem 1981 das Projekt um einen Bord-Mikroprozessor der DLR erweitert worden war, konnte Indien im April 1982 eine eigene Version des gleichen Interferometers testen. Daneben wurde bis Ende 1989 das indisch-deutsche APC-REX-Satellitenexperiment durchgeführt (autonomous payload control rocket experiment). Kernstück war ein Motorola-Mikroprozessor der M68000-Familie.

Anfang 1982 kündigte Indien an, das auf der SLV-3 verwendete »open loop« Navigationssystem durch ein »closed loop« System für die ASLV und PSLV zu ersetzen, mit dem die Position, Geschwindigkeit, Stellung und genaue Zeit in Echtzeit bestimmt werden sollte (autonome Navigation).42Da die AGNI 1988 fertiggestellt wurde, dürfte es unwahrscheinlich sein, daß indische Ingenieure die dabei erworbenen Fähigkeiten hier nicht einsetzten (Milhollin (1989)).

Bewertung

Die Ansicht ist verbreitet, daß Indiens Weltraumprogramm keine unmittelbare sicherheitspolitische Bedeutung hat, u.a. wegen unterschiedlicher Treibstoffe sowie der ungenügenden Steuerung und Lenkung von Raketen.43 Aus der obigen Darstellung geht jedoch hervor, daß Indien über alle Voraussetzungen zur Herstellung von Interkontinentalraketen verfügt, wobei der größte Teil aus dem zivilen Weltraumprogramm hervorgegangen ist.

Der bevorzugte Einsatz von Festtreibstoffen, der hohe Stand der Lenktechnologie und die Forschungen zur Kühlung von Eintritts-Flugkörpern, legen die Verwendung als militärische ballistische Rakete nahe.

Mit der AGNI könnte Indien nukleare Gefechtsköpfe über tausende von Kilometern transportieren (die Schätzungen reichen von 3500 – 6000 km), wenn der politische Wille dazu gegeben ist.44 Seine nuklearen Fähigkeiten demonstrierte Indien, das die internationale Überwachung seines Atomprogramms ablehnt, mit der »friedlichen« Zündung eines nuklearen Sprengkörpers im Jahre 1974. In einigen Militärkreisen wird die Ansicht vertreten, daß Indien eine angemessene strategische Langstreckenwaffenkapazität mit nuklearen Gefechtsköpfen benötige.45 Nach Aussage von Indiens Premierminister Rajiv Gandhi ist AGNI dagegen lediglich „ein Forschungs- und Entwicklungsflugkörper, nicht ein Waffensystem. “ Allerdings öffnet AGNI seiner Ansicht nach die Option, „nicht-nukleare Waffen mit hoher Präzision über große Entfernungen zu befördern.47 Mit der staatlichen Holding-Gesellschaft IMBEL im Jahre 1975 schufen die Militärs ein wirksames Instrument zur Koordination der gesamten Waffenentwicklung, der Produktion und des Exports. Um den Anschluß an die rüstungstechnologische Entwicklung zu halten, waren die Militärs auf ausländisches Kapital und Know-how angewiesen. Über Lizenznachbau und Joint Ventures sowie zahlreiche bilaterale Forschungsabkommen mit europäischen Staaten wurde ein vergleichsweise hoher technologischer Standard erreicht.

Zivile und militärische Raketenentwicklung sind in Brasilien eng verknüpft. Im Sinne einer Aufgabenteilung wird die militärische Forschung und Entwicklung vom Technologischen Luft- und Raumfahrtzentrum (Centro Tecnico Aerospacial, CTA) der Luftwaffe in Sao Jose dos Campos durchgeführt, die zivilen Aktivitäten werden vom Institut für Weltraumforschung INPE getragen. Das CTA ist der größte und wichtigste militärische Rüstungsforschungskomplex und umfaßt sechs Forschungsinstitute, zu denen das Institut für Weltraumaktivitäten (IAE) gehört, das seit Ende der fünfziger Jahre Forschung in den Bereichen Raketenwaffen, Forschungsraketen, Militärflugzeuge, Militärelektronik, Windenergie und Höhenforschung betreibt. Das Institut für Luft- und Raumfahrttechnologie (ITA) fungiert vorwiegend als Ausbildungszentren. Das Heer errichtete das Technologische Zentrum CETEX und ein Raketentestgelände in Marimbaia bei Rio de Janeiro.48

Das zivile INPE ist dem Nationalen Forschungsrat unterstellt, unterhält Kontakt zu ausländischen Raumfahrtorganisationen, betreibt eigene Forschungsprogramme und stellt wissenschaftliche Instrumentenkapseln her. Allerdings wurden sämtliche Arbeiten für Entwicklung und Tests von Raketen von den militärischen Forschungseinrichtungen der Luftwaffe und des Heeres durchgeführt, die eng miteinander kooperieren. Der offizielle Einstieg in die Weltraum- und Raketentechnik erfolgte 1961 mit der Gründung der Kommission für Weltraumaktivitäten (CNAE) durch den nationalen Forschungsrat, die 1971 in COBAE umbenannt und direkt der Militärregierung unterstellt wurde.

Bis 1961 hatte vor allem die brasilianische Luftwaffe in kleinem Umfang Forschungsarbeiten auf dem Raketensektor durchgeführt.

Seit 1965 beteiligte sich Brasilien an internationalen Höhenforschungsprogrammen. Im Rahmen des EXAMETNET-Programms (Experimental Inter American Meteorological Rocket Network) wurde ab 1965 das dem CTA unterstellte Raketentestgelände Natal von der NASA technisch ausgestattet. Erste Erfahrungen konnten mit ausgemusterten und für Forschungszwecke umgerüsteten NIKE-Raketen der USA gesammelt werden. Unter der Präsidentschaft General Geisels wurde 1974 durch die COBAE ein umfassendes Programm initiiert, das die Entwicklung von Satelliten, Bodenstationen und Trägerraketen umfaßt. Um Satelliten für Meteorologie, Fernerkundung und Kommunikation starten zu können, wurde der Bau einer Weltraumrakete geplant sowie ein größeres Startgelände Alcantara in Äquatornähe durch Enteignung und Umsiedelung geschaffen.49

Trägerrakten

Mit Unterstützung aus Europa, Kanada und den USA entwickelte Brasilien vier Generationen von Höhenforschungsraketen (SONDA I bis IV). Die beiden Firmen Orbita und Avibras konvertierten die in diesen Raketen angelegte Technologie für militärische Anwendungen. Dies zeigt, wie ambivalent die Raketenentwicklung in Brasilien ausgelegt ist: von jedem Raketenprototyp werden sowohl Forschungs- als auch militärische Raketen abgeleitet. Die einzelnen Komponenten der verschiedenen Typen wurden dabei nach dem Baukastenprinzip kombiniert und den jeweiligen Anforderungen angepaßt50:

1. Bei den vier zivilen Versionen der Höhenforschungsrakete SONDA handelt es sich durchweg um Feststoffraketen, deren Leistungsfähigkeit schrittweise gesteigert wurde. Die 1965 erstmals gestartete einstufige SONDA I kann eine wissenschaftliche Nutzlast von rund 4 kg Masse in Höhen von etwa 70 km tragen, SONDA-II schafft mit 44 kg eine Höhe von 100 km. Die seit 1977 in der Höhenforschung eingesetzte SONDA-III setzt sich aus der modifizierten SONDA-II als oberster Stufe und einer zusätzlich konstruierten Startstufe zusammen, die 60 kg bis auf 600 km Höhe bringen kann (eine modifizierte Version schaffte 140 kg auf mehr als 200 km). Die ebenfalls zweistufige SONDA-IV, die als 2. Stufe die leicht modifizierten Startstufe der SONDA-III und als 1. Stufe einen neu entwickelten Startmotor verwendete, befördert gar 500 kg bis zu 650 km hoch und 1000 km weit. Sie hatte Ende 1984 ihren ersten Probeflug und dient zugleich als Testrakete, um verschiedene technische Neuerungen zu erproben (Zusammenspiel der Motoren, Steuerung durch Schubvektorkontrolle, Inertial-Lenkung). Auf der Grundlage der SONDA-Reihe entwickelt Brasilien eine vierstufige Feststoffrakete (VLS) für den Start von 150-200 kg schweren Satelliten in eine elliptische Erdumlaufbahn. Der Start eines VLS-Prototypen schlug 1986 fehl. Im März 1988 gab Brasilien bekannt, weitere Starts müßten als Folge der verschärften Exportkontrollen in den westlichen Ländern verschoben werden, da notwendige Komponenten nicht besorgt werden könnten.

2. Zu den zivilen SONDA-Versionen korrespondieren jeweils militärische ballistische Raketen, wobei die erforderliche Zielgenauigkeit durch den Einbau eines Trägheitslenksystems erreicht wird. So sind die brasilianischen Gefechtsfeldwaffen SS-07, SS-40 und SS-60 (die Heeresbezeichnungen der beiden letzten Typen sind FTG X-20 und FTG X-40) die unmittelbaren Gegenstücke zu SONDA-I, SONDA-II und SONDA-III und tragen sogar die gleichen Nutzlastmassen. Diese Artillerieraketen mit Reichweiten unter 100 km werden von den mobilen Raketenwerfern ASTROS I und II verschossen, wobei das Kaliber 127 mm dem Durchmesser des Motors der Sonda-I entspricht.51 Darüber hinaus entwickelt Avibras zwei längerreichweitige ballistische Raketen. Die mobile SS-300 (300 km Reichweite) basiert auf der Sonda-IV und soll mit ihrem 1000 kg schweren Gefechtskopf diverse Submunition zielgenau gegen Personen, Panzer oder Befestigungen zum Einsatz bringen können. Die 1200 km weit reichende SS-1000 dürfte eine Weiterentwicklung der SONDA-IV sein und gewisse Ähnlichkeiten mit der Pershing Ia haben. Die Firma Orbita entwickelt aus der SONDA-Reihe ebenfalls eine Familie von Kurz- und Mittelstreckenraketen: eine 150 km weit reichende mobile taktische Rakete mit der Bezeichnung MB/EE-150, sowie Raketen mit den Bezeichnungen MB/EE-350, MB/EE-600, MB/EE-1000 mit den Reichweiten 350, 600, 1000 km. Alle diese Raketen verwenden Trägheitslenksysteme und sogar der Einsatz von Endphasenlenksystemen soll geplant sein.52

3. Um seinen Luftraum zu sichern, hat das CTA die luftgestützte PIRANHA-Rakete entwickelt, die die Technologie der SONDA-Raketen verwendet (nach Aussagen der Zeitung »Journal do Brasil« vom 9.5.82).53 Die Luftabwehrrakete ROLAND-II wird in Brasilien unter Lizenz gefertigt, an eigenen Luftabwehrraketen größerer Reichweite wird im CETEX gearbeitet. Brasilien produziert auch den ferngelenkten ACAUA Lenkflugkörper (Remotely Piloted Vehicle) und ein Anti-Schiffs Cruise Missile mit der Bezeichnung SM-70 BARRACUDA, das mit 170 kg mehr als 70 km weit fliegen kann.

Einen derart hohen technischen Stand konnte Brasilien nur mit ausländischer Unterstützung erlangen. Besonders China versorgte Brasilien mit Raketentechnologien, z.B. mit Flüssigtriebwerken und Lenktechnologie. Beide Staaten vereinbarten die Zusammenarbeit bei Aufklärungssatelliten, die von chinesischen Raketen (LANGER MARSCH) gestartet werden. Bestimmte Komponententechnologien waren auf dem freien Markt erhältlich (z.B. Lenksysteme von der französischen Firma Sagem).54

Rolle der Bundesrepublik

Bei der Entwicklung und Nutzung der Sonda-Raketen spielte die Bundesrepublik eine wichtige Rolle. Vertragliche Grundlage ist ein bilaterales Abkommen über die »Zusammenarbeit in der wissenschaftlichen Forschung und technologischen Entwicklung« vom 9.6.1969, das sich auf die Bereiche Nuklear-, Weltraum-, Luft- und Meeresforschung sowie wissenschaftliche Dokumentation und EDV erstreckt. Im Nuklearbereich begann eine intensive Kooperation, mit Hilfe derer Brasilien, das den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat, die wesentlichen Voraussetzungen zur Herstellung der Atombombe schaffen konnte. Darüber hinaus wurden Einzelabmachungen zwischen deutschen und brasilianischen Forschungsinstituten geschlossen, insbesondere am 19.11.1971 zwischen DFVLR und CTA über Luft- und Raumfahrttechnologie. 1978 wurde ein Beratervertrag zwischen der deutschen Raumfahrtindustrie und CTA vereinbart, insbesondere ein direkter Kooperationsvertrag mit MBB. Die Zusammenarbeit mit der zivilen INPE erfolgte erst seit 1977 in kleinem Rahmen.55

Ab 1969 wurden auf dem Abschußgelände bei Natal brasilianische Höhenforschungsraketen mit bundesdeutschen Nutzlasten gestartet. Seit 1973 führte die DFVLR in Workshops Schulungen von wissenschaftlichen Mitarbeitern des CTA durch, zu Themen wie: Aerodynamik von Flugkörpern, Windkanal-Meßtechnologie, Flugbahnberechnung, Abbrandbeeinflussung von Festtreibstoffen, Werkstoffe und Bauweisen, faserverstärkte Kunststoffe.56 Praktische Erfahrungen konnten aus Raketenstarts und dem regelmäßigen Austausch von Wissenschaftlern gewonnen werden. Direkte technische Hilfe wurde geleistet bei der Arbeit an Bergungs- und Lageregelungssystemen, bei der Nutzlastintegration, in der Dickfilmtechnologie, für die Schubvektorkontrolle sowie bei der Realisierung einzelner Komponenten der Raumfahrt.57 Eine bedeutende Aufgabe war die Entwicklung und der Bau einer Faserwickelanlage, mit der sich die Brasilianer seit 1977 faserverstärkte Triebwerksgehäuse und Schubdüsen für Raketen herstellen konnten. Die Kooperation wurde ausgeweitet, u.a. auf die Bereiche Kohlefasertechnologie, Software-Programme für optimale Faserverläufe, Qualitätssicherung, zerstörungsfreie Werkstoffprüfung, Herstellung von Rotorblättern. Aufgrund der Zusammenarbeit fand das für die Schubvektorkontrolle wichtige Verfahren der Sekundäreinspritzung Eingang in der SONDA-IV bzw. ihre militärischen Versionen. Systemtests und Vibrationstests des Heckteils der SONDA-IV wurden in MBB-Umwelttestlabors in Lampoldshausen und Ottobrunn durchgeführt.

Militärische Relevanz

Die detaillierte Auflistung belegt, daß die Bundesrepublik Deutschland einen erheblichen Beitrag zur Entwicklung der SONDA-Raketen geleistet hat, aus denen Brasilien seine militärischen Raketen entwickelte. Dies geschah in einer Zeit, in der Brasilien von einer Militärjunta regiert wurde und Menschenrechte systematisch verletzt wurden. Trotz mehrerer Briefwechsel des Berliner Arbeitskreises »Physik und Rüstung« mit der DFVLR und dem BMFT in den Jahren 1982 und 1983, in denen auf die Problematik hingewiesen wurde,58 stritt die Bundesregierung noch 1984 in einer Bundestagsanfrage ab, „daß es irgendeinen Anhaltspunkt für militärische Zwecke bei der Nutzung der deutsch-brasilianischen Zusammenarbeit gibt “.59

Dabei hatte das brasilianische Militär mehrfach öffentlich sein Interesse an Mittelstreckenraketen mit Reichweiten von mehreren Tausend Kilometern Reichweite bekundet, die auch einen oder mehrere Atomsprengköpfe transportieren können.60 Diese Haltung wurde nach Ablösung der Militärjunta durch eine zivile Regierung im Jahre 1985 zwar abgeschwächt, doch wurden die technischen Voraussetzungen für die Herstellung von Atomwaffen und Raketen weiter ausgebaut. Nach wie vor ist Brasilien eines der wichtigsten Rüstungsexportländer. Einer der Hauptkunden brasilianischer Raketenwaffen war der Irak, an den u.a. Raketen vom Typ FTG X-40 und ASTROS-Raketenwerfer verkauft wurden, und der zusammen mit Libyen sein Interesse an der SS-300 bekundet hatte. Im August und September 1990, also nach dem Einmarsch Iraks in Kuwait, wurde bekannt, daß brasilianische Ingenieure an Modifikationen der irakischen SCUD-B mitgearbeitet haben sollen sowie bei der Konstruktion einer Fabrik für die PIRANHA-Rakete nahe Bagdad. Dennoch stimmten die USA am 21.9.1990 der Härtung von Raketenmotorgehäusen für die brasilianische VLS-Rakete zu, die in Lizenz bei der Chicagoer Firma Lindbergh hergestellt wurden.61

Argentinien

Wesentlichen Einfluß auf Argentiniens Vorsprung in der Raketenforschung hatten hunderte deutscher Ingenieure und Techniker, die 1945 nach Argentinien emigrierten und mit ihrem Know-How zum Aufbau der argentinischen Nuklear- und Luftfahrttechnologie beigetragen hatten.62 Konsequent wurden die Erfahrungen aus dem Flugzeugbau für die Raketentechnik verwendet. Zuständig war das militärische Forschungsinstitut für Luftfahrt und Weltraum. Schon Ende der fünfziger Jahre wurden in Argentinien drei Typen von militärischen Feststoffraketen entwickelt und hergestellt, mit Reichweiten von 5,5 – 9 km und Nutzlasten von 1,5 – 10,5 kg. Mit Hilfe der USA wurden Höhenforschungsraketen hergestellt, die 1961 erstmals gestartet wurden. Es wurden drei Startplätze bei Chamical, La Rioja und bei Base Matienzo geschaffen.

Trägerraketen

Verschiedene Typen von Höhenforschungsraketen wurden eingesetzt: ORION (25 kg Nutzlast, 95 km Höhe), RIGEL (30 kg Nutzlast, 310 km Höhe) und CASTOR (50 – 68 kg, 500 km Höhe). Weiterhin wurde von einer mehrstufigen Feststoff-Höhenforschungsrakete der Luftwaffe mit der Bezeichnung TOI berichtet.63 Wenigstens drei Typen ballistischer Raketen sind bekannt geworden:

  1. Ab 1980 entwickelte Argentinien die einstufige Feststoff-Rakete CONDOR-I für zivile und militärische Zwecke. Als Höhenforschungsrakete soll sie eine 400 kg Nutzlast in eine Höhe von 70 km bringen, als ballistische Rakete 100-150 km weit tragen.64
  2. Die wenig bekannte zweistufige ALACRAN-Rakete soll als erste Stufe die CONDOR-I verwenden und eine Nutzlast von 1 Tonne auf 200 km Höhe heben können.65
  3. 1982 begann die Arbeit an der etwa 10 m langen, zweistufigen Feststoffrakete CONDOR-II, die, mit modernster Steuerungselektronik ausgestattet, einen etwa 500 kg schweren Gefechtskopf bis zu 1000 km weit tragen können soll.
  4. Argentinien produziert auch taktische Lenkflugkörper wie die KINGFISHER Luft-Boden-Rakete mit visuellem Fernlenksystem sowie Turbojet-getriebene Drohnen für Aufklärung und Angriffe gegen Boden-, Luft- und Seeziele, die die Grundlage für die Herstellung von Cruise Missiles herstellen könnten. Durch den Erwerb französischer EXOCET Anti-Schiffsraketen konnte Argentinien im Falklandkrieg das britische Schlachtschiff Sheffield versenken.

Das argentinische Raketenprogramm gründet sich auf verschiedene Quellen. Nach Abflauen der US-Unterstützung in den sechziger Jahren wurde die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern, Ingenieuren und Firmen aus der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien verstärkt. Auch von einer Lizenzproduktion der chinesischen CSS-2-Rakete in Argentinien und einer Unterstützung durch Nordkorea wurde berichtet (Shuey (1989)).

Für die Grundlagenforschung und Ausbildung erwies sich die seit etwa 1974 betriebene Kooperation zwischen der DFVLR und dem »Departamento de Investigacion y Desarollo« (DID) auf dem Gebiet der Höhenforschungsraketen als wesentlich. Grundlage war ein Rahmenabkommen von 1969 zwischen Bundesregierung und der damaligen Militärregierung Argentiniens über die Zusammenarbeit in Forschung und Technologie. Konkret wurde die CASTOR-Rakete bei der DFVLR im Windkanal untersucht, wurde in Cordoba eine Vortragsreihe über Feststoffantriebe durchgeführt und Laboreinrichtungen in Argentinien besichtigt. 1977 fand im brasilianischen Sao Jose dos Campos ein gemeinsamer Workshop zwischen brasilianischen, argentinischen und bundesdeutschen Wissenschaftlern und Ingenieuren über die Ausrüstung von Höhenforschungsraketen statt. In den Jahresberichten der DFVLR bis 1982 wurde die Zusammenarbeit auf den Gebieten Aerodynamik, faserverstärkte Werkstoffe und Höhenforschungstechnologie betont, 1983 dagegen erstmals von politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten berichtet.66

Anfang der achtziger Jahre kamen bundesdeutsche Firmen (Klöckner, MBB, OTRAG) ins Gerede als mögliche Anbieter für ein Waffentestgelände bei Sierra Grande, zu dem auch ein Raketentestgelände und zwei Abschußplattformen gehören sollten.67

Das Condor-Projekt

Die wohl umfassendste Form internationaler Zusammenarbeit erfolgte im Rahmen des CONDOR-Projekts, in dem Personen und Firmen aus mehreren Ländern beteiligt waren. Genannt wurden, neben den Hauptbeteiligten Argentinien, Ägypten und Irak, auch die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Schweiz und Rumänien. Ein Motiv war der Wunsch des argentinischen Militärs, mit Brasilien bei der Raketenentwicklung gleichzuziehen. Der Falklandkrieg dürfte das Projekt beschleunigt haben. Ziel war die Entwicklung einer Mittelstreckenrakete unter dem Deckmantel eines Höhenforschungsprogramms, an dem deutsche Firmen nach Genehmigung durch die Bundesregierung 1979 teilnehmen konnten. Die Federführung lag bei Managern von MBB und der Schweizer Firma Bohlen Industrie und Wasag Chemie (Bowas AG), deren Aufgabe u.a. darin bestand, eine Mannschaft von Raketentechnikern und Elektronik-Spezialisten auf die Beine zu stellen.68

Unter dem Decknamen »Vector« wurde 1982 in Monaco die Tarnfirma Consulting Engineers (Consen) gegündet, die ein verschachteltes, internationales Firmen-Konglomerat aufbaute. Von verschiedenen Firmen sollten Raketenkomponenten beschafft werden, z.B. Trägheitslenksysteme von Sagem in Frankreich, Feststoffantriebe von Snia BpD in Italien, Elektronik von Bofors in Schweden, Raketenstartanlagen von Wegmann und MAN in der Bundesrepublik. Consen-Direktor Karl Adolf Hammer, der als einer der besten Raketenexperten der Bundesrepublik galt, war bis 1987 zugleich Chef der Rüstungstechnologie-Abteilung von MBB und konnte für den notwendigen Technologiefluß sorgen. Zeitweise sollen 150 Techniker und Ingenieure aus der Bundesrepublik, Frankreich und Italien mitgearbeitet haben, darunter viele ehemalige MBB-Mitarbeiter.69

Auch nach Beendigung der Militärregierung im Jahre 1983 hielt die neue Zivilregierung unter Präsident Raul Alfonsin am Raketenprogramm fest. Da es jedoch immer teurer wurde und die Milliardengrenze schon überschritten war, schlossen im Sommer 1984 der spätere Verteidigungsminister Raul Tomas und der damalige ägyptische Verteidigungsminister Abu Gazallah einen Vertrag über die Zusammenarbeit beim CONDOR-Projekt. Irak kam später hinzu (siehe die entsprechenden Länderdarstellungen). Die bundesdeutschen Partner wurden bei einem Besuch von Tomas im März 1985 in München über das Joint Venture informiert.70

Die CIA hatte das CONDOR-Projekt schon frühzeitig verfolgt und warnte die Bundesregierung mehrfach seit 1983. 1984 meldete die Sunday Times, in Azul würde mit bundesdeutscher Hilfe die CONDOR-Rakete entwickelt71. Jedoch erst im Mai 1985 drängte Bonn MBB, die Zusammenarbeit zu beenden. Um das offiziell eingestellte lukrative Projekt dennoch zu retten, wurde Anfang 1986 die Zuständigkeit von MBB auf die Projektbetreuungsgesellschaft (PBG) übertragen, die die meisten Lieferungen an die argentinische Luftwaffe über den Bremer Hafen abwickelte. Die technische Zusammenarbeit (Ausbildung in Raketentechnik, Lieferung von Komponenten, Tests von Triebwerken, Flugkörpern, Lenksystemen, Sprengköpfen) erfolgte über die MBB-Tochter Transtechnica. Von MBB entwickelte Streumunition und Benzinbomben waren als Sprengköpfe für die CONDOR-2 vorgesehen.72

Nachdem Washington den politischen Druck auf die Regierung Alfonsin verstärkt hatte und das Trägertechnologie-Kontrollregime, auch »Lex Condor« genannt, den Technologiefluß erheblich erschwerte, sank das Interesse Argentiniens am CONDOR-Projekt merklich. Als Folge des Abkommens wären die Herstellungskosten für 400 Raketen auf schätzungsweise 3,2 Milliarden US-Dollar gestiegen.73 In den letzten Jahren scheint Argentinien die Entwicklung von Satelliten zu bevorzugen, die auf ausländischen Trägersystemen (z.B. der USA) gestartet werden. Im März 1988 sagte der chilenische Luftwaffenstabschef, daß Chile und Argentinien in einem gemeinsamen Projekt daran arbeiteten, einen Kommunikationssatelliten in den Weltraum zu bringen.74

Ägypten

Ägypten hatte bereits in den sechziger Jahren unter Führung von Gamal Abdel Nasser internationales Aufsehen mit einem Raketenprogramm erregt, an dem maßgeblich deutsche Wissenschafter und Ingenieure beteiligt waren.75 Schon nach dem Rückschlag der Vereinigten Arabischen Armeen im Palästina-Krieg 1948-1949 war das Bedürfnis nach verbesserten Waffen aufgekommen (wie im Deutschland der frühen dreißiger Jahre). 1951 wurde ein kleines Team unter Leitung des deutschen Rüstungsexperten Wilhelm Voss beauftragt, eine kleinkalibrige Rakete zu entwickeln und eine moderne Rüstungsindustrie aufzubauen. 1953 wurde das Programm in die Erforschung von Flüssigkeitsantrieben unter Leitung des deutschen Raketen-Ingenieurs Rolf Engel umgewandelt, wegen finanzieller Probleme jedoch 1956 gestrichen.

Nassers Peenemünde

Da sich Ende der fünfziger Jahre einige deutsche Raketenexperten unterbeschäftigt fühlten, ergriff Nasser die Gelegenheit, sie für seine Zwecke zu erwerben. Nach dem Start einer israelischen Höhenforschungsrakete im Juli 1961 wurde die Entwicklung beschleunigt. Da die NASA eine entsprechende Unterstützung Ägyptens abgelehnt hatte, wurde Eugen Sänger beauftragt, Veteranen aus Peenemünde zu rekrutieren. Unter den etwa zehn Wissenschaftlern befanden sich der Triebwerksspezialist Wolfgang Pilz, der schon in den frühen fünfziger Jahren in Kairo und danach in Frankreich an Raketenprogrammen gearbeitet hatte, sowie die Steuerungsexperten Paul Jens-Görcke und Hans Kleinwächter, der ein Elektronikuntenehmen in Bayern besaß (Frank (1967)). Zu diesem Zweck gründeten Sänger, Pilz und Görcke 1960 die Internationale Raketen (INTRA) Handelsgesellschaft mbH, die u.a. von Messerschmidt, Bölkow und Heinkel hergestellte Raketenteile nach Ägypten exportierte. Beteiligt waren die Schweizer Firma Patvag, die Oerlikon-Tochter Contraves und die spanische Messerschmidt-Niederlassung MECO (Geissler (1978)).

Etwa 250 Techniker aus der Bundesrepublik, Spanien, Österreich und der Schweiz wurden für den Aufbau der Raketenproduktion in der Militärfabrik 333 bei Heliopolis südlich von Kairo benötigt, insgesamt waren dort zeitweise bis zu 4000 Menschen beschäftigt. Allein Sänger und drei seiner Kollegen sollen pro Jahr den für damalige Verhältnisse erklecklichen Risikozuschlag von 450.000 Dollar pro Jahr erhalten haben.76

Nasser mußte für sein Raketenprogramm enorme Summen aufbringen und erhielt als Gegenleistung schon 1962 die ersten Raketen, die er stolz auf einer Parade im Juli des Jahres präsentieren konnte: die etwa 350 km weit reichende AL ZAFIR und die rund 600 km weit reichende AL-KAHIR. Die AL ZAFIR war mehr als 5 m lang und trug einen 500 kg schweren konventionellen, hochexplosiven Gefechtskopf. Die AL-KAHIR war 12 m lang und konnte einen 750 kg Gefechtskopf transportieren. Beide hatten nur eine Stufe und wurden von Kerosin und Salpetersäure angetrieben. Ein Jahr später konnte Nasser einen weiteren Raketentyp vorführen, die zweistufige AL-ARED, die zwei Tonnen Sprengstoff mehr als 1000 km weit tragen sollte und angeblich sogar 1 Tonne in eine niedrige Umlaufbahn. Eine noch größere Rakete war geplant, die dreistufige AL-NEGMA, die die beiden Stufen der AL-ARED verwenden sollte und für die dritte Stufe Ergebnisse der ELDO-Forschungen.

Die technischen Probleme waren allerdings enorm, besonders mit Lenkung und Flugkontrolle, so daß in der Anfangsphase des Fluges die Rakete über Draht gesteuert werden mußte. Daneben geriet das Raketenprojekt auch unter politischen Beschuß, v.a. durch die israelische Regierung, die mit diplomatischen Mitteln und unter Anwendung von Gewalt (Entführung, Bombenanschläge) gegen die Mitglieder des Raketenteams versuchte, das Programm zu beenden. Der Vorwurf der israelischen Außenministerin Golda Meir, Ägypten entwickle Massenvernichtungswaffen für seine Raketen, ließ die deutsche Bundesregierung unter Ludwig Erhard im Dezember 1963 den Rückzug der Raketenexperten einleiten, unter Inkaufnahme des diplomatischen Bruchs mit Ägypten. Eugen Sänger und Armin Dadieu hatten sich auf Bonner Druck bereits vorher verabschiedet.

Nach dem deutschen Exodus mußte die ägyptische Regierung sich nach Ersatz in Osteuropa umschauen, u.a. in der DDR. Obwohl die Produktion weiter lief (die Schätzungen reichen von 80 bis 250 hergestellten Raketen), waren die technischen Probleme, besonders die Unzuverlässigkeit der Rakete, dennoch nicht zu lösen. Letztlich fehlte es zum damaligen Zeitpunkt an den geeigneten technischen Ressourcen, was sich auch durch Hilfe von außen nur zum Teil kompensieren ließen.

1968 erhielt Ägypten mit den von der Sowjetunion gelieferten FROG-4 einen Ausgleich für das gescheiterte Raketenprojekt. 1971 und 1973 kamen FROG-7 und SCUD-B hinzu, später chinesische SILKWORM-Raketen. Ägyptens ältere SCUD-B konnten Syrien und vom Sinai aus den größten Teil Israels und auch Jordaniens erreichen. Eigenständig hat Ägypten 1983 mit der Fertigung einer Rakete von 80 km Reichweite (Saqr 80) begonnen und entwickelt eine fortgeschrittene Version der SCUD-B mit einem 1000 kg Gefechtskopf, möglicherweise mit Hilfe Nordkoreas.77

Condor und die Affäre Helmy

Etwa 20 Jahre nach dem ersten Raketenprogramm unternahm Ägypten einen erneuten Versuch, mit den israelischen Raketenentwicklungen gleichzuziehen, diesmal im Rahmen des CONDOR-Programms. Ziel war die Entwicklung einer ägyptischen ballistischen Rakete namens BAADR-2000. Eine gewisse Kontinuität wurde gewahrt durch Consen-Chef Adolf Hammer, der bereits in den sechziger Jahren in Ägypten tätig gewesen war und auch nach seinem Ausscheiden bei MBB 1987 seine guten Verbindungen weiter nutzte.78 Ägypten konnte Argentinien die dringend benötigte finanzielle Unterstützung durch Saudi-Arabien (etwa 1 Mrd. DM) anbieten und bekam dafür die Zusage, daß Test- und Produktionsanlagen für Raketen nach Ägypten geliefert werden.

In Abu Zabaal wurden unter starken militärischen Sicherheitsvorkehrungen eine Treibstoffanlage und ein Testgelände errichtet, in Heluan südlich von Kairo eine Anlage zur Produktion des Raketenkörpers aufgebaut. Etwa hundert MBB-Leute sollen an einer Munitionsfabrik gebaut haben, die Anlagen für das Mischen und Abfüllen des Raketentreibstoffes enthielt. Nach Berichten hat Transtechnica, zusammen mit der US-Firma Control Data, eine unterirdische Raketensimulationsanlage in Abu Zabaal eingerichtet. Für die Anlage in Abu Zabaal wurde 1987 und 1988 mit Hammers Vermittlung u.a. ein Echtzeit-Flugbahn-Vermessungssystem von MBB geliefert, mit dem auch der Ausstoß von Submunition (Streubomben) beobachtet werden kann.79 Nach Abschluß der Arbeiten auf den Baustellen im Herbst 1988 sollte unter Anleitung bundesdeutscher Ingenieure eine Funktionsprüfung vorgenommen sowie die Produktion begonnen werden.

über die USA versuchte Ägypten, mit Rückendeckung durch seinen Verteidigungsminister Abu Gazallah, an noch fehlende technische Komponenten heranzukommen. So gelangten über einen ägyptischen Mitarbeiter der US-Firma Aerojet, Abdelkader Helmy, Arbeitsanweisungen und technische Zeichnungen des Pershing-2-Motors illegal nach Ägypten.80 In diesem Zusammenhang wurden auch Spezial-Chemikalien für die Mixtur des Festtreibstoffes exportiert bzw. bestellt. Auch eine winzigen Spezialantenne für die Datenübertragung von der Rakete zur Bodenstation soll 1988 in das CONDOR-Programm eingeflossen sein. Der illegale Transfer wurde im Juni 1988 aufgedeckt, als versucht wurde, Kohlefaser-Kunststoffe und Keramikplatten, wie sie in Raketendüsen sowie in den Köpfen vom Space-Shuttle und Interkontinentalraketen als Hitzeschutz Verwendung finden, außer Landes zu schaffen. Da die »Affäre Helmy« zu einer erheblichen Belastung des Verhältnisses mit den USA führten, stellte Ägypten im September 1989 seine Mitarbeit am CONDOR-Projekt offiziell ein.

Das irakische Raketenpuzzle: Bausteine der irakischen Raketenentwicklung und deren mögliche Herkunft.

Anmerkung: die Angaben basieren auf einer Vielzahl von Quellen, die in dieser Tabelle nicht alle aufgeführt werden konnten. Der größte Teil der Angaben stammt aus Koppe (1990) und Leyendecker (1990) sowie aus verschiedenen Artikeln in Spiegel, Stern, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Tageszeitung. Übersichten, z.T. mit Quellenangaben, finden sich bei KOMZI (1991), BUKO (1990), Timmerman (1990), Badelt (1991).

Weder kann der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden, noch kann die Richtigkeit der Angaben garantiert werden. Eine Beteiligung wird von einigen der genannten Firmen bestritten bzw. ist Gegenstand gerichtlicher Klärung.

Technologie Beschreibung Mögliche Herkunft
Raketenkomponenten (einschließlich
Bauanleitungen)
Raketenflugkörper SCUD-B UdSSR
Bauanleitung SCUD-B NVA (DDR), Havert
  CONDOR-II Consen
Lenkung Kreiselkompaß, Trägheitslenkung Plath, Sagem (Frankreich)
Treibstoff Condor-II: Fest-Treibstoffe Consen, Aerojet (USA), Ägypten (Fall Helmy), Snia BpD
(Italien)
Triebwerk SCUD-B: Turbopumpen Thyssen
  ARIANE-V: Pläne für Triebwerk H+H, Thyssen
  PERSHING-II: Blaupausen Aerojet (USA), Ägypten (Helmy)
  Raketendüsen Leico
  Teile von Raketenmotoren H+H
Materialien Hitzeschutz: Kohlefaser-Kunststoff, Keramikplatten Aerojet (USA), Ägypten (Fall Helmy)
Gefechtskopf konv.: Sprengstoffe; FAE-Bomben: Pläne, Testunterlagen;
Cluster Bombs; Zünder
Dynamit Nobel; MBB, PBG; Cardoen (Chile); Cifco
  chem.: CW-Abwurftanks; Rohrverschraubungsanlage;
Halar-Beschichtung
H+H, Meed (GB); WET; Kolb
Trägerplatform Zugmaschinen, Abschußrampen, Aufrichthydraulik Wegmann, MAN, Daimler, Saab (Schweden), H+H
Infrastruktur
Elektronik, Kommunikation Flugüberwachung, Funktechnologie, Telemetrie Siemens, SEL, AEG-Telefunken, Bofors (Schweden),
Zielerfassung Radar- und Sendeanlagen Rhode & Schwarz
Artillerie SS-20, SS-30, SS-60 für ASTROS-II H+H, Avibras (Brasilien)
  Haubitzen Magirus-Deutz, Rheinmetall; Südafrika
  Proj. Babylon: Superkanone Space Research Corporation (Belgien)
Luftabwehr Artemis 30 mm Zwilling Kanone (inkl. Feuerleitanlage,
Hydraulik-Pumpen, -Motoren, -Ventile)
Mauser, Siemens, Vickers, Griechenland
  ROLAND MBB, Euromissile
Lenkwaffen COBRA, HOT, MILAN, EXOCET MBB, Euromissile
Ausbildung, Forschung, Entwicklung, Test
Ausbildung 1983: 25 Angehörige der irak. Luftwaffe Carl-Duisberg-Zentrum, Dornier, Bundeswehrhochschule
  1986: irakische Armeeangehörige Krupp Atlas Elektronik
  1987: 6 irakische Offiziersanwärter studieren Elektronik,
Luft- und Raumfahrt
Bundeswehrhochschule
  1987: Proj. 395: Schulung irakischer Techniker in Mosul MBB
Forschung/ Entwicklung Labor für Materialforschung, Hochfrequenztechnik und
Eichung
MBB
Erprobung Echtzeit-Flugbahnvermessungssystem MBB/Transtechnica
  Testanlage für Raketentriebwerke Anlagen Bau Contor
  Windtunnel für aerodynamische Forschungen Aviatest
  Anlagen-Funktionstests MBB
Anlagen/Bau
Bauarbeiten Saad-16 in Mosul Gildemeister (Projektleitung)
  Proj. 395 Walter Thosti Boswau (WTB)
  Tadschi-Anlage Ferrostaal (Generaluntern.); Scharmann, Hochtief, Züblin,
Graeser, Kieserling & Albrecht, L. Schuler
  Munitionsfabrik Hutteen TS Engineering
C-Waffen Samarra: CW-Produktion Kolb, WET, u.a.
Flugkörper Proj. 395: Produktionsanlage Condor MBB u.a.
  Produktionsanlage für Infanteriewaffen Fritz Werner, Siemens, Hess, Krantz
Raketenmotoren Werkzeuge zur Herstellung von Raketenmotorgehäusen H & H Metallform, Avibras (Brasilien)
Treibstoff Projekt 395: Chemiefabrik zur Treibstoffherstellung MBB
  Rührwerke für Treibstoffzubereitung Schäftlmaier
Elektroinstallation Proj. 395: Stark- und Schwachstromanlagen, Transformatoren Siemens, BBC (Schweiz), Hewlett-Packard (USA)
Überwachung und Messung graphische Displaygeräte, Spektrum-Analysatoren,
Netzwerk-Analysatoren, elektronische Zählgeräte, Oszilloskope, Prozeßrechner und
Mikroschaltkreise
versch. US-Firmen
  Proj. 395: Temperaturstabilisierung in Chemieanlagen Nickel Klimatechnik
Produktionstechnologien
Schmieden + Schmelzen Schmiede für Geschoßproduktion Thyssen, Lasco/Schiess, AEG
  Tadschi: Schmiede; Stahlkocherei; Gußausrüstungen;
Spezialöfen, Härteanlagen; Schmelzpresse; Umschmelzanlagen
Ferrostaal, Rheinmetall, Buderus; ABB, Klöckner; Mannesmann
Demag; LOI Industrieanlagen; MAN/SMS Hasenclever; Leybold
Metallbearbeitung Universal-Bohrmaschine Fritz-Werner
  Schleifmaschine Körber AG
  Metallpressen L. Schuler
  Proj. 1728: Schneidwerkzeuge Hertl, Leico
  Saad-16: Fräsen, Drehbänke, Schmelzöfen Gildemeister Projekta
  Stahlrohre, Drehbank mit Ersatzteilen Inwako
  Tadschi: Kanonenrohrbohrungen, Spezialausrüstungen Maschinenfabr. Ravensburg, TBI; Dango & Dienenthal
  Hydraulische Anlagenteile für Superkanone Brüninghaus Hydraulik
Werkzeugmaschinen Steuerungs-Software Integral Sauer Informatic, CMES
  Tadschi: Werkzeugmaschinen; Computersteuerungen für
Drehbänke
Kieserling & Albrecht; Siemens
  Computergesteuerte Werkzeugmaschinen Matrix Churchill (GB)
Materialprüfung Röntgenanlagen zur Durchleuchtung von Feststoff-Stufen
  Autofretaggeanlage zur Materialprüfung und Härtung von
Kanonenrohren und Geschoßhülsen
H & H, Schmidt & Kranz

Aufbau der irakischen Raketenkapazität

Nach einer Ende 1990 veröffentlichten Studie des Simon-Wiesenthal Zentrums in Los Angeles sollen 207 Firmen dem Irak bei der Entwicklung und Herstellung von Massenvernichtungsmitteln und Trägersystemen geholfen haben, 86 davon aus der Bundesrepublik (Timmerman (1990)). Weitere Einzelheiten sind inzwischen bekanntgeworden, die zum Teil noch mit Unsicherheiten behaftet sind (eine Übersicht findet sich in der Tabelle). Aus einer Vielzahl von Informationen läßt sich dennoch wie bei einem Puzzle ein Bild darüber machen, wie der Irak sein Raketenpotential aufgebaut hat, das im Golfkrieg unter Einsatz einer gewaltigen Kriegsmaschinerie zum großen Teil zerstört wurde.

Raketenprogramme

1. Zentrale Bedeutung hatte das Projekt 395, in dem der Irak unter Anleitung des in der Bundesrepublik ausgebildeten Chemikers Amer Hammoudi al Saadi die Entwicklung einer langreichweitigen Rakete vorantrieb. Dazu wurde Know-how und technische Unterstützung aus dem CONDOR-Programm direkt einbezogen, die Pläne für die Anlagen waren weitgehend identisch. 1987 wurde ein Vertrag zwischen dem irakischen »Technical Corps for Special Projects« (Teco) und der Condor Projekt AG abgeschlossen worden.81 Forschung und Entwicklung wurden in dem größten Militärforschungszentrum im Nahen Osten (genannt Saad-16) in Mosul vorangetrieben, der unter der Projektleitung der Bielefelder Gildemeister Projekta GmbH (Gipro) für rund 400 Millionen DM aufgebaut wurde. Dutzende bundesdeutscher und österreichischer Betriebe wie die Rheinmetalltochter Aviatest oder die MBB-Tochter Transtechnica lieferten die Technik oder stellten die Ausbilder für das vom Militär streng bewachte Zentrum.82 Es wurden Raketenproduktionsanlagen in Kerbala, Falludscha und Bagdad errichtet, sowie eine Fabrik zur Herstellung von Festtreibstoff (Projekt 96) in Hillah, bei deren Explosion im August 1989 mehrere hundert Menschen den Tod fanden. Auf einem Testgelände in der Wüste (Projekt 1157) fanden die Probeläufe der Raketenstufen und die ersten Abschußversuche statt. Insgesamt sollen rund 7500 Arbeiter auf den Anlagenkomplexen beschäftigt gewesen sein.

2. Basierend auf der argentinischen CONDOR-II bzw. der ägyptischen BAADR-2000 entwickelte der Irak die zweistufige TAMMUZ-1, die eine Reichweite von 2000 km haben soll. Vom Al-Anbar Weltraumforschungszentrum westlich von Bagdad wurde am 5. Dezember 1989 eine dreistufige, 25 m hohe und 48 Tonnen schwere Weltraumrakete mit der Bezeichnung AL-ABED gestartet. Ob bei dem Test alle drei Stufen erfolgreich gezündet werden konnten, ist bezweifelt worden. Angeblich soll nur die erste Stufe funktioniert haben.83

3. Parallel dazu wurde in den Projekten 144 und 1728 die Umrüstung der SCUD-B-Raketen unternommen, die in den fünfziger Jahren in der Sowjetunion als SS-1C entwickelt und in den achtziger Jahren zu einigen hundert Exemplaren in den Irak geliefert wurde. Während der rund 6 Tonnen schweren Rakete eine Reichweite von etwa 300 km zugeschrieben wird, konnte der Irak die Reichweite durch Verringerung der Bombenlast von 800-1000 kg auf rund 200 kg sowie durch Vergrößerung der Treibstofftanks etwa verdoppeln. Die Flugzeit stieg von 6 – 6.5 Minuten auf 8 – 9 Minuten.84 Damit wurden sowohl die iranische Hauptstadt Teheran im ersten Golfkrieg wie auch Israel im zweiten Golfkrieg Ziel irakischer Raketenangriffe. Es wird angenommen, daß nach anfänglichem Ausschlachten der erworbenen SCUD-Raketen der Irak diese AL-HUSSEIN genannte Modifizierung in größerer Stückzahl in Falludscha, in der Nähe der Chemiewaffenanlagen, selbst produziert hat. Eine erneute Reichweitensteigerung auf 900 km konnte mit der AL-ABBAS-Rakete erreicht werden, wobei wohl Triebwerksänderungen durch westliches Know-how eine Rolle gespielt haben. Deutsche Firmen und Ingenieure, darunter auch aus der früheren DDR, sollen wichtige Teile und Werkzeuge für die SCUD-Verbesserung geliefert haben. Aufgrund gefundener Bruchstücke und der Einschätzung israelischer Fachleute wurde der Schluß gezogen, daß der Irak lediglich Raketen vom Typ AL-HSSEIN gegen Israel eingesetzt hat, bei denen westliche Technologie noch nicht wesentlich war (FAZ (17/2/91)).

4. In Tadschi nördlich von Bagdad wurde von einem Konsortium deutscher Firmen unter Leitung der Essener Ferrostaal AG eine Freiformschmiede errichtet, die zur Herstellung von Artilleriekanonen dienen sollte. Daneben arbeitete der Irak an einer »Superkanone« mit einem Durchmesser von einem Meter, einer Rohrlänge bis zu 150 Metern und einer Reichweite von angeblich 450 Kilometern (»Projekt Babylon«), die von dem mittlerweile erschossenen Artilleriefachmann der Brüsseler Space Research Corporation (SRC), Gerald Bull, entwickelt wurde.85 Bull konnte anknüpfen an die Erfahrungen, die deutsche Kanonenbauer mit schweren Geschützen im Ersten und Zweiten Weltkrieg gesammelt hatten (»Dicke Berta«, »Thor«). Das von ihm für den Irak entwickelte Artilleriegeschütz »Al Fao« soll zu den leistungsfähigsten der Welt zählen.

5. Bei der Militärausstellung von Bagdad im Mai 1989 konnte der Irak eine Reihe von Boden-Boden-Raketen kurzer Reichweite präsentieren, die zum überwiegenden Teil auf sowjetischen Raketen basieren, mit Nutzlasten zwischen 35 kg und 435 kg sowie Reichweiten von 8 km bis 90 km. Die Namen sind: FAHAD, NISSAN, BARQ, KASER, LAYTH, NASSER und FAW-1.86 LAYTH ist eine Modifizierung der sowjetischen FROG-7, FAW-1 wurde als Raketenabwehrwaffe bezeichnet.

Der Export technologischer Komponenten

Der Raketenmotor der einstufigen SCUD-B wird mit lagerfähigen Flüssigtreibstoffkomponenten betrieben (Kerosin und Salpetersäure), was der Rakete eine gewisse Mobilität gibt.87 Vermutlich konnte der Raketenmotor im Projekt 1728 aufgrund einer russischen Bauanleitung der NVA nachgebaut und dabei auch modifiziert werden. Im Büro der Neu-Isenburger Firma Havert Consult Handelsgesellschaft wurden entsprechende Detailskizzen von Kerosintanks, Prüfständen, Triebwerksteilen und Stabilisatoren gefunden. Der Düsseldorfer Firma Thyssen wurde vorgeworfen, sie habe 25 von 300 bestellten Zwei-Komponenten-Pumpen geliefert, die im Raketenantrieb der SCUD-B Verwendung finden könnten (Spiegel (5/91)).

Bei der dreistufigen AL-ABED wird angenommen, daß für die erste Stufe fünf modifizierte SCUD-Triebwerke zusammengeschaltet wurden, während für die Drittstufe ein Feststoffantrieb vorgesehen ist. Für das CONDOR-Projekt wurden Anlagen zum Zerkleinern, Mischen und Abfüllen des Festtreibstoffs (bestehend aus Ammoniumperchlorat, Aluminiumpulver, Bindemittel und Spezialzusätzen) von westlichen Firmen bereitgestellt. Im Oktober 1988 begannen von MBB in Mosul ausgebildete irakische Fachleute mit den Funktionstests der Misch- und Abfüllanlagen. Im Dezember 1988 wurde die Produktion der ersten Raketen aufgenommen.88

Presseberichten zufolge soll der Irak darüberhinaus in den Besitz westlicher Antriebstechnik gelangt sein. Genannt wurden etwa fortgeschrittene Raketendüsen, die für Raketenprogramme der Dritten Welt noch ein technisches Hindernis darstellen. Der Firma H+H-Metallform wird vorgeworfen, sie habe Komponenten und Pläne des Triebwerks der Europa-Rakete Ariane-5 geliefert, die erst 1995 ins All geschossen werden soll.89 Über die bereits geschilderte »Affäre Helmy« erhielt der Irak via Ägypten vermutlich auch Zugang zu Blaupausen des Pershing-2-Motors, Spezial-Chemikalien für die Mixtur des Festtreibstoffes, Kohlefaser-Kunststoffen und Keramikplatten. Über eine ausgereifte Wiedereintrittstechnologie dürfte der Irak allerdings noch nicht verfügen.

Selbst wenn der Irak eine erste Atomwaffe besitzen sollte, was umstritten ist90, dürfte die SCUD-Rakete als Träger mittlerer Reichweite nur wenig geeignet sein. Mit Hilfe der von bundesdeutschen Firmen erbauten Chemieanlage von Samarra war der Irak in der Lage, beträchtliche Chemiewaffenpotentiale anzuhäufen. Granatenhülsen und kleine Raketen (Kaliber 120 und 122,4 mm) für den Einsatz von Raketenwerfern kurzer Reichweite wurden in der Nähe von Samarra mit Giftgas gefüllt. Eine Rohrverschraubungsanlage wurde, nach Presseberichten, von der Firma WET in Hamburg geliefert, eine Beschichtungsanlage zur Abdichtung der Geschoßinnenwände mit dem Material Halar von Karl Kolb in Dreieich (Spiegel (5/91)). Möglicherweise konnte der Irak deshalb keine mit Giftgas bestückten Raketen einsetzen, weil er keine Abfüllanlagen für die SCUD-Rakete besaß. Allerdings hätte der Irak einen Kanister mit Giftgas transportieren können, und die Firma H+H-Metallform hatte sich 1987 bei der britischen Firma Meed um die Lieferung von Abwurftanks für C-Waffen auf Flugzeugen für den Irak bemüht.91 Ob ein spezieller chemischer oder biologischer Gefechtskopf bereits einsatzfähig ist oder war, kann nicht sicher gesagt werden.

Die zerstörerische Wirkung der konventionellen 200-kg-Bombenlast der SCUD-B war, verglichen mit der hunderttausend-fachen Bombenlast der Alliierten, relativ gering. Die Sprengenergie ist vergleichbar der Bewegungsenergie der anfliegenden Rakete, die trotz PATRIOT-Abwehr bei vierfacher Schallgeschwindigkeit erheblichen Schaden und eine entsprechende psychologische Wirkung erzielen kann. Vergleichbare Erfahrungen wurden bereits im Iran-Irak-Krieg gemacht, wo rund 500 irakische Raketen auf iranische Städte abgeschossen wurden (Carus (1990)). Eine Wirkungssteigerung mit Streumunition oder Benzinbomben (Fuel-Air Explosives, FAE) ist möglich. FAE-Bomben wurden auf dem MBB-Testgelände in Schrobenhausen erprobt, Blaupausen und Testunterlagen sollen über die bayerische PBG nach Ägypten und von dort weiter nach Bagdad gelangt sein. Anfang 1988 distanzierte sich MBB von dem Projekt.92 Der chilenische Waffenkonzern Cardoen errichtete im Irak eine Fabrik für Streubomben (Cluster Bombs), die mit 240 Mini-Sprengsätzen großflächige Zerstörungen anrichten können. Die von Cardoen gegründete Spedition Cifco in Bremen wird verdächtigt, seit Sommer 1989 eine komplette Fabrik für Bombenzünder im Irak gebaut zu haben (Spiegel (5/91).

Nur geringfügige Änderungen konnten bei der Raketenlenkung und der Verbesserung der Zielgenauigkeit, gemessen durch den Streukreisradius (Circular Error Probable, CEP), vorgenommen werden. Mit Trägheitslenksystemen, wie sie in der SCUD-B verwendet werden, ist die Zielabweichung etwa der dreihundertste Teil der Reichweite, bei der SCUD-B je nach Schußweite zwischen 1-3 km. Damit ist es schwierig, selbst größere Ziele wie Flugplätze oder ein Kernkraftwerk über eine Entfernung von 600 km hinweg zu bombardieren. Um die Zielgenauigkeit für die CONDOR-2 zu steigern, versuchte das für deren Entwicklung gegründete Firmenkonsortium Consen, verbesserte Trägheitslenksysteme von der französischen Firma Sagem zu bekommen.93

Neben festen Raketenbasen für die SCUD-B in verschiedenen Landesteilen wurden SCUD-Raketen auf mobilen Startplattformen stationiert, deren Zahl und Position nur schwer festzustellen ist (wie der Golfkrieg erwiesen hat). Als Transportfahrzeuge konnte der Irak Schwerlastfahrzeuge von verschiedenen Firmen (Saab, Wegmann, MAN) verwenden, die vermutlich für diesen Zweck modifiziert wurden.94 Auch Daimler-Benz soll für das Projekt 144 bis Juli 1990 20 schwere Zugmaschinen, Sattelschlepper mit Tiefladern geliefert haben, ausgerüstet für den Transport vom 75 Tonnen und mehr. Von einer Tochterfirma sollen sie mit hydraulischen Stelzen ohne Exportgenehmigung für den Transport und Abschuß von (SCUD-)Raketen präpariert worden sein (Spiegel (12/1991)).

Wenig ausgereift dürfte bei den irakischen Raketen noch der gesamte Bereich der Elektronik sein, insbesondere Computer, Radaranlagen und Kommunikationssysteme für Flugbahnberechnung, Flugüberwachung und Flugsteuerung (Telemetrie, Avionik). Derartige Geräte sind häufig auf dem zivilen Markt zu bekommen. Über Ägypten sind hier technologische Komponenten aus dem CONDOR-Programm eingeflossen.

Besonders angewiesen auf westliche Unterstützung war der Irak bei der Bereitstellung von Anlagen für Test und Produktion. Die dafür erforderliche elektrische Ausrüstung (Elektroinstallation, Stark- und Schwachstromanlagen, Transformatoren und sonstige Stromverteilungsanlagen) wurden ebenso von westlichen Firmen geliefert (z.B. Siemens, BBC, Hewlett-Packard) wie Überwachungscomputer und Meßgeräte, was zum großen Teil auf »legalem« Wege erfolgte. Für das Saad-16 Projekt des Irak wurden vom Wirtschaftsministerium der USA noch bis 1987 graphische Displaygeräte, Spektrum-Analysatoren, Netzwerk-Analysatoren, elektronische Zählgeräte, Oszilloskope, Prozßrechner und Mikroschaltkreise genehmigt, allesamt Geräte, die im kommerziellen und wissenschaftlichen Bereich Verwendung finden. Die Begründung, es handle sich um Geräte für die Universität Mosul, wurde als hinreichend für die Genehmigung angesehen.95

Ähnliches gilt für die Lieferung kompletter Testeinrichtungen für Saad-16, die wie folgt beschrieben wurden.96 Auf einem Teststand erprobten Raketentechniker Treibsätze für CONDOR-2 und die modifizierten SCUDs. In Schießkanälen testeten Militärtechniker Panzerabwehrraketen. In zwölf Meter langen Windkanälen wurde die dreifache Schallgeschwindigkeit simuliert. In sogenannten Widerstandsgebäuden mit blow-out Wänden und hohen Erdwällen wurden Raketenköpfe mit explosiver Submunition entwickelt. Mit einem Echtzeit-Flugbahnvermessungssystem konnte der Flug ballistischer Raketen überwacht und gelenkt werden. Auf einem Testgelände fanden die Probeläufe der Raketenstufen und die ersten Abschußversuche statt, auf einem anderen Gelände befindet sich auch eine Spezial-Röntgenanlage, mit der sich die fertigen Raketenstufen auf Haarrisse überprüfen lassen.

Um von der Lieferung ausländischer Raketen unabhängig zu sein, zeigte der Irak besonderes Interesse an der für die Raketenherstellung wesentlichen Produktionstechnik, die äußerlich betrachtet kaum von zivilen Anlagen zu unterscheiden ist. Das Interesse des Irak an Vakuumschmelzanlagen, Fließdrück- und Drückwalzmaschinen, Bandlegemaschinen, Glasfaserwickelmaschinen, ölhydraulischen Ziehpressen, Werkzeugmaschinen, computergesteuerte Drehbänken ist nicht weiter verwunderlich für ein Land, das seine Industrialisierung vorantreiben will. Das besondere Interesse des irakischen »Ministry of Industry and Military Industrialization« galt Anlagen neuester Entwicklung.

Eine Reihe von Produktionstechnologien gelangte über das CONDOR-Projekt in den Irak, z.B. Präzisionswalzmaschinen und Spezialkräne.97 Zentrale Bedeutung hatte die 130 Mio. DM teure Tadschi-Kanonenfabrik, zu der eine Freiformschmiede, eine Stahlkocherei und ein Walzwerk gehörten. Vorgesehen war in der erst 1990 fertiggestellten Anlage die Produktion von jährlich rund 1000 mittleren und schweren Artilleriegeschützen der Kaliber 105 bis 203 mm. Der Klöckner-Konzern hatte 1985 einen Vertrag mit NASSR über den Bau einer Stahlkocherei und -gießerei abgeschlossen, in die vor Ort ausrangierte Panzer und andere Waffenteile für die Kanonenproduktion eingeschmolzen werden sollten.98

Trotz der Dual-use-Problematik hätte bei genauer Betrachtung der Anlage durch die vor Ort arbeitenden ausländischen Facharbeiter die konkrete Spezifikation und der Kontext einen Verdacht hinsichtlich einer militärischen Verwendung auslösen müssen. So kann nicht übersehen werden, wenn bestimmte Edelstahllegierungen verwendet werden, die vor allem für Kanonen (Rohre, Zünder) und Raketenbauteile (Turbinenwelle, Turbopumpe) wichtig sind, oder wenn das Gelände militärisch überwacht wird. Bei der Kanonenfabrik in Tadschi wurde nach der Genehmigung der Verdacht geäußert, die Produktionsleiter hätten von Anfang an gewußt, daß es sich um eine Schmiedeanlage zur Produktion von Kanonen handelte.99

Bereits frühzeitig wurde die Bundesregierung aus den USA auf die verdeckten Rüstungsexporte hingewiesen. Diese verzichtete, unter Hinweis auf einen möglichen zivilen Verwendungszweck, jedoch immer wieder auf einschneidende Maßnahmen. So wurde das Projekt 1728 schlicht als Abwasseranlage deklariert und die Beteiligten wollen von einer militärischen Verwendung nichts geahnt haben. Die zunehmende Kriminalisierung der Rüstungsexporteure nach dem Giftgasskandal im libyschen Rabta sowie verschiedene Attentate auf Teilnehmer an Raketenprojekten führten zu einer gewissen Verunsicherung bei einigen beteiligten Firmen, die um ihren »guten Ruf« fürchteten und sich im Verlauf des Jahres 1990 zurückzogen. Der Beginn der Golfkrise am 2. August 1990 und das daraufolgende UN-Embargo gegen den Irak brachten die Zusammenarbeit zum Erliegen, von einigen Ausnahmen abgesehen.

Möglichkeiten und Probleme der Exportkontrolle

In der Bundesrepublik Deutschland wird der rechtliche Rahmen für die Exportkontrolle durch das Kriegswaffengesetz (KWG) und das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) abgesteckt. In einer Liste legt das KWG in 13 Kategorien fest, was als Kriegswaffe genehmigungspflichtig ist. In der Kategorie »Flugkörper« wird unterschieden zwischen: Lenkflugkörper, ungelenkte Flugkörper (Raketen), sonstige Flugkörper, Abfeuereinrichtungen und Triebwerke.

Nach dem AWG ist der Außenwirtschaftsverkehr mit Kriegswaffen, sonstigen Rüstungsgütern und Technologien, denen eine strategische Bedeutung zugemessen wird, staatlicher Kontrolle unterworfen. Die Genehmigungsbehörde, das Bundesamt für Wirtschaft (BAW) in Eschborn, kann Angaben und Unterlagen über das Bestimmungsland, den voraussichtlichen Verwendungszweck und Endverbleib verlangen. Problematisch ist der geforderte Nachweis, daß eine Ware für militärische Zwecke »besonders konstruiert« sein muß, um der Genehmigungspflicht als Kriegswaffe zu unterliegen. Damit sind Dual-use-Güter, die erst im Ausland für den Raketeneinsatz modifiziert werden (etwa ein LKW zum Raketentransport), nicht erfaßt (Lock (1990)).

Anders als für den Export von Nukleartechnologie sind die Raketentechnologien über die Ausfuhrliste verteilt. So finden sich in der Waffenliste A unter Punkt 4 „Bomben, Torpedos, Raketen, gelenkte und ungelenkte Flugkörper … sowie besonders entwickelte Software hierfür “. Unter Punkt 6 werden militärische Hochenergie-Treibstoffe aufgelistet, einschließlich Additiven, Stabilisatoren und Vorprodukten. Weitere Punkte umfassen militärische elektronische Ausrüstung, Übungsausrüstung, Produktionstechnologien, Software. Unter den sonstigen Technologien strategischer Bedeutung der Liste C finden sich etwa Metallbearbeitungsmaschinen, Windkanäle, Raumfahrzeuge und Weltaumraketen, einschließlich Kompasse, Kreiselgeräte, Beschleunigungsmesser und Trägheitssysteme, sowie eine Vielzahl elektronischer Geräte (z.B. Navigationsgeräte, Kommunikationssysteme, Computer).

Eine umfassende Zusammenstellung der für die Raketentechnik genehmigungspflichtigen Güter wird im Trägertechnologie-Kontrollregime (Missile Technology Control Regime, MTCR) gegeben, das 1987 zwischen USA, Kanada, Großbritannien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und Japan unterzeichnet wurde. Als Vorbild diente das COCOM-Regime, mit dem die NATO-Staaten und Japan den Fluß strategisch sensitiver Güter in den Ostblock blockierten. Die Beschränkungen gelten nur für Raketen, die eine Nutzlast von mindestens 500 kg über eine Reichweite von mindestens 300 km tragen können (eine Modifizierung der Grenze nach unten ist im Gespräch). Damit liegt die SCUD-B gerade im genehmigungspflichtigen Bereich. Erfaßt sind auch Entwicklung, Fertigung, technische Unterstützung und Weitergabe relevanter technischer Daten für solche Raketen. Es wird unterschieden zwischen Gegenständen höchster Sensitivität (Kategorie I) und sonstigen sensitiven Gegenständen (Kategorie II).

Zur Kategorie I gehören vollständige Raketensysteme, einschließlich ballistischer Raketensysteme, im Weltraum gestarteter Flugkörper und Höhenforschungsraketen, sowie unbemannte Luftflugkörpersysteme, einschließlich Cruise Missile Systemen, Zieldrohnen, Aufklärungsdrohnen. Ebenso genannt sind vollständige Untersysteme wie Raketenstufen und -motoren, Lenksysteme, Wiedereintrittsflugkörper und Gefechtskopfteile. Kategorie II betrifft neben Antriebstechnologie und Werkstoffen sowie Unterstützungs- und Testeinrichtungen auch elektronische Komponenten (Avionik, Computer und Software). Zum Teil werden sehr scharfe Grenzen zwischen freiem und genehmigungspflichtigem Export gezogen. So sind unter Punkt 2 des Anhangs Lenksysteme der Kontrolle unterworfen, wenn sie einen Streukreisradius von weniger als 10 km bei einer Reichweite von 300 km haben (damit sind die SCUD-Lenksysteme erfaßt). Gyroskope mit einer Driftrate von weniger als einem halben Grad pro Stunde werden ebenfalls genannt, dem 30,000-fachen der Driftrate bei der MX-Rakete.

Zwar konnte das MTCR den Raketentechnologiefluß in Länder wie Indien, Brasilien oder Argentinien verlangsamen, doch nicht völlig unterbinden, wie das Beispiel Irak klar gemacht hat. Ein Grund liegt weniger im illegalen Rüstungsexport als vielmehr in der Dual-use-Problematik, verbunden mit einer laxen, ja gleichgültigen Genehmigungspraxis. Auch wenn bei rund 15 Millionen Ausfuhrsendungen jährlich eine Kontrolle nicht lückenlos sein kann, ist eine sorgfältigere Prüfung bei personeller wie finanzieller Aufstockung möglich. Neben der verschärften Strafpraxis für Rüstungsgeschäfte deutscher Staatsbürger im Ausland – vor allem in Krisenregionen – ist eine Verstärkung der Kontrolle bei Dual-use-Gütern erforderlich, besonders bei solchen in der zivilen Weltraumfahrt. Ein Ansatzpunkt ist der detaillierte Endverbleibsnachweis bei Lieferanten und Empfängern einer militärisch einsetzbaren Technologie und die Zusammenfassung der relevanten Informationen in einem Datenerfassungssystem (hier wurde Anfang 1991 ein erster Schritt gemacht). Dies zwingt zur Selbstkontrolle der Industrie. In besonderen Fällen könnte, nach dem Vorbild der Chemiewaffen-Konvention, die Möglichkeit zu Vorort-Inspektionen verdächtiger Anlagen durch die Genehmigungsbehörde geschaffen werden. Bei einer verbesserten Veröffentlichungspraxis ist es für die Öffentlichkeit leichter möglich, sich frühzeitig ein Gesamtbild von möglichen Gefahren zu machen.

Für eine Internationalisierung der Exportkontrolle ist die Zahl der Teilnehmer-Staaten im MTCR-Abkommen noch zu gering (einige westliche Staaten sind inzwischen dazu gekommen). Viele der für das Verhältnis ziviler und militärischer Kernenergie gemachten Erfahrungen gelten auch für den Bereich Raumfahrt und Raketentechnik. Wie schon beim Atomwaffensperrvertrag fühlen sich die »Raketen-Habenichtse« durch die raketenbesitzenden Länder diskriminiert. Eine Technologie-Barriere der Industrienationen gegenüber der Dritten Welt schadet beiden Seiten. Militärische Maßnahmen zur Zerschlagung des jeweils vorhandenen Raketenpotentials einzelner Staaten sind ebensowenig eine Lösung wie lokale oder globale Rüstungswettläufe zwischen Raketen und Raketenabwehrsystemen. Einschneidende Abrüstung an der Quelle der Proliferation in den Staaten des Nordens, verbunden mit einem kooperativen Technologietransfer- und Kontrollregime mit den Staaten des Südens scheint der erfolgversprechendste Weg zu sein.

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Anmerkungen

1) Siehe hierzu Shuey (1989), Karp (1989)(1990), Nolan (1990), Neuneck (1990), Navias (1990). Zurück

2) Andere wichtige Staaten wie China, Libyen, Israel oder Pakistan werden hier aus Platzgründen nicht behandelt. Zurück

3) Eine Grundlage des Beitrags sind die hervorragenden Vorarbeiten Birkholz (1983) und Rudert (1985). Zurück

4) Karp (1988) Zurück

5) Rudert (1985) Zurück

6) Rudert (1985), S. 98. Zurück

7) Winter (1983). Zurück

8) Zur »Vorgeschichte« siehe Ordway (1979), Winter (1983), Benecke (1987) Zurück

9) Engelmann (1985), S. 3. Zurück

10) Zur V1 siehe Engelmann (1986), Benecke (1987) Zurück

11) Ordway (1979), S. 47. Zurück

12) Engelmann (1985), S. 38. Zurück

13) Ordway (1979), S. 78. Zurück

14) Ordway (1979), S. 253. Zurück

15) Bower (1987). Zurück

16) Geissler (1978). Zurück

17) Engelmann (1985), S. 29. Zurück

18) Ordway (1979), S. 251-252. Zurück

19) Albrecht (1990) sieht darin, am Beispiel der Flugzeugentwicklung, eine Realisierung nationalsozialistischer Technikideologie. Zurück

20) Greschner (1987), S. 262. Zurück

21) Engelmann (1985), S. 18. Zurück

22) Siehe die Einzelbeiträge in Kaiser (1987) Zurück

23) Bower (1987). Zurück

24) Die Entwicklung deutscher Hochdrucktriebwerke, die trotz anfänglicher Schwierigkeiten im SPACE SHUTTLE und in den ARIANE-Antrieben Verwendung fanden, wird dargestellt in Stöckl (1983). Der Stand der deutschen Rückkehrtechnologie wird geschildert in Wuest (1983). Zurück

25) Die folgende Darstellung basiert auf Geissler (1978)(1979). Zurück

26) Die Personenangaben stammen aus Geissler (1978), Lorscheid (1986). Zurück

27) Geissler (1979). Zurück

28) Gatland (1984). Zurück

29) Zitiert nach Geissler (1979), S. 15 Zurück

30) Geissler (1979). Zurück

31) Eine Übersicht über die verschiedenen Typen findet sich bei Benecke (1987). Zurück

32) von Welck (1987), S. 433. Zurück

33) von Welck (1987), S. 442. Zurück

34) Rudert (1985), S. 97. Zurück

35) Karp (1989), S. 296. Zurück

36) Milhollin (1989). Zurück

37) Shuey (1989), S. 76. Zurück

38) Milhollin (1989). Zurück

39) Milhollin (1989), S. 32. Während ein open-loop System nur die Raketenstellung korrigiert, nicht aber Abweichungen von der geplanten Flugbahn, kann ein closed-loop System zusätzlich die Raketenposition im Raum bestimmen und korrigieren. Zurück

40) Rudert (1985), S. 99. Zurück

41) Milhollin (1987), S. 33. Zurück

42) Milhollin (1989), S. 33. Zurück

43) Welck (1987), S. 447. Zurück

44) Rudert (1985), S. 95. Zurück

45) So die indische Militärzeitschrift Vikrant; nach Rudert (1985), S. 98. Zurück

46) Zitiert nach Milhollin (1989). Zurück

47) Rudert (1985), S. 32. Zurück

48) Rudert (1985), S. 37. Zurück

49) Rudert (1985), S. 42. Zurück

50) Die folgenden Angaben stammen vorwiegend aus Shuey (1989), S. 88-94. Zurück

51) Rudert (1985), S. 45. Zurück

52) Shuey (1989), S. 89. Zurück

53) Rudert (1985), S. 47. Zurück

54) Shuey (1989), S. 88. Zurück

55) Rudert (1985), S. 55. Zurück

56) Rudert (1985), S. 56. Zurück

57) Birkholz (1983). Zurück

58) Siehe Birkholz (1983). Zurück

59) Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode, 87. Sitzung, Protokoll vom 3.10.84. Zurück

60) Rudert (1985), S. 43. Zurück

61) Arms Control Reporter (1990). Zurück

62) Rudert (1985), S. 84. Zurück

63) Rudert (1985), S. 84. Zurück

64) Rudert (1985), S. 87, Shuey (1989). Zurück

65) Shuey (1989). Zurück

66) Rudert (1985), S. 85-86. Zurück

67) Spiegel 9/82 zit. nach Rudert (1985), S. 86. Zurück

68) Koppe (1990), S. 303. Zurück

69) Timmerman (1990), S. 24. Zurück

70) Koppe (1990), S. 309. Zurück

71) Zitiert nach Rudert (1985), S. 87. Zurück

72) Koppe (1990), S. 314. Zurück

73) Nolan (1990). Zurück

74) Shuey (1989), S. 87. Zurück

75) Die Darstellung basiert auf Frank (1967). Zurück

76) New York Times vom 5.8.1962. Zurück

77) Nolan (1990), Shuey (1989). Zurück

78) Koppe (1990), S. 315. Zurück

79) Koppe (1990), S. 319. Zurück

80) Koppe (1990), S. 323. Zurück

81) Koppe (1990), S. 331. Zurück

82) Koppe (1990), S. 338. Zurück

83) Leyendecker (1990), S. 87. Zurück

84) Carus (1990), S. 204. Zurück

85) Bonsignore (1990). Zurück

86) Lennox (1991), S. 59. Zurück

87) Stache (1987), S. 139. Zurück

88) Koppe (1990), S. 329-331. Zurück

89) Leyendecker (1990), S. 101, Spiegel (5/91). Zurück

90) Liebert (1990), Albright (1991). Zurück

91) Leyendecker (1990), S. 102-103. Zurück

92) Leyendecker (1990), S. 117. Zurück

93) Timmerman (1990), S. 24. Zurück

94) Timmermann (1990), S. 24. Zurück

95) Timmerman (1990), S. 22. Zurück

96) Koppe (1990), S. 337. Zurück

97) Koppe (1990), S. 334. Zurück

98) Leyendecker (1990), S. 109. Zurück

99) Leyendecker (1990), S. 109. Beispiele verschiedener internationaler Technologieregimes finden sich bei Albrecht (1989). Zurück

Dr. Jürgen Scheffran, Physiker, arbeitet in der interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheitspolitik (IANUS) zu Raketenproliferation und Risiken der Rüstungstechnik