Zwischen Raketenabwehr und Weltraumrüstung

Zwischen Raketenabwehr und Weltraumrüstung

Was macht Europa?

von Regina Hagen und Jürgen Scheffran

Die Pläne der Bush-Administration zum Aufbau einer nationalen Raketenabwehr (National Missile Defense, NMD) und zur Aufrüstung im Weltraum bedeuten auch für Europa eine ernste Herausforderung. Versuche, es den USA gleichzutun, stärken nicht die Eigenständigkeit der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, sondern untergraben internationale Bemühungen zur Abrüstung und Nichtverbreitung der Atomwaffen, zur Friedenssicherung und Konfliktvermeidung.
Kaum hatte George W. Bush die Wahl zum US-Präsidenten denkbar knapp gewonnen, machte er deutlich, dass es auch im neuen Jahrtausend für die USA vor allem darum geht, die militärische Dominanz weiter auszubauen. Besonders der neue Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, unter Präsident Ford schon einmal mit dem Amt betraut, bewies, dass sich auch nach dem Ost-West-Konflikt mit Feindbildern Politik machen lässt. Bereits 1998 kam die von ihm geleitete »Kommission zur nationalen Sicherheit« zu dem Ergebnis, »Schurkenstaaten« wie Nordkorea, Iran oder Irak könnten die USA in wenigen Jahren mit ballistischen Raketen bedrohen, was zu einem wesentlichen Auslöser für das NMD-Programm wurde. Nach dem gleichen Muster verfuhr auch die zweite von ihm geleitete Kommission, die mit ihrem Bericht vom 11. Januar 2001 die Gefahr eines „Pearl Harbor im Weltraum“ ausmalte.1 Die Begleitmusik dazu lieferte Bush selbst, als er seinem Vater zum 10. Jahrestag des Golfkriegs einen Angriff auf den Irak schenkte. Mit den zu erwartenden Drohungen Saddam Husseins bekam Bush, was er wollte: Eine verstärkte Nachfrage nach Raketenabwehr.

Anlässlich der Münchner Wehrkundetagung vom 3. Februar 2001 ließ Rumsfeld, ungeachtet europäischer Kritik, keinen Zweifel an der Entschlossenheit der USA, eine weltumspannende Raketenabwehr zu errichten.2 Außenminister Joschka Fischer sorgte sich um ein Wettrüsten in Asien und im Weltraum, und der außenpolitische Experte der Unionsfraktion, Karl Lamers, warnte, die USA wollten die „Herren der Welt“ werden. Seine Partei hatte sich in den am 15. Januar vorgelegten »Leitsätzen für eine deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik« jedoch bereits für eine Raketenabwehr mit den USA ausgesprochen. Da wollte auch Bundeskanzler Schröder nicht abseits stehen, der sich in München noch um eine Schwächung der NATO gesorgt hatte, aber schon am 28. Februar einen »Kurswechsel« der Bundesregierung einleitete. Einen Monat vor seinem Antrittsbesuch bei Bush setzte er sich für eine deutsche Beteiligung am Raketenabwehrsystem der USA ein, nicht nur aus bündnispolitischen Erwägungen, sondern auch aufgrund des „eminenten wirtschaftlichen Interesses“ (FAZ 28.2.2001). Als bester Bündnispartner der USA erwies sich aber der britische Premierminister Tony Blair, der sowohl den Einsatz gegen den Irak unterstützte als auch im eigenen Parlament geäußerte Bedenken gegen NMD über Bord warf.Dass von einer gemeinsamen europäischen Kritik an NMD nichts zu spüren war, liegt auch daran, dass es schon seit Jahren in Europa Pläne und Programme gibt, die auf die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen und eine verstärkte Militarisierung des Weltraums hinauslaufen. Einige dieser Aktivitäten werden im Folgenden beleuchtet.3

Europäische Raketenabwehrpläne

Schon seit Beginn der achtziger Jahre gibt es in den USA und Europa Entwicklungen für die Schaffung einer Abwehr gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen auf dem europäischen »Gefechtsfeld« (TMD: Theater Missile Defense).4 Kern der europäischen Raketenabwehrpläne ist die »Erweiterte Luftabwehr« (Extended Air Defense) der NATO, ergänzt um mobile Abwehrsysteme zum Schutz von Krisenreaktionskräften in den jeweiligen Einsatzgebieten. In den vergangenen 20 Jahren untersuchte die NATO in verschiedenen Konzeptstudien die Möglichkeiten zur erweiterten Luftabwehr gegen das gesamte Spektrum angreifender Flugkörper, von Flugzeugen über Marschflugkörper bis zu ballistischen Raketen kurzer und mittlerer Reichweite.

Trotz der seit 1989 verringerten Bedrohungslage geht es weiterhin um ein mehrschichtiges Abwehrsystem, bestehend aus Frühwarnsensoren, Multifunktionsradars, schnellen Lenkflugkörpern und einem System zur Datenübertragung in Echtzeit. Besonders bei den Interventionstruppen wird eine hohe Mobilität und gute Transportabilität als notwendig angesehen. Der graduelle Prozess wird deutlich bei der Weiterentwicklung der Patriot-Luftabwehrrakete zum Zweck der Raketenabwehr (Patriot Advanced Capability, PAC-3).

Die geplante mehrschichtige TMD-Architektur umfasst eine Abwehr innerhalb der Atmosphäre gegen Raketen bis zu 1000 km Reichweite wie auch außerhalb der Atmosphäre gegen Reichweiten bis 3500 km. Die untere Abwehrschicht soll aus PAC-3-Versionen der Patriot, dem französisch-italienischen Abwehrsystem SAM-T, einem System der US-Navy (lower-tier) und dem Medium Extended Air Defense System (MEADS) bestehen. Die obere Abwehrschicht würde das THAAD-System (Theater High-Altitude Area Defense) der USA, das schiffgestützte Abwehrsystem der US-Navy für größere Höhen und eine luftgestützte Laserwaffe zur Abwehr in der Startphase umfassen.5 Bezeichnenderweise soll auch eine »counterforce strike capability« dazu gehören, also ein offensives Potential zur Zerstörung militärischer Ziele.

Zur Zeit stehen wichtige Weichenstellungen an, und die beteiligten Rüstungsfirmen hoffen auf große Gewinne. Für sie wäre TMD „das größte Projekt, das jemals von der Allianz unternommen wurde.“6 Am 15. Januar 2001 sollten die Vorschläge für Machbarkeitsstudien eines zukünftigen TMD-System eingereicht werden. Vier Industriekonsortien „fiebern“ danach, die zwei begehrten Kontrakte zu erhalten, auch weil es um die Rangordnung der Firmen im enger werdenden globalisierten Konkurrenzkampf geht. Die vier Konzeptteams gruppieren sich um die großen US-Rüstungsfirmen Lockheed-Martin, Raytheon-Tales, Boeing-SAIC, Northrop Grumman. Beteiligt sind auch einige europäische Firmen, wobei der europäische Konzern European Aeronautic Defence and Space Company (EADS) in allen vier Teams dabei ist, also auf jeden Fall zu den Gewinnern gehören will. Im Juni dieses Jahres will die NATO eine Auswahl treffen und 2004 eine Entscheidung fällen, so dass etwa 2010 mit einer Stationierung begonnen werden könnte. Die Integration der Software und Kommunikationssysteme in das modernisierte Air Command and Control System (ACCS) soll ab 2005 erfolgen.

Auch in anderen Regionen der Welt wird an TMD-Systemen gearbeitet, was die dortige Rüstungsdynamik anheizt. Besonders weit fortgeschritten ist Israel, das nicht nur über die offensive Jericho-Rakete verfügt, sondern auch über das Arrow-Abwehrsystem. Hier wird im regionalen Kontext die globale Schwert-Schild-Logik der USA reproduziert: massiv zuschlagen können, aber sich vor den Folgen schützen. Die USA tun ihr Bestes, um dieser Logik auch in Japan, Südkorea, Taiwan oder anderswo zum Durchbruch zu verhelfen und damit zugleich Absatzmärkte für die eigenen Abwehrsysteme zu schaffen.

Je mehr steigende Kosten und hohe Gewinnerwartungen eine Rolle spielen, umso mehr ist die transatlantische Kooperation in der Raketenabwehr Widersprüchen und Konkurrenzen zwischen den Partnern ausgesetzt. Hinter der europäischen Forderung nach Technologietransfer verbirgt sich die Erwartung, dass die USA Europa Zugang zu Technologien und Programmen ermöglichen sollen, um die »technologische Lücke« zwischen Europa und den USA zu schließen. US-Firmen denken in der Regel jedoch nicht daran, ihren technologischen Vorsprung preiszugeben, und sie haben die stärkere Hausmacht.

Querelen um MEADS

Unübersehbar wurden die Differenzen bei dem Abwehrprojekt MEADS, das nach Ansicht des DASA-Vorsitzenden Manfred Bischoff der „Testfall der transatlantischen Kooperationsfähigkeit“ ist.7 Mit dem mobilen System soll die veraltete Hawk-Luftwabwehr ersetzt werden. Es geht um den Nahbereichs-Schutz der eigenen Truppen bei »Out of Area«-Einsätzen, in Ergänzung zu den bodengestützten Systemen Patriot PAC-3 und THAAD.8 Um die hohen Kosten zu senken – die Schätzungen reichen bis zu mehr als 20 Milliarden DM ,9 unterzeichneten 1995 die USA, Deutschland, Frankreich und Italien eine Absichterklärung über die Entwicklung von MEADS. Da sich Frankreich kurz darauf aus finanziellen Gründen aus dem Projekt zurückzog und Eigenentwicklungen den Vorzug gab (etwa dem schiffsgestützten Aster-System) musste der ursprüngliche Kostenschlüssel von 50% für die USA, je 20% für Deutschland und Frankreich sowie 10% für Italien geändert werden. Er liegt heute bei 55:28:17.

Das Projekt hatte von Anfang an mit verschiedenen Problemen zu kämpfen. So verzögerte der US-Kongress die Bewilligung der vorgesehenen Projektmittel. Das Pentagon bestand auf einer veränderten Projektkonzeption, derzufolge MEADS im wesentlichen auf den US-Systemen Patriot und THAAD aufbauen soll. Dies bedeutete für die europäischen Partner einen Rückschlag und schloss eigenständige Entwicklungen wie das deutsche Taktische Luftverteidigungssystem (TLVS) weitgehend aus. Dennoch stimmten sie zu, um einen Ausstieg der USA aus dem Projekt zu verhindern. Weitere Unstimmigkeiten ergeben sich aus der hinhaltenden Technologietransferpolitik der USA. So hatte es bis zu 259 Tagen gedauert, bis das Pentagon die Weitergabe von Informationen über kritische Technologien genehmigte.10 Weitere Anträge, etwa zur Leistungsfähigkeit von PAC-3, wurden erst gar nicht behandelt.

Auch wenn im Mai 2000 der Zugang Deutschlands und Italiens zu PAC-3 geöffnet wurde, ging das „transatlantische Trauerspiel“ 11 weiter. Ein vorläufiger Höhepunkt wurde erreicht, als der Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Walther Stützle, in einem Brief vom 26. November 2000 die deutsche Mitarbeit am MEADS-Programm aufkündigte.12 Als Begründung wurde angegeben, das MEADS-Konzept würde „nicht notwendig den Erfordernissen genügen, um dem zukünftigen Spektrum sich abzeichnender Bedrohungen für die Landesverteidigung und internationale militärische Operationen zu begegnen.“ Der Kosovo-Krieg habe zudem gezeigt, dass Radarsensoren für die Luftverteidigung durch Anti-Radar-Flugkörper unwirksam gemacht werden können. Auf Druck Washingtons erklärte Verteidigungsminister Scharping das Schreiben Stützles kurz darauf für nichtig und bewilligte für die Finanzierung der »Risk Reduction«-Phase von MEADS 50 Millionen DM.

Russische Planspiele für eine Euro-Abwehr

Angesichts der drohenden US-Dominanz tritt der russische Präsident Wladimir Putin die Flucht nach vorn an. Neben die Androhung von Gegenmaßnahmen gegen NMD und das Angebot weiterer nuklearer Abrüstung tritt der Vorschlag für ein mobiles, »gesamteuropäisches Raketenabwehrsystem« gegen nukleare Bedrohungen, den der russische Verteidigungsminister Sergejew NATO-Generalsekretär Robertson bei seinem Besuch in Moskau unterbreitete.13 Danach soll vor dem Aufbau einer Raketenabwehr genau analysiert werden, ob überhaupt eine Bedrohung vorliege. Sei dies der Fall, soll mit Hilfe von Diplomatie und Kooperation versucht werden, der Bedrohung zu begegnen. Erst wenn dies misslinge, soll ein Abwehrsystem aufgebaut werden, das allen europäischen Staaten offen stehe und nicht zu Spannungen gegenüber den Ländern führen dürfe, die als potentielle Angreifer gelten. »Paria-Staaten« soll es in Europa nicht geben.

Verwiesen wird auf die Erfahrungen Russlands, das aus sowjetischer Zeit nicht nur verschiedene Luftabwehrsysteme zur Hand hatte, sondern bei Moskau in Übereinstimmung mit dem ABM-Vertrag das einzige Abwehrsystem gegen Interkontinentalraketen besitzt und auch über Testgelände verfügt. Die Schaffung einer Euro-Abwehr könne durch gemeinsame schnelle Eingreifkräfte zur Raketenabwehr realisiert werden. Zu besprechen sei die Abwehrarchitektur (Zahl der Abfanglinien, Zusammensetzung des Systems und Zusammenwirken der Komponenten), die Rolle von weltraumgestützten Systemen zur Erkennung von Raketenstarts sowie die Schaffung eines gemeinsamen Frühwarnzentrums für Raketenstarts. Besondere Bedeutung scheint Russland einer Abwehr in der Raketenstartphase beizumessen, durch Systeme, die in der Nähe vermuteter Raketenbedrohungen stationiert werden (etwa auf Schiffen). Auch wenn Moskau mit dem Konzept einige seiner Probleme mit NMD verringern möchte, lassen sich andere Probleme nicht ausschließen, etwa die Inkompatibilität mit dem ABM-Vertrag, technische Schwierigkeiten oder Gegenmaßnahmen potentieller Kontrahenten. Ein mobiles Abwehrsystem könnte so stationiert werden, dass es auch russische oder chinesische Raketen in der Startphase abwehren kann.14

Auch wenn der russische Vorstoß im Westen auf freundliches Wohlwollen stieß, bleibt seine Implementierung fraglich. Wenn schon die engsten NATO-Verbündeten von den USA vorgeführt werden, warum sollte der stärkste Rüstungskomplex der Welt auf eine Mitarbeit des ehemaligen Gegenspielers angewiesen sein oder gar russische Rüstungsfirmen unterstützen? Bush machte dann auch für sich das Beste daraus: Er wertete den russischen Vorschlag als grundsätzliche Zustimmung zu den Raketenabwehrplänen der USA.

TMD und NMD – Zwei Seiten einer Medaille

Während über NMD heftig gestritten wird, bleibt TMD meist von der Kritik ausgespart, so als handele es sich um das bessere Abwehrsystem. Dabei sind, allen Unterschieden zum Trotz, TMD und NMD zwei Seiten der selben Medaille.15 Wie in den achtziger Jahren liegt die Funktion von Euro-TMD vor allem darin, die Ankopplung Europas an die globalen Raketenabwehrpläne der USA herzustellen und so einer europäischen Kritik zu begegnen. Während NMD sich gegen Interkontinentalraketen richtet, soll TMD die Abwehr von Kurz- und Mittelstreckenraketen in verschiedenen Regionen der Erde bereitstellen. Einige der Sensor- und Kommunikationssysteme ließen sich in einem integrierten Gesamtsystem für beide Aufgaben nutzen.

Schwer zu schätzen sind die Kosten eines europäischen TMD-Programms, die in der Größenordnung von einigen Dutzend Milliarden Dollar liegen könnten. Sie geraten in Konflikt mit knappen Budgets und anderen kostspieligen Rüstungsvorhaben Europas. Sollte Europa in die Raketenabwehrfalle tappen, bedeutet dies ein Rüstungsprojekt ohne erkennbares Ende und ein dauerhaftes Abhängigkeitsverhältnis von den USA, die hier immer voraus sein werden. Die bereits in der SDI-Debatte vor 16 Jahren von Helmut Kohl propagierte Vorstellung, Europa könne durch Mitarbeit in der Raketenabwehr wirtschaftlich oder technologisch etwas gewinnen, ist absurd angesichts des geringen kommerziellen Marktsegments der betreffenden Rüstungstechnologien und der protektionistischen »Buy-American«-Strategie, die jede Gleichberechtigung ausschließt.16Allen Anstrengungen zum Trotz bleibt der technische Erfolg von TMD fraglich. Zur Abwehr von Kurzstreckenraketen bleiben nur wenige Minuten Reaktionszeit. Eine torkelnde oder in mehrere Teile zerfallende Rakete in der Endflugphase ist schwer zu treffen. Ob die Integration aller Komponenten zu einem komplexen aber dennoch zuverlässigen Gesamtsystem gelingt, zeigt sich erst im Ernstfall. Sensoren und Kommunikationseinrichtungen sind verwundbar gegenüber verschiedenen Arten von Attacken. Bislang sind die Fortschritte von TMD eher ernüchternd. Dies wurde deutlich, als sich das Patriot-System bei seinem Debüt im Golfkrieg zur Abwehr der irakischen Scud-Rakete als ungeeignet erwies. Alle Abwehrversuche schlugen fehl, und der Schaden in den angegriffenen israelischen Städten wurde sogar noch vergrößert, da die zur Abwehr eingesetzten Patriot-Raketen ebenfalls auf bewohnte Gebiete herab fielen.17

Dass trotz dieser Fehlschläge die auf die sechziger Jahre zurückgehende Patriot-Rakete als Zugpferd einer zukünftigen Euro-Abwehr dienen soll, erweckt wenig Vertrauen. Ungeachtet aller politischen Debatten bleibt die Entwicklung der Raketenabwehr ein langwieriger und kostspieliger Prozess ohne Erfolgsgarantie. Anlass zur Beruhigung bietet dies allerdings nicht, denn wachsende Rüstungsausgaben, eine neue Rüstungsdynamik und die Neigung zur weltweiten Kriegführung sind reale Probleme, die nicht weg zu definieren sind.

Um die Kosten und Risiken der Raketenabwehr zu rechtfertigen, wird nun auch in der deutschen Debatte, gestützt auf Aussagen des Bundesnachrichtendienstes (BND), zunehmend die Raketenbedrohung bemüht. In dem BND-Bericht vom Oktober 1999 zur Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (MVW) und Trägersystemen heißt es: „Einige Staaten im Nahen Osten arbeiten an Raketen mit einer Reichweite von mehr als 1000 km. Damit liegt auch NATO-Gebiet in der Reichweite dieser Raketen und der mit ihnen gegebenenfalls bestückten Massenvernichtungsmittel.“18 Eine realistische Bedrohungsanalyse, die nicht nur potentielle technische Fähigkeiten betrachtet, sondern auch den politischen Kontext und die eigenen Drohpotentiale, steht immer noch aus.

Andere Akzente setzt Brigadegeneral a.D. Hermann Hagena, der in Führungsstäben der Streitkräfte diente. Seiner Ansicht nach „ist die Wahrscheinlichkeit als äußerst gering einzustufen, dass ein »Schurkenstaat« die erforderlichen Fähigkeiten zu einem Angriff mit weitreichenden Raketen und MVW auf die USA oder NATO erlangt. Sie würde sich weiter verringern, wenn es gelänge, Russland und China in die Anti-Proliferationsfront der Weltgemeinschaft wirksam einzubinden und die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme auf die »rogue states« intensiviert würden. Entsprechende Angebote des russischen Präsidenten Putin sollten ernst genommen werden. Der Annäherungsprozess zwischen Süd- und Nordkorea wie auch die parlamentarischen Erfolge der gemäßigten Kräfte im Iran sind Entwicklungen, deren Unterstützung mehr Erfolg verspricht als schlecht abgestimmte oder gar einseitige militärische Reaktionen …“19

Das Proliferationsproblem militärisch lösen zu wollen, entspricht dem Versuch, ein Feuer mit Benzin zu löschen. Weitergehende politische und diplomatische Lösungsansätze, die den Ursachen der Proliferation mit Abrüstung und Rüstungskontrolle, mit vertrauensbildenden Maßnahmen, wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Konzepten regionaler Sicherheit zu Leibe rücken, werden in der politischen Debatte zumeist ausgeblendet. Hier liegt aber das Feld, auf dem sich Europa gegenüber den USA am ehesten profilieren und weltweit Ansehen und Einfluss gewinnen kann.

L. Hill, TMD – NATO Starts the Countdown, Jane's Defence Weekly (JDW), 3 January 2001, S. 24-27. Entsprechende Informationen finden sich auch in: National Missile Defence and the Alliance after Kosovo, Draft General Report to NATO Parliamentary Assembly by Jan Hoekema, 3.10.2000; Das Nationale Raketenabwehrsystem (NMD) und seine Folgewirkungen für die Allianz, Entwurf eines Zwischenberichts an die Parlamentarische Versammlung der NATO, Berichterstatter: Karl A. Lamers, 6. Oktober 2000, http://www.nato-pa.int.

Anmerkungen

1) Report of the Commission to Assess United States National Security Space Management and Organization, Washington DC, Jan. 11, 2001; siehe auch die kritische Bewertung G. von Randow, C. Stelzenmüller, Killersatelliten im All – Amerikas Strategen denken wieder über Weltraumwaffen nach, Die Zeit 09/2001.

2) Siehe G. Neuneck, Missile Defense, Germany and Europe, Febr. 2001, in: Pugwash Special Issue on NMD (im Druck).

3) Europäische Entwicklungen zur militärischen Weltraumnutzung werden im nächsten Heft behandelt.

4) Siehe hierzu J. Scheffran, Die Europäische Verteidigungsinitiative – Testfall für SDI, in: D. Engels, J. Scheffran, E. Sieker, SDI – Falle für Westeuropa, Köln 1987, S. 271-337. Zu den Programmen Anfang der neunziger Jahre vgl. J. Scheffran, Raketenabwehr contra Proliferation – Der Norden tut sich zusammen, in: Wissenschaft und Frieden 12, 1/94, S. 51-56. Eine umfassende technische Analyse findet sich bei J. Altmann, SDI for Europe?, Frankfurt: HSFK Research Report 3/1988.

5) B = L. Hill, TMD – NATO Starts the Countdown, Jane's Defence Weekly (JDW), 3 January 2001, S. 24-27. Entsprechende Informationen finden sich auch in: National Missile Defence and the Alliance after Kosovo, Draft General Report to NATO Parliamentary Assembly by Jan Hoekema, 3.10.2000; Das Nationale Raketenabwehrsystem (NMD) und seine Folgewirkungen für die Allianz, Entwurf eines Zwischenberichts an die Parlamentarische Versammlung der NATO, Berichterstatter: Karl A. Lamers, 6. Oktober 2000, http://www.nato-pa.int.

6) JDW, 3.1.2001.

7) M. Bischoff, Sicherheitspolitik und Wirtschaft – Verteidigungstechnologie und Verteidigungsindustrie, Europäische Sicherheit 3/98, S. 20-22.

8) Eine aktuelle Übersicht zu MEADS findet sich in einem Arbeitspapier von Tom Bielefeld (IFSH), vorgetragen auf dem Workshop »National and Theater Missile Defenses after the US Elections«, Berlin, 14.-16.2.2001.

9) H.-J. Leersch, Scharping unter Beschuss wegen Raketenabwehr, Die Welt, 13.12.2000; A. Szandar, Angriffe aus Schurken-Staaten, Der Spiegel 16, 17.4.2000, S. 42.

10) U.S. General Accounting Office, Defense Acquisitions: Decision Nears on Medium Extended Air Defense System, GAO/NSIAD-98-145, Juni 1998.

11) B.W. Kubbig, T. Kahler, Problematische Kooperation im Dreieck: Das trilaterate Raketenabwehrprojekt MEADS, HSFK-Bulletin No.18, Herbst 2000, www.hsfk.de/abm/index.html.

12) JDW 6.12.2000, S.3, H.-J. Leersch, Amerika verärgert: Berlin steigt aus Rüstungsprojekt aus, Die Welt, 8.12.2000.

13) Siehe die Dokumentation von Auszügen in der FAZ vom 24.02.2001, S. 6.

14) Zur Kritik einer »boost-phase defense« siehe R.W. Jones, Taking Missile Defense to Sea – A Critique of Sea-Based and Boost-Phase Proposals, Washington, DC: Council for a Livable World Education Fund, October 2000, www.clw.org.

15) Zur Verbindung siehe M. Broek, F. Slijper, Theatre Missile Defence in Europe, HSFK-Bulletin No 22, 2001.

16) Vgl. J. Scheffran, SDI – Wird Europa totgeforscht?, W+F 2/85.

17) Siehe T. A. Postol, Lessons of the Gulf War Experience with Patriot, International Security, Winter 1991/92, Vol. 16, No. 3, S. 119-171.

18) BND, Proliferation von Massenvernichtungsmitteln und Trägerraketen, Oktober 1999. Siehe auch N. Busse, Atombomben auf Berlin und München?, FAZ 15.2.2001; BND: Saddam Hussein baut Atomwaffen, Die Welt, 24.2.2001.

19) H. Hagena, NMD für die USA – Verteidigung gegen ballistische Flugkörper für die NATO?, Europäische Sicherheit 7/2000, S. 14-19.

Regina Hagen ist im Vorstand des Global Network Against Weapons and Nuclear Power in Space und Koordinatorin von INESAP.

Dr. Jürgen Scheffran ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit an der TU Darmstadt und Redakteur von W&F.

Raketenabwehr – Ein Spielstein für das US Space Command

Raketenabwehr – Ein Spielstein für das US Space Command

von Regina Hagen

„Dem Weltraum kommt inzwischen eine viel grundlegendere und wesentlichere Rolle zu, als lediglich die Schlagkraft der Streitkräfte zu verstärken. Weltraum ist eine Voraussetzung. Er ist kein Luxus mehr, sondern eine Voraussetzung, um militärische Operationen durchführen zu können. Es hat sich gezeigt, dass der Weltraum für unsere nationalen Interessen von elementarem Interesse ist.“1 So die Direktion für Öffentlichkeitsarbeit im Hauptquartier des US-Weltraumkommandos im Juli 2000. Dieses Weltraumkommando der USA ist keine Fiktion, sondern unter dem Namen »US Space Command« seit 15 Jahren Wirklichkeit.
Am 1. September 1982 hat auf der Peterson Air Base in Colorado Springs das neue militärische Oberkommando für »Weltraum-Aktivitäten« SPACECOM seine Arbeit aufgenommen. „Es koordiniert die Weltraumaktivitäten der Air Force, die dort auch ihr Luftwaffenkommando NORAD unterhält. Derzeitige Aufgabe des SPACECOM sind die Katalogisierung und Überwachung von mittlerweile mehr als 5000 Satelliten(resten), der Schutz vor Kollisionen von US-Raumflugkörpern mit diesen 5000 Objekten und die Entwicklung von Anti-Satelliten-Waffen.“2 Als Streitkräfte-übergreifende Dachorganisation für das Air Force Space Command, das 1983 gegründete Naval Space Command der Marine und das 1984 installierte Army Space Command der Armee nahm das »United States Space Command« 1985 die Arbeit auf. Seinen Hauptsitz hat es ebenfalls auf der Peterson Air Force Base in Colorado.

In einer Pressemeldung zum 15. Geburtstag der Einheit wird die Aufgabe des US Space Command unzweideutig beschrieben: „Es sollte die Kontrolle über alle Weltraumeinrichtungen des Verteidigungsministeriums übernehmen und als Forum für die Entwicklung neuer Konzepte der Weltraumkriegsführung dienen.“3

Neu war die Idee nicht. Seit 1945, als der erste ballistische Raketentyp, Wernher von Brauns V2, und der Marschflugkörper V1 Angst und Schrecken in London, Amsterdam, Paris und Antwerpen auslösten, feilten Militärs und Ingenieure in den USA an militärischen Weltraumplänen. Spätestens als die Sowjetunion 1957 mit Sputnik-I den ersten Satelliten startete und auch in der Folge im Wettrennen um den Weltraum häufig die Nase vorn hatte, stand für das Verteidigungsministerium der Wert des Weltraums für militärische Zwecke nicht mehr in Frage.4 So wurde zunächst auch das komplette Weltraumprogramm der USA der militärischen Advanced Research Projects Agency (ARPA) übertragen, bevor 1958 mit der NASA (National Aeronautics and Space Administration) ein ziviles Pendant aufgebaut wurde.1961 übernahm die Luftwaffe die Endverantwortung für alle Weltraumentwicklungen von Armee, Marine und Luftwaffe5; in den 70er Jahren war die Einheit für Beschaffung und Operationsplanung zuständig. In rascher Folge machten sich die Militärs die neue Satellitentechnologie zu Nutze:6 Kommunikation (Command, Control, Communication, Information = C3I), Wettervorhersage, Navigation, Geodäsie, Fernerkundung, Aufklärung und Spionage wurden nun auch aus dem Weltraum betrieben und für die (konventionelle) Kriegsführung immer wichtiger. Im Golfkrieg von 1991 wie im Jugoslawienkrieg von 1999 spielten Weltraumkomponenten eine Schlüsselrolle – ohne sie wäre der (für die US-Soldaten) »sichere« Luftkrieg über Serbien nicht möglich gewesen.7

Bis heute ist das US Space Command für die Beobachtung und Katalogisierung von Weltraumobjekten zuständig. Mit dem Space Surveillance Network werden sämtliche Objekte in der Erdumlaufbahn aufgespürt, identifiziert, verfolgt und katalogisiert, die größer als 10 cm sind. Nur der kleinste Teil der inzwischen 10.000 Objekte sind funktionsfähige Satelliten; im Wesentlichen handelt es sich um so genannten Weltraumschrott: ausgediente Satelliten und Raketenoberstufen, Trümmer von Explosionen, von Astronauten verlorenes Werkzeug, usw. Die Daten dieses Netzwerks werden beispielsweise genutzt um einer Kollision von Satelliten oder Weltraumstationen mit größeren Schrotteilen durch Ausweichmanöver vorzubeugen.

Diese Aufgabe erfüllt das Militär aber nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern aus Eigennutz. „Als erster Schritt für die Weltraumkontrolle muss genau identifiziert werden, was sich im Erdorbit befindet, wem es gehört, und wozu es dient.“8 Die vom Space Control Center in den Cheyenne Mountains (Colorado) betreuten optischen Sensoren und Radars werden z.B. ergänzt durch die Infrarotsatelliten des Defense Support Program (DSP) für die Frühwarnung vor ballistischen Raketen. Raketenfrühwarnung ist für das US Space Command allerdings nur ein Element eines weitreichenden, teils bereits existenten, teils in Entwicklung oder Planung befindlichen Programms zur Raketenabwehr, so wie Weltraumkontrolle eine Voraussetzung für die Erreichung des eigentlichen Ziels ist: Dominanz im Weltraum zu bewahren.

Raketenabwehr – Türöffner für das US Space Command

Wie fügt sich Raketenabwehr in das Gesamtkonzept des US Space Command? Und was verstehen die Strategen des Weltraumkommandos überhaupt unter Raketenabwehr?

Fakt: Für die Weltraumkrieger beschränkt sich Raketenabwehr nicht auf die regionale oder nationale Dimension. Sie fassen unter diesen Begriff das ganze Spektrum von den Patriot- (PAC-3) und Aegis-Systemen zur Punktverteidigung über die nationale Raketenabwehr (NMD) bis hin zu luft- und weltraumgestützten Kampflasern für den globalen Einsatz.

These: Das US-Weltraumkommando nutzt die Debatte über NMD, um Akzeptanz für seine sehr viel umfassenderen Pläne zu finden.

Die 1997 veröffentlichte Vision des US Space Command für das Jahr 2020 definiert als Ziele des militärischen Handelns die dauerhafte Dominanz des »Mediums Weltraum« und die Einbindung von Weltraumstreitkräften in sämtliche militärischen Operationen. Als »konzeptuelles Rahmenwerk« (conceptual framework) für die Transformation der Vision in militärische Fähigkeiten wurden vier so genannte Konzepte definiert: Kontrolle des Weltraums (Control of Space), Globales Engagement (Global Engagement), Integration sämtlicher Teilstreitkräfte (Full Force Integration) und Globale Partnerschaften (Global Partnerships).9Im 1998 verabschiedeten Long Range Plan des US Space Command10 werden diese operationellen Konzepte präzisiert. Auf der Basis des Istzustandes werden für jedes Konzept der angestrebte Endzustand und die Schlüsselziele definiert. Den einzelnen Schlüsselzielen wiederum werden auf einer von 1998 bis 2020 reichenden Zeitschiene je nach Thema Schlüsselfähigkeiten, in Frage kommende Systeme und Technologien, Partnerschafts- und politische Fragen, Aufgaben- und Aktionspläne sowie Empfehlungen zugeordnet.Raketenabwehr gehört in diesem Rahmenwerk zum Konzept »Globales Engagement« mit den Schlüsselzielen Integrierte fokussierte Überwachung (Integrated Focused Surveillance)11, Raketenabwehr (Missile Defense) und Gewaltanwendung (Force Application).12

„Raketenabwehr schützt vor ballistischen Raketen und Marschflugkörpern, die die Streitkräfte und die vitalen Interessen der USA und unserer Verbündeten gefährden. Diese Aufgabe wird um so schwieriger, da Trägersysteme für Massenvernichtungswaffen mit immer größerer Reichweite und Letalität zur Verfügung stehen. Besonders die Abwehr der weltweiten Bedrohung durch niedrig fliegende Marschflugkörper ist eine große Herausforderung. Wenn wir aber wirksame Systeme ins Spiel bringen und mit Gefechtsfeldfähigkeiten kombinieren können, werden wir auch in die Lage versetzt, andere hochwertige Ziele in der Luft abzuwehren, beispielsweise Flugzeuge und Drohnen. Raketenabwehr muss (…) sich nahtlos in die Gefechtsfeldsysteme sämtlicher Befehlshaber und Entscheidungsträger integrieren.“13

Für das Jahr 2020 wird der globale Schutz vor Raketenangriffen mit Reaktionszeiten von wenigen Minuten angestrebt: PAC-3- und Aegis-Systeme zur Punktverteidigung; landgestützte Abfangraketen und Laser aus dem NMD-Programm zum Schutz von Nordamerika; land- und luftgestützte Gefechtsfeldsysteme wie THAAD, Abwehrsysteme für obere und untere Schichten (upper and lower tier) und der luftgestützte (d.h. in einer Boeing-Maschine stationierte) Kampflaser (Air-Borne Laser, ABL) für die Flächenverteidigung; eine im Weltraum stationierte Kampfplattform (Space-Based Platform) und ein Raumfahrzeug für weltweite operative Einsätze (Space Operations Vehicle)14 mit Zeitverzug; und als krönender Abschluss, der die minutenschnelle globale Reaktion ermöglichen soll, ein weltraumgestütztes System von Kampflasern und Hochleistungs-Mikrowellenwaffen.15

Diese im Kapitel »Raketenabwehr« abgehandelten Waffensysteme würden abgerundet durch existierende oder neue Weltraum- und Bodensegmente: Satelliten aus dem Defense Support Program, in niedrigen und hohen Umlaufbahnen stationierte Infrarotsysteme (Space-Based Infrared System, SBIRS Low and High), militärische und kommerzielle optoelektronische Aufklärungssatelliten, land- und weltraumgestützte Frühwarn- und X-Band-Radarsysteme, nicht zu vergessen die C3I-Systeme (USSPACECOM Battle Manager, Global Defense Information Network).

Das US-Weltraumkommando berücksichtigt in seiner Planung auch Aktivitäten zur Vorbereitung des politischen Umfeldes, das für ein derartiges System zu schaffen wäre. „Und schließlich müssen die (politischen) Führer vermutlich die nationale Politik bezüglich weltraumgestützter Waffen überarbeiten, vor allem hinsichtlich des ABM-Vertrags. Die politische Lage nach dem Kalten Krieg erschwert das, wenn aber die Vorteile gemeinsamen Vorgehens und einer kollektiven Sicherheit hervorgehoben werden, sollte es möglich sein, allmählich Unterstützung für dieses Vorhaben aufzubauen. (…) Empfehlung: Mit den entsprechenden Regierungsorganisationen den Dialog über die Weltraumpolitik aufnehmen.“16 Sogar die Anpassung völkerrechtlicher Vereinbarungen, die den Schutz des Heimatlandes, der Alliierten und nicht näher bezeichneter vitaler Interessen mit Hilfe von Weltraumkriegsführung zulassen, ist in einer Liste offener Punkte berücksichtigt.17

Von der Raketenabwehr zur Kontrolle des Weltraums

„Wer den Weltraum beherrscht, beherrscht die Erde“, überschrieb Jürgen Scheffran 1984 einen Artikel in Wissenschaft & Frieden.18 Diesem Satz würde das US-Weltraumkommando zweifellos ohne Bedenken zustimmen. „Um Kriege zu gewinnen, muss das US-Militär zuerst die Luftkontrolle gewinnen, damit seine Truppen ohne Angst vor einem Angriff durch feindliche Luftstreitkräfte kämpfen können. Gleichzeitig wollen die Vereinigten Staaten keinem Gegner gegenüberstehen, der den Weltraum dominiert.

Um den »Feldherrenhügel« Weltraum zu erhalten, verbessert die Kontrolle des Weltraums durch das Weltraumkommando der Luftwaffe einerseits die Überlebensfähigkeit der Weltraumsysteme des Verteidigungsministeriums; andererseits wird den Gegnern das Recht verwehrt, aus dem Weltraum zu operieren und Informationen zu sammeln.“19

Dieses Zitat ist kein Ausrutscher wildgewordener Public Relations-Offiziere, wie ein hoher Repräsentant des US Space Command bei einer Tagung in Darmstadt im März 1999 abzuwiegeln versuchte. Fast sämtliche Dokumente aus dem Umfeld des Weltraumkommandos sprechen die gleiche Sprache: „Im Rahmen der Kontrolle des Weltraums ermöglicht die Überwachung des Weltraums es den Vereinigten Staaten, den »Feldherrenhügel im Weltraum« zu halten und zu dominieren. (…) Die Kontrolle des Weltraums führt zur Überlegenheit im Weltraum und garantiert damit die sichere und freie Nutzung des Weltraums durch unsere Streitkräfte sowie durch die Streitkräfte unserer Verbündeten. (…) Die Kontrolle von Luft- und Weltraum ist entscheidend, da sie die US-Streitkräfte vor Angriffen schützt und gleichzeitig die Möglichkeit zum Angriff offen hält (freedom from attack and freedom to attack). (…) Wir können es nicht zulassen, dass der Weltraum von unseren Feinden kontrolliert wird.“20

Die verkürzte Botschaft der Broschüre »Vision for 2020« des US Space Command lautet: „US-Weltraumkommando – Dominiert zum Schutz US-nationaler Interessen und Investitionen bei militärischen Operationen die Weltraumdimension. Integriert die Weltraumstreitkräfte in die Kampffähigkeit über das komplette Konfliktspektrum.“21 Die Autoren ziehen eine Parallele von der Entwicklung der Kavallerie zum Schutz von Siedlungen und Eisenbahnen im ehemals Wilden Westen und dem Aufkommen der Marine zum Schutz der Handelsschifffahrt hin zur Etablierung einer Weltraumstreitkraft „zum Schutz militärischer und kommerzieller nationaler Interessen und Investitionen im Medium Weltraum, die immer mehr an Bedeutung gewinnen.“22

Kontrolle des Weltraums wird folgerichtig definiert als „die Fähigkeit, den Zugang zum Weltraum zu gewährleisten, die Operationsfreiheit im Medium Weltraum sicherzustellen, und die Fähigkeit, anderen bei Bedarf die Nutzung des Weltraums zu verwehren. (…) Globales Engagement ist die Anwendung – präzise Gewaltanwendung – aus, in und durch den Weltraum.“23

Um die technischen Voraussetzungen für dieses »globale Engagement« zu schaffen, hält das US-Weltraumkommando die Entwicklung einiger Schlüsseltechnologien für dringend erforderlich: Anti-Satellitenwaffen (wozu auch konventionelle Waffen gezählt werden, die sich zur Zerstörung von Startvorrichtungen oder Bodeneinrichtungen eignen), weiterentwickelte Navigationssatelliten, militärische Raumfahrzeuge, optimierte Trägerraketen, Weltraumstationen und die so genannten „»Launch on Demand«, womit die Fähigkeit gemeint ist, Trägerraketen und bemannte Raumfahrzeuge innerhalb von Stunden zu starten. Heute bedarf es für einen solchen Start monate- und jahrelanger Vorbereitungen.“24

Inzwischen ist die Haltung der Militärs auch durch die offizielle Regierungspolitik der Vereinigten Staaten abgesegnet. Am 9. Juli 1999 veröffentlichte das US-Verteidigungsministerium die Direktive 3100.10 zur Weltraumpolitik.25 Darin wird postuliert: „Der Weltraum ist ein Medium wie Land, Wasser und Luft, in dem in Zukunft militärische Aktivitäten zur Erlangung US-nationaler Sicherheitsziele durchgeführt werden.“ Weltraumaktivitäten seien für die Sicherheit und das wirtschaftliche Wohlergehen kritisch, Bewegungsfreiheit für die USA eine Priorität und Weltraumsysteme im Besitz der USA (oder US-amerikanischer Unternehmen) würden als nationales Eigentum betrachtet, das es zu schützen gelte. Jegliche Beeinträchtigung von US-Weltraumsystemen wird als Verletzung der nationalen Souveränitätsrechte angesehen und führt zu „sämtlichen für angemessen erachteten Selbstverteidigungsmaßnahmen“ einschließlich der Gewaltanwendung. Die USA behalten sich ausdrücklich das Recht vor, auch Weltraumsysteme und -dienste von Gegnern auszuschalten, wenn diese für „feindliche Zwecke“ eingesetzt werden.26

Die Direktive des US-Verteidigungsministeriums beschäftigt sich auch mit der Frage, welche Systeme die USA für ihre kriegerischen Weltraumaktivitäten einsetzen wollen, und kommt zum Schluss, dass „Weltraumarchitekturen so strukturiert sein sollen, dass sie je nach Bedarf in vollem Umfang Nutzen aus den weltraumbasierten Fähigkeiten von Verteidigung und Aufklärung sowie von zivilen, kommerziellen, alliierten und befreundeten Systembetreibern Nutzen ziehen können.“

Ausweitung des Aufgabenspektrums

In neuer Zeit wurde das Aufgabenspektrum des US Space Command um eine neue Mission erweitert. Schon länger wird die Informationsüberlegenheit vom US-Militär als ein Schlüsselbereich betrachtet. Folgerichtig übernahm das Weltraumkommando mit einer Einheit in Arlington, Virginia, zum 1. Oktober 1999 die Verantwortung für die „Verteidigung aller Computernetze und systeme des Verteidigungsministeriums. Es überwacht (…) Cyberangriffe und potenzielle Bedrohungen und koordiniert Aktionen, um Schäden zu stoppen oder einzudämmen und den Netzwerkbetrieb wieder herzustellen.“27

Der Oberbefehlshaber des US-Weltraumkommandos, General Richard B. Myers, findet diese Entwicklung logisch: „Das US-Weltraumkommando verfügt über den einheitlichen, globalen und operationellen Fokus für die Mission Computernetzwerk-Verteidigung (Computer Network Defense, CND). Bei dieser neuen Aufgabenstellung profitieren wir davon, dass Weltraum- und Informationsoperationen viele Ähnlichkeiten aufweisen.“28

Zum 1. Oktober 2000 kam der offensive Aufgabenbereich Computernetzwerk-Angriff (Computer Network Attack, CNA) dazu. „Innerhalb des Verteidigungsministeriums wurde dem US-Weltraumkommando die militärische Zuständigkeit für die Verteidigung der Netzwerke des Verteidigungsministeriums zugewiesen. Im Rahmen des Rechts für kriegerische Konflikte übernimmt es außerdem die Aufgabe, einem Gegner die Fähigkeit zu verwehren, Computernetze für die Durchführung militärischer Operationen zu nutzen.

Angriffe auf die Computernetze eines Gegners können auch ein Mittel zur Verteidigung unserer eigenen Computernetze vor größeren Cyberangriffen sein, die gegen unsere eigenen Systeme gerichtet sind. (…) Wie bei allen anderen militärischen Fähigkeiten, werden die Vereinigten Staaten Computernetzwerk-Angriffen nur nach sorgfältiger politischer und rechtlicher Prüfung einsetzen.“29

Mischen wir uns ein!

Abgesehen von allen offensichtlichen Implikationen, die die militärischen Weltraumpläne der USA mit sich bringen, sollten Friedens- und Konfliktforscher und Völkerrechtler jedenfalls der Frage besondere Aufmerksamkeit widmen, welche Konsequenzen die Inanspruchnahme des Weltraums als »vierte Dimension« für das internationale Sicherheitsregime hat. Das Völkerrecht kennt keine »Hoheitsgebiete« im Weltraum. Der 1967 abgeschlossene Weltraumvertrag sieht ausdrücklich das Recht aller Nationen vor, den Weltraum ungehindert für ausschließlich friedliche Zwecke zu nutzen und an der Weltraumnutzung selbst dann zu partizipieren, wenn sie selbst keine Weltraummissionen durchführen. Auch im Weltraum ist nicht Konfrontation angesagt, sondern Kooperation. Für Friedensgruppen, Friedensforscher und Völkerrechtler ergibt sich hier ein weites Feld für Diskussion und Aufklärung.

@ANM.-TEXT UMB = „Viele der Systeme und Konzepte für Raketenabwehr könnten auch Relevanz für die Gewaltanwendung haben. Dieses Konzept sieht vor, dass wir orts- und zeitunabhängig eine Reihe riskanter Ziele praktisch sofort von weltraumgestützten Einrichtungen ins Visier nehmen können. (…) Für die Fähigkeit zur Gewaltanwendung aus dem Weltraum können sowohl Orbitalsysteme als auch landgestützte Systeme zum Einsatz kommen.“ Ausdrücklich betont wird, dass damit Ziele außerhalb des Raketenabwehrspektrums gemeint sind. Den Verfassern des Long Range Plans ist durchaus bewusst, dass sie damit ein politisch heikles Thema ansprechen. In einem farblich abgesetzten Kasten betonen sie: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird die Vorstellung von Waffen im Weltraum nicht von den nationalen politischen Richtlinien der USA abgedeckt. Dieser Plan hat daher den Zweck, für diese Möglichkeit Pläne zu erarbeiten, falls die zivile Führung zu einem späteren Zeitpunkt entscheidet, dass Gewaltanwendung aus dem Weltraum in unserem nationalen Interesse liegt.“ (LRP, S. 65)

Anmerkungen

1) Directorate of Public Affairs, Headquarters, U.S. Space Command: Future War: JWID 2000 Features Space and Information – The Warfighters Edge, News Release No. 09-00 vom 10. Juli 2000; http://www.spacecom.af.mil/usspace/rel0900-jwid.htm. Übersetzung dieses und der folgenden Zitate aus dem Englischen durch die Autorin.

2) Dieter Engels, Jürgen Scheffran, Ekkehard Sieker: Die Front im All – SDI: Weltraumrüstung und atomarer Erstschlag, Pahl-Rugenstein Verlag, Köln, 3. Auflage, 1986, S. 54.

3) Directorate of Public Affairs, Headquarters, U.S. Space Command: Command Marks 15th Anniversary, News Release No. 14-00 vom 21. September 2000; http://www.spacecom.af.mil/usspace/rel1400-anniversary.htm.

4) Die Sowjetunion allerdings stellte nicht die militärische Nutzung des Weltraums in den Vordergrund, sondern schlug ein vollständiges Verbot jeglicher Rüstung im Weltraum vor, was von den USA abgelehnt wurde. Als Kompromiss wurde 1967 der Weltraumvertrag (Outer Space Treaty) verabschiedet, der immerhin die Stationierung von Massenvernichtungswaffen im Weltraum untersagt und dazu auffordert, den Weltraum ausschließlich zu friedlichen Zwecken und zum Wohle der ganzen Menschheit zu nutzen.

5) US Department of Defense: Development of Space Systems, DoD Directive No. 5160.32, 1961.

6) Zu den militärischen Weltraumaktivitäten gehört selbstverständlich auch die Entwicklung von ballistischen Raketen und Konzepten der nuklearen Kriegsführung, die in diesem Artikel nicht angesprochen werden. Zur Entwicklung der militärischen Weltraumfahrt siehe auch Regina Hagen, (UN-) Peaceful Use of Space, Referat für die 13. Generalversammlung der International Association of Peace Messenger Cities in O_wiêcim/Polen am 1. September 2000; http:/www.space4peace.org.

7) Directorate of Public Affairs, Headquarters, U.S. Space Command: U.S. Space Command Supports Kosovo Operation, 24. März 1999; http://www.spacecom.af.mil/usspace/news6-99.htm.

8) U.S. Government Printing Office: United States Space Command, 1997, S. 8.

9) United States Space Command: Vision for 2020, Peterson Air Force Base, Colorado, 1997

10) US Space Command: Long Range Plan. Implementing USSPACECOM Vision for 2020 (LRP), Peterson Air Force Base, Colorado, März 1998; http://www.spacecom.af.mil/usspace/LRP/cover.htm.

11) „Integrierte fokussierte Überwachung“ ist „die bedarfsgerechte, anhaltende Überwachung besonders interessanter Ziele – um alle Kommandeure bei der Raketenabwehr und der Gewaltanwendung zu unterstützen. Zu den Zielen von besonderem Interesse (…) werden vermutlich stationäre, mobile, unterirdische und verlegbare Ziele sowie ballistische Raketen und Marschflugkörper gehören. (…) Die Notwendigkeit der globalen Überwachung (jederzeit, an jedem Ort) führt zu weltraumgestützten Lösungen, die keinen politischen oder geographischen Einschränkungen unterliegen.“ (LRP, S. 52)

12) B = „Viele der Systeme und Konzepte für Raketenabwehr könnten auch Relevanz für die Gewaltanwendung haben. Dieses Konzept sieht vor, dass wir orts- und zeitunabhängig eine Reihe riskanter Ziele praktisch sofort von weltraumgestützten Einrichtungen ins Visier nehmen können. (…) Für die Fähigkeit zur Gewaltanwendung aus dem Weltraum können sowohl Orbitalsysteme als auch landgestützte Systeme zum Einsatz kommen.“ Ausdrücklich betont wird, dass damit Ziele außerhalb des Raketenabwehrspektrums gemeint sind. Den Verfassern des Long Range Plans ist durchaus bewusst, dass sie damit ein politisch heikles Thema ansprechen. In einem farblich abgesetzten Kasten betonen sie: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird die Vorstellung von Waffen im Weltraum nicht von den nationalen politischen Richtlinien der USA abgedeckt. Dieser Plan hat daher den Zweck, für diese Möglichkeit Pläne zu erarbeiten, falls die zivile Führung zu einem späteren Zeitpunkt entscheidet, dass Gewaltanwendung aus dem Weltraum in unserem nationalen Interesse liegt.“ (LRP, S. 65)

13) LRP, S. 59.

14) Dahinter steckt der offiziell als Nachfolgemodell des Space Shuttle konzipierte X33.

15) LRP, S. 60-63.

16) LPR, S. 63-64.

17) Kapitel 11, Out of Our Lane. Policies, Treaties and Agreements, LRP, S. 137ff.

18) Wissenschaft & Frieden 2/1984.

19) Internal Information Division, Headquarters Air Force Space Command Office of Public Affairs: Guardians of the High Frontier, Sonderausgabe der Zeitschrift Guardian, Peterson AFB, Colorado, o.J., S. 17.

20) Skript zu einem Folienvortrag des 21st Space Wing der Peterson Air Force Base in Colorado Springs, Colorado/USA; o.J.; verwendet von einer Öffentlichkeitsreferentin der Air Force bei einem Vortrag am 9. April 1998.

21) US Space Command: Vision for 2020, Peterson Air Force Base, 2. Auflage, August 1997

22) ibid.

23) ibid.

24) Frank Sietzen, Jr.: Wargames: Air Force Space Command's Battle Plans, Artikel für SPACE.com, 3. Oktober 2000; http://www.space.com/businesstechnology/technology/space_battellabs_001 003.html.

25) Department of Defense: Directive Number 3100.10, Space Policy, 9. Juli 1999; http://web7.whs.osd.mil/pdf.d310010p.pdf. In dieser Datei ist dem Text der Direktive ein Memorandum des US-Verteidigungsministeriums zu dem Dokument vorangestellt.

26) Das könnte folglich die Ausschaltung von Kommunikationssatelliten eines Gegners einschließen, da Kommando, Kontrolle und Kommunikation in aller Regel auf weltraumgestützten Systemen basiert. Theoretisch könnten davon selbst kommerzielle Satelliten eines Drittstaates betroffen sein, die von einem Gegner für die Kommunikation genutzt werden.

27) Directorate of Public Affairs, Headquarters, U.S. Space Command: U.S. Space Command Takes Charge of DoD Computer Network Defenses, News Release No. 19-99 vom 1.Oktober 1999; http://www.spacecom.af.mil/usspace/new19-99.htm.

28) Ibid.

29) Directorate of Public Affairs, Headquarters, U.S. Space Command: U.S. Space Command Takes Charge of Computer Network Attack, News Release No. 15-00 vom 29.September 2000; http://www.spacecom.af.mil/usspace/rel15-00.htm.

Regina Hagen ist technische Übersetzerin. Sie ist Mitglied im Darmstädter Friedensforum und im Vorstand des Global Network Against Weapons and Nuclear Power in Space.

NMD kontra ABM-Vertrag

NMD kontra ABM-Vertrag

Die Differenzen zwischen den USA und Russland

von Bernd W. Kubbig

Das Spitzentreffen zwischen Bill Clinton und Wladimir Putin am 4./5. Juni 2000 in Moskau sollte zu einem Durchbruch bei den seit langem stagnierenden Gesprächen über Änderungen des Raketenabwehr-Vertrages (Anti-Ballistic Missile Treaty, ABM) werden. Die Clinton-Administration wollte das bilaterale Abkommen von 1972 gravierend modifizieren, damit es mit ihren Plänen zur Aufstellung eines begrenzten Nationalen Abwehrsystems (National Missile Defense System, NMD) vereinbar wird. Denn der Kerninhalt des ABM-Vertrages besteht im Verbot eines solchen landesweiten Abwehrschildes. Angesichts der Raketenbedrohung aus so genannten Schurkenstaaten (die neuerdings offiziell »besorgniserregende Staaten« heißen) hielt es die alte US-Administration für geboten, ihr Territorium entsprechend zu schützen. Unter dem neuen Präsidenten dürfte das nicht anders sein.
Die neue Moskauer Führung hingegen macht sich – wie alle ihre Vorgängerinnen – das zentrale Anliegen des ABM-Abkommens zu eigen. Sie spricht sich vehement gegen das Nationale Abwehrsystem der Vereinigten Staaten aus. So konnte es nicht überraschen, dass sich auf dem Moskauer Gipfel beide Seiten unversöhnlich gegenüberstanden. Zum »Grand Bargain« kam es nicht. Dieser von der US-Regierung angestrebte »Große Tauschhandel« sah vor, dass der Kreml den Abänderungen des ABM-Vertrages zustimmt und damit sein »Ja« zum Rüstungsvorhaben der Administration gibt; im Gegenzug würde die Exekutive in Washington die von Moskau angestrebte drastische Verminderung der Nuklearwaffen akzeptieren. Statt des Raketenabwehr-Kompromisses unterzeichneten die beiden Präsidenten auf dem Gipfel nur zwei vergleichsweise bescheidene Abkommen. Das eine sieht die Zerstörung von waffenfähigem Plutonium vor; das andere ordnet die Einrichtung eines gemeinsamen Moskauer Zentrums an, in dem beide Seiten Frühwarndaten über ihre jeweiligen Raketenstarts austauschen (»information sharing«).

Der von der Clinton-Administration erhoffte bilaterale Kompromiss kam auch deshalb nicht zustande, weil ein Brief von 25 einflussreichen republikanischen Senatoren an den US-Präsidenten die Verhandlungsposition der US-Regierung in Sachen Modifikation des ABM-Vertrages desavouierte. Die Senatoren teilten ihrem Präsidenten unverblümt mit, er könne nicht damit rechnen, dass die Mehrheit der Kammer ein entsprechend ausgehandeltes Abkommen ratifizieren würde. Dieses Schreiben signalisiert nicht nur, dass in den USA das Jahr 2000 ein Wahljahr ist (am 7. November wurde nicht nur ein neuer Präsident gewählt, sondern auch ein Drittel der 100 Senatoren und alle 435 Abgeordneten).

Inhaltlich gesehen belegt das Schreiben der Senatoren, wie sehr sich Teile dieser Kammer von der Administration unterscheiden, wenn es um Konzeption und Umfang eines Raketenabwehrsystems geht. Anders als die alte Regierung, die einen zunächst begrenzten Schild anstrebte, der stufenweise ausgebaut wird, wollen einflussreiche Senatoren und ihre politischen Verbündeten im gesellschaftlichen Umfeld einen weitaus umfangreicheren Abwehrgürtel aufstellen. Unterschiedlich ist auch der Umgang mit dem ABM-Abkommen und dem Vertragspartner Russland entlang der Trennungslinie von striktem Unilateralismus versus einem an Bedingungen geknüpften Bilateralismus. Die energischen NMD-Befürworter wollen, ohne weiter mit Moskau über die Veränderungen zu verhandeln, von der im Vertragstext vorgesehenen Rückzugsklausel Gebrauch machen (in diese Richtung hat sich auch George W. Bush geäußert, der aber als Präsident sicher vorher über einen gewissen Zeitraum mit Russland verhandeln würde).1

Im Vergleich dazu war die alte Administration konzessionsbereiter. Ihre Verhandlungspositionen sind dem angesehenen Fachblatt »Bulletin of the Atomic Scientists« zugespielt worden, das sie veröffentlichte. Es handelt sich dabei um die »Talking Points«, die höchst wahrscheinlich US-Delegationsleiter John Holum auf der Arbeitsebene seinem russischen Gesprächspartner Juri Kapralow im Januar 2000 präsentierte. Dieses US-amerikanische Dokument ist aus mindestens drei Gründen außerordentlich aufschlussreich: Inhaltlich ermöglicht es eine Analyse der US-Positionen und der Streitpunkte zwischen Washington und Moskau, wie sie bisher in so detaillierter Form nicht möglich war. In politischer Hinsicht zeigen die »Talking Points« des US-Delegationsleiters, wie moderat die Haltung der Clinton-Administration im Vergleich zu den weiter reichenden Vorstellungen der erzkonservativen Befürworter war. Normativ gesehen vermitteln die Unterlagen in bisher beispielloser Weise, wie problematisch selbst die »relativ« gemäßigte Haltung der alten US-Regierung aus einer an Rüstungskontrolle orientierten Perspektive ist. Diese Verhandlungspositionen waren im Großen und Ganzen auch für den Moskauer Clinton/Putin-Gipfel relevant.

Die Raketenabwehrpläne der Clinton-Administration verändern den Charakter des Abkommens fundamental, machen sie doch den Rüstungskontrollvertrag, der der Raketenabwehr enge Fesseln anlegte, zu einem Rüstungsmanagement-Abkommen. Auf der Grundlage der »Talking Points« bleiben demgegenüber die russischen Positionen blass. Denn was aus dem Dokument nicht hervorgeht, ist die von Moskau favorisierte beträchtliche Verminderung der atomaren Gefechtsköpfe auf 1500. Auf einen entsprechenden Vorschlag ist die US-Regierung nicht eingegangen. Russlands Verhandlungsposition war dadurch gekennzeichnet, dass es über den ABM-Bereich hinausgehende Vorschläge zur gemeinsamen Bekämpfung der Proliferation präsentierte.

Der inhaltliche Dissens, der in den »Talking Points« einen breiten Raum einnimmt, läuft auf die Frage hinaus, inwieweit die Abwehrpläne der Clinton-Administration die nukleare Zweitschlagsfähigkeit Moskaus perspektivisch untergraben. Dies war für die russische Führung die Gretchenfrage. Das genannte Dokument setzt sich mit den von Moskau genannten sicherheitspolitischen Aspekten auseinander; die statuspolitische Dimension (Russlands kontinuierliches Interesse daran, zumindest auf atomarem Gebiet Weltmacht zu bleiben), werden in den »Talking Points« nicht angesprochen. Mit der in Zweifel gezogenen Zweitschlagsfähigkeit der russischen Nuklearstreitkräfte sind die folgenden Aspekte verbunden:

  • Die grundsätzliche Frage, inwieweit die nukleare Abschreckungslogik, in deren Rahmen der ABM-Vertrag entstand, die atomare Politik beider Seiten auch nach dem Ost-West-Konflikt anleitet. Hier ist relevant, dass beide Seiten trotz der fundamentalen weltpolitischen Veränderungen und der verminderten Rolle der Nuklearwaffen in puncto Militärstrategie, Zielplanung und operative Fähigkeiten noch völlig dem System der »wechselseitigen gesicherten Zerstörung« (Mutual Assured Destruction, MAD) aus der Zeit des Ost-West-Konflikts verhaftet sind. Die »Talking Points« von US-Delegationsleiter John Holum zementieren die nukleare Abschreckung dadurch auf einem außerordentlich hohen Niveau, dass der russischen Seite nahegelegt wird, ihr Nuklearpotenzial auf 1500 bis 2000 Sprengköpfe auszurichten. Dies soll sicherstellen, dass Russland das von den Vereinigten Staaten geplante NMD-System zu durchdringen vermag. Folgt Moskau diesem Rat, so wird der Aufbau des US-amerikanischen Schirms gerade nicht zur „nuklearen Rüstungsverminderung durch NMD&147; führen, die die Abwehrbefürworter beständig beschwören.
  • Die Plausibilität von Erstschlagsszenarien und die Moskau nahegelegten militärischen Reaktionen auf ein umfassendes Abwehrsystem der Vereinigten Staaten. In krisenstabilitätspolitischer Hinsicht ist problematisch, dass die US-Delegation Russland nahelegt, sein strategisches Nukleararsenal weiterhin in ständiger Alarmbereitschaft zu halten. Eine Strategie des »launch on warning« soll Moskau befähigen, seine Nuklearwaffen abzufeuern, bevor sie durch US-Raketen vernichtet werden könnten. So wenig plausibel ein solches Erstschlagsszenario sein mag: Die Gefahr von nicht autorisierten oder versehentlich abgeschossenen Raketen als Reaktion auf einen fälschlich gedeuteten Raketenangriff bleibt bestehen – oder erhöht sich sogar angesichts des in schlechtem Zustand befindlichen russischen Frühwarnsystems.
  • Die Vorhersehbarkeit (predictability) der NMD-Pläne mit dem Ziel, für Russland Erwartungsstabilität herzustellen und Vertrauen zu schaffen/die Ausbruchsgefahr der USA aus einem begrenzten Nationalen Abwehrsystem. Moskau misst die Ausbruchsgefahr Washingtons aus einem begrenzten NMD-System an dem Ausbaupotenzial, das die Vereinigten Staaten bei ihren Radar- und Sensorkapazitäten anstreben. Den derzeitigen NMD-Plänen der Clinton-Administration zufolge ist für die Phase II die Dislozierung von 24 mit Infrarot-Sensoren ausgestatteten Satelliten im Weltraum vorgesehen. Damit entsteht zusammen mit den fünf umgerüsteten Frühwarnradars und dem möglichen Bau einer weiteren Radaranlage in Südkorea eine technologische Infrastruktur, die den Sprung von einem begrenzten zu einem umfassenden Raketenabwehrsystem in relativ kurzer Zeit ermöglichen dürfte. Russland sieht ebenfalls mit Sorge, dass die USA anstreben könnten, den Nationalen Abwehrgürtel mit den geplanten regionalen Abwehrsystemen (Theater Missile Defense, TMD) zu verknüpfen. Einer Studie der Ballistic Missile Defense Organization im Pentagon vom 1. Juni 1999 zufolge können die für NMD-Zwecke eingesetzten Radaranlagen die weit reichenden (Navy Theater Wide) Abwehrwaffen dazu befähigen, strategische Potenziale Russlands zu zerstören. Die Clinton-Administration plante die Aufstellung von mehr als 600 solcher seegestützten Abfangsysteme. Die im Brief der 25 republikanischen Senatoren vom 17. April 2000 zum Ausdruck kommenden Vorstellungen, die über die Abwehrpläne der Clinton-Administration weit hinausgehen, unterstreichen, dass die von Russland verlangte Vorhersehbarkeit nicht gewährleistet ist.

Auf dem Moskauer Gipfel (und auch danach) wurde deutlich, dass die US-Regierung ihrem russischen Vertragspartner nicht glaubwürdig versichern konnte, dass ihre NMD-Pläne ausschließlich eine Antwort auf die begrenzten Raketenfähigkeiten »besorgniserregender Staaten« wie Nord Korea, Iran und Irak sind. Moskau fürchtet weiterhin, dass die USA mittel- und langfristig fähig und willens sind, ein Nationales Verteidigungssystem aufzubauen, das die Vergeltungsfähigkeit der russischen Nuklearstreitkräfte in einem unannehmbaren Ausmaß einschränkt. Zu den inhaltlichen Gegensätzlichkeiten kommen politisch-taktische Erwägungen. Das politische System der USA ist im Wahljahr 2000 im Übergang begriffen, während der frisch gewählte russische Staatspräsident nicht unter unmittelbarem Zeitdruck steht. Durch einen auf dem Moskauer Juni-Gipfel voreilig erzielten Kompromiss wäre Putin Gefahr gelaufen, mit Clintons Nachfolger bereits im nächsten Jahr neu verhandeln zu müssen.

Russland muss sich jedoch darauf einstellen, dass die neue US-Administration das Nationale Raketenabwehrprojekt noch stärker vorantreiben wird. Die oben herausgearbeiteten Unstimmigkeiten können sich noch verschärfen. Dies wirft die Frage auf, ob Russland dann eher bereit sein wird, einen Kompromiss zu akzeptieren oder aber, ob es mit verstärkten Gegenmaßnahmen bei den Nuklearwaffen reagiert, um den US-Schild durchlöchern zu können. Letzteres liefe auf ein erneutes Wettrüsten hinaus. Wie der (möglicherweise nur vorübergehend) beigelegte Richtungsstreit zwischen Verteidigungsminister Sergejew und Generalstabschef Kwaschnin belegt, sind die russischen Ressourcen begrenzt. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass Moskau sich aus sicherheits- und statuspolitischen Gründen dafür entscheidet, zu nuklearen Mehrfachsprengköpfen zurückzukehren. Dies wäre das Ende des START II-Vertrages, der diese Technologie verbietet – die Folgen für das gesamte Rüstungskontrollgebäude wären unübersehbar.

Im Umfeld des Gipfels bot Präsident Clinton an, den geplanten Anti-Raketenschild mit den Verbündeten und anderen »zivilisierten Staaten« zu teilen. Diese Offerte weckt diesseits des Atlantiks (etwa in der Bundesregierung) die Hoffnung auf den Zugang zu US-amerikanischer Spitzentechnologie – oder, negativ formuliert, die Angst, bei einer Nichtbeteiligung den Anschluss an diese zu verlieren. Derartige Erwartungen einer partnerschaftlich fairen wie finanziell lukrativen Teilhabe an einem zentralen Hochtechnologie-Projekt der USA im Militärbereich erwiesen sich bereits während der SDI-Debatte in der Ära Reagan als illusorisch. Die Aufträge, die an nicht-US-amerikanische Firmen ergingen, blieben insgesamt »peanuts«. Die restriktiven gesetzlichen Rahmenbedingungen gelten im Großen und Ganzen heute auch noch. Der technologiepolitische Protektionismus der Vereinigten Staaten ist eine Variante des gegenwärtig im Bereich Sicherheit vorherrschenden US-Unilateralismus.

Angesichts der Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs, der über Russland hinaus China erfassen dürfte und damit zu einer Kettenreaktion in Asien führen könnte, sollte die Bundesregierung allein (besser noch im europäischen Konzert) gegenüber Washington darauf hinwirken, dass ein NMD-System – wenn es denn nicht verhindert werden kann – so begrenzt wie möglich bleibt. Ohne sein begründetes Nein zu einem kontinentalen Abwehrsystem aufzugeben, müsste Berlin als suboptimale Variante darauf drängen, dass dem russischen Interesse an einer Erwartungsstabilität durch vertraglich zugesicherte Restriktionen Rechnung getragen wird. Ein modifiziertes Abkommen sollte deshalb die einzelnen Phasen des NMD-Aufbaus konkret festlegen.

Derartige Forderungen sind für die europäischen Staaten wichtig, aber nicht ausreichend um sich als seriöse Akteure zu positionieren. Insbesondere Dänemark und England können sich nicht einerseits für die Erhaltung des ABM-Abkommens aussprechen, wenn sie andererseits der Umrüstung der US-Radaranlagen in Thule und Fylingdales zustimmen (sie müssen technologisch verbessert werden, damit sie im Rahmen des Nationalen Raketenabwehrschirms funktionstüchtig sind). Die europäischen Regierungen sollten vielmehr beide Länder ermutigen, ihre Position als Trumpfkarte gegenüber den USA einzusetzen, um den wichtigsten Bündnispartner zu abrüstungsfreundlicheren Positionen zu bewegen.

Die europäischen Staaten – und darunter Deutschland – werden in Washington, aber auch in Moskau und Beijing, nur dann Gehör finden, wenn sie nicht nur vor einem Rüstungswettlauf warnen, sondern auch mit glaubwürdigen und machbaren Initiativen zur Bekämpfung der Proliferation auftreten. Hierfür enthält die Berliner Erklärung zu NMD vom 25. Mai 2000 wichtige Punkte mit einem beträchtlichen Ausbaupotenzial. Ein modernisiertes Konzept kooperativer Rüstungskontrolle, das sich vom Ziel der gemeinsamen Minimierung von Bedrohungen sowie vom Primat der Politik anleiten lässt, könnte mit Iran als Modellfall umgesetzt werden.

Mit einem solchen »Diplomatie Zuerst!«-Ansatz könnte die Europäische Union mit Blick auf den Dezember-Gipfel in Nizza ihre Visionen eines stärkeren Europa auf einem wichtigen Politiksektor pragmatisch Wirklichkeit werden lassen. Führende europäische Politiker wie Jacques Chirac, Hubert Védrine und Joschka Fischer hätten so Gelegenheit, den deutsch-französischen Motor jenseits bloßer Rhetorik anzuwerfen und Europa mit einem »Diplomatie Zuerst!«-Konzept zu einem seriösen und sichtbaren Akteur zu machen.

Anmerkungen

1) Der Artikel basiert auf einer umfangreicheren Veröffentlichung vom Oktober 2000 (HSFK-Report). Er wurde am 20. November abgeschlossen. Aufgrund der Probleme mit der Stimmauszählung in Florida konnte deshalb die Entscheidung über den neuen Präsidenten der USA nicht mehr berücksichtigt werden.

Dr. Bernd W. Kubbig ist Projektleiter in der HSFK. Er koordiniert die US-Forschung und das Internet Programm »Raketenabwehr International« (www.hsfk.de/fg1/proj/abm).

Raketenabwehr, Stabilität und präventive Rüstungskontrolle

Raketenabwehr, Stabilität und präventive Rüstungskontrolle

von SDI zu NMD

von Jürgen Scheffran

Trotz der Aufschiebung der NMD-Entscheidung durch den scheidenden US-Präsidenten Bill Clinton gilt es als wahrscheinlich, dass sein Nachfolger mit der Stationierung beginnen will. Zwar soll sich ein begrenztes Abwehrsystem lediglich gegen kleinere Raketenmächte richten, doch stellen sich Russland und China bereits auf eine NMD-Welt ein. Für sie geht es vor allem darum, ihre Abschreckungsfähigkeit gegenüber einer US-Dominanz zu sichern. Die sich abzeichnende Rüstungsdynamik ist jedoch keine Notwendigkeit. Bislang wurden die Möglichkeiten zur internationalen Kontrolle und Abrüstung von Atomwaffen und ballistischen Raketen, von Raketenabwehrsystemen und Weltraumwaffen kaum ausgeschöpft. Auch der Versuch, die Einführung von Raketenabwehr kooperativ zu stabilisieren, würde erhebliche Rüstungskontrollanstrengungen erfordern, ohne aber alle Risiken ausschließen zu können.
Das Verhältnis zwischen Raketenabwehr, Stabilität und Rüstungskontrolle spielte bereits in den achtziger Jahren eine Rolle. Im Frühjahr 1985 hatte ich Gelegenheit, an einem Symposium der Hanns-Seidel-Stiftung teilzunehmen, das der Debatte über die Strategic Defense Initiative (SDI) der USA gewidmet war. Per Satellit war Paul Nitze als hochrangiger Vertreter der Reagan-Administration zugeschaltet. Ausgehend von der Forderung Ronald Reagans vom 23. März 1983, Atomwaffen durch SDI „impotent und obsolet“ zu machen, fragte ich damals Nitze, ob der umgekehrte Weg nicht vernünftiger sei, also SDI durch die Abrüstung von Raketen und Atomwaffen obsolet zu machen. Nitze widersprach nicht grundsätzlich, hielt die Idee aber für politisch unrealistisch.

Die verpasste Chance von Reykjavik

In der vom Kalten Krieg geprägten Zeit war seine Skepsis berechtigt, doch schon bald veränderten sich die politischen Umstände dramatisch. Im Herbst 1985 begannen die Genfer Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR über eine Verhinderung des Wettrüstens auf der Erde und im Weltraum, und zu Beginn des Jahres 1986 legte Michail Gorbatschow seinen Plan zur Abschaffung aller Atomwaffen bis zum Jahr 2000 vor. Der vorläufige Höhepunkt einer neuen Entspannung war im Oktober 1986 der Gipfel zwischen Reagan und Gorbatschow in Reykjavik, bei dem die Führer beider Supermächte das für damalige Verhältnisse Unglaubliche diskutierten: Innerhalb von fünf Jahren sollten alle Atomwaffen halbiert, in zehn Jahren alle ballistischen Raketenwaffen abgeschafft werden. Während Reagan SDI als Versicherungspolice behalten wollte, befürchtete Gorbatschow, durch SDI könne der nukleare Abrüstungsprozess destabilisiert werden. Eine Einigung scheiterte an der Frage, in welchem Umfang SDI-Forschung und Entwicklung durch den Raketenabwehrvertrag (ABM-Vertrag) von 1972 beschränkt sei.

Die Sorge vor einer rüstungstechnischen Dominanz der USA wurde auch von sowjetischen Vertretern auf dem internationalen Wissenschaftler-Kongress »Ways Out of the Arms Race« im November 1986 in Hamburg geäußert, doch sie wich zunehmend einer nüchternen Betrachtung der technischen Probleme von SDI. Unter dem Beifall der etwa 4000 Konferenzteilnehmer fragte Valentin Falin, wozu SDI noch nötig sei, „wenn in zehn Jahren keine atomare Waffe mehr existieren wird.“1

Die sich abzeichnende Kompromissbereitschaft Gorbatschows bei SDI schlug sich ein Jahr später im INF-Vertrag von 1987 nieder, der eine ganze Kategorie nuklearer Waffen in Europa verschrottete, sowie in der Reduzierung der strategischen Kernwaffen im START I-Vertrag. Auch über einen »großen Kompromiss« bei der Festlegung zulässiger Grenzen im ABM-Vertrag wurde gesprochen sowie über stabile Mischungsverhältnisse offensiver und defensiver Waffen.2 Mit dem Zerfall des Ostblocks fanden solche Überlegungen jedoch ein jähes Ende. Es schien, als sei SDI durch das Ende des Kalten Krieges tatsächlich »obsolet« geworden. Auch Paul Nitze unterstützte 1992 den Vorschlag der Federation of American Scientists (FAS), in Anknüpfung an Reykjavik alle ballistischen Raketenwaffen abzuschaffen (Zero Ballistic Missiles, ZBM). Es entwickelte sich eine weltweite Bewegung für die Abschaffung aller Kernwaffen.

Rüstungskontrolle – ein Relikt des Kalten Krieges?

Die Anfangseuphorie über den beendeten Ost-West-Konflikt und die erhoffte Friedensdividende war jedoch bald verflogen. Die Sowjetunion hatte sich zwar aufgelöst, doch die USA nutzten das, um nun noch ungehinderter als zuvor Machtpolitik zu betreiben; Raketenabwehr erhielt eine neue Funktionsbestimmung. Bereits im April 1990 erschien in der renommierten Zeitschrift Nature ein Artikel von dem »Vater der Wasserstoffbombe« und Vordenker von SDI, Edward Teller, und dem Los Alamos-Wissenschaftler Gregory Canavan.3 Darin zeichnen sie das Bild einer Bedrohung aus dem Süden, gegen die nur Raketenabwehr helfen könne.

Den Durchbruch für die Re-Instrumentalisierung der Raketenabwehr brachte der zweite Golfkrieg 1991, der trotz des technischen Versagens der Patriot-Abwehr von George Bush Senior genutzt wurde, um einen globalen Schutz gegen begrenzte Raketenangriffe zu fordern.4 Bushs Nachfolger Bill Clinton benannte 1983 zwar das SDI-Programm um und stellte exotische Weltraumwaffen zurück, ließ aber das Budget intakt und integrierte Raketenabwehr in die Counterproliferationsstrategie der USA. Daran hat sich mit NMD nicht viel geändert.

Über alle weltgeschichtlichen Veränderungen hinweg hat die Raketenabwehr in den USA eine erstaunliche Eigendynamik gezeigt. Genau diese zu begrenzen ist das Ziel des ABM-Vertrages, der erstmals in der Geschichte das Wechselspiel zwischen Offensive und Defensive beenden soll. Deshalb ist er den NMD-Anhängern ein Dorn im Auge. In einem bemerkenswerten Umkehrschluss machen sie den ABM-Vertrag, und mit ihm das Konzept der Rüstungskontrolle, zu einem Relikt des Kalten Krieges, nicht jedoch die Atomwaffen, Raketen und Raketenabwehrsysteme, die dadurch kontrolliert werden sollen. Die USA, die keines ihrer Gewaltinstrumente beschränkt sehen wollen, widerlegen nicht die Notwendigkeit von Rüstungskontrolle, zeigen aber ihre Schwäche.

Sicherlich lässt sich das heutige USA-Russland-Verhältnis nicht mit dem Ost-West-Konflikt vergleichen, allein schon weil Russland sich das derzeitige Kernwaffenarsenal auf Dauer nicht leisten kann und für die USA in einem Wettrüsten kein gleichgewichtiger Gegner ist. Dennoch sind die angekündigten russischen Gegenmaßnahmen gegen NMD ebenso ernst zu nehmen wie Versuche, durch diplomatische Initiativen, durch Abrüstung und Rüstungskontrolle die Folgen abzuschwächen.

Stabilität und präventive Rüstungskontrolle

Auf beiden Seiten gibt es ein Interesse an Zusammenarbeit und Rüstungskontrolle, selbst wenn NMD weitergeht. Von Interesse sind hier die Vorschläge Putins vom 13. November 2000. Er bietet den USA an, die Zahl der nuklearen Sprengköpfe unter die Grenze von 1500 zu senken, also in einen Bereich, in dem eine begrenzte Abwehrfähigkeit der USA bedeutsam werden könnte. Der Kommandeur der russischen nuklearen Raketenstreitkräfte, General Wladimir Jakowlew, schlug als Gegengewicht zur US-amerikanischen Raketenabwehr vor, „einen konstanten allgemeinen Index für strategische Rüstung einzuführen, in den neben den nuklearen Offensivwaffen auch die Anti-Raketen-Abwehrsysteme aufgenommen werden''.5 Ein Land, das die Abwehrkomponente verstärken wolle, müsse somit zugleich die Bedrohung gegenüber anderen Staaten verringern.

Mit solchen Vorschlägen, befürchtete Instabilitäten durch NMD kooperativ abzumildern, wird der in Reykjavik angesprochene Zusammenhang zwischen Raketenabwehr, Rüstungskontrolle und Stabilität wieder aktuell. Damals wie heute stellt sich der Moskauer Führung die Frage: Soll Russland an seiner grundsätzlichen Ablehnung von NMD festhalten und dabei riskieren, dass die USA alleine agieren, oder soll Russland sich auf einen Deal mit den USA beim ABM-Vertrag einlassen, um als Akteur im Raketenabwehrspiel noch eine Rolle zu spielen?

Zwar richtet sich NMD offiziell gegen kleiner Raketenmächte aber das Verhältnis USA-Russland wäre unmittelbar betroffen, selbst dann, wenn die Führer beider Staaten sich auf ein kooperatives Management verständigen. Bei einem gleichzeitigen Prozess »Offensive runter – Defensive rauf« wird irgendwann der Zeitpunkt der Parität erreicht, an dem die Abwehr rechnerisch die Offensive unwirksam macht. Weder kann dann ein Angreifer sicher sein, strategische Ziele zu erreichen, noch die angegriffene Seite ihrer Zweitschlagkapazität. Eine solche Unsicherheit kann die Entscheidungsträger zur Vorsicht veranlassen, im Falle gegenseitigen Misstrauens jedoch das Gegenteil bewirken.

Hinzu kommt, dass die Vorstellung von definierbaren Offensivkapazitäten und Abwehrschwellen nicht haltbar ist. Zum einen gibt es große Unsicherheiten über die Rüstungspotenziale, zum anderen macht die durch Raketenabwehr vervielfachte Komplexität der Sicherheitspolitik eine Prognose nahezu unmöglich, zumal wenn Weltraumkomponenten ins Spiel kommen. Wenn schon eine durchdringende Rakete genügt, um New York in Schutt und Asche zu legen, nützt es den USA wenig, eine statistische Abwehrfähigkeit gegen 50 Raketen zu besitzen.

Der Ost-West-Konflikt ist vorbei, aber damit nicht notwendig die Furcht vor Atomwaffen oder die Anfälligkeit von Entscheidungsträgern gegenüber Word-Case-Szenarien. Wie würden die USA reagieren, wenn sie in einer Krise befürchten müssten, dass ihr komplexes Abwehrsystem durch Sabotage, Cyber War oder direkte Angriffe außer Kraft gesetzt wird? Wer will garantieren, dass Ängste vor einem Erstschlag, der die Zweitschlagfähigkeit unter die Abwehrschwelle schrumpfen ließe, keine Rolle mehr spielen? Ist es wirklich auszuschließen, dass in Moskau Kräfte an die Macht kommen, die glauben die russische Abschreckungsfähigkeit gegenüber den USA sichern zu müssen? Wie würde dann die Führungselite der USA reagieren, die schon heute zu überzogenen Bedrohungswahrnehmungen gegenüber vermuteten kleinen Raketenmächten neigt? Warum sollen sich die Führer anderer Staaten rationaler verhalten, obwohl bekannt ist, dass die USA sich das Recht zur militärischen Intervention und Counterproliferation herausnehmen?

Ob eine stabile Einführung der Raketenabwehr kooperativ abgesichert werden kann, hängt von der Fähigkeit der Kernwaffenmächte ab, die großen Unsicherheiten durch gegenseitige Überwachung und Informationsaustausch zu minimieren, und ihrer Bereitschaft, auf Worst-Case-Denken zu verzichten und den potenziellen Gegenspielern zu vertrauen. Diese »kooperative Rüstungssteuerung« bedeutet eher mehr Rüstungskontrolle als bisher und die Verständigung auf eine Zielperspektive. Wenn das Ziel ist, die Raketenbedrohung zu verringern oder gar die nukleare Abschreckung zu beenden, stellt sich die Frage, ob Raketenabwehr angesichts der Kosten und Risiken ein dazu geeigneter Weg ist oder nicht eher in die Sackgasse führt. Offenkundig gibt es die Alternative, die Bedrohung kooperativ und in überprüfbarer Weise herunterzufahren. Ein solcher Abrüstungsprozess müsste ebenfalls durch Rüstungskontrolle abgesichert werden, wäre aber einfacher zu realisieren als bei gleichzeitiger Einführung von Raketenabwehr.

Im Unterschied zur traditionellen Rüstungskontrolle, die vorwiegend auf die Stabilisierung, Risikominderung und Kostensenkung in der Rüstungsdynamik zielt, geht es beim Konzept der präventiven Rüstungskontrolle darum, rechtzeitig auf destabilisierende Rüstungsentwicklungen hinzuweisen und bereits im Frühstadium der rüstungstechnischen Forschung und Entwicklung geeignete Eingriffs- und Steuerungsmöglichkeiten aufzuzeigen.6 Folgende Bereiche der Rüstungskontrolle sind von NMD unmittelbar betroffen: die Kontrolle von Kernwaffen, ballistischen Raketen, Raketenabwehrsystemen und Weltraumrüstung. Zu allen vier Bereichen sollen kurz einige Optionen angesprochen werden, ohne hier ins Detail gehen zu können.

Nukleare Abrüstung

Die Kontrolle nuklearer Rüstung hatte nach dem zweiten Weltkrieg einen hohen Stellenwert in den internationalen Beziehungen, auch wenn konkrete Fortschritte lange auf sich warten ließen (Nichtverbreitungsvertrag, Kernwaffenfreie Zonen, SALT, INF, START, Teststopp-Vertrag). Während lange versucht wurde, die Gefahren eines Wettrüstens und die Risiken eines Atomkrieges zu minimieren, steht seit Mitte der neunziger Jahre die Beseitigung der Kernwaffen auf der internationalen Tagesordnung von Staaten (NVV-Konferenzen, Canberra-Komission, Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, New Agenda Coalition, UNO-Resolutionen) und Nichtregierungsorganisationen (Abolition 2000, Studien zur kernwaffenfreien Welt, Nuklearwaffenkonvention). Ein Streitpunkt betrifft das geeignete Verhältnis zwischen kurzfristig möglichen Schritten und dem längerfristigen Konzept einer kernwaffenfreien Welt. Mit der Vorlage eines Modellentwurfs für eine Nuklearwaffenkonvention wurde versucht, die Konkretisierung der Zielperspektive mit einzelnen Schritten zu verknüpfen.7 Unter anderem aufgrund der Kernwaffentests in Südasien und der Blockade durch den US-Kongress ist der Abrüstungsprozess ins Stocken geraten.

Ein kleiner Lichtblick auf der deklaratorischen Ebene ist die im November 2000 mit großer Mehrheit in der UNO-Generalversammlung verabschiedete Resolution der »New Agenda Coalition« für eine kernwaffenfreie Welt, die erstmals die Zustimmung aller NATO-Staaten erhielt, einschließlich USA, bei Enthaltung Frankreichs und Russlands. Auch die russische Ratifizierung von START II und Teststoppvertrag schafft günstigere Bedingungen, ist jedoch an die Einhaltung des ABM-Vertrages gekoppelt. Ein nächster Schritt wäre der in Genf verhandelte Produktionsstopp für spaltbare Materialien. Darüber hinaus muss auch über die Beseitigung aller Kernwaffen verhandelt werden, ein Ziel, das bei einer NMD-Stationierung noch schwieriger zu erreichen wäre. Das Stabilitätsproblem stellt sich auch bei der Abrüstung auf sehr niedrige Kernwaffenzahlen, wäre aber weniger brisant als mit Raketenabwehr und höheren Kernwaffenzahlen.

Internationale Kontrolle ballistischer Raketen

Bislang verfügen lediglich die fünf Kernwaffenmächte über Interkontinentalraketen, während andere Staaten nur Raketen kurzer und mittlerer Reichweite haben. Die Bedrohungseinschätzungen der US-Geheimdienste, die auch NMD zu Grunde liegen, sind bislang nicht eingetreten. Mit diplomatischen Initiativen, wie jüngst im Falle Nordkoreas, lassen sich möglicherweise selbst die als »irrational handelnd« angesehenen Mächte von einer Weiterentwicklung ihrer Raketen abbringen.

Bisher gibt es kein multilaterales Abkommen zur Begrenzung oder Abrüstung ballistischer Raketen. Für Raketen mittlerer und langer Reichweite wurden Verträge zwischen den USA und der UdSSR bzw. Russland unterzeichnet. Das Missile Technology Control Regime (MTCR) konnte die Verbreitung von Raketentechnik durch Exportkontrollen der Lieferländer zwar verlangsamen, aber nicht verhindern. Solange es keine internationale Norm gegen ballistische Raketen gibt, kann kein Staat einem anderen die Möglichkeit zu einer eigenständigen Raketenentwicklung verwehren.8 Ein Ausgangspunkt ist der schon erwähnte ZBM-Vorschlag der FAS, die 1992 nicht nur einen vollständigen Vertragsentwurf zur Beseitigung ballistischer Raketenwaffen vorlegte, sondern zugleich einen stufenweisen Prozess zum Ziel anvisierte.9 Das ZBM-Konzept benennt unterschiedliche Aufgabenteilungen zwischen Staaten, je nach Stand ihrer Raketenentwicklung, und schlägt die Einrichtung raketenfreier Zonen vor. Von wesentlicher Bedeutung wäre es, die Erprobung ballistischer Raketen zu beschränken oder ganz einzustellen (Raketenteststopp)10 und keine weiteren Raketen aufzustellen, um die Raketenentwicklung auf dem derzeitigen Stand einzufrieren (Freeze).

Ein Raketentest-Moratorium wäre am besten überprüfbar, denn ein Raketenstart ist ein weit sichtbares Ereignis. Bei umfassender Raketenabrüstung wäre der Aufbau eines internationalen Überwachungssystems erforderlich, das satelliten- und luftgestützte Aufklärung ebenso umfasst wie Radaranlagen und Sensoren am Boden, die in den Weltraum gerichtet sind.11 Um die Verwendung von Weltraumraketen als ballistische Fernwaffen zu verhindern, muss auch die Überprüfung vor Ort an wichtigen Weltraumanlagen erfolgen, unter Einsatz zerstörungsfreier Messverfahren. Der Austausch von Informationen, etwa über Raketenstarts und Startgelände, ist eine weitere Quelle, um gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. Vorschläge zur verbesserten Raketenfrühwarnung und -überwachung wurden von der russischen Regierung mit ihrem globalen Raketenkontrollsystem vorgelegt und auch bei einem Rundtischgespräch in Ottawa im März 2000 diskutiert.12

Kontrolle der Raketenabwehr

Der ABM-Vertrag untersagt beiden Staaten den Aufbau einer landesweiten Raketenabwehr (Art. I), einschließlich Entwicklung, Erprobung und Stationierung (Art. V), bis auf 100 Abschussvorrichtungen an einem Ort und ein bis zwei Versuchsgebiete. Weitere Paragraphen untersagen, Nicht-ABM-Systeme mit einer »ABM-Fähigkeit« auszurüsten (Art. VI) sowie den Transfer von ABM-Technologien in andere Staaten (Art. IX). Nach der gemeinsamen Interpretation D sollen spezifische Begrenzungen auch für ABM-Systeme mit „anderen physikalischen Prinzipien“ Gegenstand von Gesprächen sein.

Der Vertrag ist doppelt unter Druck. Auf der einen Seite versucht die US-Führung seit Jahren, diesen Vertrag aufzuweichen oder gar abzuschaffen. Zum anderen untergraben neue rüstungstechnische Entwicklungen die Wirksamkeit des Vertrages, insbesondere phasengesteuerte oder mobile Radaranlagen, taktische Raketenabwehrsysteme (TMD: Tactical Missile Defense), Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) und »exotische« Technologien wie Laserwaffen. Daher bedarf der ABM-Vertrag der Anpassung an veränderte Gegebenheiten, nicht im Sinne einer weiten Interpretation, die die Grenzen des Erlaubten überdehnt, sondern zur Konkretisierung und Stärkung der Vertragsbestimmungen.

Um definitorische Probleme zu minimieren hatte FAS-Wissenschaftler John Pike schon auf dem Hamburger Kongress 1986 quantitative und überprüfbare Grenzen für die verschiedenen ABM-Komponenten vorgeschlagen. Diese betreffen etwa die Höhe, Vorbeiflugdistanz und relative Geschwindigkeit von Abfangversuchen; die Zahl und den Ort für große phasengesteuerte Radaranlagen; Grenzen für die Helligkeit von Lasern oder die Öffnungsweite von Sensoren oder Laserspiegeln.13 Physikalische Betrachtungen über mögliche Grenzziehungen für Laserwaffen und taktische Raketenabwehr finden sich in zwei Studien von Jürgen Altmann.14 Mit dem Demarcation Agreement gab Russland dem Drängen der USA teilweise nach, ihr TMD-Programm zu legitimieren, was dem US-Senat aber noch nicht weit genug ging. General Wladimir Jakowlew wollte der FAZ vom 14.11.2000 zufolge ein weiteres Einlenken in der Frage des ABM-Vertrages nicht ausschließen, was aber umgehend dementiert wurde.

Rüstungskontrolle im Weltraum

Ein wichtiger Beitrag nicht nur zur Stärkung des ABM-Vertrages, sondern auch zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum wäre das Verbot von Weltraumwaffen. Ballistische Raketen langer Reichweite fliegen durch den Weltraum und Raketenabwehrsysteme nutzen zu ihrer Bekämpfung den Weltraum. Auch wenn in den Konzepten eines begrenzten Raketenabwehrsystems zunächst nur der Einsatz einzelner Komponenten (insbesondere Sensoren) im Weltraum geplant ist, ergeben sich völkerrechtliche Fragen. Zum Ersten steht die Erprobung und Stationierung solcher Komponenten im Weltraum in Konflikt mit Art. V des ABM-Vertrages. Zum Zweiten könnten weltraumgestützte Komponenten zur Zielscheibe von ASAT-Waffen werden. Bei einem weiteren Ausbau von NMD ist auch die Stationierung von Waffen in einer Umlaufbahn nicht mehr ausgeschlossen. Letztlich kann jede Waffe, die eine ballistische Rakete oberhalb der Atmosphäre treffen kann, auch Satelliten zerstören. Besondere Aktualität bekommt dies durch die Pläne des US Space Command, die Dominanz der USA im All auch militärisch zu festigen und missliebige Weltraumobjekte anderer Staaten bei Bedarf abschießen zu können.

Dies widerspricht den Interessen der Völkergemeinschaft. Grundpfeiler des Weltraumrechts ist der Weltraumvertrag von 1967, einschließlich der Zusatzabkommen. Darin verpflichten sich die Staaten zur friedlichen Nutzung des Weltraums, die im Interesse aller Staaten erfolgen soll. Militärische Einrichtungen auf Himmelskörpern sind ebenso verboten wie Massenvernichtungswaffen in der Erdumlaufbahn, andere Waffen jedoch nicht. Der Wunsch zur friedlichen Nutzung kommt auch in vielen Resolutionen der Vereinten Nationen zum Ausdruck, so in der 1999 ohne Gegenstimmen (bei Enthaltungen der USA und Israels) angenommenen UNO-Resolution »Verhütung eines Wettrüstens im Weltraum«. Diese betont, „dass zur Verhütung eines Wettrüstens im Weltraum weitere Maßnahmen mit geeigneten wirksamen Verifikationsbestimmungen notwendig sind.“

Trotz überwältigender Zustimmung zu diesen Zielen hapert es mit der Umsetzung, denn weder die Genfer Abrüstungskonferenz noch der UN-Ausschuss für die friedliche Nutzung des Weltraums wollen oder können sich angesichts des Widerstands der USA dieser Frage annehmen. Ältere Initiativen gegen eine Bewaffnung des Weltraums sind die 1983 und 1984 vorgelegten Vorschläge Frankreichs und der Sowjetunion zum Verbot von ASAT bzw. zur Begrenzung von Weltraumwaffen. Die Union of Concerned Scientists erarbeitete Anfang 1983 einen Vertragsentwurf zum Verbot von Anti-Satellitenwaffen, der von deutschen Wissenschaftlern zu einem »Vertragsentwurf zur Begrenzung der militärischen Nutzung des Weltraums« erweitert und im Juli 1984 anlässlich des Göttinger Naturwissenschaftler-Kongresses gegen die Weltraumrüstung der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.15 Der Entwurf war im Herbst 1984 auf Initiative der SPD Gegenstand einer Bundestagsdebatte und fand die Unterstützung der Grünen, stieß aber auf Ablehnung der damaligen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP.

Verboten werden sollen Waffen gegen Weltraumobjekte (ASAT) und weltraumgestützte Waffen gegen beliebige Ziele, einschließlich Entwicklung, Test und Stationierung. Mit dem Testverbot könnte die Herstellung fortgeschrittener Weltraumwaffen noch verhindert werden. Stabilisierende Funktionen von Satelliten sollen durch den Entwurf nicht eingeschränkt werden; vorgeschlagen wird lediglich, die Benutzung weltraumgestützter Systeme zur direkten Lenkung von Nuklearwaffen und die Errichtung bemannter militärischer Kommandozentralen zu verbieten. Auch wenn der Göttinger Vertragsentwurf ein Kind seiner Zeit ist, bleibt das Anliegen relevant: die Risiken einer Rüstungsdynamik im Weltraum in überprüfbarer Weise zu verhindern.16

Anmerkungen

1) V. Falin: Die sowjetische Sicht der Ereignisse des Reykjavik-Gipfels, in: W. Kerby, R. Rilling (Hrsg.): Wege aus dem Wettrüsten, Marburg, 1987, S. 38.

2) J. Scheffran: Strategic Defense, Disarmament and Stability, Doktorarbeit, Marburg, IAFA, 1989. Darin finden sich Modellrechnungen und eine Literaturübersicht.

3) G.H. Canavan, E. Teller: Strategic defence for the 1990s, Nature, Vol. 344, 19 April 1990, pp. 699-704.

4) Siehe J. Scheffran, J. Altmann, W. Liebert: Keine Mauer zwischen Nord und Süd – SDI kann das Proliferationsproblem nicht lösen, Dokumentation der Frankfurter Rundschau, 9.4.1992; eine längere Version mit G. Neuneck, B. W. Kubbig und K. Fuchs findet sich in: Von SDI zu GPALS, Dossier Nr. 10, Wissenschaft und Frieden, 2/1992.

5) Widersprüchliche Signale zum ABM-Vertrag, FAZ, 14.11.00.

6) Vgl. J. Altmann, W. Liebert, G. Neuneck, J. Scheffran: Preventive Arms Control as a Prerequisite for Conversion of Military R&D, in: J. Reppy, V. Avduyevsky, J. Rotblat (eds.): Conversion of Military R&D, Macmillan Press, 1999, S. 255-271.

7) M. B. Kalinowski, W. Liebert, J. Scheffran: Ist die Zeit reif für die Nuklearwaffenkonvention?, Sicherheit und Frieden (S+F) 2/98, S. 108-114; IALANA/INESAP/IPPNW: Security and Survival. The Case for a Nuclear Weapons Convention, Cambridge, MA, 1999 (auf deutsch: Berlin 2000).

8) J. Scheffran, G. Neuneck: Schritte zur Abschaffung ballistischer Raketen, in: Wissenschaft und Frieden 13, 1/95, S. 30, 49-51; J. Scheffran: Raketenkontrolle: Verteidigen ist gut – Kontrolle ist besser, Spektrum der Wissenschaft, Sept.2000, S. 94-99.

9) Revisiting Zero Ballistic Missiles – Reagan's Forgotten Dream, in: F.A.S. Public Interest Report, May/June 1992; A. Frye: Zero Ballistic Missiles, Foreign Policy, No. 88, Fall 1992, S. 12-17.

10) Siehe U. Schelb: Raketenzielgenauigkeit und Raketenteststopp, Marburg, 1988; L. Lumpe: A Flight Test Ban as a Tool for Curbing Ballistic Missile Proliferation, INESAP Information Bulletin, No.4, January 1995, pp. 15-18.

11) J. Scheffran: Ein internationales Überprüfungssystem für die Nicht-Verbreitung und Abrüstung ballistischer Raketen, in: J. Altmann, G. Neuneck (Hrsg.): Naturwissenschaftliche Beiträge zu Abrüstung und Verifikation, DPG/FONAS, 1996, S. 260-288.

12) Ballistic Missiles Foreign Experts Roundtable Report, March 30-31, 2000, Canadian Centre for Foreign Policy Development, April 7, 2000.

13) J. Pike: Quantitative Begrenzungen von Raketenabwehrsystemen, Wissenschaft und Frieden, 88/1.

14) J. Altmann: Laserwaffen, Marburg, IAFA-Schriftenreihe Nr. 2, 1986; J. Altmann: SDI for Europe?, Frankfurt, HSFK Research Report 3/1998.

15) Siehe H. Fischer, R. Labusch, E. Maus, J. Scheffran: Entwurf eines Vertrages zur Begrenzung der militärischen Nutzung des Weltraums, in: R. Labusch, E. Maus, W. Send (Hrsg.): Weltraum ohne Waffen, München, Bertelsmann, 1984, S. 175-187. Auf englisch: Treaty on the Limitation of the Military Use of Outer Space, in: J. Holdren, J. Rotblat (eds.): Strategic Defences and the Future of the Arms Race, New York, St. Martin's Press, 1987. Ein neu kommentierter Diskussionsentwurf wurde von mir anlässlich des Göttinger Naturwissenschaftler-Kongresses zur Raketenabwehr am 4.11.2000 vorgelegt.

16) Optionen finden sich in: J. Scheffran: Rüstungskontrolle bei Antisatellitenwaffen – Risiken und Verifikationsmöglichkeiten, Frankfurt, HSFK-Report, Nr. 6, Okt. 1986; J. Scheffran: Die Überprüfbarkeit eines Abkommens zur Begrenzung von Anti-Satelliten-Waffen, in: B. Kubbig (Hrsg.): Die militärische Eroberung des Weltraums, Bd. 1, Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 418-447.

Dr. Jürgen Scheffran ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Universität Darmstadt und Redakteur von W&F

Warnung vor den Raketenabwehrplänen der USA

Warnung vor den Raketenabwehrplänen der USA

Plädoyer für ein europäisches »DiplomatieZuerst!«-Konzept

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Memorandum

Am 16. November 2000 haben auf Einladung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) Persönlichkeiten aus der Friedensforschung die Raketenabwehrpläne der USA diskutiert und ein Memorandum »Warnung vor den Raketenabwehrplänen der USA – Plädoyer für ein europäisches Diplomatie Zuerst!-Konzept« beschlossen. Zu den Unterzeichnern gehören: Prof. Dr. Ulrich Albrecht, FU Berlin, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK), Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Vorsitzender des Beirats der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), Prof. Dr. Horst Fischer, Bochum, Dr. Bernd W. Kubbig, Projektleiter in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Dr. Wolfgang Liebert, Sprecher der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit der Technischen Universität Darmstadt (IANUS), Prof. Dr. Dr. Dieter S. Lutz, Direktor des Instituts für Friedens- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Prof. Dr. Harald Müller, Geschäftsführendes Mitglied des Vorstandes der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Dr. Götz Neuneck, Vorsitzender des Forschungsverbundes Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS), Dr. Ulrich Ratsch, Stellvertreter des Leiters der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), Dr. Jürgen Scheffran, Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit der Technischen Universität Darmstadt (IANUS) und Dr. Herbert Wulf, Direktor des Bonn International Center for Conversion (BICC). Das Memorandum hat folgenden Wortlaut:

1. Unser Anliegen – unser Vorschlag im Überblick

Der neue Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird sich höchst wahrscheinlich bald für den Aufbau eines landesweiten Raketenabwehrsystems (National Missile Defense, NMD) entscheiden. Wir sind besorgt, dass ein solcher Beschluss zu einer neuen Runde des Wettrüstens führt – und damit weltweit nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Unsicherheit schafft. Davon ist auch die Bundesrepublik Deutschland gravierend betroffen. Darum melden wir uns zu Wort.

Mit unserer Besorgnis über die Einführung eines umfangreichen Abwehrsystems stehen wir nicht allein, wie die Reaktionen auf die Pläne der Vereinigten Staaten weltweit zeigen. Auch innerhalb der USA stoßen die Vorhaben auf Kritik. Wir sehen die Gefahr, dass politische Maßnahmen gegenüber militärischen Mitteln mehr und mehr ins Hintertreffen geraten und nicht ausgelotet werden, wenn es darum geht, die Proliferation (Verbreitung) von Massenvernichtungswaffen (Trägersysteme insbesondere mit atomaren, biologischen und chemischen Sprengköpfen) wirksam zu bekämpfen. Bei den militärischen Vorhaben geht es nicht nur um die Pläne zum Aufbau eines Nationalen Verteidigungsgürtels, sondern auch um vorschnell aufgestellte regionale Abwehrsysteme (Theater Missile Defense, TMD). Sie können leicht zu regionalen Rüstungswettläufen führen.

Vor diesem Hintergrund zielt unser »Diplomatie Zuerst!«-Vorschlag darauf ab, der Politik als Mittel zur Lösung insbesondere des Proliferationsproblems wieder zu ihrem Recht zu verhelfen und ihr den Vorrang einzuräumen. Die »Diplomatie Zuerst!-Initiative« richten wir insbesondere an den deutschen Außenminister und an die Mitglieder der verantwortlichen Parlamentsausschüsse.

Unser Vorschlag hat drei Dimensionen:

  • Erstens fordern wir vor allem die Bundesregierung auf, ihre diplomatischen Anstrengungen gegenüber Washington zu intensivieren. Das Hauptziel gegenüber der neuen US-Administration und dem neuen Kongress muss es sein, ein Nationales Raketenabwehrsystem wegen der absehbaren negativen Folgen zu verhindern. Der nach wie vor wichtige Raketenabwehr-Vertrag von 1972 (Anti-Ballistic Missile Treaty, ABM) muss in seiner jetzigen Substanz erhalten bleiben. Wir befürchten, dass die Schwächung oder gar die einseitige Aufkündigung des ABM-Abkommens durch die Vereinigten Staaten das gesamte Rüstungskontrollgebäude der letzten Jahrzehnte zum Einsturz bringt, insbesondere den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag. Der Prozess der nuklearen Abrüstung wäre nachhaltig gestört und würde möglicherweise zum Erliegen kommen. Washington ist auch in erster Linie angesprochen, wenn es darum geht, eine weitere Militarisierung des Weltraums zu beschränken. Aber auch Moskau und Beijing müssen stärker dazu gebracht werden, dass sie glaubwürdiger als bisher unter Beweis stellen, es ernst mit der Nichtverbreitung von Massenvernichtungsmitteln zu meinen.
  • Zweitens drängen wir im Rahmen der »Diplomatie Zuerst!«-Initiative darauf, durch den Ausbau eines internationalen Frühwarn- und Kontrollsystems für ballistische Raketen und Weltraumwaffen eine präventiv angelegte Rüstungskontrolle zu betreiben. Zu denken ist hier zum einen an Maßnahmen der Vertrauensbildung und Risikominderung, wie z.B. die rechtzeitige Meldung von Raketenstarts oder die getrennte Lagerung von Sprengköpfen und Raketen. Bedeutsam sind zum anderen eine Beschränkung oder gar ein Teststopp von bestimmten ballistischen Raketen sowie ein globales oder regionales Aufstellungsverbot für neue Raketen. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass diese Forderung aus gegenwärtiger Sicht nur schwer zu verwirklichen ist. Dies muss jedoch nicht für erste gezielte Schritte gelten.
  • Drittens fordern wir deshalb die Bundesregierung und den Bundestag auf, auf diesem langen Weg zusammen mit den europäischen Partnern eine »Diplomatie Zuerst!«-Initiative gegenüber einzelnen Problemstaaten zu starten. Länder wie Iran, Irak, Syrien und Libyen liegen in einer graduell nach Süden zu erweiternden »Sphäre europäischer Verantwortung«. Eine solche Initiative dürfte insbesondere gegenüber Iran gute Chancen haben, zu wirksamen Ergebnissen zu gelangen. Mit Blick auf den EU-Gipfel im Dezember in Nizza empfehlen wir, ein solches Konzept zu einem Kernelement der viel beschworenen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu machen.

2. Lagebericht: Stagnierende Abrüstung, bedrohliche Aufrüstung

Zum vielfach erhofften Aufschwung bei der Abrüstung ist es nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht gekommen. Die weltweite Verminderung der Rüstungspotenziale hat sich in einigen Bereichen deutlich verlangsamt, in anderen ist sie gar zum Stillstand gekommen. So hat der amerikanische Senat den Umfassenden Teststopp-Vertrag (CTBT) nicht ratifiziert, auch die Umsetzung der Chemiewaffen-Konvention kommt nur schleppend voran. Ein Abkommen zur weiteren Reduktion der strategischen Nukleararsenale in den Vereinigten Staaten und Russland auf rund je 1500 Sprengköpfe (START III) ist derzeit genauso wenig in Sicht wie ein Vertrag zur Beendigung der Produktion von atomwaffenfähigen Materialien (»Fissile Material Cut-off«) oder die Einbeziehung taktischer Nuklearwaffen in den Abrüstungsprozess. Die russische Duma hat zwar den START II-Vertrag verabschiedet, seine Umsetzung jedoch an Erhalt und Einhaltung des Raketenabwehr-Vertrages seitens der Vereinigten Staaten gekoppelt. Dieses Abkommen haben die damalige Sowjetunion und die Vereinigten Staaten 1972 abgeschlossen, um ein politisch wie finanziell kostspieliges Wettrüsten zwischen Raketen und Abwehrraketen zu vermeiden.

Zur vielfach paralysierten Abrüstung kommt der deutliche Gegentrend zur Aufrüstung im Kontext der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln hinzu. Die Nukleartests in Indien und Pakistan von 1998 und die Folgeentwicklung zeigen, dass diese zusätzlichen Kernwaffenstaaten im Begriff sind, ihre Potenziale auszubauen. Die Erprobungen der iranischen Shahab-Rakete verdeutlichen beispielhaft, dass einige Dritt-Welt-Länder dabei sind, ein Arsenal von Trägersystemen für Massenvernichtungswaffen zu entwickeln; große Teile der Türkei und andere Nachbarländer des Iran liegen bereits in der Reichweite der iranischen Shahab, die sich noch im Teststadium befindet.

Zum Gegentrend der Aufrüstung gehören auch die amerikanischen Pläne, ein landesweites Raketenabwehrsystem (NMD) aufzustellen. Dies bedeutet das Ende des ABM-Vertrages in seiner bisherigen Substanz und Form. Denn sein zentrales Anliegen ist es, die Stationierung eines solchen Systems und die Vorbereitungen hierfür zu verbieten. Mit dem geplanten NMD-Abwehrschirm soll das gesamte Staatsgebiet der Vereinigten Staaten vor einem begrenzten Raketenangriff geschützt werden – also vor einer Attacke mit einigen wenigen Langstreckenraketen, die entweder versehentlich von russischem Boden aus oder absichtlich von einem der Risikostaaten, wie beispielsweise Nordkorea, abgeschossen werden könnten. Um ihre Aufrüstungspläne zu verwirklichen, hat die Clinton-Administration in den Gesprächen mit Moskau angestrebt, die Vertragsinhalte gravierend zu verändern. Dabei ging vielen Republikanern in beiden Häusern des Kongresses bereits die Gesprächsbereitschaft der Clinton-Regierung zu weit. Sie forderten eine einseitige Aufkündigung des Vertrages, den auch die scheidende US-Administration als »Eckstein strategischer Stabilität« bezeichnet hat.

Die Zukunft des ABM-Vertrages ist nicht nur eine Sache der beiden Vertragsparteien. Seine Aufweichung oder gar sein Bruch werden weltweite Folgen haben, denen sich auch Europa nicht verschließen kann. Ein weiterer Rüstungsschub droht. Denn die amerikanischen Rüstungspläne haben zu heftigen internationalen Reaktionen geführt. Russland und China haben mit dem Ende des feinmaschigen Netzwerks von Rüstungskontrollabkommen und mit der Aufrüstung bei ihren Kernwaffenarsenalen gedroht. Das NMD-Programm, das für die Vereinigten Staaten Sicherheit stiften soll, hat globale Auswirkungen und führte zu einer Belastung der transatlantischen Beziehungen, da die meisten europäischen Staaten das amerikanische Vorhaben weitgehend ablehnen. Nicht nur die absehbaren negativen weltweiten Folgen betreffen die Europäer gravierend. Zumindest Großbritannien und Dänemark werden direkt durch die Pläne für die Umrüstung zweier NMD-Radarstationen in Fylingdales und Thule (Grönland) in das amerikanische Militärprogramm involviert sein. Die meisten europäischen Regierungen fürchten zu Recht, dass die Sicherheit auch auf dem Alten Kontinent stark beeinträchtigt wird.

3. Nach der amerikanischen Wahl: Optionen

US-Präsident Clinton hat am 1. September 2000 bekanntgegeben, dass er seinem Nachfolger die Entscheidung über die Stationierung des umstrittenen Systems überlässt. Clintons Beschluss, nichts zu beschließen, bedeutet aus heutiger Sicht nur eine begrenzte Hinauszögerung der historischen Entscheidung, ein Nationales Abwehrsystem aufzustellen. Denn die beiden Präsidentschaftskandidaten Al Gore und George W. Bush haben sich – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – für den Aufbau eines Abwehrsystems ausgesprochen.

Setzt der Demokrat Gore seine Wahlkampf-Rhetorik um, dann kommt es zu einem eher begrenzten System. Ein US-Präsident Gore würde wie sein Amtsvorgänger versuchen, die notwendigen Veränderungen des ABM-Vertrages möglichst einvernehmlich mit Russland zu erzielen. Macht der republikanische Kandidat George W. Bush seine Wahlkampf-Äußerungen wahr, dann ist mit einem umfassenderen Abwehrsystem zu rechnen. Er will einen mehrschichtigen Gürtel aufbauen und die US-Alliierten einbeziehen; Bush will weniger Rücksicht auf die Sorgen Russlands nehmen. In jedem Falle bleibt die Gefährdung des Raketenabwehr-Vertrages weiterhin real.

Von entscheidender Bedeutung wird die Zusammensetzung des ebenfalls neu gewählten Kongresses bleiben. Die entschlossenen NMD-Stationierer vor allem im Senat waren in den vergangenen Jahren der Motor der militärischen Abwehrpläne. Diese ideologische Gruppierung von Senatoren ist auch im neuen Kongress unvermindert stark vertreten. Es ist daher zweifelhaft, dass sich die geschrumpften Mehrheiten der Republikaner in Senat und Repräsentantenhaus automatisch auf eine rüstungskontrollpolitisch wünschenswerte Verlangsamung der amerikanischen Raketenabwehrpolitik auswirken. In jedem Falle wird es sich auch der 107. Kongress nicht nehmen lassen, die Politik des neuen Präsidenten und seiner Administration in diesem Bereich maßgeblich mitzubestimmen.

4. Nationale Raketenabwehrsysteme: Wenig wirksam und doch gefährlich

Wie immer das mehr oder minder stark veränderte NMD-Design der neuen Administration und ihr Zeitplan für Weiterentwicklung und Stationierung aussehen werden: Auch diese amerikanische Regierung muss die technischen Probleme, die bereits durch die Tests in der Clinton-Ära ans Tageslicht kamen, bewältigen. Im Falle eines umfassenderen und anspruchsvolleren Systems, das stärker als bisher Weltraumkomponenten einschließt, dürften die technischen Schwierigkeiten noch wachsen. In den USA sind bislang bereits deutlich mehr als 100 Milliarden Dollar für Raketenabwehr ausgegeben worden, seit den SDI-Plänen des Jahres 1983 rund 70 Milliarden. Bis heute wurde kein funktionsfähiges System stationiert. Zur Zeit werden jährlich etwa 4 Milliarden Dollar in Forschung, Entwicklung und Erprobung investiert. Nach Angaben des Congressional Budget Office werden für die NMD-Pläne der Clinton-Administration 60 Milliarden Dollar – ohne Weltraum-Konzepte – bis 2011 benötigt. Trotz der ausgegebenen großen Summen sind die technischen Ergebnisse kläglich. Von den 16 ab 1982 im Weltraum durchgeführten Abfangversuchen waren nur zwei erfolgreich – und das, obwohl sie unter extrem günstigen Versuchsbedingungen stattfanden, die mit der Realität eines möglichen tatsächlichen Raketenangriffs kaum etwas zu tun haben.

Insbesondere das fehlende Vertrauen in die Wirksamkeit der NMD-Technologie veranlasste den Präsidenten, seinen Stationierungsbeschluss zu verschieben. Kein militärischer Planer in den USA würde sich in einem Ernstfall auf einen derartig unzuverlässigen Abwehrschirm verlassen können. Unabhängig davon, wie erfolgreich die unter der neuen Regierung in Washington durchgeführten Versuche sein werden, wird jedes NMD-System mit gravierenden Herausforderungen von anderen Staaten konfrontiert sein. Eine im April 2000 von amerikanischen Wissenschaftlern veröffentlichte Studie zeigt u.a. drei verhältnismäßig einfache Gegenmaßnahmen auf, mit denen sich ein Abwehrsystem »überlisten« und »täuschen« lässt. Dies ist deshalb möglich, weil das Grundproblem, echte feindliche Sprengköpfe von bloßen Attrappen zu unterscheiden, nach wie vor völlig ungelöst ist:

  • Die betreffenden Länder können Bio- und Chemiewaffen, die in vielen kleinen Behältern (»submunition«) im Kopf der Rakete transportiert werden, einsetzen. Gegen diese vielen kleinen Ziele sind sowohl der landesweite Abwehrschirm als auch die regional aufzustellenden Raketenabwehrsysteme (Theater Missile Defense, TMD) machtlos. Ob andere Konzeptionen (etwa zum Abfangen in der Startphase durch seegestützte Waffen) dieses Problem lösen, lässt sich heute noch nicht sagen.
  • Im Innern von metallbeschichteten Ballons lassen sich Kernsprengköpfe unterbringen, die das Abwehrsystem nicht zu erkennen vermag. Diese Gefechtsköpfe können gemeinsam mit einer größeren Anzahl leerer Ballons freigesetzt werden, die die amerikanischen Abfangwaffen auf sich lenken.
  • Wird der Gefechtskopf innerhalb einer großen Wolke von kleinen Metallfäden freigesetzt, lässt sich eine genaue Ortung durch das Radar verhindern.

Bei diesen Gegenmaßnahmen handelt es sich, anders als bei den Abfangtechnologien, nicht um Reißbrett-Phantasien. Länder, die in der Lage sind, Trägersysteme und Gefechtsköpfe zu bauen, können auch derartige technische Gegenmittel verwirklichen. Hinzu kommt – und dies wird in der Diskussion oft übersehen –, dass Regierungen oder terroristische Vereinigungen, die die Vereinigten Staaten erpressen wollen, eine große Bandbreite von Möglichkeiten zur Verfügung hätten, gegen die Raketenabwehrsysteme nichts auszurichten vermögen. Hierzu gehören:

  • Die Stationierung von Kurzstreckenraketen oder Marschflugkörpern auf Frachtschiffen oder U-Booten in der Nähe des amerikanischen Territoriums, die mit A-, B- oder C-Sprengköpfen ausgerüstet sind,
  • deponierte Sprengladungen mit Massenvernichtungsmitteln auf Schiffen, die in amerikanischen Häfen zur Explosion gebracht werden können und
  • das Einschmuggeln dieser Waffen auf US-Gebiet.

Mit ihren grundsätzlichen Zweifeln an den NMD-Fähigkeiten und der Effizienz von Gegenmaßnahmen stehen unsere Naturwissenschaftler-Kollegen in den Vereinigten Staaten nicht allein. Auch die öffentlich zugänglichen Bedrohungsanalysen aller amerikanischen Geheimdienste (»National Intelligence Estimates«) weisen neuerdings auf die Bedeutung und die Machbarkeit derartiger Gegenmaßnahmen hin. Darüber hinaus betonen die Geheimdienstberichte die beträchtlichen Möglichkeiten, über die (sub-)staatliche Akteure mit Erpressungsabsichten verfügen.

Trotz der relativ leichten Möglichkeit, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, gehört es zu den Paradoxien der Militärpolitik, dass in einer Reihe von Ländern die langfristig kalkulierenden Militärplaner und Politiker von Szenarien des »schlimmsten Falles« ausgehen – sie bauen also in ihre Überlegungen ein, dass die Nuklearkapazitäten ihrer Länder, wenn nicht heute oder morgen, so doch übermorgen durch ein NMD-System bedroht sein könnten. Diese Praxis hat aber ein fortschreitendes Offensiv-Defensiv-Wettrüsten zur Folge.

Denn China mit seinem begrenzten strategischen Nukleararsenal von ca. 20 Interkontinentalraketen wird wahrscheinlich die US-Raketenabwehrsysteme zum Anlass nehmen, um sein Atomarsenal auszubauen. Denn, so das Kalkül in Beijing, selbst ein begrenztes Abwehrsystem der USA wird die eigenen Nuklearwaffen entwerten. Dies würde aller Wahrscheinlichkeit nach einen weiteren nuklearen Rüstungswettlauf in Südostasien provozieren. Eine Kettenreaktion von China über Indien und Pakistan, die bis zu Taiwan und Japan reichen könnte, ist zu befürchten.

China dürfte in der amerikanischen Raketenabwehrpolitik die zentrale Rolle spielen, auch wenn es in den offiziellen Begründungen kaum vorkommt. Die Vereinigten Staaten, die das »Reich der Mitte« mit beiden Abwehrvarianten offenbar militärisch eindämmen wollen, versprechen sich von NMD und TMD zusätzliche Handlungsmöglichkeiten, etwa im Konflikt zwischen der Volksrepublik und Taiwan. Wir sind der Auffassung, dass ein solcher erhöhter Aktionsspielraum zweifelhaft ist, denn der Zugewinn an Handlungsspielraum könnte durch die Gefährdung der regionalen Stabilität wieder zunichte gemacht werden.

5. Wesentlich: Der Erhalt des ABM-Vertrages

Wird das NMD-Vorhaben verwirklicht, muss der ABM-Vertrag aufgekündigt oder beträchtlich verändert werden. Er ist seit fast drei Jahrzehnten in Kraft und begrenzt die gegenwärtig erlaubte Raketenabwehr drastisch. Die Vertragspartner Vereinigte Staaten und Russland haben sich verpflichtet, „keine ABM-Systeme zur Verteidigung des Territoriums des eigenen Landes zu stationieren und keine Basis für solch eine Verteidigung vorzusehen.“ Der bilaterale Vertrag hat eine präventive Funktion, da er beide Vertragsparteien laut Artikel V (1) verpflichtet „keine ABM-Systeme oder Bestandteile zu entwickeln, zu erproben oder aufzubauen, die see-, luft- oder weltraumgestützt sind oder als bewegliches System landgestützt sind.“

Der ABM-Vertrag ist auch unter den veränderten internationalen Rahmenbedingungen ein wesentlicher Baustein im komplizierten Geflecht internationaler Abmachungen zur Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung nuklearer Waffen. Er ist daher weiterhin von substanzieller und politisch-symbolischer Bedeutung.

Obwohl der Ost-West-Konflikt beendet ist, besteht das nukleare Abschreckungssystem weiter, und zwar nicht nur im US-russischen Verhältnis, sondern auch im Hinblick auf China. Die Vertragskritiker, die das Abkommen für ein Überbleibsel aus der Zeit des ideologischen Antagonismus halten, übersehen diese Ungleichzeitigkeit. Insbesondere auf der Ebene der operativen Zielplanung haben sich Moskau und Washington (so unzeitgemäß dies ist) einander nach wie vor im Visier.

Selbst unter den stark veränderten internationalen Bedingungen lässt sich das gegenwärtige Abschreckungssystem noch verschlechtern. Eine »Kostprobe« hierfür enthalten die unlängst bekannt gewordenen US-Verhandlungsvorschläge gegenüber Moskau (so gen. Talking Points des amerikanischen Verhandlungsleiters John Holum). Befolgte Moskau die dort enthaltenen Empfehlungen, würde nicht nur der Prozess der Rüstungsverminderung ins Stocken geraten. Denn die Amerikaner legten ihren Verhandlungspartnern ferner nahe, ihre Atomwaffen im Zustand hoher Alarmbereitschaft zu halten. Für eine Krisensituation könnte sich diese Empfehlung als fatal erweisen.

Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Im Gegensatz zu den Gegnern des ABM-Vertrages schließen wir nicht aus, dass Moskau als Reaktion auf ein amerikanisches NMD-System finanzierbare Aufrüstungsmaßnahmen trifft. Das Argument, Russland sei hierzu wegen seiner bekannten wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht in der Lage, greift nicht. Denn die Wiedereinführung von Mehrfachsprengköpfen (MIRVs) ist nicht nur finanziell erschwinglich. Vielmehr ist sie stabilitätspolitisch äußerst problematisch. Sie bedeutet ferner das Ende des START II-Vertrages. Damit wird das in ihm enthaltene MIRV-Verbot für landgestützte Raketen – ein Meilenstein in der Geschichte der Rüstungskontrolle – ausgehebelt.

Fällt der ABM-Vertrag, erhöht sich das Risiko, dass auch andere Abkommen entwertet werden, die die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen einhegen wollen. Angesprochen ist hier insbesondere der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag. Die zunehmende Militarisierung der Nonproliferationspolitik der USA signalisiert eine sich verstärkende Abkehr von internationalen Normen. Von besonderer Bedeutung (wenn auch in der Diskussion weitgehend ignoriert) ist in diesem Zusammenhang der Ausbau des Nationalen Abwehrsystems mit dem Ziel, Abfangwaffen im Weltraum zu stationieren. Weltraumgestützte Komponenten können Zielscheiben von Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) werden, die wiederum militärische Gegenmaßnahmen herausfordern. Dies bedeutet ein Wettrüsten auch im Weltraum.

Die Konsequenzen einer Kündigung oder weitgehenden Aufweichung des ABM-Vertrags können als Einstieg in einen kontinuierlichen Aufbau von Raketenabwehrsystemen angesehen werden. Eine stetige quantitative und qualitative Weiterentwicklung ist absehbar. Nach der in den USA bislang geplanten letzten Aufbaustufe für das Jahr 2011 wären im Weltraum stationierte Waffensysteme der nächste Schritt.

Zudem könnten weitere Staaten versucht sein – gewissermaßen noch rechtzeitig – in eigene Nuklearpotenziale zu investieren, denn die beste Rückversicherung gegen den Aufbau eines zunächst begrenzten – oder gar nicht – wirksamen Raketenabwehrsystems der USA ist in der Denkweise nuklearer Abschreckung der Aufbau bzw. Ausbau eigener Nukleararsenale. Neue regionale Rüstungswettläufe können entstehen. Das Nichtverbreitungsregime insgesamt würde in Gefahr geraten.

Auch wenn Russland nicht gemäß der inneren Logik der nuklearen Rüstung reagieren würde oder könnte, wäre die schrittweise nukleare Abrüstung bedroht. Russland wird insbesondere aufgrund ökonomischer Gründe zwar gezwungen sein, seine Nukleararsenale weiter zu reduzieren, die untere Grenze der Nukleararsenale wird aber wesentlich bestimmt durch die Bedrohungspotenziale der nuklearen Konkurrenten. Jeder Kernwaffenstaat muss seine Zweitschlagsfähigkeit erhalten, um eine stabile Abschreckung zu gewährleisten. Bei Einführung von umfassender Raketenabwehr wird somit die schrittweise und tiefgreifende nukleare Abrüstung bedroht. Das Ziel der nuklearwaffenfreien Welt rückt in weite Ferne. Ein Prozess der vollständigen nuklearen Abrüstung ohne Gefährdung globaler strategischer Stabilität ist weit schwerer, bei der Existenz umfangreicherer Raketenabwehr vielleicht gar nicht organisierbar.

Deshalb plädieren wir entschieden dafür, den ABM-Vertrag in seiner jetzigen Substanz zu erhalten.

6. Das vernachlässigte Problem: Aufrüstung durch regionale Abwehrsysteme

Es wird in der gegenwärtigen Diskussion nicht ausreichend gesehen, dass es sich beim kontroversen National Missile Defense System nur um eine Variante der Raketenabwehr – und damit um eine Form der Aufrüstung – handelt. Erst ab der Jahreswende 1998/99 betonte die Clinton-Administration den Aufbau eines Nationalen Abwehrsystems. Sie tat dies aufgrund des Drucks von Seiten der Republikaner im Kongress. Er war nach dem Test der nordkoreanischen Rakete am 31. August 1998 beträchtlich angewachsen. Bis dahin hatte der Schwerpunkt der Clinton-Administration auf der zweiten Variante, den regional aufzustellenden Abwehrsystemen (Theater Missile Defense, TMD) gelegen. Sie sind gegen Mittel- und Kurzstreckenraketen ausgelegt. Beide Varianten können nicht isoliert voneinander gesehen werden.

Auch mit diesen regionalen Abfangraketen sind perspektivisch beträchtliche rüstungskontrollpolitische Probleme verbunden. Sie betreffen einerseits den ABM-Vertrag (und damit das amerikanisch-russische Verhältnis). Andererseits – und diese Gefahr ist einer der blinden Flecken der Debatte – können sie regionale Rüstungswettläufe anheizen, die Europa (und damit die Bundesrepublik) unmittelbar angehen.

Regionale Abfangsysteme (TMD), von denen die Vereinigten Staaten derzeit mehrere entwickeln, verletzen den ABM-Vertrag »im Prinzip« nicht. Denn das Abkommen von 1972 verbietet nur Abwehrwaffen, die sich gegen strategische Trägersysteme mit einer großen Reichweite richten. Allerdings besteht das Manko des Vertrages darin, dass er nicht definiert, was unter »strategisch« zu verstehen ist. In jahrelangen Verhandlungen einigten sich Moskau und Washington im September 1997 auf eine Definition, die die Grauzone teilweise schließt. Beide Seiten legten fest, welche Waffen als strategisch und damit als verboten gelten und welche Systeme als sub-strategisch (taktisch) bezeichnet werden können und damit erlaubt sind (so gen. Demarcation Agreement, das im Übrigen nur die russische Duma ratifiziert hat und das dem US-Senat zur Verabschiedung bisher nicht vorliegt).

Allerdings konnten sich beide Seiten nicht auf die Kategorisierung der so genannten seegestützten Navy Theater Wide-Systeme einigen. Die Russen sehen sie wegen ihrer Reichweite als strategisch und damit als nicht erlaubt an; aus der Sicht der Amerikaner sind diese seegestützten Potenziale als taktisch einzustufen und verstoßen damit nicht gegen den ABM-Vertrag. Ein weiteres Problem kommt hinzu, das der Streit um dieses Theater Wide System der amerikanischen Marine beispielhaft deutlich macht. Die Unterscheidung zwischen taktisch und strategisch verschwimmt – und zwar in dem Ausmaß, in dem die ursprünglich gegen Mittelstreckenraketen einzusetzenden Abfangwaffen im Laufe der Zeit so verbessert werden, dass sie auch strategische Systeme vernichten können. Perspektivisch – und dies ist die auch von China geäußerte Sorge – ließen sich die landesweite NMD-Variante und die regionalen TMD-Varianten zu einem umfassenden System integrieren.

Insgesamt ist es uns wichtig, festzustellen: Die Waffensysteme, auf die sich Washington und Moskau im Demarcation Agreement 1997 geeinigt haben, sind nicht per se die »guten«, weil mit dem ABM-Vertrag vereinbar gemachten Systeme. Denn die Aufstellung von taktischen Abwehrwaffen etwa in Asien, im Nahen Osten, Persischen Golf oder in Europa bedeutet ein weiteres Drehen an diesen regionalen Rüstungsspiralen. Dies gilt es durch Initiativen, die den Primat auf die Diplomatie setzen, zu vermeiden.

7. Notwendig und erfolgversprechend: Eine europäische »Diplomatie Zuerst!«-Initiative

Erste Dimension: Vorschläge zur Rüstungsbeschränkung und -verminderung

Die Europäer sollten die Vereinigten Staaten auf den Erhalt des ABM-Vertrages drängen und auch der neuen US-Administration klar machen, wie wichtig es ist, die europäischen Sicherheitsbelange und die Sorgen Moskaus ernst zu nehmen. Dies heißt auf das NMD-Projekt zu verzichten oder ein System zu entwickeln, das mit dem ABM-Vertrag in seiner jetzigen Form vereinbar ist. Ebenso sollte die Weiterentwicklung luft- und weltraumgestützter Lasersysteme unterbunden werden, um nicht einer weiteren Militarisierung des Weltraums Vorschub zu leisten. Als Basis für entsprechende deutsche und europäische Initiativen bietet sich die 1999 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen nahezu einstimmig angenommene Resolution »Verhütung eines Wettrüstens im Weltraum« an.

Vor dem Hintergrund der Entwicklung neuer destabilisierender Waffentechnologien, der zunehmenden Verwundbarkeit moderner Industriegesellschaften und der beschleunigten Verbreitung militärisch relevanter Technologie erscheint es nötig zu sein, vorbeugende Rüstungskontrollmaßnahmen zu etablieren. Wichtig ist hierbei die Kontrolle besonders gefährlicher Waffensysteme bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt. Dabei sollte vor dem Beschaffungsprozess, möglichst in der Phase von Forschung und Entwicklung, angesetzt werden. Ein Gesamtkonzept vorbeugender Rüstungskontrolle, das die technologische Dynamik in den Blick nimmt und in die Rüstungskontrollbemühungen integriert, erscheint notwendig. Der ABM-Vertrag stellt einen Baustein dieses geforderten neuen Konzepts dar.

Es bleibt abzuwarten, ob sich die Kreml-Führung für einen Kompromiss mit der neuen US-Administration entscheidet. Würde der ABM-Vertrag doch gemäß dem Wunsch Washingtons abgeändert und gleichzeitig weitere nukleare Abrüstung vereinbart, so wären einige offensichtliche Probleme auf diplomatischer Ebene möglicherweise gelöst. Andere – insbesondere ein Rüstungsschub in Asien – dürften sich verschärfen. Denn China steht einem solchen US-russischen Kompromiss ablehnend gegenüber, da er das amerikanische Militärvorhaben legitimieren würde.

Zweite Dimension: Vorschläge zum Ausbau eines internationalen Frühwarn- und Kontrollsystems für ballistische Raketen und Weltraumwaffen

Die Europäer – und damit die Berliner Regierung – sollten bei der Moskauer Führung nicht nur auf eindeutige Abrüstungsmaßnahmen drängen. Darüber hinaus sollten sie – wie auch gegenüber Beijing – entsprechende aktive Schritte für eine entschiedene und konstruktive Nichtverbreitungspolitik einklagen. Hier ergibt sich zunächst der Befund, dass mit Exportkontrollen der Lieferländer von Raketentechnologie allein (etwa im Rahmen des Missile Technology Control Regime, MTCR) die Verbreitung der Raketentechnik für militärische Zwecke nicht verhindert, sondern allenfalls verlangsamt werden kann. Deshalb sind weitergehende Schritte notwendig.

Zur erforderlichen gemeinsamen Strategie zur internationalen Eindämmung der Raketenproliferation und zur Vertrauensbildung gehören aus unserer Sicht Maßnahmen zur Erhöhung der Krisenstabilität; gemeinsame Frühwarnsysteme für versehentliche Raketenstarts; die Vorabmeldung von Satellitenstarts und Startanlagen sowie die getrennte Lagerung von Sprengköpfen und Raketen. Hieran sollten sich weitergehende Maßnahmen anschließen – etwa eine Beschränkung oder gar ein Teststopp bestimmter Raketentypen, oder ein Aufstellungsstopp für neue ballistische Flugkörper. Hierfür könnte der Mittelstreckenraketen-Vertrag von 1987, der eine ganze Waffenkategorie mit einer Reichweite von 500 bis 5500 km verbot, als Modell dienen. Einige dieser Forderungen sind derzeit möglicherweise schwer zu verwirklichen. Das Fernziel sollten wir dennoch nicht aus den Augen verlieren: Die Schaffung raketenfreier Zonen und die hiermit verbundene dauerhafte Etablierung der internationalen Norm gegen ballistische Waffensysteme.

Dritte Dimension: Vorschläge zur Einrichtung eines beständigen Dialogforums mit Problemstaaten

Um in Washington, Moskau und Beijing ernst genommen zu werden, muss sich Europa durch einen eigenständigen, sichtbaren und politisch erfolgversprechenden Beitrag zur Bekämpfung der Weiterverbreitung von Trägersystemen und Sprengköpfen als glaubwürdiger Akteur positionieren. Hier sind die diplomatischen Initiativen Europas gegenüber denjenigen Ländern angesprochen, die in Nordafrika, im Nahen Osten und in der Persischen Golfregion eine Bedrohung darstellen können. Gefragt sind hier langfristige Konzepte im Rahmen einer »Diplomatie Zuerst!«-Initiative. Sie kann gleichermaßen dazu dienen, das Fernziel internationale Abrüstung zu fokussieren und kleinschrittig anzugehen.

Wir fordern die Bundesregierung und die zuständigen Ausschüsse im Bundestag auf, hier mit einer vorbeugenden Politik aktiv zu werden. Die derzeitigen europäischen Rahmenbedingungen sind für die Entwicklung und die Umsetzung eines solchen Konzepts günstig. Denn mit ihrer Kritik an den amerikanischen NMD-Plänen und mit ihrer geäußerten Besorgnis über weitere globale und regionale Rüstungsschübe gibt es einen großen gemeinsamen Nenner unter den europäischen Regierungen. Dies bedeutet gleichzeitig, die offiziellen Gründe der USA für den Ausbau eines Nationalen Verteidigungssystem konstruktiv anzugehen – und sie mit politischen Mitteln gegenstandslos zu machen, zumindest aber sichtlich zu entschärfen.

Die Chancen für einen durch den Primat der Politik ausgezeichneten Ansatz halten wir auch deshalb für groß, weil die offiziellen Bedrohungsanalysen in gewisser Weise Entwarnung geben, was das Tempo der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln anbelangt. Der damalige CIA-Direktor William Webster hatte 1989 für das Jahr 2000 mehr als 15 Staaten mit einem entsprechenden Potenzial von Raketen vorausgesagt. In ihren Einschätzungen aus jüngster Zeit nennen sowohl der Bundesnachrichtendienst als auch die »National Intelligence Estimates« der USA nur eine Handvoll von Ländern, die auf absehbare Zeit in puncto Massenvernichtungswaffen problematisch sind. Es sind neben Nordkorea vor allem Iran, Irak, Syrien und Libyen. Diese auf wenige Länder konzentrierte – also gerade nicht diffuse – Bedrohung stufen die US-Analysen zudem noch ab („real“, „(höchst) wahrscheinlich“, „möglich“). Die europäische Initiative müsste – und könnte – entsprechend zielgerichtet ausgelegt werden.

Ihr konzeptioneller Kern ist, dass sie auf einen institutionalisierten Dialog mit diesen Staaten setzt. Deshalb ist es erforderlich, im EU-Rahmen ein hierfür zuständiges Forum einzurichten. Es sollte in der Bürokratie der Europäischen Union hoch angesiedelt sein, etwa im Kompetenzbereich von »EU-Außenminister« Javier Solana, der über Aktivitäten, Fortschritte und Probleme in regelmäßigen Abständen öffentlich berichten müsste. Nur so wird die EU als Akteur sichtbar. Gesprächsgegenstand des Forums dürften von europäischer Seite die sicherheitspolitischen Sorgen und von Seiten der Problemstaaten die vorgebrachten (möglicherweise primär regional verursachten) Motive für ihre Aufrüstung sein.

Die folgenden Ergebnisse des Dialogforums sind denkbar:

  • In den Problemstaaten könnte die Motivation für einen Verzicht auf relevante Entwicklungen im Bereich von Massenvernichtungswaffen durch attraktive Kooperationsangebote erhöht werden.
  • Anstreben ließen sich im Sinne eines Tauschhandels nachprüfbar begrenzte Reichweiten der Raketen gegen Wirtschaftshilfe oder einen Ausbau der Handelsbeziehungen.
  • Ein Angebot zur Partizipation an zivilen europäischen Programmen zur Weltraumnutzung könnte den Verzicht auf eigene Anstrengungen zur eigenständigen Entwicklung von Trägersystemen erleichtern, die sich auch militärisch nutzen ließen.
  • Das Angebot zur Kooperation im Bereich regenerativer Energietechnologien könnte mit dem Verzicht auf den Zugriff auf sensitive Nukleartechnologien, die für Atomwaffenprogramme wesentlich sind, gekoppelt werden. Deutschland ist zur Zeit mit einigen anderen europäischen Ländern Vorreiter bei der zunehmenden Entwertung der Rolle der Nuklearenergie als nachhaltiger Zukunftsoption.
  • Weitere gemeinsame Programme im Bereich Wissenschaft und Forschung aber auch im Bereich Landwirtschaft, Stadtplanung, Umweltmonitoring etc. sind auszuloten.

8. Zukunftsweisend: Ein europäisches Engagement für die Umsetzung der »Diplomatie Zuerst!«-Initiative

Wir, die Unterzeichner, sind der Auffassung, dass eine am Primat der Politik ausgerichtete Initiative konzeptionelle Vorteile gegenüber dem Ansatz der USA hat, die mehr und mehr auf technische Lösungen und Waffen setzen, um das Problem der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln in den Griff zu bekommen. Unsere Vorschläge

  • setzen auf nicht-militärische Kooperation und Einbindung – und nicht auf Unilateralismus und Ausgrenzung;
  • entwerten gerade nicht die durch die Raketenabwehrpolitik der USA bedrohten, mühsam geschaffenen und über Jahrzehnte am Leben erhaltenen bilateralen (ABM-Vertrag) sowie internationalen Abkommen (Nuklearer Nichtverbreitungsvertrag, Raketentechnologie-Kontrollregime);
  • erweitern die Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle durch zusätzliche Initiativen zur präventiven Begrenzung gefährlicher Rüstungstrends auf der Erde und im Weltraum, anstatt Aufrüstung zu forcieren;
  • sind insofern selbstbewusst, als sie andere Gewichte als die USA setzen. Und doch sind sie gleichzeitig in hohem Maße bündnisverträglich. Denn die diplomatischen Schritte, die wir am Beispiel Iran vorschlagen, führen die Vereinigten Staaten gegenüber Nordkorea bereits mit Erfolg durch (aber eben auf diesen Einzelfall beschränkt, und nicht systematisch und auf breiter Basis). Hinzu kommt, dass ein stärkeres Engagement der Europäer eine glaubwürdige Antwort auf die Forderung vieler moderater US-Senatoren nach einer sichtbaren und glaubwürdigen europäischen Anstrengung im Nonproliferationssektor darstellt. Eine Initiative, die den bisherigen Erfolg der amerikanischen Nordkorea-Politik in der eigenen regionalen »Sphäre europäischer Verantwortung« auslotet, ist daher nicht »anti-amerikanisch«, die Gefahr einer europäischen Abkopplung von den USA ergibt sich ebenfalls nicht. Wohl aber macht sich das Konzept den Wettbewerbsvorteil Europas zu eigen; denn dem Alten Kontinent haftet nicht das Bild des »Großen Satans« an.

Mit seinem Fokus auf den Erhalt existierender Rüstungskontrollabkommen und dem notwendigen Ausbau vor allem präventiv angelegter Maßnahmen übernimmt Europa deutliche Verantwortung in einem Bereich, den die Vereinigten Staaten in den letzten Jahren vernachlässigt haben. Europa wird dabei nicht zum politischen Lückenbüßer, sondern zum konzeptionellen Mitgestalter. Auch mit dem Blick auf eine »Sphäre der Verantwortung« (Nordafrika, Naher Osten/Persische Golfregion) zeigt sich Europa als sichtbarer Akteur im Politikbereich Nonproliferation und vorbeugender Rüstungskontrolle.

Wir fordern die Bundesregierung und den Bundestag auf, die derzeitigen günstigen Umstände entsprechend zu nutzen. Die Überprüfung der bisherigen Raketenabwehrpolitik durch die neue US-Administration gibt den Europäern noch etwas Zeit. Hinzu kommt, dass der EU-Gipfel im Dezember in Nizza dazu genutzt werden sollte, den von führenden Politikern wie Jacques Chirac, Hubert Védrine und Joschka Fischer oft beschworenen deutsch-französischen Motor auf diesem wichtigen Politikfeld in Gang zu setzen. Eine vom Primat der Politik angeleitete Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungsstrategie ist über die »Avantgarde-Gruppe« hinaus bündnisfähig. Nach dem NMD-kritischen Bericht des Auswärtigen Ausschusses im britischen Unterhaus lassen sich auch in Großbritannien »inhaltliche Alliierte« finden.

Die Forderung nach gemeinsamen großen Projekten steht auf der europäischen Agenda, inhaltlich ist sie aber bisher weitgehend leer geblieben. Eine gemeinsame »Diplomatie Zuerst!«-Initiative könnte der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Façon und Schwung verleihen. Sie würde Europa als eigenständigem und doch kooperationsbereitem Akteur Profil geben, drohende Rüstungswettläufe konstruktiv anzugehen und zu vermeiden.

Der Traum von der Unverwundbarkeit

Der Traum von der Unverwundbarkeit

von Paul Schäfer

Wie sich die Zeiten ändern. Früher galt die Bundeswehr als Kriegsverhinderungsarmee – heute ist sie nach Scharping, Kujat und Angelika Beer eine Einsatzarmee.

Die alte Bundesrepublik hielt sich die Kultur (militärpolitischer) Zurückhaltung zugute – heute sind wir in Sachen Interventionsfähigkeit „in der Nato (…) auf der Überholspur“, wie der Inspekteur des Heeres schwärmerisch zu berichten weiß. Für die neue Eingreiftruppe der Europäischen Union stellt Deutschland das größte Kontingent, insgesamt mehr als ein Fünftel der Truppe.

Früher wollte ein konservativer Bundeskanzler „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ – heute werden militärische Beschaffungsprogramme im Umfang von weit über 200 Milliarden DM für die nächsten fünfzehn Jahre aufgelegt.

Nach der Kosovo-Kriegsbeteiligung, die der Bundesrepublik Deutschland einen deutlichen Zugewinn an Macht und Einfluss gebracht hat, sprießen die außenpolitischen Gestaltungsfantasien der Eliten hierzulande immer üppiger. Von wegen Begrenzung auf Europa. Minister Scharping hat auf dem Bundeswehr-Forum der Welt am Sonntag (September 2000) im militärtypischen Verschleierungsjargon formuliert: „Ob der Nahe und Mittlere Osten, der Kaspische Raum, Süd- oder Ostasien oder das von Kriegen und humanitären Katastrophen geschüttelte Afrika – gewaltige Instabilitäten gefährden die regionale, aber auch globale Sicherheit. Unsere politischen und sicherheitspolitischen Ressourcen müssen wir auch an anderen Stellen dieser Welt in regionalpolitische Lösungsansätze einbringen.“

Die Bundesrepublik Deutschland ist dabei voll im Trend. Die Bevorzugung einer auf militärische Macht gestützten Außenpolitik ist allenthalben unverkennbar. Während die Bewältigung der Umweltkrisen auf der Stelle tritt, die Armutsbekämpfung nicht richtig vorankommt, sind Erfolgsmeldungen über den Ausbau der »sicherheitspolitischen Ressourcen« an der Tagesordnung. Die NATO verfolgt energisch ein weitreichendes Rüstungsmodernisierungsprogramm (Defense Capability Initiative) und die EU hat gerade die Einzelheiten für die Aufstellung einer Schnellen Eingreiftruppe beschlossen.

Dabei sieht sich der frühere Hauptfeind gerade genötigt, die Armee um weitere 600.000 Angehörige zu verkleinern. Zur Verteidigung wird die von der Bundesregierung vorgesehene 280.000 Mann/Frau-Armee nicht mehr benötigt.

Die Dekade der blutigen Balkankriege scheint vorbei. Die Quasi-Protektorate der NATO in Südosteuropa indes müssen aufrechterhalten bleiben. Ist das das Modell »Zukunft« auch für andere Regionen?

Die auf militärische »Machtprojektion« verengte Sicherheitspolitik bringt alles andere als Stabilität. Ressourcen werden gebunden, die für die wirkliche, sprich ökonomische, öko-logische, gesellschaftliche Stabilisierung der Konfliktregionen dringend gebraucht würden. Die »subalternen« Länder des Südens werden die Ungleichgewichte korrigieren wollen – indem sie mit gleicher Münze heimzahlen und sich militärisch wappnen. Dies wiederum wird als Bedrohung in den Industriemetropolen empfunden. Der klassische Fall einer Rüstungsspirale.

Wer in der Logik militärischer Abschreckung befangen ist, wird immer dafür sorgen wollen, eine möglichst große Überlegenheit zu erringen. »Eskalationsdominanz« soll ein Optimum eigener Handlungsfreiheit sichern. Das US-amerikanische Projekt einer Nationalen Raketenabwehr folgt dieser Logik: sich einen Schutzschild zulegen, um unbegrenzt schlagen zu können. Die genuin US-amerikanischen Konnotationen – der Traum von der Unverwundbarkeit nach dem Trauma von Pearl Harbour – sind das eine, die militärstrategischen Voraussetzungen das andere. Und in diesem Fall gehören National Missile Defense und Theater Missile Defense zusammen. Die Raketenabwehr auf dem Kriegsschauplatz soll den möglichst reibungslosen Einsatz der NATO/EU-Interventionstruppen garantieren: Unverwundbarkeit »im Konkreten«, die ebenfalls die Hemmschwelle für den Einsatz militärischer Gewalt senkt.

Dabei erscheint die nationale Raketenabwehr der USA um einiges gefährlicher, weil sie zu weltpolitischen Verwerfungen und Konfrontationen führen kann, deren Ausgang unwägbar scheint. Natürlich können China und Russland der Entwertung ihrer Nukleararsenale nicht tatenlos zusehen. Sie werden ihre Sprengköpfe aufstocken. Wenn die allgemeine Atomabrüstung auf den St. Nimmerleinstag verschoben wird, werden auch die de-facto-Atommächte Indien und Pakistan ihre Zurückhaltung aufgeben. Die Folgen wären alles andere als beruhigend.

Sich gegen die Pläne einer US-Raketenabwehr zur Wehr zu setzen, wird jetzt eine vorrangige Aufgabe. Zugleich sollten wir nicht die Raketenabwehrprogramme im Rahmen der NATO, wie MEADS, aus den Augen verlieren. Auch hier gilt es NEIN zu sagen!

Paul Schäfer