Gestern Iran, heute Russland und morgen fünf Mrd. Euro?

Gestern Iran, heute Russland und morgen fünf Mrd. Euro?

von Regina Hagen

Seit Jahren wird argumentiert, ballistische Raketen stellten eine ernstzunehmende Bedrohung für Europa dar, wogegen nur der Aufbau von Abwehrsystemen helfen könne. Die USA stationierten bereits schiffbasierte Systeme im Mittelmeer; eine deutliche Ausweitung zur See und zu Land ist bis 2020 geplant. Ziel der Abwehr ist laut Präsident Obama, in Europa stationierten US-Truppen ebenso wie Verbündete und Freunde vor der „iranischen Raketenbedrohung“ zu schützen.

Die NATO folgt der gleichen Logik und setzt ein eigenes Raketenabwehrsystem um, das mehrschichtig strukturiert und flexibel verlegbar sein soll. Vorhaltungen der russischen Regierung, die Bedrohung durch Iran sei ein vorgeschobenes Argument für den Aufbau dieser Systeme, werden stets mit der Bemerkung vom Tisch gewischt, sie richteten sich nicht gegen Russland. Das mag so sein – oder auch nicht. In einer detaillierten Studie wiesen die MIT-Wissenschaftler Yousaf Butt und Ted Postol bereits 2011 nach, das NATO-System könnte in der geplanten Endausbaustufe durchaus gegen russische (und chinesische) Interkontinentalraketen eingesetzt werden.

Deutschland ist in mehrfacher Hinsicht in Raketenabwehr verstrickt: Als NATO-Mitglied trägt es die Pläne des Atlantischen Bündnisses mit, als Gastland ermöglicht es den Betrieb wichtiger Militärbasen in Ramstein (u.a. Kommandozentrale für die europäische US-Raketenabwehr) und in Uedem nahe Kalkar (u.a. Kommandozentrale für die NATO-Raketenabwehr), und steht mal wieder eine Entscheidung über ein eigenes Abwehrsystem an.

Das Flug- und Raketenabwehrsystem »Medium Extended Air Defense System« (MEADS) soll die momentan in der Türkei stationierten Patriots der Bundeswehr ablösen. Es soll vor ballistischen Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen schützen und war ursprünglich als US-deutsch-italienisches Kooperationsprojekt ausgelegt. Seine Fertigstellung war eigentlich für 2012 geplant, inzwischen sind aber die beiden Partnerländer abgesprungen: MEADS sei viel zu teuer, überflüssig und nicht für die vorgesehenen Aufgaben geeignet. Nur bei uns ist MEADS der ewige Widergänger: „Die Bundesrepublik Deutschland steht im Rüstungsbereich vor einer großen Weichenstellung, die den Steuerzahler weit mehr als fünf Mrd. Euro kosten dürfte“, schrieb der Friedensforscher Bernd Kubbig in seinem jüngsten HSFK-Report zum Thema, »Die Abwehrwaffe MEADS auf dem parlamentarischen Prüfstand«. Dort erwähnt er auch, Deutschland habe in den vergangenen Jahren bereits mehr als 1,2 Mrd. Euro für MEADS ausgegeben. Mitte 2015 soll nun die endgültige Entscheidung fallen. Industrieunternehmen und, wie Kubbig sagt, „[e]ine koalitionsübergreifende Gruppierung von Parlamentariern“ machen Druck, „einen Grundsatzbeschluss über die weitere Entwicklung und die Beschaffung des militärischen Mega-Vorhabens MEADS […] herbeizuführen“.

Dabei steht die Raketenabwehr-Lobby vor einem ganz neuen Problem: Mit dem kürzlich geschlossenen Rahmenabkommen und der Aussicht auf eine umfassende und langfristige Lösung des Streits um das iranische Nuklearprogramm scheint die iranische Bedrohung Europas, so sie denn je bestand, wegzufallen. Da kommt die Frostperiode mit Russland im Zuge der Ukraine-Krise gerade recht. Riki Ellison, Vorsitzender der Missile Defense Advocacy Alliance, betonte unmittelbar nach Abschluss des Rahmenabkommens mit Iran: „Heute kommen die direkten Bedrohungen mit ballistischen Raketen und Marschflugkörpern in Europa von Russland.“ Er empfiehlt, die europäische Raketenabwehr gezielt gegen Russland auszurichten und die von ihm ausgemachte „Fähigkeitslücke in den NATO-Ländern“ rasch zu schließen. Der Tonfall erinnert deutlich an die Nachrüstungsdebatte der 1980er Jahre.

Für die andere Seite stellt sich die Bedrohungslage anders dar. Der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow warnte jüngst, die USA seien mit ihren Plänen dabei, „in ihrem Drang nach Weltdominanz das aktuelle System internationaler Sicherheit zu zerstören“. Unmissverständlich wies er darauf hin, dass „die Nicht-Atomwaffenländer, die Raketenabwehrelemente beherbergen, zu Prioritätszielen für unsere Gegenmaßnahmen“ würden. Davon betroffen wären aktuell Dänemark und die Türkei (Radarstationierung), Rumänien und Polen (Stationierung von US-Systemen in Diskussion) und Spanien (europäischer Heimathafen für Raketenabwehrschiffe im Mittelmeer); Deutschland mit Ramstein und Uedem zählt sicherlich auch dazu, ebenso (das allerdings selbst Atomwaffen besitzende) Großbritannien mit seinen wichtigen Standorten Menwith Hill und Fylingdales.

Anders als in den USA oder in Großbritannien, wo sich zahlreiche Basisgruppen, Think-Tanks und Experten mit Raketenabwehr befassen, sind die am Thema Interessierten im übrigen Europa rar, in Deutschland fast an einer Hand abzuzählen. Das eklatante Desinteresse ändert sich auch nach der leichthändigen Verschiebung der Bedrohungsanalyse weg vom Iran, hin zu Russland wohl kaum. Und die anstehende Fünf-Milliarden-Euro-Entscheidung des Bundestages ist in der Öffentlichkeit erst gar nicht bekannt. Wie soll ich das verstehen?

Ihre Regina Hagen

Raketenabwehr in Europa

Raketenabwehr in Europa

Theaterdonner oder Rückkehr des Kalten Krieges?

von Christian Alwardt, Hans Christian Gils und Götz Neuneck

Auf ihrem Lissabon-Gipfel im November 2010 hatten die NATO-Mitglieder im neuen »Strategischen Konzept« festgelegt, eigene Raketenabwehr-Fähigkeiten zu entwickeln, „um die Bevölkerung und Territorien“ der Allianz gegen Angriffe mit ballistischen Raketen zu schützen. Die europäischen NATO-Partner haben sich damit nach einer jahrzehntelangen Debatte entschlossen, Raketenabwehr (Ballistic Missile Defense, BMD) als neue Kernkomponente in ihre zukünftige Sicherheitsstrategie aufzunehmen. Im Rahmen eines Überprüfungsprozesses (Defense and Deterrence Posture Review) soll nun der richtige Mix aus nuklearen und konventionellen Streitkräften unter Einbeziehung von BMD erarbeitet werden. Eine konkrete Bedrohung wird im Strategischen Konzept nicht aufgeführt, die Weiterverbreitung ballistischer Raketen wird aber allgemein als wachsende Gefahr aufgeführt. Die Nennung Irans, das ein ambitioniertes Raketenprogramm betreibt, wurde von der Türkei verhindert. Die prinzipielle politische Entscheidung für eine territoriale NATO-BMD zieht diverse politische, finanzielle und technische Konsequenzen nach sich, die bisher noch nicht abzusehen sind.

Die Russische Föderation wurde von der NATO auf dem Lissabon-Gipfel zur Kooperation auf dem Sektor der Raketenabwehr eingeladen, und zwischen den USA und Russland, aber auch im NATO-Russland-Rat, werden seitdem Gespräche über die Möglichkeiten einer BMD-Zusammenarbeit geführt. Politiker wie Wissenschaftler aus den USA, Russland und Europa haben Vorschläge für ein gemeinsames BMD-Projekt ausgearbeitet. Demgemäß sollten die Fähigkeiten schrittweise aufgebaut oder zusammengeführt werden. Zunächst sollten zwei Zentren in Westeuropa und Russland eingerichtet werden, in denen Bedrohungsszenarien analysiert, Daten ausgetauscht, und gemeinsame Übungen vorbereitet und durchgeführt werden.1 Der russische Außenminister Lawrow hatte zusätzlich völkerrechtliche und überprüfbare Verpflichtungen der NATO gefordert, die sicherstellen, dass die strategischen Nuklearstreitkräfte Russlands nicht durch eine zukünftige NATO-BMD unterminiert werden. Trotz hoffungsvoller Signale konnte eine Einigung bisher nicht erreicht werden.

Ist das neue NATO-BMD-Projekt aber tatsächlich eine Bedrohung für Russland, und ist es eine adäquate Antwort auf Bestrebungen des Iran? Wird das strategische Arsenal Russlands durch das europäische BMD-Projekt wirklich unterminiert, und ist der vor kurzem reanimierte Rüstungskontrollprozess und damit der »Reset mit Russland« deshalb vielleicht am Ende?

In einer Fernsehansprache erklärte der russische Präsident Medwedjew am 23. November 2011, dass die Gespräche zur BMD-Zusammenarbeit quasi gescheitert seien. Als mögliche Reaktion drohte er als Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte mit der Stationierung von Iskander-Kurzstreckenraketen in Kaliningrad und der Umrüstung der russischen Interkontinentalraketen auf Sprengköpfe, die die BMD-Abwehr überwinden könnten. Auch wird ein Ausstieg aus dem gerade erst geschlossenen »New START«-Vertrag über nukleare Abrüstung nicht ausgeschlossen. Die Tür für eine Einigung sei zwar weiter offen, eine künftige Lösung könne aber nur aus einem rechtsverbindlichen Vertrag bestehen, so Medwedjew weiter.

Die US-Regierung wies den Vorwurf des fehlenden Willens zur Zusammenarbeit zurück. Die geplante BMD-Komponente in Europa sei gegen Iran gerichtet und könne das strategische Potential Russlands nicht gefährden. Eine Zusammenarbeit sei weiterhin möglich. Das Raketenabwehrprojekt in Europa bleibt aber kontrovers und droht auch die Debatte um die europäische Sicherheit zu tangieren. Einer der zentralen Rüstungskontrollverträge, der Vertrag über »Konventionelle Streitkräfte in Europa« (KSE) von 1991, steht vor dem Scheitern, und die Global-Zero-Debatte und damit auch die nukleare Abrüstung droht im Sande zu verlaufen.2

Das technische Konzept

Während die Debatten um die Zukunft der Rüstungskontrolle und Raketenabwehr in Europa politischer Natur sind, werden die technischen Grundlagen und hieraus resultierende Probleme der Raketenabwehr von der Sicherheitspolitik weitgehend ignoriert. Im Rahmen einer Studie für die Hamburger Akademie der Wissenschaften wurde der technische Stand der Bedrohung und der einzelnen BMD-Projekte analysiert; ebenso wurden deren sicherheitspolitische Konsequenzen beschrieben.3 Die Studie wird zu Zeit aktualisiert.

Der Iran besitzt ein ambitioniertes Raketenprogramm, das im Wesentlichen von ausländischer Hilfe abhängig ist. Eine Bedrohung für Europa ergibt sich erst dann, wenn der Iran beschließt, ein militärisches Nuklearprogramm in die Tat umzusetzen. Neben notwendigen Bemühungen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Raketen- und militärischer Nukleartechnologie, kann Raketenabwehr bestenfalls eine Art teure und fragwürdige Zusatzversicherung darstellen, deren Effizienz sich aber erst im Einsatzfall beweisen wird.

Die Entscheidung von US-Präsident Obama, auf den Bau der unter seinem Amtsvorgänger G.W. Bush zum Schutz der USA geplanten strategischen Raketenabwehr in Europa (European Midcourse Defense, EMD) zu verzichten, hatte den Weg für den »New START«-Vertrag frei gemacht. Durch ein Zusatzprotokoll, das Gesetzescharakter hat, stellte die russische Duma bei der Ratifizierung des Vertrages im Januar 2011 jedoch klar, dass eine zukünftige Unterminierung der strategischen Balance durch BMD die Kündigung von New START nach sich ziehen würde. Damit reagierte sie auf die Vorstellung der »European Phased Adaptive Approach« (EPAA) durch US-Präsident Obama im September 2009, die zunächst auf dem in europäischen Gewässern stationierten schiffgestützten Aegis-BMD-System beruht. Begründet wurde diese »Regionalisierung der Raketenabwehr« mit der steigenden Gefahr von Raketenangriffen aus dem Nahen Osten und der verbesserten »technischen Reife« des Aegis-BMD-Systems.

Bei Aegis-BMD handelt es sich in der ersten Ausbaustufe um Abfangraketen (Interzeptoren) des Typs Standard Missile-3 (SM-3) sowie ein SPY-Radar an Bord von Schiffen der US Navy. Die NATO selber betreibt bisher mit der Active Layered Theatre Ballistic Missile Defence (ALTBMD) nur ein rudimentäres BMD-Programm zur Vernetzung bestehender nationaler Sensor- und Abwehrsysteme, vor allem aber zum Aufbau eines gemeinsamen BMD-Kommandosystems. Der bisher einzige Ansatz für ein territoriales BMD-System ist EPAA und damit das amerikanische Aegis-BMD-System. Technologisch werden die USA eine europäische Raketenabwehr dominieren, inwiefern die europäischen Partner aber bereit sind, sich an den anfallenden Kosten zu beteiligen und wie hoch diese ausfallen werden, wurde bisher nicht öffentlich diskutiert.

Die SM-3 besteht aus drei Feststoffraketenstufen und einem »kill vehicle« (Abfangflugkörper) an der Spitze, das mit der anfliegenden Rakete bzw. dem Sprengkopf kollidieren und diesen durch die freigesetzte Energie des Zusammenpralls zerstören soll. Die Besonderheit des EPAA-Ansatzes liegt in der phasenweisen und geografisch flexiblen Stationierung und dem damit vorgesehenen stufenweisen Ausbau der Abfangfähigkeiten, zu der auch BMD-Systeme gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen wie PATRIOT und THAAD gehören. Entscheidend sind neben einem Frühwarnradar, das in der Türkei in räumlicher Nähe zum Iran stationiert werden soll, die Leistungsparameter und Stationierungsorte der SM-3. Die vorgesehene Verbesserung der Abfangfähigkeiten des Aegis-BMD-Systems soll durch die Weiterentwicklung und Leistungssteigerung der verschiedenen SM-3-Typen erfolgen.

Phase I sieht bis Ende 2011 die Stationierung der ersten Aegis-Schiffe mit SM-3-Abfangraketen des Typs Block IA vor. Den Auftakt hierfür bildete im März 2011 die Entsendung des US-Schiffes USS Monterey ins Mittelmeer. Die SM-3 Block IA/B-Varianten können nur Kurz- und Mittelstreckenraketen abfangen.

In Phase II soll bis 2015 die verbesserte SM-3 Block IB eingeführt und dann u.a. als landgestützte Variante auch in Rumänien stationiert werden (Aegis Ashore).

Ab 2018 (Phase III) soll der leistungsstärkere Typ SM-3 Block II die Abwehr von Raketen größerer Reichweite mit dem Aegis-System ermöglichen. Eine weitere Landstationierung ist in Polen geplant.

Über eine Gewichtsreduzierung des kinetischen Gefechtskopfes und einer damit abermals einhergehenden Geschwindigkeitssteigerung sowie eine Verbesserung der Anflugsensoren soll schließlich in Phase IV (SM-3 Block IIB) im Prinzip auch das Abfangen von Interkontinentalraketen möglich werden. Erfüllen sich die Erwartungen an die Leistung der Interzeptoren, so ist davon auszugehen, dass, um ballistische Raketen aus dem Nahen Osten abwehren zu können, in Phase IV nur noch zwei Standorte an Land notwendig sein werden, um eine lückenlose geographische Abdeckung zu gewährleisten.

EPAA, russische Befürchtungen und Aufrüstungsgefahr

Um die Wirksamkeit eines Abfangvorgangs zu bestimmen, sind zwei Prozesse entscheidend:

Der Erfolg der Raketenabwehr hängt zum einen grundlegend von den Flugbahnen der angreifenden Rakete und des Interzeptors ab; entscheidend ist hierbei, ob die angreifende Rakete überhaupt erreicht werden kann. Die Ergebnisse der Raketenflugsimulationen der Hamburger Studie zeigen, dass das Aegis-System unter dem Gesichtspunkt der kinematischen Erreichbarkeit anfliegender Raketen prinzipiell besser zum Schutz Europas gegen Angriffe aus dem Iran geeignet ist als das ehemals von Bush geplante EMD-System. Aufgrund seiner geringen Geschwindigkeit lassen sich mit den zurzeit eingesetzten Interzeptoren SM-3 Block I des Aegis-Systems nur verhältnismäßig kleine Gebiete absichern. Um einen Schutz der gesamten europäischen Landfläche prinzipiell zu ermöglichen, bedarf es der Stationierung von mindestens sechs Aegis-Schiffen. Die beiden Orte der landgestützten Aegis-Stationierung in Polen und Rumänien sind für das Abfangen von auf Europa gerichteten Raketen prinzipiell geeignet. Auch ein Abfangen von (noch nicht existenten) Interkontinentalraketen aus dem Iran in Richtung der USA scheint möglich – vorausgesetzt, dass der Zielort sich im östlichen Teil der USA befindet. Um sicherzustellen, dass auf ein beliebiges Ziel in den USA gerichtete iranische Raketen von Europa aus abgefangen werden können, ist ein weiterer Stationierungsort im nördlichen Skandinavien nötig. Von diesem wären jedoch auch bestimmte russische Raketen mit Zielpunkt in den USA potentiell mit den Aegis-Interzeptoren erreichbar. Reduziert man die Wirkung der Abwehr auf die kinematische Erreichbarkeit angreifender Raketen, könnte also eine Stationierung des Aegis-Systems in Nordeuropa mittelfristig von Russland als eine Beeinträchtigung der eigenen Abschreckungsfähigkeiten wahrgenommen werden.4 Allerdings stellt sich das Problem frühestens im Jahre 2018/2020. Aegis-Schiffe könnten aber auch im Atlantik oder dicht vor der amerikanischen Küste stationiert werden. Ein Ausbau des Aegis-BMD-Systems mit Interzeptoren des Typs SM-3 Block II und die Stationerung vieler Schiffe könnte also am Ende des Jahrzehntes Einfluss auf das strategische russische Nukleararsenal haben.

Zum anderen spielen das Zusammenwirken und die technische Zuverlässigkeit aller Komponenten eine wichtige Rolle. Hierzu zählen insbesondere die technischen Kapazitäten zur eindeutigen Erkennung des Gefechtskopfes während des Anflugs und seine erfolgreiche Zerstörung, aber auch der Umgang mit etwaigen Gegenmaßnahmen (Countermeasures) des Angreifers, die dieser ergreift, um die Raketenabwehr auszuhebeln. Das »Countermeasure«-Problem wurde bei den bisherigen Tests noch gar nicht berücksichtigt. Diverse Studien haben gezeigt, dass die Benutzung von Attrappen, Störsendern oder radar-absorbierenden Schichten durch einen Angreifer eine Raketenabwehr unbrauchbar machen könnte. Eine neue Studie des Defense Science Board, das den US-Verteidigungsminister in technischen Angelegenheiten berät, bestätigt, dass das Aegis-BMD-System nicht zwischen den diversen Gegenmaßnahmen und einem Gefechtskopf unterscheiden kann und dass das schiffgestützte SPY-Radar keine ausreichende Leistung für eine territoriale Verteidigung ausweist.5

Die im Pentagon für Raketenabwehr zuständige Missile Defense Agency gibt an, dass von 18 SM-3 Tests 16 erfolgreich gewesen seien. Bisher fanden diese Tests aber allenfalls unter künstlichen Bedingungen gegen bekannte Raketenflugbahnen kurzer Reichweite statt, so dass die Einsatzbereitschaft der europäischen Raketenabwehr momentan nicht gegeben ist. Die russische Wahrnehmung ignoriert dieses Problem jedoch und geht stattdessen von einer funktionierenden und effizienten Raketenabwehr aus. Russische Planer, die stets eine Worst-case-Analyse zugrunde legen, werden mit einer beschleunigten Modernisierung ihrer Raketenpotentiale reagieren, auch wenn nach wie vor erhebliche Zweifel an der BMD-Effizienz bestehen.

Die russischen Besorgnisse sind in einer späteren Ausbaustufe berechtigt, zumal die Aegis-Schiffe in großer Anzahl an verschiedenen Orten, z.B. im Atlantik vor der US-Küste, stationiert werden können.6 Eine Studie des Congressional Research Service geht davon aus, dass bis 2018 etwa 500 SM-3-Interzeptoren auf 43 Schiffen stationiert werden können.7 Russland hat also ab 2020 ein Problem, wenn die verbesserten Interzeptoren tatsächlich eingeführt werden. Wie in Artikel XIV(2) vorgesehen, läuft zu dieser Zeit auch der »New START«-Vertrag aus, und ein Nachfolgeabkommen erscheint unter diesen Umständen fraglich.

Noch problematischer ist die Entwicklung für China, das über wenige Interkontinentalraketen verfügt. Eine massive Stationierung von Aegis-BMD-Systemen im Pazifik wird Einfluss auf das chinesische Abschreckungspotential haben. Es wäre von besonderer Tragik, wenn die ungehemmte Einführung von Raketenabwehr weitere Fortschritte auf dem Sektor nuklearer Abrüstung bereits jetzt zunichte machen würde. Es bleibt die Hoffnung, dass die erheblichen Finanzkosten, die auf die USA, Russland und die NATO zukommen, die problematische Raketenabwehr klein halten. Die wirklichen Probleme nuklearer Proliferation und Aufrüstung werden durch dieses Projekt jedenfalls nicht gelöst.

Anmerkungen

1) Ivanka Barzashka, Timur Kadyshev, Götz Neuneck, Ivan Oelrich: How to Avoid a New Arms Race. Analysis, Bulletin of the Atomic Scientists web edition, 25 Juli 2011.

2) Michael Brzoska, Anne Finger, Oliver Meier, Götz Neuneck, Wolfgang Zellner: Prospects for Arms Control in Europe. Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, November 2011, 39 S.

3) Götz Neuneck, Christian Alwardt, Hans Christian Gils (2010): Raketenabwehr in Europa. Studie für die Akademie der Wissenschaften in Hamburg, November 2010. Veröffentlichung erster Resultate siehe: Christian Alwardt, Hans Christian Gils, Götz Neuneck: Raketenabwehr in Europa: Territorialer Schutz oder Hindernis für nukleare Abrüstung? In: Christiane Fröhlich et.al. (2011): Friedensgutachten 2011. Münster: LIT-Verlag, S.342-354.

4) Es gilt zu beachten, dass die Ergebnisse der Simulationen von vielen verschiedenen Annahmen bezüglich der Fähigkeiten und des Fluges der angreifenden Raketen und Interzeptoren abhängig sind. Die hier vorgestellten Ergebnisse machen lediglich Aussagen darüber, ob die angreifenden Raketen prinzipiell erreicht werden können, und nicht, ob die weiteren Komponenten des Abwehrsystems einwandfrei arbeiten und die Raketen auch tatsächlich zerstört werden können.

5) Defense Science Board Task Force Report on Science and Technology Issues of Early Intercept Ballistic Missile Defense Feasibility, Department of Defense, September 2011.

6) Yousaf Butt, Theodore Postol: Upsetting the Reset: The Technical Basis of Russian Concern Over NATO Missile Defense. Federation of American Scientists, FAS Special Report Nr. 1, September 2011.

7) Ronald O’Rourke: Navy Aegis Ballistic Missile Defense (BMD) Program. Background and Issues for Congress. Congressional Research Service (CRS) Report, April 19, 2011.

Christian Alwardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und beschäftigt sich dort mit Fragen zur Rüstungskontrolle und Sicherheitspolitik, mit einem besonderen Schwerpunkt auf Raketenabwehr, Risikotechnologien und Weltraum. Hans Christian Gils war von 2009 bis 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am IFSH. Die Schwerpunkte seiner Tätigkeit lagen dabei auf der Raketenabwehr und Fragen der nuklearen Abrüstung. Seit 2010 ist er als Doktorand am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) beschäftigt. Götz Neuneck ist stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des IFSH und Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien, die sich mit Raketenabwehr, Nichtverbreitung und Weltraumtechnologien beschäftigt.

Stärker, schlauer, schneller

Stärker, schlauer, schneller

US-Raketenabwehr in Europa

von Regina Hagen

In der deutschen Öffentlichkeit entstand im Herbst 2009 der Eindruck, die Raketenabwehrpläne der Vereinigten Staaten aus der Ära Bush würden aufgegeben, insbesondere die Stationierung von Komponenten in Polen und der Tschechischen Republik. Hatte US-Präsident Barack Obama doch im September 2009 einen radikal neuen Ansatz für die Abwehr ballistischer Raketen verkündet. Die Medien bei uns berichteten ausführlich über den vorgeblichen Verzicht. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Raketenabwehr erlebt unter Obama eine wahre Renaissance – gerade auch in Europa.

Der Wunsch der Vereinigten Staaten, durch die Abwehr anfliegender ballistischer Raketen einen Schutz vor dieser Distanzwaffe aufzubauen, ist fast so alt wie die ballistischen Raketen selbst. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, am 7. September 1944, setzte das deutsche Militär erstmals V2-Raketen ein und sorgte in den folgenden Monaten bei seinen Gegnern in England, Frankreich, Belgien und den Niederlanden für Schrecken und fast 13.000 Tote. Das Nazi-Militär durchstieß mit dem Flug dieser Waffe nicht nur erstmalig die Grenze zum Weltraum (ca. 100 km über der Erdoberfläche), sondern präsentierte auch eine neue Kriegstechnologie, deren Potential in den USA rasch erkannt wurde, auch wenn das eigene Territorium weit außerhalb der Reichweite von 250-300 km lag.

Nach eher zögerlichen Anfängen – in der Nachkriegszeit lag der Fokus eher auf Flugabwehr – spiegelten die Bedrohungsgefühle der USA ab Mitte der 1950er Jahre zunehmend die Realität: Die Sowjetunion entwickelte immer weiter reichende Raketen, und spätestens der Start des Sputnik 1957 bewies, dass Moskau nun auch das »US Homeland« binnen 30 Minuten erreichen konnte. Mit Nike Zeus wurde als Antwort ein nuklear bestücktes Abwehrsystem entwickelt, abgelöst durch Nike X, Project Defender, Ballistic Missile Boost Intercept (BAMBI), Sentinel, Safeguard, Reagans unmäßige Strategic Defense Initiative, die an ihren eigenen Ansprüchen erstickte (SDI sollte in sieben Schichten tausende von Waffen in den Weltraum bringen), GPALS und – dann schon während der Clinton-Regierung der 1990er Jahre – National Missile Defense (NMD).

Noch aus dieser Zeit, genauer von 1999, stammt die gesetzliche Raketenabwehrvorgabe des National Missile Defense Act (Public Law 106-38), wonach die USA „so früh wie technisch möglich ein effektives Nationales Raketeabwehrsystem stationieren zur Verteidigung des Territoriums der USA gegen begrenzte ballistische Raketenangriffe (ob versehentliche, nicht autorisierte oder vorsätzliche)“. Versuchte Bill Clinton das System unter Verweis auf mangelnde technische Reife auszubremsen, gaben George W. Bush und sein Verteidigungsminister Rumsfeld einer mehrstufigen Raketenabwehr wieder hohe Priorität. Diese sollte, sehr zum Ärger Russlands, auch Komponenten in Polen (silogestützte Abfangraketen) und der Tschechischen Republik (Radarsystem zur Flugbahnverfolgung) umfassen. Möglich wurden die Bush-Pläne erst durch die einseitige Kündigung des Raketenabwehrvertrags, den Donald Rumsfeld 2002 wie angekündigt auf den „Misthaufen der Geschichte“ beförderte.

Nach offiziellen Angaben der Missile Defense Agency (MDA) gab das Pentagon zwischen 1985 und 2010 insgesamt 132,6 Mrd. US-Dollar für Raketenabwehr aus. Diese Zahl ist aber viel zu niedrig gegriffen, der Congressional Research Service der USA gibt drastisch höhere Zahlen an, z.B. knapp 9,3 Mrd. US-Dollar für 2010 (nicht 7,9 Mrd. wie die MDA), oder 70,7 Mrd. für SDI 1985-93 (nicht 29,5 Mrd. wie die MDA).

Nicht ausrangieren sondern stärken

Heute verfügen die USA über etliche technische Lösungen von unterschiedlicher Tauglichkeit, von den Patriot/PAC-3 für das Gefechtsfeld über das seegestützte Aegis gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen und das bodengestützte THAAD bis zu den silogestützten Abfangraketen gegen Interkontinentalraketen, die in Kalifornien und Alaska vorgehalten werden. Dazu kommen weltweit Kooperationsprogramme mit »Verbündeten und Partnern«, die von eher bescheidener Unterstützung durch die Partner bis zu gemeinsamen Entwicklungsprojekten reichen. Die MDA nennt als involvierte Staaten: Australien, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Israel, Italien, Japan, die Niederlande, Polen, Tschechische Republik, die NATO „und viele andere“.

So kann es kaum überraschen, dass Obama nicht eine Minimierung von Raketenabwehr sondern deren Neupositionierung beschlossen hat. „Stronger, smarter, and swifter“ (stärker, schlauer und schneller) sollen die Systeme werden, erklärte der US-Präsident am 17. September 2009 im Weißen Haus. Statt überambitionierte Systeme gegen (noch) nicht vorhandene Raketenbedrohungen aus Nordkorea und Iran zu stationieren, wolle Washington lieber erprobte Technologien gegen regionale Herausforderer ausbauen. Mit den tschechischen und polnischen Freunden habe er schon geredet, so Obama, und sie der tiefen und engen Bande mit Washington versichert.

Dieser Tenor wurde zwei Tage später vom US-Verteidigungsminister bestätigt. Einen Meinungsartikel in der New York Times, überschrieben mit „Eine bessere Raketenabwehr für ein sichereres Europa“, leitete Robert Gates – der schon unter George W. Bush Chef des Pentagon war – mit dem folgenden Satz ein: „Die Zukunft der Raketenabwehr in Europa ist sicher.“ Der Artikel schloss: „Wir rangieren Raketenabwehr in Europa nicht aus – wir stärken sie.“ Die Aussagen dazwischen nahmen in aller Kürze den Inhalt des Ballistic Missile Defense Review (BMDR) vorweg.

Ähnlich wie der kürzlich vorgelegte Nuclear Posture Review (NPR) analysiert der BMDR vom 1. Februar 2010 vorhandene Systeme, Arsenale und Fähigkeiten für Raketenabwehr und macht Vorgaben für Ziele und Strategien. Der erste Raketenabwehr-Review dieser Art, vom Kongress beauftragt und vom Präsidenten mit Direktiven versehen, beschreibt die Absichten der US-Regierung für die nächsten Jahre recht genau und gibt Einblick in die zugrunde liegende Strategie.

Raketenabwehr als Teil der Abschreckungstriade

Zur Beschreibung ihrer verteidigungspolitischen Ziele wählte die Bush-Regierung in ihrem Quadrennial Defense Review 2001 vier Schlagworte aus: „assure friends and allies, deter aggressors, dissuade competitors, defeat enemies“ (Verbündeten und Freunden Sicherheit geben, Aggressoren abschrecken, Konkurrenten [von ihrem Vorhaben] abbringen, Feinde abwehren). Diese Ziele behält die Obama-Regierung bei. „Durch unser anhaltendes Bekenntnis zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des bodengestützten Abwehrsystems für mittlere Flugphasen wollen die Vereinigten Staaten solche Staaten, die Interkontinentalraketen entwickeln, von diesem Vorhaben abbringen, sie von der Nutzung einer Interkontinentalrakete abschrecken, sofern sie eine solche Fähigkeit entwickeln oder erlangen, und einen Angriff eines solchen Staates mit einer Interkontinentalrakete abwehren, falls die Abschreckung versagt.“ (S.11)

Ausdrücklich gilt dieses Prinzip nicht nur für Langstreckenbedrohungen sondern auch im regionalen Kontext, der im BMDR ein besonders großes Gewicht erhält. „Raketenabwehr: Abschreckung, erweiterte Abschreckung und die Gewährung von Sicherheit als Ziele“ lautet eine Zwischenüberschrift. Die Erfüllung der „Sicherheitsverpflichtungen der USA gegenüber ihren Verbündeten und Partnern“ wird aus Sicht des Weißen Hauses durch Raketenabwehrsysteme ermöglicht, da sie „die Vereinigten Staaten dabei unterstützen, die militärische Manöverfreiheit zu behalten, indem sie helfen, das erpresserische Potential regionaler Akteure zunichte zu machen, die vorhaben, den militärischen Zugang der USA zu ihrer Region zu unterbinden oder zu stören.“ (S.12)

Das sind unmissverständliche Worte einer Weltmacht, und ihre Grundlage mag eine gravierende Fehleinschätzung sein. Der BMDR geht nämlich davon aus, dass die Erkenntnis, US-Raketenabwehr könne ihr ballistisches Vernichtungspotential mit Raketenabwehr unschädlich machen, „Staaten, die unter Missachtung der internationalen Normen und der internationalen Völkergemeinschaft Nuklear- und andere Massenvernichtungswaffen entwickeln“ (S.12), davon abhalten wird, Raketenarsenale zu entwickeln, zu stationieren oder zumindest einzusetzen. „Auf diese Art“, schlussfolgert der BMDR, „stärken Raketenabwehrsysteme die US-Ziele Abschreckung, erweiterte Abschreckung und Gewährung von Sicherheit. Somit tragen sie zu internationalem Frieden und Sicherheit bei und stärken das globale Nichtverbreitungsregime. Wenn Nordostasien, der Nahe Osten und andere Regionen als Ergebnis dieser und anderer Maßnahmen friedlicher und sicherer werden, dann sind vielleicht mehr Staaten in diesen Regionen bereit, vom ‚nuklearen Kipppunkt’ zurückzuweichen und sich auf eine stärkere und effektivere Umsetzung der globalen Vertragsregime hinzubewegen.“ (S.12)

In Kombination mit dem Nuclear Posture Review der Obama-Regierung (veröffentlicht am 6. April 2010) schält sich so die Fortsetzung des Bush’schen Triaden-Gedanken aus dem Nuclear Posture Review vom 31. Dezember 2001 heraus: Die klassische Triade der Trägersysteme für Kernwaffen (Bomber, Langstreckenraketen und U-Boote) wird potenter durch die erweiterte Triade, zu der Trägersysteme, Raketenabwehr sowie eine reaktive und flexible Infrastruktur gehören. Für Letztere bestimmend ist die ständige Modernisierung des Nuklearwaffenkomplexes und –arsenals.

»Erweiterte Abschreckung« gewinnt so eine weitere Dimension: Neben der Ausweitung der konventionellen und nuklearen Abschreckungsmöglichkeiten zum Schutz von Verbündeten (nuklearer Schutzschirm) und der Androhung des Einsatzes von Nuklearwaffen gegen Bio- und Chemiewaffen bezieht die Abschreckung nun auch die Androhung des Einsatzes von Raketenabwehr ein.

Raketenabwehr soll ganz Europa überziehen

Der stellvertretende Verteidigungsminister für Nuklear- und Raketenabwehrpolitik im Pentagon (so einen Job gibt es in der US-Regierung wirklich) versicherte im April 2010 bei einer Anhörung im Senat den Volksvertretern, das geplante US-Raketenabwehrsystem werde in spätestens acht Jahren ganz Europa überziehen. Im BMDR wird beschrieben, wie das gehen soll.

Gemäß der „Phased Adaptive Approach“ (mehrstufige, anpassungsfähige Vorgehensweise) wird der Raketenabwehrschirm über Europa in vier Schritten gespannt (S.24, 29 und 30):

In Phase 1 (bis 2011) werden (im Mittel- oder Schwarzen Meer?) bereits vorhandene Aegis-Schiffe mit Abwehrraketen des Typs SM-3 Block IA gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen stationiert. Zusätzlich wird ein Radarsystem an einem nicht näher benannten Ort aufgestellt (in Frage käme dafür z.B. Van am östlichen Rand der Türkei). Das seegestützte Aegis-System hat seine Tauglichkeit nicht nur in mehreren Raketenabwehrtests bewiesen, sondern im Februar 2008 erfolgreich einen außer Kontrolle geratenen Weltraumsatelliten der USA abgeschossen, sich also auch als Anti-Satellitenwaffe bewährt.

In Phase 2 (bis 2015) werden leistungsfähigere Abfangraketen eingesetzt (SM-3 Block IB) und weitere Sensoren aufgestellt, die eine bessere Bahnverfolgung der angreifenden Rakete bzw. des freigesetzten Sprengkopfes erlauben. In dieser Phase werden erstmalig SM-3 Block IB auch bodengestützt stationiert.

In Phase 3 (bis 2018) wird die Abdeckung durch eine zweite bodengestützte SM-3-Basis im nördlichen Europa erhöht; überdies werden SM-3 Block IIA (momentan in Entwicklung) an weiteren Orten zur See und am Land stationiert. Dann werden laut Planung in Europa alle NATO-Länder vom Raketenabwehrsystem geschützt.

In Phase 4 (bis 2020) sollen weitere Fähigkeiten zur Verfügung stehen, die Interkontinentalraketen aus dem Nahen Osten mit Ziel USA abwehren können. Zu diesem Zeitpunkt werden auch nochmals verbesserte SM-3 Block IIB in das Arsenal aufgenommen.

In allen vier Phasen werden außerdem luft-, see- und bodengestützte Sensoren sowie das Kontroll- und Kommandosystem entwickelt bzw. modernisiert und ergänzt. Im Haushaltsplan 2010 stehen für die Umsetzung des Systems zunächst 343 Mio. US-Dollar bereit.

Die Vorteile dieser Vorgehensweise werden ebenfalls benannt:

Die Systeme für Phase 1 sind bereits vorhanden, während die Abfangraketen, die nach der Bush-Planung in Polen stationiert werden sollten, erst auf dem Reißbrett existierten. Diese werden aber für den Fall der Fälle mit vermindertem Etat dennoch weiter entwickelt.

Der Schutz durch Raketenabwehr ist zunächst für die Teile Europas verfügbar, die Iran am nächsten liegen und daher durch die Kurz- und Mittelstreckenraketen Irans am meisten gefährdet sind.

Das angedachte System kommt deutlich billiger als die silogestützte Stationierung, die ursprünglich für Polen vorgesehen war.

Das Aegis-System ist momentan auf Kriegsschiffen installiert und damit in einer Krisensituation relativ rasch an einen anderen Einsatzort verlegbar. Auch die bodengestützte Variante (Aegis Ashore) soll gut transportabel sein.

In den USA sind bis Ende des Jahres 2010 bereits 30 silogestützte Abwehrraketen installiert und es wird eine Fläche weit über das US-Territorium hinaus vor Interkontinentalraketen geschützt (zumindest wird dies behauptet, aussagekräftige Tests des Systems stehen noch aus). Dieser Schutz wird durch das europäische System noch verstärkt.

An mehreren Stellen des BMDR wird betont, das System biete zusätzlich „gesteigerte Möglichkeiten für eine Beteiligung und Lastenteilung der Verbündeten“ (u.a. S.30 und 32). Es ist also abzusehen, dass die USA ihre »Verbündeten und Partner«, insbesondere in der NATO, bald zu einem Kostenbeitrag für das System auffordern werden.

Globale Proliferation von Raketenabwehrsystemen

Auf dieser Basis gewinnen die USA auf dem Gebiet der Raketenabwehr eine hohe Flexibilität. Der BMDR bezeichnet die Möglichkeiten, Raketenabwehr an regionale Gegebenheiten – neben Europa auch im Nahen Osten und Ostasien – sowie an ihre eigenen Interessen vor Ort anzupassen, als „maßgeschneidert“ (S.24).

Sorge scheint den Autoren des BMDR die Reaktion Russlands und Chinas zu bereiten. Auch dafür hat der BMDR eine Lösung parat: „Die Vereinigten Staaten bleiben mit diesen Ländern im Dialog (to engage them), damit sie die stabilisierenden Vorteile von Raketenabwehr besser verstehen – vor allem China, das behauptet, es habe am 11. Januar 2010 erfolgreich mit einem eigenen bodengestützten System eine [Test-] Rakete in der mittleren Flugphase abgewehrt“ (S12./13).

Fast verschämt wird hier ein ernsthaftes Problem angesprochen: Raketenabwehr verbreitet sich in der ganzen Welt. Neben den USA und der NATO arbeiten zahlreiche andere Länder an eigenen Systemen. Die USA hoffen auf eine stabilisierende Wirkung ihres eigenen Systems, sollten es aus der Geschichte aber besser wissen. Der Abschluss des Raketenabwehrvertrags zwischen den USA und Russland 1972 war der Erkenntnis geschuldet, dass jeglicher »Raketen-Schutzschild« den Gegner zu verstärkter Aufrüstung animiert. Warum das in einer multipolaren Welt anders sein sollte, ist kaum nachzuvollziehen.

Eines ist den USA aber jetzt schon gelungen: Überlegungen zu einem völkerrechtlichen und globalen Verbot von ballistischen Raketen und Raketenabwehrsystemen tauchen auf der internationalen Agenda erst gar nicht mehr auf.

Literatur:

Congressional Budget Office: Congress of the United States, Options for Deploying Missile Defenses in Europe, A CBO Study, Februar 2009; http://www.cbo.gov/doc.cfm?index=10013.

Missile Defense Agency: Historical Funding for MDA FY85-10; http://www.defense.gov/news/d2010usdprolloutbrief.pdf.

Missile Defense Agency: Testing. Building Confidence, ohne Datum (2009); http://www.mda.mil/global/documents/pdf/2009MDAbook.pdf. Diese Broschüre gibt bei der Beschreibung jedes einzelnen Systems auch an, in welchem US-Bundesstaaten Industrie und Forschung von dem System profitieren.

US Department of Defense: Ballistic Missile Defense Review, 1. Februar 2010; www.defense.gov/bmdr. Sämtliche Seitenangaben im Artikel beziehen sich auf dieses Dokument.

Umfangreiche Informationen, u.a. zu Budgetzahlen und den einzelnen Raketenabwehrsystemen, finden sich auf der Homepage der Missile Defense Agency der USA; www.mda.mil.

Regina Hagen befasst sich seit Jahren mit Kernwaffen, Raketenabwehr und Weltraumrüstung; sie ist Mitglied der W&F-Redaktion.

US-Raketenabwehr

US-Raketenabwehr

Ein Danaer-Geschenk für Europa und die Welt?

von Götz Neuneck und Jürgen Altmann

Die US-Administration unter Präsident George W. Bush hält unverändert an ihrer Vision einer umfassenden, mehrschichtigen und integrierten Raketenabwehr fest. Dieses Projekt, dass bereits unter Präsident Clinton unter dem Stichwort »National Missile Defense« begonnen wurde, soll auch auf Europa ausgedehnt werden, obwohl die operative Einsatzreife der in der Testphase befindlichen Technologie weder bewiesen noch gesichert ist.

Mit dem neuen »National Intelligence Estimate«, der feststellt, dass der Iran 2003 sein militärisches Nuklearprogramm beendet hat, ist eine weitere wichtige Legitimation für das europäische Projekt entfallen. Zudem besteht die Gefahr, dass das Projekt in Europa Russland soweit provoziert, dass ein tiefgreifender Politikwechsel der russischen Regierung die Folge ist. Die russische Bomberflotte wurde von Präsident Putin angewiesen, die nuklearbestückten Patrouillenflüge wieder aufzunehmen und die Nuklearstreitkräfte wurden in höhere Alarmbereitschaft versetzt. Nach der Kündigung des ABM-Vertrages im Jahr 2002 tritt jetzt das ein, vor dem viele gewarnt haben: eine Renaissance nuklearer Arsenale und ein Ende der Abrüstung. Ein Hauch von Kaltem Krieg liegt in der Luft.

Aus russischer Sicht ist die europäische Komponente der Schlussstein einer amerikanischer Ausweitungsstrategie, die eine echte Zusammenarbeit mit Russland unmöglich macht. Die Stationierung US-amerikanischer Truppen in Bulgarien und Rumänien, der Kosovo-Konflikt und die amerikanische Hochrüstung – Stichworte sind Weltraumrüstung, »Netcentric Warfare« und »Prompt Global Strike« – sind zusätzliche Elemente, die als aggressiv angesehen werden. Präsident Putin, der selbst eine neo-imperiale Politik im russischen Umfeld betreibt, sprach bei der Münchner Sicherheitskonferenz bereits im Februar 2007 von einem „unvermeidlichen Wettrüsten“ und Außenminister Lavrov von einer „Änderung der strategischen Balance“, sollte die US-Raketenabwehr in Europa umgesetzt werden. Inzwischen wurde der Vertrag für Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) – eine zentrale Errungenschaft des Endes der Ost-West-Konfrontation – von Präsident Putin mit dem Hinweis suspendiert, der Westen habe den sog. Angepassten KSE-Vertrag (AKSE) bis heute nicht ratifiziert. In einem Appell warnten hochrangige Diplomaten und Wissenschaftler davor, das KSE-Regime, ein „beispielloses Instrument für die Bewahrung des Friedens und von höchster Bedeutung für die Zukunft Europas“ zu zerstören, und traten für die Ratifizierung des AKSE durch den Westen ein.1 Es besteht die Gefahr, dass weitere Verträge wie der »Open Skies«-Vertrag oder der INF-Vertrag ebenfalls gekündigt werden. Ein mögliches Ende der europäischen Rüstungskontrollarchitektur würde den Weg frei machen für Neustationierungen von konventionellen Streitkräften und nuklear bestückten Waffensystemen in Zentral-, Süd- und Nordeuropa und die politische Landschaft auf lange Zeit belasten sowie neue Grenzlinien und mögliche militärische Konfrontationen schaffen. Die Fortsetzung der nuklearen Abrüstung strategischer wie taktischer Atomwaffen erscheint heute ebenso illusorisch wie eine Stärkung des Nichtverbreitungsvertrages oder die Schaffung neuer Rüstungskontrollverträge.

Die technologisch-politische Vision der US-Raketenabwehr und die Raketenbedrohung

In einer Rede in der National Defense University (NDU) am 23. Oktober 2007 zog Präsident Bush Bilanz bezüglich seines ambitionierten Raketenabwehrprogramms.2 Er stellte fest, dass 1972 nur neun Staaten über ballistische Raketen verfügten, heute aber 27. Ein Blick auf die Pentagon-Karte der Raketenbedrohung zeigt, dass die meisten dieser Staaten Freunde oder Alliierte der USA sind. Lediglich Iran und Nordkorea, die über importierte russische Raketentechnologie verfügen, entwickeln Raketen, die möglicherweise eines Tages von ihrem Territorium aus die USA erreichen können. Erst in Verbindung mit einer funktionsfähigen und leichten, d.h. für eine Rakete geeigneten, Nuklearwaffe sowie einer Fähigkeit zur Produktion von Raketen interkontinentaler Reichweite würde eine massive Bedrohung entstehen. Allerdings wären Antagonisten durch den möglichen Einsatz des umfassenden Nukleararsenals der USA oder auch Russlands abgeschreckt. Nordkorea hat augenscheinlich große Probleme bei der Entwicklung einer nuklearen Abschreckungskapazität und hat im Rahmen der Sechs-Parteien-Gespräche sein Atomwaffenprogramm gestoppt. Iran verfügt über importierte Raketen aus Nordkorea, im wesentlichen Nachbauten russischer Raketentechnologie, die eine Reichweite von ca. 1.500 km haben. Die »Shahab-3«, die identisch mit der pakistanischen »Ghauri« ist, wurde nur teilweise erfolgreich getestet und soll weiter modifiziert werden. Eine eigene Produktionskapazität für Raketen dieses Typs besteht im Iran nicht. Sie können allerdings israelisches oder türkisches Territorium erreichen. Eine seegestützte taktische Raketenabwehr wäre dafür aber ausreichend. Ein militärisches Nuklearprogramm wurde nach Aussagen der US-Geheimdienste im Iran 2003 eingestellt. Eine Entwicklung von Raketen interkontinentaler Reichweite konnte im Iran, dessen Entwicklung mit dem Irak der 1980er und 1990er Jahre vergleichbar ist, bisher jedoch nicht festgestellt werden. Dennoch hält die Bush-Administration unbeirrt an einer Bedrohung durch Staaten im Mittleren Osten fest.

Zweck des »Ground-Based Midcourse Defense System« (GMD) ist der Schutz der USA, seiner weltweit operierenden Streitkräfte sowie der Alliierten und Freunde der USA, insbesondere in Bezug auf eine Bedrohung durch Iran und Nordkorea. Irak, der noch 2001 als Bedrohung herhalten musste, ist inzwischen als Legitimation weggefallen. Schnellfliegende Abfangraketen, »Ground-based Interceptors« (GBI), die z.Z. noch getestet werden, sollen anfliegende Sprengköpfe direkt treffen und zerstören. Obwohl die operative Einsatzreife nicht erreicht ist und lediglich die Hälfte der 14 GMD-Tests »erfolgreich« war, wurde seit 2002 mit der Stationierung von 5 GBIs in Vandenberg/Kalifornien und 10 GBIs in Alaska begonnen. Insgesamt sollen 44 GBIs bis 2013 in den USA stationiert sein. Ein seegestütztes Bahnverfolgungsradar ist noch nicht funktionsfähig, und die geplante Weltraumkomponente läuft aufgrund technischer und fiskalischer Probleme erheblich hinter dem Zeitplan her.

Die Bush-Administration gibt pro Jahr ca. 10 Mrd. $ für diverse Raketenabwehrprogramme aus, wobei im Jahr 2008 neben GMD (2,52 Mrd. $) auch die taktischen Abwehrsysteme AEGIS (seegestützt, 1,06 Mrd. $) und THAAD (858 Mio. $) entwickelt und getestet werden. Hinzu kommen der ambitionierte »Airborne Laser«, der Raketen in ihrer Antriebsphase mit einem Hochenergielaser an Bord einer Boeing 747 zerstören soll (549 Mio. $) sowie weitere Programme, die im Bereich Weltraumwaffen (127,4 Mio. $) anzusiedeln sind.3 Konfusion und Irreführung bestehen bezüglich der Testbilanz der unterschiedlichen MD-Systeme. Präsident Bush erwähnt in seiner NDU-Rede den 30. »erfolgreichen« MD-Test seit 2001. Die meisten Tests wurden dabei mit den taktischen MD-Systemen durchgeführt. Es ist daran zu erinnern, dass die Patriot-Abwehrrakete oft erfolgreich getestet worden war, bevor sie im Golfkrieg 1991 mehr oder weniger nicht traf. Bezüglich den GMD-Tests ist das Kriterium »Erfolg« umstritten. Der letzte Test im September 2007 war der siebte Abfangvorgang von insgesamt 13 Versuchen. Ein Test vom September 2006 wurde zunächst als erfolgreich gewertet, aber dann aus der Statistik genommen. Es fällt auf, dass die auftretenden Fehler stets neuer Art sind. Die letzten beiden Tests fanden nicht gegen Ziele mit sog. Gegenmaßnahmen statt. Dies sind leichte Ballone oder Täuschkörper, die zusammen mit dem schwereren Sprengkopf ausgesetzt werden und mit den heutigen Mitteln nicht unterschieden werden können. Damit ist klar, dass das GMD-System nicht gegen Raketen mit Gegenmaßnahmen wirken kann. Die »Missile Defense Agency« (MDA) wird erst beim nächsten Test Gegenmaßnahmen einbeziehen und entwickelt zudem ein »Multiple Kill Vehicle« (FY 2008: 271 Mio. $), das mehrere Ziele auf einmal bekämpfen kann. Offensichtlich können nur so viele hypothetische Sprengköpfe oder Attrappen abgeschossen werden, wie Abfangraketen oder Kill Vehicles existieren. Es ist somit irreführend, wie es sich in der Presse z.T. eingebürgert hat, von einem Raketenschild zu sprechen.

Die europäische GMD- Komponente in Polen und der Tschechischen Republik

Ein weiterer wichtiger Schritt für Präsident G.W. Bush ist die Einbeziehung anderer Staaten, insbesondere in Europa und Asien, in die globale Raketenabwehr. Mit der geplanten Stationierung eines GBI-Silofeldes mit 10 Interzeptoren in Polen und eines X-Band-Bahnverfolgungsradars in der Tschechischen Republik, deren Bedingungen zurzeit bilateral mit der jeweiligen Regierung ausgehandelt werden, besteht für das GMD-System eine „erste Abfangchance“ für Raketen aus dem Mittleren Osten. Für die Abwehrstellung in Polen soll eine zweistufige GBI-Version stationiert werden, die für diese Zwecke erst noch getestet werden soll. Äußerlich ähnelt solch eine Rakete einer Interkontinentalrakete. Auch wenn die Nutzlast geringer ist und die Funktion eine andere wäre, würde dies den INF-Vertrag gefährden. Ein mobiles »Forward deployed Radar« (FBX) soll zusätzlich näher am Iran, z.B. in der Türkei, stationiert werden. Der Direktor der Missile Defense Agency (MDA), Generalleutnant H. A. Obering III, gibt als Grund für diese geographische Auswahl eine „Maximierung der Abdeckung für Europa gegenüber BM-Angriffen aus dem Mittleren Osten“ an.4 Die geplante Stationierung soll 2013 abgeschlossen sein und 4.04 Mrd. $ kosten. Das von den Demokraten dominierte US House of Representatives hat für 2008 die vom Pentagon geforderte Summe für erste Baumaßnahmen jedoch von 310 Mio. $ auf 150 Mio. $ mit dem Hinweise gekürzt, dass die US-Verteidigung Priorität habe und die Reife des Systems nicht nachgewiesen ist. Der Bau vor Ort kann erst beginnen, wenn beide Kammern der Tschechischen Republik dem Abkommen mit den USA zugestimmt haben und der Präsident dieses unterschrieben hat. Umfragen zufolge gibt es mehrheitlich Ablehnung durch die Bevölkerung in Tschechien. Präsident Vaclav Klaus hat signalisiert, dass das Radar, die „Beziehung zu den USA zementieren“ würde. In der Tat geht es den Regierungen in Tschechien und Polen eher um amerikanische Sicherheitsgarantien als um die Abwehr einer zweifelhaften Bedrohung durch z.B. den Iran. Die drohenden Aussagen aus Russland, in der führende Militärs von einer konkreten Bedrohung der beiden US-Anlagen in den Stationierungsländern sprachen, helfen nicht gerade im innenpolitischen Diskurs dieser Länder.

Eine alleine von den USA abhängige Raketenabwehr ist in Europa umstritten. Während in einigen Ländern wie Deutschland oder Frankreich Skepsis bzw. Ablehnung vorherrschen, sind Staaten wie England oder Dänemark dem Projekt eher gewogen. Bundeskanzlerin Angelika Merkel sprach sich für eine Einbeziehung der NATO und für einen offenen Dialog mit Russland aus. Die NATO hat bereits im Juni 2006 ein eigenes Raketenabwehrprogramm ALTBMD (Active Layered Theater Ballistic Missile Defence Programme) beschlossen, das zum Schutz von NATO-Truppen zwischen 2010 und 2013 einsatzbereit sein soll. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass taktische MD-Systeme wie THAAD, MEADS oder Patriot in das geplante BMD-System einbezogen werden. Eine 10.000 Seiten umfassende NATO-Feasibility Study, die sich mit dem Schutz des NATO-Territoriums und von Bevölkerungszentren auseinandersetzt, wurde beim Gipfel in Prag gebilligt. Da die Annahmen und technischen Vorraussetzungen dieser Studie so gut wie niemandem bekannt sind, ist anzunehmen, dass sie die optimistischen Prämissen des US-Ansatzes übernehmen. Eine Implementierung dieser geheimen Optionen wurde bisher zwar nicht beschlossen. Es ist jedoch höchst problematisch, dass politische Entscheidungen bezüglich des Schutzes der Bevölkerung ohne Einsicht in die NATO-Studie getroffen werden sollen. Als weiteres Problem ist die Tatsache zu sehen, dass das GMD bei einer hypothetischen Bedrohung aus dem Iran große Bereiche Südosteuropas, d.h. die Türkei, Bulgarien und Rumänien, nicht abdeckt. Angesichts der Forderung nach „Unteilbarkeit des NATO-Territoriums“ drängt sich die Vermutung auf, dass zukünftig die NATO die Verteidigung gegen Raketen in dieser Lücke übernimmt. Dies würde – trotz erheblicher Expertenzweifel und der Ablehnung in der Bevölkerung – bedeuten, dass die US-Raketenabwehr weitgehende Akzeptanz in Europa findet. Im NATO-Kontext wird eine Entscheidung beim nächsten Gipfel in Bukarest erwartet.

Die Bush-Administration hofft, weitere Partner für das BMD-Projekt zu finden. Japan hat sich bereits an der Entwicklung des taktischen, see-gestützten Aegis Ballistic Missile Defense System beteiligt. Am 17. Dezember 2007 gelang der Abschuss einer Mittelstreckenrakete durch eine amerikanische Standard Missile-3, die von einem japanischen Zerstörer aus gestartet wurde. Angesichts der nordkoreanischen Raketenbedrohung hat die japanische Regierung beschlossen, neun SM-3-Interzeptoren im Wert von 475 Mio. $ zu kaufen. Es liegt nahe, dass die Einführung dieser Raketenabwehr Konsequenzen für Südasien, d.h. in Bezug auf China, haben wird.

Die europäische und globale Bedeutung der US-Raketenabwehr

Die Debatte in Europa und auch in Deutschland wird fast ausschließlich politisch geführt. Politiker spielen das Problem, dass die MD-Installationen für Russland darstellt, herunter. US-Außenministerin Rice bezeichnete die Kritik Russlands als „lächerlich“. Es wird argumentiert, dass 10 Interzeptoren das russische Arsenal, das aus 500 Interkontinentalraketen (ICBM) besteht, nicht ernsthaft tangieren. Die MDA-Offiziellen haben in ihren Vorträgen in Europa stets festgestellt, dass die in Polen stationierten GBIs in Russland startende ICBMs nicht erreichen können und damit die russische Abschreckungsfähigkeit nicht gefährden.5 Die Offiziellen verwenden dafür niedrige Geschwindigkeiten und einen späten Start der Abfangraketen. Simulationen des MIT-Professors Ted Postol zeigen, dass es durchaus möglich ist, mit den GBIs in Polen russische ICBMs, die von den westlichen Silos in Russland in Richtung USA starten, zu erreichen.6 Aus russischer Perspektive müssen Interzeptoren in Polen in jedem Fall ein Problem darstellen, denn es könnte sich längerfristig sowohl die Zahl erhöhen als auch die Art verändern. Im Vorfeld der jetzigen Diskussion wurden auch andere Stationierungsorte im Kaukasus und in Großbritannien genannt. Hinzuzurechnen sind auch die weiteren in der Entwicklung befindlichen taktischen BMD-Systeme wie THAAD und Aegis/SM-3.

Ein weiteres Problem für Russland stellt das »European Midcourse Radar« (EMR) dar, das in der Tschechischen Republik aufgebaut werden soll. Dieses hochauflösende Bahnverfolgungsradar, das die Interzeptoren zum Ziel leiten soll, ist zwar in seiner Leistungsfähigkeit begrenzt, jedoch ausbaubar. Die GMD-Stellungen in Polen und Tschechien liegen näher an den im Westen Russlands stationierten ICBMs als der Iran. Während es beim jetzigen Ausbaustand der ca. 100-120 qm großen Antenne nur wenige Objekte im Flug verfolgen kann, könnte das durch Bestückung mit mehr Sende-Empfangs-Modulen auf Hunderte von Objekten erhöht werden. Auch kann das Radar in Tschechien russische Flugtests und das Aussetzen der Mehrfachsprengköpfe russischer ICBM in Richtung USA beobachten und die Informationen in die USA weiterleiten, wo weitere Interzeptoren diese Sprengköpfe abfangen könnten. Präsident Putin hat den USA die Nutzung des russischen Frühwarnradars in Aserbeidschan (Gabala) oder in Russland (Armavir) angeboten. Diese Radars können keine in Russland (weiter nördlich) startenden Raketen entdecken. Diese Lösung wird bisher von den USA abgelehnt, was den Verdacht nährt, dass es den USA in keinem Falle um eine Zusammenarbeit mit Russland geht. Aus russischer Sicht wird hier gefolgert, dass die stationären GMD-Komponenten gegen Russland gerichtet sind.

Das dritte Element der europäischen GMD-Komponente ist das transportable »Forward-deployed Radar« (FBX), das z.B. in der Türkei stationiert werden könnte. Solch ein Radar ist nötig, um anfliegende Sprengköpfe überhaupt »auffassen« zu können. Die US-Administration sieht darin eine Verbesserung der Abdeckung Europas gegenüber Kurz- und Mittelstreckenraketen aus dem Mittleren Osten. Aufgrund der Tatsache, dass der Iran nur über Kurz- oder Mittelstreckenraketen verfügt, wären seegestützte MD-Systeme wie die Aegis-Kreuzer im Mittelmeer oder der Ostsee für die nächsten Jahre ausreichend und politisch weniger kontrovers.7

Einige Folgerungen

Die GMD-Raketenabwehr in Alaska, Kalifornien und Europa verfügt über keine nachgewiesene Effektivität zur Verteidigung Europas und der USA. Planer in Russland und China werden aber davon ausgehen, dass die USA längerfristig in weitere BMD-Systeme und -Technologien investieren. Sie werden Gegenmaßnahmen wie verstärkte Stationierung und Weiterentwicklung von ICBM und Mehrfachsprengköpfen einführen. Dies bedeutet das Ende der Chance auf weitere nukleare Abrüstung und von Verträgen wie dem »Fissile Material Cut-off Treaty«. Insbesondere vor dem Hintergrund der militärtechnischen Anstrengungen der USA wie der Einführung und Verbesserung präzisionsgenauer Munition, der Weltraumaufklärung und der Erhöhung der Treffergenauigkeit strategischer Nuklearsysteme steigt die Furcht, dass die Zweitschlagsfähigkeit der Abschreckungsarsenale Russlands und Chinas obsolet werden könnte.8 Neue Rüstungswettläufe sind ebenso wahrscheinlich wie die Stationierung von neuen Raketen und die weitere Erosion der Rüstungskontrollarchitektur.

Es kann nicht bezweifelt werden, dass die geplanten GMD-Anlagen in Polen und der Tschechischen Republik längerfristig ein Problem für das russische Abschreckungspotential darstellen. Insbesondere unter der Perspektive, dass die russischen Arsenale altersbedingt weiter verringert werden müssen und aufgrund der forcierten militärtechnischen US-Rüstung sowie der Möglichkeit des weiteren Baus von GMD-Komponenten in Europa sind verstärkte Rüstungsanstrengungen Russlands und der Aufbau von Bedrohungsszenarien wahrscheinlich. Nach der jüngsten Einschätzung der US-Geheimdienste bestehen für die Europäer Zeit und zusätzliche Argumente, die GMD-Stationierung zu verschieben und eine Lösung des Disputs mit dem Iran voranzutreiben. Auch müssen die Europäer deutlich machen, dass Alternativen wie seegestützte Raketenabwehrsysteme oder die Einbeziehung von russischen Frühwarnradars im Falle einer ernsten Bedrohung aus dem Mittleren Osten existieren, die weiter verfolgt werden können, wenn dieser Fall eintritt. Eine Mitsprache Europas bei der geplanten Raketenabwehr kann schon dadurch begründet werden, dass Trümmerteile von Interzeptoren, Raketen oder Sprengköpfen beim Abfangen auf europäischem Territorium landen würden.

Anmerkungen

1) Siehe: Arms Control Association: „International Appeal Bring the Adapted CFE Treaty into Force“, http://www.armscontrol.org/pressroom/2007/20071204_CFE_Appeal.asp.

2) President Bush Visits National Defense University, Discusses Global War on Terror, October 23, 2007 [http://www.whitehouse.gov/news/releases/2007/10/20071023-3.html].

3) Timothy Barnes: Fiscal Year 2008 Defense Budget: Programmes of Interest, Center for Defense Information, http://www.cdi.org/program/issue/document.cfm?DocumentID=4130&IssueID=79&StartRow=1&ListRows=10&appendURL=&Orderby=DateLastUpdated&ProgramID=6&issueID=79.

4) Obering III, Lt. Gen. Henry A., Director Missile Defense Agency, Written Statement before the Strategic Forces Subcommittee, House Armed Services Committee, March 27, 2007; viewgraph 17.

5) Lt Gen USAF H.A. Obering (Director MDA), Missile Defense For U.S. Allies And Friends, Presentation, March 2007; P. Sanders (Executive Director, MDA), Missile Defense Program Overview For The European Union, Committee On Foreign Affairs, SEDE, Presentation, 28 June 2007 (viewgraph 26).

6) Siehe George N. Lewis & Theodore A. Postol: The Technological Basis of Russian Concerns, in: Arms Control Today, October 2007, p.13-18.

7) Richard L. Garwin, Ballistic Missile Defense Deployment to Poland and the Czech Republic, Talk at the Erice International Seminar, 38th Session, August 21, 2007.

8) Siehe z.B. K.A. Lieber & D.G. Press: The Rise of U.S. Nuclear Primacy, in: Foreign Affairs, March/April 2006.

Prof. Dr. Götz Neuneck, Physiker, Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) Universität Hamburg und Sprecher des Arbeitskreises Physik und Abrüstung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), Mitglied im Council der Pugwash Conference on Science and World Affairs. Dr. habil. Jürgen Altmann, Experimentelle Physik III, Universität Dortmund, arbeitet seit 1985 an naturwissenschaftlichen Fragen der Abrüstung. Stellvertretender Sprecher des Arbeitskreises Physik und Abrüstung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, Mitglied im Vorstand von FONAS.

Die Gabala Offerte

Die Gabala Offerte

von Jürgen Nieth

Der sprachlose Präsident

»George W. Bush ist ein Mann der klaren Sätze. Am
vergangenen Donnerstag (07.06.) allerdings wirkte der US-Präsident im sonnigen
Heiligendamm seltsam unentschieden. Er lächelte zwar meist, doch zu einer
klaren Aussage schien Bush nicht fähig zu sein, als er neben Wladimir Putin
stand und über das gemeinsame Gespräch berichten sollte. Der russische
Präsident habe ›ein paar interessante Vorschläge gemacht‹, wand sich Bush. Man
werde darüber jetzt ›einen strategischen Dialog‹ führen… Deutlicher wurde er
nicht«
(Spiegel 11.06.07, S.24). Was war passiert?

Für russisch-amerikanische Raketenabwehr

Putin hatte in Heiligendamm angeboten, an Stelle der von der
US-Regierung geplanten Raketenabwehr in Polen und Tschechien gemeinsam die
russische Radarstation in Gabala/Aserbaidschan zu nutzen. Über diese Anlage
schreibt die FAZ (09.06.07). Sie ist »1985 als Teil des sowjetischen
Frühwarnsystems gegen Raketenangriffe in Dienst gestellt worden. Sie hat eine
Reichweite von 6.000 km und soll in der Lage sein, Raketenstarts in den Ländern
der südlichen Hemisphäre zu registrieren und die Flugbahn der Raketen zu
verfolgen. Von Gabala aus wird so der Luftraum und der Weltraum über Iran,
Pakistan und der Türkei, Indien, Irak und eines Teils von China überwacht.«
Russland
hat diese Station bis 2012 gepachtet und der aserbaidschanische Präsident
signalisierte sofort seine Zustimmung zu einer gemeinsamen
russisch-amerikanischen Nutzung.

Die US-Raketenpläne für Osteuropa

Die US-Pläne sehen vor, in Tschechien eine Radarbasis zu
bauen, die Aufklärungsdaten an eine polnische Station liefert, von der dann
Abfangraketen aufsteigen können. Jeanne Rubner schrieb dazu in der Süddeutschen
Zeitung (SZ 25.01.07): »Die ›Missile Defense‹, die mindestens zehn Miliarden
Dollar kosten soll, ist das kärgliche Überbleibsel des ambitionierten ›Krieg
der Sterne‹-Programms des früheren Präsidenten Ronald Reagan.«
Rubner
kritisiert weiter, dass »die gesamte Technik noch nicht ausgereift ist«, und
»die USA den Schutzschild an der NATO und auch an der EU vorbei«
planen.

Die FAZ wundert sich allerdings darüber, dass Bush von
Putins-Offerte überrascht wurde: »Russische Sicherheitsfachleute hatten
schon 2004 über einen solchen Vorschlag an die Vereinigten Staaten nachgedacht…
(und) ein russischer Diplomat (habe schon drei Wochen vorher) im Gespräch mit
einer aserbaidschanischen Zeitung angedeutet, dass die Möglichkeit einer
gemeinsamen Nutzung von Gabala schon während des Besuchs des amerikanischen
Verteidigungsministers, Robert Gates, in Moskau angesprochen worden sei.«

Politikerecho in Deutschland

Ein Teil der deutschen Politiker gab sich zuerst einmal
positiv wertend gegenüber der Putin-Initiave, so z.B. Edmund Stoiber in einem
Spiegelinterview: »Wir Deutsche haben ein elementares Interesse an einer
echten Partnerschaft mit Russland. Ein gemeinsamer Abwehrschirm von
NATO-Staaten und Russland gegen Raketen aus Iran oder Nordkorea wäre sicher
besser als eine rein amerikanische Lösung in Osteuropa. Das wäre wohl nicht
konsensfähig mit den Russen und könnte Europa neuerlich spalten«
(11.06.07,
S.42). SPD-Chef Beck äußerte die Hoffnung, »dass Putins Vorschlag dazu
beitrage, ein neues Wettrüsten und ein ›Auseinanderdividieren Europas‹ zu
verhindern«
(SZ 11.06.07). Verhaltener waren die Kommentare des Außen- und
des Verteidigungsministers. Steinmeier bezeichnet den Vorschlag als ein »Signal
des Dialogs und der Entspannung«.
Während der Prüfung sollten sich alle
Beteiligten einer »voreiligen Bewertung enthalten« (SZ 09.06.07) Franz
Josef Jung äußerte gegenüber der Bild am Sonntag (10.06.07) Genugtuung darüber,
»dass auch Russland offensichtlich von der Notwendigkeit eines Schutzes
gegen Raketen überzeugt ist«.
Er sagte zu, »im Rahmen der NATO und im
NATO-Russland-Rat über eine mögliche Ausgestaltung eines Schutzschildes zu
diskutieren«.

Vorschlagsgegner

Das Iranische Parlament kritisierte den Vorschlag Putins
scharf: »Der Iran darf nicht zum Spielball der Konflikte zwischen den
Weltmächten werden«,
sagte ein Sprecher des Auswärtigen Ausschusses laut
Frankfurter Rundschau (FR 11.06.07). Der Generalsekretär der NATO, Jaap de Hoop
Scheffer, äußerte Zweifel daran, »ob die Anlage in Aserbaidschan die
technischen Voraussetzungen erfülle, zumal sie ›ein bisschen sehr nahe‹ an den
Schurkenstaaten sei, über die man rede«
(FAZ 09.06.07).

Und was kommt vom treuesten Verbündeten Bushs, von Tony
Blair? Er antwortet in einem Spiegelinterview auf die Frage, was er von Putins
Vorschlag halte: »Ich kann das nicht beurteilen, ich bin kein Fachmann auf
diesem Gebiet«
(Spiegel 11.06.07, S.111).

Bushs Verlegenheit – nur für zwei Tage?

Am 09. Juni traf der US-Präsident den polnischen
Präsidenten, Lech Kaczynski. Dazu die FR (11.06.07): »Bush hat bei seinem
Besuch in Polen … keine Bereitschaft geäußert, auf die Stationierung von
Anti-Raketen-Raketen in dem ehemaligen Ostblockland zu verzichten.«
Er
bekräftigte lediglich die alten Aussagen, nach denen man keine aggressiven
Absichten verfolge. Bush wörtlich: »Das System, das wir vorgeschlagen haben,
ist nicht gegen Russland gerichtet.«
Staatspräsident Lech Kaczynski
bekundete derweil »erneut seine Unterstützung für die US-Pläne« (Welt
11.06.07). »Zu einem möglichen Standort äußerten sich Bush und Kaczynski
erwartungsgemäß nicht, aber in Warschauer Regierungskreisen heißt es, als
Standort für die Abfangraketen sei der stillgelegte Flughafen Redzikowo am
Stadtrand von Stolp ausgewählt worden.«

Putins Strategie

Während in einigen Pressekommentaren Putins Vorschlag als
Ablenkungsmanöver bezeichnet wird, schreibt Kai Ehlers in der Wochenzeitung
Freitag (15.06.07): »Aber nein, dieser Vorschlag ist keine Finte … Der
Präsident hält an seinem Kurs fest, Russland stabilisieren und die
Selbstachtung des Landes als Subjekt des Weltgeschehens … wiederherstellen …
Insofern ist der Vorschlag … darauf geeicht, die Bedrohung von außen zu
minimieren, einen sich bereits abzeichnenden Dissens mit der EU wegen der
US-Raketenpläne aufzufangen und die Amerikaner zum Offenbarungseid zu zwingen
:
Welchen wirklichen Zweck verfolgen sie mit Abwehrraketen, die in Polen
disloziert werden sollen

»SDI light« oder die Aushöhlung des ABM-Vertrages1

»SDI light« oder die Aushöhlung des ABM-Vertrages1

von Götz Neuneck

Mitte März 1999 stimmten US-Senat und Repräsentantenhaus mit deutlicher Mehrheit für die Errichtung eines neuen territorialen Raketenabwehrsystems mit der Bezeichnung »National Missile Defense« (NMD), dem potenziellen Nachfolger des legendären »Star Wars«-Konzeptes von Ronald Reagan. Präsident Clinton hatte bereits Anfang Januar 1999 verkündet, dass zusätzlich fast 7 Mrd. $ für die Entwicklung von NMD ausgeben werden sollen. In der Resolution des Senats heißt es, dass eine Stationierung erfolgt sobald dies „technologisch möglich“ ist. Damit hat die Clinton-Administration dem jahrelangen Druck der Republikaner nachgegeben und eine Stationierung ist in greifbare Nähe gerückt, auch wenn das Unterfangen technologisch und rüstungskontrollpolitisch höchst fragwürdig ist. Die USA sind dem Aufbau eines ABM-unverträglichen Abwehrsystems einen entscheidenden Schritt näher gerückt. Das geplante System fußt auf einer Bodenkomponente, die durch eine vertragswidrige globale Radar- und Weltraumkomponente ergänzt wird und »bei Bedarf« ausgebaut werden kann. Zwar wird als Aufgabe von NMD die Abwehr der Bedrohung durch die sog. Schurkenstaaten wie z.B. Nordkorea ausgegeben, unterlaufen werden in erster Linie aber die Bestimmungen des ABM-Vertrages, der die Stabilität der strategischen Potenziale der USA und Russlands und damit die Option tiefgreifender strategischer Abrüstung ermöglicht. Eine endgültige Entscheidung für eine Stationierung, die im Jahr 2005 erfolgen könnte, soll im nächsten Jahr getroffen werden, die Weichen für das Ende der ABM-Vertrages, der den Eckpfeiler der nuklearen Abschreckung bildet, sind damit jedoch gestellt.

NMD-System
Funktionsdiagramm des geplanten NMD-Systems

Der Aufbau von Kapazitäten zum Abfangen von Trägersystemen steht seit Anfang der 90er Jahre in Verbindung mit der Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen im Mittelpunkt US-amerikanischer Verteidigungsanstrengungen. Das Counterproliferationskonzept sieht ein breites Spektrum von Maßnahmen vor, um Weiterverbreitung zu verhindern und aktive und passive militärische Aktionen einzuleiten, wenn die Nichtverbreitungspolitik versagt hat. Der finanziell, organisatorisch und konzeptionell wichtigste Schwerpunkt liegt bei dem Aufbau mehrschichtiger Raketenabwehrsysteme. Beim Amtsantritt Clintons wurde insbesondere die Abwehr von Kurz- und Mittelstreckenraketen ins Zentrum der F&E gerückt. Nunmehr soll verstärkt die landesweite Raketenabwehrentwicklung vorangetrieben werden.

Von SDI zur Theater Missile Defense: Waiting for a Hit

1983 hatte US-Präsident Reagan die »Strategic Defense Initiative« (SDI) verkündet, deren Ziel darin bestand, eine kontinentale Weltraumverteidigung aufzubauen um Nuklearwaffen »impotent« und »obsolet« zu machen. Technologisch wurden u.a. weltraumgestützte Laser- und Strahlenwaffen favorisiert. Analysen zeigten jedoch, dass mit den damals vorgeschlagenen Technologien eine perfekte Abwehr unter zumutbaren Kosten nicht erreichbar war. Im Gegenteil: Erstschlagszwänge, vermehrtes Wettrüsten und enorme Kosten wären die Folge gewesen. Neben einer nationalen Raketenabwehr und einer weltraumgestützten Abwehrkomponente (brilliant pebbles) unter Bush wurde auch die »Theater Missile Defense« (TMD) unter Clinton zur Bekämpfung von taktischen Raketen ins Gespräch gebracht.2 Mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation und der Chance zu verstärkter nuklearer Abrüstung schien der Aufbau einer »Raketenmauer« gegen hunderte anfliegende Sprengköpfe nicht mehr nötig zu sein. Die Clinton-Administration konzentrierte sich auf die umgehende Stationierung vorhandener Technologien zum Schutze kleinerer Gebiete auch außerhalb der USA. Die Bedrohung durch die sog. Schurkenstaaten ersetzte die Bedrohung durch die nicht mehr vorhandene Sowjetunion.

Die Entwicklungsprogramme für die mobile »Theater Missile Defense« (TMD), die von der Administration vorangetrieben wurden, umfassen sowohl die Verbesserung von vorhandenen Systemen (PATRIOT) zur Punktverteidigung als auch die Neuentwicklung von Flächenverteidigungssystemen der Army und der Navy, die sogar Mittelstreckenraketen abfangen sollen. Das TMD-Programm enthält verschiedene Kernkomponenten, die in mehreren Schichten gekoppelt werden können (multi-tier-systems). Die zweifelhaften Erfolge der PATRIOT-Raketen3 im Golfkrieg 1991 haben zu einer Verbesserung der eingesetzten Systeme geführt. Die Flugabwehrrakete HAWK wird bei den US-Marines eingeführt. Das MEADS-Projekt, an dem auch die BRD und Italien beteiligt sind, wird von den USA z.Z. nicht mehr prioritär unterstützt. Die Seemobile Raketenabwehr der Navy besitzt ein hohes Maß an weltweiter Beweglichkeit und würde erstmalig der Navy Raketenabwehr-Aufgaben zuweisen.

Während die bereits existierenden radargelenkten Abwehrsystemen für geringe Höhen innerhalb der Atmosphäre zur Punktverteidigung ausgelegt sind, befindet sich gleich fünf Flächenverteidigungssysteme in der Entwicklung:

Das »Theatre High Altitude Area Defense« System (THAAD) erlaubt die Einleitung des Abfangens innerhalb und außerhalb der Atmosphäre mittels des Abschusses mehrerer Abfangraketen nacheinander. Nach den Vorstellungen des Pentagon können auch Raketen mit einer Reichweite bis zu 3.500 km von mehreren Abwehrsystemen abgefangen werden. Die in der Entwicklung befindlichen Systeme THAAD und »Navy Theater Wide« sollen Raketen in der Mittelphase ihres Fluges (Midcourse Defense) im »Hit-to-kill«-Verfahren, also durch direkte Treffer, zerstören. Für jedes der Systeme sind lediglich 11 Tests vorgesehen. Bisher erwiesen sich die ersten acht THAAD-Tests meist als Misserfolge.5 Die Aufgabe, die man sich hier technologisch gestellt hat, ist vergleichbar mit dem Unterfangen, eine Gewehrkugel mit einer Gewehrkugel abzuschießen. Die Navy verweist darauf, dass eine schiffsstationierte Raketenabwehr (z.B. im Pazifik) Vorteile gegenüber einer Landstationierung besitzt, da die Wahrscheinlichkeit, anfliegende Sprengköpfe z.B. aus Nordkorea oder China abzufangen, um so größer ist je mehr Schiffe stationiert werden.6 2001 wird sich das Pentagon entweder für THAAD oder Navy Theater Wide entscheiden. Mit finanzieller und technischer Unterstützung der USA arbeitet Israel seit 1988 an der ARROW-Abfangrakete. Zwischen Japan und den USA finden Gespräche über eine Zusammenarbeit auf dem TMD-Sektor statt.7

Während sich TMD-Systeme auf die Spätphase der ballistischen Flugbahn eines Sprengkopfes konzentrieren, werden auch Anstrengungen unternommen, Raketen direkt am Abschussort oder in der Startphase auszuschalten (Boost Phase Intercept; BPI). Als BPI-Waffe werden sowohl energiereiche Laser als auch Raketen oder Drohnen in Betracht gezogen, die von Flugzeugen aus sicherer Entfernung in die Richtung der Startplatzes der Rakete abgeschossen werden.8 Eine offensive und permanente Stationierung der Systeme über dem Raketenabschussgebiet ist dazu nötig.

Ein Problem, das der ABM-Vertrag hinterlassen hat, ist die Unterscheidung von strategischen und nichtstrategischen ballistischen Raketen. Die Entwicklung und Stationierung von THAAD bzw. dem Navy Theater Wide-System ist zwar nach der russisch-amerikanischen Einigung beim Gipfel in Helsinki bzw. aufgrund der »Demarcation Agreements« als mit dem ABM-Vertrag kompatibel erklärt worden. Sollten beide Systeme erfolgreich getestet und stationiert werden, haben sie in Verbindung mit einer globalen Frühwarnkomponente im Weltraum jedoch signifikante Fähigkeiten auch zur Abwehr strategischer Raketen.9 Am 26. September 1997 unterzeichneten die USA und Russland zwei separate »Agreed Statements«, um sich über die in der Entwicklung befindlichen US-Systeme zu einigen, die ABM-vertragskonform sind. Das »Low-speed agreement« besagt, dass jedes System erlaubt ist, das nicht schneller als 3 km/s fliegt und nicht gegen Ziele getestet wurde, die schneller als 5 km/s fliegen. Das »High-speed agreement« erlaubt Systeme, die denselben Testbeschränkungen wie die »Low-speed-Systeme« unterzogen sind. Es verpflichtet die Vertragsparteien lediglich dazu, Konsultationen abzuhalten und Fragen und Probleme zu diskutieren. Immerhin ist die Stationierung von Abfangsystemen im Weltraum verboten.10

Das Streben nach Schutz von alliierten Truppen oder Bevölkerungszentren im regionalen Kontext, insbesondere in konfliktträchtigen Regionen (Naher Osten, koreanische Halbinsel), erscheint legitim. Es ist jedoch vor allem angesichts hoher Kosten zu bedenken, dass ein vollständiger Schutz nicht möglich ist. Gegenmaßnahmen wie eine verstärkte Stationierung (d.h. Wettrüsten) sind ebenso möglich wie einfache technische Gegenmaßnahmen um die Flugbahn unberechenbar zu machen. Auch könnte sich bei Truppen oder der Bevölkerung ein illusionäres Sicherheitsgefühl einstellen. Schließlich besteht nach wie vor die Möglichkeit, dass eine umfassende Stationierung von Abfangsystemen auch strategische Arsenale berührt. Selbst wenn die Abwehr nicht effizient ist, was sich möglicherweise erst im Konfliktfalle herausstellt, so bildet sie für gegnerische Planer einen Unsicherheitsfaktor, der durch eine Verstärkung der Offensivkomponente »ausgeglichen« werden kann. Fortgesetzte Raketenrüstung wäre die Folge.

Aus »3+3« wird »3+5«:
Das geplante NMD-System

Für eine neue Diskussion über die Notwendigkeit von Raketenabwehrsystemen sorgte 1998 die Rumsfeld-Kommission.11 In ihrem Bericht wurde erklärt, dass Nordkorea und der Iran „die Fähigkeit erwerben könnten, die USA mit ballistischen Raketen zu treffen, falls sie die Entscheidung dazu träfen.“ Beide Staaten könnten dieses Ziel schon in fünf Jahren erreichen, wenn sie die Entscheidung zum Bau einer solchen Rakete träfen. Die Studie kritisiert die Analysen der US-Geheimdienstkreise, die im Rahmen ihrer »National Intelligence Estimate« 1995 eine Vorwarnzeit von 15 Jahren angaben.12 Der Report behauptete jedoch weder, dass diese Entwicklung sehr wahrscheinlich sei, noch dass dies die einzige vorstellbare Bedrohung wäre. Es wurden keine Angaben darüber gemacht, wie die US-Regierung auf diese spezifische Gefahr reagieren solle. Andere Bedrohungsformen, die wesentlich einfacher und damit wahrscheinlicher sind, wurden nicht analysiert. Die Studie gab insbesondere den notorischen NMD-Befürwortern aus dem Kreise der Republikaner Anlass zu behaupten, die Bedrohung für die USA werde signifikant zunehmen und sie könne durch eine Raketenabwehr wirkungsvoll bekämpft werden. Die Einschränkungen, die die Studie bei ihrer Analyse gemacht hatte, fielen in der öffentlichen Diskussion weg.

Zweck des geplanten NMD-Systems ist die Abwehr von begrenzten, unautorisierten oder unbeabsichtigten Angriffen durch Raketen z.B. aus den Kernwaffenstaaten Russland und China – der angeblich wachsenden Bedrohung aus den »rogue states«. Verteidigungsminister Cohen zufolge soll die am 31. August 1998 getestete nordkoreanische Taepo-Dong 1 typische Charakteristika einer Interkontinentalrakete (ICBM) aufweisen.13 Der Bau einer nordkoreanischen ICBM erscheint zwar prinzipiell möglich, jedoch wenig wahrscheinlich. Eine längere Vorwarnzeit ist genauso gegeben wie diverse Reaktionsmöglichkeiten (Diplomatie, Militäraktionen etc.) und US-Militärexperten verweisen auch darauf, dass China verstärkt Raketen an seiner südöstlichen Grenze gegenüber Taiwan stationiert.14

Den permanenten Druck der Republikaner zum Aufbau einer landesweiten Raketenabwehr hatte die Clinton-Administration 1996 mit dem 3+3-Programm beantwortet. Danach sollten die NMD-Komponenten erst drei Jahre lang entwickelt werden um bei erfolgreichen Tests dann innerhalb von drei Jahren stationiert werden zu können. Die endgültige Stationierungsentscheidung soll nun im Juni 2000 getroffen werden. Laut Cohen soll sie nur dann erfolgen, wenn eine Bedrohung vorhanden ist und wenn die NMD-Tests erfolgreich verlaufen. Er verwies darauf, dass in diesem Falle der ABM-Vertrag geändert werden müsse. Irritationen löste Cohen aus als er erwähnte, die USA könnten sich vom ABM-Vertrag zurückziehen falls Russland den Änderungen nicht zustimme.15

Der neue National Missile Defense Act: Ein Etappensieg für die Abwehrbefürworter

Mitte März 1999 stimmten Senat und Repräsentantenhaus des US-Kongresses mit deutlicher Mehrheit für die Errichtung des neuen territorialen Raketenabwehrsystems NMD. In der Resolution des Repräsentantenhauses heißt es, dass „es die Politik der Vereinigten Staaten ist, ein Nationales Verteidigungssystem aufzustellen“. In dem »National Missile Defense Act« des Senats vom 17. März ist darüber hinaus zu lesen, dass die Stationierung einer effektiven Raketenabwehr erfolgt sobald dies „technologisch möglich“ ist. Andere Kriterien wie die ABM-Verträglichkeit, die tatsächliche Bedrohung, die Kosten-Nutzen-Relation oder die Effizienz16 besitzen offensichtlich nur noch zweitrangige Bedeutung.17 Präsident Clinton hatte bisher die Vorschläge der Republikaner zur sofortigen Einführung einer Raketenabwehr „zum technologisch frühestmöglichen Zeitpunkt“ durch sein Veto abgelehnt. Nun hat sich die Administration selbst in Zugzwang gebracht. Ausschlaggebend werden nun die geplanten Tests und die fortgesetzte Bedrohungsdiskussion sein. Angesichts enormer Geldmittel, die in die NMD-Entwicklungen fließen, ist eine Stationierung allein aus politischen Gründen (Gesichtswahrung, Schutzfunktion gegenüber der Bevölkerung etc.) in den nächsten Jahren wahrscheinlich. Damit ist ein schrittweises Aufweichen des ABM-Vertrages vorprogrammiert und die strategische Rüstungskontrolle wird signifikant erschwert.18

Das NMD-System:
Boden- und weltraumgestützt

Die Systemarchitektur des geplanten NMD-Systems besteht aus:

  • einer landgestützten Abfangkomponente, im Wesentlichen landgestützte Abfangraketen (Ground Based Interceptor; GBI)
  • land- und weltraumgestützten Frühwarn- und Bahnverfolgungskomponenten:landgestütztem Radar (Ground Based Radar; GBR)
    verbesserten Frühwarnsystemen (Upgraded Early Warning Radar; UEWR)
    einem weltraumgestützten Warn-und Verfolgungssystem (Space and Missile Tracking System; SMTS) und
  • einem Gefechtsfeldkoordinationssystem (Battle Management/Command, Control and Communications; BM/C3).

Der Schwerpunkt von NMD liegt auf der Vernichtung von anfliegenden Sprengköpfen in großer Höhe außerhalb der Atmosphäre. Entscheidend für den technischen Erfolg sind ein frühzeitiges Erkennen der Ziele, eine präzise Bahnverfolgung und das Heranführen der landstationierten Abfangraketen an die Zielobjekte. Die Clinton-Administration hat erklärt, dass die »Hit-to-kill«-Abfangraketenkapazität auf 100 Exemplare beschränkt werden soll, so wie dies der ABM-Vertrag vorschreibt. Diese Systeme werden eingebunden in ein »Space and Missile Tracking System« (SMTS), das aus vorhandenen und noch zu stationierenden Frühwarnsatelliten besteht. Seit 1970 melden die »Defense Support Program« (DSP) -Satelliten Raketenstarts aus einer geostationären Umlaufbahn. Im Rahmen des »Space-Based Infrared System« (SBIRS) sollen bis zu 30 Exemplare diese Aufgaben übernehmen. Vier »SBIRS-High«-Satelliten sollen dann die DSP-Muster ersetzen. 16-24 »SBIRS-Low«-Satelliten sollen die Verfolgung aus niedrigeren Umlaufbahnen unterhalb von 500 km übernehmen. Ein Verbund von Radaranlagen vervollständigt das Warn- und Verfolgungssystem.

Im April 1998 hat die BMDO die Firma Boeing als Hauptkontraktor bekanntgegeben. Der Konzern ist nicht nur für die Integration der NMD-Komponenten verantwortlich, sondern auch für die Demonstrationstests und die Vorbereitung der Stationierung. Mitte 1998 wurde eine Startrakete für den »Ground-Based Interceptor« ausgewählt.

Zunächst sind fünf Tests geplant. Der erste Test des integrierten Systems ist für 2001 vorgesehen. Als Stationierungsort für die GBI/ GBR wird Grand Forks in North Dakota genannt. Ist jedoch der Schutz des gesamten US-Territoriums erwünscht, so sind Stationierungen in Nord-Alaska oder an anderen Orten nicht ausgeschlossen. Um die komplette Flugbahn einer anfliegenden Rakete beobachten zu können, werden derzeit die vorhandenen Frühwarnradars der USA modernisiert, so auch die Radaranlagen in Thule (Grönland), Fylingdales (UK) sowie die »Clear Air Station« (Alaska). Möglich erscheint auch, dass zusätzliche Forward-Based Radars (FBRs) in Alaska oder an der Ost- bzw. Westküste errichtet werden. Um anfliegende Sprengköpfe schon jenseits des Horizonts erfassen zu können, sind Satelliten in niedriger Umlaufbahn erforderlich. Die Stationierung von »SBIRS-Low«-Satelliten ist für 2004 vorgesehen. Das SMTS-System unterstützt dabei nicht nur die territoriale Verteidigung der USA, sondern auch die Raketenabwehr TMD auf den einzelnen Kriegsschauplätzen. Die US Air Force plant darüber hinaus die Entwicklung und Stationierung eines weltraumgestützten Lasers (Space-Based Laser SBL), der anfliegende Raketensprengköpfe aus einer maximalen Entfernung von einigen 100 km zerstören soll. Die Stationierung eines solchen Systems ist durch den ABM-Vertrag zweifelsfrei verboten. Erste Tests sollen zwischen 2005 und 2008 durchgeführt werden.19

Die bisherigen Abfangtests in großer Höhe haben wenig Erfolge erzielt. Von den bisherigen 16 Tests 1982-98 wurde das Ziel lediglich in zwei Fällen getroffen. Für das Safeguard ABM-System der 70er Jahre wurden alleine 111 Flugtests durchgeführt. Bis zur Stationierungsentscheidung des NMD-Systems im nächsten Jahr sind nur vier Tests geplant. Ohne erfolgreiche Flugtests gegen reale Ziele ist eine Bewertung des gesamten Abfangprozesses jedoch ein technisch gewagtes Unternehmen. Bereits ein Bericht unter Federführung von General a.D. Larry Welch vom 27. Februar 1998 verwies darauf, dass der Zeitplan zur Stationierungsentscheidung bis 2000 unrealistisch ist.20

Die Kosten

Clinton kündigte eine drastische Erhöhung des US-Rüstungsetats um 100 Mrd. $ im Laufe der nächsten sechs Jahre an. Zudem wollen die USA etwa 7 Mrd. $ zusätzlich in die verstärkt vorangetriebene NMD-Entwicklung verteilt auf die nächsten sechs Jahre investieren. Bis zum Jahr 2005 werden mindestens 10,5 Mrd. $ für den SDI-Nachfolger ausgegeben werden.

Seit Reagans SDI haben die USA ca. 67 Mrd. $ für diverse Raketenabwehrprojekte ausgegeben.21 Im Durchschnitt wurden 3 Mrd. $ pro Jahr für die BMDO aufgewandt, pro Jahr ca. so viel wie für SDI. Bis 2005 sollen die jährliche Ausgaben für NMD verdreifacht werden. Ein BMDO-Sprecher hat bereits erklärt, dass die NMD-Kosten in der Fünfjahresperiode eher bei 13 Mrd. $ liegen.22 Sollten die geplanten Systeme gebaut werden, werden die Kosten weiter ansteigen. NMD und TMD könnten die USA in den nächsten fünf Jahren an die 31 Mrd. $ kosten.23 Die Operations- und Unterhaltungskosten könnten bei 2 bis 4 Mrd. $ jährlich liegen. Die Bilanz ist dürftig. Bis heute konnte kein einziges strategisches System erfolgreich stationiert werden. Die meisten Tests schlugen fehl.

Konsequenzen für den ABM-Vertrag:
The end is at hand

Die Einstellung der Clinton-Administration zum ABM-Vertrag war stets ambivalent, da sie ihre NMD-Entwicklungen als »demonstration readiness program« ausgelegt hat. Zum einen wurde der Erhalt des Vertrages als zentrales Element der US-Sicherheitspolitik angesehen, zum anderen hat das 3+3-Programm jedoch die Weichen für eine Stationierung gestellt. Nach drei Jahren Entwicklung sollten die Technologien bereitstehen, um innerhalb von drei Jahren diese Systeme stationieren zu können falls eine Bedrohung festgestellt wird.

Ziel des 3+3 NMD-System war stets die Verteidigung des gesamten US-Territoriums einschließlich Hawaii und Alaska, nicht die Verteidigung einer „individuellen Region“, wie dies der ABM-Vertrag verlangt. Artikel 1 Ziffer 2 schreibt vor, „keine ABM-Systeme zur Verteidigung des Territoriums des eigenen Landes zu stationieren und keine Basis für eine solche Verteidigung vorzusehen“.

Die Administration ist der Meinung, dass die Stationierung von 100 Abfangraketen mit dem ABM-Vertrag vereinbar ist. Die Errichtung einer Abfangstellung mit maximal 100 Interzeptoren, eine Art „dünne Verteidigung“, ist laut Vertrag zwar erlaubt, bezieht sich aber nur auf die Verteidigung einer „individuellen Region“. Im Übrigen ist solch ein ABM-System, das über die globale, boden- und weltraumgestützte Frühwarninfrastruktur verfügt, im Falle einer neuen globalen Konfrontation durch das Hinzufügen weiterer Interzeptoren und Stellungen sehr schnell in eine umfassendes Raketenabwehrsystem zu verwandeln. Das jetzt geplante NMD-Programm stellt die Weichen im Hinblick auf den Schutz der gesamten USA. Zudem können durch die Weltraumkomponente die geplanten TMD-Systeme strategische Abwehrkapazitäten erreichen.

Auch verlangt der Vertrag, dass alle ABM-Systeme inkl. Radar in ihrer Gesamtheit nur an einem einzigen Ort errichtet werden dürfen. Die geplanten Radaranlagen decken hingegen den ganzen Globus ab. George Lewis vom MIT kommt zu dem Ergebnis: Die sogenannten »single-site« NMD-Systeme, die im Augenblick diskutiert werden, besitzen in Wahrheit »multiple-site«-Charakter.24 Die geplanten vornestationierten Radaranlagen und das weltraumgestützte SMTS-System sind darauf ausgelegt, einen Raketenstart frühzeitig zu erkennen und zu verfolgen. Da die verschiedenen Elemente netzwerkähnlich zusammengeschaltet werden können, bilden sie das wesentliche Element des NMD-Systems. Möglicherweise gelingt es, den ABM-Vertrag zu modifizieren und das NMD-System, falls es stationiert wird, so auszulegen, dass es ABM-kompatibel wird. Sind die entwickelten Abwehrtechnologien und globalen Standorte des Frühwarnsystems jedoch erst einmal vorhanden, ist eine Ausweitung nur eine Frage der Zeit. Der Erhalt der nuklearen Abschreckung wird somit langfristig gefährdet.

Reaktionen: Ablehnung – aber was ist die Alternative

Der russische Außenminister Iwanow lehnte eine Änderung des ABM-Vertrages kategorisch ab. Eine neuerliche Modifikation des ABM-Vertrages wird als bedrohlich für die russische Sicherheit angesehen, da sich bei Einführung der geplanten NMD-Systeme die strategische Balance beider Nuklearmächte längerfristig ändern wird. Eine Beibehaltung des ABM-Vertrages ist für Teile der russischen Duma eine wichtige Voraussetzung für die Ratifizierung des START 2-Abkommens. Eine ausbleibende Ratifizierung wird aber die Kräfte im US-Kongress stärken, die ein Ende des ABM-Vertrages fordern.

Die Clinton-Administration hat einen weiteren Schritt zur Aushöhlung des ABM-Vertrages getan, indem sie der Entwicklung von NMD-Technologien neuen Schwung verliehen hat. Diese Schritte komplizieren die weitere strategische Rüstungskontrolle – insbesondere die Ratifikation des START 2-Vertrages in der russischen Duma. Angesichts der faktischen Einführung von mobilen Raketenabwehrsystemen werden zusätzliche Anreize zum Erhalt von ballistischen Offensivpotentialen geschaffen. Die einfachste Möglichkeit, ein Abwehrpotenzial zu unterlaufen, ist die Beibehaltung vorhandener Offensivpotenziale oder die (Wieder-)Einführung von Mehrfachsprengköpfen. Dies könnte einmal erreicht werden, indem das Arsenal auf z.B. 2.000 Sprengköpfe eingefroren wird. Zum anderen könnte Russland seine veralteten SS-19 oder SS-18, die noch mit Mehrfachsprengköpfen ausgestattet sind, behalten. Vor dem Hintergrund des maladen Frühwarnsystems Russlands stiege die Wahrscheinlichkeit von Fehleinschätzungen in Krisensituationen. Eine positive Stationierungsentscheidung für ein NMD-System bedeutet, dass die strategischen Arsenale der Supermächte auf ihrem jetzigen Stand eingefroren werden. Die Hoffnungen auf ein START 3-Abkommen, das die strategischen Arsenale auf 1.000 nukleare Sprengköpfe beschränkt, wären auf unabsehbare Zeit zerstört. China könnte zusätzliche strategische Nuklearwaffen und verstärkt Mehrfachsprengköpfe einführen, da dies die einfachste Möglichkeit ist, eine »dünne Raketenabwehr« zu überwältigen. Ein verstärktes Raketenwettrüsten könnte bei einer Verschlechterung der Weltlage die Folge sein.

Große Beunruhigung lösen die US-Pläne auch im asiatischen Raum aus. Wie die Raketentests von Nordkorea, Pakistan und Indien zeigen, wird das Raketenwettrüsten im asiatischen Raum verstärkt fortgesetzt. Indien und Pakistan führten weitere Tests von Mittelstreckenraketen im April 1999 durch. Der Direktor der chinesischen Rüstungskontrollabteilung Sha Zukeng kritisierte das MTC-Regime25 als rüstungskontrollpolitisch ineffektiv und verwies auf den Zusammenhang von MTCR und ABM-Vertrag. Er regte eine Erweiterung des ABM-Vertrages und eine Multilateralisierung des MTC-Regimes an.26 Angesichts einer möglichen Raketenbedrohung werden die Stimmen in Washington und Taipeh lauter, die die Integration Taiwans in die TMD-Pläne der USA fordern.27 Eine offizielle chinesische Zeitung stellte eine Verschlechterung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen in Aussicht falls Taiwan in eine »asiatisch-pazifische Raketenverteidigung« einbezogen wird.28 Pläne zur Einführung von TMD-Systemen in den südpazifischen Raum werden von Japan unterstützt. Ein Sprecher des japanischen Außenministeriums hat kürzlich verlautbart, dass Nordkorea bereits Raketen stationiert haben könnte.29 In Südkorea wird die Option diskutiert, statt einer US-amerikanischen Raketenabwehr ein eigenes Raketenabschreckungspotenzial aufzubauen. Seoul hatte 1989 mit einem eigenen Raketenprogramm begonnen.

Es ist evident, dass die geplanten Abwehrsysteme nur einem Teil der möglichen Bedrohung begegnen können. Technische Gegenmaßnahmen wie die Vervielfachung der Sprengköpfe durch Attrappen oder Mehrfachsprengköpfe ermöglichen ein kostengünstiges Verfahren zum »Überlisten« von Raketenabwehren. Planer werden sich darauf nicht verlassen, sondern verstärkt für den Erhalt oder den Ausbau der strategischen Raketen plädieren. Anderen Bedrohungen wie dem Einschmuggeln von Massenvernichtungswaffen durch Schiffe oder der Verwendung von konventionellen Trägersystemen wie Flugkörpern, Flugzeugen oder Schiffen wird nicht begegnet. Es besteht die Gefahr, dass die finanziellen Mittel, die in das ABM-Vorhaben fließen, an anderer Stelle fehlen. So sollten besser die Frühwarnung und der passive Schutz gegenüber terroristischen Bedrohungen ausgebaut werden. Ein forciertes Vorantreiben der Abrüstung im Bereich der Massenvernichtungswaffen könnte die zukünftigen Bedrohungen dauerhafter verringern als die Einführung fraglicher globaler Abwehrtechnologien.

Die USA sollten mit den anderen Kernwaffenstaaten Verhandlungen mit dem Ziel aufnehmen, eine langfristige Einigung in Bezug auf den »Eckpfeiler« der strategischen Rüstungskontrolle, den ABM-Vertrag, zu erreichen. So könnte einerseits versucht werden, die geplanten Abwehrtechnologien auf eine kleine Zahl von Abfangsystemen und Orte zu beschränken, zum anderen könnte ein umspannendes Frühwarnsystem aufgebaut werden, das vor unautorisierten oder unbeabsichtigten Raketenstarts warnt und dessen Daten allen Parteien zugänglich sind. Im Rahmen des »Jahr 2000-Problems« findet bereits eine amerikanisch-russische Zusammenarbeit statt. Insbesondere das lückenhafte russische Frühwarnsystem sollte durch technische Hilfe gestärkt werden. Reduktionen der strategischen Arsenale, d.h. beschleunigter Abbau der Offensivwaffen und Maßnahmen zur Senkung des Alarmstatus (Dealerting, Demating) sollten eingeleitet werden. Die Weltgemeinschaft sollte sich mittels Rüstungskontrolle verstärkt dem Problem des fortgesetzten Aufbaus neuer Mittelstreckenraketenpotenziale und der Raketenproliferation zuwenden. Eine Multilateralisierung des MTC-Regimes und die Einführung von Zonen, die frei von Mittelstreckenraketen sind, sollten im Mittleren Osten und in Südasien in Betracht gezogen werden. Eine fortgesetzte strategische Abrüstung wie z.B. der Verzicht auf die Ersteinsatzoption, das Inkrafttreten des CTBT und von START 2, die Entsorgung von überschüssigen spaltbaren Materialien und die Denuklearisierung der taktischen Gefechtsfeldwaffen dienen besser dem Abbau von Bedrohungen als kostspielige Raketenabwehrtechnologien.

Chronologischer Überblick über die US-Pläne zur Raketenabwehr
Jahre Ereignis
1952 Die USA aktivieren NIKE-Abwehrraketen
1967-1969 Die USA schlagen das Sentinel (später Safeguard) Abwehrsystem vor
26. Mai 1972 Unterzeichnung des ABM-Vertrags durch Nixon und Breschnew
23.3.1983 Verkündung der Strategic Defense Initiative (SDI) durch Präsident Reagan
31.7.1989 Bush und Gorbatschow unterzeichnen den START 1-Vertrag
Januar 1991 Präsident Bush verändert den Schwerpunkt des SDI-Programms in Richtung auf einen Globalen Schutz gegenüber begrenzten Angriffen (GPALS)
Februar 1991 Im Golfkrieg werden die Patriot-Systeme gegen anfliegende irakische SCUDs eingesetzt
3. Januar 1993 Clinton und Jelzin unterzeichnen den START 2-Vertrag, der bis heute nicht in Kraft ist
Mai 1993 Aus der SDI-Organisation wird die Ballistic Missile Defense Organization (BMDO)

Anmerkungen

1) Dieser Aufsatz ist die Kurzfassung einer längeren Studie zur Problematik der Raketenabwehr. Eine ausführlichere Version erscheint in der Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden (S+F) 1/99.

2) Siehe dazu ausführlich: B.W. Kubbig, J. Scheffran, J. Altmann, W. Liebert, G. Neuneck: Von SDI zu GPALS, Dossier in: Wissenschaft und Frieden 2/1992.

3) Der US-Bundesrechnungshof spricht in seiner Analyse davon, dass 9 % der 45 irakischen SCUDs getroffen wurden. U.S. General Accounting Office: National Missile Defense – Schedule and Technical Risks Represent Significant Development Challenges, Dezember 1997 (GAO-NSIAD-98-28).

4) The Institute of Electrical and Electronics Engineers: Spectrum, Ballistic Missile Defense: Its Back, Special Report, September 1997, S. 26-69 (im folgenden zitiert als IEEE 1997) S.33.

5) Die ersten drei Tests hatten kein abzufangendes Ziel, so dass es nicht zu einem Abfangmanöver kam. Die Armee sprach von Erfolgen. Die nächsten Tests, bei denen versucht wurde Ziele abzufangen, waren Misserfolge. Offizielle Angaben finden sich unter http://www.acq.osd.mil/bmdolink/html/factsheet.html. Eine Analyse stammt von G. Lewis: Chronology of hit-to-kill missile tests, Cambridge/Mass. 16. April 1997.

6) Defense News, 15. März 1999, S.1.

7) Japan hat bereits AEGIS-Kreuzer bestellt und ist an dem Kauf von Patriot PAC-3 und THAAD sowie nach dem neusten nordkoreanischen Raketentest am Aufbau einer eigenen Verteidigung interessiert.

8) Für 1998 wurden 151,4 Mio. $ ausgegeben, für 1999 sind 292 Mio. $ veranschlagt. Geplant ist eine Flotte von 7 Boeing 747, von denen zwei ständig im Luftraum über dem Startgebiet sein sollen. U. S. General Accounting Office. Theater Missile Defense. Significant Technical Challenges Face the Airborne Laser Program, Washington D.C., October 1997 (GAO/NSIAD-98-37).

9) Lisbeth Gronlund, George Lewis, Theodore Postol, and David Wright, »Highly Capable Theater Missile Defenses and the ABM Treaty«, Arms Control Today, April 1994, pp. 3-8.

10) Zwei neue Prinzipien werden eingeführt und bleiben offen für eine mögliche Einigung: die Zahl der stationierten Systeme und das geografische Gebiet. Die Stationierung soll erlaubt sein, solange die »High-speed«-Systeme keine realistische Bedrohung für die strategischen Nuklearstreitkräfte darstellen. Dieses Kriterium ist höchst schwach da die Zahl der zu stationierenden Systeme relativ leicht hochgesetzt werden kann. Siehe dazu ausführlich: Lisbeth Gronlund: ABM: Just kicking the can, in: The Bulletin of the Atomic Scientists, January/February 1998, p. 15-16.

11) Executive Summary of the Report of the Commission to Assess the Ballistic Missile Threat to the United States, July 15, 1998. Geleitet wurde sie von dem ehemaligen Verteidigungsminister Rumsfeld. Mitglieder der Rumsfeld-Kommission waren u.a. General Lee Butler, James Woolsey, Barry Blechman und Larry D. Welch. (http://www.fas.org/irp/threat/bm-threat.htm).

12) Der »National Intelligence Estimate« (NIE) von 1995 kam zu dem Ergebnis, dass „kein anderes Land als die erklärten Nuklearmächte eine ballistische Bedrohung in den nächsten 15 Jahren entwickeln oder erwerben werden, die die angrenzenden 48 US-Staaten und Kanada erreichen“.

13) Die 1998 getestete Taepo-Dong 1 hat möglicherweise drei Stufen, von denen die letzte versagte. Nordkorea erklärte, die Rakete habe einen kleinen Satelliten in eine Umlaufbahn transportiert. Details siehe: David Wright: An Analysis of the North Korean Missile Launch of 31 August 1998, in: INESAP Information Bulletin 16, 1998, S.23-25.

14) Gesprochen wird allerdings von 150-200 Marschflugkörpern. (Süddeutsche Zeitung vom 11. Februar 1999, S.9) Diese würden von einem TMD-System jedoch nicht abgefangen werden können.

15) Cohen hatte auf die sechsmonatige Kündigungsfrist verwiesen, die der Vertrag einräumt. Robert Bell, Direktor für die Verteidigungsprogramme im »National Security Council« sprach wenige Tage darauf von einem „Missverständnis“. Er sagte: „The ABM treaty remains, in the view of this administrationen, a cornerstone of strategic stability.“ (Associated Press 22. Januar 1999).

16) Ein GAO-Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass die technischen Risiken der NMD-Systeme sehr hoch sind. U.S. General Accounting Office: National Missile Defense – Even with Increased Funding Technical and Schedule Risks Are High, Juni 1998 (GAO-NSIAD-98-153).

17) In einem Brief des Sicherheitsberaters Sand Berger an Senator Levin vom 3. Februar 1999 ist zu lesen, dass ein Stationierungsbeschluss von Faktoren wie Effektivität, ABM-Verträglichkeit und tatsächlicher Bedrohung abhängt.

18) G. Neuneck: Der START-Prozess – am Anfang oder am Ende ? in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden (S+F), Vol. 15 (2) 1997, S.85-91.

19) 1998 wurden für konzeptionelle Arbeiten 122,1 Mio. $ ausgegeben.

20) Report of the Panel in BMD Flight Test Programs, 27. Februar 1998.

21) Nach Berechnungen des Center for Strategic and Budgetary Assessment, Washington D.C.

22) »NMD Costs Estimate up 30 Percent since Last Week«, Defense Week, 19. Januar 1999.

23) Nach Schätzungen des Congressional Budget Office (CBO) kostet das kleinste System bestehend aus 100 GBIs, 500 SBLs und 24 Frühwarnsatelliten ca. 31 Mio. $. CBO: The Future of Theater Missile Defense, June 1995; CBO Letter to Chairman of the House National Security Committee Floyd Spence, June 3, 1996.

24) George Lewis: The U.S. 3+3 NMD Program and the ABM Treaty, in: Inesap Information Bulletin Nr. 16, November 1998, S. 26-28.

25) Das MTCR-Rüstungsexportkontrollregime wurde 1987 von einer Gruppe von Staaten gegründet um zu verhindern, dass komplette Raketensyssteme oder Subsysteme in die Hände von anderen Staaten fallen.

26) Defense News, 25. Januar 1999, S. 1-2.

27) Defense News 25. Januar 1999, S. 26.

28) Reuters 27. Januar 1999.

29) Nach dem nordkoreanischen Raketentest hatte die japanische Regierung beschlossen, vier Spionagesatelliten in den nächsten Jahren zu starten, um nordkoreanische Raketenstarts aufspüren zu können. Reuters 29. 1. 1999.

Dr. Götz Neuneck ist Wiss. Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

Raketenabwehr contra Proliferation

Raketenabwehr contra Proliferation

Der Norden tut sich zusammen

von Jürgen Scheffran

In diesem Beitrag wird anhand jüngster Entwicklungen im Bereich der Raketenabwehr aufgezeigt, wie weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit Rüstungsprogramme aus der Zeit des Kalten Krieges einer neuen Zweckbestimmung zugeführt werden.1

Ein Jahr vor der Verlängerungskonferenz des Nicht-Verbreitungs-Vertrages NPT (Non-Proliferation Treaty) besteht zunehmend die Gefahr einer Militarisierung des Proliferationsproblems. Unabhängig vom weiteren Schicksal des NPT benutzt das Militär in Staaten der nördlichen Hemisphäre die mit politischen Mitteln angeblich unaufhaltsame Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen als Vorwand, um militärische Lösungen des Problems anzubieten, die einen potentiellen Aggressor abschrecken, entwaffnen oder abwehren sollen. In westlichen Regierungen finden solche Bedrohungsszenarien zunehmend Gehör, obwohl die allgemeine Finanzknappheit und der Unmut der Bevölkerung gegenüber neuen Rüstungsprojekten dämpfend wirken. Besonders aktive Verfechter einer militärischen Counterproliferation sind Anhänger des verblichenen SDI-Programms, dessen Nachfolgeprogramme auf die Abwehr von Raketen aus Staaten der Dritten Welt umorientiert werden.

Der Kreis der Befürworter eines harten Vorgehens gegen Proliferatoren ist in den USA mittlerweile nicht mehr auf konservative Zirkel beschränkt, sondern hat so prominente Befürworter wie den US-Präsidenten Bill Clinton und seinen Verteidigungsminister Les Aspin hinzugewonnen. Nach Clintons Rede vor der UNO-Generalversammlung am 27.9.93 wurde die Defense Counterproliferation Initiative (DCI) gegründet, unter Leitung des Physikers und Harvard-Professors Ashton Carter, seinerzeit einer der profiliertesten Star-Wars-Kritiker.

Recht offen stellte Les Aspin die neue Initiative in einer Rede vor der National Academy of Sciences am 7. Dezember 1993 vor.2 Seine Grundthese: Bedingt durch den Zerfall der ehemaligen Sowjetunion und die Technologiediffusion als Folge des internationalen Handels sei die Proliferationsgefahr größer als je zuvor. Es sei zudem zu befürchten, daß Kernwaffen und andere Massenvernichtungswaffen die überlegene konventionelle Streitmacht der USA neutralisieren könnten. Konnte mit bisherigen Verhinderungsmaßnahmen die Proliferation noch verlangsamt werden, seien nun zusätzliche militärische Aktivitäten erforderlich, um sich vor den Folgen der Proliferation zu schützen. Kurz: „Wir fügen der Aufgabe der Verhinderung [prevention] die Aufgabe des Schutzes [protection] hinzu.“

Der »prevention« werden herkömmliche politische Non-Proliferationsmaßnahmen zugerechnet:

  • Dissuasion (Abraten),
  • Denial (Zugangsbeschränkungen),
  • Arms Control (Rüstungskontrolle),
  • International Pressure (internationaler Druck).

Die in den Verantwortungsbereich des Verteidigungsministeriums fallende »protection« umfaßt die vorwiegend militärische Counter-Proliferation:

  • Defusing (Abhaltung),
  • Deterrence (Abschreckung),
  • Offense (Angriff),
  • Defense (Abwehr).

Alle acht Punkte werden weiter aufgeschlüsselt.3 Non-Proliferation und Counter-Proliferation werden als sich ergänzende Teile einer Einheit verstanden. Der Kern der DCI liegt in der Schaffung militärischer Fähigkeiten. Unter Führung des US-Generalstabs und der regionalen Kommandeure wird nach Aussagen Aspins ein militärischer Planungsprozeß vorbereitet, der Feinden mit Massenvernichtungswaffen entgegenwirke. Ausdrücklich werden durch die Einrichtung eines gemeinsamen Büros auch biologische Waffen einbezogen. Um die Aufklärungsmängel des Golfkriegs zu beseitigen und die militärisch verwertbaren Informationen zur Proliferation zu verbessern, werden mit dem Direktor des CIA verschiedene Vorkehrungen getroffen, darunter eine Verdreifachung der Pentagon-Experten im Non-Proliferations-Zentrum des CIA.

Auch neue Waffensysteme seien erforderlich. Ausgehend von den Erfahrungen im Golfkrieg sollen verstärkt nicht-nukleare Waffen untersucht werden, die in geschützte unterirdische Anlagen und Bunker eindringen können oder bessere Verfahren, mobile Raketen wie die Scud jagen zu können. Auch das SDI-Programm soll nach seinem im Mai 1993 verkündeten Ableben eine neue Aufgabe bekommen: „Und natürlich haben wir die Strategic Defense Initiative in die Ballistic Missile Defense Organization umorientiert, so daß sie sich darauf konzentrieren kann, den heutigen Bedrohungen durch ballistische Gefechtsfeldraketen zu begegnen.“

Da es sich auch um eine Bedrohung der Bündnispartner weltweit handele, sei die internationale Kooperation zu verstärken. Hierzu gerechnet wird eine Initiative mit der NATO gegen Proliferation, eine Zusammenarbeit mit Rußland bei den Exportkontrollen sowie eine aktive Zusammenarbeit mit Japan bei der Entwicklung und Stationierung eines Raketenabwehrsystems.

Raketenabwehr unter Clinton

Mußte nach der Wahl Clintons der 10. Jahrestag von Reagans Star-Wars-Rede im März 1993 noch im Zeichen der Unsicherheit verbracht werden, rückte der neue Verteidigungsminister Aspin nicht einmal zwei Monate später die neuen Fronten zurecht. Das von ihm am 13. Mai 1993 verkündete „Ende der Star Wars Ära“ erweist sich als rhetorische Meisterleistung. Zum einen wird durch die Abkehr von exotischen Weltraumprogrammen und dem verkündeten Rückzug aus dem von Bush Anfang 1991 vorgeschlagenen globalen Abwehrsystem GPALS (Global Protection Against Limited Strikes) sowie durch die Umbenennung der SDI-Organisation in Ballistic Missile Defense Organization (BMDO) den Star-Wars-Kritikern der Wind aus den Segeln genommen. Zum anderen wird jedoch am Ziel einer Bodenabwehr und an der einflußreichen Institution BMDO festgehalten. Aspins Rede erscheint so eher als kosmetische Verjüngungskur für SDI denn als eine operative Entfernung.

Lag das SDI-Budget für das Bush-Haushaltsjahr 1993 noch bei 3,5 Milliarden Dollar, so ermöglichte die Beseitigung des Weltraumbalasts eine deutliche Kürzung der Ausgaben. Von den 3,76 Mrd. Dollar, die Clinton für 1994 beantragt hatte, wurden 2,64 Mrd. Dollar bewilligt. Dies ist zwar deutlich weniger als unter Bush, aber immer noch mehr als doppelt so viel wie vor der Star-Wars-Rede und etwas weniger als vor dem Golfkrieg. Davon sind 1,4 Mrd. Dollar für taktische Raketenabwehr (TMD: Theatre Missile Defense) vorgesehen (von beantragten 1,6 Mrd.), 650 Mio. für begrenzte Kontinentalabwehr (von 1,2 Mrd.) und 538 Mio. für Forschung und Unterstützung (von 712 Mio.).4 Auffällig ist die Rücknahme der Weltraumprojekte Brilliant Pebbles (384 Mio. 1992, 219 Mio. 1993, 38 Mio. 1994) und die Kürzung bei Brilliant Eyes (74 Mio. 1992, 294 Mio. 1993, 140 Mio. 1994). Zwei weitere Entwicklungen sollen hier beispielhaft erwähnt werden: die zunehmenden TMD-Aktivitäten der Navy (etwa durch die geplante Nutzung des Aegis-Kreuzers) und die Vorschläge, Flugzeuge als Startrampen von Abwehrflugkörpern zu benutzen (insbesondere das RAPTOR/TALON-Programm).

Die Hälfte des Geldes für sieben TMD-Programme (darunter Theater High Altitude Area Defense THAAD, Patriot-Multimode und der Extended Range Interceptor ERINT) wurde an die Einhaltung des ABM-Vertrages gebunden (ABM: Anti-Ballistic Missiles). Um Kosten zu sparen, aber auch um Forschungsaufgaben wirksamer zu verteilen, fordert der US-Kongreß die Regierung auf, stärker mit den Verbündeten im TMD-Bereich zusammenzuarbeiten. Hier ergeben sich derzeit die stärksten Bezüge zur Counterproliferation-Initiative.

Es ist nicht zu übersehen, daß der Aufbau eines taktischen Raketenabwehrsystems der beschriebenen Größenordnung Probleme für den ABM-Vertrag von 1972 schafft, der Entwicklung, Test und Stationierung strategischer Raketenabwehrsysteme verbietet. Besonders die THAAD-Abwehrrakete hätte eine Fähigkeit, die in den Bereich der strategischen ABM-Systeme hineinreichen könnte. Bei der Sitzung der Ständigen Beratenden Kommission zum ABM-Vertrag am 30. November 1993 schlug die US-Regierung, neben einer Multilateralisierung des ABM-Vertrages, der russischen Delegation vor, daß ein taktisches Abwehrsystem (ATBM: anti-tactical ballistic missiles) nur dann verboten sei, wenn es eine »demonstrierte« Fähigkeit zur Abwehr eintretender Ziele mit einer Geschwindigkeit von mehr als 5 Kilometern pro Sekunde (km/s) habe.5

Diese Grenzziehung löste in Rüstungskontrollkreisen der USA Betriebsamkeit aus. Die Arms Control Association rief für den 8. Dezember 1993 eine Pressekonferenz zum ABM-Vertrag ein. Die Hauptkritik der dort versammelten Experten: ATBM-Systeme, die eine solche Fähigkeit im Test oder Einsatz nicht demonstriert haben, selbst wenn sie theoretisch weit mehr könnten, wären nach dem Vorschlag nicht verboten und könnten beliebig entwickelt, stationiert oder exportiert werden. Zudem sei die Grenze von 5 km/s so hoch gesetzt, daß Raketen mit einer Reichweite von 3500 km damit abgewehrt werden könnten. Die nötige Sicherheitsmarge gegenüber strategischen Raketen, deren Eintrittsgeschwindigkeit bei mehr als 7 km/s liegt, ginge verloren.6

Nach Ansicht von John Pike, Direktor des Weltraumprojekts bei der Federation of American Scientists, gehe es beim ABM-Vertrag darum, die Ost-West-Dimensionen der Sicherheit mit ihren Nord-Süd-Dimensionen in Einklang zu bringen. Gegenüber den russischen Kernwaffen interkontinentaler Reichweite, die auf absehbare Zeit weiter in großer Zahl auf die USA gerichtet sein werden, seien die wenigen hundert Scud-ähnlichen Raketen kurzer Reichweite in der Dritten Welt ein eher untergeordnetes Phänomen. Daher sei es aus Sicht der USA unsinnig, den wichtigen ABM-Vertrag, der ein Offensiv-Defensiv-Wettrüsten zwischen Ost und West dämpfe und tiefe Einschnitte in die Kernwaffenarsenale erlaube, zugunsten einer politisch und technisch fragwürdigen Raketenabwehr gegen Dritte-Welt-Staaten zu gefährden. (Ebda, S. 13)

Moskau: vom SDI-Gegner zum Partner

Der russische Präsident Boris Jelzin schlug im Januar 1992 vor, ein globales Frühwarn- und Raketenabwehrsystem (Global Protection System, GPS) gemeinsam mit den USA und anderen Ländern zu entwickeln und zu betreiben, das auch den möglichen Brain-Drain russischer Techniker verhindern könne. Beim Gipfel in Washington im Juni 1992 vereinbarten die Präsidenten Bush und Jelzin zur Förderung der Zusammenarbeit die Einrichtung einer Arbeitsgruppe. Nach anfänglicher Skepsis schlugen die USA im September 1992 ein Global Protection Center vor, in dem Informationen über Waffenproliferation, Starts von Weltraumraketen, Abwehrtaktiken und wechselseitige Hilfe bei der ABM-Entwicklung und Beschaffung ausgetauscht werden sollten. Kurz darauf unterzeichneten im Oktober 1992 zehn Staaten der GUS bei einem Treffen in Kirgistan das Bishek-Abkommen, in dem sie sich selbst verpflichteten, die Bestimmungen des ABM-Vertrages zu erfüllen.

Für die SDIO war die Zustimmung des ehemaligen Hauptgegners ein wichtiges politisches Signal, das zugleich die Möglichkeit eröffnete, die Sahnestücke aus dem russischen Abwehrkuchen herauszuschneiden und Entwicklungskosten einzusparen. Die SDIO/BMDO zeigte Interesse an russischen Experten, Trägerraketen, Luftabwehrraketen, Teilchenstrahltechnologie, nuklearen Antrieben und Satellitenantrieben für die Brilliant Pebbles.7 Große Hoffnungen wurden auf den für 30 Mio. Dollar erworbenen Topaz-2-Weltraumreaktor gesetzt, der eine Eigenentwicklung der USA ersetzen soll. Der umgekehrte Weg, die Weitergabe und Teilung von US-Technologie und Know-How an die »unsichere« GUS, ist in den USA aus sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Gründen nicht gern gesehen. Der Versuch, den Russen Frühwarninformationen des Fylingdales-Radars in Großbritannien zugänglich zu machen, stieß auch auf britische Kritik.

Russische Wissenschaftler und Firmen äußerten ein starkes Interesse daran, gemeinsam mit den USA ein Anti-Raketensystem namens Trust auf dem Kwajalein-Atoll im Pazifik zu testen. Dabei sollen bodengestützte Mikrowellen- oder Lasergeneratoren einen Plasmaschild erzeugen, der eintretende Gefechtsköpfe zerstört.8 Beteiligt sind u.a. das TsAGI Forschungsinstitut, die Firma Vympel und das Institut für Experimentalphysik im ehemals geheimen Arzamas-16-Komplex. Vympel war im Mai 1992 von russischen und weißrussischen Luft- und Raumfahrtkonzernen gegründet worden, um Frühwarn- und Raketenabwehrsysteme zu entwickeln.9

Daß es sich bei der Weitergabe russischer Abwehrtechnologie an die USA um Rüstungsexport handelt, der dort zur vertikalen Proliferation beiträgt, wird von beiden Seiten nicht gerne zugegeben. Zunehmend bemüht sich Rußland zudem, seine ATBMs wie die USA auch in anderen Ländern zu verkaufen, so bei der Rüstungsschau in Abu Dhabi, wo die S-300V-Abwehrrakete angeboten wurde, der eine bessere Leistungsfähigkeit als der Patriot nachgesagt wird.

Daß bislang die Kooperation im Vordergrund steht und dabei alte Feinde zusammenführen kann, wurde auf einer Tagung in Erice (Italien) im August 1992 deutlich. Dort wurde ein »Global Ecological Monitoring« System ins Leben gerufen, das sich die Doppelverwendbarkeit von Aufklärungssatelliten (insbesondere der Brilliant Eyes) zunutze machen will. Unterzeichner eines entsprechenden Aufrufs sind der ehemals entschiedene SDI-Gegner Jewgenij Welichow, mittlerweile zu einem Anhänger von GPS avanciert, und der Star-Wars-Schöpfer Edward Teller, der nunmehr Laserstationen zur Bekämpfung von Asteroiden vorschlägt.10

Die amerikanisch-russische Zusammenarbeit wurde unter Clinton fortgesetzt, wenn auch mit geringer Priorität. Immerhin wurde für den Clinton-Besuch in Moskau im Januar 1994 eine Liste möglicher gemeinsamer Forschungsprojekte vorbereitet, darunter zwei Satelliten mit der Bezeichnung RAMOS (Russian American Observation Stereo Satellites), die Zielinformationen im infraroten und sichtbaren Wellenlängenbereich sammeln und korrelieren sollen.11

Bei einem hochrangig besetzten Symposium in Arlington (Virginia) im September 1993 wurde die gesamte Bandbreite der Themen von Konversion, Proliferation und neuen Rüstungstechnologien (inklusive Raketenabwehr) diskutiert.12 Zu den Rednern gehörten der stellvertretende Verteidigungsminister der USA William Perry, der ehemalige BMDO-Direktor Henry Cooper und sein Nachfolger Malcolm O'Neill sowie Sergei Kortunov vom russischen Außenministerium und Generalmajor Victor Mironov vom russischen Verteidigungsministerium. Während Cooper in der US-russischen Zusammenarbeit bei GPS einen Eckstein für geopolitische Stabilität in einer dauerhaften Weltunordnung sieht, schlagen O'Neill und andere eine Neudefinition des Stabilitätsbegriffs vor. Nicht nur die beiden BMDO-Vertreter sehen Frühwarnung und Raketenabwehr als einen wichtigen Beitrag zur Counterproliferation an, sondern auch Kortunov, der hier eine Aufgabe für die UNO und eine zu schaffende globale Weltraumagentur sieht.

Was in russischen Zirkeln an Konzepten und Ideen diskutiert wird, wurde auf einer von Welichow im November 1993 initiierten Konferenz in Moskau deutlich. Den westlichen Teilnehmern aus Regierung, Industrie und Wissenschaft13 wurden von russischer Seite verschiedene Vorschläge unterbreitet zur Raketenbedrohung, zum geplanten Frühwarnzentrum, zugehörigen Sensoren und Informationssystemen, zu Abwehrtechnologien, zur Architektur und Realisierbarkeit von GPS, zu den Folgen der Raketenabwehr auf die Stabilität, den rechtlichen Grundlagen und den Folgen für den ABM-Vertrag.

Erwähnenswert sind u.a. zwei russische Vorschläge für ein internationales Frühwarnzentrum für ballistische Raketen (Center of Ballistic Missile Early Warning, CBMEW) und ein globales Weltrauminformationssystem (Global Space Information System, GSIS). Beiden Vorschlägen liegt das gleiche Prinzip zugrunde: eine Abwehrfunktion im Kriegsfalle wird zur Akzeptanzsteigerung koppelt mit einer Frühwarn- und Beobachtungsfunktion, die auch zur Überprüfung von Abrüstungsabkommen dienen könnte.

Die Erweiterte Luftabwehr der NATO

In verschiedenen Studien (1980: Project 2000, 1983: AGARD AAS-20, 1986: AAS-25, 1989 AAS-29) untersuchte die NATO seit 1980 Möglichkeiten zur Erweiterten Luftabwehr (Extended Air Defense) von Flugkörpern des Warschauer Paktes. Parallel dazu wurden im SDI-Programm TMD-Konzepte verfolgt und Architekturstudien zur Verteidigung Mitteleuropas (TMDAS) an internationale Firmenkonsortien vergeben. Auch für das europäische Gefechtsfeld wurde eine Kampfwertsteigerung für Patriot durch den Übergang von PAC-I (TBM-Suchsektor) zu PAC-II (Zünder, Gefechtskopf) vorgenommen, die nunmehr zu PAC-III (Multimode-Suchkopf) ausgebaut werden. Erhebliche Anstrengungen wurden unternommen, um die komplexe C3I-Problematik für ein Air Command and Control System (ACCS) in den Griff zu bekommen, das die verschiedenen Komponenten in Europa miteinander verbindet. Der heutige NATO-Generalsekretär Wörner hatte sich Mitte der 80er Jahre, damals noch als deutscher Verteidigungsminister, zum engagierten Fürsprecher einer Erweiterten Luftabwehr gemacht, die in Analogie zu SDI von einigen auch Europäische Verteidigungs-Initiative (EVI) genannt wurde.14

Mittlerweile werden die alten Planungen für eine Erweiterte Luftabwehr Richtung Süden umorientiert, wobei sich die US-Strategie der Counterproliferation zunehmend als Katalysator erweist. Wie schon beim ursprünglichen SDI bemühen sich die USA auch bei den neuen Raketenabwehrprogrammen darum, ihre europäischen Verbündeten einzubeziehen.15 Während in Militärkreisen ein Angriff auf Mitteleuropa durch ballistische Flugkörper mit Reichweiten oberhalb von 1000 km derzeit als unwahrscheinlich eingeschätzt wird, rechnet man an den NATO-Flanken mit einem begrenzten Luftangriff auf Reaktionskräfte in Krisengebieten durch Flugkörper kurzer Reichweite.

Um dem zu begegnen, wird in der NATO an verschiedenen Abwehrkonzepten gearbeitet, die auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik im November 1993 im Luftwaffenamt Köln-Wahn teilweise vorgestellt wurden.16

Im Herbst 1992 wurde eine »Ad-Hoc Group on GPS« der NATO eingerichtet, die als Forum für Konsultationen zu allen Aspekten des GPS dienen sollte, deren Arbeit durch den Machtwechsel in Washington zunächst aber behindert wurde. Die Bereitschaft ist jedoch vorhanden, die ohnehin in der NATO-Planung vorgesehenen Verbesserungen der Erweiterten Luftabwehr in eine internationale GPS-Kooperation einzubringen.17 Derzeit laufen zahlreiche NATO-Aktivitäten zur Erweiterten Luftabwehr, von denen hier drei erwähnt werden sollen.18

1. Von der NATO Defense Research Group (DRG) werden Anforderungen und Architekturen für ACCS hinsichtlich einer Erweiterten Luftabwehr untersucht, die dem sich ändernden Risiko angepaßt ist. Einsatzszenarien betreffen die Türkei, den Mittelmeer-Raum, Nord-Norwegen, Mitteleuropa und Angriffe durch Terroristen.

2. Die Studie »Extended Air Defense for Europe (EAD-2000)« soll Konzepte und Schlüsseltechnologien zur Erweiterten Luftabwehr (insbesondere für Out-Of-Area-Einsätze) identifizieren, bewerten und einen entsprechenden Forschungs- und Entwicklungs-Plan erarbeiten

3. Die AGARD AAS-38-Studie »NATO BMD in the Post-Cold War Aera« soll die Bedrohung der NATO durch gegnerische Flugkörper identifizieren, zu verteidigende Einrichtungen kategorisieren sowie Anforderungen, Architekturen und Leistungsfähigkeit für eine Abwehr des NATO-Territoriums und in Krisenreaktionsgebieten identifizieren.

Die Ergebnisse der beiden letzten Studien sollten bis Ende 1993 vorliegen. Die neueren NATO-Studien unterscheiden sich, trotz der geänderten Bedrohungslage, hinsichtlich der technischen Lösungsansätze und vorgeschlagenen Technologien nicht wesentlich von den alten. Auch weiterhin geht es um ein mehrlagiges Abwehrsystem, bestehend aus Frühwarnsensoren, Multifunktionsradars, schnellen Lenkflugkörpern mit hoher Zerstörwahrscheinlichkeit und einem C3I-System in Echtzeit. Noch stärker als früher wird – besonders bei den Krisenreaktionskräften – eine hohe Mobilität und gute Transportabilität als notwendig angesehen.

Beim NATO-Gipfel in Brüssel am 10./11. Januar 1994 konfrontierte Aspin wie zu erwarten die Allianz mit der neuen Counterproliferation-Initiative, was von der Tagespresse kaum zur Kenntnis genommen wurde. Gemeinsam sollen nun in Zukunft bessere Möglichkeiten zur Jagd auf mobile Raketen, neue Technologien zur Entdeckung von Massenvernichtungswaffen und ein besserer Schutz der Truppe gefunden werden. In der Gipfelerklärung beschloß die NATO, ihre politischen und Verteidigungsanstrengungen gegen die Proliferation zu „intensivieren und auszubauen“ und stimmte überein in „der Entwicklung einer European Security and Defense Identity (ESDI)“. Dazu könnten gemeinsame Einrichtungen der Allianz der Westeuropäischen Union (WEU) verfügbar gemacht werden.19

Die WEU: Der europäische Abwehrpfeiler

Die Proliferations- und Raketenabwehrdiskussion in der WEU stützt sich auf die gleichen Bedrohungsanalysen wie in der NATO, wobei jedoch Industrie- und Rüstungsinteressen der Europäer stärker im Vordergrund stehen. Besonders die französische Regierung wurde zum Vorreiter eines europäischen, vorwiegend bodengestützten Raketenabwehrsystems.

Im November 1992 hatte das deutsche Bundestagsmitglied Christian Lenzer für des Technological and Aerospace Committee der WEU einen Bericht zur Bedrohung Europas durch ballistische Flugkörper und entsprechenden Abwehrmaßnahmen vorgelegt.20 Der Bericht schlägt vor, eine öffentliche Diskussion zu führen über völkerrechtliche (Missile Technology Control Regime, Verbot von Weltraumwaffen) und verteidigungspolitische Maßnahmen (Raketenabwehr) gegen die Proliferation, die einander ergänzen müßten. Ausführlich werden europäische Anstrengungen in der taktischen Raketenabwehr beschrieben. In einer Empfehlung schlägt die WEU-Versammlung vor, die Risiken der Raketenproliferation zu untersuchen, um eine gemeinsame europäische Position gegenüber GPALS zu erleichtern. Das Technological and Aerospace Committee wird ersucht, Arbeiten zu Problemen der Raketenabwehr durchzuführen und ein Symposium zu organisieren.

Bei dem Symposium in Rom am 20.4. 1993, an dem etwa 300 Regierungs- und Industrievertreter teilnahmen, ging es darum, die Mitglieder der WEU-Versammlung auf die neue Bedrohungsanalyse und damit verbundene Antworten einzustimmen. Der damalige italienische Verteidigungsminister Ando schlug ein Raketenabwehrsystem als eine vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahme vor. Russische Experten hatten Gelegenheit, ihre Vorstellungen von einem gemeinsamen globalen Frühwarnzentrum und Abwehrsystem den Europäern darzulegen.21 Demgegenüber bezweifelte Hartmut Soell, der deutsche Präsident der WEU-Versammlung, in einer Rede, daß die Europäer in ein amerikanisch-russisches GPALS-System Vertrauen haben könnten, und fragte „Sollte [Europa stattdessen] die Bürde eines regionalen [ATBM]-Systems auf sich nehmen, das unter seiner eigenen Kontrolle steht?“

Europäische Industrievertreter, unzufrieden über ihre Rolle im SDI-Programm, betonten, daß die europäischen Industrien eigenständig in der Lage wären, ein Raketenabwehrsystem technisch zu realisieren, wobei die Erfahrungen aus den zivilen Raumfahrtprojekten relativ kostengünstige Lösungen ermöglichen würden. Die Kosten für ein europäisches ATBM wurden auf 10 Milliarden Dollar geschätzt, was nach Ansicht von Henri Martre, dem Präsidenten der französischen Handelsvereinigung der Luft- und Raumfahrtindustrien, erschwinglich sei. In ihrer Empfehlung Nr. 545 forderte die WEU-Versammlung den Rat auf, sich dieser Problematik weiter anzunehmen, was in einer Special Working Group der WEU geschieht.22

Bei den in der NATO und der WEU vorgeschlagenen Programmen geht es vorwiegend um Erweiterte Luftabwehr gegen Kampfflugzeuge, (Überschall-)Marschflugkörper, Anti-Radar-Flugkörper, Luft-Boden-Flugkörper und taktische ballistische Raketen, wobei einzelne nationale Systeme miteinander konkurrieren. Es wird ein rasch expandierender Markt für Luftabwehrsysteme langer Reichweite prognostiziert. Eine Reihe westeuropäischer Firmen hat inzwischen Machbarkeitsstudien für eine Raketenabwehrarchitektur in Europa ausgearbeitet.

Besonders umkämpft ist die Nachfolge der veralteten Hawk-Luftabwehrrakete, die komplementär zur weiter reichenden Patriot ist. Während in den USA die CORPSSAM-Rakete entwickelt wird, setzt das Firmenkonsortium Eurosam, bestehend aus französischen (Aerospatiale, Thomson-CSF) und italienischen Firmen (Alenia) mit SAMP-T auf die Weiterentwicklung des Luftabwehrsystems Aster/Arabel. Zur Abwehr in größeren Flughöhen arbeiten einige europäische Firmen (darunter Aerospatiale und Thomson-CSF) mit bei der Entwicklung des THAAD-Systems der USA. Auch von Gesprächen zwischen Rußland und Frankreich über die Weiterentwicklung der russischen SA-12 wird berichtet (AWST 13.9.93). In Großbritannien wird diskutiert, bis zu 4 Mrd. Pfund für ein Raketenabwehrsystem aufzuwenden, wobei die Entscheidung zwischen Patriot und einem möglichen schiff-gestützten System auf Grundlage der Super-Seawolf Rakete offen ist (Arms Control Reporter, 3/93).

Auch mit Verbündeten außerhalb Europas gibt es eine enge Zusammenarbeit in der Raketenabwehr. Erwähnt werden sollen hier nur Israel, das bei der Entwicklung des Arrow-Abwehrsystems gegen islamische Raketen massiv von den USA unterstützt wird, sowie Südkorea und Japan, die seit kurzem intensiv mit den USA zusammenarbeiten, um der befürchteten Raketendrohung Nordkoreas zu entgehen.

Deutsche Positionen und Programme

Die deutsche Regierungsposition zu Raketenabwehr und Counterproliferation hat sich öffentlich noch nicht klar artikuliert.23 Dagegen waren von der Opposition überwiegend ablehnende Stellungnahmen zu vernehmen. Die wirtschaftlichen Probleme der Wiedervereinigung trugen sicherlich zur Skepsis gegenüber neuen militärischen Risiken bei. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr geben allerdings den Risiken der Proliferation ein großes Gewicht, und zunehmend wird aus Kreisen des deutschen Militärs der Anspruch formuliert, einen Beitrag gegen die aufkommende Bedrohung an der Südflanke der NATO leisten zu können. Am 13. Mai 1993 hatten Hans und Michael Rühle in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« die Ansicht vertreten, daß der „Weg in die Ausrüstung mit Raketenabwehrsystemen längst begonnen“ habe. Das 21. Jahrhundert werde die »multinukleare Welt« bringen.

Da die bisher vorhandenen Möglichkeiten im Bereich der Erweiterten Luftabwehr als unzureichend angesehen werden, weist die Planungsleitlinie der Bundeswehr für 1995, inkraft gesetzt im September 1993, der Flugkörperabwehr (und zwar aller Kategorien) erstmalig eine besonders hohe Priorität zu.24 Bei der Tagung im Kölner Luftwaffenamt wird wiederholt betont, daß Deutschland auf nahezu allen Gebieten der Luftraumüberwachung und Luftabwehr ausreichende technische Fähigkeiten habe. Mit Hawk, Patriot, Roland und den schiffgestützten Systemen sei die Bundeswehr zudem vergleichsweise großzügig mit Flugabwehr-Raketensystemen ausgestattet.

Deutsche Firmen wie die DASA sind bemüht, nicht nur bei der Patriot-Kampfwertsteigerung PAC-3 mitzuwirken, sondern vor allem beim Taktischen Luftverteidigungsystem TLVS, mit dem nach deutschen Vorstellungen HAWK ersetzt und Patriot ergänzt werden soll. Nach Ansicht Karl-Heinz Allgaiers von der DASA hat TLVS ein inhärentes ATBM-Potential und sei wegen seiner guten Transportierbarkeit und hohen Mobilität, seiner Feuerkraft und seinem Wirkungsbereich für Krisenreaktionskräfte besonders geeignet.25 Da ein System wie TLVS nicht im nationalen Alleingang zu realisieren ist, sieht Allgaier zwei Möglichkeiten der Kooperation: Ein Einschwenken auf das französisch-italienische Entwicklungsprogramm SAMP-T oder auf das Gegenstück CorpsSAM in den USA.

Bewertung

Der Blick hinter die Kulissen hat eine erstaunliche Geschäftigkeit in der Raketenabwehr an den Tag gebracht, die unter dem Dach der Counterproliferation richtig in Schwung kommt. Vieles kritische zur Raketenabwehr wurde an anderer Stelle schon ausführlich dargestellt und braucht hier nicht wiedergegeben zu werden.26 Eingegangen wird hier vorwiegend auf die Einbettung der Raketenabwehr in eine Counterproliferation-Strategie.27

  • Bislang ist die Defense Counterproliferation Initiative im US-Kongreß umstritten. Besonders schwer wiegt die Inkonsistenz, daß das Pentagon aus wirtschaftlichen Gründen gleichzeitig eine Deregulierung bei den Exportkontrollen für Dual-use-Güter betreibt. Damit wird die Proliferation beschleunigt, die dann durch die Counterproliferation nachträglich bekämpft werden soll.
  • Es ist ein Irrglaube, daß Proliferation durch militärische Macht wirksam bekämpft werden könne. Wie der Golfkrieg zeigte, sind Luftangriffe ungeeignet, mobile ballistische Raketen oder ein gut verstecktes Kernwaffenprogramm zu zerstören. Ebenso war Patriot nicht in der Lage, eine nennenswerte Zahl von Scud-Raketen abzufangen.
  • Ein effektiver Schutz vor Raketenangriffen ist auf absehbare Zeit nicht zu haben, auch nicht mit einer taktischen Raketenabwehr. Raketen kurzer und mittlerer Reichweite sind nicht wesentlich einfacher abzuwehren als Interkontintalraketen, Gegenmaßnahmen sind selbst für Entwicklungsländer relativ einfach zu realisieren.
  • Counterproliferation erscheint als Versuch, obsolete Rüstungsprogramme des Kalten Krieges in die neue Zeit zu retten. Die Einstiegsdroge TMD in Verbindung mit Counterproliferation ist eine Strategie, die trotz Clinton-Ära Raketenabwehr auf Dauer implementieren soll. Weitergehende Schritte, insbesondere Weltraumkomponenten, können langfristig nicht ausgeschlossen werden.
  • Neben gemeinsamen Interessen bei der Rüstungskooperation gibt es zwischen USA, Rußland, Europa und anderen Teilnehmern einer GPS- bzw. TMD-Initiative Divergenzen aufgrund unterschiedlicher sicherheitspolitischer Sichtweisen, geostrategischer Positionen und konkurrierender Wirtschaftsinteressen. Noch ist nicht klar, wer Raketenabwehr entwickelt, produziert, stationiert und bezahlt.
  • Wie bei der Raketenabwehr besteht auch bei offensiven Schlägen gegen Anlagen mit Massenvernichtungsmitteln die Gefahr der Freisetzung umweltschädigender Substanzen und weiterer Kollateralschäden.
  • Counterproliferation fördert eine politische und militärische Destabilisierung, indem es das Bedrohungspotential für potentielle oder neue Kernwaffenstaaten erhöht und den Anreiz für die (verdeckte) Fortführung des Kernwaffenprogramms steigert. Angriffe können solche Staaten dazu veranlassen, ihre Waffen einzusetzen, solange sie noch intakt sind.
  • Ein Militärschlag gegen Massenvernichtungswaffen ohne nachgewiesene Aggression wäre mit dem Völkerrecht nicht vereinbar. Sollten die USA entsprechende Erzwingungsmaßnahmen dennoch durchsetzen, könnten auch andere Länder ein gleiches Recht für sich beanspruchen.
  • Counterproliferation ist hochgradig diskriminatorisch, da sich die größte Kernwaffenmacht das Recht erlaubt, vermutete kleinere Kernwaffenmächte mit Krieg zu überziehen. Dadurch wird die Glaubwürdigkeit ihrer Non-Proliferationspolitik (auch hinsichtlich des Artikel VI im NPT) weiter erschüttert und das Nord-Süd-Verhältnis belastet.
  • Counterproliferation fördert, wie Raketenabwehr auch, die Illusion, ein militärischer Schutz sei trotz fortgesetzter Proliferation möglich. Dies kann die Bereitschaft senken, das Proliferationsproblem politisch vorbeugend anzugehen, und andere Elemente der Non-Proliferation verdrängen. Daraus könnte ein Hemmschuh für die NPT-Verlängerung entstehen.
  • Statt Counterproliferation und Raketenabwehr sollten die politischen und diplomatischen Anstrengungen für neue Sicherheitsstrukturen und eine allgemeine weltweite (nukleare) Abrüstung verstärkt werden. Deutschland könnte hier sein Gewicht in die Waagschale werfen. Die Einhaltung des ABM-Vertrages, ergänzt um ein Verbot von Weltraumwaffen, spielt hier weiterhin eine bedeutende Role. Eine Welt ohne Kernwaffen ist letztlich der aussichtsreichste Weg, den nuklearen Risiken zu entgehen.

Anmerkungen

1) Ein ausführlicherer Bericht des Autors erscheint dazu in der IANUS-Schriftenreihe in Darmstadt. Zurück

2) Remarks By Honorable Les Aspin, Secretary of Defense, National Academy of Sciences, December 7, 1993. Zurück

3) »Defense« etwa umfaßt die Punkte: TMD; BW vaccines; Strategic and tactical warning; Unconventional delivery, counterterrorism; NEST; Border/perimeter control. Zurück

4) Congress tightens hold on BMDO; provides $2.6 billion, BMD Monitor, 19.11.93. Zurück

5) D. Lockwood, U.S. Proposal to Retool ABM Treaty Reopens Debate on Missile Defense, Arms Control Today (ACT), 1/2 1994, S. 24. Zurück

6) Zu weiteren Einzelheiten der neuen ABM-Debatte siehe: A New Threat to the ABM Treaty: The Administration's TMD Proposal, Arms Control Today, 1/2 1994, S. 11-16. Zurück

7) SDIO Plans To Acquire Russian ABM Technology, Specialists, Aviation Week & Space Technology (AWST), 10.2.92, S. 18-20. Zurück

8) Joint Russian/US Anti-Missile System Testing?, Interavia/Aerospace World, 6/93, S. 70. Zurück

9) CIS States Form Star Wars Company, Flight International, 3.6.92, S. 12. Zurück

10) Zu Erice siehe G.H. Canavan, Former Soviet Republic Capabilities in Space and Science, Los Alamos, Report LA-12449-MS, Februar 1993. Zurück

11) Cooperative Research with Russians on hold, BMD-Monitor 1/94, S.1. Zurück

12) Die Vorträge der Konferenz sind abgedruckt in der Zeitschrift »Comparative Strategy«, Vol. 13, No. 1, 1994. Zurück

13) Den etwa 80 russischen Teilnehmern, darunter 10 von der Firma Vympel, standen 44 nicht-russische Teilnehmer gegenüber. Die USA und Frankreich stellten mit 14 jeweils den größten Block. Aus Deutschland kam nur ein Teilnehmer, dagegen vier aus China. Die Angaben stützen sich auf die Agenda der Konferenz. Zurück

14) Siehe D. Engels, J. Scheffran, E. Sieker (Hrsg.), SDI – Falle für Westeuropa, Köln, 1987. Zurück

15) Analog zur Diskussion in den achtziger Jahren warben Lobbyisten der SDIO und der High Frontier Europe, die ein europäisches EPALS-Äquivalent vorschlug, seit Anfang 1992 verstärkt für den Raketenabwehrgedanken, so auf einer Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung im Dezember 1992. Siehe hierzu K. Lange, Proliferation und Sicherheit – Aspekte militärtechnischer Stabilisierungsmöglichkeiten, Akademie-Report der Hanns-Seidel-Stiftung, 1993. Zurück

16) »Luftraumüberwachung und Abwehr der Bedrohung aus der Luft«, Forum der Studiengesellschaft der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik, 3./4. November 1993 im Luftwaffenamt Köln-Wahn. Die Beiträge wurden in einem Reader zusammengestellt. Zurück

17) G. Prüsse, Stand internationaler Bemühungen bei der Flugkörperabwehr, s. Reader der Kölner Tagung. Zurück

18) M. Braitinger, Ergebnisse von Untersuchungen und Studien zur LV aus dem Bereich der NATO, s. Reader der Kölner Tagung. Zurück

19) Counterproliferation emerges as important NATO issue, BMD Monitor, 17.12.93, S. 333; Progress made on counterproliferation front, BMD Monitor, 14.1.94, S. 26; Clinton Initiatives Find Success in Europa – For Now, ACT, 1/2 1994, S. 17-18. Zurück

20) Anti-ballistic missile defence, Report, Assembly of the Western European Union, 38th session, 6th November 1992, Document 1339. Zurück

21) Russians Outline Joint Strategic Defense Proposal, SDI Monitor, 23.4.93, S. 93-94. Konkret vorgeschlagen wurden von L. Fituni gemeinsame Versuche mit der Trust-Plasmawaffe. Zurück

22) Europe Debates Own ATBM System, Defense News, 24.4.93, S. 3, 29. Zurück

23) Allerdings ist Außenminister Kinkels 10-Punkte Initiative zur Non-Proliferation vom Januar 1994 zu entnehmen, daß militärische Erzwingungsmaßnahmen als letztes Mittel gegen Proliferatoren nicht ausgeschlossen werden. Zurück

24) P.J. George, Technologie der Effektoren, Vortrag im Reader zur Kölner Konferenz, 1993. Hier werden auch elektrische Kanonen zur Abwehr ins Auge gefaßt. Zurück

25) K.-H. Allgaier, Lenkflugkörper-Systeme mittlerer und großer Reichweite, Wehrtechnik, 2/94, S. 61-65. Zurück

26) Siehe etwa: J. Scheffran, G. Neuneck, J. Altmann, W. Liebert, Von SDI zu GPALS, in: Dossier zu: Wissenschaft und Frieden, Juni 1992; B.W. Kubbig, Raketenabwehr als angemessene technologische Antwort auf das politische Proliferationsproblem?, HSFK-Report 9/1992. Zurück

27) Einige Punkte werden angesprochen in: THE COUNTER PROLIFERATION DEBATE: »Are Military Measures or Other New Initiatives Needed to Supplement the Non Proliferation Regime?«, A Panel Discussion of the Carnegie Endowment for International Peace, Washington, D.C., November 17-18, 1993. Zurück

Jürgen Scheffran ist Physiker und Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheitspolitik (IANUS) an der TH Darmstadt.

Der START-II Vertrag

Der START-II Vertrag

Ein Schritt auf dem Weg zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung?

von Matthias Dembinski • Jürgen Wilzewski

Am 3. Januar 1993 unterzeichneten der scheidende amerikanische Präsident Bush und der russische Präsident Jelzin mit dem START-II Vertrag zur Reduzierung der nuklearen Waffen interkontinentaler Reichweite ein Abkommen, dem man zurecht das Attribut »historisch« zuordnen kann. Im Verein mit den 1991 und 1992 von beiden Seiten verkündeten unilateralen Abrüstungsinitiativen wird START-II nachhaltig in die Rüstungsdynamik eingreifen, die atomaren Potentiale drastisch verringern und den Prozeß der Rüstungsmodernisierung im nuklearen Bereich zumindest vorläufig praktisch zum Erliegen bringen.

Perspektivisch könnte der Vertrag sogar wieder den Blick auf die allgemeine und vollständige nukleare Abrüstung öffnen, ein Ziel, das in der Nachkriegszeit mit viel diplomatischer Energie, aber nach dem Scheitern der ersten Verhandlungsrunden mit zunehmend weniger Überzeugungskraft verfolgt worden war, und das erst Anfang der sechziger Jahre von dem bescheideneren, dafür aber damals realistischeren Konzept der Rüstungskontrolle abgelöst wurde. START-II steht zwar in der Tradition der Rüstungskontrolle, weist aber deutlich über sie hinaus. Die Unterschiede im Kontext und der Substanz sind gewaltig.

Mit dem endgültigen Scheitern der Gespräche um allgemeine Abrüstung im Rahmen der UNO Ende der fünfziger Jahre anerkannten die damaligen Supermächte, daß das zwischen ihnen bestehende Mißtrauen und die scheinbar unüberbrückbaren ideologischen und machtpolitischen Interessengegensätze einen Verzicht auf die stärkste Waffe in ihrem Arsenal nicht zuließ. Andererseits drohte die technologische Dynamik das als prekär wahrgenommene »Gleichgewicht des Schreckens« zu gefährden. Ein globaler Nuklearkrieg, ausgelöst durch eine krisenhafte Verstrickung oder eine Fehlreaktion der politisch-technischen Entscheidungs- und Kontrollsysteme, erschien als die zentrale Bedrohung. Die Rüstungskontrolle sollte die, durch die technologische Entwicklung bedingten Risiken verringern und die Abschreckung stabilisieren. Entsprechend trugen die in den siebziger Jahren ausgehandelten SALT-Verträge und auch der START-I Vertrag denn auch kaum zur Abrüstung bei. Und selbst ihr Beitrag zur Stabilisierung der Rüstungsdynamik fiel eher bescheiden aus, weil in der Regel die geringen quantitativen Begrenzungen durch qualitative Modernisierungen mehr als wettgemacht wurden.

Die Abrüstungsschritte

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts hat sich der Charakter der Rüstungskontrolle radikal verändert. Die Reduzierung der nuklearen Arsenale rückte ins Zentrum. Die Abrüstung erfolgte von einem sehr hohen Niveau. Bis Mitte der achtziger Jahre hatte die UdSSR ca. 33.000 nukleare Gefechtsköpfe produziert. Als die Sowjetunion Ende 1991 endgültig aufgelöst und von der »Gemeinschaft unabhängiger Staaten« ersetzt wurde, waren die sowjetischen Streitkräfte immer noch mit mindestens 27.000 Atomwaffen ausgerüstet. Die USA verfügten zu diesem Zeitpunkt über ca. 20.000 nukleare Gefechtsköpfe.

Den Auftakt zum dramatischen Abrüstungswettlauf machte Präsident Bush am 27. September 1991 mit der Ankündigung unilateraler Reduzierungen. Gorbatschow beantwortete diese Initiative ebenso umgehend, wie der russische Präsident Anfang 1992 eine zweite amerikanische Abrüstungsofferte. Den vorläufigen Abschluß in diesem Prozeß nuklearer Abrüstung setzen dann beide Seiten mit dem START-II-Vertrag.

Der taktische Bereich

Von diesen Maßnahmen wird das gesamte Arsenal der atomaren Rüstung betroffen, angefangen von taktischen bis zu den interkontinentalen Waffen. Die USA haben im Bereich der taktischen Waffen folgende Schritte angekündigt:

  • alle 1.300 in Europa stationierten nuklearen Artilleriegranaten und alle 850 Sprengköpfe für die Lance-Kurzstreckenrakete werden abgezogen; die Gefechtsköpfe demontiert. Die NATO-Verteidigungsminister haben darüber hinaus beschlossen, die luftgestützten taktischen Nuklearwaffen in Europa um die Hälfte auf 700 Stück abzubauen.
  • Die 150 noch in Südkorea befindlichen Nuklearwaffen werden abgebaut und ebenso wie die in den USA selbst stationierten Artilleriegranaten und Kurzstreckenraketen vernichtet.
  • Alle taktischen Nuklearwaffen der Marine und des Marinekorps werden von den Schiffen und Basen der landgestützten Marineflugzeuge entfernt. Betroffen sind insgesamt 2.150 Gefechtsköpfe, darunter auch alle 350 hochmodernen seegestützen Marschflugkörper. Die Marschflugkörper sowie 450 Nuklearbomben der Trägerflugzeuge werden auf Dauer eingelagert; die restlichen Gefechtsköpfe demontiert.

Insgesamt sind ca. 5000 taktische Atomwaffen betroffen; der überwiegende Teil wird demontiert.

Mit diesem Schritt geht eine Ära zuende. Mit der Armee und dem Marinekorps verlieren zwei Teilstreitkräfte vollständig ihre nukleare Rolle. Auch die operativen Einheiten der Marine (mit Ausnahme der strategischen U-Boote) und die meisten Verbände der Luftwaffe werden nicht mehr über Nuklearwaffen verfügen.

Mit ähnlichem Tempo verlief die Abrüstung auf Seiten der Sowjetunion bzw. Rußlands. Gorbatschow hatte angekündigt,

  • alle nuklearen Sprengköpfe für taktische Raketen, Artilleriegranaten und nukleare Minen zu verschrotten (zusammen mindestens 6.800 atomare Sprengköpfe),
  • die nuklearen Sprengköpfe der Luftabwehrraketen abzubauen, zur Hälfte zu demontieren, zur anderen Hälfte in zentralen Lagern zu deponieren (betroffen sind bis zu 2.700 Gefechtsköpfe),
  • alle taktischen Waffen der Marine abzuziehen. Ein Drittel soll zerstört, zwei Drittel eingemottet werden (zusammen ca. 3.400).

Insgesamt sollen ca. 13.000 taktische Nuklearwaffen abgerüstet werden. Auch hier ist vorgesehen, den überwiegenden Teil zu demontieren.

Der strategische Bereich

Ähnlich einschneidend gestaltet sich auch der Abbau der strategischen Arsenale. Bereits die zwei Runden einseitiger Maßnahmen greifen nachhaltig in die Rüstungsdynamik ein. Beide Seiten verpflichteten sich zum einen, die Alarmbereitschaft ihrer strategischen Waffen zu reduzieren. Konkret werden die Atomwaffen der schweren Bomber in zentralen Depots gelagert und die elektronischen Leitsysteme der Raketen deaktiviert, die im Rahmen des START-I Vertrages abgebaut werden sollen. Zum anderen kündigten beide Seiten einen Stop der Entwicklung und Produktion neuer Atomsprengköpfe und Trägersysteme an. Zum ersten Mal seit 1945 werden von der USA und der UdSSR bzw. GUS weder neue Nuklearwaffen noch Trägersysteme entwickelt oder gebaut.

Das START-II Abkommen ergänzt die unilateralen Modernisierungsverzichte durch weitere einschneidende Reduzierungen. Der Vertrag sieht vor, bis zum Jahr 2003 (bis 2000 falls die USA Rußland bei der Implementierung der Vertragsbestimmungen helfen) die Anzahl der strategischen Waffen auf 3.000 – 3.500 Gefechtsköpfe zu reduzieren. Dies entspricht einer Abrüstung um mindestens zwei Drittel.

Beachtlich sind nicht nur die quantitativen Aspekte. START-II verbietet alle landgestützten Raketen mit Mehrfachgefechtsköpfen. Dieser Bestimmung hat Rußland nur nach erheblichen Kontroversen zugestimmt, weil schwere landgestützte Raketen das Rückgrat der sowjetischen Abschreckung bildeten. Im Gegenzug fanden sich die USA zu einer weitgehenden Reduzierung der auf seegestützten Raketen montierten Gefechtsköpfe bereit. Wirkungsvollen Beschränkungen unterliegen auch die strategischen Bomber. Hier hatte START-I mit der Bestimmung, Bombenflugzeuge nur mit einem Sprengkopf »anzurechnen«, obwohl sie bis zu 20 tragen können, erhebliche Lücken enthalten. Unter START-II werden Bomber mit der Bewaffnung gezählt, die sie maximal tragen können. Es ist beiden Seiten erlaubt, vormals nuklearfähige Bomber zu Trägern von konventionellen Bomben umzurüsten. Diese Flugzeuge müssen nicht mehr auf die Höchstgrenzen des Vertrages angerechnet werden, unterliegen aber einer besonderen Überwachung.

Eine neue Entwicklung in der Geschichte der Rüstungskontrolle stellen Bestimmungen dar, die darauf abzielen, bei der Abrüstung Geld zu sparen. Beispielsweise dürfen beide Seiten Raketen, die bisher mit mehreren Gefechtsköpfen bestückt waren, so umrüsten, daß sie weniger bzw. nur noch einen Gefechtskopf transportieren können. Die schweren SS-18 Raketen Rußlands müssen zerstört werden, indem sie entweder zerschnitten oder als Trägerraketen zum Transport von Satelliten ins All geschossen werden. Ihre Silos müssen nicht alle zerstört werden; zum Teil dürfen sie umgebaut und zum Aufstellen der kleinen SS-25 Raketen benutzt werden.

Neu ist auch die große Offenheit bei der Überwachung des Abkommens. Neben umfassenden Ausgangsinspektionen, Verdachtsinspektionen, permanenten Inspektionen von Produktionsanlagen und einer Überwachung der Vernichtung von Waffen haben sich die Vertragsparteien sogar das Recht zugesichert, das Allerheiligste selbst, die Raketen und deren Gefechtsköpfe sowie das Innere der Bomber der anderen Seite inspizieren zu dürfen.

Begleitet wird die Abrüstung durch zwei weitere Maßnahmen. Die USA und Rußland haben ein Ende der Produktion von spaltbarem Material für militärische Zwecke verfügt bzw. fest in Aussicht gestellt (in Rußland wird einer der Plutonium-produzierenden Reaktoren vorläufig noch zur Energiegewinnung weiter betrieben). Weil diese Maßnahmen rein unilateralen Charakter haben und eine Überprüfung (noch) nicht vorgesehen ist, muß ihr abrüstungspolitischer Wert allerdings relativiert werden. Wichtiger sind die Moratorien der Nuklearwaffentests, die, von Gorbatschow initiiert, mittlerweile von Rußland, Frankreich, den USA und damit notgedrungen auch von Großbritannien eingehalten werden (das Vereinigte Königreich testet seine Atomsprengköpfe mangels eines eigenen Geländes auf dem amerikanischen Testgelände in Nevada). Die Aussichten, das seit den fünfziger Jahren verfolgte Ziel eines umfassenden Teststopp-Vertrages zu erreichen, haben sich damit entscheidend verbessert.

Abgesehen von dem Teststopp haben sich die nuklearwaffenbesitzenden »Drittstaaten« Frankreich, Großbritannien und China an der Abrüstung bisher nicht beteiligt. Alle drei Staaten werden die Anzahl ihrer Atomwaffen in der nächsten Dekade erhöhen. Dadurch wird die Differenz zwischen den Potentialen der Drittstaaten und der früheren Supermächte abnehmen.

Die Konsequenzen

Durch den START-Vertrag und die einseitigen Maßnahmen wird der nukleare Rüstungswettlauf beendet, der Modernisierungsprozeß gestoppt, die atomaren Arsenale drastisch reduziert und die strategische Stabilität erhöht. Allein die quantitativen Größenordnungen sind beachtlich. Von 1990 bis zum Jahr 2000 wird sich die Anzahl der weltweit vorhandenen Nuklearwaffen von knapp unter 50.000 auf deutlich unter 10.000 verringern. Damit wird der Stand der späten fünfziger Jahre wieder erreicht. Wenn es gelingt, die gegebenen Versprechen zu implementieren, wird sich die Anzahl der amerikanischen Nuklearwaffen von 20.000 auf 3.500 bis 4.000 verringern. Das früher 27.000 – 33.000 Gefechtsköpfe umfassende sowjetische Arsenal wird bis auf 3.000 – 3.500 Waffen in russischem Besitz schrumpfen. (siehe Grafik)

Im Gegensatz zu den früheren Rüstungskontrollabkommen betrifft START-II nicht nur die quantitativen Aspekte der Rüstungsdynamik.

Das Abkommen wird zu einer deutlichen Stabilisierung der nuklearen Balance führen. Die Möglichkeit, daß eine oder – noch gefährlicher – beide Seiten in die Lage kommen könnten, die Raketensilos, Bomberbasen und unterirdischen Befehlszentralen der anderen Seite zu zerstören, galt während des Ost-West-Konflikts als eine zentrale Gefährdung. Die auf dieser Situation beruhenden, wenn auch allenfalls nur theoretisch denkbaren Erstschlagsszenarien haben die Rüstungsdynamik wesentlich angetrieben und hätten womöglich in einer Krise eine wechselseitige Politik der Zurückhaltung und Deeskalation unterlaufen. Faktoren, die die Fähigkeit zum entwaffnenden Erstschlag beeinflussen, sind neben der Zielgenauigkeit das Verhältnis von Raketensilos, also potentiellen Zielpunkten, und Gefechtsköpfen. Während des Ost-West-Konflikts ist dieses Verhältnis auf beiden Seiten von den an anwendbaren Optionen interessierten militärischen Führungen durch die Bestückung der Raketen mit möglichst vielen Gefechtsköpfen ständig zugunsten der offensiven Optionen verändert worden.

START-II wird bei dem besonders stabilitätsanfälligen Segment der landgestützen Rüstung die Eins-zu-Eins Symmetrie zwischen Raketensilos und Gefechtsköpfen wieder herstellen. Zusätzlich werden auf beiden Seiten auch die besonders zielgenauen Waffen abgebaut. Dadurch werden Erstschlagsszenarien künfig selbst theoretisch undenkbar. Mit Unterzeichnung des Vertrages haben beide Seiten akzeptiert, daß Nuklearwaffen nicht zur Durchsetzung machtpolitischer Interesse taugen.

Insgesamt wird sich der Charakter der Abschreckung grundsätzlich ändern. Waren früher auf beiden Seiten alle Teilstreitkräfte mit Nuklearwaffen ausgerüstet, werden diese künftig unter der Kontrolle eines Kommandos zentralisiert. War früher fast jede militärische Einheit mit Nuklearwaffen ausgestattet, werden sie künftig nur noch gut gesichert in wenigen Depots, Silos und auf U-Booten zu finden sein. Damit findet auch die früher umfassende Nuklearisierung der militärischen Einsatzpläne ein Ende. Künftig werden die Militärs nicht mehr selbstverständlich unter der Annahme planen, daß zum Abschluß eines Gefechtes Nuklearwaffen zum Einsatz kommen. Auch in der militärischen Beurteilung und Perzeption deuten sich bereits weiterreichende Änderungen an.

Interessen und Motive

Wie ist diese neue Abrüsungsbereitschaft zu erklären? Handelt es sich lediglich um einen kurzfristigen, leicht umkehrbaren Trend? Ist möglicherweise eine Verlagerung der Rüstungsdynamik in andere, nicht kontrollierte Bereiche zu erwarten? Oder ist mit einer Fortsetzung der Abrüstung zu rechnen? Die gewandelte Politik der früheren Supermächte läßt sich mit zwei Interessen, das amerikanische Verhalten mit einem zusätzlichen Motiv erklären.

Erstens haben die politischen Führungen in Ost und West akzeptiert, daß die überdimensionierten Atomwaffenarsenale nicht mehr in die neue Zeit passen und ein Dialog über ihre Reduzierung allein schon geboten ist, um dem wechselseitigen Entstehen neuerlicher Bedrohungen und Feindbilder vorzubeugen. Mit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion wurde ihnen zweitens schlagartig bewußt, daß das riesige sowjetische Atomwaffenarsenal eine erhebliche und konkrete Bedrohung darstellt.

Zum einen zeichnet sich ein Konflikt zwischen Rußland und den ehemaligen sowjetischen Republiken Ukraine, Kasachstan und Weißrußland über den Besitz und die Kontrolle der auf dem Territorium dieser Republiken stationierten Nuklearwaffen ab. Sollte es nicht gelingen, die nukleare »Erbfolge« auf Rußland zu beschränken, drohen schwer zu kalkulierende, aber potentiell katastrophale Konsequenzen für die gesamte Region und ihre Umgebung. Zum anderen könnten die zentrale Kontrolle über den Nuklearwaffenkomplex verloren gehen und in der Folge Waffen in die Verfügungsgewalt subnationaler Organisationen gelangen oder außer Landes geschmuggelt werden. Und selbst wenn es gelänge, alle Atomwaffen unter zentraler Kontrolle in Rußland zu konsolidieren, würden diese schon aufgrund der instabilen Lage in Rußland selbst auf Dauer ein nicht zu tolerierendes Sicherheitsrisiko darstellen.

Mit Hilfe einer Strategie kooperativer Denuklearisierung sollen zum einen die anderen Republiken bewegt werden, die Nuklearwaffen auf ihrem Territorium aufzugeben, soll zum anderen das Risiko eines nuklearen Unfalls oder Diebstahls reduziert und die langfristigen Risiken durch weitgehende Abrüstung minimiert werden.

Probleme und Hindernisse

Diese Ziele konnten bisher nur teilweise erreicht werden. Am weitesten fortgeschritten ist noch die Abrüstung im taktischen Bereich. Die USA haben (bis auf die 700 Bomben) sämtliche Atomwaffen aus Europa, Südkorea und von den Schiffen abgezogen. Sie befinden sich in Lagern in der Nähe der Pantex-Fabrik in Amarillo/Texas, wo sie demontiert werden sollen. Auch der Transport aller taktischen Nuklearwaffen der früheren Sowjetunion nach Rußland ist abgeschlossen. Hier sind vier Fabriken, allerdings mit geringer Kapazität, zur Demontage technisch in der Lage.

Dagegen steht die Abrüstung im strategischen Bereich bisher weitgehend nur auf Papier. START ist ein Abkommen auf Abruf. Das russische Parlament hat die Ratifizierung der START-Verträge an die Bereitschaft der anderen Republiken geknüpft, völkerrechtlich verbindlich ihrer Denuklearisierung zuzustimmen und dem Nichtverbreitungsvertrag als nuklearwaffenfreie Staaten beizutreten. Zu diesem Schritt waren bisher nur Weißrußland und Kasachstan bereit. Hingegen scheint die Ukraine von dem Versprechen abzurücken, die auf ihrem Territorium dislozierten Nuklearwaffen aufzugeben.

Daneben bereitet die sichere Entsorgung der Hinterlassenschaften von über vierzigjähriger nuklearer Gigantomanie erhebliche Schwierigkeiten. Neben der Beseitigung der Umweltaltlasten geht es insbesondere um die sichere Lagerung und den Transport der Gefechtsköpfe sowie um deren Demontage und die dauerhafte Beseitigung des spaltbaren Materials. Eine konzertierte westliche Aktion soll hier das Schlimmste verhindern helfen. Von den USA und westeuropäischen Ländern wurde technische und finanzielle Unterstützung, unter anderem beim Design und Bau von Atomwaffenlagern angeboten. Die USA haben einen Vertrag zum Aufkauf des mit der Abrüstung freiwerdenden hochangereicherten Urans geschlossen. Von besonderer Dringlichkeit wäre eine internationale Inspektion und Kontrolle des nuklearen Komplexes der ehemaligen UdSSR. Die USA haben eine solche Forderung bisher nicht erhoben, weil Rußland auf einer entsprechenden Beschränkung der amerikanischen Souveränität bestehen könnte. Hier sind die kernwaffenfreien Staaten gefordert, ihre Interessen an Transparenz und Kontrolle auch gegenüber den USA zum Ausdruck zu bringen.

Allein mit der Sorge um die Stabilität des sowjetischen Nuklearwaffenarsenals läßt sich das amerikanische Verhalten nicht vollständig erklären. Hinzu tritt ein weiteres, strukturelles Interesse an nuklearer Abrüstung, das sich seit den späten achtziger Jahren nachweisen läßt. Es reagiert auf die zunehmende Konvergenz zwischen den Feldern nuklearer Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik einerseits und nuklearer Nichtverbreitungspolitik andererseits. Auch die militärische Führung der USA hat akzeptiert, daß Nuklearwaffen als Instrumente amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik relativ bedeutungslos geworden sind. Ihre Abschreckungsfunktion im Ost-West-Kontext ist weitgehend überflüssig geworden; im Kontext regionaler Konflikte stellen sie sogar eine erhebliche Bedrohung dar. Ob Abschreckung in diesem Kontext funktionieren würde, ist überaus fraglich; ein tatsächlicher Einsatz von Nuklearwaffen wäre aber nicht nur moralisch tabuisiert; gegen ihn spräche auch die militärische Rationalität. Damit ist nicht impliziert, daß Nuklearwaffen in jedem Fall bedeutungslos sind. In den Händen eines Regimes, das nicht entsprechend den Werten und Mustern westlicher Rationalität agiert, können Nuklearwaffen ein gewaltiges Terrorinstrument darstellen.

Der Bedeutungsverlust nuklearer Waffen wird durch eine zweite Entwicklung verstärkt. Infolge der Revolutionierung der Zielerfassungs- und Steuerungstechnologien können die meisten der militärischen Aufgaben, für die früher der Einsatz nuklearer Waffen als unabdingbar galt, mittlerweile ebenso effektiv von fortgeschrittenen konventionellen Waffen übernommen werden. Konventionelle Rüstung wird zu einer politisch und militärisch überzeugenden Alternative zu nuklearen Waffen. Auch hier ist eine wichtige Einschränkung vorzunehmen. Über derartig fortgeschrittene Technologien werden in absehbarer Zeit nur die USA verfügen. Die auf den konventionellen Fähigkeiten beruhende militärische Überlegenheit der USA wäre in ihrer politischen Wirkung nur zu erschüttern, falls es einem amerikanischen Gegner gelingen sollte, einen nuklearen Faktor in diese Gleichung einzubringen. Der zweite Golf-Krieg hat diesen Zusammenhang ins Bewußtsein gebracht. Das bedeutet, daß die USA an allgemeiner nuklearer Abrüstung interessiert sein könnten, wenn sich dadurch eine globale Begrenzung nuklearer Waffen sichern ließe.

Natürlich bezeichnen diese Ausführungen zunächst nur ein Kalkül und keine Garantie, daß die USA am Kurs nuklearer Abrüstung festhalten werden. Die bürokratischen, zum Teil auch psychologischen Widerstände gegen eine Aufgabe der früher prestigeträchtigen Nuklearrüstung sind gewaltig. Es ist aber auch nicht mehr auszuschließen, daß sich Präsident Clinton oder sein Nachfolger zu einem Protagonisten der allgemeinen und vollständigen nuklearen Abrüstung entwickelt.

Tabelle I: Unilaterale Initiativen der USA und der
UdSSR/GUS zur Reduzierung der strategischen Rüstung 1991/1992
USA UdSSR/GUS
Verzicht auf die MX-ICBM. Ende der Produktion der SS-24 ICBM.
Verzicht auf die Midgetman ICBM. Stop der Entwicklung einer kleinen ICBM.
Abbruch der Entwicklung des nuklearen SRAM-II Abstandsflugkörpers. Abbruch der Entwicklung einer nuklearen Angriffsrakete.
Stop der Produktion des B-2 Bombers über die bereits produzierten
20 Flugzeuge hinaus.
Einstellung der Produktion weiterer schwerer Bomber.
Ende der Produktion der luftgestützten Marschflugkörper zweiter
Generation (ACM) über die bereits gebauten 640 Stück hinaus.
Stop der Produktion des W-88 Sprengkopfes für die Trident-II
U-Boot-Rakete.
Ende der ständigen Alarmbereitschaft strategischer Bomber. Ende der Alarmbereitschaft der strategischen Bomber.
Ende der Alarmbereitschaft von 450 Minuteman Gefechtsköpfen. Ende der Alarmbereitschaft von 503 ICBM's mit 1094
Stop der Patroullietätigkeit von 10 U-Booten mit mindestens 1.600
Gefechtsköpfen.
Vorzeitige Außerdienststellung von 6 U-Booten mit 92 Raketen.

Matthias Dembinski ist Mitarbeiter in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt am Main (HSFK) und Jürgen Wilzewski arbeitet an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main.

Die START-Verhandlungen

Die START-Verhandlungen

Zielsetzung und Stand der Verhandlungen über die Reduzierung strategischer Nuklearwaffen

von Joachim Rohde

Seit 1982 verhandeln die USA und die Sowjetunion in Genf über eine Reduzierung und Umstrukturierung ihrer weitreichenden strategischen Angriffswaffen (Strategic Arms Reduction Talks, kurz START genannt). Lange Jahre waren diese Verhandlungen Teil eines umfassenderen Verhandlungspakets, das sowohl nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Verhandlungen) als auch strategische Verteidigungs- und Weltraumsysteme (Space and Defense Talks) umfassen sollte. Innerhalb dieses Pakets wurden Fortschritte in einer Systemkategorie abhängig gemacht von Fortschritten in den beiden anderen Kategorien. Erst mit der Entkopplung der verschiedenen Bereiche wurde die Voraussetzung für erfolgreiche Vertragsabschlüsse geschaffen. 

So gelang 1987 der Abschluß des INF-Abkommens, nachdem Moskau die INF-Verhandlungen über Angriffssysteme mittlerer Reichweite nicht mehr von Fortschritten bei START abhängig gemacht hatte. Nachdem es 1990 gelang, auch die START-Verhandlungen von Fortschritten in den Verhandlungen über die anderen noch verbleibenden Systemkategorien (strategische Verteidigungs- und Weltraumsysteme) abzukoppeln, scheinen beide Seiten auch hier kurz vor einem Vertragsabschluß zu stehen. Die Unterzeichnung des ca. 450 Seiten umfassenden Vertragswerks mußte allerdings mehrfach verschoben werden, da für einige strittige Problembereiche offenbar noch keine Lösung gefunden werden konnte.

So ist auch noch keineswegs sicher, daß der für Juni/Juli 1991 geplante Gipfel, auf dem der START-Vertrag unterzeichnet werden soll, nicht erneut verschoben werden muß. Zwar beschlossen die beiden Außenminister auf ihrem Treffen Anfang Juni, die Verhandlungen zu beschleunigen, es gelang ihnen jedoch trotz mehrstündiger Verhandlungen nicht, die noch bestehenden Differenzen auszuräumen und den Weg zur Vertragsunterzeichnung zu ebnen.

Im folgenden soll – im Sinne einer Momentaufnahme – ein Überblick über den Stand der Verhandlungen gegeben werden. Dabei wird zunächst noch einmal die mit START verfolgte Zielsetzung und ihre vertragstechnische Umsetzung skizziert so wie die konkreten Vertragsbestimmungen und ihre Verifikation erläutert. Die Analyse schließt mit einer kurzen Bewertung und Überlegungen zu den Aussichten für den weiteren Fortgang der Verhandlungen angesichts der sich wandelnden Beziehungen zwischen Moskau und Washington.

I. Verhandlungsgegenstand und Dauer

Verhandlungsgegenstand sind offensive strategische Nuklearwaffen, d.h. genauer gesagt nukleare Trägersysteme interkontinentaler Reichweite und nukleare Gefechtsköpfe. Im einzelnen sind dies landgestützte Interkontinentalraketen (Intercontinental Ballistic Missiles/ICBM), seegestützte Interkontinentalraketen (Sea-Launched Ballistic Missiles/SLBM) und strategische Bomber einschließlich ihrer Bewaffnung.

Der Vertrag soll auf 15 Jahre abgeschlossen werden mit der Möglichkeit, ihn jeweils um 5 Jahre zu verlängern. Nach 7 Jahren müssen die Vertragsbestimmungen implementiert, d.h. die Potentiale auf die vorgesehenen Höchstgrenzen reduziert worden sein.

II. Verhandlungsziel

Ziel ist eine Reduzierung (ursprünglich um 50%) der Nuklearwaffenpotentiale der Supermächte bei gleichzeitiger Erhöhung der strategischen Stabilität. Als wesentliche Voraussetzung für Stabilität wird die Überlebensfähigkeit der strategischen Potentiale angesehen. Dieser Gedanke ist nicht neu und beruht auf der Überlegung, daß in einer akuten Krisensituation der Anreiz, auf den Einsatz militärischer Macht zurückzugreifen, dann am größten ist, wenn derjenige, der zuerst zuschlägt, davon einen erheblichen Vorteil hätte. Der größte militärische Vorteil ließe sich dann erzielen, wenn es einem Angreifer gelingen würde, den Gegner nuklearstrategisch zu entwaffnen. Die Überlebensfähigkeit der strategischen Nuklearpotentiale ist deshalb eine Mindestvoraussetzung, will man verhindern, daß eine Krise schon allein aufgrund der Struktur der Militärpotentiale eskalieren könnte.

III. Vertragstechnische Umsetzung der Zielvorgabe

Strategische Rüstungskontrolle soll – zumindest nach amerikanischer Argumentation – auf zweierlei Weise zur Vergrößerung der Überlebensfähigkeit der Nuklearstreitkräfte beitragen:

  • Zum einen soll die Anzahl der Gefechtsköpfe (GK) pro Rakete reduziert werden (DeMIRVing).1
  • Zum anderen soll der Anteil langsam fliegender Systeme (Bomber und Marschflugkörper/MFK) gegenüber schnell fliegenden (ballistischen Raketen) erhöht und damit eine Schwerpunktverlagerung im strategischen Dispositiv vorgenommen werden.

Die stabilitätsfördernde Wirkung eines DeMIRVing läßt sich am besten an einem einfachen Beispiel erläutern: Wenn beide Seiten über tausend Raketen mit jeweils einem Gefechtskopf verfügen und zur Zerstörung einer Rakete beispielsweise in ihrem Silo mindestens drei Gefechtsköpfe notwendig sind, ließe sich selbst unter Einsatz des Gesamtpotentials nur ein Bruchteil des gegnerischen Potentials (ca. 330 Raketen) zerstören, der Angreifer würde sich also quasi selbst entwaffnen. Umgekehrt kann man sagen, wenn beide Seiten über Raketenpotentiale mit MIRV-Gefechtsköpfen verfügen, läßt sich mit einem Bruchteil des eigenen das jeweilige gegnerische Potential ausschalten. Geht man wiederum von dem oben genannten Beispiel aus, setzt nun aber zehn Gefechtsköpfe pro Rakete, so zeigt sich, daß der Angreifer nunmehr mit nur 300 Raketen (3 000 GK) den Gegner entwaffnen kann.

Daraus läßt sich die generelle These ableiten: Je weniger Gefechtsköpfe sich auf den einzelnen Raketen befinden, desto geringer ist der Erstschlagsvorteil und desto größer die militärische Stabilität.

Die stabilitätsfördernde Wirkung einer Erhöhung des Anteils langsam fliegender Systeme läßt sich aus folgender Überlegung ableiten: Ein Entwaffnungsschlag – wie er oben skizziert wurde – ist nur praktikabel, wenn der Angegriffene sein eigenes Potential nicht startet, bevor der Angriff einschlägt. Je kürzer die Vorwarnzeit und damit die mögliche Reaktionszeit, um so sicherer kann der Angreifer sein, die gegnerischen Raketen noch in ihren Silos zerstören zu können. Umgekehrt gilt: Je länger die Flugzeit eines erfaßten Systems, desto größer ist die Vorwarnzeit und desto geringer die Wahrscheinlichkeit, daß das gegnerische Potential im Zuge eines Überraschungsangriffs am Boden zerstört werden kann. Aus dieser Überlegung resultiert die These, daß die vergleichsweise langsam fliegenden luftatmenden Offensivsysteme (Bomber und Marschflugkörper) weniger stabilitätsgefährdend sind als ballistische Raketen, weil mit ihnen aufgrund ihrer unter Umständen mehrere Stunden betragenden Flugzeit ein überraschender Entwaffnungsangriff nicht möglich ist; der Angegriffene hätte ausreichend Zeit, einen Gegenschlag einzuleiten.

Beim ersten Ansatz, der Reduzierung der Anzahl der Gefechtsköpfe pro ballistischer Rakete lassen sich – orientiert am konkreten Verhandlungsgegenstand – wiederum zwei Vorgehensweisen unterscheiden:

  • die Begrenzung/Reduzierung des Wurfgewichtes des ballistischen Potentials;
  • die Reduzierung der Gefechtsköpfe.

Kommt es zu erheblichen Reduzierungen in diesen Kategorien, erscheint es für beide Seiten geboten, die verbleibenden Gefechtsköpfe bzw. das verbleibende Wurfgewicht auf möglichst viele Trägermittel zu verteilen, um die Überlebensfähigkeit des Potentials zu vergrößern.

IV. Die wesentlichen Regelungen eines START-Abkommens

In diesem Zusammenhang sind die Regelungen über Anzahl, Qualitätsmerkmale und Verteilung ballistischer Flugkörper zu sehen. Die Obergrenze für dislozierte land- und seegestützte Interkontinentalraketen mit zugehöriger Abschußvorrichtung (launcher) und für schwere Bomber liegt bei 1 600 Systemen. Von diesen dürfen wiederum maximal 154 schwere ICBM sein. Neben den Abschußvorrichtungen werden zum ersten Mal in der strategischen Rüstungskontrolle auch die Gefechtsköpfe gesondert reduziert. Ihre Zahl wird durch den Vertrag auf maximal 6 000 begrenzt, wobei es für GK auf dislozierten ballistischen Raketen (ICBM und SLBM) noch eine Untergrenze von 4 900 gibt. Von diesen 4 900 dürfen wiederum nur 1 540 Gefechtsköpfe auf schweren ICBM disloziert werden und 1 100 GK auf mobilen ICBM. Die erste Untergrenze bezieht sich ebenso wie die erwähnte Untergrenze bei Trägersystemen ausschließlich auf die sowjetische Interkontinentalrakete SS-18.

Neben der Begrenzung der Gefechtsköpfe wird aber auch das erlaubte Wurfgewicht auf 50% des aggregierten Wurfgewichts aller dislozierten sowjetischen ICBM und SLBM reduziert.

Darüber hinaus enthält der Entwurf für den START-Vertrag weitere Regelungen, die ebenfalls dem Ziel gelten, die Gefechtskopfanzahl pro Trägermittel zu reduzieren. Dazu gehören die Verbote:

  • neuer Typen von schweren ICBM,
  • neuer, schwerer SLBM und ihrer Abschußvorrichtungen,
  • mobiler Abschußvorrichtungen für schwere ICBM,
  • neuer Typen von ICBM und SLBM mit mehr als zehn Gefechtsköpfen,
  • einer schnellen Nachladefähigkeit von ICBM-Abschußvorrichtungen,
  • neuer luftgestützter Marschflugkörper mit mehreren, unabhängig von einander steuerbaren Gefechtsköpfen. (In der seegestützte Marschflugkörper/SLCM betreffenden bindenden politischen Erklärung wird dies auch für SLCM ausgeschlossen.)

Im Ergebnis würde ein START-Abkommen zu folgenden Reduzierungen führen:

  • Die Zahl der Gefechtsköpfe auf ballistischen Systemen wird um ca. 49% (UdSSR) und 39% (USA) verringert;
  • Die Anzahl der schweren ICBM, also der sowjetischen SS-18, wird um 50% reduziert;
  • Das Gesamtwurfgewicht der sowjetischen ballistischen Raketen verringert sich um 50%.

Zwar wird im Entwurf des START-Vertrages auf weitere radikale Maßnahmen zur Reduzierung der Gefechtsköpfe pro Trägermittel verzichtet (DeMIRVing), doch werden zumindest erste, wichtige Schritte unternommen. Eine weitergehende Restrukturierung soll den START-II-Verhandlungen überlassen bleiben.

Bezüglich luftatmender Offensivsysteme (Bomber und Marschflugkörper) sieht der Vertragsentwurf folgende Regelungen vor:

Bei START soll jeder schwere Bomber als ein Trägersystem (auf die Obergrenze von 1 600) angerechnet werden. Anders ist es bei der Anrechnung seiner mitgeführten Bewaffnung auf die Gefechtskopfobergrenze (von 6 000). Frei fallende Bomben und Kurzstreckenabstandsflugkörper (SRAM) werden pro Bomber als ein Gefechtskopf gezählt und zwar gleichgültig, wieviele dieser Systeme der Bomber tatsächlich mitführt. Luftgestützte Marschflugkörper (ALCM, Reichweite größer als 600 km) hingegen werden prinzipiell als individuelle Gefechtsköpfe gerechnet. Allerdings wird bei den ersten 150 amerikanischen und den ersten 180 sowjetischen ALCM-Bombern jeweils nur eine bestimmte Anzahl von ALCM in START verrechnet: US-Bomber werden mit 10 ALCM (10 Gefechtsköpfe) verrechnet, dürfen aber bis zu maximal 20 ALCM mitführen, sowjetische Bomber werden mit 8 verrechnet, dürfen aber maximal 16 mitführen. Bei allen nachfolgenden Bombern (also z.B. dem 151. US-Bomber) wird jeder ALCM als ein Gefechtskopf auf die Obergrenze von 6 000 angerechnet. Aufgrund dieser Zählkriterien werden strategische Bomber unter dem START-Regime »bevorzugt« behandelt, d.h. die von ihnen mitgeführten Nuklearwaffen werden nicht voll auf die Obergrenze von 6 000 Gefechtsköpfen angerechnet. Daraus folgt, daß der De-facto-Bestand an Nuklearwaffen (also an Gefechtsköpfen) höher liegen wird als 6 000, denn die Masse der von Bombern getragenen Waffensysteme wird nicht erfaßt. Um wieviel höher die Gefechtskopf(Waffen-)arsenale über dieser Grenze liegen, ist abhängig von der zukünftigen Rüstungspolitik der Vertragspartner, insbesondere davon, wieviel ALCM-Bomber und wieviel mit Bomben und SRAM ausgerüstete Bomber beibehalten oder beschafft werden. Entsprechend stark oder weniger stark ausgeprägt ist die Verlagerung auf luftatmende Offensivsysteme, wenn man Gefechtsköpfe als die relevante Meßlatte nimmt. Diese Zählregeln bieten erhebliche Anreize, einen größeren Anteil des Gesamtpotentials (gemessen in Gefechtsköpfen) auf Bombern zu dislozieren, und dürfte zu einer Schwerpunktverlagerung insbesondere bei den sowjetischen Angriffssystemen führen (s. Schaubild 3).

V. Das vorgesehene Verifikationsregime

Die sicherheitspolitische Bedeutung eines START-Abkommens ist aber nicht nur auf die Begrenzungen der nuklearen Trägersysteme und Gefechtsköpfe und der damit ansatzweise begonnenen Restrukturierung der Nuklearpotentiale zurückzuführen, sondern auch auf das in seiner Art bisher einmalige Verifikationsregime.

Die Einhaltung der Bestimmungen des START-Vertrages soll durch eine Kombination von:

  • nationalen technischen Mitteln (NTM) und
  • kooperativen Maßnahmen (z.B. Vor-Ort-Inspektionen)

überwacht werden. Kooperative Maßnahmen und nationale technische Mittel sollen sich dabei gegenseitig unterstützen und in ihrer Wirksamkeit erhöhen.

Mit den Verifikationsmaßnahmen des START-Vertrages muß vor allem sichergestellt werden, daß die numerischen Begrenzungen der Trägersysteme und der von ihnen mitgeführten Waffensysteme/Gefechtsköpfe, sowie einige technische Eigenschaften dieser Systeme (z.B. Wurfgewicht, Zuladung) überprüft werden können.

1. Verifikation der Trägermittel

Die numerische Überprüfung der in Raketensilos dislozierten ICBM und der auf Unterseebooten dislozierten SLBM ist vergleichsweise einfach und kann primär mit nationalen technischen Mitteln erfolgen. Das gleiche gilt für schwere Bomber.

Bei Bombern gibt es allerdings zwei Problemfelder:

  • START erlaubt die Umwandlung einer bestimmten Anzahl schwerer, Nuklearwaffen-tragender Bomber (vermutlich 107) in Flugzeuge für ausschließlich konventionelle Einsätze (konventionelle Bomber, Aufklärer, Tanker etc.). Da sie vom Vertrag nicht erfaßt werden, müssen sie sich sichtbar unterscheiden von nuklear einsatzfähigen schweren Bombern. Aus diesem Grund sollen die umgewandelten schweren Bomber inspiziert werden, um eindeutige Unterscheidungsmerkmale festzustellen. Darüberhinaus werden diese konventionellen Bomber auf gesonderten Basen disloziert, auf denen keine Nuklearwaffen gelagert werden dürfen. Diese Bestimmung soll durch Vor-Ort-Inspektionen überwacht werden können, obwohl dafür vermutlich auch NTM ausreichen.
  • In einer politisch bindenden Erklärung wird sich die UdSSR verpflichten, ihren vom START-Vertrag nicht erfaßten Backfire-Bombern keine interkontinentale Reichweite zu geben. Zwar ließe sich eine Nachrüstung mit Luftbetankungsstutzen durch NTM nicht überprüfen, wohl aber das für den operativen Einsatz notwendige Luftbetankungstraining und der Ausbau der sowjetischen Tankerflotte.

Wesentlich komplexer ist die Überwachung der Begrenzungen bei mobilen Interkontinentalraketen, da diese ihre Position ständig ändern können und deshalb schwer zu zählen sind. In Ergänzung zu NTM und Vor-Ort-Inspektionen sind deshalb vorgesehen:

  • eine ständige Überwachung der Zugänge zu bestimmten Produktionsstätten für mobile ICBM (perimeter/portal monitoring);
  • Maßnahmen, die die Dislozierung und Bewegung mobiler ICBM regeln.

Die ständige Überwachung der Zugänge zu den Produktionsstätten mobiler Interkontinentalraketen dient – ähnlich wie im INF-Vertrag – dem Ziel, die Anzahl der produzierten mobilen Raketen festzustellen. Soll die Produktion heimlich vergrößert werden, müßte insgeheim eine komplette neue Infrastruktur aufgebaut werden.

Um die Verifikation dislozierter, mobiler ICBM durch nationale technische Mittel zu verbessern, unterliegen auch ihre Dislozierung und Bewegung bestimmten Regeln. Diese kooperativen Maßnahmen sehen vor, jeweils maximal 10 straßenmobile Systeme in einem 25 qkm großen Gebiet in jeweils einem Unterstand zu stationieren. Operationen von straßenmobilen Systemen sind auf Dislozierungsgebiete von jeweils 125 000 qkm beschränkt. In diesen größeren Dislozierungsgebieten darf sich beispielsweise zu Trainings- und Testzwecken jederzeit nur ein kleiner Prozentsatz der straßenmobilen Systeme befinden. Ein größerer Prozentsatz dieses Potentials darf sich hier zeitlich begrenzt aufhalten, um das Verteilen und Auflockern im Gelände zu üben. Eine Auflockerung des Gesamtpotentials in den Dislozierungsgebieten ist nur in akuten Krisensituationen erlaubt.

Vor-Ort-Inspektionen in den Stationierungsgebieten sollen nach Rückkehr aus den größeren Dislozierungsgebieten sicherstellen, daß der Umfang des Potentials nicht heimlich vergrößert wurde. Auch Standardinspektionen mit kurzer Ankündigungszeit sind hier vorgesehen. Sechsmal im Jahr dürfen die Amerikaner von den Sowjets außerdem verlangen, ihre straßenmobilen Systeme aus ihren Unterständen zu ziehen, um mit Satelliten überprüfen zu können, ob jeweils nur eine Abschußvorrichtung pro Unterstand vorhanden ist.

Die USA haben darüber hinaus vorgeschlagen, beiden Seiten das Recht einzuräumen, hin und wieder einen Rückruf aller aufgelockert dislozierten mobilen Systeme in ihre Stationierungsgebiete verlangen zu können. In Vor-Ort-Inspektionen eines auszuwählenden Stationierungsgebiets würden dann die dort vorhandenen Systeme gezählt. Gleichzeitig würden Satelliten die Dislozierungsgebiete nach illegalen mobilen Systemen absuchen. Diese Kombination von Satellitenaufklärung der größeren Dislozierungsgebiete und Vor-Ort-Inspektionen in einem ausgewählten Stationierungsgebiet soll vor einer heimlichen Dislozierung zusätzlicher Systeme abschrecken. Ähnliche Regelungen sind für schienenmobile Systeme vorgesehen.

2. Verifikation der Waffensysteme/Gefechtsköpfe

Bei ballistischen Raketen beginnt die Verifikation damit, daß die vereinbarte maximale Anzahl der Gefechtsköpfe, die einzelne ballistische Flugkörper tragen können durch NTM (Beobachtung der Raketentestflüge) und Vor-Ort-Inspektionen überprüft wird. In Ergänzung zu diesen Maßnahmen ist es nach START verboten, existierende Raketentypen mit mehr Gefechtsköpfen zu testen, als vereinbart wurde.

Mit diesen Maßnahmen läßt sich außerdem auch überprüfen, ob

  • die UdSSR das Gesamtwurfgewicht ihres ballistischen Potentials halbiert und ob
  • das Verbot neuer Typen ballistischer Raketen mit mehr als 10 Gefechtsköpfen
  • sowie das Verbot neuer schwerer ICBM

eingehalten wird.

Bei Bombern muß aufgrund der unterschiedlichen Verrechnung der von ihnen mitgeführten Waffensysteme vor allem unterschieden werden, welche Bomber Marschflugkörper mitführen können und welche nicht. Dies muß sich an strukturellen/konstruktiven Unterschieden festmachen lassen. Außerdem ist anzunehmen, daß mit Ausnahme der Bomber, die niemals mit ALCM getestet wurden, alle schweren Bomber durch Vor-Ort-Inspektionen nach kurzer Ankündigung überprüft werden können.

Darüber hinaus muß kontrolliert werden, ob die ALCM-Bomber nicht doch mehr als die erlaubten 20 (USA) bzw. 12 (UdSSR) Marschflugkörper tragen können. Hierzu wird in Vor-Ort-Inspektionen überprüft werden, wieviel Vorrichtungen für externes und internes Mitführen von ALCM an einem Bomber vorhanden sind. Solche Inspektionen würden auch die Unterscheidung von ALCM-Bombern und anderen Bombern erleichtern. Sowjetische Bomber der Typen Blackjack und Bear-H wurden bereits auf diese Weise inspiziert.

VI. Bewertung

Im Vergleich zu den anfänglich geäußerten, sehr weitgesteckten Erwartungen hätte ein START-Vertrag keinesfalls radikale Reduzierungen und Umstrukturierungen bei strategischen Offensivsystemen zur Folge:

Mit der Reduzierung des Wurfgewichts, der nuklearen Trägersysteme und der Gefechtsköpfe geht ein DeMIRVing allenfalls ansatzweise einher, d.h. der »richtige« Weg wird mit der Halbierung des Wurfgewichts und des SS-18-Potentials allenfalls angedeutet, aber noch nicht wirklich beschritten. Dies soll erst in den nachfolgenden START-II-Verhandlungen geschehen. Dabei wird auf Seiten der US-Administration daran gedacht, ein Verbot mobiler ICBM mit MIRV-Gefechtsköpfen als Vorstufe für ein generelles MIRV-Verbot bei ICBM zu verhandeln. Die UdSSR wird hier vermutlich vor allem die SLBM mit MIRV-Gefechtsköpfen ins Visier nehmen und daneben eine stärkere Begrenzung von ALCM anstreben. Der Anteil der Gefechtsköpfe auf Marschflugkörpern und Bombern nimmt zu; eine Schwerpunktverlagerung von schnell zu langsam fliegenden Systemen findet – wenn auch in bescheidenem Maße – statt. Betrachtet man das Wurfgewicht, dürfte sich diese Verlagerung sogar sehr viel deutlicher darstellen.

Ein gewisser stabilisierender Effekt wäre mit dem START-Vertrag also sicher zu erwarten, auch wenn größere Fortschritte in diese Richtung einem START-II-Vertrag überlassen bleiben. Daneben dürfte aber insbesondere das Verifikationsregime des START-Vertrages die militärische Transparenz erhöhen und die Vertrauensbildung zwischen den beiden Supermächten stärken.

VII. Aktueller Verhandlungsstand

Im Laufe des Jahres 1990 gelang es, einige der umstrittensten Fragen zu klären:

  • Seegestützte nukleare Marschflugkörper (Reichweite mehr als 600 km) fallen nicht unter die START-Begrenzungen, sondern werden durch politisch bindende Erklärungen erfaßt. Dabei darf die Zahl der dislozierten SLCM 880 nicht überschreiten.
  • Auch der sowjetische Backfire-Bomber wird in einer bindenen politischen Erklärung gesondert behandelt, in der sich die UdSSR verpflichtet, diesem Mittelstrecken-Bomber keine interkontinentale Reichweite zu verschaffen (Verzicht auf Betankungsfähigkeit in der Luft).
  • Auch das Problem der Nicht-Umgehungsklausel ist wohl gelöst: Die Sowjetunion stimmte zu, daß die USA und GB ihre nukleare Zusammenarbeit aufrechterhalten, solange dies nicht das strategische Gleichgewicht verändere.

Mit dem für Februar 1991 geplanten Gipfeltreffen wurde auch die Unterzeichnung des START-Vertrages auf Juni/Juli dieses Jahres verschoben, ohne daß bisher über ein konkretes Datum gesprochen wurde. Von amerikanischer Seite wird dies primär mit den noch zu lösenden »technischen Schwierigkeiten«, die der Unterzeichnung des START-Vertrages im Wege stehen, begründet. Zu den nach wie vor offenen Fragen gehören:

  • auf welchen ballistischen Flugkörpern wieviele Gefechtsköpfe reduziert werden dürfen (»downloading«);
  • welche Ausnahmen es hinsichtlich des allgemeinen Verschlüsselungsverbots von Telemetriedaten geben soll; und
  • wann eine neue Rakete lediglich eine Modifizierung eines vorhandenen Systems darstellt und wann es sich um eine Rakete neuen Typs handelt.

Insbesondere die Fragen eins und drei bedürfen aus amerikanischer Sicht der sorgsamen Klärung, da sie die kurzfristige Aufwuchsfähigkeit vor allem des sowjetischen strategischen Potentials bestimmen und deshalb für den Fall einer Vertragskündigung besonders kritisch sind.

Die Außenminister der beiden Supermächte haben auf ihrem jüngsten Treffen Anfang Juni beschlossen, den Verhandlungsprozeß zu intensivieren. Aus diesem Grund wollen sie die Anzahl der Experten, die die technischen Details aushandeln sollen, vergrößern und die Abfolge der einzelnen Verhandlungsrunden verkürzen. Angesichts der noch offenen substantiellen Probleme zeigten sich beide Minister aber auch skeptisch, eine Einigung so rechtzeitig herbeiführen zu können, daß eine Vertragsunterzeichnung noch im Juli erfolgen könnte.

Joachim Rohde ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen.

Teststopp für Interkontinentalraketen

Teststopp für Interkontinentalraketen

von Udo Schelb

Entwicklung der Raketenzielgenauigkeit

Aus den Auseinandersetzungen um die Stationierung der Pershing II und bodengestützter Cruise Missiles ist noch bekannt, daß eines der Hauptargumente die neuartige enorme Zielgenauigkeit dieser Waffensysteme betraf. Denn eine hohe Zielgenauigkeit ist die entscheidende Voraussetzung dafür, sehr stark »gehärtete« Punktziele, v.a. Raketensilos und verbunkerte Kommandozentralen, mit großer Wahrscheinlichkeit ausschalten zu können – mithin ein Attribut von »erstschlagsfähigen Waffen«. Zwar wird die Zerstörungswahrscheinlichkeit gegen solche in die Erde eingelassenen, gewaltig betonarmierten Ziele nicht nur von der Treffgenauigkeit der Waffen, sondern auch von der Sprengkraft ihrer nuklearen Sprengköpfe und vom Grad der Härtung der Ziele mitbestimmt: Aber die Zielgenauigkeit beeinflußt diese bei weitem am stärksten. So hat etwa eine Verdoppelung der Treffgenauigkeit der angreifenden Waffe dieselbe Erhöhung der Zerstörungswahrscheinlichkeit zur Folge wie eine Verachtfachung der Sprengkraft. Für die militärische Anwendung am wichtigsten ist, daß man also bei sehr hohen Zielgenauigkeiten mit kleineren atomaren Ladungen denselben gewünschten Effekt erzielen kann. Denn dadurch würden die unerwünschten »Kollateralschäden« – v.a. Opfer in der Zivilgesellschaft – geringer und die Möglichkeit näherrücken, »präzise, selektive Schläge« gegen rein militärische Ziele zu führen. In der Pershing II ist/war die Kombination höchste Zielgenauigkeit/geringe Sprengkraft gut realisiert.

Wie stellt sich der aktuelle Stand der Zielgenauigkeit und der aus ihr resultierenden Hartzielzerstörungsfähigkeit real dar?

Die ersten ICBMs verfehlten ihre Ziele im Durchschnitt noch um mehrere Kilometer; in den 70er Jahren waren es einige hundert Meter, in der 2.Hälfte der 80er Jahre erreichen die treffsichersten strategischen Raketen als Höchstwert etwa 100 m Treffgenauigkeit auf interkontinentalen Reichweiten. Als qualitative Trends waren zu verzeichnen: Sowjetische ICBMs hinkten und hinken den amerikanischen in der Genauigkeit deutlich hinterher; durchschnittlich um sieben Jahre, wenn man es mit Zeitabständen zu fassen versucht. U-Boot-abgeschossene SLBMs waren in der Vergangenheit immer wesentlich ungenauer, was hauptsächlich verursacht wurde durch die Schwierigkeit, den genauen Abschußort des fahrenden U-Bootes präzise genug zu bestimmen. Dieser Abstand zwischen ICBM und SLBM wurde jedoch von den USA seit Beginn der 80er Jahre mit den SLBM Trident I und Trident II tendenziell aufgehoben: Trident I erreichte als erste SLBM eine Zielgenauigkeit, die der einer modernen ICBM vergleichbar war; Trident II (gegenwärtig in der Flugerprobung) stößt mit in den neuen Rekordbereich von Genauigkeiten um 100 m vor. Für die sowjetischen SLBM ist ein ähnlicher Trend bis heute nicht auszumachen. Der Weltrekordinhaber bei den strategischen Raketen ist die MX mit 100 m Zielgenauigkeit; man spricht davon, daß ihr Lenksystem im Vergleich mit anderen ICBMs einer anderen Generation angehöre. Als Vergleichszahl interessant ist die Zielgenauigkeit der nicht-strategischen (Reichweite knapp 2000 km) und die der Verschrottung geweihten Pershing II : Nurmehr 40 m, worauf noch zurückzukommen sein wird.

Während die bis 1985 zielgenaueste ICBM, die Minuteman III A, gegenüber Silos mit einer typischen gegenwärtigen Widerstandsfähigkeit rechnerisch knapp 75% Zerstörungswahrscheinlichkeit erreicht, sind es für die MX, die einen um 10% kleineren Sprengkopf hat, fast 99%. D.h., die neueste Raketengeneration ist (rechnerisch) in der Lage, gegenwärtige ICBM-Silos nahezu mit Sicherheit ausschalten zu können. Summiert man die inzwischen vorhandene Hartzielzerstörungsfähigkeit aller Raketen in den Arsenalen von USA und UdSSR zusammen, kommt man auf das beunruhigende Ergebnis, daß beide Seiten damit mehr als 97% Zerstörungswahrscheinlichkeit gegen die Silos des Anderen haben (wobei jeweils mehrere Raketen ein Silo angreifen würden). Eine analoge Gegenüberstellung derselben Daten, die Kosta Tsipis 1974 vorgenommen hatte, zeigte noch beide ICBM-Arsenale klar im sicheren Bereich. Die Verwundbarkeit der ICBM-Silos ist also in den letzten 15 Jahren sehr schnell gewachsen – heißt das, daß beide Seiten kurz vor der Erlangung einer Erstschlagsfähigkeit stehen?

Nein; was durch diese Zahlen belegt wird, ist eine reale, ernstzunehmende, destabilisierende Tendenz, aber sie erfassen nicht, ob es eine konkrete rationale Option für einen Counterforce-Angriff gibt. Auch wenn man durch den Einsatz des allergrößten Teils der eigenen Raketen 97% der ICBM der anderen Seite ausschalten könnte, bliebe mit den auf absehbare Zeit unverwundbaren U-Boot-Raketen ein allemal ausreichendes Zweitschlagspotential bestehen. Solange nicht erreicht werden kann, daß diese unbeschädigten SLBMs nicht eingesetzt werden oder sie sonstwie entwertet werden können, bleibt also ein Erstschlag nach wie vor eine selbstmörderische Option. Hochgradige Silo-Verwundbarkeit ist nicht gleichzusetzen mit Erstschlagsfähigkeit (rationales Handeln vorausgesetzt).

Die realen Konsequenzen der zunehmenden Silo-Verwundbarkeit liegen in zwei Richtungen: Zum einen wird dadurch die Rüstungsdynamik angefacht. So hat die UdSSR mit ihren neuesten ICBMs, SS 24 und 25, begonnen, von der ortsfesten Stationierung zu einer mobilen auf LKW und Eisenbahn überzugehen, und dieser Trend wird sich auf beiden Seiten verstärkt fortsetzen. Denn das Beweglich-Machen der Ziele ist die natürliche Antwort auf höchste Treffsicherheit gegen Ziele mit fixierten Koordinaten. Mobilstationierung kompliziert aber erheblich die gängige Satelliten-Überwachung, weswegen die USA in den START-Verhandlungen den Verzicht darauf verlangten. Zum anderen ist es irritierend, aber Fakt, daß die Verwundbarkeit in den Köpfen und den realen Entscheidungen vieler Militärs und Politiker offenbar doch zu einem Gutteil mit der Möglichkeit einer Erstschlagsfähigkeit gleichgesetzt wird.

Ein typisches Denkmuster in strategischen Spielen setzt darauf, daß begrenzte, kontrollierte, gar »chirurgische« Schläge geführt werden können, die vom Gegner nicht ähnlich begrenzt, sondern nur durch eine Eskalation auf höhere Ebenen vergleichbar beantwortet werden können. Von solch einer Eskalation, bei der er nichts zu gewinnen habe, sondern nur das Schadensausmaß sich vergrößere, könne der Gegner abgeschreckt werden – hofft man. Für solche Szenarios sind natürlich hochzielgenaue Waffen, die mit geringen Sprengladungen auskommen, von größtem Interesse. In der Studie »Discriminate Deterrence« spielt dies eine zentrale Rolle; zugespitzt wird dort die Erwartung geäußert, daß die Zielgenauigkeits-Entwicklung von ICBMs im nächsten Jahrzehnt so weit getrieben werden könne, daß sie gehärtete Silos mit konventionellen Gefechtsköpfen ausschalten können. Sollte das zutreffen – was allerdings recht zweifelhaft ist – böte es den strategischen Planern eine faszinierende Option: Strategische Kernwaffen des Gegners mit nicht-nuklearen Mitteln auszuschalten. Wollte er dann auf gleicher Ebene zurückschlagen, müßte er als erster die nukleare Schwelle überschreiten – vorausgesetzt, er verfügt nicht über ähnlich zielgenaue Waffen. Solche Präzisionslenkung trauen die Amerikaner aber bisher nur sich selbst, nicht aber den Sowjets zu. Die Konsequenz einer solchen technischen Entwicklung würde mit Gewißheit nicht das Überflüssigwerden der Nuklearwaffen sein und die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Krieges nicht senken, sondern vergrößern.

Es ist durchaus vorstellbar, ein gehärtetes Raketensilo rein konventionell zu zerstören, wie eine Studie der RAND-Corporation 1983 meinte: Technische Voraussetzung dafür ist, das Silo exakt auf den Deckel – also mit Null Meter Zielverfehlung – zu treffen. Denn dann braucht das Silo nicht durch die schiere Explosionskraft einer Atomwaffe zerstört zu werden, sondern es kommt nur auf die Zertrümmerung des Silodeckels und die Beschädigung des Siloinhalts, der Rakete, an. Konventionelle Hohlladungen können aber meterdicken Beton ohne weiteres durchdringen. Nötig wäre es also, die Technologien der selbstzielsuchenden Waffen wie etwa von Panzer- und Luftabwehrraketen übertragungsfähig für Interkontinentalraketen zu machen. Es müßte die Technologie intelligenter, »gemarvter« ICBM/SLBM gemeistert werden: MARV kommt von Manouvering Reentry Vehicles, lenkbare Wiedereintrittskörper. Denn bisher hatten die Sprengköpfe der ballistischen Raketen, wenn sie nach ihrem Flug durch den Weltraum wieder in die Atmosphäre eintraten und auf das Ziel zustürzten, keine Möglichkeit einer Korrektur ihrer Flugbahn mehr. Intelligente MARV-Gefechtsköpfe müßten zum einen über geeignete Steuerungsmechanismen für die Wiedereintrittsphase und zum anderen über die Fähigkeit zur Zielerkennung und -suche verfügen. Die erste ballistische Rakete, die einen solchen MARV-Kopf besaß, ist/war die Pershing II und entsprechend ist/war sie auch die zielgenaueste. Sie benutzt gewöhnliche aerodynamische Flügel zur Kurskorrektur und nimmt im Flug ein Radarbild vom Zielgebiet auf, vergleicht es mit einem im Bordcomputer vorab gespeicherten und berechnet die nötigen Bahnänderungen. Eine Zielverfehlung von Null Metern ist damit nicht erreichbar; sie betrug etwa 40 m. Auf dieser Stufe kann die MARV-Technologie jedoch noch nicht auf ICBM/SLBM übertragen werden; der nötige Aufwand an Platz und Gewicht ist viel zu groß. Beispielsweise ist der Pershing-II-Wiedereintrittskörper, der einen einzelnen 10-20 kt-Sprengkopf enthält, schwerer als das Wurfgewicht der Minuteman-III-ICBM, die gegenwärtig mit drei MIRV-Sprengköpfen à 335 kt bestückt ist. Außerdem dürften die enormen Wiedereintrittsgeschwindigkeiten auf interkontinentalen Reichweiten, die zu starker Erhitzung der Gefechtsköpfe und der Bildung einer wenig transparenten Plasmawolke um sie herum führen, die Radarlenkung der Pershing erblinden lassen. Das Ziel der MARV-Entwicklung ist, die Fähigkeiten der Pershing in die vorhandenen ICBM-Wiedereintrittskörper zu inkorporieren (und für konventionelle Sprengköpfe sie noch stark zu steigern), statt sie durch zusätzliche äußere Aufbauten zu erreichen. Von diesem technisch äußerst schwierigen Ziel ist man noch weit entfernt.

Um sich ihm zu nähern, gibt es eine unabdingbare Voraussetzung: Raketentestflüge. Wenn eine Lenktechnologie entwickelt werden soll, die solch extremen Anforderungen wie der exakten Zielsuchlenkung eines mit ca. 7 km pro Sekunde in die Atmosphäre wiedereintretenden MARV-Gefechtskopfes genügen soll, ist es unmöglich, diese ohne realistische Tests zur Einsatzreife zu bringen. Was am zugespitztesten für die MARV-Technologie gilt, trifft aber auch generell für die Entwicklung neuer Raketen mit verbesserten Leistungsdaten, v.a. höherer Zielgenauigkeit, zu: Tests unter realen Einsatzbedingungen – d.h. Testflüge – sind ein unverzichtbarer Bestandteil des Entwicklungsprogramms. Eine ICBM wird, bevor sie in Dienst gestellt wird, rund 20mal testgeflogen, eine SLBM rund 30mal. Beispielsweise soll die Trident II in diesen Tagen ihren 20. F.u.E.-Flug unternehmen, zugleich der erste vom getauchten U-Boot aus; die bisherigen Tests fanden unter erleichterten Bedingungen von Startrampen an Land aus statt.

So anspruchsvoll und wichtig für die Überprüfung der Raketenkonstruktion eine genaue Beobachtung von Details ist, so einfach ist es auf der anderen Seite, überhaupt festzustellen, daß ein Raketentest stattfindet: Während der Startphase werden die heißen Triebwerksabgase von den Infrarot-Detektoren der Frühwarnsatelliten erfaßt; beim ballistischen Flug über etliche Tausend Kilometer Reichweite steigt die Rakete auch über 1000 km hoch in den Weltraum auf und kann somit leicht von Radars erfaßt werden. Zu verifizieren, ob Raketentestflüge vorgenommen werden oder nicht, ist also für die USA wie die UdSSR mit den vorhandenen Beobachtungsmöglichkeiten zuverlässig möglich.

Es gibt Behauptungen (die in Reaktion auf den Vorschlag eines Raketenteststopps aufgestellt wurden), daß Raketentestflüge für die Raketenentwicklung nicht zwingend notwendig seien, daß sie durch andere Testmethoden und Simulationen am Boden, die nicht verifizierbar sind, ersetzt werden könnten. Eine Betrachtung allein schon der veröffentlichten Testerfahrungen lehrt, daß das ausgeschlossen ist. Immer wieder werden erst im Testflug gravierende Konstruktionsmängel aufgedeckt, die zuvor nicht erkannt wurden. Von 8 in den 80er Jahren entwickelten neuen ballistischen Raketen der Supermächte versagten beim ersten Testflug 5 vollständig. Da mit neuen Raketentypen immer neue Leistungsgrenzen (z.B. mehr Zielgenauigkeit) erreicht werden sollen, müssen neue, unerprobte Technologien angewendet werden, bzw. alte weiter ausgereizt werden; ohne Testmöglichkeit kann das Militär sich nie darauf verlassen, daß die projektierten Werte tatsächlich geschafft werden. Die so zielgenaue Pershing II verfehlte im 2.Testflug das Ziel um nicht weniger als 6,5 km, nachdem sie im ersten Testflug wenige Sekunden nach dem Start explodiert war.

Erfreulicherweise zeigt auch eine Betrachtung des technologischen Flusses zwischen ballistischen ICBM/SLBM und solchen Raketen, die Satelliten u.ä. in den Weltraum transportieren, daß dies keine taugliche Umgehungsmöglichkeit für einen Raketenteststopp schafft.

Die Raketentestflüge bieten daher der Rüstungskontrolle den Ansatzpunkt, um auf die Raketenentwicklung bremsend und einfrierend einzuwirken. Die Basis für verbesserte Raketenleistungen wird durch mannigfache technische Neuerungen auf den verschiedensten Feldern geschaffen; auf derlei Laborentwicklungen hat die Rüstungskontrolle natürlich keinen Zugriff. Aber auf dem Weg vom Labor zum ausgereiften, funktionsfähigen Großwaffensystem sind die Raketentestflüge ein unerläßliches Kettenglied, an dem die Rüstungskontrolle den Hebel ansetzen kann.

Testflüge finden nicht nur während der Entwicklungsphase einer neuen Rakete statt, sondern begleitend während der ganzen operationalen Stationierungsdauer. ICBM wie die MX, die Minuteman III oder die sowjetische SS 18 werden jeweils 6-8mal jährlich getestet, um ihre unverminderte Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit zu überprüfen. Neben anderen Raketenteilen unterliegt v.a. das Lenksystem während der Stationierung im Silo einer bedeutenden Beanspruchung, weil ständige sofortige Einsatzbereitschaft der Rakete verlangt, daß gewisse Stabilisierungskreisel im Lenksystem permanent rotieren und regelmäßig nachjustiert werden. Ohne operationale Testflüge würde die »confidence« in das exakt plangemäße Funktionieren der Rakete mit der Zeit sinken.

Ein Raketenteststopp würde daher in zwei Richtungen wirken: Erstens würde er die Entwicklung neuer, immer zielgenauerer Raketen verhindern. Insbesondere der Einstieg in die MARV-Technologie, das wesentliche Zukunftspotential bezüglich der Zielgenauigkeit, würde damit verunmöglicht. Zweitens würde er zu einer Entschärfung der schon entstandenen Situation mit sehr hohen Silo-Verwundbarkeiten auf beiden Seiten führen, weil jegliche Erwägung eines Erstschlages gegen die gegnerischen Silos natürlich höchste »confidence« in die Raketen voraussetzt – angesichts der Konsequenzen im Falle des Fehlschlags. In den Worten des oben zitierten Stansfield Turner: „Mit der Zeit würde das Ergebnis des Nicht-Testens sein, daß, während die Raketen hinreichend zuverlässig und genau bleiben würden, um eine allgemeine Abschreckung aufrechtzuerhalten, sie nicht als zielgenau und zuverlässig genug für einen ersten entwaffnenden Schlag betrachtet werden könnten.“

Kurz: Wenn das Einfrieren der rüstungstechnologischen Dynamik bei den interkontinentalen ballistischen Raketen politisch gewünscht wird, ist eine Möglichkeit dazu gegeben.

Dr. Udo Schelb ist Physiker in Marburg.