Verbreitung von Atomwaffen. Der NPT-Vertrag 1995

Verbreitung von Atomwaffen. Der NPT-Vertrag 1995

von Richard Guthrie, Wolfgang Liebert, Martin Kalinowski

zum Anfang | Die Ausbreitung von Kernwaffen verhindern. Der Nichtverbreitungsvertrag und seine Verlängerung im Jahr 1995

von I. Richard Guthrie et al

I. Einleitung

Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen steht im Mittelpunkt des herrschenden Systems atomarer Begrenzung, das sich seit Beginn des Atomzeitalters entwickelt hat. Als der Vertrag Ende der sechziger Jahre ausgehandelt wurde, beschloß man, daß er zunächst 25 Jahre lang gelten solle. Die Konferenz, auf der über die Zukunft des Nichtverbreitungsvertrags entschieden werden soll, wird 1995 stattfinden, aber noch gibt es keine Garantie für seine Verlängerung.

Es herrscht weitgehende Einigkeit darüber, daß die Welt ohne den Nichtverbreitungsvertrag ein weitaus gefährlicherer Ort wäre. Doch das Ergebnis der 1995 stattfindenden Konferenz hängt zum großen Teil davon ab, wie die politischen Standpunkte Großbritanniens und der anderen Kernwaffenstaaten von den anderen Verhandlungspartnern, insbesondere den weniger industrialisierten Staaten, akzeptiert werden.

Obwohl sich beinahe alle Nationen darüber einig sind, daß das Funktionieren des Nichtverbreitungsvertrags jedem einzelnen von ihnen zugute kommt, ist er doch nicht unumstritten. Viele Nichtkernwaffenstaaten sind der Meinung, daß sie durch den Vertrag diskriminiert werden und daß die Kernwaffenstaaten mit zweierlei Maß messen – „macht das, was wir sagen, aber nicht das, was wir tun“.

Als Gegenleistung für den Verzicht auf Kernwaffen nach dem Nichtverbreitungsvertrag erwarten die Nichtkernwaffenstaaten folgendes:

  • Waffenkontrollverhandlungen zur Reduzierung der Atomwaffenlager auf der ganzen Welt,
  • Verhandlungen über einen Stopp von Kernwaffenversuchen,
  • Sicherheitsgarantien zum Schutz gegen atomare Angriffe, und
  • freien Zugang zur friedlichen Nutzung von Kernenergie.

Die Auffassungen der Nichtkernwaffenstaaten darüber, inwieweit diese Erwartungen erfüllt wurden, werden die Ziele und Verhaltensweisen vieler dieser Staaten auf der 1995 stattfindenden Konferenz beeinflussen. Diesen Themen sollte man sich jetzt widmen. Als Verwahrerstaat des Nichtverbreitungsvertrags spielt Großbritannien dabei eine wesentliche Rolle.

Angesichts der Ereignisse der letzten zwei Jahre im Nahen Osten ist die Öffentlichkeit allgemein der Meinung, daß der Nichtverbreitungsvertrag gegen die atomaren Schwellenstaaten unwirksam ist und daher verschärft werden muß. Welche Schritte soll Großbritannien in dieser Hinsicht unternehmen? Dieser Aufsatz untersucht, welche Handlungsoptionen es gibt.

II. Die Bedeutung des Nichtverbreitungsvertrags

Der Vertrag über die Nichtverbreitung atomarer Waffen, allgemein als Nichtverbreitungsvertrag bekannt, ist das wesentliche Element der globalen Kontrolle über die Verbreitung atomarer Waffen. Die verschiedenen Maßnahmen zur Begrenzung der Verbreitung von Kernwaffen umfassen ein System von internationalen Verträgen, Ausfuhrkontrollen, weltweitem politischen Druck und regionalen Verträge und Organisationen.

1. Veränderungen in der Betrachtungsweise

Während der ersten Verhandlungen wurde der Nichtverbreitungsvertrag in erster Linie als Instrument zur Verhinderung der Ausbreitung atomarer Waffen innerhalb Europas betrachtet. Die wesentliche Sorge der Großmächte war zu jener Zeit die Furcht vor einem Wiedererstarken Deutschlands und, in geringerem Ausmaß, Japans.

Obwohl man sich einig war, daß die weniger industrialisierten Staaten eines Tages technologisch genügend weit entwickelt sein würden, um ihre eigenen Kernwaffen zu bauen, war das kein wesentlicher Gesichtspunkt, bis Indien 1974 eine eigene Atombombe zur Explosion brachte.

Die historischen Grundlagen des Nichtverbreitungsvertrags stimmen nicht mit den Ansichten überein, die in der Weltöffentlichkeit über ihn herrschen. Wie der Golfkrieg gezeigt hat, glauben die meisten Menschen, der Nichtverbreitungsvertrag existiere, um die Verbreitung atomarer Waffen in der »Dritten Welt« zu unterbinden. Ironischerweise ist er gerade darin nach Meinung vieler am wenigsten wirksam.

Etwa 60 Prozent des Budgets, das der Internationalen Atomenergie-Organisation für Sicherungsüberwachungen zur Verfügung steht, wird nur in zwei Staaten ausgegeben – Deutschland und Japan. Kanada verwendet etwa 10 Prozent und die europäischen Länder, sowohl im Osten wie im Westen, verbrauchen den größten Teil dessen, was noch übrig ist.

2. Die Geschichte der Überprüfungskonferenzen

Alle fünf Jahre findet, wenn es die Mehrheit der Unterzeichner des Nichtverbreitungsvertrages wünscht, eine Konferenz statt: „… zu dem Zweck, die Wirkungsweise dieses Vertrags zu überprüfen, um sicherzustellen daß die Ziele der Präambel und die Bestimmungen des Vertrages verwirklicht werden.“ (Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Nichtverbreitungsvertrag), Artikel VIII, Paragraph 3)

Überprüfungskonferenzen wurden bisher 1975, 1980, 1985 und 1990 abgehalten.

Wie später in diesem Bericht noch erläutert wird, gibt es international unterschiedliche Auffassungen über die Absichten in der Präambel und die Maßnahmen des Vertrages, und über die Fortschritte, die bei ihrer Durchsetzung gemacht wurden. Die Ergebnisse der Konferenzen spiegeln diese Tatsache.

Auf den Konferenzen von 1980 und 1990 gelang es nicht Einigkeit über ein Abschlußdokument zu erzielen. 1990 waren die Kernwaffenversuche der Hauptstreitpunkt.

Die Zukunft des Nichtverbreitungsvertrags hängt von einer Beschlußfassung über einige, wenn nicht sogar alle strittigen Gebiete ab und von der Angleichung der dazu existierenden unterschiedlichen Standpunkte.

III. Die Bedeutsamkeit des Jahres 1995

Die Ereignisse des Jahres 1995 werden die Entscheidung über die Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrags und die nächste fällige Überprüfungskonferenz sein. Die Verwahrerstaaten haben gegen Ende 1992 entschieden, daß die beiden Konferenzen als Konferenz über den Nichtverbreitungsvertrag 1995 gemeinsam abgehalten werden. Dennoch dienen diese beiden Ereignisse unterschiedlichen Zwecken, was im folgenden erläutert werden soll.

1. Die Konferenz über die Verlängerung

Die Bezeichnung »Konferenz über die Verlängerung« ist eigentlich irreführend. Artikel X (2) des Nichtverbreitungsvertrags lautet wie folgt: „Fünfundzwanzig Jahre nach Inkrafttreten dieses Vertrags wird eine Konferenz einberufen, die beschließen soll, ob der Vertrag auf unbegrenzte Zeit in Kraft bleibt oder um eine oder mehrere bestimmte Frist oder Fristen verlängert wird. Dieser Beschluß bedarf der Mehrheit der Vertragsparteien.“

Leider gibt es mehr als eine Meinung darüber, wie dieser Artikel zu verstehen ist.

»Entscheidungen, die von der Konferenz getroffen werden müssen«

Insbesondere herrscht Uneinigkeit darüber, in welcher Form über diese Verlängerung entschieden werden soll. Es gibt zwei wesentliche Standpunkte:

  • Der am wenigsten komplizierte ist der, daß der Vertrag 1995 ausläuft und die Konferenz darüber entscheidet, ob er verlängert wird oder nicht. Wenn die Konferenz zu keiner Entscheidung gelangt, dann verliert der Nichtverbreitungsvertrag seine Wirkung.
  • Eine rechtlich einwandfreie Auslegung besagt, daß die Konferenz nicht zu entscheiden hat, ob der Nichtverbreitungsvertrag verlängert werden soll, da die Verlängerung automatisch geschieht. Die Konferenz hat lediglich darüber zu entscheiden, für wie lange der Nichtverbreitungsvertrag verlängert werden soll. Eine solche Verlängerung kann für einen Tag oder auf ewig sein. Nach dieser Auslegung wäre der Nichtverbreitungsvertrag noch immer gültig, auch wenn die Konferenz 1995 ohne formale Einigung endet, und eine weitere Konferenz (oder Konferenzen) müßte dann später einberufen werden, um erneut den Versuch zu einer Einigung zu machen. In diesem Fall könnten einige Staaten die Zukunft des Vertrags anzweifeln und, gedeckt durch Artikel X (1) ihre Unterschrift zurückziehen.

Es ist von größter Wichtigkeit, daß das Vorbereitungskomitee diese Angelegenheit prüft und die Standpunkte der Teilnehmerstaaten hört. Damit wird abseits vom Scheinwerferlicht der Konferenzöffentlichkeit 1995 eine Diskussion ermöglicht und hoffentlich so bald wie möglich eine Übereinstimmung erzielt werden.

»Die Mehrheit der Unterzeichner«

Artikel X (2) legt fest, daß jede Entscheidung über eine Verlängerung von „einer Mehrheit der Unterzeichner des Vertrages“ gefällt werden soll. In anderen Worten, nicht nur von einer Mehrheit jener Unterzeichner, die an der Konferenz 1995 teilnehmen.

Die Bedeutung dieser Vorschrift zeigt sich, wenn man einen Blick auf die Teilnehmerliste der alle fünf Jahre abgehaltenen Überprüfungskonferenzen wirft. 1990, als der Nichtverbreitungsvertrag 140 Unterzeichner hatte, nahmen nur 84 Staaten an der Überprüfungskonferenz teil – nur 13 mehr als eine Mehrheit der Unterzeichner.

Hätte die Konferenz 1995 dieselbe Anzahl an Teilnehmern, dann würden 14 Stimmenthaltungen, Gegenstimmen oder Stimmen für eine andere Form der Verlängerung bereits bedeuten, daß ein Verlängerungsbeschluß nicht die Bedingungen von Artikel X (2) erfüllt. Man kann nur hoffen, daß 1995 mehr Staaten teilnehmen werden.

2. Die Überprüfungskonferenz 1995

Zusätzlich zur Entscheidung über die Verlängerung wird auf der Konferenz 1995 auch eine der alle fünf Jahre stattfindenden Überprüfungskonferenzen abgehalten werden. Die Vor- und Nachteile dieser Tatsache wurden bisher kaum diskutiert.

Die Konferenzen werden gemeinsam abgehalten, wobei die Entscheidung über die Verlängerung sehr wahrscheinlich als Teil der Schlußerklärung eingebaut werden wird. Endet allerdings die Doppelkonferenz ohne Schlußerklärung, wie das bei den Überprüfungskonferenzen 1980 und 1990 der Fall war, dann wäre die Entscheidung über die Verlängerung verloren.

3. Vorbereitungen

Das erste Treffen des Vorbereitungskomitees für die Nichtverbreitungsvertrags-Konferenz 1995 ist für Mai 1993 in New York angesetzt.

IV. Strittige Bereiche

Innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft wird der Nichtverbreitungsvertrag weitgehend unterstützt. Dennoch gibt es viele strittige Bereiche. Beinahe alle von ihnen haben ihren Grund in der »Zweiklassen«-Natur des Nichtverbreitungsvertrags, die manchen Staaten die Entwicklung atomarer Waffen verbietet, während es anderen erlaubt wird, sie zu behalten.

Langfristig habe ich die Hoffnung, daß es uns gelingt, einen gerechteren und einsichtigeren Ansatz zur verantwortlichen Atomwaffenkontrolle zu finden, nicht nur bezüglich der Kernsprengkörper, sondern auch bezüglich der Trägersysteme langer Reichweite und mehrfach nutzbarer Technologien. Solche Kontrollen müssen, um voll wirksam zu sein, gleichgewichtig und fair sein; sie dürfen die friedliche Nutzung von Wissenschaft und Technologie nicht unnötig behindern; und sie sollten die Welt nicht in »Besitzende« und »Nicht-Besitzende« aufteilen. (Überblick über die Durchführung der von der Generalversammlung auf ihrer 10. Sondersitzung angenommenen Empfehlungen und Entscheidungen, Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Boutros Boutros-Ghali, anläßlich der Woche der Abrüstung, A/C.1/47/7, Paragraph 29.)

1. Artikel VI

Der Hauptstreitpunkt zwischen den Kernwaffenstaaten und den Nichtkernwaffenstaaten ist, ob die von Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrags festgelegten Verpflichtungen von den ersteren erfüllt worden sind.

Artikel VI lautet: „Jede Vertragspartei verpflichtet sich, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.“

Dies wird von einem Abschnitt in der Präambel verstärkt: „… in dem Wunsch, die internationale Entspannung zu fördern und das Vertrauen zwischen den Staaten zu stärken, damit die Einstellung der Produktion von Kernwaffen, die Auflösung aller vorhandenen Vorräte an solchen Waffen und die Entfernung der Kernwaffen und ihrer Einsatzmittel aus den nationalen Waffenbeständen auf Grund eines Vertrags über allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle erleichtert wird, …“

Einige argumentieren, daß diese Verpflichtungen teilweise durch die Unterzeichnung des Vertrags über atomare Mittelstreckenwaffen (INF-Vertrag), den Vertrag über konventionelle Waffen in Europa (VKSE) und durch die amerikanisch-russischen Abkommen über strategische Kernwaffen erfüllt worden seien. Dennoch decken diese Vereinbarungen nur einige der in Artikel VI und der Präambel genannten Verpflichtungen ab, und sie schließen außerdem die Kernwaffen Großbritanniens, Frankreichs und Chinas nicht ein. Viele der Nichtkernwaffenstaaten fordern von den Kernwaffenstaaten den Abbau ihrer sämtlichen Atomwaffen, oder wenigstens den Eintritt in Verhandlungen, die dazu führen sollen.

Nicht nur der Nichtverbreitungsvertrag verpflichtet die Atomwaffen-Staaten dazu, ihre sämtlichen Massenvernichtungswaffen einschließlich der Kernwaffen abzuschaffen: „Entschlossen, Fortschritte in Richtung einer generellen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle zu machen, einschließlich des Verbots und der Abschaffung aller Arten von Massenvernichtungswaffen …“ (UN-Resolution zur Unterstützung der Chemiewaffen-Vereinbarung, Dezember 1992, unterstützt von Großbritannien)

Der sichtbarste Streitpunkt im Zusammenhang mit Artikel VI sind die Kernwaffenversuche.

2. Kernwaffenversuche

Das Thema der Kernwaffenversuche beschränkt sich nicht auf Streitigkeiten über die Verpflichtungen aus Artikel VI. In der Präambel des Nichtverbreitungsvertrag findet sich eine verbindliche Aussage zu einem Vertrag über ein umfassendes Verbot von Kernwaffenversuchen. „… eingedenk der in der Präambel des Vertrags von 1963 über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser durch dessen Vertragsparteien bekundeten Entschlossenheit, darauf hinzuwirken, daß alle Versuchsexplosionen von Kernwaffen für alle Zeiten eingestellt werden, und auf dieses Ziel gerichtete Verhandlungen fortzusetzen, …“

Obwohl die Präambel die Unterzeichner nur zu Verhandlungen über eine Reduzierung der Kernwaffenversuche und nicht zu einem Vertrag verpflichten, hat Großbritannien seit 1980 nicht mehr an solchen Verhandlungen teilgenommen und zählte zu der Minderheit von zwei Staaten – der andere waren die Vereinigten Staaten – die 1991 gegen die Umwandlung des Vertrags über ein teilweises Kernwaffenversuchsverbot in einen umfassenden Vertrag gestimmt hat.

Das Ziel der meisten Nichtkernwaffenstaaten ist ein umfassendes Verbot von Kernwaffenversuchen. Dieser Punkt hat mehr als jedes andere Thema, auf der Überprüfungskonferenz 1990 für Uneinigkeit gesorgt.

International gewinnt dieses Thema an Bedeutung, wie sich 1991 an der Konferenz zur Verbesserung des Vertrags über ein teilweises Kernwaffenversuchsverbot und 1992 an der Wahl zur Unterstützung eines umfassenden Kernwaffenversuchsverbots im Kongreß der Vereinigten Staaten gezeigt hat (siehe unten).

Die Politik Großbritanniens

Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich die Haltung der britischen Regierung zu einem umfassenden Kernwaffenversuchsverbot geändert.

1980 hieß es: „Wir glauben, daß die weitere Ausbreitung atomarer Waffen die Spannungen verschärfen und die internationale Sicherheit und Stabilität aufs Spiel setzen würde. Die im August stattfindende Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag ist ein wichtiger Schritt auf der Suche nach einem Weg, die weitere Verbreitung atomarer Waffen zu unterbinden und zugleich dem weitverbreiteten Wunsch einzelner Nationen nach der Nutzung von Kernkraft nachzukommen. Die weitere Verbreitung atomarer Waffen würde auch durch ein umfassendes Verbot von Kernwaffenversuchen verhindert, über das wir mit den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion Verhandlungen geführt haben.“ (Hervorhebung nachträglich hinzugefügt) (Statement on the Defence Estimates 1980, Cmnd. 7826-I, para.135)

Die gegenwärtige britische Politik lautet, daß ein umfassendes Verbot von Kernwaffenversuchen ein langfristiges Ziel sei, das durch eine »Schritt-für-Schritt«-Annäherung erreicht werden soll. So eine wachsende Annäherung kann international nur dann glaubwürdig sein, wenn auf jeder Stufe der nächste Schritt oder das nächste Ziel deutlich gemacht wird. Aber die britische Regierung hat bis jetzt noch nicht einmal angedeutet, wie der erste Schritt aussehen könnte.

Die Vereinigten Staaten von Amerika

Am 2. Oktober 1992 unterschrieb Präsident Bush das Energie- und Wassergesetz, das die Kernwaffenversuche der Vereinigten Staaten faktisch begrenzt. Präsident Bush hat angedeutet, daß er mit dieser Begrenzung nicht einverstanden ist. Allerdings enthält das Gesetz auch andere Vorschriften, von denen die wichtigste die erste Teilzahlung von 8 Milliarden Dollar für das Supercollider-Projekt in Texas ist, das Bush nach Kräften unterstützt.

Präsident Clinton hat seine Bereitschaft erklärt, eine internationale Überwachung von Kernwaffenversuchen, die zu einem umfassenden Verbot führen könnten, zu unterstützen.

Die Vorschriften über die Kernwaffenversuche sind nicht eindeutig formuliert. Wenn sie in Kraft treten, könnte es einige Auseinandersetzungen darüber geben, wie sie zu deuten sind.

Unter anderem schreibt das neue Gesetz vor:

  • Höchstens 15 sicherheitsbezogene Tests in der Zeit zwischen dem 1. Juli 1993 und dem 31. Dezember 1996, wobei eine Höchstzahl von fünf Tests für jeden der drei jährlichen Berichtszeiträume gilt. Der Kongreß hat das Recht, jeden Jahresbericht, und damit auch den darin festgelegten Terminplan für die Kernwaffenversuche, abzulehnen.
  • Höchstens einen Zuverlässigkeitstest in jedem der jährlichen Berichtszeiträume, wenn der Präsident innerhalb von 60 Tagen nach Beginn dieses Zeitraums versichert, daß ein solcher Test notwendig ist. Der Kongreß kann einen solchen Test ablehnen.
  • Überhaupt keine Tests mehr nach dem 30. September 1996, außer ein anderer Staat führt noch nach diesem Datum einen Test durch. Sollte das geschehen, so würden die Tests unter den oben genannten Einschränkungen bis zum 31. Dezember 1996 fortgeführt, nach diesem Datum würden die Tests dann ohne Beschränkung wiederaufgenommen.
  • Großbritannien erhält die Genehmigung für einen Test pro jährlichem Berichtszeitraum, der zur Gesamtzahl der US-Test gerechnet wird.

Jeder Jahresbericht an den Kongreß sollte folgende Punkte enthalten:

  • Einen Terminplan für Verhandlungen über einen Teststopp und einen Plan zur Verwirklichung eines „multilateralen, umfassenden Verbots von Kernwaffenversuche am oder bis zum 30. September 1996“
  • Schätzungen über die Kernsprengkörper in den aktiven und inaktiven Lagern der Vereinigten Staaten.
  • Beschreibungen der Sicherungsmaßnahmen bezüglich der Sprengköpfe in den aktiven Lagern.
  • Schätzungen über die Tests, die zur Einrichtung moderner Sicherungsmaßnahmen für die Sprengköpfe, die noch nach dem 30. September 1996 in den aktiven Lagern verbleiben, benötigt werden.
  • Ein Terminplan für die Tests während des Berichtszeitraums.
Russisches Test-Moratorium

Nachdem nun die Situation in den Vereinigten Staaten deutlicher wird, gewinnt das russische Test-Moratorium neue Bedeutung. Dieses einjährige Moratorium, das von Präsident Gorbatschow verkündet und von Präsident Jelzin beibehalten wurde, sollte am 26. Oktober 1992 auslaufen.

Inzwischen hat man zu erkennen gegeben, daß dieses Moratorium bis Mitte 1993 ausgedehnt wird.

Französisches Moratorium

Die französische Regierung hat im April 1992 verkündet, daß sie die Tests bis zum Ende dieses Jahres aussetzen würde. Eine Entscheidung über die Fortsetzung wird in nächster Zeit erwartet.

3. Vertikale Ausweitung

Vertikale Ausweitung ist die quantitative und/oder qualitative Steigerung der vorhandenen Waffentechnologie in Lagerung, Herstellung und Entwicklung durch einen einzelnen Staat, der bereits über gewisse Fähigkeiten in diesem Bereich verfügt. Der Begriff beschreibt in der Regel die Steigerung der Atomwaffen- oder Raketen-Kapazitäten. (Horizontale Ausweitung ist die Ausbreitung solcher Fähigkeiten auf neue Staaten.)

Nach Ansicht vieler Nichtkernwaffenstaaten verstößt eine derartige quantitative und qualitative Verbesserung von Kernwaffen gegen die Verpflichtungen, die die Kernwaffenstaaten unter Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrags eingegangen sind. Die Zusammenarbeit der Kernwaffenstaaten bestärkt diese Ansicht noch.

Die britischen auf U-Booten stationierten Kernwaffen werden qualitativ durch die Einführung des Trident-Systems verbessert, das das Polaris/Chevaline-System ersetzen soll, eine quantitative Verbesserung bedeutet die Erhöhung der Anzahl der Sprengköpfe von 192 auf 512.

Die britische Regierung vertritt den Standpunkt, daß das Trident-Programm nicht gegen die Verpflichtungen von Artikel VI verstößt: „Die zukünftige Einführung von Trident verstößt nicht gegen Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrags und ist die Minimalkapazität, die zur Abwehr von Angriffen nötig ist. Durch diesen Vertragsartikel sind wir weiterhin verpflichtet, uns um den Abschluß von Abkommen zur wirksamen Atomwaffenkontrolle zu bemühen. Priorität muß in erster Linie ein ausgeglichener und verifizierbarer Abbau in den großen Arsenalen der Supermächte haben.“ (Richard Luce, FCO, Written Answer, 19. März 1985, Hansard, c437)

4. Zusammenarbeit der Kernwaffenstaaten

Artikel I des Vertrages lautet: „Jeder Kernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben und einen Nichtkernwaffenstaat weder zu unterstützen noch zu ermutigen noch zu veranlassen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper herzustellen oder sonstwie zu erwerben oder die Verfügungsgewalt darüber zu erlangen.“

Dieser Artikel gab Anlaß für Auseinandersetzungen: Was genau ist eine mittelbare Weitergabe von Kernwaffen oder eine mittelbare Weitergabe der Kontrolle über Kernwaffen? Bedeutet die Zusammenarbeit auf nuklearem Gebiet zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien einen Verstoß gegen den Nichtverbreitungsvertrag? Der Vertrag über die Zusammenarbeit der USA und Großbritanniens wurde bereits 1958 geschlossen, zehn Jahre vor dem Nichtverbreitungsvertrag.

1981 vertrat Frank Cooper, der Permanent Under-Secretary beim Verteidigungsministerium die Ansicht, bestimmte Handlungen, die nach dem Vertrag von 1958 erlaubt sind, könnten einen Verstoß gegen den Nichtverbreitungsvertrag darstellen: „Wir erhalten von den Vereinigten Staaten auf dem gesamten Gebiet der Kernwaffen sehr warme und offenherzige Unterstützung. Ich glaube nicht, daß es darüber irgendwelche Zweifel geben kann … Wir hätten sie [die USA] nicht um die Durchführung des gesamten [Chevaline-] Programms bitten können, denn wegen dem Nichtverbreitungsvertrag und auch aus anderen Überlegungen heraus können nur wir selbst den Sprengkopf machen. Es war daher nötig, daß wir Teile des Programms selbst übernehmen. (Hervorhebungen nachträglich hinzugefügt) (Sir Frank Cooper, GCB, CMG, Permanent Under-Secretary of State, MoD, mündliche Aussage vor dem Public Accounts Committee, 9. Dezember 1981, in Chevaline Improvement to the Polaris Missile System, Ninth Report of Session 1981-82, HC 269, Q.248)

5. Sicherheitsgarantien

Als Gegenleistung für den Verzicht auf atomare Waffen fordern viele Nichtkernwaffenstaaten Garantien gegen einen atomaren Angriff.

Es gibt zwei Kategorien von Sicherheitsgarantien – negative und positive. Bei einer negativen Sicherheitsgarantie garantiert ein Kernwaffenstaat, daß er auf keinen Fall oder unter bestimmten Umständen nicht Kernwaffen gegen einen Nichtkernwaffenstaat einsetzen oder ihn damit bedrohen werde; eine positive Sicherheitsgarantie hingegen ist es, wenn ein Kernwaffenstaat garantiert, im Fall eines angedrohten oder tatsächlichen Angriffs mit Kernwaffen Maßnahmen zur Unterstützung eines Nichtkernwaffenstaates zu unternehmen.

Aus der Perspektive eines Nichtkernwaffenstaats ist eine positive Sicherheitsgarantie von sehr viel größerem Wert.

Am 28. Juni 1978 erklärte der Vertreter Großbritanniens bei der Sondersitzung der Vereinten Nationen über Abrüstung: „Weisungsgemäß gebe ich im Namen meiner Regierung die folgende Garantie an Nichtkernwaffenstaaten, die Unterzeichner des Vertrags zur Nichtverbreitung von Kernwaffen sind und sich anderweitig international bindend verpflichtet haben, keine atomaren Sprengvorrichtungen herzustellen oder zu erwerben: Großbritannien wird gegen solche Staaten keine Kernwaffen einsetzen außer im Falle eines Angriffs auf Großbritannien, die von ihm abhängigen Gebiete, seine Truppenverbände oder Alliierten durch einen solchen Staat in Verbindung oder Allianz mit einem Kernwaffenstaat.“ (Official Records of the General Assembly, Tenth Special Session, Plenary Meetings, 26. Sitzung, Paragraph 12)

Diese negative Garantie bleibt im Belieben der britischen Regierung. 1968 verkündete Großbritannien die »Absicht«, jeden Nichtkernwaffenstaat, der den Nichtverbreitungsvertrag unterzeichne, bei einem atomaren Angriff zu unterstützen, gab aber keine Verpflichtungserklärung ab. Viele betrachten diese Absicht nicht als positive Sicherheitsgarantie.

China forderte bei seinem Beitritt 1992 positive Sicherheitsgarantien und einen rechtlichen Rahmen für eine Vereinbarung der Kernwaffenstaaten, weder Nichtkernwaffenstaaten noch atomwaffenfreie Zonen anzugreifen.

6. Produktion von spaltbarem Material

Die Produktion von spaltbarem Material für Kernwaffen findet in Großbritannien weiterhin in Anlagen statt, die nicht den Sicherungsüberwachungen unterliegen. Es gab viele Forderungen nach einer weltweiten Einstellung dieser Produktion, ein Thema, das in jüngster Zeit von den Vereinigten Staaten aufgegriffen wurde.

Die Idee eines Produktionsstopps für spaltbares Material ist sehr einfach: die Kernwaffenstaaten sollten aufhören, spaltbares Material zu militärischen Zwecken herzustellen und solche Produktionsanlagen unter internationale Kontrolle stellen. Eine Vereinbarung über einen Stopp der Produktion militärischen spaltbaren Materials wurde 1964 erreicht, wurde aber später fallengelassen zugunsten eines Vorschlags zur unilateralen Schließung von Produktionsanlagen durch die Kernwaffenstaaten.

Der Unterschied zwischen »zivilem« und »militärischem« Material ist abhängig vom Ausgangmaterial und der Verwendung, weniger vom Besitzer des Materials. In Großbritannien unterliegen alle zivilen Materialien der Sicherungsüberwachung. In manchen Kreisen wird militärisches Material auch als »nicht-zivil« bezeichnet.

Viele Nichtkernwaffenstaaten würden einen solchen Stopp als positiven Schritt betrachten und als wirksamen Weg, die vertikale Ausweitung zu reduzieren.

Am 13. Juli 1992 verkündete US-Präsident George Bush, daß die Vereinigten Staaten die Produktion von militärischem spaltbaren Material einstellen würden. Auch die Russen haben Schritte in diese Richtung unternommen.

Der Standpunkt der britischen Regierung wird in zwei schriftlichen Antworten vom Juli 1992 zusammengefaßt. Das Verteidigungsministerium wurde nach der Bedeutung gefragt, die eine britische Beteiligung bei einer solchen Vereinbarung für die Verteidigung hätte: „Anders als die atomaren Supermächte hat Großbritannien keine umfangreichen Lager überzähligen spaltbaren Materials, auf das es zurückgreifen könnte. Aber die Produktion in Großbritannien wird weiterhin auf dem Mindestlevel laufen, der nötig ist, um die Bedürfnisse unserer nuklearen Abschreckungswaffen und der U-Boot-Antriebe zu erfüllen.“ (Jonathan Aitken, Minister of State for Defence procurement, Written Answer, 16. Juli 1992, Hansard, c932-3)

Das Außen- und Commonwealth-Ministerium wurde nach der britischen Politik bezüglich eines solchen Produktionsstopps gefragt: „Die britische Regierung begrüßt die Entscheidung vom 13. Juli, die Produktion von waffentauglichem spaltbarem Material zu beenden. Sie ist die Antwort auf eine bilaterale Initiative der Russen und hängt nicht von der Zustimmung Großbritanniens ab. Die Produktion in Großbritannien wird weiterhin auf dem Mindestlevel laufen, der nötig ist, um die Bedürfnisse unserer nuklearen Abschreckungswaffen und der U-Boot-Antriebe zu erfüllen.“ (Douglas Hogg, Minister of State, FCO, Written Answer, 16. Juli 1992, Hansard, c963)

Interessanterweise werden die Russen weder in Bushs Erklärung vom 13. Juli noch in dem Hintergrundmaterial, das vom Weißen Haus dazu ausgegeben wurde, erwähnt.

Wirklich benötigt wird spaltbares Material in der Zukunft nur als Treibstoff für atomgetriebene Unterseeboote. Wie öffentlich zugängliches Material zeigt, ist es höchst unwahrscheinlich, daß die gegenwärtigen Vorräte von spaltbarem Material die geplanten Atomwaffenprogramme in Schwierigkeiten bringen könnten.

Wenn kein weiteres waffentaugliches Plutonium benötigt wird, könnte dann die britische Regierung nicht einen Produktionsstopp für Plutonium vorschlagen?

Ausschluß aus Sicherungsüberwachungen

Ein britischer Produktionsstopp für militärisches spaltbares Material wäre wenig sinnvoll, wenn es wirksame Möglichkeiten gäbe, ziviles Material in den militärischen Kreislauf einzuspeisen – wie es bereits geschieht.

Nach dem EURATOM-Vertrag unterliegen alle zivilen Atomanlagen in Großbritannien seit Januar 1973 den EURATOM-Sicherungsüberwachungen. Diese Anlagen und sämtliches ziviles spaltbare Material in Großbritannien unterliegen auch einem freiwilligen EURATOM-Überwachungsabkommen zwischen Großbritannien und der Internationalen Atomenergie-Organisation, das am 14. August 1978 in Kraft getreten ist (INFCIRC/153). Die Grundlage dieser Vereinbarung ist, daß Großbritannien „unter den Bedingungen dieses Vertrages Sicherungsüberwachungen für sämtliches Ausgangs- und besonderes spaltbares Material in Anlagen oder Teilanlagen innerhalb Großbritanniens, abgesehen von solchen, die aus Gründen der nationalen Sicherheit gesperrt sind, zu erlauben, um der Behörde die Feststellung zu ermöglichen, daß solches Material nicht vom zivilen Einsatz abgezogen wird, außer wie in dieser Vereinbarung festgelegt.“ (Artikel 1 (a))

Dennoch hat die Vereinbarung besondere Vorkehrungen für den Entzug von nuklearem Material aus Gründen der nationalen Sicherheit getroffen. Artikel 14 (Ausschließung aus Gründen der nationalen Sicherheit) lautet: „Wenn Großbritannien plant, aus Gründen der nationalen Sicherheit spaltbares Material aus dem Geltungsbereich dieser Vereinbarung entsprechend Artikel 1 (c) abzuziehen, sollten die Gemeinschaft und die Atomenergie-Organisation vor einem solchen Ausschluß informiert werden. Falls spaltbares Material zur Aufnahme in den Geltungsbereich dieser Vereinbarung zur Verfügung steht, weil sein Ausschluß aus Gründen der nationalen Sicherheit nicht länger notwendig ist, sollten die Gemeinschaft und die Atomenergie-Organisation entsprechend Artikel 62 (c) von Großbritannien informiert werden.“ (Hervorhebung nachträglich hinzugefügt)

1985 wurde festgestellt, daß »Artikel-14-Ausschlüsse« aus Gründen der nationalen Sicherheit geschehen mußten: „Nukleares spaltbares Material, das in Berufung auf Artikel 14 der Vereinbarung zwischen Großbritannien, Euratom und der IAEA den Sicherungsüberwachungen entzogen wird, wird für Zwecke der nationalen Sicherheit verwendet.“ (Alastair Goodlad, Parliamentary Under-Secretary of State, Department of Energy, Written Answer, 16. Mai 1985, Hansard, Vol. 79, c181)

Dennoch wurden bis 1988 andere Ausschlüsse gemacht, die diese Bedingungen nicht erfüllten: „Im Zeitraum vom 1. Juli 1986 bis zum 31. Dezember 1987 gab es fünf [Artikel 14-]Ausschlüsse von Plutonium, die umfangreicher als lediglich Gramm-Mengen waren. Ein Ausschluß war auf Dauer und betraf Material aus Calder Hall/Chapel Cross. Vier betrafen die zeitweise Entfernung von den Sicherungsüberwachungen unterliegendem Material zur Behandlung mit Spezialausrüstung in einer nicht-zivilen Anlage. Das sind rein technische Bewegungen, die aus Sicherheitsgründen notwendig sind. Sämtliches Material wird nach Abschluß der Behandlung wieder an die Sicherungsüberwachungen übergeben.“ (Michael Spicer, Parliamentary Under-Secretary of State, Department of Energy, Written Answer, 12. Februar 1988, Hansard, Vol. 127, c393)

Die Anzahl der Ausschlüsse steigt rapide an. Die folgende Anfrage bezieht sich auf den Zeitraum von zweieinhalb Jahren: „Seit dem 1. Januar 1990 wurden einundvierzig Ausschlüsse von spaltbarem Material nach Artikel 14 des Sicherungsüberwachungsabkommens gemacht.“ (Tim Eggar, Minister for Energy, Department of Trade and Industry, Written Answer, 3. Juli 1992, Hansard, Vol. 210, c761)

Die Anzahl der Ausschlüsse ist von 5 in einem Zeitraum von 18 Monaten auf 41 in einem Zeitraum von 30 Monaten gestiegen.

7. Artikel IV und Ausfuhrkontrollen

Artikel IV des Nichtverbreitungsvertrag lautet folgendermaßen: „(1) Dieser Vertrag ist nicht so auszulegen, als werde dadurch das unveräußerliche Recht aller Vertragsparteien beeinträchtigt, unter Wahrung der Gleichbehandlung und in Übereinstimmung mit den Artikeln I und II die Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke zu entwickeln.

(2) Alle Vertragsparteien verpflichten sich, den weitestmöglichen Austausch von Ausrüstungen, Material und wissenschaftlichen und technologischen Informationen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie zu erleichtern, und sind berechtigt, daran teilzunehmen. Vertragsparteien, die hierzu in der Lage sind, arbeiten ferner zusammen, um allein oder gemeinsam mit anderen Staaten oder internationalen Organisationen zur Weiterentwicklung der Anwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke, besonders im Hoheitsgebiet von Nichtkernwaffenstaaten, die Vertragspartei sind, unter gebührender Berücksichtigung der Bedürfnisse der Entwicklungsgebiete der Welt beizutragen.“(Hervorhebungen nachträglich hinzugefügt.)

Nachdem den westlichen Staaten die wahren ökonomischen und sozialen Kosten von Kernkraft bewußt wurden, wurden die westlichen Kernkraftprogramme erheblich beschnitten. Das hat viele zu der Annahme verführt, Artikel IV sei nun überflüssig geworden. Viele Entwicklungsländer, die noch immer auf freien Zugang zur friedlichen Nutzung der Kernenergie hoffen, sehen das allerdings anders. Diese Technologien sind nicht auf Kraftwerke begrenzt, sondern umfassen auch Anwendungen in Medizin und Industrie.

Die Themen, die hier strittig sind, wurden im Westen nur selten öffentlich debattiert. Wurde den Verpflichtungen aus Artikel IV genug Aufmerksamkeit geschenkt, als im Anschluß an die Enthüllungen im Irak die Ausfuhrkontrollen in Bezug auf nukleare Technologien verschärft wurden?

Das ist ein weiterer Fall einer Gegenleistung für Nichtkernwaffenstaaten, die auf atomare Waffen verzichten. Haben die Atomwaffen-Staaten im Gegenzug dazu ihre Verpflichtungen erfüllt?

V. Die Stärkung des Systems der Nichtverbreitung nuklearer Waffen

Welche Möglichkeiten hat Großbritannien, auf politischem Wege das von der Internationalen Atomenergie-Organisation geführte Sicherungsüberwachungssystem zu stärken?

1. Erhöhung des Budgets für Sicherungsmaßnahmen

Das einfachste Mittel, um der IAEA bei der Verstärkung der Sicherungsüberwachungen zu helfen, wäre eine Erhöhung des Budgets. Gegenwärtig leistet Großbritannien jedes Jahr einen Beitrag von etwa 6 Millionen Pfund an die IAEA, von dem etwa die Hälfte für Sicherungsüberwachungen ausgegeben wird. Im Vergleich dazu umfaßt der britische Verteidigungshaushalt jährlich 24 Milliarden.

Sicherungsüberwachungen sind nicht nur ein Mittel der Verifikation, sondern auch eine vertrauensbildende Maßnahme. Eine Erhöhung des Budgets würde eine internationale Vereinbarung erfordern. Einige Staaten, insbesondere die in Osteuropa, sind vermutlich nicht bereit oder nicht in der Lage, ihren Beitrag zu erhöhren.

Der Einsatz von Sonderüberwachungen, der weiter unten erläutert wird, ist möglicherweise nur mit einer Erhöhung des Budgets für Sicherungsüberwachungen möglich.

2. Korrektur des Ungleichgewichts in den Sicherungsüberwachungen

Es gibt Argumente, daß die Mittel, die der IAEA zur Durchführung von Sicherungsüberwachungen zur Verfügung stehen, nicht gleichmäßig ausgegeben werden, so daß es zu einer sehr unterschiedlichen Dichte von Sicherungsüberwachungen kommt. Dieser Punkt wird als »Ungleichgewicht in den Sicherungsüberwachungen« diskutiert.

Aus historischen Gründen legt das Sicherungsüberwachungssystem mehr Nachdruck auf Material als auf Länder, wobei die Anzahl der Sicherungsüberwachungen in der Hauptsache aus der Menge des vorhandenen Materials bestimmt wird und nicht an anderen Bewertungsgrundlagen für die Ausweitungsfähigkeit des einzelnen Landes. Soll das weiterhin der Fall sein? In den meisten Fällen war die IAEA die wesentliche Behörde für die Materialüberprüfung der Sicherungsüberwachungen. Könnten nicht beispielsweise regionale Organisationen, wie etwa EURATOM, mehr Verantwortung für die Sicherungsüberwachungen übernehmen und der IAEA lediglich über die Ergebnisse Bericht erstatten?

Das System zur Festlegung der Anzahl der Sicherungsüberwachungen hängt auch ab von der Anzahl von Anlagen, in denen atomares Material gelagert ist. Ein Staat, der ein Kernkraftprogramm mit einer relativ kleinen Menge von spaltbarem Material hat, kann die Gesamtzahl der Inspektionen verringern, indem er das atomare Material auf mehr Anlagen verteilt.

Von wem kann man wohl eher eine Ausweitung erwarten, von einem demokratischen Staat, dessen Brennstoff-Kreislauf ständig von einer regionalen Organisation überwacht wird oder von einem nicht-demokratischen Staat mit einem sehr viel kleineren Brennstoff-Kreislauf, der nur wenige Male im Jahr von Inspektoren besucht wird? Obwohl regionale Organisationen von verschiedenen Seiten mit Mißtrauen betrachtet werden, sollte man bedenken, daß jedes Land einer Region Interesse daran hat, die Verbreitung von Kernwaffen in seinen Nachbarländern zu verhindern.

Das auf Material basierende System führt dazu, daß 60 Prozent des Sicherungsüberwachungs-Budgets in Deutschland und Japan ausgegeben werden, 10 Prozent in Kanada und der größte Teil des Restes in Europa. Der Irak hat mit seinen relativ geringen Mengen von spaltbarem Material, das allerdings umfangreich genug war, um eine Bombe zu entwickeln, trotz der Sicherungsüberwachungen erstaunliche Fortschritte in der Entwicklung von Kernwaffen gemacht.

3. Einsatz von Sonderinspektionen

Die Modellvereinbarung über Sicherungsüberwachungen zwischen Nichtkernwaffenstaaten und der IAEA wurde im IAEA Information Circular 153 (INFCIRC/153) veröffentlicht. Die darauf basierenden Vereinbarungen wurden als »INFCIRC/153«-Vereinbarungen bekannt.

Artikel 73 von INFCIRC/153 lautet: „Die Vereinbarung soll sicherstellen, daß die Behörde entsprechend den in Paragraph 77 beschriebenen Verfahren spezielle Überprüfungen durchführen kann.

(a) Um Informationen aus speziellen Berichten zu verifizieren; oder

(b) falls die Behörde der Ansicht ist, daß die vom Staat zur Verfügung gestellten Informationen einschließlich der Erläuterungen durch den Staat und der durch Routineinspektionen erhaltenen Informationen nicht ausreichen, damit die Behörde ihre Aufgaben entsprechend dieser Vereinbarung erfüllen kann.

Eine Inspektion wird als speziell bezeichnet, wenn sie entweder zusätzlich zu den in Paragraph 78-82 beschriebenen Routineinspektionen stattfindet, oder für Sonder- oder Routineinspektionen oder für beide den Zugang zu Informationen oder Orten verlangt, die über den in Paragraph 76 genannten Zugang hinausgehen.“

Artikel 77 lautet: „Die Vereinbarung sollte festlegen, daß beim Eintreten von Umständen, die eine Sonderinspektion zu den in Paragraph 73 erläuterten Zwecken notwendig machen könnten, sich der Staat und die Behörde zunächst beraten sollten. Als Ergebnis solcher Beratungen könnte die Behörde Inspektionen, zusätzlich zu den in den Paragraphen 78-82 festgelegten Routineinspektionen, durchführen und in Absprache mit dem Staat Zugang zu Informationen oder Anlagen erhalten, die über den in Paragraph 76 für Sonder- und Routineinspektionen festgelegten Zugang hinausgehen. Jede Uneinigkeit bezüglich der Notwendigkeit zusätzlichen Zugangs soll entsprechend Paragraph 21 und 22 geregelt werden; falls das Eingreifen des Staates wesentlich und dringend ist, soll Paragraph 18 Anwendung finden.“

Diese Anordnungen für Inspektionen wurden nie angewendet, auch wenn sie bekannt sind: „Ich freue mich mitteilen zu können, daß das Gremium im letzten Jahr verschiedene Schritte unternommen hat, um die Informationsbasis des Sicherungsüberwachungssystems zu stärken und das Recht der Behörde für die Durchführung von Sonderinspektionen unter den Bedingungen umfassender Sicherungsüberwachungsabkommen (z.B. INFCIRC/153 d.V.). Sollte ein Mitgliedsstaat, mit dem ein solches Abkommen geschlossen wurde, diese Forderung verweigern, könnte der Generaldirektor die Angelegenheit an den Ausschuß weitergeben. Falls der Ausschuß das beschließt, könnte die Angelegenheit an den Sicherheitsrat gehen.“ (Bericht von Hans Blix, Generaldirektor der IAEA, an die 36. Sitzung der Generalkonferenz der IAEA, 21. September 1992)

Im selben Bericht stellt Blix außerdem fest: „Im vergangenen Jahr habe ich mit großer Befriedigung die Verpflichtungserklärungen mehrerer Staaten erhalten, jeden Standort und jede Anlage für die Behörde zu öffnen – unabhängig davon, ob diese Standorte und Anlagen von den Sicherungsüberwachungen betroffen sind. In manchen Fällen hat die Behörde von solchen Verpflichtungserklärungen Gebrauch gemacht. Sie sind von großen Wert für die Vertrauensbildung – vorausgesetzt, daß sie auch in der Praxis vollständig anerkannt sind.“ Wird die britische Regierung eine solche Verpflichtungserklärung abgeben?

4. Einsatz anderer Verifikationsmethoden zur Ergänzung der Sicherungsüberwachungen

Als der Nichtverbreitungsvertrag ausgehandelt wurde, waren die internationalen Ansichten über Verifikationsmöglichkeiten noch ganz anders als heute. Durch die Zunahme der Waffenkontrollverträge ist die Verifikation intensiver und umfangreicher geworden.

Der vor kurzem unterzeichnete Vertrag über Chemische Waffen enthält beispielsweise ein ausgeklügeltes Verifikationssystem mit Routineinspektionen und kurzfristig angekündigten Probeinspektionen bei nicht gemeldeten Anlagen. Anders als die Sonderinspektionen der IAEA hat der Überprüfte kein Recht, die Inspektion abzulehnen, obwohl er sie verzögern und den Bereich in gewisser Weise begrenzen kann.

Der Einsatz von Satellitenbildern oder Luftaufnahmen von Anlagen könnte sicherstellen, daß die Anlagen genau nach den der IAEA übermittelten Plänen gebaut wurden. Die Unterzeichner des Nichtverbreitungsvertrags könnten aufgefordert werden, Luftaufnahmen ihrer Anlagen einzureichen. Die IAEA könnte kommerzielle Satellitenphotographie einsetzen und die Bedingungen des multilateralen Vertrags über den »Offenen Himmel«, der noch nicht in Kraft getreten ist, könnten so ausgeweitet werden, daß die Daten und Photographien, die von einem Staat in Auftrag gegeben werden, als Nachweise gültig sind.

Der Einsatz eines globalen seismographischen Netzes und anderer Methoden würden sicherstellen, daß kein Staat sicher sein könnte, unentdeckte Atomwaffentests, nicht einmal unterirdische, durchführen zu können. Wenn die Tests nicht ohne die Möglichkeit einer Entdeckung durchgeführt werden können, bedeutet das eine deutliche Abschreckung, um mit der Entwicklung von Waffen zu beginnen. Atmosphärische Tests können auch durch Satelliten entdeckt werden.

Ein intensiverer Abgleich der Informationen über die atomaren Aktivitäten eines Staates würde eine bessere Einschätzung seiner Absichten ermöglichen.

Im Fall des Irak haben mehrere Staaten Einzelteile oder Material geliefert, die für die atomare Entwicklung des Iraks wesentlich waren. Da es aber keinen Überblick über den Handel mit diesen bedeutsamen Waren gibt, waren die Fortschritte des Iraks der Internationalen Staatengemeinschaft nicht bewußt. Wenn die IAEA oder eine andere Organisation ein Register über solche Handelsbeziehungen führen würde, könnte die Vorwarnzeit für ein ähnliches, anderswo entwickeltes Programm verlängert werden.

5. Erweiterung der Anzahl der Unterzeichner- und Befolgerstaaten

Die Erweiterung der Anzahl der Mitglieder des Nichtverbreitungsvertrags wirkt mit Sicherheit stärkend. Unter den Staaten, die in letzter Zeit den Nichtverbreitungsvertrag unterschrieben haben, zählen im internationalen Nukleargeschäft so bedeutsame Handelsnationen wie Frankreich und China, und andere Staaten, die Anlaß zur Besorgnis wegen einer möglichen Ausweitung gaben, wie Nordkorea und Südafrika.

Zu den Staaten, die zu einer Unterzeichnung ermutigt werden sollten, zählen Israel, das bei vielen Gelegenheiten zu Besorgnis Anlaß gab; Indien, das 1974 eine »friedliche« atomare Vorrichtung zur Explosion brachte, und Pakistan, bei dem es Präsident Bush nicht gelang, eine sichere Aussage darüber zu erhalten, ob es den Versuch zu einer Entwicklung atomarer Waffen unternimmt. Der Fall von Pakistan gibt insbesondere Anlaß zu Besorgnis, da die Bevölkerung offenbar die Entwicklung solcher Waffen unterstützt.

Schlußfolgerungen

  • Der Nichtverbreitungsvertrag ist das wichtigste Mittel internationaler Kontrolle über die Verbreitung atomarer Waffen. Der Vertrag und die damit zusammenhängenden Sicherungsmaßnahmen sollten verschärft werden. Auf der Nichtverbreitungsvertrags-Konferenz 1995 sollte die unbegrenzte Gültigkeit für die britische Regierung eine vorrangige Angelegenheit sein.
  • Möglichst früh sollte überlegt werden, welche Standpunkte die britische Regierung in den Vorverhandlungen und während der Konferenz 1995 bezüglich der vermutlich strittigen Themen einnehmen will. Dazu zählen Abrüstungsverhandlungen, Verhandlungen über Kernwaffenversuche, die Produktion von spaltbarem Material, die vertikale Ausbreitung, die Zusammenarbeit der Kernwaffenstaaten und die Sicherheitsgarantien.
  • Vor der Konferenz 1995 und noch vor der Einrichtung von Vorbereitungskomitees sollten mit den Unterzeichnerstaaten Gespräche über den Nichtverbreitungsvertrag stattfinden, um für 1995 Probleme und Auseinandersetzungen möglichst zu reduzieren.
  • Die Unterzeichnerstaaten müssen ermutigt werden, an der Konferenz 1995 teilzunehmen, um das Erreichen einer »Mehrheit der Vertragsparteien« wahrscheinlicher zu machen.

Um den Nichtverbreitungsvertrag und die damit zusammenhängenden Maßnahmen zu verschärfen, könnten folgende Schritte in Betracht gezogen werden: Die Anhebung des Budgets der Internationalen Atomenergie-Organisation für Überwachungsmaßnahmen; Die Veränderung des Systems, nach dem die Anzahl der Sicherungsinspektionen in jedem Land berechnet wird, damit diese Anzahl nicht direkt von der Menge nuklearen Materials in den Produktionsanlagen des Landes abhängig ist, sondern auch durch andere Faktoren beeinflußt werden kann.

  • Der Einsatz von Sonderüberwachungen durch die Atomenergie-Organisation an nicht gemeldeten Anlagen eines Landes;
  • Der Einsatz weiterer Verifikationsmethoden zur Ergänzung der Sicherungsinspektionen, wie Satellitenüberwachungen und intensiveren Datenabgleich auf internationaler Ebene;
  • Verstärkte Bemühungen um den Beitritt von »Schwellen«-Staaten zum Nichtverbreitungsvertrag.
Die Verfasser dieses Berichts

Dieser Bericht ist das Ergebnis von Arbeiten, die im Anschluß an die Zusammenstellung von unterstützenden Informationen für politische Akteure und Meinungsführer zur Konferenz zur Überprüfung des Nichtverbreitungsvertrags 1990 geleistet wurden. Dabei wurden Informationsmaterialien über den Nichtverbreitungsvertrag und damit zusammenhängende Themen zusammengestellt und verteilt. Dieses Memorandum soll über den Nichtverbreitungsvertrag und die Konferenz über seine Verlängerung 1995 informieren und über Themen, die im Vorfeld dieser Konferenz zur Sprache kommen können.

An diesem Projekt sind folgende Gruppen beteiligt:

British American Security Information Council (BASIC), London

Dfax Associates Ltd., Leeds

International Security Informatin Service (ISIS), London

Verification Technology Information Centre (VERTIC), London

Der Joseph Rowntree Charitable Trust hat dieses Projekt finanziell unterstützt.

Verfaßt wurde dieser Bericht von Richard Guthrie von BASIC, unter Mithilfe fester und freier Mitarbeiter der oben genannten Gruppen. Die in diesem Memorandum geäußerten Standpunkte sind diejenigen des Autors und entsprechen nicht notwendigerweise den Ansichten der oben genannten Gruppen oder mit ihnen in Verbindung stehender Personen oder Organisationen. Übersetzung von Uta Angerer.

zum Anfang | Nukleare Nonproliferation – eine naturwissenschaftliche Betrachtung

von Wolfgang Liebert, Martin Kalinowski

1.

Häufig wird behauptet, nukleare Proliferation, also die Weiterverbreitung von Kernwaffen und die Weiterentwicklung von Kernwaffenarsenalen, sei im wesentlichen ein politisches Problem. Richtig an dieser Behauptung ist, daß politische Machtinteressen Proliferationsgefahren antreiben und daß es keine vollständige Lösung des Problems durch technische Sicherungsmaßnahmen gibt. Richtig ist auch, daß Maßnahmen auf der politischen Ebene ergriffen werden müssen, um die Proliferation zum Ende zu bringen. Falsch an der These ist, daß der existente und persistierende wissenschaftlich-technologische Kern des Problems schlicht übersehbar und verdrängbar gemacht wird. Wissenschaftlich-technische Möglichkeiten beeinflussen (häufig irreversibel) die Möglichkeiten politischer Macht. Dies fällt insbesondere auf in Zeiten instabiler politischer Verhältnisse (man betrachte beispielsweise die Situation in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) oder wenn eindeutige Begehrlichkeiten im Felde der Politik erkennbar werden (man denke beispielsweise an Franz Josef Stauß' Politik im Deutschland der fünfziger Jahre oder an die Politik der irakischen Führung in den letzten 15 Jahren). Das Problem hat seine Wurzeln im wissenschaftlich-technologischen Bereich; auch dort muß angesetzt werden. Für eine langfristige Perspektive und eine dauerhafte Tragfähigkeit von Non-Proliferations-Aktivitäten ist dieser Aspekt von hoher Bedeutung.

2.

Die Probleme der vertikalen Proliferation (Weiterentwicklung von Kernwaffenarsenalen) und der horizontalen Proliferation (Weiterverbreitung von Kernwaffen) sind eng miteinander verknüpft. Sie können nur simultan einer Lösung zugeführt werden.

Ein Ende der horizontalen Proliferation ist nicht zu erwarten ohne ein Ende der vertikalen Proliferation. Dies ist nochmals besonders deutlich geworden bei der letzten im Jahr 1990 abgehaltenen Überprüfungskonferenz des Non-Proliferationsvertrages (NPT), der im Jahre 1995 nach 25-jähriger Laufzeit zur Verlängerung ansteht. Eine Reihe von Vertretern der sich entwicklenden Länder forderten eine starke Kopplung zwischen dem Entschluß für eine Verlängerung des NPT über das Jahr 1995 hinaus mit einem eindeutigen Ende der vertikalen Proliferation in den etablierten Kernwaffenstaaten. Umgekehrt sind die politischen Hintergründe für eine Fortsetzung der vertikalen Proliferation inzwischen auch mit der Angst vor einer zunehmenden Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen verknüpft. Gründe für eine Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von großen Atomwaffenarsenalen sind nach Ende des Ost-West-Konfliktes kaum mehr zu begründen, wenn die horizontale Proliferation gestoppt und hoffentlich die bereits erfolgte Weiterverbreitung rückgängig gemacht werden kann.

Nicht nur politische Kopplungen existieren zwischen der horizontalen und der vertikalen Proliferation. Hochtechnologische Optionen werden ungeachtet ihrer möglichen militärischen Relevanz in den industrialisierten Ländern der nördlichen Hemisphäre ohne ausreichende Beschränkungnen auf industrieller Skala genutzt. Schwellenländer folgen gewöhnlich zehn oder zwanzig Jahre später mit importierten, nachgeahmten, selbst- oder weiterentwickelten Versionen dieser Technologien. Solche Entwicklungen rufen dann allgemein Befürchtungen über Proliferationsgefahren hervor. Beispielsweise ist die kernwaffenrelevante und höchst effektive Technologie der Ultrazentrifugen zur Urananreicherung eigenständig in Brasilien entwickelt worden oder mit kräftiger Unterstützung aus einigen Industrieländern (darunter Deutschland) im Irak. Diese Technologie wurde lange zuvor in nördlichen Industrieländern entwickelt und ist dort wohl etabliert. Ohne Kontrolle des Gebrauches ist diese Technologie auch die Grundlage für die Produktion hochangereicherten Urans für Kernwaffen. Dieselbe Geschichte könnte sich mit anderen Anreicherungstechnologien wiederholen. Verfahren der Laserisotopenseparation, die insbesondere für die Abtrennung von Uran-, Plutonium- und Wasserstoffisotopen interessant sind, wurden in einigen Industrieländern und Kernwaffenstaaten bereits weit entwickelt. Ihre zivile Nutzung im Rahmen der Nuklearindustrie ist noch völlig ungewiß und fragwürdig, die militärischen Interessen an dieser Technologie sind aber klar erkennbar.

3.

Die zivil-militärische Ambivalenz der Nuklearforschung und -technologie ist eine der wesentlichsten Quellen für die Gefahren der horizontalen und vertikalen Proliferation. Die weltweit betriebenen »zivilen« Nuklearprogramme senken die Schwelle zu Waffenprogrammen. Die Größenordnung des Problems wird klarer, wenn man sich vor Augen hält, daß zur Zeit weltweit über 400 Kernreaktoren mit einer elektrischen Leistung von mehr als 300 Gigawatt in Betrieb sind. Dies macht eine jährliche Anreicherungskapazität von wenigstens 10000 Tonnen schwach angereichtern Urans notwendig. Etwa 70 Tonnen Plutonium werden jährlich in diesen zivilen Leistungsreaktoren produziert. Die Überwachungsmaßnahmen der seit 1957 arbeitenden Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) reduzieren die daraus erwachsende Problematik erheblich. Ein Teil des produzierten sogenannten »Reaktor-Plutoniums«, das gleichwohl waffenfähig ist, wird aus dem nuklearen Abfall mit chemischer Wiederaufarbeitungstechnologie abgetrennt (bislang etwa ein Fünftel) und größtenteils zunächst gelagert, verbunden mit der Option einer späteren Wiederverwertung im nuklearen Brennstoffkreislauf. Vielfältige Abzweigungsmöglichkeiten für Waffenzwecke ergeben sich daraus. Eine minimale Konsequenz wäre daher die ausschließliche Verwendung von möglichst proliferationsresistenten Brennstoffkreisläufen als conditio sine qua non einer denkbaren Weiternutzung von Kernenergie.

Theoretische Analysen der »Proliferationsresistenz« von Kerntechnologien und Komponenten des Brennstoffkreislaufes sind bereits vor Jahren begonnen worden. Eine Analyse, die den Blick auf die zivil-militärischen Ambivalenz von nuklearer Forschung erweitert, wäre dringend erforderlich. Damit sollte geklärt werden, in welchem Maße zivile Nuklearprogramme (inklusive Forschungsanstrengungen) eine Quelle für Kernwaffenprogramme sein können oder bereits waren. Insbesondere sollte die bundesdeutsche Nutzung von Kernenergie und Kernforschung unter dem Gesichtspunkt aufgearbeitet werden, inwieweit altbekannte oder zum Teil international vereinbarte Forderungen (beispielsweise innerhalb von INFCE) zur Vermeidung horizontaler Proliferationsgefahren in der Bundesrepublik selbst befolgt wurden und werden. Weiterhin sollten in unserem Land weitere Empfehlungen zur Vermeidung horizontaler und vertikaler Proliferationsrisiken erarbeitet und beispielhaft umgesetzt werden. Ohne die Entwicklung von Strategien zur grundsätzlichen Vermeidung von Proliferationsrisiken bei der Nutzung der Kernernergie und entsprechenden Forschungsprogrammen, ist eine Fortführung der zivilen Kernenergieprogramme unvertretbar und unverantwortlich.

4.

Der 1968 unterschriftsreife und 1970 in Kraft getretene Non-Proliferations Vertrag (NPT) sollte die sichtbaren Gefahren der horizontalen Proliferation minimieren und der vollständigen weltweiten Abrüstung dienen. Die Befürchtungen der sechziger Jahre, die Anzahl der Kernwaffenstaaten werde sich explosionsartig vermehren, hat sich Dank des NPT zum Glück nicht bewahrheitet. Mehr als 150 Länder haben den Vertrag inzwischen unterzeichnet. In den letzten Jahren sind einige wichtige Länder hinzugekommen. Erfolge des NPT sind demnach offensichtlich. Dennoch sollten die Schwächen des NPT klar benannt werden.

Im Kern war der NPT ein doppeltes »Geschäft«. Ein Hauptaspekt war der Verzicht der »Entwicklungsländer« auf eigene Kernwaffen (Artikel II und III) gegen Unterstützung bei der »zivilen« Nutzung der Kernenergie bei gleichzeitigem Versprechen der Kernwaffenstaaten auf Stopp der Kernwaffenweiterentwicklung und Einleitung von Schritten zur vollständigen Abrüstung (Präambel und Artikel VI). Mindestens genauso wesentlich, wenn auch nicht so deutlich ausgesprochen, war der Verzicht der industrialisierten Nationen, wie Deutschland, Japan, Canada, Schweden, auf Zugang zu Kernwaffen bei gleichzeitiger unbeschränkter Nutzung der Kernenergie im »zivilen« Bereich und bei Zulassung eines exzessiven (kontrollierten) nuklearen Exportgeschäfts. Diese doppelte Strategie, die deutlich erkennbar nicht nur Sicherheitsinteressen sondern ganz entscheidend auch Geschäftsinteressen diente, hat großenteils nicht zum Erfolg geführt. Einige Tatsachen sprechen für diese Sichtweise:

  • Seit 1970 ist keine nennenswerte Stromproduktion aus Nuklearenergie in Ländern der sogenannten Dritten Welt zu verzeichnen. 1991 waren weniger als vier Prozent der weltweiten Reaktorleistung in den sich entwickelnden Ländern (unter Ausschluß der Kernwaffenstaaten China und Indien) installiert.
  • Obwohl eine Reihe sich entwickelnder Länder Zugriff zu einigen Nukleartechnologien (auch teilweise ohne Energieproduktion) bekommen haben, ist darüber nicht der erwünschte Anschluß an die Hochtechnologie der Industrieländer erreicht worden, ganz zu schweigen davon, daß sie auch kaum den Entwicklungsinteressen dienlich wären. Solche Konzeptionen sind als weitgehend gescheitert anzusehen.
  • In den siebziger und achtziger Jahren ging die vertikale Proliferation beschleunigt weiter. Zuwächse in der Größe und militärischen Schlagkraft nuklearer Arsenale, fortgesetzte Forschung und Entwicklung für Kernwaffen, eine Vielzahl nuklearer Tests resultierten in einer Fülle neuer nuklearer Sprengköpfe. Gleichzeitig wurden neue Typen lang- und kurzreichweitiger Raketen und Cruise Missiles mit erheblich verbesserter Zielgenauigkeit entwickelt, produziert und in Dienst gestellt.
  • Einige Kernwaffenstaaten sind seit den ersten Unterschriften unter den NPT im Jahre 1968 hinzugekommen. Es bestehen kaum noch Zweifel, daß in den Staaten Israel, Indien, Pakistan, die dem NPT nicht beigetreten sind, und vermutlich auch in Südafrika Kernwaffen produziert wurden und z.T. noch produziert werden, wobei Kenntnisse und Technologien von früher gestarteten »zivilen« Nuklearprogrammen verwandt wurden. In anderen nicht NPT-Mitgliedsländern, wie Argentinien und Brasilien, wurden Technologien entwickelt (zum Teil unter Nutzung internationaler Kooperationsprogramme), die Voraussetzungen für Kernwaffenprogramme sind. Diese Staaten standen einige Jahre unter starkem und berechtigtem Verdacht, Kernwaffen entwickeln, testen und produzieren zu wollen. Daß die Mitgliedschaft im NPT allein noch nichts aussagt über eine mögliche Verfolgung von Forschungs- und Technologieprogrammen, die in Kernwaffenprogrammen münden, zeigt unter anderem der berechtigte Verdacht, unter dem die NPT-Mitgliedsstaaten Taiwan, Irak und Nordkorea standen und teilweise noch stehen. Der Iran kommt neuerdings hinzu.
  • Die Exportkontrolle ist den jeweiligen potenten Mitgliedsländern in eigener Regie überlassen worden, ohne daß sie von der IAEO hätte beeinflußt werden können. Koordinationsbemühungen der stärksten Exportländer, wie sie sich in den Nuclear Suppliers Guidelines und der Zangger Trigger List ausdrücken, existieren nur auf freiwilliger Basis und sind in der Regel durch wechselnde wirtschaftliche Interessen stark beeinträchtigt. Tatsächlich hat in der Vergangenheit der Technologietransfer aus Deutschland und anderen industrialisierten Ländern durch Exporte und Beratungsaktivitäten erheblich zu Kernwaffenprogrammen, wie beispielsweise im Irak, beigetragen.

5.

Die aktuellen Gefahren der horizontalen Proliferation sind unübersehbar und müssen ernst genommen werden. Der Argwohn gegenüber einigen Schwellenländern im islamisch-arabischen Raum und gegenüber Nordkorea ist wohlbegründet bei Betrachtung der dortigen Nuklearaktivitäten. Auch einige südamerikanische Länder sollten nicht frühzeitig einer kritischen Betrachtung entzogen werden, nur weil sie sich den demokratischen, diplomatischen und überwachungstechnischen Standards der westlichen Industriewelt annähern. Die gefährliche Entwicklung im süd-ost-asiatischen Raum muß schon eher in Kategorien der vertikalen Proliferation beschrieben werden, da hier nach Produktion von Kernspaltwaffen der ersten Generation bereits die Weiterentwicklung zu Kernwaffen mit thermonuklearen Wirkungen angestrebt wird.

Das Problem der horizontalen und latenten Proliferation drückt sich auch darin aus, daß inzwischen mindestens 19 Länder Zugriff auf mindestens eine der sensitiven Nukleartechnologien Unrananreicherung oder Wiederaufarbeitung erreicht haben, die eine Produktion waffenfähiger, spaltbarer Materialien prinzipiell ermöglicht. Sensitive Nuklearanlagen in Verbindung mit größeren Forschungsreaktoren sind in manchen Ländern eher als Indizien für die Ermöglichung von Kernwaffenoptionen zu werten als daß darin erfolgreiche Grundlagen für größere zivile Nuklearprogramme zu sehen wären. Neue sensitive Nukleartechnologien werden sich im Nachvollzug der Hochtechnologieentwicklung der Industrieländer weiter verbreiten und wachsende Proliferationsrisiken auslösen.

Insbesondere nach dem Zerfall der Sowjetunion werden vagabundierende Nuklear(waffen)experten als zusätzliche Gefahr benannt. Es sollte beachtet werden, daß solche sogenannten Technosöldner ebenfalls aus westlichen Industrienationen, die ebenfalls Einschränkungen in ihren Nukelar(waffen)komplexen vornehmen müssen, abwandern können und in Einzelfällen bereits sensitives Wissen im »zivilen« Bereich weitergegeben haben. Die Furcht vor einem Schwarzmarkt für waffenfähige spaltbare Materialien kann nicht mehr als utopische Schreckensvision gebrandmarkt werden nachdem eine ganze Reihe von Nuklearschmuggelfällen bekannt geworden sind, wobei in Europa bislang allerdings glücklicherweise keine direkt waffenfähigen Materialien aufgetaucht sind, wenngleich sie bereits angeboten wurden.

Das Anwachsen der Reaktor-Plutonium-Lager, der Gebrauch dieses Plutuniums in zivilen Nuklearprogrammen wirft Fragen der latenten Proliferation auf, da in dieser Weise einige industrialisierte Länder eine Option auf Nuklearwaffen aufrecht erhalten können, auch wenn die politischen Erklärungen heute eindeutig eine andere Sprache sprechen. Auch der dazu notwendige Transport und die Verarbeitung von Plutonium birgt eindeutige Proliferationsrisiken in sich.

6.

Aktuelle Gefahren der vertikalen Proliferation sind ebenfalls eindeutig konstatierbar. Die nuklearen Abrüstungmaßnahmen in den beiden START-Verträgen sind sicher sehr zu begrüßen. Allerdings ist bislang nicht klar, ob alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die noch Kernwaffen besitzen, diese Verträge mit unterzeichnen werden. Es zeichnet sich die Gefahr ab, daß die Ukraine dauerhaft als drittstärkste Nuklearmacht der Welt fortexistieren könnte. Überdies bleibt den USA und Rußland, wenn denn tatsächlich die Reduzierung auf je 3500 bzw. 3000 Sprengköpfe im strategischen Waffenbereich im Jahre 2003 verwirklicht sein sollte, eine mehrfache »Overkill«-Fähigkeit erhalten. Das Konzept der nuklearen Abschreckung wird mitnichten ad acta gelegt.

Die noch immer fortgesetzte nukleare Aufrüstung und die nicht gestoppten Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen in den kleineren, aber teilweise wohl etablierten Kernwaffenstaaten Frankreich, Großbritannien, China, Israel und Indien gilt es zu beachten. Allgemein ist nicht das Ende der Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen für Kernwaffen erreicht. Die kurzfristig ausgesprochenen Moratorien sollten nicht darüber hinwegtäuschen lassen, daß auch das seit langem geforderte Ende des nuklearen Testens nicht erreicht ist. Der kürzliche Beschluß des US-Kongresses, nach einer reduzierten Testserie im Jahre 1996 den vollständigen Teststopp zu wollen, ist an die Kautele gekoppelt, daß bis dahin alle anderen Kernwaffenstaaten ebenfalls ihre Tests einstellen. Besonderes hartnäckig stellt sich dem China entgegen, das einen »Nachholbedarf« gegenüber den Supermächten als Rechtfertigung für weitere Nukleartests meint ins Feld führen zu können.

Auch Forschungs- und Entwicklungsprogramme für neue proliferationsrelevante Technologien wie Trägheitseinschlußfusion, Laserisotopentrennung oder Teilchenbeschleungereinsatz zur Produktion spaltbarer oder fusionsfähiger Materialien sind nicht ausgesetzt. Dies gilt für die USA, Frankreich und eine Reihe anderer Länder. Ebenso ist ein vollständiges Ende der Produktion von wesentlichen spaltbaren und fusionsfähigen waffenfähigen Materialien, wie Plutonium, hochangereichetem Uran und Tritium nicht durchgesetzt und international überprüfbar vertraglich vereinbart.

Mehr als 500 Tonnen hochangereicherten Urans aus abgerüsteten Sprengköpfen steht zur Vernichtung an. Unklar ist, wie das auf mehr als 250 Tonnen angehäufte »Waffen«-Plutonium wieder aus der Welt geschafft werden soll. Hinzu kommen bereits jetzt mehr als 120 Tonnen abgetrennten sogenannten »Reaktor«-Plutoniums, das ebenfalls waffenfähig ist bzw. mithilfe spezieller Laseranreicherungstechnologien zu besonders gut waffentauglichem Material umgewandelt werden könnte. Für die nächsten 10 bis 20 Jahre wird man diese schwelenden Probleme, die jederzeit neue Kernwaffen generieren können, kaum los werden.

Zu allem Überfluß ist das SDI-Programm der achtiziger Jahre mit GPALS (Global Protection Against Limited Strikes) in eine neue gefährliche Phase getreten.

7.

Die traditionellen Mittel zur Eindämmung der horizontalen Proliferation sind teilweise fragwürdig geworden und sind teilweise ineffektiv. Es gibt keine vollständige Sicherheit bei der Überwachung und Kontrolle des Betriebs und Exports von Nuklearanlagen und Nuklearanlagenteilen. Der rein zivile Gebrauch ist nicht auf Dauer sicherstellbar.

Das Überwachungs-(Safeguard-)System der Internationalen Atomernergieorganisation (IAEO) ist unzureichend in Anbetracht der zu lösenden Problemstellungen. Ohnehin ist die IAEO keine »Nuklearpolizei«. In ihrem Selbstverständnis will sie lediglich dafür Sorge tragen, daß die Abzweigung von für signifikant gehaltenen Mengen von Nuklearmaterial aus dem zivilen Brennstoffkreislauf in für angemessen gehaltenen Entdeckungszeiträumen detektiert werden kann. Gemäß dieses Selbstverständisses konnte die IAEO beispielsweise die jahrelangen Bemühungen des Irak in seinem verdeckt geführten Kernwaffenprogramm nicht wahrnehmen. Die IAEO war und ist dazu institutionell und bedingt durch ihr Grundverständinis der Problematik nicht fähig. Ein besonderes Hindernis dabei ist – in Anlehnung an die Doppelfunktionen des NPT – die Doppelrolle der IAEO als Kernenergiepromotor und Kernenergie-„Kontrolleur«. Eklatant wird diese gefährliche Schizophrenie – neben der erwähnten mit Blindheit geschlagenen Haltung gegenüber dem Irak – bei der Beschönigung der fürchterlichen Folgen der Tschernobyl-Katastrophe durch eine IAEO-Expertenkommission oder die unbelehrbare Anpreisung eines weltweiten Ausbaus der Kernergie als Ausweg aus der Umweltproblematik auf der RIO-Konferenz durch den IAEO-Generalsekretär Hans Blix. Die Safeguards-Praxis der IAEO ist zur Zeit überdies wesentlich schwächer als es ihre aus diplomatischem Kalkül beschränkten Statuten zulassen würden.

Exportbeschränkungen und Exportkontrollen durch die Hauptlieferländer im Nuklearbereich werden gemeinhin als dringend notwendig und unvermeidlich angesehen. Gleichwohl notwendig bergen sie in ihrer Einseitigkeit die Gefahr in sich, daß die im NPT festgeschriebene Asymmetrie zwischen den »Habenden« und den »Nicht-Habenden« noch verstärkt wird.

Auch wenn die NPT-Mitgliedsstaaten, die nicht Kernwaffenstaaten sind, laut Artikel IV technologische Unterstützung im Bereich der zivilen Nutzung der Kernenergie zugesagt bekommen haben bei Annahme von Sicherungsmaßnahmen der IAEO (Artikel III), so erlauben sich die Kernwaffenstaaten dennoch, jegliche technologische Entwicklung geheim zu halten, die sie für kernwaffenrelevant halten, und sind nicht verpflichtet, ihre sensitiven Nuklearanlagen ebenfalls einer Überwachung durch die IAEO zu öffnen. Insofern besteht bereits innerhalb des Rahmens des NPT ein »Technologieembargo« und eine Asymmetrie. Gegenüber den Nichtmitgliedstaaten des NPT nehmen sich alle Mitgliedstaaten heraus, die Beschränkung des technologischen Austausches mehr oder weniger scharf auszulegen, was sich besonders stark in den einseitigen Vereinbarungen einiger wesentlicher Exportstaaten widerspiegelt.

Dieser nicht zu leugnende doppelte diskriminierende Charakter (intern und extern) des Non-Proliferations-Regimes wird mit der heraufbeschworenen Gefahr eines möglichen Technologieembargos des »Nordens« gegen den »Süden« zugespitzt verdeutlicht. Zumindest ist klar, daß solange eine Eindeutigkeit der Haltung auf der Geberseite zeit- und interessenabhängig wandelbar ist (man denke an die vielfachen Wandlungen und Widersprüchen unterworfenen Verhaltensweisen gegenüber Brasilien, Irak, Pakistan,…), auch die existenten Möglichkeiten der Proliferationsbeschränkung durch Exportkontrolle nicht allgemein akzeptiert werden. Erschwerend kommt hinzu, daß die Maßnahmen der Exportkontrolle konterkarrierbar sind durch eine wachsende Süd-Süd-Kooperation (und diese möglicherweise sogar regional anheizt) und die Berücksichtigung des breiten Marktes der sogenannten Dual-use-Güter entweder zur unhaltbaren Situation eines äußerst weit interpretierbaren Exportverbots oder – im anderen Extrem – jeglicher Unterlaufung der in der aktuellen Situation im Grunde vernünftigen Beschränkungen Tür und Tor öffnet.

Gegenwärtig sind Bemühungen um einen internationalen Angleich der Exportkontrollbestimmungen und ihre institutionell abgesicherte Durchführung wesentlich, um gefährliche Schlupflöcher zu schließen. Auch wenn die Überwindung der laschen Behandlung der Exportkontrolle der Vergangenheit in einigen Industrieländern positiv vermerkt werden muß, scheint offensichtlich, daß einseitige Exportkontrolle auf lange Sicht nicht das Mittel der Wahl sein kann.

Festzuhalten bleibt, daß militärische Eingriffe noch fragwürdiger sind und eher mehr Schaden anrichten, als sie vorgeblich an Problemen lösen können. Eine fatale Konsequenz des Fehlschlagens von aktuell notwendigen Exportkontrollbemühungen und Inspektionen wäre eine erhöhte Kriegsgefahr. Militärische Schläge unter Einbeziehung des Angriffs auf Nuklearanlagen, deren internationale Ächtung von einigen westlichen Militärmächten seit mehr als 12 Jahren bei der Konferenz für Abrüstung in Genf blockiert wird, müssen dringend ausgeschlossen werden.

8.

Die traditionellen Mittel zur Eindämmung der vertikalen Proliferation sind völlig unzureichend. Die über 20 Jahre alten Formulierungen im NPT, betreffend die nukleare Abrüstung, die Beendigung des nuklearen Testens und sogar die vollständige weltweite Abrüstung, werden immer noch von einigen Kernwaffenstaaten eher als (unverbindlich gemeinte) Absichtserklärungen interpretiert ohne jegliche Verbindlichkeit oder zeitliche Verpflichtung – und dies trotz des absehbaren Endes der vorläufigen Laufzeit des Vertrages in zwei Jahren.

Die Entwicklung von Maßnahmen zur qualitativen Rüstungskontrolle steckt noch immer in den Kinderschuhen. Dies gilt allgemein, nicht nur für den Nuklearbereich. Selbst der SALT Vertrag und die meisten weiteren Rüstungskontrollabkommen der Vergangenheit wurden ausgehandelt mit den Umgehungstechnologien der Zukunft im Hinterkopf. Sicher ist insbesondere auch das vorliegende Verhandlungsergebnis des START II Vertrages begrüßenswert, aber auch hier werden Hintertüren offengehalten, um mehr Qualität auf vereinbart niedrigerem Niveau erreichen zu können. Beispiele sind die zugestandenen Weiterentwicklungen im Bereich der »Unverwundbarkeit« der U-Boot-Flotten, und der fortführbaren Cruise Missile Entwicklung.

Die gemachten Vorschläge, statt eines vollständigen Teststoppvertrages eher nur die Anzahl und die Energieausbeute erlaubter Tests zu reduzieren, sind ungeeignet, die Fortentwicklung von Kernwaffenkonzepten erfolgreich zu beenden. Über einen absoluten Teststopp hinaus sind weitere Maßnahmen im Bereich der bislang beispielslosen Beschränkung von Forschung und Entwicklung notwendig, wenn jegliche wissenschaftlich-technische Innovation im Kernwaffenbereich nachhaltig verhindert werden soll.

9.

Maßnahmen zur Stärkung der Bemühungen zur Eindämmung der horizontalen Proliferation sind dringend erforderlich. Die Infragestellung traditioneller Werthaltungen und »erprobter« Vorgehensweisen insbesondere im Bereich der IAEO darf nicht mehr unter Denkverbot gestellt werden. Die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) ist was ihre Rolle und die von ihr ausführbaren Maßnahmen angeht dringend reformbedürftig. Mittelfristig wäre es wünschenswert, die IAEO aufzutrennen; zu einen in eine echte, ausreichend finanziell und personell ausgestattete Kontrollbehörde im Bereich der Nuklearforschung, der Nukleratechnologie und des entsprechenden internationalen Transfers zu anderen in eine Internationale Energiebehörde, die sich der Förderung der Kooperation in der Entwicklung und Verbreitung von benötigter, der Umwelt angepaßter und Entwicklung ermöglichenden Energietechnologien widmet. Zur Erhöhung der Sanktionsfähigkeit könnte die Kontrollbehörde den Vereinten Nationen unterstellt werden und eng mit dem (ebenfalls reformbedürftigen) UN-Sicherheitsrat kooperieren.

Ein Maßnahmenkatalog der nuklearen Kontrollbehörde müßte so entwickelt werden, daß er bestimmte Mängel des praktizierten und überholten IAEO-Systems zu überwinden sucht. Zur Liste der Maßnahmen, die sich nicht ausschließlich nur auf die Vermeidung der horizontalen Proliferation beschränken sollte, gehört:

  • Durchführung von Verdachtsinspektionen jederzeit, überall und mit jeglicher Befugnis (ohne Diskriminierung bestimmter Länder);
  • keine Beschränkung auf den Brennstoffkreislauf und lediglich spezifisch auf betriebsfähige Anlagen bezogene Verträge, sondern Einbeziehung von Anlagenteilen und auf Anlagen und Wissensbereiche bezogenen waffenrelevanten Technologien und Kenntnisse, soweit möglich;
  • teilweiser Erweiterung der reinen Spaltstoffflußbuchführung und -kontrolle durch zusätzliche Inspektionsmaßnahmen auch außerhalb sogenannter Schlüsselmeßpunkten, um mögliche Abzweigungspfade an der gängigen Spaltflußkontrolle vorbei abdecken zu können;
  • Erweiterung der Spaltflußkontrolle um geeignete Maßnahmen zur Senkung der unvermeidlichen Fehlermargen;
  • realistisch niedrigerer Ansatz der signifikanten Mengen kernwaffenfähiger Materialien (etwa 10 Kilogramm für hochangereichertes Uran, etwa 3 Kilogramm für Plutonium und Grammmengen für Tritium);
  • Berücksichtigung von Synergismen in nationalen Nuklearprogrammen und internationalen Kooperationen;
  • technische Verbesserung der Safeguards-Methoden (beispielsweise zur Beschleunigung der Auswertung von Meßergebnissen, zur direkten Übermittlung von Ergebnissen an die Kontrollbehörde, zur technisch möglichen Dauerüberwachung);
  • Entwicklung und Implementierung von neuen Monitoring-Methoden, so zum Beispiel von Möglichkeiten der Fernerkundung (Kryptonemissionsmessungen wären beispielsweise geeignet zur Überwachung einer Plutoniumproduktion);
  • Erweiterung der nuklearen Safeguards um Entdeckung heimlicher Tritiumproduktion;
  • ausreichende Frequenz von Inspektionen mit dem Ziel, die Vorwarnzeiten für Anlagenbetreiber zu verringern;
  • Beginn der Überwachung nicht erst mit offiziellen Datum der Ankunft nuklearer Betriebsmaterialien und Ende der Überwachung nicht bereits mit offiziellen Abtransport der genutzten nuklearen Materialien;
  • Maßnahmen zur Aufdeckung möglicher geheimer Anlagen und Programme;
  • keine Geheimhaltung der gesammelten Erkenntnisse (beispielsweise Veröffentlichung des Safeguards Implementation Reports).

Kurzfristig wäre daran zu denken, zumindest die Statuten der IAEO positiv zu verändern. Es sollte nicht gezögert werden eine dringend notwendige Erhöhung in der finanziellen Ausstattung der IAEO durch Beiträge von Industrieländern wie Deutschland an entsprechende Bedingungen zu knüpfen.

Darüberhinaus sind weitere Maßnahmen denkbar:

  • Einrichtung regionaler atom(waffen)freier oder massenvernichtungswaffenfreier Zonen unter Einschluß des Verbots sogenannter friedlicher Nuklearexplosionen und Abschluß weiterer internationaler Verträge zur Stärkung des NPT-Regimes ohne den NPT selbst tangieren zu müssen;
  • vollständiges Ende der Produktion höher angereicherten Urans und weltweites Ende des Betriebs von (Forschungs-)Reaktoren mit Uran eines Anreicherungsgrades oberhalb von 20%;
  • Konterkarrierung der Exportkontrollen durch Süd-Süd-Kooperation und Export sogenannter Dual-use-Güter konstruktiv bearbeiten;
  • Entwicklung neuer Angebote der weltweiten wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit mit dem Ziel nachhaltiger, ökologisch dauerhafter und sozial tragfähiger Entwicklung (die Richtung ist mit der vorgeschlagenen Einrichtung einer Internationalen Energiebehörde angedeutet).
  • Exportländer müssen nicht nur eine eindeutige, von wirtschaftlichen und anderen kurzfristigen Interessen unabhängige Haltung allen Empfängerländern gebenüber an den Tag legen, sondern auch intensiv über Selbstbeschränkung nachdenken, um ein überzeugendes Beispiel zu geben. Das Infragestellen des Sinns von Nuklearprogrammen (global und bei uns selbst) kann mehr zur Vermeidung von Proliferationsrisiken beitragen als die künstliche Beschränkung des Exports. Solange weitentwickelte Industrieländer auf dem sogenannten »vollständigen« Brennstoffkreislauf unter Einbeziehung von Plutoniumabtrennung aus dem nuklearen Abfall und seiner Wiederverwertung bestehen, kann kein Land der sich entwickelnden Welt nachhaltig davon überzeugt werden, daß dies kein anzustrebender Entwicklungspfad ist.
  • Die Idee einer Internationalisierung von bestimmten Teilen des nuklearen Kreislaufes, etwa im Bereich der Produktion schwach angereichtern Urans, sollte wieder neu in Betracht gezogen werden. Dem trägt auch Rechnung, daß die Kontrolle im Bereich der Produktion schwach angereicherten Urans leichter und erfolgversprechender durchführbar ist als bei der Wiederaufarbeitung des nuklearen Abfalls.

10.

Maßnahmen zur Beendigung der vertikalen Proliferation müssen dringend entwickelt und so schnell wie möglich ergriffen werden. Dabei sollte entsprechend Artikel VI des NPT das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt – als Etappenziel zur umfassenden weltweiten Abrüstung – ins Auge gefaßt werden. Wesentliche Punkte wären:

  • Exportkontrollen müssen in symmetrischer Weise durchgeführt werden und sollten sich im Prinzip auf alle waffenrelevanten Exporte beziehen. Nicht nur die vieldiskutierten Nuklearexporte von Deutschland und anderen Ländern in den Irak sind äußerst fragwürdig und gefährlich, sondern auch Exporte zur Unterstützung nuklearwaffenrelevanter Programme beispielsweise im US-amerikanischen Lawrence Livermore National Laboratory (Export optischer Einrichtungen der deutschen Firma Zeiss für das militärische Trägheitseinschlußfusions-Programm).
  • Eine gründliche Analyse der zivil-militärischen Ambivalenz avancierter Forschungs- und Entwicklungsprogramme sollte zu Konsequenzen für die Forschungs- und Technologiepolitik führen. Förderbeschränkungen und die möglichst irreversible Konversion von Forschung und Entwicklung sollte von Fall zu Fall erfolgen.
  • Ein Vertrag über das endgültige Ende des nuklearen Testens sollte sofort und vorbehaltslos ausgehandelt werden.
  • Der Verzicht auf die Entwicklung von Laserisotopentrennungs- und Trägheitseinschlußfusions-Technologien, auf Weiterentwicklung von Cruise Missiles und weiteren Verbesserungen der Zielgenauigkeit von Waffensystemen sollte einseitig erklärt werden und anschließend vertraglich abgesichert werden.
  • Ein verifizierbarer Produktionsstopp für alle spaltbaren waffenfähigen Nuklearmaterialien unter Einschluß des fusionierbaren Materials Tritium sollte schnell ausgehandelt werden in Verbindung mit entsprechenden Monotoring-Maßnahmen.
  • Eine internationale Vereinbarung über die Registrierung und Kennzeichnung aller vorhandenen Kernwaffen sollte erzielt werden, um eine eindeutig überprüfbare Abrüstungsstrategie erreichen zu können.
  • Die Nuklearwaffenstaaten sollten sofort der IAEO (oder ihrer Nachfolgeorganisation) erlauben, alle ihre nuklearen Anlagen unter Überwachung zu nehmen (full-scope Safeguards auch in den Kernwaffenstaaten).
  • Alles waffenfähige hochangereicherte Uran sollte alsbald zu leicht angereichertem reaktortauglichen Uran verschnitten und dem zivilen Markt zugeführt werden, um in Kernreaktoren verbrannt zu werden. Egoistischer wirtschaftlicher Protektionismus westlicher Industrieländer in dieser Frage verhindert die schnelle und unumkehrbare Abrüstung dieser Waffenmaterialen in unverantwortlicher Weise. – Optionen für die Unbrauchbarmachung und Zerstörung von »Waffen«-Plutonium müssen dringend geklärt werden.
  • Die Internationalisierung von Lagern spaltbarer Materialien ist dringend anzuraten. Dies schafft Zeit für die Auswahl einer besten Strategie zur Zerstörung waffenfähiger Materialien.
  • Ein einseitiger Verzicht auf Nutzung sensitiver Nukleartechnologien im nationalen Rahmen könnte erklärt werden von Kernwaffenstaaten und von Ländern, die große Nuklearprogramme besitzen. Deutschland sollte beispielsweise den endgültigen Verzicht auf Wiederaufarbeitungstechnologien, der landesintern zur Zeit de-facto besteht, öffentlich erklären und die Nutzung von Plutonium im Brennstoffkreislauf beenden.
  • National und international sollte die Frage aufgeworfen werden: Wie lange noch und in welchem Maße brauchen wir große kommerzielle Nuklearprogramme? Eine Strategie des Ausstiegs scheint ratsamer als die einer Expansion angesichts der ansonsten weltweit wachsenden Proliferationsgefahren.

11.

Die Probleme des zivilen und militärischen Gebrauchs der Kernenergie konvergieren im Müllproblem. Was mit dem hochradioaktiven Müll aus abgebrannten Brennelementen geschehen wird ist ebenso ungeklärt wie die Frage, wie am sinnvollsten abgerüstetes Plutonium auf Dauer unbrauchbar gemacht werden kann. Zwei Seiten derselben Medallie, mit dem der faustische Pakt bezahlt werden muß.

Vordringlich ist die Frage nach den Kriterien und Methoden der Behandlung abgerüsteten Waffenplutoniums, um die mit seiner Existenz verbundenen latenten Proliferationsgefahren (horizontal wie vertikal) in den Griff zu bekommen. Sorgfältig zu evaluierende Methoden, die zum Teil noch mit ungelösten naturwissenschaftlich-technischen Fragestellungen behaftet sind, wären:

  • Verwendung für die Produktion von Mischoxid- (MOX-) Brennelementen und Umwandlung in zivilen Kernreaktoren
  • Endlagerung vermischt mit Atommüll (eventuell nach vorheriger Verglasung), wobei noch unklar ist wo dies geschehen könnte
  • Nutzung als Brennstoff für sogenannte Actiniden-Brenner, die den Schnellen Brutreaktoren verwandt sind
  • Umwandlung (Transmutation) in hohen Neutronenflüßen, die durch Teilchenbeschleuniger oder Fusionsanlagen erzeugt werden können
  • in die Sonne oder andere Gestirne unseres Planetensystems schießen
  • Zerstörung in einer unterirdischen Kernexplosion.

Bei den Bewertungskriterien wäre abzuwägen die Vor- und Nachteile bezüglich

  • des erzeugten Ergebnisses (Zerstörung des Plutoniums, mehr oder minder reversibel einzuschätzende Unbrauchbarmachung oder irreversible Umwandlung in eine mehr oder minder militärisch nutzbare Isotopenzusammensetzung);
  • der Proliferationsresistenz der verwendeten Technologien (entstehen neue waffenrelevante Optionen?; sind Abzweigungen von spaltbaren Materialien möglich?);
  • der Umweltaspekte der verwendeten Methoden und Technologien;
  • der Nachhaltigkeit des Ergebnisses (Reversibilität/Irreversibilität, Notwendigkeiten der lang- oder kurzfristigen Nachsorge);
  • der Zeitskala (wie schnell greift die Methode);
  • der Kosten (Entwicklung, Konstruktion, Anlagenbetrieb, Abfallnachsorge);
  • des Einflusses auf Konversionsbemühungen (Beschäftigungsmöglichkeiten von Wissenschaftlern, Technikern des alten Nuklearwaffenkomplexes; Nutzungsmöglichkeiten von Anlagen);
  • der Konvergenzaspekt (sind die verwendeten Technologien auch einsatzbar für einen sinnvollen Umgang mit hochradioaktiven Abfällen der zivilen Kernenergienutzung?).

12.

Als Fazit zeigt sich, daß die Problematik der nuklearen Proliferation dauerhaft nicht mit kurzfristig angelegten Maßnahmen beizukommen ist, sondern eher unter dem Oberthema „Abrüstung und Neuorientierung der naturwissenschaftlich-technischen Determinaten unserer industrialisierten Weltkultur“ einer nachhaltigen Lösung näher zu bringen ist. Natürlich darf dabei das Feld der Poltik, der erkennbaren Absichten, der Machtinteressen, etc. nicht außer Acht bleiben. Die These bedeutet ebenfalls nicht, daß rein technischen Lösungen (beispielsweise SDI/GPALS) das Wort geredet wird. Es ist überdeutlich, daß das Vertragswerk des NPT nicht leichtfertig geopfert werden darf. Gleichwohl ist es interpretationsfähig und interpretationsbedürftig, in Hinblick auf vollständige (nukleare) Abrüstung und Verhinderung der militärischen Nutzung der Kernenergie. Diese Chance sollte in den anstehenden Verhandlungen zur Verlängerung des NPT genutzt werden. Dies kann beispielsweise durch entsprechende klärende Zusatzprotokolle geschehen und durch parallele Bemühungen zur Reform bzw. Umgestaltung der IAEO.

Als Fragen bleiben offen: Wie kann auf Dauer Ländern der dritten Welt der Zugriff auf Kernwaffen verweigert werden, wenn weiterhin an die Rationalität von Kernwaffenarsenalen innnerhalb der NATO und in anderen Regionen der Welt geglaubt wird? Wie kann auf Dauer der Verzicht auf sensitive Nukleartechnologie in Schwellenländern gefordert werden, während gleichzeitig auf den eigenen Zugriff auf diese Technologien bestanden wird? Kann auf Dauer das horizontale Proliferationsproblem eingedämmt werden, wenn weltweit die Nuklearprogramme auf heutigen Niveau erhalten bleiben bzw. weiter expandieren? Wenn über einen »Energiekonsens« in unserem Land diskutiert wird, wäre es dann in Hinblick auf die anstehende Diskussion um die Verlängerung des NPT und über die Verbesserung der Anstrengungen zur Vermeidung von Proliferationsrisiken nicht dringend erforderlich auch eine breitere Konsensdebatte unter Einschluß der Proliferationsproblematik zu führen?

Wolfgang Liebert und Martin Kalinowski sind Mitarbeiter in der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheitspolitik (IANUS) an der TH Darmstadt.

Atomwaffenverzicht ins deutsche Grundgesetz

Atomwaffenverzicht ins deutsche Grundgesetz

von Bernd Hahnfeld

Im März 2006 trafen sich in Hannover etwa 50 deutsche Stadtoberhäupter bzw. deren Vertreter, um über ihre Möglichkeiten zu diskutieren, Schritte zur nuklearen Abrüstung zu fördern. Die Bürgermeister, allesamt Mitglieder der Organisation Mayors for Peace, luden zum Gedankenaustausch einige Experten der zivilgesellschaftlichen Kampagne »Abrüstung wagen! atomwaffenfrei bis 2020« ein. Die Kampagne nutzte die Gelegenheit – und die Anwesenheit des Staatsministers im Auswärtigen Amt, Gernot Erler –, um einen konkreten Vorschlag in die politische Debatte einzuführen.

Die Frage nach den Atomwaffen ist nicht nur eine politische, ökonomische oder militärische Angelegenheit. Sie hat auch eine rechtliche Seite. Die Frage, die sich Politiker leider viel zu selten stellen: „Dürfen wir das überhaupt?“ ist in diesem Fall eindeutig zu beantworten: Nein, sie dürfen nicht! Sie dürfen Atomwaffen weder stationieren noch einer Stationierung zustimmen oder sie dulden; sie dürfen deutsche Soldaten den Atomwaffeneinsatz nicht üben lassen; sie dürfen nicht an Einsatzbefehlen mitwirken; auch dürfen sie deutsche Soldaten nicht an Einsätzen beteiligen. Sie dürfen noch nicht einmal im Rahmen der NATO an der Nuklearstrategie mitwirken.

Woraus ergibt sich das? Aus dem Völkerrecht und aus dem deutschen Recht. Völkerrecht ist Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht.

Das zugrundeliegende Völkergewohnheitsrecht ist nach Art. 25 Grundgesetz (GG) vorrangiges Bundesrecht. Art. 25 GG hat folgenden Wortlaut: „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechts. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“ Die zugrunde liegenden völkerrechtlichen Verträge sind durch Ratifizierungen innerstaatliches Recht geworden.

Das Völkergewohnheitsrecht verbietet im humanitären Kriegsvölkerrecht zwingend die Verwendung von Waffen,

  • die nicht unterscheiden zwischen kämpfender Truppe (Kombattanten) und der Zivilbevölkerung,
  • die unnötige Grausamkeiten und Leiden verursachen und
  • die unbeteiligte und neutrale Staaten in Mitleidenschaft ziehen.

Das können die existierenden Atomwaffen nicht, auch nicht die biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen.

Für die Atomwaffen hat das der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag in seinem auf Ersuchen der UN-Generalversammlung erstatteten Gutachten vom 8.7.1996 unzweideutig festgestellt: „…die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen verstößt generell/grundsätzlich gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegs-Völkerrechts.“ Offengelassen hat der IGH lediglich die Völkerrechtswidrigkeit im Falle einer existenzgefährdenden extremen Notwehrsituation.

Aus der IGH-Entscheidung ergibt sich jedoch, dass selbst im Falle einer extremen Notwehrsituation, in der das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht, ein etwaiger Atomwaffeneinsatz allenfalls dann völkerrechtsgemäß sein könnte, wenn er die zitierten Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts beachten könnte:

  • die Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung,
  • keine Verursachung unnötiger Leiden und
  • keine Mitleidenschaft unbeteiligter und neutraler Staaten.

Der IGH hat in dem Gutachten erklärt, dass keiner der Staaten, die in dem Verfahren für die Rechtmäßigkeit des Atomwaffeneinsatzes eingetreten sind, Bedingungen dargelegt hat, unter denen ein Einsatz gerechtfertigt sein könnte. Wenn der Einsatz und die Drohung mit dem Einsatz rechtswidrig sind, sind auch Herstellung, Transport und Stationierung dieser Atomwaffen nicht zu rechtfertigen. Denn all das dient der Vorbereitung des Einsatzes und der Drohung damit. Hingewiesen sei noch darauf, dass die »nukleare Teilhabe« Deutschlands, d.h. die Beteiligung deutscher Soldaten und Flugzeuge an einem etwaigen Atomwaffeneinsatz, gegen den Atomwaffensperrvertrag und gegen den 2+4-Vertrag verstößt, weil damit deutsche Hoheitsträger die Verfügungsgewalt über Atomwaffen erhielten.

Was treibt unsere Politiker dazu, sich offen gegen das Recht zu stellen, indem sie die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen in Büchel und Ramstein dulden oder ihr sogar ausdrücklich zustimmen und indem sie deutsche Soldaten und Flugzeuge für den Atomwaffeneinsatz bereithalten?

Anknüpfend an den Wunsch der grossen Mehrheit der Deutschen und an Initiativen wie die »Mayors for Peace«, die sich für einen Atomwaffenverzicht aussprechen, stellt sich Frage: Gibt es eine Möglichkeit, die Atomwaffenfreiheit rechtlich so zu gestalten, dass ein Verstoß dagegen in Zukunft nicht mehr vorstellbar wird? Es gibt sie!

Der bisherige Verzicht Deutschlands auf Atomwaffen steht auf rechtlich schwachen Füßen. Er beruht auf drei Grundlagen:

  • der Erklärung Adenauers vom 23.10.1954 im Rahmen der Pariser Verträge, dass die Bundesrepublik sich verpflichtet, Atomwaffen, chemische und biologische Waffen auf ihrem Gebiet nicht herzustellen,
  • auf dem 1970 in Kraft getretenen Atomwaffensperrvertrag, mit dem Deutschland sich verpflichtet hat, Atomwaffen oder die Verfügungsgewalt darüber von niemanden anzunehmen, sie nicht herzustellen oder sonstwie zu erwerben, und
  • auf dem 2+4-Vertrag vom 12.9.1990, in dem Deutschland seinen Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen bekräftigt hat.

Auf schwachen rechtlichen Füßen steht der deutsche Atomwaffenverzicht deshalb, weil in allen drei Regelungen Einschränkungen oder Vorbehalte enthalten sind, die deutlich werden lassen, dass die politischen Kräfte in Deutschland sich die Option auf eigene Atomwaffen stets offengehalten haben:

  • Adenauers Erklärung aus dem Jahr 1954 betraf nur die Herstellung in Deutschland. Sie wurde zudem durch den damaligen US-Außenminister ausdrücklich unter den Vorbehalt der »clausula rebus sic stantibus« gestellt, d.h. der Verzicht sollte nur gelten, solange die zugrundeliegenden Verhältnisse sich nicht ändern.
  • Der deutsche Verzicht im Atomwaffensperrvertrag sollte unter dem Vorbehalt einer europäischen Lösung und außerdem unter einem Kriegsvorbehalt stehen, beides zwar unwirksame Einschränkungen, aber Versuche, die Wirksamkeit zu begrenzen. Zudem ist der Atomwaffensperrvertrag kündbar. Eine Kündigung hätte zur Folge, dass der Verzicht nur noch auf der – eingeschränkten – Erklärung Adenauers aus dem Jahre 1954 beruhte.
  • Im 2+4-Vertrag wird lediglich der frühere Verzicht „bekräftigt“, d.h. nur der Verzicht Adenauers und der Verzicht im Atomwaffensperrvertrag wiederholt. Deren Grenzen habe ich bereits aufgezeigt.

Wenn Deutschland ernsthaft auf eigene Massenvernichtungswaffen und auf die Teilhabe an den Massenvernichtungswaffen anderer Staaten verzichten will, so ist eine verfassungsrechtliche Regelung überfällig. Ein ausdrücklicher Verzicht im Grundgesetz hätte eine klarstellende Wirkung. Er wäre nur unter erschwerten Bedingungen abänderbar und würde vor allem deutsche Politiker unmittelbar verpflichten, ohne ihnen Schlupflöcher zu lassen. Künftig hieße es unmissverständlich: Hände weg von ABC-Waffen!

Entsprechend sind die Fraktionen des Bundestages, der Bundesrat und die Bundesregierung aufzufordern, das Grundgesetz wie folgt zu ergänzen:

Art. 26 a (Verzicht auf Massenvernichtungswaffen)

(1) Deutschland verzichtet auf Entwicklung, Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen.

(2) Diese Waffen dürfen weder durch noch über Deutschland transportiert noch auf dem Staatsgebiet gelagert oder bereit gehalten werden.

(3) Deutschland setzt sich mit Nachdruck dafür ein, dass es zur Aufnahme von Verhandlungen der Atomwaffenstaaten und ihrer jeweiligen Verbündeten kommt, die in redlicher Absicht geführt werden und darauf gerichtet sind, wirksame Maßnahmen zur weltweiten vollständigen nuklearen Abrüstung in naher Zukunft unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle zu erreichen.

(4) Deutschland wird sich künftig in keiner Form an einem Einsatz atomarer, biologischer oder chemischer Waffen beteiligen, und zwar weder durch Bereitstellung von Trägersystemen oder durch sonstige Formen der Unterstützung noch durch Mitarbeit in bilateralen oder multilateralen Gremien, die sich mit dem Einsatz solcher Waffen oder dessen Vorbereitung befassen.

Abs. 1 entspricht im wesentlichen der Formulierung in Art. 3 des 2+4-Vertrages, ergänzt um den Begriff der »Entwicklung«, um sowohl Arbeiten an derartigen Waffenprogrammen als auch einen Technologietransfer in andere Staaten zu verhindern.

Die im Verzicht Adenauers und im 2+4-Vertrag enthaltenen biologischen und chemischen Waffen sind den Atomwaffen vergleichbare Massenvernichtungswaffen und deshalb in die Regelung einzubeziehen. Das Genfer Protokoll vom 17.6. 1925 über das »Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen und ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege« verbietet lückenlos den Einsatz chemischer und biologischer Kampfmittel jeglicher Art gegen jegliches Ziel. Die Einbeziehung von chemischen Waffen ist auch geboten im Hinblick auf das »Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen«vom 13.1.1993.

Die Regelung des Abs.2 ist geboten, um die bundes- und völkerrechtswidrige Stationierung derartiger Massenvernichtungswaffen in Deutschland und ihren Transport verfassungsrechtlich zu erfassen, ihren Abzug einzuleiten und künftige Stationierungen zu verhindern.

Abs. 3 knüpft an die Verpflichtung aus Art. VI Atomwaffensperrvertrag an und gibt der vom IGH nochmals ausdrücklich betonten Rechtspflicht zur zügigen atomaren Abrüstung Verfassungsrang.

Mit Abs. 4 wird Deutschland verboten, sich im Rahmen von Bündnissen an der Verfügungsgewalt über und dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu beteiligen. Damit wird hervorgehoben, dass Bündnisverpflichtungen niemals eine Rechtfertigung für die Drohung mit oder die Anwendung von ABC-Waffen sein können.

Deutschland stände mit einer verfassungsrechtlichen Regelung nicht allein. Der Nationalrat der Bundesrepublik Österreich hat 1999 ein Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich beschlossen, das hinsichtlich der Atomwaffen folgenden Wortlaut hat: „§ 1. In Österreich dürfen Atomwaffen nicht hergestellt, gelagert, transportiert, getestet oder verwendet werden. Einrichtungen für die Stationierung von Atomwaffen dürfen nicht geschaffen werden. § 5. Die Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes obliegt der Bundesregierung.“

Die Verfassungen der Staaten Brasilien, Philippinen und Palau verbieten ebenfalls Atomwaffen. Auch Neuseeland ist kraft Gesetzes atomwaffenfrei, und die Mongolei hat sich gar als einzelnes Land zur atowaffenfreien Zone erklärt. Überdies gibt es fünf multilaterale Verträge über atomwaffenfreie Zonen, die fast die komplette Südhalbkugel der Erde abdecken.1 Deutschland befände sich also mit der grundgesetzlichen Absicherung der Atomwaffenfreiheit in guter Gesellschaft.

Der US-amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld hat im Frühjahr 2006 in einem Interview den Weg zu einem atomwaffenfreien Deutschland aufgezeigt, indem er erklärte, es sei ausschließlich Sache der Deutschen selbst, über die weitere Stationierung von Atomwaffen in Deutschland zu entscheiden.

Anmerkungen

1) Informationen zu den atomwaffenfreien Zonen finden sich unter www.opanal.org/NWFZ/NWFZ's.htm.

Bernd Hahnfeld ist Richter im Ruhestand und Vorstandsmitglied der deutschen Sektion von IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms). Er arbeitet mit im deutschen Trägerkreis »Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!« und in der Kampagne »Abrüstung wagen! atomwaffenfrei bis 2020«.

Chance für effektiven Proliferationsstopp vertan

Chance für effektiven Proliferationsstopp vertan

New Yorker Konferenzdebakel

von Rebecca Johnson

Die Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag vom 2. bis 27. Mai in New York muss als gescheitert gelten. Die Autorin des vorliegenden Berichts leuchtet Verlauf und Hintergründe aus.

Am zweiten Mai eröffnete der UN-Generalsekretär, Kofi Annan, die diesjährige Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrags (Nichtverbreitungsvertrag, NVV) mit der Aufforderung, sich eine nukleare Katastrophe in einer der Megastädte vorzustellen. Vor dem Hintergrund der Auswirkungen – nicht nur des unmittelbaren Leids und der Vernichtung der direkt Betroffenen, sondern auch der weniger bedachten Folgen für die hart erkämpften Freiheiten und Menschenrechte, für Entwicklung und Handel – stellte er die Frage, die man sich stellen müsste: „Hätte ich mehr tun können, um das Risiko durch Stärkung der Regelwerks zu vermindern, das eben diese Risikominderung bezweckt?“ Die Antwort der Überprüfungskonferenz: Vergeudung von drei Viertel der Zeit mit Verfahrensfragen und dann keinerlei substanzielle Beschlüsse oder Empfehlungen. Die Mehrheit wusste sehr wohl, was getan werden müsste, hatte aber weder den politischen Willen noch das Rückgrat, um es mit denen am Rand aufzunehmen, die das Nukleargeschäft wie gehabt betreiben wollen, d.h. ohne Rücksicht auf die zukünftigen Sicherheitsrisiken.

Aufgaben aus der Sicht des UN-Generalsekretärs

Annan forderte auch dazu auf, das Vertrauen in die Integrität des NVV zu stärken und bessere Möglichkeiten zu finden, um mit Vertragsverletzungen und -aufkündigungen umzugehen und die Vertragstreue wirkungsvoller zu machen, einschließlich einer Generalisierung des Verifikations-Systems der Zusatzprotokolle der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO). Unter Hinweis darauf, wie wichtig es sei, dass nicht nur Staaten, sondern auch nicht-staatliche Akteure zur Verringerung nuklearer Risiken beitrügen, sprach er von der „Janusköpfigkeit der Nuklear-Energie“.

Der Generalsekretär bestätigte die Notwendigkeit, den Umfassenden Teststopp-Vertrag (Comprehensiv Test Ban Treaty, CTBT) möglichst bald in Kraft zu setzen und Verhandlungen über spaltbares waffenfähiges Material aufzunehmen, und er empfahl, den IAEO-Direktor, Mohamed El Baradei, mit der Arbeit an einem Konsens zum Brennstoffkreislauf zu betrauen. Annan verlangte auch, sämtliche Nuklearwaffen außer Alarmbereitschaft zu setzen und die Anzahl der Sprengköpfe bis auf ein paar hundert unumkehrbar zu reduzieren.

Positionen, Strategien und Verlauf

Von der Proliferationsfront geißelte Chun Yung-woo, Beauftragter Südkoreas im Ministerrang, die „inhärenten Beschränkungen“ des NVV. Er argumentierte, die koreanische Halbinsel leide unter verminderter Sicherheit, da es dem Vertrag fatalerweise nicht gelungen sei, das nukleare Gespenst im Zaum zu halten. Als die siebte Überprüfungskonferenz am 27. Mai ohne substanzielle Vereinbarungen zur Proliferationsproblematik – von Atomtests bis zur Herstellung und Verbreitung waffenfähigen Materials – zu Ende ging, schien das Mr. Chun’s ernste Einschätzung nur zu bestätigen. Da Irland, Kanada, Deutschland u.a. Bedenken zu den institutionellen Defiziten des NVV, in dem ein eigener Durchsetzungsmechanismus fehlt, vorgebracht haben, erscheint es unangemessen, diesem Vertrag ein Versagen vorzuhalten, das grundsätzlich dem UN-Sicherheitsrat zuzuschreiben ist. Dennoch war es frustrierend zu sehen, wie unter hohem Aufwand entstandene Chancen vergeudet wurden, als 153 der 188 Parteien drei Viertel der zur Verfügung stehenden Zeit auf Gezänk über Verfahrensfragen und die Einrichtung von Arbeitsgruppen verwandten.

Nordkoreas Rücktritt vom Vertrag und sein viel beachtetes Atomwaffenprogramm waren eine der krisenhaften Entwicklungen, mit denen sich die NVV-Parteien in New York konfrontiert sahen. Obwohl Präsident Bush die Nichtverbreitungsfrage als besonders drängendes Problem ausgemacht hatte, widersetzten sich die USA entschieden jeder Anerkennung der besonderen Bedeutung des Inkrafttretens des CTBT oder einem verifizierbaren Verbot der Produktion von Spaltmaterial. Das obsessive Bestreben der Bush-Administration, den CTBT zu zerstören, verhinderte auch, dass die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats sich auf eine gemeinsame Erklärung einigen konnten, in der eine essentielle Übereinstimmung zu den vordringlichsten Aufgaben eines Nichtverbreitungsregimes zum Ausdruck kommen sollte.

Die Strategie der USA bestand im Wesentlichen darin, die Abrüstungsverpflichtungen aus dem NVV zu untergraben, insbesondere die praktischen Schritte, denen die Vertragsparteien auf der Überprüfungskonferenz 2000 zugestimmt hatten. Statt diese Punkte zu diskutieren, die von der großen Mehrheit der Nicht-Nuklearwaffen-Staaten unterstützt werden und denen alle Atommächte zugestimmt hatten, warfen die USA bei der Vorbereitungskonferenz letztes Jahr mit Absicht eine Bananenschale in den Raum, als sie es ablehnten, das einvernehmliche Ergebnis der Überprüfungskonferenz von 2000 als Grundlage der Beurteilung der Bewährung des Vertrags und einer Revision in 2005 anzuerkennen. Infolgedessen konnte sich die Vorbereitungskonferenz 2004 nicht auf eine Agenda für 2005 verständigen. Zur Konferenzeröffnung am zweiten Mai lag immer noch keine Tagesordnung vor.

Anscheinend hatte Washington darauf gesetzt, sich nicht zu profilieren und die Konferenz »mit der Bananenschale« zum Scheitern zu bringen, während man die Presse über die Falschheit des Iran und Nord-Koreas instruierte. Aber die Dinge liefen nicht ganz so glatt. Als die Konferenzleitung Ende der ersten Woche eine die USA unterstützende Agenda vorschlug, ohne Erwähnung der Konferenzergebnisse von 1995 und 2005, machte Ägypten einen bescheidenen Verbesserungsvorschlag. Daraufhin unterbrach man das Treffen und pendelte mehrere Tage hin und her.

In der zweiten Woche wurde schließlich eine Miniagenda akzeptiert. Die nächste ungeklärte Verfahrensfrage verzögerte den Beginn substanzieller Debatten bis weit in die dritte Woche. Es ging um negative Sicherheitsgarantien der Nuklearmächte gegenüber den NVV-Staaten, die auf Entwicklung und Besitz eigener Nuklearwaffen verzichten, d.h. um Zusagen, diese Staaten nicht anzugreifen. Die Nicht-Atomwaffenstaaten, die seit langem eine rechtlich verbindliche Abmachung mit unkonditionalen Sicherheitsgarantien fordern, verlangten ursprünglich gesonderte Ausschüsse für Fragen der Abrüstungspraxis und der Sicherheitsgarantien. Auf Druck des Vorsitzenden stimmten sie zu, dass ein Unterausschuss für alle Fragen zuständig sein sollte. Zur Enttäuschung ihrer westlichen Alliierten widersetzten sich die USA, auf Kosten weiterer Konferenzzeit, auch einer Erwähnung von Sicherheitsgarantien in dessen Titel oder Mandat. Die beiden anderen Unterausschüsse betrafen regionale Probleme, darunter den Nahen Osten, und den Rücktritt vom Vertrag. Diesbezüglich hoffte man, die Kriterien zu bestätigen, wonach ein Staat, der wie Nord-Korea vom NVV zurücktreten und Atomwaffen entwickeln möchte, Nuklearmaterial und Nukleartechnologie zurückgeben müsste.

Als die Ausschüsse in Gang kamen, hatte die Konferenz noch kaum mehr als fünf Tage, um die Arbeitspapiere und Empfehlungen zu den diversen Fragen zu diskutieren – darunter weitere praktische Schritte zur Abrüstung, Nukleardoktrinen und nukleare Teilhabe, der Nuklearbrennstoffkreislauf, das IAEO-Zusatzprotokoll als Sicherheitsstandard und Zugangsbedingung, Allgemeingültigkeit dieses Protokolls, atomwaffenfreie Zonen, Betriebssicherheit und Sicherung gegen terroristischen Missbrauch. Die sechs Vorsitzenden der Ausschüsse und Unterausschüsse bemühten sich tapfer, die Vorstellungen zu fundierten Einschätzungen und Empfehlungen zusammenzufassen, aber es fehlte ihnen die Zeit für wirkliche Verhandlungen. Die Berichte der Ausschüsse zu Schutzvorkehrungen/regionale Fragen und Atomenergie/Rücktritt vom Vertrag wurden insbesondere von den USA und Ägypten blockiert. Nur der Bericht des Abrüstungsausschusses erreichte die nächste Runde, wenn auch gespickt mit viel Text in Klammern, was erkennen lässt, dass die tatsächliche Übereinstimmung gering war. Zu diesem Zeitpunkt schien bereits akzeptiert zu sein, dass es kein gehaltvolles Abschlussdokument geben würde.

Spielverderber: „Unsere Beanstandungen sind wichtiger als euere“

Weil alle Verbündeten sich der negativen Position der amtierenden US-Administration zum CTBT und zu verifizierbaren Verträgen überhaupt widersetzen, versuchten die USA, sich im Hintergrund zu halten und Verfahrensentscheidungen in ihrem Sinn zu manipulieren, statt eine Isolierung in bedeutenden inhaltlichen Fragen zu riskieren. Der Iran seinerseits war entschlossen, Kritik an seinem unlängst bekannt geworden Urananreicherungsprogramm und jede konkrete Diskussion zur Kontrolle oder Beschränkung des Brennstoffkreislaufes mit hoch angereichertem Uran oder Plutonium zu vermeiden. Bestürzung löste auch aus, dass Ägypten die deutlichsten Einwände vor allem im Hinblick auf die Konferenzagenda vorbrachte. Alle drei Staaten gelten als verantwortlich für das Scheitern, doch dieses Spiel der Schuldzuschreibungen ignoriert die Komplizenrolle anderer Delegationen und die Unterschiede in der Motivation der Hauptakteure.

Natürlich waren die Verfahrenstricks wesentlich politisch begründet. Ägypten, die USA und die Nicht-Atomwaffenstaaten warfen sich wechselseitig die Forderungen nach Einschluss oder Ausschluss bestimmter Formulierungen vor. Denn die Diplomatensprache ist ein Kode, der den Zugang zu inhaltlichen Fragen eröffnet, ihnen Legitimität verleihen oder aber versagen kann. Während der Iran und die USA offensichtlich geschickt in den Kulissen agierten – vor allem Konsensregeln für die westlichen und die nicht gebundenen Länder, die in der Regel en bloc entscheiden, beeinflussten, opponierte Ägypten bei verschiedenen Gelegenheiten in aller Offenheit aus prinzipiellen und praktischen Erwägungen, besonders im Hinblick auf die Resolution von 1995 zum Nahen Osten und die Verpflichtungen aus dem Abschlussdokument von 2000 zur nuklearen Abrüstung.

Damit werden grundlegende Unterschiede bezüglich der Ziele, Motive und Verhaltensweisen der drei Hauptspielverderber erkennbar. Wenn seine Interessen im Hinblick auf den Nuklearbrennstoffkreislauf oder die Kritik an seinem Urananreicherungsprogramm nicht zur Debatte standen, gab sich der Iran hilfreich und bemüht, die Aufmerksamkeit abzulenken und Unterstützer zu gewinnen. Seine umfangreiche Delegation instruierte NGOs, bearbeitete die Versammlung und erklärte, man wolle nur das eigene Atomprogramm nach dem Modell Japans betreiben, bis hin zu einer kontinuierlichen Überwachung durch die IAEO. Auf eine moralische Hochform lief der Iran auf mit einer brillanten Analyse der Fehler der USA und anderer Atomwaffenstaaten und ihres Versagens in Sachen Abrüstung. Das hätte nachdenklicher machen können, wenn es nicht ein so deutliches Echo der Stimme Indiens gewesen wäre aus den Jahren vor dessen Atomwaffentests von 1998.

Nachdem sie ihre »Bananenschale« geworfen hatten, sahen die USA von der Seite zu, wie verschiedene Delegationen und schließlich die gesamte Konferenz ausrutschten und zusammenstießen. Bereits im Voraus hatten sie den Medien oder gar der Konferenz zu verstehen gegeben, dass es nicht auf ein abgestimmtes Ergebnis ankomme. So praktizierten sie auch keinerlei positive Führung, um ein solches Ergebnis zu bekommen. Die Delegation wirkte unerfahren und unengagiert. In den Kulissen aber wurden die USA abgeschirmt durch den Konsens der westlichen Staaten und unterstützt durch ihren zuverlässigen Alliierten Großbritannien, das durch eine merkwürdige Anomalie aus dem Jahre 1975 zufällig auch noch NVV-Koordinator für die westlichen Staaten war.

Im Bewusstsein der Opposition vieler ihrer wichtigsten Verbündeten gegen die eigenen Positionen versuchte Washington Konfrontation ebenso wie konstruktive Zusammenarbeit zu vermeiden. Man gab zahlreiche Erklärungen ab, weigert sich aber, der Konferenz einen Rechenschaftsbericht über Anstrengungen zur Erfüllung der Abrüstungsverpflichtungen gemäß Art. VI vorzulegen. Stattdessen stellte man in der Eingangshalle des UN-Gebäudes die eigenen Leistungen in Sachen Nichtverbreitung bunt und großartig zur Schau, verteilte Glanzbroschüren mit Chronologien zu bedeutsamen NVV-bezogenen Veranstaltungen und schaffte es, den CTBT zu übergehen und ebenso einvernehmliche Abmachungen der Überprüfungskonferenz 2000.

Während die USA im Hintergrund manipulierten und der Iran seine Charme-Offensive entfaltete, zog die ägyptische Delegation an vorderster Front viel Geschützfeuer auf sich. Aus innen- und regionalpolitischen Gründen musste Ägypten die in den beiden vorausgehenden Überprüfungskonferenzen erreichten Vereinbarungen über den Nahen Osten und die nukleare Abrüstung aufrechterhalten. Es hatte in herausragender Führungsrolle die arabischen Staaten dazu bewogen, dem Vertrag beizutreten und die Erweiterung von 1995 zu unterstützen. Ägypten war auch Mitglied der New Agenda Koalition der Nicht-Atomwaffenstaaten, die eine entscheidende Rolle dabei spielte, dass 2000 die sogenannten 13 Prinzipien und praktischen Schritte zur nuklearen Abrüstung erreicht wurden. Angesichts der Entschlossenheit der USA, diese früheren Verpflichtungen Nebensache sein zu lassen, unter einer Konferenzleitung, die sich dagegen sträubte, den Hauptmächten Paroli zu bieten, und in Abwesenheit einer strategischen Führung seitens der EU, der Nicht-Atomwaffenstaaten oder der New Agenda-Koalition mag Ägypten wenig Optionen gehabt haben. Es musste gleichzeitig sicherstellen, dass der Iran weder Atomwaffen entwickeln durfte noch isoliert und durch die kurzfristige Politik der USA in eine gefährlichere Rolle gedrängt wurde.

Resümee

Vom Standpunkt des Vertrags läuft das Nicht-Erreichen substanzieller Ergebnisse darauf hinaus, dass die auf den Überprüfungskonferenzen von 1995 und 2000 erreichten Vereinbarungen nach wie vor den Standard zur Beurteilung von Fortschritt und zur Förderung der Vertragserfüllung darstellen. Man kann auch geltend machen, dass der fehlende Konsens von 2005 die Tatsache unterstreicht, dass die Prinzipien, Maßnahmen und Schritte, die auf den früheren Überprüfungskonferenzen angenommen worden waren, noch nicht realisiert sind und dass mehr getan werden muss, um sie zu realisieren. Dass die meisten Staaten nicht willens oder nicht fähig waren, sich den wenigen Neinsagern entgegenzustellen, ist andererseits eine gefährliche politische Botschaft an Nuklearwaffenbesitzer und potenzielle Proliferatoren.

Daraus scheint sich die gegenwärtige US-Administration allerdings nichts zu machen, da es ihr ideologisch mehr zusagt, außerhalb des Multilateralismus zu operieren. Man glaubt, nukleare Bedrohungen durch Gruppierungen eindämmen zu können, die man stärker kontrollieren kann, wie die Proliferations-Sicherheits-Initiative (PSI) und den London Club der Nuklearmaterial-Lieferanten. Das aber ist eine gefährliche Illusion. Gewiss, das Scheitern der Überprüfungskonferenz wird kaum unmittelbare Sicherheitskonsequenzen haben – die NVV-Parteien werden nicht Schlange stehen, um in den nächsten Jahren den Vertrag zu kündigen. Aber infolge dieses Minimalergebnisses erneuern mehrere Staaten ihre Kritik an der Entscheidung von 1995, den Vertrag auf unbestimmte Zeit zu verlängern, und mehr noch fangen an, ihre Einsätze zu begrenzen. Wenn der militärische Nutzen von Atomwaffen und ihre Bedeutung für die Sicherheit weiterhin von manchen Staaten auf hohem Niveau beschworen werden, werden die Habenichtse das Vertrauen darin verlieren, dass das Nichtverbreitungsregime ihren eigenen Sicherheitsinteressen genügen kann.

Dr. Rebecca Johnson ist Gründungsdirektorin des Acronym Institute in London und Herausgeberin der seit 1997 erscheinenden Zweimonatszeitschrift Disarmament Diplomacy. Übersetzung und Bearbeitung Albert Fuchs

Atomwaffensperrvertrag vor dem Aus?

Atomwaffensperrvertrag vor dem Aus?

von Jörg Welke

Vom 2. bis 28. Mai 2005 tagt in New York die nächste Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag. Die Aussicht auf einen Verhandlungserfolg im Sinne nuklearer Abrüstung sind nicht gerade vielversprechend. Auf den Vorbereitungskonferenzen in den letzten drei Jahren haben sich die teilnehmenden Staaten nicht einmal auf eine Tagesordnung einigen können. Keine der »Atommächte« ist offensichtlich bereit die Verpflichtung zur totalen nuklearen Abrüstung, die beim Abschluss des Vertrages zugesagt wurde, zu erfüllen. Setzen wir einmal voraus, dass es nicht zum »offenen Scheitern« des Vertragswerks kommt – da hieran vor allem die Atomwaffen besitzenden Staaten kein Interesse haben – so bleibt die Frage in welche Richtung ein zu erzielender Kompromiss tendiert.

New York im Mai 2020: Unglaubliche Menschenmassen feiern ausgelassen in den Straßen Manhattans, vor dem UN-Gebäude ist kein Durchkommen mehr, strahlende Gesichter wohin man auch schaut. Dann ist es soweit. Der amtierende UN-Generalsekretär verkündet feierlich: „Der letzte Atomsprengkopf auf dieser Erde ist entschärft und wird in seine Bestandteile zur Verschrottung zerlegt. Die Ära der nuklearen Bedrohung ist beendet.“ Zehn Jahre zuvor hatten sämtliche Atomwaffenstaaten mit der Auflösung ihrer nuklearen Arsenale begonnen. Nach weiteren fünf Jahren hatten sie sich während der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages (Nichtverbreitungsvertrag, NVV) auf Verhandlungen zur weltweiten atomaren Abrüstung geeinigt.

Soweit das Wunschdenken. Die Wirklichkeit ist komplizierter, die Aussicht auf einen Verhandlungserfolg im Sinne nuklearer Abrüstung während der Überprüfungskonferenz in New York schwindet zusehends.

Als der NVV 1970 in Kraft trat, hatten diejenigen Staaten, die bereits im Besitz von Atomwaffen waren, ein für sie wichtiges Ziel erreicht: Sie sahen ihr Monopol auf den Besitz dieser Waffen nun völkerrechtlich festgeschrieben. Außer China, Frankreich, Großbritannien, der UdSSR und den USA hatte fortan kein anderes Land, das dem Vertrag beitrat, das Recht, Atomwaffen zu entwickeln oder zu erwerben. Die inzwischen 182 anderen Vertragsstaaten ließen sich allerdings nicht ohne Gegenleistung zur militärisch-atomaren Enthaltsamkeit bewegen. Vielmehr sollten ihnen Materialien, wissenschaftliches Know-how und alle Technologien zur Nutzung der damals begehrten Atomenergie für zivile Zwecke zur Verfügung gestellt werden. Die Vereinbarung sah darüber hinaus für die Atomwaffenstaaten die vertragliche Pflicht vor, Verhandlungen über die Abrüstung und Abschaffung von Atomwaffen aufzunehmen.

Um zwischen militärischer und ziviler Nutzung der Atomtechnologie zu unterscheiden wurde ein Sicherheitskontrollsystem (safeguards) installiert. Mit der Kontrolle wurde die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) beauftragt. Sie inspiziert seither regelmäßig weltweit Atomanlagen, außer denjenigen der Atomwaffenstaaten und der Nicht-Unterzeichnerstaaten des NVV, das sind Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea, das 2003 aus dem Vertrag wieder ausgeschieden ist.

Die Abrüstungsverpflichtung ist im NVV nicht im Detail konkretisiert. Weder sind die einzelnen Schritte zu einer vollständigen Abschaffung von Atomwaffen festgelegt, noch wurde ein Zeitplan definiert. So stieg die Zahl der Atomwaffen zwischenzeitlich bis auf 65.000 an. Trotz diverser Abrüstungsverträge ist ihre Anzahl heute höher als zu Vertragsbeginn.

Als der NVV ausgehandelt wurde sollte er zunächst für 25 Jahre gelten, mit Überprüfungskonferenzen im Fünfjahresrhythmus. 1995 wurde anlässlich der Konferenz zur Überprüfung und Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags entschieden, die Vereinbarung unbefristet auszudehnen. Das entsprach vor allem dem Wunsch der Atomwaffenstaaten und ihrer Verbündeten, ein großer Teil der blockfreien und Nicht-Atomwaffenstaaten betrachtete den Vertrag als diskriminierend. Sie stimmten der Verlängerung trotzdem zu, weil zusätzliche Versprechungen gemacht wurden, z.B. Verhandlungen zu einem umfassenden Teststoppabkommen (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT). Dieses Abkommen wurde 1996 auch abgeschlossen, kann aber erst in Kraft treten, wenn die 44 Staaten, die über Atomenergieanlagen verfügen, es ratifiziert haben. Bislang fehlen aber die Ratifizierungen von elf Staaten, darunter die USA und China.

Bei der letzten Überprüfungskonferenz im Jahr 2000 wurde einstimmig eine Liste von 13 »praktischen Schritten« zur Abrüstung der bestehenden Atomwaffenarsenale verabschiedet. Diese Liste enthält eine Bestätigung der Verpflichtung, alle Atomwaffen abzuschaffen, wie sie bereits in Artikel VI des NVV festgeschrieben ist.

Veränderte Sicherheitslage

Auf der nächsten Überprüfungskonferenz im Mai 2005 wollen die USA diese »13 Schritte« nun als »überholt« ad acta legen. So bezeichnete Ende letzten Jahres ein offizieller Regierungsvertreter aus Washington das Abschlussdokument der 2000er Überprüfungskonferenz inklusive der 13 Schritte als »historisch«.1 Es sei ein neues Dokument notwendig, das die veränderte Lage nach dem 11. September widerspiegele.

Zwei andere internationale Vereinbarungen haben die USA bereits erfolgreich torpediert: Das Inkrafttreten des umfassenden Teststoppabkommens und den ABM-Vertrag. Der ABM-Vertrag wurde einseitig von den USA aufgekündigt, und der Atomteststoppvertrag wird in absehbarer Zeit von den USA nicht ratifiziert werden. Die USA erwägen zudem die Wiederaufnahme von Atomtests. Das Abkommen zwischen George Bush und Vladimir Putin aus dem Jahr 2002 (Moskauer Vertrag bzw. Strategic Offensive Reduction Treaty, SORT), nach dem die stationierten strategischen Atomwaffen jeweils auf 1.700 bis 2.200 zu reduzieren sind, hebt den START-II-Vertrag auf, der 2002 noch nicht in Kraft getreten war. Nach der neuen Regelung werden die »überzähligen« Atomwaffen nur »nicht gefechtsbereit« gelagert und nicht verschrottet. Das widerspricht dem 2000 verabredeten Prinzip der Unumkehrbarkeit von Abrüstungsmaßnahmen.

Die Liste gebrochener Versprechen von Seiten der Atomwaffen besitzenden Staaten ist lang und der Unmut auf Seiten der Nichtatomwaffenstaaten groß. Der Unmut wächst auch deshalb, weil das im Artikel IV des NVVzugesicherte „unveräußerliche Recht“ auf Hilfe zur zivilen Nutzung der Atomenergie von den Atomwaffenstaaten zunehmend in Frage gestellt wird. Seitdem der Iran vermutlich an einem Urananreicherungsprogramm arbeitet, wollen die USA bestimmten Ländern diese Technologie verweigern. Nach einer entsprechenden Intervention des US-amerikanischen Präsidenten auf dem Gipfel der G8-Staaten im Juni 2004 wurde dort verabredet – entgegen den Vertragsverpflichtungen – Atomtechnologie nur an Staaten zu exportieren, die durch ein Zusatzprotokoll von der IAEO als »sicher« eingestuft werden. Allerdings hätte der Iran auch in diesem Fall das Recht zum Erwerb der Technologie zur Urananreicherung, es sei denn der IAEO lägen Beweise zur Ablehnung vor.

Überprüfungskonferenz 2005

Die veränderte Sicherheitslage nach dem 11.September, weltweiter »Krieg gegen den Terrorismus«, iranisches Atomprogramm und nordkoreanische Atomwaffen: Diese Stichworte sind die unguten Vorzeichen für die Überprüfungskonferenz des NVV im Mai. Bei den drei jeweils zweiwöchigen Vorbereitungskonferenzen, die 2002-2004 stattfanden, haben sich die teilnehmenden Staaten nicht einmal auf eine Tagesordnung für 2005 einigen können.

Die Ausgangspositionen könnten unterschiedlicher nicht sein: Die USA wollen ihr 2002 mit Russland ausgehandeltes SORT-Abkommen über die Reduzierung von strategischen Atomwaffen bereits als Schritt zur nuklearen Abrüstung verstanden wissen. Kritiker weisen aber darauf hin, dass dieses Abkommen eher ein Umrüstungs-, denn ein Abrüstungs-Abkommen ist: Die USA arbeiten an der Entwicklung neuer kleiner taktischer Atomwaffen – Mininukes – und bunkerbrechenden Atombomben, die die Gefahr eines atomaren Krieges erhöhen, da sie in »begrenzten« Kriegen eingesetzt werden können. Russland will sein Arsenal modernisieren, um die geplante Raketenabwehr der USA umgehen zu können. Das geplante US-Raketenabwehrsystem führt deshalb auch nicht zur Verringerung der Wahrscheinlichkeit eines Atomwaffeneinsatzes. Im Gegenteil, es erhöht die Gefahr eines atomaren Konflikts, da es zur Vergrößerung des Atomwaffenpotenzials führt. Für die taktischen Nuklearwaffen der beiden Länder gibt es sowieso keine vertraglichen Vereinbarungen.

Die aggressive Haltung der USA ist das entscheidende Problem für die Verhandlungen: Durch die Kriege im Irak und in Afghanistan und die Drohungen gegen die von Bush so titulierten Staaten der »Achse des Bösen« provozieren die Amerikaner in diesen Ländern geradezu den Willen zur Entwicklung und zum Bau eigener Atomwaffen. Viele – auch offizielle – Verlautbarungen aus diesen Ländern dokumentieren die Ansicht, dass nur der Besitz atomarer Waffen einen gewissen Schutz gegen militärische Aktionen der USA bietet. Ganz deutlich wird das in der Haltung der nordkoreanischen Regierung.

Die offizielle deutsche Regierungslinie propagiert Abrüstungsmaßnahmen in »kleinen Schritten« ohne vorgegebenen Zeitrahmen und lehnt (bislang) den Abschluss einer Nuklearwaffenkonvention ab. Deutschland brachte in die Vorbereitungskonferenzen des NVV in den vergangenen Jahren einige nützlich Arbeitspapiere ein – u.a. zur Problematik der taktischen Atomwaffen und zur Stärkung des Vertragsregimes –, fordert aber weder den Abzug der US-amerikanischen Atomwaffen von deutschem Boden noch eine Änderung der NATO-Strategie, die nach wie vor die Möglichkeiten eines nuklearen Ersteinsatzes vorsieht (siehe Artikel von Bernd Hahnfeld in dieser W&F-Ausgabe, d. Red.).

Einmischung von unten

Umso stärker sind die nichtstaatlichen Akteure gefragt. Viele Nichtregierungsorganisationen sind weltweit vernetzt, können Strategien zur nuklearen Abrüstung entwickeln und vorschlagen, wie dies mit dem Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention 1996 bereits passiert ist.

Hiroshimas Bürgermeister, Tadatoshi Akiba, setzt sich mit der weltweiten Bürgermeisterkampagne »2020 Vision« für ein weitergehendes Vorhaben ein, als lediglich den – ohnehin unzureichenden – NVV zu retten. In New York will eine Delegation von etwa 100 BürgermeisterInnen an der Überprüfungskonferenz teilnehmen und der internationalen Staatengemeinschaft ihren Plan vorlegen: Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention jetzt beginnen, die Verhandlungen 2010 abschließen, und bis 2020 sämtliche Atomwaffen abrüsten. Gewissermaßen als »Plan B« ist die »second track diplomacy« zu verstehen: Analog des Ottawa-Prozesses für das Verbot der Landminen wird zu einer gemeinsamen Verhandlungsrunde aus »willigen« Staaten und kundigen Nichtregierungsorganisationen eingeladen. Damit sollen die »nicht-willigen« Staaten diplomatisch isoliert werden.

In Deutschland engagiert sich die Kampagne »atomwaffenfrei bis 2020« für eine Atomwaffenkonvention und eine atomwaffenfreie Welt. Die Kampagne wurde vom Trägerkreis »Atomwaffen abschaffen« ins Leben gerufen. Dieser fordert insbesondere den sofortigen Abzug aller US-Atomwaffen, die sich auf deutschem Boden befinden und die im Rahmen der so genannten nuklearen Teilhabe im Kriegsfall auch von deutschen Soldaten eingesetzt würden.

Der Trägerkreis besteht aus 40 Mitgliedsorganisationen. Um sein Ziel – eine atomwaffenfreie Welt – zu erreichen, organisiert er unter anderem öffentlichkeitswirksame Aktionen und Lobbyarbeit bei Politikern und Diplomaten. Außerdem beteiligt sich der Trägerkreis aktiv an nationalen und internationalen Kampagnen, wie der Bürgermeisterkampagne der Mayors for Peace.

Der Trägerkreis versteht sich als deutscher Teil des globalen Netzwerkes »Abolition 2000«. Auch dieses Netzwerk, das 1995 gegründet worden ist, setzt sich für die Abschaffung aller Atomwaffen ein und besteht aus über 2000 Mitgliedsorganisationen weltweit.

Die ganz andere Vision 2020

New York im Mai 2020: Zur zehnten Überprüfungskonferenz des NPT treffen sich die Vertreter der drei Staaten, die den Atomwaffensperrvertrag nicht gekündigt haben, in einem Café in der Nähe des UN-Hauptquartiers. Sie haben nicht mehr viel zu besprechen. Nach dem totalen Scheitern der siebten Konferenz 2005 entschieden sich zunächst sämtliche Staaten des Nahen Ostens, Atomwaffen zu entwickeln und zu bauen. Bereits ein Jahr später wurde nach einer Eskalation des Kaschmir-Konfliktes Bombay durch den dritten Atomwaffeneinsatz auf eine Stadt ausgelöscht. Die USA reagierten auf die andauernden »dirty bomb-Terroranschläge« im eigenen Land mit dem massiven und flächendeckenden Einsatz ihrer neu entwickelten Bunker Busters, wo auch immer Terrorzellen oder unterirdische Atomanlagen vermutet wurden. Kriegsführung mit nuklearem Material ist zur Normalität geworden, selbst in Bürgerkriegen auf dem mittlerweile so gut wie entvölkerten Kontinent Afrika finden Mini-Atombomben ihren Einsatz.

So weit die Befürchtung. Auch dieses Mal ist die Wirklichkeit vermutlich komplizierter.

Es bleibt zu hoffen, dass die Überzeugungskraft friedliebender Staaten und die Beharrlichkeit internationaler Nichtregierungsorganisationen der siebten Überprüfungskonferenz zum Erfolg verhelfen.

Anmerkungen

1) „U.S. seeks to defang NPT“ in: Japan Today, 31.12.2004.

Jörg Welke ist freier Journalist und arbeitet derzeit als Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der Deutschen Sektion der Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW).

Ein gefährlicher Widerspruch

Ein gefährlicher Widerspruch

Die Nukleardoktrin der NATO und der Nichtverbreitungsvertrag

von Karel Koster

In der Verteidigungsdoktrin der NATO gibt es eine merkwürdige Doppelbödigkeit. 16 der 19 NATO-Mitglieder sind nach der Definition des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) »Nicht-Atomwaffenstaaten«. Gleichzeitig gehören sie aber einem Bündnis an, für das nukleare Abschreckung ein elementarer Bestandteil seiner Militärdoktrin ist. Die Kritik an den Atomwaffentests von Indien und Pakistan; die aktive Unterstützung des mit Massenvernichtungswaffen begründeten Irakkriegs durch europäische NATO-Staaten; die diplomatische Offensive gegen Libyen, Iran und Nordkorea – all diese politischen Manöver lassen den Widerspruch deutlich werden, dass sich die NATO einerseits auf nukleare Abschreckung verlässt und andererseits nukleare Abschreckung durch andere Staaten verurteilt. Dieser Widerspruch behindert schon seit langem die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft um nennenswerte Fortschritte bei der Abrüstung von Atomwaffen.

Beim NATO-Gipfel in Washington D.C. 1999 wurde das neue Strategische Konzept verabschiedet, das in Artikel 62 und 63 die „wesentliche Rolle“ der „nuklearen Streitkräfte der Bündnispartner“ betont.1 Gleichzeitig wurde bei diesem Gipfeltreffen ein Kommuniqué verabschiedet, das den Weg zur Überprüfung der Nuklearpolitik der NATO öffnete. Absatz 32 hält fest: „Alle Bündnispartner sind Vertragsstaaten der zentralen Verträge für Abrüstung und die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, des Übereinkommens über das Verbot biologischer und Toxinwaffen sowie des Übereinkommens über das Verbot chemischer Waffen und treten für die vollständige Umsetzung dieser Verträge ein.“2 Auch ein Jahr später wurde im so genanntenen »Absatz 32-Bericht« der Widerspruch nicht aufgelöst. Abschnitt 4.2.1, Absatz 72 lautet: „Um den Frieden zu schützen und Krieg oder sonstige Zwangausübung zu verhindern, hält das Bündnis auf absehbare Zeit eine angemessene Mischung von nuklearen und konventionellen Streitkräften in Europa vor und wird diese nötigenfalls modernisieren, allerdings auf möglichst niedrigem Niveau.“

Und Absatz 103: „Als Mitgliedsländer des Nichtverbreitungsvertrags sind alle Bündnispartner auf den Nichtverbreitungsvertrag verpflichtet und werden die Prinzipien und Ziele des NVV als Eckstein des nuklearen Nichtverbreitungsregims und als Grundpfeiler für nukleare Abrüstung auch weiterhin strikt einhalten.“3

Die Widersprüche in der Nuklearstrategie der Allianz sind also unübersehbar. Ende 1998 sprachen sich der deutsche und der kanadische Außenminister zum ersten Mal offiziell gegen die gültigen politischen Leitlinien aus. Fischer forderte, in das neue Strategische Konzept der NATO solle ein Verzicht auf den Ersteinsatz aufgenommen werden, während Axworthy zu „neuen Initiativen“ und „neuem Denken“ aufrief, um die „offensichtliche Spannung zwischen dem, was die NATO-Bündnispartner über Proliferation sagen, und dem, was wir für Abrüstung tun“ aufzuheben.4 Obwohl sich keiner der beiden Minister durchsetzen konnte, wird in dem obigen Zitat aus dem Abschlusskommuniqué doch zumindest etwas Zweifel und Nachdenklichkeit über die Nukleardoktrin der NATO erkennbar.

Nukleare Infrastruktur der NATO und nukleare Teilhabe

Die NATO postuliert nicht nur eine Nuklearstrategie, sondern sie verfügt auch über sämtliche Mittel zu deren Umsetzung. Dazu gehören die mit ballistischen Raketen ausgerüsteten Atom-U-Boote von Großbritannien und Frankreich genauso, wie die vier Trident-U-Boote der US Navy, die unter dem Befehl des NATO Supreme Allied Commander Europe (SACEUR, Oberbefehlshaber der NATO in Europa) stehen. Noch wesentlicher ist, dass sechs Bündnisstaaten Flugzeuge bereit halten, die für den Einsatz von freifallenden Atombomben ausgerüstet sind. Dabei ist der Status dieser Bomben und Trägersysteme von besonderer politischer Bedeutung. Während die U-Boot-gestützten ballistischen Raketen (SLBM) unter der nationalen Kontrolle des jeweiligen Atomwaffenstaates stehen, haben die freifallenden Bomben in der Verfügungsgewalt der NATO-Planer ihren eigenen Status. 180 US-Atombomben werden auf bis zu 15 Luftwaffenstützpunkten in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden, der Türkei, Griechenland und Großbritannien vorgehalten.5 Zu ihrem Einsatz sind aber nicht nur Flugzeuge des US-Militärs vorgesehen sondern auch solche der Luftwaffen der sechs betroffenen Nicht-Atomwaffenstaaten. Wenn die NATO den Bündnisfall ausruft und in einen Krieg eintritt, würden diese Atombomben von NATO-Piloten ins Ziel geflogen und zwar gemäß den Plänen und Einsatztaktiken, die vom NATO-Stab ausgearbeitet wurden.

Angesichts dieser direkten Einbindung von Bündnispartnern, die selbst nicht Atomwaffenstaaten sind, stellen sich zwei Schlüsselfragen:

  • Unter welchen Bedingungen würde die NATO Atomwaffen einsetzen?
  • Lässt sich ein solcher Einsatz mit den Verpflichtungen aus dem NVV und anderen Völkerrechtsverträgen vereinbaren, die von den Mitgliedstaaten der NATO unterzeichnet wurden?

Ersteinsatzdoktrin der NATO

Gut informierten Quellen zufolge ist die Option, Atomwaffen auch gegen Staaten mit biologischem oder chemischem Waffenarsenal einzusetzen, selbst wenn diese dem NVV beigetreten sind, auch in einer überarbeiteten Fassung eines geheimen NATO-Dokuments enthalten (MC 400/2), das die Militärdoktrin des Bündnisses beschreibt und somit das Strategische Konzept in operative Begriffe übersetzt. Dieses Dokument wurde vom Nordatlantikrat am 16. Mai 2000 einstimmig verabschiedet, nachdem das Militärkomitee dem Papier am 7. Februar des Jahres zugestimmt hatte.6 Konkret heißt das, dass der Nordatlantikrat in voller Übereinstimmung mit der NATO-Doktrin befugt ist, seinen Mitgliedstaaten den Einsatz von Atomwaffen gegen solche Staaten zu empfehlen, die nicht-nukleare Massenvernichtungswaffen einsetzen, mit dem Einsatz drohen oder solche Waffen besitzen. Diese Politik stimmt überein mit der, die 1996 vom US-Generalstab verabschiedet wurde und Atomschläge auch gegen Staaten oder sogar nur »Akteure« zulässt, die Massenvernichtungswaffen gegen US-Ziele einsetzen oder den Einsatz vorbereiten.7

Verpflichtungen aus dem NVV

Nach Artikel I und II des Nichtverbreitungsvertrags dürfen Atomwaffen von den Unterzeichnerstaaten nicht an andere weitergegeben oder angenommen werden.8 Würden also im Rahmen der nuklearen Teilhabe im Kriegsfall tatsächlich Atomwaffen an einen »teilhabenden« Staat weitergegeben, dann wäre dies illegal. Vertreter der entsprechenden Staaten widersprechen dieser Interpretation.

Zum einen, so wird angeführt, wurde bei den Vertragsverhandlungen 1968 eine Ausnahme für Artikel I und II definiert, die auf der Annahme basierte, dass die Verbotsregelungen des Vertrags nur für normale Friedenszeiten konzipiert wurden und nicht für die Bedingungen eines allgemeinen Krieges gelten. Diese Linie verfolgte z.B. der belgische Außenminister Louis Michel. Auf eine parlamentarische Anfrage zur Legalität eines NATO-Angriffs auf Staaten, die über Massenvernichtungswaffen verfügen, antwortete er, dass der NVV „in Kriegszeiten nicht gilt. Gemäß der Wiener Konvention [über das Recht der völkerrechtlichen Verträge von 1969] sind rüstungsbezogene Verträge oder Verträge mit entsprechenden Auswirkungen während eines Krieges ausgesetzt.“9

Sein niederländischer Kollege Jozias van Aartsen, gab dafür keine Rückendeckung. Er antwortete auf die selbe Frage: „Ich stimme dieser Aussage nicht zu. Über diese Frage gab es auf Beamtenebene einen Meinungsaustausch mit Belgien. Die (niederländische) Regierung vertritt die Haltung, dass sich nicht einmal zu Kriegszeiten die Frage einer Verletzung des Nichtverbreitungsvertrags stellt.“10 Niederländische Diplomaten bestanden auch bei der NVV-Überprüfungskonferenz im Jahr 2000 darauf, dass einerseits der NVV in Kriegszeiten seine Gültigkeit behalte und andererseits Artikel I und II von der NATO auch während eines Konflikts nicht verletzt würden, da die Übergabe der Kontrolle von Atomwaffen an einen »teilhabenden« Staat gar nicht das Thema sei. Der Pilot, das Flugzeug und die Kernsprengvorrichtung wäre jederzeit unter dem Befehl von SACEUR, und die Position sei schließlich immer mit einem Amerikaner besetzt. Damit sei sichergestellt, dass es nicht zu einer Weitergabe an einen anderen Staat komme: Weder die NATO noch der Pilot des NATO-Bündnispartners hätten die Befehlsgewalt über die Bombe.

Negative Sicherheitsgarantien

Diese etwas verquere Logik wird auch auf die »negativen Sicherheitsgarantien« gegenüber den NVV-Mitgliedstaaten übertragen. Als der Nichtverbreitungsvertrag bei der Überprüfungskonferenz 1995 unbegrenzt verlängert wurde, verlangten die Mitgliedstaaten für ihren dauerhaften Verzicht auf Atomwaffen von den Atomwaffenstaaten Garantien, dass sie nie mit Atomwaffen angegriffen würden. In Resolution 984 (1995) des UN-Sicherheitsrates wurden solche Garantien abgegeben. Offizielle Dokumente der russischen und US-amerikanischen Regierungen stellen diese Selbstverpflichtung aber in Frage. Am 10. Januar 2000 bestätigte die Russische Föderation offiziell die »Ersteinsatz«-Option, die das Land 1993 zum ersten Mal in die Doktrin eingeführt hatte.11 In den USA stellte der US-Generalstab 1996 fest, dass „offensive Operationen gegen feindliche Massenvernichtungswaffen und Trägersysteme durchgeführt werden sollten, sobald Feindseligkeiten unvermeidbar werden oder beginnen.“12

Die Überprüfung der US-Nukleardoktrin (Nuclear Posture Review), die Ende 2001 dem Kongress vorgelegt wurde, bestätigt genau so wie die Nationale Strategie zur Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen vom Dezember 2002 diese offensive Doktrin der USA.13

Natürlich sind die Nukleardoktrinen der NATO und der USA nicht identisch. Historisch gesehen wurde die Nukleardoktrin der USA in der Regel später von der NATO übernommen. Schließlich handelt es sich bei der »nuklearen Teilhabe« um amerikanische Atomwaffen. Der Nuclear Posture Review verweist in einem Absatz sogar ausdrücklich auf die Nukleardoktrin der NATO.14 Und im Juni 2002 einigten sich die NATO-Verteidigungsminister bei einem Treffen der Nuklearen Planungsgruppe auf eine „Weisung zur weiteren Anpassung des NATO-Dispositivs an Flugzeugen mit dualer Einsatzfähigkeit.“15

Außerdem hat sich die NATO selbst nicht offiziell auf die negativen Sicherheitsgarantien gemäß UN-Resolution 984 verpflichtet. Dazu der er niederländische Außenminister Jozias van Aartsen: „Zwischen der relevanten NATO-Politik und den negativen Sicherheitsgarantieren der Atomwaffenstaaten gibt es fraglos einen Widerspruch. Das liegt daran, dass die Entscheidung über einen Einsatz von Atomwaffen in der Verantwortung der Atomwaffenstaaten liegt und nicht bei der NATO. Die Atomwaffenstaaten sind auf die negativen Sicherheitsgarantieren verpflichtet, die sie selbst abgegeben haben.“16

Kritik an der Nuklearpolitik

Diese ausweichende und besserwisserische Argumentation blieb bei den Mitgliedstaaten des NVV nicht unbemerkt. Die 113 blockfreien, im Non-Aligned Movement (NAM) zusammengeschlossenen Staaten riefen bei der NVV-Vorbereitungskonferenz 1998 die Atomwaffenstaaten dazu auf, „von der nuklearen Teilhabe durch Atomwaffenstaaten, Nicht-Atomwaffenstaaten und Nicht-NVV-Mitgliedstaaten zu militärischen Zwecken abzusehen, und zwar unabhängig von der Art der Sicherheitsvereinbarungen.“17 Bei der NVV-Vorbereitungskonferenz 1999 griff Ägypten ausdrücklich die nukleare »Teilhabe« der NATO an: „Weder Artikel I noch Artikel II lassen irgendwelche Ausnahmen zu. Ungeachtet der klaren und eindeutigen Formulierung der Artikel I und II des NVV werfen die Vereinbarungen über die sogenannte »nukleare Teilhabe« der NATO und die entsprechenden Konzepte zur nuklearen Abschreckung … erhebliche Zweifel an der Vertragstreue einiger NATO-Mitglieder bezüglich dieser beiden Artikel auf.“18

Weit verbreitet ist die Sorge, dass auf Grund der NATO-Erweiterung auch die Zahl der Staaten steigt, die in die Nuklearstruktur des Bündnisses eingebunden sind. Südafrika beispielsweise vertrat bei der NVV-Vorbereitungskonferenz 1997 den folgenden Standpunkt: „Die geplante Erweiterung der NATO würde mit sich bringen, dass mehr Nicht-Atomwaffenstaaten am Training für einen Atomwaffeneinsatz teilnehmen … (und) dass ihre Verteidigungspolitik ein Element von nuklearer Abschreckung aufweist.“19 Auch wenn auf dem Territorium von Polen, Ungarn oder der Tschechischen Republik keine Atomwaffen stationiert sind, sind diese wie alle NATO-Staaten mit Ausnahme Frankreichs in die Planung für einen Atomwaffeneinsatz im Kriegsfall eingebunden. Die NATO hat auch nie unverbrüchliche Garantien abgegeben, dass auf den Territorien der neuen Mitgliedstaaten keine Atomwaffen stationiert würden sondern lediglich erklärt, dass eine solche Stationierung nicht geplant sei.

Diese Tendenz wird durch die jährlich neu in die UN-Generalversammlung eingebrachte Resolution »Schritte zur atomwaffenfreien Welt: eine neue Agenda« der New Agenda Coalition (NAC) bestätigt. Die NAC-Resolution mahnt jeweils eindeutige Schritte zur nuklearen Abrüstung an und betont, dass „jeder Artikel des NVV jederzeit und unter allen Umständen für die entsprechenden Vertragsparteien bindend ist.“ Bei der Generalversammlung 1999 beispielsweise stimmten die US, Großbritannien, Frankreich, Polen und Ungarn gegen die Resolution, während sich die übrigen NATO-Länder enthielten.20

Im Herbst 2000 enthielt die NAC-Resolution etwas schwächere Formulierungen aus dem Abschlussdokument der NVV-Überprüfungskonferenz vom Frühjahr des Jahres und fand die Zustimmung aller NATO-Länder außer Frankreich, das sich der Stimme enthielt. Seither konnten sich bis auf Kanada die meisten NATO-Mitglieder wieder nur zur Enthaltung durchringen, und die USA, Frankreich und Großbritannien stimmten mit nein. Das nukleare Abschreckungspotential dieser Länder sowie die Nukleardoktrin der NATO verhindern eine Unterstützung der NAC.

Gibt es eine Option auf Änderungen der NATO-Politik?

Somit stellt sich die Frage, ob die vorsichtige Kritik, die einzelne NATO-Staaten in der Vergangenheit bei mehreren Gelegenheit äußerten, in einen substanzielleren Prozess umgesetzt werden kann. Leider deuten inoffizielle Äußerungen niederländischer Diplomaten und Politiker in den letzten Jahren darauf hin, dass sich der Prozess vermutlich auf Transparenz und vertrauensbildende Maßnahmen beschränken wird. Das wäre an sich schon eine positive Entwicklung, angesichts des grundlegenden Widerspruchs zwischen der Nuklearpolitik der NATO und den Verpflichtungen aus dem NVV greift eine solch eng gefasste Reformagenda aber eindeutig zu kurz. In jüngster Zeit hat sich von den NATO-Staaten lediglich noch Kanada mit kritischen Kommentaren vorgewagt. Deutschland stellte bei der NVV-Vorbereitungskonferenz 2002 in New York ein eigenes Positionspapier vor. Ein Positionspaper von Belgien, Norwegen und den Niederlanden folgte bei der Vorbereitungskonferenz 2003 in Genf.21

Wenn man diese Papiere für bare Münze nimmt, dann gibt es im Bündnis eine gewisse Bereitschaft, ernsthafte Schritte in die Richtung zu gehen, die im Abschlussdokument der NVV-Überprüfungskonferenz 2000 vorgegeben sind. Dieses Dokument beinhaltet das „rückhaltlose Versprechen der Atomwaffenstaaten zur vollständigen Abrüstung ihrer Atomwaffenarsenale im Rahmen der nuklearen Abrüstung, zu der sich alle Vertragsstaaten gemäß Artikel VI verpflichtet haben“. So eindeutig war das zuvor noch niemals ausgedrückt worden. Überdies wurde das Versprechen durch klar definierte politische Zwischenschritte konkretisiert, so z.B. der Verpflichtung, „bezüglich der nuklearen Abrüstung sowie der nuklearen und anderen damit zusammenhängenden Rüstungskontroll- und Abrüstungsmaßnahmen“ das „Prinzip der Irreversibilität“ anzuwenden. Außerdem definiert das Abschlussdokument „Schritte aller Kernwaffenstaaten zur nuklearen Abrüstung, und zwar so, dass die internationale Stabilität gefördert wird und dass sie auf dem Prinzip der ungeschmälerten Sicherheit für alle basiert:

Weitere Bemühungen der Kernwaffenstaaten, ihre Kernwaffenarsenale einseitig zu verringern.

  • Gesteigerte Transparenz seitens der Kernwaffenstaaten hinsichtlich der Kernwaffenfähigkeiten und der Umsetzung von Vereinbarungen gemäß Artikel VI sowie als freiwillige vertrauensbildende Maßnahme zur Unterstützung weiterer Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung.
  • Die auf einseitige Initiativen gegründete weitere Reduzierung nicht-strategischer Kernwaffen als wesentlicher Bestandteil der nuklearen Abrüstung und des [allgemeinen] Abrüstungsprozesses.
  • Konkret vereinbarte Maßnahmen, um die Einsatzbereitschaft der Kernwaffensysteme weiter zu verringern.
  • Eine verminderte Rolle von Kernwaffen in der Sicherheitspolitik, um die Gefahr zu verringern, dass diese Waffen jemals eingesetzt werden, und um den Prozess ihrer völligen Abschaffung zu erleichtern.
  • Die möglichst rasche Beteiligung aller Kernwaffenstaaten an dem Prozess, der zur völligen Abschaffung ihrer Kernwaffen führt.“22

Bezogen auf die begrenzte Überprüfung, die in der NATO offensichtlich momentan durchgeführt wird, würde das Prinzip der Irreversibilität verhindern, dass Hunderte taktischer Atomwaffen der USA, die in den vergangenen zehn Jahren aus Europa abgezogen wurden, für die NATO wieder in Dienst gestellt würden.

Dennoch gibt es berechtigte Zweifel am Willen der NATO-Regierungen, die freifallenden US-Atombomben aus Europa abzuziehen. Die Ambiguität der NATO-Doktrin hat sich bis hin zur Tagung des Nordatlantikrates im Dezember 2003 fortgesetzt. Das entsprechende Kommuniqué konstatiert:

„9. Die in Europa stationierten und der NATO zur Verfügung stehenden Nuklearkräfte bilden weiterhin ein essentielles politisches und militärisches Bindeglied zwischen den europäischen und nordamerikanischen Mitgliedern der Allianz. …

10. … Wir bekräftigten unser uneingeschränktes Eintreten für den NVV und die Zielsetzung seiner weltweiten Achtung. Wir anerkannten den NVV als den Eckpfeiler des globalen nuklearen Nichtverbreitungsregimes und bekräftigten, dass alle Verpflichtungen aus diesem Vertragswerk für uns weiterhin Geltung haben. …“23

Mehr noch: Die Unterstützung für die im Jahr 2000 bei der Überprüfungskonferenz vereinbarten und oben auszugsweise zitierten »Schritte für systematische und progressive Bemühungen« zur Abrüstung schwindet innerhalb der NATO stetig, mehr oder weniger im Gleichschritt mit dem Gewicht, das die republikanische US-Regierung auf das Verbot der Verbreitung von Atomwaffen in weitere Länder legt.

Trotzdem ist es möglich, dass Verschiebungen in der Politik der NATO-Mitgliedstaaten dazu führen, dass es mittelfristig zu einem Abzug der substrategischen Atomwaffen der USA von den Territorien der europäischen NATO-Staaten kommt.

Dann steht die »Atomwaffen abschaffen«-Bewegung aber vor einer neuen Herausforderung: den Nuklearstreitkräften Großbritanniens und Frankreichs. Französische Minister haben bereits offen angedeutet, dass das Nukleardispositiv der beiden Länder in ein europäisches nukleares Abschreckungspotential eingebracht werden könnte.24 Die Übergabe der Verfügungsgewalt über das bislang unter nationalem Befehl stehende Nukleardispositiv an eine neue Einheit, nämlich an ein supranationales europäisches Entscheidungsgremium, wäre dann eine neue Verletzung des Nichtverbreitungsvertrags. In diesem Fall würde der Abzug der für die NATO vorgesehenen substrategischen Atomwaffen der USA leider nicht das Ende des atombewaffneten Europa markieren, sondern nur einen neuen Anfang.

Schlussbemerkung

Da es gegen Atomwaffen keine Massenproteste gibt, kann offensichtlich nur Druck innerhalb der NATO die drei Atomwaffenstaaten des Bündnisses davon überzeugen, dass internationale Rüstungskontrolle nicht nur eine brauchbare Option ist, sondern letztlich sicherer und rationaler als etwaige Versuche, dem Rest der Welt unilaterale Grundsätze gegen die Verbreitung von Atomwaffen aufzuzwingen. In diesem Sinne wäre es hilfreich, wenn die NATO-Staaten, die bereits in anderem Kontext mehr Flexibilität bewiesen haben – Belgien, Deutschland, die Niederlande und Norwegen – dem Beispiel Kanadas folgen und sich laut und deutlich für eine Reform der Atomwaffenpolitik aussprechen würden. Eine starke Stimme für Reformen bietet die Chance, dass tatsächlich ernsthafte Schritte gegen ein neues nukleares Wettrüsten unternommen werden.

Anmerkungen

1) NATO Press Release NAC-S(99)65: Das Strategische Konzept des Bündnisses. 24.04.99. www.nato.int/docu/pr/1999/p99-065d.htm.

2) NATO Press Release NAC-S(99)64: Eine Allianz für das 21. Jahrhundert. Kommuniqué der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer der Nordatlantischen Allianz auf ihrem Gipfeltreffen am 24.04.99. www.nato.int/docu/pr/1999/p99-064d.htm.

3) NATO Press Release M-NAC-2(2000)121: Report on Options for Confidence and Security Building Measures (CSBMs), Verification, Non-Proliferation, Arms Control and Disarmament. Dez. 2000; www.nato.int/docu/pr/2000/p00-121e/home.htm.

4) Der Spiegel, 21.11.98, Interview mit J. Fischer. Das Zitat von Lloyd Axworthy stammt aus seiner Rede beim NATO-Rat am 8.12.98; www.nato.int/docu/speech/1998/s981208i.htm.

5) M. Butcher, O. Nassauer, T. Padberg und D. Plesch: Questions of Command and Control – NATO, Nuclear Sharing and the NPT. PENN (Project on European Nuclear Non-Proliferation), Research Report 2000-1; www.bits.de/public/researchreport/rr00-1-1.htm.

6) Antwort von Außenminister Jozias van Aartsen auf eine Anfrage im niederländischen Parlament am 17.07.00.

7) US Joint Chiefs of Staff: Doctrine for Joint Theater Nuclear Operations. Joint Pub 3-12.1, Washington, 09.02.96; www.dtic.mil/doctrine/jel/new_pubs/jp3_12_1.pdf.

8) Artikel I des Nichtverbreitungsvertrags lautet: „Jeder Kernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben und einen Nichtkernwaffenstaat weder zu unterstützen noch zu ermutigen noch zu veranlassen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper herzustellen oder sonstwie zu erwerben oder die Verfügungsgewalt darüber zu erlangen.“

9) Antwort von Louis Michel auf eine mündliche Anfrage im belg. Parlament am 11.05.2000.

10) Jozias van Aartsen, schriftl. Antwort auf eine Anfrage vom 14.06.2000. Die Verwirrung über die Verpflichtungen aus dem NVV in Friedens- und in Kriegszeiten hat ihren Ursprung vielleicht in der Frage, wie »Krieg« definiert ist. PENN Research Report 2000-1, op.cit., S. 25.

11) (Russian) National Security Concept, approved by Presidential Decree 1300 of December 17, 1999; issued in Presidential Decree 24 of January 10, 2000. Abgedruckt in: Disarmament Diplomacy, No. 43, Jan.-Feb. 2000; www.acronym.org.uk/dd/dd43/43nsc.htm.

12) US Joint Chiefs of Staff, op.cit.

13) US-Verteidigungsministerium: Nuclear Posture Review Report, dem US-Kongress übermittelt am 31.12.01; www.globalsecurity.org/wmd/library/policy/dod/npr.htm. White House: National Strategy to Combat Weapons of Mass Destruction. Dez. 2002; www.whitehouse.gov/news/releases/2002/12/WMDStrategy.pdf.

14) Nuclear Posture Review, op.cit, S. 44: „Flugzeuge mit dualer Einsatzfähigkeit und Atomwaffen zur Unterstützung der NATO. Das [US]-Verteidigungsministerium strebt im Finanzjahr 2002 keine Änderung des aktuellen Dispositivs an, wird aber beide Themenbereiche einer Überprüfung unterziehen um festzustellen, ob zur Anpassung an die sich verändernde Gefahrenlage eine Änderung des aktuellen Dispositivs erforderlich ist. Eine NATO-Überprüfung der in Europa verfügbaren dual einsetzbaren Flugzeuge der USA und des Bündnisses ist bereits geplant, und die Empfehlungen sollen den Ministern im Sommer 2002 vorgelegt werden. Dual einsetzbare Flugzeuge und dislozierte Waffen sind wichtig, um die nukleare Abschreckungsstrategie der NATO auch weiterhin zu gewährleisten, und etwaige Änderungen sind im Bündnis zu diskutieren.“

15) NATO Press Release (2002)071: Gem. Kommuniqué des Verteidigungsplanungsausschusses (DPC) und der Nuklearen Planungsgruppe (NPG). Treffen des Nordatlantikrats auf Ebene der Verteidigungsminister, Brüssel, 06.06.02; www.nato.int/docu/pr/2002/p02-071d.htm.

16) Antwort von Jozias van Aartsen auf eine schriftliche Parlamentanfrage vom 14.06.2000.

17) Working Paper des Non-Aligned Movement zur NVV-Vorbereitungskonferenz, Genf, 28.04.98.

18) Stellungn. von Botschafter Mounir Zahran, NVV-Vorbereitungskonferenz, NY, 12.05.99.

19) Stellungnahme von Botschafter K. J. Jele, NVV-Vorbereitungskonferenz, NY, 08.04.97.

20) Die Resolution wurde im Ersten Kommitee mit 90 Ja, 13 Nein, 37 Enthaltungen angenommen (L.18), und in der UN-Generalversammlung mit 111 Ja, 13 Nein und 39 Enthaltungen (54/55G). Siehe Disarmament Diplomacy No. 41, November 1999.

21) Die Dokumente der NVV-Konferenzen der letzten Jahren sind über: www.basicint.org bzw. www.reachingcriticalwill.org zugänglich.

22) Final Document, 2000 Review Conference of the Parties to the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, NPT/CONF.2000/28 (Vol. I, Part I and II), 22.05.2000.

23) NATO Press Release (2003) 147: Kommuniqué des Verteidigungsplanungsausschusses und der Nuklearen Planungsgruppe – Treffen des Nordatlantikrats auf Ebene der Verteidigungsminister, 01.12.03; www.nato.int/docu/pr/2003/p03-147d.htm.

24) France Floats Idea of Single European Nuclear Force, Reuters, 12.07.2000.

Karel Koster ist im Rahmen des Project »European Nuclear Non-Proliferation« (PENN) Projektleiter der Working Group Eurobomb, Nederlande.
Übersetzung, einschließlich der Zitate aus nicht-deutschsprachigen Quellen, von Regina Hagen

Stühlerücken auf der Titanic?

Stühlerücken auf der Titanic?

von Xanthe Hall

Rebecca Johnson, langjährige Beobachterin der diplomatischen Verhandlungen in Genf, beschrieb die Arbeit der Diplomaten einmal als ein „rearranging deckchairs on the Titanic“. Ein Bild, dass zur Tagung des Vorbereitungskomitees zur Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags (NPT PrepCom, Genf, 28. April bis 9. Mai 2003) passt: Außer einem verbalen Schlagabtausch zwischen USA und Iran dominierte diplomatische Gelassenheit, so als ob niemand zur Kenntnis nehmen will, dass der Atomwaffensperrvertrag langsam aber sicher auf seinen Untergang zusteuert. Nordkoreas Kündigung ist hier nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Durch die US-Strategie des präventiven Krieges, die Aufhebung der Sicherheitsgarantien, die Entwicklung neuer Atomwaffen und die Nichterfüllung der Verpflichtung der A-Waffen besitzenden Staaten abzurüsten, droht dem Vertrag das endgültige Aus.

Es ist unverkennbar, dass das Vertragsgebäude an allen Ecken bröckelt und die Abrüstung bereits seit Jahren stagniert. Verglichen mit der Notwendigkeit gibt es nur wenige Initiativen zur Rettung des Vertrages, darunter allerdings einige kreative Ansätze für einen pragmatischen Neubeginn.

Sicherheitsgarantien

Ein Arbeitspapier Neuseelands, Brasiliens, Ägyptens, Irlands, Mexikos, Schwedens und Südafrikas (der »New Agenda Coalition« / NAC) beschäftigte sich vor allem mit der Frage der Sicherheitsgarantien der Vertragsparteien. Seit Jahren gibt es die Forderung einiger atomwaffenfreier Staaten, die »negativen« Sicherheitsgarantien (Die Zusicherungen der Atomwaffenstaaten, atomwaffenfreie Staaten nicht atomar anzugreifen ) in einem juristisch verbindlichen Abkommen festzuschreiben. Jetzt legte die NAC einen Entwurf für ein Zusatzprotokoll zum Vertrag vor, das diese Sicherheitsgarantien regelt. Damit wurde der Druck auf die USA erhöht, deren Sicherheitsdoktrin auch den Einsatz von A-Waffen gegen atomwaffenfreie Staaten vorsieht sowie gegen Staaten, die im Verdacht stehen, B- oder C-Waffen zu besitzen. Eine Position, die im klaren Widerspruch zu den jetzigen Sicherheitsgarantien steht. Als Anreiz für Unterzeichner des Vertrages sollen die Sicherheitsgarantien zu einem attraktiveren Angebot als die zivile Nutzung der Atomenergie werden: „Sicherheitsgarantien gehören rechtmäßig denen, die auf die Atomwaffenoption verzichtet haben und nicht denen, die ihre Optionen offen halten“ heißt es im Papier.

Vertragsverstöße

Nach dem Vorwurf des Vertragsbruchs gegen den Irak und Nordkorea stand auf dieser Konferenz der Iran unter Beschuss der USA. Die US-Diplomaten behaupteten, dass sich hinter der iranischen Urananreicherungsanlage, die jüngst der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) deklariert wurde, ein geheimes Atomwaffenprogramm verberge. Der iranische Vertreter antwortete mit einer Anklage über die Nichterfüllung der Vertragsverpflichtungen durch die USA und erinnerte daran, dass die USA als einziger Staat Atomwaffen eingesetzt habe.

Die Befürchtung, dass der Kündigung Nordkoreas weitere folgen könnten und dass der Iran sich tatsächlich als neue Atomwaffenmacht etablieren könnte, ist weitverbreitet. Nicht nur deswegen fordert Deutschland als Lehre aus der nordkoreanischen Kündigung eine Änderung der Vertragskündigungsprozedur. Botschafter Heinsberg schlug vor, dass ein Staat vor einer Kündigung sich mit anderen Vertragsparteien auf einer umgehend einzuberufenden Sonderkonferenz beraten müsse. Es gelte Wege und Maßnahmen zu finden um Kündigungen zu vermeiden und die Sicherheitsbedürfnisse betroffener Länder zu berücksichtigen.

Frankreich und Deutschland riefen zudem dazu auf, ein Sondertreffen des Sicherheitsrates auf der Ebene der Staats- bzw. Regierungschefs zum Thema Weiterverbreitung der Atomwaffen und Vertragsverstöße einzuberufen.

Transparenz der Abrüstungsmaßnahmen

Die Initiativen zu Themen wie Sicherheitsgarantien, Transparenz, NGO-Teilnahme, Prozessverstärkung, taktische Atomwaffen, Bildung und Verifizierung wurden auf der Konferenz meistens in Arbeitspapieren vorgestellt und hinter verschlossenen Türen diskutiert. Mehr Transparenz ist da generell notwendig, vor allem aber, wenn es um die Abrüstungsmaßnahmen selbst geht. Und auch hier gab es einige Initiativen.

Kanada setzte sich in einem Arbeitspapier für mehr Transparenz bei der Erfüllung des Artikels VI (Abrüstung aller Atomwaffen) und der 13 Schritte ein, die die Überprüfungskonferenz 2000 verabschiedet hatte. Alle Staaten hatten sich im Schritt 12 verpflichtet, über ihre Maßnahmen zur Abrüstung und zur Sicherung des Vertrages zu berichten. Die USA reichten ein »Informationspapier« ein, das sich auf das Abkommen von Moskau (SORT) konzentriert. Dieses Abkommen wurde wiederum von der NAC und China kritisiert, da es keine dauerhaft verifizierbaren Abrüstungsmaßnahmen enthalte. Kanada schlug jetzt vor, dass die Atomwaffenstaaten über die genaue Zahl, Typen und Sprengkraft ihrer Atomwaffen, die Zahl der Trägersysteme, welche Waffen auf Trägersystemen montiert sind und welche nicht sowie den Stationierungs- und Bereitschaftsstatus der Waffen, berichten müssen. Alle Staaten sollen über den Transfer und Erwerb nuklearer Materialien, ihrer Lagerung und ihre Atomanlagen informieren. Laut Kanada ist eine solche Transparenz für die Verwirklichung der Ziele des Vertrages wesentlich.

NGO-Teilnahme

Beim diesjährigen Treffen wurde die Teilnahme der NGOs auf die Eröffnungsstatements, ihre eigenen Präsentationen, die Präsentation der Internationalen Atomenergiebehörde und das Schlussplenum begrenzt. Alle anderen Verhandlungen blieben den NGOs verschlossen, in den Besitz der Arbeitspapiere kamen sie nur mittels besonderer Beziehungen. Nach wie vor wird bei der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags den NGOs nicht der Platz eingeräumt wie es in anderen Bereichen der UN selbstverständlich ist. Ein Zustand, für dessen Veränderung sich besonders Kanada einsetzt. Es legte ein »Hintergrundpapier« vor, das u.a. vorschlägt:

  • NGO-Präsentationen als permanenter Bestandteil der NPT-Treffen;
  • den NGOs Interventionen zu ermöglichen;
  • den Zugang der NGOs zu mehr Diskussionsforen;
  • den Zugang der NGOs zu allen Papieren;
  • die Aufnahme von NGO-Vertreter in die Delegationen aller Staaten

Diese Initiative sowie alle anderen werden bis zur Überprüfungskonferenz 2005 in New York weiter diskutiert und ggf. weiter entwickelt, wenn sie Anklang finden. Dort wird erst entschieden, ob sie im Schlussbericht als beschlossene Maßnahmen erscheinen (wie die 13 Schritte bei der Konferenz 2000).

Abolition 2000

VertreterInnen der Mitgliedsorganisationen des globalen Netzwerks für die Abschaffung aller Atomwaffen (Abolition 2000, mit über 2.000 Mitgliedsorganisationen) trafen sich regelmäßig während der zwei Wochen des NPT-PrepComs. Aus dem jährlichen Treffen des Netzwerks am 3. Mai in Genf entstanden neue Initiativen, z.B. ein Projekt für Abrüstungsausbildung (Disarmament Education); eine neue Kooperation mit »BürgermeisterInnen für den Frieden« (ein Projekt des Hiroshima-Bürgermeisters) für eine Beschleunigung des Abrüstungsprozesses und ein erhöhtes Interesse für den NPT auf kommunaler Ebene; die Einführung des nuklearen Themas bei den Sozialforen sowie für ein neues »World Court Project« zum juristischen Status von Präventivenkriegen und vieles mehr.

Alle Statements, Arbeitspapiere und die Zusammenfassung des Vorsitzenden des NPT PrepCom sind bei www.reachingcriticalwill.org abzurufen.

Xanthe Hall ist Abrüstungsreferentin der IPPNW. Sie ist Mitbegründerin von Abolition 2000, ein globales Netzwerk für die Abschaffung aller Atomwaffen und Co-Koordinatorin des deutschen Trägerkreises »Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!«

Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!

Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!

Zum Hintergrund einer Bewegung

von Wolfgang Sternstein

Als Anfang dieses Jahres Einzelheiten der neuen Nuklearwaffenplanung der Bush-Administration bekannt wurden, dürfte vielen ZeitgenossInnen (wieder einmal) gedämmert haben, dass die »atomare Drohung« (Günther Anders) keineswegs gebannt ist. Mit dem zwischenzeitlich geschlossenen »Abrüstungsvertrag« zwischen den USA und Russland hat sich jedoch vermutlich die Decke des Nicht-wissen-Wollens oder des fahrlässigen Vertrauens in die Regierenden schon wieder zugezogen. Auf kleiner Flamme aber glüht der Widerstand gegen das fortgesetzte perverse Spiel mit der »absoluten Waffe« (B. Brodie) weiter. Der folgende Bericht eines Exponenten dieses Widerstands ist auch ein Beitrag gegen die Schwankungen des öffentlichen Problembewusstseins.
Ein sonniger Frühlingstag im April. Eine Gruppe Wanderer durchstreift den Wald auf dem Weg ins nächstgelegene Gasthaus. So zumindest scheint es. Doch der Schein trügt. Denn plötzlich verwandeln sich die Wanderer in FriedensaktivistInnen, deren Ziel nicht ein Gasthaus, sondern der Fliegerhorst Büchel (Südeifel) ist, auf dem zehn amerikanische Atombomben lagern, die im Kriegsfall von deutschen Tornado-Piloten ans Ziel geflogen werden sollen.

Eine Aktion

Die fünf Frauen und zwei Männer, begleitet von einem Fotografen und einem Beobachter, überqueren mit raschen Schritten einen schmalen Wiesenstreifen und tauchen in ein Waldstück unmittelbar am Zaun des Fliegerhorsts ein. Sie durchtrennen den Zaun von unten nach oben und schieben ihn auf dem Spanndraht nach links und rechts zur Seite, so dass ein breiter Durchgang entsteht. Danach betreten sie das Gelände und entfalten auf der parallel zum Zaun verlaufenden Straße Transparente mit den Texten: Völkerrecht achten – Atomwaffen abschaffen Atombomben in Büchel = 100 X Hiroshima Ziviler Ungehorsam gegen Atomwaffen Deutsche Tornados mit US-Atomwaffen – bereit zum Massenmord

Sie singen, begleitet von einer weithin hörbaren Trompete, das bekannte Friedenslied: „Nach dieser Erde wäre da keine, die eines Menschen Wohnung wäre. Darum Menschen achtet und trachtet, dass sie es bleibt. Wem denn wäre sie ein Denkmal, wenn sie still die Sonne umkreist?“

Nach einigen Minuten zeigt sich in der Ferne ein Bundeswehr-PKW. Der Fahrer hält an und ruft offenbar über Funk Verstärkung herbei. Jedenfalls nähern sich von beiden Seiten Bundeswehrfahrzeuge. Feldjäger und Soldaten steigen aus. Sie betrachten die Gruppe mit verhaltener Neugier. Der Fahrer des PKW tritt auf die Gruppe zu und stellt sich als stellvertretender Kommodore des Tornado-Geschwaders vor. Später trifft die Polizei ein. Die Atmosphäre ist entspannt, denn die Aktion war dem Kommodore, der Polizei, dem Bundeskanzler, dem Verteidigungs- und dem Außenminister sowie dem Botschafter der USA brieflich angekündigt und begründet worden. Mit erheblichem Aufwand versuchten Polizei und Bundeswehr sie zu verhindern, was ihnen letztlich aber doch nicht gelang.

Ein Bundeswehrbus bringt die AktivistInnen zur Polizeiwache nach Cochem, wo sie erkennungsdienstlich behandelt werden, soweit sie die Prozedur nicht schon bei früheren Aktionen hinter sich gebracht haben. Sie müssen mit einer Geldstrafe wegen Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch rechnen. Zwei Mitglieder der Gruppe haben längere Gefängnisstrafen zu gewärtigen. Sie waren wegen einer früheren Aktion bereits zu einer Haftstrafe verurteilt worden, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

In der Pressemitteilung der Gruppe heißt es: Wie allgemein bekannt, seien in Büchel zehn amerikanische Atombomben stationiert. Darin liege ein Verstoß gegen Art. II des Nichtverbreitungsvertrags, der die Bundesrepublik verpflichte, Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen. Die nukleare Teilhabe der Bundeswehr stelle ohne Zweifel eine mittelbare Verfügungsgewalt über Kernwaffen dar. Die Bundesregierung verhalte sich folglich permanent völkerrechtswidrig. Sie verstoße darüber hinaus gegen Art. VI des Vertrags, der jede Vertragspartei zu Verhandlungen verpflichte „über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung… unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle“.

Die gewaltfreie Aktion der Gruppe richtete sich darüber hinaus gegen die Pläne der Bush-Administration, Mini-Nukes als Gefechtsfeldwaffen einzusetzen. Damit würde nach ihrer Einschätzung der Damm zwischen dem Atomkrieg und dem konventionellen Krieg endgültig eingerissen.

Das Ziel der AktivistInnen ist eine atomwaffenfreie Bundesrepublik als Deutschlands Beitrag zu einer atomwaffenfreien Welt. Deshalb fordern sie den Abzug der in Büchel und Ramstein (Rheinland-Pfalz) gelagerten insgesamt 64 Atombomben mit einer Sprengkraft von 600 Hiroshimabomben. Sie können sich auf die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung berufen. Eine repräsentative Umfrage des forsa-Instituts vom Juni 1998 kam zu dem Ergebnis: 93 Prozent der Bürger halten Atomwaffen für grundsätzlich völkerrechtswidrige Waffen, die weder produziert noch gehortet werden dürften. Ebenfalls sehr hoch ist der Anteil der Bürger, die der Aussage zustimmen, dass die Bundesregierung dafür sorgen sollte, dass die auf deutschem Boden gelagerten Atomwaffen umgehend beseitigt werden (87 Prozent).

Wie können, so mag man trotzdem fragen, die AktivistInnen das Gesetz übertreten, um das Recht zu verteidigen? Ist das nicht ein vollendeter Widerspruch? Gegen solche Bedenken beruft man sich vor allem auf Gandhi, der erklärte: „Ziviler Ungehorsam wird zu einer heiligen Pflicht, wenn der Staat den Boden des Rechts (d.h. des Menschen- und des Völkerrechts – W.S.) verlassen hat.“ (Gandhi, 1980, S. 141)

Der Fliegerhorst Büchel war in den vergangenen Jahren wiederholt Ziel solcher Aktionen des zivilen Ungehorsams. Dreimal drangen Friedensgruppen in das Gelände ein. Insgesamt 29 Personen wurden festgenommen und wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung verurteilt. Gegen die Verurteilungen sind drei Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe anhängig.

Die Kampagne

Soweit der kurze, »objektive« Bericht über die fünfte Aktion des zivilen Ungehorsams am Fliegerhorst Büchel. Um diese Aktion wirklich zu verstehen, ist es nötig, sie in den größeren Rahmen der Friedensbewegung zu stellen.

Vor zwanzig Jahren erlebte die Friedensbewegung im Kampf gegen die Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen Pershing 2 und Cruise Missiles einen Höhepunkt ihrer Geschichte. Der gewaltfreie Widerstand breiter Bevölkerungskreise gegen die »Nachrüstung«, der den Teufelskreis des Wettrüstens durchbrechen sollte, beherrschte monatelang die Medienöffentlichkeit. Ortsnamen wie Mutlangen, Heilbronn, Neu-Ulm in Süddeutschland (Pershing 2) oder Hasselbach im Hunsrück (Cruise Missiles) waren weit über die Bundesrepublik hinaus bekannt. Es gab den »Krefelder Appell« mit mehreren Millionen Unterschriften. Es gab Massenversammlungen in Bonn mit bis zu 300.000 Teilnehmern und eine Menschenkette über 108 Kilometer, die die amerikanische Kommandozentrale EUCOM bei Stuttgart mit dem Pershing-2-Standort Neu-Ulm verband. Es gab aber auch eine Vielzahl gewaltfreier Aktionen des zivilen Ungehorsams.

Den Auftakt bildete die einwöchige Rund-um-die-Uhr-Blockade des Lance-Atomraketen-Depots Golf bei Großengstingen auf der Schwäbischen Alb im Sommer 1982 (mit 380 Festnahmen und zahlreichen Gerichtsverfahren wegen Nötigung). Ihr folgte im Dezember des gleichen Jahres die Blockade des EUCOM (350 Festnahmen). Anfang September 1983 kam es zur berühmten »Prominentenblockade«, an der sich u.a. Heinrich Böll, Günter Grass, Oskar Lafontaine, Erhard Eppler, Heinrich Albertz, Helmut Gollwitzer, Dietmar Schönherr, Barbara Rütting u.a. beteiligten. Die Polizei räumte die Blockade nicht. Die Verbindung zum Raketendepot wurde drei Tage lang mit Hubschraubern aufrechterhalten. Vom damaligen baden-württembergischen Innenminister Roman Herzog ist der Ausspruch überliefert: „Ich werde der Weltpresse doch nicht das Schauspiel bieten, den Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll von Polizisten von der Straße tragen zu lassen.“

Nachdem Ende November 1983 gegen den massiven Widerstand großer Teile der Bevölkerung die Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen durchgesetzt worden war, geriet die Friedensbewegung in die Krise. Eine Gruppe Tübinger Studenten ließ sich indes nicht entmutigen. Sie gründeten die Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung, die eine Vielzahl von Blockaden auf dem Zufahrtsweg zum Raketendepot in Mutlangen organisierte (vgl. Nick, Scheub & Then, 1993). Senioren, Musiker, ja selbst Richter nahmen auf der Zufahrtsstraße Platz und riskierten empfindliche Geld- und Haftstrafen. Die Zahl der bei Blockaden Festgenommenen summierte sich auf mehr als dreitausend. Schließlich sind noch zwei Pflugscharaktionen (1983 und 1986) zu erwähnen, bei denen jeweils eine Pershing-2-Zugmaschine mit Hämmern und Bolzenschneidern abgerüstet wurde (vgl. Sternstein, o.J.).

Für mich besteht kein Zweifel, dass die Friedensbewegung der achtziger Jahre zum Abschluss des INF-Vertrags, der die Verschrottung sämtlicher landgestützter Mittelstreckenraketen in Ost und West (wenn auch leider nicht der Sprengköpfe) zum Inhalt hatte, beigetragen hat. Das Hauptverdienst an dem Vertrag und der dadurch ausgelösten Entwicklung gebührt zweifellos Michail Gorbatschow. Ohne ihn hätte der Kalte Krieg wohl kaum ein so unblutiges Ende gefunden, ganz zu schweigen von der Auflösung des Warschauer Pakts, dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und der deutschen Wiedervereinigung. Doch wäre Gorbatschow ohne die deutsche Friedensbewegung wohl kaum 1985 zum Generalsekretär des KPdSU gewählt worden. Für diese Behauptung habe ich einen glaubwürdigen Zeugen, den Gorbatschow-Berater und Nordamerika-Experten Georgij Arbatow, der auf einem Symposium in den USA erklärte: „Die Friedensbewegung war ein Ausdruck des Bewusstseinswandels, der sich in der westdeutschen Bevölkerung abgespielt hat. Das war ein Faktor für unsere Entscheidung, Michail Gorbatschow als Verfechter eines dezidierten Entspannungskurses zum Generalsekretär zu wählen.“ (zitiert nach Bittorf, 1990, S. 75).

Nach dem Abzug und der Verschrottung der neuen Mittelstreckenraketen schien es mir selbstverständlich, als nächsten Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden nuklearen Abrüstung die noch in Deutschland gelagerten Atomwaffen auf die Tagesordnung der Friedensbewegung zu setzen. Meine Bemühungen, die Organisatoren der Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung für dieses Ziel zu gewinnen, blieben jedoch ohne Erfolg. Noch heute bin ich überzeugt, es wäre schon damals bei gehöriger Anstrengung möglich gewesen, eine atomwaffenfreie Bundesrepublik zu erreichen. Die 64 atomaren Fliegerbomben, die noch in Ramstein und Büchel lagern, machen ja militärisch keinen Sinn; sie sind lediglich Bestandteil einer überholten Nato-Doktrin der nuklearen Abschreckung gegen die Warschauer-Pakt-Staaten. So blieb nur die Alternative, entweder zu resignieren oder in eigener Initiative eine Organisation ins Leben zu rufen, die das nach meiner Überzeugung unaufgebbare Ziel zu erreichen sucht.

So entstand 1988 die EUCOMmunity (vgl. Sternstein, o.J.). Sie entwickelte eine eigene Aktionsform: die »Entzäunungsaktion«. Die spezifische Aktionsform der Anti-AKW-Bewegung der siebziger Jahre war die Platzbesetzung gewesen. Sie war am Oberrhein in drei Fällen (Marckolsheim, Wyhl und Kaiseraugst) erstaunlich erfolgreich gewesen, konnte jedoch nach 1975 keine Erfolge mehr verbuchen, da die AKW-Bauplätze zu wahren Festungen ausgebaut wurden. Die charakteristische Aktionsform des Widerstands gegen die Nachrüstung war die Straßenblockade. Sie erwies sich als durchaus wirksames Mittel, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und den Militärbetrieb zu stören. Diese »Waffe« des zivilen Ungehorsams wurde jedoch teilweise stumpf, nachdem das Bundesverfassungsgericht 1995 die Anwendbarkeit des Nötigungsparagrafen auf demonstrativ friedliche Sitzblockaden verneint hatte.

Die »Entzäunungsaktion« wurde inspiriert von einer Aktion der »Frauen von Greenham Common«, die den Zaun um das Gelände des englischen Cruise-Missiles-Standorts Greenham Common auf weite Strecken niedergelegt hatten, und weiterhin von der englischen »Snowball Campaign«. Bei dieser Kampagne rüsteten sich die Teilnehmer mit Drahtscheren aus, um jeweils eine Masche des Maschendrahts durchzuschneiden; dadurch sollte die Verantwortung für die Entzäunung auf möglichst viele Schultern verteilt werden.

Das Grundmuster der deutschen Entzäunungsaktionen sieht folgendermaßen aus: Die Gruppe der AktivistInnen geht nach gründlicher Vorbereitung an den Zaun des Militärgeländes und schneidet ihn in seiner ganzen Höhe auf, um einen »öffentlichen Zugang« von etwa drei Meter Breite zu schaffen. Danach gehen sie mit Transparenten auf das Gelände, um Blumen zu pflanzen, Getreide zu säen oder ein »Fest der Hoffnung« zu feiern. Sie bekräftigen auf diese Weise ihre Forderung, das militärische »Todesland« in zivil genutztes »Lebensland« umzuwandeln.

Strafrechtlich gesehen, handelt es sich um Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch. Die Aktivisten durchbrechen bewusst die psychische Barriere, die der amerikanische Pfarrer Bill Kellerman mit folgenden Worten treffend beschrieben hat: „Die Macht des Stacheldrahts liegt nicht so sehr in der physischen Barriere, die er darstellt, als in der Gewalt, die er definiert und ausstrahlt. Der Draht wird als heilig verehrt. Er ist ein kleiner Götze, aufgestellt, um die Schwelle zum profanen »heiligen« Bereich zu markieren und zu bewachen. Wir verneigen uns vor seiner Macht, indem wir uns abwenden. An diesem Punkt endet alles Sehen, Denken und Fragen. Es handelt sich in der Tat um eine Schranke für das Bewusstsein selbst.“

Die erste Entzäunungsaktion am EUCOM fand am 29. September 1990 statt. An ihr beteiligten sich 10 Personen. In den darauf folgenden Jahren fanden weitere sieben Aktionen statt, bei denen die Teilnehmerzahl zwischen sieben und dreiundzwanzig schwankte. Hinzu kamen zwei Blockadeaktionen mit insgesamt 141 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Schließlich ist noch ein »Die in« mit zehn Personen am Karfreitag 2002 zu erwähnen.

1994 wurde der Trägerkreis der Kampagne »Atomwaffen abschaffen« ins Leben gerufen. Ihm gehören fast alle großen Friedensorganisationen in Deutschland an. Er ist wiederum Bestandteil des weltweiten Netzwerks Abolition 2000. Der Trägerkreis beschränkt sich jedoch im Wesentlichen auf Öffentlichkeitsarbeit und Lobbytätigkeit.

1996 nahm die »Gewaltfreie Aktion Atomwaffen Abschaffen« ihre Tätigkeit auf. Sie ging aus der Atomteststopp-Kampagne hervor, die nach dem Abschluss des »Umfassenden Atomteststoppvertrags« ihr Kampagnenziel als erreicht ansah. Während sich EUCOMmunity in erster Linie um das EUCOM kümmerte, konzentrierte sich die »Gewaltfreie Aktion Atomwaffen Abschaffen« auf den Atomwaffenstandort Büchel in der Südeifel. Ihr Markenzeichen ist die »Ehrenamtliche Inspektion im Auftrag des Internationalen Gerichtshofs«. Dieser hatte in einem Gutachten vom Juli 1996 Atomwaffen für generell völkerrechtswidrig erklärt und noch einmal nachdrücklich die (Selbst-) Verpflichtung der Vertragsstaaten des Nichtverbreitungsvertrags zur vollständigen atomaren Abrüstung angemahnt (vgl. Deiseroth, 1996). Die »Ehrenamtlichen Inspekteure« betreten das Gelände des Fliegerhorsts, nachdem sie den Zaun überstiegen oder durchschnitten haben, um festzustellen, ob Atomwaffen auf dem Fliegerhorst gelagert sind, und, falls das der Fall ist, ihren Abzug zu fordern. Die Aktionsidee stammt aus Holland, wo sie zum ersten Mal am Atomwaffenstandort Voelkel praktiziert worden war.

Am Fliegerhorst Büchel, wo deutsche Tornado-Piloten mit amerikanischen Atombomben den Kriegseinsatz üben, fanden insgesamt fünf gewaltfreie Aktionen statt. Die drei ersten waren erfolgreich, die vierte am 30. September 2001 scheiterte, da aufgrund der Terroranschläge vom 11. September in den USA auf beiden Seiten der Barrikade spürbare Nervosität herrschte. Die fünfte Aktion am 7. April 2002 habe ich eingangs kurz geschildert.

Zwischen den drei Friedensorganisationen »Ohne Rüstung Leben«, EUCOMmunity und »Gewaltfreie Aktion Atomwaffen Abschaffen« hat sich in den vergangenen Jahren eine intensive Zusammenarbeit entwickelt. Darüber hinaus besteht eine enge Verbindung zum Trägerkreis der Kampagne Atomwaffen Abschaffen.

Und der Effekt?

Was haben wir erreicht? Schwer zu sagen, denn jede Einschätzung des Effekts ist zweifellos subjektiv gefärbt. Trotzdem sei eine solche Einschätzung versucht:

Erstens: Der wichtigste Gesichtspunkt scheint mir die Einübung gewaltfreien Verhaltens bei den TeilnehmerInnen zu sein. Wenn der Grundsatz des »learning by doing« auch für gewaltfreies Handeln gilt, dann haben die Teilnehmer Zivilcourage, Konfliktfähigkeit und Zusammenarbeit in Bezugsgruppen erlernt und ein Training in gewaltfreier Aktion mit Praxisbezug absolviert. Sie haben Erfahrungen gesammelt bei der Planung, Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von gewaltfreien Aktionen.

Zweitens: Durch die TeilnehmerInnen werden Verwandte, Bekannte, Kollegen, Vorgesetzte mit dem gewaltfreien Widerstand gegen Atomwaffen konfrontiert und zur Stellungnahme herausgefordert.

Drittens: Über die Organisationen Ohne Rüstung Leben, EUCOMmunity und Gewaltfreie Aktion Atomwaffen Abschaffen werden einige tausend Mitglieder angesprochen, von denen sich viele durch Unterschriften, Beteiligung an Demonstrationen und Spenden aktiv am gewaltfreien Widerstand beteiligen. Sie sind zugleich das Reservoir für die Rekrutierung weiterer AktivistInnen.

Viertens: Die mit den Aktionen verbundene Öffentlichkeitsarbeit klärt viele Bürgerinnen und Bürger über die Existenz von Atomwaffen auf deutschem Boden auf und macht sie mit dem gewaltfreien Widerstand dagegen bekannt.

Fünftens: Die Auseinandersetzung vor den Gerichten ist schwer einzuschätzen. Die große Mehrzahl der zivil Ungehorsamen wurde verurteilt. Ein Stuttgarter Amtsrichter sprach die siebenköpfige Gruppe der dritten Entzäunungsaktion am EUCOM frei, weil er überzeugt war, ihre Tat sei gerechtfertigt. Das Urteil wurde jedoch vom Oberlandesgericht Stuttgart aufgehoben und ans Amtsgericht zur Neuverhandlung zurückverwiesen. Derselbe Amtsrichter legte den Fall bei einem späteren Verfahren dem Bundesverfassungsgericht vor. Es wies die Vorlage jedoch ab. Zur Zeit sind, wie bereits erwähnt, drei Verfassungsbeschwerden gegen Verurteilungen durch das Amtsgericht Cochem anhängig. Noch glimmt also ein Hoffnungsfunke für eine positive Entscheidung.

Sechstens: Ob auf unsere unmittelbaren Gegner in der Aktion, die Polizisten, Soldaten und Juristen ein messbarer Einfluss ausgeübt wurde, ist schwer zu sagen. Das Verhältnis zu unseren Gegnern ist in der Regel freundlich und entspannt. Ohnehin lassen sich gewaltfreie Aktivisten durch negative Reaktionen der Gegenseite nicht entmutigen. Sie setzen auf die langfristige Wirkung dessen, was Gandhi Wahrheitskraft (Satjagrah) nannte. Ungeachtet der Ernsthaftigkeit unseres Anliegens hat die Auseinandersetzung auch eine sportliche, ja spielerische Seite. Schaffen wir es hineinzukommen, oder gelingt es der Polizei die Aktion zu verhindern? Wir versäumen es auch nie, unsere Gegner ausführlich über unsere Motive, Methoden und Ziele zu unterrichten. Wir wollen sie dabei nicht missionieren, sondern lediglich Verständnis für unser Anliegen wecken.

Siebtens: Noch schwerer ist es einzuschätzen, ob auf die eigentlichen Adressaten unserer Aktionen, die Politiker und die Parteien, ein messbarer Einfluss ausgeübt werden konnte. Solange nicht weite Kreise der Bevölkerung ihr Wahlverhalten von der Antwort der Politiker und Parteien auf diese Frage abhängig machen, ist nicht damit zu rechnen, dass wir mit unserem Anliegen von den Entscheidern ernst genommen werden.

Die Friedensbewegung hat die Krise, in die sie nach dem Ende des Kalten Krieges geriet, noch immer nicht überwunden. Dennoch habe ich nicht den Schatten eines Zweifels, dass es ihr möglich wäre, das Ziel einer atomwaffenfreien Bundesrepublik mit den Mitteln der gewaltfreien Aktion zu erreichen – vorausgesetzt, sie hat den ernsthaften Willen dazu!

Literatur

Bittorf, W. (1980): Giftgas ging – Unrecht bleibt. Über die andauernden Strafprozesse gegen Friedenskämpfer, in: Der Spiegel, 44, Nr. 44, S. 72-77.

Bundesverfassungsgericht (1995): Beschluss vom 10. Januar 1995 – 1 BvR 718/89, 719/89, 722/89, 723/89,in: Neue Juristische Wochenschrift, 48, 1141-1144.

Deiseroth, D. (1996): Atomwaffeneinsatz ist völkerrechtswidrig. Der Internationale Gerichtshof bezieht Position,in: Wissenschaft und Frieden, 14 (3), 78-81.

Gandhi, M.K. (1980): Die Lehre vom Schwert und andere Aufsätze aus den Jahren 1919-1922, Oberwil b. Zug.

Nick, V., Scheub, V. & Then, C. (1993): Mutlangen 1983-1987. Die Stationierung der Pershing II und die Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung, Mutlangen.

Sternstein, W. (Hrsg.) (o.J.): »Abrüstung von unten. Die Pflugscharbewegung in den USA und in Europa« – »Pershings zu Pflugscharen. Dokumente einer Abrüstungsaktion« – »Die EUCOMmunity. Initiative für eine atomwaffenfreie Welt. Eine Dokumentation«. Alle drei Broschüren sind zu beziehen vom Herausgeber: Hauptmannsreute 45, 70192 Stuttgart, Tel.: 0711-29 38 74.

Dr. Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher, der sieben Mal für seine gewaltfreien Aktionen inhaftiert wurde

Der qualvolle Weg der Diplomatie

Der qualvolle Weg der Diplomatie

Konferenz zur Überprüfung
des Atomwaffensperrvertrags

von Xanthe Hall

In New York ging am 19, Mai die fast vierwöchige Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von Atomwaffen zu Ende. Der Vertrag verlangt von den Atommächten seit seiner Unterzeichnung vor über 30 Jahren, zu einem baldigen Zeitpunkt Verhandlungen über eine allgemeine und vollständige Abrüstung unter wirksamer und internationaler Kontrolle aufzunehmen. Darüber, wie das Ergebnis der »Überprüfungskonferenz« zu werten ist, gibt es unter den engagierten AtomwaffengegnerInnen unterschiedliche Auffassungen. Während der »Trägerkreis Atomwaffen abschaffen« davon spricht, dass „auch diese Konferenz keine Fortschritte“ brachte und die Erklärung der fünf Atommächte zur weiteren Abrüstung „heuchlerisch“ nennt, argumentiert Xanthe Hall von der IPPNW für eine positive Aufnahme des Resultats. Ihre Forderung: Jetzt alles dafür tun, damit das diplomatische Ergebnis politisch umgesetzt wird.

Dramatisch ging die Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrags (NPT, Non-Proliferation Treaty) zu Ende. Erst in der durch einen Trick erzwungenen Verlängerung konnten sich die 187 Unterzeichnerstaaten auf ein Aktionsprogramm für die atomare Abrüstung einigen. Die Uhr wurde um fünf vor Mitternacht angehalten, um weitere 19 Stunden über die offizielle Zeit hinaus verhandeln zu können. Der Trick hat sich gelohnt: Um 19:19 Uhr (EST) am 20. Mai erreichten die KonferenzteilnehmerInnen die notwendige Einstimmigkeit. Bis zuletzt drohte am Streit zwischen den USA und dem Irak über die Sanktionen und weitere Inspektionen die hart gewonnene Einigung mit den Atomwaffenstaaten zu scheitern. Durch die Intervention Kanadas und des Vorsitzenden Abdallah Baali (Algerien) wurde jedoch ein Kompromiss gefunden.

Zu Beginn wurden für die Konferenz drei Problembereiche identifiziert: Die Verpflichtung der Atomwaffenstaaten gemäß Artikel VI atomar abzurüsten, die Konfliktlage im Nahen Osten und das geplante US-Raketenabwehrsystem (NMD). Manche Delegierte befürchteten, die Frage des Nahen Ostens könnte die Konferenz insgesamt in Frage stellen, weil einerseits die arabischen Staaten Israel als Atomwaffenbesitzer benennen, während andererseits die USA unbedingt den Irak unter Druck stellen wollten. Die KonferenzteilnehmerInnen konzentrierten ihre Kraft aber auf das Aushandeln eines weitergehenden Abrüstungsprogramms und suchten die Einigung mit den offiziellen Atomwaffenstaaten, ihrer Verpflichtung aus Artikel VI nachzukommen.

Die letzte Verlängerungs- und Überprüfungskonferenz fünf Jahre zuvor endete mit einem »Deal«. Um eine unbefristete Verlängerung des 25 Jahre alten Vertrages zu erreichen, billigten die Atomwaffenstaaten ein Abrüstungsprogramm für die nächsten fünf Jahre, niedergelegt in den verabschiedeten Dokument »Prinzipien und Ziele«1. Für die Umsetzung des Vertrages und seine Überprüfbarkeit wurden konkrete Abrüstungsmaßnahmen benannt. Dazu gehörten: Der Abschluss eines umfassenden Atomteststoppvertrags bis 1996, die Aufnahme von Verhandlungen über einen Vertrag zum Verbot der Herstellung spaltbarer Materialien für Atomwaffen und systematische Entwicklungsschritte zur globalen Reduzierung der Atomwaffen mit dem Fernziel ihrer vollständigen Abrüstung. Doch nur beim Atomteststoppvertrag kam es zu einem internationalen Vertragswerk, das aber von den USA und einigen anderen Ländern bisher nicht ratifiziert wurde. Der Zeitpunkt für ein Inkrafttreten des Vertrags ist vor allem aufgrund der Blockadepolitik der USA nicht absehbar. Im Mittelpunkt der Überprüfungskonferenz stand deshalb die Frage, wie das »Abrüstungsprogramm« präzisiert und erweitert werden konnte.

Zu Beginn der Konferenz brachten dazu sieben mittelgroße Staaten (NAC, New Agenda Coalition) ein Papier ein2, das zwar nicht allen Wünschen der Friedensbewegung entsprach, aber als praktikabler Kompromiss Grundlage der Verhandlungen wurde. Kanada legte ein eigenes Aktionsprogramm mit konkreten Abrüstungsschritten vor3 und mehrere Staaten machten konstruktive Vorschläge, von denen etliche Punkte ins Schlussdokument übernommen wurden. Das verstärkt den Eindruck, dass eine große Mehrheit der DiplomatInnen den Vertrag nicht scheitern lassen wollten.

Ein fragliches Abrüstungsversprechen

Für zusätzlichen Konfliktstoff sorgte bei den atomwaffenfreien Staaten und den Nichtregierungsorganisationen eine US-Ausstellung im Foyer des Konferenzgebäudes über die »US-amerikanische Erfüllung« der im Artikel VI enthaltenen Abrüstungsverpflichtung und die Erklärung4 der »Permanenten Fünf« (der fünf Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, die als die fünf offiziell anerkannten Atomwaffenstaaten gelten), die besagte, dass diese Staaten genug für die Abrüstung getan hätten. Das Dokument erklärte die aus dem Atomwaffensperrvertrag abzuleitende „eindeutige Verpflichtung zur vollständigen Eliminierung von Atomwaffen und einem Vertrag über allgemeine und vollständige Abrüstung als ein Fernziel. Diese Formulierung forderte Widerspruch heraus: Die NAC-Gruppe reagierte unbefriedigt auf die Erklärung und betonte, dass die vollständige Eliminierung von Atomwaffen Verpflichtung und Priorität und nicht nur Fernziel sei, sie könne nicht an eine allgemeine Abrüstung gebunden werden. Sie forderte von den Atomwaffenstaaten die eindeutige Zusicherung ihrer vollständigen atomaren Abrüstung. Darüber hinaus sollten sie in den kommenden fünf Jahren, d.h. bis zur nächsten Überprüfungskonferenz, den Verhandlungsprozess beschleunigen und konkrete Schritte zur vollständigen atomaren Abrüstung einleiten. Die NAC-Erklärung stellte also die Glaubwürdigkeit des Abrüstungsversprechens der Atomwaffenstaaten in Frage und forderte Beweise.

Die Glaubwürdigkeit hatte bereits im Vorfeld der Konferenz erneut Schaden erlitten als ein Geheimdokument der USA bekannt wurde, mit dem Russlands Zustimmung zu einem US-Raketenabwehrsystem erkauft werden soll. In diesem Geheimdokument wird Russland ermutigt, zur Überwindung eines US-Raketenabwehrsystems und ungeachtet zukünftiger Abkommen, ein Arsenal von etwa 1.500 bis 2.000 strategischen Atomwaffen in höchster Alarmbereitschaft zu halten. Das Dokument verdeutlicht damit, dass auch ein »begrenztes« Raketenabwehrsystem die versprochene vollständige atomare Abrüstung ausschließt und gleichzeitig die Gefahr eines »Atomkriegs durch Unfall« verstetigt, da die Atomwaffen weiterhin auf höchster Alarmstufe bleiben.

»Son of Star Wars«

Obwohl das Raketenabwehrsystem – auch als »Son of Star Wars« tituliert – keinen herausragenden Stellenwert auf der Konferenz einnahm, war es immer ein mitlaufendes Thema. Russland argumentierte für eine Beibehaltung des ABM-Vertrags und zeigte die Gefahren für zukünftige Abrüstungsvereinbarungen auf, wenn es zum Bruch des ABM-Vertrages durch die USA kommen sollte. Überraschenderweise stimmten die USA einer Formulierung für die gemeinsame Erklärung zu, die die „Beibehaltung und Verstärkung“ des ABM-Vertrags als „Eckpfeiler der strategischen Stabilität“ festschreibt. Ein russischer Diplomat bemerkte dazu mir gegenüber zynisch: „Alles eine Frage der Interpretation.“

Diesen Eindruck gewannen auch IPPNW-ÄrztInnen bei ihren Gesprächen in Washington mit Abrüstungs-PolitikerInnen. Dabei wurde deutlich, dass die USA entschlossen sind, das Raketenabwehrsystem zu bauen. Dabei scheint es egal zu sein, ob es funktionieren wird oder leicht umgegangen werden kann. Es interessiert in Washington ebenfalls wenig, dass Russland und China als Reaktion wahrscheinlich aufrüsten werden.

Streitpunkte der Abschlusserklärung

Die Atomwaffenstaaten wollten keinen verbindlichen Formulierungen und Maßnahmen zustimmen. Das führte dazu, dass der vorgeschlagene Text immer mehr verwässert wurde. Jeder der Atomwaffenstaaten hatte dabei seine eigenen Gründe.

Das Raketenabwehrsystem der USA, die NATO-Osterweiterung und der NATO-Krieg gegen Jugoslawien waren die Anlässe für Russland, um den Atomwaffen in der Militärstrategie wieder eine größere Bedeutung zu geben. Russland betonte in den Verhandlungen immer wieder die notwendige »strategische Stabilität«. Dabei geht es um Zahlen. Da ihr altes Arsenal langsam abgebaut wird befürchtet Russland, die Parität mit den USA und damit auch die »Stabilität der Abschreckung« zu verlieren. Eine Position, die von vielen als »Kalter-Krieg-Denken« interpretiert wurde.

Für China ist das US-Raketenabwehrsystem noch problematischer als für Russland. Die 20 chinesischen ICBMs könnten ein NMD-System (wenn es denn funktionieren sollte) nicht durchbrechen. Ein »Chinesischer Zweitschlag« wäre also bei einem Angriff der USA ausgeschlossen. Also modernisiert China seinen Atomwaffenbestand, mit der Nebenfolge, dass auch Indien und Pakistan weiter aufrüsten. In den Verhandlungen votierte China gegen mehr Transparenzmaßnahmen, weil diese die »kleinen« Atomwaffenstaaten angeblich verletzlicher machen. China bleibt allerdings von den »Permanenten Fünf« der einzige Staat, der weiterhin eine »Nichtersteinsatzpolitik« für alle Atomwaffenstaaten fordert.

Für Frankreich kann die nukleare Abrüstung nur im Zusammenhang mit der allgemeinen Abrüstung voranschreiten. Letztendlich war es jedoch bereit, nachdem Russland eingelenkt hatte, trotz seiner Bedenken über die eingeforderte »eindeutige Zusicherung« dem Abschlussdokument zuzustimmen.

Von den »Permanenten Fünf« zeigte sich allein Großbritannien von Anfang an konstruktiv in den Verhandlungen.

Was wurde erreicht
mit dem NVV-2000?

Die eindeutige Zusicherung der Abschlusserklärung, alle Arsenale abzurüsten, scheint zwar nur eine Wiederholung der Verpflichtung unter Artikel VI zu sein, doch in der diplomatischen Sprache ist es ein Meilenstein. Es bedeutet, dass die Atomwaffenstaaten nicht mehr behaupten können, die vollständige Abrüstung sei nur ein Fernziel oder von irgend etwas anderem bedingt. Dies stärkt die zukünftige Verhandlungsposition der atomwaffenfreien Staaten.

Der Beibehaltung des ABM-Vertrages wurde zugestimmt und es wurde seine »Verstärkung« gefordert. Das kann in der US-Interpretation allerdings auch bedeuten, dass der Vertrag anlässlich des Baus eines US-Raketenabwehrsystems zu ändern ist. Die USA geben sich sicher, dass sie Russland dazu »überreden« können.

Die formulierte Transparenz zu den Atomwaffen und die Erfüllung des Artikels VI werden als „freiwillige vertrauensbildende Maßnahme“ verstanden. Dabei bleibt zu kritisieren, dass für die Kontrollen keine praktischen Maßnahmen formuliert wurden.

Die Formulierung zu „konkreten vereinbarten Maßnahmen, den operativen Status der Atomwaffensysteme weiter zu reduzieren“ bleibt vage. So wünschten die blockfreien Staaten (NAM, Non-Aligned Movement) und NAC, dass die Sprengköpfe von den Trägersystemen entfernt werden, um die Alarmbereitschaft zu reduzieren. Mehr als diese ungewisse Formulierung konnten aber nicht erreicht werden.

Deklariert wird weiterhin „eine verringerte Rolle der Atomwaffen in den Sicherheitsdoktrinen“: Dieses Problem wurde in der Konferenz beständig thematisiert und steht im krassen Widerspruch zu den Atomwaffen-Doktrinen Russlands, der USA und der NATO, die die Schwelle zum Einsatz von Atomwaffen herabgesetzt haben.

Ein Ansatzpunkt für die NGO-Arbeit kann u.a. die angesprochene Reduzierung »nicht-strategischer« Atomwaffen sein. Russland weigert sich solange über eine Reduzierung seiner taktischen Atomwaffen zu verhandeln, bis die ca. 150 US-Atombomben aus Europa abgezogen worden sind. Erwähnt werden im Dokument dazu »einseitige Initiativen«. Die Zurücknahme der US-Atomwaffen aus Europa wäre also ein wichtiger Schritt, um Verhandlungen über den Abbau der taktischen Atomwaffen zu ermöglichen.

Ergreifen wir die Initiative!

Selbstverständlich werden die Atomwaffenstaaten nicht von alleine ihr Versprechen umsetzen. In den USA und in Russland bestimmt die Fraktion der AbrüstungsgegnerInnen weiterhin die Politik. Das Ergebnis der Überprüfungskonferenz 2000 beinhaltet aber die Möglichkeit, weiter Druck auszuüben. Die Initiative der NAC belegt außerdem, dass energisch auftretende atomwaffenfreie Staaten viel erreichen können. Der Anstoß für die NAC-Staaten kam hauptsächlich aus den Reihen der Abrüstungsbewegung, von denen die Delegierten sehr viel Ermutigung, Beratung und Unterstützung erhielten. Die »Middle Powers Initiative«5 arbeitet seit fast drei Jahren daran, die NAC dazu zu bringen, den Atomwaffenstaaten ein praktikables Abrüstungsdokument vorzulegen, das sie nicht mehr umgehen können.

Auch die NGO-Präsenz während der Konferenz hat eine größere Bedeutung erhalten als früher. Noch 1995 blieben die NGOs aus den meisten Gremien ausgeschlossen und die Delegierten (außer die der NAM-Staaten) machten ein großen Bogen um sie. Diesmal waren KollegInnen aus dem NGO-Netzwerk »Abolition 2000« sogar selbst offizielle Delegationsmitglieder. Es gab einen ständigen informellen Austausch zwischen den Delegierten und den NGO-VertreterInnen in den Räumen des UN-Gebäudes. Die NGO-VertreterInnen erhielten Zugang zu den meisten Gremien, nur zu den informellen Konsultationen nicht. Kurzfristige Treffen mit den Missionen waren leicht zu vereinbaren. Die Beteiligung der Delegierten an der NGO-Präsentation war sehr hoch. Die NGO-ExpertInnen werden als solche langsam auch von den RegierungsvertreterInnen akzeptiert.

Natürlich kommt es darauf an, dass Abschlussdokumente mehr als vage Versprechungen enthalten, von deren Realitätstüchtigkeit kaum jemand überzeugt ist. Dennoch sollte die Wirkung der Diplomatie nicht unterschätzt werden. Der »diplomatische Weg« ist nur einer von vielen Wegen. Die NGOs haben auf ihm viele FreundInnen unter den DiplomatInnen gewonnen. Es lohnt sich also ihn weiter zu gehen, ohne die anderen Wege zu vernachlässigen, die da heißen: öffentlicher Druck, politische Einflussnahme, Aufklärung, Aktionen.

NGO-Veranstaltungen bei der New Yorker Konferenz

Die Überprüfungskonferenz zum nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) wurde von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) intensiv genutzt, um Lobbyarbeit für die Abschaffung der Atomwaffen zu machen. Erstmals erhielten die NGOs in New York die Gelegenheit, den Delegierten 15 gemeinsam verfasste Stellungnahmen zu präsentieren, in denen wesentliche Themen angesprochen wurden, darunter nukleare Abrüstung (Daniel Ellsberg), Raketenabwehr (Lisbeth Gronlund), regionale Proliferation (Achin Vanaik, Indien; Bahig Nassar, Ägypten), Abschreckung (Jonathan Schell), Forschung und Entwicklung (William Peden, Greenpeace), Gesundheit und Umwelt (Alexey Yablokov, Moskau). Fünf Jahre nach der Gründung des globalen Netzwerks Abolition 2000 wurde in New York zudem bekannt gegeben, dass mehr als 2000 NGOs und andere Organisationen die Gründungserklärung des Netzwerks unterstützen.

Von deutscher Seite organisierte das in Darmstadt ansässige International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) mit finanzieller Unterstützung durch die Nuclear Age Peace Foundation zwei Veranstaltungen, die gemeinsam mit der IPPNW und dem internationalen Juristenverband gegen Atomwaffen IALANA durchgeführt wurden.

Am 9. Mai fand im UN-Hauptgebäude ein von Alyn Ware (Lawyers Committee on Nuclear Policy) geleitetes Podiumsgespräch statt zum Thema »Achieving a Nuclear Weapons Convention – Legal, Political, and Technical Strategies for Nuclear Disarmament«. Geladen waren Botschafter Hasmy Agam aus Malaysia, Eugene Miasnikov aus Moskau, Penelope Simons aus Kanada sowie Jürgen Scheffran (INESAP) und Merav Datan (IPPNW). Bemerkenswert war, dass auf Initiative Malaysias die Idee der Nuklearwaffenkonvention erstmals offiziell in eine NVV-Überprüfungskonferenz eingebracht wurde.

Die zweite Veranstaltung »From Counter-Proliferation to Counter-Disarmament – Missile Defense, the ABM Treaty and the Prevention of an Arms Race on Earth and in Space« fand am 10. Mai gegenüber dem UNO-Gebäude statt. Auf der von Jürgen Scheffran geleiteten Podiumsdiskussion setzten sich George Lewis (MIT) und Stephen Young (Coalition to Reduce Nuclear Dangers in Washinton) kritisch mit der Realisierbarkeit und den Folgen der National Missile Defense auseinander. Dabei konnten sie sich auf zwei aktuelle Reports stützen, die gerade erschienen waren.6 Paul Podvig (Moskau) und Götz Neuneck (Hamburg) erläuterten die russische und europäische Sichtweise. Jackie Cabasso (Western States Legal Foundation) und Regina Hagen (Global Network Against Weapons and Nuclear Power in Space) stellten den Zusammenhang zwischen der Entwicklung neuer Kernwaffen und der Militarisierung des Weltraums her und setzten sich für ein stärkeres Engagement der Friedensbewegung gegen das mit NMD erwartete Wettrüsten ein.

Anmerkungen

1) NPT/CONF.1995/L.5, Principles and Objectives for Nuclear Non-Proliferation and Disarmament.

2) NPT/CONF.2000/WP.3: Arbeitspapier vom 24. April 2000 der Delegierten aus Ägypten, Brasilien, Irland, Mexiko, Neuseeland, Schweden und Südafrika.

3) NPT/CONF.2000/MC.1/WP.4: Ausgewählte Elemente eines Aktionsprogramms – Arbeitspapier von Kanada.

4) NPT/CONF.2000/21: Brief vom 1. Mai 2000 von den VertreterInnen Chinas, Frankreichs, Großbritanniens, Russlands und der Vereinigten Staaten.

5) Mehr Informationen hierzu siehe Robert Green, IPPNW (Hrsg.): Per Express zur atomwaffenfreien Welt, Berlin 1999.

6) Stephen Young, Pushing the Limits. The Decision on National Missile Defense, Coalition to Reduce Nuclear Dangers, Washington, DC, April 2000 (www.clw.org/coalition/libbmd.htm); Countermeasures – A Technical Evaluation of the Operational Effectiveness of the Planned US National Missile Defense System, Union of Concerned Scientists, MIT Security Studies Program, April 2000 (www.ucsusa.org/arms/CM_exec.html).

Xanthe Hall arbeitet in der Geschäftsführung der deutschen Sektion der IPPNW