Europa atomwaffenfrei

Europa atomwaffenfrei

Konferenz auf Burg Schlaining

von Manfred Mohr

Burg Schaining, malerisch im österreichischen Burgenland gelegen und Sitz der Europäischen Friedensuniversität, war als Konferenzort gut gewählt. Zur Konferenz geladen hatten – neben der Friedensuniversität – folgende NGO's bzw. Bewegungen: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), Internationales Friedensbüro (IPB), Internationale Juristenvereinigung gegen Atomwaffen (IALANA), Internationales Netzwerk von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren (INES), Projekt für europäische atomare Nicht-Weiterverbreitung (PENN), Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (WILPF). Der Einladung waren über 120 Teilnehmer gefolgt, die die Breite der konferenztragenden Organisationen und der europäischen Antiatomwaffenbewegung widerspiegelten. Es trafen sich Wissenschaftler, Politiker und Friedensaktivisten; häufig waren alle drei Qualitäten in einer Person vereinigt.

Die Konferenz (13.-15.06.1997) setzte sich aus Grundsatzreden, u.a. der Schwedin Mai-Britt Theorin, Arbeitsgruppensitzungen, u.a. zur weiteren Delegitimierung nuklearer Waffen und zur NATO-Osterweiterung, und einer abschließenden Plenarsitzung zusammen, auf der ein Aktionsprogramm und das »Schlaining Manifest« verabschiedet wurden. Aus der Konferenzdiskussion und den Abschlußdokumenten sollen folgende Punkte hervorgehoben werden:

  • Vor dem Hintergrund des Kernwaffengutachtens des Internationalen Gerichtshofes (IGH) vom Juli 1996, der NATO-Erweiterung und der EU-Entwicklung hat die Nuklearwaffenproblematik erneut an Aktualität gewonnen. Die Bewegung für ein atomwaffenfreies Europa und für eine atomwaffenfreie Welt hat neuen Auftrieb bekommen. Sie kann sich auf eine weitgehende, in Meinungsumfragen bekräftigte Ablehnung von Kernwaffen in der Bevölkerung stützen.
  • Nach dem erwähnten IGH-Gutachten sind die Drohung mit und der Einsatz von Kernwaffen generell völkerrechtswidrig. Der Gerichtshof sieht sich allerdings (und lediglich) außerstande, die Legalitätsfrage für extreme Selbstverteidigungssituationen zu entscheiden, in denen das bloße Überleben eines Staates auf dem Spiel steht. Diesen Feststellungen des Hauptrechtsprechungsorgans der UNO widerspricht die geltende Nukleardoktrin der NATO, die weder an der (Erst-)Einsatzoption Abstriche macht noch auf solche »Extremsituationen« begrenzt ist. Von daher ist das Gutachten hervorragend geeignet, die Rechtswidrigkeit der NATO-Konzeption zu belegen und (entsprechend) in nationalen bzw. internationalen Gerichtsverfahren als Argumentationsbasis benutzt zu werden.
  • Es bestehen die Chance und die Notwendigkeit, Kernwaffen endgültig abzuschaffen. Ein hierauf gerichteter schrittweiser Prozeß kann u.a. die Trennung der nuklearen Gefechtsköpfe von den Trägersystemen sowie die Schaffung nuklearwaffenfreier Zonen umfassen. Entscheidend ist, daß – im Einklang mit Art. VI des Atomwaffensperrvertrages (NPT) und wie von der UN-Generalversammlung bzw. dem Europäischen Parlament gefordert – endlich nukleare Abrüstungsverhandlungen in Gang kommen, deren Ziel der Abschluß einer (Anti-)Kernwaffenkonvention nach dem Muster des Chemiewaffenübereinkommens sein muß.
  • Eine künftige europäische Sicherheitsstruktur sollte sich weniger an einer osterweiterten NATO als an der OSZE orientieren. Dies hat neben sicherheitspolitischen auch Kostengründe. Gemeinsame, gesamteuropäische Sicherheit sollte sich eher auf Konfliktverhütung als auf militärische Mittel stützen. Die Europäische Union sollte ihre sich herausbildende Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zur Stärkung der Stabilisierungskapazitäten der OSZE einsetzen. Auf jeden Fall muß verhindert werden, daß die EU-Entwicklung zu einer nuklearen Proliferation führt; die EU darf nicht zu einer neuen Kernwaffenbewegung werden.
  • Die nächsten praktischen Schritte der Antiatomwaffenbewegung in Europa können bzw. sollten umfassen:
  • eine öffentliche Diskussion und Kritik der NATO-Atomwaffendoktrin, u.a. des Konzepts der »nuklearen Teilhabe«;
  • Lobbyarbeit für atomwaffenfreie Zonen in Europa;
  • Stärkung und Schutz von »Ausplauderern« (»whistleblower«);
  • Schaffung eines europäischen Netzwerks innerhalb der globalen Kampagne »Abolition 2000«;
  • Vorbereitungsaktivitäten zur Haager Friedenskonfernez 1999;
  • Anti-Atomwaffen-Aktionen verschiedenster Art.

Die Konferenz in Burg Schlaining hat der europäischen Friedens- und Abrüstungsbewegung neue Impulse gegeben; auf ihr »follow-up« kann man gespannt sein. Sie hat zugleich verdeutlicht, daß die Atomwaffenproblematik in breitere sicherheitspolitische Fragestellungen – etwa einer europäischen Sicherheitsstruktur oder der vollständigen, auch konventionellen Abrüstung – eingebettet ist.

Prof. Dr. Manfred Mohr ist Völkerrechtler, Gründungsmitglied und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der IALANA

Der neue Überprüfungsprozeß für den Nichtverbreitungsvertrag

Der neue Überprüfungsprozeß für den Nichtverbreitungsvertrag

von Martin B. Kalinowski

Im April 1997 fand bei den Vereinten Nationen in New York das erste Vorbereitungstreffen zur Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) im Jahre 2000 statt. Einiges stand auf dem Spiel, denn dies war das erste Treffen der Mitgliedsstaaten des NVV nach dessen unbefristeter und bedingungsloser Verlängerung vor fast zwei Jahren. Damals wurde beschlossen, den Überprüfungsprozeß wesentlich zu stärken. Hierfür wurden in dem zweiwöchigen Vorbereitungstreffen die Weichen gestellt. Am Ende dominierte wieder der Konflikt zwischen den blockfreien Staaten, die ein stärkeres Gewicht von nuklearer Abrüstung fordern, und den Kernwaffenstaaten, die ihre weiteren Schritte in diesem Feld nicht in einem Forum beraten wollen, an dem Nicht-Kernwaffenstaaten beteiligt sind.

Vor zwei Jahren fand die fünfte Überprüfungskonferenz des NVV statt, die nach 25-jähriger Laufzeit zugleich die Verlängerungskonferenz war. Viele Nicht-Kernwaffenstaaten waren damals strikt gegen die unbefristete Verlängerung, weil sie die Möglichkeit zur Beendigung des Vertrages als Druckmittel erhalten wollten, mit dem die Kernwaffenstaaten dazu gebracht werden sollten, ihre Verpflichtung zur vollständigen nuklearen Abrüstung nach Artikel VI des NVV ernsthafter anzugehen und schnellstmöglich umzusetzen. Um möglichst viele dieser Länder umzustimmen, wurde auf Anregung Südafrikas angeboten, den Überprüfungsprozeß bei unbefristeter Verlängerung in einer verstärkten Weise fortzusetzen. Zusätzlich wurden die »Grundsätze und Ziele« (principles and objectives) in einem Dokument festgehalten. Darin wird u.a. eine Liste von Maßnahmen und Verpflichtungen für die nukleare Nichtverbreitung und Abrüstung festgehalten.

Von den 186 Mitgliedsstaaten des NVV hatten sich 148 in New York angemeldet. Die Verhandlungen wurden im wesentlichen von rund 40 aktiven Staaten getragen. Als Vorsitzender wurde der finnische Botschafter Pasi Patokallio bestellt. Zwei weitere zweiwöchige Vorbereitungstreffen sollen in den Jahren 1998 (27.4.-8.5. in Genf) und 1999 (12.-23.4. in New York) stattfinden, die Überprüfungskonferenz im Jahr 2000 wird vier Wochen dauern (24.4.-19.5. in New York).

Die NVV-Überprüfungskonferenz als ein neues Verhandlungsforum

Auf der Konferenz im April 1997 wurden Vorentscheidungen getroffen für den verstärkten Mechanismus zur Überprüfung der Implementierung des Vertrages und insbesondere für die Frage, welche Rolle dabei die substantielle Diskussion von zukünftigen Abrüstungsaufgaben spielen kann.

Erstmals wurden bei einem solchen Vorbereitungstreffen nicht nur prozedurale Fragen der Kernwaffenstaaten geklärt, sondern auch inhaltliche Debatten geführt. Noch eine Neuheit ist, daß sich inhaltliche Diskussionen nicht auf eine Überprüfung der Implementierung des NVV in der Vergangenheit beschränken, sondern sich auch auf Maßnahmen beziehen, über die zukünftig im Rahmen der Überprüfungsprozedur verhandelt werden soll. Am Ende der NVV-Konferenz wurden drei solche Maßnahmen vorgeschlagen, auf die sich die Debatte konzentrieren soll:

  1. Die Kernwaffenstaaten sollen den NVV-Mitgliedsstaaten Sicherheitsgarantien geben, keine Kernwaffen gegen diese einzusetzen. Südafrika hat quasi als Testfall für einen verstärkten Überprüfungsprozeß vorgeschlagen, diese Aufgabe bis zum Jahr 2000 anzugehen und zu einem Ergebnis zu bringen. Viele Länder wünschen sich hierzu ein Protokoll zum NVV.
  2. Im Nahen Osten soll eine kernwaffenfreie Zone eingerichtet werden. Damit wird ein Punkt aus den 1995 verabschiedeten »Principles and Objectives« zum NVV sowie eine Resolution des Sicherheitsrates aus demselben Jahr aufgegriffen. Da alle Staaten der betroffenen Region außer Israel dem NVV inzwischen beigetreten sind, zielt diese Forderung hauptsächlich auf die Abrüstung der israelischen Kernwaffen ab.
  3. Die Produktion von spaltbaren Materialien für Waffenzwecke soll verboten werden (»Cut-off«). Diese Forderung wurde vom deutschen Botschafter Günther Seibert vorgebracht. Mit dieser Maßnahme sollen vor allem die dem NVV nicht beigetretenen Länder Indien, Israel und Pakistan unter Kontrolle gebracht werden. Die meisten blockfreien Staaten wollen eine Reduktion der bestehenden Bestände in den Vertrag einbeziehen, damit die Kernwaffenstaaten mehr tun, als nur bestehende Produktionsmoratorien festzuschreiben.

Damit wird der Überprüfungsprozeß eine qualitativ neue Aufgabe bekommen und an politischem Gewicht gewinnen. Neben der Konferenz für Abrüstung in Genf und der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York könnte sie zukünftig ein neues internationales Verhandlungsforum für nukleare Rüstungskontrolle darstellen.

Noch ist allerdings nicht klar, welche völkerrechtlich verbindliche Form ein Ergebnis haben kann. Denkbar wäre auch hier ein Protokoll zum NVV.

Zukünftige nukleare Abrüstung bleibt ausgeklammert

Es ist jedoch bemerkenswert, daß die drei hervorgehobenen Themen vorrangig dem Bereich der Nichtweiterverbreitung zuzuordnen sind. Im Gegensatz dazu soll nukleare Abrüstung zwar wie gehabt ausführlich rückblickend gewürdigt werden. Aber die Kernwaffenstaaten lehnen es strikt ab, eine entsprechende Forderung nach Verhandlungen mit den NVV-Mitgliedsstaaten über zukünftige Maßnahmen in diese Liste als viertes Thema aufzunehmen. Die mexikanische Botschafterin Angelica Arce de Jeannet folgte der traditionellen Rolle ihres Landes und blieb bis zuletzt standhaft, den Konsens über den Abschlußbericht der Konferenz zu verhindern, wenn diese Forderung nicht aufgegriffen würde. Die Sitzung der NVV-Mitgliedsstaaten drohte ohne offizielles Ergebnis zu platzen. Schließlich rettete der Vorsitzende, Botschafter Pasi Patokallio aus Finnland, den Bericht mit einem raffiniertem Schachzug: Er nahm den umstrittenen Paragraph ganz heraus und gab ihn als persönliche Erklärung zu Protokoll, jedoch ohne nukleare Abrüstung zu ergänzen. Die vorzuweisenden Abrüstungserfolge sind ohnehin umstritten. Den blockfreien Staaten sind sie nicht weitreichend genug, und es fehlt eine Sicherheit dafür, daß die Kernwaffenstaaten ernsthaft bemüht sind, in naher Zukunft ihre Atomwaffen abzuschaffen. So hat es deutliche Irritationen hervorgerufen, daß die USA eine Woche vor Beginn der NVV-Konferenz angekündigt haben, dieses Jahr zwei subkritische unterirdische Tests in Nevada durchzuführen. Bereits kurz vorher gab die USA bekannt, daß eine Modifikation des Sprengkopfes W-61 ohne unterirdische Tests ins Arsenal aufgenommen wird. Diese neue Kernwaffe ist daraufhin optimiert, durch Beton und Erdschichten zu dringen und mit einer vorher zwischen 0,3 und 340 Kilotonnen TNT einstellbaren Sprengkraft zu explodieren.

Um die Fülle an vorgelegten Forderungen und Vorschlägen vorzusondieren, hat der Vorsitzende eine Gruppe von etwa 25 ausgewählten Delegierten um sich gesammelt, mit der er einen »Chairman's-Report« erarbeitete. Darin wird auch aus der Erklärung der blockfreien Staaten zitiert, die eine mehrphasige nukleare Abrüstung vorschlagen und die komplette Eliminierung von Kernwaffen innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens fordern. Darin soll der Abschluß einer Nuklearwaffenkonvention enthalten sein. Der Vorschlag, im Rahmen des NVV Überprüfungsprozesses eine »Intersessional Working Group« mit dieser Aufgabe einzurichten, wurde genauso abgelehnt wie schon früher im Jahr die Forderung, ein Ad Hoc Komittee für nukleare Abrüstung bei der Konferenz für Abrüstung in Genf einzurichten.

Allgemein begrüßt wurde die neue Inititative, in Zentralasien eine neue kernwaffenfreie Zone einzurichten. Sie soll Kazakstan, Kyrgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan umfassen. Sehr positiv wurde auch reagiert auf die Fertigstellung eines Protokolls für ein Abkommen zwischen NVV-Mitgliedsstaaten und der IAEO, durch das die Behörde erweiterte Rechte bekommt und die Safeguardsmaßnahmen effektivieren und kosteneffizienter gestalten kann. Mitte Mai steht das Protokoll, das als Teil zwei des Programms 93+2 bekannt geworden ist, im Gouverneursrat der IAEO zur Verabschiedung an.

Die Rolle von Nichtregierungsorganisationen

Die Nichtregierungsorganisationen (NROen) wurden – abgesehen von Eröffnungs- und Schlußsitzungen und den staatlichen Erklärungen – ausgeschlossen. Das ist ein Rückschritt, steht im Gegensatz zu anderen Konferenzen bei den Vereinten Nationen und schafft einen sehr unbefriedigenden Präzedenzfall. Die NROen haben für Delegierte und die eigenen Kreise ein vielseitiges Informations- und Diskussionsprogramm organisiert. Dazu gehörte eine dreistündige Sitzung der NROen, die unter Leitung von Pasi Patokallio im Sitzungssaal der Vorbereitungskonferenz stattfand.

Die große Mehrheit der NROen fordert unter dem Motto ihres Koalitionsnamens »Abolition 2000« einen definitiven Beginn von terminlich gebundenen Verhandlungen einer Nuklearwaffenkonvention zur Abschaffung aller Kernwaffen bis zum Jahr 2000.

Es wurde der Entwurf für eine solche Nuklearwaffenkonvention vorgelegt, der von JuristInnen, PhysikerInnen und AbrüstungsexpertInnen erarbeitet worden ist. Die Federführung für dieses Projekt hat das in New York ansässige Lawers Committee for Nuclear Policy (LCNP), und die technische Expertise wurde vom International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) unter Koordinierung von IANUS an der TH Darmstadt beigesteuert. Die Mehrheit der Staaten in der UNO und die Mehrheit des Europaparlaments fordert Verhandlungen über einen derartigen Vertrag. Der irische Botschafter John Campbell bezeichnete die Vorstellung des »Entwurfes« in einer offiziellen Erklärung als den jüngsten Meilenstein wichtiger Ereignisse in Richtung auf die Abschaffung der Kernwaffen

Dr. Martin B. Kalinowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

Wiederaufnahme der Atomtests gefährdet Nichtverbreitungsregime

Erklärung von Friedensforschungsinstituten und Gruppen der naturwissenschaftlichen Abrüstungsforschung zu den französischen Nukleartests

Wiederaufnahme der Atomtests gefährdet Nichtverbreitungsregime

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Mitte Juni 1995 kündigte der im Mai neugewählte französische Präsident Jacques Chirac die Wiederaufnahme der seit 1992 eingestellten französischen Atomwaffentests an. Zwischen September 1995 und Mai 1996 sollen mindestens acht Tests auf dem Mururoa-Atoll im Südpazifik durchgeführt werden.

Nur einen Monat nach der unbegrenzten Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages in New York, in dessen Schlußdokument sich die Atommächte zu „äußerster Zurückhaltung“ bei Nukleartests bis zum Abschluß eines Vollständigen Teststoppvertrages verpflichtet hatten, haben die weltweiten Bemühungen um nukleare Abrüstung und Nichtweiterverbreitung damit einen schweren Rückschlag erlitten. Neben Frankreich hatte bereits China am 14. Mai 1995 einen Nukleartest durchgeführt. Werden die Nukleartests wiederaufgenommen und kommt in nächster Zeit keine Einigung über einen umfassenden Teststopp zustande, so wird nicht nur die Distanz zwischen den Nuklear- und den Nichtnuklearmächten weiter erheblich vergrößert, sondern das in den letzten Jahrzehnten aufgebaute Nichtweiterverbreitungsregime könnte irreversiblen Schaden erleiden; die weitere nukleare Abrüstung wäre gefährdet.

Sind Nukleartests notwendig?

Zwischen 1945 und 1994 wurden weltweit über 2.000 Atomtests durchgeführt; seit 1963 sind Atomversuche in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser vertraglich verboten. Seit 1974 halten sich auch Frankreich und seit 1980 China daran. Die USA haben in dieser Zeit 1.030 Tests (815 unterirdisch) durchgeführt, die Sowjetunion 715 (508 unterirdisch), Großbritannien 45 (24 unterirdisch), China 41 (18 unterirdisch) und Frankreich 204 (159 unterirdisch).

Zwei wesentliche Begründungen für die Durchführung von Tests werden immer wieder angeführt: a) die Überprüfung der Sicherheit existierender Arsenale sowie b) die Entwicklung neuer Sprengkopftypen. Angesichts von über 200 durchgeführten Tests (d.h fünfmal soviel wie Großbritannien und China) liegen Frankreich genügend Erfahrungen vor, um die Funktionsfähigkeit und Zuverlässigkeit des vorhandenen Arsenals zu garantieren. Die Atomwaffen werden ständig kontrolliert und gewartet. Zusätzlich können Komponenten der Sprengköpfe ausgebaut und einzeln getestet bzw. im Schadensfalle durch neue Komponenten ersetzt werden. Nukleartests sind dazu nicht notwendig. Ein Hauptgrund für die Atomtests ist vielmehr die Weiterentwicklung und »Verbesserung« von Nuklearwaffen. Es ist offenkundig, daß ein neuer Sprengkopf für die für U-Boote vorgesehene strategische Rakete M-5 und ein Sprengkopf für die luftgestützte Abstandswaffe ASLP getestet werden soll. Hiermit setzt Frankreich den qualitativen Rüstungswettlauf durch die angestrebte Realisierung kleiner, zielgenauer Nuklearwaffen fort, die bereits in das Arsenal z.B. der USA eingeführt wurden.

Können Computersimulationen Nukleartests ersetzen?

Immer wieder wird das Argument ins Feld geführt, Simulationen könnten Nukleartests ersetzen. Um Simulationsrechnungen an die Realität anzupassen, werden stets auch experimentelle Daten benötigt. Bei über 200 Tests liegen Frankreich jedoch genügend Daten vor, um Berechnungen für die bisherigen Sprengkopftypen durchzuführen. Auch eine gewisse Extrapolation in bezug auf geänderte Anordnungen sollte damit möglich sein. Allerdings kann man grundlegend neue Bombentypen auf diese Weise nicht entwerfen. Außerdem hat das Militär große Bedenken, sich auf ungetestete Waffen zu verlassen. Dies ist seit über 30 Jahren ein Hauptmotiv der Rüstungskontrollbemühungen für den fehlenden Abschluß eines Vollständigen Teststopps. Daher liegt die Befürchtung nahe, daß ein Teil der Tests der Gewinnung von neuen Daten für »fortgeschrittene Nuklearwaffen« dienen. Darunter sind miniaturisierte Atomwaffen mit selektiver Wirkung zu verstehen, die z.B. gegen unterirdische Bunker eingesetzt werden können.

Durch den geplanten Teststoppvertrag voraussichtlich nicht verbotene Labortests, sog. hydronukleare Tests und Laserfusionsexperimente, könnten, zusammen mit Simulationsrechnungen, dazu dienen, kleinere Sprengköpfe mit begrenzter Energiefreisetzung im niedrigen kt-Bereich weiterzuentwickeln. Bei hydronuklearen Tests wird eine Kettenreaktion mit geringfügiger nuklearer Energiefreisetzung durchgeführt.

Bei den Genfer Teststoppverhandlungen ist nicht nur umstritten, ob den Atommächten hydronukleare Tests überhaupt weiter gestattet sein sollen und, wenn ja, welche Schwellen dabei noch erlaubt sind. Während die USA eine nukleare Energiefreisetzung von über 2 kg TNT-Äquivalent verbieten wollen, tritt Großbritannien für Obergrenzen von 50 kg, Rußland für 10 Tonnen, Frankreich für 100-200 Tonnen und China für 1.000 Tonnen ein. China verlangt zudem, Kernexplosionen zu friedlichen Zwecken weiterhin durchführen zu können. Jede Nuklearmacht fordert eine Grenze der Testexplosionen, die ihrer eigenen technischen Fähigkeit angepaßt ist. Die USA sind sowohl auf dem Gebiet der Entwicklung von nuklearen Kleinsprengköpfen als auch in der Anwendung von Computersimulationen am weitesten fortgeschritten. Während eine Schwelle von nur 2 kg als solche militärisch nicht relevant ist, können bei einer Grenze von einigen 100 Tonnen bereits neue Miniatursprengköpfe entwickelt und im Orginal erprobt werden. Die Tests dieser »neuen Generation von Nuklearwaffen« auf den bekannten Testgeländen würden die Verifikation eines Teststopps zudem erheblich erschweren. Es ist davon auszugehen, daß die französischen Tests auch der Gewinnung von neuen Testdaten für Miniatursprengköpfe dienen. Damit verbunden wäre die Ablösung der bisherigen französischen Abschreckungsstrategie »des Schwachen gegen den Starken« durch eine nukleare Kriegsführungsstrategie. Die angekündigten Tests gefährden einen Abschluß eines Vollständigen Teststopps deshalb aufs schwerste.

Sind die Nukleartests im Südpazifik ökologisch verantwortbar?

Die 187 Tests auf Mururoa und Umgebung haben bereits großen ökologischen Schaden angerichtet. Die »Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg« (IPPNW) schätzen, daß ca. 20 kg Plutonium auf dem Grund des Atolls abgelagert sind. Hohe Konzentrationen von Plutonium wurden im Plankton festgestellt. Angesichts der vielen Tests und möglicher geologischer Instabilitäten ist nicht auszuschließen, daß zumindest langfristig radioaktive Spaltprodukte ins Meer und damit in die Nahrungskette gelangen. Die geologische Struktur des Mururoa-Atolls ist höchstwahrscheinlich ungeeignet, um die bei Tests entstehenden radioaktiven Substanzen auf Dauer von der Umwelt abzuschirmen. Der tiefergelegene Basalt, in dem die Tests stattfinden, ist nach glaubwürdigen Aussagen von Geologen nicht nur von natürlichen Bruchlinien und Explosionsrissen durchzogen, sondern er ist auch durch Wasser gesättigt, was den Transport von Radioaktivität an die Oberfläche begünstigt. Das vulkanische Gestein Mururoas bildet nicht die geologische Barriere, die immer wieder betont wird. Bisher war es keiner unabhängigen Wissenschaftlerkommission erlaubt, umfassend zu überprüfen, ob die geologische Struktur so sicher ist, wie von offizieller französischer Seite behauptet wird.

Folgende Konsequenzen sind bei der Durchführung der französischen Tests zu erwarten:

1.) Bisher hatte sich nur China nicht dem Teststopp-Moratorium der Atommächte USA, Rußland, Frankreich und Großbritannien von 1992 angeschlossen. Es besteht nun die Gefahr, daß in diesen Ländern wieder die Stimmen Unterstützung finden, die seit Jahren die Wiederaufnahme der nationalen Atomtests fordern. In den USA und in Rußland sind 1996 Präsidentschaftswahlen. Nationalistisch ausgerichtete Kandidaten werden verstärkt für die Wiedereinführung von Nukleartests zur Stärkung der »nationalen Sicherheit« eintreten und sie im Falle ihrer Wahl durchsetzen. Zudem würde eine Chance vertan, China zum Einlenken zu bewegen.

2.) Trotz des Widerstands einiger weniger entwickelter Länder konnte der Nichtverbreitungsvertrag im Mai 1995 ohne Kampfabstimmung unbefristet verlängert werden. Die Sorge vieler Vertragsstaaten, die Atommächte würden bei unbefristeter Verlängerung die begonnene nukleare Abrüstung nicht mit genügendem Ernst vorantreiben, konnte durch zusätzliche Entschließungen notdürftig entkräftet werden. Für viele Nichtnuklearwaffenstaaten ist die Wiederaufnahme der Atomtests nunmehr ein Schlag ins Gesicht. Sie fühlen sich regelrecht betrogen. Damit könnte das internationale Nichtverbreitungsregime nicht wieder gutzumachenden Schaden erleiden.

3.) Die Verhandlungen für einen »universellen, effektiven und verifizierbaren« Vollständigen Teststopp, die in Genf stattfinden und die bis 1996 abgeschlossen sein sollen, werden durch die Tests Chinas und Frankreichs ein weiteres Mal schwer belastet. Zu den ohnehin schwierig zu lösenden Problemen (Gibt es eine Grenze für eine Testexplosion? Sind Laborexperimente und Computersimulationen erlaubt? Wie können die Tests verifiziert werden?) gesellt sich nun die Frage nach der Ernsthaftigkeit des erklärten Willens der Atommächte, die nukleare Abrüstung weiter voranzutreiben. Die Geduld und Kompromißbereitschaft mancher Nichtnuklearwaffenstaaten könnten auf Dauer ein Ende finden.

4.) Ein vollständiger Teststopp ist für die Nichtnuklearwaffenstaaten Symbol und Garant für das Ende des qualitativen Wettrüstens, d.h. für das Ende der Weiterentwicklung immer kleinerer und selektiv wirksamer Atomwaffen. Insbesondere die Atommächte treiben diese Entwicklungen bisher voran. Einerseits besteht die Gefahr, daß die Einsatzschwelle dieser Waffen in einem Krisenfall gesenkt wird. Zum anderen könnten potentielle Nuklearwaffenstaaten veranlaßt werden, den deklarierten Nuklearwaffenstaaten mit eigenen Entwicklungen nachzueifern. Ein Teststoppvertrag, der den klassischen Atommächten hydronukleare Tests und andere Laborexperimente nicht verbietet, beendet nicht die geplanten, qualitativen Weiterentwicklungen. Es wäre kein vollständiger Teststopp, sondern lediglich ein Schwellenvertrag für die Vertragsstaaten, die sich einem solchen Regime anschließen. Er beendet weder die Weiterentwicklung noch die Weiterverbreitung von Atomwaffen. Wenn es das Ziel der fünf erklärten Atommächte ist, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu unterbinden, müssen sie selbst ihre eigenen Tests vollständig beenden.

5.) Nach der Epochenwende von 1989 haben Atomwaffen erheblich an Bedeutung verloren. Fünfzig Jahre nach Hiroshima und Nagasaki sind Nuklearwaffen kein rechtfertigungsfähiges und politisch verantwortbares Instrument internationaler Politik. Zur Aufrechterhaltung einer Abschreckung gegen eine atomare Bedrohung reichen wenige Atomwaffen der ersten Generation aus. Frankreich besitzt mehr als genügend moderne Nuklearwaffen, um eine solche Abschreckung zu gewährleisten. Den heutigen Friedensbedrohungen ist mit wirtschaftlicher Hilfe, Entwicklungsprogrammen und präventiver Diplomatie zu begegnen und nicht mit einer Verfeinerung der Nukleararsenale. Die meisten kriegerischen Auseinandersetzungen haben innerstaatliche Gründe und sind mit Nuklearwaffen nicht zu lösen. Friedensdienlicher wäre es vor dem Hintergrund vieler aktueller Konflikte in der Welt, funktionierende Instrumente für eine effektive Konfliktvorsorge oder ein Krisenmanagement zu entwickeln.

Wir appellieren deshalb an Präsident Chirac und die französische Nation, auf weitere Nukleartests zu verzichten und sich statt dessen für eine Stärkung des Nichtverbreitungsregimes und die möglichst baldige Ratifizierung eines Vollständigen Teststoppvertrages einzusetzen. Wir appellieren an die chinesische Regierung, sich dem Atomtestmoratorium anzuschließen. Schnellstmöglich sollten die Verhandlungen über einen Vollständigen Teststopp in Genf zu Ende geführt werden. Wir appellieren an die Bundesregierung, klar gegen eine Wiederaufnahme der französischen Nukleartests Stellung zu beziehen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf die französische Politik einzuwirken, keine weiteren Nukleartests durchzuführen. Statt dessen sollte sie sich verstärkt für nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle engagieren. Wir fordern weiterhin von den Atommächten, ein einseitiges Produktionsmoratorium für kernwaffenfähige, spaltbare Materialien und Tritium zu verkünden sowie dies zu einem dauerhaften »Cut-off-Vertrag» auszubauen. Die überschüssigen, aus dem Rüstungsabbau stammenden, waffenfähigen Inventare aller Kernwaffenstaaten sollen einer internationalen Kontrolle übergeben werden. Dieses Material sollte jeglichem nationalen Zugriff entzogen werden, damit der Abrüstungsprozeß unumkehrbar wird.

  • Arbeitsgruppe Naturwissenschaft und Internationale Sicherheit (CENSIS) in der Universität Hamburg
  • Bonn International Center for Conversion (BICC), Bonn
  • Bochumer Verifikationsprojekt (BVP), Ruhr-Universität Bochum
  • Forschungsgruppe »Non-Proliferation« (Dr. Harald Müller, Dr. Annette Schaper), in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt am Main
  • Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Hamburg
  • Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS), TH Darmstadt

Kontakt: Götz Neuneck, IFSH, Falkenstein 1, 22587 Hamburg (T: (040) 869054; F:(040) 8663615)

Eine atomwaffenfreie Welt

Eine atomwaffenfreie Welt

Über den Nichtverbreitungsvertrag für Atomwaffen hinausgehen

von INESAP

1. Die atomwaffenfreie Welt

1.1 Ein notwendiges Ziel

Die atomwaffenfreie Welt ist längst mehr als nur eine phantastische Idee. Sie wird inzwischen auch von Strategen, Militärexperten und früheren US-Verteidigungsministern ernst genommen. Auch sie gestehen nämlich jetzt ein – was die Friedensbewegung schon vor Jahren getan hat –, daß Nuklearwaffen die Sicherheit der Atommächte eher verringern als erhöhen. Dieser Umdenkungsprozeß, mit dem gleichzeitig die Denkkonzepte aus dem Kalten Krieg verschwinden, wird auch den inoffiziellen Kernwaffenstaaten helfen, ihre Option auf Nuklearwaffen aufzugeben.

Atomwaffen sind nicht geeignet oder notwendig, um jede mögliche Bedrohung durch andere Kernwaffenstaaten abzuschrecken oder das Risiko eines größeren Krieges zu verringern. Im Gegenteil, wenn eine kleine Zahl von Staaten weiterhin Atomwaffen besitzt und Pläne ausarbeitet, diese für die Durchsetzung regionaler Sicherheitsinteressen einzusetzen, wird dadurch sicherlich der wahrgenommene Wert dieser Waffen ansteigen und dann ebenfalls die damit verbundenen Gefahren der Weiterverbreitung.

Einige, die diese Argumentation im Prinzip akzeptieren, lehnen dennoch die letzte Konsequenz ab: Sie verschieben die letztendliche Beseitigung der Atomwaffen auf eine unbestimmte Zukunft.

Dies reicht nicht aus. Es gibt keine dauernde globale Stabilität auch bei Existenz nur kleiner Atomwaffenarsenale. Es bestehen nur zwei Optionen: Die erste will eine Nulllösung – die totale Beseitigung nuklearer Waffen. Die andere bedeutet langfristig die Weiterverbreitung von Atomwaffen an viele Nationen. Die erste Option ist zu bevorzugen, da sie viel weniger gefährlich ist als die zweite. In einer Welt, in der Atomwaffenmächte behaupten, eine Politik der »minimalen Abschreckung« eingeführt und damit die Bedeutung der Kernwaffen abgemildert zu haben, wird es wahrscheinlich noch schwieriger sein, Proliferation zu verhindern als es jetzt schon der Fall ist.

Die Entscheidung für eine Nullösung wäre ein wichtiger Beitrag, das Denken über den Einsatz militärischer Macht in den zwischenstaatlichen Beziehungen zu ändern. Sie würde eine stärkere Hinwendung zur Akzeptanz internationalen Völkerrechts befördern und zu einer breiteren Akzeptanz des Grundsatzes führen, daß zwischenstaatliche Meinungsverschiedenheiten friedlich geregelt werden müssen. Darüber hinaus wäre die Nullösung mit der Verpflichtung der Atomwaffenstaaten zur totalen nuklearen Abrüstung konform, die in Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrags festgeschrieben ist.

1.2 Transformation des Nichtverbreitungsregimes

Der zentrale Kritikpunkt am Nichtverbreitungsvertrag (NVV) ist, daß er de jure diskriminatorisch ist, da er die Teilung der Welt in Nuklearwaffenstaaten und Nicht-Nuklearwaffenstaaten legitimiert. Letzteren werden strenge Kontrollmaßnahmen auferlegt, während Nuklearwaffenstaaten keinen scharfen und durchsetzbaren Verpflichtungen unterworfen sind.

In seiner Praxis ist das Nichtverbreitungsregime sogar noch diskriminierender, weil es die Errichtung eines Dreiklassensystems des Technologiezugangs impliziert. So lange die mit den Atomwaffenmächten verbündeten Industriestaaten auf einem uneingeschränkten Gebrauch jeglicher atomarer Technologie bestehen, wird eine einseitige Exportkontrolle als eine Diskriminierung durch die Lieferländer empfunden werden.

Ein weiterer zentraler Mangel des NVV ist, daß er die unüberwindliche zivil-militärische Doppelverwendbarkeit vieler nuklearer Technologien ignoriert. Solange waffenfähiges Material produziert werden darf, kann es auch für die Herstellung von Nuklearwaffen abgezweigt werden. Dies betrifft auch die unglückliche Doppelrolle der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) als Förderer und »Kontrolleur« der Kernenergie. Die entsprechende Förderung führte zu einer weiten Verbreitung von Nukleartechnologie, so daß viele Staaten mit technischen Voraussetzungen für Waffenprogramme versorgt wurden. Trotz gegenwärtiger Vorschläge, das System der IAEO-Sicherungsmaßnahmen zu stärken, wird die Kontrolle dieser Technologien unvollständig bleiben – teilweise aufgrund technischer Einschränkungen.

Das Tauschgeschäft des NVV (Zugang zu nuklearer Technologie im Austausch für Verzicht auf Nuklearwaffen) hat seine Stärke verloren. Darüber hinaus wird es zunehmend unrealistischer, daß das Nichtverbreitungsregime in seiner jetzigen Form das richtige Mittel ist, die Weiterverbreitung zu stoppen. Allerdings ist es richtig, daß eine große Mehrheit der Nicht-Nuklearwaffenstaaten nicht dem Beispiel Irak folgen werden: Die meisten Staaten brechen nicht einen von ihnen unterzeichneten Vertrag, nur weil seine Kontrollierbarkeit und die Erzwingung der Vertragseinhaltung vergleichsweise schwach ist.

Es wäre sehr wünschenswert, wenn die Atommächte sich auf der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz des NVV eindeutig zur Nullösung bekennen würden. Aussagen bezüglich dieses Punktes sind bislang vage und doppeldeutig geblieben und verschieben die Angelegenheit in eine ferne Zukunft. Es wäre ganz wesentlich, wenn diese Staaten endlich ein zeitlich verbindliches Abrüstungsprogramm akzeptieren würden, um die Nullösung zu erreichen. In dieser Hinsicht dürfte eine unbegrenzte Verlängerung des NVV ein unglücklicher Ausgang sein, da er den internationalen Druck hin zu einer Nulllösung verringern würde. Auch wenn eine unbegrenzte Verlängerung den fortdauernden Besitz von Atomwaffen nicht wirklich legitimieren würde, könnte sie praktisch den unbegrenzten Aufschub für die vollständige nukleare Abrüstung bedeuten.

Solange der Besitz von Kernwaffen und waffenfähigem Material durch eine kleine Anzahl von Staaten als legitim angesehen wird, werden Begehrlichkeiten in anderen Staaten geweckt. Die Folge ist, daß die globale nukleare Bedrohung fortdauert und sich weiter erhöht. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist es dagegen möglich geworden, einen schrittweisen Transformationsprozeß zu beginnen, der das alte Nichtverbreitungsregime in ein viel effektiveres Regime der atomwaffenfreien Welt überführt. Dafür ist ein auch zeitlich verbindlicher Zielhorizont der Beseitigung aller Atomwaffen erforderlich. Wie die Dinge heute stehen, wird demgegenüber Jahr für Jahr immer mehr waffenfähiges Material produziert, und es wird immer einfacher, an dieses heran zu kommen. Diese Entwicklung muß umgekehrt werden.

1.3 Nuklearwaffenkonvention (NWK)

In ihrem Abschlußdokument sollte die Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz des NVV dazu auffordern, der Genfer Abrüstungskonferenz ein Verhandlungsmandat für eine Nuklearwaffenkonvention zu übertragen. So könnte der Ruf nach entschiedenen Schritten hin zu einer atomwaffenfreien Welt weiter konkretisiert werden. Damit würde, wie schon bei der Biowaffenkonvention (BWC) und der Chemiewaffenkonvention (CWC), ein totales Verbot angestrebt.

Eine NWK würde nicht nur den Besitz und die Produktion von Nuklearwaffen verbieten; sie würde auch alle Arten des Erwerbs (inklusive Forschung und Entwicklung), des Transfers, der Stationierung (oder Vorbereitungen zur erneuten Stationierung), des Gebrauchs und der Drohung damit unter Verbot stellen. Die Konvention würde die Beseitigung der kompletten Infrastruktur anstreben, die der Herstellung und dem Besitz von Kernsprengköpfen und ihren Trägersystemen dient. Sie würde ein internationales Kontrollsystem für das verbleibende waffenfähige Material bereitstellen. Die Konvention würde den Gehalt einiger anderer dann bereits existierender relevanter Verträge umfassen, wie z.B. Verbote von Atomwaffentests oder Verbote der Produktion waffenfähiger Spaltmaterialien. Sie würde diese Verträge daher ersetzen und universell gültig machen. Insbesondere würde eine Nuklearwaffenkonvention den NVV ersetzen.

Wenn eine Nuklearwaffenkonvention von einer erforderlich gemachten Mindestanzahl von Staaten angenommen worden ist, müßte sie durch einen Sicherheitsratsbeschluß für alle Staaten verbindlich gemacht werden. Außerdem dürfte es keine Begrenzung der Gültigkeitsdauer geben und ebenfalls kein Rücktrittsrecht. Eine atomwaffenfreie Welt kann nicht ohne die Unterstützung aller anerkannten Atommächte ins Leben gerufen werden, die die Herstellung dieses Ziels nicht nur als notwendig im Sinne ihrer eigenen Interessen sehen müssen, sondern auch in der Lage sein müssen, es gegen mögliche Vertragsbrüche zu sichern.

1.4 Vorgebrachte Einwände

Es wird behauptet, daß Atomwaffen den Ausbruch konventioneller Kriege verhindert haben. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, daß Atomwaffen tatsächlich einen Krieg zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt abgeschreckt haben. Wenn diese Behauptung irgendeine Gültigkeit gehabt hätte, wäre zu erwarten gewesen, daß jedenfalls Nicht-Kernwaffenstaaten abgeschreckt wurden, gegen Atommächte Krieg zu führen. Die Beispiele von Korea, Vietnam und Argentinien zeigen, daß dies nicht der Fall war. Es wird immer noch argumentiert, daß eine Abschreckung gegen die Bedrohung mit Atomwaffen nur durch Atomwaffen selbst funktionieren könne. Läßt man sich auf die Idee der atomwaffenfreien Welt ein, muß das jedenfalls nicht so sein. Sobald ersichtlich wäre, daß ein Nuklearwaffenstaat einige Sprengköpfe zurückgehalten hat, oder sobald ein neues Atomwaffenprogramm aufgedeckt würde, könnte die internationale Staatengemeinschaft entsprechende Maßnahmen gegen den abtrünnigen Staat einleiten, ohne dabei Zuflucht zu Atomwaffen suchen zu müssen (siehe auch 1.6). Es wird auch gesagt, daß Atomwaffen nötig wären, um den möglichen Einsatz biologischer und chemischer Waffen abzuschrecken. Die Biowaffenkonvention hat bereits 131 Mitglieder und die Chemiewaffenkonvention sollte bald in Kraft treten. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß Atomwaffen nötig wären, um diesbezüglich mögliche Vertragsbrüche zu verhindern.

Es wird argumentiert, daß Atomwaffen nicht »wegerfunden« werden können. Dies ist aber kein Grund, sie zu behalten. Sind die Teams, die diese Waffen erfunden und instand gehalten haben erst einmal aufgelöst, dann benötigt die erneute Entwicklung einige Zeit, es entstehen neue Hürden und Eskalationsstufen, so daß die internationale Staatengemeinschaft Zeit zur Reaktion gewinnt. Zusätzlich sollte die Stationierung von atomwaffenfähigen Trägersystemen verboten sein. Dadurch würde ein militärischer Einsatz von »wieder erfundenen« Atomwaffen weiter verschoben werden.

1.5 Kontrolle und Verifikation

Die technischen Mittel, um die Abwesenheit von Atomwaffen zu verifizieren, sind im Prinzip verfügbar. Es muß natürlich »zu jeder Zeit, an jedem Ort« Inspektionen geben können, ohne vorher die Erlaubnis des betroffenen Staates einholen zu müssen. Um außerdem jeglichen Verdacht von Geheimaktivitäten aus dem Weg zu räumen, sollte alle Forschung und Entwicklung offen betrieben werden, zumindest soweit wie für diesen Zweck notwendig.

Die Konvention sollte die Anforderung enthalten, daß alle Staaten es zu einer »Bürgerpflicht« machen, jede vermutete Vertragsverletzung einer internationalen Autorität zu melden. Es mag Staaten geben, in denen die Bürger sich fürchten werden, so zu handeln, so daß die internationalen Inspektionsprozeduren in diesen Staaten intensiver gestaltet werden müßten. Wissenschaftler, Ingenieure und technische Bedienstete, die in zivilen Kernforschungs- und Kernenergieprojekten arbeiten, müssen ein Selbstverständnis entwickeln, daß sie eine besondere Verantwortung dafür haben, die Integrität der Nuklearwaffenkonvention zu sichern.

1.6 Sicherheit in einer atomwaffenfreien Welt und ihre Durchsetzung

Jeder illegalen Entwicklung von Atomwaffen, jeder Einsatzdrohung oder jedem tatsächlichem Einsatz von Atomwaffen, könnte mit einer Vielzahl von abgestuften Maßnahmen angemessen entgegengetreten werden. Diese reichen von diplomatischen Anstrengungen und Bemühungen um Mediation über friedenserhaltende Aktivitäten und nichtmilitärische Interventionen sowie wirtschaftlichen Sanktionen bis hin zu der Drohung mit oder dem tatsächlichen Einsatz von konventionellen militärischen Kräften als letztem Mittel.

Der Einsatz oder die Drohung mit dem Einsatz von Kernwaffen hat in den vergangenen 50 Jahren keine bedeutende Rolle in der Sicherheitsstruktur der Welt gespielt, und es gibt keinen Grund, warum dies nicht weiter so sein sollte. Das Verschwinden nuklearer Waffen wird in keiner Weise die bestehende Sicherheitsstruktur beeinträchtigen. Es wurden bereits Gründe angeführt, warum dies vielmehr zu einer Verbesserung der globalen Sicherheitslage führen würde (siehe auch 1.1).

In einer Welt, in der sich die Staaten darauf geeinigt haben, den Weg in die atomwaffenfreie Welt zu beschreiten, läßt sich die globale Sicherheitsstruktur bereits durch andere Mittel verbessern. Dazu gehört beispielsweise, daß der Einsatz militärischer Kräfte generell nicht gutgeheißen wird. Wenn überhaupt, darf er nur als letztes Mittel vorgesehen werden, und dann auch nur unter der Schirmherrschaft der UN oder einer von der UN anerkannten Körperschaft einer regionalen Sicherheitsstruktur. Dazu sollte auch der UN-Sicherheitsrat demokratisiert werden; es sollte dort keine Bevorteilung der Atommächte mehr geben.

1.7 Der Weg in eine atomwaffenfreie Welt

Zu den Elementen auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt, die sofort durchgeführt werden können, gehören Schritte wie eine vereinbarte Verminderung der atomaren Arsenale, ein umfassender Teststopp-Vertrag (CTBT) sowie die Schließung und Zerlegung militärischer Einrichtungen für die Produktion von nuklearem Material. Ein entscheidender Bestandteil eines solchen Programms ist ein Vertrag über den »Nicht-Ersteinsatz« von Kernwaffen, der sehr bald geschlossen werden sollte.

Das daran anschließende Abrüstungsprogramm beinhaltet weitere starke Reduzierungen der nuklearen Arsenale der fünf anerkannten Atommächte, einschneidende Beschränkungen der Stationierung von Atomwaffen auf den Territorien anderer Länder sowie die Entnahme von Atomsprengköpfen aus strategischen und taktischen Trägersystemen und deren Deponierung in nationalen Lagern. Das Programm sieht darüber hinaus die Einrichtung von atomwaffenfreien Zonen vor, ein globales Moratorium über die weitere Entwicklung und Produktion atomarer Waffen sowie einen Produktionsstopp (Cutoff) für waffengrädiges Spaltmaterial. Dies wird einerseits durch eine internationale Bestandsliste von spaltbarem Material und andererseits durch die Durchsetzung eines verbesserten Überwachungs- und Schutzsystems für alle verbleibenden nuklearen Einrichtungen ergänzt. Weiterführende Schritte beinhalten ein Testverbot für ballistische Trägersysteme, die volle Inkraftsetzung der C-Waffenkonvention und ihre globale Einhaltung, die Entwicklung eines Verifikationssystems für die Biowaffenkonvention, ein umfassendes UN-Register über konventionelle und atomare Waffen sowie die Einführung einer UN-Berichterstattung über alle militärischen Ausgaben.

Wenn erst einmal alle Klauseln der Nuklearwaffenkonvention Anerkennung gefunden haben, sollten alle atomaren Arsenale auf Null reduziert werden, anstatt sie auf niedrigerem Niveau einzufrieren. Der Vorschlag, daß die UN einen Restbestand von Atomwaffen unter ihre direkte Kontrolle nimmt, um instabile Situationen bei niedrigen Atomwaffenzahlen zu vermeiden, ist nicht praktikabel. Die UN wird wohl niemals in der Lage sein, eine nukleare Abschreckung in einer überzeugenden Art aufrecht zu halten. Solange Atomwaffen weiter existieren, werden die Atommächte nicht bereit sein, die Kontrolle darüber einem UN-Personal zu übergeben, das auch aus Angehörigen von Nicht-Nuklearwaffenstaaten besteht. Es bestünde die Gefahr, daß eine ehemalige Atommacht leicht wieder die Kontrolle über ihre Atomwaffen zurückbekommen könnte.

In der letzten Etappe auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt werden die fünf anerkannten Kernwaffenstaaten sowie die übrigen De-facto-Atommächte in Nicht-Kernwaffenstaaten überführt. Dies kann möglicherweise durch regionale Ansätze geschehen. Das verbleibende globale Nukleararsenal wird unter internationaler Inspektion zerlegt werden. Die Nuklearwaffenkonvention wird spätestens dann in Kraft treten. Das gesamte waffenfähige Material wird unter internationale Aufsicht gestellt werden und für einen möglichen zivilen Gebrauch bzw. für eine zukünftige Entsorgung vorbereitet. Bestimmte nukleare Technologien und Aktivitäten, wie z.B. die Abtrennung von Plutonium und die Hochanreicherung von Uran, also die Produktion von waffenfähigem Material, werden illegalisiert.

Einige ausgewählte wesentliche Schritte werden im zweiten Teil des Dokuments ausführlicher behandelt.

2. Schritte hin zu einer atomwaffenfreien Welt

2.1. Abrüstungswettlauf zwischen den Kernwaffenstaaten

Weitere nukleare Abrüstung ist nicht nur notwendig, um internationale Sicherheit und Frieden zu gewährleisten, sondern auch, um den Artikel VI des NVV nachhaltig zu erfüllen. Der START II-Vertrag begrenzt die Anzahl der von den USA und Rußland stationierten strategischen nuklearen Gefechtsköpfe auf 6.500 im Jahr 2003. Dies übersteigt jedoch die Arsenale der kleineren Nuklearwaffenstaaten immer noch um einen Faktor 5 bis 8. Eine weitere Reduktion der Gefechtsköpfe von USA und Rußland auf je 1.000 im Rahmen eines START III-Vertrages wäre eine solide Grundlage für die Einbeziehung der kleineren Nuklearwaffenstaaten. Verhandlungen über die Begrenzung der verbleibenden taktischen Nuklearwaffen sollten ins Auge gefaßt werden. Es ist nun an der Zeit, daß sich auch die kleineren Atommächte an den Verhandlungen beteiligen.

Die Reduzierung und Zerlegung von nuklearen Gefechtsköpfen sollte nicht rückgängig zu machen sein und erfordert einen Stopp der Produktion von spaltbarem Material für Waffenzwecke. Eine Zusammenarbeit von USA und Rußland bei der Schaffung eines überprüfbaren Kontrollregimes für ihr waffentaugliches Spaltmaterial könnte den Weg ebnen für die Einbeziehung der kleineren Nuklearwaffenstaaten. Internationale Überwachung für das aus dem Verkehr gezogene Spaltmaterial ist notwendig, um international Vertrauen zu schaffen. Jegliche Spaltmaterialproduktion ohne internationale Überwachung muß unter Verbot gestellt werden. Der Austausch von Informationen über die nun überschüssigen Vorräte und die verbleibenden Arsenale wäre ein erster Schritt. Die Überwachung des spaltbaren Materials könnte von einer internationalen Organisation geleistet werden. Um die Krisenstabilität zu erhöhen und den zufälligen und unabsichtlichen Gebrauch von Nuklearwaffen zu verhindern, sollten zumindest die USA und Rußland die Gefechtsköpfe getrennt von den Trägersystemen lagern.

2.2. Produktionsstopp (Cutoff) und Lagerung von nuklearwaffenfähigem Material

Es existiert bereits ein erheblicher Überschuß an waffenfähigen Spaltmaterialien und Tritium. Dieser wird in der nächsten Zeit weiter zunehmen. Die zivilen Bestände an waffenfähigem Plutonium werden bereits kurz nach der Jahrhundertwende die militärischen übersteigen. Jeder Versuch, die potentielle Verwendbarkeit von waffenfähigem Material für Atomwaffen unter Kontrolle zu bringen, muß sowohl die militärische als auch die zivile Produktion und den Umgang mit diesen Materialien erfassen.

Es gibt ausgezeichnete Argumente – ökonomische, ökologische, sicherheits- und entsorgungstechnische – gegen die Abtrennung (d.h. Wiederaufbereitung von abgebrannten Brennelementen) und den Gebrauch von Plutonium. Zur Zeit sind Forschungsreaktoren die einzigen zivilen Nutzer von waffengrädigem hochangereichertem Uran. Diese können jedoch auf den Gebrauch von nicht waffentauglichem niedrig angereichertem Uran umgestellt werden.

Eine nachhaltige Lösung für den Umgang mit waffenfähigem Nuklearmaterial im Rahmen einer atomwaffenfreien Welt (oder eines nicht umkehrbaren Übergangsprozesses dorthin) erfordert einen vollständigen Bann ihres Gebrauchs, der die sensitivsten Produktionstechnologien mit einschließt. Auf lange Sicht muß ein solcher Bann besonders hochangereichertes Uran, Plutonium in all seinen Isotopenzusammensetzungen und Tritium umfassen, denn es muß für alle Staaten so schwer wie möglich gemacht werden, die Produktion von Nuklearwaffen wieder aufzunehmen. Daher sollten internationale Verhandlungen eine umfassende Cutoff-Konvention anstreben, die in einem schrittweisen Prozeß erreichbar wäre. Der erste Schritt sollte ein multilaterales Abkommen über einen Produktionsstopp für Waffenzwecke sein.

Die sofortigen Schritte sollten sein: Abzug der stationierten Nuklearwaffen, ihre Lagerung in nationalen Depots, ihre Zählung und Kennzeichnung unter internationaler Beobachtung. Dort sollten sie anschließend zerlegt werden. Das dabei frei werdende spaltbare Material sollte gelagert, bewacht und für die Demilitarisierung zum frühestmöglichen Zeitpunkt vorbereitet werden.

Aus Gründen der Dringlichkeit und einer glaubwürdigen Bemühung um Nichtverbreitung scheint die Vitrifikation (Vermischung mit Nuklearabfall und Einschluß in eine glasartige Struktur) die geeignetste Methode zu sein, das Waffenplutonium, das bei der Zerlegung der Gefechtsköpfe entsteht, endzulagern. Obgleich die Gesamtkosten einer Verarbeitung zu Mischoxid-Brennelementen (MOX-Option) und der Vitrifikation vergleichbar sind, sollten Kosten nachrangig gegenüber Gesichtspunkten der internationalen Sicherheit und der Umweltgefährdung bei der Auswahl der besten Methode sein. Allerdings ist derzeit keiner der bislang vorgeschlagenen Wege, Plutonium zu demilitarisieren, ausreichend sicher und technisch erprobt. Hier besteht noch weiterer Forschungsbedarf.

2.3. Nichtverbreitung und Abrüstung von atomwaffentauglichen Trägersystemen

Die Abschaffung von Nuklearwaffen könnte durch eine Reihe möglicher Maßnahmen zur Begrenzung der für Atomwaffen verwendbaren Trägersysteme ergänzt und erleichtert werden, die über das gegenwärtige Kontrollregime für Trägersysteme (Missile Technology Control Regime, MTCR) hinausgehen: Die Bedrohung durch ballistische Raketen könnte am effektivsten durch eine Konvention über ballistische Raketen entschärft werden. Ein Flugtestverbot für ballistische Raketen wäre der erste Schritt, die Entwicklung neuer Raketentypen zu verhindern. Eine internationale Überwachungsbehörde könnte eingesetzt werden, um sicherzustellen, daß die Raumfahrttechnik nicht benutzt wird, um ballistische Raketen zu entwickeln und zu produzieren.

Marschflugkörper stellen eine ähnliche Bedrohung im Hinblick auf Weiterverbreitung und -entwicklung dar wie ballistische Raketen und Kampfbomber. Existierende Bemühungen zur Eindämmung dieser Gefahren (MTCR) sollten fortgeführt und gegebenenfalls erweitert werden. Es dürfte jedoch notwendig sein, Rüstungskontrollansätze zu entwickeln, die bestehende Ähnlichkeiten zwischen Kampfbombern und Marschflugkörpern und den ihnen zugrundeliegenden Technologien berücksichtigen.

Viele Länder haben zur Stärkung ihrer nationalen Verteidigungsfähigkeit Flugzeuge stationiert, die auch für den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln geeignet sind. Um die Verbreitung von Militärflugzeugen einzuschränken, könnten Staaten Obergrenzen bezüglich der Anzahl und der Fähigkeiten von Militärflugzeugen innerhalb regionaler Rüstungskontrollregime einführen. Ein weltweites Verbot neuer Kampfbombertypen könnte in nicht diskriminierender Weise ihrer Weiterverbreitung und Weiterentwicklung vorbeugen.

Die Möglichkeit einer Stationierung von Nuklearwaffen auf U-Booten sollte ebenfalls mitberücksichtigt werden. Ein erster Schritt wäre die Etablierung eines dem MTCR ähnlichen Kontrollregimes, das sich auf wesentliche Technologien für fortgeschrittene U-Boot-Typen konzentriert. Gemeinsam aufgestellte seegestützte Spezialeinheiten, die von den Vereinten Nationen betrieben würden, könnten den Einsatz von dieselgetriebenen U-Booten in Krisenzeiten verfolgen und ggf. kontrollieren.

Der ABM-Vertrag, der bekanntlich die amerikanischen und russischen strategischen Abwehrsysteme beschränkt, spielt auch weiterhin eine ganz wesentliche Rolle, die auch für den weitergehenden Abbau von Nuklearwaffen Bedeutung hat. Der Versuch der Vereinigten Staaten, den ABM-Vertrag soweit zu modifizieren, daß sie ihre geplanten Abwehrsysteme gegen taktische Raketen legal weiterentwickeln und stationieren können, würde die Bemühung um Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung in vielen Staaten nachhaltig schädigen.

Die internationale Kooperation in der Raumfahrt und die Konversion im Luftfahrtbereich könnte sowohl von einem Übergang zu einer atomwaffenfreien Welt profitieren, als auch diesen Übergang selbst erleichtern. Langfristig und unumkehrbar angelegte Konversionsstrategien müssen die Umwandlung großer Forschungs- und Entwicklungskomplexe und Maßnahmen zur vorbeugenden Rüstungskontrolle beinhalten, die darauf abzielen, destabilisierende technische Entwicklungen vorausschauend zu beschränken. Ein neues Regime (»Rockets for Peace«), das unter der Ägide einer Raumfahrt-Entwicklungsorganisation etabliert würde, könnte weiteren Nationen den Zugang zum Weltraum eröffnen – unter Nutzung bereits vorhandener Möglichkeiten der etablierten Weltraumnationen. Weltraumwaffen sollten grundsätzlich verboten werden.

2.4 Regionale Ansätze zu einer atomwaffenfreien Welt

Die atomwaffenfreie Zone in Lateinamerika – zusammen mit dem argentinisch-brasilianischen Abkommen über gemeinsame Buchführung und Kontrolle von Nuklearmaterial – hat sich als ein erfolgreicher Weg bewährt, eine Region atomwaffenfrei zu halten. Der Verhandlungsprozeß für solche Abkommen beinhaltet natürlich die Etablierung von vertrauensbildenden Maßnahmen und gegenseitigen Sicherheitsvereinbarungen. Wie in Lateinamerika können solche Abkommen auch zusätzliche Sicherheitssysteme mit Beteiligung der IAEO beinhalten.

Regionale Verhandlungen über atomwaffenfreie Zonen, die die fünf NVV-Nuklearwaffenstaaten einschließen, sind ein Weg für diese Staaten, die Anforderungen des Artikels VI des NVV zu erfüllen, „in guter Absicht Verhandlungen über effektive Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Rüstungswettlaufes zum baldmöglichsten Zeitpunkt und zur nuklearen Abrüstung und zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strikter internationaler Kontrolle zu führen“. Das haben sie im Vertrag versprochen und genau dies sollen die Verhandlungen über atomwaffenfreie Zonen anstreben.

Trotz beachtlicher Fortschritte in der Reduzierung der nuklearen Arsenale der Vereinigten Staaten und Rußlands durch die START- und INF-Verhandlungen haben diese doch nicht die Nullösung zum ausdrücklichen Ziel; es ist auch höchst unwahrscheinlich, es dadurch zu erreichen.

Atomwaffenfreie Zonen sind ein wichtiger Weg für Nicht-Nuklearwaffenstaaten, die Initiative in der Bemühung um die Nichtverbreitung von Kernwaffen zu übernehmen. Dies kann dadurch geschehen, daß sie ihre Region für die Stationierung von Nuklearwaffen sperren und den auf die Region bezogenen Einsatz von Atomwaffen – oder die Drohung damit – ausschließen wollen. Wenn sich solche Sperrgebiete zunehmend auf die ganze Welt ausdehnen, wird sich der internationale Druck auf die Nuklearwaffenstaaten verstärken, die Idee einer atomwaffenfreien Welt endlich zu akzeptieren.

Anmerkung

Die 180-seitige INESAP-Studie und die englisch-sprachige Zusammenfassung ist gegen einen Unkostenbeitrag von 18.- DM plus Porto zu erhalten bei INESAP.

Übersetzung des INESAP-Executive Summary »Beyond the NPT: Towards a Nuclear-Weapon-Free World«, Übersetzer: Wolfgang Baus, Wolfgang Liebert, Jürgen Scheffran, Jörg Weidenfeller.

INESAP, c/o IANUS, Technische Hochschule Darmstadt, Schloßgartentr. 9, 64289 Darmstadt, Tel: 06151-163016, Fax: 06151-164321, Internet: ianus@ hrzpub.th-darmstadt.

Wie weiter mit dem »Nichtverbreitungsvertrag«

Wie weiter mit dem »Nichtverbreitungsvertrag«

Weg in die kernwaffenfreie Welt oder Eindämmung der Weiterverbreitung mit Fortschreibung der nuklearen Abschreckung?

von Wolfgang Liebert

1995 steht ein gewichtiges internationales Vertragswerk nach 25-jähriger Laufzeit zur Verlängerung an, der Nuclear Non-Proliferation Treaty (NPT), zu deutsch häufig Nichtverbreitungsvertrag genannt.

Dieser Beitrag1 will sich erneut mit dem Gehalt des NPT befassen, die aktuelle Situation der Verbreitung von Kernwaffen kurz beleuchten, an die historische Einbettung des NPT in die internationale Abrüstungsdebatte erinnern, sowie offensichtliche Mängel des Vertrages benennen und analysieren. Die Einschränkung wissenschaftlich-technisch erzeugter Voraussetzungen für jegliche Form der Proliferation (horizontal wie vertikal) wird betont. Daraus leiten sich Forderungen an die NPT-Mitgliedsländer ab, insbesondere an die etablierten Kernwaffenstaaten. Darüber hinaus werden Elemente einer glaubwürdigen, nichtdiskriminierenden und auf andere Staaten übertragbaren Non-Proliferationspolitik für die Bundesrepublik Deutschland vorgestellt. Das Ziel ist die Transformation des existierenden Non-Proliferationsregimes durch Einbettung in eine Konzeption der nuklearwaffenfreien Welt.

Die aktuelle Debatte um Vermeidung von Proliferation konzentriert sich zur Zeit auf Länder wie Nordkorea und Irak, denen die Bemühungen um Kernwaffen teils nachgewiesen wurde (so im Falle des Irak im Gefolge des Golfkrieges) oder teils mit gewichtigen Argumenten unterstellt wird (so gegenwärtig im Falle Nordkoreas). Weiterhin fokussiert sich die Debatte auf Nachfolgestaaten der Sowjetunion, hier insbesondere auf die Ukraine, von der erwartet wird, daß sie ihr – zur Zeit immer noch weltweit drittstärkstes – Nuklearpotential aufgibt, sowie auf die Gefahren eines Schwarzmarktes nuklearer, kernwaffenfähiger Materialien mit Quellen auf dem Gebiet der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Die horizontale Proliferation, also die Weiterverbreitung von Kernwaffen, steht im Vordergrund der Debatte, dementsprechend auch die Frage von effektiven Exportkontrollen aus den Industrie- und Kernwaffenstaaten in Empfängerländer mit möglichen Kernwaffenabsichten. Die Arsenale der bestehenden Kernwaffenstaaten geraten gegenwärtig kaum ins Blickfeld öffentlicher Diskussion, obwohl sie ebenfalls direkt den Kern des NPT berühren. Das diplomatische Tauziehen im Vorfeld der NPT-Verlängerungskonferenz, die im April/Mai 1995 stattfinden wird, scheint sich längst nur noch um prozedurale Fragen zu bekümmern. So werden »Freund« und »Feind« effektiver Non-Proliferation von diplomatischen Füchsen zunehmend an der Gretchenfrage geschieden: »Bist Du für die unendliche Verlängerung des NPT – ja oder nein?« Der Inhalt dessen, was da eigentlich auf unbegrenzt verlängert werden soll, gerät in Gefahr, unter Denk- und Diskussionsverbot gestellt zu werden. Die Verengung der Diskussion auf die Frage der Begrenztheit oder Unbegrenztheit der Verlängerung allein lenkt ab von den wesentlichen Problemen, die mit dem NPT selbst und der langfristigen Aufgabe der Proliferationsvermeidung und der Abrüstung verbunden sind.

Es scheint, daß mit dem Ergebnis der NPT-Verlängerungsdebatte auch über die zukünftige Rolle der Kernwaffen entschieden wird. Zwei wesentliche, differierende Optionen stehen zur Wahl. Die eine hieße Beibehaltung der Kernwaffen in den etablierten Kernwaffenstaaten unter Neudefinition ihrer »Aufgaben«. Eine Umwidmung der alten Abschreckung zwischen den Blöcken in eine Abschreckung gegen neu entstehende oder bereits existierende Massenvernichtungswaffen in anderen Ländern würde damit verbunden. Die zweite Option hieße, die Bedeutung von Kernwaffen in der internationalen Politik Schritt für Schritt auf Null zu reduzieren, den Anreiz, Kernwaffen zu besitzen, nahezu gleichzeitig für alle Staaten zu minimieren, und die Aufrechterhaltung technischer Voraussetzungen für Kernwaffenprogramme so klein wie möglich zu machen. Eine kernwaffenfreie Welt wäre das Ziel.

Der Nuclear Non-Proliferation Treaty (NPT)

Das Ergebnis jahrelanger Verhandlungen führte 1968 zu folgendem Ergebnis2:

Verpflichtungen der Kernwaffenstaaten:

  • Weitergabe von Kernwaffen oder Kernsprengkörpern an andere oder Hilfe bei der Beschaffung, Übergabe der Verfügungsgewalt ist verboten (Artikel I).
  • Mögliche Vorteile aus »friedlichen Kernsprengungen« sollen den Vertragsparteien zugänglich gemacht werden (Artikel V).
  • Verhandlungen in redlicher Absicht über Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung, sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung (explizit genannt werden Kernwaffenteststopp, Einstellung der Kernwaffenproduktion) sollen geführt werden (Artikel VI und Präambel).

Verpflichtungen der Nicht-Kernwaffenstaaten:

  • Keine Annahme von Kernwaffen oder Kernsprengkörpern oder Verfügungsgewalt darüber, keine Herstellung oder Produktion, keine Unterstützung anderer oder Annahme von fremder Unterstützung (Artikel II).
  • Annahme von Sicherungsmaßnahmen (gemeint sind die Safeguards der Internationalen Atomenergieorganisation IAEO), die auf alles Ausgangsmaterial und besondere spaltbare Materialien, sowie alle Nuklearaktivitäten angewandt werden (Artikel III).

Gemeinschaftliche Verpflichtungen:

  • Weitergabe von besonderem spaltbarem Material und entsprechenden Ausrüstungen an andere, nur wenn sie Sicherungsmaßnahmen unterliegen (Artikel III).
  • Erleichterung und Beförderung der weltweiten zivilen Kernenergienutzung, insbesondere durch internationalen wissenschaftlich-technologischen Austausch (Artikel IV und Präambel).

Zu den gemeinsamen Verpflichtungen gehören auch die angestrebten Verhandlungen zur Abrüstung (Artikel VI), die aber von der Sache her Vorleistungen der Kernwaffenstaaten erforderlich machen.

In Artikel VIII ist der Prozeß der alle fünf Jahre möglichen Überprüfungskonferenzen geregelt, in denen die Wirkungsweise des Vertrages und die Verwirklichung seiner Ziele (inklusive der Präambel) zur Diskussion stehen. Weiterhin wird dort geregelt, wie Vertragsänderungen möglich sind. Zustimmen müßten die Mehrheit aller Vertragsstaaten, alle Kernwaffenstaaten, die Mitglied des NPT sind3 , sowie alle Mitgliedsländer des Gouverneursrates der IAEO zum Zeitpunkt der Antragstellung. Artikel X gibt jedem Mitgliedsland das Recht, mit einer dreimonatigen Kündigungsfrist wieder auszutreten. Dieser Artikel sieht weiterhin vor, daß nach 25-jähriger Laufzeit eine Verlängerungskonferenz einberufen wird, auf der die Mehrheit der Mitglieder über eine unbegrenzte oder über eine auf eine oder mehrere Frist/Fristen begrenzte Verlängerung befinden soll.

Einbettung des NPT in die Abrüstungsdebatte

Seit Existenz der Vereinten Nationen hat in ihren Debatten das Ziel einer abgerüsteten, friedlichen Welt besondere Bedeutung. Der Generalversammlungsbeschluß vom 13.12.1961, das Eighteen-Nations Committee on Disarmament (ENDC) mit der Aufgabe einzuberufen, entsprechende internationale Verträge vorzubereiten, diente dieser Zielsetzung. In der Folgezeit entwickelte sich das ENDC zu dem Gremium, in dem als erstem Schritt zur allgemeinen Abrüstung die Aushandlung von Schritten zur nuklearen Abrüstung und zur Eindämmung der Weiterverbreitung von Kernwaffen erfolgte, speziell die Aushandlung des NPT. Die Resolution 2028 (XX) der UN-Generalversammlung vom 19.11.19654 legte Prinzipien fest, aufgrund derer ein Vertrag zur Vermeidung der Proliferation von Kernwaffen zustande kommen sollte:

  1. Der Vertrag soll keine Schlupflöcher enthalten, die Kernwaffenstaaten oder Nicht-Kernwaffenstaaten erlauben könnten, direkt oder indirekt Kernwaffen in irgendeiner Form zu proliferieren;
  2. der Vertrag soll ein akzeptables Gleichmaß von Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen der Kernwaffen- und der Nicht-Kernwaffenstaaten enthalten;
  3. der Vertrag soll ein Schritt sein in Richtung auf die Erreichung der allgemeinen und vollständigen Abrüstung und insbesondere der nuklearen Abrüstung;
  4. akzeptable und handhabbare Vorkehrungen sollen die Effektivität des Vertrages sicherstellen;
  5. das Recht jeglicher Staatengruppe, regionale Verträge abzuschließen, die eine völlige Abwesenheit von Kernwaffen in den zugehörigen Territorien sicherstellen, soll durch den Vertrag nicht negativ berührt werden.

Die Resolution 2373 (XXII) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 12.6.1968, mit der der endgültige Entwurf des NPT den Regierungen zur Unterzeichnung und Ratifizierung vorgelegt wurde, bekräftigte den klaren Standpunkt zur Abrüstungsfrage: Die Generalversammlung „fordert die Konferenz des Achtzehn-Nationen Kommitees für Abrüstung (ENDC) und die Kernwaffenstaaten auf, mit hoher Dringlichkeit Verhandlungen zu führen, die das Ende des Rüstungswettlaufs zu einem frühen Zeitpunkt betreffen, sowie die nukleare Abrüstung und einen Vertrag über allgemeine und vollständige Abrüstung unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle.“ Dieselbe Resolution betont allerdings die Gefahr der Weiterverbreitung von Kernwaffen und die Bedeutung der internationalen Kooperation bei der Entwicklung der zivilen Anwendungen der Atomenergie.

Der Bezug zur Abrüstung und insbesondere zur nuklearen Abrüstung ist jedenfalls eindeutig mit dem Prozeß der Aushandlung des NPT verbunden und hat sich in der Formulierung der Präambel und des Artikel VI des Vertrages niedergeschlagen. 1967 haben die blockfreien Mitglieder des ENDC zu Protokoll gegeben, daß sie im Austausch gegen die Zustimmung zum Ende der horizontalen Proliferation (Weiterverbereitung) von Kernwaffen die Kernwaffenstaaten auffordern, dem Ende der vertikalen Proliferation (Weiterentwicklung und Vermehrung) der Kernwaffen zuzustimmen. Insbesondere wurden fünf Forderungen erhoben (»Five Demands«), die bis heute unerfüllt sind: 1. vollständiges Ende des nuklearen Testens, 2. Produktionsstopp für kernwaffenfähige Materialien, 3. Einfrieren und schrittweise Reduktion der bestehenden Kernwaffenarsenale, 4. internationaler Bann des Gebrauchs von Kernwaffen, 5. ungeteilte Sicherheitsgarantien der Kernwaffenstaaten für Nicht-Kernwaffenstaaten.5

Kurz nach Fertigstellung des Vertragsentwurfes trafen sich (vom 28.August bis zum 28.September 1968) Vertreter von 69 Staaten zu einer Konferenz der Nicht-Kernwaffenstaaten in Genf. Die Resolution C des dort erarbeiteten Abschlußdokuments liest sich ebenfalls eindeutig: Die Generalversammlung der Vereinten Nationen wird aufgefordert, Verhandlungen innerhalb des ENDC zu empfehlen über 1. die Verhinderung der Weiterentwicklung und Verbesserung von Kernwaffen und Trägersystemen, 2. den Abschluß eines vollständigen Teststoppvertrages, 3. das sofortige Ende der Produktion spaltbaren Materials für Waffenzwecke und das Ende der Herstellung von Kernwaffen, 4. die Reduktion und nachfolgende Eliminierung aller Arsenale von Kernwaffen und Trägersystemen.

Die Entstehung des NPT in der existierenden Form ist das Ergebnis eines Kompromisses. Um überhaupt einen Fortschritt in Hinblick auf das Ziel der Abrüstung zu erreichen, wurde als erster erreichbarer Schritt die Proliferation von Kernwaffen angegangen, wobei die klareren Regelungen im Bereich der horizontalen Proliferation akzeptabel erschienen im Vertrauen darauf, daß die eingegangenen Abrüstungsverpflichtungen der etablierten Kernwaffenstaaten – und als Einstieg das vereinbarte Ende des technologisch dominierten Rüstungswettlaufes – mehr als nur Rhetorik wären.

Aktuelle Verbreitung von Kernwaffen und sensitiver Nukleartechnologie

Der Klub der fünf etablierten Nuklearmächte hat sich seit 1968 erweitert, ohne daß die Exklusivität dieser fünf permanenten Mitglieder des UN-Sicherheitsrates in Frage gestellt wäre. Tabelle 1 gibt einen Überblick über den nuklearen Status einer Reihe wichtiger Staaten und benennt die jeweilige Beziehung zum NPT.

Durch den Zerfall der Sowjetunion sind neben Rußland immer noch zwei weitere Staaten, Ukraine und Kasachstan, als Kernwaffenstaaten zu zählen. An Israels Besitz von Kernwaffen hegt wohl niemand mehr Zweifel. Indien hat mit seiner »friedlichen« Kernexplosion im Jahre 1974 der Welt seine nuklearen Fähigkeiten demonstriert, während Pakistan vor einigen Jahren regierungsamtlich verlauten ließ, man sei durchaus in der Lage Kernsprengkörper zu bauen. Diese drei Länder stehen immer noch abseits des NPT. In Südafrika wurden erklärtermaßen Kernwaffen produziert; sie sollen allerdings alle wieder vor dem Beitritt zum NPT zerstört worden sein. Daß die Mitgliedschaft im NPT allein noch nichts aussagt über eine mögliche Verfolgung von Forschungs- und Technologieprogrammen, die in Kernwaffenprogramme münden, zeigt unter anderem der berechtigte Verdacht, unter dem die NPT-Mitgliedsstaaten Taiwan, Irak und Nordkorea standen und teilweise noch stehen. Der Iran kommt neuerdings hinzu. Auch Libyen und Algerien verfolgen uneindeutige Nuklearprogramme, deren rein zivile Zielsetzung nicht klar ist. In anderen nicht NPT-Mitgliedsländern, wie Argentinien und Brasilien, wurden Technologien entwickelt (zum Teil unter Nutzung internationaler Kooperationsprogramme), die Voraussetzungen für Kernwaffenprogramme sind. Diese Staaten standen einige Jahre unter starkem und berechtigtem Verdacht, Kernwaffen entwickeln, testen und produzieren zu wollen. Wie im Falle von Schweden, das offenbar noch nach Unterzeichnung des NPT in den siebziger Jahren Anstrengungen in Richtung auf Kernwaffen unternommen hatte, ist ein Kernwaffenprogramm Brasiliens offiziell geworden. Daneben gibt es eine Reihe von Industriestaaten, die prinzipiell in der Lage wären, Kernwaffen zu bauen, da die wissenschaftlich-technologischen Möglichkeiten bereits weitgehend vorhanden sind. Zu dieser langen Liste von Staaten, in denen latente Proliferationsgefahren ausgemacht werden müssen, gehören die Länder Japan, Deutschland, Kanada und Belgien. Gleichwohl blockieren hier politische Entscheidungen gegen den Kernwaffenbesitz die technischen Möglichkeiten.

Eine wesentliche Quelle für die Gefahren der horizontalen und vertikalen Proliferation ist die zivil-militärische Ambivalenz der Nuklearforschung- und Technologie6. Die weltweit betriebenen »zivilen« Nuklearprogramme senken die Schwelle zu Waffenprogrammen7. Zur Betreibung der großen Kernenergieprogramme wird eine jährliche Anreicherungskapazität von wenigstens 10000 Tonnen schwach angereicherten, reaktortauglichen Urans benötigt. Etwa 70 Tonnen Plutonium werden jährlich in zivilen Leistungsreaktoren produziert. Die Überwachungsmaßnahmen der seit 1957 arbeitenden Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) reduzieren die daraus erwachsende Problematik zwar erheblich, aber die prinzipielle Nutzbarkeit von Anreicherungsanlagen zur Produktion hochangereicherten Urans (HEU) zu Waffenzwecken oder die Abzweigung abgetrennten Plutoniums für den Bau von Bomben8 kann so nicht aus der Welt geschafft werden.

Der Gebrauch von waffentauglichem HEU in Forschungsreaktoren ist weltweit nicht beendet, auch wenn seit Jahren internationale Bemühungen zur Umstellung von solchen Reaktoren auf die Verbrennung schwach angereicherten Urans gewisse Erfolge zeitigen. Plutonium ist in jeder Isotopenzusammensetzung waffentauglich. Das gilt nicht nur für das speziell produzierte sogenannte »Waffenplutonium«, sondern auch für das beim Betrieb von Kernreaktoren automatisch mitproduzierte sogenannte »Reaktorplutonium«.9 Weltweit sind etwa 270 Tonnen »Waffenplutonium« produziert worden; 100 Tonnen davon sollen bis zum Jahr 2003 gemäß den amerikanisch-russischen Abrüstungserklärungen »frei« werden. Demgegenüber wurden bislang etwa 850 Tonnen »Reaktorplutonium« produziert, von denen bis 1990 120 Tonnen vom abgebrannten Brennstoff absepariert wurden. Die Probleme mit dem Waffenstoff Plutonium werden demnach nicht mit der Zerstörung bzw. sicheren Endlagerung des »Waffenplutoniums« allein gelöst sein. Das »Reaktorplutonium« wird zunehmend zum langfristig wirksamen Problem.

Zumindest 19 Länder haben den Zugriff auf mindestens eine der sensitiven Nukleartechnologien Urananreicherung oder Wiederaufarbeitung erreicht, die eine Produktion waffenfähiger, spaltbarer Materialien prinzipiell ermöglicht und somit Voraussetzungen für Waffenprogramme schafft. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Verbreitung dieser sensitivsten Nukleartechnologien. Neue sensitive Nukleartechnologien werden sich im Nachvollzug der Hochtechnologieentwicklung der Industrieländer weiter verbreiten und wachsende Proliferationsrisiken auslösen.

Tabelle 3 gibt die Zahl der Sprengköpfe in den Arsenalen der Kernwaffenstaaten (Stand Ende 1993) an. Die Gesamtzahl von weltweit 27.500 Sprengköpfen ist eine untere Abschätzung, da in den beiden Supermächten zwar eine große Anzahl taktischer (und auch einiger strategischer) Sprengköpfe den Arsenalen entzogen wurde, diese allerdings zu einem großen Teil – getrennt von den Trägersystemen aber immer noch intakt – weiter gebrauchsfähig lagern und ihre Zerstörung erst (viel) später erfolgen wird. Die endgültigen Entscheidungen gegen eine geplante Erweiterung oder Modernisierung der britischen und französischen Nuklearstreitkräfte stehen noch aus. Die vertikale Proliferation in den Ländern China, Israel, Indien und Pakistan scheint noch ungebremst zu sein. Auch nach der für das Jahr 2003 angekündigten Reduktion der amerikanischen und russischen strategischen Potentiale auf 3500 bzw. 3000 Sprengköpfe hat die Welt noch immer eine mehrfache Overkill-Kapazität zu gewärtigen.

Mängel und Schwachstellen des NPT

Von verschiedener Seite wird immer wieder betont, der NPT sei sehr erfolgreich bei der Einschränkung der Weiterverbreitung von Kernwaffen gewesen. Auch wenn eingeräumt werden kann, daß die erwartete explosionsartige Vermehrung der absoluten Zahl von Kernwaffenstaaten in den siebziger und achtziger Jahren tatsächlich ausgeblieben ist, so bleiben doch einige gewichtige Mängel des NPT zu konstatieren, die langfristig kontraproduktiv wirken:

  1. Der NPT ist de-facto und de-jure diskriminatorisch. Er schreibt fünf Kernwaffenstaaten auf Dauer fest, sieht keinerlei Kontrollen in diesen Staaten vor und baut in der Praxis ein Dreiklassensystem des Technologiezugangs auf. Einer ersten Gruppe von Staaten ist der Besitz von Kernwaffen auf Dauer erlaubt. Einer zweiten Gruppe von (Industrie-)Staaten ist zwar der Zugriff auf Kernwaffen verwehrt, aber alle sensitiven Technologien können genutzt oder innerhalb dieser Gruppe exportiert werden. Einer dritten Gruppe von Staaten ist sowohl der Zugriff auf Kernwaffen als auch auf bestimmte sensitive Technologien verwehrt, die hier als Ausdruck einer Kernwaffenoption interpretiert werden.
  2. Kein verbindlicher Weg zur Abrüstung und insbesondere zur nuklearen Abrüstung ist festgelegt. Zwar wird in der Präambel und im Artikel VI des NPT das Ziel deutlich angegeben, aber die Schritte zur Verwirklichung bleiben unverbindlich. Noch 25 Jahre nach Aushandlung des NPT scheinen einige Kernwaffenstaaten die im NPT enthaltenen Formulierungen eher als unverbindliche nebulöse Absichtserklärungen für eine ferne Zukunft als eine dringliche Verpflichtung wahrzunehmen.
  3. Der NPT zielt auf die Verhinderung des militärischen Gebrauchs der Kernenergie und entsprechender Materialien in Nicht-Kernwaffenstaaten und erlaubt und befördert den zivilen Gebrauch der Kernenergie. Die Nichtbeachtung der zivil-militärischen Ambivalenz und der Doppelverwendbarkeit (Dual-use) der Nuklearforschung und -technologie ist ein zentraler Mangel des NPT. Die Propagierung der zivilen Nutzung der Kernenergie und ihrer ungebremsten Fortentwicklung kann nicht losgelöst betrachtet werden von der dadurch immer auch erfolgenden Weiterverbreitung, Beibehaltung oder Verbesserung der technisch-wissenschaftlichen Grundlagen für Kernwaffenoptionen.
  4. Die Zulassung »ziviler« Kernsprengungen ist nicht nur nach den erzeugten Umweltkatastrophen – vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion –, sondern insbesondere auch in Hinblick auf die damit ermöglichte Entwicklung bis hin zu einem funktionsfähigen Kernsprengkörper ein eklatanter Widerspruch zum Ziel des NPT. Wer, wie Indien, außerhalb des NPT steht und sich keine »zivile« Nutzanwendung von Kernsprengkörpern bei den etablierten Kernwaffenstaaten »kaufen« will, kann immer darauf verweisen, mit der De-facto-Entwicklung einer Kernwaffe lediglich zivile Ziele verfolgen zu wollen.
  5. Es sind keine Prozeduren vorgesehen, wie und mit welchem Status De-facto-Kernwaffenstaaten oder Schwellenländer, die außerhalb des Vertrages stehen, für den Vertrag gewonnen werden können. Ebenso sind keine Prozeduren vorgesehen zur verifizierbaren, transparenten und effektiven Denuklearisierung von Kernwaffenstaaten innerhalb des NPT oder von beitretenden Staaten, die den Schritt zu Kernwaffen bereits erreicht hatten (wie im Falle Südafrikas).
  6. In Verbindung mit dem NPT, wenn auch nicht als direkter Mangel des NPT festzumachen, steht die Doppelrolle der IAEO als Kernenergiepromotor und -kontrolleur. Diese Doppelrolle hat zu vielen mangelhaften Aktivitäten der IAEO geführt, so zuletzt besonders augenfällig angesichts der schon lange erkennbaren Doppelbödigkeit des irakischen Nuklearprogrammes. Eine tiefgreifende Reform der IAEO stünde an10 . Ein weiterer Mangel der IAEO-Sicherungsmaßnahmen ist die ausschließliche Beschränkung auf den Materialfluß, obgleich hier tatsächlich versucht wird, ein wesentliches und im Prinzip kontrollierbares Element zu erfassen11

Diese offensichtlichen Mängel und Widersprüche des NPT müßten angegangen werden, wenn tatsächlich eine erfolgreiche Verlängerung und Fortentwicklung des Vertragsregimes unter globaler Perspektive angestrebt ist. Hier ist nicht der Raum, alle diese Schwachstellen im Detail zu besprechen. Von größter Bedeutung ist sicherlich die Verpflichtung zur Abrüstung durch die Kernwaffenstaaten, die immer wieder von Vertretern der Nicht-Kernwaffenstaaten, vorrangig aus Ländern der Dritten Welt, angemahnt wird. Wann, wenn nicht jetzt – in der Debatte um die Verlängerung des Vertrages – müssen diese inhaltlichen Mängel des NPT deutlich zur Sprache gebracht werden, um schiefliegenden Argumentationsmustern vorzubeugen, die nur den Vertrag als solchen ohne Ansehung des Inhaltes »retten« wollen. Man sollte schon sehr genau hinsehen, bevor der Ruf nach einer unbegrenzten Verlängerung allein als das Postulat der Stunde verbindliche Politik wird. Die Zukunft des NPT hängt davon ab, ob mit den genannten Widersprüchen und Mängeln in einer zufriedenstellenden und nicht-diskriminierenden Art umgegangen werden kann.

Gleichwohl, Änderungen oder Ergänzungen des NPT durchzusetzen, sind nach der obigen Darstellung der Vertragslage (Artikel VIII) wohl kaum erfolgversprechend. Welche tiefgreifenden Änderungen wären wohl mit der Einwilligung der fünf etablierten Kernwaffenstaaten und allen Mitgliedern des Gouverneursrates der IAEO zu erwirken? Zu bedenken ist, daß der NPT der bislang einzige weltweit gültige Vertrag ist, der sich mit der Proliferation von Kernwaffen befaßt. Demnach erscheint er trotz aller Mängel zur Zeit erhaltenswert. Wie soll man also weiterverfahren? Wie sollen die Länder mit Nuklearoptionen außerhalb des NPT für die Ziele einer ungeteilten Non-Proliferationspolitik gewonnen werden, insbesondere solche Staaten, die den NPT – aus durchaus nachvollziehbaren Gründen – als diskriminatorisch ablehnen? Könnte sich die Überstimmung einer gewichtigen Minderheit bei der Entscheidung über die Verlängerung nicht als Sprengstoff für eine möglichst globale Zugehörigkeit zum Vertrag herausstellen?

Perspektive für eine nuklearwaffenfreie Welt

Idealtypisch lassen sich zwei differierende Sichtweisen der Stellung des NPT innerhalb der internationalen Politik unterscheiden.

Die eine Position sieht den NPT als einen ersten, notwendigen Schritt in einer Kette von Abrüstungsvereinbarungen, die eine abgerüstete, »friedliche« Welt als Vision ansteuert. Diese Sichtweise kann als Bild in konzentrischen Kreisen dargestellt werden: Leicht exzentrisch im Mittelpunkt steht der NPT eingebettet vom Kreis weiterer Bemühungen, Abmachungen, Regelwerke mit dem Ziel der Non-Proliferation. Der endlich in Verhandlung befindliche vollständige Teststoppvertrag verlagert sich mit seinem Schwerpunkt mehr in den Halbkreis der vertikalen Proliferation während der NPT seinen Schwerpunkt mehr im Bereich der horizontalen Proliferation besitzt. Darum schließen sich die Kreise der nuklearen Abrüstung (beispielsweise die START-Verträge enthaltend) und der angestrebten nuklearwaffenfreien Welt. In den äußeren Schalen des Bildes werden diese Bemühungen ergänzt durch weitere internationale (oder auch regionale) Abkommen, wie die C-Waffen- und B-Waffen-Konvention oder nuklearwaffenfreie Zonen. Das Bild wird abgerundet durch den Kreis, der die weiteren Bemühungen um vollständige Abrüstung symbolisiert. Präventive Rüstungskontrolle, die auch die Kontrolle wissenschaftlich-technologischer Innovation in den Blickwinkel nimmt, hat in diesem Bild entscheidende Bedeutung. So wird der NPT langfristig nur sinnvoll in Hinblick auf das weiterreichende Ziel der Abrüstung. Hegemonialen Machtgefällen innerhalb dieser Abrüstungskonzeption sowie dem Fortbestand der nuklearen Abschreckung wird eine Absage erteilt.

Die zweite Position sieht den NPT als wesentlichen Kern eines sich verdichtenden Regel- und Vertragswerkes eines internationalen Nichtweiterverbreitungsregimes. Der horizontale Aspekt der Proliferation wird betont. Daneben – im Grunde losgelöst davon – steht die internationale Abrüstungsdebatte. Im Kern ist die nukleare Abrüstung angeordnet, ergänzt um weitere Abrüstungs- und Rüstungsbegrenzungsmaßnahmen, insbesondere im Bereich von Massenvernichtungswaffen. Ob vollständige nukleare Abrüstung angestrebt wird, bleibt bereits offen. Ein neues Konzept der nuklearen Abschreckung (beispielsweise gegen »mögliche Proliferateure«) erscheint bedenkenswert oder sogar als sinnvoll. Das Ziel der vollständigen Abrüstung wird als unrealistisch oder sogar als nicht wünschbar bezeichnet. Das Non-Proliferationsregime wird in seiner Wirksamkeit zwar auch kritisch betrachtet, aber im Prinzip als unter allen Umständen in dieser Architektur als erhaltenswert und fortentwickelbar betrachtet. Schon die hohe Anzahl der Mitglieder (inzwischen über 160 Staaten) wird als unterstützendes Argument herangezogen. Daß es sich in dann der bestehenden Form mehr um ein Nichtweiterverbreitungsregime als um ein Nichtverbreitungsregime für Kernwaffen handelt, wird in Kauf genommen. Ebenso wird die Hegemonie der etablierten Kernwaffenstaaten – wenn auch manchmal zähneknirschend – akzeptiert. Sie erscheint wünschenswert in Hinblick auf die Politik der Stärke gegenüber nuklearen Schwellenländern in der Dritten Welt. Teilweise werden auch militärisch dominierte Gegenmaßnahmen gegen erfolgte oder befürchtete Weiterverbreitung empfohlen. Dieses Bild ist äußerst pragmatisch und keinesfalls visionär. Zum Teil ist diese Sichtweise sicher auch eine enttäuschte Reaktion auf die innerhalb internationaler Gremien betriebene reine »Abrüstungsrhetorik« der vergangenen Jahrzehnte.

Tatsächlich ist der NPT in einer bestimmten historischen Situation entstanden. Die UN-Debatten über nukleare und vollständige Abrüstung mit dem Ziel eines friedlichen und gerechten Weltsystems standen der Konzeption der nuklearen Abschreckung innerhalb der wachsenden Blockkonfrontation und dem damit verbundenen Rüstungswettlauf in der Ost-West-Konkurrenz gegenüber. Das Hegemoniestreben der Supermächte und seiner Verbündeten konnte mit dem NPT nicht gebrochen werden.

Die vertikale Proliferation ging nach Abschluß des NPT in den siebziger und achtziger Jahren sogar verstärkt weiter. Ein weiteres wesentliches Gegensatzpaar bildete die Sorge um die beschleunigte Weiterverbreitung der Kernwaffen im Weltmaßstab bei gleichzeitigem Wunsch der Proliferation im Bereich ziviler Kerntechnik. Die Kernenergie-Euphorie der sechziger Jahre wurde von ökonomischen Interessen der Industrieländer und Entwicklungshoffnungen der Entwicklungs- und Schwellenländer gleichermaßen gespeist. So war der NPT im Kern ein doppeltes »Geschäft«. Ein Hauptaspekt war der Verzicht der »Entwicklungsländer« auf eigene Kernwaffen gegen Unterstützung bei der »zivilen« Nutzung der Kernenergie bei gleichzeitigem Versprechen der Kernwaffenstaaten auf Stopp der Kernwaffenweiterentwicklung und Einleitung von Schritten zur vollständigen Abrüstung. Mindestens genauso wesentlich, wenn auch nicht so deutlich ausgesprochen, war der Verzicht der industrialisierten Nationen, wie Deutschland, Japan, Canada, Schweden, auf Zugang zu Kernwaffen bei gleichzeitiger unbeschränkter Nutzung der Kernenergie im »zivilen« Bereich und bei Zulassung eines exzessiven (kontrollierten) nuklearen Exportgeschäfts. Diese doppelte Strategie, die deutlich erkennbar nicht nur Sicherheitsinteressen sondern ganz entscheidend auch Geschäftsinteressen diente, hat großenteils nicht zum Erfolg geführt. Neben den bereits erwähnten Fakten, sollte man sich vor Augen halten, daß seit 1970 keine nennenswerte Stromproduktion aus Nuklearenergie in Ländern der sogenannten Dritten Welt zu verzeichnen ist.

Die Zeiten der ungehemmten Propagierung der Kernenergie sind aus verschiedensten (ökonomischen, sicherheitstechnischen, umweltpolitischen, entsorgungstechnischen, entwicklungspolitischen) Erwägungen weltweit zu Ende gegangen; ebenso ist der Ost-West-Konflikt begraben. Ist es da nicht Zeit, über eine neue Einbettung des NPT in die internationale Politik nachzudenken? Die alte Block-Konfrontation führte wie üblich zu einer Festschreibung des Status quo der Machtverhältnisse, so auch im NPT, der den fortdauernden Besitz von Kernwaffen für wenige im Kern trägt, sofern nicht mit der nuklearen Abrüstung auf Null Ernst gemacht wird. Die längst überholte Kernenergieeuphorie führte zu der widersprüchlichen und fatalen Grundannahme des NPT, die Weiterverbreitung von Kernwaffen könne bei gleichzeitiger Proliferation im Bereich »ziviler« Nukleartechnologie aufgehalten werden. Ein Umdenken wäre nach Beilegung des Ost-West-Gegensatzes und bereits erfolgten ersten Schritten zur nuklearen Abrüstung der Supermächte, sowie bei einer dringend nötigen Entmystifizierung des angeblich unverzichtbar notwendigen Zugangs zu fortgeschrittener Nukleartechnologie möglich. Das oben erwähnte Dreiklassensystem des Zugangs zu nuklearen Technologien und die damit verbundenen Einfluß- und Technologiebarrieren müßte aufgebrochen werden. Bei Einführung eines weitgehenderen Souveränitätsverzichts aller Staaten und von Selbstbeschränkungen im Gebrauch der Nukleartechnologie wäre die im Grunde künstliche (einseitige) Beschränkung des Exportes nur noch für eine Übergangszeit erforderlich und würde die Glaubwürdigkeit einer dann »ungeteilten« Non-Proliferationspolitik der »Habenden« erhöhen. Kontraproduktiv und widersinnig erscheint dagegen die Aufrechterhaltung der Drohung mit Kernwaffen als Mittel gegen die Verbreitung von Kernwaffen.

Die Debatten über die Verlängerung des NPT im Jahre 1995 bergen die historische Chance in sich, die diskriminierende Interpretation des NPT, die lediglich den horizontalen Aspekt der Proliferation betont, radikal zu verändern. Der NPT Verlängerungsprozeß könnte zum Wendepunkt des »nuklearen Zeitalters« werden. Der Glaube an die Rationalität von Kernwaffen, wo auch immer auf der Welt, könnte endgültig gebrochen werden. Das Konzept der nuklearen Abschreckung, das für Jahrzehnte die Welt bedroht, muß bald verschwinden. Die nuklearwaffenfreie Welt, wie im NPT bereits anvisiert, sollte zum erreichbaren Ziel werden.12 Die Transformation des Non-Proliferations-Regimes, in dessen Kern der NPT steht, zu einer Konzeption einer nuklearwaffenfreien Welt sollte schrittweise betrieben werden.13

Vorschläge für Maßnahmen

Eine Fülle von Vorschlägen kann in Hinblick auf die Bearbeitung der Gefahren der horizontalen und vertikalen Proliferation und dem Ziel nuklearer Abrüstung gemacht werden14. Hier soll im Wesentlichen auf eine mögliche Politik der Kernwaffenstaaten und der im Prinzip nuklearwaffenfähigen Industriestaaten, wie Deutschland, eingegangen werden.

Unter Beibehaltung des NPT auf Zeit sollten begleitende Schritte zur Transformation des Non-Proliferationsregimes eingeleitet werden. Dies könnte auch ein Weg sein, wesentliche Staaten, die dauerhaft außerhalb des NPT stehen, zunehmend in die Bemühung um Non-Proliferation und Abrüstung einzubinden, ohne ihnen die Zustimmung zum abgelehnten NPT aufzuzwingen. Ein hilfreicher Weg in der aktuellen Situation wären einseitige, völkerrechtlich verbindliche Erklärungen der Kernwaffenstaaten und wichtiger Industrienationen. Das können auch zusätzliche internationale Verträge mit Bezug zum NPT sein oder Initiativen, die kurz- oder mittelfristig dahin führen sollen, um breitere multinationale Unterstützung zu erreichen.

Darin sollten sich die Kernwaffenstaaten verpflichten

  1. zu einem vollständigen Teststopp (unter Ausschluß von Umgehungstechnologien)15 ;
  2. zu einem Ende der Produktion waffengrädiger Materialien in Mengen, die für Kernwaffen relevant sind (HEU, Plutonium in jeglicher Isotopenzusammensetzung, Tritium)16 ;
  3. zu weiteren einschneidenden Reduzierungen der Kernwaffenarsenale mit Angabe eines verbindlichen zeitlichen »Fahrplans« zur nuklearen Abrüstung (nicht nur in den USA und Rußland)17;
  4. zu full-scope safeguards in allen ihren von Kontrollen bisher ausgenommenen Nuklearanlagen;
  5. zum Ende aller kernwaffenrelevanten Forschung und Entwicklung.

Im Prinzip nuklearwaffenfähige Industriestaaten und die Kernwaffenstaaten sollten sich verpflichten zum Verzicht auf Nutzung spezifischer sensitiver Technologien, wie Wiederaufarbeitung (obwohl der NPT die Nutzung jeglicher »ziviler« Nukleartechnologie erlaubt); zum Verzicht auf jegliche Plutoniumnutzung im Brennstoffkreislauf; zum Verzicht auf Nutzung hochangereicherten Urans (HEU) in allen Reaktoren und Bemühung um Internationalisierung der Anreicherung jenseits nationaler Oberhoheiten; zur Internationalisierung aller Lager waffengrädiger Spaltstoffe unter Einschluß von Tritium; zum Verzicht auf die Entwicklung neuer sensitiver Nukleartechnologien, wie Laserisotopentrennung, Trägheitseinschlußfusion, schnellen Brutreaktoren, beschleunigergestützter Materialproduktion; zur Bereitstellung von erheblichen Finanzmitteln für die Ausstattung einer Internationalen Energiebehörde, die die Entwicklung und Verbreitung nicht-nuklearer Energieträger in offener internationaler Kooperation anstrebt.

Das wären erste Schritte, die jetzt sofort möglich wären, und deutliche Signale setzen würden. Was spräche dagegen, daß sich beispielsweise Indien und Pakistan an einem von den USA und Rußland initiierten Produktionsstopp für waffenfähige Materialien (zunächst vielleicht begrenzt auf das für die letzteren kaum empfindlich spürbare Verbot der Neuproduktion waffengrädiger spaltbarer Materialien, die in Hülle und Fülle vorhanden sind) anschließen, ohne dem abgelehnten NPT beizutreten? Sie wären so aber endlich eingebunden in internationale, streng verifizierte Abrüstungs- und Rüstungsbegrenzungsmaßnahmen, die ungeteilt und universell (ohne Diskriminierung) anwendbar sind. Was spräche gegen ein beispielsweise von Deutschland, Schweden, USA und Belgien initiiertes Abkommen, das den Verzicht auf Plutoniumnutzung bekannt gibt, und das u.a. Brasilien, Nordkorea und Japan ein überzeugendes Vorbild für einen gleichartigen Schritt gäbe? Ist mit dem Angebot der partnerschaftlichen Entwicklung alternativer, regenerativer Energieträger dem Ziel der Nichtweiterverbreitung von sensitiver Nukleartechnologie mittel- und langfristig nicht mehr gedient, als mit dem Beharren auf dem Sinn großer nationaler Nuklearprogramme (und dem Lippenbekenntnis zu ungeteilter internationaler Kooperation) bei gleichzeitiger Teilung des Technologiezugangs mithilfe von Exportbeschränkungen?

Wer eine »unendliche« Verlängerung des NPT fordert, so wie es beispielsweise die wichtigsten NATO-Länder tun, muß entschiedene Schritte zur Abrüstung ergreifen und das Dual-use Problem im Bereich sensitiver Technologien über Exportkontrollen hinaus durch Selbstbeschränkung im eigenen Gebrauch und offene internationale Kooperation in überlebenswichtigen Technologiebereichen angehen. Ohne daß sich hier erhebliche Fortschritte in den nächsten zwei Jahren wenigstens andeuten, wird es unwahrscheinlicher, das der NPT im Einvernehmen der ganzen Völkergemeinschaft erfolgreich verlängert werden kann.

Vorschläge für eine deutsche Position in Bezug zum NPT

Die Bundesregierung sollte »Druck« auf die Kernwaffenstaaten, der ja zum Teil »partnerschaftlicher Druck« wäre, ausüben, die im letzten Abschnitt aufgelisteten Schritte der Kernwaffenstaaten zu erreichen. Dabei sollten die außerhalb des NPT stehenden De-facto-Kernwaffenstaaten miteinbezogen werden. Deutschland könnte partiell eine Moderatorrolle zukommen, die versucht, die Kernwaffenstaaten und Schwellenländer mit großer Distanz zum NPT zu überzeugen, unabhängig davon gemeinsame Begrenzungs- und Abrüstungsschritte mit (oder ohne) den etablierten Fünf (und anderen) auszuhandeln. Weiterhin sollten insbesondere die industrialisierten NPT-Mitgliedsländer, die nicht selber Kernwaffen besitzen, zu den im vorausgegangenen Abschnitt angegebenen Schritten überzeugt werden.

So könnte die deutsche Regierung

  1. für eine Verlängerung des NPT unter Einschluß eines regelmäßigen Review-Prozesses eintreten (der »Hebel« des Artikel VI sollte nicht aus der Hand gegeben werden);
  2. für entsprechende völkerrechtlich verbindliche Zusatzerklärungen und -vereinbarungen mit Bezug zum NPT werben;
  3. eine tiefgreifende Reform der IAEO anregen (unter Einschluß der Gründung einer Internationalen Energieagentur);
  4. die Transformation des Non-Proliferationsregimes durch Einbettung in eine Konzeption der nuklearwaffenfreien Welt propagieren.

Überzeugend würde eine solche deutsche Position allerdings erst, wenn eigene entschiedene Schritte in die anvisierte Richtung ergriffen würden. Ein solcher deutscher Maßnahmenkatalog sollte den Zielen dienen:

  • Schritte zur Aufhebung der Wahrnehmung des NPT als eines diskriminatorischen Vertrages;
  • Bearbeitung der NPT-inhärenten Ambivalenz- und Dual-use-Problematik;
  • Glaubwürdigkeit und Übertragbarkeit der Position auf alle Staaten durch eindeutigen Selbstverzicht;
  • Erreichung maximaler Proliferationsresistenz des genutzten Brennstoffkreislaufes, insbesondere Vermeidung des Erhaltes wissenschaftlich-technologischer Optionen, die für Kernwaffen wesentliche Voraussetzungen sind;
  • Internationalisierung des Prozesses, der die Transformation des NPT will.

Der Katalog möglicher Maßnahmen für die deutsche Exekutive enthält (unter Angabe der Handlungs-Konsequenzen):

  1. Verzichtserklärung: kein Interesse an der Nutzung ziviler Kernsprengungen (außer Abgabe der Erklärung im direkten Bezug zum NPT keine Handlungskonsequenzen);
  2. erklärter Verzicht auf HEU-Produktion und HEU-Nutzung (Verzicht auf die gegenwärtige Konzeption des geplanten neuen Garchinger Forschungsreaktors FRM II);
  3. Verzicht auf Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente auf deutschem Boden (zur Zeit de-facto keine weitere Handlungskonsequenz)
  4. Verzicht auf Plutoniumnutzung (Konsequenzen: 1. Kündigung der Wiederaufarbeitungsverträge im Ausland, insbesondere mit der französischen Cogema und der britischen THORP; 2. Ende der Mischoxidnutzung (MOX) in deutschen Reaktoren; 3. »Aus« für die neue Hanauer Brennelementefabrik);
  5. allgemeine Erklärung der Nicht-Produktion und Nicht-Nutzung waffengrädigen Nuklearmaterials in für Kernwaffen relevanten Mengen (Konsequenzen wie oben; hinzu käme die Nichtnutzung von Tritium);
  6. nationale Schritte zur Internationalisierung aller Lager waffenfähigen Materials (Übergabe deutscher Plutoniumvorräte an eine internationale Behörde)
  7. Verzicht auf Weiterentwicklung neuer proliferationsträchtiger Nukleartechnologie (forschungs- und technologiepolitische Konsequenzen mit Einfluß auf Programme zur Trägheitseinschlußfusion, zur Laserisotopentrennung, zu bestimmten Beschleunigerentwicklungen, zur Brüterentwicklung);
  8. Aufrechterhaltung der strikter gewordenen Exportkontrolle und ihre ungeteilte Anwendung bis das Prinzip »exportiert werden kann, was auch im eigenen Land für unverzichtbar gehalten wird« maßgeblicher werden kann (Konsequenzen: keine Aufweichung der Gesetzgebung im Dual-use Bereich oder im Rahmen der anstehenden euröpäischen »Harmonisierung« der Kontrollrichtlinien; keine Exporte mehr, die im Zusammenhang mit Kernwaffenprogrammen von Kernwaffenstaaten stehen)
  9. Eintreten für die Einrichtung einer nuklearwaffenfreien Zone in Mitteleuropa (Konsequenzen: Abzugsforderung für die noch immer auf deutschem Boden stationierten Kernwaffen);
  10. massive Entwicklung von Alternativen zur Kernenergienutzung insbesondere in Kooperation mit sich entwicklenden Ländern (institutionelle und forschungs- und technologiepolitische Konsequenzen unter Einschluß internationaler Kooperationsprogramme; Initiative für eine entsprechende Internationale Behörde; (Fort-)Entwicklung von Aus- und Umstiegsszenarien);
  11. Förderung der Entwicklung von Wegen zur Zerstörung von Plutonium (forschungs- und technologiepolitische Konsequenzen).

Dies wären eindeutige und glaubwürdige Schritte auf dem Weg in eine nuklearwaffenfreie Welt. Eine Umsetzung im nationalen Rahmen – zunächst fokussiert auf einige der Vorschläge18 – wäre anzustreben. International sollte (gerade auch durch konkrete eigene Schritte) für eine solche Neukonzeption im Bereich Non-Proliferation und Abrüstung geworben werden. Dazu gehört mittelfristig die Aushandlung eines neuen, erweiterten Vertrages (»Konvention über die Erreichung einer kernwaffenfreien Welt«), der den NPT eines Tages ersetzen kann und den Übergang in die nuklearwaffenfreie Welt international verbindlich regelt.

Schlußbemerkung

Carl Friedrich von Weizsäcker hat immer wieder betont, daß die Bedrohung der Welt mit Kernwaffen höchstens dann irgendeinen Sinn haben könnte, wenn in der Atempause, die diese tatsächlich schaffen könnte, Anstrengungen erfolgreich würden, die Institution des Krieges überhaupt zu überwinden. Nach Ende des Kalten Krieges ist die Zeit reif, diese Bemühung dringlich einzufordern. Der Abrüstungsprozeß für die bereits existierenden Kernwaffen wird allein schon aus technischen Gründen mindestens ein bis zwei Jahrzehnte in Anspruch nehmen (vermutlich mehr). Die verbleibende »Atempause« unter Fortexistenz von Kernwaffen ist also notgedrungen lang. Die Entscheidung für das Ziel einer kernwaffenfreien Welt muß aber bereits jetzt fallen, ansonsten werden die Kernwaffen von den »Habenden« auf Dauer als Macht- und Drohmittel eingesetzt und bleiben begehrlich für andere Staaten. Die politische und technische Realisierung dieses Ziel bleibt eine Herausforderung für die nächsten Jahrzehnte.

Anmerkungen

1) Eine Grundlage ist die »Stellungnahme zu aktuellen Problemen der nuklearen Non-Proliferation aus naturwissenschaftlicher Blickrichting«, die mit Datum vom 10.3.1993 von W.Liebert und M.Kalinowski für die Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« erarbeitet wurde. (Abgedruckt im »Dossier Verbreitung von Atomwaffen«, Wissenschaft und Frieden, 11. Jg. 1/1993.) Dort wird wird die Weiterverbreitungsproblematik ausgiebiger behandelt. Zurück

2) Für den vollständigen Text, vergl. Bundesgesetzblatt, Jg. 1974, Teil II, Nr.32 (8.6.1974), S.785-793. Zurück

3) Als Kernwaffenstaat gilt, wer vor dem 1.1.1967 eine Kernwaffe hergestellt oder gezündet hat (Artikel IX). Nach dieser definitorischen Festlegung sind seit 1992 »alle« Kernwaffenstaaten, nämlich USA, Rußland, Großbritannien, Frankreich und China, Mitglieder des NPT. Zurück

4) UN-Dokumente werden zitiert nach: UN Department of Political and Security Council Affairs, The United Nations and Disarmament 1945-1970, United Nations, New York, 1970. Zurück

5) Zitiert nach W.Epstein, The Non-Proliferation Treaty and the Review Conferences – 1965 to the Present, in: R.D.Burns (ed.), Encyclopedia of Arms Control and Disarmament, New York: Charles Scribners's Sons, 1993, S. 855-875. Zurück

6) Vergleiche dazu ausführlicher W.Liebert, Proliferationsgefahren durch moderne Nukleartechnologie, in: E.Müller, G.Neuneck (Hrsg.), Rüstungsmodernisierung und Rüstungskontrolle, Baden-Baden: Nomos, 1991, S.147-167; W.Liebert, M.Kalinowski, E.Kankeleit, K.Nixdorff, A.Schaper, J.Scheffran, Proliferation von Massenvernichtungswaffen aus naturwissenschaftlicher Sicht, in: U.Kronfeld et al. (Hrsg.), Naturwissenschaft und Abrüstung, Münster: Lit-Verlag, 1993, S.120-174. Zurück

7) John Holdren, Civilian Nuclear Technologies and Nuclear Weapons Proliferation, in: C.Schaerf, B.H.Reid, D.Carlton (Hrsg.), New Technologies and the Arms Race, MacMillan Basingstoke 1989, S.161. Zurück

8) Ausreichen würden (in Abhängigkeit von der verwendeten Sprengtechnik) jeweils einige Kilogramm Plutonium bzw. in der Größenordnung von 10 bis 20 Kilogramm HEU ~<-10> <0>90<-10> <0>% Anreicherung). Zurück

9) E. Kankeleit, C. Küppers, U. Imkeller, Bericht zur Waffentauglichkeit von Reaktorplutonium, (erweiterte Fassung der ersten Fassung von 1984), IANUS-Arbeitsbericht 1/1989. Zurück

10) Zu Verbesserungsvorschlägen im Safeguards-Bereich vergl. W.Liebert, M.Kalinowski, Present problems of nulcear non-proliferation (and nuclear disarmament) from a natural scientists point of view, Proffered paper 43rd Pugwash Conference on Science and World Affaires, Sweden, June 1993 (auch als IANUS-Arbeitsbericht 5/1993 erhältlich). Zurück

11) Wie »die Bombe« gebaut werden kann, ist kein prinzipielles Geheimnis mehr. Die wesentliche Schwelle für die Möglichkeit, Kernwaffen zu bauen, ist tatsächlich der Zugriff auf waffentaugliches Material. Aber für deren Produktion werden Nuklearanlagen benötigt, die nur halbherzig in Sicherungsmaßnahmen einbezogen sind. Zurück

12) Vergl. ausführlicher J.Rotblat, J.Steinberger, B. Udgaonkar (Hrsg.), A Nuclear-Weapon-Free World – Desirable? Feasable?, A Pugwash Monograph, Boulder: Westview Press, 1993. Zurück

13) Diesem Ziel dient auch der im Dezember 1993 herausgebrachte Aufruf einer International Coalition for Nuclear Non-Proliferation and Disarmament – Working Together for a Nuclear Weapon-Free World. Vergl. Nachrichten in den »blauen Seiten« dieses Heftes. Zurück

14) Vergl. dazu ausführlich W.Liebert/M.Kalinowski (1993), op.cit. Zurück

15) Der möglichst weitgehende Ausschluß von bereits bekannten Umgehungstechnologien wäre wünschenswert. Eine Verbesserung von neu ausgehandelten Rüstungskontrollvereinbarungen würde so durch Beachtung des in der Vergangenheit gering geachteten Präventionsprinzipes erreicht, die den technischen Vorsprung einiger Länder nicht mehr belohnt bzw. dessen Nutzung zur Umgehung der Vertragsziele einzuschränken sucht. Zurück

16) Ein solcher »cut-off« sollte sich nicht auf das Ende der Materialproduktion für Waffenzwecke beschränken, sondern die prinzipielle Waffenfähigkeit der angegebenen Stoffe zum Ausschlußkriterium machen. Zurück

17) Nachfolgende Verträge sollten neben der Zerstörung der Kernwaffen selbst, eine internationale Überwachung der vorübergehenden Lagerung der entnommenen waffengrädigen Materialien, ihre langfristig vorzunehmende Zerstörung bzw. sichere Endlagerung, sowie die Zerstörung der zugehörigen Trägersysteme vorsehen. Zurück

18) Vorschlag 1. wäre »billig« zu haben, wäre aber ein »Einfallstor« für die Konzeption, den »mangelhaften NPT« in der angestrebten Weise zum Ausgleich seiner Schwächen einzubetten. Vorschläge 2., 3., 4., 6. und teilweise 7. könnten beispielsweise in gebündelter Form einem international auszuhandelnden Produktions-Cut-off korrespondieren. Zurück

Dr. Wolfgang Liebert ist Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Hochschule Darmstadt. Er ist Mitglied des Beirates der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« und Mitglied des Coordinating Committee des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP).

Raketenabwehr contra Proliferation

Raketenabwehr contra Proliferation

Der Norden tut sich zusammen

von Jürgen Scheffran

In diesem Beitrag wird anhand jüngster Entwicklungen im Bereich der Raketenabwehr aufgezeigt, wie weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit Rüstungsprogramme aus der Zeit des Kalten Krieges einer neuen Zweckbestimmung zugeführt werden.1

Ein Jahr vor der Verlängerungskonferenz des Nicht-Verbreitungs-Vertrages NPT (Non-Proliferation Treaty) besteht zunehmend die Gefahr einer Militarisierung des Proliferationsproblems. Unabhängig vom weiteren Schicksal des NPT benutzt das Militär in Staaten der nördlichen Hemisphäre die mit politischen Mitteln angeblich unaufhaltsame Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen als Vorwand, um militärische Lösungen des Problems anzubieten, die einen potentiellen Aggressor abschrecken, entwaffnen oder abwehren sollen. In westlichen Regierungen finden solche Bedrohungsszenarien zunehmend Gehör, obwohl die allgemeine Finanzknappheit und der Unmut der Bevölkerung gegenüber neuen Rüstungsprojekten dämpfend wirken. Besonders aktive Verfechter einer militärischen Counterproliferation sind Anhänger des verblichenen SDI-Programms, dessen Nachfolgeprogramme auf die Abwehr von Raketen aus Staaten der Dritten Welt umorientiert werden.

Der Kreis der Befürworter eines harten Vorgehens gegen Proliferatoren ist in den USA mittlerweile nicht mehr auf konservative Zirkel beschränkt, sondern hat so prominente Befürworter wie den US-Präsidenten Bill Clinton und seinen Verteidigungsminister Les Aspin hinzugewonnen. Nach Clintons Rede vor der UNO-Generalversammlung am 27.9.93 wurde die Defense Counterproliferation Initiative (DCI) gegründet, unter Leitung des Physikers und Harvard-Professors Ashton Carter, seinerzeit einer der profiliertesten Star-Wars-Kritiker.

Recht offen stellte Les Aspin die neue Initiative in einer Rede vor der National Academy of Sciences am 7. Dezember 1993 vor.2 Seine Grundthese: Bedingt durch den Zerfall der ehemaligen Sowjetunion und die Technologiediffusion als Folge des internationalen Handels sei die Proliferationsgefahr größer als je zuvor. Es sei zudem zu befürchten, daß Kernwaffen und andere Massenvernichtungswaffen die überlegene konventionelle Streitmacht der USA neutralisieren könnten. Konnte mit bisherigen Verhinderungsmaßnahmen die Proliferation noch verlangsamt werden, seien nun zusätzliche militärische Aktivitäten erforderlich, um sich vor den Folgen der Proliferation zu schützen. Kurz: „Wir fügen der Aufgabe der Verhinderung [prevention] die Aufgabe des Schutzes [protection] hinzu.“

Der »prevention« werden herkömmliche politische Non-Proliferationsmaßnahmen zugerechnet:

  • Dissuasion (Abraten),
  • Denial (Zugangsbeschränkungen),
  • Arms Control (Rüstungskontrolle),
  • International Pressure (internationaler Druck).

Die in den Verantwortungsbereich des Verteidigungsministeriums fallende »protection« umfaßt die vorwiegend militärische Counter-Proliferation:

  • Defusing (Abhaltung),
  • Deterrence (Abschreckung),
  • Offense (Angriff),
  • Defense (Abwehr).

Alle acht Punkte werden weiter aufgeschlüsselt.3 Non-Proliferation und Counter-Proliferation werden als sich ergänzende Teile einer Einheit verstanden. Der Kern der DCI liegt in der Schaffung militärischer Fähigkeiten. Unter Führung des US-Generalstabs und der regionalen Kommandeure wird nach Aussagen Aspins ein militärischer Planungsprozeß vorbereitet, der Feinden mit Massenvernichtungswaffen entgegenwirke. Ausdrücklich werden durch die Einrichtung eines gemeinsamen Büros auch biologische Waffen einbezogen. Um die Aufklärungsmängel des Golfkriegs zu beseitigen und die militärisch verwertbaren Informationen zur Proliferation zu verbessern, werden mit dem Direktor des CIA verschiedene Vorkehrungen getroffen, darunter eine Verdreifachung der Pentagon-Experten im Non-Proliferations-Zentrum des CIA.

Auch neue Waffensysteme seien erforderlich. Ausgehend von den Erfahrungen im Golfkrieg sollen verstärkt nicht-nukleare Waffen untersucht werden, die in geschützte unterirdische Anlagen und Bunker eindringen können oder bessere Verfahren, mobile Raketen wie die Scud jagen zu können. Auch das SDI-Programm soll nach seinem im Mai 1993 verkündeten Ableben eine neue Aufgabe bekommen: „Und natürlich haben wir die Strategic Defense Initiative in die Ballistic Missile Defense Organization umorientiert, so daß sie sich darauf konzentrieren kann, den heutigen Bedrohungen durch ballistische Gefechtsfeldraketen zu begegnen.“

Da es sich auch um eine Bedrohung der Bündnispartner weltweit handele, sei die internationale Kooperation zu verstärken. Hierzu gerechnet wird eine Initiative mit der NATO gegen Proliferation, eine Zusammenarbeit mit Rußland bei den Exportkontrollen sowie eine aktive Zusammenarbeit mit Japan bei der Entwicklung und Stationierung eines Raketenabwehrsystems.

Raketenabwehr unter Clinton

Mußte nach der Wahl Clintons der 10. Jahrestag von Reagans Star-Wars-Rede im März 1993 noch im Zeichen der Unsicherheit verbracht werden, rückte der neue Verteidigungsminister Aspin nicht einmal zwei Monate später die neuen Fronten zurecht. Das von ihm am 13. Mai 1993 verkündete „Ende der Star Wars Ära“ erweist sich als rhetorische Meisterleistung. Zum einen wird durch die Abkehr von exotischen Weltraumprogrammen und dem verkündeten Rückzug aus dem von Bush Anfang 1991 vorgeschlagenen globalen Abwehrsystem GPALS (Global Protection Against Limited Strikes) sowie durch die Umbenennung der SDI-Organisation in Ballistic Missile Defense Organization (BMDO) den Star-Wars-Kritikern der Wind aus den Segeln genommen. Zum anderen wird jedoch am Ziel einer Bodenabwehr und an der einflußreichen Institution BMDO festgehalten. Aspins Rede erscheint so eher als kosmetische Verjüngungskur für SDI denn als eine operative Entfernung.

Lag das SDI-Budget für das Bush-Haushaltsjahr 1993 noch bei 3,5 Milliarden Dollar, so ermöglichte die Beseitigung des Weltraumbalasts eine deutliche Kürzung der Ausgaben. Von den 3,76 Mrd. Dollar, die Clinton für 1994 beantragt hatte, wurden 2,64 Mrd. Dollar bewilligt. Dies ist zwar deutlich weniger als unter Bush, aber immer noch mehr als doppelt so viel wie vor der Star-Wars-Rede und etwas weniger als vor dem Golfkrieg. Davon sind 1,4 Mrd. Dollar für taktische Raketenabwehr (TMD: Theatre Missile Defense) vorgesehen (von beantragten 1,6 Mrd.), 650 Mio. für begrenzte Kontinentalabwehr (von 1,2 Mrd.) und 538 Mio. für Forschung und Unterstützung (von 712 Mio.).4 Auffällig ist die Rücknahme der Weltraumprojekte Brilliant Pebbles (384 Mio. 1992, 219 Mio. 1993, 38 Mio. 1994) und die Kürzung bei Brilliant Eyes (74 Mio. 1992, 294 Mio. 1993, 140 Mio. 1994). Zwei weitere Entwicklungen sollen hier beispielhaft erwähnt werden: die zunehmenden TMD-Aktivitäten der Navy (etwa durch die geplante Nutzung des Aegis-Kreuzers) und die Vorschläge, Flugzeuge als Startrampen von Abwehrflugkörpern zu benutzen (insbesondere das RAPTOR/TALON-Programm).

Die Hälfte des Geldes für sieben TMD-Programme (darunter Theater High Altitude Area Defense THAAD, Patriot-Multimode und der Extended Range Interceptor ERINT) wurde an die Einhaltung des ABM-Vertrages gebunden (ABM: Anti-Ballistic Missiles). Um Kosten zu sparen, aber auch um Forschungsaufgaben wirksamer zu verteilen, fordert der US-Kongreß die Regierung auf, stärker mit den Verbündeten im TMD-Bereich zusammenzuarbeiten. Hier ergeben sich derzeit die stärksten Bezüge zur Counterproliferation-Initiative.

Es ist nicht zu übersehen, daß der Aufbau eines taktischen Raketenabwehrsystems der beschriebenen Größenordnung Probleme für den ABM-Vertrag von 1972 schafft, der Entwicklung, Test und Stationierung strategischer Raketenabwehrsysteme verbietet. Besonders die THAAD-Abwehrrakete hätte eine Fähigkeit, die in den Bereich der strategischen ABM-Systeme hineinreichen könnte. Bei der Sitzung der Ständigen Beratenden Kommission zum ABM-Vertrag am 30. November 1993 schlug die US-Regierung, neben einer Multilateralisierung des ABM-Vertrages, der russischen Delegation vor, daß ein taktisches Abwehrsystem (ATBM: anti-tactical ballistic missiles) nur dann verboten sei, wenn es eine »demonstrierte« Fähigkeit zur Abwehr eintretender Ziele mit einer Geschwindigkeit von mehr als 5 Kilometern pro Sekunde (km/s) habe.5

Diese Grenzziehung löste in Rüstungskontrollkreisen der USA Betriebsamkeit aus. Die Arms Control Association rief für den 8. Dezember 1993 eine Pressekonferenz zum ABM-Vertrag ein. Die Hauptkritik der dort versammelten Experten: ATBM-Systeme, die eine solche Fähigkeit im Test oder Einsatz nicht demonstriert haben, selbst wenn sie theoretisch weit mehr könnten, wären nach dem Vorschlag nicht verboten und könnten beliebig entwickelt, stationiert oder exportiert werden. Zudem sei die Grenze von 5 km/s so hoch gesetzt, daß Raketen mit einer Reichweite von 3500 km damit abgewehrt werden könnten. Die nötige Sicherheitsmarge gegenüber strategischen Raketen, deren Eintrittsgeschwindigkeit bei mehr als 7 km/s liegt, ginge verloren.6

Nach Ansicht von John Pike, Direktor des Weltraumprojekts bei der Federation of American Scientists, gehe es beim ABM-Vertrag darum, die Ost-West-Dimensionen der Sicherheit mit ihren Nord-Süd-Dimensionen in Einklang zu bringen. Gegenüber den russischen Kernwaffen interkontinentaler Reichweite, die auf absehbare Zeit weiter in großer Zahl auf die USA gerichtet sein werden, seien die wenigen hundert Scud-ähnlichen Raketen kurzer Reichweite in der Dritten Welt ein eher untergeordnetes Phänomen. Daher sei es aus Sicht der USA unsinnig, den wichtigen ABM-Vertrag, der ein Offensiv-Defensiv-Wettrüsten zwischen Ost und West dämpfe und tiefe Einschnitte in die Kernwaffenarsenale erlaube, zugunsten einer politisch und technisch fragwürdigen Raketenabwehr gegen Dritte-Welt-Staaten zu gefährden. (Ebda, S. 13)

Moskau: vom SDI-Gegner zum Partner

Der russische Präsident Boris Jelzin schlug im Januar 1992 vor, ein globales Frühwarn- und Raketenabwehrsystem (Global Protection System, GPS) gemeinsam mit den USA und anderen Ländern zu entwickeln und zu betreiben, das auch den möglichen Brain-Drain russischer Techniker verhindern könne. Beim Gipfel in Washington im Juni 1992 vereinbarten die Präsidenten Bush und Jelzin zur Förderung der Zusammenarbeit die Einrichtung einer Arbeitsgruppe. Nach anfänglicher Skepsis schlugen die USA im September 1992 ein Global Protection Center vor, in dem Informationen über Waffenproliferation, Starts von Weltraumraketen, Abwehrtaktiken und wechselseitige Hilfe bei der ABM-Entwicklung und Beschaffung ausgetauscht werden sollten. Kurz darauf unterzeichneten im Oktober 1992 zehn Staaten der GUS bei einem Treffen in Kirgistan das Bishek-Abkommen, in dem sie sich selbst verpflichteten, die Bestimmungen des ABM-Vertrages zu erfüllen.

Für die SDIO war die Zustimmung des ehemaligen Hauptgegners ein wichtiges politisches Signal, das zugleich die Möglichkeit eröffnete, die Sahnestücke aus dem russischen Abwehrkuchen herauszuschneiden und Entwicklungskosten einzusparen. Die SDIO/BMDO zeigte Interesse an russischen Experten, Trägerraketen, Luftabwehrraketen, Teilchenstrahltechnologie, nuklearen Antrieben und Satellitenantrieben für die Brilliant Pebbles.7 Große Hoffnungen wurden auf den für 30 Mio. Dollar erworbenen Topaz-2-Weltraumreaktor gesetzt, der eine Eigenentwicklung der USA ersetzen soll. Der umgekehrte Weg, die Weitergabe und Teilung von US-Technologie und Know-How an die »unsichere« GUS, ist in den USA aus sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Gründen nicht gern gesehen. Der Versuch, den Russen Frühwarninformationen des Fylingdales-Radars in Großbritannien zugänglich zu machen, stieß auch auf britische Kritik.

Russische Wissenschaftler und Firmen äußerten ein starkes Interesse daran, gemeinsam mit den USA ein Anti-Raketensystem namens Trust auf dem Kwajalein-Atoll im Pazifik zu testen. Dabei sollen bodengestützte Mikrowellen- oder Lasergeneratoren einen Plasmaschild erzeugen, der eintretende Gefechtsköpfe zerstört.8 Beteiligt sind u.a. das TsAGI Forschungsinstitut, die Firma Vympel und das Institut für Experimentalphysik im ehemals geheimen Arzamas-16-Komplex. Vympel war im Mai 1992 von russischen und weißrussischen Luft- und Raumfahrtkonzernen gegründet worden, um Frühwarn- und Raketenabwehrsysteme zu entwickeln.9

Daß es sich bei der Weitergabe russischer Abwehrtechnologie an die USA um Rüstungsexport handelt, der dort zur vertikalen Proliferation beiträgt, wird von beiden Seiten nicht gerne zugegeben. Zunehmend bemüht sich Rußland zudem, seine ATBMs wie die USA auch in anderen Ländern zu verkaufen, so bei der Rüstungsschau in Abu Dhabi, wo die S-300V-Abwehrrakete angeboten wurde, der eine bessere Leistungsfähigkeit als der Patriot nachgesagt wird.

Daß bislang die Kooperation im Vordergrund steht und dabei alte Feinde zusammenführen kann, wurde auf einer Tagung in Erice (Italien) im August 1992 deutlich. Dort wurde ein »Global Ecological Monitoring« System ins Leben gerufen, das sich die Doppelverwendbarkeit von Aufklärungssatelliten (insbesondere der Brilliant Eyes) zunutze machen will. Unterzeichner eines entsprechenden Aufrufs sind der ehemals entschiedene SDI-Gegner Jewgenij Welichow, mittlerweile zu einem Anhänger von GPS avanciert, und der Star-Wars-Schöpfer Edward Teller, der nunmehr Laserstationen zur Bekämpfung von Asteroiden vorschlägt.10

Die amerikanisch-russische Zusammenarbeit wurde unter Clinton fortgesetzt, wenn auch mit geringer Priorität. Immerhin wurde für den Clinton-Besuch in Moskau im Januar 1994 eine Liste möglicher gemeinsamer Forschungsprojekte vorbereitet, darunter zwei Satelliten mit der Bezeichnung RAMOS (Russian American Observation Stereo Satellites), die Zielinformationen im infraroten und sichtbaren Wellenlängenbereich sammeln und korrelieren sollen.11

Bei einem hochrangig besetzten Symposium in Arlington (Virginia) im September 1993 wurde die gesamte Bandbreite der Themen von Konversion, Proliferation und neuen Rüstungstechnologien (inklusive Raketenabwehr) diskutiert.12 Zu den Rednern gehörten der stellvertretende Verteidigungsminister der USA William Perry, der ehemalige BMDO-Direktor Henry Cooper und sein Nachfolger Malcolm O'Neill sowie Sergei Kortunov vom russischen Außenministerium und Generalmajor Victor Mironov vom russischen Verteidigungsministerium. Während Cooper in der US-russischen Zusammenarbeit bei GPS einen Eckstein für geopolitische Stabilität in einer dauerhaften Weltunordnung sieht, schlagen O'Neill und andere eine Neudefinition des Stabilitätsbegriffs vor. Nicht nur die beiden BMDO-Vertreter sehen Frühwarnung und Raketenabwehr als einen wichtigen Beitrag zur Counterproliferation an, sondern auch Kortunov, der hier eine Aufgabe für die UNO und eine zu schaffende globale Weltraumagentur sieht.

Was in russischen Zirkeln an Konzepten und Ideen diskutiert wird, wurde auf einer von Welichow im November 1993 initiierten Konferenz in Moskau deutlich. Den westlichen Teilnehmern aus Regierung, Industrie und Wissenschaft13 wurden von russischer Seite verschiedene Vorschläge unterbreitet zur Raketenbedrohung, zum geplanten Frühwarnzentrum, zugehörigen Sensoren und Informationssystemen, zu Abwehrtechnologien, zur Architektur und Realisierbarkeit von GPS, zu den Folgen der Raketenabwehr auf die Stabilität, den rechtlichen Grundlagen und den Folgen für den ABM-Vertrag.

Erwähnenswert sind u.a. zwei russische Vorschläge für ein internationales Frühwarnzentrum für ballistische Raketen (Center of Ballistic Missile Early Warning, CBMEW) und ein globales Weltrauminformationssystem (Global Space Information System, GSIS). Beiden Vorschlägen liegt das gleiche Prinzip zugrunde: eine Abwehrfunktion im Kriegsfalle wird zur Akzeptanzsteigerung koppelt mit einer Frühwarn- und Beobachtungsfunktion, die auch zur Überprüfung von Abrüstungsabkommen dienen könnte.

Die Erweiterte Luftabwehr der NATO

In verschiedenen Studien (1980: Project 2000, 1983: AGARD AAS-20, 1986: AAS-25, 1989 AAS-29) untersuchte die NATO seit 1980 Möglichkeiten zur Erweiterten Luftabwehr (Extended Air Defense) von Flugkörpern des Warschauer Paktes. Parallel dazu wurden im SDI-Programm TMD-Konzepte verfolgt und Architekturstudien zur Verteidigung Mitteleuropas (TMDAS) an internationale Firmenkonsortien vergeben. Auch für das europäische Gefechtsfeld wurde eine Kampfwertsteigerung für Patriot durch den Übergang von PAC-I (TBM-Suchsektor) zu PAC-II (Zünder, Gefechtskopf) vorgenommen, die nunmehr zu PAC-III (Multimode-Suchkopf) ausgebaut werden. Erhebliche Anstrengungen wurden unternommen, um die komplexe C3I-Problematik für ein Air Command and Control System (ACCS) in den Griff zu bekommen, das die verschiedenen Komponenten in Europa miteinander verbindet. Der heutige NATO-Generalsekretär Wörner hatte sich Mitte der 80er Jahre, damals noch als deutscher Verteidigungsminister, zum engagierten Fürsprecher einer Erweiterten Luftabwehr gemacht, die in Analogie zu SDI von einigen auch Europäische Verteidigungs-Initiative (EVI) genannt wurde.14

Mittlerweile werden die alten Planungen für eine Erweiterte Luftabwehr Richtung Süden umorientiert, wobei sich die US-Strategie der Counterproliferation zunehmend als Katalysator erweist. Wie schon beim ursprünglichen SDI bemühen sich die USA auch bei den neuen Raketenabwehrprogrammen darum, ihre europäischen Verbündeten einzubeziehen.15 Während in Militärkreisen ein Angriff auf Mitteleuropa durch ballistische Flugkörper mit Reichweiten oberhalb von 1000 km derzeit als unwahrscheinlich eingeschätzt wird, rechnet man an den NATO-Flanken mit einem begrenzten Luftangriff auf Reaktionskräfte in Krisengebieten durch Flugkörper kurzer Reichweite.

Um dem zu begegnen, wird in der NATO an verschiedenen Abwehrkonzepten gearbeitet, die auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik im November 1993 im Luftwaffenamt Köln-Wahn teilweise vorgestellt wurden.16

Im Herbst 1992 wurde eine »Ad-Hoc Group on GPS« der NATO eingerichtet, die als Forum für Konsultationen zu allen Aspekten des GPS dienen sollte, deren Arbeit durch den Machtwechsel in Washington zunächst aber behindert wurde. Die Bereitschaft ist jedoch vorhanden, die ohnehin in der NATO-Planung vorgesehenen Verbesserungen der Erweiterten Luftabwehr in eine internationale GPS-Kooperation einzubringen.17 Derzeit laufen zahlreiche NATO-Aktivitäten zur Erweiterten Luftabwehr, von denen hier drei erwähnt werden sollen.18

1. Von der NATO Defense Research Group (DRG) werden Anforderungen und Architekturen für ACCS hinsichtlich einer Erweiterten Luftabwehr untersucht, die dem sich ändernden Risiko angepaßt ist. Einsatzszenarien betreffen die Türkei, den Mittelmeer-Raum, Nord-Norwegen, Mitteleuropa und Angriffe durch Terroristen.

2. Die Studie »Extended Air Defense for Europe (EAD-2000)« soll Konzepte und Schlüsseltechnologien zur Erweiterten Luftabwehr (insbesondere für Out-Of-Area-Einsätze) identifizieren, bewerten und einen entsprechenden Forschungs- und Entwicklungs-Plan erarbeiten

3. Die AGARD AAS-38-Studie »NATO BMD in the Post-Cold War Aera« soll die Bedrohung der NATO durch gegnerische Flugkörper identifizieren, zu verteidigende Einrichtungen kategorisieren sowie Anforderungen, Architekturen und Leistungsfähigkeit für eine Abwehr des NATO-Territoriums und in Krisenreaktionsgebieten identifizieren.

Die Ergebnisse der beiden letzten Studien sollten bis Ende 1993 vorliegen. Die neueren NATO-Studien unterscheiden sich, trotz der geänderten Bedrohungslage, hinsichtlich der technischen Lösungsansätze und vorgeschlagenen Technologien nicht wesentlich von den alten. Auch weiterhin geht es um ein mehrlagiges Abwehrsystem, bestehend aus Frühwarnsensoren, Multifunktionsradars, schnellen Lenkflugkörpern mit hoher Zerstörwahrscheinlichkeit und einem C3I-System in Echtzeit. Noch stärker als früher wird – besonders bei den Krisenreaktionskräften – eine hohe Mobilität und gute Transportabilität als notwendig angesehen.

Beim NATO-Gipfel in Brüssel am 10./11. Januar 1994 konfrontierte Aspin wie zu erwarten die Allianz mit der neuen Counterproliferation-Initiative, was von der Tagespresse kaum zur Kenntnis genommen wurde. Gemeinsam sollen nun in Zukunft bessere Möglichkeiten zur Jagd auf mobile Raketen, neue Technologien zur Entdeckung von Massenvernichtungswaffen und ein besserer Schutz der Truppe gefunden werden. In der Gipfelerklärung beschloß die NATO, ihre politischen und Verteidigungsanstrengungen gegen die Proliferation zu „intensivieren und auszubauen“ und stimmte überein in „der Entwicklung einer European Security and Defense Identity (ESDI)“. Dazu könnten gemeinsame Einrichtungen der Allianz der Westeuropäischen Union (WEU) verfügbar gemacht werden.19

Die WEU: Der europäische Abwehrpfeiler

Die Proliferations- und Raketenabwehrdiskussion in der WEU stützt sich auf die gleichen Bedrohungsanalysen wie in der NATO, wobei jedoch Industrie- und Rüstungsinteressen der Europäer stärker im Vordergrund stehen. Besonders die französische Regierung wurde zum Vorreiter eines europäischen, vorwiegend bodengestützten Raketenabwehrsystems.

Im November 1992 hatte das deutsche Bundestagsmitglied Christian Lenzer für des Technological and Aerospace Committee der WEU einen Bericht zur Bedrohung Europas durch ballistische Flugkörper und entsprechenden Abwehrmaßnahmen vorgelegt.20 Der Bericht schlägt vor, eine öffentliche Diskussion zu führen über völkerrechtliche (Missile Technology Control Regime, Verbot von Weltraumwaffen) und verteidigungspolitische Maßnahmen (Raketenabwehr) gegen die Proliferation, die einander ergänzen müßten. Ausführlich werden europäische Anstrengungen in der taktischen Raketenabwehr beschrieben. In einer Empfehlung schlägt die WEU-Versammlung vor, die Risiken der Raketenproliferation zu untersuchen, um eine gemeinsame europäische Position gegenüber GPALS zu erleichtern. Das Technological and Aerospace Committee wird ersucht, Arbeiten zu Problemen der Raketenabwehr durchzuführen und ein Symposium zu organisieren.

Bei dem Symposium in Rom am 20.4. 1993, an dem etwa 300 Regierungs- und Industrievertreter teilnahmen, ging es darum, die Mitglieder der WEU-Versammlung auf die neue Bedrohungsanalyse und damit verbundene Antworten einzustimmen. Der damalige italienische Verteidigungsminister Ando schlug ein Raketenabwehrsystem als eine vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahme vor. Russische Experten hatten Gelegenheit, ihre Vorstellungen von einem gemeinsamen globalen Frühwarnzentrum und Abwehrsystem den Europäern darzulegen.21 Demgegenüber bezweifelte Hartmut Soell, der deutsche Präsident der WEU-Versammlung, in einer Rede, daß die Europäer in ein amerikanisch-russisches GPALS-System Vertrauen haben könnten, und fragte „Sollte [Europa stattdessen] die Bürde eines regionalen [ATBM]-Systems auf sich nehmen, das unter seiner eigenen Kontrolle steht?“

Europäische Industrievertreter, unzufrieden über ihre Rolle im SDI-Programm, betonten, daß die europäischen Industrien eigenständig in der Lage wären, ein Raketenabwehrsystem technisch zu realisieren, wobei die Erfahrungen aus den zivilen Raumfahrtprojekten relativ kostengünstige Lösungen ermöglichen würden. Die Kosten für ein europäisches ATBM wurden auf 10 Milliarden Dollar geschätzt, was nach Ansicht von Henri Martre, dem Präsidenten der französischen Handelsvereinigung der Luft- und Raumfahrtindustrien, erschwinglich sei. In ihrer Empfehlung Nr. 545 forderte die WEU-Versammlung den Rat auf, sich dieser Problematik weiter anzunehmen, was in einer Special Working Group der WEU geschieht.22

Bei den in der NATO und der WEU vorgeschlagenen Programmen geht es vorwiegend um Erweiterte Luftabwehr gegen Kampfflugzeuge, (Überschall-)Marschflugkörper, Anti-Radar-Flugkörper, Luft-Boden-Flugkörper und taktische ballistische Raketen, wobei einzelne nationale Systeme miteinander konkurrieren. Es wird ein rasch expandierender Markt für Luftabwehrsysteme langer Reichweite prognostiziert. Eine Reihe westeuropäischer Firmen hat inzwischen Machbarkeitsstudien für eine Raketenabwehrarchitektur in Europa ausgearbeitet.

Besonders umkämpft ist die Nachfolge der veralteten Hawk-Luftabwehrrakete, die komplementär zur weiter reichenden Patriot ist. Während in den USA die CORPSSAM-Rakete entwickelt wird, setzt das Firmenkonsortium Eurosam, bestehend aus französischen (Aerospatiale, Thomson-CSF) und italienischen Firmen (Alenia) mit SAMP-T auf die Weiterentwicklung des Luftabwehrsystems Aster/Arabel. Zur Abwehr in größeren Flughöhen arbeiten einige europäische Firmen (darunter Aerospatiale und Thomson-CSF) mit bei der Entwicklung des THAAD-Systems der USA. Auch von Gesprächen zwischen Rußland und Frankreich über die Weiterentwicklung der russischen SA-12 wird berichtet (AWST 13.9.93). In Großbritannien wird diskutiert, bis zu 4 Mrd. Pfund für ein Raketenabwehrsystem aufzuwenden, wobei die Entscheidung zwischen Patriot und einem möglichen schiff-gestützten System auf Grundlage der Super-Seawolf Rakete offen ist (Arms Control Reporter, 3/93).

Auch mit Verbündeten außerhalb Europas gibt es eine enge Zusammenarbeit in der Raketenabwehr. Erwähnt werden sollen hier nur Israel, das bei der Entwicklung des Arrow-Abwehrsystems gegen islamische Raketen massiv von den USA unterstützt wird, sowie Südkorea und Japan, die seit kurzem intensiv mit den USA zusammenarbeiten, um der befürchteten Raketendrohung Nordkoreas zu entgehen.

Deutsche Positionen und Programme

Die deutsche Regierungsposition zu Raketenabwehr und Counterproliferation hat sich öffentlich noch nicht klar artikuliert.23 Dagegen waren von der Opposition überwiegend ablehnende Stellungnahmen zu vernehmen. Die wirtschaftlichen Probleme der Wiedervereinigung trugen sicherlich zur Skepsis gegenüber neuen militärischen Risiken bei. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr geben allerdings den Risiken der Proliferation ein großes Gewicht, und zunehmend wird aus Kreisen des deutschen Militärs der Anspruch formuliert, einen Beitrag gegen die aufkommende Bedrohung an der Südflanke der NATO leisten zu können. Am 13. Mai 1993 hatten Hans und Michael Rühle in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« die Ansicht vertreten, daß der „Weg in die Ausrüstung mit Raketenabwehrsystemen längst begonnen“ habe. Das 21. Jahrhundert werde die »multinukleare Welt« bringen.

Da die bisher vorhandenen Möglichkeiten im Bereich der Erweiterten Luftabwehr als unzureichend angesehen werden, weist die Planungsleitlinie der Bundeswehr für 1995, inkraft gesetzt im September 1993, der Flugkörperabwehr (und zwar aller Kategorien) erstmalig eine besonders hohe Priorität zu.24 Bei der Tagung im Kölner Luftwaffenamt wird wiederholt betont, daß Deutschland auf nahezu allen Gebieten der Luftraumüberwachung und Luftabwehr ausreichende technische Fähigkeiten habe. Mit Hawk, Patriot, Roland und den schiffgestützten Systemen sei die Bundeswehr zudem vergleichsweise großzügig mit Flugabwehr-Raketensystemen ausgestattet.

Deutsche Firmen wie die DASA sind bemüht, nicht nur bei der Patriot-Kampfwertsteigerung PAC-3 mitzuwirken, sondern vor allem beim Taktischen Luftverteidigungsystem TLVS, mit dem nach deutschen Vorstellungen HAWK ersetzt und Patriot ergänzt werden soll. Nach Ansicht Karl-Heinz Allgaiers von der DASA hat TLVS ein inhärentes ATBM-Potential und sei wegen seiner guten Transportierbarkeit und hohen Mobilität, seiner Feuerkraft und seinem Wirkungsbereich für Krisenreaktionskräfte besonders geeignet.25 Da ein System wie TLVS nicht im nationalen Alleingang zu realisieren ist, sieht Allgaier zwei Möglichkeiten der Kooperation: Ein Einschwenken auf das französisch-italienische Entwicklungsprogramm SAMP-T oder auf das Gegenstück CorpsSAM in den USA.

Bewertung

Der Blick hinter die Kulissen hat eine erstaunliche Geschäftigkeit in der Raketenabwehr an den Tag gebracht, die unter dem Dach der Counterproliferation richtig in Schwung kommt. Vieles kritische zur Raketenabwehr wurde an anderer Stelle schon ausführlich dargestellt und braucht hier nicht wiedergegeben zu werden.26 Eingegangen wird hier vorwiegend auf die Einbettung der Raketenabwehr in eine Counterproliferation-Strategie.27

  • Bislang ist die Defense Counterproliferation Initiative im US-Kongreß umstritten. Besonders schwer wiegt die Inkonsistenz, daß das Pentagon aus wirtschaftlichen Gründen gleichzeitig eine Deregulierung bei den Exportkontrollen für Dual-use-Güter betreibt. Damit wird die Proliferation beschleunigt, die dann durch die Counterproliferation nachträglich bekämpft werden soll.
  • Es ist ein Irrglaube, daß Proliferation durch militärische Macht wirksam bekämpft werden könne. Wie der Golfkrieg zeigte, sind Luftangriffe ungeeignet, mobile ballistische Raketen oder ein gut verstecktes Kernwaffenprogramm zu zerstören. Ebenso war Patriot nicht in der Lage, eine nennenswerte Zahl von Scud-Raketen abzufangen.
  • Ein effektiver Schutz vor Raketenangriffen ist auf absehbare Zeit nicht zu haben, auch nicht mit einer taktischen Raketenabwehr. Raketen kurzer und mittlerer Reichweite sind nicht wesentlich einfacher abzuwehren als Interkontintalraketen, Gegenmaßnahmen sind selbst für Entwicklungsländer relativ einfach zu realisieren.
  • Counterproliferation erscheint als Versuch, obsolete Rüstungsprogramme des Kalten Krieges in die neue Zeit zu retten. Die Einstiegsdroge TMD in Verbindung mit Counterproliferation ist eine Strategie, die trotz Clinton-Ära Raketenabwehr auf Dauer implementieren soll. Weitergehende Schritte, insbesondere Weltraumkomponenten, können langfristig nicht ausgeschlossen werden.
  • Neben gemeinsamen Interessen bei der Rüstungskooperation gibt es zwischen USA, Rußland, Europa und anderen Teilnehmern einer GPS- bzw. TMD-Initiative Divergenzen aufgrund unterschiedlicher sicherheitspolitischer Sichtweisen, geostrategischer Positionen und konkurrierender Wirtschaftsinteressen. Noch ist nicht klar, wer Raketenabwehr entwickelt, produziert, stationiert und bezahlt.
  • Wie bei der Raketenabwehr besteht auch bei offensiven Schlägen gegen Anlagen mit Massenvernichtungsmitteln die Gefahr der Freisetzung umweltschädigender Substanzen und weiterer Kollateralschäden.
  • Counterproliferation fördert eine politische und militärische Destabilisierung, indem es das Bedrohungspotential für potentielle oder neue Kernwaffenstaaten erhöht und den Anreiz für die (verdeckte) Fortführung des Kernwaffenprogramms steigert. Angriffe können solche Staaten dazu veranlassen, ihre Waffen einzusetzen, solange sie noch intakt sind.
  • Ein Militärschlag gegen Massenvernichtungswaffen ohne nachgewiesene Aggression wäre mit dem Völkerrecht nicht vereinbar. Sollten die USA entsprechende Erzwingungsmaßnahmen dennoch durchsetzen, könnten auch andere Länder ein gleiches Recht für sich beanspruchen.
  • Counterproliferation ist hochgradig diskriminatorisch, da sich die größte Kernwaffenmacht das Recht erlaubt, vermutete kleinere Kernwaffenmächte mit Krieg zu überziehen. Dadurch wird die Glaubwürdigkeit ihrer Non-Proliferationspolitik (auch hinsichtlich des Artikel VI im NPT) weiter erschüttert und das Nord-Süd-Verhältnis belastet.
  • Counterproliferation fördert, wie Raketenabwehr auch, die Illusion, ein militärischer Schutz sei trotz fortgesetzter Proliferation möglich. Dies kann die Bereitschaft senken, das Proliferationsproblem politisch vorbeugend anzugehen, und andere Elemente der Non-Proliferation verdrängen. Daraus könnte ein Hemmschuh für die NPT-Verlängerung entstehen.
  • Statt Counterproliferation und Raketenabwehr sollten die politischen und diplomatischen Anstrengungen für neue Sicherheitsstrukturen und eine allgemeine weltweite (nukleare) Abrüstung verstärkt werden. Deutschland könnte hier sein Gewicht in die Waagschale werfen. Die Einhaltung des ABM-Vertrages, ergänzt um ein Verbot von Weltraumwaffen, spielt hier weiterhin eine bedeutende Role. Eine Welt ohne Kernwaffen ist letztlich der aussichtsreichste Weg, den nuklearen Risiken zu entgehen.

Anmerkungen

1) Ein ausführlicherer Bericht des Autors erscheint dazu in der IANUS-Schriftenreihe in Darmstadt. Zurück

2) Remarks By Honorable Les Aspin, Secretary of Defense, National Academy of Sciences, December 7, 1993. Zurück

3) »Defense« etwa umfaßt die Punkte: TMD; BW vaccines; Strategic and tactical warning; Unconventional delivery, counterterrorism; NEST; Border/perimeter control. Zurück

4) Congress tightens hold on BMDO; provides $2.6 billion, BMD Monitor, 19.11.93. Zurück

5) D. Lockwood, U.S. Proposal to Retool ABM Treaty Reopens Debate on Missile Defense, Arms Control Today (ACT), 1/2 1994, S. 24. Zurück

6) Zu weiteren Einzelheiten der neuen ABM-Debatte siehe: A New Threat to the ABM Treaty: The Administration's TMD Proposal, Arms Control Today, 1/2 1994, S. 11-16. Zurück

7) SDIO Plans To Acquire Russian ABM Technology, Specialists, Aviation Week & Space Technology (AWST), 10.2.92, S. 18-20. Zurück

8) Joint Russian/US Anti-Missile System Testing?, Interavia/Aerospace World, 6/93, S. 70. Zurück

9) CIS States Form Star Wars Company, Flight International, 3.6.92, S. 12. Zurück

10) Zu Erice siehe G.H. Canavan, Former Soviet Republic Capabilities in Space and Science, Los Alamos, Report LA-12449-MS, Februar 1993. Zurück

11) Cooperative Research with Russians on hold, BMD-Monitor 1/94, S.1. Zurück

12) Die Vorträge der Konferenz sind abgedruckt in der Zeitschrift »Comparative Strategy«, Vol. 13, No. 1, 1994. Zurück

13) Den etwa 80 russischen Teilnehmern, darunter 10 von der Firma Vympel, standen 44 nicht-russische Teilnehmer gegenüber. Die USA und Frankreich stellten mit 14 jeweils den größten Block. Aus Deutschland kam nur ein Teilnehmer, dagegen vier aus China. Die Angaben stützen sich auf die Agenda der Konferenz. Zurück

14) Siehe D. Engels, J. Scheffran, E. Sieker (Hrsg.), SDI – Falle für Westeuropa, Köln, 1987. Zurück

15) Analog zur Diskussion in den achtziger Jahren warben Lobbyisten der SDIO und der High Frontier Europe, die ein europäisches EPALS-Äquivalent vorschlug, seit Anfang 1992 verstärkt für den Raketenabwehrgedanken, so auf einer Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung im Dezember 1992. Siehe hierzu K. Lange, Proliferation und Sicherheit – Aspekte militärtechnischer Stabilisierungsmöglichkeiten, Akademie-Report der Hanns-Seidel-Stiftung, 1993. Zurück

16) »Luftraumüberwachung und Abwehr der Bedrohung aus der Luft«, Forum der Studiengesellschaft der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik, 3./4. November 1993 im Luftwaffenamt Köln-Wahn. Die Beiträge wurden in einem Reader zusammengestellt. Zurück

17) G. Prüsse, Stand internationaler Bemühungen bei der Flugkörperabwehr, s. Reader der Kölner Tagung. Zurück

18) M. Braitinger, Ergebnisse von Untersuchungen und Studien zur LV aus dem Bereich der NATO, s. Reader der Kölner Tagung. Zurück

19) Counterproliferation emerges as important NATO issue, BMD Monitor, 17.12.93, S. 333; Progress made on counterproliferation front, BMD Monitor, 14.1.94, S. 26; Clinton Initiatives Find Success in Europa – For Now, ACT, 1/2 1994, S. 17-18. Zurück

20) Anti-ballistic missile defence, Report, Assembly of the Western European Union, 38th session, 6th November 1992, Document 1339. Zurück

21) Russians Outline Joint Strategic Defense Proposal, SDI Monitor, 23.4.93, S. 93-94. Konkret vorgeschlagen wurden von L. Fituni gemeinsame Versuche mit der Trust-Plasmawaffe. Zurück

22) Europe Debates Own ATBM System, Defense News, 24.4.93, S. 3, 29. Zurück

23) Allerdings ist Außenminister Kinkels 10-Punkte Initiative zur Non-Proliferation vom Januar 1994 zu entnehmen, daß militärische Erzwingungsmaßnahmen als letztes Mittel gegen Proliferatoren nicht ausgeschlossen werden. Zurück

24) P.J. George, Technologie der Effektoren, Vortrag im Reader zur Kölner Konferenz, 1993. Hier werden auch elektrische Kanonen zur Abwehr ins Auge gefaßt. Zurück

25) K.-H. Allgaier, Lenkflugkörper-Systeme mittlerer und großer Reichweite, Wehrtechnik, 2/94, S. 61-65. Zurück

26) Siehe etwa: J. Scheffran, G. Neuneck, J. Altmann, W. Liebert, Von SDI zu GPALS, in: Dossier zu: Wissenschaft und Frieden, Juni 1992; B.W. Kubbig, Raketenabwehr als angemessene technologische Antwort auf das politische Proliferationsproblem?, HSFK-Report 9/1992. Zurück

27) Einige Punkte werden angesprochen in: THE COUNTER PROLIFERATION DEBATE: »Are Military Measures or Other New Initiatives Needed to Supplement the Non Proliferation Regime?«, A Panel Discussion of the Carnegie Endowment for International Peace, Washington, D.C., November 17-18, 1993. Zurück

Jürgen Scheffran ist Physiker und Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheitspolitik (IANUS) an der TH Darmstadt.

Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen und internationale Sicherheit

Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen und internationale Sicherheit

von Wolfgang Kötter

Das Regime der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen ist bedroht; der entsprechende Vertrag befindet sich in existentieller Gefahr. Wo liegen die Ursachen für die besorgniserregende Lage? Der nachfolgende Artikel geht auf Fragen ein, die angesichts der bevorstehenden 4. Überprüfungskonferenz zum Vertrag über die Nichtweiterentwicklung von Kernwaffen (NPT) (20. August – 14. Septemper d. J. in Genf, hochaktuell sind. Die Konferenz wird die Erfüllung der Vertragsbestimmungen durch die 142 Mitglieder prüfen und Maßnahmen zur weiteren Realisierung und Stärkung der NPT beraten. Besondere Bedeutung gewinnt sie dadurch, daß es die letzte solcher Bestandaufnahmen ist, bevor 1995 vertragsgemäß eine Entscheidung über die Verlängerung des Vertrages gefällt wird.

Über den Wert oder Unwert des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (NPT) wird seit zwanzig Jahren kontrovers diskutiert. Die Bewertungen reichen von der Lobpreisung, es sei der erfolgreichste der je auf dem Abrüstungsgebiet abgeschlossenen Verträge1, bis dazu, daß er als ungerecht und diskriminierend verurteilt wird.2 Offensichtlich hängt es vom Standpunkt des Betrachters ab, ob das Glas »halbvoll« oder »halbleer« scheint.

Ist eine objektive Beurteilung eines so komplizierten und vielschichtigen Problems, wie es die Nichtverbreitung von Kernwaffen ist, überhaupt möglich? Wenn man davon ausgeht, daß (trotz einzelner Vorwürfe) kein einziger der gegenwärtig 142 Mitgliederstaaten den NPT erwiesenermaßen verletzt hat und kein einziger von ihnen vom Vertrag zurückgetreten ist, so ist der NPT der bisher erfolgreichste Vertrag in der Geschichte der Rüstungsbegrenzung. Die Zahl der offiziellen Kernwaffenmächte ist über die im Vertrag definierten – bis 1. Januar 1967 existierenden fünf Kernwaffenmächte – nicht hinausgegangen. Befürchtungen hinsichtlich einer schnellen Zunahme dieser Zahl um 15-20 Staaten haben sich nicht bestätigt.

Die wichtigsten Schwellenmächte jedoch, die wissenschaftlich und technologisch in der Lage wären, Kernwaffen herzustellen, gehören ihm nicht an. De facto gibt es mehrere zusätzliche Staaten, die über Kernwaffen verfügen oder sie produzieren können: Israel (60-100), Südafrika (10-20); Indien – seine Fähigkeit wurde durch eine als friedlich deklarierte Kernexplosion im Jahre 1974 nachgewiesen und reicht schätzungsweise für die Produktion von 10 bis 20 Sprengköpfen aus; Pakistan – es ist vermutlich in der Lage, 4 bis 8 Nuklearwaffen herzustellen.3

Der NPT – pro und kontra

Es stimmt, daß das Prinzip der Nichtweiterverbreitung heute zur allgemein anerkannten Norm internationalen Verhaltens geworden ist. Daran haben der NPT und das bestehende Regime der Nichtweiterverbreitung – also die Gesamtheit der Verträge, Vereinbarungen sowie weitere nationale und internationale Maßnahmen – einen wesentlichen Anteil. Die überwiegende Mehrheit der Staaten bezweifelt den militärischen Nutzen des Schritts zur Kernwaffenmacht. Politisch wäre dafür ein hoher Preis zu zahlen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen hat bisher keine Schwellenmacht den entscheidenden Schritt – die Durchführung eines Kernwaffentests oder die offizielle Erklärung über den Besitz von Nuklearwaffen – getan.

Doch wird es von vielen nicht als zufällig angesehen, daß die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates identisch mit den fünf Kernwaffenmächten sind. Obwohl es mit Japan und der BRD gegenteilige Beispiele dafür gibt, wie Staaten, ohne Kernwaffen zu besitzen, ökonomisch stark und einflußreich am internationalen Leben teilnehmen können, bestehen auch Ansichten, die ein gehobenes internationales Prestige mit dem Kernwaffenbesitz verbinden und darin den erfolgversprechendsten Weg zu einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat sehen.

Eine nüchterne Analyse der gegenwärtigen Situation zwingt zu der Schlußfolgerung: Das Regime der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen ist bedroht; der NPT befindet sich in existentieller Gefahr. Wo liegen die Ursachen für die besorgniserregende Lage?

Nichtweiterverbreitung und nukleare Abschreckung

Trotz aller nicht zu leugnender Verdienste tritt heute klar zutage: Der NPT ist gescheitert als Instrument zur Festschreibung des Status quo in einer sich verändernden Welt. So aber wurde er lange Zeit von den Kernwaffenmächten angesehen und gehandhabt (von einigen geschieht das anscheinend noch immer). Er wurde ungenügend genutzt als ein Mittel zur umfassenden Demokratisierung der internationalen Beziehungen, d.h. zur Transformierung der Welt in eine gewalt- und kernwaffenfreie Existenzform. Nur in einer solchen Welt können die Staaten ungeachtet ihrer sozialen und politischen Ordnung auf gleichberechtigter, kooperativer und gegenseitig vorteilhafter Grundlage miteinander verkehren, wobei ihre Beziehungen ausschließlich durch das Völkerrecht geregelt werden. Eine solche Ordnung fordert die Mehrzahl der nichtkernwaffenbesitzenden Staaten.

Der Grundwiderspruch des bestehenden Regimes der Nichtweiterverbreitung ist nicht darin zu suchen, daß sein zentrales Element, der NPT, an sich einen diskriminierenden Charakter hat oder daß einzelne Vertragsverpflichtungen ungenügend erfüllt werden. Er besteht im nicht gleichberechtigten, für die heutige Welt anachronistischem Sicherheitsverständnis, auf dessen Basis jahrzehntelang Nichtweiterverbreitungspolitik von den Kernwaffenmächten betrieben wurde. Damit haben sie gewissermaßen selbst den Zeitzünder unter der NPT gelegt, der, wenn er nicht entschärft wird, den Vertrag in nicht allzuferner Zeit in die Luft sprengen und das gesamte System (möglicherweise sogar im buchstäblichen Sinne) zu Asche machen wird.

Das Problem beginnt mit dem fundamentalen Mißverständnis über den zentralen Kompromiß des Vertrages. Für die Kernwaffenmächte besteht er im Tausch „Nichtweiterverbreitungsverpflichtung gegen Unterstützung bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie“. Die eigenen Kernwaffen bleiben unberührt. Die Staaten, die keine Kernwaffen besitzen, erwarten als Gegenleistung für ihre eigene Nichterwerbsverpflichtung die nukleare Abrüstung der Kernwaffenstaaten. Die gleichzeitig ungehinderte friedliche Nutzung der Kernenergie wird vorausgesetzt. Die Kernwaffenmächte betrachten die Kernwaffen als ein legitimes, unverzichtbares Element für die Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit und der internationalen Stabilität (fairerweise wird man die UdSSR spätestens seit Beginn der Umgestaltung Mitte der 80er Jahre von dieser Einschätzung ausnehmen müssen). Es ist nur zu verständlich, daß die Nichtkernwaffenstaaten dagegen den Vorwurf erheben, es handle sich um einen moralischen Doppelstandard: „Kernwaffen in unseren Händen sind gut für uns und gut für die Welt; Kernwaffen in anderen Händen sind schlecht für alle!“ Die These, Kernwaffen würden friedenserhaltend in der Ost-West-Auseinandersetzung, aber destabilisierend und kriegsgefährlich in jeder anderen Region wirken, birgt in sich einen unvereinbaren Widerspruch zwischen dem Konzept der nuklearen Abschreckung und dem Interesse an der Nichtweiterverbreitung. Dieser Widerspruch ist seinem Wesen nach antagonistisch. Es ist nur lösbar, wenn sich einer der beiden Antipoden durchsetzt. Entweder das Abschreckungskonzept bleibt als Regulator der internationalen Beziehungen weiter wirksam, dann wird die Weiterverbreitung – und zwar nicht nur der Kernwaffen, sondern ebenso auch der chemischen, modernen konventionellen Waffen und Trägermittel – zwangsläufig und unaufhaltsam sein. Oder es gelingt, die Weiterverbreitung von Waffen und -technologien zu stoppen. Dafür ist – wenn auch schrittweise und über Zwischenetappen – die Ersetzung der Abschreckung durch ein kooperatives Sicherheitskonzept unerläßliche Bedingung.

Versuche, Abschreckung und Nichtweiterverbreitung miteinander in Einklang zu bringen, stützen sich auf zwei Grundprämissen:

  1. Die nukleare Abschreckung sei im Ost-West-Konflikt unverzichtbar, weil die Kernwaffen seit 45 Jahren den Frieden bewahrt haben;
  2. die nukleare Abschreckung würde in der Dritten Welt aus einer Vielzahl von Gründen nicht funktionieren. Da das Auftauchen von Kernwaffen hier destabilisierend wirken und die Gefahr eines Kernwaffenkrieges enorm erhöhen würde, ist die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen auch in diesen Regionen oberstes Gebot.4

Die zweite These wird bis auf wenige Ausnahmen, die eine Weiterverbreitung von Kernwaffen auch in der Dritten Welt für stabilisierend halten, allgemein geteilt. Kritisch zu überprüfen wäre allerdings die erste Behauptung, und zwar nicht so sehr aus historischem Interesse, als vielmehr, um daraus die erforderlichen Schlußfolgerungen für die Gegenwart und die Zukunft zu ziehen. Natürlich kann es keine eindeutige Widerlegung der friedenserhaltenden Rolle der Abschreckung geben. Wenn sie versagt, wird niemand mehr da sein, um diesen Beweis zu führen oder entgegenzunehmen.

Die Existenz von Kernwaffen hat in den vergangenen Jahrzehnten in der Krieg-Frieden-Frage zweifellos eine erhebliche Rolle gespielt. Waren es aber wirklich die Kernwaffen an sich, die den Frieden erhalten haben? War es nicht vielmehr die Erkenntnis, wie unermeßlich die Verluste wären und wie groß die Gefahr der Selbstvernichtung ist? Kernwaffen haben gewissermaßen als Denkhilfe gewirkt: sie haben dem gesunden Menschenverstand Geltung verschafft, der erkennt, daß andere – ökonomische, politische, kulturelle und auch moralische – Werte höher stehen als alles, was mit dem Risiko des Selbstmords zu gewinnen wäre. Gleichgültig, ob es die Berlinkrise, der Koreakrieg, die karibische Krise oder der Vietnamkrieg waren, letzten Endes wurde immer aus politischem Kalkül, in nüchterner Kosten-Nutzen-Analyse, dank dem Selbsterhaltungstrieb und – immer auch mit einer gehörigen Portion Glück – auf den Nuklearkrieg verzichtet und eine friedliche Lösung erreicht.

Um wieviel mehr stellt sich heute die Frage: Kann sich die Menschheit, jetzt und in Zukunft, eine derart selbstmörderische »Denkhilfe« noch leisten? Kann sie die Last dieser Verantwortung tragen? Haben in der Realität nicht schon längst andere Faktoren als die Kernwaffen die Abschreckungs- und Selbstabschreckungsfunktion übernommen? Als derartige Faktoren wären zu nennen:

  1. die allgemeine Kriegsunverträglichkeit moderner Industriegesellschaften (es würde nicht nur zerstört werden, was erobert, sondern auch, was verteidigt werden soll);
  2. vielfältige wechselseitige Abhängigkeiten in wirtschaftlicher, ökologischer, kultureller u.a. Hinsicht und die daraus erwachsenden gemeinsamen Interessenfelder;
  3. Lernprozesse in westlichen Staaten und nicht zuletzt die zur Erneuerung drängenden Veränderungen in den östlichen Staaten.

Aus alledem ergibt sich immer zwingender die Schlußfolgerung: eine zeitgemäße alternative zur nuklearen Abschreckung ist eine umfassende Sicherheitspartnerschaft auf gleichberechtigter, kooperativer und gegenseitig vorteilhafter Grundlage. Sie ist nicht nur eine potentielle Möglichkeit, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Nichtweiterverbreitung ein kategorischer Imperativ.

Die Menschheit befindet sich im Umbruch

Die Tatsache, daß die Gefahr der Weiterverbreitung modernster Waffen und Militärtechnologien zu einer globalen Herausforderung von menschheitsbedrohender Dimension geworden ist, zeigt, daß eine historische Fehlentwicklung in der Menschheitsgeschichte stattgefunden hat und noch weiter stattfindet. Sie hat zur folgenschweren Nichtübereinstimmung zwischen der Herausbildung von Weltproduktivkräften, einer internationalisierten Wissenschaft, Technik und Technologie einerseits und überholten gesellschaftlichen Strukturen auf nationaler und internationaler Ebene andererseits geführt.

Die Tatsache, daß die Beziehungen von Menschen und Gesellschaften untereinander unzureichend demokratisch sind, reproduziert einen willkürlichen Umgang und eine destruktive Verwendung von Wissenschaft und Technik. Der militärische Mißbrauch von Wissenschaft und Technik wie auch die Weiterverbreitung von Waffen und Militärtechnologien sind ein direkter Ausdruck des Auseinanderklaffens zwischen der materiellen und der sozialen Entwicklung der Menschheit. Die Welt befindet sich in einer dramatischen Umbruchsituation.

Die Globalisierung der Reproduktionsbedingungen der Menschheit im Gefolge fortschreitender Internationalisierung der Produktivkräfte und aller Seiten des gesellschaftlichen Lebens verändert grundsätzlich die Prioritäten. Klassen- und Systemgegensätze werden relativiert, gemeinsame existentielle Herausforderungen an die Menschheit treten in den Vordergrund. Das Aufkommen der Kernwaffen vor fünfundvierzig Jahren signalisierte den tiefen Einschnitt im Dasein der Menschheit. Die Kernwaffen haben alles verändert, bis auf eins – unser Denken!5

Das sagte Einstein, und erst ein halbes Jahrhundert später beginnen wir diesen Satz zu begreifen. Eine andere Warnung, die erst kürzlich ausgesprochen wurde, lautet: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben (Michail Gorbatschow beim Besuch in der DDR aus Anlaß ihres 40. Jahrestages). Auch das Problem der Weiterverbreitung von Kernwaffen ist weder durch wissenschaftlich-technische Restriktionen noch durch administrativ-juristische Zwänge zu bannen. Dies kann nur auf politischem Wege gelingen, durch eine radikale Demokratisierung der internationalen Beziehungen und durch umfassende nukleare Abrüstung. Was jedoch die nukleare Abrüstung betrifft, so wurden zehn bis fünfzehn wichtige Jahre verloren. Das Ausbleiben durchgreifender Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens und der nuklearen Abrüstung hat wesentlich mit dazu beigetragen, daß die Weiterverbreitung von Kernwaffen, von Waffen generell heute eine für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit außerordentlich akute Frage geworden ist. Wir stehen wahrscheinlich vor einem Dilemma: Flickschusterei kann das Problem nicht lösen, weil es nur die Symptome, nicht aber die Ursachen behandelt. Erforderlich sind historische Visionen und strategische Konzepte. Dafür aber läuft die Zeit davon.

Was ist zu tun?

Die Suche nach Antworten beginnt mit zwei alternativen Fragestellungen:

  1. Ist der NPT in der bisher vorwiegend gehandhabten Weise als Verweigerungs- und Schadensbegrenzungsmittel überhaupt noch ein angemessenes Instrument zur Regulierung internationaler Angelegenheiten in der heutigen Welt? Sollte er nicht umgehend durch ein umfassendes Sicherheitssystem abgelöst werden, das die nukleare Abrüstung als integrales Element einschließt?6

Oder die gegensätzliche Frage:

  1. Bestünde eine realistische Haltung nicht gerade darin, wenn man die De-facto-Existenz zusätzlicher Kernwaffenstaaten anerkennen würde, wenn man mit der Weiterverbreitung von Kernwaffen leben lernte und Maßnahmen ergriffe, um mit ihr zu überleben? Solche Maßnahmen wären dann z.B. folgende:

    • verbesserte Kommunikation durch »heiße Drähte«, Vereinbarungen über Prozeduren zur Risikoverminderung, Konfliktverhütung und zum Krisenmanagement zwischen neuen bzw. potentiellen Kernwaffenstaaten;
    • gegenseitige Verpflichtungen zum Nichtangriff auf nukleare Anlagen;
    • Vereinbarungen über die Nichterstanwendung von Kernwaffen;
    • Kernwaffentestverzicht u.a.7.

Liegt die Antwort überhaupt in einem Entweder-Oder? Besteht sie nicht vielmehr darin, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen? Wahrscheinlich wäre ein Verzicht auf den NPT, bevor eine tragfähige Alternative gefunden ist, für niemanden von Nutzen. Allerdings müssen unverzüglich und zielstrebig Maßnahmen ergriffen werden. Sonst wäre – so scheint es – der NPT nicht zu retten.

Wie könnten derartige Maßnahmen aussehen?

  1. Mehr als vier Jahre sind seit dem Gorbatschow-Plan zur Beseitigung aller Kernwaffen bis zum Jahre 2000 vergangen. Vor zwei Jahren unterbreitete Indien das Programm zur nuklearen Abrüstung bis zum Jahre 2010. Wäre es nicht höchste Zeit, eine multilaterale Arbeitsgruppe – in welcher Form auch immer, z.B. als UN-Expertengruppe oder als Ad-hoc-Komitee der Genfer Abrüstungskonferenz u.a. – zu bilden, die sich mit der Erarbeitung eines globalen Konzepts zur nuklearen Abrüstung, einschließlich einer möglichen Kontrollfunktion der IAEA, befaßt?
  2. energisch und ergebnisorientiert muß der weltweite Dialog im Rahmen der UNO über die Gestaltung umfassender Sicherheit fortgesetzt werden. Die 44. UN-Vollversammlung nahm im Konsens eine gemeinsam von der UdSSR und den USA initiierte Resolution (44/21) zur Rolle der UNO bei der Festigung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit an. Das sollte als ermutigendes Zeichen gewertet und durch konkrete Schritte materialisiert werden. Skeptischer allerdings stimmt, was bisher von amerikanischer Seite darüber zu hören ist, welchen Preis an nuklearer Abrüstung man für das Überleben des NPT zu zahlen bereit ist.8 Es bleibt zu hoffen, daß in dieser Hinsicht das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.
  3. Der Trend zur Weiterverbreitung von Waffen – nuklearer, chemischer und anderer – wird sich ohne eine friedliche und dauerhafte Lösung der regionalen Konflikte und Spannungen nicht aufhalten lassen. Schwerpunkte bilden der Nahe und der Mittlere Osten, der Süden Afrikas, Südasien und Lateinamerika. Im Vordergrund muß das Bemühen stehen, das Interesse der betreffenden Staaten am Kernwaffenbesitz zu verringern. Die hauptsächlichen Interessen sind a) die eigene nationale Sicherheit (wie auch immer definiert) und b) die Erlangung eines Großmachtstatus (global bzw. regional). Also muß bei diesen Ursachen angesetzt und konstruktiv gehandelt werden. Versuche der Isolierung und Ausgrenzung z.B. Israels und Südafrikas sind bisher erfolglos geblieben. nun sollten alle Möglichkeiten geprüft werden, um diese Staaten durch Einbindung in das Regime der Nichtweiterverbreitung zu einer Kurskorrektur zu bewegen.
  4. Was ist auf dem Gebiet der nuklearen Abrüstung, realistisch betrachtet, in nächster Zeit zu erwarten und was kann darüber hinaus getan werden?

    • Dringend erforderlich scheint eine qualitativ neue (möglichst gemeinsam erarbeitete) Bedrohungsanalyse der NATO und der Warschauer Vertragsorganisation. Sie muß davon ausgehen, daß ein Nuklearkrieg, ja jeglicher Krieg gegeneinander, unter keinen Umständen gewonnen oder geführt werden kann. Auf dieser Grundlage müßte es, als ein erster Schritt, möglich sein, sich zunächst über eine nukleare »Minimalabschreckung« und die dafür erforderlichen Potentiale zu verständigen. Als Folge würden sich mit großer Wahrscheinlichkeit neue Spielräume für gemeinsame, aber auch für einseitige nukleare Abrüstungsmaßnahmen eröffnen.
    • Die Aussichten für eine Übereinkunft über eine einschneidende Reduzierung der strategischen Offensivwaffen der UdSSR und der USA noch im Jahre 1990 scheinen erfolgversprechend. Das Zustandekommen einer entsprechenden Vereinbarung wird eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der 1990 stattfindenden 4. Überprüfungskonferenz zum NPT bilden.
    • Das vollständige und allgemeine Verbot der Kernwaffenversuche wird vielerorts als eine vorrangige Forderung zur Erhaltung des NPT erhoben.9 In absehbarer Zeit ist ein solches Verbot angesichts der weiterhin ablehnenden Haltung der USA jedoch nicht zu erwarten.10 Bestimmte Zwischenetappen, so z.B. eine stärke- und zahlenmäßige Begrenzung, könnten möglich sein. Zweifelhaft bleibt jedoch, ob sie von den Nichtkernwaffenstaaten als ausreichender Fortschritt akzeptiert werden.
    • Eine überfällige Entscheidung ist die Modifizierung der negativen Sicherheitsgarantien der Kernwaffenmächte gegenüber den Nichtkernwaffenstaaten. Unter Berücksichtigung der bekannten Folgen eines Kernwaffenkrieges, besonders des »nuklearen Winters«, sollte es möglich sein, gegenüber den nichtkernwaffenbesitzenden Staaten eine generelle Nichtanwendungsversicherung abzugeben und diese in einer gemeinsamen völkerrechtlichen Vereinbarung zu formulieren. Damit wäre einer langjährigen Forderung der Nichtkernwaffenstaaten entsprochen.
  5. Schließlich taucht die Frage auf: Was können und sollten die beiden deutschen Staaten tun, um den NPT zu stärken und die internationale Sicherheit zu stabilisieren? Noch vor einem Jahr wäre die Antwort »nichts Besonderes« für viele akzeptabel gewesen. Sind doch beide Mitglieder des Vertrages (die DDR sei 1969, die Bundesrepublik seit 1975), keiner hat seither das Verlangen nach eigenen Kernwaffen geäußert. Jeder der beiden deutschen Staaten ist in seinem jeweiligen Bündnis – NATO bzw. Warschauer Vertrag – eingebunden, und beide sind durch das KSZE-Vertragswerk vielfältig in die bestehende europäische Ordnung integriert.

Seit jedoch die deutsche Vereinigung in rasantem Tempo voranschreitet und schon bald ein einheitliches Deutschland in der Weltpolitik agieren wird, sind neue Unwägbarkeiten entstanden. Nicht nur die unmittelbaren Nachbarstaaten fragen mit Besorgnis, wie verhindert werden kann, daß Deutschland erneut zu einer Bedrohung für den Frieden und die internationale Sicherheit werden könnte. Richtete sich die Aufmerksamkeit zunächst auf die endgültige Anerkennnung der polnischen Westgrenze, so ist bald abzusehen, daß auch die weitere Haltung der neuen Großmacht zum Besitz von Kernwaffen von der internationalen Staatenwelt gespannt verfolgt werden wird.

Die beiden deutschen Staaten haben die Gelegenheit, auf der bevorstehenden NPT-Überprüfungskonferenz und im Hinblick auf die für 1995 anstehende Entscheidung über die Verlängerung des Vertrages ein deutliches Zeichen zu setzen. In einer gemeinsamen bzw. in getrennten, aber inhaltlich gleichgerichteten Stellungnahmen sollte verbindlich erklärt werden, daß beide deutsche Staaten sich jetzt und in einem künftigen geeinten Deutschland an den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen gebunden fühlen.

Insbesondere sollten sie sich verpflichten, auch weiterhin:

  • keine Kernwaffen zu produzieren, zu erwerben oder die Kontrolle über sie anzustreben (Artikel II);
  • bei der Gestaltung der internationalen Kooperation zur friedlichen Nutzung der Kernenergie, einschließlich des Handels mit Kernmaterial, Ausrüstungen und Technologien, nicht zuzulassen, daß Kernenergie aus friedlichen Anwendungsgebieten für Kernwaffen verwendet wird (Artikel III) und
  • aktive Bemühungen für die Einstellung des nuklearen Wettrüstens, die nukleare Abrüstung sowie die allgemeine und vollständige Abrüstung unter strikter internationaler Kontrolle zu unternehmen (Artikel VI).

Eine derartige Versicherung wäre geeignet, vorhandenes Mißtrauen gegenüber der deutschen Wiedervereinigung abzubauen und die anderen Staaten zu versichern, daß ein vereintes Deutschland nicht zu einer Bedrohung, sondern zu einem Element der Stabilität, der Stärkung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit werden will.

Die Aufrechterhaltung der internationalen Sicherheit erfordert ein effektives Regime der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen. Auf längere Sicht kann es jedoch nur erhalten werden, wenn seine Stärkung einhergeht mit der Schaffung von Bedingungen, die ein solches Regime überhaupt überflüssig machen. Die einzige Chance für das Überleben des NPT liegt in der Anerkennung der Tatsache, daß seine Lebensdauer ohnehin begrenzt ist. Um die verbleibende Zeit zu nutzen, muß ein radikal neues Denken her und muß unverzüglich konstruktiv gehandelt werden. Der einzig zuverlässige Weg zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Kernwaffen besteht in ihrer völligen Beseitigung.

Anmerkungen

1) Vgl. Interview mit der USA-Vertreterin Kathleen Bailey, in: Disarmament Newsletter, New York, October 1989, S.4. Zurück

2) Vgl. Interview mit dem Ständigen Vertreter Indiens bei den Vereinten Nationen, C.R. Gharekhan, a.a.O., S. 8. Zurück

3) Siehe L.S. Spektor, New players in the nuclear game, Bulletin of the Atomic Scientists, Chicago, January/February 1989. Zurück

4) Siehe K. Kaiser, Non-proliferation and nuclear deterrence, Survial, London, March/April 1989. Zurück

5) O. Nathan/H. Norden, Einstein on Peace, New York 1980, S. 376. Zurück

6) Dies ist ein Hauptanliegen des von Indien vorgeschlagenen Programms zur Befreiung der Welt von Kernwaffen bis zum Jahre 2010, UN-Dokument A/S-15/12. Zurück

7) Siehe L.S. Spector. The Undeclared Bomb, Cambridge, Massachusetts 1988; siehe auch derselbe, Nonproliferation – After the Bomb Has Spread, Arms Control Today, Washington, December 1988. Zurück

8) Siehe Erklärung des USA-Vertreters Lehmann im 1. Komitee der 44. UN-Vollversammlung, UN-Dokument A/C.1/44/PV.5. Zurück

9) Siehe V. Goldanski/W. Dawydow, Über die Abwendung der horizontalen Weiterverbreitung der Kernwaffen, Gesellschaftswissenschaften, Moskau, Nr. 3/1989. Zurück

10) Siehe Interview mit der USA-Vertreterin Kathleen Bailey a.a.O. Zurück

Dr. Wolfgang Kötter ist Dozent an der Sektion Völkerrecht und internationale Politik an der Hochschule für Recht und Verwaltung in Potsdam. Zugleich ist Dr. Kötter Konsultant des UNO-Sekretariats in Fragen NPT.

Atomwaffenfreier Korridor

Atomwaffenfreier Korridor

von Gregor Witt

Die letzten größeren Hindernisse gegen eine „doppelte Null-Lösung“ scheinen mit dem Außenministertreffen Shultz – Schewardnadse aus dem Wege geräumt. In der jetzt einsetzenden Debatte über die Bedeutung des Abrüstungsvertrages geht es für die Friedensbewegung im Kern um die Frage des „wie weiter?“. Die Palme-Kommission hat mit ihrem Bericht „Gemeinsame Sicherheit“ schon vor 5 Jahren Elemente eines sicherheitspolitischen Konzeptes erarbeitet, das durch Sicherheitspartnerschaft die atomare Abschreckung überwinden und sie ersetzen soll. Der von ihr vorgeschlagene atomwaffenfreie Korridor ist ein regionaler Ansatz, um zu politisch gewährleisteter Sicherheit auf unserem Kontinent zu gelangen.

Eine neue sicherheitspolitische Logik, die eine „abwärts gerichtete Rüstungsspirale“ erzeugen kann, hat die „Unabhängige Kommission für Abrüstung und Sicherheit“ erarbeitet. Bis zu seiner Ermordung im vergangenen Jahr stand sie unter Vorsitz des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme. Aus der schonungslosen Offenlegung der Gefahren einer weiterverfolgten atomaren Abschreckung für die gesamte Menschheit zog sie den Schluß: im Atomzeitalter gibt es keine Sicherheit vor- oder gegeneinander, sondern nur noch miteinander.

Die Palme-Kommission formulierte folgende Grundsätze gemeinsamer Sicherheit:

  • alle Nationen haben ein legitimes Recht auf Sicherheit
  • militärische Gewalt ist kein legitimes Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Kontroversen
  • Zurückhaltung ist notwendig als Ausdruck nationaler Politik
  • Sicherheit kann nicht durch militärische Überlegenheit erreicht werden
  • Reduzierungen und qualitative Beschränkungen von Waffensystemen sind für die gemeinsame Sicherheit notwendig
  • Verknüpfungen zwischen Abrüstungsverhandlungen und politischen Ereignissen sollten vermieden werden.

Wenn die Regierungen aller Länder sich diese Richtlinien als Grundlage ihrer Sicherheitspolitik zu eigen machen, ließen sich nach Meinung der Kommission rasche Abrüstungsfortschritte erzielen und ein System politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit zwischen den Völkern könnte geschaffen werden.

Von den insgesamt 44 kurz- und mittelfristigen Maßnahmen im vorgeschlagenen Aktionsprogramm hat der Vorschlag für einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa die größte öffentliche Resonanz gefunden. Empfohlen wird die Schaffung einer von nuklearen Gefechtsfeldwaffen freien Zone, die von Mitteleuropa bis in die äußersten nördlichen und südlichen Flanken der beiden Bündnisse reicht. Die Kommission hielt eine Regelung für die „doppelt verwendbaren“ Trägersysteme, die konventionelle oder Atomsprengköpfe aufnehmen können, fr erforderlich. Die Palme-Kommission sah in der Errichtung einer nach beiden Seiten zunächst 150 km breiten Zone vor allem „(…) eine wichtige vertrauensbildende Maßnahme, welche die atomare Schwelle anheben und die Versuchung zum frühzeitigen Einsatz von Kernwaffen um einiges herabsetzen könnte“ (Palme-Bericht, S. 166).

Ein diplomatischer Vorstoß der schwedischen Regierung unter Ministerpräsident Olof Palme noch im Dezember 1982 für die Errichtung einer 300 km breiten atomwaffenfreien Zone stieß vor allem bei NATO-Staaten auf negative Reaktionen. Auch der darauf bezogene Vorschlag der DDR an die Bundesregierung, diese schwedische Initiative zu unterstützen, stieß auf Ablehnung. Bisher ohne Antwort der Bundesregierung blieb der Vorschlag der Regierungen der DDR und der CSSR, unverzüglich in Verhandlungen über die Bildung eines atomwaffenfreien Korridors in Mitteleuropa einzutreten. Auf Schweigen stieß auch Erich Honecker, Staatsratsvorsitzender der DDR, mit seinem erneuten Angebot bei seinem Besuch im September in Bonn.

Erfolgreicher entwickelte sich dagegen die Zusammenarbeit einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von SED und SPD. Im Oktober 1986 stellte sie ihre „Grundsätze für einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa“ der Öffentlichkeit vor. Die kommunistische Partei der Tschechoslowakei schloß sich dieser Initiative an.

Mit den SPD-SED-Grundsätzen ist der Vorschlag der Palme-Kommission in wesentlichen Punkten konkret weiterentwickelt worden. Sie sehen vor, daß nicht nur die atomaren Gefechtsfeldwaffen, sondern alle Atomsprengköpfe aus dem Korridor abgezogen werden. Vorgeschlagen wird weiterhin, daß sowohl die atomaren als auch die doppelt verwendungsfähigen Trägermittel beseitigt werden. Die Grundsätze sehen darüber hinaus ein umfassendes System nationaler und internationaler Kontrollen sowie die Schaffung einer ständigen internationalen Kommission vor.

Militärisch gesehen hat das Auseinanderrücken der Atomwaffen an der Trennlinie der beiden Militärblöcke stabilisierende Wirkung. Unbefriedigend ist jedoch, daß nur der Abzug, nicht aber die Abrüstung und Verschrottung dieser Atomwaffen vorgesehen ist. Sicherheitspolitisch bedeutsam ist aber, daß mit dem geplanten Abzug der doppelt verwendbaren Trägermittel vor allem solche Waffensysteme erfaßt werden, die sich vorzugsweise für offensive Zwecke eignen. Das bedeutet einen wesentlichen Einschnitt in die Militärstrategien der beiden Bündnisse. Weder die sogenannte Vorne-, noch die neudiskutierte „Vorwärtsverteidigung“ der NATO und auch die Offensivstrategie des Warschauer Vertrages sind in bisheriger Form aufrecht zu halten. Die Verwirklichung des Korridors in der hier vorgeschlagenen Form ermöglicht somit die erforderliche Verknüpfung von atomarer und konventioneller Abrüstung.

Während die Bundesregierung nur unter großem innenpolitischen Druck zu Abrüstungsschritten gezwungen werden kann, zeigt die DDR

Regierung ein außerordentlich aktives Interesse an der Verwirklichung atomwaffenfreier Zonen. Sie ist z.B. bereit, ihr gesamtes Staatsgebiet in eine solche Zone einzubringen. Auch in der DDR ist die Frage, wie atomare Abrüstung realisiert werden kann, kein Thema, das auf Regierungsebene beschränkt bleibt. Das zeigte ein Wissenschaftler-Kolloquium Mitte September d. J. in Berlin (DDR), zu dem die Akademie der Wissenschaften im Rahmen des blockübergreifenden „Olof-Palme-Friedensmarsches“ eingeladen hatte.

Andre Brie, Mitarbeiter des Instituts für Internationale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg, stellte dar, daß die DDR bei einer Verwirklichung des atomwaffenfreien Korridors entsprechend der SPD-SED-Grundsätze große Zugeständnisse machen würde: bei Berücksichtigung aller nuklearfähigen Trägersysteme müßten DDR und CSSR im Verhältnis 1,6:1 stärker reduzieren. Während die DDR 60 % ihrer Jagdbomber abziehen müßte, wäre in der Bundesrepublik kein einziger abzuziehen. Während die DDR 90 % ihrer Raketen abziehen muß, wären es auf Seiten der BRD einige wenige. Brie betonte zugleich, daß die DDR daran interessiert ist, die abgezogenen Atomwaffen auch abzurüsten. Ein Grund dafür ist, daß die Systeme für die DDR aufgrund ihres schmalen Gebietes sowieso wertlos werden, da außerhalb der 1 50-km-Zone keine entsprechende Zahl von Abschußgebieten und Flugplätzen verfügbar ist.

Brie stellte zur Diskussion, ob die DDR nicht noch weiteres Entgegenkommen zeigen und ob es angesichts der Bedenken der Bundesregierung beispielsweise möglich sei, Teilschritte zum Korridor wie die beiderseitige Reduzierung und Verringerung von Kurzstreckenraketen als ersten, die Beseitigung der Artillerie als zweiten und der luftgestützten Systeme als dritten Schritt zu gehen. Auf eine Frage des Autors, ob es nicht auch für die DDR Spielräume für einseitige Schritte zur politischen Förderung des Korridor-Gedankens geben kann, antwortete Brie mit einem klaren „Ja“. Für die WVO habe die Erklärung zur Militärdoktrin von Berlin Anfang d. J. dazu den Rahmen gegeben. Insbesondere halte er es für möglich, bestehende Disparitäten zugunsten des WVO einseitig abzubauen. Er betonte jedoch, daß die DDR am Grundprinzip beiderseitiger Abrüstung festhalte. Zudem sollten nicht überhöhte Erwartungen an eine Politik einseitiger Schritte gestellt werden.

In der „Null-Lösungs“-Auseinandersetzung der letzten Monate hat die Bundesregierung – zum Teil mit Erfolg – eigene Abrüstungsunwilligkeit zu verleugnen gesucht, indem sie auf die Verhandlungen zwischen den Großmächten verwies, sich hinter der US-Regierung zu verstecken suchte und gleichzeitig Hindernisse gegen ein Abkommen auftürmte. Die bis heute aufrecht erhaltene Position, wonach die amerikanischen Sprengköpfe der Pershing 1A der Bundeswehr als sogenannte „Drittstaatensysteme“ nicht in die Genfer Verhandlungen einbezogen werden sollen, war bis zuletzt eines der kompliziertesten Probleme. Insofern nimmt die Forderung nach einem atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa die Bundesregierung unmittelbar in die Pflicht. Dies zumal dann, wenn eigenständige bundesdeutsche Abrüstungsschritte zur Förderung eines Korridors gefordert werden. Zu denken ist insbesondere an den sofortigen Verzicht auf Modernisierung und Einführung von atomar verwendungsfähigen Trägersystemen in die Bundeswehr. Außenminister Genscher und andere Regierungsvertreter könnten zudem an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn sie, entsprechend ihrer Beiträge in der Debatte um die Pershing Ia, wonach sie keinen Aufbau einer bundesdeutschen Atommacht beabsichtigen, der Aufnahme eines Grundgesetzartikels zustimmen, mit dem die Bundesrepublik für alle Zeiten auf eigene Atomwaffen verzichtet. Die Aufkündigung der Kooperationsabkommen über amerikanische Sprengköpfe für Bundeswehr-Trägersysteme könnte den „noch nicht aber schon fast“ Atommachtstatus der Bundesrepublik beenden.

Die Palme-Kommission beschreibt mit ihrem Konzept gemeinsamer Sicherheit noch nicht das (gesamt-) europäische Sicherheitssystem, das in Perspektive an die Stelle der atomaren Abschreckung treten kann. Sie benennt aber die Eckpunkte sicherheitspolitischen Handelns für Regierungen, um den Weg aus der atomaren Gefahr zu gehen.

Daran anknüpfend und darüber hinausgehend ist für die Friedensbewegung eine wichtiger gewordene Aufgabe neben der Verhinderung weiterer Aufrüstung und der Forderung nach einer Politik gemeinsamer Sicherheit, blockübergreifend den Dialog der Menschen und Völker über die Gestaltung eines friedlichen, internationalen Zusammenlebens zu führen und damit die ideologische Abgrenzung der Blöcke zu überwinden. Die Zusammenarbeit berufsbezogener Friedensinitiativen in internationalen Zusammenhängen, Prof. Dürrs global challenges network und die im September durchgeführte Ost-West-Aktion Olof-Palme-Friedensmarsch sind Projekte, mit denen unabhängig von Regierungen ein ziviles und zivilisiertes Miteinander vorangebracht wird.

Literatur:

Der Palme-Bericht. Bericht der Unabhängigen Kommission fr Abrüstung und Sicherheit. Berlin-West 1982
Friedenspolitischer Informationsdienst, Themenheft zum Olof-Palme-Friedensmarsch für einen atomwaffenfreien Korridor. Heft 4/87, Hrg. Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner, Velbert
Major General (Ret.) Michael H. von Meyenfeldt, Für einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa – Grundlinien einer Friedensinitiative. Hrg. Deutsche Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner, Velbert 1987

Gregor Witt, Mitglied des Bundesvorstand des der Deutschen Friedensgesellschaft / Vereinigte Kriegsdienstgegner.

Europa – Atomwaffenfrei!

Europa – Atomwaffenfrei!

von Rebecca Johnson

Die internationale Kommission zu Massenvernichtungswaffen (Weapons of Mass Destruction Commission) unter Leitung von Dr. Hans Blix rief in ihrem Abschlussbericht dazu auf, „die Welt von nuklearen, chemischen und biologischen Waffen zu befreien“. Biologische und chemische Waffen sind bereits völkerrechtlich verboten; das ist bei Atomwaffen nicht der Fall.

Obwohl der Kalte Krieg schon lange vorbei ist, schätzt das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), dass nach wie vor etwa 11.000 strategische und taktische Atomwaffen stationiert sind. Knapp 1.000 davon werden momentan in Europa vorgehalten.

Die Vereinigten Staaten lagern in sechs europäischen Ländern weiterhin 350 taktische Atomwaffen, von denen rund 140 der NATO zugeordnet sind.1 Letztere sind in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei stationiert – also in Ländern, die offiziell als Nicht-Atomwaffenstaaten gelten und dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten sind. Aus Griechenland hingegen wurden die US-Atomwaffen schon vor etlichen Jahren abgezogen, und die griechische Regierung hat vermutlich auch ihre Mitwirkung an der politischen Komponente der nuklearen Teilhabe aufgegeben.

In Großbritannien sind in Lakenheath ebenfalls 110 frei fallende Fliegerbomben der USA stationiert, allerdings beteiligt sich das Vereinigte Königreich nicht an der nuklearen Teilhabe, da es ein eigenständiger Atomwaffenstaat ist. Das Land verfügt über vier U-Boote, die mit US-amerikanischen Trident-Raketen und etwa 160-200 in Großbritannien gefertigten Nuklearsprengköpfen bestückt sind.

Frankreich ist nicht in die nukleare Planung oder Teilhabe der NATO integriert, besitzt aber selbst 348 Atomwaffen; als Trägersysteme dienen U-Boote und Bomber. In einer politischen Grundsatzrede begründete der damalige Präsident Chirac, dieses Arsenal werde für die Verteidigung von Frankreich und seiner „vitalen Interessen“, einschließlich der „Verteidigung von verbündeten Staaten“, gebraucht.2 Und natürlich dürfen in der Aufzählung die mehr als 5.000 Atomwaffen Russlands nicht fehlen, von denen auf Grund ihrer Größe und Reichweite etwa 2.330 als »taktisch« eingestuft werden. Ein erheblicher Teil der taktischen Sprengköpfe ist vermutlich entlang der russischen Flanke nach Europa stationiert.3

Die Regierungen all dieser Länder setzen mit dem Bau bzw. der Stationierung von Atomwaffen die europäische Sicherheit unter Druck. Wozu?

Nukleare Teilhabe in der NATO

In ihrem »Strategischen Konzept« von 1999 betont die NATO, dass Atomwaffen die „oberste Garantie“ für die Sicherheit des Bündnisses bieten und „breite Teilhabe an der kollektiven Verteidigungsplanung der involvierten europäischen Bündnispartner bezüglich der nuklearen Aufgaben, der Stationierung von Nuklearstreitkräften auf ihrem Hoheitsgebiet im Frieden und an Führungs-, Überwachungs- und Konsultationsvorkehrungen“ erfordern. Dafür beherbergen einige europäische Länder US-amerikanische Atomwaffenbasen und taktische Atomwaffen auf ihrem Territorium. Sie halten Flugzeuge vor, die für den Transport von Atomwaffen ausgerüstet sind, und ihre Piloten trainieren Einsätze mit Atomwaffen. Das »Strategischen Konzept« steht 2009 zur Überprüfung an, bislang gibt es aber keinerlei Anzeichen, dass die NATO die Rolle von Atomwaffen gründlich analysieren oder die grundlegenden politischen Änderungen berücksichtigen wird, die die Aufrechterhaltung eines Nuklearwaffendispositivs im 21. Jahrhundert immer problematischer machen.

Ein Beispiel dafür, wie krampfhaft die Nukleare Planungsgruppe an bekannten Positionen festhält, ist eine Verlautbarung des Verteidigungsplanungsausschusses und der Nuklearen Planungsgruppe der NATO vom Juni 2007, die sich auf die Überprüfung des nuklearen Streitkräftedispositivs der NATO und das Mandat der Hochrangigen Beratergruppe bezieht: „Wir bestätigen die Prinzipien der Nuklearpolitik der NATO gemäß dem Strategischen Konzept des Bündnisses. In diesem Zusammenhang begrüßen wir die laufende Arbeit der Hochrangigen Gruppe, die ständig die Anforderungen für die Abschreckung im 21.Jahrhundert überprüft und die [Verteidigungs-]Minister entsprechend berät.“4

In den 1960er Jahren mochten es manche der nuklearen Teilhabe der NATO zugeschrieben haben, dass Länder wie Deutschland und Italien zur Aufgabe ihrer nationalen Atomwaffenprogramme und dem Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag gedrängt werden konnten. Heute lässt sich aber nicht mehr übersehen, dass die europäischen Atomwaffen und die Doktrin der nuklearen Teilhabe wirksamere Ansätze der Nichtverbreitung und Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung behindern.

Inzwischen werden die Rolle und Nützlichkeit von Atomwaffen selbst von unerwarteter Seite hinterfragt. Ein Beispiel für das allmähliche Umdenken war ein Meinungsartikel von Henry Kissinger (Außenminister unter Richard Nixon), George Schultz (Außenminister unter Ronald Reagan), William J. Perry (Verteidigungsminister unter Präsident Clinton) und Senator Sam Nunn (ehemaliger Vorsitzender des Streitkräfteausschusses des US-Senats und Mitbegründer der Nunn-Lugar-Initiative zur kooperativen Reduzierung von Bedrohungen), der im Januar 2007 im Wall Street Journal erschien.5

Unter Bezug auf US-Präsidenten wie Dwight D. Eisenhower und John F. Kennedy stellten die vier Autoren, die mehrere Jahrzehnte lang die Außen- und Nuklearpolitik der USA prägten, fest: „Es ist äußerst fraglich, ob wir die alte sowjetisch-amerikanische Strategie der ‚gesicherten gegenseitigen Zerstörung’ bei immer mehr potenziell atomar bewaffneten Feinden weltweit erfolgreich reproduzieren können, ohne das Risiko eines tatsächlichen Einsatzes von Atomwaffen dramatisch zu erhöhen.“ Mit anderen Worten: Abschreckung funktioniert heute nicht mehr so wie früher gedacht. Die Autoren machen sich zwar für weitere massive Einschnitte in die größten Nukleararsenale stark, bleiben aber nicht bei den Zahlenspielen der Rüstungskontrolle aus den Zeiten des Kalten Krieges stehen. Sie befürworten praktische Schritte, die auf die US-Politik ausgerichtet sind, orientieren sich dabei aber an den »13 praktischen Schritten«, denen bei der Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrags im Jahr 2000 alle teilnehmenden Staaten zustimmten. Vor allem aber begreifen sie, dass die Abwertung und Marginalisierung von Atomwaffen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik unabdingbar ist, weil dann erst das vollständige Verbot dieses Waffentyps auf die Agenda kann.

Zweck und Rolle der NATO haben sich seit dem Kalten Krieg massiv gewandelt, das Bündnis hielt aber unverändert an seiner unzeitgemäßen Nukleardoktrin fest, d.h. an Vereinbarungen zur nuklearen Teilhabe zwischen den USA und einigen europäischen Ländern. Das Bündnis schreckt offenbar davor zurück, die Nukleardoktrin vor dem Hintergrund der Sicherheitsherausforderungen des 21. Jahrhunderts rigoros auf den Prüfstand zu stellen. Statt dessen entschied es sich für marginale Änderungen: So führte die NATO das Konzept »regionaler Konflikte« ein und erweiterte die Liste möglicher Ziele und Feinde, die mit den Atomwaffen abgeschreckt werden sollen.

Die nukleare Teilhabe der NATO wirft drei grundlegende Probleme auf:

  • Erstens haben sich in den letzten Jahren immer wieder Regierungen aus Lateinamerika und dem Nahen Osten darüber beschwert, dass die nukleare Teilhabe Artikel I und II des Nichtverbreitungsvertrages (NVV) verletzt.
  • Zweitens werden Bedenken geäußert, dass die nukleare Teilhabe ein Einfallstor für nukleare Weiterverbreitung ist, da die Kontrolle über die Waffen im Kriegsfall an die entsprechenden Bündnispartner überginge. Die betroffenen NATO-Mitglieder argumentieren, dass sie den NVV dennoch einhielten, schließlich hätte es die nukleare Teilhabe schon vor dem NVV gegeben und ohnehin würde der NVV im Falle eines »großen Krieg« gegenstandslos. Diese Erklärung reicht allerdings den NVV-Mitgliedern nicht aus, die der Auffassung sind, Verträge dürften „keine Ausnahmen zulassen, und der NVV ist für die Unterzeichnerstaaten in Friedens- wie in Kriegszeiten gleichermaßen bindend.“6 Diese Staaten befürchten, dass die NATO-Doktrin die Funktionsfähigkeit und Glaubwürdigkeit des NVV untergräbt und Ungewissheit über den Status der Nicht-Atomwaffenstaaten besteht, die sich an der nuklearen Teilhabe beteiligen. Außerdem würden sich die NATO-Staaten als erste beschweren, wenn andere Bündnisse ähnliche Arrangements einführen würden: Was würde wohl passieren, wenn Russland seine Atomwaffen mit Belarus teilen wollte oder China mit Nordkorea?
  • Drittens behindert die nukleare Teilhabe innerhalb der NATO die volle Umsetzung des NVV. NATO-Staaten geraten immer wieder unter Druck der USA (manchmal auch von Großbritannien und Frankreich), Abrüstungsvorschläge abzulehnen, die in multilateralen Foren wie den NVV-Konferenzen oder dem Ersten Komitee der UN-Generalversammlung von den Nicht-Atomwaffenstaaten mehrheitlich unterstützt werden.

Die »Prinzipien und Ziele für nukleare Nichtverbreitung und Abrüstung«, denen die Vertragsstaaten im Zusammenhang mit der unbegrenzten Verlängerung des NVV 1995 zustimmten, enthalten etliche Verpflichtungen mit Relevanz für Europa, beispielsweise die Einrichtung weiterer atomwaffenfreier Zonen und bessere Sicherheitsgarantien für die Nicht-Atomwaffenstaaten vor dem Einsatz oder der Drohung mit den Einsatz von Atomwaffen. Die Nuklearpolitik der NATO behindert die Ausweitung solcher negativer Sicherheitsgarantien sowie die Einrichtung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa. Überdies steht die NATO-Politik im Widerspruch zu einem Großteil des Aktionsprogramms, das von den Mitgliedsstaaten bei der Überprüfungskonferenz des NVV im Jahr 2000 vereinbart wurde, darunter die Verpflichtung zu mehr Transparenz, eine weitere Reduzierung nicht-strategischer Arsenale, eine Absenkung des Einsatzstatus von Atomwaffen und eine verminderte Rolle von Atomwaffen in der Sicherheitspolitik.

Atomwaffenpolitik in Europa

Frankreich ist zwar Mitglied der NATO, beteiligt sich allerdings nicht an der nuklearen Planung der Allianz. Bei der öffentlichen Darstellung der französischen Nuklearpolitik durch Präsident Chirac vergangenes Jahr klang aber durchaus das »Strategische Konzept« der NATO durch, als er die force de frappe als „ultimativen Garant für unsere Sicherheit“ bezeichnete. Er sagte, Atomwaffen gäben Frankreich die „Fähigkeit, unsere Handlungsfreiheit zu bewahren, unsere Politik selbst zu kontrollieren und die Beständigkeit unserer demokratischen Werte sicherzustellen“. Außer zur „Sicherung der strategischen Versorgung“ und der Verteidigung „verbündeter Länder“ könnten die französischen Atomwaffen laut Chirac auch „im Fall einer gegen solche Interessen gerichteten untragbaren Aggression, Bedrohung oder Erpressung eingesetzt werden.“7

Russland wiederum richtet seine Atomwaffenpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges an der NATO aus; dies zeigt sich u.a. daran, dass die Sicherheitsgarantien des Landes schwach und voller Einschränkungen sind und dass es die erklärte Nicht-Ersteinsatz-Doktrin der ehemaligen Sowjetunion aufgegeben hat. Während die junge Generation in Europa ohne das permanente Damoklesschwert der nuklearen Vernichtung aufwächst, sind die politischen Entscheidungsträger weiterhin auf der Suche nach immer flexibleren Atomwaffen und »benutzerfreundlicheren« Doktrinen – im Endeffekt die Wiedereinführung des Damoklesschwertes, nun aber nicht über den eigenen Köpfen. Mag die Bedrohung eines totalen Atomkrieges auch gesunken sein, so bringen die politischen Entscheidungen der NATO und Russlands die Gefahr eines nuklearen Schlagabtausches und Einsatzes doch wieder näher.

In diesen Kontext gehört auch der Druck der Regierung Bush auf die Tschechische Republik und Polen, sich am US-amerikanischen Raketenabwehrprogramm zu beteiligen. Die Verhandlungen zu diesem Thema finden zwar im bilateralen Rahmen statt, als neue NATO-Mitglieder können diese beiden Länder das amerikanische Ansinnen aber kaum ausschlagen.

Das britische Abschreckungskonzept, auf dessen Basis die Londoner Regierung unter Premierminister Tony Blair am 14. März 2007 eine Entscheidung für die Modernisierung des nuklearen Trident-Systems8 durch das skeptische Parlament peitschte, ist ein Fall für sich. Bei Lesen des relevanten »White Paper«9 könnte man fast vergessen, dass es sich bei den Atomwaffen um die tödlichsten Waffen der Welt handelt, dass mit einer einzigen Atombombe eine ganze Stadt komplett vernichtet werden kann. Die britische Diskussion um einen Ersatz für Trident hat deutlich gemacht, dass den Politikern und Vertretern des Verteidigungsministeriums nur noch ein Argument offen steht, um die Aufrechterhaltung, Entwicklung und Modernisierung von Atomwaffen zu rechtfertigen: Sie müssen sich darauf versteifen, dass diese Waffen nur zu dem einen Zweck da sind, sie nie einzusetzen. Anders als Frankreich und die Vereinigten Staaten, die in den vergangenen Jahren die Umstände, unter denen sie zu einem Atomwaffeneinsatz bereit wären, immer genauer präzisiert haben, musste die britische Regierung auf Euphemismen wie »Versicherungspolitik« zurückgreifen, um die Abgeordneten in Sicherheit zu wiegen und zur Abgabe ihrer Stimme für die Trident-Modernisierung zu überreden. So begründet geht es nicht um die nächste Generation eines Atomwaffenarsenals mit einer Vernichtungskapazität von 1.200 Hiroshima-Bomben, das ohne Zusammenarbeit mit den USA undenkbar wäre. Nein, die Abgeordneten sollten lediglich für einige neue U-Boote stimmen, die die Lebensdauer der »unabhängigen nuklearen Abschreckung« als Versicherung gegen unbekannte Bedrohungen der Zukunft verlängern.

Gefährlicher Unsinn

In Zeiten, in denen allerorten über nuklearen Terrorismus geredet und das Interesse weiterer Staaten am Erwerb von Atomwaffen erkennbar wird, ist das ein gefährlicher Unsinn. Atomwaffen sind keine hilfreiche Versicherungspolitik oder ein Voodoo-Talisman, um hässliche unbekannte Bedrohungen fernzuhalten. Wie Kissinger, Schultz, Perry und Nunn darlegen, sind Atomwaffen ein Instrument der Politik und strategisch und taktisch einsetzbare Werkzeuge im militärischen Arsenal. Wenn wir den Kurs jetzt nicht ändern und die Abrüstung von Atomwaffen entschieden angehen, werden wir mit ansehen müssen, dass die Proliferation neu auflebt und sich schwache Staatsführer erneut für Atomwaffen interessieren, um übermächtige Länder oder Nachbarn zu neutralisieren oder zu erpressen.

Was also sollten wir tun? Zuallererst sollten die europäischen Länder unbedingt denjenigen in Großbritannien den Rücken stärken – einschließlich den aktiven Vertretern des Zivilgesellschaft sowie Regierungsmitgliedern und Abgeordneten –, die fordern, dass Großbritannien seine Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag voll umsetzt und Trident abschafft anstatt die Fehlentscheidung von Tony Blair weiter zu betreiben. Die Einführung einer neuen Atomwaffengeneration würde die Proliferation weiter anheizen. Es gibt auf den britischen Inseln erheblichen Widerstand gegen die Trident-Modernisierung, vor allem in Schottland. Kürzlich stimmte das Regionalparlament von Schottland bei 39 Enthaltungen mit 71 zu 16 Stimmen gegen Trident. Die britische Debatte ist noch längst nicht abgeschlossen. Jetzt, wo sich die Diskussion nicht länger um den Zeitpunkt und die Vorteile der Indienststellung einer neuen Atom-U-Boot-Flotte dreht, kann endlich die Rolle und Nützlichkeit von Atomwaffen für die Sicherheit im 21. Jahrhundert thematisiert werden.

Die schottische Regierung braucht für ihre Versuche, London zum Umdenken und zum Beginn echter nuklearer Abrüstung zu überreden, unbedingt Rückendeckung. Dies ist nicht nur für Schottland wichtig, sonder für die Sicherheit und Nichtverbreitungspolitik in ganz Europa. Da viele britische Außenpolitiker Angst haben, dass Frankreich im Falle der Abschaffung des britischen Atomwaffenarsenals eine Vormachtstellung zufiele, stehen sämtlichen Staaten Europas in der Verantwortung, eine solche Entwicklung zu verhindern und Frankreich seinerseits unter Druck zu setzen, seine Atomwaffen aufzugeben.

Außerdem sollten die NATO-Länder bei der anstehenden Revision des »Strategischen Konzepts« auf eine gründliche Überprüfung der Rolle und Implikationen von Atomwaffen und nuklearen Doktrinen im 21. Jahrhundert drängen. In diesem Kontext sollte die NATO auch den Abzug der US-Atomwaffen aus Europa forcieren. Taktische Atomwaffen sind transportabel, verwundbar und einsatzbereit. Sie sind potentiell destabilisierend und provozieren zusätzliche Risiken und Unsicherheiten. Die NATO sollte eine Entscheidung für den Abzug der Atomwaffen als Hebel nutzen für Verhandlungen mit Russland, seine taktischen Atomarsenale aus der Reichweite zu NATO-Ländern abzuziehen und somit Gespräche über die vollständige Abschaffung aller taktischen Atomwaffen zu ermöglichen. Entsprechend sollten die Nicht-Atomwaffenstaaten in der NATO jegliches Training für den Ernstfall beenden und ihre Flugzeuge nicht länger für den Einsatz von Atomwaffen ausrüsten. Der Zeitpunkt dafür ist günstig, da Deutschland und Belgien (und vielleicht auch andere Länder mit nuklearer Teilhabe) zur Zeit ihre alternde Flugzeugflotte ersetzen und die Chance nutzen könnten, die anachronistische nukleare Rolle der Luftwaffe aufzugeben. Die Beendigung der nuklearen Teilhabe würde die Wirksamkeit des NVV erheblich stärken.

Natürlich würde Europa nicht im luftleeren Raum agieren. Der NVV gibt den grundlegenden völkerrechtlichen und politischen Rahmen vor, in dem Europa seine Abhängigkeit von Atomwaffen verringern und beenden könnte. Parallel dazu sprechen auch überwältigende regionale und globale Sicherheitsargumente dafür, jetzt eindeutige Schritte zu einem Verbot und zur Abschaffung von Atomwaffen einzuleiten.

NATO-Atomwaffenstandorte in Europa1

Land Luftwaffenstützpunkt B61-Sprengköpfe unter Verfügung von
USA NATO Gesamt
Belgien Kleine Brogel 0 20 20
Deutschland Büchel 0 20 20
Nörvenich* 0 0 0
Ramstein* 0 0 0
Großbritannien Lakenheath 110 0 110
Italien Aviano 50 0 50
Ghedi Torre 0 40 40
Niederlande Volkel 0 20 20
Türkei Akinci* 0 0 0
Balikesir* 0 0 0
Incirlik 50 40 90
Gesamt 210 140 350
* Hier sind keine Atomwaffen mehr gelagert, es bestehen aber noch Grüfte für die Lagerung. Manche dieser Standorte sind außerdem in die nukleare Kontroll- und Kommandokette der NATO eingebunden.
Die Zahlen in dieser Tabelle wurden aus Informationen von Hans Kristensen zusammengestellt. 1)

Anmerkungen

1) Hans Kristensen, Direktor des Nuclear Information Project der Federation of American Scientists, bestätigte kürzlich, dass 130 taktische Atomwaffen wohl endgültig von der US-Luftwaffenbasis Ramstein abgezogen sind. Davon waren 40 der NATO zugeordnet, die übrigen 90 gehörten zum US-Arsenal.

2) Rede von Jacques Chirac vor den Strategischen Luft- und Seestreitkräften auf dem Nuklearwaffenstützpunkt L’Ile Longue am 19. Januar 2006.

3) SIPRI (2007): SIPRI Yearbook 2007. Armaments, Disarmament and International Security, Oxford University Press, S.515.

4) NATO, Final Communiqueof Ministerial meetings of the Defence Planning Committee and the Nuclear Planning Group held in Brussels on Friday, 15 June 2007.

5) Der Artikel wurde am 12. Januar 2007 unter dem Titel „Am Abgrund einer neuen nuklearen Bedrohung“ in der Frankfurter Rundschau dokumentiert.

6) Stellungnahme des ägyptischen Delegierten beim dritten Vorbereitungstreffen zur Überprüfungskonferenz 2000 des NVV am 12. Mai 1999.

7) Rede von Jacques Chirac, op.cit.

8) Die britische Atomwaffenkapazität beruht auf dem so genannten Trident-System: britische Atom-U-Boote des Typs Trident sind mit von den USA geleasten Trident-Raketen ausgestattet; diese sind mit britischen Atomsprengköpfen bestückt. Die U-Boote sind nördlich von Glasgow an der schottischen Westküste in Faslane stationiert [Anmerkung der Übersetzerin].

9) Ministry of Defence and Foreign and Commonwealth Office (2006):The Future of the United Kingdom’s Nuclear Deterrent, Cm 6994, published December 4, 2006.

Rebecca Johnson ist Gründerin und Direktorin des britischen Acronym Institute for Disarmament Diplomacy Übersetzung: Regina Hagen

Neue Perspektiven nuklearer Abrüstung?

Neue Perspektiven nuklearer Abrüstung?

von Regina Hagen

Im Mai 2007 trafen sich in Wien die Unterzeichnerstaaten des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV). Die zwei Wochen nutzte die Diplomatengemeinschaft allerdings nicht sonderlich effektiv. »Die Mitgliedstaaten bestätigen, dass der Vertrag auf drei Pfeilern ruht: nukleare Abrüstung, nukleare Nichtverbreitung und friedliche Nutzung von Atomenergie. … Es wurde betont, dass sich Abrüstung und Nichtverbreitung gegenseitig verstärken.« Diese Sätze lassen auf kooperative und konstruktive Gespräche bei der diesjährigen NVV-Konferenz schließen, hat der NVV1 doch zum Ziel, »in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft…«.

Die Realität ist recht ernüchternd, wirksame Abrüstungsmaßnahmen blieben viel zu selten: Die Welt starrt 37 Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags vor nuklearen Waffen, daran haben Dutzende Konferenzen nichts geändert. Und auch dieses Jahr beschränkte sich das Kernelement der Treffen, die »substantiellen Diskussionen«, auf wenige Stunden. Das ist nicht untypisch für Verhandlungen rund um den NVV. Seit 37 Jahren pendeln die »PrepComs« und »RevCons« zwischen absolutem Versagen und sensationellem Erfolg – allerdings wurden oft weit reichende Versprechen nicht einmal ansatzweise eingelöst.

PrepComs und RevCons – aber keine atomwaffenfreie Welt

»PrepCom« ist die Insider-Bezeichnung für ein Prepatory Committee meeting, eines von drei Vorbereitungstreffen für die jeweils nächste Überprüfungskonferenz des NVV. Der NVV ist das einzige multilaterale Völkerrechtsabkommen zu nuklearer Nichtverbreitung und Abrüstung. Er wird im Fünfjahresrhythmus überprüft. Seit 1997 werden in den Jahren vor der Review Conference (RevCon) zehntägige »PrepComs« abgehalten um »Prinzipien, Ziele und Wege zur vollständigen Umsetzung des Vertrags und seiner Universalität zu diskutieren und Empfehlungen an die Überprüfungskonferenz auszuarbeiten2 Zum Abschluss eines Überprüfungszyklus sollen die Vertragsstaaten auf der »RevCon« – die nächste ist für 2010 terminiert – Fortschritte bei der Vertragsumsetzung in den letzten fünf Jahren überprüfen und Schritte zur Stärkung und Universalisierung des Vertrags vereinbaren. Endziel des NVV ist ein »Vertrag über allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle« – die atomwaffenfreie Welt.

Anstelle erkennbarer Schritte zu diesem Ziel erreichte die »PrepCom« 2007 lediglich, dass es in Wien überhaupt zu Sitzungsterminen kam. Die Diplomaten konnten sich nach Vermittlung Südafrikas erst vier Tage vor Ende des Treffens auf eine Tagesordnung einigen. Das Problem scheint vordergründig banal: Der Iran hatte sich gegen die Erwähnung der »vollständigen Einhaltung des Vertrages« gewehrt und gefordert, statt dessen die »vollständige Einhaltung aller Klauseln des Vertrags« auf die Agenda zu setzen. Die »Western Group«, allen voran Deutschland für die Europäische Union, lehnte stur ab, den mit ihnen im Vorfeld abgestimmten Wortlaut zu verändern.

Tendenzen einer atomwaffenstarrenden Welt

Hinter der Wortklauberei standen allerdings nicht »pubertäre Spiele«, wie das ein jugendlicher Konferenzteilnehmer vermutete, sondern grundsätzliche Überlegungen der iranischen Regierung: Wem steht die Formulierungshoheit der Tagungsagenda zu? Wie vermeidet der Iran übermächtige Kritik an seinem Nuklearprogramm (dessen laut Vertrag einzig zulässige, nämlich »friedliche« Ausrichtung von zahlreichen Experten und Staaten in Frage gestellt wird)? Wie wird erreicht, dass (zumindest auch) die mangelnde Erfüllung der Abrüstungsverpflichtungen der »nuklearen Habenden« am Pranger steht und das »unveräußerliche Recht, … Kernenergie für friedliche Zwecke zu entwickeln« (NVV Art. VI) keinesfalls eingeschränkt wird? Das nuklear-politische Umfeld der »PrepCom« war ohnehin schon problematisch genug:

  • Nach neuesten Zahlen werden weltweit noch heute 26.000 nukleare Sprengköpfe einsatzbereit oder im Vorrat gehalten. Der pakistanische Experte Zia Mian wies in Wien darauf hin, dass sich Atomwaffen und Demokratie nicht vertragen, da der Atomwaffenkomplex in jedem Staat einem Höchstmaß an Geheimhaltung unterliegt und nukleare Einsatzpläne vom demokratischen Mitwirkungsprinzip ausgenommen sind. Er verwies zudem darauf, dass das Wort »deterrence« (Abschreckung) seine Wurzel im lateinischen »terrere« hat – und das bedeutet »in Furcht und Schrecken versetzen«.
  • In jedem einzelnen Atomwaffenstaat wird das Arsenal an Atomsprengköpfen und/oder Trägersystemen (überwiegend Raketen), teilweise auch die dafür nötige Infrastruktur, umfassend modernisiert. Selbst Kofi Annan beklagte kürzlich die »nukleare Wiederaufrüstung«.
  • Atomwaffen kommt in den militärischen Doktrinen wieder eine stärkere Bedeutung zu; sogar der Ersteinsatz gegen Nicht-Atomwaffenstaaten steht wieder zur Diskussion.
  • Die NATO beharrt auf der nuklearen Teilhabe; US-Atomwaffen sind in sechs europäischen Ländern, darunter auch Deutschland, stationiert.
  • Die Überprüfungskonferenz von 2005 war ein totales Fiasko; die wegweisenden – und völkerrechtlich verbindlichen – Beschlüsse von 2000 werden von der Regierung Bush als irrelevant abgetan; die diskriminierende Praxis (einige Länder dürfen Atomwaffen besitzen, alle anderen müssen darauf verzichten) wird von zahlreichen Ländern 37 Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags zunehmend kritisch bewertet; die Glaubwürdigkeit und (ohnehin schon fragile) Stabilität des Vertragsregimes ist massiv in Frage gestellt.
  • Nukleare Abrüstung ist von der weltpolitischen Agenda verschwunden. Selbst die existierenden bilateralen Verträge zwischen den USA und Russland sind entweder kaum das Papier wert (Bush-Putin-Abkommen von 2002), stehen vor dem Auslaufen (START I in 2009) oder drohen Opfer der jüngsten Raketenabwehrdebatte zu werden (Mittelstreckenvertrag von 1987). Vorsichtig hoffnungsfroh stimmt lediglich die kürzliche Einigung von Bush und Putin in Kennebunkport, über die Nachfolge von START I Gespräche zu führen.
  • Immer deutlicher ist erkennbar, dass mit der Verbreitung der zivilen Atomenergie die Zahl der (virtuellen) Atomwaffenstaaten weiter steigt. Da helfen auch Zusagen zur Entwicklung »proliferationsresistenter« Atomreaktoren nicht viel weiter. Insbesondere das Vorhaben des Iran, einen eigenständigen Brennstoffzyklus aufzubauen, erweckt großes Misstrauen. Für viele Staaten – neben Japan und Frankreich vor allem solche aus dem blockfreien Lager – stellt das die Kernenergienutzung aber keinesfalls zur Disposition. Momentan sinnt fast ein Dutzend arabische Länder über die Einführung von Atomenergie nach. Dabei betragen schon jetzt die weltweiten Vorräte an waffentauglichem Spaltmaterial mehr als 1.000 Tonnen bei hoch angereichertem Uran und etwa 500 Tonnen bei abgetrenntem Plutonium. Letzteres stammt zu einem erheblichen Teil aus der zivilen Atomenergienutzung und reicht für viele tausend Sprengköpfe aus.
  • Ärger verursacht auch die Paraphierung des USA-Indien-Abkommens, mit dem die USA Indien faktisch als Atomwaffenstaat anerkennen und ihre Absicht kundtun, den südasiatischen Staat in Zukunft mit Nukleartechnologie und -material zu beliefern. Das Abkommen widerspricht etlichen internationalen Vereinbarungen und Rüstungsexportkontrollmechanismen, allerdings versprechen sich manche dadurch Handelsvorteile.

Substantielle Gespräche oder substantielle Vorschläge?

Redlich nutzten die Delegierten die verbliebenen drei Tage. Der Debatte hat die Zeitnot – der PrepCom-Vorsitzende schrieb einen engen Zeitplan und knappe Redezeiten vor – nicht geschadet. Statt langer Exkurse gaben die Diplomaten fokussierte Statements, ausführliche Versionen (Working Papers) wurden wie üblich schriftlich eingereicht.3 Die »substantiellen Diskussionen« befassten sich mit nuklearer Abrüstung, Vertragsüberprüfung, Atomenergie, Spaltmaterialien, Atomtests, Sicherheitsgarantien, atomwaffenfreien Zonen, dem Nahen Osten, der Vertragsmaschinerie und -stärkung und – dem Lob auf die NGOs.

Während die Diplomaten sich in Pendeldiplomatie und Schuldzuweisungen übten, führten die NGOs ihr geplantes Programm unbeirrt durch. Vom täglichen »Morgenratschlag«, dem anschließenden Briefing mit einer eingeladenen Länderdelegation über hochkarätig besetzte Panels, informative Events mit Vorlesungscharakter, hitzige Debatten bei Podiumsdiskussionen, Filmaufführungen und eine Ausstellung zu Atomtests im Pazifik bot die Zivilgesellschaft über 40 verschiedene Veranstaltungen an. Den 400 registrierten Diplomaten standen in der ersten Woche 300 NGO-Delegierte gegenüber, darunter mehr als fünfzig Jugendliche. 18 NGO-Vertreter ergriffen in einer offiziellen Session der Diplomaten das Wort und spornten die Staatsvertreter mit Informationen und Vorschlägen zu nuklearer Abrüstung an.

Die NGOs boten aber nicht nur Masse sondern auch Klasse. Hierzu gehörte die Vorstellung einer überarbeiteten Version des von NGOs bereits 1996 ausgearbeiteten Entwurfs für eine Nuklearwaffenkonvention (NWK). Der Text beschreibt Schritte in eine atomwaffenfreien Welt u.a. mit folgenden Elementen:

  • Vollständige Offenlegung sämtlicher nuklearer Waffen, Anlagen und Materialien sowie der Trägersysteme,
  • Verbot der Entwicklung, Erprobung, Herstellung, Lagerung, Weitergabe, des Einsatzes und der Drohung mit einem Einsatz von Atomwaffen,
  • phasenweite Vernichtung sämtlicher Atomwaffenarsenale,
  • umfassende Verifikation der Abrüstung und Aufbau einer entsprechenden Überprüfungsbehörde,
  • Vorgaben zur nationalen Umsetzung der Konvention,
  • Vorschlag für den Aufbau einer internationalen Agentur zur Förderung erneuerbarer Energien, um so die zivile Nutzung von Atomenergie sukzessive auslaufen zu lassen.

Costa Rica zeigte sich so überzeugt vom Arbeitsergebnis der NGOs, dass es das komplette Dokument kurzerhand als offizielles Arbeitspapier einreichte.4 Begründung: »Der Modellentwurf zeigt auf, dass nukleare Abrüstung möglich ist und dass es keinen Grund gibt, mit Verhandlungen länger zu warten.«

Ein weiteres Projekt ist das »Model Nuclear Inventory« der internationalen Projektgruppe »Reaching Critical Will« (RCW).5 Anstatt lediglich Transparenz über Arsenale, Materialien, Anlagen, Doktrinen, Nichtverbreitungs- und Abrüstungsmaßnahmen einzufordern, führen die Autorinnen anhand von Informationen aus öffentlich zugänglichen Quellen eine Bestandsaufnahme für die 44 Staaten durch, die nukleare Leistungs- oder Forschungsreaktoren betreiben (also die tatsächlichen und »virtuellen« Atomwaffenstaaten). RCW fordert die Staaten damit heraus, ihrerseits Offenheit herzustellen. Denn daran führt kein Weg vorbei: Ein Mangel an Transparenz führt zu mangelndem Vertrauen, und das ist gekoppelt mit dem fehlenden politischen Willen der größte Stolperstein auf dem Weg zur atomwaffenfreien Welt.

Anmerkungen

1) Der Text des NVV steht unter http://www.atomwaffena-z.info/glossar.php?alpha=N&auswahl=Nichtverbreitungsvertrag.

2) Mit »Universalität« ist gemeint, dass sämtliche Staaten der Erde dem Vertrag beitreten sollen. Momentan hat der Vertrag 189 Mitgliedstaaten; nicht dazu gehören die (inoffiziellen) Atomwaffenstaaten Indien, Pakistan und Israel, und sie können gemäß Vertragstext nur als Nicht-Atomwaffenstaaten beitreten. Der Vertrag erkennt China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA als Atomwaffenstaaten an. Nordkorea hat seine Mitgliedschaft 2003 gekündigt; die Erfolge der Sechs-Parteien-Gespräche über die Rückabwicklung des nordkoreanischen Atomwaffenprogramms werden über den künftigen Vertragsstatus des Landes mitentscheiden.

3) Sämtliche offiziellen Konferenzdokumente finden sich unter http://www.un.org/NPT2010/documents.html.

4) Der – vorläufig nur englisch verfügbare – Text steht als Kapitel 2 des Buches Securing Our Survival unter http://www.inesap.org/books/securing_our_survival.htm. Der Vertragsentwurf sowie das Buch wurden geschrieben von Experten der IPPNW, der IALANA und von INESAP (Ärzte-, Juristen- bzw. Wissenschaftlervereinigungen für die atomwaffenfreie Welt). Die NWK von 1996 gibt es auch in deutsch unter http://www.inesap.org/pdf/mNWC_German.pdf.

5) Das Model Nuclear Inventory steht unter http://www.reachingcriticalwill.org/about/pubs/Inventory07.html.

Regina Hagen ist Koordinatorin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) und Mitglied im W&F-Redaktionsteam.