Nukleares Erbe

Nukleares Erbe

Auswirkungen sowjetischer Atomwaffentests in Kasachstan

von Annegret Krüger

Vor 75 Jahren wurde in der kasachischen Steppe der erste sowje­tische Atomwaffentest gezündet. Dieser läutete damit eine Test­reihe ein, die sich über eine Zeitspanne von 40 Jahren zog. In diesem Zeitraum fanden über 450 Atomwaffentests in Kasachstan statt. Die dramatischen Konsequenzen für Mensch und Umwelt sind bis heute spür- und sichtbar und die Fragen nach einer nukle­aren Gerechtigkeit stellen sich heute dringlicher denn je. Auch die Frage einer deutschen Mitbetroffenheit muss diskutiert werden.

Am 29. August 1949 – vor genau 75 Jahren – führte die Sowjetunion ihren ersten Atomwaffentest in den kasachischen Steppen der Semipalatinsk Region (heute Abai Region) durch. Mit diesem ersten Test wurde aus sowjetischer Sicht ein „nukleares Gleichgewicht“ (Tsukerman und Azarkh 1999) mit den USA hergestellt. Dieser erste Test war gleichzeitig die folgenschwerste Testzündung in der Geschichte der sowjetischen Atomwaffentests, vor allem wegen des einsetzenden Regens und des mit ihm in den Boden gewaschenen radioaktiven »Fallouts«. Über vierzig Jahre lang wurden auf dem »Polygon« (so der sowjetische Begriff für ein Gebiet, in dem Waffen getestet oder Militärübungen abgehalten wurden) mehr als 450 Tests durchgeführt. Zwischen 1949 und 1962 wurden atmosphärische, sprich oberirdische Tests durchgeführt, die für den größten Teil der bis heute anhaltenden radioaktiven Kontamination verantwortlich sind. Ungefähre Schätzungen gehen von 1,5 Millionen Menschen aus, die auf irgendeine Art und Weise von den Atomwaffentests betroffen sind. 1991 wurde das Testgelände auch aufgrund des zivilen Engagements der »Nevada-Semipalatinsk«-Bewegung offiziell geschlossen, nachdem dort 1989 der letzte Test stattgefunden hatte (Kassenova 2022).

Das ehemalige Testgelände erstreckt sich über eine Fläche von ca. 18.000 km2, was in etwa der Größe Sloweniens entspricht. Die Region wurde von sowjetischen Militärplanern ausgewählt, da sie abgeschieden von großen Städten lag und vermeintlich kaum bewohnt war. Während der jahrelangen Tests erfuhren die Bewohner*innen der Steppen am eigenen Leib die kurz- und langfristigen Folgen von nuklearen Explosionen. Die Strahlung vergiftete ihre Luft, ihr Wasser und ihre Nahrung und änderte damit ihr Leben unwiderruflich (Kassenova 2022). Die Menschen in dieser Region, die letztlich alle Überlebende der Atomwaffentests sind, leben auch heute noch tagtäglich mit den unvorstellbaren Auswirkungen dieser Tests.1

Karte

Karte: Semipalatinsk Atomwaffentestgelände »Polygon«; Quelle: Datenpunkte Polygon von Paul Richards (Columbia University, 2001); Basemap: Stamen Terrain; eigener Entwurf Redaktion W&F.

Menschliches Leid

Auch wenn sie für die einfache Beobachter*in äußerlich gesund aussehen, leiden doch die allermeisten Betroffenen an verschiedenen mit Radioaktivität in Zusammenhang stehenden Krankheiten. Bis heute sterben viele Menschen bevor sie ein hohes Alter erreichen, unter anderem bedingt durch vorzeitiges Altern (Vakulchuk und Gjerde 2014). Gesundheitliche Folgen der Atomwaffentests spiegeln sich beispielsweise im erhöhten Vorkommen zahlreicher Krebsarten, darunter Leukämie, Lungenkrebs und Schilddrüsenkrebs, in der Rate an Kindern, die mit Behinderungen geboren werden, oder auch in einer Reihe verschiedener Atemwegserkrankungen wider (Yan 2018; Muchametalijewa 2019).

So nachdrücklich haben sich die Atomwaffentests vor Ort eingeschrieben, dass sie gar einen eigenen medizinischen Begriff geprägt haben: »Kainar-Syndrom« heißt das verbreitete Erscheinungsbild einer Kombination verschiedener Krankheiten, benannt nach dem kasachischen Dorf, in dem dieses am häufigsten auftrat (Atchabarov 2015). Für Frauen sind die gesundheitlichen Folgen noch einmal andere als für Männer. Sie sind oftmals von Brustkrebs, Fehl- und Totgeburten betroffen (Najibullah und Akaeva 2019). Zudem bleibt die große Angst bei einer Schwangerschaft, dass die Kinder womöglich auch von den Folgen der Tests betroffen sein werden. Neben diesen teils offensichtlichen Krankheiten stellen das hohe Aufkommen von Suiziden, vor allem während der Zeit der Atomwaffentests, und psychische Erkrankungen weitere Schattenseiten der Tests dar. Dutzende Menschen aus den umliegenden Dörfern in der Nähe des Polygons begingen jedes Jahr Selbstmord (Makarov et al. 1994).

Die Menschen wurden nicht über die Atomwaffentests und über die möglichen Konsequenzen dieser Tests aufgeklärt. Dies geschah zunächst auch aus Unwissenheit der sowjetischen Militärangehörigen, die selbst die Folgen ionisierender Strahlung nicht verstanden. Im Laufe der Zeit begann die Sowjetunion allerdings, systematisch medizinische Daten dazu zu sammeln, während sie gleichzeitig öffentlich eine Gefahr durch Strahlung als unbegründet abtat. So wurden Menschen in evakuierten Dörfern absichtlich zurückgelassen, um herauszufinden, wie Strahlung auf den menschlichen Körper wirkt. Diese Menschen hatten keine Ahnung, dass sie als Versuchskaninchen verwendet wurden und einer extrem hohen Dosis an Strahlung ausgesetzt wurden (Kassenova 2022; Wilhelmi 2023). Ein Überlebender resümiert, dass sie lediglich als „biologisches Material“ für Recherche- und wissenschaftliche Zwecke angesehen wurden. Durch diese Forschung konnte ein Zusammenhang zwischen der Strahlenexposition und der Entstehung von Strahlenangst (»Radiophobie«) und einer Zunahme sozialer Ängste festgestellt werden (TPNW 2023).

Im heutigen Gebäude des »Research Institute of Radiation Medicine and Ecology« der medizinischen Universität in Semei, Kasachstan, befand sich eine der zwei geheimen sowjetischen Kliniken, die die Gesundheit der lokalen Bevölkerung überwachen sollte. Das sogenannte »Dispensary No. 4« des sowjetischen Gesundheitsministeriums wurde 1957 gegründet und das medizinische Personal sprach sich schon bald für ein sofortiges Ende der Tests aus. Diese Klinik war jedoch lediglich für die Datensammlung und nicht für die Behandlung der kranken Menschen zuständig, obwohl sie über 10.000 Menschen untersuchten (Kassenova 2022). Auch heute noch dient das Institut überwiegend Forschungszwecken und führt das staatliche, medizinische Registrierungssystem, in dem bereits 373.686 betroffene Menschen von der ersten bis zur fünften Generation registriert wurden. Diese traurige aber notwendige Kartierung bildet die Grundlage für Forschungen im Hinblick auf Strahlung und deren Einfluss auf die Gesundheit und die Sterblichkeit in der betroffenen Bevölkerung, wie die kasachischen Vertreter*innen bei der zweiten Staatenkonferenz der Mitgliedsstaaten des Atomwaffenverbotsvertrags berichteten (TPNW 2023).

Nukleare Gerechtigkeit!?

Die kasachische Regierung hat nach dem Erlangen der Unabhängigkeit 1992 ein »Gesetz zum sozialen Schutz der von den Atomtests auf dem Semipalatinsker Atomwaffen-Testgelände betroffenen Bürger*innen« verabschiedet. Darin wurden die kontaminierten Gebiete festgelegt und anhand der unterschiedlichen Höhe der Strahlenbelastung klassifiziert (Vakulchuk und Gjerde 2014). Als Grundlage dienten die wenigen Dokumente, die noch auffindbar waren, beispielsweise in der sowjetischen Klinik »Dispensary No. 4«, oder die wenigen Informationen sowjetischer Ministerien, die zugänglich waren.2

Den Menschen wurde daraufhin je nach Ort und Dauer des Aufenthalts in den betroffenen Gebieten eine einmalige Entschädigung für durch die Atomwaffentests verursachte Schäden ausgezahlt. Menschen, die in den gesetzlich festgelegten Strahlenrisikogebieten leben und arbeiten, haben ebenfalls Anspruch auf zusätzliche Vergütung und zusätzlichen bezahlten Jahresurlaub. Frauen, die in diesen Gebieten leben, haben Anspruch auf zusätzlichen Schwangerschafts- und Entbindungsurlaub. Kinder von Menschen, die in den Jahren 1949 bis 1990 in den betroffenen Gebieten gelebt, gearbeitet oder gedient haben, können nach dem Gesetz als Opfer von Kernwaffentests anerkannt werden und haben Anspruch auf die entsprechenden Sozialleistungen, sofern sie an Behinderungen oder Krankheiten leiden, die mit der Exposition gegenüber ionisierender Strahlung in Zusammenhang stehen, und sofern ein kausaler Zusammenhang zwischen ihrem Gesundheitszustand und der Tatsache besteht, dass sich ein Elternteil in Strahlenrisikogebieten aufgehalten hat. Personen mit Behinderungen im Zusammenhang mit der Strahlenexposition bei Atomtests und deren Folgen haben Anspruch auf monatliche Invalidenbeihilfen. Weitere finanzielle Unterstützungsmaßnahmen sind höhere Renten, eine kostenlose oder subventionierte Gesundheitsversorgung oder Ermäßigungen für öffentliche Verkehrsmittel (TPNW 2023; Vakulchuk und Gjerde 2014).

Soweit die Theorie, denn in der Praxis gibt es genau mit der Anwendung dieser Ansprüche viele Schwierigkeiten. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Krankheit und Strahlungsexposition ist nicht immer eindeutig nachweisbar. Soldaten stehen vor der Herausforderung, dass sie nicht immer beweisen können, dass sie auf dem Testgebiet gearbeitet haben, da dies ein streng geheimes Unterfangen war. Diese Soldaten hatten im Gegensatz zu den sowjetischen Wissenschaftlern oftmals keinerlei Schutzkleidung oder -ausrüstung. Hinzu kommt, dass Menschen, die die betroffenen Gebiete verlassen haben, keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Die größte Hürde liegt jedoch darin, dass die Leistungen vor allem Personen gewährt werden, die eine offizielle Bescheinigung über ihren Status als Strahlenopfer erhalten haben. Solche Bescheinigungen werden nur nach einem akribischen Antragsverfahren ausgestellt, das die Vorlage von Dokumenten einschließt, die den Wohnsitz des Antragstellers in den betroffenen Gebieten zwischen 1949 und 1990 bestätigen. Ein Großteil der Betroffenen ist nicht im Besitz der erforderlichen Bescheinigung und erhält folglich keine Leistungen (Najibullah und Akaeva 2019).

Über die verschiedenen Generationen hinweg haben sich teilweise neue Krankheiten entwickelt oder es sind seltene Krankheiten aufgetreten, die nicht in der Liste der Krankheiten im Gesetz aus dem Jahr 1992 aufgeführt sind. Auch dann ist ein Anspruch schwierig durchzusetzen. Es wird von Betroffenen berichtet, dass das medizinische Personal manchmal keine angemessene medizinische Versorgung leisten könne, da diese selbst nicht wissen würden, an welchen Krankheiten die Menschen litten, gerade auch in den dörflichen Gegenden. Es zeigt sich, dass das Gesetz von 1992 eine Maßnahme darstellt, die für ihre Zeit gut war, nun aber fast 30 Jahre später hoffnungslos veraltet ist.

Die heimlich gesammelten Daten der Sowjetunion wurden nach deren Zusammenbruch nach Russland gebracht und die Anfragen der kasachischen Regierungen seither auf Zugang zu diesen Daten wurde stets abgelehnt. Mehr als 30 Jahre nach dem letzten Atomtest haben kasachische Wissenschaftler*innen zwar ein besseres Verständnis der Auswirkungen der sowjetischen Atomtests auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen, dennoch sind immer noch einige Fragen offen, gerade zu den langfristigen Auswirkungen auf künftige Generationen. Daher fordern Überlebende mehr Forschung, eine bessere Entschädigung, den Zugang zu wichtigen Dokumenten, eine Anpassung des »Opfergesetzes« – letztlich eine umfassende (nukleare) Gerechtigkeit, wobei sowohl die betroffenen Menschen als auch die Umwelt mitbedacht werden müssen. Es ist offensichtlich, dass das nuklear verursachte Trauma generationenübergreifend ist (Vakulchuk und Gjerde 2014; Yan 2018; Najibullah und Akaeva 2019; Kassenova 2022).3

Kasachstan als internationaler Abrüstungschampion

Auf der internationalen Bühne hat sich Kasachstan seit längerer Zeit als »Abrüstungschampion« etabliert. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlangte Kasachstan seine Unabhängigkeit 1991 und entschied sich dazu, die sowjetischen Atomwaffen aufzugeben. Dies stellt mitnichten eine Selbstverständlichkeit dar, sondern war Ergebnis eines langen Verhandlungsprozesses unter anderem mit Russland und den USA über Sicherheitsgarantien. Drei Szenarien standen im Raum: 1.) die Atomwaffen zu behalten, auch wenn Kasachstan keine Befehlsgewalt über diese hatte; 2.) die gemeinsame Kontrolle über das Atomwaffenarsenal mit Russland oder der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) oder 3.) ein atomwaffenfreies Kasachstan. In instabilen politischen Zeiten und eingeschlossen von zwei nuklearen Mächten – Russland und China – entschied sich Kasachstan für den atomwaffenfreien Weg, auch um internationale Anerkennung zu erhalten, und zeigt damit, dass es die nationale Sicherheit erhöhen kann, auf Atomwaffen zu verzichten (Kassenova 2022).

Schon zwei Jahre später erfolgte die kasachische Ratifizierung des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) im Dezember 1993 im Gegenzug für die Unterzeichnung des Budapester Memorandums über Kasachstans Sicherheitsgarantien. Seit 2006 gehört Kasachstan mit anderen zentralasiatischen Ländern zur »zentralasiatischen kernwaffenfreien Zone«, deren Vertrag symbolisch in Semei bzw. Semipalatinsk unterzeichnet wurde. Zum 70. Jahrestag des ersten sowjetischen Atomwaffentests ratifizierte Kasachstan den Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) (Kassenova 2022). Kasachstan setzt sich für den weltweiten, vollständigen Verzicht auf Atomwaffen bis 2045 ein, dem hundertsten Jahrestag der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und der Gründung der Vereinten Nationen. In dem Bemühen, eine bereite Auseinandersetzung zum weltweiten Erbe von Atomwaffentests und -einsätzen zu erreichen, initiierte Kasachstan 2023 eine UN-Resolution in der Generalversammlung zum Thema Opferhilfe und Umweltsanierung, die erfolgreich verabschiedet wurde (UN GA 2023). Weiter stellt Kasachstan den Präsidenten der anstehenden Vorbereitungskonferenz der nächsten Überprüfungskonferenz des NVV und hat den Vorsitz der dritten Vertragsstaatenkonferenz des AVV für 2025 inne. Heute ist der 29. August der Internationale Tag gegen Nuklearversuche, wie er von den Vereinten Nationen auf Kasachstans Initiative hin verabschiedet wurde.

Für aufmerksame Leser*innen wird hierbei eine deutliche Diskrepanz sichtbar, wie sich Kasachstan international präsentiert und wie es gleichzeitig mit den eigenen Überlebenden umgeht.

Auswirkungen auch in Deutschland

Die nukleare Kette der Atomwaffentests in Kasachstan reicht bis nach Deutschland, genauer in die ehemalige DDR. Dort wurde 1946 im sächsischen Erzgebirge und in Ostthüringen begonnen, Uranerz abzubauen. Damit mutierte die DDR zum wichtigsten Uranlieferant für das sowjetische Atomwaffenprogramm und half dabei, dass 1949 die erste sow­jetische Atomwaffe in Semipalatinsk getestet werden konnte. Die sowjetische Führung verlieh dem geheimen Uranabbau den Tarnnamen »Wismut« (ebenfalls ein Schwermetall), was die Förderung von Uran verschleiern sollte. Zwischenzeitlich war die DDR der viertgrößte Uranproduzent der Welt. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endete 1990 auch die Förderung in der DDR und aus der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft wurde die Wismut GmbH, die bis heute die kontaminierten Flächen saniert. Insbesondere die Renaturierung und das Reinigen des Grundwassers dauert nach wie vor an. Man geht davon aus, dass dies erst 2035 beendet sein wird (BMWK o.J.; Hertel 2022).

Die Folgen des Uran-Abbaus für Natur und Mensch sind auch hierzulande bis heute spürbar. Die Bergarbeiter erlitten gesundheitliche Schäden durch die Strahlung oder kamen sogar zu Tode und häufig kam es zu Grubenunfällen und -bränden. Durch das Einatmen schädlicher Partikel, die in der Lunge verblieben, kam es noch Jahre später zu Mutationen und dadurch zu Krebserkrankungen. 1956 wurde zum ersten Mal die Strahlenbelastung der lokalen Bevölkerung untersucht, jedoch wurden die Ergebnisse zunächst unter Verschluss gehalten. Seit 1993 führt das Bundesamt für Strahlenschutz die sogenannte »Wismut-Studie« durch, die eine der weltweit größten Kohortenstudien darstellt. Dabei werden ca. 59.000 männliche Bergarbeiter untersucht und die Ergebnisse dazu werden in regelmäßigen Abständen veröffentlicht. Die Studie zeigt, dass die Lungenkrebssterblichkeit bei den Wismut-Bergarbeitern 2,4 Mal höher als in der Allgemeinbevölkerung ist. Bis heute kommen immer neue Lungenkrebsfälle hinzu. Zudem steigt das Risiko, an Leukämie zu erkranken. Die Studie stellt weiter fest, dass nicht nur die Radon-, sondern auch die Quarzfeinstaubexposition zu einem deutlichen Anstieg des Lungenkrebsrisikos bei den ehemaligen Wismut-Beschäftigten führt. Außerdem konnte ein sehr starker Anstieg der Sterblichkeit an Silikose (»Quarzstaublunge«) festgestellt werden (Bundesamt für Strahlenschutz 2023).

Weiter beschäftigen die sowjetischen Atomwaffentests auch immer wieder deutsche Gerichte. Dabei geht es oftmals um sogenannte (Spät-)Aussiedler*innen, die sich in der Nähe des Atomwaffentestgeländes in Kasachstan aufhielten. Die Gerichte müssen darüber entscheiden, ob aufgrund der gesundheitlichen Schäden durch den Aufenthalt in Kasachstan Beschädigtenversorgung bzw. -rente gezahlt werden muss.

Politische Schlussfolgerungen

Die nukleare Kette greift also auf unterschiedliche Weise bis in das heutige Deutschland und zeigt, warum uns auch hier die sowjetischen Tests etwas angehen sollten. Aufgrund ihrer humanitären Auswirkungen und Risiken für die gesamte Menschheit gibt es keine andere Schlussfolgerung als Atomwaffen abzuschaffen. Denn solange es Atomwaffen gibt, besteht auch die Gefahr eines Einsatzes.

In der kasachischen Gesellschaft erfahren die Menschen aus den betroffenen Gebieten bis heute Stigmatisierungen. Dennoch sind die Geschichten der Überlebenden vor allem Geschichten einer unfassbaren Resilienz. Für ihre Heimat haben sie große Zukunftspläne. Sie sind weit mehr als Überlebende, sie sind Akteur*innen – so habe ich das auf der Recherchereise zu diesem Beitrag erlebt. Ihre Geschichten sollten uns alle als Warnung dienen in einer Zeit, in der Atomwaffen erneut unhinterfragt als Sicherheitsgarant gelabelt werden. Die anhaltenden Auswirkungen der sowjetischen Tests auf die Region sollten Politiker*innen weltweit als Erinnerung an die hohen Kosten von Atomwaffenprogrammen für Mensch und Umwelt dienen.

Anmerkungen

1) Als Teil einer Bildungsreise – organisiert von ICAN Deutschland, der Friedrich-Ebert-Stiftung Kasachstan und STOP (»Steppe Organization for Peace«) – durfte ich im Mai 2024 mit weiteren jungen Menschen nach Kasachstan reisen, um vor Ort über das nukleare Erbe zu lernen. Neben Treffen mit hochrangigen Vertreter*innen der Politik in der Hauptstadt Astana, wie Treffen im Außenministerium und mit einem Verfassungsrichter, waren insbesondere die Begegnungen mit Überlebenden der ersten Generation der Atomwaffentests in der Stadt Semei (ehemals Semipalatinsk) am beeindruckendsten. Die Stadt liegt ungefähr 120 km vom ehemaligen Testgelände entfernt.

2) Ein Großteil der gesammelten Daten zu den gesundheitlichen Folgen liegt jedoch weiterhin unerreichbar in russischen Archiven, wie dem Atomenergieministerium oder dem Verteidigungsministerium (Kassenova 2022; Wilhelmi 2023).

3) Die letzten Absätze beruhen u. a. auf persönlichen Berichten von Betroffenen.

Literatur

Atchabarov, A. (2015): Kainar syndrome: History of the first epidemiological case-control study of the effect of radiation and malnutrition. Central Asian Journal of Global Health 4(1), 221.

Bundesamt für Strahlenschutz (2023): Wismut Uranbergarbeiter-Kohortenstudie. Homepage, URL: bfs.de/de/bfs/wissenschaft-forschung/wirkung-risiken-ion/laufend/wismut.html.

Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) (o.J.): Geschichte des Uranerzbergbaus und Gründung der Wismut GmbH. Homepage, URL: bmwk.de/Redaktion/de/Artikel/Energie/Wismut/02-geschichte.html.

Hertel, A. (2022): Mit deutscher Hilfe: So kam Russland zu seinen Atomwaffen. MDR, 11.4.2022.

Kassenova, T. (2022): Atomic steppe. How Kazakhstan gave up the bomb. Stanford: Stanford University Press.

Makarov, M. A.; Kisseleva, L. M.; et al. (1994): “Stressovoe vozdeistvie faktorov okruzhaiushchei sredy na chostotu samoubiistv” [Stress impact of environmental factors on suicide frequency]. In: Zdorov’ye liudei, prozhivaiushchin v raione prilegaiushchem k Semipalatinskomu poligonu [Health of residents in the vicinity of Semipalatinsk Polygon], Collection of Articles, Vol. 2.

Najibullah, F.; Akaeva, K. (2019): Victims of Kazakhstan’s soviet-era nuclear tests feel ‘abandoned’ by government. RadioFreeEurope, 23.11.2019.

TPNW (2023): Second meeting of states parties to the treaty on the prohibition of nuclear weapons. Assessments of the consequences of nuclear tests on the territory of Kazakhstan. Report submitted by Kazakhstan. New York. 27 November–1 December 2023, (TPNW/MSP/2023/10).

Tsukerman, V.; Azarkh, Z. (1999): Arzamas-16: Soviet scientists in the nuclear age. A memoir. Nottingham: Bramcote Press.

UN GA (2023): First Committee. 78th Session. General and Complete Disarmament. A/C.1/78/L.52.

Wilhelmi, A. (2023): „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mir eine atomwaffenfreie Welt vorstellen kann“ – ein Interview mit Togjan Qasenova. Novastan.org, 24.1.2023.

Muchametalijewa, Z. (2019): Semipalatinsker Testgelände: Das atomare Erbe der Sowjetunion in Kasachstan. Übersetzt von Petersen, S. Novastan.org, 7.9.2019.

Vakulchuk, R.; Gjerde, K. (2014): Semipalatinsk nuclear testing: the humanitarian consequences. Report prepared for the Second Conference on Humanitarian Impact of Nuclear Weapons in Nayarit, Mexico, 13–14 February 2014. (mit Belikhina, T.; Apsalikov, K.) NUPI Report 1/2014. Oslo: Norwegian Institute of International Affairs.

Yan, W. (2018): Has Kazakhstan forgotten about its Polygon test survivors? The World, 17.12.2018.

Annegret Krüger ist Friedens- und Konfliktforscherin und arbeitet beim Netzwerk Friedenskooperative. Zudem ist sie Vorsitzende des Frauennetzwerk für Frieden e.V.

Fait accompli


Fait accompli

Ist die Denuklearisierung Koreas noch möglich?

von Herbert Wulf

Um die Verhandlungen über Nordkoreas Atomprogramm und die Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel ist es in den letzten Monaten still geworden. Verstärkt durch die Aufmerksamkeit für andere globale Probleme rückt der Konflikt über Nordkoreas Atom­ambitionen in den Hintergrund. Dabei treibt das Land sein militärisches Programm mit Raketentests voran und signalisiert zugleich: Ihr müsst schon mit uns verhandeln! Dem überraschenden und dann als historisch bezeichneten Treffen zwischen Donald Trump und Kim Yong-un im Juni 2018 in Singapur folgte ein als Misserfolg bewertetes zweites Treffen im Februar 2019 in Hanoi und dann auch rasch die Ernüchterung. Von einem Durchbruch oder historischen »Deal« ist nicht mehr die Rede. Doch die diplomatischen Verhandlungen verlau­fen weiter, diskret, auf niederschwelligem Niveau.

Folgende Vereinbarungen wurden getroffen, um die kritische Situation um das nordkoreanische Atomwaffenprogramm zu entschärfen:

Die Regierung Nordkoreas stimmte zu,

  • das Nuklearprogramm einzufrieren und u.a. die Reaktoren stillzulegen, in denen waffenfähiges Material produziert wird,
  • umfassende Inspektionen der Internationalen Atomenergieorganisation zuzulassen,
  • den Abtransport des nuklearen Materials zu erlauben und
  • sämtliche militärisch relevanten Nuklearanlagen abzubauen.

Die USA sagten zu,

  • technische Hilfe im Energiesektor zu leisten und
  • die Normalisierung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen anzustreben – einschließlich der diplomatischen Anerkennung und der Aufhebung der Wirtschaftssanktionen.

Ziel ist die Denuklearisierung der gesamten koreanischen Halbinsel und die Zusammenarbeit bei der Verwirklichung der Nicht-Weiterverbreitung von Nuklearwaffen.

Gestern: Hoffnung und Enttäuschung

Was für ein zukunftweisender »Deal«! Schade nur, dass dies nicht bei dem Treffen zwischen Präsident Donald Trump und Regierungschef Kim Jong-un 2018 in Singapur vereinbart wurde, sondern der Kern des Abkommens zwischen den USA und Nordkorea aus dem Jahr 1994 war. Vor mehr als 25 Jahren gelang es nach zähen Verhandlungen in Genf, das so genannte »Agreed Framework« abzuschließen; es regelte bis auf das nordkoreanische Raketenprogramm sämtliche nordkoreanischen Nuklearwaffenprobleme.

Statt darüber zu spekulieren, was heute auf die Treffen in Singapur und Hanoi folgen und ob daraus vielleicht doch noch ein »historischer Deal« werden könnte, ist es interessant, zu analysieren, warum denn das weitreichende Abkommen von 1994 nicht umgesetzt wurde und was daraus für heute folgt. Was also ging bei der Umsetzung des »Agreed Framework« von 1994 schief?

Das Grundproblem dieses Abkommens war das mangelnde gegenseitige Vertrauen der beteiligten Regierungen. Gegen Nordkorea blieb weiterhin der Verdacht, im Geheimen am Atomprogramm zu arbeiten. Nordkorea warf den westlichen Vertragsteilnehmern vor, ihren Verpflichtungen nicht nachzukommen. Teil dieses Vertrages war es, Nordkorea zwei Leichtwasserreaktoren zur Energiegewinnung zu liefern, eine Zusage, die nicht nur von den USA, sondern auch von der Europäischen Union und Japan mitgetragen und finanziert werden sollte, aber nie verwirklicht wurde. Im Nachhinein muss man es als naiv bezeichnen, einer Regierung Zusagen für die Lieferung moderner Nukleartechnologie zu machen, wenn man sie im Verdacht hat, weiterhin Atompläne zu verfolgen.

1998 wurde ein auf Geheimdienstinformationen basierender Artikel in der New York Times lanciert, der behauptete, Nordkorea baue einen unterirdischen Plutoniumreaktor und eine Wiederaufbereitungsanlage zur Abtrennung des Plutoniums. Die Regierung in Washington hegte den Verdacht, dass Nordkorea am »Agreed Framework« vorbei eine alternative Quelle zur Herstellung waffenfähigen Materials erschließen wolle. Der Zeitungsbericht lieferte den Gegnern des Abkommens Munition, mit der sie den Beweis für Nordkoreas Betrugsmanöver zu besitzen glaubten. Nach Inspektionen einer US-Delegation gab das Außenministerium jedoch bekannt, dass die betreffenden Anlagen in Nordkorea nicht zur Herstellung von Waffenmaterial geeignet seien.

Nordkorea heizte die prekäre, von gegenseitigem Misstrauen gekennzeichnete Situation damals zusätzlich an, indem es eine mehrstufige ballistische Rakete mit einer Flugbahn über Japan hinweg testete. Erst ein Jahr später »normalisierten« sich die Beziehungen wieder, und die USA lieferten zusätzliche Nahrungsmittel, nachdem Pjöngjang ein Testmoratorium für weitreichende Raketen ankündigt hatte.

Entscheidend für die erneute Beendigung des Tauwetters war der Regierungswechsel in Washington im Januar 2001. Bill Clintons Außenministerin Madeleine Albright hatte Pjöngjang im Oktober 2000 in der Erwartung besucht, das »Agreed Framework« zu retten, ein Folgeabkommen über das nordkoreanische Raketenprogramm zu erzielen und damit eine weitere Stufe der Normalisierung der Beziehungen anzubahnen. Die neue US-Administration unter George W. Bush hingegen verfolgte eine andere Nordkoreapolitik, der zwei sich ausschließende Strategien zugrunde lagen. Das von Colin Powell geführte Außenministerium verhandelte zwar weiter mit Nordkorea, die Hardliner aber riefen zu einer härteren Gangart auf. Insbesondere Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und der damalige UN-Boschafter der USA und spätere Sicherheitsberater John Bolton torpedierten die Verhandlungen. Das zarte Pflänzchen vorsichtiger Annäherung erstarb abrupt, als US-Vizepräsident Richard Cheney apodiktisch erklärte: „Ich bin vom Präsidenten beauftragt, sicherzustellen, dass mit keiner der Tyranneien dieser Welt verhandelt wird. Wir verhandeln nicht mit dem Bösen, wir besiegen es.

Hatte die Clinton-Regierung abgewartet und auf einen Zusammenbruch des nordkoreanischen Regimes aufgrund der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage spekuliert, so versuchte die Bush-Regierung aktiv, dies durch Verschärfung der Sanktionen herbeizuführen. Es kam anders: 2003 trat Nordkorea aus dem Nichtverbreitungsvertrag aus, 2005 erklärte es sich offiziell zum Atomwaffenstaat.

Unterdessen wurde dennoch wieder verhandelt und ein weiteres Abkommen vereinbart, das im Jahr 2005 im Rahmen der so genannten Sechs-Parteien-Gespräche zwischen Nord- und Südkorea, den USA, China, Russland und Japan zustande kam. Nordkorea verpflichtete sich darin, „alle Atomwaffen und bestehenden Nuklearprogramme“ aufzugeben und dem Atomwaffensperrvertrag wieder beizutreten. Auch dieses Abkommen scheiterte 2009. Die Differenzen über die als notwendig erachteten Inspektionen vor Ort veranlassten die nordkoreanische Regierung, sich einseitig aus den Gesprächen zurückzuziehen.

Heute: Stillstand oder zukunftsweisende Diplomatie?

Die Ergebnisse des Treffens in Singapur mehr als zwei Jahrzehnte später muten gegenüber dem Abkommen von 1994 vage, zaghaft und nichtssagend an. Kim Jong-un verpflichtete sich in der Abschlusserklärung zur vollständigen Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel, allerdings ohne festen Zeitplan und ohne Angaben, was unter »Denuklearisierung« zu verstehen sei. Donald Trump sagte im Gegenzug »Sicherheitsgarantien« zu, ebenfalls ohne Details, worin sie bestehen sollen. Darüber hinaus wollen die Regierungen dem Wunsch beider Völker nach „Frieden und Wohlstand“ entsprechen. Heißt dies, Nordkorea gibt sein Atomprogramm auf? Heißt dies, die USA ziehen ihre Soldaten aus Südkorea ab und kündigen den Atomschutzschirm für Südkorea und Japan?

Was für blumige, zu nichts verpflichtende Worthülsen! Inzwischen ist die Zeit der großen Sprüche vorbei, stattdessen wird im Stillen weiterverhandelt. Dies ist sicherlich erfolgversprechender als schlecht vorbereitete pompöse Treffen auf höchster Ebene.

Morgen: Und was bedeutet dies für die unmittelbare Zukunft?

Die jahrzehntelangen Verhandlungen mit der nordkoreanischen Regierung haben gezeigt, dass Pjöngjang mit seinem wiederholten Ausstieg aus den Verhandlungen, mit militärischen und sicherheitspolitischen Provokationen, mit gelegentlichem Entgegenkommen, gar mit Bereitschaft zur Unterzeichnung von Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen ein äußerst schwieriger und nicht leicht berechenbarer Verhandlungspartner ist.

Doch auch die Politik der USA war bedeutsamen Schwankungen unterworfen. Die stark ideologisch motivierten Beurteilungen der nordkoreanischen Politik in Washington waren geprägt vom Misstrauen gegenüber den drei Kim-Regierungen. Signale der Entspannung gingen meist mit Drohungen einher. Und nicht nur Nordkorea nahm es mit der Vertragstreue nicht so genau.

Was sind nun die Treffen in Singapur und Hanoi und die jetzigen diplomatischen Kontakte wert? Historisch war das Treffen in Singapur insofern, als erstmals ein US-Präsident mit einem nordkoreanischen Machthaber zusammenkam. Geschickt und überraschend zugleich hatte Kim Jong-un seine Strategie der sicherheitspolitischen Provokationen der letzten Jahre zu einer Charmeoffensive Richtung Südkorea und USA verändert und damit eine sicherheitspolitisch durchaus gefährliche Situation in Südostasien entschärft. Trumps spontane Bereitschaft zum Treffen, dann seine Absage und später die abermalige Zusage zeigen, wie unvorbereitet, ja konfus die US-Regierung in diese Gespräche ging. Das Kim-Regime wurde zweifellos international aufgewertet: Der Sieger, um es in Trump‘schen Denkmustern auszudrücken, ist Kim Jong-un.

Folgende Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen:

1. Euphorie über die Annäherung ist keinesfalls angebracht. Selbst der Abschluss detaillierter Abkommen bedeutet nicht, dass diese auch Realität werden, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Außerdem ist der Weg zu einem neuen Abkommen noch weit.

2. Nordkorea wird kaum auf sein Atomprogramm verzichten, es sei denn, Kim Jong-un wird seitens der USA glaubhaft versichert und verbindlich zugesagt, auf einen Regimewechsel zu verzichten. Indes bedeuten auch solche Zusagen der US-Regierung wenig, wie die einseitige Kündigung des Iran-Deals durch die USA zeigt. Das heißt: Die nordkoreanische Regierung wird von Trump kaum Vertragstreue erwarten.

3. Nach den Erfahrungen mit von außen forcierten Regimewechseln im Irak und in Libyen betrachtet Kim Jong-un das Atomprogramm als Lebensversicherung für sein Regime. Man muss dem Machthaber schon viel bieten, um ihn zu Zugeständnissen zu veranlassen.

4. Trotz der vertrackten Lage sollte die Chance auf Entspannung wahrgenommen werden, denn zu Verhandlungen gibt es nur zwei Alternativen: erstens, eine schlechte und nicht akzeptable, nämlich eine militärische Auseinandersetzung, möglicherweise mit Atomwaffen; zweitens, Abwarten und Nichtstun wie unter Obama. Die Konsequenz wäre der weitere Ausbau des Atomprogramms.

Hindernisse auf dem Weg zur Denuklearisierung

Es existiert eine Vielzahl Hindernisse und Konflikte, die für den Abschluss eines wirksamen und nachhaltigen Abkommens aus dem Weg geräumt oder zumindest berücksichtigt werden müssten.

  • Innergesellschaftlich hat das Atomprogramm eine große Bedeutung in Nordkorea. Es ist nicht nur ein Prestigeprojekt der Kim-Regierung. Mit Pathos und nationalem Stolz feiert die Bevölkerung die wissenschaftliche Ingenieurleistung. Das Atomprogramm hat durchaus eine soziale Funktion, die die Regierung sich zunutze macht.
  • Im Fokus der Kim-Regierung steht bei ihren Verhandlungen mit den USA nicht allein das Atomprogramm. Auch das innerkoreanische Verhältnis ist zu beachten. Eine »deutsche« Lösung für die Teilung, die einer Annexion durch Südkorea entspräche, ist für Nordkorea eine Horrorvorstellung. Deshalb sind Sicherheitsgarantien für Nordkorea unabdingbar.
  • Die Isolierung Nordkoreas, teils selbst herbeigeführt durch eine bewusste Politik der Autarkie, teils erzwungen durch die jahrzehntelangen US- und UN-Sanktionen, will die nordkoreanische Regierung unbedingt durchbrechen, nicht zuletzt, um wirtschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen.
  • Das Verhältnis zwischen den USA und Nordkorea wurde von Nordkorea schon immer mit dem Ziel gestaltet, auf Augenhöhe zu verhandeln. Daher rührt die relativ unkomplizierte Akzeptanz, mit dem »Dealmaker« aus Washington in entspannter Atmosphäre Gespräche zu führen. Endlich erhielt man die Anerkennung, die jahrzehntelang verweigert worden war.
  • Auf einer Metaebene spielt die US-chinesische Rivalität in Asien und global eine entscheidende Rolle. Nordkorea ist in seinem Außenhandel zu 95 Prozent von China abhängig und kann die chinesische Position nicht ignorieren. Gerade weil sowohl China als auch die USA nordkoreanische Atomwaffen nicht tolerieren wollen, hat Nordkorea mit seinem Arsenal ein Faustpfand für Verhandlungen in der Hand.

In dieser Situation könnte es hilfreich sein, dass eine neutrale Partei eine Moderatorenrolle übernimmt. Dazu bietet sich eigentlich die EU an, die häufig von Verantwortung für den Frieden in der Welt spricht. Brüssel äußert sich allerdings kaum zu einem Dialog mit Nordkorea oder einer Vermittlung in dieser Situation.

Vielleicht hilft ein Blick auf andere Länder, um eine Idee zu bekommen, wie es mit dem nordkoreanischen Atomprogramm weiter gehen könnte.

  • Da ist das Modell Israel: Die Existenz israelischer Nuklearwaffen wird stillschweigend hingenommen.
  • Libyen: Die Regierung Gaddafi verzichtete 2003 auf Atomwaffen, aber die zugesagte Normalisierung der internationalen Beziehungen blieb aus. Seit einer internationalen Militärintervention 2011 und dem Sturz Gaddafis herrscht Chaos im Land.
  • Indien: Das Land ist nicht Mitglied des Atomwaffensperrvertrags und kritisiert diesen Vertrag als unfair. De facto ist Indien als Nuklearmacht anerkannt.
  • Iran: Der Vertrag mit dem Iran von 2015 ist ein hervorragendes Modell. Bekanntermaßen hielten sich die USA nicht an diesen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag und kündigten ihn 2018 auf.
  • Südafrika gab sein weit fortgeschrittenes Nuklearwaffenprogramm nach dem Fall des Apartheid-Regimes 1989 auf und ließ die Überprüfung durch die Internationale Atomenergieorganisation zu.

Für Nordkorea erscheint ein Dreistufenplan erfolgversprechend. In Phase 1 sollte über das Atomprogramm und die wirtschaftliche Sicherheit des Landes verhandelt werden, also Einfrieren des Atomprogramms und graduelle Lockerung der Wirtschaftssanktionen. Phase 2 sollte der Durchführung von Vereinbarungen gewidmet sein, einschließlich Inspektionen durch die Internationale Atomenergieorganisation, vertrauensbildenden Maßnahmen, wie die Reduzierung der konventionellen Waffenarsenale, der kompletten Aufhebung der Sanktionen sowie wirtschaftlicher Hilfe in Infrastruktur und Landwirtschaft für Nordkorea. Phase 3 schließlich sollte den kompletten Abbau militärisch relevanter Nuklearkapazitäten und den Abzug der auf US-Kriegsschiffen in der Region vorhandenen Nuklearwaffen vorsehen. Gleichzeitig sollte die Grenze zwischen Nord- und Südkorea demilitarisiert werden und die Normalisierung sämtlicher politischer und wirtschaftlicher Beziehungen stattfinden. Ob der politische Wille und die Ausdauer auf beiden Seiten für eine solche Lösung reichen?

Herbert Wulf, Professor für internationale Beziehungen i. R., war Leiter des Bonn International Center for Conversion (BICC) und leitete ein Projekt der Vereinten Nationen zur Rüstungskontrolle in Nordkorea. In dieser Funktion war er mehrfach in Nordkorea tätig.

50 Jahre NVV


50 Jahre NVV

Der nukleare Nichtverbreitungsvertrag – (k)eine Erfolgsgeschichte?

von Rebecca Johnson

Der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) gilt als »Eckpfeiler« des Völkerrechts in puncto Atomwaffen. Er wurde 1968 vereinbart und trat nach der Ratifizierung durch die USA, das Vereinigte Königreich und die Sowjetunion sowie 40 weitere Staaten 1970 in Kraft. Damals gab es fünf Atomwaffenstaaten mit etwa 40.000 Atomwaffen, die meisten in den Arsenalen der Sowjetunion und der USA. Heute, fünfzig Jahre später, hat der Vertrag mit 191 Mitgliedstaaten fast universelle Gültigkeit erlangt1 und die Zahl der Atomwaffen ist unter 14.000 gesunken. Lässt sich das als Erfolgsgeschichte bezeichnen, auch wenn es jetzt neun Atomwaffenstaaten gibt? Dazu gibt es ganz unterschiedliche Einschätzungen, die bei der nächsten Überprüfungskonferenz von 27. April bis 22. Mai 2020 in New York aufeinanderprallen werden.

Als die USA, die Sowjetunion und 15 weitere Länder 1965 beschlossen, einen Vertrag auszuarbeiten, der die Verbreitung von Atomwaffen in immer mehr Länder verhindern soll, stand im Raum, dass ohne völkerrechtliche Regelung bald einige Dutzend Staaten in den Besitz von Atomwaffen gelangen könnten. Auch Deutschland schien – nur 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – Ambitionen auf ein eigenes Atomwaffenprogramm zu haben. Der Stopp dieses Trends lässt sich durchaus auf der Habenseite des NVV verbuchen, auch wenn neun Atomwaffenstaaten fast doppelt so viele sind wie 1970. Allerdings kommen faktisch fünf weitere Staaten hinzu, da im Rahmen der »nuklearen Teilhabe« US-Atomwaffen in fünf NATO-Mitgliedstaaten stationiert sind. Diese Rechtslücke ist eine von mehreren Hinterlassenschaften aus der Entstehungszeit des Vertrages, dem Kalten Krieg. Die nukleare Teilhabe wird von Russland und von Blockfreien Staaten häufig kritisiert. Die NATO argumentiert hingegen, die USA würden die Kontrolle über diese Atomwaffen nur im Kriegsfall an Piloten anderer Länder übertragen, und im Kriegsfalle verlöre der NVV ohnehin seine Gültigkeit. Dieser Zirkelschluss ist nur möglich, weil der Vertrag weder für alle Mitgliedstaaten einheitliche Regeln definiert noch den Einsatz von Atomwaffen untersagt, wie das im Humanitären Völkerrecht sonst üblich ist.

Stärken und Schwächen des Nichtverbreitungsvertrags

Der NVV umfasst nur elf Artikel und regelt im Wesentlichen drei Bereiche:

  • Die damals fünf Atomwaffenstaaten (China, Frankreich, Sowjetunion [Russland], Vereinigtes Königreich und Vereinigte Staaten) werden als solche akzeptiert (Artikel IX-3), dürfen ihre Atomwaffen aber nicht weitergeben (Artikel I); die Nicht-Atomwaffenstaaten verzichten auf die Annahme und den Besitz von Atomwaffen (Artikel II).
  • Allen Mitgliedstaaten wird das „unveräußerliche Recht“ auf „die Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke“ zugestanden (Artikel IV), obwohl schon damals absehbar war, dass die zivile und die militärische Nutzung von Kernenergie nicht sauber voneinander zu trennen sind. Im Gegenzug verpflichten sich die Nichtatomwaffenstaaten, Sicherungsmaßnahmen nach Maßstäben der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) zuzulassen, „damit verhindert wird, dass Kernenergie von der friedlichen Nutzung abgezweigt und für Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper verwendet wird“ (Artikel III). Die Befugnisse der IAEO sind im Wesentlichen auf die Überwachung der waffentauglichen Spaltmaterialien begrenzt.
  • Alle Mitgliedstaaten verpflichten sich, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung (Artikel VI).

Nicht verboten wird den Atomwaffenstaaten (im Folgenden NVV5) der Besitz, die Herstellung oder der Einsatz von Atomwaffen, obwohl in der Präambel betont wird, der Vertrag habe die „Abwendung der Gefahr eines [nuklearen] Krieges“ zum Ziel.

Was heißt das in Bezug auf Sicherheit?

Im vergangenen Jahrzehnt zeigten Klima­forscher auf, dass der Einsatz von 100 Atomwaffen von der Größe der Hiroshima-Bombe außer zu immenser Zerstörung, menschlichem Leid und radioaktiver Verseuchung der Umwelt auch zu einem nuklearen Winter und einer weit verbreiteten Hungersnot führen würde (siehe dazu den Text von Jürgen Scheffran auf S. 13). Der NVV konnte die elementaren Ziele – Sicherheit, Nichtverbreitung und Abrüstung – nur bedingt erreichen, da er den NVV5 einen Sonderstatus zuschreibt; diese räumen Atomwaffen in ihrer jeweiligen Sicherheitspolitik nach wie vor einen hohen Stellenwert ein. Solange die NVV5 Tausende Atomwaffen unterhalten und neue, leistungsfähigere Sprengköpfe und Trägersysteme bauen, untergraben sie die Rolle und die Glaubwürdigkeit des NVV als Nichtverbreitungs- und Abrüstungsvertrag.

Das ist dennoch kein Grund, den NVV abzuschreiben, sondern sollte Anlass sein, ihn zu stärken. Trotz der genannten Schwächen, die sich aus seiner Entstehungsgeschichte, seiner strukturellen Widersprüche und den gegensätzlichen politischen Zielsetzungen seiner Mitgliedstaaten ergeben, leistet der Vertrag einen wesentlichen Beitrag zur internationalen Sicherheit: Er ist Eckpfeiler eines viel umfassenderen Nichtverbreitungsregimes, das ein ganzes Bündel von Abkommen, Rechtsinstrumenten und Institutionen einschließt und flexibel genug ist, um auf sich wandelnde geopolitische Verhältnisse und Bedürfnisse zu reagieren. Genauso wichtig ist die unbestrittene Tatsache, dass die überwältigende Anzahl von Mitgliederstaaten den Vertrag fraglos einhält und keine Atomwaffen anstrebt.

Die in der Präambel des NVV formu­lierten Ziele waren u.a. Grundlage für den »Vertrag über das umfassende Verbot von Atomtests« (im Folgenden »Test­stoppabkommen«) von 1996 und den »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« (im Folgenden »Verbotsvertrag«) von 2017. Beide Verträge sind von höchster Bedeutung, aber umstritten.

Eine Handvoll Staaten, die Atomwaffen besitzen oder bauen können, weigern sich, das Teststoppabkommen zu ratifizieren, weshalb seine Rechtskraft vorläufig eingeschränkt bleibt. Dabei hat die Implementierungsorganisation in Wien bereits ein eindrucksvolles Überwachungssystem aufgebaut, das auch weitergehenden humanitären und Sicherheitsbelangen gerecht wird (z.B. Detek­tion von Erdbeben oder Atomkraftwerksunfällen) und nach Inkraft­treten des Verbotsvertrags eine noch weitergehende Rolle bei der Abrüstung und Verifikation spielen kann.

Der Verbotsvertrag, der alle Aktivitäten im Zusammenhang mit Erwerb, Einsatz, Besitz und Herstellung von Atomwaffen verbietet und ihre vollständige Beseitigung vorschreibt, wurde so formuliert, dass er die meisten, wenn nicht alle wesentlichen Lücken des NVV schließt. Bei den Verhandlungen wurden aus den bisherigen Verträgen, einschließlich dem NVV und dem Teststoppabkommen, Lehren gezogen: Der neue Vertrag wurde als Übereinkommen im Rahmen des Humanitären Völkerrechts konzipiert. Er umfasst klare, universell gültige Verbote und Gebote sowie anpassungsfähige Regeln, auf die noch auszuhandelnde Regularien zur Umsetzung, Durchsetzung und Verifikation aufsetzen können. Für das Inkrafttreten müssen 50 Staaten dem Vertrag beitreten; Zweidrittel der nötigen Ratifizierungsurkunden wurden bereits hinterlegt.

Die Atomwaffenstaaten und praktisch alle NATO-Verbündeten hatten die Vertragsverhandlungen boykottiert, meist mit dem Argument, ein Verbotsvertrag würde den NVV untergraben. Dieser Vorwurf zieht aber nicht, da der Verbotsvertrag ausdrücklich auf die „entscheidende Rolle“ des NVV „bei der Förderung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ verweist.

Versagen im Nahen und Mittleren Osten

Der NVV sieht ausdrücklich vor, dass sich Staaten zu atomwaffenfreien Zonen zusammenschließen können; auch das trug zu seinem Erfolg bei. Inzwischen erstrecken sich atomwaffenfreie Zonen über die gesamte südliche und beträchtliche Teile der nördlichen Hemisphäre.

Im Kontext des NVV bereitet der Nahe und Mittlere Osten die größten Sorgen. Bei der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz des NVV im Jahr 19952 wurde erst dann ein Konsens über die unbefristete Verlängerung erzielt, als alle Mitgliedstaaten u.a. einer Resolution zustimmten, die zur Schaffung einer »Zone frei von Atomwaffen und sonstigen Massenvernichtungswaffen im Nahen und Mittleren Osten« aufrief. Dieses Thema war seither alle fünf Jahre bei den Überprüfungskonferenzen von zentraler Bedeutung; aufgrund fehlender Fortschritte in diesem Bereich scheiterten die Konferenzen 2005 und 2015. Das kann auch bei der Überprüfungskonferenz 2020 passieren.

Der Nahe und Mittlere Osten ist von Kriegen sowie von politischen und Sicherheitsproblemen geplagt; dazu gehören u.a. der Besitz von Atomwaffen durch Israel und der Einsatz von Chemiewaffen durch andere Länder der Region. Diese Gemengelage lässt sich nicht einfach auflösen. Solange es aber keine Fortschritte dabei gibt, diese Re­gion von allen Atomwaffen zu befreien, bleibt die Glaubwürdigkeit des gesamten Nichtverbreitungsregimes beeinträchtigt. Nicht hilfreich sind in dieser Situation die konkurrierenden militärisch-industriellen Interessen anderer Staaten, insbesondere der USA und Russlands, im Nahen und Mittleren Osten. Dies macht sich bei den Überprüfungskonferenzen des NVV ebenso wie in anderen Zusammenhängen bemerkbar.

Positiv wirkt sich im Nahen und Mittleren Osten aus, dass das Nichtverbreitungsregime inzwischen um etliche Abkommen zur Sicherung von Nuklearmaterialien und zum Handel mit kerntechnischen Gütern ergänzt wurde. Resolution 1540 des UN-Sicherheitsrates von 2004 weitet den Wirkungsbereich von (nationalen) Nichtverbreitungsgesetzen und -institutionen auf Aktivitäten nichtstaatlicher Akteure aus. Anfangs war dieser Ansatz umstritten, nun wurde beim UN-Sicherheitsrat aber das »1540-Komitee« eingerichtet, das sich gezielt mit der Umsetzung dieser Resolution befasst.

Das 2015 von Iran, den Vereinigten Staaten, China, Russland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Deutschland und der Europäischen Union vereinbarte »Iranabkommen« wurde zu Recht als erhebliche Schärfung des Nichtverbreitungsregimes begrüßt. Seither ist viel passiert: Präsident Trump ordnete den Rückzug der USA von dem Abkommen an; die iranische Regierung entschied daraufhin, das Urananreicherungsprogramm wieder zu intensivieren und andere Beschränkungen des Nuklearabkommens nicht länger einzuhalten; der iranische General Soleimani wurde von einer US-Drohne ermordet, was zu einer militärisch-politischen Krise führte. Welche Gefahr solche Konfliktsituationen bergen, wurde nur allzu deutlich, als die iranischen Revolutionsgarden in der Nähe des Teheraner Flughafens versehentlich ein ukrainisches Passagierflugzeug abschossen und den Tod von 176 Zivilist*innen verursachten. Das Thema Iran wird im April und Mai in New York ein zentraler Streitpunkt sein.

Die Überprüfungskonferenz 2020 in New York

Der Wert eines Vertrags misst sich an seiner politischen Relevanz, normativen Wirksamkeit und Vertragstreue. Der NVV schneidet relativ gut ab in puncto politischem und normativem Wert. Die mangelnden Abrüstungsbemühungen und die proliferationsträchtigen Aktivitäten der Atomwaffenstaaten werden aber regelmäßig kleingeredet.

Wenn sich Ende April 2020 im UN-Hauptquartier in New York die Vertreter*innen der 191 NVV-Mitgliedstaaten treffen, müssen sie die negativen wie die positiven Entwicklungen unter die Lupe nehmen. Ganz oben auf der Tagesordnung werden die Abrüstungsverpflichtungen stehen, die sich aus Artikel VI des Vertrags ergeben. Die atomwaffenfreien Staaten und zivilgesellschaftlichen Organisationen wiesen im letzten Jahrzehnt verstärkt auf die Auswirkungen von Atomwaffen und die humanitären Folgen eines Einsatzes sowie auf die Gefahr von Missverständnissen, Unfällen und Fehleinschätzungen hin (zu diesem Punkt siehe den Text von Karl Hans Bläsius auf S. 10 dieser W&F-Ausgabe) und untermauerten damit ihre Argumente gegen Atomwaffen.

Es reicht nicht aus, wenn die Diplomat*innen Erfolg oder Misserfolg der Überprüfungskonferenz 2020 daran messen, ob sie einen Konsens über ein Abschlussdokument erzielen können. Die Geschichte des NVV zeigt paradoxerweise, dass ein »erfolgreicher« Konferenzabschluss nicht automatisch echte Fortschritte bei der Abrüstung und der Nichtverbreitung in der Welt außerhalb des Konferenzsaals mit sich bringt.

  • Die Verlängerung des Vertrags auf unbegrenzte Zeit im Jahr 1995 schwächte das Vertragsregime eher, da die NVV5 den Eindruck bekamen, sie könnten ihre Atomwaffenarsenale auf unbegrenzte Zeit aufrecht erhalten.
  • Die eindrucksvolle Liste von »13 Schritten« zur Abrüstung und Nichtverbreitung, die am Ende der Konferenz 2000 stand, war von vielen Staaten ernsthaft gewollt. Dann aber verwarfen zunächst die USA und in ihrer Folge die anderen NVV5-Staaten diese hart erkämpften Abrüstungsschritte, und die Konferenz 2005 scheiterte grandios.
  • 2010 gab es eine Einigung auf deutlich schwächere »Aktionspunkte«, die vor allem von den NVV5 gleich wieder miss­achtet oder untergraben wurden. Der wichtigste »Erfolg« von 2010 war die Zusage, in Kürze eine Regionalkonferenz über eine »Zone frei von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen im Nahen und Mittleren Osten« abzuhalten. Die Konferenz kam nicht zustande, was zum Scheitern der Überprüfungskonferenz 2015 beitrug.

Je nach politischen Vorgaben der einzelnen Staaten an ihre Diplomat*innen werden die Diskussionen bei der Überprüfungskonferenz 2020 von Belang sein – oder belanglos. Ein positives Signal wäre es, die weiterführenden Schritte von 2000 und 2010 mit Nachdruck wieder aufzugreifen. Einige weitere Faktoren könnten tatsächlich zu einer rascheren Abrüstung beitragen und den vermeintlichen Wert und Status von Atomwaffen verringern:

  • das Inkrafttreten des Verbotsvertrages sowie des Teststoppabkommens,
  • konkrete Maßnahmen zur Verhinderung eines Atomwaffeneinsatzes sowie
  • ein Ende der Aktivitäten, die die Demontage von Abrüstungsverträgen und -verpflichtungen bewirken.

Das funktioniert aber nur, wenn die Schritte von allen Parteien, einschließlich der NVV5, ernst genommen und in reale Politik überführt werden.

Anmerkungen

1) Nicht Vertragsmitglied sind die faktischen Atomwaffenstaaten Indien, Israel, Nordkorea und Pakistan. Ebenfalls noch nicht beigetreten ist der neu geschaffene und jeglicher Atomwaffenaktivitäten unverdächtige Staat Südsudan. Die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete den Vertrag kurz nach Amtsantritt von Bundeskanzler Willy Brandt am 28.11.1969. Die Ratifizierung erfolgt wenige Tage vor der ersten Überprüfungskonferenz am 2. Mai 1975. [die Übersetzerin]

2) Der NVV war ursprünglich auf 25 Jahre befristet (Artikel X). [die Übersetzerin]

Dr. Rebecca Johnson ist feministische Friedensaktivistin, Mitbegründerin der International Campaign to Abolish ­Nuclear Weapons (ICAN), Sprecherin der Green Party von England und Wales für Sicherheit, Frieden und Verteidigung und Gründungsdirektorin des Acronym Institute (acronym.org.uk).

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Transit und Verbot


Transit und Verbot

Stärkung der nuklearwaffenfreien Zonen

von Yannick Laßhof

Nuklearwaffenfreie Zonen entstehen durch multilaterale, regionale Abkommen, die Atomwaffen und deren Einsatz innerhalb gewisser Gebiete verbieten. Der Transit von Atomwaffen stellt jedoch eine Lücke in den entsprechenden Abkommen dar, da die einzelnen Staaten jeweils selbst über ein Verbot des Transits von Atomwaffen durch ihr Hoheitsgebiet entscheiden. Der Autor stellt die These auf, dass der neue »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« diese Problematik entschärft und die nuklearwaffenfreien Zonen völkerrechtlich konkretisiert, indem er einen einheitlichen Umgang mit Transitfragen vorgibt. W&F stellt diese Überlegungen zur Diskussion.

Die politische und wissenschaftliche Debatte über den am 7. Juli 2017 von 122 Staaten vereinbarten »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« fokussiert meist auf dessen Auswirkungen auf das Nichtverbreitungsregime, insbesondere auf den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag von 1968. Dabei werden potenziell positive Effekte des Verbotsvertrags auf andere nukleare Rüstungskontrollabkommen oft ignoriert. Kann der neue Atomwaffenverbotsvertrag die Wirksamkeit bestehender Abkommen verstärken und verdichten, indem er eine gemeinsame Handlungsdirektive vorgibt? Anhand der Verträge über nuklearwaffenfreie Zonen (NWFZ) werden im Folgenden zwei Ansätze aufgezeigt, wie der Verbotsvertrag eine diesen immanente Schwachstelle durch völkerrechtliche Argumentation schließen könnte.

NWFZ sind multilaterale Vertragswerke, die Atomwaffen in bestimmten Gebieten delegitimieren und von den im Nichtverbreitungsvertrag anerkannten Atomwaffenstaaten1 durch die Unterzeichnung von Zusatzprotokollen anerkannt werden können. Die Entscheidung über den Transit von Atomwaffen durch eigenes Hoheitsgebiet ist jedoch den einzelnen Vertragsparteien der NWFZ überlassen, was den Atomwaffenstaaten eine Möglichkeit bietet, das normative Regime zu destabilisieren.

Nuklearwaffenfreie Zonen als Prohibitionsregime

Seit der Unterzeichnung des Antarktisvertrages 1959, der die Nutzung der Antarktis ausschließlich friedlichen Zwecken vorbehält und jegliche Stationierung und Nutzung von Waffen sowie Atom­explosionen in diesem Gebiet untersagt (Art. I und V), wurde das Konzept einer nuklearwaffenfreien Zone auf mehreren Kontinenten aufgegriffen, adaptiert und implementiert. Der Nichtverbreitungsvertrag räumt seinen Mitgliedsstaaten ausdrücklich das Recht ein, „regionale Verträge zu schließen, um sicherzustellen, dass ihre Hoheitsgebiete völlig frei von Kernwaffen sind“ (Art. VII). Von diesem Recht wurde bereits ausgiebig Gebrauch gemacht: 56 % der Erdoberfläche und ca. 60 % der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen liegen in einer NWFZ (inklusive unilateraler Erklärungen, wie der »Einstaatenzone« in der Mongolei).2 Die Abkommen von Tlatelolco (Süd- und Lateinamerika sowie Karibik, 1967), Rarotonga (Südpazifik, 1985), Bangkok (Südostasien, 1995), Pelindaba (Afrika, 1996) und Semipalatinsk (Zentralasien, 2006) haben einen umfassenderen Anspruch als der Nichtverbreitungsvertrag oder beispielsweise der Zwei-plus-Vier-Vertrag (1990), die die Stationierung von Atomwaffen der Atommächte in Nicht-Atomwaffenstaaten nicht ausdrücklich verbieten.

So legen die NWFZ nicht nur den Verzicht ihrer Mitgliedsstaaten auf Atomwaffen fest, sondern untersagen auch die Stationierung von Atomwaffen Dritter auf ihren Territorien; einige decken dabei sogar Besitzungen oder Überseegebiete der Atomwaffenstaaten territorial ab. Sie bieten somit eine, wenn auch räumlich eingeschränkte, Möglichkeit zur Stärkung des Nichtverbreitungsregimes, indem sie seine Mängel korrigieren, seine Vorschriften übertreffen und die Struktur seiner Argumentation stärken (Müller et al. 2016, S. 7; UN Res. 3472B, II.). 1975 formulierte die Generalversammlung der Vereinten Nationen zum Schutz dieser nuklearwaffenfreien Zonen die Resolution 3472, in der es zur obersten Schuldigkeit der Atommächte erklärt wurde, die vollständige Abwesenheit von Atomwaffen in NWFZ zu respektieren und gegenüber sämtlichen Mitgliedsstaaten einer NWFZ negative Sicherheitsgarantien3 abzugeben (UN Res. 3472B, II.). Um die Atomwaffenstaaten völkerrechtlich in die NWFZ-Verträge einzubinden, werden die Verträge durch verschiedene Zusatzprotokolle ergänzt, die ihnen zur Signatur und Ratifizierung offenstehen.

Die nuklearwaffenfreien Zonen stellen also, zumindest auf der Südhalbkugel, eine wichtige Stütze des Nichtverbreitungsregimes dar, indem sie negative Sicherheitsgarantien seitens der Atomwaffenstaaten sowie deren Verzicht auf Stationierung und Weitergabe der Waffen einfordern. Weiter erklären die Atomwaffenstaaten über die Präambeln mancher Zusatzprotokolle – wenngleich wie im Nichtverbreitungsvertrag ohne Konkretisierung – ihre Absicht zur vollständigen nuklearen Abrüstung. Dennoch leisten die Atomwaffenstaaten einen wichtigen Beitrag zur normativen Delegitimierung ihrer eigenen Atomwaffen innerhalb der von den NWFZ abgedeckten Territorien, indem Sie die jeweiligen Zusatzprotokolle unterzeichnen und einhalten. Das Konzept der nuklearwaffenfreien Zonen ermöglicht es so gesehen, sich dem in Art. VI des Nichtverbreitungsvertrags festgeschrieben Ziel der vollständigen nuklearen Abrüstung schrittweise anzunähern, indem Atomwaffen regional schrittweise verboten werden (Borrie et al. 2016, S. 16). Das in den NWFZ-Verträgen manifestierte Verbot von Tests, Herstellung, Überlassung, Einsatz, Stationierung und Lagerung von Atomwaffen ist ein deutlicher Hinweis in Richtung der Atomwaffenstaaten, dass ihre nuklearen Arsenale in den jeweiligen Territorien als illegitim angesehen werden.

Zwar mag diese holistische Delegitimierung und Verurteilung von Atomwaffen eine wichtige Stütze des Verbotsregimes sein; um die nuklearwaffenfreien Zonen allerdings tatsächlich frei von Atomwaffen zu halten, ist es außerdem nötig, den Transit dieser Waffen zu adressieren.

Das Problem des Atomwaffentransits

Die meisten Verträge über nuklearwaffenfreie Zonen – der erste zustande gekommene Vertrag (Tlatelolco) berührt das Thema sogar überhaupt nicht – adressieren nicht den einheitlichen Umgang mit dem Problem des Transits von Kernwaffen durch die jeweiligen Territorien, geschweige denn diesbezüglich rechtlich bindende Instrumente. Unter Transit wird allgemein der Transport von Gegenständen oder Personen von einem externen Startpunkt durch staatliches Hoheitsgebiet zu Lande, Wasser oder in der Luft verstanden, bei dem das betreffende Gebiet lediglich durchquert werden muss, um das vorgesehene externe Ziel zu erreichen (Borrie et al. 2016, S. 31). Allerdings findet sich in den NWFZ-Verträgen nicht einmal eine einheitliche rechtlich bindende Definition von »Transit«.

Noch schwerwiegender erweisen sich die politischen Realitäten: Die Kommissionen zweier Studien über die Schaffung von NWFZ4 kamen zum Schluss, „dass die Entscheidung über den Transit durch die Zone den einzelnen Staaten überlassen werden sollte, vermutlich da davon ausgegangen wurde, ein striktes Verbot von nuklear angetriebenen oder bewaffneten Schiffen oder U-Booten würde nicht akzeptiert und somit dem Zustandekommen der Zonen im Wege stehen“ (Müller et al. 2016, S. 8). Entsprechend haben vier der fünf Verträge der realpolitischen Problematik Rechnung getragen und auf die vorgeschlagene Lösung zurückgegriffen: Sie überlassen die Genehmigung oder Ablehnung des Transits von Atomwaffen durch die jeweiligen Hoheitsgebiete der nationalen Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten.5 Anstatt also eine gemeinsame, verbindliche Lösung dieser Problematik festzuschreiben, verlassen sich die Verträge auf den guten Willen und die Disziplin ihrer Mitgliedsstaaten.

Das wirft das nächste Problem auf: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Atomwaffenstaat einen NWFZ-Mitgliedsstaat durch Zwang oder Bevorteilung dazu drängt, einem Transit von Atomwaffen zuzustimmen. Einzelne Mitgliedsstaaten von nuklearwaffenfreien Zonen können also von einzelnen Atommächten mangels rechtlich bindender Vorgaben genötigt werden, ihr eigenes Delegitimierungsregime auszuhebeln, was bei Publikwerden eine Schwächung des Regimes und damit der gesamten Zone bedeuten könnte.

Individuelle Problematik und gemeinschaftliche Lösungen des Transitproblems

Die geschilderte Lücke der NWFZ-Verträge ließe sich durch individuelle Deklarationen der Mitgliedsstaaten schließen, was in einigen Fällen auch erfolgte. So erklärte die Regierung unter Premierminister David Lange Neuseeland, das Vertragspartei des Rarotonga-Vertrages ist, 1987 zur vollständig »nuklearfreien Zone«6 und verbot nuklear angetriebene und/oder bewaffnete Schiffe und U-Boote innerhalb der neuseeländischen 12-Meilen-Zone. Da entsprechende Seefahrzeuge der US Navy aufgrund des Gesetzes keine neuseeländischen Häfen mehr anlaufen dürfen, erklärten die Vereinigten Staaten gegenüber Neuseeland die Aufhebung ihrer Beistandsverpflichtungen aus dem gemeinsamen Verteidigungsbündnis ANZUS. Das neuseeländische Parlament lehnte 1990 jedoch eine Ergänzung des Gesetzes ab, die Sperrzone auf die exklusive Handelszone (200 Seemeilen rund um Neuseeland) auszuweiten, da Zweifel an der Überprüfbarkeit bestanden.

Doch auch ein solcher individueller Lösungsansatz lässt den ihn anwendenden Staat ohne rechtliche Absicherung in alleiniger Verantwortung zurück und hält den Atomwaffenstaaten weiterhin Ansatzpunkte für politischen Druck offen. Der neue Atomwaffenverbotsvertrag hat nun das Potential, den Mitgliedstaaten der NWFZ hinsichtlich der Transitproblematik den Rücken zu stärken, indem er die Entscheidungsverantwortung über den Transit von Atomwaffen weg von der individuellen Souveränität in einen größeren Kontext rückt. Die Möglichkeit liegt freilich in der Interpretation seiner Artikel bezüglich des Transits von Atomwaffen.

In Artikel 5 des Verbotsvertrags, der die staatliche Umsetzung des Vertrages behandelt, verpflichtet Absatz 2 die Mitgliedsstaaten dazu, „jede Tätigkeit von Personen oder in Gebieten unter seiner Hoheitsgewalt oder Kontrolle, die einem Vertragsstaat aufgrund dieses Vertrags verboten ist, zu verhüten und zu unterbinden“. Um diese Verpflichtung zu konkretisieren, bedarf es der Interpretation zweier Absätze in Artikel 1 des Vertrages.

  • Art. 1.1[d] verbietet den Vertragsparteien, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper einzusetzen oder ihren Einsatz anzudrohen“. Atomwaffenstaaten argumentieren immer wieder mit dem Abschreckungspotential, um den Erhalt ihrer nuklearen Arsenale zu rechtfertigen. Die immanente Drohung mit einem nuklearen (Gegen-) Schlag ist Kern jeder nuklearen Abschreckungsstrategie. Die ständige Einsatzbereitschaft von Atomwaffen, beispielsweise auf Kriegsschiffen, ist Teil dieses Drohpotentials. Vor diesem Hintergrund kann der Transit von Atomwaffen durch das Territorium eines NWFZ-Mitgliedsstaates implizit als Akt der Androhung eines Atomwaffeneinsatzes interpretiert werden. Mitgliedstaaten, die dies nicht verhindern, würden nach dieser Lesart gegen ihre im Verbotsvertrag festgeschriebenen Verpflichtungen verstoßen.
  • Eine weitere Möglichkeit, den Verbotsvertrag in diesem Zusammenhang zur Stärkung der Mitgliedstaaten einer NWFZ auszulegen, bietet Art. 1.1[e]. Er verbietet den Vertragsparteien, „irgendjemanden in irgendeiner Weise zu unterstützen, zu ermutigen oder zu veranlassen, Tätigkeiten vorzunehmen, die einem Vertragsstaat aufgrund dieses Vertrags verboten sind“. Somit kann die Gewährung eines Transits von Kernwaffen durch das Territorium einer oder mehrerer NWFZ-Parteien als verbotene Unterstützung der gemäß Art 1.1[d] untersagten Androhung eines Kernwaffeneinsatzes interpretiert werden und verstößt damit gegen die Verpflichtungen aus dem Verbotsvertrag. Es ist also denkbar, aus den Beihilfeverboten im Verbotsvertrag eine stabilere Grundlage für das Verbot des Transits abzuleiten, auch wenn nicht die Vertragsparteien selbst mit dem Einsatz von Kernwaffen drohen.

Fazit

Der Verbotsvertrag löst zwar das Problem des Transits durch nuklearwaffenfreie Zonen nicht direkt, hat aber doch das Potential, den Vertragsparteien der NWFZ den Rücken gegen Atomwaffenstaaten zu stärken, da er ihnen eine neue Argumentationsgrundlage bietet. Der hier dargelegten Interpretation zufolge geben die Vertragsparteien mit der Ratifizierung des Verbotsvertrags die Entscheidung über die Genehmigung eines Transits von Atomwaffen durch ihr Territorium aus der Einzelverantwortung ihrer Souveränität an das Beihilfeverbot des Verbotsvertrags ab. Dadurch bieten einzelne Staaten der NWFZ geringere Angriffsfläche für die Atomwaffenstaaten, ihnen Transitrechte für ihre Kernwaffen abzunötigen. Nicht die einzelnen Staaten haben darüber individuell zu entscheiden; aufgrund ihrer Ratifizierung des Verbotsvertrags ist die Entscheidung bereits getroffen.

Natürlich ist das keine Garantie für die erfolgreiche Verhinderung jeglicher Transitbegehren von Kernwaffen durch NWFZ. Allerdings ließen sich mögliche Einbußen im Delegitimationsregime der NWFZ vermeiden, die durch von einzelnen Parteien abverlangten Transitgenehmigungen verursacht werden können. Der neue Verbotsvertrag kann auf diese Weise helfen, die tatsächliche Atomwaffenfreiheit der NWFZ und dadurch ihre Delegitimierungswirkung gegen Atomwaffen zu stärken. Aktuell könnten 44 Mitgliedsstaaten nuklearwaffenfreier Zonen sich in ihrer Argumentation gegenüber den Atomwaffenstaaten auf diese Lesart berufen, da sie den Verbotsvertrag bereits unterzeichnet, vier von Ihnen sogar ratifiziert haben.7 Die effektive Umsetzung eines Transitverbots ist ebenso wie statistische Aussagen über die Häufigkeit von Transits de facto schwierig, der Blick auf die neuseeländische »Nuklearfreie Zone« zeigt jedoch eine Möglichkeit auf, die Problematik gezielt anzugehen.8

Angesichts der Brisanz des Themas ist es durchaus geboten, eventuelle negative Potentiale des neuen Verbotsvertrags auf andere Verträge zu eruieren. Andererseits gibt es in vielen internationalen Abkommen und Verträgen zur nuklearen Abrüstung Schlupflöcher und Lücken, die zu einer Überprüfung hinsichtlich positiver Wirkungspotentiale des Verbotsvertrags einladen – der Transit in NWFZ ist nur ein Beispiel. Es gilt, weitere Lösungspotentiale des Verbotsvertrags abseits der Offensichtlichen auszumachen, indem Lücken in Vertragswerken identifiziert und dargelegt werden und der Vertrag auf ihm immanente Mechanismen zu ihrer Lösung abgetastet wird.

Anmerkungen

1) VR China, Frankreich, Großbritannien, Russische Föderation und USA. Nur diese sind in diesem Text gemeint, wenn von »Atomwaffenstaaten« die Rede ist.

2) UN-Res. 2625 (XXV), annex.

3) Garantie, Atomwaffen nicht einzusetzen und auch nicht damit zu drohen.

4) Comprehensive Study of the Question of Nuclear-Weapon-Free Zones in All its Aspects – Special Report of the Conferenceof the Committee of Disarmament, 8 October 1975 (A/10027/Add.1).
United Nations General Assembly Supplement no. 42 (A/54/42), Report of the Disarmament Commission, 6 May 1999.

5) Rarotonga Treaty, Art. 5.2; Bangkok Treaty, Art. 3.6 und Art. 7; Pelindaba Treaty, Art. 4.2; Semipalatinsk Treaty, Art. 4. In: United Nations (2015): Disarmament and related treaties. New York.

6) New Zealand Nuclear-Free Zone, Disarmament and Arms Control Act 1987.

7) icanw.org: About the Treaty. Stand der Zahlen: 12.05.2018.

8) Siehe u.a.: Unfold Zero (2017): The ban treaty, transit and national implementation – Drawing on the Aotearoa-New Zealand experience.

Literatur

Borrie, J. et al. (2016): A Prohibition on Nu­­clear Weapons – A guide to the issues. Oslo/Geneva: International Law and Policy Institute and United Nations Institute for Disarmament Research.

Müller, H. et al. (2016): A nuclear weapon-free zone in Europe: concept – problems – chances. Frankfurt: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Working Papers No. 27.

Yannick Laßhof, Kfm. für Marketingkommunikation, studiert Politikwissenschaften an der Technischen Universität Darmstadt und ist u.a. wissenschaftliche Hilfskraft zum Thema »Technikinduzierte Friedens- und Konfliktforschung«.

Die NVV-Konferenz 2010

Die NVV-Konferenz 2010

Von der Nichtverbreitung zur Abschaffung von Kernwaffen

von Rebecca Johnson

Alle fünf Jahre wird auf einer Konferenz überprüft, wie gut die Staatengemeinschaft bei der Umsetzung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) bisher vorangekommen ist. Nach einer allgemeinen Bestandsaufnahme versuchen die DiplomatInnen in mehreren Ausschüssen, sich auf zukunftsorientierte Schritte zur Umsetzung der Kernelemente des 1968 geschlossenen Vertrages, nämlich die Nichtverbreitung einerseits und die Abrüstung andererseits, zu einigen. Die Ergebnisse werden in einem Abschlussdokument fixiert, dem alle Vertragsstaaten im Konsens zustimmen müssen. Aus diesem Verfahren resultiert, wenn überhaupt, ein Minimalkompromiss, was der Umsetzung des NVV nicht unbedingt dienlich ist.

Als der Präsident der NVV-Überprüfungskonferenz 2010,1 der philippinische Botschafter Libran Cabactulan, am 28. Mai den Hammer nieder sausen ließ und so den Konsens über ein Abschlussdokument2 besiegelte, herrschte einen Moment lang ungläubige Stille. Dann brandete erleichterter Applaus durch den Saal der UN-Generalversammlung.

Zur diesjährigen NVV-Überprüfungskonferenz waren von den insgesamt 190 Vertragsstaaten Delegationen aus 172 Ländern in das UNO-Hauptquartier gekommen. Vier Wochen lang beschäftigten sie sich mit Stellungnahmen, Vorschlägen, Diskussionen, öffentlichen und nicht-öffentlichen Verhandlungen, politischen Strategiedebatten, diplomatischem Taktieren und stundenlangem Warten. Kritisch beobachtet wurden sie dabei von weit über 1.000 VertreterInnen der 121 akkreditierten Nichtregierungsorganisationen. Am letzten Tag der Konferenz war die Zeit zur Konsensfindung zunehmend knapp. Jetzt aber applaudierten die DiplomatInnen sich selbst und gratulierten Cabactulan dafür, dass er sie erfolgreich durch die Konferenz gesteuert hatte. Sie hatten allen Grund zur Freude, war ein positiver Konferenzausgang doch keineswegs garantiert.

Gute Ausgangsbasis in New York

Die Überprüfungskonferenz 2005 war kläglich gescheitert, und die Schuld wurde vor allem der vergifteten politischen Atmosphäre und den strategischen Manövern von Ägypten, Iran und den Vereinigten Staaten zugewiesen. Dieses Jahr war die Ausgangsbasis anders: Die US-Regierung unter Präsident Barack Obama wollte ihre Glaubwürdigkeit in punkto Nichtverbreitung wieder herstellen, und Ägypten musste beweisen, dass es die 116 Staaten der blockfreien Bewegung effektiv führen kann. Dazu brauchten beide Staaten ein Verhandlungsergebnis, das sie als Erfolg verkaufen konnten, wenn auch nicht um jeden Preis.

Kompromissloser war die iranische Position. Präsident Mahmud Ahmadinedschad war für den iranischen Beitrag zur Generaldebatte am ersten Tag persönlich angereist. Außerdem hatte die iranische Delegation Anweisung, jegliche Kritik an der unzureichenden Erfüllung des Vertrags abzuwehren und die Aufmerksamkeit statt dessen auf die Kernwaffenstaaten zu lenken, denen sie vorwarf, ihre Kernwaffenarsenale nicht wie vereinbart abzurüsten. Da ein positives Verhandlungsergebnis – vor allem in Bezug auf den Nahen Osten – auf der Kippe stand, kam Teheran unter erheblichen Druck, seine Störmanöver aufzugeben. Höchstrangige Politiker und Diplomaten wie der ägyptische Präsident Mubarak und der russische Außenminister Lawrow kontaktierten die iranische Führung, um sie zur Akzeptanz eines Konsenspapiers zu überreden. Schließlich gab Iran seine Blockadehaltung auf und ermöglichte es der Staatengemeinschaft, die Konferenz zum »Erfolg« zu erklären, auch wenn sich der iranische Delegationsleiter in seiner Abschlusserklärung kräftige Kritik am Abschlussdokument nicht verkneifen konnte.

Das Abschlussdokument von 2010 ist wichtig, weil die„Schlussfolgerungen und Empfehlungen für weitere Aktionen“ 64 Aktionen für nukleare Abrüstung, Nichtverbreitung, nicht-militärische Nutzung der Kernenergie und den Nahen Osten auflisten.

Im ersten Teil hält der Text die wichtigsten Themen und Probleme fest, die auf der Überprüfungskonferenz angesprochen wurden, und spart auch Kritik an den Kernwaffenstaaten und Nordkorea nicht aus. Der Text dokumentiert überdies zahlreiche Vorschläge, die keinen Eingang in den Aktionsplan fanden, darunter Ideen zur Stärkung der Vertragseinhaltung und -implementierung sowie zum resoluteren Umgang mit Staaten, die aus dem Vertrag aussteigen wollen, um Kernwaffen zu entwickeln, wie das Nordkorea im Jahr 2003 tat. Die Zeit war zu kurz, um Konsens über diesen Teil des Abschlussdokuments herzustellen, daher wurde er von der Staatengemeinschaft lediglich zur Kenntnis genommen und „in die Verantwortung des Vorsitzes“ gestellt. Dennoch ist er sehr wichtig, da er einen aktuellen Überblick über die vorherrschenden Probleme und Sichtweisen gibt.

Vereinbarungen zum Nahen Osten

Das Thema, das den Fortgang der Konferenz am meisten bestimmte, war der Vorschlag von Ägypten und der Arabischen Liga, im Jahr 2012 eine Regionalkonferenz abzuhalten, um Fortschritte bei der Umsetzung der Nahost-Resolution der Überprüfungskonferenz 1995 zu erzielen. Die Resolution von 1995 ruft zur Einrichtung einer Zone im Nahen Osten auf, die frei ist von Kern- und anderen Massenvernichtungswaffen.

Die Einigung über die Nahost-Konferenz 2010 und die Benennung eines Sonderbeauftragten, der mit allen Staaten in der Region einen Gesprächsprozess und weitere Schritte aushandeln soll, waren die wichtigsten Anliegen von Ägypten und den arabischen Staaten. Der Kompromiss machte es sowohl Iran als auch anderen Staaten fast unmöglich, ihre Zustimmung zum Abschlussdokument zu versagen.

Die Verhandlungen zum Nahost-Thema fanden überwiegend hinter verschlossenen Türen statt. Parallel dazu wurde in offenen Sitzungen eingehend über nukleare Sicherheit, Verbreitung und Abrüstung diskutiert. Obwohl die Gespräche konstruktiver und konkreter verliefen als je zuvor, wurden viele der Vorschläge schließlich in den Aktionen nicht oder nur stark abgeschwächt aufgegriffen. Die meisten Teilnehmerstaaten zeigten sich besonders enttäuscht von den unzureichenden Zusagen bezüglich nuklearer Abrüstung, Sicherungsmaßnahmen und Stärkung des Nichtverbreitungsregimes, einschließlich des Umgangs mit einer Nichteinhaltung oder Kündigung des Vertrages. Trotzdem entschieden sich alle, das Konferenzergebnis zu akzeptieren, und zwar aus zwei Gründen:

Neben der Bereitschaft, beim Nahen Osten zu einer konkreten Vereinbarung zu kommen, bestand allgemein der Wunsch, zu zeigen, dass der NVV weiterhin von Bedeutung ist. Außerdem wollten die Vertragsstaaten Rückhalt demonstrieren für die Abrüstungsziele von US-Präsident Obama und seine entsprechenden Initiativen, einschließlich des neuen START-Vertrags, des Gipfels zur nuklearen Sicherheit vom April 2010 und sogar für die von ihm angeschobene UN-Resolution 1887 vom September 2009 zur nuklearen Nichtverbreitung und Abrüstung, obwohl diese seinerzeit von den Blockfreien heftig kritisiert worden war. So lässt sich der Konsens von New York als ein Zeichen allseits guten Willens interpretieren.

Iran hatte offenbar darauf gebaut, dass die Kernwaffenstaaten ihre Zustimmung verweigern. Vor allem die USA wehrten sich lange, Israel im Abschlussdokument als einziges Land im Nahen Osten, das ein Kernwaffenprogramm betreibt und kein NVV-Mitglied ist, namentlich zu benennen. Schließlich konnte Alison Kelly, eine erfahrene irische Diplomatin, die mit der Koordinierung des Nahost-Paketes betraut worden war, Washington davon überzeugen, dem Wortlaut zuzustimmen, der im übrigen von der Regierung Clinton im Jahr 2000 schon einmal abgesegnet worden war. Deshalb erinnert das aktuelle Abschlussdokument auch daran, dass die NVV-Überprüfungskonferenz Israel schon vor zehn Jahren dringlich aufgefordert hat, dem NVV beizutreten und alle Nuklearanlagen den Sicherungsmaßnahmen der Internationalen Atomenergieorganisation zu unterstellen. Dazu müsste Israel sein Kernwaffenprogramm freilich zuerst aufgeben, da ein Beitritt des Landes zum NVV nur als Nicht-Kernwaffenstaat möglich ist. Es war befürchtet worden, dass der mühsam errungene Gesamtkonsens bei neuen Änderungsforderungen an dieser Stelle wieder zusammenbrechen könnte.

Grundlagen für ein Verbot von Kernwaffen legen

Die wahre Bedeutung der Überprüfungskonferenz 2010 liegt allerdings nicht im Text des Abschlussdokuments, sondern in den Tendenzen und politischen Erwägungen, die in den Debatten und Vorschlägen erkennbar wurden. Die Diskussionen der einzelnen Komitees und Unterausschüsse hatten zwar erhebliche Substanz, führten aber bei zahlreichen wichtigen Fragen, besonders über die Abrüstung, das Zusatzprotokoll der IAEO3 und die Stärkung des Nichtverbreitungsregimes, nicht zur Einigung.

Während sich die Medien meist nur für die Nahost-Dynamik zwischen Ägypten und den Vereinigten Staaten interessierten, rief Präsident Cabactulan in der letzten Konferenzwoche 16 Schlüsseldelegationen zusammen, um Konsensformulierungen für die anderen offenen Fragen zu erarbeiten. Zu dieser »Präsidentengruppe« gehörten die fünf Kernwaffenstaaten (China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die Vereinigten Staaten) sowie Deutschland, Spanien (als momentaner Vorsitz der Europäischen Union), Japan, Norwegen, Indonesien, Mexiko, Ägypten, Kuba, Iran, Brasilien und Südafrika. Andere, einschließlich der Delegationen, die den verschiedenen Komitees und Ausschüssen vorsaßen, (Ukraine, Simbabwe, Österreich, Irland und Uruguay) wurden von Fall zu Fall dazu gerufen.

Der Botschafter Österreichs, Alexander Marschik, koordinierte in Komitee I die Verhandlungen über künftige Abrüstungsschritte und verfasste einen Aktionsplan, der jene konkreten Vorschläge aufgriff, die in den Stellungnahmen und Arbeitspapieren breitere Unterstützung gefunden hatten. Die Kernwaffenstaaten lehnten viele der Vorschläge ab, die bei fast allen kernwaffenfreien Ländern auf große Zustimmung gestoßen waren. Folglich wurden mehrere Entwürfe geschrieben und diskutiert, jeder schwächer als der vorherige. Schließlich wurde die Fassung vom 24. Mai bei der »Präsidentengruppe« eingereicht, um dort den noch fehlenden Konsens herzustellen.

Die Verhandlungen dauerten dann immer noch zwei Tage und Nächte und waren nach Aussagen von Beteiligten sehr hart, da sich die Kernwaffenstaaten benahmen, als ob der NVV ihnen besondere Rechte und Privilegien zuschriebe, sie im Gegenzug aber keinerlei Vorschläge anderer Staaten akzeptieren oder sich auf Zieldaten zur vollständigen Abschaffung ihrer Kernwaffenarsenale einlassen müssten.

Nukleare Abschreckung delegitimieren

Während der Überprüfungskonferenz gab es hitzige Debatten über Vorschläge von Nicht-Kernwaffenstaaten, wie Kernwaffen weiter entwertet, marginalisiert und sogar aus den Militär- und Sicherheitsdoktrinen eliminiert werden könnten, und zwar gekoppelt mit juristisch verbindlichen Sicherheitsgarantien vor einem Einsatz oder der Drohung mit einem Einsatz von Kernwaffen (»negative Sicherheitsgarantien«).

Am bemerkenswertesten war der Ruf nach einem Rahmenabkommen zur nuklearen Abrüstung mit einem konkreten Zeitplan, der üblicherweise von den Blockfreien kommt, diesmal aber durch die Unterstützung weiterer Länder zusätzliches Gewicht erhielt. Dabei verwiesen die Befürworter ausdrücklich auf den Fünf-Punkte-Plan des UN-Generalsekretärs4 und die Dringlichkeit von Verhandlungen über eine umfassende Nuklearwaffenkonvention, die einen überprüfbaren Rahmen für die notwendigen Schritte in eine kernwaffenfreie Welt bieten würde.5 In entsprechende Verhandlungen könnten auch die Staaten, die dem NVV nie beigetreten sind, eingebunden werden.

Bei dieser Überprüfungskonferenz wurde außerdem viel mehr als sonst darüber diskutiert, dass bis zur vollständigen Abrüstung auch die Neuentwicklung und Modernisierung von bestehenden Kernwaffensystemen verhindert werden müsse. Zu einem entsprechenden Moratorium sowie zum Verzicht der Ausweisung neuer Aufgaben für Kernwaffen rief beispielsweise die New Agenda Coalition6 auf, und Südafrika machte klar, dass dies auch für Trägersysteme gelten sollte, z.B. für die geplante Beschaffung neuer Atom-U-Boote für das britische Trident-System.

Eine Premiere für eine NVV-Überprüfungskonferenz war auch die heftige Kritik am Konzept der nuklearen Abschreckung sowie an der anhaltenden Stationierung und Drohung mit dem Einsatz von Kernwaffen. Mit dem Kommentar, „es ist höchste Zeit, dass der Verlockung durch Atomwaffen ein Ende bereitet wird“, stellte der indonesische Außenminister Marty Natalegawa die entsprechenden Doktrinen während der Generaldebatte im Namen der 116 blockfreien Staaten in Frage. Er forderte Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention, die als Aktionsplan für ein Verbot sowie die Abschaffung von Kernwaffen mit klaren Messkriterien und Zeitvorgaben angelegt werden müsse.

Delegierte der Schweiz und Vertreter des kalifornischen Monterey Institute stellten in einem Workshop eine neue Studie zur Delegitimierung von Kernwaffen vor.7 Sie warfen die Frage auf, ob ein Kernwaffeneinsatz überhaupt rechtskonform sein könne, und plädierten dafür, „humanitäre Erwägungen“ in den Mittelpunkt der Kernwaffendiskussion zu stellen. Diese Forderung wurde im Verlauf der Debatte von mehreren anderen Ländern aufgegriffen und unterstützt.

Brasilien wies auf ein besonderes Problem hin: Kernwaffen hätten „eine grundlegendere Bedeutung – sie verstärken die Macht und ein Gefühl der Dominanz“ bei den Kernwaffenbesitzern, was wiederum „ein ernsthaftes Hindernis für die Demokratisierung der internationalen Beziehungen [und] für internationalen Frieden und Sicherheit“ darstelle.

Taktische Kernwaffen als strittiger Punkt

Taktische Kernwaffen wurden ebenfalls von allen Seiten kritisiert. Zuerst erwähnte die Europäische Union eher beiläufig, diese auch als nicht- oder substrategisch bezeichneten Kernwaffen mit kurzer Reichweite müssten reduziert oder ganz aufgegeben werden. Dann ging Deutschland mehr in die Details. In einem gemeinsamen Statement mit Belgien, Finnland, Irland, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Slowenien und Schweden forderte Deutschland mehr Transparenz und die Einbeziehung der taktischen Kernwaffen in die Verhandlungen zwischen den USA und Russland sowie in die umfassenderen multilateralen Rüstungskontroll- und Abrüstungsprozesse. Norwegen und Polen unterstützten diese Forderungen in einer gemeinsamen Stellungnahme und machten sich für die schrittweise Abrüstung auf Null stark, weil „das Ziel einer Welt ohne Atomwaffen, das wir alle teilen, nicht erreicht werden kann, wenn wir das Thema nicht ehrlich angehen“.

Die blockfreien Staaten gingen noch weiter. Sie kritisierten die Stationierung taktischer US-Atomwaffen in Europa im Rahmen der NATO und schlugen vor, die Kernwaffenstaaten sollten sich verpflichten, „auf die nukleare Teilhabe anderer Staaten im Rahmen jeglicher Sicherheitsabkommen, einschließlich militärischer Bündnisse, zu verzichten“. Die Schweiz fasste diese Debatte zusammen, als sie erklärte, taktische Kernwaffen „haben im Europa von heute keinen Platz mehr“.

Russland hatte bei diesem Thema eine andere Ausgangsposition. Da die USA etwa 500 kurz reichende Kernwaffen stationiert haben, Russland aber rund 2.000, wollte Moskau unbedingt verhindern, dass diese Kernwaffen im Abschlussdokument Erwähnung finden. Stattdessen bekräftigte Russland seine bekannte Klage, dass die USA etwa 200 Kernwaffen auf dem Gebiet europäischer NATO-Mitgliedstaaten stationieren. Der erste und wichtigste Schritt, folgerte Russland daraus, müsse die „Rückführung“ aller Kernwaffensysteme sein sowie die Aufgabe der „Infrastruktur“ für die nukleare Teilhabe. China und die blockfreien Staaten teilten diese Sichtweise. In den harten Verhandlungen zwischen den 16 »Freunden des Präsidenten« setzten sich die USA, Großbritannien und Frankreich durch, indem sie alle Vorschläge aus dem Abschlussdokument katapultierten, die sich gegen die nukleare Teilhabe der NATO wandten. Russland seinerseits beharrte stur darauf, dass taktische Kernwaffen nicht explizit erwähnt werden. So lautet Aktion 3 des Abschlussdokuments als Kompromissformel jetzt, dass „die Kernwaffenstaaten sich bei der Umsetzung ihrer unzweideutigen Zusage, die vollständige Abrüstung ihrer Kernwaffenarsenale zu erzielen, zu weiteren Bemühungen verpflichten, sämtliche Kernwaffentypen, sowohl stationierte als auch nicht stationierte, zu reduzieren und schlussendlich abzuschaffen, einschließlich durch unilaterale, regionale und multilaterale Maßnahmen.“8

Angesichts der Kompromissunwilligkeit der Kernwaffenstaaten und der begrenzten Zeit zur Konsensbildung konnten viele Vorschläge aus der Konferenzdebatte nur als Fernziel Eingang in das Abschlussdokument finden. Im Wortlaut orientierten sich die Diplomaten an US-Präsident Obamas Prager Appell für Frieden und Sicherheit in einer Welt ohne Kernwaffen, dem sich im September 2009 der UN-Sicherheitsrat angeschlossen hat9, sowie an der „unzweideutigen Zusage der Kernwaffenstaaten, die vollständige Abrüstung ihrer Kernwaffenarsenale zu erzielen“, die aus dem Abschlussdokument der NVV-Überprüfungskonferenz im Jahr 2000 stammt.

Schwaches Abschlussdokument

Auch wenn das Abschlussdokument schwächer ist als erhofft, kommt dem Ergebnis der Überprüfungskonferenz dennoch mehr Bedeutung zu, als viele der Beteiligten glauben. Dies aus zwei Gründen: Erstens wird der Nahe Osten konkret thematisiert. Zweitens hat sich im Kontext des NVV zum ersten Mal eine Mehrheit der Staaten unter Berufung auf den Fünf-Punkte-Plan des UN-Generalsekretärs und seine Erwähnung einer Nuklearwaffenkonvention ausdrücklich für die Aufnahme umfassender Verhandlungen ausgesprochen.

Bei Themen wie verstärkten Sicherungsmaßnahmen, besserer Kontrolle von Nuklearexporten und konkreten Abrüstungsschritten geht das Abschlussdokument von 2010 kaum über die Vereinbarungen hinaus, die bereits vor zehn Jahren getroffen und seither nur ansatzweise umgesetzt wurden. Die Freude über den Konsens war deshalb so groß, weil die Chancen auf eine Einigung zu schwinden schienen. Dabei ist aber kaum zu übersehen, dass der Verlauf der Überprüfungskonferenz 2010 ein zutiefst gespaltenes Regime widerspiegelt. Die Vertragsstaaten sehen sich weiterhin nicht im Stande, die Frage der Vertragseinhaltung und der mangelnden Implementierung anzugehen, das Abrüstungsregime institutionell zu stärken oder sich auf eine Entwertung von Kernwaffen und die verbindliche Übernahme des Zusatzprotokolls der IAEO als Sicherungsstandard zu einigen.

Kaum Fortschritte in den letzten 15 Jahren

Seit den 1990er Jahren wurden bei jeder Vorbereitungs- und Überprüfungskonferenz des NVV immer wieder die gleichen Bedenken und Forderungen vorgebracht, ohne dass praktisch viel passierte, und dieses Jahr waren die Voraussetzungen für konstruktive, zielorientierte Gespräche so gut, wie lange nicht mehr. Und doch ist es wieder nicht gelungen, bei den wesentlichen Fragen zu einer Einigung zu kommen. Konsens schien wichtiger als Inhalte.

Überdies wurden das Recht auf die friedliche Nutzung von Kernenergie, das in Artikel IV des Vertrages festgeschrieben ist, sowohl von den Ländern mit hohem Kernenergieanteil als auch von der Führung der blockfreien Staaten so massiv in den Vordergrund gerückt wie nie zuvor. Dabei wurde missachtet, welche Proliferations- und Umweltrisiken sich daraus ergeben.

Des Weiteren waren die Diskussionen, wie eine Kündigung des Vertrags erschwert werden soll und wie im Rahmen des NVV die Rechenschaftspflicht, Vertragseinhaltung und Vertragsumsetzung besser gewährleistet werden können, vergeblich. Die Ideen wurden in der Zusammenfassung des Konferenzpräsidenten dokumentiert, aber nicht in den Aktionsplan aufgenommen.

Zahlreiche Delegationen waren zwar mit dem Konferenzergebnis nicht zufrieden, dennoch stimmten sie dem Minimalkonsens zu. Sie begründeten dies damit, dass es ein wichtiges politisches Signal sei, Einheit zu demonstrieren und so Staatsführern wie Obama und Medwedew bei ihren Abrüstungsinitiativen gegen Kritiker im eigenen Land den Rücken zu stärken. Dies werde, so die Hoffnung, das Nichtverbreitungsregime stärken und künftige Fortschritte ermöglichen.

In den Medien standen die Auseinandersetzungen zwischen Ägypten und den USA über die Nahost-Vereinbarung und der Streit zwischen Iran und den Kernwaffenmächten im Vordergrund. Genau so wichtig, von der Öffentlichkeit aber kaum zur Kenntnis genommen, ist der Konflikt zwischen den kernwaffenfreien und den Kernwaffenstaaten um die Rolle von Kernwaffen und um Vorbereitungen für eine Nuklearwaffenkonvention.

Auf dem Papier ist die Überprüfungskonferenz 2010 ein gewisser Erfolg. Langfristig ist das aber nur dann von Bedeutung, wenn das Bewusstsein dafür wächst, dass sich die nukleare Bedrohung nur dann auflöst, wenn neben einzelnen Abrüstungsschritten wie in Absatz I,B,iii des Abschlussdokuments beschrieben „der notwendige Rahmen für die Erzielung und Aufrechterhaltung einer Welt ohne Kernwaffen“ geschaffen wird.

Rahmen für kernwaffenfreie Welt schaffen

Wenn auch noch ohne Zeitvorstellungen oder Verhandlungszusagen, hat es das Konzept einer Nuklearwaffenkonvention als übergeordnetes Ziel doch in den Aktionsplan geschafft. Damit wurde eine wichtige Brücke geschlagen zwischen den Nichtverbreitungsabsichten des NVV und weitreichenden Bestrebungen zur vollständigen Abschaffung von Kernwaffen mittels einer Nuklearwaffenkonvention. Somit kann in Zukunft keine Regierung den Ruf nach einem Vertrag über vollständige Abrüstung mehr mit dem Hinweis abwehren, es sei dafür zu früh oder eine solche Herangehensweise würde das existierende Nichtverbreitungsregime unterminieren. Mit dem diesjährigen Abschlussdokument wurde das Konzept einer Nuklearwaffenkonvention vielmehr im Konsens als brauchbarer Ansatz zur Erfüllung und Stärkung der NVV-Ziele empfohlen.

Anmerkungen

1) Der Wortlaut des Vertrags sowie Informationen zu seiner Geschichte und zur Überprüfungskonferenz 2010 finden sich in W&F-Dossier 64, Next Stop New York 2010 – Hintergründe zu den NVV-Verhandlungen, April 2010 (die Übersetzerin).

2) Das Abschlussdokument der Konferenz sowie alle anderen relevanten Konferenzdokumente stehen unter www.reachingcriticalwill.org/legal/npt/2010index.html.

3) Das IAEO-Zusatzprotokoll von 1997 schreibt strengere Sicherungsmaßnahmen und Kontrollmöglichkeiten der IAEO fest. Es wurde bisher von 132 Staaten unterzeichnet und von 101 ratifiziert.

4) Zum Fünf-Punkte-Plan des UN-Generalsekretärs siehe W&F-Dossier 64 (die Übersetzerin).

5) Zur Nuklearwaffenkonvention siehe Scheffran, Jürgen, Transformation in die atomwaffenfreie Welt. Die Nuklearwaffenkonvention, in: Wissenschaft & Frieden 1-2008 (die Übersetzerin).

6) Die New Agenda Coalition ist ein loser Zusammenschluss von Staaten, die im NVV-Kontext gemeinsam agieren.

7) Berry, Ken et.al., Delegitimizing Nuclear Weapons. Examining the validity of nuclear deterrence, Schweizerische Eidgenossenschaft, CNS und Monterey Institute of International Studies; ohne Datum, vorgestellt in New York am 6. Mai 2010.

8) In Aktion 5(b) verpflichten sich die Kernwaffenstaaten außerdem, „die Frage aller Kernwaffen unabhängig von ihrem Typ und Stationierungsort als integralem Bestandteil des allgemeinen nuklearen Abrüstungsprozesses [zu adressieren]“ (die Übersetzerin).

9) Resolution 1887 des UN-Sicherheitsrates; http://daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N09/523/74/PDF/N0952374.pdf?OpenElement.

Rebecca Johnson ist Gründerin und Direktorin des Acronym Institute for Disarmament Diplomacy mit Sitz in London und Herausgeberin der Zeitschrift Disarmament Diplomacy. Von der NVV-Überprüfungskonferenz hat sie unter http://acronyminstitute. wordpress.com gebloggt.
Übersetzt von Regina Hagen.

Eine Welt ohne A-Waffen

Eine Welt ohne A-Waffen

von Jürgen Nieth

Als Barack Obama am 5. April 2009 in seiner Prager Rede für eine Welt ohne Atomwaffen plädierte, sprach »Die Zeit« (08.04.09) von „Eine(r) hinreißende(n) Vision“. Die Mehrheit der anderen deutschsprachigen Zeitungen war da skeptischer: „Prager Frühling – Obama will Atomwaffen abschaffen, konkrete Schritte bleiben aus“ (Frankfurter Rundschau/FR, 06.04.09), „Keiner will der erste sein“ (Berliner Zeitung/BZ, 07.04.09), „Die Grenzen der Abrüstung“ (Süddeutsche Zeitung/SZ, 07.04.09), „Obamas Denkfehler“ (Die Tageszeitung/taz, 18.05.09). Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ, 18.04.09) sah nach dieser Rede „Eine neue Welt mit Atomwaffen“ und schrieb: „Man kann in der Politik vieles wünschen, und manchmal bewegt der Wunsch auch etwas. Ohne Visionen bleibt der Blick an der zähen Gegenwart kleben, ohne Bilder der Phantasie ist man dem Status Quo und den Zeitläufen ausgeliefert… Mit der Bemerkung, er werde die kernwaffenfreie Welt wohl selbst nicht erleben, das Ziel liege weit weg, relativiert er das große Vorhaben wieder.“

Obama vor der UNO

Am 23.09.2009 hat der Sicherheitsrat der UN auf Vorschlag von US-Präsident Obama einstimmig eine Resolution angenommen, in der die Ratsmitglieder sich verpflichten, „eine sichere Welt für alle zu suchen und die Vorbedingungen für eine Welt ohne Atomwaffen zu schaffen“. Diesmal reagierte die Presse deutlich positiver: „Absage an alle Atomwaffen – Sicherheitsrat mit »historischer« Resolution“ (FR 25.09.09), „Sicherheitsrat rüstet nuklear ab“ (Financial Times Deutschland/FTD 25.09.09), „UN-Sicherheitsrat für eine Welt ohne Atomwaffen“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.09), „UNO-Signal für die Atomabrüstung“ (NZZ, 25.09.09), P. A. Krüger überschrieb seinen Kommentar in der SZ (22.09.09): „Sanfte Appelle und konkrete Schritte.“ Um welche Schritte geht es?

Atomwaffensperrvertrag stärken…

Nimmt man die Kommentare der SZ und der FR, dann geht es bei der Initiative Obamas in erster Linie darum, „eine Eigendynamik in Gang zu setzen, die beitragen soll, den Atomwaffensperrvertrag (NPT) zu stärken. Die USA sehen in ihm das zentrale Instrument, um der weiteren Verbreitung von Atomwaffen Einhalt zu gebieten. Sein Fundament bröselt, nicht nur wegen der Atomtests in Nordkorea und Irans verdächtiger Aktivitäten. Die Überprüfungskonferenz 2005 scheiterte auch daran, dass sich die USA weigerten, auch nur über ihre Pflicht zu reden, atomar abzurüsten.“ (P. A. Krüger, SZ, 22.09.09) „Der Text verlangt von allen Staaten, die dem Atomwaffensperrvertrag von 1970 noch nicht beigetreten sind, diesen Schritt rasch nachzuholen, ‚damit zu einem baldigen Zeitpunkt die Universalität des Abkommens erreicht wird‘. In der Zwischenzeit sollen die drei noch ausstehenden Staaten – Indien, Pakistan und Israel – informell die Vertragsbestimmungen respektieren.“ (P. Simonitsch, FR, 25.09.09)

… und was wird aus dem Teststoppvertrag?

Neben dem NPT ist der Teststoppvertrag (CTBT) der zweite wichtige internationale Vertrag zu den A-Waffen. „Beide waren zuletzt durch das Desinteresse der Nuklearmächte geschwächt worden. … Obama versprach (jetzt) eine Lücke zu schließen und den Teststoppvertrag CTBT, der die Zündung von Kernwaffen verbietet, zu ratifizieren. Neun Nationen verhindern bisher, dass der CTBT in Kraft tritt, China, Indien, Pakistan, Ägypten, Indonesien, Iran, Israel, Nordkorea – und die USA. Die USA haben das Abkommen (…) bis heute nicht zur Ratifikation durch den Senat gebracht.“ (M. Koch, SZ 25.09.09) Auch diesmal ist das nicht sicher, da Obama hier auf Stimmen der Opposition angewiesen ist. J. Borger sieht die Entwicklung im »Freitag« (01.10.09) noch kritischer: „Im Pentagon kursiert der Entwurf zu einer Studie (Draft Nuclear Posture Review), die sich einer Neubewertung der nationalen Atomwaffenpolitik widmet und damit nicht nur hinter Obamas Visionen zurückfällt, sondern sogar eine Art Gegenverkehr in Bewegung setzt.“ Borger verweist weiter darauf, dass Verteidigungsminister Robert Gates der Idee anhänge „eine neue Generation von Sprengköpfen erproben zu lassen, da nur so die Einsatzbereitschaft der US-Atomwaffen garantiert bleibe. Erst wenn man dies getan habe, seien ein Abbau der Arsenale und das dauerhafte Verbot von Atomtests denkbar.“

Nuklearterrorismus verhindern

Die Absicht, bestehende Vertragswerke zu stärken und die Bereitschaft zur Reduzierung der A-Waffenbestände, sollte nach Auffassung mehrerer KommentatorInnen auch vor dem Hintergrund gesehen werden, einen Nuklearterrorismus zu verhindern. So betonte der abtretende Generaldirektor der Internationalen Atomenergieagentur, Baradei, die „drohende Gefahr der nuklearen Aufrüstung von nichtstaatlichen Akteuren und von Terrorgruppen. Über 90 Staaten seien gar nicht oder nur ungenügend den Kontrollinspektionen der Agentur gemäß dem NPT unterworfen“. (NZZ, 25.09.09) In der BZ (25.09.09) schreibt E. Schweitzer: „Es soll die Verbreitung von Nuklearmaterial unterbunden werden, um nuklearen Terrorismus zu verhindern. Vier Jahre setzt das Gremium dafür an, eine Frist für die Verschrottung der Kernwaffen hingegen wird nicht genannt.“ Und S. Muscat hebt in der »Financial Times« (25.09.09) hervor, dass Obama „dazu eine separate nukleare Sicherheitskonferenz angeregt“ hat. Dort sollen „auch Mechanismen für die friedliche Nutzung von Kernenergie entwickelt werden, die ein Anreiz für Staaten wie den Iran sein könnten, ihre eigenen Atomprogramme aufzugeben.“ Andreas Zumach formuliert es direkter: Die Initiative Obamas zielt darauf ab, „den internationalen Druck auf Atomwaffenaspiranten wie Nordkorea oder den Iran zu erhöhen.“ (taz, 25.09.09)

Entspannung mit Fußangeln…

… sieht Karl Grobe (FR 24.09.09): „Mit einer Resolution, einem Bündel von Abkommen… wird die Utopie nicht zur Realität. Das wissen alle Beteiligten. Falls sie noch rechtzeitig den am Jahresende auslaufenden Start-Vertrag verlängern, das Grundsatzabkommen, das jeder Rüstungsbegrenzung zugrunde liegt, ist ein Beispiel gegeben. Abrüstung ist das immer noch nicht. Doch eine Verkleinerung der Atomwaffen-Arsenale ist möglich; im Grundsatz sind ja alle dafür. Die beiden Großen besitzen rund 95 Prozent. Falls sie sich einigen können, jeweils ein Viertel abzubauen ist einiges besser geworden, aber noch nichts richtig gut.“

Unsere Welt ohne Atomwaffen

Unsere Welt ohne Atomwaffen

– Eine reale Utopie?

von Andreas Buro

Nach dem Abwurf der ersten beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki durch US-Flugzeuge und dem Bekanntwerden der verheerenden Auswirkungen dieser damals völlig neuartigen Bomben wurden Nuklearwaffen im Bewusstsein vieler Menschen in vielen Gesellschaften zum Symbol der menschlichen Fähigkeit, die Welt zerstören zu können. Bald zog die Sowjetunion mit Atomwaffen nach. Es entstanden so nach der zunehmenden Verfeindung zwischen West und Ost die Voraussetzungen für das System der gegenseitigen Abschreckung. Es bekam die doppeldeutige Abkürzung MAD für »mutually assured destruction«. Es wurde immer weiter und weiter zu unvorstellbaren »overkill capacities« ausgebaut, nachdem Interkontinentalraketen entwickelt waren. Sie ermöglichten eine direkte Bedrohung von einem Lager zum jeweils anderen.

Bald wurde Theoretikern des Abschreckungssystems wie auch den militärischen Strategen klar, diese Abschreckung könne nur von einem ganz großen Angriff abhalten, weil ja stets die eigene Vernichtung beim Einsatz der Waffen einkalkuliert werden musste. Würde man denn wegen eines konventionellen Angriffs der Sowjetunion auf Berlin – um ein Beispiel zu nennen – die Existenz der USA und wahrscheinlich auch ganz Europas aufs Spiel setzen wollen? Sicher nicht. Man musste also zusätzliche Abschreckungspotenziale unterhalb von MAD bereitstellen, sich also unterhalb der nuklearen Abschreckung auf Konflikteskalationen einstellen und diese vorbereiten. Dabei ging es darum, mit entsprechenden Waffensystemen auf jeder Stufe der Eskalation eine Eskalationsdominanz zu schaffen. Dies gab den Anstoß zur Entwicklung immer neuer Waffentechnologien und -systeme, die alle nur denkbaren Eskalationssituationen abdecken sollten. Freilich konnten dadurch sogenannte Stellvertreterkriege wie etwa in Vietnam, Angola oder in Afghanistan nicht verhindert werden. Doch gelang es, ein Überspringen von den Stellvertreter-Kriegen auf die Vormächte im Ost-West-Konflikt zu verhindern.

Das Abschreckungssystem mit Nuklearwaffen führte sich selbst ad absurdum, als die Sowjetunion SS 20 Mittelstreckenraketen und die USA in Europa Marschflugkörper und Pershing Raketen stationierten. Zwischen Abschuss und Aufschlag dieser Waffen blieben nur wenige Minuten, so dass keine rationale Entscheidung über die Auslösung eines Krieges mehr getroffen werden konnte. Die Gesellschaften, insbesondere die Gesellschaft in Deutschland, fühlten sich so sehr bedroht und verunsichert, dass der Protest gegen diese Waffenstationierung einen großen, ja vielleicht sogar den größten Teil der Gesellschaft erreichte. Die ParlamentarierInnen fassten trotzdem den Beschluss zur Stationierung, wohl wissend, dass diese Situation labiler MAD auf Dauer nicht haltbar sein würde.

Bereits 1968 hatten sich die Staaten über einen Nichtverbreitungsvertrag für Atomwaffen geeinigt, der 1970 in Kraft trat. Er wurde nicht von allen Staaten unterzeichnet. So nicht von Indien, Israel und Pakistan, die mittlerweile unter Duldung der »offiziellen Atommächte« mit Veto im UN-Sicherheitsrat (China, Frankreich, Großbritannien, Russland und USA) Atomwaffen besitzen. Nach dem Vertrag sollten diese „in redlicher Absicht Verhandlungen führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung“. Während inzwischen chemische und biologische Waffen völkerrechtlich verboten wurden, gibt es gegenwärtig kein Indiz dafür, dass die »offiziellen Atommächte« gewillt sind, auf diese Waffen zu verzichten. Das bedeutet:

Atomwaffen können in künftigen Kriegen eingesetzt werden und sind in US-Strategien bereits auch dafür vorgesehen.

Manche Staaten, die sich bedroht fühlen, werden ein Interesse an eigenen Atomwaffen haben, weil sie glauben, sie könnten sich so vor Angriffen starker Staaten schützen.

Es ist nicht auszuschließen, dass sich ein kompliziertes multilaterales System gegenseitiger nuklearer Abschreckung entwickelt. Um so mehr Akteure sich daran beteiligen, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Krieges.

Eine Welt ohne Atomwaffen – eine Illusion?

Eine solche Utopie steht offensichtlich in direktem Gegensatz zu den Tendenzen der Gegenwart. Nur überflüssige Atomwaffen wurden nach dem Ende des Ost-West-Konflikts abgerüstet.

Ansonsten wird modernisiert, diversifiziert und Zweitschlagfähigkeit aufgebaut.

Präemptive Strategien werden geplant.

Raketenabwehrsysteme sollen in der Zukunft weitgehend unverwundbarer machen und damit offensive Kriegführung ermöglichen.

Eine solche Utopie steht ferner im Gegensatz zu der allgemeinen historischen Erfahrung, dass Waffen fast niemals aus pazifistischen Gründen abgeschafft wurden. Sie wurden in der Regel abgeschafft, weil sie durch bessere und geeignetere Waffen ersetzt werden konnten. Vielleicht sind z.B. irgendwann Laserkanonen aus dem Weltall die geeigneteren Waffen für Kriegführung und man kann dann auf Atomwaffen verzichten. Doch ist es das, was die reale Utopie von einer atomwaffenfreien Welt sich erhofft?

Diese These muss eingeschränkt werden. Im »Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen« aus den 70er Jahren, das mittlerweile von 182 Staaten ratifiziert wurde, wird ein großer Bereich von Waffen illegalisiert. Dies besagt noch nicht, dass nicht doch an ihrer Weiterentwicklung geforscht wird. Ferner wurde am 8.12. 1987 zwischen den USA und der UdSSR der INF-Vertrag zur Vernichtung aller Mittelstreckenraketen geschlossen, die in Europa eine so gefährliche Bedrohungslage geschaffen hatten. Zu beiden Verträgen ist allerdings zu sagen, dass beide verbotenen Waffengruppen, Kriegführung besonders schwer kalkulierbar machen, was sowohl für die politische Kontrolle wie auch für die militärische Verwendung nachteilig ist.

Und schließlich: Selbst wenn alle A-Waffen abgeschafft sein sollten, würde das Wissen über die Herstellung und Nutzung dieser Waffen einschließlich ihrer Transportmittel erhalten bleiben. Überall würde geargwöhnt, dass einer wieder mit dem Bau von Atomwaffen anfangen könne. Darauf müsse man vorbereitet sein, also selbst Atomwaffen trotz allem noch in der Hinterhand behalten. Dagegen mag man einwenden, diese Risiken könnten durch Verifikationsverträge ausgeschlossen werden. Angesichts der jüngsten Vertragsbrüche im Kosovo-Krieg und bei dem Angriff auf Irak dürfte dies die Befürchtungen nicht ausräumen.

Alle genannten Aspekte legen nahe mit einer Kampagne für eine solche reale Utopie dürfte auf keinen Fall die Erwartung verbunden werden, eine Welt ohne Atomwaffen wäre eine friedliche Welt. Die bei weitem meisten Kriegstoten sterben gegenwärtig durch Kleinwaffen und sind zu etwa 90% Zivilisten. Die »konventionellen« High-Tech-Waffen sind bereits auf höchste Effizienz und damit auf größtmöglichen Terror ausgelegt. Deshalb können die Atomwaffen nur als Synonym für den Wahnsinn der Rüstung und die politisch-militärische Bereitschaft, diese einzusetzen, dienen. Die wirkliche Aufgabe besteht jedoch in der Überwindung des militärischen Konfliktaustrags.

Einige Argumente gegen eine Welt ohne Atomwaffen, die zu beantworten sind

Eine Kampagne für eine atomwaffenfreie Welt muss sich ernsthaft mit den Argumenten für und wider auseinandersetzen. Sie verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie die Argumente der Befürworter nur als militaristisch oder reaktionär diffamiert. Einige dieser Argumente seien hier aufgeführt, um zur Auseinandersetzung mit ihnen aufzufordern. Offensichtlich ist es gar nicht einfach, ihnen überzeugend zu begegnen:

Das Abschreckungssystem hat doch im Ost-West-Konflikt im Gegensatz zu allen Unkenrufen gut funktioniert. Trotz einiger kritischen Situationen, wie z.B. bei der Kuba-Krise, hat es einen direkten Krieg zwischen West und Ost verhindert.

Die große Überlegenheit der USA sichert, dass keine Atomwaffen angewendet werden, denn jeder Staat, der solche Waffen einsetzen würde, müsste selbst mit schwersten Verlusten, wenn nicht gar mit seiner vollständigen Zerstörung rechnen.

Außerdem können wir uns durch Raketenabwehrsysteme vor Angriffen mit Atomwaffen schützen. Darum ist es notwendig, solche Abwehrsysteme, die heute noch keineswegs perfekt sind, mit allen Mitteln zu entwickeln und möglichst bald zu stationieren.

Da das Wissen über Atomwaffen nicht aus der Welt geschafft werden kann, dürfen wir um unserer Sicherheit willen nicht auf Atomwaffen und Abwehrsysteme verzichten.

Der Westen muss angesichts des Terrorismus und der zunehmenden Knappheit von Ressourcen die Eskalationsdominanz für sich stets aufrecht erhalten. Er muss sich deshalb seine Fähigkeit zu vorbeugenden Schlägen (preemptive strike capability) und seine Zweitschlagsfähigkeit (second strike capability) erhalten und weiter absichern.

Der Besitz von Atomwaffen schützt Staaten vor nuklearen Angriffen durch andere Staaten und sichert damit den Frieden. Er ist außerdem ein wichtiges Statussymbol.

Argumente für eine Welt ohne Atomwaffen

Eine Kampagne für eine Welt ohne Atomwaffen muss selbstverständlich auch ihre eigenen Argumente einleuchtend vortragen können. Wieder einige Beispiele:

Die drohende Gefahr für eine Vernichtung großer Teile der Menschheit und der Verstrahlung ganzer Landstriche oder so gar Länder würde entfallen, wie auch die Gefahr einer »nuklearen Winters«, der bereits bei einem begrenzten Atomkrieg die Folge für große Teile der Welt sein würde.

Schon die Produktion und die Vorhaltung nuklearer Waffensysteme birgt große Gesundheits- und Umweltgefahren in sich. Man denke nur an die Unglücke mit Atom-U-Booten. Dazu kommt die Gefahr der Entwendung von nuklearem Material.

Der Antrieb für eine Weiterverbreitung von Atomwaffen würde vermindert. Man brauchte diese Waffen nicht mehr, um einen Angriff anderer Staaten abschrecken zu wollen.

Der Prozess der Denuklearisierung könnte auch die Bereitschaft zu einer grundsätzlichen Überprüfung von Konfliktlösungsstrategien fördern. Gibt es Hinweise darauf, dass dadurch kooperative, zivile Konfliktlösungsstrategien stärker favorisiert werden würden? Wie müsste die Kampagne geführt werden, um eine solche Entwicklung zu begünstigen?

Freisetzung großer finanzieller Mittel für die Lösung wichtiger Aufgaben, die ungelöst zu gewalttätigen Konflikten führen können.

Übersicht über (mögliche) Strategien für eine Welt ohne Atomwaffen

1. Die bislang wichtigste Strategie, die Atomwaffen los zu werden, ist der Atomwaffensperrvertrag oder richtiger gesagt der »Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen – NVV« (Non-Proliferation Treaty NPT). Durch ihn ist die Verbreitung von Atomwaffen eingeschränkt worden, z. B. in Lateinamerika und in Südafrika. In der IAEO (International Atom Energy Organisation) ist eine kompetente Kontrolleinrichtung entstanden. Der NVV ist bisher jedoch weitgehend gescheitert in Hinblick auf die Verpflichtung der offiziellen Atommächte nach Artikel VI des NVV. In ihm heißt es: „Jede Vertragspartei verpflichtet sich, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.“ Solange die »offiziellen« wie auch die inzwischen hinzugekommenen inoffiziellen Atommächte Israel, Indien und Pakistan nicht bereit sind, auf ihre Atomwaffen zu verzichten, ist die Wirkung des NVV so weit beschränkt, dass er keine Perspektive für eine atomwaffenfreie Welt eröffnet. Gegenwärtig dient er den »offiziellen Atommächten« vor allem dazu, neue Atomwaffenstaaten zu verhindern, soweit es in ihrem Interesse und in ihren Möglichkeiten liegt. Das ist eine wichtige Funktion, die jedoch wie im Fall Iran auch für andere Zwecke missbraucht werden kann. Da jedoch die Bedrohung durch Atomwaffen eher von den heutigen Atommächten ausgeht, ist diese Funktion nützlich, aber keineswegs ausreichend.

2. Ansätze für internationale Regelungen jenseits der NVV werden bereits seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts erörtert (Scheffran, Jürgen: Vom Nichtverbeitungs-Regime zur Nuklearkonvention, Beilage in Wissenschaft und Frieden 2/2004, Dossier 46, Atomwaffenfrei bis 2020, S.11 ff.). Dabei sollen die positiven Aspekte des NVV beibehalten werden, und die schrittweise Abrüstung nuklearer Waffensysteme über Allgemeine Verpflichtungen, Verifikationsmechanismen, Internationale Kontrollagenturen, schrittweise Implementierung, Inkrafttreten der getroffenen Vereinbarungen, Vertragseinhaltung und Durchsetzung, Kontrolle und schließlich Beseitigung von Kernmaterialien erreicht werden. Freilich wird auch hier, wie beim NVV, das grundsätzliche Problem darin bestehen, ob die bereits real existierenden Kernwaffenmächte bereit sind, solche Schritte mit zutragen und zu vollziehen.

3. Angesichts des Arguments, das Wissen um den Bau von Atomwaffen würde erhalten bleiben, selbst wenn alle Waffen verschrottet wären, könnte man – zumindest als eine Zwischenstufe – die Schaffung eines Atomwaffenmonopols bei den UN in Betracht ziehen. In der gegenwärtigen Situation ist dies allerdings weitgehend unrealistisch, da die bisherigen Atomwaffenstaaten nicht bereit sind, auf die nationale Verfügung ihrer Nuklearwaffen zu verzichten. Diese Unwilligkeit basiert nicht zuletzt darauf, dass einige Staaten in ihren Militärdoktrinen den Atomwaffen eine wichtige Rolle zuweisen. Erst wenn diese Nationalstaaten und die NATO bereit wären, auf Atomwaffen zu verzichten, könnte ein beschränktes Arsenal solcher Waffen bei den UN angesammelt werden, um Befürchtungen vor einer nuklearen Wiederaufrüstung einzelner Staaten zu begegnen.

4. Die Schaffung und ständige Erweiterung atomwaffenfreier Zonen und Regionen. Hierbei ist mit einer Bewusstseinsänderung der Gesellschaften in dem Sinne zu rechnen, dass Verständigung und Kooperation wichtiger sind als Abschreckung und Aufrüstung. Dies würde möglicherweise auch die Bereitschaft in den Gesellschaften verstärken, illegale militärische Verhaltensweisen öffentlich zu machen. Bei atomwaffenfreien Zonen besteht allerdings das grundlegende Problem, dass atomare Angriffe auch in atomwaffenfreie Zonen hinein geführt werden können. Es wird deshalb wichtig sein, im Zusammenhang mit der Bildung solcher Zonen und Regionen, internationales Recht auszubauen und mit starken Garantien zu versehen, so dass nukleare Angriffe auf sie international verboten und geächtet sind.

5. Angesichts der bitteren Erfahrung, wie wenig internationales Recht etwa beim Angriff auf Rest-Jugoslawien (Serbien und Montenegro) im Kosovo-Krieg 1999 oder beim US-GB-Angriff auf den Irak 2003 respektiert werden, ist es unabdingbar, sich auch um die gesellschaftliche Ächtung von Atomwaffen zu bemühen. Das wird am ehesten in atomwaffenfreien Staaten und Zonen erfolgreich sein. Wichtig ist jedoch diese Ablehnung auch in den Ländern zu erreichen, die selbst über Atomwaffen verfügen und potenzielle Angreifer sein können. Die wichtigsten Argumente hierfür dürften die gesteigerte Unsicherheit durch die Vermehrung der Atomwaffenstaaten und die internationales Recht missachtende Machtpolitik der USA sein.

6. Eine weitere, allerdings zu der »realen Utopie« nur indirekt wirkende Strategie liegt in dem Bemühen militärgestützte Politik durch Ausweitung ziviler Konfliktbearbeitung immer stärker zu begrenzen und in Frage zu stellen. Gelänge dies, so würde auch das Vertrauen auf nicht-militärische, also zivile Konfliktbearbeitung gestärkt werden. Freilich ist dafür auch eine neuartige Medienstrategie erforderlich, die es versteht, die dramatischen Prozesse ziviler Konfliktbearbeitung an eine breite Öffentlichkeit zu vermitteln.

7. Bei der Weiterentwicklung von Kernwaffen und ihrer Trägersysteme sowie der entsprechenden Produktionen ist eine große Zahl von hoch qualifizierten und gut bezahlten Spezialisten tätig. Sie werden ihre Arbeitsplätze und ihre Bemühungen zu deren Sicherung nur aufgeben, wenn sie entsprechende andere Arbeitsplätze für sich finden können. Hier liegt die Bedeutung von Konversionsforschung, die sich auch der Perspektive dieser Personengruppe annehmen muss.

Strategien und an ihnen ausgerichtete Kampagnen gegen Atomwaffen wenden sich zwar gegen eine im Bewusstsein der meisten Menschen besonders bedrohliche und grausame Waffe, lassen aber allzu leicht vergessen, dass die heutigen Waffensysteme unterhalb der nuklearen Systeme auch von unerhörter Zerstörungskraft und Grausamkeit sind. Atomwaffen sind seit ihrem Abwurf 1945 über Hiroshima und Nagasaki nicht mehr eingesetzt worden, wohl aber die zynischer Weise als konventionell bezeichneten modernen Waffensysteme. Würden diese nun in einer Kampagne gegen eine Welt ohne Atomwaffen aus dem Blickfeld geraten, so geriete die Friedensbewegung in eine Sackgasse.

Meine Schlussfolgerung daraus lautet. Es darf keine Kampagne unter dem Motto »Unsere Welt ohne Atomwaffen« geben. Vielmehr muss der Kampf gegen Atomwaffen unbedingt verbunden werden mit der Forderung nach ziviler Konfliktbearbeitung und der Ablehnung militärgestützter Politik. Er würde so weit über die »reale Utopie« der atomwaffenfreien Welt hinaus gehen.

In einer so orientierten Kampagne wären Atomwaffen das krönende Symbol für das Inhumane des heutigen gewaltsamen Konfliktaustrages, der insgesamt überwunden werden muss. Unter dieser Zielsetzung mit einer weiten, ganzheitlichen Perspektive können dann alle oben genannten Strategie-Ansätze zusammengeführt werden. Selbstverständlich sind die Bestimmungen des Nichtverbreitungsvertrages, auch des Artikel VI, der eine generelle Abrüstung fordert, einzuklagen und eine Nuklearwaffenkonvention anzustreben. Selbstverständlich kann man über eine UN-Zwischenlösung für eine Monopolisierung von Atomwaffen nachdenken. Selbstverständlich ist es gut für atomwaffenfreie Regionen einzutreten, die Atombombe als inhuman zu verurteilen, und unabdingbar ist es, für die Ausweitung ziviler Konfliktbearbeitung zu arbeiten.

Wie in Deutschland und Europa beginnen?

Fünf NATO-Staaten in Europa weisen eine Besonderheit auf. In ihnen sind 140 taktische US-Atomwaffen, die der NATO zugeordnet sind, stationiert. Diese Länder sind Belgien, Deutschland, Italien, die Niederlande und die Türkei (alle Angaben, auch die folgenden nach Johnson, Rebecca: Europa – Atomwaffenfrei!, Wissenschaft und Frieden 4/2007, S.17-20). Darüber hinaus lagern die USA noch weitere 210 dieser Waffen in Europa.

Die der NATO zugeordneten Atomwaffen sollen im Kriegsfall nicht von den USA ins Ziel gebracht werden, sondern über die sogenannte »nukleare Teilhabe« der fünf Länder. Diese halten für diesen Zweck Flugzeuge vor, die für den Transport von Atomwaffen ausgerüstet sind und deren Piloten Einsätze mit Atomwaffen trainieren. Im Falle eines Krieges würden diese Staaten de facto Atommächte, die allerdings nicht uneingeschränkt, sondern nur im Rahmen der NATO diese Waffen einsetzen sollen. 20 Atomwaffen lagern in Kleine Brogel, Belgien, 20 in Volkel/Niederlande, 20 in Büchel/Deutschland, 40 in Ghedi Torre/Italien und 40 in Incirlik/Türkei. Unter eigener Kontrolle lagern die USA noch 110 Atomwaffen in Großbritannien, 50 in Italien und 50 in der Türkei.

Die Nukleare Teilhabe verstößt nicht nur gegen den NVV-Vertrag, den alle fünf Staaten unterzeichnet haben. Sie verhindert auch die Diskussion zwischen den USA und Russland über die Reduzierung taktischer Atomwaffen, von denen Russland noch etwa 2.300 Stück besitzen soll. Sie ist ferner für die Stationierungsländer gefährlich, da im Falle eines Konfliktes nukleare Stationierungsorte als erstes angegriffen werden würden. Begründet wird der Besitz bzw. die Teilhabe von der NATO in ihrem »Strategischen Konzept« von 1999 damit, dass Atomwaffen die „oberste Garantie“ für die Sicherheit des Bündnisses böten. Offensichtlich hält die NATO an einer unzeitgemäßen Nukleardoktrin fest.

Es scheint nun ausgesprochen sinnvoll, mit einer Kampagne gegen Atomwaffen und für zivile Konfliktbearbeitung an dem Punkt der nuklearen Teilhabe anzusetzen. Arbeiten in diesem Sinne sind schon seit vielen Jahren im Gange. Wäre es da nicht auch ausgesprochen sinnvoll, diesen Ansatz mit der Forderung nach einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa zu verbinden? Dadurch könnten viele Kontakte zu anderen europäischen Friedensbewegungen hergestellt bzw. reaktiviert und auch Nicht-NATO-Staaten einbezogen werden. Eine weitere Verknüpfung könnte sein, dass diese Gesellschaften sich ganz besonders um die Entfaltung ziviler Konfliktbearbeitung innerhalb und außerhalb ihres Gebietes gemeinsam einsetzen und auch hierzu gesellschaftliche Institutionen aufbauen und Programme entwickeln.

Meine Schlussfolgerung: Die Arbeit für eine Welt ohne Atomwaffen muss auf eine Welt zusteuern, in der die Konflikte zivil bearbeitet werden.

Für die Durchsicht des Manuskripts und wertvolle Ratschläge danke ich Regina Hagen.

Dr. habil. Andreas Buro, Mitbegründer der deutschen Ostermarschbewegung/Kampagne für Demokratie und Abrüstung, heute Koordinator des Dialog-Kreises »Die Zeit ist reif für eine politische Lösung im Konflikt zwischen Türken und Kurden« und Koordinator des »Monitoring-Projekts: Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention«

Mutlanger Manifest

Mutlanger Manifest

8. Dezember 2007

von Redaktion

Im Bewusstsein des Leidens und Sterbens, dass durch die Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki sowie durch Tausende von Atomtests verursacht wurde; erfreut über die Abrüstungsschritte und das Ende des Kalten Krieges, die vor 20 Jahren durch den INF-Vertrag zwischen den USA und der UdSSR möglich wurden; unter Kenntnisnahme

der Existenz von weltweit noch über25.000 Atomwaffen,

der Lagerung von noch immer 20 US-amerikanischen Atomwaffen in Deutschland,

der nuklearen Teilhabe Deutschlands, in deren Rahmen die Bundeswehr Trägermittel für Atomwaffen zur Verfügung stellt und Piloten deren Einsatz üben lässt.

In Sorge

wegen der Pläne zur Erneuerung der Atomwaffen in den Atomwaffenstaaten und zur Stationierung von Abwehrraketen,

wegen der Kündigung und der Infragestellung von bestehenden Abrüstungsverträgen,

wegen der Gefahren der Weiterverbreitung von Atomwaffen auf staatlicher und nichtstaatlicher Ebene.

In der Hoffnung

auf ein atomwaffenfreies Deutschland und

auf neue Abrüstungsschritte mit dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt,

verabschieden wir heute als Mitglieder von Mayors for Peace in Mutlangen, einem ehemaligen Stationierungsort der Pershing II-Atomraketen, am 20. Jahrestag der Unterzeichnung des INF-Vertrages folgendes Manifest.

Landrat Klaus Pavel – Oberbürgermeister Wolfgang Leidig – Bürgermeister Peter Seyfried

A) Der INF-Vertrag

Vor 20 Jahren, am 8. Dezember 1987, unterzeichneten der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow und der US-Präsident Ronald Reagan in Washington den INF-Vertrag (Intermediate-range Nuclear Forces). Darunter fallen Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 km. In dem Vertrag einigten sich die beiden Mächte darauf, auf diese Waffengattung vollständig zu verzichten und die bestehenden Arsenale an Trägersystemen zu zerstören. Der INF-Vertrag ist einzigartig.

Der INF-Vertrag ist der erste wirkliche Abrüstungsvertrag. Durch ihn wurde in den beiden Vertragsstaaten eine ganze nukleare Waffengattung nicht nur außer Dienst gestellt, sondern tatsächlich vollständig abgerüstet.

Der INF-Vertrag schuf Vertrauen und Offenheit. Im INF-Vertrag wurden erstmals weit reichende Verifikationsvereinbarungen bis hin zur »On-Site Inspection« getroffen. Er gestatte russischen Inspektoren zur Überprüfung des Vertrages den Zutritt zu Militäreinrichtungen in den USA und umgekehrt.

Der INF-Vertrag schuf Sicherheit für beide Seiten, trotz ungleicher Abrüstungsverpflichtungen. Insgesamt 2.692 Atomraketen und Marschflugkörper wurden vernichtet: 846 auf US-amerikanischer sowie 1.846 auf sowjetischer Seite.

Der INF-Vertrag gab eine Antwort auf die Forderungen der weltweiten Öffentlichkeit und Friedensbewegung und den Anstoß für weitere grundlegende politische Veränderungen bis hin zum Ende des Kalten Krieges.

Der INF-Vertrag ist gefährdet.

Trotz seiner epochalen Bedeutung gerät der INF-Vertrag zunehmend unter Druck. Auf beiden Vertragsseiten fordern Stimmen, die bilaterale Beschränkung aufzuheben, weil andere Länder weiterhin Mittelstreckenwaffen entwickeln und stationieren können. Vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Pläne zur Stationierung von Raketenabwehr-Komponenten in Polen und der Tschechischen Republik droht Russland mit der Kündigung von Abrüstungsvereinbarungen, wie auch dem INF-Vertrag.

Der INF-Vertrag ist richtungweisend.

Dennoch riefen die Russische Föderation und die Vereinigten Staaten von Amerika in einer gemeinsamen Erklärung vom 25. Oktober interessierte Staaten dazu auf, die Multilateralisierung des INF-Vertrages zu diskutieren. Es diene dem Frieden in der Welt, wenn alle Atomraketen dieser Kategorie zerstört und entsprechende Programme eingestellt würden.

Zu Beginn dieses Jahres erinnerten die beiden ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger und George Shultz, der ehemalige US-Verteidigungsminister William Perry und der frühere Vorsitzende des Streitkräfteausschusses des US-Senats in einem gemeinsame Essay im Wall Street Journal an die Vision „von der Abschaffung aller Nuklearwaffen“, die Ronald Reagan mit Michail Gorbatschow geteilt habe. Sie forderten, diese Vision wieder beleben.

B) Vom INF-Vertrag zur vollständigen Abrüstung aller Atomwaffen

Wir sind froh, dass in Mutlangen, dort wo einst die Atomraketen Pershing II in den Himmel ragten, heute Baukräne aufgerichtet sind und ein Wohngebiet entstanden ist. Wir sind froh über die Konversion der anderen Stationierungsorte.

Wir bedauern, dass der Abrüstungsprozess, der mit dem INF-Vertrag eingeleitet wurde, zum Erliegen gekommen ist.

Wir wollen, dass der INF-Vertrag, durch den Mutlangen atomwaffenfrei wurde, zur Keimzelle für weitere Abrüstungsschritte wird und zu einem Prozess führt, an dessen Ende das vollständige Verbot aller Atomwaffen steht.

Wir appellieren an die politischen Führer insbesondere der Atommächte,

den INF-Vertrag nicht zu kündigen, sondern multilateral auszuweiten. Das Diskussionsangebot der beiden Vertragsstaaten ist zu begrüßen, hat aber nur dann Aussicht auf Verwirklichung, wenn es mit Abrüstungsangeboten der Atommächte verbunden wird.

ihre Raketenabwehrpläne zu überprüfen und auf jegliche Handlung zu verzichten, die die Gefahr eines neuen Wettrüstens auf der Erde sowie im Weltraum erhöhen.

jegliche Modernisierungspläne für ihre Atomwaffen aufzugeben und statt dessen lang überfällige Schritte zu einer atomwaffenfreien Welt zu gehen: den vollständigen Atomteststoppvertrag endlich zu ratifizieren und Verträge über atomwaffenfreie Zonen anzuerkennen.

Wir appellieren an unsere Bundesregierung,

die Anstrengungen auf ein Ende der nuklearen Teilhabe weiter voranzutreiben, damit keine Soldaten mehr an einem Atomwaffeneinsatz mitwirken müssen.

auf diplomatischem Weg darauf hinzuwirken, dass Deutschland bis zur Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags 2010 atomwaffenfrei ist.

auf die Atommächte einzuwirken, der Abrüstungsverpflichtung aus dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag unverzüglich nachzukommen.

Unsere Vision

Bei uns anfangen

Der Modernisierungsdebatte in den Atomwaffenstaaten müssen starke Abrüstungssignale entgegengesetzt werden. Der Abzug der letzten Atomwaffen aus Deutschland und dem übrigen Europa wäre ein solches Zeichen. Da die Militärs für die in Büchel gelagerten Atombomben keine Einsatzmöglichkeit sehen, gibt es im Moment ein Zeitfenster, um deren Abzug durchzusetzen. Der Abzug der US-Atomwaffen aus Europa ebnet den Weg für Verhandlungen über die taktischen Arsenale der USA und Russlands. Dies ist wichtig, denn vor allem bei diesen Waffen besteht die Gefahr, dass sie in die Hände von Terroristen fallen können. Wenn diese Chance verspielt wird, müssen wir damit rechnen, dass dann auch neue Sprengkopftypen in Europa stationiert werden.

Wir begrüßen die ebenfalls am heutigen Tag veröffentlichte Erklärung der Bürgermeister der aktuellen Stationierungsorte, die den Abzug der bei ihnen gelagerten Atomwaffen fordern.

Ein atomwaffenfreies Deutschland, der Abzug aller US-Atomwaffen aus Europa, sind Schritte auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt.

Eine atomwaffenfreie Welt

Der Internationalen Gerichtshof hat 1996 festgestellt, dass eine rechtliche Pflicht besteht, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und abzuschließen, die zu nuklearer Abrüstung in allen ihren Aspekten unter strikter und wirksamer internationaler Kontrolle führen.“ Im Rahmen des Überprüfungsprozesses des NVV stellte der Bürgermeister von Hiroshima Tadatoshi Akiba 2003 den Aktionsplan der Mayors for Peace vor: die »2020 Vision«. Dieser Plan zielt auf ein Verbot aller Atomwaffen durch eine Nuklearwaffenkonvention. Einer ersten Verhandlungsphase soll eine 10-jährige Umsetzungsphase folgen. Im Jahr 2020 ist dann das Ziel einer atomwaffenfreien Welt erreicht.

Ein Erfolg war in diesem Jahr, dass der von Nichtregierungsorganisationen aktualisierte Entwurf einer Nuklearwaffenkonvention durch Costa Rica zum offiziellen Arbeitspapier des Überprüfungsprozesses der nuklearen Nichtverbreitungsvertrags wurde. Dieses Vertragmodell verbietet alle Atomwaffen. Es enthält einen Zeitplan für die Abrüstung der Atomwaffen und Überprüfungsbestimmungen. Damit würde die Ungleichheit des Nichtverbreitungsvertrages, der genaue Vorschriften zur Nichtverbreitung beinhaltet, aber die Abrüstungsverpflichtung nur allgemein ohne Zeitrahmen festlegt, aufgehoben.

C) Unsere Aktivitäten

Der INF-Vertrag kam nur zustande, weil es einen immensen öffentlichen Druck gab. Wir als gewählte Vertreter unserer Bürgerinnen und Bürger verpflichten uns, uns wo immer möglich für nukleare Abrüstung einzusetzen. Insbesondere durch

Bildungsveranstaltungen und Aktionen auf lokaler und regionaler Ebene,

Teilnahme an Delegationen der Mayors for Peace und anderen Nichtregierungsorganisationen,

durch Unterstützung der Kampagne »unsere Zukunft – atomwaffenfrei«.

Transformation in die atomwaffenfreie Welt

Transformation in die atomwaffenfreie Welt

Die Nuklearwaffenkonvention

von Jürgen Scheffran

Im Jahr 1997 veröffentlichten Nicht-Regierungs-Organisationen den Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention (NWK), der 2007 überarbeitet und aktualisiert wurde. Darin werden völkerrechtliche Schritte vorgeschlagen, um Atomwaffen vollständig zu verbieten und abzuschaffen. Ein solches Konzept wird von der Mehrheit aller Staaten grundsätzlich unterstützt.

Im vergangenen Jahrzehnt war die internationale Sicherheitslandschaft bestimmt von Rückschlägen, die die umfassende nukleare Abrüstung in weite Ferne rückten. Mit dem kommenden Ende der Bush-Administration und jüngsten Diskussionen über Kernwaffen-Risiken und Abrüstungs-Alternativen nimmt die Unterstützung für die atomwaffenfreie Welt wieder zu.

Nukleare Risiken

Mit dem Ende des Kalten Krieges ist die nukleare Bedrohung nicht verschwunden, im Gegenteil. Die Kernwaffenstaaten haben zwar ihre Arsenale reduziert, aber das nukleare Wettrüsten nicht aufgegeben. Weiterhin lagern Zehntausende dieser Massenvernichtungswaffen in ihren Arsenalen. Durch das Festhalten an der nuklearen Abschreckung bleiben die damit verbundenen Risiken eines Atomkriegs virulent. Hunderte von Tonnen kernwaffenfähiger Materialien sind in Umlauf, und mit dem geplanten Ausbau der Kernenergie nimmt ihre Menge stetig zu. Dass Kernwaffen oder ein Teil dieser Materialen in die Hände von Terroristen fallen, kann nicht ausgeschlossen werden.

Seit In-Kraft-Treten des Nichtverbreitungs-Vertrages (NVV) von 1970 haben vier weitere Staaten Kernwaffen erlangt (Israel, Indien, Pakistan, Nordkorea), das Potenzial eines weiteren (Irak) wurde 1991 zum Teil durch Waffengewalt zerstört. Allein die Option, dass Iran ebenfalls Kernwaffen entwickeln könnte, treibt die Rüstungsspirale voran, provoziert eine mögliche militärische Intervention durch die USA, den Aufbau eines Raketenabwehrsystems in Osteuropa und harsche russische Reaktionen, die an die Rhetorik des Kalten Krieges erinnern. Die Kernwaffenstaaten machen bislang keine Anstalten, die in Artikel VI des NVV vereinbarte umfassende nukleare Abrüstungsverpflichtung ernsthaft anzugehen, was neuen Kernwaffenaspiranten willkommene Vorwände gibt.

In seiner letzten Rede stellte der frühere UNO-Generalsekretär Kofi Annan fest, dass Kernwaffen eine „einzigartige Gefahr für die gesamte Menschheit darstellen.“ 1 Mit halbherzigem Krisenmanagement und diskriminierenden Maßnahmen lässt sich eine Zuspitzung der Problemlage nicht verhindern, sie verschärfen die Krise noch. Der NVV, der die multinukleare Welt teilweise eindämmen konnte, steht in den nächsten Jahren am Scheideweg. Entweder gelingt es, die nukleare Abrüstungsverpflichtung zu implementieren, oder das gesamte Nichtverbreitungsregime steht zur Disposition. Eine nukleare Kettenreaktion kann nur durch eine umfassende und universelle Verbotsnorm gegen Kernwaffen gestoppt werden. Eine Nuklearwaffenkonvention wäre ein logischer Weg, das Verbot aller Massenvernichtungswaffen zu komplettieren, in Ergänzung zur Biowaffenkonvention und zur Chemiewaffenkonvention, und in Erfüllung der ersten Resolution der Vereinten Nationen2, die sich einstimmig für „die Eliminierung der nationalen Atomwaffenarsenale“ einsetzt.

Vom verlorenen Jahrzehnt zur Dekade nuklearer Abrüstung?

Mitte der 1990er Jahre erschienen die politischen Bedingungen für eine Welt ohne Kernwaffen noch günstig. Der Kalte Krieg war zu Ende, die gewaltigen Kernwaffenarsenale schienen obsolet, die Hoffnungen auf eine Rüstungskonversion waren groß. Der Ruf nach einer atomwaffenfreien Welt bestimmte zunehmend die internationalen Debatten. Kulminationspunkt war die Konferenz zur Überprüfung und Verlängerung des NVV in New York im April/Mai 1995, in deren Verlauf sich ein globales Netzwerk zur Abschaffung aller Kernwaffen bildete. Eine Studiengruppe des »International Network of Engineers Against Proliferation« (INESAP) präsentierte einen Report mit der Nuklearwaffenkonvention im Mittelpunkt.3 Das Gründungsdokument von »Abolition 2000« forderte Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention und einzelne Schritte zur Realisierung einer kernwaffenfreien Welt. Auf die Konferenz folgte eine Vielzahl von Aktivitäten für die nukleare Abrüstung, darunter die Stellungnahme des Internationalen Gerichtshofs zur Legalität des Kernwaffeneinsatzes von 1996, der Bericht der Canberra-Kommission im gleichen Jahr, der Friedensnobelpreis 1995 für Joseph Rotblat und Pugwash sowie Stellungnahmen ehemaliger Staatschefs und hochrangiger Militärs, die alle das Ziel einer atomwaffenfreien Welt anvisierten.4 Unter dem Druck der Öffentlichkeit wurden alle Atomwaffentests eingestellt und 1996 ein umfassender Teststopp-Vertrag vereinbart.

Weitere Fortschritte in der Genfer Abrüstungskonferenz gab es jedoch nicht, der geplante Produktionsstopp für Kernwaffenmaterialien liegt bis heute auf Eis. Mit den Ereignissen ab 1998 – Atomtests Indiens und Pakistans, konservative Wende in USA mit der Wahl George W. Bushs, Forcierung von Raketenabwehr, Weltraumrüstung und präemptiven Nuklearstrategien, Terroranschläge von 2001 – wurde eine neue Eiszeit in den internationalen Beziehungen ausgelöst. Bestehende Verhandlungsforen (START) und Rüstungskontrollabkommen (ABM-Vertrag) wurden aufgelöst, weitere Kontrollregime gerieten in Gefahr (Biowaffenkonvention, Weltraumvertrag). Die Jahre von 1998 bis 2007 waren ein verlorenes Jahrzehnt für die nukleare Abrüstung. Daran ändert auch der 2002 zwischen Bush und Putin vereinbarte Moskauer Vertrag (SORT) nichts, der ein Reduktionsziel von 1.700 – 2.200 Atomwaffen bis Ende 2012 vorgibt, aber den Prozess davor und danach offen lässt und in keiner Weise verifiziert.

Die Dringlichkeit zur Abschaffung aller Kernwaffen ist in den vergangenen Jahren nicht geringer geworden, und die öffentliche Einstellung gegenüber Atomwaffen ist durchweg negativ. Nach einer Umfrage unter US-BürgerInnen von 1997 stimmten 87% zu, dass „die USA ein Abkommen zur Beseitigung der Atomwaffen aushandeln sollten.“ 5 Einer jüngsten Umfrage zufolge wollen 69% der befragten Europäer in Frankreich, Italien, Deutschland, Belgien, Türkei und Großbritannien Europa atomwaffenfrei sehen.6 Auch die Bemühungen der internationalen Bewegung gegen Atomwaffen haben nicht nachgelassen:

Im US-Repräsentantenhaus wurden verschiedene Resolutionen eingebracht, die Verhandlungen über den Abschluss einer Nuklearwaffenkonvention forderten (von den Abgeordneten Lynn Woolsey, Dennis Kucinich und Eleanor Holmes Norton).7

Am 3. Oktober 2000 veröffentlichten 70 prominente US-Amerikaner eine Stellungnahme in der New York Times, in der sie die US-Regierung aufforderten, „die weltweite Verringerung und Beseitigung von Atomwaffen in einer Reihe wohldefinierter Schritte zu vereinbaren, begleitet von einer zunehmenden Überprüfung und Kontrolle.“ 8

Die US-Konferenz der Bürgermeister von 2001, die Versammlung des Weltkirchenrats von 2006 und das Treffen der Nobelpreisträger von 2006 verabschiedeten jeweils Resolutionen für die Abschaffung der Kernwaffen.9

Mehr als 1.500 Bürgermeister traten der »Mayors for Peace Vision 2020« bei, die den Abschluss von Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention bis 2010 fordert, mit dem Ziel der vollständigen Beseitigung von Atomwaffen bis 2020.

Im Oktober 2005 startete die Middle Powers Initiative das »Artikel VI Forum«, das gleichgesinnte Staaten zusammen bringen soll, um die rechtlichen, politischen und technischen Bedingungen zur Beseitigung von Kernwaffen zu bestimmen. Es sollen Verhandlungen über Abrüstungsschritte in die Wege geleitet werden, die zu einer Nuklearwaffenkonvention oder einem Rahmen von Instrumenten für die Abschaffung der Atomwaffen führen.10 Etwa 40 Regierungen haben an Konferenzen des »Artikel VI Forums« teilgenommen (in New York, Den Haag, Ottawa), die auf die NVV-Überprüfungskonferenz 2010 ausgerichtet sind.

Wichtig ist auch die von Hans Blix geleitete Kommission zu Massenvernichtungswaffen, die 2006 ihren Report »Weapons of Terror« veröffentlichte. Die Kommission empfiehlt „die Vorstellung zurück zu weisen, dass die Ächtung der Atomwaffen ein utopisches Ziel sei. Ein Vertrag zur nuklearen Abrüstung ist möglich und kann durch klug gewählte, sinnvolle praktische Maßnahmen erreicht werden. Es müssen Maßstäbe gesetzt, Definitionen vereinbart, Zeitpläne ausgearbeitet und Transparenzbedingungen ausgehandelt werden. Abrüstung muss in Gang gesetzt werden.“ 11

Die Debatte in den USA

Auch in Teilen des US-Establishments scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass die Fortexistenz der Kernwaffen die Sicherheit der USA untergräbt. Je weiter ihre Verbreitung voranschreitet, desto weniger sind die Overkill-Potenziale der USA eine Sicherheitsgarantie. Schon vor Jahren kamen der ehemalige US-Verteidigungsminister Robert McNamara, der frühere Präsident Jimmy Carter, der ehemalige Befehlshaber des US Strategic Command General Lee Butler und andere zu der Erkenntnis, dass die einzige Strategie, die das Risiko einer nuklearen Katastrophe ausschließt, die Abschaffung der Kernwaffen ist.

Dieser Ansicht haben sich die ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger, George Schultz und William Perry sowie US-Senator Sam Nunn angeschlossen. Gestützt auf ihre Erfahrung im Umgang mit Kernwaffen sehen sie es als „zunehmend riskant und immer weniger effektiv“ an, sich auf Kernwaffen zu verlassen. Die „neue nukleare Ära werde noch mehr prekär, psychologisch verwirrend und volkswirtschaftlich teuer sein als die Abschreckung des Kalten Krieges.“ 12 Sie unterstützen das Ziel einer kernwaffenfreien Welt und Aktivitäten, um dieses Ziel zu erreichen, in Anknüpfung an den Reykjavik-Gipfel zwischen Reagan und Gorbatschow im Jahre 1986. Eine Führung durch die USA sei erforderlich, um die Abhängigkeit von Atomwaffen zu verringern und Proliferation zu verhindern: „Ohne eine starke Vision werden die Handlungen nicht als fair oder dringlich angesehen. Ohne die Handlungen wird die Vision nicht als realistisch oder möglich angesehen.“

Auf gleicher Wellenlänge argumentierte die ehemalige britische Außenministerin Margaret Beckett im Juni 2007 in ihrer Rede bei der jährlichen Carnegie-Konferenz zur Nichtverbreitung, bei der die kernwaffenfreie Welt eine wichtige Rolle spielte. Der Applaus der Teilnehmer war Beckett sicher, als sie deutlich machte, dass wie schon beim Sklavenhandel das ultimative Ziel nicht die Regulierung oder Verringerung der Kernwaffen sei, sondern deren vollständige Beseitigung.13 Unter Bezugnahme auf ihre US-Kollegen sagte sie: „Was wir brauchen ist sowohl eine Vision – ein Szenario für eine Welt frei von Kernwaffen, und Handlungen – fortschreitende Maßnahmen zur Reduzierung der Zahl von Sprengköpfen und zur Begrenzung der Bedeutung der Kernwaffen in der Sicherheitspolitik.“

Nichtverbreitung vs. Abrüstung: kein Gegensatz

Während über das Ziel einer kernwaffenfreien Welt weitgehende Einigkeit herrscht, gibt es über den Weg dahin verschiedene Ansichten. Kofi Annan kritisierte die Polarisierung zwischen jenen, die Nichtverbreitung an die erste Stelle setzen und anderen den Zugriff auf Kernwaffen verwehren wollen, und den Abrüstungsbefürwortern, die Nichtverbreitung von Abrüstungsfortschritten abhängig machen. Nach Annan gehe es darum, Nichtverbreitung und Abrüstung gemeinsam anzugehen.

Differenzen gibt es darüber, ob nur einzelne Schritte verhandelt werden sollen oder auch das Gesamtziel einer kernwaffenfreien Welt. Bei einem inkrementellen Ansatz wird der jeweils nächste Schritt ins Auge gefasst, ohne eine integrierte Strategie zum Endziel. Ein Beispiel sind die auf der NVV-Konferenz 1995 vereinbarten Prinzipien und Ziele für Nukleare Nichtverbreitung und Abrüstung, die durch die bei der NVV-Konferenz 2000 ausgehandelten 13 Schritte konkretisiert wurden.14 Bis heute wurde praktisch keiner dieser Schritte umgesetzt. Selbst der umfassende Teststopp-Vertrag ist bislang nicht ratifiziert. Die Verhandlungen über den Produktionsstopp kernwaffenfähiger Materialien sind seit einem Jahrzehnt fest gefahren. Statt weiterer Fortschritte waren Rückschritte zu verzeichnen. Der gesamte Abrüstungsprozess kommt ins Stocken, wenn der nächste Schritt nicht aushandelbar ist, weil sich Staaten benachteiligt fühlen und verschiedene Interessen nicht in einem größeren Kontext ausbalanciert werden.

Eine gegenteilige Strategie ist die Festlegung eines gegebenen Zeitrahmens für die Beseitigung aller Atomwaffen, bevor die Implementierung und damit verbundene Schritte konkret ausgehandelt wurden – ein Ansatz, den die blockfreien Staaten bislang unterstützten. Ein zeitlich fixierter Rahmen ist problematisch, da er vorab eine Festlegung erfordert, die selbst Gegenstand von Verhandlungen ist. Besser ist es, Ziel und Handlungen im Zusammenhang anzugehen (wie auch von Kissinger et al. und Beckett vorgeschlagen).

Warum eine Nuklearwaffenkonvention?

Eine Nuklearwaffenkonvention enthält sowohl Maßnahmen zur nuklearen Nichtverbreitung wie auch zur Abrüstung und begegnet damit der von Annan kritisierten Trennung zwischen Nichtverbreitungs- und Abrüstungsbefürwortern. Sie konkretisiert das umfassende Ziel einer Welt ohne Atomwaffen durch spezifische Maßnahmen und Schritte zur Erreichung dieses Ziels. Sie setzt einen rechtlichen Rahmen für das Verbot und die Abschaffung aller Kernwaffen, die Kontrolle des Nuklearkomplexes und spaltbarer Materialien und damit verbundene Verifikationsmaßnahmen sowie die Rechte und Pflichten von Staaten und Individuen.

Im Rahmen der NWK-Arbeitsgruppe von »Abolition 2000« wurde 1995 das Ziel gesetzt, einen Modellvertrag zu entwerfen. In Zusammenarbeit mit IALANA, IPPNW und INESAP15 etablierte das »Lawyers Committee on Nuclear Policy« eine Kommission, die bei Treffen in New York und Darmstadt einen Modellentwurf ausarbeitete. Dieser wurde bei der NVV-Konferenz im April 1997 der Öffentlichkeit vorgestellt, und noch im selben Jahr von Costa Rica den Vereinten Nationen als offizielles Dokument vorgelegt (UN Document A/C.1/52/7). Das 1999 erschienene Buch »Security and Survival«16 erläuterte die Argumente für die NWK und diskutierte kritische Fragen über verschiedene Themen (Verifikation, Durchsetzung, internationale Sicherheit, Alternativen zur nuklearen Abschreckung, Terrorismus, Gesundheit und Umwelt, Kernenergie, nukleares Wissen, Umkehrbarkeit, Konversion, Forschung und Entwicklung).17 Bei der NVV-Konferenz in Wien im Mai 2007 und im Rahmen des Starts der Kampagne ICAN (International Campaign for the Abolition of Nuclear Weapons) legten IALANA, IPPNW und INESAP eine erweiterte und aktualisierte Fassung sowohl der Modell-NWK wie auch des Buches vor.18 Costa Rica, gefolgt von Malaysia, reichten das Dokument bei der NVV-Konferenz bzw. bei der UNO ein19, und das Abschlussdokument der NVV-Konferenz verwies gar auf die NWK.20

Der Modellentwurf wurde von vielen Regierungen und NGOs positiv aufgenommen und bietet die Möglichkeit, breitere Kreise in den weiteren Überarbeitungsprozess einzubeziehen. Die Mehrheit der Staaten ist zu Verhandlungen bereit. Im Dezember 2006 forderten bei der UNO-Generalversammlung 125 Staaten, darunter auch China, Indien und Pakistan, dazu auf, die Abrüstungsverpflichtung sofort zu erfüllen „durch Aufnahme multilateraler Verhandlungen, die zu einem frühen Abschluss einer Nuklearwaffenkonvention führen, die die Entwicklung, Produktion, Erprobung, Stationierung, Lagerung, Transfer, Bedrohung oder den Einsatz von Nuklearwaffen verbieten und ihre Eliminierung durchführen.“ 21 Weitere Unterstützung kommt vom Australischen Senat, Neuseelands Parlament und dem Europäischen Parlament, die mehrere Resolutionen für die Abschaffung der Atomwaffen und/oder die NWK angenommen haben. Jüngste Initiativen gab es auch im britischen House of Commons und im US-Kongress.22

Ein Hauptzweck der Modell-NWK ist zu demonstrieren, dass die Abschaffung der Kernwaffen möglich und praktikabel ist. Was beim Verbot von Antipersonenminen 1997 gelang, ist auch bei Atomwaffen möglich. Ein Schlüssel zum Erfolg der Landminenkampagne war die öffentlichkeitswirksame Fokussierung auf ein vollständiges Verbot, nicht nur die Kontrolle bestimmter Typen oder Einsatzformen, die aufwändig zu unterscheiden wären. Die Modell-NWK soll dazu beitragen, das Konzept in die politische Diskussion einzubringen und Verhandlungen anzustoßen. Die Neuauflage trägt geänderten politischen Bedingungen Rechnung und behandelt damit verbundene Fragen, etwa zu Terrorismus oder zur Renaissance der Kernenergie. Unterschiedliche Ansichten sollten kein Hinderungsgrund sein, den Verhandlungsprozess zu beginnen, weil Differenzen dort ausgetragen werden können. Auch wenn die internationale Sicherheitslandschaft für nukleare Abrüstung heute nicht ermutigend ist, kann die NWK als Katalysator dienen, um die Transformation in die nuklearwaffenfreie Welt zu ermöglichen.

Kann die NWK überprüft werden?

Die NWK hat das Ziel, bestehende Kernwaffenarsenale dauerhaft zu eliminieren, die Herstellung neuer Kernwaffen zu verhindern und die Barriere für die Abzweigung kernwaffenfähiger Materialien so hoch wie möglich zu setzen. Zugleich geht es darum, die illegale Beschaffung von Kernwaffen zu verhindern und zu entdecken. Dabei ist eine Vielzahl von Objekten und Aktivitäten zu überwachen, von der Erforschung und Entwicklung einzelner Komponenten bis zu Einsatz und Beseitigung vollständiger Kernwaffen, Trägersysteme und Materialien. Einige dieser Aktivitäten sind leicht zu entdecken (wie Kernwaffenexplosionen), andere erfordern erhebliche Anstrengungen zur Überprüfung (etwa die Suche nach versteckten Sprengköpfen). Grundsätzlich wachsen die Risiken von Unsicherheiten mit sinkenden Kernwaffenzahlen, weil dann einige wenige heimliche Kernwaffen oder Nuklearmaterialien als große Bedrohung gelten. Andererseits ist in einer atomwaffenfreien Welt jeder Besitz von Kernwaffen oder ihrer Komponenten untersagt und damit leichter entdeckbar als in einer Welt voller Kernwaffen.

Die Abschaffung der Atomwaffen kann wirksam sein, wenn der Abrüstungsprozess transparent ist und das Vertrauen zwischen den Vertragsparteien stärkt. Effiziente Verifikationsmaßnahmen sind wichtig, um heimliche kernwaffenbezogene Aktivitäten mit hinreichender Zuverlässigkeit zu entdecken. Dabei kann eine Vielfalt von Mitteln und Verfahren für die Verifikation eingesetzt werden: Fernerkundung im sichtbaren, infraroten und Radarbereich des elektromagnetischen Spektrums; seismologische, radiologische, hydroakkustische und Infraschall-Detektoren; Sensoren zur Nahbeobachtung; kooperative Verifikation (Informationsaustausch, Inspektionen, präventive Kontrollen, gemeinsame Überflüge).23

Um die Einhaltung einer NWK sicher zu stellen, ist es erforderlich, über die bisherigen Safeguards-Maßnahmen der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) hinaus zu gehen, die die Bilanzierung, Eingrenzung und Überwachung der Nuklearmaterialien durchführt. Deren Ziel ist die rechtzeitige Entdeckung, nicht die Verhinderung, der Abzweigung der Materialien. Die Fälle Irak, Iran und Nordkorea zeigen die Grenzen dieses Ansatzes. Das 1997 abgeschlossene zusätzliche Protokoll erweiterte die Autorität der Safeguards-Behörde, ohne jedoch hinreichende Mittel zur Entdeckung heimlicher Aktivitäten aus der Distanz bereit zu stellen. Verbesserungen umfassen erweiterte Deklarationsverpflichtungen, Inspektionen und Verfahren der Umweltbeobachtung. Wertvolle Erfahrungen haben die bilateralen Aktivitäten zwischen USA und Russland zur Überprüfung des INF-Vertrags und der START-Abkommen gebracht, sowie das Programm zur kooperativen Bedrohungsreduzierung zwischen Russland und den USA.

Es ist praktisch kaum möglich, Atomwaffen zu entwickeln, zu erproben und zu stationieren, ohne nachweisbare Spuren zu hinterlassen. Für die Produktion von Kernwaffenmaterialien sind große Anlagen erforderlich wie Reaktoren und Anreicherungsanlagen, die nur schwer zu verstecken sind. Selbst wenn sie nur kleine Mengen von Spaltstoffen freisetzen, sind diese mit empfindlichen Sensoren nachweisbar und lassen wie bei Fingerabdrücken Rückschlüsse auf ihre Quelle zu. Für die Bestandsaufnahme wichtig ist die sogenannte nukleare Archäologie, die versucht, ein möglichst genaues Bild vergangener nuklearer Aktivitäten zu rekonstruieren. Soziale Verifikation, vertrauensbildende Maßnahmen und institutionelle Mechanismen (internationale Agentur, Konsultationen, Konfliktschlichtung) zielen darauf, den gesellschaftlich-politischen Kontext zu stärken.

Die Modell-NWK sieht vor, Kernwaffenmaterialien umfassenden präventiven Kontrollen zu unterwerfen, die eine Abzweigung signifikanter Mengen nicht nur entdecken, sondern erschweren oder gar unmöglich machen sollen. Dabei müssen auch nukleare Stoffe im zivilen Sektor in den Verifikationsprozess einbezogen werden. Ein internationales Registrierungs- und Überwachungssystem umfasst zerstörungsfreie Detektionsverfahren für die Nahüberwachung und die Entdeckung von Radionukliden in der Umwelt (z.B. Krypton-85). Neben systematischen Basis-Inspektionen erlauben Bedarfs-Inspektionen den Zugang zu kritischen Anlagen an jedem Ort und zu jeder Zeit. Spezielle Techniken wurden entwickelt, um von einem Vertrag erfasste Objekte eindeutig zu identifizieren (tagging). Einige technische Verfahren sind grundsätzlich verfügbar, andere erfordern zusätzliche Forschung und Entwicklung.24

Anmerkungen

1) Kofi Annan, Lecture at Princeton University, November 28, 2006, http://www.wagingpeace.org/articles/2006/11/28_annan_abolition.htm.

2) UN General Assembly Resolution 1 (1) Establishment of a Commission to Deal with the Problems Raised by the Discovery of Nuclear Energy, adopted 24 January 1946.

3) Beyond the NPT – A Nuclear-Weapon-Free World, Study Group Report of the International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP), New York/Darmstadt 1995.

4) Siehe INESAP Information Bulletin aus dieser Zeit sowie: J. Scheffran: Wege zum Ziel – Studien zur nuklearwaffenfreien Welt, in: W. Bender & W. Liebert (eds.): Wege zu einer nuklearwaffenfreien Welt, Münster 2001: agenda, 33-56; J. Scheffran & W. Liebert & M. Kalinowski: Beyond the NPT: The Nuclear-Weapons-Free World, INESAP Information Bulletin, No. 25, April, 4-9, 2005

5) Lake, Sosin and Snell 1997, Findings on Nuclear Weapons, http://prop1.org/2000/970401.htm.

6) The Simons Foundation, Global Public Opinion on Nuclear Weapons, Vancouver, Canada, September 2007, www.angusreidstrategies.com/uploads/pages/pdfs/Simons%20Report.pdf.

7) H.Res 479, 105th Congress, 2d Session, June 18, 1998, H.Res.82, 106th Congress, 1st Session, February 24, 1999. Resolution to the 109th Congress calling for nuclear abolition, http://www.gsinstitute.org/pnnd/docs/US_Kucinich_abolition_bill.pdf. H. R. 2545 Nuclear Disarmament and Economic Conversion Act of 1999

8) An Appeal to End the Nuclear Threat: Concerned Americans Speak Out. New York Times advertisement, 3 October 2000, http://www.gsinstitute.org/gsi/pubs/rsp_ad.pdf.

9) U.S. Mayors Ask Bush to Commit to Eliminating Nuclear Weapons, 25 June 2001. www.gsinstitute.org/archives/000061.shtml#000061; World Council of Churches 9th Assembly. Minute on the Elimination of Nuclear Arms. Porto Alegre, Brazil, 14-23 Feb 2006; The Rome Declaration of Nobel Peace Laureates, 19 November 2006. www.pugwash.org/reports/nw/Nobelrome_declaration.pdf

10) „28 States Participate: Inaugural Article VI Forum“ United Nations, New York, October 3, 2005. http://www.middlepowers.org/mpi/pubs/ArticleVI_Report.pdf

11) Weapon of Mass Destruction Commission, final report, Weapons of Terror: Freeing the World of Nuclear, Biological and Chemical Arms (Stockholm: June 1, 2006), p. 109.

12) G.P. Shultz, H.A. Kissinger, W.J. Perry, S. Nunn. A world free of nuclear weapons. Wall Street Journal. 4 Jan 2007, pA15.

13) M. Beckett, Keynote Address: A World Free of Nuclear Weapons? Carnegie International Nonproliferation Conference, Washington, June 25, 2007.

14) Principles and Objectives for Nuclear Non-Proliferation and Disarmament, NPT/CONF.1995/L.5, 9 May 1995; Advancing the NPT 13 Practical Steps, Middle Powers Initiative, Briefing Paper, April 2003, http://www.gsinstitute.org/mpi/pubs/13steps_0403.pdf.

15) IALANA: International Association of Lawyers Against Nuclear Arms; IPPNW: International Physicians for the Prevention of Nuclear War.

16) M. Datan & A. Ware & M. Kalinowski & J. Scheffran & V. Sidel & J. Burroughs: Security and Survival. The Case for a Nuclear Weapons Convention, IPPNW, IALANA, INESAP, Cambridge, 1999. In deutscher Übersetzung: IPPNW, IALANA, INESAP, Sicherheit und Überleben. Argumente für eine Nuklearwaffenkonvention, Berlin, 2000.

17) Zur Diskussion siehe auch: M. Datan & A. Ware & J. Scheffran: Nuclear Weapons Convention on Track, INESAP Bulletin, No. 11, Dec. 1996, S.4-6; W. Liebert & J. Scheffran & M. Kalinowski: Vom Urteil des Weltgerichtshofs zur Nuklearwaffenkonvention, in: IALANA (ed.): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof, Münster 1997: LIT-Verlag, S.367-385; M.B. Kalinowski & W. Liebert & J. Scheffran: Ist die Zeit reif für die Nuklearwaffenkonvention?, in: Sicherheit und Frieden (S+F) 2/98, 108-114; J. Scheffran: Vom Nichtverbreitungs-Regime zur Nuklearwaffenkonvention, in: Dossier Atomwaffen, Wissenschaft und Frieden, 2/2004.

18) M. Datan & F. Hill & J. Scheffran & A. Ware: Securing Our Survival – The Case for a Nuclear Weapons Convention. IPPNW, IALANA, INESAP, Cambridge 2007; www.icanw.org/publications, www.inesap.org/books/securing_our_survival.htm.

19) NPT/CONF.2010/PC.I/WP.17, www.reachingcriticalwill.org/legal/npt/prepcom07/workingpapers/17.pdf. Eine deutsche Übersetzung der älteren Fassung findet sich unter www.atomwaffena-z.info/initiativen/nwc.pdf.

20) http://www.icanw.org/news#NWC%20in%20global%20meeting.

21) General Assembly vote on 6 December 2006, A/RES/61/83 Follow-up to the advisory opinion of the International Court of Justice on the Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, http://daccess-ods.un.org/access.nsf/Get?Open&DS=A/RES/61/83&Lang=E

22) PNND, Parliamentarians for Nuclear Nonproliferation and Disarmament, Update 18, July-August 2007.

23) Siehe weiter Kapitel 4 Verification in Datan et al 2007 und dort angegebene Quellen. Siehe auch M.B. Kalinowski & W. Liebert & J. Scheffran: Beyond technical verification. Transparency, verification, and preventive control for the Nuclear Weapons Convention, in: M.B. Kalinowski: Global Elimination of Nuclear Weapons, Baden-Baden 2000: Nomos, 61-68.

24) Verschiedene dieser Techniken sind beschrieben in INESAP Information Bulletin Nr. 27, Dec. 2006.

Dr. Jürgen Scheffran arbeitet in Forschung und Lehre an der University of Illinois zu Fragen internationaler Sicherheit und Umwelt. Er ist Mitbegründer von INESAP und »Abolition 2000« und Mitverfasser der Modell-Nuklearwaffenkonvention. INESAP ist das International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (http://www.inesap.org/).

Die Renaissance der Nuklearenergie

Die Renaissance der Nuklearenergie

Rettung in der Not oder Tod der Nichtverbreitung?

von Wolfgang Liebert

Mit den Atomwaffenprogrammen der 1940er Jahre nahm die Entwicklung nuklearer Technologien ihren ersten Aufschwung. Verfahren, die zunächst für die Produktion von Spaltstoff für die Waffe entwickelt wurden, insbesondere auch Urananreicherung und Plutoniumabtrennung, fanden später Anwendungen in kommerziellen Nuklearprogrammen.

Durch die weltweite Öffnung der Techniknutzung und -entwicklung (Genfer Konferenzen) und die Gründung der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) im Jahr 1957 entstand ein Geflecht von zivilen internationalen Kooperationsaktivitäten und nationalen Nuklearprogrammen, die in einer ganzen Reihe von Staaten auch zu eigenständigen Entwicklungen führten. Letztere blieben keineswegs immer rein zivil und allein auf kommerzielle Ziele ausgerichtet. In den 1970er Jahren waren militärisch avancierte Programme in den damals bereits fünf Kernwaffenstaaten zu verzeichnen – und auch noch heute werden die Waffenarsenale der inzwischen acht Kernwaffenstaaten (ohne Nordkorea) stetig modernisiert und verbessert. Gleichzeitig wurde damals die Kommerzialisierung nuklearer Energietechnologien betrieben und es entstanden entsprechende internationale Märkte. Damit erhöhte sich auch – aufgrund der zivil-militärischen Ambivalenz wesentlicher Technologien und Materialien – die Proliferationsgefahr.

In vielen Ländern entstanden Protestbewegungen, die Gefahren der Nukleartechnologienutzung thematisierten und große öffentliche Aufmerksamkeit erreichten. Spätestens in den 1990er Jahren wurde klar, dass keine ausreichende öffentliche Akzeptanz für die Kernenergie gegeben war. Dies korrespondierte mit einem schnellen Ende des Reaktorbooms, der allerdings im Wesentlichen der ökonomischen Unattraktivität des Neubaus von Reaktoren zuzurechnen ist. Die Kapitalkosten für ein Kernkraftwerk sind enorm, während die Brennstoffkosten heute weniger ins Gewicht fallen.1 Dementsprechend kalkulieren die Stromunternehmen lieber mit betriebswirtschaftlich attraktiveren Technologien – leider zumeist immer noch auf der Basis fossiler Energieträger.

Heute wird von einer Wiederbelebung der Kernenergienutzung gesprochen, ja sogar eine »Renaissance« der Kernenergie prognostiziert. Gleichzeitig werden die Gefahren der nuklearen Proliferation weit deutlicher thematisiert als in Phasen der Vergangenheit. Es ist zu fragen, ob Kernenergie angesichts des Klimawandels wirklich als Retter in der Not wirksam werden kann, wie manche behaupten, oder ob die Gefahren überwiegen – insbesondere die horizontale Proliferationsgefahr, also die Gefahr der Weiterverbreitung von Kernwaffen in weitere Staaten.

Stand der Kernenergie

Der internationale Stand der Nuklearprogramme kann knapp mit einigen Zahlen umrissen werden. Etwa 60 Länder betreiben Forschungsreaktoren. In 31 Ländern werden Leistungsreaktoren (insgesamt fast 450) für die Stromproduktion mit einer Kapazität etwas unterhalb von 400 Gigawatt betrieben. Der Nuklearstromanteil liegt damit weltweit bei knapp 17%; dies entspricht aber nur einem nuklearen Primärenergieanteil von 6%. Die sechs größten Nuklearstromproduzenten sind USA, Frankreich, Japan, Deutschland, Russland und Südkorea. Fünf Länder haben einen Nuklearstromanteil von mehr als 45% (Belgien, Frankreich, Litauen, Schweden, Ukraine). Trotz der Stagnation des weltweiten Ausbaus der Kernenergie seit Ende der 1980er Jahre ist die Stromerzeugungsmenge aus Kernreaktoren aufgrund der besseren Verfügbarkeit der Anlagen (heute fast 90%) noch bis Anfang des Jahrhunderts angestiegen (auf nunmehr etwa 2,7 Petawattstunden = 2.700 Milliarden kWh). Voraussichtlich wird die Bedeutung des Nuklearstroms in absehbarer Zukunft aber in absoluten und relativen Zahlen fallen, da kaum neue Reaktoren gebaut werden und die alten, die im Mittel bereits über 20 Jahre am Netz sind, nach und nach abgeschaltet werden. Daran werden auch die – bislang insbesondere in den USA – massiv betriebenen Laufzeitverlängerungen auf 40 und mehr Jahre, die die alten, abgeschriebenen Reaktoren zu »Gelddruckmaschinen« machen würden, nichts Wesentliches ändern können. Es sei denn, ein neuer Bauboom bräche aus. Dieser ist aber nicht in Sicht. Daher steht eher zu erwarten, dass die Reaktorkapazität bis 2025 auf weniger als die Hälfte schrumpfen und dann also unter 200 Gigawatt liegen wird.

Der Ausbau der Kernenergie wird von interessierter Seite mit dem Argument propagiert, so könnten wesentliche Beiträge zur Bekämpfung des drohenden Klimawandels geliefert werden. Heute ist der nukleare Weltprimärenergieanteil dazu zu klein – ebenso wie der Beitrag solarer Technologien. In der Tat ist die Kernenergienutzung im Betrieb weitgehend CO2-frei. Allerdings müssen der Reaktorbau und -rückbau berücksichtigt werden, weiterhin die Energieaufwendungen bei der Rohstoffgewinnung für den Brennstoff, die Urananreicherung und die Brennelementfabrikation und andere Dienste während des Betriebs und während der Nachsorge. Aber auch dann steht die Kernenergie in der CO2-Bilanz unter heutigen Gegebenheiten besser da als die fossilen Technologien, auch wenn man intelligente Formen der Kraft-Wärme-Kopplung betrachtet. Nachteilig wirkt sich aber aus, dass nukleare Leistungsreaktoren bislang nur Strom produzieren können und auf dem Wärmemarkt und im Bereich des Verkehrs, die beide ganz erhebliche Anteile am Energieaufkommen haben, keine Rolle spielen können. Dies begrenzt deutlich die Rolle der Kernenergie als »Retter in der Not«.

Zu den Schattenseiten der weltweiten Kernenergienutzung gehört die damit verbundene Verbreitung von sensitiven Nukleartechnologien. Urananreicherung ist für fast alle betriebenen Reaktoren notwendig, um schwach angereicherten Brennstoff zu produzieren. Prinzipiell könnte damit aber auch – je nach verwendeter Technologie – sehr leicht Hochanreicherung bis zu waffenverwendbarem, hochangereichertem Uran durchgeführt werden.2 In den Reaktoren, die Uranbrennstoff nutzen, fallen etwa 250 Kilogramm Plutonium pro Jahr (bei einem Gigawatt Leistung) an. Die Wiederaufarbeitungstechnologie erlaubt es, an diesen Spaltstoff zu gelangen, der prinzipiell für den Einsatz in Brennelementen, aber auch in Waffen geeignet ist. Eine Halde von mindestens 250 Tonnen abgetrennten Plutoniums wurde inzwischen im zivilen Bereich aufgetürmt – neben den ebenfalls etwa 250 Tonnen Plutonium in den Waffenprogrammen (ausreichend jeweils für rund 50.000 Sprengköpfe). Knapp 20 Länder beherrschen inzwischen prinzipiell mindestens eine oder beide dieser sensitivsten Nukleartechnologien. So muss nicht verwundern, dass die Zahl »virtueller Kernwaffenstaaten«3, die Voraussetzungen für Waffenprogramme durch zivile Aktivitäten erreichen, weiter anwächst.

Zu der zivil-militärischen Doppelverwendbarkeit treten weitere ambivalente Aspekte der Kernenergienutzung hinzu. Aus probabilistischen Sicherheitsuntersuchungen kann – bei aller Vorsicht, die bei der Generierung solcher Zahlen geboten ist – abgeleitet werden, dass eine 65 %-ige Wahrscheinlichkeit für einen Supergau innerhalb von 50 Jahren für die gegenwärtig weltweit betriebenen Reaktoren errechnet werden könnte. Pro betriebenen Reaktor (1 GW) fallen einige 10.000 Kubikmeter radioaktiver Abfall an. Zurzeit vermehren weltweit jährlich 10.000 Tonnen abgebrannter Brennstoff die schon vorhandene Menge an Atommüll, die sicher endzulagern wäre.

Ausbauszenarien

Wenn die Kernenergienutzung einen wirklich spürbaren Beitrag zur Minderung der Klimaproblematik durch fossile Brennstoffe haben soll, müsste die Kernenergie massiv ausgebaut werden. Zurzeit wäre die realistischste Option ein Ausbau zur langsam aber stetig wachsenden Deckung des Weltstrombedarfs. Im Folgenden betrachte ich als Szenario I den linearen Ausbau der Kernenergie bis 2040 auf etwa 33% des Weltstrombedarfs und damit auf etwa 1.500 Gigawatt, bei Annahme eines jährlichen Wachstums des Stromverbrauchs um 2%. Das entspräche immerhin einer Vervierfachung der Nuklearkapazität und damit einer Verdopplung des Anteils der Nuklearenergie in drei Jahrzehnten bei einem nuklearen Primärenergieanteil von auch dann kaum mehr als 10%. In Szenario II wird ein weit massiverer Ausbau der Kernenergie bis 2060 auf 50% des Weltstrombedarfs bei Annahme eines Wachstums des Stromverbrauchs von 2,5% betrachtet. Hier wüchse die nukleare Kapazität auf heute kaum vorstellbare fast 4.400 Gigawatt an (das wäre mehr als das Zehnfache der heutigen Kapazität, was immerhin nahe an 20% des Primärenergiebedarfs reichen würde).

Auch bei diesen beiden erheblichen Ausbauszenarien würde das Klimaproblem mithilfe nuklearer Technologien keineswegs gelöst, aber die Beiträge hätten immerhin mehr Relevanz als heute. Natürlich würde auch der Anfall an nuklearem Abfall massiv ansteigen. Ebenso sind Überlegungen zur Reaktorsicherheit wichtig. Setzt man voraus, dass es sich bei den »neuen« Reaktoren im Wesentlichen um heute realisierbare Druckwasserreaktoren handelt, deren Wahrscheinlichkeit für einen Supergau (Kernschmelze mit in der Regel folgender massiver Radioaktivitätsfreisetzung) so angenommen wird, wie in der Deutschen Reaktorsicherheitsstudie kalkuliert, so läge bei Szenario I die Wahrscheinlichkeit für einen Supergau weltweit innerhalb von 50 Jahren bei 30% und bei Szenario II bei etwa 80%. Ein Ausbau auf Basis dieser Technologie wäre also politisch kaum durchsetzbar. Daher müsste die Auslegung der Reaktoren zunächst sicherlich soweit verbessert werden, dass Unfallabläufe mit massiver Radioaktivitätsfreisetzung ausgeschlossen werden können (»Katastrophenfreiheit«) oder zumindest die Wahrscheinlichkeit für erhebliche Unfälle drastisch sinken kann.

Uranressourcen

Ein weiterer wesentlicher Faktor ist die Brennstofffrage. Wenn die Reaktoren auch in Zukunft im Wesentlichen Uranbrennstoff nutzen sollten, müsste sicher gestellt sein, dass genügend Uranressourcen für den vorgestellten Ausbau der Kernenergie zur Verfügung stehen. Ein großes Gigawatt-Kraftwerk benötigt etwas mehr als 25 Tonnen schwach angereicherten Uranbrennstoff pro Jahr. Dazu müssen etwa 200 Tonnen Natururan pro Jahr zur Verfügung stehen. Dies wiederum erfordert das Schürfen von rund 200.000 Tonnen uranhaltigem Erz (bei angenommenem mittleren Urangehalt von 0,1%) mitsamt den damit verbundenen gesundheitlichen und ökologischen Folgeproblemen. Heute werden also bereits rund 10.000 Tonnen Uranbrennstoff pro Jahr benötigt, was etwa 70-80.000 Tonnen Bedarf an Natururan entspricht. Die ökonomisch abbaubaren Uranressourcen sind nicht gleich verteilt auf der Welt, das heißt es bestehen für die Nuklearenergienutzer Abhängigkeiten von einigen wenigen Lieferländern, ähnlich wie beim Öl. Die wichtigsten Lieferländer sind zur Zeit Kanada, Australien, Kasachstan, Russland, Niger, Usbekistan und Namibia.

Wenn man in die regelmäßig von der IAEO und der Nuclear Energy Agency (NEA) vorgelegten Statistiken über die weltweiten Uranressourcen und -reserven schaut, findet man eine Angabe von etwas weniger als 15 Millionen Tonnen Uran. Davon sind Zweidrittel eher spekulativ, d.h. beruhen nicht auf gesicherten Kenntnissen über vorhandene Lagerstätten. Etwas weniger als ein drittel gelten als gesicherte Ressourcen und sind vermutlich für einen Preis bis zu 130 Dollar pro Kilogramm abbaubar. Bei Fortschreibung des gegenwärtigen (geringen) Standes der Kernenergie würden die »gesicherten« Ressourcen noch ein halbes Jahrhundert reichen, die »spekulativen« sogar zwei weitere Jahrhunderte.

Nun wären aber die oben diskutierten linearen Ausbauszenarien zu betrachten. Bei Szenario I wären die »gesicherten« Ressourcen bereits in drei Jahrzehnten erschöpft und bei Annahme eines konstanten Bedarf von etwa 300.000 Tonnen Uran pro Jahr ab 2040 wären auch die »spekulativen« Ressourcen bis etwa 2060 verbraucht. Bei Annahme des Szenarios II geht der Uranverbrauch naturgemäß schneller von statten. Die »gesicherten« Ressourcen wären in etwa 25 Jahren abgebaut und die »spekulativen« wären schon vor Erreichen des Ausbauziels im Jahr 2060 erschöpft.

Es zeigt sich also, dass ein massiver Ausbau der Kernenergie an den dann recht rasch schwindenden Uranressourcen scheitern könnte. Auch die IAEO geht davon aus, dass bei den von ihr betrachteten Ausbauszenarien ab Ende der 2030er Jahre eine zunehmende Abhängigkeit von »spekulativen« Ressourcen eintreten würde, was zumindest zu Unsicherheiten führen könnte.4

Plutoniumnutzung?

Wenn die Kernenergie längerfristig eine größere Rolle auf dem Energiemarkt der Zukunft spielen soll, wird man demnach zu neuen Brennstoff- und Reaktorkonzepten kommen müssen. Eine schon seit Jahrzehnten ins Auge gefasste Option ist die Nutzung von Plutonium als Spaltstoff. Die schon technisch reife Nutzung als Uran-Plutonium-Mischoxid-Brennstoff (MOX) in heute bereits laufenden Leichtwasserreaktoren kann allerdings nur zur Streckung der Uranressourcen um 10-30% führen und ist überdies ökonomisch völlig unattraktiv im Vergleich mit reinem Uranbrennstoff, da die Produktionskosten für MOX-Brennstoffe erheblich zu Buche schlagen.

Seit Jahrzehnten wird auch an der Brütertechnologie geforscht, mit der letztlich eine Netto-Spaltstoff-Produktion in diesem speziellen Reaktortyp durch »Erbrüten« von Plutonium angestrebt wird. Wenn genügend hohe Brutfaktoren erreichbar werden, könnte die Ressourcenfrage für viele Jahrhunderte gelöst werden. Allerdings steht die Wirtschaftlichkeit dieses Technikpfades in Frage.5 Die Plutoniumnutzung wird erst wirtschaftlich attraktiv, wenn die Uranpreise so extrem angestiegen sind, dass sie relevante Anteile der Stromgestehungskosten ausmachen würden.

Die Technikentwicklungslinie des Brüters war aber bislang nicht erfolgreich und hatte erhebliche Rückschläge durch Unfälle in Versuchsreaktoren zu verzeichnen. Auch müsste das Katastrophenpotenzial von Brütern weit höher eingeschätzt werden als bei den heute gängigen Leichtwasserreaktoren. Weiterhin setzt jede Plutoniumnutzung zwingend die Wiederaufarbeitung von abgebranntem Brennstoff sowie in der Regel den Transport und die Wiederverarbeitung zu plutoniumhaltigen Brennstoffen, die wiederum transportiert werden müssten, voraus. Hier würde regelmäßig der direkte Zugang zu Waffenstoff besonders hoher Qualität erzeugt und dies – in einer Welt voller Brüter – in weit größerem Umfang, als dies bereits heute der Fall ist. Safeguards (sog. Sicherungsmaßnahmen) der IAEO für entsprechende Anlagen sind höchst unscharf und könnten keineswegs sicher stellen, dass Abzweigungen für etwaige Waffenzwecke auch entdeckt werden könnten – und sei es auch nur im Nachhinein. Nach heutigem Technik- und Kenntnisstand würden die Proliferationsgefahren also in gewaltigem Umfang ansteigen, wenn der Brüter- und Plutoniumpfad beschritten würde.

Neuentwicklungen

Wenn die Kernenergie in der absehbaren Zukunft einen wesentlichen Beitrag zu Minderung der Klimaproblematik leisten soll, so sind mindestens hinsichtlich dreier Aspekte erhebliche Fortschritte in den technologischen Konzepten zu erreichen. Erstens müsste die zurzeit fehlende Wettbewerbsfähigkeit für neue Reaktoren überwunden werden. Zweitens müsste die Anlagensicherheit um mindestens eine Größenordnung verbessert werden. Drittens müsste die Abhängigkeit von Uranressourcen durch neue Brennstoffkonzepte fallen. Dies würde viertens die Proliferationsfrage in erheblichem Umfang verschärfen, insbesondere wenn der Plutoniumpfad verfolgt werden sollte. So wächst der Erfolgsdruck, was Weiterentwicklungen hinsichtlich verbesserter oder neuartiger Nukleartechnologie angeht.

Wohl auf russische Initiative und unter Ägide der IAEO besteht seit 2000/2001 eine Zusammenarbeit von 22 Ländern im »International Project on Innovative Nuclear Reactors and Fuel Cycles« (INPRO), die in mehreren Phasen organisiert wird. Erste Berichte sind erschienen, die grundlegende Prinzipien, Kriterien und Methodologien für Neu- oder Weiterentwicklungen und erste Fallstudien so genannter »Innovativer Nuklearer Energiesysteme« diskutieren. Dabei ist viel von „nachhaltiger Entwicklung“ und „ganzheitlicher Beurteilung“ die Rede.6

Auf US-amerikanische Initiative wurde 2001 eine Kollaboration in dem »Generation IV International Forum« (GIF) gestartet, an der inzwischen neben den USA auch Argentinien, Brasilien, Frankreich, Großbritannien, Japan, Kanada, Schweiz, Südafrika, Südkorea und ebenfalls die EU teilnehmen. Anfang 2003 wurde eine »Technological Roadmap« vorgestellt, die sechs „besonders viel versprechende Konzepte“ für eine vierte Spaltreaktoren-Generation der Zukunft skizziert.7 2005 wurden erste bi- und multilaterale Rahmenabkommen abgeschlossen, um die Kooperation bei der Entwicklung neuer Reaktoren zur Strom- und Wasserstoffproduktion voranzutreiben. Das US-Budget war 2006 noch nicht sonderlich groß (55 Mio. $), aber gleichzeitig wurde eine weitere umfassendere Initiative gestartet, das Programm »Global Nuclear Energy Partnership« (GNEP). Hier soll es um fortgeschrittene Brüter- und Wiederaufarbeitungskonzepte gehen, die eigentlich im Widerspruch zur US-Politik der Nicht-Wiederaufarbeitung und des Verzichts auf Plutoniumnutzung stehen, sowie um internationale Brennstofflieferungen, wobei Nutzer- und Lieferländer voneinander getrennt behandelt werden sollen, und um eine fortgeschrittene Brennstoff-Initiative, die Alternativen zum bislang üblichen Uran-Brennstoff untersuchen soll und bereits seit 2005 besteht.

Im Bereich der fortgeschrittenen Spaltreaktorkonzepte hat die GIF-Kooperation weitere Prioritisierungen über die erste Vorauswahl von sechs Systemen hinaus vorgenommen. An erster Stelle scheint nun ein gasgekühltes Hochtemperaturreaktorprojekt (VHTR) mit besonders hoher Austrittstemperatur des Kühlmittels Helium von etwa 1.000 Grad zu stehen. Die Wasserstoffproduktion und eine Stromproduktion mit hohen Wirkungsgraden oberhalb von 50% sind angestrebt. Allerdings gibt es offene technische Fragen hinsichtlich der Heliumturbinen, hochtemperaturbeständigen Werkstoffen und der Radioaktivitätsrückhaltung der Brennelemente. Ein Teil der notwendigen Technologieentwicklung kann als Zwischenschritt zu gasgekühlten, »schnellen« Brutreaktoren (GFR) angesehen werden. Ein so genannter »geschlossener« Brennstoffkreislauf und das vorgesehene Management der anfallenden Aktiniden (Uran und Transurane wie Plutonium) gelten als Erfüllung von Nachhaltigkeitszielen. Eine Barriere gegen Proliferation wird durch neue Wiederaufarbeitungstechnologien versprochen. Zwei weitere Brüterkonzepte sollen längerfristig verfolgt werden, ein Blei-gekühlter (LFR) und das alte Problemkind der Reaktorentwicklung, ein Natrium-gekühlter schneller Reaktor (SFR). Eine Realisierung der vorgeschlagenen Systeme ist allerdings erst bis 2025/2030 angepeilt, bei den Brütern wohl erst zehn Jahre später.

Nationale und kommerzielle Forschungs- und Entwicklungsprogramme hatten bislang zwar einige Erfolge bei der stetigen Weiterentwicklung und Verbesserung der Sicherheitseigenschaften existierender Technologie, aber kaum Erfolge bei fortgeschritteneren Systemen, wie z.B. Hochtemperatur- oder Brutreaktoren. So bestehen viele offene Fragen: Was sind die Voraussetzungen und die Unsicherheitsmargen für die Versprechungen, die die Entwickler heute machen? Welche Verbesserungen der Sicherheitseigenschaften neuer Systeme erscheinen tatsächlich erreichbar? In wie weit sind angestrebte Verbesserungen hinsichtlich Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit realistisch? Kann die Art der vorgesehenen Atommüll-Behandlung tatsächlich mit Nachhaltigkeitszielen in Verbindung gebracht werden? Wie überzeugend und glaubwürdig sind die technologischen Nichtverbreitungs-Strategien?

Dass hier ein großer Bedarf für ein unabhängiges und prospektives Technology Assessment besteht8, zeigt beispielhaft die behauptete Proliferationsresistenz neuer Wiederaufarbeitungstechnologien. Dem steht entgegen, dass bei dem UREX-Prozess, der das heute übliche PUREX ersetzen soll, anscheinend lediglich ein weiteres Transuranelement (Neptunium-237) dem Produktstrom zugefügt werden soll, was kaum die Waffenverwendbarkeit des zurückgewonnenen Spaltmaterials ausschließen könnte. Bei einem anderen heute propagierten Verfahren des Pyroprocessing würden zwar alle Aktiniden gemeinsam abgetrennt werden, aber deren kritische Masse insgesamt bliebe für Waffenanwendungen attraktiv und die vor Zugriff schützende Strahlenbarriere, die in dem waffentauglichen Elementgemisch entsteht, läge unterhalb der IAEO-Standards.

Aussichten

Ob sich die Kernenergie tatsächlich in einigen Jahrzehnten zum Klimaretter aufschwingen könnte, ist heute nicht mit Sicherheit zu beantworten. Zu viele relevante Aspekte der Entwicklung liegen im Bereich reiner Spekulation. Dennoch konnten hier Grundlinien der theoretischen Möglichkeiten und praktisch vorhandene Fallstricke deutlich gemacht werden. Sicher ist, dass die Kernenergie noch Jahrzehnte Entwicklungsarbeiten bräuchte, um dann möglicherweise akzeptabler für die Energieanbieter und die Öffentlichkeit zu werden. Dann könnten – allerdings erst recht spät – etwas relevantere Beiträge als heute zur Dämpfung des Klimaproblems geleistet werden, ohne allerdings das Klimaproblem zu lösen. Ob die dazu notwendigen Entwicklungsschritte erreichbar sind, darf heute als sehr fraglich bezeichnet werden.

Eines wäre sicher nötig: Die Länder mit großen Bevölkerungszahlen und wachsendem Energiehunger müssten massiv in die nukleare Option investieren. Zusätzlich zu den jetzigen bevölkerungsreichen Nuklearstaaten China, Pakistan und Indien müssten hinzukommen: Indonesien, Nigeria, Brasilien, Bangladesh, Äthiopien, Mexiko, Philippinen, Vietnam, Iran, Ägypten, etc. Auch sechs arabische Länder haben kürzlich – offenbar als Reaktion auf das iranische Programm – ein nukleares Engagement angekündigt. Weder ist klar, ob die genannten Länder wirklich auf die nukleare Karte werden setzen wollen und ob genügend Investitionskapital zusammengebracht werden könnte, noch ist heute absehbar, ob überhaupt der notwendige technische Stand in wenigen Jahren aufgeholt werden könnte. Würde dann tatsächlich in die Plutoniumtechnologie investiert? Würden Anreicherungsanlagen gebaut? Angesichts der Liste von Ländern mag man sich die Gefahren der nuklearen Proliferation nicht ausmalen. Das Safeguardssystem der IAEO wäre jedenfalls völlig überfordert und ungeeignet, um eine Sicherheit gegen Proliferation zu erreichen. So stellt sich die doppelte Frage, ob es eine »nukleare globale Klimapolitik« überhaupt geben und ob man sie wollen kann?

Anmerkungen

1) Der Bau des ersten, evolutiv aus bekannten Reaktorkonzepten ein wenig fortentwickelten EPR-Druckwasserreaktors im finnischen Olkiluoto (1,6 GW) ist nur erklärlich durch das Festpreisangebot von AREVA in Höhe von 3 Mrd. Euro, was voraussichtlich kaum die tatsächlichen Baukosten decken werden wird.

2) Vgl. dazu Ausführungen in den Beiträgen von W. Liebert und M. Kalinowski sowie von M. Englert und C. Pistner in diesem Heft.

3) Vgl. die entsprechenden Aussagen des IAEO Generaldirektors M. ElBaradei gemäß der Nachrichtenagentur Reuters, 16.10.2006.

4) IAEO – International Atomic Energy Agency: Analysis of Uranium Supply, Wien, 2001.

5) Vgl. z.B. Bunn, M.; Fetter, S., Holdren, J.; van der Zwaan, B.: The Economics of Reprocessing vs. Direct Disposal of Spent Nuclear Fuel. Project on Managing the Atom, Harvard University DE-FG26-99FT4028, 2003.

6) IAEO – International Atomic Energy Agency: Guidance for the evaluation of innovative nuclear reactors and fuel cycles. Report of Phase 1A of the International Project on Innovative Nuclear Reactors and Fuel Cycles (INPRO), IAEA-Tecdoc-1362, Wien 2003; IAEO – International Atomic Energy Agency: Methodology for the Assessment of Innovative Nuclear Reactors and Fuel Cycles. Report of Phase 1B (first part) of INPRO, IAEA-Tecdoc, Wien 2005.

7) U.S. Department of Energy: A Technology Roadmap for Generation IV Nuclear Energy Systems, Dec. 2002.

8) W. Liebert: Vergleich fortgeschrittener Nuklearsysteme zur Energieerzeugung – Aspekte prospektiver Technikgestaltung. In: E.Rebhan (Hrsg.): Energiehandbuch – Gewinnung, Wandlung und Nutzung von Energie, Springer-Verlag, Berlin, 2002, S.559-592.

Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Koordinator der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TU Darmstadt und ist Vorsitzender des Forschungsverbundes Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS).