Pazifismus im Zeichen neuer Gewalt. Zehn Thesen

Pazifismus im Zeichen neuer Gewalt. Zehn Thesen

von Karlheinz Koppe

(1) Radikalpazifistisches Verhalten ist die eindeutigste Alternative zu militärischer Gewalt. Da in der Regel solches Verhalten nur die Einzelperson in ihrem Gewissen verpflichten kann (religiös oder humanistisch motivierte Ethik), bedarf pazifistisches Verhalten, um politisch relevant zu werden, zusätzlicher rationaler Begründung und pragmatischer, auf den Einzelfall bezogener Handhabung. In jedem Fall bedeutet pazifistisches Verhalten die Ablehnung einer Doppelmoral, die individuelles Töten unter Strafe stellt, kollektives Töten im Kriege dagegen rechtfertigt.

(2) Zum Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts ist pazifistisches Verhalten in besonderer Weise geboten, weil durch die anhaltende Fortentwicklung von Massenvernichtungswaffen – auch nach Beendigung der Ost-West-Konfrontation – Technologien und Fähigkeiten des Menschen, die gesamte Zivilisation vernichten zu können, weiterhin zunehmen. Hinzu kommt, daß durch die Zunahme der Weltbevölkerung Nischen, in die sich früher Menschen in Kriegs- oder Notzeiten zurückziehen konnten, kaum noch vorhanden sind.

(3) Wer für pazifistisches Verhalten eintritt, muß den Faktor »menschliches Versagen« und die Existenz aggressiver Staaten in Rechnung stellen. Es wird immer ein gewisses Ausmaß an individueller und kollektiver Gewalt geben, mit der gewaltarm umzugehen wir lernen müssen. PazifistInnen sind nicht gegen strafrechtliche Verfolgung von Delikten, die gegen andere Personen oder ganze Personengruppen begangen werden, und folglich auch nicht gegen rechtsstaatliche »Ordnungskräfte« (Polizei).

(4) PazifistInnen setzen sich deshalb vorrangig für Friedenswahrung durch staatliche und internationale Rechtsordnungen ein, die auf einen gerechten Ausgleich von Lasten und Pflichten gegründet sein müssen. Gewalt eindämmen zu wollen, ohne die Ursachen von Gewalt anzugehen, ist illusionär und zynisch. Demokratie allein macht nicht satt. Menschen brauchen und erwarten Nahrung, Wohnung, Kleidung, Arbeit und vor allem Lebensperspektiven.

(5) Aus pazifistischer Sicht ist Militär ungeeignet, gewaltsame Konflikte beizulegen, auch nicht kurzfristig oder als sogenannte ultima ratio. Militärische Gewalt erweist sich in der Regel nicht als das geringere, sondern als das größere Übel. Allein schon das Denken in militärischen Kategorien beeinträchtigt – oder verhindert sogar – nichtmilitärische, politische, zivile Chancen des Konfliktaustrags.

(6) PazifistInnen können darauf verweisen, daß Krieg inzwischen geächtet ist. Was heute als »Kriege« bezeichnet wird, sind in Wirklichkeit ethnonational aufgeheizte soziale Gewalteruptionen in politischen Umbruch- und/oder wirtschaftlichen bzw. ökologischen Elendsregionen. Militärische Interventionen sind sinnlos, weil sie die Ursachen dieser Gewalteruptionen nicht beheben. Abhilfe können nur wirtschaftliche und soziale Maßnahmen zur Selbsthilfe schaffen.

(7) Pazifistisches Verhalten ist auch gerechtfertigt, weil Militär in der Regel politisch überholte Ordnungen verteidigt. »Patriotismus« hat die gleiche Wurzel wie »Patriarchat«. Die damit verbundenen Herrschafts- und Machtansprüche werden durch Militär – unabhängig von jedem »Verteidigungsauftrag« – gestützt. Überdies fröhnt Militär wie jede Großorganisation einem ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb. Dieses traditionelle Strukturmuster bremst oder verhindert Reformen und kreativ-kritisches BürgerInnenverhalten. Stattdessen sind Zivilcourage und – im Grenzfall – ziviler (staatsbürgerlicher) Ungehorsam gefragt.

(8) Pazifistisches Handeln kann sich auf die friedfertige Gesinnung großer Mehrheiten der Bevölkerungen stützen. Diese werden in Krisensituationen oft von nur wenigen machtbesessenen und korrupten Akteuren manipuliert, instrumentalisiert und von aufgabenlosen Soldatesken terrorisiert. PazifistInnen sind darum bemüht zu untersuchen, was Frieden bewirkt, um mittels solcher Erkenntnisse zu verhindern, daß Friedfertigkeit in Aggressivität umschlägt, und um Wege zu finden, gewalttätige Minderheiten in ihre Schranken zu weisen. Prinzipien der sozialen Verteidigung können dabei hilfreich sein.

(9) Instrumente pazifistischen Handelns sind präventive Maßnahmen und Vermittlung in konkreten Konfliktfällen (Mediation). Die dazu bereiten Personen, Institutionen und humanitären Organisationen haben Anspruch auf Schutz, den zu gewährleisten Aufgabe internationaler Polizeikräfte ist, die dazu besonderer Ausbildung bedürfen (Sprache, Konfliktkenntnis, Konfliktverhalten, administrative Fähigkeiten usw.). Das Konzept der Blauhelme ist spätestens seit der Militärintervention in Somalia diskreditiert. In den Fällen, in denen Blauhelme erfolgreich waren, hätte ein Erfolg ebenso durch internationale Polizei, Beobachtermissionen und zivile Friedensdienst, erzielt werden können; in den Fällen, in denen sie nicht erfolgreich waren, hat ihnen ihr militärisches Potential nichts genutzt.

(10) Pazifistisches Handeln setzt ein hohes Maß an Erziehung zum Frieden voraus. Diese darf sich nicht allein am Gewaltverzicht orientieren; sie muß auch die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Gerechtigkeit einbeziehen, die durch Wahlen oder Marktwirtschaft allein nicht verwirklicht werden. Kein Frieden ohne Recht und Gerechtigkeit!

Zur Verabschiedung von Karlheinz Koppe

Im Dezember des vergangenen Jahres verabschiedete sich
Karlheinz Koppe als Leiter der Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn. Wohl keine/-r seiner
Kolleginnen und Kollegen, die mit ihm im Laufe der Jahre zu tun hatten, werden davon
sprechen wollen, daß er in den »wohlverdienten Ruhestand« ging. Er selbst sicherlich
auch nicht, denn allein schon seine Wahl – justamente – als Generalsekretär der
International Peace Research Association (IPRA) signalisiert, daß er andere Aufgaben,
aber nicht unbedingt die (sicherlich wohlverdiente) Ruhe sucht.

Schon das aus dem Anlaß seiner Verabschiedung von der HSFK am 16. Dezember in Bonn veranstaltete Kolloquium machte deutlich, daß nicht nur Karlheinz Koppe nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben seiner Berufung als Friedenswissenschaftler weiterhin verpflichtet ist, sondern auch, daß seine ihn tragende und oft von ihm vorgetragene und vertretene Idee und Überzeugung des Pazifismus trotz aller Unkenrufe auch heute noch (oder gerade heute wieder) von großer Bedeutung für die Friedenspolitik sind, bzw. sein könnten.

Um dies deutlich zu machen und aus Anlaß seiner Verabschiedung, drucken wir hier die „Zehn Thesen zum Pazifismus im Zeichen neuer Gewalt“ von Karlheinz Koppe ab. Entnommen sind sie der Festschrift für ihn „Dem Humanismus verpflichtet. Zur Aktualität pazifistischen Engagements“ (hrsg. von Thomas Dominikowski und Regine Mehl, agenda Verlag, Münster 1994).

Karlheinz Koppe

Pazifismus nach dem Ende

Pazifismus nach dem Ende

von Wolfgang Sternstein

Was ist Pazifismus? Das hängt, wie so oft, von der Definition ab. Verstehen wir unter Pazifismus den Appell an alle Völker: Die Waffen nieder, zerbrecht die Gewehre und tragt eure Konflikte künftig mit friedlichen Mitteln aus, d.h. durch Verhandlungen, Schiedsgerichte, internationale Gerichtshöfe, wirtschaftliche, soziale und politische Sanktionen, dann bin ich kein Pazifist. Es hat sich nämlich gezeigt, wie wirkungslos dieser Appell angesichts brutaler und erbarmungsloser Gewaltandrohung oder -anwendung verhallt.

Die Folge ist denn auch regelmäßig die Kapitulation. So warfen nicht wenige Pazifisten in den Niederlanden, in England und in Frankreich ihre bedingungslose Ablehnung militärischer Gewaltanwendung angesichts des heraufziehenden faschistischen Unwetters über Bord.

Heute befinden wir uns in einer ähnlichen Situation. Das Wettrüsten, die atomare Bedrohung in Mitteleuropa erzeugte in weiten Teilen der Bevölkerung das Bewußtsein: Wenn wir so weitermachen, wird dieses Land, vielleicht sogar die ganze Welt, im atomaren Inferno untergehen. Die Devise lautete folglich: Stopt das Wettrüsten, weltweite Abrüstung der ABC-Waffen usw.

Der Kalte Krieg ist – vorläufig(?) – zu Ende. Angesichts der brutalen Durchsetzung nationaler, ethnischer, wirtschaftlicher, politischer und ideologischer Interessen ging der Pazifismus wieder einmal über Bord. Zuerst beim Golfkrieg, als ein Teil der Linken meinte, in Saddam Hussein einen arabischen Hitler bekämpfen zu müssen, und jetzt im jugoslawischen Bürgerkrieg, wo grüne Politiker den Totalitarismus am Werke sahen. Solche m.E. vorschnellen Gleichsetzungen wären auf ihren Realitätsgehalt zu untersuchen. Doch das ist nicht mein Thema. Wenn wir also unter Pazifismus den Vernunftappell verstehen: Legt die Waffen nieder und tragt eure Konflikte gewaltlos aus, dann bin ich kein Pazifist. Wenn wir darunter jedoch eine Haltung verstehen, die bemüht ist, Konflikte aller Art ohne Drohung oder Anwendung von Gewalt zu lösen, dann bin ich ein Pazifist, dann fühle ich mich auch in der Lage, diese Position argumentativ zu vertreten. Mit anderen Worten: ich bin ein leidenschaftlicher Befürworter der gewaltfreien Aktion als ein Mittel der Konfliktaustragung. Was ist damit gemeint? Um diese Frage zu beantworten bedarf es einer theoretischen Vorklärung.

Die Friedens- und Konfliktforschung unterscheidet drei große Bereiche ihres Forschungsgegenstandes: Konfliktursachen, Konfliktverläufe und Konfliktergebnisse. Diese Bereiche im einzelnen darzustellen ist hier nicht der Ort. Ich beschränke mich auf einen einzigen Aspekt – auf die Methoden der Konfliktaustragung. Sie entscheiden nämlich ungeachtet der Konfliktursachen, über die Konfliktergebnisse. Stark vereinfacht lassen sich drei Kategorien von Konfliktaustragungsmethoden unterscheiden:

  • der mit Gewalt ausgetragene Konflikt
  • der mit relativ gewaltlosen oder unblutigen Methoden ausgetragene Konflikt und
  • der mit gewaltfreien Methoden ausgetragene Konflikt.

Das Ergebnis eines mit Gewalt ausgetragenen Konflikts – so lautet meine These – ist stets mehr Gewalt. Bei einem mit relativ gewaltlosen Methoden ausgetragenen Konflikt bleibt das Gewaltpotential in etwa gleich. Und bei einem mit gewaltfreien Methoden ausgetragenen Konflikt ist das Ergebnis weniger Gewalt. Das gilt unabhängig von der Art des Konflikts, der Art seiner Ursachen, seiner Intensität oder der Anzahl der Konfliktbeteiligten.

Der mit Gewalt ausgetragene Konflikt

Die Behauptung, der mit Gewalt ausgetragene Konflikt führe, unabhängig von den Umständen des jeweiligen Falles stets zu neuer und größerer Gewalt, stößt meist auf entschiedenen Widerspruch. Gibt es nicht zahllose mit Gewalt ausgetragene Konflikte, die mit einer Einigung, und zahllose Kriege, die mit einem Friedensschluß endeten? Gewiß, und doch sollten wir uns durch den Schein nicht täuschen lassen. Oft genug ist die Einigung oder der Friedensschluß nicht mehr als ein Waffenstillstand bis zur nächsten, noch blutigeren Auseinandersetzung. Oft genug ist ein »Frieden«, bei dem der Sieger dem Beseigten die Friedensbedingungen diktiert und der Besiegte auf Rache sinnt. Manchmal geht der heiße Krieg in einen kalten über oder er wird abgelöst von einem Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis zwischen Sieger und Besiegten. In der Sprache der Friedensforschung heißt das, die personale Gewalt, die sich in verletzenden oder tötenden Handlungen äußert, geht über in strukturelle Gewalt, d.h. in Besitz-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse, in denen die Gewalt gleichsam in den gesellschaftlichen Strukturen geronnen ist. Selbstverständlich kann die strukturelle Gewalt auch wieder in personale Gewalt übergehen, wie wir das in Aufständen, Hungerrevolten, Revolutionen und Bürgerkriegen erleben. Man kann geradezu davon sprechen, die Gewalt gehe von einem Aggregatzustand in einen anderen über. Doch weniger wird sie dadurch nicht, sie nimmt vielmehr zu.

Aber, so mag eingewandt werden: ist nicht an die Stelle der »Erbfeindschaft« zwischen Frankreich und Deutschland heute fast so etwas wie eine »Erbfreundschaft« getreten, was niemand zu hoffen wagte? Hat sich im Verhältnis dieser beiden Völker nicht entscheidendes verändert trotz der furchtbaren Kriege, die sie gegeneinander geführt haben? Wir dürfen uns durch Oberflächenerscheinungen jedoch nicht täuschen lassen. Das Gewaltpotential ist keineswegs geringer geworden. Es ist lediglich in der Zeit des Kalten Krieges nach Osten umorientiert worden. Seit dem Ende des Kalten Krieges findet eine Umorientierung nach Süden statt, möglicherweise demnächst auch gegen die Weltwirtschaftskonkurrenten Japan und USA. Ist es wirklich purer Zufall, daß die beiden Staaten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine expansive Territorialpolitik betrieben, heute den Weltmarkt beherrschen? Mir scheint, sie haben aus dem Scheitern ihrer Welteroberungspläne nur eines gelernt: Es ist besser, Märkte statt Länder zu erobern. Die Völkergemeinschaft sieht es nicht gern, wenn ein Staat territorial expandiert. Eine wirtschaftliche Expansion ist dagegen weniger riskant, denn cosi fan tutte – sie machen es alle. Die »Erbfreundschaft« zwischen Deutschland und Frankreich kann dort ganz schnell beendet sein, wo die beiden Staaten sich als Wirtschaftskonkurrenten gegenüber stehen.

Ein Blick, der sich durch die zahlreichen Erscheinungsformen der Gewalt nicht täuschen läßt, sondern auf das Gemeinsame hinter diesen Erscheinungsformen blickt, wird bei eingehender Analyse bestätigt finden, daß am Ende eines mit direkter oder indirekter Gewalt ausgetragenen Konflikts das Gewaltpotential stets gewachsen ist.

Der mit relativ gewaltlosen Methoden ausgetragene Konflikt

Charakteristisch für diesen Konflikttypus ist, daß dem Konfliktgegner das Existenzrecht nicht bestritten wird. Gewalt im Sinne verletzender oder tötender Handlungen wird von beiden Konfliktparteien von vornherein ausgeschlossen. Es geht um ein nach bestimmten Spielregeln ablaufendes Kräftemessen, bei dem, wie bei einem sportlichen Wettkampf, Sieger und Verlierer ermittelt werden. Das Ergebnis ist in der Regel ein Kompromiß, der für einen vereinbarten Zeitraum gilt, und dem Verlierer die Chance eröffnet, bei der nächsten Auseinandersetzung Sieger zu sein. Bekannte Beispiele für diese Art der relativ gewaltlosen Konfliktaustragung sind der Arbeitskampf und der Wahlkampf in der Demokratie. Das gesellschaftliche Gewaltpotential bleibt dabei in etwa gleich.

Der mit gewaltfreien Methoden ausgetragene Konflikt

Zunächst ist es nötig, den Unterschied zwischen Gewaltlosigkeit und Gewaltfreiheit herauszuarbeiten. Gewaltfreiheit ist heute zu einem Modewort geworden, das nichts weiter besagt als den friedlichen Verlauf einer Demonstration, Veranstaltung usw. Früher nannte man das Gewaltlosigkeit und meinte damit den Verzicht auf Menschen verletzende oder tötende Handlungen. Ich plädiere dafür, diesen Sprachgebrauch beizubehalten.

Gewaltfreiheit ist dagegen ein Kunstwort. Es wurde meines Wissens von dem Berliner Friedensforscher Theodor Ebert erfunden, um den von Gandhi geprägten Begriff des Satjagraha (Festhalten an der Wahrheit, Kraft der Wahrheit, Kraft der Seele im Unterschied von Körperkraft) im Deutschen wiederzugeben. Gewaltfreiheit meint folglich nicht nur den Verzicht auf Gewalt, sondern das Einsetzen einer positiven Kraft, die Gandhi die Kraft der Wahrheit und der Liebe, Martin Luther King die Kraft zum Liebenden und Jesus von Nazareth Nächsten- und Feindesliebe nannte. Gewaltfreiheit in diesem Sinn ist die Fähigkeit, Gewalt hinzunehmen ohne zurückzuschlagen, aber auch ohne zurückzuweichen, um sie auf diese Weise zu überwinden. Gewaltfreiheit ist allerdings nicht nur eine Methode der Konfliktaustragung, sie ist eine Haltung, ein Lebensprinzip. D.h. sie ist nur da glaubwürdig und überzeugend, wo sie alle Lebensbereiche durchdringt.

Wird bei einem Konflikt diese Kraft von einer der Konfliktparteien ins Spiel gebracht, so kommt es früher oder später zu einer Deeskalation der Gewalt. Das schließt nicht aus, daß es anfangs auch bei einem solchen Konflikt Tote und Verletzte auf Seiten der gewaltfrei Kämpfenden geben kann. Eine Gewalteskalation ist jedoch zuverlässig ausgeschlossen, weil die Angegriffenen weder zurückschlagen noch zurückweichen, was beides eskalierend wirken kann.

Das Ergebnis einer derartigen Konfliktaustragung ist eine Verminderung des gesellschaftlichen Gewaltpotentials. Es gibt keinen Sieger, der am Besiegten die Friedensbedingungen diktiert. Statt dessen gibt es Verhandlungen zwischen Gleichrangigen, die zu einer Vereinbarung führen, die die Lebensinteressen aller Beteiligten berücksichtigt, der alle Beteiligten freiwillig zugestimmt haben und die daher eine Chance hat, von Dauer zu sein.

Zusammengefaßt: Nicht das proklamierte Ziel, sondern die Methode der Konfliktaustragung entscheidet über das Konfliktergebnis. Mit der Wahl der Methode entscheide ich zugleich über das Ergebnis. Gandhi hat sich daher leidenschaftlich gegen die machiavellistische These gewandt, der Zweck heilige, rechtfertige oder entschuldige auch nur die Mittel. Mittel und Zweck, Weg und Ziel müssen vielmehr übereinstimmen, soll der Zweck erfüllt, das Ziel erreicht werden. Mittel und Zweck, Weg und Ziel sind so eng verbunden wie Same und Pflanze. Wer eine Kastanie einpflanzt, kann nicht erwarten, daß daraus ein Apfelbaum emporwächst.

Das heißt aber auch, wir müssen im Hinblick auf unsere Ziele ehrlich werden. Von den frommen englischen Puritanern des 19. Jahrhunderts sagte man: Sie sagen Gott und sie meinen Kattun (Baumwolle). Heute gilt im Hinblick auf die Politiker: Sie sagen Frieden und sie meinen Macht; sie sagen Freiheit und sie meinen Profit. Das gilt aber nicht nur für die Politiker. Wir alle müssen uns darüber klar werden, was wir wirklich wollen. Wollen wir Macht und Reichtum, Ansehen und Privilegien erwerben oder als Nation Länder und Märkte erobern, Rohstoffquellen und Handelswege sichern, so geht das nur durch direkte oder indirekte Gewalt. Wer hier zur Methode der gewaltfreien Aktion greift, wird kläglich scheitern. Doch ebenso gilt: Wer Frieden, Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte erkämpfen oder verteidigen will, kann das nur durch Gewaltfreiheit. Wer zu Gewaltmethoden greift, wird kläglich scheitern.

Wir alle sind Meister in der Kunst, uns und anderen etwas in die Tasche zu lügen. Wir sagen Frieden, Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und Demokratie und wir meinen Macht, Geld, Reichtum und Privilegien. Wer diesen Zusammenhang erkannt hat, für den ist es nicht nur eine religiöse oder ethische, sondern auch eine praktisch-politische, nicht nur eine prinzipielle, sondern auch eine pragmatische Frage, ob er auf Gewalt als Mittel zur Erreichung seiner Ziele verzichtet. Es hängt ganz einfach davon ab, was er wirklich erreichen oder verteidigen will.

Die Praxis entscheidet

Unter diesem Aspekt betrachtet, erweist sich die Kontroverse zwischen Bellizisten, d.h. denen, die militärische Gewalt als Mittel der Konfliktlösung für unverzichtbar halten, und Pazifisten, d.h. denen, die militärische Gewalt ablehnen, als gegenstandslos. Das Konzept der gewaltfreien Konfliktaustragung, wie es von Gandhi, King u.a. entwickelt wurde, nimmt die positiven Seiten des Bellizismus und des Pazifismus auf und vermeidet deren negative Seiten. Es vereinigt die Bereitschaft zum Widerstand, den Mut, die (Selbst)Disziplin und die Opferbereitschaft des Soldaten mit dem Gewaltverzicht, dem Ethos und der Leidensbereitschaft des Pazifisten. Es vermeidet die ethische Fragwürdigkeit und praktische Untauglichkeit der Gewalt als Mittel der Konfliktlösung beim Soldaten und die Hilfslosigkeit des Pazifisten angesichts der Drohung und Anwendung von Gewalt. Desgleichen überwindet es den von Max Weber konstatierten Gegensatz zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik.

Ich weiß aus Erfahrung, daß die von mir hier vertretene Auffassung scharfen Widerspruch provoziert. Dennoch möchte ich es meinen Wissenschaftlerkollegen und Kolleginnen überlassen, sie zu beweisen oder zu widerlegen. Mein Interesse gilt etwas ganz anderem – ihrer Verwirklichung. Gewaltfreiheit ist nach Auffassung ihrer Erfinder ein universales Mittel der Konfliktlösung d.h. es ist auf Konflikte aller Art und auf allen gesellschaftlichen Ebenen anwendbar. Gandhi war der Überzeugung, es gäbe schlechthin keine Gewalt, die nicht durch Gewaltfreiheit überwunden, gleichsam »neutralisiert« werden könne. Wo wenig Gewalt ist, genügt wenig Gewaltfreiheit, um sie zu überwinden. Wo viel Gewalt ist, muß es eben entsprechend mehr sein. Handelt es sich um eine Diktatur oder ein totalitäres Regime, die gestürzt werden sollen, so müssen unter Umständen viele Menschen ins Gefängnis gehen, leiden und sterben, indem sie Gewalt hinnehmen, ohne zurückzuschalgen oder zurückzuweichen, um sie auf diese Weise zu überwinden. Ebenso trivial ist es, daß es da, wo es keine Gewaltfreien (Satjagrahis) gibt, auch keine gewaltfreie Konfliktaustragung geben kann.

Es geht folglich nicht um eine wissenschaftliche oder theoretische Debatte darüber, ob die hier entwickelte Auffassung richtig ist. Jede und jeder Einzelne ist vielmehr gefragt, wie sie oder er es mit Gewalt, Gewaltlosigkeit und Gewaltfreiheit als Mittel der Konfliktaustragung zu halten gedenkt. Ich selbst experimentiere seit siebzehn Jahren mit den Methoden der gewaltfreien Konfliktaustragung und ich habe gefunden, daß sie »funktionieren«. Sie setzen allerdings voraus, daß wir selbst innerlich von Gewalt frei, d.h. von den verinnerlichten Gewaltstrukturen unserer Gesellschaft befreit werden. Erst dann ist es möglich, Gewaltfreiheit in sozialen und politischen Konflikten mit Aussicht auf Erfolg einzusetzen. Auch muß sie zuerst im persönlichen Bereich gelernt und geübt werden, ehe wir darangehen können, sie in größeren Zusammenhängen erfolgreich zu praktizieren. „Gewaltfreiheit“, bekannte Gandhi, „ist die größte Macht, die der Menschheit in die Hand gegeben ist. Sie ist mächtiger als die mächtigste Zerstörungswaffe, die Menschengeist ersonnen hat.“

Dokumentation

Gewaltfreier Widerstand. Ein Beispiel

Als »menschliche Schutzschilde« versuchen Internationale Friedensbrigaden in
Militärdiktaturen und Umsturzgebieten gewaltfreie Oppositionelle vor Verhaftung und
Ermordung zu schützen. Unbewaffnet und unentgeltlich.

Die Internationalen Friedensbrigaden (Peace Brigades International, PBI) existieren in
der Bundesrepublik seit 11 Jahren, sind aber dennoch relativ unbekannt. Das Wesen der PBI
die auf Ansätze Gandhis zurückgehen, realisiert sich in der Entsendung unbewaffneter und
– nicht nur in dieser Hinsicht – gewaltfreier Friedensteams in Konfliktgebiete.

Die Teams bestehen aus internationalen Beobachtern, die von den Konfliktparteien des
Landes unabhängig sind und zum einen durch ihre Präsenz Gewalt verhindern, zum anderen
Vermittlungs- und Versöhnungsbemühungen unterstützen sollen.

PBI entsendet nicht eigenmächtig Teams, sondern wird nur auf Anfrage aus den
jeweiligen Ländern tätig. Das erste PBI-Team nahm vor 9 Jahren seine Arbeit in Guatemala
zu Zeiten der Militärregierung auf. Die Idee des persönlichen Begleitschutzes entstand,
nachdem zwei wichtige Mitglieder der einzigen vor Ort existierenden
Menschenrechtsorganisation ermordet worden waren. Im Laufe der Zeit fragten weitere sich
neu bildende Menschenrechts- und Bauernorganisationen sowie Gewerkschaften um Begleitung
an. 1987 folgte PBI einer Anfrage der lutherischen Kirche nach El Salvador. 1989 begann
die PBI-Präsenz in Sri Lanka.

Informationen aus: wub – was uns betifft, 3/92

Dr. Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher und lebt in Stuttgart. Er ist seit fast 20 Jahren in der Anti-AKW-, Ökologie- und Friedensbewegung aktiv und saß im Zusammenhang mit gewaltfreiem Widerstand bereits dreimal im Gefängnis (bis zu einem halben Jahr)

Pazifismus im Ersten Weltkrieg

Pazifismus im Ersten Weltkrieg

Der Bund Neues Vaterland

von Karlheinz Lipp

Vor 90 Jahren, im Juli 1914, begann der Erste Weltkrieg. Die Begeisterung mit der deutsche Soldaten in den Krieg zogen und der auch große Teile des deutschen Volkes erlagen ist viel beschrieben worden. Auf die Friedensbewegten in Deutschland muss diese Kriegsbegeisterung am Anfang lähmend gewirkt haben. Doch bereits wenige Monate nach Kriegsbeginn nahmen die Antikriegsaktionen wieder zu. Karlheinz Lipp über die Arbeit des im November 1914 gegründeten pazifistischen »Bund Neues Vaterland«. Ein Bündnis, das sich nicht nur auf eine konsequente Antikriegspolitik festlegte, sondern sich auch für einen europäischen »überstaatlichen Zusammenschluss« einsetzte, indem der friedliche Wettbewerb dominieren sollte.

Die Entfesselung des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 wirkte auf die Friedensbewegung wie ein lähmender Schock. Der Stuttgarter Pfarrer und langjährige Friedensaktivist Otto Umfrid formulierte dies sehr prägnant. Die Friedensbewegung habe versucht, so Umfrid, einen „in den Abgrund rollenden Lastwagen mit einem Seidenfaden aufzuhalten.“

Bis zum Beginn des Krieges versuchte die Deutsche Friedensgesellschaft, 1892 in Berlin von Bertha von Suttner und Alfred Hermann Fried gegründet, als größte Friedensorganisation mit ca. 10.000 Mitgliedern in ca. 100 Ortsgruppen (Stand: 1914) die imperialistische Politik des Kaiserreichs zu korrigieren – allerdings vergeblich. Als zu dominant erwiesen sich die nationalistisch-militaristischen Vereinigungen, die der Friedensgesellschaft an Mitgliederzahlen, Finanzen, Presseorganen und politischem Einfluss sehr deutlich überlegen waren.

Eine neue Friedensorganisation

Im Oktober 1914 erschien im von Lilli Jannasch neu gegründeten Verlag Neues Vaterland eine Schrift von Otto Lehmann-Rußbüldt mit dem Titel »Die Schöpfung der Vereinigten Staaten von Europa«. Der Autor und der Sportreiter Kurt von Tepper-Laski erreichten über ein Rundschreiben pazifistisch eingestellte Personen. Das Ziel und einigende Band sollte ein Zusammenschluss zwecks konsequenter Friedensarbeit sein. Am 16. November 1914 wurde dann in Berlin der »Bund Neues Vaterland« gegründet. Dieser Bund umfasste Konservative, Liberale und alle Flügel der Sozialdemokratie. „Der Bund ist eine Arbeitsgemeinschaft deutscher Männer und Frauen, die sich unbeschadet ihrer sonstigen politischen und religiösen Stellungnahme zusammenschließen, um an den Aufgaben, die dem deutschen Volk aus dem europäischen Krieg erwachsen, mitzuarbeiten.“

Den Vorsitz führte Tepper-Laski. Im Vorstand arbeiteten ferner mit: Der Elektroingenieur und Telefunken-Direktor Georg Graf von Arco, der Landrat a.D. Karl von Puttkamer, Lehmann-Rußbüldt, Jannasch und Ernst Reuter (Nach dem Zweiten Weltkrieg Regierender Bürgermeister von Berlin).

Begünstigt wurde die Entstehung dieser neuen Friedensorganisation einerseits durch die Erstarrung des Krieges an der Westfront nach der Marneschlacht und andererseits durch die erwachende Kritik an der offiziellen Behauptung vom angeblichen Verteidigungskrieg, den Deutschland führe. Schließlich sollte der Vorkriegspazifismus neu konturiert und schärfer akzentuiert werden.

Als Ziele des Bundes wurden im § 1 der Satzung festgelegt:

„1. Die direkte und indirekte Förderung aller Bestrebungen, die geeignet sind, die Politik und Diplomatie der europäischen Staaten mit dem Gedanken des friedlichen Wettbewerbs und des überstaatlichen Zusammenschlusses zu erfüllen, um eine politische und wirtschaftliche Verständigung zwischen den Kulturvölkern herbeizuführen. Dieses ist nur möglich, wenn mit dem seitherigen System gebrochen wird, wonach einige Wenige über Wohl und Wehe von hundert Millionen Menschen zu entscheiden haben.

2. Insoweit sich bei der Arbeit für dieses Ziel ein Zusammenhang zwischen innerer und äußerer Politik der Staaten ergibt, darauf hinzuwirken, beide in volle Übereinstimmung zu bringen – zum Besten des deutschen Volkes und der gesamten Kulturwelt.“ (Lehmann-Rußbüldt, 139)

Außenpolitisch wird die gesamteuropäische Dimension deutlich. Das Plädoyer für einen »überstaatlichen Zusammenschluss« deutet schon auf einen kommenden Völkerbund hin. Dem Kaiser und der Regierung wird das Entscheidungsmonopol in der Politik abgesprochen. Damit zeigt sich ein neuer Ansatz der pazifistischen Bewegung, nämlich das Drängen auf innenpolitische Reformen im Sinne einer Demokratisierung. Die wirtschaftliche Konkurrenz der Großmächte wurde als ein Hemmnis auf dem Weg zum Frieden erkannt und sollte durch eine Verständigung der »Kulturvölker« überwunden werden.

Internationale Kontakte

Neue Friedensorganisationen entwickelten sich mit Kriegsbeginn auch in anderen Ländern. So der »Nederlandsche Anti-Oorlog-Raad« (Antikriegsrat), die britische »Union of Democratic-Control«, das »Komitee zum Studium der Grundlagen eines dauernden Friedens« in der Schweiz sowie die »League to Enforce Paece« in den USA (ab 1915). In Frankreich existierte mit der »Ligue des Droits de l´Komme« bereits vor 1914 eine Vereinigung, die eine stärkere Transparenz der Politik forderte.

Im »Bund Neues Vaterland« arbeiteten einige ehemalige Diplomaten mit, die die Außenpolitik des Kaiserreichs kritisch beurteilten, so etwa Fürst Lichnowsky (ehemaliger Botschafter in London). Die außenpolitische Kompetenz dieser Personen führte schließlich zu einer von Reuter verfassten Denkschrift, die sich kritisch mit der deutschen Außenpolitik beschäftigte. Im März 1915 wurde diese in Schreibmaschinenschrift, also nicht im Druck, vervielfältigt und an Interessenten verteilt – mit einer positiven Resonanz. Hier zeigte sich ein typisches Merkmal dieser pazifistischen Vereinigung: Ziel war nicht die Entwicklung zu einer Massenbewegung, sondern die Einflussnahme auf die Außenpolitik durch einen hohen Sachverstand.

Schon einen Monat später, im April 1915, nahm der »Bund Neues Vaterland« an einer pazifistischen Konferenz in Den Haag teil und konnte dadurch die internationalen Kontakte erweitern. Die Minimalforderungen dieser Tagung für einen dauernden Frieden bestanden aus fünf Punkten:

  • Keine Annexionen oder Gebietsübertragungen ohne die Zustimmung der betroffenen Bevölkerung,
  • Liberalisierung des Handels mit den Kolonien,
  • Fortsetzung der Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907,
  • Vereinbarungen über den Rüstungsabbau,
  • Kontrolle der Außenpolitik durch die Parlamente.

Die Deutsche Friedensgesellschaft, die durch die Doppelmitgliedschaften der bekannten Pazifisten Ludwig Quidde und Walther Schücking mit dem Bund Neues Vaterland verbunden waren, stimmte am 15. Juni den Minimalforderungen zu. Schückings Denkschrift über die Haager Verhandlungen wurde vom Auswärtigen Amt sehr zurückhaltend aufgenommen. Daraus ergab sich für die pazifistische Organisation der Schluss, zukünftig stärker an die Öffentlichkeit heranzutreten. Innerhalb der SPD erreichten die fünf Punkte der Friedensorganisationen eine gewisse Resonanz. So veröffentlichten Hugo Haase, Eduard Bernstein und Karl Kautsky in der Leipziger Volkszeitung am 19. Juli den Aufruf »Das Gebot der Stunde«, in dem Annexionen abgelehnt und ein Verständigungsfriede befürwortet wurde. Allerdings fand dieser Aufruf in der Partei keine Mehrheit, sondern verstärkte das Auseinanderdriften der Flügel in der Sozialdemokratie.

Deutliche Kritik an Annexionen

In der Innenpolitik erfolgte seit Mitte 1915 eine verstärkte Diskussion über die Frage der Kriegsziele. Hieran beteiligte sich auch die deutsche Friedensbewegung mit öffentlichen Stellungnahmen. Den Ausgangspunkt dieser Kontroversen bildete eine Eingabe von sechs großen Wirtschaftsverbänden (u.a.: Bund der Landwirte, Bund der Industriellen) an die Reichsregierung am 10. März und nochmals am 20. Mai, in dem große Gebietszugewinne (Belgien, Longwy-Briey, Landwirtschaftsgebiete im Osten) gefordert wurden.

Dies bedeutete eine klare Gegenposition zu den Minimalforderungen für einen dauernden Frieden. Entsprechend reagierte der Bund Neues Vaterland im Juni mit einer Flugschrift »Sollen wir annektieren?«, überwiegend von Quidde verfasst: „Die Gedanken, die diese Eingabe entwickelt, enthalten eine furchtbare Gefahr für die Gewinnung eines rechtzeitigen ehrenhaften Friedens und für die Sicherheit des Deutschen Reiches nach erfolgtem Friedensschluß […]. Die Gewinnenden wären lediglich jene mächtigen Interessentenkreise, die durch die Annexionen im Osten das Werk der inneren Kolonisation glücklich von Altdeutschland auf die annektierten Gebiete gelenkt hätten oder die durch die Annexionen im Westen dem Ziele einer unbedingten Beherrschung des Marktes durch die kartellierte Schwerindustrie näher gekommen wären.“ (Grumbach, 376 und 405)

Diese Schrift wurde in 700 Exemplaren gedruckt und an Minister, Reichstagsabgeordnete und Persönlichkeiten verschickt. Bereits kurz nach der Versendung verbot das militärische Oberkommando in den Marken die weitere Verbreitung und beschlagnahmte den Restbestand.

Überwachung und Verfolgung

Im Sommer 1915 plante der »Bund Neues Vaterland« ein umfangreiches Großprojekt mit zahlreichen Autoren über die Grundzüge eines dauerhaften Friedens unter der Federführung Quiddes. Es blieb jedoch beim Plan, denn im Herbst setzten die Militärbehörden dem Projekt ein Ende. Die Überwachungsmaßnahmen verschärften sich nun deutlich. Über deutsche Annexionen sollte nicht länger öffentlich diskutiert werden. Den Hintergrund bildete ein Artikel »Schüsse in den Rücken« in der rechtsstehenden Rheinisch-Westfälischen Zeitung am 26. September 1915. Schwerindustrielle, großagrarische, militärische sowie alldeutsche Interessen arbeiteten Hand in Hand gegen die Friedensbewegung – und die Dolchstoßlegende ließ auch schon grüßen!

Die Verbreitung anti-annexionistischer Positionen konnte zwar eingeschränkt, aber nicht vollständig verhindert werden. Quiddes Schrift »Reale Garantien für einen dauernden Frieden« (Ein Zitat des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg) wurde versandt und erreichte dankbare Abnehmer. Vor allem gegenüber dem Ausland konnte die Friedensbewegung ihre kritische Haltung verdeutlichen und einige Schriften erfuhren Übersetzungen. Solche kleinen Erfolge beschleunigten erst recht die umfangreichen Repressionen: Verschärfung der Presse- und Briefzensur, deutliche Beschränkung der Versammlungstätigkeit pazifistischer Organisationen, Bespitzelung und Observierung, Reisebeschränkungen, Publikationsverbote, Beschlagnahmung von Schriften, Hausdurchsuchungen und Festnahmen.

Die alldeutsche Presse setzte ihre Diffamierungskampagnen von vor 1914 gegen die Friedensbewegung ungehindert fort, vor allem der Vorwurf des angeblichen Landesverrats wurde öfters bemüht, obwohl es während der gesamten Kriegszeit nie zu einer solchen Anklage kam.

Am 2. Oktober verhinderte ein Verbot die Versendung von Mitteilungen des »Bundes Neues Vaterland« an die eigenen Mitglieder, kurz darauf fand eine Hausdurchsuchung in der Geschäftsstelle statt. Bis Ende 1915 konnte die Arbeit stark eingeschränkt fortgeführt werden. Dies änderte sich schlagartig am 7. Februar 1916. Da wurde dem Bund mitgeteilt, dass „für die Dauer des Krieges jede weitere Betätigung im Sinne der Bestrebungen des Bundes nebst Herstellung und Versendung von Mitteilungen, Sonderdrucken, Flugschriften“ verboten sei. Mehrere Proteste der Friedensorganisation an den Reichstag folgten, blieben jedoch ergebnislos. Am 31. März 1916 erfolgte die Verhaftung von Lilli Jannasch, der Geschäftsführerin des Bundes. Sie blieb 14 Wochen in so genannter Schutzhaft ohne irgendeine Vernehmung. Auch Elsbeth Bruck, Jannaschs Nachfolgerin, wurde inhaftiert. Eine Anklage wegen angeblichen Hochverrats verlief aus Mangel an Beweisen im Sande. Die Lahmlegung des »Bundes Neues Vaterland« bedeutete den Anfang eines gezielten Schlages gegen die Friedensbewegung, nur wenig später traf es die Deutsche Friedensgesellschaft mit ihren Organen.

Trotz dieser herben Rückschläge zeigte sich die pazifistische Bewegung kreativ und gründete neue Organisationen, so die kleine, intellektuelle »Vereinigung Gleichgesinnter« und die wichtigere »Zentralstelle Völkerrecht«.

Vier Friedensorganisationen bündelten ihre Beschwerden in zwei Eingaben an den Reichstag am 1. Juli 1917 und neu überarbeitet am 2. Oktober, unterstützt durch eine umfangreiche Denkschrift »Pazifismus und Belagerungszustand«. Anhand vieler Beispiele wurden die illegalen Übergriffe der Behörden dokumentiert und angeprangert.

„Die unterzeichneten Organisationen Deutsche Friedensgesellschaft, Bund Neues Vaterland, Nationaler Frauenausschuß für dauernden Frieden und Zentralstelle Völkerrecht gestatten sich, an den Deutschen Reichstag die Bitte zu richten, dieser wolle noch in der bevorstehenden Tagung bewirken, daß entweder durch völlige Aufhebung des Belagerungszustandes oder durch ein Notgesetz zur Abänderung des Belagerungszustands-Gesetzes die gesetzlich gewährleistete Versammlungs-, Vereins- und Preßfreiheit wiederhergestellt und die Zensur auf rein militärische Angelegenheiten beschränkt werde.“ (Quidde, 281)

1918 und Weimarer Republik

Die gleichen pazifistischen Organisationen richteten im Februar 1918 Eingaben an den Reichstag, in denen Forderungen für einen möglichen Friedensschluss im Osten und Westen formuliert wurden. Offene oder versteckte Annexionen wurden weiterhin abgelehnt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker befürwortet. Nationalen Minderheiten sollte kulturelle Autonomie sowie ein internationaler Minderheitenschutz gewährleistet werden.

Bei Kriegsende hatten sich die pazifistischen Positionen erweitert und radikalisiert, insbesondere soziale und innenpolitische Faktoren des Friedens spielten nun eine weitaus wichtigere Rolle, ebenso die internationale Versöhnungsarbeit. Dies spiegelte sich auch im neuen Programm des »Bundes Neues Vaterland« von 1918/19 wider.

„Die Arbeit des Bundes umfaßt folgende Gebiete:

1. Mitarbeit an der Völkerversöhnung insbesondere durch Zusammenarbeit mit ähnlich gerichteten Organisationen des Auslandes; Abschaffung der bewaffneten Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung der Völker und Parteien.

2. Kampf für die Abschaffung jeder Gewalt- und Klassenherrschaft, Kampf für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit durch Einflußnahme auf Presse, Parteien und Regierungen.

3. Mitarbeit an der Verwirklichung des Sozialismus durch wissenschaftliche und propagandistische Arbeit im Sinne der Londoner Gesellschaft der Fabier (Fabian Society) und vorbereitende Mitwirkung an der Durchführung organisatorischer Maßnahmen der öffentlichen Gewalten unter Heranziehung von Fachleuten.

4. Kultur der Persönlichkeit durch Pflege aller geistigen und sittlichen Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen unter gleichzeitiger Betonung des Gemeinschaftsinteresses.“ (Benz, 135f.)

Dieses Programm hatte auch nach der Umbenennung des Bundes im Jahre 1922 in »Deutsche Liga für Menschenrechte« Bestand.

Trotz einer verhältnismäßig geringen Zahl von ca. 2.000 Mitgliedern zeigte diese Friedensorganisation unter ihren Sekretären Otto Lehmann-Rußbüldt und Kurt R. Grossmann (ab 1926) eine beachtliche Dynamik. Außenpolitisch stand die Versöhnung mit Frankreich und Polen im Blickpunkt der Aktivitäten: Kundgebungen, Konferenzen, Broschüren, Briefkontakte. Bei Vortragsreisen in Deutschland kam es mitunter zu heftigen Auseinandersetzungen mit nationalistischen Gruppen. Innenpolitisch richtete sich die Liga gegen die republikfeindliche Haltung der Reichswehr, die illegale Aufrüstung sowie die »Schwarze Reichswehr«. Ferner setzte sich diese pazifistische Vereinigung für politische Gefangene ein und forderte die Abschaffung der Todesstrafe sowie ein demokratisches Justizwesen.

In der Endphase der Weimarer Republik stand der Kampf gegen den Nationalsozialismus im Mittelpunkt der Arbeit. Nach dem 30. Januar 1933 wurde die Liga ein Opfer des NS-Terrors.

Führende Mitglieder gründeten nach einer erfolgreichen Flucht im Exil neue Friedensgruppen.

Literatur

Benz, Wolfgang (Hg.): Pazifismus in Deutschland. Dokumente zur Friedensbewegung 1890-1939. Frankfurt/Main 1985.

Eisenbeiß, Wilfried: Die bürgerliche Friedensbewegung in Deutschland während des Ersten Weltkrieges. Organisation, Selbstverständnis und politische Praxis 1913/14-1919. Frankfurt/Main 1980.

Grumbach, Salomon: Das annexionistische Deutschland. Lausanne 1917.

Holl, Karl: Pazifismus in Deutschland. Frankfurt/Main 1988.

Lehmann-Rußbüldt, Otto: Der Kampf der deutschen Liga für Menschenrechte vormals Bund Neues Vaterland für den Weltfrieden 1914-1927. Berlin 1927.

Lipp, Karlheinz: Pazifismus im Ersten Weltkrieg. Ein Lesebuch. Herbolzheim 2004.

Quidde, Ludwig: Der deutsche Pazifismus während des Weltkrieges 1914-1918. Aus dem Nachlaß Ludwig Quiddes hg. von Karl Holl unter Mitwirkung von Helmut Donat.

Boppard a. Rh. 1979.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker und Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedensforschung.

Globaler gewaltloser Widerstand

Globaler gewaltloser Widerstand

Überlegungen zur aktuellen Diskussion

von Barbara Müller

In ihrer Rede zum Auftakt des Weltsozialforums am 16.1.2004 in Mumbai, Indien, fordert Arundhati Roy mit Blick auf den Irak und auf die versammelte Gemeinschaft der Globalisierungskritiker: Wir müssen der globale Widerstand gegen die Besetzung werden. Warum? Weil, so Roy, Imperialismus und Neo-Liberalismus in Irak kulminieren. Ihr zentraler Angriffspunkt ist, die Legitimität der Besetzung anzugreifen. Ihr Ausgangspunkt ist der Boykott zweier U.S.-Firmen, die – stellvertretend für viele – angreifbar sind an jedem Ort der Welt, wo sie mit Niederlassungen vertreten sind oder sonst wie in Erscheinung treten. Roy zielt darauf ab, dass es letztlich zu einer massiven Nichtzusammenarbeit von denen kommt, die derzeit mit unterschiedlichsten Beiträgen dafür sorgen, dass die Besetzung des Irak funktioniert. Bekommt der gewaltlose Widerstand – der bisher vor allem national geführt wurde – jetzt eine globale Dimension?

Um Irrtümern vorzubeugen: Arundhati Roy geht es nicht um die Unterstützung des Widerstands, der sich aktuell im Irak gegen die Besatzung richtet. Von diesem grenzt sie sich eher ab. Der in der taz zitierte Satz: „Wenn wir wirklich gegen Imperialismus und Neoliberalismus sind, dann müssen wir nicht nur den Widerstand im Irak unterstützen, wir müssen selbst zum Widerstand im Irak werden“ findet sich in der schriftlichen Fassung der Rede nicht.

Unter Bezug auf Gandhis Salzmarsch und angesichts der Notwendigkeit, dass die Globalisierungsgegner einen Erfolg brauchen, möchte Roy die Waffen des gewaltlosen Kampfes schärfen. Dazu muss mehr geschehen als gegen den Krieg zu demonstrieren. Der Widerstand muss wirklich spürbar werden. Arundhati Roy denkt laut über den gewaltfreien Angriff auf »das Imperium« nach und sieht sich im Krieg. Wie ich es lese, im Krieg mit Imperialismus und Neo-Liberalismus. Ihr zentraler Satz ist daher für mich: „While our movement has won some important victories, we must not allow non-violent resistance to atrophy into ineffectual, feel-good, political theatre.“ (Hörig 2004; Roy 2004 – alle weiteren Bezüge auf Roy beziehen sich auf diesen Text)

Im Folgenden möchte ich den Fragen nachgehen: Welche Vorstellung von Widerstand hinter diesen fragmentarischen Hinweisen stehen könnten? Wer könnten die Träger dieses Widerstands sein? Welcher Strategien könnten sie sich bedienen? Welches Potenzial, welche Erfahrungen, welches konzeptionelle Wissen könnten sie nutzen? Welche Fallstricke lauern? Dies bleibt notwendigerweise ebenfalls kursorisch, fragmentarisch, angesichts der vielen offenen Fragen, die derzeit nicht beantwortbar sind.

Gewaltloser Widerstand – durch wen und mit welchem Ziel?

Gewaltloser Widerstand im Irak? Das wirft natürlich sofort die Frage auf: Wie soll das dort gehen? Aus dem Irak wird vor allem über gewaltsame Widerstandsakte berichtet, nur selten über Demonstrationen und friedlichen Protest. Auffällig ist die große und tiefe Zersplitterung der verschiedenen Bewegungen und Gruppen, die den Widerstand tragen. Dies lässt vermuten, dass sie nur eines eint, nämlich die Abwehr der militärischen Besetzung. Sind die Besatzer vertrieben oder ziehen sie sich unter Wahrung des Gesichts zurück, wird der Kampf um die Vorherrschaft beginnen, ein Bürgerkrieg ist nicht ausgeschlossen. Die Besatzung zu beenden und gleichzeitig die Weichen so zu stellen, dass die notwendige interne Auseinandersetzung ohne Blutvergießen vonstatten gehen kann, ist die derzeitige zivilisatorische Aufgabe. Kann ein globaler Widerstand gegen die Besatzung hierzu einen Beitrag leisten? Stellt er sich die Frage, was nach der Besetzung im Irak geschehen wird? Oder ist der Irak ein aktueller Kulminationspunkt, der aus dem Blickfeld des »globalen Widerstands« gerät, sobald die Besatzung dort »besiegt« ist? Wie viel Verantwortung für die Entwicklung im Irak übernimmt er? Und: Wer ist der globale Widerstand?

Die »Große Kette der Gewaltfreiheit«

Wer soll eigentlich Widerstand leisten? Sind es – wie immer – die Unterdrückten selber? Oder sind es nicht (auch) diejenigen, die den ausländischen Unterdrückern vom Gesellschaftskonzept her nahe stehen? Die eine viel geringere soziale Distanz zu überbrücken haben und die deshalb, weil sie den Herzen der Unterdrückern näher sind, deren »träge Gewissen« (Gandhi) leichter durch eigene gewaltlose Akte aufrütteln können? Johan Galtung hat dem gewaltlosen Kampf zu einer Strategie der »großen Kette der Gewaltlosigkeit« geraten. Er hat vor allem Entmenschlichung im Blick, die intensive Konflikte begleitet. „Es gibt nur geringes oder gar kein Verständnis füreinander, solange keine wechselseitige zuerkannte Menschlichkeit existiert.“ Dann kann Widerstand seitens der Opfer bei den Tätern sogar zur Verstärkung ihrer negativen Einstellungen und Reaktionen führen. So muss „Gewaltlosigkeit, um die unterdrückenden Strukturen zu zerstören, von anderen Personen als den Opfern (ausgeübt werden).“ Galtung zitiert ein altes Beispiel, das vielleicht wieder eine neue Aktualität erhalten könnte: „Das Ende des Vietnam-Krieges wurde zum großen Teil durch Gewaltlosigkeit erreicht – doch nicht durch die Vietnamesen, obwohl die demonstrativen Selbstmorde buddhistischer Mönche in den Pagoden eine Rolle spielten. Es wurde herbeigeführt durch die näher bei Washington lebenden Menschen, durch die »eigenen Leute«, welche die glaubhafte Gefahr heraufbeschworen, die Vereinigten Staaten von Amerika unregierbar zu machen.“ Galtungs Konzept von 1988 ist in aktuellen Auseinandersetzungen immer noch ein Thema und scheint sogar an Wirkungsmacht zu gewinnen. Auf einer sechswöchigen Studienreise durch Israel-Palästina interviewte Veronique Dudouer im Jahr 2003 zahlreiche AktivistInnen, darunter auch viele, die die erfolgreiche erste Intifada der 90er Jahre mitgemacht hatten. Diese hatte damals durch Kampagnen von Nicht-Zusammenarbeit Wirkung gezeigt. Seitdem hat sich viel geändert, wodurch sich die Abhängigkeit Israels von der Kooperation mit den Palästinensern verringert hat. Ehemalige Angriffspunkte sind verschwunden. Eine Steuerverweigerung gegenüber den (eigenen) Autonomiebehörden macht zum Beispiel wenig Sinn. Der Ersatz von Palästinensern durch Ausländer hat die Abhängigkeit Israels von deren Arbeitskraft verringert. Dudouers Gesprächspartner setzen nun genau auf Galtungs Konzept: „The only way for Palestinians to gain leverage on the Israeli government is through the »great chain of non-violence« (to use Galtung‘s concept), by using the relay of allies with more leverage, both in Israeli civil society and the international community.“ (Galtung 1988: 85, Dudouet 2004) Damit sind wir beim Handwerkszeug des gewaltlosen Widerstands.

Methoden des gewaltlosen Widerstands

Um eine erste, ganz grobe Unterscheidungsmöglichkeit zu geben, kann man sagen, dass gewaltloser Widerstand auf eigene Gewaltanwendung in der Auseinandersetzung verzichtet. Er bedient sich vielfältigster Methoden der »gewaltfreien Aktion« und damit Methoden des sozialen, politischen und oder wirtschaftlichen Kampfes, die sowohl zur gesellschaftlichen Veränderung (gewaltfreie Revolution, gewaltfreier Aufstand, People Power), als auch zur Bewahrung von Errungenschaften angewandt werden können. Protest und Nicht-Zusammenarbeit gehören dazu, auch Akte des bewussten Nicht-Handelns oder des Ungehorsams, ebenso wie das Aufzeigen von Alternativen, das »konstruktive Programm«. Fallstudien dokumentieren, dass das Handwerkszeug gewaltfreier Methoden in verschiedensten Kulturen und in allen Weltregionen beheimatet ist. (Bergfeldt 1993: 11, 19-33; Crow 1990; McManus 1991; Martin 2001; Ackerman 1994)

Wirkung durch Zwang oder durch Bekehrung?

Die Macht eines zivilen Widerstands ist aus den Wirkungsmechanismen der gewaltlosen Methoden zu erklären, deren wichtigste Zwang, Bekehrung und Überredung sind. Je nach dem Grad der Abhängigkeit des Konfliktgegners vom Akteur können gewaltlose Methoden auf eine vollständige Zwangswirkung ausgerichtet werden oder aber auf Zwang verzichten und allein auf die Bekehrung ausgerichtet werden. Wie am Beispiel Israel-Palästina dargestellt, greifen Methoden des Zwangs ins Leere, wenn die Abhängigkeit des Unterdrückers vom Opfer nicht gegeben ist oder nachlässt. Dann müssen Methoden mit anderer Wirkungsweise entwickelt werden, was die Anforderungen an die Methodenauswahl und das Vorgehen erheblich erhöht. Einerseits wird eine Konfliktlösung als umso tragfähiger bewertet, je mehr sie durch Bekehrung zustande gekommen ist. Das erfordert aber im Prozess der Konfliktaustragung einen möglichst engen Kontakt zum Kontrahenten. Die, Konfliktlösung muss weitestgehend zusammen mit dem Gegner gefunden werden. Das beinhaltet auch die Fähigkeit zur selbstkritischen Veränderung der eigenen Position und erfordert eine Konfliktaustragung auf möglichst niedrigem Eskalationsniveau. Andererseits lebt ein sozialer Boykott aber von der Abgrenzung. Eine Annäherung an den »Feind« gerät schnell in den Geruch des Verrats und der Kollaboration. Der gewaltlose Widerstand der Kosovo-Albaner hat vollständig auf die Abgrenzung gesetzt und seinen inneren Zusammenhalt damit über Jahre aufrecht erhalten können. Christine Schweitzer identifiziert gleichwohl in dem Unvermögen, eine Brücke zum »Feind« zu schlagen, eine der entscheidenden Schwachstellen dieser Strategie (siehe diese W&F-Ausgabe S. 20).

Hier unterscheiden sich eine pragmatische und die prinzipielle Herangehensweise an den gewaltlosen Widerstand, im Deutschen mit der Unterscheidung zwischen Gewaltfreiheit und Gewaltlosigkeit benannt. Das erste meint das Handeln aus einer prinzipiellen Überzeugung heraus, das zweite beschreibt schlicht den Verzicht auf direkte, physische Gewaltanwendung. Wer die gewaltlose Technik als die besser funktionierende ansieht, wird sich nicht automatisch Gedanken darüber machen, ob die Lösung am Ende auch den Gegner befriedigt. Viele der herausragendsten und bedeutsamsten Beispiele gewaltfreien Handelns – Prag 1968, die Anti-Vietnamkrieg-Bewegung, der Sturz von Präsident Marcos auf den Philippinen 1986, die Umstürze in Mittel- und Osteuropa 1989, die Demokratiebewegung in China 1989 und der Widerstand der Kosovo-Albaner 1989-1997, um nur einige der jüngeren Fälle zu nennen – würden in dieser Unterscheidung eher das Prädikat »gewaltlos« oder sogar nur »gewaltarm« verdienen. Das gleiche mag im übrigen auch für viele der AnhängerInnen der bekannten gewaltfreien Führer von Bewegungen – von Mohandas K. Gandhi über Martin Luther King bis zu Danilo Dolci und Cesar Chavez – gelten, auch wenn es diese Persönlichkeiten gewesen sind, die Gewaltfreiheit als prinzipiellen Ansatz begründeten. Gleichwohl kann es das Gesetz der Klugheit verlangen, Perspektiven des Gegners auch in sehr pragmatische eigene strategische Überlegungen einzubeziehen. Die Analyse des passiven Widerstands im Ruhrkampf 1923 hat deutlich gezeigt, wie stark die Wirksamkeit des Widerstands darunter gelitten hat, dass die deutsche Reichsregierung die berechtigten Aspekte auf der Seite der französischen und belgischen Gegenspieler nicht in Betracht gezogen hat. Das haben die deutschen Pazifisten in dieser Zeit klarer erkannt (Lakey 1979; Bergfeldt 1993: 40; Galtung 1987: 116, 179, 135-138; Müller 2000: 83f.; Müller 1996).

Konzeptionelle Entwicklung und Forschungsschwerpunkte

Es waren sowohl PraktikerInnen der gewaltfreien Aktion selber als auch WissenschaftlerInnen, die versuchten, durch Reflexion und konzeptionelle Arbeit das Potenzial dieser Verhaltensweisen für eine effiziente und konstruktivere Konfliktaustragung zu verstehen und zu nutzen. Unter den Praktikern kommt Mohandas K. Gandhi eine besondere Bedeutung zu. Die »Experimente mit der Wahrheit«, wie er seine sich ständig weiter entwickelnde, reflektierte Praxis der gewaltfreien Aktion nannte, ist bis heute ein Bezugspunkt für die theoretische aber auch praktische Auseinandersetzung geblieben. In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts entstand in Norwegen, England und der Bundesrepublik Deutschland ein Diskurszusammenhang, der gewaltlosen Widerstand als eine Alternative zur militärischen Verteidigung untersuchte. Mit dem Ende des vorherrschenden Bedrohungsszenarios des Kalten Krieges verebbte für mehrere Jahre die konzeptionelle Debatte in dieser Richtung, bis Robert Burrowes sie Mitte der 90er Jahre mit seinem Buch »The Strategy of Nonviolent Defense: A Gandhian Approach« wieder aufleben ließ. In dieser Zeit erschienen zudem mehrere Fallstudien, die sich in systematischer Weise mit den Rahmenbedingungen und Erfolgsbedingungen von zivilem Widerstand beschäftigten. Es war einmal der Widerstand gegen die Besetzung des Ruhrgebietes im Jahr 1923, den die Autorin untersuchte. Jacques Semelin arbeitete in einer vergleichenden Studie auf, was „gewaltfreie Aktion auf dem für sie ungünstigsten Feld“ zustande bringt, „dem der extremen Brutalität des Nationalsozialismus“. Den Widerstand im besetzten Dänemark im Zweiten Weltkrieg untersuchte Lennart Bergfeldt.

Aktuelle Forschungen in den letzten Jahren versuchen, gewaltlosen Widerstand als einen komplexen und dynamischen sozialen Prozess zu begreifen, die Dynamiken zu verstehen, die die Herausbildung von solch neuen Streitformen begünstigen, ferner die Interaktionen, die Bekehrung möglich machen sowie das Phänomen einer »Gütekraft«, das den positiven Wandel bewirkt. »Globale Bewegungen zivilen Ungehorsams« sind in den Forschungsfokus gerückt.1

Macht und Grenzen gewaltloser Aufstände

Im Kampf um Veränderung mit gewaltfreien Mitteln gehört Hildegard Goss-Mayr sicherlich zu denjenigen PraktikerInnen, die den größten Erfahrungsschatz gesammelt haben. Auch sie geht nach einem strategischen Konzept vor, das die prinzipielle Gewaltfreiheit in praktisches Handeln umgesetzt. Ihre Praxis führte sie u.a. in die Philippinen, wo sie in der Vorbereitung der gewaltfreien Bewegung und der Beratung von EntscheidungsträgerInnen ihren Anteil am gewaltlosen Umsturz im Frühjahr 1986 hatte (Goss-Mayr 1989).

Wenn die Stärke gewaltlosen Widerstands in dieser und zahlreichen anderen hocheskalierten Situationen inzwischen deutlich belegbar ist, dann gilt das nicht für die Sicherung solcher Siege. Aus der Sicht derer, die sich in Osteuropa und in den Philippinen in diesen Kämpfen an vorderster Stelle engagierten, haben sich die Erwartungen auf eine Veränderung der sozialen Bedingungen nicht erfüllt. Johan Galtung weist auf dieses Phänomen hin, wenn er vor der Gefahr des »geheimen Einverständnisses« warnt. Galtung spricht ja den Gruppen, die in großer sozialer Nähe zu den Unterdrückern stehen, eine erhebliche Chance zu, dem »gewalttätigen Treiben« Einhalt zu gebieten. Er fragt aber: „Damit taucht jedoch eine beunruhigende Frage auf. Ist es tatsächlich unverkennbar, dass das Ergebnis dieses Prozesses die Unterdrückten begünstigt? Oder begünstigt es etwa die dritte, die vermittelnde Partei?“ Seine Analyse von sieben Fallbeispielen, darunter die Philippinen, fällt ernüchternd aus: „Objektiv bleibt jedoch vieles genauso wie zuvor. Und die Unterdrückten haben den Kampf an irgendwelche anderen Beteiligten verloren“ (Galtung 1988: 92, s. a: Diokno 1991; Sormova 1991; Rawicz-Oledzka 1991).

Es ist unverkennbar, dass sich in der Auseinandersetzung mit der Globalisierung soziale Bewegungen konstituieren und weitestgehend auf gewaltfreie Handlungsformen zurückgreifen. Die Frage, wem nützt der gewaltfreie Kampf, ist damit noch nicht beantwortet. Für Arunhati Roy sollten es diejenigen sein, die weltweit von Armut und Ausgrenzung durch Globalisierung und im Irak von Unterdrückung und Besetzung betroffen sind. Die notwendigen Erfolge zu erzielen und dabei tatsächlich denjenigen zu nützen, für die gestritten wird, wäre ein wirklicher Durchbruch bei der Weiterentwicklung gewaltlosen Widerstands. Es ist der vielleicht nächste Schritt?

Literatur

Ackerman, Peter and Christopher Kruegler (1994): Strategic Nonviolent Conflict. The Dynamics of People Power in the Twentieth Century, Westport, CT: Praeger.

Bergfeldt, Lennart (1993): Experiences of Civilian Resistance. The Case of Denmark 1940-1945, Diss.

Bläsi, Burkhardt (2001): Konflikttransformation durch Gütekraft. Interpersonale Veränderungsprozesse, Lit Münster (Studien zur Gewaltfreiheit, Band 4).

Burrowes, Robert J. (1996): The Strategy of Nonviolent Defense: A Gandhian Approach, Albany NY, State University of New York Press.

Chabot, Sean (2002): Dynamics of Contentious Repertoires: The Gandhian Repertoire as »Truly New«, Paper, presented at Symposium on Nonviolent Research, Tromso, Centre for Peace Studies, Nov 28-30.

Crow, Ralph E. / Philip Grant / Saad E. Ibrahim (eds.) (1990): Arab Nonviolent Political Struggle in the Middle East, Boulder, Lynne Rienner.

Diokno, Maria Serena I. (1991): People Power: The Philippines, S. 24-30 in: Nonviolent Struggle and Social Defence. (Dokumentation der Bradford-Konferenz, 3.-7.4. 1990). Edited by Shelley Anderson and Janet Larmore, London.

Dudouet, Veronique (2004): Heading in the right direction, Peace News 2545.

Galtung, Johan (1987): Der Weg ist das Ziel. Gandhi und die Alternativbewegung, Wuppertal.

Galtung, Johan (1988): Die Prinzipien des gewaltlosen Protestes – Thesen über die »Große Kette der Gewaltlosigkeit«, S. 82-92 in: Dokumentation des Bundeskongresses »Wege zur Sozialen Verteidigung« vom 17.-19. Juni 1988. Hrsg. v. Bund für Soziale Verteidigung, Minden.

Goss-Mayr, Hildegard und Jean Goss (1989): Gewaltfreies Ringen um kleine Fortschritte, S. 39-41 in : gewaltfreie aktion Nr. 77/78/79.

Hörig, Rainer (2004): Kriegserklärung der Kämpferin, Auf dem Weltsozialforum in Bombay fordert die Autorin Arundhati Roy den Krieg der Globalisierungskritiker gegen das Establishment, in: taz Nr. 7261 vom 19.1.2004.

Lakey, George (1979): Sociological Mechanisms of Nonviolence: How It Works, S. 64-72 in: Nonviolent Action and Social Change. Hrsg. v. Severyn T. Bruyn und Paula M. Rayman. New York, London, Sydney, Toronto.

Martin, Brian / Wendy Varney / Adrian Vicers (2001): Political jiu-jitsu against Indonesian repression: studying lower-profile nonviolent resistance, Pacifica Review 13, 2001, p. 143-156.

Martin, Brian (2002), Nonviolence research: past and future. Paper, presented at Symposium on Nonviolent Research, Tromso, Centre for Peace Studies, Nov 28-30.

McManus, Philip and Gerald Schlabach (eds.) (1991): Relentless Persistence: Nonviolent Action in Latin America , Philadelphia, New Society Press.

Müller, Barbara (1995): Passiver Widerstand im Ruhrkampf. Eine Fallstudie zur gewaltlosen zwischenstaatlichen Konfliktaustragung und ihren Erfolgsbedingungen, Lit Münster (Studien zur Gewaltfreiheit Band 1).

Müller, Barbara (1996): Widerstand und Verständigungsbereitschaft. Eine pazifistische Alternative zur Diplomatie im Ruhrkampf und ihre Bedeutung, S. 103-119 in: Gewaltfreiheit. Pazifistische Konzepte im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Andreas Gestrich u.a., Lit Münster (Jahrbuch für Historische Friedensforschung Band 5).

Müller, Barbara (1996a): Zur Theorie und Praxis von Sozialer Verteidigung, Wahlenau 1996, (Arbeitspapier Nr. 3 IFGK).

Müller; Barbara und Christine Schweitzer (2000): Gewaltfreiheit als Dritter Weg zwischen Konfliktvermeidung und gewaltsamer Konfliktaustragung, S. 82-111 in: Konflikt und Gewalt. Ursachen – Entwicklungstendenzen – Perspektiven, Münster, Agenda-Verlag (Studien für europäische Friedenspolitik Band 5).

Parekh, Bhikhu (2004): Why Terror?, Prospect Magazine, Issue 98, May 2004, http://www.prospect-magazine.co.uk/start.asp?P_Article=12487.

Rawicz, Elzbieta (1991): A new style of Polish protest, S. 55-58 in: Nonviolent Struggle 1991. (S.o. Diokno).

Roy, Arundhati (2004): Do Turkeys Enjoy Thanksgiving? A Global Resistance to Empire; January 24, Fassung in: ZNet – 26.01.2004 16:27.

Sormova, Ruth / Michaela Neubauerova / Jan Kavan (1991): Czechoslovakia‘s nonviolent revolution, S. 36-42 in: Nonviolent Struggle 1991. (S.o. Diokno).

Vinthagen, Stellan (2002): Suggestions for a Social Construction Approach to Nonviolent Resistance, Paper, presented at Symposium on Nonviolent Research, Tromso, Centre for Peace Studies, Nov 28-30.

Vinthagen, Stellan (2002a): The Sociology of Nonviolent Action: The Social Construction of Global Movements of Civil Disobedience. Four abstracts from a coming dissertation. Paper, presented at Symposium on Nonviolent Research, Tromso, Centre for Peace Studies, Nov 28-30.

Anmerkungen

1) Ausführlich zur internationalen Konzeptentwicklung Sozialer Verteidigung siehe Parekh 2004, Theodor Ebert, Adam Roberts, Johan Galtung, Gene Sharp; Burrowes 1996; Martin 2002; Müller 1995; Müller 1996a, Semelin 1995: 18; Bergfeldt 1993: 7; Vinthagen 2002; Chabot 2002: 1 (Streitrepertoire); Bläsi 2001 (Interaktionskonzept); Arnold in dieser W&F-Ausgabe, S. 24ff (Gütekraft); Vinthagen, 2002a (globale soziale Bewegungen).

Dr. Barbara Müller ist Mitarbeiterin im Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung (IFGK).

… immer noch von Gandhi lernen?

… immer noch von Gandhi lernen?

Ziviler Widerstand, non-violence, Gütekraft

von Martin Arnold

„Gegen die absolute Brutalität der Nazis war kein Widerstand möglich“ lautet eine populäre Feststellung. Der Historiker und Sozialpsychologe Jacques Semelin hat zahlreiche Beispiele des vielfältigen Kampfes »ohne Waffen gegen Hitler« untersucht, er nannte ihn »Zivilen Widerstand«. Seine Definition nahm Martin Arnold zum Anlass für eine konzeptionelle Betrachtung inhaltlich verwandter Begriffe und der dazu gehörenden Konfliktdynamik. Eine besondere Rolle spielt dabei das von Gandhi entwickelte Konfliktaustragungskonzept Gütekraft.

In einer Welt, in der eine Mentalität des Durchsetzens mit Gewalt in der Weltpolitik wie auf Schulhöfen immer deutlicher um sich greift, sind für einen zukunftsfähigen Weg des Zusammenlebens tragfähige Formen der Konfliktaustragung nötig. Der zivile Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft in ganz Europa ist bei uns kaum bekannt. Zusammen mit dahinter stehenden Traditionen bietet er aufschlussreiche Einsichten. Diese machen weiter führende Fragen der Friedens- und Konfliktforschung dringlich.

Ziviler Widerstand gegen die Herrschaft der Nationalsozialisten

Norwegen 1942: Nach der Eroberung des Landes durch die deutschen Truppen versuchte der Marionetten-Regierungschef Vidkun Quisling die norwegischen Lehrer zu zwingen, einer nazistischen Organisation beizutreten und in deren Sinne Unterricht zu geben. Doch Rassismus zu lehren war für die große Mehrheit nicht mit ihren Gewissen und die Fremdbestimmung nicht mit ihrer norwegischen Identität vereinbar. Viele wehrten sich aktiv und schickten einzeln eine Erklärung nach Oslo. An zwei Tagen trafen 4.000 davon bei Quisling ein. Dieser ließ über 1.000 Lehrpersonen festnehmen. Daraufhin meldeten sich weitere freiwillig fürs Gefängnis. Ihre Familien wurden von der Bevölkerung versorgt. Auch bei Zwangsarbeit in einem Konzentrationslager gaben sie nicht nach – mit Erfolg: Nach vielen Monaten aus den Lagern entlassen, konnten sie weiterhin ihren Unterricht geben. Quisling: „Die Lehrer haben für mich alles zerstört!“ (Semelin 1995:109)

Semelin stellt dar, mit welchen Zielen die Historie sich zunächst mit den bewaffneten Teilen des Widerstands gegen die Deutschen befasst hat. Z.B. gab es in Frankreich „vier »politische Lesarten« der Résistance“, mit denen durch Heroisierung von Politikern, die nach 1945 aktiv waren, aktuelle politische Interessen der Gaullisten, der Kommunisten und anderer bedient wurden (S. 48). Ohne die Bedeutung militärischer Aktivitäten zu schmälern, zeigt Semelin zahlreiche Formen und die wichtige Rolle des zivilen Massenwiderstands auf, die oft weniger spektakulär waren als militärische und auch deshalb leicht »vergessen« wurden. In vielen Ländern war er aber grundlegend und wirkungsvoll und verhinderte, dass die herrschenden Deutschen Faschisten ihre politischen Ziele – überhaupt oder in der geplanten Zeit – erreichten.

Semelin unterscheidet zwei Arten des zivilen Widerstands, je nach Mobilisierung durch die Bevölkerung oder durch Institutionen. Zur ersten gehören Demonstrationen, Streiks, ziviler Massen-Ungehorsam, Widerstand von Berufsgruppen sowie Bewegungen zur Unterstützung von Juden; er beschreibt Beispiele aus der Tschechoslowakei, Holland, Belgien, Frankreich, Norwegen, Luxemburg, Dänemark, Polen (Unterrichtswesen im Untergrund) und Deutschland (Rosenstraße). Bei institutioneller Mobilisierung hingegen waren die Träger des Widerstands staatliche Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen, die Proteste, begrenzte (wie in Finnland, Italien, Rumänien, Ungarn, Dänemark und Belgien) oder totale Nichtzusammenarbeit (wie in Norwegen und später in Dänemark) praktizierten.

Semelins Definition

Semelin definiert zivilen Widerstand als „Spontaner und unbewaffneter Kampf einer zivilen Gesellschaft gegen einen äußeren Aggressor“ (S. 53). Geplanten Widerstand nennt Semelin Verteidigung. Unbewaffnet spielt bei der Definition eine entscheidende Rolle. Semelin grenzt seine Forschung auf solche zivilen Handlungen ein, die nur zivilen, nicht militärischen Zielen dienten, wie z.B. „die Forderung nach der Unabhängigkeit von Institutionen von der Kontrolle durch die Besatzungsmacht oder der Schutz verfolgter Personen.“(S. 19). (Tätigkeiten ohne Waffen, die militärischen Zwecken dienen, wie z.B. Kundschafterdienste, untersucht Semelin nicht.) Diese Widerstandsform kommt nach Semelin dem »gewaltfreien Widerstand« nahe. Wenn sie allerdings in Ermangelung von Waffen gewählt wurde, ohne dass dem ein „Verzicht auf Gewalt als strategischem Mittel“ zu Grunde liegt, zieht Semelin die Bezeichnung »ziviler Widerstand« vor. (S. 58) Zur Unterscheidung von »gewaltfrei« wird dafür in Deutschland vielfach die Bezeichnung »gewaltlos« gewählt. Semelin hat sich auch mit der Tradition gründlich befasst (z.B. Mellon, Semelin 1994); ihr Ausgangspunkt ist »ahimsa«.

Ahimsa, Satjagrah, non-violence

Ahimsa (Sanskrit: a = Verneinung, himsa = Gewalt) bezeichnet eine Lebenshaltung und Einstellung, die seit mehr als 2.500 Jahren die unbedingte Achtung vor dem Leben aller Wesen fordert; sie ist das oberste Prinzip für die Anhänger des Jainismus. Jains und viele andere sind durch den Einfluss dieser indischen Religion VegetarierInnen. Ähnliche Anschauungen finden sich in allen großen Religionen. In Indien allerdings entwickelte sich die Bedeutung von ahimsa von der rein negativen Bedeutung »Nicht-Gewalt« weiter in die positive Richtung: Liebe zu allen Wesen.

Die Bekanntschaft mit Jains hatte großen Einfluss auf Mohandas K. Gandhi. Als indischer Rechtsanwalt hatte der später Mahatma (»große Seele«) Genannte seit 1893 in Südafrika mit rassistischen Diskriminierungen zu kämpfen. Er entwickelte die Nicht-Gewalt-Anschauungen dahin weiter, dass er Formen erfand, die Forderung auf akzeptable Art auch an diejenigen zu richten, unter deren Gewalt er zu leiden hatte, und zwar über den persönlichen Bereich hinaus wirksam auch in der Politik. Journalisten nannten seine Kampfart »passive resistance«. Diese Bezeichnung fand er irreführend, weil er, im Gegenteil, sehr aktiv war, und er nahm ein neues Wort dafür: Satjagrah. Das Sanskrit-Wort ist zusammengesetzt aus: satya = Sein, Wahrheit als Liebe und Güte, und agraha = gespannt sein, sich halten an, festhalten an, Kraft. Gandhi erklärte es als „Force which is born of Truth and Love“, Kraft, die aus Wahrheit und Liebe entspringt, und »soul force«, Seelenkraft (Gandhi 1972: 102, 105). Satjagrah schließt ahimsa ein. Gandhi nannte sie auf dem Hintergrund des indischen „ahimsa“ im Englischen »non-violence«. Das erkannte er später als Fehler, denn in der übrigen Welt, wo es keine ahimsa-Tradition gab, hatte »non-violent«, »gewaltlos«, natürlich meist die Bedeutung, etwas nicht zu tun, d. h. der Impuls aus der Kritik an »passive resistance« war verloren. Nur wer die Zusammenhänge kannte, wusste Bescheid und so ist es bis heute. Denn bis zur Erkenntnis seines Fehlers in den 1930er Jahren, waren die Aktivitäten, die er anleitete, weltweit mit »non-violent« und er als »Apostel der Gewaltlosigkeit« bezeichnet worden. Schon 1925 hatte dagegen sein Freund Romain Rolland vorgeschlagen, eine andere, besser zu Satjagrah passende Bezeichnung zu suchen.

Gewaltfreiheit

Neugieriggewordene stellten sich die Frage, wie es entgegen gewohnten Kampfweisen zum Abbau von Gewalt, auch von struktureller Gewalt, von Ungerechtigkeit, und zu wirksamer Verteidigung gegen gewaltsame Angriffe kommen konnte, ja überhaupt kommen kann. Es wurde eine Dynamik beschrieben, die zwingende Kraft entfalten kann. Mit der Studie des britischen Admirals Stephen King-Hall »Den Krieg im Frieden gewinnen« änderte sich der Diskurs von moralischen zu strategischen und militärischen Argumenten (Bogdonoff 1982). Damit ist ein bestimmter Traditionsstrang der Gandhi-Interpretation bezeichnet. Exponent ist Gene Sharp: »The Politics of Nonviolent Action« (1973). Satjagrah wird als reine Sozialtechnik gesehen, unabhängig von Einstellungen des Akteurs, als Methode, mit deren Mechanismen der Nichtzusammenarbeit bei konsequenter Anwendung jede Person ohne körperliche Verletzung zum Nachgeben gezwungen werden kann (non-violent coercion).

Als sich in Deutschland der öffentliche Sprachgebrauch bei »gewaltlos« stark von dem der Insider entfernt hatte und nur noch »keine Gewalt« meinte, führte Theodor Ebert Ende der 1960er Jahre den Begriff »Gewaltfreiheit« ein, um auch die innere Freiheit von Gewalt als Motivation für bestimmte Handlungsweisen auszudrücken. Dies entsprach Gandhis Unterscheidung zwischen der »Gewaltfreiheit der Starken« und der »Gewaltlosigkeit der Schwachen«, d. h. jener, die nur aus taktischen Gründen, z.B. weil sie keine Gewaltmittel haben, zu dieser Methode greifen. Die Unterscheidung wurde kaum allgemein aufgenommen. Im Lauf der Jahrzehnte hat sich nun der Vorgang wiederholt, dass ein Wort im öffentlichen Diskurs entgegen der ursprünglichen Bedeutung eingesetzt wird: Z.B. begründete ein Innenminister einen Gewalt-Einsatz der Polizei gegen Demonstrierende mit den Worten: „Bayern bleibt gewaltfrei.“ Mit der positiven Dynamik Satjagrah hat dieser Sprachgebrauch kaum noch etwas gemein, sie droht vergessen zu werden. Deshalb und weil unter „Gewalt“ sehr Unterschiedliches verstanden wird, scheinen „gewaltlos“ und „gewaltfrei“ immer weniger geeignet zu sein für sachliche Verständigung über die wohlfeile Bestätigung von Legitimität hinaus. Ausdrucksweisen wie ohne »körperliche / psychische / materielle« Schädigung oder Verletzung sagen klarer aus, was jeweils gemeint ist.

Gütekraft

Allerdings hatten Gandhi und viele andere (wie Martin Luther King: „strength to love“, „love-force“) eine Dynamik in Gang setzen können, die geeignet ist, Menschen von der Schädigung anderer abzubringen. Seit einigen Jahren wird in Deutschland für diese Dynamik das Wort Gütekraft gebraucht, im angelsächsischen Sprachraum truthforce (»Nonviolence« und »violence-free« sind andere Versuche. Nach den Erfahrungen mit »Gewaltfreiheit« ist zu vermuten, dass so dem Verflachen des Begriffsinhaltes kaum Einhalt zu bieten ist.) Ebenfalls von der negativen Bezeichnung abrückend, heißen eine kürzlich in den USA gesendete TV-Serie mit Beispielen aus der ganzen Welt und das zugehörige Buch »A Force More Powerful« (Ackermann, DuVall, 2000). Auch Johan Galtung bezeichnet die positive Seite der Gewaltfreiheit als Gütekraft (1999:39): „Sofern die sozio-psychologische Distanz zwischen den beiden (am Konflikt beteiligten) Seiten darauf basiert, dass das Gegenüber die eigene Seite entmenschlicht, dann wird gütekräftiges Vorgehen Außenstehende in einer Großen Gütekraftkette einbeziehen müssen. Einige der Vermittler werden viele soziale Charakteristika mit den Unterdrückten gemeinsam haben, andere werden ökonomisch, sozial und kulturell den Unterdrückern näher stehen.“

Galtung nennt hier einen soziologischen Aspekt der Funktionsweise der Gütekraft-Dynamik. Er setzt voraus, dass es einen – notfalls auch nur indirekten – Kontakt zum Gegner gibt. So wird durch bestimmte Vorgehensweisen – dazu kann auch Nichtzusammenarbeit gehören – (s. Ebert 1981: 37) eine Dynamik angestrebt, die nicht wie die der Gewalt in Destruktivität mündet, sondern in einen »Engelskreis« oder eine »Gütekraftspirale«, d. h. in der sich die Beziehung zwischen den Kontrahenten verbessert. Dies erfordert, dass in der Konfliktaustragung auch die eigenen Ziele dem Ziel der Verbesserung der gemeinsamen Verhältnisse untergeordnet, die eigenen Interessen eingeordnet werden, dass sich der Kampf nicht gegen Personen richtet sondern gegen ein bestimmtes Verhalten oder bestimmte Verhältnisse. Diese Dynamik und das zugehörige Konzept der Konfliktaustragung nannte Gandhi Satjagrah, Gütekraft. Gütekräftig vorgehen heißt, den Kampf zu führen als Einsatz für die Verbesserung der Verhältnisse für alle und Gegner konsequent und beharrlich auch gegen den bisherigen Augenschein als potenziell Verbündete für dieses Ziel zu behandeln. Das Konzept hat sich in vielen Konflikten auf allen Konfliktebenen bewährt, es spielt übrigens auch im familiären Alltag eine größere Rolle, als uns zumeist bewusst ist.

Unterschiedliche Konzepte

Von den Aktivitäten des zivilen Widerstands, die Semelin anführt, scheinen diejenigen besonders stark gewirkt zu haben, bei denen der Widerstand mit direktem Kontakt zu den Besatzern verbunden wurde, d. h. die nicht nur gewaltlos, sondern gütekräftig waren. Ohne solchen Kontakt scheinen die Erfolgsaussichten des zivilen Widerstands geringer oder sogar grundsätzlich gefährdet zu sein: Barbara Müller und Christine Schweitzer benennen Schwächen ziviler, gewaltloser Widerstandsaktivitäten, die durch Mangel an Dialogbereitschaft oder Nichtbeachtung der Gegnerseite bedingt waren: Das Konzept wurde in diesen Fällen nicht optimal angewendet. Burkhard Bläsis (2001) »grounded theory«, die er anhand von Interviews mit jahrzehntelang gütekräftig tätigen Personen entwickelte, bestätigt es: Gütekräftig vorgehen heißt Paroli bieten und zugleich Vertrauen aufbauen. Auch Robert Antoch (1999) nahm die psychologische Seite der Dynamik in den Blick und fand drei wichtige Faktoren: Entängstigung, Entfeindung und Ermutigung. Das ist mit Zwang, mit »non-violent coercion«, nicht erreichbar: Sharps enger Gewalt-Begriff meint wohl nur körperliche Schädigung. Gandhis ahimsa schließt dagegen auch andere Arten der Schädigung wie Beleidigung, Verleumdung oder totale soziale Isolierung als Erpressungsmittel aus. Das wirft Fragen auf.

Forschungsaufgaben

  • Wie wichtig ist »Kontakt zum Gegner« für die Stärke des Vorgehens? Sowohl beim Widerstand gegen Pershing II-Raketen z.B. in Mutlangen, als auch bei den Aktionen gegen Castortransporte im Wendland spielte die Frage, wie die Konzepte reine Gewaltfreiheit und Vielfalt zu einander stehen, eine wichtige Rolle: Welches ist wie wirksam? Können sie bei einer Aktion koexistieren, ohne sich zu stören?

Wie stark sind gütekräftige Vorgehensweisen, bei denen ohne Hass mit dem Gegner Kontakt aufgenommen wird, im Vergleich zu den als zivil oder gewaltlos oder vielfältig bezeichneten Widerstandskonzepten, bei denen aus beliebiger Motivation keine körperliche Gewalt angewendet wird?

Diese Fragen stellen sich nicht nur für Situationen des zivilen Widerstands, sondern spielen bei allen Konflikten eine fundamentale Rolle, gerade auch bei solchen, in denen eine Seite versucht, durch Schädigung der anderen Seite ihre Ziele zu erreichen. Für die Friedens- und Konfliktforschung stellen sich daher eine Reihe weiterer, auch grundlegender Fragen. Wenige sollen hier angedeutet werden.

  • Bei größeren Kollektiven kann die Verhaltensänderung indirekt verlaufen. Oft wurden Verantwortliche zwar nicht überzeugt, aber gaben nach, weil ihr Umfeld sich in diesem Prozess veränderte. Z.B. gab 1986 der philippinische Diktator Marcos nach intensiv vorbereiteten, gütekräftigen Aktivitäten auf, nicht »bekehrt«, aber entmachtet, als das Militär und die USA, weitgehend gütekräftig beeinflusst, ihn nicht mehr stützten (Goss-Mayr 2004). Vor allem wenn größere Kollektive beteiligt sind, ist die »Große Gütekraftkette«, von der Johan Galtung spricht, wichtig: Nicht nur die unmittelbar Verantwortlichen werden angesprochen, sondern die zunächst gleichgültige, stumme, daher die Verhältnisse stabilisierende Öffentlichkeit wird durch gütekräftige, dramatisierende, den Konflikt deutlich machende Ansprache als Verbündete gegen das Unrecht gewonnen. In der Bewegungsforschung wird hier von einem »Spiel über die Bande« gesprochen (Roth, 2004). Ein Vergleich von dem, was mit Martin Luther King durch gütekräftiges Vorgehen, und dem, was z.B. mit Malcolm X oder den »Black Power«- Bewegungen mit anderen Konzepten erreicht wurde, sowie eine genauere Analyse der Ursachen könnte sehr nützlich sein, natürlich auch auf andere Konflikte bezogene Vergleiche (Ackermann, DuVall 2000: 457-468).
  • Die Erwartungen, mit denen im Konflikt Kontakt aufgenommen wird, stellen, wie Forschungen zu »selffulfilling prophecy« vermuten lassen, wichtige Weichen, wie sich die Beziehungsdynamik entwickelt. Offenbar sind unbewusste Einstellungen relevant. D. h. Vorgehensweise und Methodik funktionieren nicht einfach als beliebig anwendbare »Technik«. Wie aber funktionieren sie dann? Ist vielleicht die »Haltung« wesentlich? Was daran ist lernbar, was nicht? Wie kann es gelernt werden? In welchem Verhältnis steht die innere Einstellung von gütekräftig Handelnden zur zugehörigen Methodik?
  • Es gibt verschiedene Ausgestaltungen des Gütekraft-Konzepts, die oftmals religiös formuliert worden sind. Das Konzept des Hindus Gandhi ist z.B. nicht identisch mit dem des Baptisten King, dem des Moslems Abdul Ghaffar Khan oder dem des Sozio-Anarchisten Bart de Ligt usw. Gegenwärtig fördert die Deutsche Stiftung Friedensforschung ein Forschungsprojekt an der Universität Siegen indem die unterschiedlichen Konzepte gegeneinander abgeglichen werden und in dem untersucht wird, was sich unter welchen Voraussetzungen übertragen lässt.

Fazit

In den weltweiten Erfahrungen mit gütekräftigem Vorgehen liegt ein Schatz, den bewusster zu heben für Gesellschaft und Politik dringlich ist. In der konsequenten Betrachtung der anderen Seite als gleichwertig, wie im Gütekraft-Konzept entwickelt, dürfte ein Schlüssel für die Lösung von Konflikten liegen – im Großen wie im Kleinen.

Literatur

Ackerman, Peter / DuVall, Jack (2000): A Force More Powerful. A Century of Nonviolent Conflict, New York.

Antoch, Robert (1999): Kraft der Liebe. In: Arnold, Knittel (Hrsg.), 1999, S. 58-64

Arnold, Martin und Knittel, Gudrun (Hrsg.) (1999): Gütekraft erforschen. Kraft der Gewaltfreiheit, Satjagraha, Strength to love, Minden, Gewaltfreie Aktion, 31. Jg., H. 121, online:

Berg, Birgit (1999): Vom Gewaltkult zur Gütekraft. Beispiele und Aspekte einer neubenannten Qualität. In: Arnold, Knittel (Hrsg.) 1999, S. 17-30.

Bläsi, Burkhard. (2001): Konflikttransformation durch Gütekraft. Interpersonale Veränderungsprozesse. Münster, Hamburg, Berlin, London.

Bogdonoff, Phil (1982): Civilian-Based Defense – A Short History. www.blancmange.net/tmh/articles/cbdhist.html

Ebert, Theodor (1981): Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg. Waldkirch.

Galtung, Johan (1999): Mohandas K. Gandhis Realpolitik. In: Arnold, Knittel (Hrsg.) 1999, S. 35-41.

Gandhi, Mohandas K. (1928): Satyagraha in South Africa. Ahmedabad.

Goss-Mayr, Hildegard (2004): Die Kraft der Gewaltfreiheit am Beispiel der Philippinen. In: Gewaltfreie Aktion, i.E.

Mellon, Christian / Semelin, Jacques (1994): La non-violence. Paris

Roth, Roland (2004): Erfolgsbedingungen sozialer Bewegungen heute, Vortrag vom 08.05.04, Bremen, Archiv Aktiv.

Semelin, Jacques (1995): Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa, Frankfurt a.M.

Sharp, Gene (1973): The Politics of Nonviolent Action, Boston.

Martin Arnold ist Pfarrer. Er arbeitet z. Zt. an einem Forschungsprojekt der Universität Siegen zu den verschiedenen Gütekraft-Modellen. Die deutsche Arbeitsgruppe Gütekraft wurde von ihm mitgegründet: Siehe auch www.guetekraft.net

Gütekraft (Satjagrah)

Gütekraft (Satjagrah)

Ein Thema für die Friedens- und Konfliktforschung

von Martin Arnold

Kein Zweifel: M. Gandhis Satjagrah (»Kraft der Wahrheit«, »Gütekraft«) funktioniert – oder hat immer mal funktioniert. Das Wie scheint aber die Profis für solche Dinge wenig zu interessieren. Gewiss hat es seit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer mal Aufforderungen und Versuche gegeben, ein entsprechendes Forschungsprogramm anzuschieben. Die nötige man- and woman- and money-power aber haben diese Ansätze bis dato nicht auf sich gezogen. Vielleicht weil der von Weber, Hobbes, Luther u.s.w. ererbte »staatsreligiöse« Glaube an die Gewalt als eigentlicher Kitt der Gesellschaft eine kulturspezifische Kollektivneurose darstellt. Wie auch immer, vor ein paar Jahren hat der Autor des vorliegenden Beitrags einen neuen Versuch der wissenschaftlichen Aufarbeitung von »Gütekraft« initiiert und 1998 wurde die Arbeitsgruppe Gütekraft1 gegründet. Sie hat vor, das Wissen von der Gütekraft durch Forschungen, die sie anregt, zu vertiefen und – später – zu verbreiten.
Gütekraft ist mit Versöhnung eng verwandt. Versöhnung wird aber von der Konfliktforschung erst seit Kurzem thematisiert.2 1995 wurde in der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung gefordert, die Forschung solle sich mehr den Friedensursachen zuwenden. Es gibt einige neuere Arbeiten zu Versöhnung, besonders englische Literatur (s. Gutierrez, 1998). Am Beispiel der Wahrheits- und Versöhnungs-Kommission in Südafrika wird »Versöhnung« von manchen AutorInnen einer bestimmten Konfliktphase zugeordnet (Wanie, 1999 und Antoch, 1999). Versöhnungsarbeit soll bei diesem Verständnis nach dem Kampf die Wunden in den Beziehungen der Konfliktpartner heilen. Anders Hiskiaz Assefa (1999), Professor zweier US-Universitäten, Friedensforscher und -Praktiker in Nairobi: Versöhnung ist für ihn ein eigenständiger Ansatz des Umgangs mit Konflikten. Sein Konzept von »reconciliation« zeigt aufschlussreiche Verwandtschaft mit dem Gütekraft-Ansatz. Er ordnet verschiedene Konzepte zum Umgang mit Konflikten danach, in welchem Ausmaß beide KonfliktpartnerInnen bei der Lösungssuche beteiligt sind (siehe Grafik).

Unabhängig davon, um welche Konfliktbeteiligten es sich handelt, zeigt der Intensitätsbalken (low – high) deren wechselseitige Beteiligung (mutual participation) an der Lösungssuche. Mit dieser Intensität korreliert eine Qualitätsskala: Die Güte einer Konfliktbearbeitung dürfte zunehmen, je stärker beide Seiten den Konflikt gemeinsam zu lösen versuchen. Denn je mehr sich beide Seiten verständigen, desto größer sind die Chancen für eine wirkliche Lösung, bei der kreativ neue Möglichkeiten für bessere Beziehungen zwischen den Beteiligten gefunden werden und sich so die Zukunftsaussichten auch im Sinne der Vorbeugung gegen neue Konflikte verbessern.

Die Gütekraft kann in all den Ansätzen eine Rolle spielen, die Konfliktlösung (conflict resolution) ermöglichen können. Nur mit Gewalt (im Sinne von Schädigung des Anderen) ist die Gütekraft nicht vereinbar. In dieser Tatsache ist die bislang gängige Bezeichnung »Gewaltfreiheit« begründet. Aber Gütekraft bedeutet mehr als keine Gewalt auszuüben. Gütekraft kann ein Element oder Aspekt des Prozesses aktiver Konfliktaustragung sein.

Drei Beispiele

Die folgenden Beispiele fokussieren einenAspekt in teils vielschichtigen Konflikten. Sie beschreiben weder die jeweilige Situation noch die Hintergründe, die inneren und äußeren Faktoren im Konflikt insgesamt. Sie stecken auch nicht das zu erforschende Terrain ab, noch sind es Handlungsregeln. Sondern sie sind erste Hinweise für ein konkreteres Verstehen und auf Forschungsmöglichkeiten.

Verfolger wird Helfer

Ein Mädchen ging von der Schule nach Hause mit einem großen Stapel Bücher in ihren Händen. Während sie auf einem Waldweg lief, hörte sie, dass jemand schnell hinter ihr herkam. Es war ein Mann, der sie verfolgt hatte. Als er schließlich neben dem Mädchen war, drückte sie ihm die Bücher mit der Bemerkung in die Hände: „Schön, dass ich jemand gefunden habe, der mir helfen kann, meine Bücher zu tragen; und der mich hier im Wald beschützen kann.“3 Der Mann lief mit ihr, während das Mädchen allerlei über ihre Schule erzählte. Als sie bei ihr zuhause angekommen waren, bedankte sie sich bei dem Mann für die Hilfe; worauf er antwortete: „Ich fand es auch schön.“ Er deutete an, dass er etwas ganz anderes vorgehabt hatte.

Menschen gegen Panzer

1986 wurde auf den Philippinen der Diktator Marcos durch »People Power« dazu gebracht, das Land zu verlassen. Das Besondere und wohl historisch Erstmalige: Es geschah auf Grund bewusster Entscheidung wichtiger Oppositionspolitiker für die gütekräftige Vorgehensweise. Die im Widerstand Aktiven hatten sich und ihr gütekräftiges Vorgehen intensiv methodisch vorbereitet. Was war dem vorausgegangen?

Anfang der 1980er Jahre nahmen der wirtschaftliche Niedergang großer Teile des Volkes und die Unterdrückung durch das Marcos-Regime auf den Philippinen erschreckend zu. Viele Oppositionelle, unter ihnen GewerkschafterInnen und StudentInnen wurden auf brutale Weise von der Polizei terrorisiert. Die allermeisten Einwohner der großen Inseln sind katholisch. Viele Priester und Ordensleute setzten sich gegen die Verarmung auch politisch ein. Die teilweise im Untergrund agierenden Kommunisten bekamen immer mehr Unterstützung und bewaffneten sich. Benigno Aquino (»Ninoy«) war einer der Hoffnungsträger des Volkes gegen Marcos. Eine langjährige Gefängnisstrafe durfte er für einen krankheitsbedingten Aufenthalt in den USA unterbrechen. Er entschied sich für den Weg der Gütekraft, (»non-violence«) und entschloss er sich trotz der Warnungen, nach Manila zurückzukehren. Dort angekommen wurde er noch auf der Gangway erschossen.

Das war 1983. Die Spannung steigerte sich, Bürgerkrieg lag in der Luft. 1984 folgte das Wiener Ehepaar Jean und Hildegard Goss-Mayr einem Hilferuf von Ordensleuten aus Manila. Sie fuhren zunächst durchs Land, um die Menschen und die Lage auf den Philippinen kennen zu lernen. Dann erläuterten sie in mehreren Begegnungen führenden Oppositionellen, Gewerkschaftsführern, StudentInnen, Bauern, Kirchenleuten und Menschen aus der bürgerlichen Opposition, darunter Ninoys Bruder Agapito (»Butz«) Aquino, das gewaltfreie Kampfkonzept der Gütekraft. Sie machten deutlich, dass die Entscheidung für den gewaltfreien Weg genauso den vollen Einsatz des Lebens erfordere wie eine Entscheidung für den Einsatz von Gegengewalt. Sie erklärten sich vor ihrer Abreise bereit – für den Fall der Entscheidung für die Gewaltfreiheit – zu Schulungen und Seminaren zurück zu kommen. Und sie kamen bald zurück. Nach mehreren Multiplikatoren-Seminaren (u.a. einem für 30 Bischöfe) wurde eine Organisation ins Leben gerufen, die auf breiter Ebene Schulungen und vielfältige andere Vorbereitungen ins Werk setzte. Die Zeitschrift Alay Dangal (Würde anbieten) informierte und mobilisierte. Der Glaube spielte eine große Rolle: Die biblische Botschaft mit ihren vielen Befreiungsgeschichten (Exodus usw.) wurde als Impuls zur Befreiung neu entdeckt; religiöse Riten wurden neu mit Inhalt gefüllt und auf die eigene Situation der Unterdrückung bezogen. Das Ausland wurde informiert. Als Marcos für den 7. Februar 1986 aufgrund außenpolitischen Druckes, vor allem seitens der USA, sehr kurzfristig Wahlen ansetzte, wurde die Organisation NAMFREL4 gegründet. Für Ereignisse wie Stimmenkauf, Urnenklau, Wahlbetrug und Ignorieren des Wahlergebnisses wurden verschiedene Aktionsmöglichkeiten durchgespielt. In einer Zeltstadt in Manilas Innenstadt-Park wurden ständig Schulungen angeboten, es wurden gütekräftige Haltung und Methoden, u.a. auch Fasten, massenhaft eingeübt. Als Bewaffnete am Wahltag Urnen entwenden wollten, hielten viele Frauen diese erfolgreich fest. Nach der Bekanntgabe eines falschen Wahlergebnisses wurde zum Boykott der Banken, die Marcos nahe standen, übergegangen. Marcos-Treue zerstörten den einzigen unabhängigen, kirchlichen Sender Radio Veritas – man war vorbereitet, so dass er nach kurzer Zeit weitersenden konnte. Teile des Militärs begannen, sich von Marcos zu distanzieren, und verschanzten sich im Camp Aguinaldo, Kardinal Sin rief die Bevölkerung auf, die von Marcos abtrünnigen Soldaten zu schützen und Nahrung zu bringen, was sofort massenhaft geschah. An eine Kampfhubschrauber-Einheit erging der Marcos-Befehl, das Meuterer-Camp zurück zu erobern, die Eroberer-Einheit aber solidarisierte sich. Als Panzer-Einheiten in Richtung des Camps rollten, ging die Bevölkerung massenhaft auf die Straße. Angeführt von Nonnen und Priestern, Brote und Blumen und Würde anbietend, stellte sie sich den Panzern entgegen. Mit den Soldaten wurde gesprochen und nach Stunden fuhren sie zurück. Marcos’ Macht war gebrochen.

Tschechoslowakei 1968

1968 propagierten die in Prag regierenden Reformkommunisten einen »Sozialismus mit menschlichem Gesicht«, d.h. mit bürgerlichen Freiheiten. Am 21. August 1968 marschierten Panzertruppen aus der Sowjetunion, der DDR, Polen, Ungarn und Bulgarien in die Tschechoslowakei ein, um die Regierung auf einen Moskau genehmen Kurs zurück zu zwingen. Prag entschied, nicht das Militär einzusetzen. Aber es gab vielfältigen, auch gütekräftigen Widerstand, den das Volk leistete, angeleitet zu großen Teilen über den Rundfunk: Um Zeit zu gewinnen wurden durch Sitzblockaden auf Straßen die Panzer bei der Überquerung der Karpaten aufgehalten, auf dem Weg zur Hauptstadt wurden Schilder nach Prag verdreht, so dass Truppenteile sich plötzlich auf einem Holzweg im Wald wiederfanden. In Prag, wo die wichtigsten Führer Svoboda, Dubcek und Smrkowski festgenommen werden sollten, wurden zur Desorientierung der Truppen Straßenschilder verdreht, Straßennamen und Hausnummern übermalt und an Tausenden von Wohnungsklingeln die Namen dieser Führer angebracht. Geheime Ersatzsender wurden aufgebaut, die aktiv wurden, als die Truppen die Sendestation zum Schweigen gebracht hatten. Am wichtigsten beim gütekräftigen Vorgehen ist der Kontakt mit dem Gegner: Die einmarschierenden Soldaten wurden von der Bevölkerung in Gespräche verwickelt. Man erzählte ihnen begeistert vom neuen Sozialismus-Frühling. Die Führung wechselte daraufhin nach zweieinhalb Tagen die Truppen aus. So erfuhren immer mehr Menschen aus den Einmarsch-Ländern Authentisches, von den staatlich gelenkten Medien Verschwiegenes über den »Prager Frühling«.5 Der Widerstand der TschechoslowakInnen war erfolgreich, solange er aufrecht erhalten wurde. Erst als er nach einer Woche aufgegeben wurde, konnte sich Moskau durchsetzen. Vorausgegangen war dem der »freiwillige« Flug führender Köpfe nach Moskau. Dort wurden sie getrennt und durch psychische Druckmittel und Falschinformationen dazu gebracht, zur Vermeidung massenhaften Blutvergießens bei ihrer Rückkehr in Prag das Volk aufzufordern, den Widerstand zu beenden. Der neue »Kompromiss«-Regierungschef Husak hörte auf Moskau, Stück für Stück schränkte er die neu gewonnene Freiheit wieder ein.

Bemerkungen zu den Beispielen

Beispiele vom Wirken der Gütekraft sind im allgemeinen Bewusstsein so wenig geläufig, dass sie gelegentlich selbst von den Beteiligten oder von JournalistInnen als »Wunder« bezeichnet werden. Leicht werden Berichte als unglaublich abgetan oder als Einzelfälle von nur singulärer Bedeutung. Hier jedoch wird unterstellt, dass es sich bei den positiven Wirkungen gütekräftigen Vorgehens, auch wenn sie erstaunlich erscheinen, weder um übernatürliche noch um unerklärliche Vorgänge noch um Zufälle handele. Längst gibt es auch Traditionen einschließlich ausgearbeiteter Methodiken für gütekräftiges Handeln (traditionell als »gewaltfreies Handeln« oder »gewaltfreie Aktion« bezeichnet) und vielerlei Erfahrungen bei uns und in der ganzen Welt, und es gibt viele geschichtliche Beispiele.1

Zu »Verfolger wird Helfer«

Nochmals: Der Bericht vom Verhalten des Mädchens ist nicht als »Verhaltensrezept« gedacht. Weniger die äußere Verhaltensweise (ansprechen, Bücher geben), sondern mehr die innere Haltung, die dem Verfolger positive Verhaltensmöglichkeiten zutraut, erscheint wesentlich für die Entwicklung der kurzen Beziehung.

Zu »Menschen gegen Panzer«

Die Reaktion der Soldaten nahm Marcos die Machtmittel aus der Hand, die er als seine wichtigsten ansah. Sie wird beeinflusst worden sein durch eine Reihe von Faktoren, die teilweise zur Herausbildung von »People Power« bewusst eingesetzt wurden, z.B.: Delegitimierung von Marcos’ Autorität; der Appell an das Gewissen jedes Einzelnen; Gespräche der BürgerInnen mit den Soldaten; der Mut der Massen sich öffentlich gegen Marcos zu stellen; Hemmungen der Soldaten gegen eigene Verwandte vorzugehen, die unter den Massen sein könnten; das Ansprechen religiöser Gefühle und die Teilnahme offensichtlich Unbewaffneter und traditionell als unschuldig Geltender (Nonnen, Priester) an den Protesten. Dazu gehört auch, dass nachdem die ersten Meuterer nicht von Marcos-Truppen getötet worden waren, sich die anderen Soldaten weniger bedroht fühlten.

Bei Kämpfen auf der politischen Ebene hat sich gezeigt, dass gütekräftiges Vorgehen häufig indirekt wirkt: Diejenigen, an die die Botschaft Unrecht abzubauen an erster Stelle gerichtet ist, die Hauptverantwortlichen, ändern ihren Willen nicht, aber weil sie für die Aufrechterhaltung ihrer unrechten Aktivitäten auf andere Menschen angewiesen sind, kommt die Gütekraft dennoch zur Wirkung, auf einem Umweg sozusagen: Die Mittel, die sie einsetzten, z.B. Polizisten oder Soldaten, funktionieren nicht mehr oder werden ihnen aus der Hand genommen.

Zu »Tschechoslowakei 1968«

Dass die Einmarschierenden nicht der »Klassenfeind«, sondern die Verbündeten waren, trug sicherlich zur Motivation und zum tagelangen Erfolg des gütekräftigen Vorgehens bei. Die Diskussionen und menschlichen Kontakte waren gewiss auch darin begründet, dass viele TschechoslowakInnen im Wissen, wie fehlinformiert die Soldaten waren, nicht akzeptieren wollten, dass die »sozialistischen Brüder« sie als Feinde betrachteten.

Das Volk war nicht auf den gütekräftigen Widerstand vorbereitet. Dennoch war er eine Woche erfolgreich. Hier zeigt sich (wie in vielen Beispielen), dass es vermutlich ein verbreitetes Vorwissen um gütekräftige Möglichkeiten gibt. „Der Frieden wartet nicht auf die Gewalt.“6 Ein Wissen um die Gütekraft scheint – mehr unbewusst als bewusst – breit vorhanden. Vielerlei Beispiele spontanen gütekräftigen Verhaltens in der Weltgeschichte weisen darauf hin (vgl. Berg, 1999). Es ist zu vermuten, dass es in allen Völkern vorhanden ist und im Menschsein wurzelt.

Die Gütekraft

Die Gütekraft ist eine bestimmte Dynamik im Prozess der Beziehung zwischen KonfliktpartnerInnen. Gütekraft entfalten heißt, eine Aufgabe zu verwirklichen. Gütekraft hat die besondere Qualität (Güte) der Verständigung auf mehr Gerechtigkeit und Humanität und auf solche Lösungen hin, aus denen alle Konflikt-Beteiligten Gewinn ziehen (»win/win«-Lösung). Sie vermeidet den Teufelskreis der Gewalt. Gütekräftige Verhaltensweisen fließen aus inneren Haltungen, die ebenfalls als gütekräftig bezeichnet werden können und wesentlich die Würde des Gegners achten.

Gütekraft bezieht sich also nicht nur auf konfliktimmanente Aspekte (wie beim reinen Interessenausgleich), sondern auch auf Werte, die als außerhalb der KonfliktpartnerInnen wahrgenommen oder postuliert werden, die (hier vorläufig mit »mehr Gerechtigkeit und Humanität« bezeichnet) wahrscheinlich in der menschlichen Bereitschaft zu solidarischem Handeln gegen Bedrohungen der Gemeinschaft wurzeln.

Clausewitz, Gewaltfreiheit, Gütekraft

General von Clausewitz stellte fest: Kriegführen geschieht nur, wenn der Wille und die Fähigkeit dazu (d.h. Verfügung über Soldaten usw.) zusammenkommen (Burrowes 1996). Wer gütekräftig vorgeht, versucht nicht die Fähigkeit, sondern den Willen des Anderen zu beeinflussen, und zwar nicht mit Gewalt wie im Krieg. Daher ist Gewaltfreiheit ein auffälliges Merkmal des gütekräftigen Vorgehens in Bedrohungssituationen. Doch damit ist nicht der Kern der Sache benannt. Nicht zu Gewalt zu greifen mag tief begründet, ehrenwert und allgemein hoch geschätzt sein. Allein dadurch wird eine positive Verhaltensänderung der anderen Seite jedoch nicht begründet, es kann sogar als Opferverhalten zu mehr Gewalt anregen. Vielmehr kommt für die Überwindung von Gewalt eine Wirksamkeit zum Nicht-Gewalt-Ausüben hinzu. „Man soll Mut zeigen. Man muss bereit sein, einen Schlag hinzunehmen, vielleicht auch mehrere Schläge – um zu zeigen, dass man nicht zurückschlagen und nicht weichen wird. Durch diese Haltung erreicht man, dass etwas in der menschlichen Natur freigelegt wird, das den Hass kleiner werden lässt, und schließlich dazu führt, dass derjenige respektiert wird. (…) ich habe festgestellt, dass es funktioniert.“7

Um die Sache richtig zu bezeichnen, ist diese Dynamik zu benennen. Mohandas K. Gandhi hat diese Notwendigkeit gesehen und das Sanskrit-Wort Satjagrah (Englisch: satyagraha) dafür gebildet. Er erklärte es als »soul force«. Dass er dafür oft das international aufgenommene Wort »non-violence« gebrauchte, das »Gewaltlosigkeit« und »Gewaltfreiheit« zu Grunde liegt, hat er später als Fehler erkannt. »Gütekraft« ist eine Übertragung von Satjagrah, ohne das Verständnis durch den asiatischen Kontext zu begrenzen (vgl. Egel-Völp, 1999: 132f und Blume, 1987).

Unrecht abbauen! – Vertrauen anbieten

Das Wesentliche des gütekräftigen Vorgehens besteht darin, diejenigen, die Unrecht vorhaben, tun oder verhindern können, so anzusprechen, (etwa) in ihrem Gewissen, dass sie sich für mehr Gerechtigkeit und Humanität einsetzen wollen. Die Gütekraft wirkt durch den Appell zu Solidarisierung gegen Unrecht und zu Abbau von Gewalt.

Der Bezug zur Humanität kommt bereits an der Stelle zum Ausdruck, wo – bereits im Ansatz, nicht erst in der Zielsetzung – die Gleichberechtigung der anderen Seite anerkannt, d.h. wo der anderen Seite ihre Entscheidungsfreiheit und Würde gelassen, ja, Vertrauen anbietend eben darauf gebaut wird. Gütekräftiges Vorgehen schließt daher Beleidigung oder Verleumdung des Gegners wie körperliche Schädigung aus.

Überforderung des Menschen?

Das Gütekraft-Konzept bietet einen selbstständigen Ansatz des Umgangs mit Konflikten. Es stellt bestimmte Ansprüche an die danach Handelnden und eröffnet daher auch besondere Möglichkeiten.

Mohandas K. Gandhi unterschied zwischen der »Gewaltlosigkeit der Schwachen« und der »Gewaltfreiheit der Starken«: Gewaltloses Handeln ist auch ohne gütekräftige Haltung aus taktischen Gründen möglich, z.B. weil keine Waffen zur Verfügung stehen. Als stärker sah er jedoch das Verhalten, das in »soul force« gründet, an, weil es durch die Bereitschaft einer Seite, Schläge hinzunehmen ohne zurück zu weichen, beiden Konfliktparteien ermöglicht, aus dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt herauszukommen.

Die Besonderheit der Anforderungen dieses Kampfkonzeptes liegt darin begründet, dass es seine Stärke auf der Ebene der inneren Haltung entwickelt. Hier zu lernen erfordert innere Offenheit, es kann nicht erzwungen werden, ist aber möglich. Es kann Sinnerfahrung bringen und sehr attraktiv sein. Wo es ernsthaft versucht wurde, zeigten sich Wirkungen, die belegen: Auch gewöhnliche Menschen, nicht nur, wie es gelegentlich heißt, „Heilige wie Martin Luther King jr. oder Mohandas K. Gandhi“ können diese Kompetenzen entwickeln und sogar massenhaft zur Geltung bringen: Indien, die Philippinen und Prag, wie auch der gewaltlos verlaufene Umbruch in der DDR, stehen neben vielen weiteren Beispielen.

Literatur

Antoch, R. (1999): Gütekraft: Liebe als Heilkraft. In: Arnold/Knittel (1999): S. 73-77.

Arnold, M. /Knittel, G. (Hrsg.) (1999): Gütekraft erforschen. Kraft der Gewaltfreiheit, Satyagraha, Strength to love. Minden (Intern. Versöhnungsbund, Dt. Zweig [Hrsg.]: gewaltfreie aktion, H. 121) vergriffen; Text in: www.guetekraft.net

Arnold, M. (1999): Gütekraft – Spurensuche in verschiedenen Kulturen, Traditionen und Religionen. In: Arnold/Knittel (1999) S. 48-57.

Assefa, H. (1999): The Meaning of Reconciliation. In: People building Peace. 35 Inspiring Stories from Around the World. A Publication of the European Centre for Conflict Prevention in cooperation with IFOR and the Coexistence Initiative of the State of the World Forum. ISBN 90 5727 029 3.

Berg, B. (1999): Vom Gewaltkult zur Gütekraft. Beispiele und Aspekte einer neubenannten Qualität. In: Arnold/Knittel (1999): S. 17-30.

Blume, M. (1987): Satyagraha. Wahrheit und Gewaltfreiheit, Yoga und Widerstand bei M. K. Gandhi, Gladenbach.

Burrowes, R. (1996): The strategy of nonviolent defense. A Gandhian approach. Albany (US): State University of New York Press.

Ebert, T. (1981, 1982): Soziale Verteidigung. 2 Bd.,Waldkirch.

Egel-Völp, R. (1999): Der Begriff Gütekraft als Kompass für eine zweite Entdeckungsreise. In: Arnold/Knittel (1999): S. 131-136.

Fuchs, A. (1999): Satjagraha – Herausforderung für die empirische Wissenschaft. Ansatzpunkte für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gandhis Satjagraha. In: Arnold/Knittel (1999): S.116-121.

Gutierrez, J. (1998): Friedens- und Versöhnungsarbeit – Konzepte und Praxis – Unterwegs zu einer dauerhaften, friedensschaffenden Versöhnung. In: Merkel, Chr. (Koord.): Friedenspolitik der Zivilgesellschaft. Zugänge – Erfolge – Ziele. Schriftenreihe des Österreichischen Studienzentrums für Friedens und Konfliktlösung, Münster, agenda, S. 114-148.

Hummel, Hartwig (Hrsg.) (2001): Völkermord – friedenswissenschaftliche Annäherungen. Baden-Baden: Nomos, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- u. Konfliktforschung, Bd. 28, S. 207-221.

Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung (IFGK): Arbeitspapier Nr. 16, siehe www.ifgk.de

Imbusch, P. / Zoll, R. (Hrsg.) (1996): Bibliographie zur Friedens- und Konfliktforschung, Marburg.

Lammers, C. / Battke, K. / Hauswedell, C. (Hrsg.) (1993): Handbuch Friedenswissenschaft. ExpertInnen, Institutionen, Hochschulangebote, Literatur, Marburg 3. Auflage.

Riehm-Strammer, A. (Hrsg.) (1999): Es geht auch anders. 50 Geschichten zum gewaltfreien Widerstand. Unveröffentlichtes Manuskript.

Wagner, U. (1999): Beiträge der empirischen Sozialpsychologie zur Gütekraft-Forschung. In: Arnold/Knittel (1999): S.78-82.

Wanie, R. (1999): Versöhnung – ein großes Wort? In: Versöhnungsprozesse und Gewaltfreiheit, Idstein, S.121-125

Anmerkungen

1) Ausführlicher: Gütekraft (Satjagrah) – handlungsleitendes Theorem auf dem Weg der Versöhnung, in: Hummel, H. (2001), S. 207-221 und in IFGK.

2) Es kommt weder unter den Stichwörtern im Handbuch Friedenswissenschaft (Lammers, 1993) vor, noch in Imbuschs Bibliographie (1996).

3) Riehm-Strammer (Bericht 2).

4) offiziell anerkanntes Bürgerkomitee zur Wahlüberwachung und Stimmenzählung.

5) Widersprüche beim Gegner verstärken ist ein Mittel der Sozialen Verteidigung, vgl. Ebert 1981/1982.

6) Juan Gutierrez am 2. November 2000 in Iserlohn.

7) Mohandas K. Gandhi in dem gut übertragenden Attenborough-Film »Gandhi«

Martin Arnold ist Berufsschulpfarrer in Essen

Gewaltlosigkeit im Kontext der Globalisierung

Gewaltlosigkeit im Kontext der Globalisierung

von Johan Galtung

Frieden und Gewaltlosigkeit unterliegen als gesellschaftliche Prozesse einem ständigen Wandel. Damit diese Entwicklung nach vorne geht, zu mehr Frieden, bedarf es täglicher Arbeit. In seinem Artikel – der auf einer Rede vom 14. September 1999 in Byblos/Libanon während einer Tagung zu »Jugend und interkultureller Dialog« basiert – untersucht Johan Galtung die Schlüsselwerte für eine solche »Kultur des Friedens«.

Frieden und Gewaltlosigkeit sind wie Gesundheit und ein gesunder Lebenswandel keine isolierten Begebenheiten, sondern ständiges aufwärts Streben. Wie in einer gute Ehe müssen wir tagtäglich daran arbeiten. Und dafür benötigen wir eine Kultur des Friedens, die uns über die Ziele und Prozesse des Friedens informiert.

Die kommt jedoch nicht automatisch. Ein Beispiel: ein Land wird angegriffen und besetzt, ein Volk wird unterdrückt. Was wäre natürlicher als sich mit Gewalt selbst zu verteidigen? In einer Kultur des Krieges und der Gewalt sicherlich. Aber in einer Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit wird selbst die Selbstverteidigung mit Gewalt in Frage gestellt, ganz zu schweigen von einem gewaltsamen Angriff. Eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit erzeugt einen und wird erzeugt von einem Gandhi, der Indien gewaltlos von der kolonialen Unterdrückung zur Unabhängigkeit führte, wie auch einem Martin Luther King Jr., der die US-amerikanischen Schwarzen ohne Gewalt auf ihrem Weg zur Aufhebung der Rassentrennung und zur Freiheit anführte. Als der Ruf aus den Kirchen von Leipzig am 9. Oktober 1989 erschallte, gerade einmal vor 10 Jahren, und die großen Montagsdemonstrationen gegen post-stalinistische Repression begannen, wurden diese zwei Namen immer wieder genannt. Einen Monat später fiel die Mauer und der Kalte Krieg verflüchtigte sich.

Gleiches geschah in Südafrika: Die Rückbesinnung auf die Gewaltlosigkeit eines Luthuli zusammen mit einigen anderen Faktoren bereitete den Weg für den Triumph der Demokratie – one person, one vote – unabhängig von Hautfarbe oder Geschlecht. Ich bin mir sicher, dass die KurdInnen auch erfolgreich gewesen wären wenn sie sich von der Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit hätten inspirieren lassen. Aber das mag ja noch geschehen. Das Gleiche gilt für die PalästinenserInnen.

In all den oben berichteten erfolgreichen Fällen – und es gibt noch viele mehr in der zweiten Hälfte dieses so schlecht gemachten Jahrhunderts – hätten systematische Maßnahmen von Gewalt z. B. durch englische Kolonialherren, die Stasi und ihre vielleicht doch nicht so informellen MitarbeiterInnen, dem Ku Klux Klan im tiefen Süden der USA, der US-amerikanischen Nationalgarde und der Polizei vielleicht zu noch mehr Bereitschaft zum Töten, Zerstören und Unterdrücken geführt. Doch dieser Teufelskreis der »Gewalt, die Gewalt erzeugt« wurde aufgebrochen.

Was ist denn nun die Kultur des Friedens? Acht Schlüsselwerte oder Friedensdimensionen, die auf den UN Resolutionen aufgebaut sind, werden oft als die »offizielle« Definition genannt:

  • gewaltloses Handeln zur Lösung von Konflikten, sozialen Änderungen und sozialer Gerechtigkeit;
  • Schutz und Respekt der Menschenrechte;
  • demokratische Teilnahme an der Regierung;
  • Toleranz und Solidarität über Konfliktgrenzen hinaus;
  • anhaltende Entwicklung;
  • Erziehung zu Frieden und Gewaltlosigkeit;
  • freier Fluss und Teilung von Informationen;
  • Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Welch guter Katalog von positivem Frieden von einem Komitee definiert! Herausstechendes Manko: es fehlen wichtige grundlegende Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf.

Einen anderen Ansatz findet man in dem Dokument »Einer globalen Ethik entgegen: Eine erste Erklärung«, die von über 150 führenden VertreterInnen von Religionen aus aller Welt formuliert wurde. Sie war das Ergebnis einer 1993 in Chicago stattgefundenen Zusammenkunft des »Parlaments der Religionen« zum Anlass des 100 Jahrestages des ersten Parlaments dieser Art, das 1893 auch in Chicago zusammenkam. Sie enthält

  • die Verpflichtung zu einer Kultur der Gewaltlosigkeit und dem Respekt vor dem Leben;
  • die Verpflichtung zu einer Kultur der Solidarität und einer gerechten wirtschaftlichen Ordnung;
  • die Verpflichtung zu einer Kultur der Toleranz und einem Leben in Wahrheit;
  • die Verpflichtung zu einer Kultur der Gleichberechtigung und partnerschaftlichem Umgang zwischen den Geschlechtern.

Zwischen diesen »Verpflichtungen« und den vier »Geboten«, die man in fast allen Religionen findet gibt es eine Verbindung, die da heißt: töte nicht, stehle nicht, lüge nicht, verletze nicht sexuelle Moral.

Es gibt jedoch noch eine Verbindung, und zwar zu den vier Bereichen der Macht:

  • Militärische Macht/Zwangsgewalt,
  • wirtschaftliche/belohnende Macht,
  • kulturelle/normative Macht
  • sowie politische/entscheidungsfindende Macht.

Das oben erwähnte Dokument, das die vier Gebote in vier Verpflichtungen überträgt, sagt in den Worten der Friedensforschung: Macht – ja, aber ohne Härte, ohne Töten, ohne Ausbeutung, ohne Dominanz, ohne Ausgrenzung. Respektiere das Leben, das Wertvollste was wir haben; lebe ein Leben in Solidarität mit denen, die im Elend leben indem Du für eine gerechte wirtschaftliche Ordnung arbeitest; akzeptiere die wunderbare kulturelle Vielfalt der Welt als eine Quelle beiderseitiger Bereicherung; erstrecke Gleichberechtigung und partnerschaftliche Zusammenarbeit über alle Trennungslinien der Gesellschaft, wie die zwischen Männern und Frauen, hinweg.

So haben die VertreterInnen diverser Religionen tatsächlich eine Theorie der Macht ohne Härte formuliert, ob absichtlich oder unabsichtlich bleibt dahin gestellt.

Die acht Bestandteile der Friedenskultur, wie sie von der UN/UNESCO definiert werden, passen grob gesagt in folgende Formel: Eine „Kultur der Gewaltlosigkeit“ passt zu „gewaltlosem Handeln“; eine „Kultur der Toleranz“ passt zu „Toleranz und Solidarität“; eine Kultur der „Gleichberechtigung und des partnerschaftlichen Umgangs zwischen Männern und Frauen“ passt zu „Menschenrechte/ Gleichberechtigung der Geschlechter“.

Aber dann gibt es für die „Kultur der Solidarität und einer gerechten wirtschaftlichen Ordnung“ kein Gegenüber in der UN/UNESCO-Liste, die andererseits die „anhaltende/zukunftsfähige Entwicklung“ (die wirtschaftliche Gerechtigkeit mag irgendwo dort versteckt sein), „Erziehung zu Frieden und Gewaltlosigkeit“ und den „freien Fluss und das Teilen von Informationen“ betont. Diese zwei wichtigen Komponenten mögen allerdings auch irgendwo in dem Begriff »Kultur«, der so häufig in dem Dokument des Parlaments der Religionen benutzt wird, versteckt sein.

Ich selbst spreche und schreibe über direkte Gewalt, strukturelle Gewalt und kulturelle Gewalt – die letztere in der Definition als jede Art von Kultur, die dazu benutzt wird, die anderen zwei zu legitimisieren. Frieden besteht aus direkten Handlungen der Liebe, Freundschaft und Solidarität, die gefestigt werden müssen indem sie in Friedensstrukturen eingebettet werden und die durch kulturellen Frieden, durch eine Friedenskultur legitimisiert werden.

Dies sind unterschiedliche Aspekte und Perspektiven, dennoch wissen wir im Großen und Ganzen worüber wir reden. Dennoch, der UNESCO Katalog ist nicht kulturell genug, sondern macht sich tatsächlich mehr Gedanken über direkte Aktionen und Strukturen als über Kulturen. Das müssten wir aber von einem hauptsächlich politischen – und sehr lobenswerten – Programm erwarten. Es spiegelt aber auch Widerwillen und eine fast peinliche Unfähigkeit wider, wenn es um Kultur im Allgemeinen geht, insbesondere um große Kulturen, Zivilisationen. Manche Kulturen legitimieren eine Ausweitung, andere nicht, bei jenen steht Frieden mehr im Mittelpunkt als bei anderen. Wie gehen wir damit um?

Dies bringt uns direkt zum zweiten Teil: Globalisierung, ein Wort, das heutzutage in aller Munde ist. Ein schönes Wort. Zwei Beispiele dafür haben wir schon behandelt: die UN/UNESCO-Liste der acht Werte und das Parlament der Religionen mit seinen vier Geboten/Verpflichtungen. Wir alle fühlen, dass unzählige Menschen hinter diesen beiden Konzepten des Friedens stehen. Die Anteilnahme ist sehr, sehr groß. Die ganze Welt ist irgendwie daran beteiligt.

Aber ich fürchte, dass es gar nicht so viel wahre Globalisierung in unser so schlecht gemanagten Welt gibt. Mit Globalisierung ist oft eher Amerikanisierung gemeint, so wie auch der Begriff Modernisierung oft nur als Deckwort für Verwestlichung benutzt wird.

Eine Region der Welt möchte den Rest der Welt durch Klonen formen: durch den Export einer wissenschaftlichen Logik (aristotelisch/kartesisch), einer monetären Logik (gewinnorientiert) und einer Staatslogik (machtorientiert). Der Begriff »Verwestlichung« trifft zwar genau zu, ist aber zu ehrlich um zu überzeugen.

Ein führendes Land jener Region will ausreichend militärische Macht um der oberste Sheriff der Welt zu sein. Es hat eine Wirtschaft ohne Grenzen als Ziel, die vor allem die Interessen der großen Firmen vertritt und die Millionen Menschen noch mehr ins Elend, sogar täglich 100.000 Menschen in den Tod treibt. Es verbreitet seine plebejische und höchst populäre Kultur über die ganze Welt, schwimmt auf seinen kurzlebigen Produkten und/aber beschränkt gleichzeitig die effektive Macht der Entscheidungsfindung auf sich selbst und die Länder seiner eigenen Wahl. Es macht selbst die UN-Generalversammlung, ja sogar den UN-Sicherheitsrat handlungsunfähig im Falle seines Widerspruchs und bricht internationale Gesetze. Ein ägyptischer Araber, Boutros Boutros Ghali hatte wegen dieses Problems keine Chance mehr, als UN Generalsekretär wieder gewählt zu werden.

Unter dem Deckmantel eines neutralen, parteilosen und landesunabhängigen objektiven Prozesses, der Globalisierung genannt wird, findet eine riesige Selbstwerbung und aggrandizement statt. Kein Zweifel: dies stellt einen Kontext dar und leitet uns zum nächsten Thema über: Was bedeutet dies für Frieden und Gewaltlosigkeit?

Anstelle von »Gewaltlosem Handeln zur Lösung von Konflikten« mussten wir zwei von der USA geführte Versuche, Konflikt mit Gewalt zu lösen, mit ansehen: 1991 gegen den Irak und 1999 gegen Jugoslawien. Abgesehen von der Tatsache, dass sie höchst zerstörerisch waren, konnte keiner der Konflikte gelöst werden. Beide hatten tiefe und komplexe Ursachen, beide hätten mit friedlichen Mitteln bewältigt werden können (s. www. transcend.org für von TRANSCEND entwickelte friedliche Konfliktlösungen); beide sind jetzt noch weiter entfernt von einer Lösung als je zuvor. Feinde des Westens, MoslemInnen und orthodoxe ChristInnen, werden in großem Ausmaß getötet und ihre Umgebung zerstört, was nur noch zu einer Verhärtung und Verschärfung der Konflikte geführt hat. Darüber hinaus wurden jegliche Anstrengungen die Konflikte friedlich, kreativ und ohne Bedrohung zu lösen herunter gespielt, während man auf den richtigen Moment wartete um zuschlagen zu können.

Beachtung der Menschenrechte? Dieses Verhalten entspricht ganz bestimmt nicht der Vereinbarung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, diesem so wichtigen Dokument der Menschenrechte, das noch nicht einmal von den USA unterzeichnet wurde.

Demokratische Beteiligung? Im Gegenteil; die Welt scheint noch oberlastiger zu werden als je zuvor. Elizabeth Liagin schrieb in einem kürzlich in Commentary from Malaysia erschienenen Artikel, dass mit den heutigen Fruchtbarkeitsraten „die durchschnittliche Frau im Jemen während ihres Lebens sieben Kinder zur Welt bringt und, wenn die Geburtsrate gleich bleibt, 49 Enkel, 343 Urenkel und zweieinhalbtausend Ur-Urenkel hat!“ Die Zahlen für den Westen wären 1, 1-2, 2-3.

In der Weltbevölkerung ist der Westen jetzt schon eine kleine Minderheit (ca. 16%); in den USA leben weniger als 5 Prozent. Dies könnte ein wenig Bescheidenheit hervor rufen – insbesondere in einer Zivilisation und einem Land, in dem der Demokratie, (»one person, one vote« und Mehrheitswahlrecht) so viel Beachtung zugemessen wird. Aber der Eindruck den man erhält ist eher Verkrampfung, ein Festhalten an veralteten Strukturen. Er erinnert an das Südafrika der Apartheid. Der Kampf um anhaltende Privilegien wird verschleiert unter dem Mantel der unechten Globalisierung und die Kriegskultur, der einfache Rückgriff auf Gewalt und Krieg, wird verkleidet als »humanitäre Intervention«.

Man kann noch viel darüber sagen. Es geht aber auch um einige reale Themen. Denn der Amerikanisierung folgt keine Kultur der Gewaltlosigkeit, keine Kultur der Solidarität und der gerechten wirtschaftlichen Ordnung, keine Kultur der Toleranz sondern eher die Tendenz zur Denunzierung kritischer Stimmen in anderen Kulturen als »fundamentalistisch«. Was die Kultur der Gleichberechtigung und partnerschaftlichen Zusammenarbeit angeht, siehe oben.

Der Schluss ist eindeutig: Wir, und insbesondere die Jugend, sollten uns intensiv für eine wahre Globalisierung einsetzen, nicht für eine Karikatur die am besten als Amerikanisierung bekannt ist. Es kann sogar sein, dass wir uns die Geschichte neu ansehen müssen, dass es darum geht, weniger die Kriegshelden, den Mann auf dem Pferderücken zu verherrlichen sondern vielmehr FriedensheldInnen wie Mütter die ein neues Menschenkind zur Welt bringen; dass wir die zahllosen Fälle der Konfliktlösung ohne Gewalt, die um uns herum stattfinden, mehr betonen müssen.

Es kann also sein, dass wir Demokratie neu beleben müssen. Wie wäre es mit einem besonderen Parlament für Frauen, für Jugendliche, für Kinder?

Und es kann sein, dass wir auch unsere Menschenrechte neu überdenken müssen. Menschenrechte, die nicht nur die – im Großen und Ganzen löblichen – westlichen Werte beinhalten, sondern die auch Werte anderer Zivilisationen widerspiegeln. Menschenrechte, die die Grenzen von Konflikten überschreiten.

Johan Galtung, Dr. h.c. mult, Professor der Friedensforschung, Direktor TRANSCEND: ein Friedens- und Entwicklungsnetzwerk

Gandhis Konzept der aktiven Gewaltfreiheit und die Friedensbewegung

Gandhis Konzept der aktiven Gewaltfreiheit und die Friedensbewegung

von Wolfgang Sternstein

Zur Zeit des Kosovo-Kriegs haben »bekennende BellizistInnen« sich nicht gescheut, zur »Aufrüstung der Seelen« ihrer Gefolgsleute auch Gandhi als Apostel der »guten Gewalt« der NATO zu vereinnahmen. Der Beitrag von W. Sternstein zeigt, dass derartigen Versuchen, wenn sie nicht gar eine bewusste Missdeutung der einen oder anderen Gandhi-Äußerung darstellen, doch ein recht oberflächliches Verständnis von Gandhis Satjagraha-Lehre und -Praxis zu Grunde liegt. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit Gandhis Position zum Problem der politischen Gewalt könnte den festgefahrenen Diskurs zwischen BellizistInnen und PazifistInnen hierzulande wieder in Gang bringen und der Friedensbewegung neue Perspektiven eröffnen.

Kein Zweifel, die deutsche Friedensbewegung ist in der Krise. Vielleicht ist schon der Begriff Friedensbewegung ein Euphemismus, denn viel bewegt sich da ohnehin nicht mehr.

Pseudo-Dilemma

Unversöhnlich stehen sich die VertreterInnen zweier gegensätzlicher Positionen gegenüber. Die einen sagen: »Nie wieder Völkermord, nie wieder Auschwitz«, deshalb kann es Situationen geben, in denen Krieg unvermeidlich ist, um schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte zu verhindern. Die anderen sagen: »Nie wieder Krieg«, denn Krieg ist kein geeignetes Mittel, Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Der Kosovo-Krieg hat diesen Gegensatz erneut klar vor Augen geführt.

Der Streit zwischen denen, die »Nie wieder Krieg!«, und denen, die »Nie wieder Völkermord!« auf ihre Fahnen geschrieben haben, spaltet nicht nur die Friedensbewegung. Der Riss geht quer durch die Parteien, wenngleich mit unterschiedlichem Gewicht. Er geht quer durch Institutionen und Organisationen, durch die Medienöffentlichkeit und die Bevölkerung der Bundesrepublik.

Die Alternative »Nie wieder Krieg – nie wieder Völkermord« erinnert an eine Alternative, die während des Kalten Krieges im Schwange war: »Lieber tot als rot« – und als Gegenposition: »Lieber rot als tot«. Die Konfliktparteien fetzten sich nicht weniger leidenschaftlich als die Grünen auf ihrem Bielefelder Parteitag. In der Rückschau wird freilich deutlich, wie töricht diese Alternative war. Wie wir seit 1989 wissen, wurde eine dritte Option geschichtliche Wirklichkeit: »Weder rot noch tot«. Vernünftige Leute hatten schon seit Jahrzehnten dafür plädiert, die mentalen Bunkerstellungen zu verlassen und auf eine konstruktive Lösung des Konflikts hinzuarbeiten. Dass die mit der Raketenstationierung sich gefährlich zuspitzende weltpolitische Lage gerade noch rechtzeitig entschärft werden konnte, ist in erster Linie der Einsicht und dem außergewöhnlichen Mut eines Michael Gorbatschow zuzuschreiben.

Für die Alternative »Nie wieder Krieg – nie wieder Völkermord« gilt das Gleiche. Es kommt darauf an, sie als falsche Alternative zu erkennen. Auch hier gibt es zwei weitere Optionen: »Weder Krieg noch Völkermord« und »Sowohl Krieg als auch Völkermord«. Die Letztgenannte wurde in Nazideutschland schreckliche Wirklichkeit.

Wie aber sieht die Option »Weder Krieg noch Völkermord« konkret aus? Ich knüpfe an eine Bemerkung an, die Daniel Cohn-Bendit auf der Bielefelder Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen am 13. Mai 1999 machte. Er sagte, Gandhi habe, wenn nur die Wahl zwischen Feigheit und Gewalt bestünde, zur Gewalt geraten. Die Bemerkung Gandhis ist von Cohn-Bendit im Wesentlichen richtig wiedergegeben. Wenn er sie jedoch zur Rechtfertigung des Nato-Militäreinsatzes gegen Rest-Jugoslawien verwendet, verkehrt er ihren Sinn ins Gegenteil.

Rangordnung
des Konflikthandelns

Gandhi war – das mag viele überraschen – kein Pazifist, wenn wir unter Pazifismus die bedingungslose Ablehnung von Krieg und Kriegsvorbereitung verstehen. Er war aber auch kein Bellizist, wenn wir unter Bellizismus eine Haltung verstehen, die auf den Krieg als letztes Mittel der Politik nicht verzichten will. Militarismus ist, im Unterschied zum Bellizismus, die Hochschätzung alles Militärischen, die Verliebtheit ins Militärische. Für Gandhi war der Gegensatz Pazifismus – Bellizismus, der letztlich der Alternative »Nie wieder Krieg – nie wieder Völkermord« zugrunde liegt, eine falsche Alternative. Er ersetzte die Antithese durch eine praxeologische Wertehierarchie, die aus vier Ebenen besteht:

1. feige Flucht oder passive Hinnahme von Unrecht und Gewalt;
2. gewaltsamer Widerstand;
3. passiver (gewaltloser) Widerstand;
4. aktive Gewaltfreiheit (Satjagraha).

Der Schritt von der Feigheit zum gewaltsamen Widerstand gegen Unrecht und Gewalt war für Gandhi ein Fortschritt und als solcher positiv zu bewerten. In diesen Zusammenhang gehört die von Cohn-Bendit zitierte Äußerung. Für Gandhi kam es jedoch darauf an, auf dem eingeschlagenen Weg zur dritten und vierten Ebene der Wertehierarchie emporzusteigen. Er sagte von sich in schonungsloser Offenheit, er habe seinen Lebensweg auf der untersten Ebene begonnen: „Meine Gewaltlosigkeit erlaubt es nicht, vor der Gefahr wegzulaufen und seine Lieben ohne Schutz zu lassen. Wenn die Wahl zwischen Gewalttätigkeit und feiger Flucht zu treffen ist, dann ziehe ich Gewalttätigkeit vor. Ich kann einem Feigling nicht mehr Gewaltlosigkeit predigen als ich einen Blinden dazu verführen kann, schöne Gegenden anzusehen. Gewaltlosigkeit ist der Gipfel der Tapferkeit. Ich hatte keine Schwierigkeit, Leuten, die in der Schule der Gewalt aufgewachsen waren, die Überlegenheit der Gewaltlosigkeit zu beweisen. Als Feigling, der ich jahrelang war, hielt ich mich an Gewalt. Ich begann Gewaltlosigkeit erst dann zu schätzen, als ich meine Feigheit aufgab.“ 1

Das Wort »Gewaltlosigkeit« in diesem Text wäre in meiner Terminologie allerdings durch »Gewaltfreiheit« zu ersetzen. Tatsächlich hat sich Gandhi als Leiter eines indischen Sanitätskorps am Burenkrieg (1899-1902) und am sogenannten Zulu-Aufstand (1906) beteiligt und er hat während des Ersten Weltkriegs Rekruten für die britische Armee geworben. Er hat zwar nie ein Gewehr in die Hand genommen, doch bestand für ihn zwischen der direkten und der indirekten Beteiligung am Krieg nur ein geringer Unterschied. Er hat sein Verhalten auch in späteren Jahren als einen notwendigen Schritt in seiner persönlichen Entwicklung gerechtfertigt.

Über der Ebene der Feigheit und der Ebene des gewaltsamen Widerstands gegen Unrecht und Gewalt steht als dritte Ebene der passive Widerstand. Dieser ist gekennzeichnet durch einen taktischen oder pragmatischen Gewaltverzicht, sei es, weil keine Waffen zur Verfügung stehen, sei es, weil der Gegner weit überlegen ist oder gewaltsame Gegenwehr aus anderen Gründen aussichtslos oder unzweckmäßig erscheint.

Davon zu unterscheiden ist die vierte Ebene, die Ebene der aktiven Gewaltfreiheit. Sie ist gekennzeichnet durch einen strategischen oder prinzipiellen Gewaltverzicht aufgrund der Einsicht, dass Gewalt ein untaugliches Mittel der Konfliktaustragung darstellt, sofern das Ziel darin besteht, einen Konflikt dauerhaft und für alle Beteiligten befriedigend zu regeln. Gewaltfreie Aktivisten (Satjagrahis) werden selbst dann auf Gewalt verzichten, wenn sie dem Gegner haushoch überlegen sind. Den Unterschied zwischen Gewaltlosigkeit und Gewaltfreiheit beschreibt Gandhi auch als Gewaltlosigkeit der Schwachen und Gewaltlosigkeit der Starken. Gewaltlosigkeit der Starken ist identisch mit Gewaltfreiheit.

Der Begriff »Gewaltfreiheit« wurde im deutschen Sprachraum ursprünglich geprägt, um die spezifisch Gandhische Kampftechnik der gewaltfreien Aktion, die er »Satjagraha« nannte, zu bezeichnen. Leider wird der Begriff heute lediglich im Sinne der Abwesenheit von Gewalt, nicht aber im Sinne der Anwesenheit einer positiven Kraft, die die Gewalt überwindet, gebraucht, sodass zwischen Gewaltlosigkeit und Gewaltfreiheit nicht mehr unterschieden wird. Der Unterschied ist jedoch augenfällig, wie aus der folgenden Äußerung Gandhis hervorgeht: „Zwischen passivem Widerstand und Satjagraha ist der Unterschied groß und grundsätzlich(…) Wenn wir weiterhin glauben und andere glauben lassen, wir seien schwach und hilflos und leisteten deshalb passiven Widerstand, dann würde unser Widerstand uns niemals stark machen und bei der geringsten Gelegenheit würden wir unseren passiven Widerstand als eine Waffe des Schwachen aufgeben. Wenn wir dagegen Satjagrahis sind und Satjagraha leisten in dem Glauben, stark zu sein, so werden sich daraus zwei klare Folgen ergeben: Indem wir den Gedanken der Stärke nähren, werden wir von Tag zu Tag stärker. Mit dem Wachsen unserer Stärke wird auch unsere Satjagraha wirksamer und wir werden nie nach einer Gelegenheit Ausschau halten, sie aufzugeben. Und während wiederum im passiven Widerstand kein Raum für Liebe ist, hat andererseits in der Satjagraha Hass nicht nur keinen Platz, sondern ist ein ausdrücklicher Verstoß gegen ihr leitendes Prinzip. Während beim passiven Widerstand Raum ist für den Waffengebrauch, wenn sich eine passende Gelegenheit bietet, ist in der Satjagraha physische Gewalt selbst unter den günstigsten Umständen verboten.

Satjagraha kann jemand gegen die ihm Nächsten und Teuersten leisten; passiver Widerstand kann gegen sie niemals geleistet werden, außer natürlich in dem Falle, wenn sie aufgehört haben, uns teuer zu sein, und zum Gegenstand des Hasses geworden sind. Beim passiven Widerstand spielt immer der Gedanke mit, den Gegner zu plagen, und zugleich besteht die Bereitschaft, alle Beschwerlichkeit auf sich zu nehmen, die einem aus solcher Tätigkeit erwächst; bei der Satjagraha dagegen gibt es nicht die leiseste Absicht, dem Gegner Schaden zuzufügen. Satjagraha fordert die Gewinnung des Gegners durch Leiden in der eigenen Person.“2

Satjagraha oder Gewaltfreiheit ist folglich mehr als bloßer Gewaltverzicht. Es ist die Anwendung einer positiven Kraft, die Gandhi die Kraft der Wahrheit, der Liebe oder der Seele (im Unterschied zu Körperkraft) nannte. Martin Arnold hat dafür den Begriff »Gütekraft« vorgeschlagen. Ich ziehe jedoch den Ausdruck »Wahrheitskraft« vor, schon deshalb, weil er dem Gandhischen »Satjagraha« näher steht. Satja heißt Wahrheit in einem umfassenden, existenziellen Sinn; agraha heißt festhalten, zugreifen, angreifen. Satjagraha heißt demnach Festhalten an der Wahrheit, Kraft der Wahrheit.

Gewaltfreiheit oder Wahrheitskraft bedeutet die Fähigkeit, Gewalt hinzunehmen ohne zurück zu schlagen, aber auch ohne zurück zu weichen, um sie auf diese Weise zu überwinden. Gewaltfreiheit neutralisiert gewissermaßen die Gewalt wie eine Säure eine Lauge neutralisiert oder umgekehrt. Wir können sie auch als ein Gegengift beschreiben, welches das Gift des Hasses und der Gewalt, das unsere persönlichen und sozialen Beziehungen zerstört, neutralisiert.

Universalität der Methode

Gandhi war zutiefst davon überzeugt, in der aktiven Gewaltfreiheit eine universelle Methode der Konfliktlösung gefunden zu haben, d.h. sie ist an jedem Ort, zu jeder Zeit und in jeder Situation anwendbar, selbst gegen einen Hitler oder Stalin, ganz zu schweigen von einem Saddam Hussein oder Slobodan Milosevic. Gandhi denkt hier geradezu naturwissenschaftlich: Wo wenig Gewalt ist, genügt auch wenig Gewaltfreiheit, wo jedoch viel Gewalt ist, braucht man auch viel Gewaltfreiheit, um sie zu neutralisieren. Dem Argument, einem Hitler gegenüber sei Gewaltfreiheit zum Scheitern verurteilt, entgegnete er: „Wofür ich eingetreten bin, ist die aus dem Herzen kommende Absage an die Gewalt und den konsequent aktiven Einsatz jener Kraft, die aus dieser großen Absage hervorgeht. Einer der Kritiker sagt, eine zustimmende öffentliche Meinung sei für die Wirksamkeit der Gewaltfreiheit unerlässlich. Der Autor denkt offensichtlich an passiven Widerstand als eine Waffe der Schwachen. Ich habe zwischen dem passiven Widerstand der Schwachen und dem aktiven gewaltfreien Widerstand der Starken unterschieden. Der letztere kann und wird trotz wütendster Gegnerschaft wirken. Doch ruft er am Ende breiteste öffentliche Sympathie hervor. Die Leiden der Gewaltfreien haben bekanntlich die härtesten Herzen geschmolzen. Ich wage es zu behaupten, dass, wenn die Juden die Seelenkraft, die allein aus der Gewaltfreiheit entspringt, zu ihrer Unterstützung aufböten, Herr Hitler sich vor einem Mut, wie er ihn im Umgang mit Menschen bisher noch nie in nennenswertem Maße erfahren hat, verbeugen würde. Er müsste zugeben, dass er sogar dem Mut seiner besten Soldaten in den Sturmtruppen unendlich überlegen ist. Solchen Mut können allerdings nur diejenigen zeigen, die einen lebendigen Glauben an den Gott der Wahrheit und der Gewaltfreiheit, das heißt der Liebe, besitzen.“3

Wenn Gandhi in der gewaltfreien Aktion eine universale Methode der Konfliktlösung sah, so bedeutet das nicht, dass sie für beliebige Ziele einsetzbar ist. Für ihn bestand vielmehr zwischen Mittel und Zweck, Weg und Ziel ein untrennbarer Zusammenhang. Sie sind geradezu austauschbar. Wer Macht, Reichtum und Privilegien erwerben oder Territorien und Märkte erobern und verteidigen will, kann sein Ziel letztlich nur durch offene oder verdeckte Gewalt erreichen. Wählt er gewaltfreie Methoden, wird er kläglich scheitern. Andererseits gilt: Wer Frieden, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte erkämpfen oder verteidigen will, kann das nur mit gewaltfreien Mitteln tun. Greift er zu Gewaltmethoden, wird er früher oder später scheitern. Es kommt folglich entscheidend darauf an, was wir wollen. Aus der Wahl der Ziele ergeben sich zwangsläufig die zu ihrer Erreichung einzusetzenden Mittel. Wenn wir uns in der großen Welt der Politik und in der kleinen Welt der persönlichen Beziehungen umschauen, dann entdecken wir, dass nirgends so viel gelogen und betrogen, auch sich selbst belogen und betrogen wird wie gerade auf diesem Gebiet.

Aus meiner Darstellung wird deutlich, dass Gandhi kein Pazifist war. Die europäischen PazifistInnen hatten es schwer mit ihm und er mit ihnen. Sie haben ihm seine Kriegsbeteiligung nie verziehen. Umgekehrt meinte Gandhi, das bloße Neinsagen zu Unrecht, Gewalt und Krieg sei nicht genug. Es komme vielmehr darauf an, konstruktive Alternativen zu entwickeln, einzuüben und anzuwenden: die gewaltfreie Aktion als konstruktive Alternative zur gewaltsamen Aktion und die Soziale Verteidigung als konstruktive Alternative zur militärischen Verteidigung. Gandhi war aber auch kein Bellizist. Den BellizistInnen würde er sagen: Es wird euch nie gelingen, mit Waffen Frieden zu schaffen. Ein dauerhafter, ein echter Frieden lässt sich nun mal nicht herbeibomben.

Gandhi überwindet folglich die Antithese von Pazifismus und Bellizismus, indem er die positiven Aspekte dieser beiden Grundhaltungen aufnimmt – den Gewaltverzicht der PazifistInnen und die Entschlossenheit zum Widerstand gegen das Unrecht der BellizistInnen – und ihre negativen Aspekte vermeidet – die Hilflosigkeit der PazifistInnen angesichts von Gewaltandrohung und Gewalt sowie die negativen Auswirkungen der Gewaltanwendung.

Gewaltfreie Aktion heißt aber auch, die gewaltfreien AktivistInnen oder Satjagrahis müssen bereit sein, ihr Leben im Kampf gegen Unrecht und Gewalt einzusetzen. Doch das wird ja auch von jedem Soldaten erwartet. Gandhi betont mit Recht, dass der gewaltfreie Kampf größere Tapferkeit erfordert als der gewaltsame, denn gewaltfreie AktivistInnen müssen bereit sein, im Extremfall waffenlos bewaffneten Soldaten entgegenzutreten. Der Weg zum Satjagrahi, d.h. zum gewaltfreien Kämpfer oder Krieger, ist folglich für PazifistInnen und BellizistInnen gleich weit.

Ein dritter Weg

Um auf den Kosovo-Krieg zurückzukommen: Für Gandhi ist die Alternative »Nie wieder Krieg – nie wieder Völkermord« eine Scheinalternative. Es gibt den dritten Weg, den Weg aus dem Dilemma der falschen Alternativen. Er lautet: »Weder Krieg noch Völkermord«.

Bei allem Respekt vor der moralischen Integrität eines Erhard Eppler teile ich seine Ansicht, wir würden in jedem Fall schuldig, gleichgültig ob wir handeln oder nicht handeln, nicht. Für ihn heißt handeln: militärisch eingreifen um schwere Menschenrechtsverletzungen wenn möglich zu verhindern und nicht handeln heißt: hilflos zuschauen wie Völkermord begangen wird. Epplers Haltung endet zwangsläufig im moralischen Relativismus. Wenn wir schuldig werden, egal was wir tun, dann kommt es auf ein bisschen mehr oder weniger Schuld auch nicht mehr an. Mein Vorschlag: Wir könnten ja zur Abwechslung auch einmal das Richtige tun, nämlich gewaltfrei gegen Diktatur, Krieg und Menschenrechtsverletzungen kämpfen. Das ist die Herausforderung vor der der Pazifismus, aber auch der Bellizismus, heute stehen.

Der einen oder dem anderen LeserIn mag das Argument auf der Zunge liegen: Wo sind sie denn, die gewaltfreien KämpferInnen die bereit sind, in Bosnien, im Kosovo oder in Osttimor ihr Leben einzusetzen um Terror und Bürgerkrieg zu verhindern? Das ist ein Argument das schmerzhaft sticht. Ja, es ist wahr, wo sind die gewaltfreien KämpferInnen? An dieser Stelle ist ein Wort der Selbstkritik fällig. Ich stehe als Kriegsdienstverweigerer in der Tradition des Pazifismus und ich muss bekennen: Es ist uns bis heute noch nicht gelungen, eine gewaltfreie Truppe, eine Friedensbrigade oder Shanti Sena, wie Gandhi sie nannte, auf die Beine zu stellen, von den aktuellen Bemühungen um einen Zivilen Friedensdienst einmal abgesehen. Ich habe mich jedoch darum bemüht, mit anderen zusammen die gewaltfreie Aktion als Methode der Konfliktaustragung in die Neuen Sozialen Bewegungen einzuführen. Für mich ist die innenpolitische Konfliktaustragung das große Manöverfeld für die Einübung gewaltloser und gewaltfreier Aktionsmethoden. Ich denke, im Ganzen gesehen haben wir in Deutschland, das auf diesem Gebiet praktisch keine Tradition besaß, eine ganze Menge erreicht. Doch nun ist m.E. der Zeitpunkt gekommen, an möglichst vielen Orten unseres Landes mit dem Aufbau von Friedensbrigaden zu beginnen. Als Vision schwebt mir vor, dass es eines Tages an vielen Orten, in vielen Ländern viele Friedensbrigaden gibt, die sich darum bemühen, lokale und regionale Konflikte mit Methoden der aktiven Gewaltfreiheit zu lösen, die aber, wenn nötig, sich zu größeren Verbänden zusammenschließen um bei nationalen und internationalen Konflikten in enger Zusammenarbeit mit den einheimischen Friedensgruppen einzugreifen.

Ich kenne den Einwand: Das mag ja ein schöner Traum sein, doch selbst wenn er eines Tages Wirklichkeit würde, käme er für die Opfer der gegenwärtigen Kriege zu spät. Gewiss, es ist eine triviale Wahrheit: Wer keine Soldaten und keine Waffen hat, kann keinen Krieg führen. Ebenso gilt: Wer keine gewaltfreien KämpferInnen und keine gewaltfreie Organisation hat, kann keinen gewaltfreien Kampf ausfechten. Statt an dieser Stelle zu resignieren, möchte ich aus der Erfahrung der gegenwärtigen Kriege die Lehre ziehen, die bereits aus allen Kriegen der Vergangenheit hätte gezogen werden müssen, nämlich hier und heute mit dem Aufbau von Friedensbrigaden zu beginnen.

Ein letztes Wort zu den Bestrebungen, einen Zivilen Friedensdienst aufzubauen, der sich am Konzept von Gandhis Shanti Sena orientiert. Ich anerkenne diese Bemühungen, halte aber die angestrebte direkte oder indirekte Staatsfinanzierung für höchst problematisch. Da der Staat auf vielen Konfliktfeldern unser Gegner ist – denken wir nur an Atomwaffen und Atomkraftwerke, an die Bundeswehr, die Rüstungsindustrie, die Umweltpolitik, die Asyl- und Ausländerpolitik usw. – wäre es fatal, sich vom Gegner finanziell abhängig zu machen. Wir stünden dann rasch vor der Alternative: entweder als gewaltlose Hilfssheriffs der Staatsgewalt zu agieren oder die »Staatsknete« zu verlieren. Beides hätte für eine Gandhische Friedensbrigade tödliche Folgen.

Ich komme auf die eingangs formulierte Frage zurück: Ist Gandhis Konzept der aktiven Gewaltfreiheit gescheitert? Meine Antwort lautet: Nein, denn es wurde bisher nicht ernsthaft versucht, es zu realisieren. Angesichts der die Existenz der Menschheit bedrohenden Gefahren ist es womöglich unsere letzte Chance.

Anmerkungen

1) Mahatma Gandhi: Freiheit ohne Gewalt, herausgegeben von Klaus Klostermeier. Köln: Hegner, 1968, S. 164

2) Vom Geist des Mahatma, herausgegeben von Fritz Kraus. Zürich: Schweizer Druck- und Verlagshaus, 1957, S. 167 f

3) Mahatma Gandhi: Für Pazifisten, herausgegeben von Wolfgang Sternstein. Münster: Lit, 1996, S. 69 f.

Dr. Wolfgang Sternstein lebt als Friedens- und Konfliktforscher in Stuttgart. Er ist seit 24 Jahren in der Anti-AKW-, Ökologie- und Friedensbewegung aktiv und saß wegen gewaltfreier Aktionen bereits sechsmal im Gefängnis.

Von Suttner zu Orwell

Von Suttner zu Orwell

Oder: Nennen wir den Krieg Frieden

von Gerhard Zwerenz

Für ihr Buch »Die Waffen nieder« erhielt Bertha von Suttner 1905 den Friedensnobelpreis. Als sie neun Jahre später starb, steuerte Deutschland auf den Ersten Weltkrieg zu und Felix Dahn dichtete: Die Waffen hoch! Das Schwert ist Mannes eigen! Wo Männer fechten hat das Weib zu schweigen!“
Gerhard Zwerenz über das Jahrhundert, an dessen Beginn eine erste internationale Friedenskonferenz stand, das durch zwei Weltkriege gezeichnet wurde und an dessen Ende wieder einmal Deutschland Krieg führte.

Im August, im August blüh' n die Rosen… Im August 1914 blühten die Kanonen. Pünktlich am 1.8. erklärte Deutschland Russland den Krieg. Am 3.8. folgte die Kriegserklärung an Frankreich. Am 4.8. sagte WiIhelm II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Dankbar bewilligte der Reichstag sofort einstimmig die Kriegskredite. Motto: Nach innen Burgfrieden – nach außen Eroberungskrieg. Das Volk von 1914 jubelte. Vermochte auch nur eine oder einer sich vorzustellen was vier Jahre später, 1918, geschehen würde? Blinde patriotische Leidenschaft und vollkommene Ahnungslosigkeit Richtung Zukunft bestimmen den Zeitgeist.

Begann der l. Weltkrieg am 1. August, verlegte Hitler den Beginn des Nachfolgekrieges 1939 auf den 1. September, vermied jedoch in seiner Rundfunkansprache um 10 Uhr das Wort Krieg, denn die Deutschen jubeln diesmal nicht. Hat Schaden klug gemacht? Ergriff das Volk eine Ahnung davon was ihm blühte? Ließ der September 1939 klarer blicken als der August 1914?

Wenn ja, war die Klarsicht von kurzer Dauer: Schon am 27. 9. kapitulierte Warschau, ein knapper Monat September genügte für den großen Sieg, das Volk der Deutschen holte den unterlassenen Jubel umgehend nach – 1914 war es der Jubel des aggressiven Übermuts, fehlender Information und kritischer Selbsteinschätzung gewesen, jetzt verloren die Menschen im Siegesrausch ihre Ängste.

Ab 1943 blieben die Siege aus. Am 18.2. 1943 fragte Goebbels im Sportpalast: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Das versammelte Volk bejahte berauscht. Es folgten totaler Luftkrieg, totaler Rückzug und die Endniederlage vom 8. Mai 1945.

Der ausbleibende Jubel vom 1. September gründete nicht in bösen Vorahnungen, sondern in unguten Erinnerungen an 1914-1918. Seither waren erst zwei Jahrzehnte vergangen. Erinnerte Erfahrung ängstigte das Volk, nicht begründete, reale Zukunftsangst. Erschaudernd blickte es zurück, nicht voran. Ist das Kommende etwa stets unbekannt und verriegelt? Hatte auch nur einer am ersten Neujahrstag, mit dem das 20. Jahrhundert begann, einen blassen Schimmer von dem, was bevorstand? Ahnte einer der Militärs, die 1914 die deutschen Armeen befehligten, was der baldige Übergang vom Bewegungskrieg zum Stellungskrieg bedeutete? Konnte sich jemand 1918 die Geschehnisse von 1933, 1939, 1945 vorstellen? Sah einer im Mai 1945 voraus, dass Hitlers geschlagene Generäle kein Jahrzehnt später ein neues deutsches Heer aufstellen würden? Wer vermutete 1945, dass die siegreiche Sowjetarmee ab 1990 in schwächliche Restbestände zerfiele? Wer hätte 1989/90 geglaubt, ein Jahrzehnt später zählten deutsche Soldaten zu den Besiegern und Besetzern Jugoslawiens, dieser Siegernation von 1945 – ganz wie die Sowjetunion?

Nietzsche starb, nur 55 Jahre alt, am 25. August 1900 – er hätte hervorragend ins 20. Jahrhundert gepasst mit seiner herrenhaften Enthemmungsphilosophie. Auch der Dionysiker erfasste nicht, was da nahte, sonst wäre er geblieben. Vielleicht bewahrte ihn der gnädige Irrsinn, der ihn besetzt hielt, vor dem analytischen Blick ins anbrechende Jahrhundert.

Die Weltkriegsanfänge vom 1. August 1914 und 1. September 1939 bezeugen, dass eine Institution nicht zukunftsblind blieb: Seit 1905 lag der Schlieffen-Plan vor, den Deutschland 1914 in leicht modifizierter Weise zu realisieren versuchte, was den deutschen Militärs künftiges Verhalten diktierte, vom Angriff 1914 bis zur Niederlage 1918. Von jetzt an verwirklichten die Kriegsgegner ihre Ziele, inklusive Vertrag von Versailles. Im Wiederholungskrieg ab 1939 betrieb dann das faschistische Dritte Reich die Umsetzung seiner Zukunftsvisionen, wobei es auf die Planungen der Reichswehr zurückgreifen konnte, denn das Szenarium für Wiederaufrüstung und Revanchekrieg war insgeheim und bis ins Detail schon zu frühen Zeiten der Weimarer Republik ausgearbeitet worden. Zwar besitzen die Militärs, wie wir sehen, auch nicht die Fähigkeit der Vorausschau, doch greifen sie strategisch, taktisch und rüstungstechnisch vor und produzieren damit die ihnen gemäße Zukunft wie die Spinne, die einen Faden hinter sich lässt, den sie fleißig verwebt, auf dass darin die Opfer sich fangen. Fragt sich nur, wer Spinne ist und wer gefangen wird.

Das Modell büßte 1945 seine Vorbildfunktion und Wirksamkeit keineswegs ein. Wobei zwei Phasen deutlich zu unterscheiden sind: Phase a läuft durchweg streng geheim, mindestens intern und getarnt ab. Phase b, die Realisation, tritt dann plötzlich und überraschend zu Tage, die Öffentlichkeit staunt, reagiert begeistert, ungläubig oder entsetzt. Doch der Fall ist nun unübersehbar in der Welt und der August 1914 wie der September 1939 waren solche Geschichtsphasen. Nach kürzerer oder längerer Inkubationszeit ist das Ei geborsten und der alte Krieger neu geboren.

1914 brauste ihm ein Ruf wie Donnerhall entgegen. 1939 blieb das Volk in erinnerter Erfahrung befangen still – der Siegesjubel folgte später um so lauter. Am 24. März 1999 rieb das Volk sich wieder mal erstaunt die Augen: Bomben auf Jugoland? Man befand sich doch gar nicht in den Erntemonaten August/ September. Musste denn schon wieder gesiegt werden?

Die Oberen versicherten den Verunsicherten, diesmal sei man auf der Seite der Morallegitimierten und Stärkeren und könne gar nichts anderes als siegen. In der Tat hatten die Generäle vorsorgend wie immer Zukunft produziert.

Der Krieg ab 1. August 1914 war vom deutschen Generalstab und vom lieben Gott exakt terminiert worden: Die einheimische Landwirtschaft konnte die Felder noch in aller Ruhe abernten, die Feindfeldereien in Luxemburg, Belgien, Frankreich wurden bei reifenden Halmen in Besitz genommen – von Ostpreußen abgesehen, hier störten die eindringenden russischen Barbaren die Einbringung der Frucht. So kam es zur Schlacht von Tannenberg – seither ernteten von Hindenburg und von Ludendorff auf russisch-polnischer Scholle. Ihr Nachfolger als Oberbefehlshaber deutscher Soldaten wartete 1939 das Erntefest ab. So war die Scheuer daheim gut gefüllt als er aufbrach, die gut gefüllte polnische Scheuer einzusacken. Derart gestaltete sich des einen August zum September des anderen. Liebhaber von Spätsommer/Frühherbst waren beide, doch der September-Fan wandte bald seine ganze Liebe dem Juni zu. Wie vor ihm Napoleon fiel er an einem 22. Juni nach Russland ein – mit der erklärten Absicht, in der Ukraine, auf der Krim und bis zum Kaukasus hin die goldenen Weizenfelder abzuernten, woraus sich ergibt, dass er die beiden Monate zu seinen Favoriten erkor. Allerdings hatte der »Führer« ursprünglich nicht wie Bonaparte am 22. Juni losschlagen wollen, sondern 2-3 Wochen früher, da kamen ihm die JugoslawInnen in die Quere indem sie Revolution spielten. Belgrad wurde gebombt und kapitulierte nach 11 Tagen, 4 Tage später gab das besetzte Griechenland auf. Nochmal 12 Tage brauchte es zur Eroberung Kretas. Alles im Lot, nur musste der Beginn des Russlandfeldzuges verschoben werden. Das machte nichts, meinen die Militärhistoriker, allerdings fehlten die Tage dann im Herbst, der in Russland schon als Winter auftritt. Statt dass die Wehrmacht in der Ukraine erntete, senste General Winter erst auf riesigen Schlamm- , dann auf Schneefeldern herum. Also: Wer nach Moskau, Leningrad, Stalingrad marschieren will, darf nicht erst an einem 22. Juni aufbrechen, da hat er sich bereits uneinholbar verspätet. Das sind so eherne Kalenderfragen. Die Wehrmacht, die am 6. April 1941 gegen Jugoslawien losschlug, befand sich bereits jetzt in einem nicht wieder gutzumachenden Rückstand, was zu erkennen heutzutage nicht schwer fällt und was gewiss einer der guten Gründe dafür ist, dass die NATO schon am 24. März 1999 Jugoslawien zu bomben begann. Weil: Wer den Endsieg unbedingt erringen will, der muss einfach früh genug damit beginnen.

Die heutigen Feldherren und PolitikerInnen entstammen nicht mehr Landadel, Rinderherden-Schweinemassen- Schlächtern. Unsere westliche Wertegemeinschaft ist im kulturellen Fortgang verstädtert. Als Blüten des Asphaltdschungels jener Mega-Stadt, die von Bonn bis Berlin und Passau bis Kiel reicht, wissen diese modernen Machtübernahmemenschen gar nicht mehr, wie vaterländisch sich gute Feldkrume unter der Stiefelsohle anschmiegt. So kommt es zu den kalendarischen Verschiebungen, die den klassischen Erntemonaten August und September nicht mehr die frühere Bedeutung zubilligen. Die Kriege fangen früher im Jahr an, dafür hören sie auch nie mehr auf. Notfalls wird eine kurze Pause eingelegt, damit die Rüstungsindustrie Zeit zum Aufholen gewinnt. Auch hat das Abernten der Felder nicht mehr die einstige Bedeutung. An Fress- und Saufwaren ist schließlich kein Mangel. Kompliziert ist lediglich die Verteilung, weil garantiert bleiben muss, dass wir immer genug kriegen und die anderen hinreichend Not leiden. Sonst verfallen zu viele auf dumme Gedanken und zwingen uns, den nächsten Krieg schon Neujahr zu beginnen, während der vorige erst zu Silvester beendet wurde.

Hitlers frühe Juni-Planung für den Überfall auf die Sowjetunion resultierte füglich aus der militärmetereologischen Einsicht, dass August/September diesmal zu spät wären. Die Verzögerungen wegen der widerspenstigen JugoslawInnen, die das Losschlagen gegen Moskau auf den 22. Juni verschieben ließen, rächten sich im Winter vor Moskau, als der siegreichen Wehrmacht der Arsch abfror.

Allerdings berichten die Soldaten der Panzertruppen, die im Sommer durch Weißrussland, die Ukraine und das weite Russland vorausstürmten, von unendlich großen berauschenden Weizenfeldern und Kornkammern, die sie stahlhelmbedeckt durchquerten. Die Erntemonate Juli/August wurden zu brausenden Siegesfeiern im Expresskrieg. Auch der September, an dessen 1. Tag der Überfall auf Polen zwei Jahre zurücklag, erwies sich noch als so wetter- wie kreuzzugsgünstig. Im Oktober freilich kam es zu Verfinsterungen, im November fuhr die launische Kriegsgöttin Schlitten und im Dezember gab es gefrorene Wehrmachts-Kadaver sowie einen Rückzug in Eis und Schnee à la Napoleon.

Im SPIEGEL Nr. 25/99 äußert Rudolf Augstein sich zum Buch »Der falsche Krieg« des 35jährigen Oxford-Professors Niall Ferguson, der die kühne, aber nicht uninteressante These vertritt, die Briten hätten 1914 nicht gegen Deutschland antreten müssen. Augstein ist anderer Ansicht und stapelt die alten geläufigen Schul-Argumente auf, wonach die Kollision unvermeidbar gewesen sei. Nichts davon kann Ferguson unbekannt geblieben sein und beide Seiten haben wahrscheinlich Recht, indem sie die kontroversen Fakten in ihrer jeweiligen Sicht ordnen und gegeneinander in Stellung bringen. Unerörtert bleibt, weshalb sowohl die deutschen wie die britischen Politiker 1914 den Zwängen nachgebend in den Krieg eintraten, was, wenn es als alternativlos gelten sollte, auf eine durchgängige Abwesenheit von Entscheidungsfreiheit schließen ließe. Geschichte ist dann bloßer blinder, blindmachender Zwang, d. h. Abwesenheit von jeder Kultur. Nun interpretiert Augstein seit Jahrzehnten Buchprodukte zu den Themen Jesus, Napoleon, Bismarck, Erster und Zweiter Weltkrieg, und die Historikergilde übt sich in freundlichen Leserbriefen oder schweigender Distanz. Verbindendes Glied aller ist die obligatorische Freiheitsleugnung der Geschichtswissenschaft. Setzten doch bürgerlich-orthodoxe wie marxistische HistorikerInnen die Mär von den „zu früh gekommenen Revolutionären“ in die ungelüfteten Stuben ihrer Hochschulwelt. Die unter disziplinösen Zwängen lebenden LehrerInnen kennen nur erzwungene Geschichtsabläufe, denn als Produkten der verordneten Unfreiheit fehlt ihnen die Vorstellung, ein realer Revolutionär könne nicht an seiner Verfrühung scheitern, jedoch an der Verspätung des vorhandenen Milieus. Nicht Marx/Engels existierten zu früh, sondern die 1848er kamen zu spät. Nicht Luxemburg/Liebknecht waren den Verhältnissen weit voraus, sondern Hindenburg/Ludendorff/Ebert/Noske gehörten in die Eiszeit. Um zu Augstein zurückzukehren, die kriegführenden Briten und Deutschen waren 1914 schlechthin nationale Dinosaurier und diese Spezies starb nie aus. Jeder Krieger des 20. Jahrhunderts zählt zu den groben Knochen der menschlichen Vorgeschichte, die von den stupiden braven ZeithistorikerInnen in den Himmel gehoben werden statt sie wenigstens interpretatorisch zur Hölle fahren zu lassen.

Notabene: Kein Kriegsheld ist alternativlos. Jeder entscheidet sich freien Willens zur Unfreiheit. Kein Krieg ist Zwangsvollzug. Jeder vermeidbar. Die promovierten ClaqueurInnen des verstaatlichten Zeitgeistes sehen überall nichts als folgerichtige Notwendigkeit, für sie passt wie der Deckel auf den Topf der Satz: „Die Deutschen befinden sich nur einmal in Gesellschaft der Freiheit. Am Tage ihrer Beerdigung.“ Das stammt allerdings von Karl Marx, der den Deutschen die Entscheidungsfreiheit nicht abspricht, ihren Hang zur Unfreiheit nur sarkastisch notiert. Dabei ist, nebenbei bemerkt, zwischen links und rechts kein Unterschied, ganz wie zwischen den Monaten März, Juni, August, September, wenn sie im Zeichen von Mars und Blutwurst stehen.

Das Ziel des Krieges in Permanenz mit gelegentlichen Pausen erreichten die USA im Himmel über dem Irak, aus dem die Raketen und Bomben aufs Land herniederfahren, weil zum gleichförmigen stillen Embargo-Hungertod von Zeit zu Zeit der explosive Tod hinzutreten soll, damit dem Exitus der notwendige Nachdruck beigesellt werde. Das Schweigen der UNO und unserer westlichen Wertegemeinschaft, das die Mordaktionen stilvoll begleitet, beweist, es gibt längst keinen Unterschied mehr in der Kriegstauglichkeit der Monate. Unsere Kriege heute sind endlos-zeitlos. Der logischen Einsichtigkeit halber nennen wir diesen Krieg Frieden, den wir folglich nicht jeweils extra erklären müssen. Es gibt keine Kriegsausbrüche mehr, wir erklären den Frieden und führen ihn. Denn wie der Julianische Kalender 1582 durch den Gregorianischen abgelöst wurde, so folgte auf den Gregorianischen 1984 der Orwellsche Kalender. Seitdem genießen wir die Segnungen der Turbo-Moderne. Wer also bewusst dem neuen Orwellschen Kalender nach lebt, weiß nicht nur, was die Stunde geschlagen hat, er überwindet zugleich die generelle Zukunftsblindheit und blickt wissend in die kommenden Zeiten des permanenten Friedens auf Erden und im Himmel.

Die fortschreitende Erweiterung des Krieges von einem zeitlichen Kontinuum mit Anfang und Ende zum kalendarischen Kreislauf ohne Anfang und Ende, aber mit Zwischenpausen, hat zwingende Folgen zu denen die Verschnellerung aller Prozesse zählt. Nicht Fukuyamas »Ende der Geschichte« ergibt sich daraus, sondern Nietzsches »Ewige Wiederkehr des Gleichen« im engsten Radius. Stellen wir uns diese Geschichte als Wendeltreppe vor, so führt sie hinauf und hinab ohne Endpunkt. Es sei denn, sie verengt sich, dann sitzen die TreppensteigerInnen endlich fest. Wer daraufhin hinuntergeht, gelangt in die barbarischen Ausgangspositionen der Frühzeiten zurück und wird, falls Darwin recht hat, woran vernünftigerweise nicht gezweifelt werden dürfte, erst zum Raubtier, dann zur Molluske und endlich zur Ursuppe. Wer aber nicht zurückflüchten mag, der erstarrt vor Ort am letzten höchsten Punkt.

Kleists Idee von der Verfertigung des Gedankens beim Sprechen (Schreiben) enthüllt den Bewusstmachungsprozess, in dem Sachverhalte und Menschenverhalte analysiert, definiert und formuliert werden. Ob es sich um Vorgänge in Vergangenheit oder Gegenwart handelt ist sekundär, primär ist der Vorgriff ins Neue. Soweit es nicht um bloße Konversation, Unterhaltung, blöde Nachplapperei geht, was die Fügung »Verfertigung des Gedankens« bereits ausschließen sollte, ist das Produkt der Verfertigung ein vorher nicht vorhanden gewesener Gewinn – ein Zukunftsvorgriff und Novum also.

Nun ließe sich der Produktionsvorgang von Gedanken und Wörtern auf die materielle Produktion übertragen, denn in den Betrieben und Forschungs-Einrichtungen entstehen parallele Produkt-Neuerungen. Da sie aber insgesamt zur Waffenherstellung und Kriegführung oder Androhung von Luftschlägen dienen, erweist sich der Krieg als primärer Antreiber bei der Fabrikat-Verfertigung. Der Primat des Krieges und der Krieger führt zur Verfertigung der Vergangenheit als Zukunft, denn wo die Politik nicht weiter weiß, tritt das Militär an. Seine Neuerungen sind waffentechnischer Art, also von gestern, aber modernisiert; seine Siege stabilisieren die Vergangenheit, die als Erneuerung ausgegeben wird, jedoch immer nur die alten Gewaltverhältnisse reproduziert. Die letzte militärische Mega-Macht liquidiert die Zukunft eben dadurch, dass sie sie so nennt und zugleich verhindert. Die Sieger im Krieg sind im postkulturellen Endzeitalter stets dieselben und sie garantieren fortgesetzte Kriege mit immer denselben Siegern.

Selbstverständlich gibt es Aufstände gegen den Welten-Usurpator und vielerlei Subversionen. Seine Übermacht an Waffen, Militärs, Pfaffen, Beamten und Geheimdiensten garantiert den Machterhalt. Nur er selbst könnte sich abschaffen, was er nie wollen wird. Er kann allerdings zusammenbrechen, hat Kapital sich derart organisiert und elektronifiziert, dass die Effizienz keinen Freiraum mehr für Entscheidungen lässt. Die große Maschine steht dann einfach still wie Buridans Esel.

Es kann freilich auch sein, dass die AktionärInnen, die inzwischen die Mehrheit der westlichen Wertegemeinschaft bilden, genüsslich ihre Aktiensammlungen fressen und hernach sich selbst.

Was der Rest der Menschheit tun wird, steht in den Sternen, bei denen Mars die Venus besteigt, welches nahe liegende Bild wir in seinem handgreiflichen Symbolwert nutzen, weil es den für die fernste Zukunft vorausgesagten Kältetod der Erde in kürzere gesellschaftlich-menschliche Maße transportiert. Das Kapital verwirklicht sich selbst, indem es jeden Widerstand eliminiert und alle Qualitäten auf ihren quantitativen Nutzen reduziert. Derart formiert kennt die Welt von morgen nur noch spekulierende AktienjongleurInnen, die sich gegenseitig übers Ohr hauen müssen weil das sonstige Volk, das nicht mitkam, ein Außenseiterdasein fernab von Banken und Börsen führt. Orwell nannte diese unregierbaren, gar unregistrierbaren Wilden »Proles«. Sie gelten nicht mehr als Menschen und dürfen gejagt werden, während der Geldadel sich dem tellurischen Kältetod hingibt, der sich mit dem Verlust von Herzenswärme schon lange Zeit vorher angekündigt hatte.

Wenn der Orwellsche Kalender Tag und Stunde angibt, müssen natürlich auch die zeitlos Oppositionellen und ewig Widerspenstigen diszipliniert werden. Man verpasse ihnen die schönsten rechten Vorbilder.

Zu Beginn des 1. Weltkrieges dichtete Felix Dahn: „Die Waffen hoch! Das Schwert ist Mannes eigen! Wo Männer fechten, hat das Weib zu schweigen. Doch freilich, Männer gibt's in diesen Tagen – Die sollten lieber Unterröcke tragen.“

Die Parole »Die Waffen hoch!« war gegen Bertha von Suttners Buch »Die Waffen nieder« gerichtet. 1905 hatte die Autorin dafür den Friedensnobelpreis erhalten. 1914 starb sie, als hätte das ein höherer Regisseur so eingerichtet, denn ab 1914 war die kriegerische Seite von Dynamit Nobel gefragt, doch die anschließenden vier Kriegsjahre entließen neben wenigen linken RevolutionärInnen und vielen rechten WiederholungstäterInnen eine Spezies, die inzwischen vergessen gemacht worden ist: pazifistische Offiziere – diese lebenden Widersprüche, von denen NVA wie Bundeswehr keine Kenntnis nehmen durften bzw. dürfen.

Die Offizierspazifisten, darunter allerhand Generäle, die im 1. Weltkrieg ihr Damaskus-Erlebnis fanden und dem »Schwertglauben« (Friedrich Wilhelm Foerster) abschworen, waren keine Feiglinge, wie ihre unbelehrbaren Kameraden ihnen nachsagten. Im Gegenteil, ihr aufrechter, tapferer Kampf gegen den Krieg forderte von ihnen mehr Opfer, größere Charakterstärke und Zivilenergie als von den nationalen Herren, die, ganz wie befohlen, erst dem Kaiser, dann dem Führer dienten, danach evtl. noch anderen Machthabern.

Das nationale kriegerische Credo lautete: „Der Frieden ist ein Traum und nicht einmal ein schöner (…) der Krieg ist ein Glied in Gottes Weltordnung.“ (Generalfeldmarschall Moltke d.Ä.) Und: „Wir müssen Macht bekommen und sobald wir diese Macht haben, holen wir uns selbstverständlich alles wieder. Was wir verloren haben.“ (Generaloberst Hans von Seeckt) Dagegen steht: „Wer den großen Krieg nicht nur mitgemacht, sondern auch seelisch erlebt hat und dadurch zum Nachdenken über das wichtigste und zugleich furchtbarste Menschheitsproblem veranlasst worden ist: der ist als Pazifist heimgekehrt.“ (Hauptmann a.D. Willy Meier)1

Selbstverständlich erlitten die aufrechten Offizierspazifisten alle Arten von Verfolgung und Rachetaten, die den deutschen Staatsorganen zur Verfügung stehen. Das reicht von der Verachtung bis zu Zuchthaus, KZ und Mord, denn das Militär als Kaste fordert ewiges Leben. So wurde der Kapitänleutnant und Pazifist Hans Paasche schon 1920 von Freikorpsoffizieren vor den Augen seiner Kinder erschossen. Über Paasche, Schoenaich u.a. schrieb Kurt Tucholsky zahlreiche Artikel. Major Karl Mayr, 1940 von der Gestapo in Paris verhaftet, kam 1945 im KZ Buchenwald ums Leben. Den Hauptmann i.G. Hans-Georg von Beerfelde schlug die SA zum Krüppel. Über den Kapitänleutnant Heinz Kraschutzki, den Franco aus Freundschaft zu Hitler 9 Jahre in Haft hielt, sagte keine Geringerer als Pastor Martin Niemöller: „Das ist mein alter Marinekamerad Kraschutzki. Ihm hat schon der 1. Weltkrieg die Augen geöffnet. Bei mir war leider noch ein 2. nötig.“2

Niemöllers »leider« ist natürlich ein unpassend Wort wie er selbst eine auszugrenzende Figur. Nehmen wir die jüngste Kriegsgeschichte noch einmal von vorn durch: Also – Bertha von Suttners berühmter Satz »Die Waffen nieder« verwandelte sich 1914 in »Die Waffen hoch«, 1917 in »Krieg dem Kriege« und endlich in den Aufruf »Dreht die Gewehre um!« Ab 1933 war Deutschland mit den Waffen wieder dran, diesmal ohne SPD, die Gewehre gingen 1939 los, ab 1945 flogen die Flinten ins Kornfeld und alle Hände, die danach griffen, sollten verdorren. Es verdorrten die Köpfe, als ab 1955 die Flinten wieder in Dienst genommen wurden, diesmal mit der SPD unter dem Befehl von Orwell, nun hieß der Friede Krieg oder umgekehrt und die Menschenrechte erlaubten die Friedenskriege der Mächtigen, während den Regierten jede Revolution bei Todesstrafe verboten wurde.

Das Karussell begann von vorn wie 1912/13 mit diversen Balkankriegen, also schrieb Kafka seinen Prozess-Roman erneut: Jeder ist schuldig, keiner bleibt ohne Anklage, ausgenommen die Gerichtsherren. In der Erstfassung waren sie hochwohlgeboren, heute werden sie gewählt. Was bleibt, stiften die JuristInnen. Wer es wagte, den AnklägerInnen den Schädel zu öffnen, blickte ins Innere des Orwellschen Käfigs: Ratten sitzen darin gefangen.

Kann sein, der kriegerische Wahnsinn ist nur noch in den apokalyptischen Bildern einzufangen, die entstehen, wenn die Köpfe der KriegsministerInnen mit den Dokumenten der TV-Kameras zusammenstoßen und die Lügen multiplizieren. Es gibt nun ein Buch mit dem Titel »Szenen einer Nähe« 3, das die nachprüfbaren Fakten liefert, die von Bildern nicht beigebracht werden, weil die Kamera wie das Gewehr eine verordnete und auswählende Schussrichtung hat. Die Sprache aber geht aufs Einzelne und zugleich aufs Ganze. Wer sich fragt, wie Hitler in der Kürze von 1933 bis 1939 die Hunderttausend-Mann-Reichwehr zur millionenstarken Angriffswehrmacht hochrüsten konnte, muss wissen, die Aufrüstung war schon 1925 zu Zeiten der Weimarer Republik bis ins Detail ausgearbeitet worden.

Gibt es eine Parallele von 1925 zu den Neunziger Jahren? »Szenen einer Nähe« bietet eine überraschend dichte Faktensammlung, die diese Nähe belegt. Manches Material war inzwischen vergessen (gemacht) worden. Andere Informationen werden hier erstmals präsentiert. Wer davon keine Kenntnis nimmt und keinen Nutzen zieht, verharrt in selbstverschuldeter Unmündigkeit und hat zu verantworten, was unverantwortbar sein sollte.

Selbstverständlich wird im Orwellschen Zeitalter das Unverantwortliche protegiert. Der Name der Dame Suttner ist vergessen, obwohl sie, weil von Adel, auf Wiedergutmachung klagen könnte. Schließlich zahlt Biedenkopfs sächsische Landeskasse dem 1918 entlaufenen Königsgeschlecht einige lausige Millionen, und auch des Kaisers Erbonkelschar kann auf die rechtsstaatliche Wiedereinsetzung in vorige Unrechte und Pfründe hoffen. Kurzum, wer fürs Vaterland Kriege führte, darf auf höchste Belohnung rechnen, was will dagegen diese lausige PazifistInnenschar, der am Kreuz angenagelte Christus etwa – was für ein aufwendiger Ritualmord, der tagelang andauern kann. Wo bleibt da die Effizienz? Ein paar Bombenraketen auf ne menschliche Ansiedlung, da gehen hundert kaputt, eine zweite Hundertschaft stirbt, lebendig begraben, das langgezogene Christus-Ende. So rechnet sich's, denn die endverbrauchten Waffen müssen produziert und im Depot ersetzt werden. Oder nehmen wir den letzten Menschenrechtskrieg, da vertrieben und töteten erst die einen die anderen, bis Europa hilfreich eingriff, nun vertreiben und töten die anderen die einen und in Relation zu ihrer Anzahl ergeben sich die gleichen Resultate. Unsere Soldaten und ihre kommandierenden Politiker aber verzeichnen einen Imagegewinn, der glückhaft reziprok zum Imageverlust ihrer engstirnigen KriegsgegnerInnen, dieser ewig quengelnden PazifistInnen steht. Was will ein Oberkommando der höllischen Heerscharen mehr?

Der Beitrag von Gerhard Zwerenz ist ein Vorabdruck aus »Krieg im Glashaus«. Alle Rechte bei Verlag Edition Ost, Berlin.

Anmerkungen

1) Zitiert nach: Pazifistische Offiziere, Donath-Verlag, Bremen 1999

2) ebenda

3) Szenen einer Nähe, Pahl-Rugenstein-Nachfolger, Bonn 1998

Gerhard Zwerenz ist Schriftsteller.

Albert Schweitzer – Ehrfurcht vor dem Leben

Albert Schweitzer – Ehrfurcht vor dem Leben

von Till Bastian

Albert Schweitzer: Philosoph, Arzt, Organist, Friedensnobelpreisträger. Als »Urwalddoktor« wurde er für Generationen zum Symbol für gelebten Humanismus, als Friedensnobelpreisträger nutzte er seine Möglichkeiten zum Kampf gegen die A-Bomben-Tests. Untrennbar verbunden ist sein Bild mit den Aktionen der Bewegung »Kampf dem Atomtod«. Trotzdem blieb er umstritten und nicht nur wegen seiner politischen Aktivitäten angefeindet. Till Bastian zeichnet »Ein Lebensbild aus subjektiver Perspektive«.

In meiner Jugend war er mir verhasst. Ich habe in den fünfziger Jahren die bayerische Volksschule besucht, die damals noch in konfessionell einheitliche Klassen eingeteilt war. Unsere Klassenlehrerin zwang uns, jährlich von unserem geringen Taschengeld – das ich lieber in Lakritz und Kaugummi investiert hätte – den »Tierschutzkalender« zu kaufen. Darin war er des öfteren abgebildet – an den weißen Tropenhelm und den buschigen Schnauzbart erinnere ich mich noch genau. Wie gesagt, er war mir verhasst – und konnte später als Musterbeispiel dafür dienen, dass sich die »gute Sache« mit Zwang nicht durchsetzen lässt.

Wie sonst? Woher der Impuls zum, ethisch richtigen Handeln? Diese Frage hat Albert Schweitzer (1875 – 1965) sein Leben lang beschäftigt. Und dass ich wieder auf ihn stieß, dass der »Großtyrann der Nächstenliebe« (wie er treffend genannt worden ist) auch andere Seiten hatte als jene, an die sich meine kindlichen Vorurteile hefteten – das hatte mit »Tierschutz« nichts zu tun. Es lag daran, dass mir irgendwann sein heute vergessenes Werk »Kultur und Ethik« aus dem Jahre 1923 in die Hände fiel. Ich las es durch und war gefangen. Wieviel, worüber sich die klugen Geister streiten, die heute eine »ökologische Ethik« aus dem Philosophenhut zaubern wollen, ist dort schon vorweggenommen – bis hin zum berühmt gewordenen »Prinzip Verantwortung« von Hans Jonas.

Ich will hier keine Lebenschronik des Mannes entwerfen, der 1875 in Kaysersberg im – damals seit vier Jahren deutschen – Elsass geboren wurde, sich vor hundert Jahren, 1899, in Berlin zum Dr. phil promovierte, sich aber kurz nach der Habilitation (1902) zum Medizinstudium entschloss und seit 1913 (mit diversen Unterbrechungen) im später weltberühmten afrikanischen Lambarene arbeitete. 1953 erhielt Schweitzer den Friedensnobelpreis, 1957 bis 1958 sendete Radio Oslo seine berühmten Appelle gegen die damals noch oberirdisch durchgeführten Atomwaffentests. Am 4. September 1965 ist der Neunzigjährige in Lambarene in der Republik Gabun gestorben.

Diese biografische Faustskizze mag für's Erste genügen (zum Weiterlesen sei das »Albert-Schweitzer-Lesebuch« empfohlen, das Harald Steffahn herausgegeben hat und das im Münchner Verlag C.H. Beck erschienen ist). Mir kommt es hier vor allem darauf an, die unorthodoxe Denkweise des Multitalentes Schweitzer nachzuzeichnen, die ich in vielerlei Hinsicht als außerordentlich aktuell empfinde. Solche Einschätzungen sind subjektiv gefärbt, ich weiß. Aber gerade das macht sie diskutabel.

Die tieferen Motive für Schweitzers plötzlichen Entschluss, seine erfolgversprechende akademische Karriere nicht weiter zu verfolgen, sondern als Urwaldarzt in Afrika zu arbeiten, werden immer im Dunkeln bleiben. Den äußeren Anstoß gab im Herbst 1904 ein Aufruf über die bittere Not der Kongomission, der den neunundzwanzigjährigen elsässischen Geistlichen tief beeindruckte. Drei Jahre später, am 17. November 1907, hielt der damals noch unverheiratete Medizinstudent Schweitzer eine Predigt »Zum Totengedächtnis«. Schweitzer, der in jenem Wintersemester einen der im vorklinischen Studium üblichen zwei Anatomiekurse (wörtlich: »Übungen im Leichenzergliedern«) zu absolvieren hatte, führte darin unter anderem aus: „So ist die Menschheit um uns her weder durch die Furcht vor dem Tode noch durch die Hoffnung auf das ewige Leben bewegt. Sie verlangt nur eins, dass man keine Anspielung auf den persönlichen Tod macht. Sie hat gewissermaßen ein geheimes Dekret erlassen, dass jedermann seinem Nebenmenschen gegenüber fortgesetzt so tue, als ob die Möglichkeit, dass dieser sterben könne, gar nicht in Betracht käme. Und keines der Gesetze über den Umgang wird so peinlich beobachtet wie dieses. Die letzte Liebe, die die Menschen einem erzeigen, der schon mit dem Tode gezeichnet ist, besteht darin, dass sie tun, als ob die Krankheit selbstverständlich nicht gefährlich sein könne. Und wenn der andere schon selbst fühlt, wie ernst seine Lage ist, will er gewöhnlich doch noch immer gerne das Gegenteil hören.“

Man muss Schweitzers religiöse Überzeugung nicht teilen, um zu begreifen, wie genau diese Sätze eine Situation treffen, die sich in den 92 seither vergangenen Jahren noch vielfach zugespitzt hat. Die Massenmedien bringen uns heute den Tod – den fremden Tod – vieltausendfach ins Haus; wer sich durch das Fernsehprogramm zappt, kann erst einem Serienmörder bei seinem blutigen Handwerk beobachten und danach die verhungernden Kinder in Afrika betrachten.

Aber nichts von alledem regt uns noch richtig auf, nichts erreicht uns wirklich – auch die fast 20.000 Kinder nicht, die immer noch weltweit täglich an Hunger sterben. Im Gegenteil, wir können uns davon ablenken, indem wir uns vor dem Computerbildschirm, natürlich nur spielerisch, selber im Töten üben. Der eigene, der persönliche Tod freilich fällt unter jenes geheime Dekret, von dem Schweitzer gesprochen hat: In der Spaß- und Erlebnisgesellschaft ist der Tod, die eigene Vergänglichkeit der große Spielverderber, der geächtet wird, indem man ihn nicht zur Kenntnis nimmt. Dies wortwörtlich: Rund die Hälfte aller Sterbefälle wird heute in der kühlen Routine eines Krankenhauses »abgewickelt«. Welches Kind hat noch einen Sterbenden gesehen – in der eigenen Familie, nicht im Krankenhaus?

Den eigenen Tod, wenn es denn sein muss, wünschen wir uns »kurz und schmerzlos«, am besten auf der Straße tot umfallen. Selber nichts spüren von alledem und dann rasch »entsorgt« werden, ohne viel Federlesens, das wär's…

1923 veröffentliche Albert Schweitzer das bereits erwähnte Buch »Kultur und Ethik«. Nach einer Tour d'horizon durch die europäische Geistesgeschichte kritisiert er die Mehrzahl der bodenständigen Meisterdenker wegen ihrer Position, die allein auf das Wohlergehen von Homo sapiens ausgerichtet sei, also (wie es Claude Levi-Strauss fünfzig Jahre später nennen wird) einen »Humanismus der maßlosen Überheblichkeit« beinhalte. Im Originalton: „Wie die Hausfrau, die die Stube gescheuert hat, Sorge trägt, dass die Türe zu ist, damit ja der Hund nicht hereinkomme und das getane Werk durch die Spuren seiner Pfoten entstelle, also wachen die europäischen Denker darüber, dass ihnen keine Tiere in der Ethik herumlaufen.“

Schweitzers originäre Weltauffassung beginnt mit einer scharfen Kritik an Immanuel Kants Gesinnungsethik und Pflichtenlehre, niedergelegt in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« und der »Kritik der praktischen Vernunft«. Schweitzer, der sich hier recht weitgehend auf Schopenhauers Kant-Kritik stützten kann (»Über die Grundlage der Moral«, 1840) kritisiert an Kants kategorischem Imperativ: „Die Erhabenheit des Grundprinzips des Sittlichen bezahlt er mit der Inhaltlosigkeit desselben.“ Schweitzer stellt dem ein anderes »Grundprinzip des Sittlichen« gegenüber: „Ich bin Leben, das Leben will, inmitten von Leben, das Leben will“. Daraus entspringt die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Diese ist keineswegs frei von Konflikten – Schweitzer, der als Arzt Antibiotika verordnet hat, um Menschenleben zu retten, wusste darum sehr genau. Es ist ja noch heute so: die Tötung von Menschenaffen für die medizinische Forschung ruft heftigen Protest auf den Plan, gegen die Ausrottung der Tsetse-Fliege oder des Pockenvirus hingegen haben wohl nur sehr wenige Menschen ernsthaft etwas einzuwenden, obschon an der Mitkreatürlichkeit hier wie dort kein Zweifel bestehen kann. Das Problem steckt aber darin, dass dies für selbstverständlich genommen wird, während es doch ständig Stachel und Ansporn zur Selbstbesinnug sein sollte (mit dem Ziel, die eigenen Eingriffe in fremdes Leben, die unabschaffbar sind, doch wenigstens zu minimieren). „Auf tausend Arten steht meine Existenz mit anderen in Konflikt“, weiß Schweitzer. „Die Notwendigkeit, Leben zu vernichten und Leben zu schädigen, ist mir auferlegt.“ Für die Forderung nach Ehrfurcht und Schadensminimierung gilt daher: „Gebrauchsfertig zu beziehende Ausgleiche von Ethik und Notwendigkeit hält sie nicht auf Lager“ – übrigens auch keinen »Kalkül« wie er von den UtilitaristInnen gepredigt wird (etwa von Peter Singer, auf den ich noch zu sprechen kommen werde). Im Gegenteil: „Nie dürfen wir abgestumpft werden. In der Wahrheit sind wir, wenn wir die Konflikte immer tiefer erleben. Das gute Gewissen ist eine Erfindung des Teufels.“

Am 23. April 1957 wandte sich Albert Schweitzer erstmals mit einem Radioaufruf an die Weltöffentlichkeit, um vor den Gefahren des atomaren Wettrüstens zu warnen. Ihm, dem Friedensnobelpreisträger des Jahres 1953, der vom Nobel-Auschuss des norwegischen Parlaments (Storting) verliehen wird, steht es frei, seine Appelle über Radio Oslo verlesen zu lassen; etwa 140 Rundfunkstationen schließen sich weltweit an.

Schweitzers Ansatzpunkte waren die Versuchsexplosionen von Wasserstoffbomben, wie sie die USA und die Sowjetunion seit mehreren Jahren durchführten – und zwar oberirdisch, sodass der radioaktive Niederschlag (Fallout) jeden Winkel der Erde verseuchte (rund vierzig Jahre später hat eine Arbeitsgruppe der Weltföderation »Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges« (IPPNW) – Friedensnobelpreisträgerin 1985 – errechnet, dass dieser Fallout weltweit für rund 400.000 Krebstodesfälle verantwortlich ist). Schweitzer erörterte ausführlich die medizinischen Gefahren radioaktiver Strahlung – und kam zu der Schlussfolgerung: „Wir sind also genötigt, jede Steigerung der bereits bestehenden Gefahr durch weiterhin stattfindende Erzeugung von radioaktiven Elementen durch Explosionen von Atombomben als ein Unglück für die Menschheit anzusehen, das unter allen Umständen verhindert werden muss.“ Damit leitete er über zur Forderung nach einem Abkommen zur Beendigung der Atomtests. Sein Radioaufruf schloss mit den Worten: „Wenn also in den Ländern, für die das Abkommen in Betracht kommt, und in den Völkern überhaupt eine öffentliche Meinung entsteht, die sich von den großen Gefahren der Fortsetzung der Versuche Rechenschaft gibt, und die sich durch die damit gebotene Vernünftigkeit leiten lässt, können die Staatsmänner sich über ein Abkommen, die Versuche zu unterlassen, einigen. Eine öffentliche Meinung dieser Art bedarf zu ihrer Kundgebung keiner Abstimmung und keiner Kommissionsbildung. Sie wirkt durch ihr Vorhandensein. Kommt es zur Einstellung der Versuche mit Atombomben, so ist das die Morgendämmerung des Aufgehens der Sonne der Hoffnung, auf die unsere arme Menschheit ausschaut. Albert Schweitzer.“

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte Schweitzers Rede am nächsten Tag (am 24. April 1957) so: „Schweitzer verlangt nichts Utopisches. Er denkt ganz real an ein Abkommen zur Einstellung der Atomwaffenversuche. Er verlangt sogar Garantien dagegen, dass ein solches Abkommen politisch und militärisch missbraucht wird. Das Entscheidende aber ist für ihn die öffentliche Meinung, die die Mächte zu solcher Vereinbarung zwingen muss. Er weiß, dass es dazu des Vertrauens bedarf. Eben daran mangelt es heute. Wird die gemeinsame Bedrohung es entstehen lassen? Das Notsignal aus dem afrikanischen Urwald darf nicht hinabsinken in das dumpfe Schweigen einer Menschheit, die ihre Sternstunden so oft unbeachtet vorübergehen lässt.“

Wie wir fast fünfzig Jahre später wissen, entstand tatsächlich eine kritische Weltöffentlichkeit, die auch erheblichen politischen Druck zu erzeugen wusste. Am Ende stand der »Limited Test Ban Treaty«, der am 5. August 1963 – noch zu Lebzeiten Schweitzers – von den Ministern Dean Rusk (USA), Lord Home (Großbritannien) und Andreij Gromyko (UdSSR) unterzeichnet wurde. Am 10. Oktober wurde der Vertrag, nachdem er von den Parlamenten der drei Atommächte ratifiziert worden war, von den Regierungschef unterzeichnet (am selben Tag wurde die Verleihung des Friedensnobelpreises 1963 an Prof. Linus Pauling bekanntgegeben). Wie allgemein bekannt, wurde dieser LTBT 1995 von einem »Comprehensive Test Ban Treaty«, einem Abkommen zum Verbot aller – auch unterirdischer – Atomtests abgelöst, dessen Ratifizierung der US-Senat allerdings im Oktober 1999 verweigert hat.

Es wundert nicht, wie vielfach Albert Schweitzer angefeindet worden ist. Ich will zwei sehr verschiedene Stimmen heraus greifen um das deutlich zu machen.

Der australische Utilitarist Peter Singer, der mit seinem Buch »Praktische Ethik« (1979, deutsch 1984) vor allem in Deutschland erhebliches Aufsehen erregt hat, weil er darin die Tötung behinderter Kinder unter bestimmten Bedingungen für legitim erklärt, greift in diesem Werk naheliegenderweise Schweitzers »Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben« frontal an (Schweitzer seinerseits hatte 1923 die utilitaristische Philosophie mit der Bemerkung abgefertigt, in diesem Weltbild müsse sich der Mensch vor jedem Handeln erst einmal hinsetzen „und das Ethische errechnen…“) – wobei er Schweitzer allerdings falsch zitiert. Der richtigen Bemerkung: „In der Praxis akzeptierte Schweitzer eine Hierarchie von Werten, bei der einige Formen des Lebens vor anderen rangierten“ – was Schweitzer indes nie bestritten hat – schließt sich bei Singer in einem atemberaubenden Gedankensprung die Folgerung an, dass ein Leben, „das keine bewussten Erlebnisse besitzt, über keinen Wert an sich verfügt“. Für Singers Gedankenwelt ist das wichtig, denn nur »Personen« (Wesen mit reflektierendem Selbstbewusstsein) dürfen nicht getötet werden – Kinder und geistig Behinderte hingegen unter Umständen sehr wohl. Auf die inneren Widersprüche dieser Theorie kann hier nicht eingegangen werden – richtig ist jedoch, dass der Versuch des »ethischen Kalküls«, der sich quasi mathematisch an der jeweils größten »Glückssumme« orientiert, in der Tat den größten möglichen Gegensatz zu Schweitzers widerspruchsvoller »Ethik des Herzens« bildet.

Überraschender als Singers noch relativ verhaltene Kritik ist der polemische Ausbruch, mit dem der bekannte Psychoanalytiker und Bestsellerautor Wolfgang Schmidbauer in seinem Buch »Jetzt haben, später zahlen«, das eigentlich die seelischen Folgen der Konsumgesellschaft schildern soll, urplötzlich gegen den längst verstorbenen Friedensnobelpreisträger Schweitzer zu Felde zieht: „Eine Perspektive, die dem menschlichen Wesen einen Lebensvorrang gegenüber der stummen Kreatur einräumt, mag kurzfristig human sein, langfristig führt sie zu viel größeren Unmenschlichkeiten als eine Perspektive, die den Zusammenhang der Lebenden berücksichtigt. Eine der unheilvollsten Gestalten ist hier Albert Schweitzer, der seine Karriere als Organist und Theologe dem ruhmreicheren Unternehmen der Heilung kranken Afrikaner »geopfert« hat. Die »Ehrfurcht vor dem Leben«, die Schweitzer als seine Entdeckung feiert, ist eine Ehrfurcht vor dem eigenen unbewussten Ehrgeiz und ein Programm, dessen Auswirkungen wir heute in Afrika und anderswo am Wachstum der Wüsten und der Guerillagewalten ablesen können. Schweitzer ist nicht schuldig an dem, was geschah. Er war ein Opfer seiner Illusionen, wie andere Kolonisatoren und fanatischen (sic!) Helfer auch. Doch sind diese ehrlicher was ihre Interessen angeht. Schweitzer wird nach wie vor idealisiert als seien neue Helden, neue Albert Schweitzers eine Lösung der globalen Probleme.“ Und einen Absatz weiter setzt Schmidbauer noch eins drauf: „Es scheint mir an der Zeit, die geheime Verwandtschaft zwischen Gestalten wie Albert Schweitzer und jenen Krankenpflegern zu erkennen, die subjektiv aus Barmherzigkeit die ihnen anvertrauten schwerkranken und multipel pflegebedürftigen Menschen töten.“

Solche Sätze, geradezu mit Schaum vor dem Mund geschrieben, aus dem Mund eines klugen, besonnenen und renomierten Psychologen, der sich offenbar über die »Eigenanteile« in diesem heftigen Wutanfall wenig Rechenschaft abgelegt hat – das muss doch überraschen. Aber der »Urwaldarzt« aus dem Elsass ist offenbar ein großer Provokateur, über dreißig Jahre nach seinem Tode noch.

Ich breche an dieser Stelle ab – Leserin und Leser mögen sich ihr eigenes Bild fertigen. Jedenfalls ist Schweitzer nach wie vor umstritten – als Philosoph wie als »Urwaldarzt«. Seinen Beitrag zur weltweiten nuklearen Abrüstung wird allerdings nur eingefleischte Torheit bestreiten können.

Dr. med. Till Bastian gehört zur Gründergeneration der IPPNW der BRD, er lebt als freier Publizist in Isny/Allgäu.