Die verfahrenen Jahre
Die verfahrenen Jahre
Ein pazifistisches Gedankenspiel zu den 1920er-Jahren in Österreich
von Wolfgang Weilharter
Wie vermeidet man den Eintritt in eine destruktive Eskalationsspirale? In den Jahren 1923/24, also vor 100 Jahren, gründete die Sozialdemokratische Partei Österreichs eine bewaffnete Wehrformation, den Republikanischen Schutzbund. Auch wenn der Entschluss zur Gründung des Schutzbundes verständlich ist, so war er auch ein Beitrag, das Desaster eines zunehmenden Rechtsdralls Österreichs zu beschleunigen. Ob ein Blick über die österreichischen Grenzen bis nach Indien, zu Gandhi und den gewaltfreien Kampagnen sowie deren Schutzgarantie an die Gegner*innen geholfen hätte? Der Beitrag erkundet diese Möglichkeit.
Die 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts: Die verfahrenen Jahre, in denen es einfach nicht gelang, die Weichen richtig zu stellen, aber auch die magischen und faszinierenden Jahre. Magie, Faszination und Verfahrenheit, alles Eigenschaften, die auch und besonders auf das Österreich und das Wien der Ersten Republik von 1918 bis 1934 zutreffen.1 Mit einer gewissen journalistischen Lässigkeit wird in diesem Essay nun gefragt, warum es – angesichts der sonstigen modernen Kreativität und Innovation – nicht möglich war, den Weg in eine sich aufbauende Eskalationsspirale zu vermeiden.
Mit dem Ausdruck »Eskalationsspirale« wird auf ein spezielles Ereignis in den Anfangsjahren der Ersten Republik Österreichs angespielt. In den Jahren 1923/24 beschloss die Sozialdemokratische Partei Österreichs den »Republikanischen Schutzbund« zu gründen. Dabei handelte es sich um eine bewaffnete Formation, eine Privatarmee von beachtlicher Größe, als verständliche Reaktion auf die Bedrohung durch bewaffnete konservative, monarchistische und faschistische Wehrformationen. Mehr darüber weiter unten. In diesem Essay, der sich einem qualifizierten Pazifismus verpflichtet weiß, wird gefragt: Hätte es einen Weg gegeben, auf die Gründung des Schutzbundes zu verzichten, ohne politischen Selbstmord zu begehen?
Und das ist der Hintergrund dieser Frage: Die Sozialdemokratie wird hier als unser Vorfahr betrachtet. Auch dann, wenn man heute liberal, konservativ, grün, oder weiter links steht, wobei die Sache beim Rechtspopulismus kompliziert ist. Wenn oben von einer Welle der Kreativität und der Innovation die Rede war, dann war diese Welle, oberflächlich formuliert, modern – und der politische Ausdruck dieser Modernität war die Sozialdemokratie. (Parlamentarische) Demokratie, Autoritäts- und Traditionskritik, Säkularismus, Wissenschaftsorientierung, Vorbehalte gegen heteronome Religiosität, Neutralität gegenüber ethnischer Herkunft, vor allem gegenüber dem Judentum, Aufwertung des öffentlichen Status der Frau usw. waren überwiegend bei ihr beheimatet. Wobei einzuschränken ist: Ihre Auffassungen von Sozialismus und Klassenkampf, die sich in ihrer verbalen Radikalität auch deutlich von der deutschen SPD unterschieden, zählen nicht zu jenem Erbe, das heute allgemeiner Konsens ist. Aber hier interessiert gleichsam der moderne Anteil am »austromarxistischen« Sozialismus.2 Mit Rückgriff auf eine Strategie in Gandhis Satyagraha-Bewegung wird im Folgenden eine mögliche pazifistische Lösung der Konfliktsituation, die zur Gründung des Schutzbundes hinführte, reflektiert.
Zum Kontext der Gründung des Republikanischen Schutzbundes
Die Geschichte der politischen Auseinandersetzungen in der Ersten Österreichischen Republik reduziert sich über weite Strecken auf die Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien, der Sozialdemokratischen Partei auf der linken Seite und der Christlichsozialen Partei auf der rechten Seite. Es handelte sich im Wesentlichen also nur um zwei und nicht um mehrere maßgebliche »Player«, denn eine kommunistische Partei konnte sich in Österreich neben der Sozialdemokratie nicht etablieren. Auf der konservativen Seite gab es keinen organisierten Liberalismus mehr, und die ansonsten noch vorhandene Großdeutsche Volkspartei war immer wieder Mehrheitsbeschafferin für die Christlichsozialen, hatte aber wenig eigenes Profil.
Das Österreich von 1918 entstand als einer der Nachfolgestaaten der – aufgrund der Niederlage im Ersten Weltkrieg zerfallenden – österreichisch-ungarischen Monarchie. In diesem Jahr wurde in Österreich sodann die Republik ausgerufen und ein sozialdemokratischer Kanzler, Karl Renner, regierte in Koalition mit der Christlichsozialen Partei bis 1920. In dieser ersten Zeit des Umbruchs herrschte einerseits das Elend und die Orientierungslosigkeit, andererseits war die linke Seite tendenziell in der Offensive und die Frage, welcher Sozialismus auf welche Weise zu erreichen sei, dominierte das politische Geschehen. Da sich die Sozialdemokratische Partei für die parlamentarische Demokratie aussprach, hatten bewaffnete Versuche für eine sozialistische Revolution wenig Chance. Parallel dazu bildete sich aber eine komplizierte Vielzahl an paramilitärischen Verbänden auf der konservativen Seite, die entweder christlichsozial, großdeutsch, monarchistisch oder nationalsozialistisch waren. Ihnen allen gemein war die antisozialistische Agenda mit besonderer Sorge vor einer sozialistischen Revolution, die offene oder subtile Gegnerschaft gegen alle Formen der Demokratie, der aggressive Antisemitismus, sowie die Finanzierung durch Teile der Industrie und verwandter Gruppen aus Deutschland. Später kamen als Geldgeber noch das faschistische Italien und Ungarn hinzu.
Gegenläufig zur Konsolidierung der parlamentarischen Demokratie Anfang der 20er-Jahre wuchsen diese konservativen Paramilitärs aber weiter heran, bis sich die Sozialdemokratie im Jahr 1923 nun in der Tat einer bedrohlichen Situation gegenübersah. Denn zusätzlich zu den paramilitärischen Verbänden verlor die Sozialdemokratie im Jahr 1920 erst einmal aufgrund einer Wahlniederlage ihre Regierungsbeteiligung und somit auch ihren Zugriff auf das Verteidigungsministerium samt Armee, die dann unter dem rechten Scharfmacher Karl Vaugoin zu einer christlichsozial geprägten Streitmacht wurde. Im Oktober 1922 fand sodann Mussolinis Marsch auf Rom und damit die faschistische Machtübernahme in Italien statt, was den antidemokratischen und faschistischen Kräften in Österreich Aufwind verschaffte.
Das war nun also die Situation, die die Sozialdemokratische Partei ab 1923 veranlasste, den Republikanischen Schutzbund zu gründen. Wie gesagt: Man kann sie verstehen. Noch dazu war der Schutzbund weitgehend defensiv ausgerichtet, und ihm gebührt der Ehrentitel, überhaupt als erste Kraft in Europa, im Jahr 1934, militärischen Widerstand gegen den Faschismus des christlichsozialen Kanzlers Dollfuss geleistet zu haben, als dieser das Parlament in Österreich ausschaltete.
Doch gab es innerhalb der Partei auch kritische Stimmen. Am interessantesten für den Zusammenhang dieses Essays, ist eine „gemäßigte Gruppe“, von der in einem unveröffentlichten Manuskript eines unbekannten Autors3, wahrscheinlich verfasst in den letzten Monate des Jahres 1922 (vgl. Vlcek 1972, S. 60f.) die Rede ist. Dort lesen wir, dass die Gruppe Vorbehalte anmeldete, nämlich dass ein zukünftiger Schutzbund das Ergebnis einer „streng militärischen Auffassung“ wäre, der „Ausfluss des k.u.k. Militarismus“ 4 und ein „Abklatsch der Frontkämpfer und Hakenkreuzler“. Der militärische Charakter des Schutzbundes würde eine „unnötige Verschärfung der innenpolitischen Gegensätze“ und ein „immer größeres Wettrüsten“ nach sich ziehen. Die Lösung, die angeboten wurde, lautete: Den Aufbau einer militärischen Formation hinauszuschieben und nur den Rohbau einer militärischen Organisation zu errichten, die erst im Ernstfall zu aktivieren wäre.
Doch dieser Einwand, auf den wir noch zu sprechen kommen werden, blieb wirkungslos. Der Schutzbund wurde gegründet und einige Jahre später, gegen die eigene Intention, zu einem Faktor der Eskalation. Denn im Lauf der Jahre wuchsen die Wehrverbände an, sodass die konservativen Heimwehren Ende der 20er Jahre zwischen 20.000 und 50.000 bewaffnetes Personal umfassten, der Schutzbund könnte sich auf 40.000 Mann belaufen haben. All das bei einer Einwohnerzahl der Republik von nur etwa 6,5 Millionen Menschen (Edmondson 1995, S. 265ff.).
Die genannte Eskalation führte sodann 1934 zur Ausschaltung des Parlaments und zum österreichischen Sonderweg des austrofaschistischen, aber anti-nationalsozialistischen Ständestaates und schließlich, 1938 zum widerstandslos akzeptierten Einmarsch Hitlers.5
Dem Gegner ernsthaft umfassende Sicherheit garantieren
Zur weiteren Überlegung, ob die Gründung des Schutzbundes hätte vermieden werden können, soll nun ein Sprung, einige tausend Kilometer entfernt, nach Indien in das Jahr 1919 gemacht werden. Dort baute sich ebenfalls, aufgrund der legitimen, indischen Emanzipationsbestrebungen, eine Eskalationsspirale auf. Und so wie im Österreich der frühen 20er Jahre soll hier eine Episode mit beispielhaftem Charakter beleuchtet werden. Im April 1919 kam es unter anderem im Raum der indischen Stadt Ahmedabad zu Ausschreitungen. Diese fanden anlässlich der von Gandhi maßgeblich mitinitiierten Satyagraha-Kampagne gegen die von der englischen Kolonialregierung erlassenen Gesetze, einem Bündel präventiver Notstandsgesetze, der »Rowlatt-Gesetze« statt. Diese Gesetze riefen auf indischer Seite Empörung hervor. Die indienweite Satyagraha-Kampagne wurde durch die britische Kolonialregierung mit der Erschießung indischer Zivilist*innen durch die Polizei beantwortet, was wiederum Protest auf indischer Seite zur Folge hatte. Im Großraum Ahmedabad wurden im Zuge dieser indischen Gegenproteste sodann mindestens zwei Engländer getötet, sowie Gebäude, Eisenbahn- und Telegrafenanlagen verwüstet. Darüber hinaus wurden britische Zivilist*innen Opfer von Vertreibungen (Brown 1972, S. 175; Rothermund 1997, S. 124). Entsprechend Gandhis Bestreben, Kampagnen wesentlich, nicht nur beiläufig, von Gewalt freizuhalten, und dafür auch Verantwortung zu übernehmen, hielt er am 14. April 1919 eine Rede. In dieser drückte er nur seine Empörung aus, dass Engländer bedroht und vertrieben wurden – er äußerte kein Verständnis für die Gewalt, forderte unbedingte Gewaltlosigkeit ein, und zeigte sich nachgerade entsetzt von den Taten. Die Rede hatte ihren Höhepunkt in folgenden, denkwürdigen Worten:
„Sie [die Engländer] sind unsere Brüder und es ist unsere Pflicht, in Ihnen den Glauben zu wecken, dass ihre Personen uns so heilig sind wie unsere eigenen (…)“ 6 (Gandhi 1999, S. 222).
Was Gandhi in religiös gefärbter Sprache ausdrückte, war die öffentliche Garantie der Unversehrtheit des Gegners. Dabei handelte es sich gerade nicht um schöne Worte, um die die Politik ja nie verlegen ist, sondern die ernstgemeinte Zusicherung der Sicherheit der Gegenseite – innerhalb einer Krisensituation. Gandhi und die Satyagraha-Bewegung waren sowohl an diesem 14. April 1919 aber auch in den nachfolgenden Jahren imstande, diese Garantie aufrechtzuerhalten, als sich die Situation drastisch verschärfte. Die Bedeutung dieser Worte lag nicht unmittelbar darin, dass Gandhi einen bewaffneten Gegenschlag ausschloss. Das tat er zwar implizit auch, aber ein solcher Gegenschlag stand in den damaligen Tagen nicht zur Debatte. Ihre Bedeutung lag darin, dass er als politischer Führer, inmitten eines Kampfes, und gerade nicht als außenstehender Mediator, Vermittler oder Peace-Builder, dem bedrohlichen Gegner die umfassende Sicherheit garantierte. Es ist für den Einfluss der Satyagraha-Bewegung zu beachten, dass die Mobilisierungsfähigkeit – und damit der Aufbau politischer Macht – durch diese Zusicherung und Garantie keinen Schaden erlitt. Die indische Emanzipationsbewegung wurde dadurch nicht als harmloser Gegner „beiseite geschoben.“ 7
Das Gedankenspiel: Gandhis Haltung in der Ersten Republik?
„Das Proletariat, in seinem innersten Wesen friedlich gesinnt, möchte am liebsten nur jene Kampfmittel anwenden, die dem friedlichen Charakter der Demokratie entsprechen. Aber die Wahl der Kampfmittel ist ihm nicht gegeben. Es muss, ob es will oder nicht, mit jenen Waffen kämpfen, die seine Klassengegner ihm auferlegen“ (Deutsch 1926, S. 118)
Dieses Zitat des führenden sozialdemokratischen Politikers und Obmannes des Schutzbundes Julius Deutsch spricht in sozialistischer Tonart die Sprache der von der Diktatur bedrohten Demokratie. Aus dieser Haltung heraus erscheint die Schutzbundgründung also wirklich alternativlos. Doch lässt sich dies zwangsläufig schlussfolgern?
Wir erinnern uns an die Einwände der »gemäßigten Gruppe«, dass der Schutzbund unter anderem eine „unnötige Verschärfung der innenpolitischen Gegensätze“ und ein „immer größeres Wettrüsten“ nach sich ziehen würde. Es gab also Stimmen, die die Problematik erkannten und sogar Schlüsse daraus zogen: Die Gründung einer militärischen Formation sollte hinausgeschoben werden. Bis hierher hören wir die klassischen pazifistischen Argumente, wie sie angesichts von drohenden Eskalationen auch richtig sind. Aber mir als Autor, mit dem unverdienten Verdienst, 100 Jahre später auf die Situation blicken zu können und das noch dazu mit dem Gandhi’schen Beispiel ausgerüstet, drängt sich die Ansicht auf, dass hier ein unvollständiger Pazifismus am Werk war. Mut und Ratlosigkeit treten hier Hand in Hand auf. Mut, weil angesichts des gefährlichen Gegners nicht Zuflucht in der Hysterie gesucht wurde, Ratlosigkeit aber, weil das simple Aufschieben der Schutzbundgründung sicher keine Lösung war, und den Verdacht bestätigt, dass der Pazifismus in seiner Not einfach zum Zurückweichen neigt.
Man vermisst zwei Dinge: Warum wurde nicht der (General-)Streik erwogen, das sozialistische Pendant zu den Satyagraha-Aktionen des Gandhi’schen, zivilen Ungehorsams? Dieser, also der Streik, war der Sozialdemokratie und ihren Gewerkschaften vertraut, es hätte sich also keineswegs um eine Innovation aus dem Nichts gehandelt und eine funktionierende, disziplinierte Organisation, die den Streik getragen hätte, war vorhanden. Was den Streik betrifft, hätte es also eine weitgehende Übereinstimmung mit Gandhi gegeben.
Aber wie wäre der Streik begründet worden? Es ist das Anliegen dieses Essays, besonders diesen Punkt herauszustellen. Es ist nicht vorstellbar, dass die sozialdemokratischen Führer, denen von mir ein moderner Humanismus zugebilligt wird, einen Streik als Alternativoption zu einem militärischen Vorgehen damit begründet hätten, dass das Leben der gegnerischen Personen eben »heilig« wäre. Oder denselben Inhalt zumindest in säkularer Sprache (»schützenswert«) wiedergegeben hätten. Geschweige denn, dass eine solche Begründung von der sozialdemokratischen Gefolgschaft verstanden worden wäre. Vielleicht hätte man noch gesagt, dass man friedliche Mitteln bevorzuge, dass man Blutvergießen verhindern möchte, dass man gegen Gewalt sei. Doch in einer solchen Formulierung liegt ein feiner, aber wichtiger Unterschied zu einer Formulierung, in der man sich als politischer Akteur selber unmissverständlich zur Garantie der Sicherheit der Gegenseite verpflichtet.
Diese Garantie könnte, wie es Gandhi im XIII. Kapitel seines Buches »Satyagraha in Südafrika« erläutert, eine schlechte und eine gute Form haben (Gandhi 1972, S. 103ff.). Die schlechte Form hat das Merkmal von nachlaufender, ängstlicher Besänftigung des Gegners, sie wäre Ausdruck von Schwäche, Angst und Kleinbeigeben und hätte wohl wirklich die befürchtete Niederlage zur Folge.
Die gute Form wäre, dass man diese Garantie aus eigenem Antrieb und mit der Motivation ausspricht, einem selbstgesetzten Maßstab gerecht zu werden. In diesem Fall würde der Garantie der Unversehrtheit des Gegners nicht der zu Recht befürchtete Makel der Schwäche, des bettelnden Nachlaufens, der Nachgiebigkeit und des Relativismus anhaften.
Weiter: Die Garantie hätte ernst gemeint sein und in ihrer Begründung über den kalkulierten Eigennutz hinausgehen müssen. Sie hätte deshalb den Charakter eines nicht mehr weiter begründbaren Bekenntnisses gehabt.8 Wie wird sie für den Gegner glaubwürdig? Diejenigen, die die Garantie aussprechen, brauchen eine Vorgeschichte, die sie glaubwürdig macht. Und, je weiter fortgeschritten der Konflikt ist, umso schwieriger wird es sein, die Sicherheit der Gegenseite mit zu bedenken.
Es wird also einen Kairos, eine günstige Gelegenheit brauchen und nun spricht einiges dafür, dass dieser Kairos 1923/1924 bestand, der allerdings nah und fern zugleich war. Nah: Es bestand aufseiten der Sozialdemokratie eine starke, disziplinierte Organisation, die nur schwer zu übergehen gewesen wäre, hätte sie die Energie statt in den Aufbau des Schutzbundes in die Vorbereitung des Generalstreiks samt akkurater Begründung und Zusicherung der Sicherheit gesteckt. Auch gab es das umfassende, sozialistische Friedensdenken, mit seinen Stärken und seinen Schwächen, das immerhin so gelagert war, dass die Argumente der »gemäßigten Gruppe« nicht als exotisch erschienen. Fern: Dass das Leben der (bewaffneten) Gegner gleich viel wert sei wie das der eigenen Leute, diese Begründung öffentlich abzugeben, lag außerhalb der Vorstellungskraft sowohl der damaligen Führung als auch ihrer Gefolgschaft. Und auch im Kontext zeitgenössischer Geschichtsbetrachtung hat dieses Gedankenspiel für uns Heutige gewiss einen fremdartigen und irrealen Charakter.
So bleibt als Ergebnis eine Frage: Unser sozialdemokratisch-moderner Vorfahr wäre wahrscheinlich eher imstande gewesen, die Garantie der Unversehrtheit auszusprechen als sein vormoderner Gegner christlichsozialer Prägung. Warum aber war er dazu trotzdem nicht imstande?
Anmerkungen
1) Der englische Autor R. Cockett (2023) weist in seinem neuen Buch »Vienna. How the city of ideas created the modern world« wieder einmal, wie schon C.E. Schorske (1993) und W.M. Johnston (2011) auf den erstaunlichen Innovationsgeist in Wien, aber auch in Österreich vor dem Zweiten Weltkrieg hin. Hingewiesen sei u.a. auf Namen wie Freud, Jahoda, Kelsen, Mach, Meitner, Popper, Schönberg, Wittgenstein.
2) Als »Austromarxismus« wird sowohl die theoretische als auch die praktische Seite der österreichischen Sozialdemokratie, vor allem zwischen 1918 und 1934 bezeichnet.
3) Das Manuskript hat folgenden archivarischen Fundort: Österreichisches Staatsarchiv Wien, Aktenbestand „Verschiedene Schriften zur Geschichte des österreichischen Bundesheeres“ AB 584-4-34, Faszikel 23, Akten und Pläne über Waffen im Arsenal und deren Beschlagnahme 1923-1929.
4) K.u.k meint „kaiserlich und königlich“, gemeint ist die Armee der gerade untergegangenen Monarchie.
5) Man kann gegen diese Darstellung nachvollziehbarerweise einwenden, dass hier das Opfer zum Schuldigen gemacht wird. Das soll keineswegs geschehen. Aber es ist dennoch das Anliegen des Essays zu prüfen, ob die Sozialdemokratie, als schwächere, aber aufsteigende Repräsentantin einer modernen Zukunft einen Beitrag zur Deeskalation hätte leisten können.
6) Einen Tag vorher, am 13. April fand etwa 1.000 km entfernt das Massaker von Amritsar mit 379 Toten statt, ebenfalls im Zusammenhang mit der »Rowlatt-Satyagraha-Kampagne« verursacht von englischen Truppen. In seiner Rede geht Gandhi darauf nicht ein, wahrscheinlich, weil er über keine oder nur unzureichende Informationen verfügte.
7) Ich zitiere hier Viktor Klemperer, der über Gustav Landauers Engagement in der Münchener Räteregierung in seinem Tagebuch schreibt: „Landauer (…) scheint wieder lebendig, (…) allen politischen Notwendigkeiten und Selbstverständlichkeiten meilenfern (…) mit Fingern, die von Blut und Gier rein sind (…) und sicherlich bald (…) zu Gewalttaten gedrängt oder von Gewalttaten beiseite geschoben.“ (Klemperer 2015, S. 113)
8) Damit geht die Garantie der Unversehrtheit des Gegners über eine pragmatische Begründung hinaus. Wäre die Garantie nur pragmatisch begründet, bleibt im vorliegenden Fall der Verdacht, dass sie in einem günstigen Moment wieder fallengelassen wird. Damit wird in der Diskussion pragmatische vs. prinzipielle Gewaltfreiheit für letztere Stellung bezogen. Allerdings im Hinblick auf eine konkrete historische Situation, in der ein relatives Machtgleichgewicht herrschte. Die Sozialdemokratie war die schwächere Seite, hatte aber reale Chancen, die Macht zu erobern. Zur genannten Diskussion siehe z.B. Müller und Schweitzer (2011).
Literatur
Brown, J. (1972): Gandhi’s Rise to Power. Indian Politics 1915-1922. Cambridge: University Press.
Deutsch, J. (1926): Antifaschismus. Proletarische Wehrhaftigkeit im Kampf gegen den Faschismus. Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlungen.
Edmondson, C. E. (1995): Heimwehren und andere Wehrverbände. In: Talos, E. u.a. (1995): Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918-1933. Wien: Manz, S. 261 – 277.
Gandhi, M. (1972 [1928]): Satyagraha in South Africa. Ahmedabad: Navajivan Publishing House.
Gandhi, M. (1999): The collected works of Mahatma Gandhi. Band 15. New Delhi: Publications Divisions Government of India.
Gandhi, M. (2011): Die Stimme der Wahrheit. Ausgewählte Werke in 5 Bänden. Hrsg. von Narayan S. Göttingen: Wallstein Verlag.
Johnson, W.M. (2011 [1972]): The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848-1938. Oakland: University of California Press.
Klemperer, V. (2015): Revolutionstagebuch 1919. Berlin: Aufbau.
Müller, B.; Schweitzer, C., (2011): Gewaltfreiheit als dritter Weg zwischen Konfliktvermeidung und gewaltsamer Konfliktaustragung. In: Meyer, B. (Hrsg.): Konfliktregelung und Friedensstrategien. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Springer, S. 101-124.
Rothermund, D. (1997): Mahatma Gandhi. Eine politische Biographie. München: C.H.Beck.
Schorske, C. E., (1993 [1980]): Fin-de-siecle Vienna. Politics and culture. New York: Random House.
Vlcek, C. (1972): Der Republikanische Schutzbund in Österreich. Geschichte, Aufbau und Organisation. Wien: Univ. Dissertation.
Wolfgang Weilharter ist Projektmanager und Mediator am »Austrian Institute for Peace/Österreichisches Friedenszentrum« in Stadtschlaining und Wien mit dem Schwerpunkt »Kommunale Friedens- und Konfliktarbeit«.