Pazifismus in »postfaktischen« Zeiten

Pazifismus in »postfaktischen« Zeiten

von Christiane Lammers

Sich in diesen Zeiten dem Thema Pazifismus zuzuwenden, wirkt nahezu realitätsfremd und scheint nur »postfaktisch« begründbar. Ist doch Gewalt das Mittel, auf das derzeit der Fokus gelegt wird, um die Bevölkerung wieder in Sicherheit zu »wiegen«. Kaum ist der US-amerikanische »Schutzschirm« durch den neuen Präsidenten in Frage gestellt, schon wird wie selbstverständlich die Kompensation durch europäische, insbesondere deutsche, Aufrüstung gefordert und wohl auch umgesetzt. Beim Sondergipfel auf Malta beschlossen die Regierenden Europas Anfang Februar sogar, mit (Staats-) Gewalt gegen Flüchtlinge vorzugehen. Denn nichts anderes besagt die Entscheidung, libysche Küstenwache und Polizeikräfte zu trainieren und technisch besser auszustatten. Hohl klingt dabei die Rede von den »europäischen Werten«.

Sind die bekannten und überzeugenden Ansätze, die Ursachen von Konflikten zu bearbeiten, Gewaltspiralen durch Dialog auf Augenhöhe aufzubrechen, Menschen- und Völkerrechte zu schützen, inzwischen nicht mehr das erste, sondern das allerletzte Mittel der Wahl?

Im vergangenen Jahr fand auf Betreiben des Auswärtigen Amts ein intensiver, wenn auch von der breiten Öffentlichkeit wenig wahrgenommener Prozess statt: Im Kontext der Umsetzung der so genannten neuen deutschen Verantwortung wurde von der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Fach-Community über die Inhalte deutscher Leitlinien für Krisenengagement und Friedensförderung beraten. Mehr als 20 Veranstaltungen mit jeweils eigenem thematischen Schwerpunkt fanden statt. Diskutiert wurde über die Bedeutung der Zivilgesellschaft und der wirtschaftlichen Akteure für die Konfliktbearbeitung, über den Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Konfliktprävention, Frühwarnmechanismen, transatlantische Zusammenarbeit, den Beitrag der Vereinten Nationen und der Agenda 2030 und vieles mehr.

Die einzelnen Gesichtspunkte sind detailliert in den Fachbeiträgen auf der Webseite des Projekts »Peacelab2016« nachzulesen. Stichworte, die immer wieder auftauchten, sind Kontextrelevanz, »local ownership«, Praxis von den Zielen her denken, Professionalisierung des eigenen Handelns (Mediation, Botschaftsarbeit), menschenrechtsbasiertes Verständnis von internationaler Sicherheit sowie die Benennung von der Logik des Friedens folgenden Werten, Normen und Prinzipien. Der Einsatz von Gewaltmitteln wird bis auf wenige Ausnahmen nicht thematisiert – es scheint unter den beteiligten Fachleuten unstrittig zu sein, dass der Primat des Zivilen die prima ratio ist. Skepsis bleibt allerdings angebracht, ob diese Erkenntnis in Regierungshandeln mündet, konkret z.B. in den Leitlinien wiederzufinden sein wird.

Auffällig ist, dass in sehr vielen Peacelab-Beiträgen die Evaluation des eigenen Handelns gefordert wird, also die Überprüfung von Maßnahmen, Instrumenten und Entscheidungen der deutschen Regierung auf ihre Friedensverträglichkeit. Hierfür sollen die zuständigen Ministerien geeignete Strukturen und Verfahren schaffen. Aus Fehlern nicht zu lernen, keine Konsequenzen aus bisherigen Erfahrungen zu ziehen, wird von den Fachleuten als ein Hauptdefizit wahrgenommen.

Hier, so scheint mir,
knüpfen die im Schwerpunkt »Facetten des Pazifismus« abgedruckten Beiträge an.

Der Pazifismus bildete sich in seinen unterschiedlichen Ausprägungen in Europa als Gegenkonzept zu dem nationalistisch geprägten Militarismus heraus. Die Verarbeitung der Untaten des Ersten und des Zweiten Weltkriegs führte nicht nur zur Ausweitung des Völkerrechts und zur Gründung der Vereinten Nationen, sondern auch zu einem von Verantwortung geprägten, von pazifistischem Zeitgeist beeinflussten Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Aufgrund der persönlichen Kriegserfahrungen wurde Pazifismus nicht nur als Gestaltungsprinzip für die Staatenwelt gesehen, sondern in zivilgesellschaftliches Engagement eingebracht. »Die Würde des Menschen ist unantastbar« macht nur dann einen Sinn, wenn der Mensch an sich etwas Gutes ist. Die im Pazifismus angelegte Verknüpfung zwischen Individuellem und Politischem kam auch zum Ausdruck in der Ausarbeitung friedenspädagogischer Konzepte, die nichts an Aktualität verloren haben.

Der Pazifismus wurde in seiner Geschichte immer auch von Diskreditierung begleitet. Trotz nachweisbarer Erfolge und Möglichkeiten des Konzepts wurden und werden Pazifist*innen in der einen oder anderen Variante als verantwortungslos bezeichnet. Die zur Verfügung stehenden Gewaltmittel gelten nach wie vor als unhinterfragter (oder nicht zu hinterfragender) Ausdruck staatlicher Handlungsmacht – auch dies wurde im Peacelab-Prozess deutlich. Nur wenige wagten die Gretchenfrage zu stellen: Kann es sein, dass die Militäreinsätze der vergangenen Jahren gescheitert sind? Sind die Militärausgaben schon in ihrer heutigen Höhe ein kontraproduktiver Beitrag zum Frieden in der Welt?

Es bleibt zu hoffen, dass sich Geschichte nicht wiederholt, sondern Erfahrungen als das zur Kenntnis genommen werden, was sie sind: als Fakten. Schon deshalb sollten Sie einen Blick in dieses Heft werfen.

Ihre
Christiane Lammers

»Gütekraft« transportiert Gandhis Impulse besser

»Gütekraft« transportiert Gandhis Impulse besser

Antwort auf Thomas Nauerth in W&F 2-2015

von Martin Arnold und Reinhard Egel-Völp

Die Impulse von Gandhi und die Erfolge des gewaltfreien Vorgehens sind nach wie vor von großer Bedeutung. Friedensforschung und -bewegung, Politik und Öffentlichkeit können diesen Erfahrungsschatz, auch den der deutschen Revolution 1989 (vgl. Arnold 2014), noch viel wirksamer als bisher nutzen. Martin Arnold und Reinhard Egel-Völp sahen eine unzureichende Vermittlung des Begriffes als mitverantwortlich für die mangelnde Rezeption und führten daher 1993 ein neues Schlüsselwort ein: »Gütekraft«. Thomas Nauerth begründete in W&F 2-2015 (S.48-50), warum es „zwingend […] bei der alten Terminologie zu belassen“ sei: bei »Gewaltfreiheit« und »Gewaltlosigkeit«. Die Autoren antworten hier, warum sie »Gütekraft« für einen geeigneteren Begriff halten.

Wenn Thomas Nauerth – bei aller Kritik an Gütekraft – am Ende meint, »Kraft« und »Güte« helfen zu erläutern, „wie gewaltfreies Handeln geht, wieso es wirken kann“, dann sind wir uns im Wesentlichen einig. Denn auch wir meinen: „Die […] Geschichten von King, Gandhi, Goss-Mayr und vielen anderen müssen tradiert, erinnert und immer wieder erzählt werden.“

Das damit verbundene Problem erwähnt Nauerth – Wolfgang Hertle zitierend – selbst: dass bei »nonviolence« immer „die Abwesenheit von etwas Starkem [Gewalt], also Schwäche“ mitschwingt. Wer, so darf man fragen, interessiert sich für Geschichten, die mit Schwäche assoziiert werden? Das Erzählen genügt oft eben nicht, damit „das Wort »Nonviolence« […] kraftvoll konnotiert“ ist. Um diese Vorgehensweise für sich zu erwägen, brauchen viele auch eine Vorstellung davon, wie sie wirkt.

Wir möchten Missverständnisse darüber ausräumen.

1. Missverständnis: „[…] dass man gütig sein muss, um gewaltfrei handeln zu können“

Wir sprechen nicht von Gütekräftig-Sein als Eigenschaft bestimmter Menschen im Unterschied zu anderen. Denn Gütekraft-Potenz steckt in allen. Diese Annahme macht gewaltfreies Vorgehen stark. Sie ist deshalb von zentraler Bedeutung. Dies begründet die Benennung. Damit sind weitere Fragen fast schon beantwortet: „Und wie erklärt sich der Erfolg gewaltfreier Aufstände […] von Menschen, die weder etwas von gewaltfreier Aktion noch gar von […] Gütekraft gehört haben[…]?“ Weil die Gütekraft-Potenz, die Neigung, anderen mit Wohlwollen und Gerechtigkeit zu begegnen, uns Menschen wie die Sprechfähigkeit in die Wiege gelegt ist, wirkt entsprechendes Handeln ansteckend.

Und: „[…] man müsse eine besondere Form der »Heiligkeit« haben“. Die Unterscheidung von Eigenschaften des Handelns und Eigenschaften der handelnden Person ist nicht nur in der Tradition Gandhis, sondern auch in der christlichen grundlegend. „Der Eindruck, es käme auf individuelle Güte an, um gütekräftig handeln zu können“, ist also falsch.

Als Theologe stellt Nauerth fest: „Gottes gute Kraft wirkt durch uns […] Die Kraft ist nicht in uns, nicht wir sind gütekräftig“. In der Tat, gütekräftig sind nicht wir als Personen, sondern unsere Haltung und Handlungen können gütekräftig sein. Dass die Kraft dazu auch in uns ist, schreibt Papst Franziskus in »Laudato si’«: „Heiliger Geist, […] du lebst auch in unseren Herzen, um uns zum Guten anzutreiben.“ (Papst Franziskus 2015, S.217) Quäker nennen diese Kraft das Göttliche in jedem Menschen. Die UN-Menschenrechtscharta umschreibt sie mit »Vernunft und Gewissen«. Sie ist etwas Allgemein-Menschliches. Der Begriff »Gütekraft« würdigt dies: Er ist weltanschaulich offen.

2. Missverständnis: „Gewaltlos zu sein scheint auszureichen“

Wer kann behaupten, gewaltlos zu sein? Gandhi meinte, das kann niemand vor dem Tod erreichen. Gibt es also mehr oder weniger gewaltlos? Welches Maß „scheint auszureichen“?

Befremdlich wirkt Nauerths Verdacht der „Infizierung mit […] herrschaftsförmige[m] Denken […] Effektivität, Stärke und Schnelligkeit sind Erfolgskriterien der kapitalistischen Spätmoderne“. Gütekräftiges Handeln steht zumeist im Gegensatz zu Herrschaft. Menschen effektiv, stark und schnell zu retten, oder wenn Menschen ihre miserablen Lebensverhältnisse effektiv, stark und schnell verbessern – das muss nicht „herrschaftsförmige[m] Denken“ entspringen.

„Gewaltfreies Handeln ist immer auch ein Unterlassen […], Nicht-Unterstützung von Unrecht und Gewalt.“ Ja, Nichtzusammenarbeit ist ein Grundelement des gütekräftigen Vorgehens. Nur dem »immer« stimmen wir nicht zu: Das »konstruktive Programm« war für Gandhi auch allein »satyagraha«-Handeln. Birgit Berg drückte es auf einem Plakat so aus: „Die überzeugendste Form des Nein zum Unzumutbaren ist das Ja zu den reiferen Möglichkeiten.“

3. Missverständnis: „Aufgabe der Wörter »Gewaltfreiheit« bzw. »Gewaltlosigkeit«“

Wir plädieren nicht dafür, diese Begriffe aufzugeben, sondern sie in ihrem allgemeinverständlichen Wortsinn zu gebrauchen: »keinen Schaden zufügen«.

Gemeinsam weiterarbeiten

Nauerth fragt, „[…] welches Wort alle Aspekte einer bestimmten Praxis umfasst“. Diesen Anspruch kann wohl kein Wort erfüllen, denn, wie er selbst feststellt, „der Kontext [ist] entscheidend“.

Gandhi fand für die Aktivitäten, die ihn und sein Konzept bekannt machten, kein geeignetes Wort vor. Er formte 1908 das Wort »satyagraha« für „die Kraft, die aus Wahrheit und Liebe geboren wird“ (Gandhi 1999 Vol. 34, S.93 [Übers. M.A.]; vgl. Arnold 2011b). Leider übersetzte er es nicht ins Englische, sondern gab »satyagraha« mit der Übersetzung eines anderen indischen Wortes wieder: ahimsa, Nicht-Gewalt, non-violence. In Indien benennt dieser Begriff im Unterschied zu unserem westlichen Verständnis eine hoch geachtete Tradition innerer Stärke.

Als Insider schreibt Nauerth: „Das Wort »Gewaltfreiheit« […] ruft beeindruckende Namen und große Geschichten in Erinnerung. Mohandas Gandhi, Martin Luther King, Hildegard Goss-Mayr, die Menschen in Südafrika und viele, sehr viele andere kämpften unter der Flagge »Nonviolence«.“ Worte ermöglichen Verständigung, wenn Sprecher und Hörer ungefähr dasselbe damit assoziieren. Protagonist_innen der »nonviolence« erkannten den Mangel dieses Wortes längst (Arnold und Egel-Völp 2011). Martin Luther King benutzte es auch, aber sein Hauptwerk heißt »Strength to Love«. Auch Journalisten vermeiden in Titeln die Begriffe »Gewaltlosigkeit« oder »Gewaltfreiheit«, betonen dagegen den Kraft-Aspekt: „Die Macht des Widerstands – Salzmarsch und Sit-ins“ (ZDF 2014), „Die Macht der Mutigen“ (DER SPIEGEL 1995).

In vielen Bezeichnungen ist es ähnlich: Gütigkeit – die zweckmäßigste und intensivste Kraft (Albert Schweitzer), Kraft der Gerechtigkeit (Lanza del Vasto), Würde anbieten (Philippinen), Liebe, Nächstenliebe, Feindesliebe, Geduld, Kraft des Heiligen Geistes (Neues Testament), Kraft der Gewaltlosigkeit (Hildegard Goss-Mayr), force tranquille (Frankreich), Jesus-Strategie, Dritte Macht (Egon Spiegel), integrative Konfliktbearbeitung (Jeffrey Z. Rubin/Dean G. Pruitt/Sung Hee Kim), konstruktive Konfliktaustragung (Rainer Steinweg), firmeza permanente (Lateinamerika), Macht des Gewissens (Siegfried Fischer-Fabian), People Power (Philippinen), Liebeskraft (Horst Eberhard Richter), Macht der Armen (Gustavo Gutiérrez), Der Dritte Weg (Walter Wink), Unverletzende Selbstbehauptung (Eva Marsal), Biophilie (Erich Fromm), Kraft der Empathie (Marshall Rosenberg). Viele Ansätze enthalten die Annahme der Gütekraft-Potenz.

Brauchen wir das Wort »Gütekraft«?

Wir brauchen das Wort »Gütekraft« nicht unbedingt. Was wäre, wenn Gandhi auch im Englischen »satyagraha« gesagt hätte? Ebert, Sternstein, Hertle und viele andere mussten auch »Gewaltfreiheit« wortreich erklären. Das ist bei »Gütekraft« nicht anders.

Was wäre, wenn Kings Ausdruck »strength to love« übersetzt worden wäre? Die Größe des Wortes »Liebe« hielt uns (wie auch Gandhi seinerzeit) davon ab. Was wäre, wenn Hildegard Goss-Mayrs Mitbringsel von den Philippinen »Würde anbieten« sich verbreitet hätte? So war es nicht. Und so ist es auch mit dem Wort »Gütekraft« bisher nicht.

Die Arbeitsgruppe Gütekraft (guetekraft.net) hat 1999 ihre Diskussion pragmatisch beendet, indem sie »Gütekraft« als Arbeitsbegriff annahm, „bis ein besserer gefunden wird“. So bieten wir »Gütekraft« im Sinne von Nauerths Schlusssatz weiter an. Und wenn der Begriff nur dazu dient, die Wirkkraft aktiver Gewaltfreiheit deutlicher zu machen und Menschen dafür zu interessieren, dann hat er zu etwas gedient.

Wir brauchen mehr Gütekraft-Forschung und -Praxis!

Begriffe geben Hinweise auf Inhalte. Hildegard Goss-Mayr schreibt: „Ich sehe sehr deutlich die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Erforschung und Annäherung an den Begriff der Gütekraft. Die Humanwissenschaften haben schon sehr wichtige Elemente der Gütekraft ans Licht gebracht.“ (Goss-Mayr 2002, S.16) Die Gütekraft-Forschung beschreibt die drei Hauptwirkungselemente »Eigentätigkeit, Ansteckung und massenhafte Nichtzusammenarbeit«. Sie zeigt sechs Entfaltungsstufen auf bis hin zur dritten Eskalationsstufe »Massenhaftes Aufkündigen der Unterstützung des Missstand-Systems, Alternativen aufbauen«. Sie stellt das Erklärungsmuster »Reframing« dar sowie die »Umorientierung«, die die Fähigkeit fördert, gütekräftig zu handeln (Arnold 2011a). Die Traditionen um Gandhis Impulse so unter dem Aspekt der Wirkungsweise zu betrachten, „[bietet für] alle, die sich […] mit Wegen zur Überwindung von Gewalt auseinandergesetzt haben, […]eine entscheidende Weitung und Korrektur des Blicks“, meint Konrad Raiser, ehemaliger Generalsekretär des Weltkirchenrats (Ökumenische Rundschau 4/2012, S.512).

Mut zeigen, wohlwollend Kontakt aufnehmen, Schläge hinzunehmen bereit sein, nicht zurückschlagen, nicht zurückweichen, auf Gerechtigkeit bestehen: Aus diesen Elementen besteht, ganz kurz gefasst, Gandhis wirksame Streitkunst in der Praxis (Arnold 2015).

Literatur

Martin Arnold (2014): Die Friedliche Revolution 1989: Wie Friedensgebete ihr das Tor öffneten – dargestellt am Beispiel von Leipzig. Fakten – Wirkung der Gütekraft – Bedeutung. Aachener Friedensmagazin aixpax.de, Dezember.

Martin Arnold (2015): Wirksam durch Gütekraft. Online auf martin-arnold.eu.

Martin Arnold (2011a): Gütekraft. Ein Wirkungsmodell aktiver Gewaltfreiheit nach Hildegard Goss-Mayr, Mohandas K. Gandhi und Bart de Ligt. Baden-Baden: Nomos.

Martin Arnold (2011b): Gütekraft – Gandhis Satyagraha. Overath: Bücken & Sulzer.

Martin Arnold und Reinhard Egel-Völp (2011): Gandhi neu entdecken: Von der Norm zur Kraft. Gewaltfreiheit – nur etwas für „Kleinmütige, Schwächlinge und utopische Pazifisten“? online unter guetekraft.net.

Mahatma Gandhi (1999): Electronic Book of The Collected Works of Mahatma Gandhi. Hrsg von Publications Division . New Delhi: Icon Softec, CD-ROM.

Hildegard Goss-Mayr (2002): Elemente der Gütekraft – An Hand von Beispielen erklärt. gewaltfreie aktion, Jg. 34, Heft131, S.16-25.

Mirjam Mahler und Martin Arnold (2013): »Gewaltfreiheit« -> »Gütekraft«! Minden: Bund für Soziale Verteidigung e.V. Informationsblätter.

Papst Franziskus (2015): Enzyklika Laudato si‘. Über die Sorge für das gemeinsame Haus. 24. Mai 2015.

Dr. Martin Arnold, Essen und Reinhard Egel-Völp, Overath, sind seit Anfang der 1980er Jahre friedenspolitisch engagiert. Sie waren bzw. sind in verschiedenen Gruppen und Vereinen aktiv, darunter Ohne Rüstung Leben, Gewaltfreie Aktionsgruppen, Ökumenische Aktion Steuern zu Pflugscharen im Netzwerk Friedenssteuer, Gemeinschaft der Arche des Gandhischülers Lanza del Vasto, Gewaltfreie Kommunikation (Marshall Rosenberg) u.a.

Liebe statt Güte

Liebe statt Güte

Warum am Wort »gewaltfrei« festzuhalten ist

von Thomas Nauerth

Binnen weniger als zwanzig Jahren etablierte sich in Teilen der Friedensforschung und – bewegung unter Verweis auf Gandhis Verständnis von Gewaltlosigkeit bzw. Gewaltfreiheit ein neues Wort: „In den 1990er Jahren haben wir uns entschieden, »Satjâgrah« mit »Gütekraft« wiederzugeben“, erinnerten sich vor wenigen Jahren zwei damals an der Wortfindung beteiligte Friedensforscher.1 Eine kritische Debatte über diese Neuverdeutschung, über die immer häufigere Ersetzung der bisherigen Vokabeln »Gewaltlosigkeit« oder »Gewaltfreiheit« durch »Gütekraft«, fand bislang nicht statt. Der Autor dieses Artikels rät zur Vorsicht bei der Verwendung des Begriffes. »Gütekraft« als Wort helfe in der Debatte um Gewalt und Gewaltfreiheit nicht entscheidend weiter und habe zudem verschiedene Nachteile, die bedacht werden wollten und müssten.

Das Ausgangsproblem der Wortneuschöpfung »Gütekraft« liegt in einer seit langem bekannten, vielfältig beklagten und intensiv diskutierten Problematik des Wortes »Nonviolence« bzw. der entsprechenden deutschen Bezeichnungen »Gewaltlosigkeit« oder »Gewaltfreiheit«:

„Die Bezeichnung »Non-violence« ist für Nicht-Insider zumindest im Westen geradezu ein irreführender Begriff. Dies ist keine neue Einsicht. So schreibt Wolfgang Hertle […], der sich jahrzehntelang intensiv praktisch und theoretisch mit der Gandhi-Tradition beschäftigt hat: ‚Das sprachlich begriffliche Problem besteht, seit […] versucht wurde, die Philosophie und Praxis M. K. Gandhis in mitteleuropäische Sprachen zu übersetzen. Ob Gewaltlosigkeit oder Gewaltfreiheit, ob nonviolence oder Non-violence – immer schwingt die Abwesenheit von etwas Starkem, also Schwäche mit (selbst wenn diese eine negative Konnotation hat), der Begriff drückt […] nichts Positives und Kraftvolles aus.“ (Arnold und Egel-Völp 2011, S.5)

So einleuchtend solche Überlegungen auf den ersten Blick sein mögen, so viele Fragen stellen sich bei näherem Hinsehen.

Zunächst ist zu fragen, ob die Problematik bezüglich der Wörter »Gewaltfreiheit« bzw. »Gewaltlosigkeit« wirklich so groß sein kann. Nie gewinnt ein Wort seine Bedeutung allein durch seine Wortbestandteile, immer ist letztlich der Kontext entscheidend. Die Aussage, diese Wörter drücken „nichts Positives und Kraftvolles“ aus, zeugt zudem von einer Unterschätzung des Phänomens, dass Wörter immer auch durch reale Geschichte und Geschichten in ihrer Bedeutung geprägt sind. Das Wort »Gewaltfreiheit« ist konnotiert durch die Erinnerung an die großen gewaltfreien Bewegungen des 20. Jahrhunderts, es ruft beeindruckende Namen und große Geschichten in Erinnerung. Mohandas Gandhi, Martin Luther King, Hildegard Goss-Mayr, die Menschen in Südafrika und viele, sehr viele andere kämpften unter der Flagge »Nonviolence«. Es sind positive und äußerst kraftvolle Geschichten und Traditionen, in die man sich mit diesem Wort stellt. Kann man das einfach aufgeben, ein Wort, das seit Jahrzehnten eine bestimmte Praxis bezeichnet, von der wir heute noch alle lernen? Kappt man damit nicht auf semantischem Weg eine Traditionslinie, die aufzugeben sowohl sinnlos als auch gefährlich scheint?

Wenn Arnold schreibt, die „bisher übliche Begrifflichkeit hält vermutlich viele Menschen davon ab, sich für die Möglichkeiten der von Gandhi und anderen entwickelten Konzepte zu interessieren“ (Arnold 2012, S.9), so ist zu fragen, ob es durch Aufgeben bisher üblicher Begrifflichkeiten Menschen nicht geradezu unmöglich gemacht wird, die Möglichkeiten von Konzepten zu entdecken, die eben noch ganz anders geheißen haben.

Allein diese Überlegung scheint mir zwingend dafür zu sprechen, es bei der alten Terminologie zu belassen. Denn die Geschichte und die Geschichten von King, Gandhi, Goss-Mayr und vielen anderen müssen tradiert, erinnert und immer wieder erzählt werden – und damit ist das Wort »Nonviolence« dann auch automatisch positiv und kraftvoll konnotiert.

Nicht unsere Güte, sondern Gottes Kraft

Gütekraft ist zudem ein Wort, das ebenso nach Erklärung verlangt, wie es das Wort »Gewaltlosigkeit« bzw. »Gewaltfreiheit« immer schon getan hat. Die Wortschöpfer betonen diese Erklärungsbedürftigkeit ausdrücklich:

„Auch das ist kein sofort eingängiges Wort – aber wohl brauchbar, bis ein besseres zur Verfügung steht. Um es in den gemeinten Zusammenhang einzufügen, können wir einstweilen wie die Kooperation für den Frieden […] von der »Gütekraft der Gewaltfreiheit« sprechen. Sprachlich gesehen ist Gütekraft die Fähigkeit, etwas zu bewirken, die in der (personengebundenen) menschlichen Haltung der Güte und der (überpersönlichen) Qualität der Güte – vgl. »Gütesiegel« – liegt.“ (Arnold und Egel-Völp 2011, S.5)

Wenn »Gütekraft« als nicht sofort eingängiges Wort erst gedeutet werden muss, dann ist der Hauptvorteil dieses neuen Wortes schon wieder verspielt. Die hier gegebene Deutung von Gütekraft wirft zudem erhebliche inhaltliche Probleme auf. Es gehe um eine Fähigkeit, etwas zu bewirken, „die in der (personengebundenen) menschlichen Haltung der Güte und der (überpersönlichen) Qualität der Güte“ liegen soll. Unbenommen der rätselhaften Rede von einer »überpersönlichen Qualität der Güte« scheint dies doch zu bedeuten, dass man gütig sein muss, um gewaltfrei handeln zu können. Ist dies wirklich Aussage, Praxis und Erfahrung der großen gewaltfreien Bewegungen? Heißt den Feind zu lieben, ihm gütig zu sein? Und wie erklärt sich der Erfolg gewaltfreier Aufstände, der Erfolg von Menschen, die weder etwas von gewaltfreier Aktion noch gar von gütig sein und Gütekraft gehört haben, Menschen, die schlicht deswegen gewaltfrei agieren, weil Gewalt ihnen nicht zur Verfügung steht?

Das Problem ist ja nicht nur die Frage, welches Wort alle Aspekte einer bestimmten Praxis umfasst, sondern immer auch, welche Assoziationen es weckt. Die Rede von einem »gütekräftigen« Handeln klingt nun nicht nur ziemlich fremd, sondern kann die Assoziation hervorrufen, man müsse eine besondere Form der »Heiligkeit« haben: eben besondere Güte.2 »Gütekraft« ist insofern kein sehr einladendes Wort – es schmeckt nach (moralischer) Anstrengung.

Der Eindruck, es käme auf individuelle Güte an, um gütekräftig handeln zu können, ist aus einem weiteren Grund problematisch. Es gehe, so heißt es, bei dem Wort »Gütekraft« um „die Kraft, die bei gewaltfreiem Vorgehen zum Abbau sozialer Missstände zur Wirkung kommt und Grundlage für den Erfolg ist“ (Mahler und Arnold 2013). Damit ist die wichtige Frage aufgeworfen, um welche Kraft es eigentlich bei gewaltfreiem Handeln geht. Vielleicht kommt diese Kraft, die ich bei gewaltfreiem Handeln durchaus erfahren kann, überhaupt nicht von meiner Güte, sondern von ganz woanders her: von dort, wo jede Güte und jede Gutheit ihren Ursprung hat? Weil ich auf Gewalt verzichte und gewaltfrei handele, öffne ich die Möglichkeit, dass gütig mir das GUTE kräftig zur Seite steht. So jedenfalls Theorie und Überzeugung des Theologen Egon Spiegel: „Weil da etwas da ist, das dem menschlichen Zusammenleben als beziehungs- bzw. schalomstiftend inhärent ist – die Juden haben dafür die Chiffre JHWH –, deshalb können […] Menschen auf Gewalt verzichten, ja müssen es.“ (Spiegel 2008)

Da greift jemand ein, wenn wir uns waffenlos auf den Weg der Gerechtigkeit begeben. Hildegard Goss-Mayr, eine der großen gewaltfreien Aktivistinnen des 20. Jahrhunderts, scheint genau dies erfahren zu haben: „Wir wussten, dass in dieser Pioniersituation letztlich nicht wir es sind, die wirksam werden, sondern Gottes Kraft durch uns.“ 3 Gottes gute Kraft wirkt durch uns, wenn wir uns ohne Gewalt auf den Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit begeben. Die Kraft ist nicht in uns, nicht wir sind gütekräftig, zumindest brauchen wir es nicht zu sein. Gewaltlos zu sein scheint auszureichen.

Wider den Glauben an Gewalt und Macht

Eine weitere Überlegung setzt an bei der Opposition zu gewalttätigem Handeln, die den Wörtern »Gewaltfreiheit« und »Gewaltlosigkeit« von ihren Wortbestandteilen her eigen ist. Vielleicht kommt es auf eine solche Opposition doch stärker an, als die Verfechter des Wortes »Gütekraft« meinen.

Der amerikanische Theologe Walter Wink spricht vom Glauben an die erlösende Macht der Gewalt. Er sieht diesen Mythos als die eigentliche Religion der Moderne: „Der Glaube, dass Gewalt »rettet«, ist so erfolgreich, weil er uns keineswegs wie ein Mythos vorkommt. Gewalt erscheint einfach in der Natur der Dinge zu liegen. Sie funktioniert. Sie erscheint unausweichlich, das letzte – oft auch das erste – Mittel bei Konflikten. Wenn eine Gottheit die Instanz ist, an die man sich wendet, wenn alles andere fehlschlägt, dann stellt die Gewalt mit Sicherheit eine Gottheit dar.“ (Wink 2014)

Die Rede von Gewaltfreiheit und Gewaltlosigkeit steht unverkennbar in radikaler Opposition zu dieser Gottheit und zu diesem Mythos. Vielleicht ist genau dies das wirklich Anstößige dieser Wörter – und zugleich auch ihre Kraft. Sie entlarven den herrschenden Mythos bzw. sie zeigen auf, dass er lediglich ein Mythos ist. Vielleicht brauchen wir gerade deswegen die Anstößigkeit und Provokation, die Irritation, die in »gewaltfrei« bzw. »gewaltlos« enthalten ist. »Gütekraft« könnte möglicherweise bereits infiziert sein von dem Grundmythos des Herrschaftssystems: ohne Kraft und Stärke keine Wirkung.

Eine solche Infizierung mit modernem herrschaftsförmigen Denken ist jedenfalls in folgendem Zitat unverkennbar: „Die Aussage »Gütekraft ist stärker als Gewalt« bedeutet also zweierlei. Erstens: Im Einsatz für mehr Gerechtigkeit ist gütekräftiges Vorgehen der eigenen Seite effektiver und wirkt schneller als ein Vorgehen, das den Gegner schädigt. Zweitens: Mit Gütekraft kann Gewalt der anderen Seite effektiver bzw. eher überwunden werden als mit gewaltsamem Vorgehen.“ (Arnold und Egel-Völp, S.7).4

Effektivität, Stärke und Schnelligkeit sind Erfolgskriterien der kapitalistischen Spätmoderne; klassische Kennzeichen gewaltfreien Handelns sind es gerade nicht.5Gewaltfreies Handeln ist langsame Arbeit an der Verwandlung der Feinde. Sie ist insofern auf lange Sicht nachhaltiger und effektiver als jedes gewaltsames Vorgehen – für den Fall, dass ihr das Wunder der Verwandlung gelingt.

Vom seligen gewaltfreien Lassen

Vollständig unsichtbar wird bei Aufgabe der Wörter »Gewaltfreiheit« bzw. »Gewaltlosigkeit« überdies der für die Theorie gewaltfreien Handelns so wichtige Aspekt des »Los-Lassens« (vgl. dazu Hahn 2014). Gewaltfreies Handeln ist immer auch ein Unterlassen von an sich denkbaren, möglicherweise kulturell auch üblichen Handlungen. Der Bereich des (Los-) Lassens ist umfangreich: Es geht um Nicht-Tun von Unrecht und Gewalt und von Nicht-Beteiligung und Nicht-Unterstützung von Unrecht und Gewalt. Man kann und muss vieles lassen, und vor allem, man kann mehr lassen, als man je aktiv wird handeln können. Es geht ja bei der notwendigen Überwindung des Herrschaftssystems im Sinne Winks6 nicht nur um einen gewaltfreien Kampf gegen aktiv ausgeübte Gewalt, es geht immer auch um die Bekämpfung struktureller Gewalt, auf die sich die konkreten Gewalt- und Herrschaftssysteme dieser Welt stützen. Denen muss ich nicht gütig meine Kraft zeigen, denen muss ich ihre Stützen nehmen, indem ich mir ein »Lassen« gönne.7

Im Wort »Gewaltlosigkeit« scheint mir dieser wichtige Aspekt des Lassens noch am ehesten widergespiegelt. Das Wort vermag insofern gerade von seinen so häufig als negativ empfundenen Wortbestandteilen her zumindest diesen einen wichtigen Aspekt gewaltfreien Handelns sehr adäquat zu benennen.

Insgesamt scheinen also die Vorteile des Wortes »Gütekraft« die damit unweigerlich auch mitlaufenden Nachteile keineswegs aufzuwiegen. Man sollte bei »Gewaltlosigkeit« bzw. »Gewaltfreiheit« bleiben. Wenn man erläutert, wie gewaltfreies Handeln geht, wieso es wirken kann, kann man immer noch dort, wo es sich anbietet, von »Kraft« und von »Güte« sprechen.

Anmerkungen

1) Martin Arnold und Reinhard Egel-Völp (2011), S.5.

2) Vgl. etwa die Aussage: „Gütekräftige Verhaltensweisen fließen aus inneren Haltungen, die ebenfalls als gütekräftig bezeichnet werden können und wesentlich die Würde des Gegners achten.“ (Arnold 2001). Zur Frage der »Haltungen«, die hinter einem gewaltfreien Lebens- und Handlungskonzept stehen, und zur Problematik moralischer Überhöhungen vgl. Nauerth (2000).

3) Zitiert nach Paul-Gerhard Schoenborn: Gütekraft – von Charismatikern der Gewaltfreiheit lernen. Zwischenrufe zu Kirche und Gesellschaft; zwischenrufe-diskussion.de. Bei diesem Text handelt es sich um eine Rezension von Martin Arnolds Band »Gütekraft – Hildegard Goss-Mayrs christliche Gewaltfreiheit (2011, Overath: Bücken & Sulzer).

4) Eine gewisse optimistische Machermentalität ist auch in anderen Veröffentlichungen erkennbar. Aus »Gütekraft« als neuem Wort für eine alte Sache wurde über die Jahre Gütekraft als eigentliches »Konzept« der Wirkungsweise gewaltfreien Handelns: „Im Gütekraft-Konzept sind sie präzisiert und zu einem neuen Gesamtmodell der Wirkungsweise des Vorgehens weiterentwickelt.“ (Arnold 2012, S.4). Eine kritische Diskussion dieses »Kraftkonzeptes«, in dem „Gewaltfreiheit ein wichtiges Element unter anderen, jedoch nicht das wichtigste“ sei (Arnold 2012, S.5) erfordert eine umfangreichere Untersuchung, die auch die bisherige Forschung bezüglich gewaltfreien Handelns mit einbeziehen müsste (vgl. im deutschsprachigen Raum die Arbeiten von Theodor Ebert, in der internationalen Diskussion vor allem die Arbeiten von Gene Sharp und Michael Nagler).

5) Vgl. dazu Nauerth (2000).

6) Walter Wink geht in seiner profunden Studie davon aus, dass die Mächte dieser Welt zu einem einzigen Herrschaftssystem miteinander verwickelt sind: „Wenn ein gesamtes Netzwerk von Mächten auf abgöttische Werte gründet, erhalten wir das, was man als das Herrschaftssystem bezeichnen kann.“ (Wink 2014, S.37).

7) „Bei der Analyse gesellschaftlichen Unrechts als Voraussetzung für gewaltfreie Gegenstrategien verwendete Hildegard Goss-Mayr oft das Bild eines auf der Spitze stehenden Dreiecks, das nur durch äußere Stützen in seiner labilen Lage gehalten werden kann. Zu diesen Stützen einer unrechten Situation gehören regelmäßig auch wir selbst mit unserer Zusammenarbeit, der vielgestaltigen Legitimation und Nutznießung. Noch bevor wir etwas tun und an manchen Stützen rütteln, können wir aufhören, selbst Stützen des Unrechts zu sein.“ (Hahn 2014, S.192).

Literatur

Martin Arnold (2001): Gütekraft (Satjagrah) – Ein Thema für die Friedens- und Konfliktforschung. Wissenschaft und Frieden 4-2001, S.55-58.

Martin Arnold und Reinhard Egel-Völp, Reinhard (2011): Gandhi neu entdecken: Von der Norm zur Kraft. „Gewaltfreiheit“ – nur etwas für „Kleinmütige, Schwächlinge und utopische Pazifisten“?; online unter gütekraft.net.

Martin Arnold (2012): Von der Gewaltfreiheit zur Gütekraft. In: Schweitzer, Christine (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam und Gewaltfreie Aktion in den Bewegungen – Über das Verhältnis von Theorie und Praxis. Berlin: AphorismA, S.23-36 (zitiert nach der leicht erweiterten Fassung von 2013 unter martin-arnold.eu).

Ullrich Hahn(2014): Gewaltfreiheit als Kunst des Lassens. In: Thomas Nauerth: Friede findet tausend Wege – 100 Jahre Versöhnungsbund. Ein Lesebuch. Minden: Versöhnungsbund, S.190-196.

Mirjam Mahler und Martin Arnold (2013): Gewaltfreiheit -> »Gütekraft«! Minden: Bund für Soziale Verteidigung e.V. (BSV), Informationsblätter.

Thomas Nauerth (2000): Zum Weltverständnis gewaltfreien Handelns. In: Tilman Evers (Hrsg.): Ziviler Friedensdienst – Fachleute für den Frieden. Idee, Erfahrungen, Ziele. Opladen: Leske und Budrich, S.48-56.

Egon Spiegel (2008): Ohne Gewalt leben – Spiritualität und Praxis gewaltfreier Weltgestaltung. In: ders. und Michael Nagler (Hrsg.): Politik ohne Gewalt – Prinzipien, Praxis und Perspektiven der Gewaltfreiheit. Münster: LIT Verlag, S.55-140.

Walter Wink (2014): Verwandlung der Mächte – Eine Theologie der Gewaltfreiheit. Regensburg: Friedrich Pustet, S.49.

Priv. Doz. Dr. theol. Thomas Nauerth ist Mitglied des Internationalen Versöhnungsbundes, arbeitet am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück und ist Redakteur der Website friedenstheologie.de.

Wie »gewaltfrei« war die Free Gaza Flottille?

Wie »gewaltfrei« war die Free Gaza Flottille?

von Theodor Ebert

In einem Gastkommentar in Heft 3-2010 von W&F hat Matthias Jochheim als Teilnehmer an der Free Gaza Flottille von einer „so großartigen wie tragischen Reise“ gesprochen, dieses Unternehmen des „zivilen Ungehorsams“ aber trotz des Todes von neun Aktivisten als Erfolg gewertet. Theodor Ebert, der langjährige Herausgeber der Zeitschrift »Gewaltfreie Aktion«, widerspricht ihm und fragt nach der Verantwortung für dieses Unternehmen, das Menschenleben aufs Spiel setzte und nach seinem Dafürhalten die Bezeichnung »gewaltfrei« nicht verdient.

Bei dem Versuch, die israelische Blockade des Gaza-Streifens mit der Free Gaza Flottille zu überwinden, wurden am 31. Mai 2010 auf dem Passagierschiff Mavi Marmara neun Aktivisten von israelischen Militärs erschossen. Von den Betreibern der Aktion wurde darauf hingewiesen, dass es sich beim Kapern der Schiffe um eine völkerrechtswidrige Maßnahme gehandelt habe und dass der Einsatz von Schusswaffen gegen Zivilisten, die ihrerseits keine Waffen eingesetzt hätten, unverhältnismäßig gewesen sei. Auf dieser Linie lag auch der Gastkommentar von Matthias Jochheim, dem stellvertretenden Vorsitzenden der deutschen Sektion der IPPNW, in Wissenschaft und Frieden 3-2010. Begründet wurde das Vorgehen der Free Gaza Flottille mit der Notlage der 1,5 Millionen Palästinenser in Gaza. Mit dem Versuch, die Hilfsgüter auf dem Seeweg nach Gaza zu bringen, sollte auf das Unrecht der Blockade hingewiesen und deren Ende erreicht werden.

Man könnte meinen, dass die Free Gaza Flottille eine Strategie der gewaltfreien Aktion verfolgte, denn Martin Luther King hatte es als eine Aufgabe der gewaltfreien, direkten Aktion bezeichnet, „einen Konflikt so zu dramatisieren, dass er nicht länger ignoriert werden kann.“ Die Free Gaza Flottille hat tatsächlich internationales Aufsehen erregt, und Israel hat sich danach bereit erklärt, auf dem Landweg mehr Hilfsgüter als bisher nach Gaza zu lassen. Es ist jedoch problematisch, wie Jochheim von einem „Erfolg“ der Free Gaza Flottille zu sprechen angesichts von neun Toten und unveränderter Feindbilder.

Imagepflege im Vorfeld und im Nachgang

Speziell den deutschen Unterstützern der Free Gaza Flottille war bereits im Vorfeld wichtig, das Unternehmen als gewaltfrei darzustellen, und sie haben sich diese Absicht auch von Kennern der gewaltfreien Aktion auf ihrer Homepage www.freegaza.de bestätigen lassen. So reagierte Clemens Ronnefeldt, Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes, vor dem Start der Flottille auf die Bitte um eine Solidaritätsadresse mit dem Satz: „Alle Teilnehmer haben sich zu einem gewaltfreien Verhalten verpflichtet.“ Gemeint haben konnte er damit nur die deutschen und vielleicht auch die westeuropäischen Teilnehmer der Aktion. Was die Aktivisten der türkischen Organisation Insani Yardim Vakfi (IHH) auf der Mavi Marmara im Sinne hatten, konnte er nicht wissen. Dabei wäre es wahrscheinlich sinnvoll gewesen, sich genau darüber Gedanken zu machen und sich nicht auf das Image der IHH als wohltätiger Organisation zu verlassen.

Die deutschen Teilnehmer haben auch nach ihrer Rückkehr betont, dass ihre Aktion mit einer gewaltfreien Strategie übereinstimmt. So schrieb der Völkerrechtler Prof. Norman Paech: „Gleichgültig, ob Christen, Muslims, Buddhisten oder Atheisten, es waren Menschen aus über 30 Staaten auf den Schiffen, die einigen wenigen gemeinsamen Grundprinzipien verpflichtet waren: weder parteipolitische Ziele noch Missionierung, absolute Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit, Verzicht auf jegliche Waffen an Bord und Toleranz untereinander. Es gibt keine Anzeichen, dass diese Grundprinzipien nicht eingehalten wurden.“ Ganz ähnlich hat sich Matthias Jochheim geäußert: „Verzicht auf Menschen gravierend verletzende und erst recht auf tödliche Gewalt, dieses Prinzip der internationalen Free Gaza-Koalition wurde von Seiten unserer Mitreisenden nach allen meinen Beobachtungen auf der Mavi Marmara eingehalten.“

In der deutschen Friedensforschung gibt es seit vierzig Jahren entwickelte Vorstellungen von der Strategie und dem Verlauf gewaltfreier Aktionen und von dem Training dafür. Es gibt mit »Gewaltfreie Aktion« auch eine Fachzeitschrift, die sich speziell mit dieser Thematik befasst und sich bemüht, mit ihren Beiträgen die sozialen Bewegungen zu erreichen. In Deutschland gehört es mittlerweile zum Image einer Erfolg versprechenden Aktion, dass sie in der Öffentlichkeit als gewaltfrei wahrgenommen wird.

Vorbereitungen auf ein Handgemenge

Wenn nun aber der schludrige Gebrauch des Vokabulars der Friedens- und Konfliktforschung tödliche Auswirkungen hat, ist es an der Zeit, einiges klar zu stellen. Die neun Aktivisten, die auf der Mavi Marmara erschossen wurden, waren tapfere Männer, aber es waren keine gewaltfreien Akteure, und bei ihrem Vorgehen gegen die israelischen Soldaten, die sich aus Hubschraubern abseilten, war damit zu rechnen, dass diese von ihren Schusswaffen Gebrauch machen würden. Wer gewaltfreie Aktionen durchführt, muss mit dem Schlimmsten rechnen und schon im Vorfeld entsprechende Trainings durchführen und Bezugsgruppen bilden. Das ist gängige Praxis. Das lässt sich zum Beispiel jetzt wieder beim Widerstand gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 beobachten (www.bei-abriss-aufstand.de).

Aus den Eigendarstellungen der deutschen Beteiligten an der Free Gaza Flottille geht hervor, dass sich an Deck der Mavi Marmara zum Zeitpunkt der Landung der israelischen Militärs etwa 40 türkische Aktivisten befanden, welche unter Einsatz von Schlagstöcken aus Holz oder Eisen die israelischen Soldaten an der Kontrolle des Schiffs zu hindern suchten. Sie scheinen damit gewisse Überraschungserfolge erzielt zu haben. Jedenfalls berichten Paech und Jochheim, dass israelische Soldaten als Verwundete unter Deck gebracht und ärztlich versorgt wurden. Die israelische Leitung des Einsatzes ging wahrscheinlich davon aus, dass es sich um eine Gefangennahme handelt.

Ich interpretiere das Verhalten der türkischen Aktivisten als den Versuch, die Kontrolle des Schiffes durch das intervenierende israelische Militär mittels Einsatz physischer, wenn auch nicht tödlicher Gewalt zu verhindern. Die deutschen Teilnehmer haben dies zu legitimieren gesucht. Wie auch immer, gewaltfrei war das Verhalten der türkischen Aktivisten jedenfalls nicht. Die Schlagwerkzeuge waren vorbereitet, und man muss davon ausgehen, dass diejenigen, welche die Mavi Marmara kommandierten, damit einverstanden waren. Damit tragen sie auch eine Mitverantwortung für die tödlichen Folgen.

Hier muss der Name des Vorsitzenden der IHH, Bülent Yildirim, genannt werden. Dieser hat nach der Rückkehr in die Türkei angesichts der neun Toten nicht davon gesprochen, dass er mit dem Versuch, die Mavi Marmara gegen das israelische Militär zu verteidigen, einen Fehler gemacht habe. Vielmehr hat er die Toten als Märtyrer der islamischen Sache respektive der Menschenrechte gewürdigt. Das war auch nicht überraschend, den Yildirim hat sich am 7. Januar 2010 beim Fundraising für Free Gaza zusammen mit dem Hamas-Führer Ismail Haniyya gezeigt. Daraus ist zu schließen, dass zumindest Yildirim und mit ihm wohl auch die IHH in der Free Gaza Flottille eine Solidaritätsaktion für die Hamas sahen.

Man vergleiche den Traum Kings mit der Charta der Hamas

Man kann den Standpunkt vertreten, dass man die Hamas nicht isolieren, sondern mit ihr reden sollte; zu einer gewaltfreien Aktion gehört aber, dass die sie tragende Zukunftsvision mittel- und langfristig eine gewaltfreie ist. In dieser Hinsicht kann man sich mit der Hamas genau so wenig solidarisieren wie mit der Besatzungs- und Siedlungspolitik der israelischen Regierung.

Als Martin Luther King 1963 vor dem Lincoln Memorial von seinem Traum für Amerika und die Welt sprach, konnten sich die meisten Amerikaner und Deutschen die Zielvorstellung Kings zu Eigen machen. Eine gewaltfreie Aktion muss auch ein gewaltfreies Ziel haben. Das ist bei Bülent Yildirim und der IHH im Blick auf Gaza zumindest im Moment nicht zu erkennen – trotz der wohltätigen Aktivitäten, welche die IHH an anderen Stellen entfaltet. Wer die Charta der Hamas aus dem Jahre 1988 als Dokument ihrer Zielvorstellungen beachtet und berücksichtigt, dass sie immer noch Terroranschläge durchführt, kann sich mit ihr im Rahmen einer gewaltfreien Aktion nicht solidarisieren, wie dies Bülent Yildirim und mit ihm die IHH tun.

Wir stehen als Friedens- und Konfliktforscher vor der Frage, was im Blick auf den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern denn eine gewaltfreie Strategie und ihr entsprechende Aktionen wären. Wir sind dieser Frage bisher in Erinnerung an die Shoa aus dem Wege gegangen und haben gehofft, dass gewaltfreie Aktivisten anderer Nationen sich darum kümmern. Befriedigende Ansätze sind aber nicht zu erkennen.

Was gehört zu einer gewaltfreien Strategie?

Grundsätzlich gilt die Regel, dass die Teilnehmer an einer gewaltfreien Aktion die gewaltfreie Strategie selbst entwickeln müssten. Es gibt genuin gewaltfreie Protestaktionen von israelischer und palästinensischer Seite, und bei Protestaktionen gegen die Mauer und den Siedlungsbau agieren Israelis und Palästinenser auch gemeinsam, aber es ist nicht klar, was mittel- und langfristig das Ziel ist. Es gibt innerisraelische Kritik an der Vorstellung eines seine jüdischen Bürger privilegierenden und die Nichtjuden diskriminierenden Staates. Die Konsequenz aus dieser Kritik wäre ein säkularer Staat, in dem es nur israelische Bürger ohne Ansehen ihrer Religion oder ethnischen Herkunft gibt. Dasselbe Konzept würde auch für die Palästinenser (und die jüdischen Siedler) in der Westbank und in Gaza gelten. Gewaltfreie Aktionen würden sich dann über ihr jeweiliges Nahziel – also z. B. die Hilfe für Gaza – hinaus an einer solchen gewaltfreien, säkularen Vision orientieren, wobei offen bleiben könnte, ob es unbedingt zweier Staaten bedarf. Gewaltfreie Aktionen müssten also von einem Geist getragen sein, der die Sicherheitsbedürfnisse der Juden und die territoriale Verwurzelung der Palästinenser berücksichtigt und dieser Vision des friedlichen Zusammenlebens schrittweise näher kommt.

Wenn man mit dieser Perspektive auf die Free Gaza Flottille zurückblickt, dann war sie kein Meisterstück. Die Hilfe für die Bevölkerung in Gaza hätte so auf den Weg gebracht werden müssen, dass sie auch der Verständigung zwischen den Kontrahenten gedient hätte. Es ist schlimm genug, dass neun Menschen gestorben sind. Aus Respekt vor ihrem Einsatz und auch im Gedenken an diejenigen, die sich ihrer Tötung schuldig gemacht haben, sollten wir uns bemühen, an einer gewaltfreien Strategie zu arbeiten, welche diese Bezeichnung auch wirklich verdient.

Theodor Ebert, geb. 1937, ist Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) und lehrte bis 2002 an der Freien Universität Berlin Politische Wissenschaft. Sein bekanntestes Werk ist »Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg«.

Mediation und Dialog

Mediation und Dialog

Trainings in gewaltfreier Kommunikation in Sierra Leone

von Ilona Auer-Frege

Beispielhaft für die von Ilona Auer-Frege in der Studie »Wege zur Gewaltfreiheit» untersuchten Projekte der Zivilen Konfliktbearbeitung (siehe separater Artikel in dieser Ausgabe von W&F) wird hier ein Projekt des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED) in Sierra Leone vorgestellt. Das Projekt dauerte von 2002 bis 2005. Es wurde zusammen mit der lokalen Partnerorganisation Sierra Leone Adult Education Association (SLADEA) durchgeführt. Finanziert wurde es über Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung / Ziviler Friedensdienst.

Das westafrikanische Land Sierra Leone ist sehr reich an Bodenschätzen (Bauxit, Rutil, Diamanten) und natürlichen Ressourcen (Tropenholz, Fisch), von deren Gewinnen auch nach der Unabhängigkeit im Jahre 1961 nur die herrschende Minderheit und ausländische Konzerne und Nationen profitierten.

Von 1991 bis 2002 herrschte in Sierra Leone ein Bürgerkrieg, der mehr als 50.000 Menschen das Leben kostete, über zwei Millionen zu Flüchtlingen machte und der Mehrheit der Bevölkerung physischen und/oder psychischen Schaden zufügte. Nach Schätzungen war ein Drittel der ehemaligen Bevölkerung während der Kriegsjahre intern oder extern vertrieben. Große Teile des Landes waren buchstäblich entvölkert, während die Hauptstadt Freetown und die westliche Provinz mit der Zuwanderung heimatloser Menschen völlig überfordert waren. Tausende lebten in Flüchtlingslagern, wo sie von der Unterstützung humanitärer Organisationen oder dem guten Willen von Familienmitgliedern abhängig waren.

Mittlerweile sind die meisten Menschen zurückgekehrt und konnten sich mit internationaler Hilfe wieder ein bescheidenes Zuhause aufbauen. Im Jahr 2002 wurden 72.000 Exkombattanten entmilitarisiert; der stufenweise Abbau der 17.500 UN-Soldaten war im Januar 2006 abgeschlossen. Fünf Jahre nach Bürgerkriegsende war Sierra Leone weiterhin durch extrem hohe Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch, Analphabetentum und Militarisierung mit einhergehender Verbreitung von Kleinwaffen gezeichnet. Laut dem »Human Development Report« von 2005 rangierte Sierra Leone auf Platz 176 von 177 der am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Soziale Einrichtungen, Krankenstationen oder Bildungseinrichtungen sind völlig unzureichend ausgestattet: Für je 100.000 Menschen gibt es nur sieben Ärzte, 284 von 1.000 Kindern sterben, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben, und ungefähr jede fünfzigste schwangere Frau stirbt während der Schwangerschaft oder bei der Geburt ihres Kindes. Über 60 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung sind arbeitslos, etwa 65 Prozent der Bevölkerung können weder lesen noch schreiben, für etwa 70 Prozent der Einwohner liegt der Durchschnittsverdienst bei 1-2 US$ pro Tag. Die aus diesen Missständen resultierende Frustration der benachteiligten Bevölkerungsschichten, insbesondere die Perspektiv- und Orientierungslosigkeit von Jugendlichen, schürt ein gesellschaftliches Klima der alltäglichen Gewalt und Rechtlosigkeit.

Der Projektansatz

Die lokale Organisation SLADEA bietet seit 1978 nonformale Bildungsprogramme mit den Schwerpunkten Alphabetisierung, Gesundheit, Hygiene, Umwelt- und Ressourcenschutz sowie die Vermittlung handwerklich-beruflicher Fertigkeiten an. Die Nichtregierungsorganisation ist eine landesweit bekannte Institution der Erwachsenenbildung, die vor allem die Menschen erreicht, die von formalen Bildungsangeboten ausgeschlossen sind, und ihnen einen Bildungsabschluss ermöglicht.

2002 wurde in einer Projektpartnerschaft zwischen EED und SLADEA mit einem Friedensdienstprojekt begonnen. Die eingesetzte Friedensfachkraft konnte sich den Bekanntheitsgrad und das Vertrauen, das SLADEA in der Bevölkerung genießt, von Anfang an für ihr Projektvorhaben zunutze machen, um innerhalb der etablierten Strukturen neue Wege zur Friedenserziehung zu beschreiten.

Gewaltfreiheit und Chancengleichheit sind als Werte in der sierra-leonischen Alltagskultur kaum verbreitet. Die Jahrzehnte des Krieges haben stets diejenigen überleben lassen, die sich besonders energisch durchsetzen konnten, so dass eine umfassende Kultur der Gewalt und die Beschränkung auf das Wohl der eigenen Familie verankert wurde. Hier setzte das Projekt an: Ein Netzwerk von engagierten Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die sich in ihrem Umkreis für gewaltfreie Wege der Konfliktlösung und die Entwicklung einer Zivilgesellschaft einsetzen sollten, wurde geschaffen.

In jeweils zweiwöchigen Workshops bildete die Friedensfachkraft vor allem so genannte »Facilitatoren« aus. Insgesamt 154 Personen erhielten in drei Jahren eine Basisausbildung, 64 davon wurden in Aufbauseminaren weiter geschult, um in ihrem persönlichen Umfeld noch effektiver für einen gewaltfreien Umgang eintreten und ihre Fertigkeiten ehrenamtlich weitergeben zu können. Alle 154 Personen waren aktiv daran beteiligt, in Schulen, in Vereinen, in Dörfern und an ihren Arbeitsplätzen selbstständig Seminare zu organisieren, kleine Projekte anzustoßen oder in Konflikten vermittelnd zu wirken. So konnte das erlernte Wissen an etwa 2-3.000 junge Erwachsene, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Behörden, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie an andere Schlüsselpersonen in den Gemeinden weitergegeben werden.

Der Projektablauf

Zu Beginn des Projekts fand die Friedensfachkraft in der Partnerorganisation SLADEA ein sehr motiviertes Team vor, das in seinen Bildungsangeboten gerade für die ländliche Bevölkerung schon immer auch Werte wie Solidarität und soziale Verantwortung vermittelt hatte. Aber es fehlte an Fachwissen und Lehr- bzw. Lernmaterialien für einen qualifizierten Unterricht im Bereich Konflikttransformation. In der vom Krieg geprägten Gesellschaft war der Bedarf an neuen methodischen Ansätzen offensichtlich, doch es gab im Land kaum Vorbilder oder praktische Anleitung, um dieses Thema weiterzuverbreiten. So waren für die Friedensfachkraft zunächst die eigenen Teammitglieder die erste potenzielle Zielgruppe, um gemeinsam mit ihnen ein Programm auszuarbeiten und Unterrichtsmaterialien über zivile Konflikttransformation herzustellen. Ausgewählte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der 13 SLADEA-Zweigstellen wurden in Basistrainings als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in gewaltfreier Kommunikation und Konfliktmediation fortgebildet. Es entstanden die ersten Fassungen der Lehr- und Lernmaterialien, die später in den Workshops mit den eigentlichen Zielgruppen (SLADEA-Mitglieder und -Lernende, Lehrer/innen und Schüler/innen, Studierende, Mitglieder von Vereinen und Clubs, Gemeindevorsteher, Polizisten, Repräsentanten von Organisationen etc.) verwendet, überarbeitet und verbessert wurden.

Da die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Basistrainings zwar aufgeschlossen und sozial engagiert waren, zumeist aber keine Vorbildung im Bereich der Gewaltfreiheit mitbrachten, mussten die Workshop-Inhalte bei einem sehr grundlegenden Niveau ansetzen, um allmählich eine höhere Kognitionsstufe zu erreichen: Was ist ein Konflikt? Warum gibt es Konflikte und welche Formen der Konfliktaustragung kennen wir? Auf welche Weise kann ich kommunizieren? Wie wirkt mein Verhalten auf andere? Wie eskaliert ein Konflikt? Welche Interventionsmöglichkeiten habe ich persönlich oder in der Gruppe?

Darauf aufbauend wurden einfache Methoden der gewaltfreien Kommunikation eingeübt. Zuletzt standen Techniken der Vermittlung, der Mediation und Ansätze zur Konflikttransformation auf dem Plan. In den Basistrainings wählte die Friedensfachkraft jeweils zwei besonders geeignete Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus, die dann in den nächsten Workshops als Co-Trainerinnen und Co-Trainer mitwirkten und so die Gelegenheit erhielten, weitere Praxiserfahrung zu sammeln. Im letzten Projektjahr erhielten 64 ehemals Teilnehmende, die besonderes Interesse, Verständnis für die Thematik und pädagogisches Geschick zeigten, weitere Aufbaukurse. Die 26 Besten wurden in Teams zusammengestellt und agieren seither als »Trainer of Trainers«, die entweder mit der Unterstützung ihrer Kolleginnen und Kollegen oder selbstständig Seminare anbieten, wenn sie von Schulen, von Behörden, Organisationen oder von Gemeinden angefordert werden. Die wachsende Nachfrage von lokalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen in der Region, die Friedensarbeit in ihre Entwicklungsprojekte integrieren möchten, kann damit bedient werden. Bis zum Ende des Projektes wurden diese Teams von der Friedensfachkraft begleitet und unterstützt.

Was war wichtig für den Erfolg?

Der reflektierte Ansatz der Gewaltfreiheit war in dem Nachkriegsland Sierra Leone völlig neu. Es zeigte sich, dass bereits die Auseinandersetzung mit dem Thema bei den Auszubildenden großes Unverständnis auslöste.

„Für Menschen, die damit beschäftigt sind, irgendwie und auf jedem Weg das Nötigste zum Überleben zu beschaffen, weil es keine bezahlte Arbeit, zu wenig Lebensmittel und keine Unterstützung gibt, sind unsere Aufrufe zur Gewaltfreiheit zunächst fast eine Provokation. Aber wenn sie sich darauf einlassen, merken sie, welche Kraft in der gewaltfreien Kommunikation steckt. Man eröffnet keinen ermüdenden Kampf von Aggression und Gegenaggression mehr, sondern man spricht über den Inhalt der Konflikte, ohne den anderen dabei zu verletzen. In unseren Trainings konnten die Teilnehmenden ganz praktisch erproben, wie gut dieser Ansatz gerade in ihrem Alltagsleben funktioniert. Das hat sie unheimlich stolz gemacht.“ (Katharina Schilling, Friedensfachkraft)

Zunächst gab es auch Vorbehalte. Es stellte sich die Frage, ob eine so »westliche« und der lokalen Kultur fremde Methode für die Menschen in Sierra Leone überhaupt nachvollziehbar sei. Aber in den Seminaren erkannten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer immer wieder Analogien zu traditionellen Methoden der Konfliktbearbeitung. Auch diese legten Wert auf Ausgleich, auf Fairness und auf Toleranz; die Teilnehmenden konnten die angebotenen Inhalte ohne gravierende Widersprüche auf ihren eigenen Bedarf übertragen. „Es war unheimlich wichtig, nicht mit vorgefertigten Konzepten auf die Menschen zuzugehen, sondern das Unterrichtsmaterial gemeinsam mit den Zielgruppen zu erstellen. Wir mussten uns immer wieder darauf besinnen, die Menschen bei ihrem Bedarf abzuholen. Warum nehmen sie an dem Training teil? Was erhoffen sie sich? Was wollen und können sie ändern? Hier mussten unsere Trainingsmaterialien ansetzen, sie durften nicht aus Lehrbüchern kopiert sein. Die Menschen selbst haben die besten Ideen, wie die theoretischen Konzepte für sie umsetzbar werden. Das haben wir immer wieder in die Papiere aufgenommen, um sie weiter zu verbessern.“ (Katharina Schilling)

Heute liegt ein Trainingshandbuch vor, das sich in der Praxis vielfach bewährt hat und das auch anderen Organisationen, Schulen oder in der Erwachsenenbildung wertvolle Anregungen bieten kann. Darüber hinaus arbeitete die Friedensfachkraft gemeinsam mit Multiplikatorinnen und Multiplikatoren daran, das Thema »Gewaltfreie Kommunikation und Konflikttransformation« in lehrreichen Alltagsgeschichten und Gedichten zu verarbeiten, die in Buchform erschienen sind.

Ein Grundprinzip der Projektarbeit war es, bewusst in kleinen Schritten zu denken und die Kräfte der Teammitglieder und der auszubildenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer realistisch einzuschätzen. Das Projekt hatte sich das Ziel gesetzt, die Teilnehmenden in den Seminaren mit methodischem Handwerkszeug auszustatten, mit dem sie ihr Alltagsleben und ihr persönliches Umfeld positiv beeinflussen konnten. Die politische Ebene, die verfeindeten Parteien und die bewaffneten Gruppierungen wurden nicht direkt adressiert, weil diese Zielgruppen außerhalb der Einflusssphäre von SLADEA lagen. Dessen ungeachtet wächst durch den Aufbau von Wissen und Erfahrung, über Selbstbehauptung und durch das Netzwerk von engagierten Einzelpersonen eine Infrastruktur heran, die langfristig die Voraussetzungen für umfassendere Friedensprozesse in der Region schaffen kann.

Die Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war und blieb eine ständige Herausforderung. Das Interesse an einer Qualifizierung, die kostenlos war, bei einer bedeutenden Organisation stattfand und durch eine internationale Trainerin erfolgte, war enorm groß. Allerdings erfüllten nur wenige Kandidatinnen und Kandidaten die Auswahlkriterien. Wer teilnehmen wollte, musste einen ausreichend hohen Bildungsstand nachweisen, im beruflichen und persönlichen Umfeld tatsächlich über Einfluss und Integrität verfügen, zudem noch aufgeschlossen und lernbereit sein. Deshalb wurden im letzten Jahr nur qualifizierte und engagierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu den Aufbaukursen eingeladen, nachdem im Rahmen von Projektbesuchen und in ausführlichen Gesprächen überprüft worden war, dass sie den Lernstoff tatsächlich an einen weiten Personenkreis weitergegeben hatten.

„Zu Beginn der Trainings waren manche Teilnehmerinnen und Teilnehmer geradezu schockiert, dass es keine scharfe Trennung zwischen Gut und Böse gibt und Rache deshalb sinnlos ist. Aber mittlerweile sind sie – ebenso wie viele andere Mitarbeitende – überzeugt davon, dass dies die einzige Möglichkeit für ein friedliches Miteinander in Sierra Leone ist. Das Interesse und die Offenheit für einen gewaltfreien Umgang mit Konflikten ist geweckt und setzt sich immer mehr durch. Die Teilnehmenden der Trainings sind oft zu überzeugten Verfechterinnen und Verfechtern der gewaltfreien Konfliktlösung geworden. Sie erproben im Alltag, wie weit sie den Ansatz der gewaltfreien Kommunikation anwenden können, und sie sind immer wieder überrascht, dass es doch noch einen Schritt weiter gehen kann. Dass auch in der Familie oder bei der Arbeit, wenn ein Streit ausweglos erschien, plötzlich wieder ein wenig Spielraum für Diskussion entsteht, wo vorher nur Ablehnung war. Ich finde es wirklich beeindruckend, dass selbst in einer so zerstörten Gesellschaft wie in Sierra Leone die Prinzipien der Gewaltfreiheit funktionieren und uns Recht geben.“ (Shecku Kawusu Mansaray, Executive Secretary, SLADEA)

Das Fazit

In einer Gesellschaft, die so sehr von Gewalt, Krieg und Zerstörung geprägt ist wie in Sierra Leone, muss ein Friedensprojekt beim angestrebten Transformationsprozess Pionierarbeit leisten. Zunächst geht es darum, den Menschen erste Grundkenntnisse über Wege der gewaltfreien Konfliktbewältigung zu vermitteln, um einen Grundstein für Veränderungen zu legen, die vermutlich mehrere Jahrzehnte benötigen. Das Projekt von SLADEA hatte sich Menschen als Zielgruppe ausgewählt, die in ihrem Umfeld als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wirken und ihre Kenntnisse auf breiter Ebene und vor allem an der Basis der Bevölkerung im ländlichen wie im städtischen Raum weitervermitteln konnten. Bewusst wurde darauf verzichtet, eine komplexe Infrastruktur vorauszusetzen oder nur bestimmte Fachorganisationen in den Städten anzusprechen. Stattdessen setzte das Projekt darauf, eine genügend große Menge von engagierten Einzelpersonen zu motivieren und mit dem nötigen Rüstzeug auszustatten, um kleine Schritte in Richtung Frieden zu gehen. Viele dieser ausgebildeten Einzelpersonen arbeiten seither ehrenamtlich. Ohne eine internationale Organisation im Rücken tragen sie ihr Wissen selbstständig weiter. Die Partnerorganisation SLADEA selbst bietet heute neben ihren langjährigen Bildungsprogrammen immer mehr gemeinwesenorientierte Projekte an, die sich gezielt mit der Nachkriegssituation und Konfliktprävention beschäftigen.

Dr. Ilona Auer-Frege ist Koordinatorin des Ökumenischen Netzes Zentralafrika.

Gandhi und der Westen

Gandhi und der Westen

Eine Geschichte von Missverständnissen

von Wolfgang Sternstein

Vor sechzig Jahren, am 30. Januar 1948, wurde Gandhi von einem Hindu-Fanatiker erschossen. Die geradezu religiöse Verehrung, die er bei einem Teil seiner Landsleute, und das hohe Ansehen, das er in vielen Teilen der Welt genießt, können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass er im eigenen Land wie auch im Westen nur selten verstanden wurde und noch seltener Nachfolger fand. Von den zahlreichen Missverständnissen, denen Gandhis Lehre und die Botschaft seines Lebens ausgesetzt waren, sollen nur die sieben wichtigsten angesprochen werden.

1. Gewaltfreiheit (Satjagraha) wird mit Friedlichkeit verwechselt

Wenn Nachrichtensprecher mitteilen, eine Demonstration sei »gewaltfrei« verlaufen, so meinen sie damit, sie sei ohne Gewalthandlungen verlaufen. Das war ursprünglich anders. Der Berliner Politologe Theodor Ebert prägte den Begriff Gewaltfreiheit, um damit Gandhis Prinzip und Methode der Satjagraha zu bezeichnen. Vor etwa hundert Jahren entdeckte Gandhi eine Methode der Konfliktaustragung, die er »Satjagraha« nannte: Festhalten an der Wahrheit, Kraft der Wahrheit, der Liebe oder der Seele (im Unterschied zu Körperkraft). Wahrheit ist für Gandhi ein anderes Wort für Gott; deshalb kann Satjagraha auch als die Kraft Gottes beschrieben werden, die in uns und durch uns wirkt.

Was hat es mit dieser Kraft auf sich? Es handelt sich, kurz gesagt, um die Fähigkeit, Böses mit Gutem zu vergelten, um es auf diese Weise zu überwinden. Dazu Gandhi selbst: „Immer und immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Gute Gutes hervorruft, das Böse aber Böses erzeugt. Wenn daher dem Ruf des Bösen kein Echo wird, so büßt es aus Mangel an Nahrung seine Kraft ein und geht zugrunde. Das Übel nährt sich nur von seinesgleichen. Weise Menschen, denen diese Tatsache klar geworden ist, vergalten daher nicht Böses mit Bösem, sondern immer nur mit Gutem und brachten dadurch das Böse zu Fall.“ (Kraus, 1959, S.134)

Das ist im Grunde nichts Neues. Gandhi meinte denn auch, er habe lediglich versucht, es in die Tat umzusetzen. Im abendländisch-christlichen Kulturraum kennen wir es aus der Bergpredigt Jesu von Nazareth. Es ist die Lehre von der Feindesliebe. Ihr Geltungsbereich wird jedoch im Christentum zumeist auf das Verhalten von Einzelnen beschränkt. Bei Konflikten zwischen Gruppen und Nationen gälten andere Gesetze, die Gewalt keineswegs ausschlössen. Gandhi widerspricht dieser Auffassung nachdrücklich. Das hat Martin Luther King klar erkannt, als er schrieb: „Ehe ich Gandhi gelesen hatte, glaubte ich, dass die Sittenlehre Jesu nur für das persönliche Verhältnis zwischen einzelnen Menschen gelte… Wenn aber Rassengruppen und Nationen in Konflikt kamen, schien mir eine realistischere Methode notwendig zu sein. Doch nachdem ich Gandhi gelesen hatte, sah ich ein, wie sehr ich mich geirrt hatte… Für Gandhi war die Liebe ein mächtiges Instrument für eine soziale und kollektive Umgestaltung.“ (King, 1968, S.74)

Gewaltfreiheit kann demnach organisiert und eingeübt werden und sie lässt sich in dieser Form bei Konflikten auf allen gesellschaftlichen Ebenen anwenden. Sie ist, kurz gesagt, eine konstruktive Alternative zur Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung. Damit ist gemeint, sie ersetzt etwas Schlechtes durch etwas Gutes, etwas Untaugliches durch etwas Taugliches. Die zu Grunde liegende Vorstellung ist, dass Gewalt wie ein Gift wirkt, das die persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungen zerstört, das jedoch durch das Gegengift der Gewaltfreiheit neutralisiert werden kann.

Ich fürchte, der Versuch, die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Gewaltfreiheit wieder herzustellen, ist zum Scheitern verurteilt. Martin Arnold hat deshalb vorgeschlagen, »Satjagraha« mit »Gütekraft« zu übersetzen. Ich ziehe indes die Bezeichnung »Wahrheitskraft« vor, da sie weniger missverständlich ist und Gandhis »Satjagraha«, einer Verbindung der Sanskritwörter »satja« (Wahrheit) und »agraha« (festhalten, zupacken, angreifen), am nächsten kommt.

Bei Konflikten, in denen Wahrheitskraft zur Anwendung kommt, geht es folglich keineswegs friedlich zu. Entweder wird Gewalt in milderer Form des körperlichen Zwangs durch Polizisten, etwa bei der Räumung einer Sitzblockade, angewandt oder in massiver Form von Schlagstock- oder Tränengaseinsatz oder aber in Form von Tätlichkeiten von Seiten politischer Gegner. Für »Satjagrahis« (gewaltfreie Kämpfer) ist Gewaltanwendung allerdings in jedweder Form tabu.

2. Satjagraha wird mit Passivität gleichgesetzt

Man könnte dieses Missverständnis auch das »christliche« nennen, da es seine Wurzel im Christentum hat, wie es im Westen verstanden wird. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, der Christ solle dem Bösen nicht widerstehen. Er solle die Gewalt des Angreifers vielmehr bereitwillig erdulden nach dem Jesuswort: „Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“ (Mt 5, 39-41)

Ich halte die Auslegung, die unter Feindesliebe passives Erdulden der Gewalt versteht, für falsch. Was Jesus m.E. sagen will, wird klar, wenn wir im Text die Wörter »mit Gewalt« ergänzen: Du sollst dem Bösen nicht mit Gewalt widerstehen, du sollst ihm vielmehr widerstehen, indem du Böses mit Gutem vergiltst, um es auf diese Weise zu überwinden. Satjagraha (Wahrheitskraft) hat jedenfalls mit Passivität nichts zu tun. Sie ist vielmehr höchste Aktivität. Die Lehre von Nichtwiderstehen gegenüber dem Bösen, die sich auch bei Tolstoi findet, hat ihre Ursache meines Erachtens in einem falschen Verständnis des Lebens und der Lehre Jesu. Die christliche Dogmatik sieht in ihm das sündlose Opferlamm, das für unsere Sünden den Tod erlitt. Vorbild für diese Deutung ist das vierte Lied des zweiten Jesaja vom Gottesknecht: „Zu unserm Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt… Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf.“ (Jes 53, 5-7) Gandhi bestreitet die Deutung Jesu als sündloses Opferlamm. Er nennt ihn vielmehr einen Fürsten der Satjagraha und die christlichen Märtyrer Satjagrahis.

Im Katholizismus beschränkte man die hohen ethischen Forderungen der Bergpredigt als »evangelische Räte« auf den Klerus. Die Reformatoren, welche die Unterscheidung von Klerikern und Laien zugunsten eines »Priestertums aller Gläubigen« aufhoben, suchten das Problem auf ihre Weise zu lösen. So unterschied beispielsweise Luther im Christen eine Christperson von einer Weltperson. Als Christperson hat der Christ Jesu Gebot der Feindesliebe bedingungslos zu befolgen und die Gewalt des Feindes widerstandslos zu erdulden. In seiner Eigenschaft als Weltperson, die für den Schutz anderer verantwortlich ist, ist er berechtigt, ja verpflichtet, dem Bösen mit Gewalt zu wehren, da andernfalls das Gute vernichtet würde. Bei Max Weber erscheint dieses Denkmuster als Gegensatz von Gesinnungs- und Verantwortungsethik.

Für Gandhi ist diese Zweiteilung des Menschen völlig unannehmbar. Wer gewaltfrei oder wahrheitskräftig handelt, schützt damit sich und seine Angehörigen gleichermaßen. Dass er dabei riskiert, verletzt oder getötet zu werden, tut nichts zur Sache, denn dieses Risiko läuft der Soldat ja auch, sogar in weit höherem Maße, da einem Konflikt, bei dem beide Seiten Gewalt anwenden, eine Tendenz zur Eskalation innewohnt, während der gewaltfrei ausgetragene Konflikt eine Tendenz zur Deeskalation aufweist. Für Gandhi gilt: Wer an der Wahrheit festhält, kann nicht verlieren, selbst wenn er im Kampf sein Leben verliert. Wer dagegen die Wahrheit loslässt, hat schon verloren, selbst wenn er aus dem Kampf als Sieger hervorgehen sollte.

Es gilt also festzuhalten: Wahrheitskraft ist eine positive, aktive und aufbauende, ja eine schöpferische und heilende Kraft, die Gewalt in allen ihren Erscheinungsformen (i.S. Johan Galtungs) überwindet. Sie ist ein Drittes jenseits des Gegensatzes von Aktivität und Passivität, von Gewalt antun und Gewalt erleiden.

3. Satjagraha wird mit passivem Widerstand gleichgesetzt

Gandhi hat anfangs für seine Kampfmethode mangels eines besseren den Begriff passiver Widerstand gebraucht. Als ein Journalist den Widerstand der Inder gegen die Rassendiskriminierung in Südafrika als »Waffe der Schwachen« kennzeichnete, erkannte er die Untauglichkeit dieses Begriffs, der zu Missverständnissen geradezu einlud, und ersetzte ihn durch den Begriff Satjagraha. Um den Unterschied möglichst klar herauszuarbeiten unterschied er fortan eine »Gewaltlosigkeit der Starken« (Satjagraha) und eine »Gewaltlosigkeit der Schwachen« (passiver Widerstand). Wer passiven Widerstand leistet, verzichtet zwar auf verletzende und tötende Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung, nicht aber auf die Methoden des Zwangs und des politischen Drucks.

Verwirrend ist, das sich die Gewaltlosigkeit der Starken und die der Schwachen oftmals der gleichen Aktionsmethoden bedienen, nämlich der Aufkündigung der Zusammenarbeit in Form von Streik oder Boykott. Der Unterschied zeigt sich jedoch rasch, sobald der Gegner zur Gewalt greift, um den Widerstand zu brechen. Die »Gewaltlosigkeit der Schwachen« wird dann gewöhnlich zusammenbrechen oder in gewaltsamen Widerstand übergehen, die »Gewaltlosigkeit der Starken«, sofern es sich denn tatsächlich um solche handelt, wird die Gewalt des Gegners hinnehmen ohne Zurückweichen oder Zurückschlagen, um sie dadurch zu überwinden. Selbstverständlich kann es auch bei einem derartigen Kampf Tote und Verletzte geben; langfristig wird jedoch eine Verhandlungslösung erreicht, welche die legitimen Interessen aller Beteiligten berücksichtigt.

In ausgeprägter Form findet sich die Gleichsetzung von Wahrheitskraft und passivem Widerstand selbst bei dem Gandhi durchaus geistesverwandten Albert Schweitzer: „Er (Gandhi) meint, der passive Widerstand, im Geist der Hasslosigkeit der wahren Ahimsa (Nicht-Gewalt) durchgeführt, sei die Waffe, die ihm die Ethik zu führen erlaubt. Er irrt. Zwischen dem tätigen und dem passiven Widerstand ist nur ein ganz relativer Unterschied. Durch Zustände, die auf nicht-gewaltsame Weise geschaffen werden, soll ein Druck auf den Gegner ausgeübt und Nachgiebigkeit erzwungen werden. Als ein Angriff, der schwerer abzuwehren ist als der tätige, kann der passive Widerstand mehr Erfolg haben als dieser. Es ist aber auch Gefahr, dass diese versteckte und indirekte Anwendung von Gewalt mehr Erbitterung schafft als die offene. Ist passiver Widerstand anders geartet als aktiver? Nein: Er ist Gewalt.“ (Schweitzer, 2003, S.198)

Gandhi ist da ganz anderer Ansicht: „Zwischen passivem Widerstand und Satjagraha ist der Unterschied groß und grundsätzlich… Wenn wir weiterhin glauben und andere glauben lassen, wir seien schwach und hilflos und leisteten deshalb passiven Widerstand, dann würde unser Widerstand uns niemals stark machen, und bei der geringsten Gelegenheit würden wir unseren passiven Widerstand als eine Waffe des Schwachen aufgeben. Wenn wir dagegen Satjagrahis sind und Satjagraha leisten in dem Glauben, stark zu sein, so werden sich daraus zwei klare Folgen ergeben. Indem wir den Gedanken der Stärke nähren, werden wir von Tag zu Tag stärker. Mit dem Wachsen unserer Stärke wird auch unsere Satjagraha wirksamer, und wir werden nie nach einer Gelegenheit Ausschau halten, sie aufzugeben. Und während wiederum im passiven Widerstand kein Raum für Liebe ist, hat andererseits in der Satjagraha Hass nicht nur keinen Platz, sondern ist ein ausdrücklicher Verstoß gegen ihr leitendes Prinzip.“ (zit. nach Kraus, o.J., S.167)

4. Die religiös-philosophische Wurzel von Satjagraha wird nicht erkannt

Ich nenne dieses Missverständnis das wissenschaftliche, weil Sozialwissenschaftler mit Gandhis Satjagraha-Konzept naturgemäß Probleme haben. Zwar schließt Gandhis Formel »Gott ist die Wahrheit« auch philosophische Wahrheitsdefinitionen ein, doch nur, sofern sie eine metaphysische Dimension der Wirklichkeit anerkennen. Das ist beim wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff definitionsgemäß nicht der Fall. Wird dem Satjagraha-Konzept die religiös-philosophische Wurzel abgeschnitten, stirbt es wie eine Pflanze, die man ihrer Wurzel beraubt. Die »Gewaltlosigkeit der Starken« verwandelt sich augenblicklich in die »Gewaltlosigkeit der Schwachen«, d.h. in verdünnte Gewalt oder passiven Widerstand. Diesem Missverständnis begegnet man u.a. bei Gene Sharp (1973) und Adam Roberts (1971), teilweise auch bei Theodor Ebert. Ihrer Ansicht nach hat Gandhi durch seine Askese und die religiöse Begründung von Satjagraha eine breite Akzeptanz seines Konzepts im Westen verhindert. Ich weiß nicht, was Gandhi auf diesen Vorwurf geantwortet hätte. Meine Antwort lautet: Billiger ist Satjagraha nun mal nicht zu haben. Wer nicht bereit ist, den Preis zu bezahlen, soll es lassen. Jesus von Nazareth sprach in einem ähnlichen Zusammenhang vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle, die zu erwerben jeden Preis wert seien. (Mt 13, 44-46)

Heißt das, eine Satjagraha-Kampagne könne nur durch ausgebildete Satjagrahis mit Erfolg durchgeführt werden? Keineswegs. Die Erfolgsaussichten sind zwar desto größer, je mehr Satjagrahis sich daran beteiligen. Die zweitbeste Lösung aber ist die Verbindung einer gewaltfreien Führerschaft mit einer gewaltlosen Gefolgschaft. Von einer Kombination gewaltfreier und gewaltsamer Aktionsmethoden ist jedoch abzuraten, da sie auf gegensätzlichen Prinzipien beruhen. Gandhi und King hätten lange warten müssen, hätten sie ihre Kampagnen mit ausgebildeten Satjagrahis durchführen wollen. Gandhi stand überdies unter extremem Handlungszwang, denn in Indien war bereits eine Befreiungsbewegung entstanden, welche die Briten durch Attentate und Terroranschläge zu massiven Unterdrückungsmaßnahmen herausforderte. Ihr Gewaltverzicht zu predigen, ohne ihr eine konstruktive Alternative zur Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung anzubieten, hielt Gandhi für nutzlos, ja verwerflich. Eine gemischte Kampagne leidet freilich an der Schwäche, dass mit dem Tod der charismatischen Führergestalt die treibende Kraft für den gewaltfreien Kampf versiegt. Das war sowohl in Indien als auch in den USA der Fall.

5. Satjagraha wird mit moralischem Zwang gleichgesetzt

Karl Jaspers schreibt in seinem 1958 erschienenen Buch zur Nuklearkriegsdrohung: „Es wird berichtet von der Verwandlung der Atmosphäre in Indien durch Gandhi. Statt der Liberalität verbreitete sich ein allgemeiner Zwang des Fürwahrhaltenmüssens. Diese Gewaltlosigkeit, die zwar auf physische Gewalt verzichtet, übt eine andere aus, die unerträglich werden kann… Gandhis Selbstdisziplin erfolgt nicht ohne innere Gewaltsamkeit. Diese wird bei den ihm Folgenden anders, weil fanatisch. Solche Gewaltsamkeit gegen sich selbst aber ist keineswegs Läuterung, nicht freies Zu-sich-selbst-Kommen. Daher ist, wer sich selbst vergewaltigt, zur Vergewaltigung anderer bereit. Solche Vergewaltigung anderer durch moralischen Druck ist ein Element in Gandhis Wirksamkeit.“ (a.a.O., S.66)

Für Gandhi, wenn ich ihn recht verstehe, bedeutet Satjagraha etwas Drittes jenseits des Gegensatzes von (egoistischer) Liebe und Hass, und mit »Brahmatscharja« (Streben nach dem Göttlichen) meint er etwas Drittes jenseits des Gegensatzes von Trieb-Ausleben und Trieb-Unterdrücken. Bei Sigmund Freud hätte Jaspers durchaus den Schlüssel zum Verständnis von Gandhis Askese finden können. Freud erkannte klar die Kultur schaffende Wirkung der Triebsublimation. Er sieht in den Kulturleistungen des Menschen sublimierte Triebenergie am Werk. Was Gandhi von uns Normalsterblichen unterschied, war seine für viele Menschen erschreckende und abstoßende Radikalität. Er gibt sich mit der relativen Sublimierung der Triebenergie nicht zufrieden. Ihm geht es um nichts Geringeres als die vollständige Triebsublimation, nicht nur des Sexualtriebs, sondern sämtlicher Triebe, um sie in geistige Energie umzuwandeln und zum Wohl der Menschheit einzusetzen: „Brahmatscharja bedeutet nicht nur physische Selbstkontrolle. Es bedeutet völlige Kontrolle über alle Sinne. So ist ein unreines Denken ein Bruch von Brahmatscharja, ebenso Ärger. Alle Kraft kommt von der Erhaltung und Sublimierung der Vitalität, die für die Erzeugung von Leben verantwortlich ist. Wird diese Vitalität gespart, statt verschwendet zu werden, so wird sie in schöpferische Energie der höchsten Art verwandelt… Bei jemandem, der große Menschenmassen zu gewaltfreier Aktion zu organisieren hat, muss die vollständige von mir beschriebene Kontrolle versucht und verwirklicht werden.“ (zit. nach Kraus, o.J., S.79)

6. Satjagraha ist angeblich nur gegen moralisch ansprechbare Gegner einsetzbar

Deshalb habe Gandhi die Engländer besiegen können, einem Hitler oder Stalin gegenüber sei Wahrheitskraft jedoch zum Scheitern verurteilt. Diesem Argument liegt die Vorstellung zugrunde, Wahrheitskraft beruhe auf einem moralischen Appell oder der Anwendung moralischen Drucks. Gandhi hat dieser Auffassung vehement widersprochen. Wahrheitskraft ist für ihn nicht subtile oder verdünnte Gewalt, sondern das Gegenteil von Gewalt. Sie schafft die Gewalt sozusagen wieder aus der Welt und zwar nach der schlichten Dreisatzregel: Wo wenig Gewalt ist, genügt auch wenig Gewaltfreiheit, um sie zu neutralisieren, wo viel Gewalt ist, bedarf es viel Gewaltfreiheit und wo sehr viel Gewalt ist, bedarf es sehr viel Gewaltfreiheit, um sie wieder aus der Welt zu schaffen (vgl. Gandhi, 1996, S.59).

Selbstverständlich kann auch ein gewaltfreier Kampf verloren gehen, doch nur, wenn die Satjagrahis resignieren, zum passiven Widerstand übergehen oder zur Gewalt ihre Zuflucht nehmen. Solange sie an der Wahrheit festhalten, können sie nicht wirklich verlieren, selbst wenn sie im Kampf ihr Leben verlieren; denn das Festhalten an der Wahrheit ist Sieg, das Loslassen der Wahrheit ist Niederlage. Die Erfolgsaussichten (im traditionellen Sinn des Wortes) eines gewaltfreien Kampfes sind allerdings umso größer, je mehr Menschen sich bereit finden, ihr Leben im Kampf einzusetzen und je besser sie vorbereitet und organisiert sind. Gandhi sieht hier bei allen Unterschieden in Zielen und Mitteln eine gewisse Parallele zum bewaffneten Kampf. Wie eine gewaltfreie »Schlacht« aussehen könnte, hat er mit dem Versuch, die Dharasana-Salzwerke im Zuge der Unabhängigkeitskampagne von 1930/31 zu erobern, vorexerziert (vgl. Fischer, 1951, S.286ff.). Diese Schlacht ging zwar verloren, da es den Satjagrahis nicht gelang, die Salzwerke zu erobern. Im Unabhängigkeitskampf Indiens spielte sie jedoch eine wichtige Rolle und trug durch indirekte Wirkungen zu seinem Erfolg bei.

Die Engländer waren übrigens keineswegs Menschenfreunde, die den rückständigen Indern die Segnungen der modernen Zivilisation bringen wollten. Sie waren rücksichtslose Kolonialisten, deren Hauptziel darin bestand, den indischen Subkontinent wirtschaftlich auszubeuten und in politischer Abhängigkeit zu halten. Sie bevorzugten allerdings das System indirekter Herrschaft, d.h. sie zogen eine Schicht von Indern heran, die dieses Geschäft für sie besorgten und daran kräftig verdienten. Dieser »Kompradorenbourgeoisie« gehörte der in London zum Rechtsanwalt ausgebildete Gandhi ja ursprünglich ebenfalls an.

Der relativ gewaltlose Verlauf des indischen Unabhängigkeitskampfes ist meines Erachtens auf die deeskalierende Wirkung der Gewaltfreiheit zurückzuführen. Hier wird folglich auf das Konto der Engländer verbucht, was in Wahrheit dem Konto Gandhis gutgeschrieben werden muss.

7. Die Zweck-Mittel-Kongruenz wird außer Acht gelassen

Ein Hauptargument gegen das Satjagraha-Konzept lautet, es sei außerstande, ein Land gegen einen militärischen Angreifer zu verteidigen. Gandhi bestritt diese Behauptung. Als Indien 1942 durch eine japanische Invasion bedroht war, entwickelte er in Grundzügen das Konzept einer Sozialen Verteidigung, das auf den Methoden des gewaltfreien und gewaltlosen Kampfes beruht. Richtig ist allerdings, dass Gewaltfreiheit ein denkbar ungeeignetes Mittel ist, Reichtum, Macht und Privilegien zu erwerben oder als Staat fremde Länder zu erobern sowie die Rohstoffversorgung des eigenen Landes zu sichern und den Zugang zu fremden Märkten und Transportwegen offen zu halten. Wer diese Ziele verfolgt, muss zu direkter oder indirekter Gewalt greifen. Andererseits gilt: Wer Frieden, Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte erkämpfen oder verteidigen will, sollte zu gewaltfreien Methoden greifen. Mit Gewalt wird er sein Ziel niemals erreichen. Zwischen Mittel und Zweck, Weg und Ziel besteht ein ebenso enger Zusammenhang wie zwischen Samen und Pflanze. Die weit verbreitete Ansicht, die auch Max Webers Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik zugrunde liegt, dass nämlich der gute Zweck die bösen Mittel heilige, zumindest aber rechtfertige oder entschuldige, lässt Gandhi nicht gelten.

Das Missverständnis besteht in diesem Fall darin, Wahrheitskraft für eine Aktionsmethode zu halten, die für beliebige Ziele einsetzbar ist. Es ist zwar richtig, dass sie auf allen gesellschaftlichen Ebenen von der persönlichen bis zur globalen Ebene mit Aussicht auf Erfolg eingesetzt werden kann, vorausgesetzt, die von mir genannten Bedingungen sind erfüllt. Das heißt aber nicht, dass sie für beliebige Ziele einsetzbar ist. Was in den Augen der Kritiker der gravierendste Nachteil von Satjagraha ist, ist m.E. ihr größter Vorzug – vorausgesetzt, die angestrebten Ziele sind wirklich rein.

Schlussbemerkung

Wahrheitskraft im Kleinen wie im Großen Maßstab ist m.E. das Einzige, was die hilflos am Abgrund der Selbstvernichtung entlang taumelnde Menschheit noch retten kann. Doch, nüchtern betrachtet, ist das Verhängnis kaum abzuwenden. Es ist wie in der griechischen Tragödie. Es gibt einen Rettungsweg, der Held aber sieht ihn nicht, und selbst wenn er ihn sähe, könnte er ihn nicht gehen.

Literatur

Fischer, L. (1951): Das Leben des Mahatma Gandhi. München.

Gandhi, M. (1996): Für Pazifisten. Münster.

Jaspers, K. (1958): Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. München.

King, M.L. (1968): Freiheit! Der Aufbruch der Neger Nordamerikas. München.

Kraus, F. (Hrsg.) (o.J.): Vom Geist des Mahatma. Ein Gandhi-Brevier. Zürich.

Roberts, A. (Hrsg.) (1971): Gewaltloser Widerstand gegen Aggressoren. Probleme, Beispiele, Strategien. Göttingen.

Schweitzer, A. (2003): Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze, herausgegeben von Claus Günzler u.a. München.

Sharp, G. (1973): The Politics of Nonviolent Action. Boston.

Dr. Wolfgang Sternstein lebt als Konflikt- und Friedensforscher und Bewegungsaktivist in Stuttgart.

Gewalt für Frieden?

Gewalt für Frieden?

Diskussionsbeitrag zur Pazifismusdebatte

von Albert Fuchs

Seit dem Ende der West-Ost-Konfrontation und insbesondere mit dem Zweiten Golfkrieg und dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat der Glaube an die militärische Gewalt als Mittel der Politik – nicht zuletzt als Mittel der Friedenspolitik – eine kräftige Wiederbelebung erfahren. Selbst unter Friedensbewegten oder vormals Friedensbe­wegten feiert er fröhliche Urständ. Das ist vielleicht insofern wenig er­staunlich, als es die Friedensbewegung ja nicht gibt und niemals ge­geben hat. Zudem war zu Zeiten der gegenteiligen Außendarstellung eine Auseinandersetzung über weiterreichende Perspektiven unter­blieben. Die Zukunft einer »Friedenspolitik von unten« dürfte aller­dings wesentlich davon abhängen, daß diese Auseinandersetzung nicht länger zurückgestellt, sondern offen und argumentativ geführt wird.
Im vorliegenden Beitrag setzt sich unser Redaktionskollege Albert Fuchs mit den Positionen auseinander, die unlängst von dem katholi­schen Theologen Norbert Greinacher und dem bei »Ohne Rüstung Le­ben « engagierten evangelischen Pfarrer Werner Dierlamm in der Zeit­schrift Publik Forum vertreten wurden. Greinacher versteht sich selbst als »Nuklearpazifist«, Dierlamms Position wird von Fuchs als »Polizeipazifismus« charakterisiert. Beiden friedenspolitischen Orien­tierungen werden aus »radikalpazifistischer« Sicht Ungereimtheiten und Halbherzigkeiten nachgewiesen. Die Ausführungen von Fuchs werden wahrscheinlich nicht die ungeteilte Zustimmung unserer Lese­rinnen finden. Wissenschaft und Frieden steht als Forum für eine Fort­setzung der Diskussion zur Verfügung.

„Niemals tut man so vollständig und so gut das Böse, als wenn man es mit gutem Gewissen tut.“

Blaise Pascal

Auf die Frage „Frieden schaffen mit Gewalt?" hat, der katholische Theologe Norbert Greinacher in Publik Forum Nr. 12/94 als „atomarer Pazifist“ eine Antwort gegeben, die ein „absoluter Pazifist“ nur enttäu­schend finden kann. Es ist aber nicht nur das Fremdheitsgefühl gegenüber einem angesehe­nen und geschätzten Vertreter der Friedensbe­wegung, das sich unweigerlich einstellt, wenn einem dessen Distanz zur eignen Position be­wußt wird. Greinachers Ausführungen enthal­ten Ungereimtheiten, die mit einiger Sicherheit nicht erst durch die Brechung seiner Auffassun­gen in einer »radikalpazifistischen Optik« entste­hen. In Publik Forum Nr. 13/94 wird die Diskus­sion mit einem Beitrag des evangelischen Pfar­rers Werner Dierlamm fortgesetzt, der sich mit einem „Nein zum Militär, Ja zur Polizei" aus radikalpazifistischer Sicht ebenfalls manche Halbherzigkeit leistet.

»Nuklearpazifistische« Ungereimtheiten

1. Greinacher distanziert sich an zwei Stellen seines Beitrags von der Lehre vom »gerechten Krieg«. An der ersten (a.a.0, S. 12, Sp. 4) weist er einerseits auf den vorchristlichen Ursprung dieser Lehre hin und bringt sie andererseits in Verbindung mit Clausewitz' These vom Krieg als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln". Damit scheint er sagen zu wollen, die »bellum iustum« Lehre sei obsolet, weil ein Staat, der auch zur militärischen Durchsetzung seiner In­teressen entschlossen ist, sich ihrer als eines wohlfeilen Legitimationsinstrumentes bedienen könne. Die Wirkungsgeschichte dieser Lehre dürfte ihm diesbezüglich nur allzu sehr Recht geben. An der zweiten Stelle (a.a.O., S. 13, Sp. 3) bekräftigt Greinacher aber seine Ablehnung in einem Zusammenhang, in dem er – als „kein absoluter Pazifist, sondern (als) ein atomarer Pazifist“ – plausibel zu machen versucht, daß die Anwendung von (militärischer) Gewalt zur Minderung und Überwindung von Gewalt recht­fertigungsfähig sein könne. Da aber genau dies das ureigenste Anliegen der »bellum iustum«-­Lehre ist, wie Greinacher u.a. mit Bezug auf den Kirchenlehrer Augustinus andeutet, ist schwer nachzuvollziehen, warum diese Lehre auch un­ter der Zielperspektive obsolet sein soll.

2. Dieser zweifache Widerspruch – Ablehnung der Lehre vom gerechten Krieg trotz Akzeptanz ihres Anspruchs und Akzeptanz ihres An­spruchs trotz anspruchskonträrer historischer Wirkung – wäre vielleicht hinnehmbar, wenn Greinacher aufzeigen könnte, wie jener An­spruch ohne »bellum iustum« Lehre und ohne entsprechende fatale Wirkungen zu erreichen sein könnte. Dazu aber gibt er keinerlei Hinweise. Im Gegenteil, das von Greinacher einzig genannte Kriterium für eine sozusagen zivili­sierte und zivilisierende Anwendung von militä­rischer Gewalt ist ein klassisches »bellum iu­stum« Kriterium, das des »letzten Mittels«: „Es darf wirklich nur der allerletzte Ausweg sein, nachdem alle anderen nichtmilitärischen Mittel erschöpft sind" (a.a.O., S. 13, Sp. 4).

Dieses Kriterium setzt allerdings eine Antwort auf die Fragen voraus, aus welchem Anlaß und zu welchem Zweck militärische Gewalt als „al­lerletzter Ausweg“ zur Anwendung kommen soll. Offensichtlich wird als selbstverständlich unterstellt, daß ein »rechtfertigender Grund« und die »rechte Absicht« vorliegen müssen. Damit wären wir schon bei drei Komponenten der »bellum iustum« Lehre. Man könnte fortfah­ren, nach den Voraussetzungen und Implikatio­nen von Greinachers Position zu forschen. Aber auch mit diesen drei Komponenten drängt sich bereits die Frage auf, welches Interesse je­mand verfolgen mag, der die offensichtliche Verwandtschaft seiner Position mit der »bellum iustum« Lehre verleugnet. Wenn es um die Ver­meidung der besagten anspruchskonträren hi­storischen Wirkung gehen sollte – sicher das ehrenwerteste, aber keineswegs das allein mögliche Motiv! –, stellt sich die Anschlußfrage, ob man denn begründet erwarten kann, dieses Ziel dadurch zu erreichen, daß man eine relativ elaborierte »objektive Theorie« durch eine un­differenzierte »subjektive Theorie« ersetzt. Ich glaube nicht, daß das begründet zu erwarten ist; ich glaube vielmehr, wenn jene »objektive Theorie« ihren Anspruch über Jahrhunderte hinweg nicht einzulösen vermochte, sich im Gegenteil als Gewalt- und Kriegsstimulans er­wies, wird das einer eklektizistischen »subjekti­ven Theorie« noch viel weniger gelingen bzw. erst recht blühen. (Damit möchte ich mich im übrigen nicht auf die Meinung festlegen, „daß es diesseits der Position des absoluten Pazifis­mus keine echte Alternative" zur Lehre vom gerechten Krieg gibt (Stobbe, 1994, S. 18); wohl muß man darauf bestehen, daß die Unabhän­gigkeit angeblicher Alternativen nachgewiesen und nicht bloß behauptet wird!)

3. Die „historische(n)Argumente“, die Greinacher zugunsten seiner Position anführt, erschöpfen sich in dem bekannten großkirchli­chen Traditionalismus und rühren in ebenso bekannter staatstragender Manier alle mögli­chen Formen von angeblich rechtfertigungsfä­higer Gewalt munter durcheinander. Die eigent­lich religiöse Frage aber wird nicht einmal an­gesprochen: Wie ist der Glaube an einen alle Menschen unbedingt bejahenden Gott oder – in anderer Terminologie – die Erfahrung Gottes als der mystischen Einheit von Alter und Ego in Einklang zu bringen mit der Bereitschaft und dem Willen, den Anderen zu vernichten? In Greinachers Beteuerung, „als Mitglied der Frie­densbewegung" zu versuchen, „Christ zu sein und als Christ politisch zu denken und zu han­deln" (a.a.O., S. 13, Sp. 2), kommt vielleicht ein gewisses Problembewußtsein diesbezüglich zum Ausdruck. Wenn er dann aber seinen „ho­hen Respekt" vor den „Menschen und Bewegungen“ betont, „die sich… zur absoluten Gewaltlosigkeit bekannten und dies in der Praxis des Lebens verwirklichten" (ebd.), kann ich mich des Eindrucks einer Entrückungs- und Immunisierungsstrategie gegenüber dem Anspruch des christlichen Glaubens bzw. der religiösen Erfahrung nicht erwehren. Jedenfalls vermag ich in der Ersetzung der frühchristlichen Leitidee der Jesus Nachfolge durch die Idee der Verehrung („hoher Respekt') und in der darin implizierten »Doppelmoral« keine jesuanische Option zu erkennen – was auch immer die »christliche Tradition« dazu sagen mag.

4. Völlig unklar erscheint mir die Grundlage der von dem Philosophen E. Tugendhat und der bekannten Erklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver 1983 inspirierten Dissoziierung von Nuklearpazifimus und absolutem Pazifismus. Spielt hier vielleicht wiederum ein »bellum iustum« Kriterium – das der Diskriminierbarkeit von Kombattanten und Nichtkombattanten bzw. der Kontrollierbarkeit der militärischen Mittel – die entscheidende Rolle? Das wäre immerhin ein sachlicher Anhaltspunkt, wenn auch ein recht oberflächlicher. Jedenfalls muß man, wenn man wieder aus dem traditionalistischen Regreß herauskommen will, die Erklärung des Weltkirchenrats dahingehend hinterfragen, ob und wieso erst Herstellung, Stationierung und Einsatz von Kernwaffen „ein Verbrechen gegen die Menschheit" sein sollen, wieso denn nicht schon die Bereitschaft zur Vernichtung eines Menschen die Bereitschaft zur Vernichtung der ganzen Menschheit bedeutet – entsprechend dem von Greinacher zustimmend zitierten Grundsatz der französischen Verfassung von 1793, daß es einer Unterdrückung der Gesamtheit der Gesellschaft gleichkommt, wenn auch nur eines ihrer Glieder unterdrückt wird. Für Nicht Theologen und Nicht Quasi Theologen mag das allerdings zu essentialistisch gedacht sein. Doch auch ohne solchen Essentialismus wird man von der »Staatsnotwehr« bis zur »wechselseitig gesicherten Vernichtung« von Militärblöcken im Hinblick auf die zugrundeliegenden Mentalitäten und psycho- und soziopolitischen Mechanismen statt eines »qualitativen Sprungs«, der vielleicht eine Differenzierung von Nuklearpazifismus und absolutem Pazifismus rechtfertigen könnte, nur Kontinuitäten finden.

5. Fast nur noch als schlechten Witz kann ich Greinachers Forderung nach „eine(r) förmliche(n) Ächtung des Krieges als Institution" verstehen. Denn genau das ist doch der Sinn des Gewaltverbots in den zwischenstaatlichen Beziehungen gemäß Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta – wobei allerdings eine „große Achillesferse" (Deiseroth, 1994, S. 43) eingebaut ist: das „…im Falle eines bewaffneten Angriffs… naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung" (mit militärischen Mitteln) gemäß Art. 51 der Charta. Aber dieses angeblich »naturgegebene Recht« will Greinacher, wenn ich ihn recht verstehe, ja auch nicht in Frage gestellt sehen. Was bleibt also diesbezüglich noch zu fordern, wenn man sich auf einen »Nuklearpazifismus« beschränkt? Und wie kann man diesem Stand der Dinge die „unbedingte (sic!) Option für die Gewaltfreiheit" entgegensetzen, ohne „absoluter Pazifist" zu sein?

Soviel zu Greinachers nuklearpazifistischen Ungereimtheiten. Sie lassen es höchst fraglich erscheinen, ob eine solche Position überhaupt widerspruchsfrei zu formulieren ist. Aber auch Dierlamms Versuch, das pazifistische „Nein zum Militär“ mit einem staatstragenden „Ja zur Polizei“ zu verbinden, erscheint mir in mancher Hinsicht wie das Aufgebot zu einer »Hochzeit von Unvereinbarkeiten« – Ausdruck jedenfalls eines zutiefst halbherzigen Pazifismus.

»Polizeipazifistische« Halbherzigkeiten

1. Das „Ja zur Polizei“ ist in einem ahistorisch mystifizierenden Staatsverständnis verankert, für das der Widerspruch zwischen Ziel und Mitteln konstitutiv ist. Der Staat habe – wie Dierlamm aus der »Barmer Theologischen Erklärung« offensichtlich vorbehaltlos zustimmend zitiert – „nach göttlicher Anordnung die Aufgabe…, unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen" (a.a.O., S. 10, Sp. 2). Aber muß dieses geradezu antipazifistische Staatsverständnis nicht eine fatale Dynamik entfalten und sich als Legitimationsideologie geradezu aufdrängen? Ist es also nicht zu einem Gutteil dafür verantwortlich zu machen, daß das doch höchst wandelbare und m.E, sehr »weltlich' Ding« Staat sich vor allem als jene soziale Realität erweist, „die bis auf den heutigen Tag stets den Mord als Bedingung ihrer Existenz, ihres Überlebens und zuallererst ihres Entstehens" einschließt? (P. Ricoeur – zit. nach Mettner & Thiele, 1984, S. 83).

2. Es kann kaum verwundern, daß sich der Grundwiderspruch zwischen Ziel und Mitteln in Dierlamms Staatsverständnis in seinem Verständnis der Polizei als „ein staatliches Instrument zum Schutz der Schwachen und Bedrohten und zur Aufrechterhaltung von Recht und Frieden" im Wege der „Androhung und Ausübung von Gewalt" (a.a.O., S. 10, Sp. 4) wiederholt. Befremdlicher ist insofern, wie Dierlamm ohne erkennbare Anfechtung durch irgendwelche Zweifel an dieser Bestimmung der Polizei „ihrem Wesen nach" – nebenbei: Wie kommt man eigentlich zu dieser »Wesens« Erkenntnis? – festzuhalten vermag angesichts einer weltweiten Polizeien Wirklichkeit, wie sie sich beispielsweise in den Berichten von amnesty international Jahr für Jahr darstellt.

3. So ungebrochen Dierlamm die offiziöse Ideologie in Sachen Einzelstaat und Polizei (theologisch überhöht) reproduziert, so wenig geheuer bzw. realistisch ist ihm augenscheinlich die Übertragung dieses Denkmodells auf einen Weltstaat bzw. die UNO als dessen Vorform. Sie wird nur als kontrafaktische Konstruktion vorgenommen: „Die Verhältnisse sind nicht so", daß die Einzelstaaten der UNO „die Verfügungsgewalt über ihre ganze Militärmacht einräumen, das heißt, der UNO ihre Armeen ausliefern oder sich von der UNO entwaffnen lassen" (a.a.O., S. 11, Sp. 1), wie das Modell es erfordern würde. Und ebenso ist klar, daß „die Großmächte die Möglichkeit (haben)…, alle schwächeren Nationen… durch Androhung und Ausübung von Gewalt unter ihre Rechtsordnung und den von ihnen diktierten Frieden zu zwingen", während „sie selbst durch niemand und nichts zu Recht und Frieden gezwungen werden (können)" (ebd.). Die Verhältnisse sind aber auch nicht so – das wäre mit Narr (1992) zu ergänzen –, daß in absehbarer Zeit geeignete Strukturen und Verfahren zur Verfügung stehen könnten, um durch Gewaltenteilung, Machtbalance und wechselseitige Kontrolle – entsprechend der Logik des europäisch angelsächsi schen Verfassungsstaates – dem Mißbrauch der konkurrenzlosen Macht des herbeizitierten »Welt-Kingkong« vorzubeugen. Was Wunder, daß unter diesen Umständen nur die hinlänglich bekannte kirchlich theologische Vertröstung auf ein Jenseits von Zeit und Geschichte bleibt: „Wir räumen also ein, daß wir uns in der 'noch nicht erlösten Welt' dem Prinzip der absoluten Gewaltlosigkeit nicht verschreiben können." (a.a.O., S. 11, Sp. 2)

4. Wenn aber die aus radikalpazifistischer Perspektive bereits in sich höchst problematische Einzelstaatsideologie erklärtermaßen nur als kontrafaktische Konstruktion auf einen Weltstaat projizierbar ist, stellt sich auch hier die Frage, was eigentlich Sinn und Zweck dieser Ausführungen sein mag. Darüber läßt sich nur spekulieren. Ähnlich den großkirchlichen Kornplementaritätsformeln auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um die Atombewaffnung bzw. um die »Nachrüstung« sollen sie es anscheinend (christlichen) Pazifisten ermöglichen, sich in der Kirche beheimatet zu fühlen (und der Kirche, diese Pazifisten als legitime Abkömmlinge anzuerkennen). Daß man damit der pazifistischen Sache einen Dienst erweist, wage ich zu bezweifeln.

Greinacher und Dierlamm sehe ich verbunden in der Weigerung, sich von der herrschenden Kultur der Gewalt (vgl. Galtung, 1990) »von den Wurzeln her« zu verabschieden und zumindest geistig, wenn man schon als Bürger eines Staates dieser Kultur nicht einfach aus dem effektiven Gewaltkomplizentum ausziehen kann, in eine Gegenkultur aufzubrechen. Konstruktionen dieser Art tragen unweigerlich dazu bei, daß das Böse – um mit B. Pascal zu sprechen – weiterhin um so vollständiger und um so besser getan wird, als es »mit gutem Gewissen« getan werden kann – ob als (zwischenstaatlicher) „allerletzter Ausweg“ durch Militär (Greinacher) oder als (über ) „staatliches Instrument“ durch Polizei (Dierlamm), scheint keinen wesentlichen Unterschied zu machen. Der radikalpazifistischen Kritik an solchen Konstruktionen geht es demgegenüber nicht primär um Gesinnung und die reine Lehre, sondern gerade darum, als Pazifist glaubwürdig politisch denken und handeln zu können. Nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 12.07.94 zur Einsetzbarkeit der Bundeswehr »out of area« ist dazu m.E. eine schlüssige weiterreichende Perspektive nötiger denn je. Beim konkreten friedenspolitischen Engagement mögen Kompromisse und Konzessionen unvermeidbar sein.

Literatur

Deiseroth, D. (1994). Vom Recht des Stärkeren zur Stärke des Rechts. Wissenschaft und Frieden, 12 (2), S. 26 28 und 41 44.

Dierlamm, W. (1994). Nein zum Militär, Ja zur Polizei. Publik Forum, 23, Nr. 13, S. 10 11.

Gattung, J. (1990). Cultural violence. Journal of Peace Research, 27, S. 291 305.

Greinacher N. (1994). Frieden schaffen mit Gewalt? Publik Forum, 23, Nr. 12, S. 12 13.

Mettner, M, & Thiele, J, (1983). Entwaffnender Glau­be. München: Kösel.

Narr,W-D, (1992, 21.09.) Der Welt Kingkong kann die Geißel des Krieges nicht besiegen. Frankfurter Rundschau, 48, Nr. 220, S. 8.

Stobbe, H-G (1994). »Gerechter Krieg« als Instrument ethischer Kriegsbegrenzung. Wissenschaft und Frieden, 12 (1), S. 16 18.

Albert Fuchs vertritt z.Z. eine Professur für Allgemeine Psychologie an der PH Erfurt/ Mühlhausen.

Gewaltfreie Politik – zumindest theoretisch

Gewaltfreie Politik – zumindest theoretisch

Über die Erklärungskraft der Trennung von Macht und Gewalt bei Hannah Arendt

von Gesa Reisz

Die Sprache der Politik ist gespickt mit Gewalt, sei es durch gewaltimplizierende Begriffe, durch mangelnde Wahrhaftigkeit oder als Ausformulierung struktureller Gewalttätigkeit. Dazu werden die Begriffe der Politik im Laufe der Zeit immer neu besetzt, anders konnotiert. So machen sich FriedensforscherInnen vergeblich auf die Suche nach Begrifflichkeiten, die nicht schon vermischt sind mit den akribisch erforschten Formen der Gewalt. Der von Hannah Arendt eingeführte Machtbegriff unter den Bedingungen von Handeln und Existenz soll hier dargelegt und erläutert werden. So soll nachvollziehbar werden, warum gerade dieser Begriff als Kategorie für die Friedenswissenschaften so aktuell ist und wie er operationalisierbar wird – und zwar in Grenzen, die ihre Berechtigung in diesem Phänomen und den von Hannah Arendt erläuterten Bedingungen finden, die das Individuum Mensch als politisch begabtes Wesen wieder auferstehen lassen.

Bei der Philosophin Hannah Arendt gibt es eine Trennung des politischen Handelns von Tätigkeiten unter Verwendung von Gewalt. Durch diese theoretische Trennschärfe ist es möglich, politisches Handeln als reinen Begriff zu verwenden und der aktuellen Allgegenwart der Gewalt in Sprache und Aktion der Politik einen Gegenpol zu setzen. Insbesondere der von ihr eingeführte Machtbegriff der kommunikativen Einigung auf ein Handeln setzt sich durch die Gewaltlosigkeit des Phänomens in Reinform positiv von der – friedenswissenschaftlich gesehen negativ konnotierten – Form der Macht als Gewalt über etwas ab. So gibt es wieder einen Unterschied zwischen Herrschaft und Ermächtigung (Arendt 1992: 193-202, Arendt 1993a: 44ff.).

Bei Hannah Arendts Machtbegriff handelt es sich um einen Modalbegriff. Sie behandelt Macht als ein Phänomen und betont die Eigenschaften der Macht als die eines flüchtigen Potentials. Sie bettet ihren Machtbegriff ein in die Kategorie des Handelns aus ihrem theoretischen Hauptwerk, der »Vita Activa«, als dessen besondere Form des Zusammenhandelns. Dieser ist von der Kategorie des (politischen) Handelns, wie sie in der »Vita Activa« dargestellt wird, nicht lösbar. Die Absetzung des Handelns von der Tätigkeit des Herstellens ist theoretische Grundlage für die spätere Begriffsdifferenzierung von Macht und Gewalt (vgl. Arendt 1992: 27-31, 124-145, 165ff. , 287-305).

Macht existiert nur als wirksame Macht. Hannah Arendts Definition von Macht ist ein kommunikatives Handlungsmodell, immer bemüht um die Absetzung von teleologischen Modellen, insbesondere dem von Max Weber, dessen Macht mehr oder weniger Verfügungsgewalt ist über Mittel, um einen Zweck zu erreichen, so daß Kommunikation nur zu einem Teil in der breiten Palette von Mitteln verkürzt wird. Bei Hannah Arendt ist Macht das Resultat einer kommunikativen Einigung und dient der gemeinsamen Praxis/Handlung. Ziel der Einigung ist die Entscheidung, die Entscheidung zu einem Handeln (Arendt 1992: 193 ff.).

Eine der Hauptintentionen, die man bei Hannah Arendt ausformuliert findet zu einer deutlichen Definition des Machtbegriffs, ist die berechtigte Kritik an der Politischen Wissenschaft, die die Begriffe Macht, Stärke, Autorität, Gewalt nicht trennscharf hantiert, teils auch resultierend aus einer theoretischen Überzeugung heraus, daß die einzig wichtige Frage in der Politik die nach der Herrschaft Wessen über Wen sei und nur noch die dazu erforderlichen Mittel weiteres Interesse verdienen. Die Vermischung dieser Begriffe hindert daran, die Wirklichkeit überhaupt sehen zu können. Verhängnisvoll stellt sich in dem Zusammenhang die Vermischung der Begriffe Macht und Gewalt dar (Arendt 1993a: 44-58).

In ihrem theoretischen Hauptwerk, der »Vita Activa«, erläutert Hannah Arendt die Grundbedingungen menschlicher Existenz und ordnet die drei Grundtätigkeiten des Menschen – arbeiten, herstellen und handeln – bestimmten Bereichen menschlichen Lebens zu. Für diesen Zusammenhang kommt es in der Hauptsache auf die Bedingung des Handelns und dessen Abgrenzung zum Herstellen an.

Die Grundbedingungen menschlicher Existenz sind die Natalität und die Mortalität sowie Weltlichkeit und Pluralität. In Bezug auf die Mortalität sind die drei Tätigkeiten der Vita Activa als lebenserhaltend (arbeiten), lebensüberdauernd (herstellen) und, insofern es politisches Gemeinwesen gründet und erhält, Kontinuität über Generationen gewährend und Geschichte und Erinnerung zeugend (handeln) beschrieben. Diese Bedingung stellt sich also dar als die Suche nach der Überwindung der Sterblichkeit des Menschen durch Lebenserhaltung im natürlichen Sinn und durch Dauerhaftes (Arendt 1992: 14-23).

Die Natalität ist den drei Grundtätigkeiten auf zwei Weisen vorgeordnet, ähnlich der Mortalität, nur in Bezug auf die Sorge um die kommenden Generationen neuer Menschen und als anthropologische Konstante, die die Einzigartigkeit des Menschen, damit die Pluralität der Menschen, begründet. Die Pluralität ist für das Handeln die entscheidende Bedingung. Sie gründet in der Einzigartigkeit eines jeden Menschen, der geboren wird (Arendt 1992: 15, 243). Diese Individualität findet im Handeln und Sprechen aktiv ihren Ausdruck Damit ist das wichtigste Element des Zusammenhangs eingeführt: Wenn mit jedem Menschen das potentiell Neue existiert, welches im Handeln und Sprechen aktiv zum Ausdruck kommen kann, ist menschliches Handeln nicht vorhersagbar oder berechenbar (Arendt 1992: 166f, 171, 173f, 183, 227).

Den Menschen an sich oder sein Wesen bestimmen zu wollen, hieße genau diese Bedingung der Pluralität zu bestreiten und somit auch die Möglichkeit des Handelns. Die politische Theorie dient nach Hannah Arendts Intention nicht zur Vorhersage von Politik, sondern dazu, Vergangenheit und Gegenwart verstehen zu können und erklärbar zu machen sowie vor allem, Gefahren aufzuzeigen, die der Politik und dem öffentlichen Raum drohen und ein Übermaß an Gewalt hervorbringen (Arendt 1953: 377-379; Arendt 1993b: 22; Vollrath 1979: 61-63).

Der Bereich, in dem das Handeln stattfindet, wird durch das Handeln und Sprechen selbst geformt. Es findet statt in dem Beziehungsgewebe zwischen Menschen, das seinerseits aus Gehandeltem und Gesprochenen entstanden ist. Wer handelt, tritt in einen öffentlichen Raum ein und offenbart sich dort selbst für andere sichtbar. Er betritt ein Beziehungsgewebe von Handelnden, um „den eigenen Faden in ein Gewebe zu schlagen, das er selbst nicht gemacht hat“ (Arendt 1992: 174). Es entsteht in jedem Fall etwas Neues, denn der Handelnde bringt seine Einzigartigkeit als Mensch, der er ist, mit ein.

Im Handeln und Sprechen enthüllt sich die Person. Der subjektive Faktor, »Wer« jemand ist, begleitet jedes Handeln. Erstens daraus und zweitens aus den unvorhersehbaren relationalen Konsequenzen (Gewebe) folgt die Unvorhersehbarkeit menschlichen Handelns. Das Bezugsgewebe mit einander widerstrebenden Absichten und Zwecken ist immer schon da, so daß die Ziele des Handelns nie in Reinheit verwirklicht werden können (Arendt 1992: 180-182).

Das Handeln und Sprechen richtet sich an andere Menschen, die sich in diesem Raum befinden. Obwohl durch Hannah Arendt kein Relationalbegriff der Macht geformt wird (potentia activa und passiva oder Luhmanns Ego und Alter), ist in der Tätigkeit des Handelns etwas Derartiges enthalten. Handeln hat eine Gegenseite, das Dulden, das Reagieren durch Handeln (Arendt 1992: 172, 181f). Handeln geschieht nicht im leeren Raum, sondern in der Gegenwart anderer Menschen mit derselben Begabung zum Handeln, zur Initiative. Diese Relationalität des Handelns ist aber eher eine Bestätigung der Unvorhersehbarkeit menschlicher Angelegenheiten, als daß sie das Grundmuster ihrer Analyse stellt.

Da das Handeln immer von Sprechen begleitet wird, ist auch hier der Relationalität des Handelns entsprochen. Handeln ohne Worte ist ein Handeln ohne den Handelnden, denn dieser will den öffentlichen Raum nicht betreten. Die Extreme wortlosen Handelns sind daher das Verbrechen und die Güte, die ihren Täter beide nicht entlarven (Arendt 1992: 169, 171).

Dieser öffentliche Raum, der zwischen Menschen entsteht und die Möglichkeiten zu neuem Handeln stellt, wird zusammengehalten von einem Machtpotential, dem entscheidenden Faktor für das Fortbestehen eines politischen Körpers (Arendt 1992: 195).

Gepflegt wird dieser öffentliche Raum noch durch die Handlungsmöglichkeiten des Versprechens und Verzeihens, als in die Vergangenheit und in die Zukunft gerichtete Möglichkeiten, der Unvorhersehbarkeit des Handelns, der unmöglichen Übersicht über die Folgen des Handelns im Bezugsgewebe und dem »subjektiven Faktor« des Handelnden Rechnung zu tragen und den Handelnden selbst von den unendlichen Folgen seines Tuns freizusprechen (Arendt 1992: 231ff., 194).

Macht besteht für Hannah Arendt in der kommunikativen Einigung auf gemeinsames Handeln. In dieser Form ist es als Potential vorhanden, das durch das Handeln der Gruppe oder eines Ermächtigten aktualisiert wird. Macht ist nur solange vorhanden, als die Gruppe zusammenhält. Das heißt, die Pflege des öffentlichen Raumes besteht in der stetigen Realisierung und Aktualisierung der potentiellen Macht. Das Miteinander der beteiligten Menschen muß nahe genug sein, die Möglichkeit des Handelns ständig offen zu halten (Arendt 1992: 194).

Auch bei der kommunikativen Form des Handelns gehört das Sprechen untrennbar zur Aktualisierung der Macht und auch zur Motivierung der Machtbildung dazu, so daß „Worte nicht leer und Taten nicht stumm„ (Arendt 1992: 194) sind. Der Mißbrauch des Wortes zur Verneblung der Absichten disqualifiziert das Tun als politisches Handeln. Ein ganz wesentliches Kriterium des Handelns und der Macht ist, daß es nicht zweckgebundenes Tun ist und nicht am Erfolg bemessen wird, sondern allein an der Größe. Das geht zurück auf Aristoteles Begriff der ????????, auf die Aktualität von Tätigkeiten, die keinen Zweck verfolgen und nichts außer sich selbst hinterlassen (bei Aristoteles als Beispiele: Flöten und Sehen NE 1094a1-5, 1097b22). Sie tragen ihren Zweck in sich.

Alles Tun innerhalb der Zweck – Mittel – Relation fällt in die Kategorie des Herstellens. Diese Tätigkeit braucht weder den Mitmenschen noch die Kommunikation. Eine Idee geht dem Vorgang des Herstellen voraus; der Zweck ist der Gegenstand selbst, welcher der Vergänglichkeit der Natur Beständigkeit entgegensetzt und somit dem Menschen ein Zuhause schafft (Arendt 1992: 124ff.).

Konsequent utilitaristisch gedacht ist der Zweck bei seinem Erreichen kein Zweck mehr, sondern wird bald zum Mittel für andere Zwecke, bis am Ende der utilitaristischen Kette der Mensch als Selbstzweck erscheint und die Welt zu einer Welt der Mittel verkommt (Arendt 1992: 140ff.). Ein Problem heute ist, daß die Zweck – Mittel – Relation so etabliert ist in der Sprache der Politik, daß es kaum noch möglich ist, darüber zu reden, ohne sich ihrer zu bedienen. Politisches Handeln und Macht bei Hannah Arendt schließen das aber aus, und hier liegt die Trennlinie für Hannah Arendt zur Gewalt als Mittel der Politik. Wer nur einen Zweck verfolgt, kann dies mit stummer Gewalt viel schneller erreichen. Aus der Sicht von Nutzen und Zweckmäßigkeit wäre Handeln nur Ersatz für Gewalt, die immer wirksamer ist. Dem eigentlichen politischen Handeln, der Macht, entspricht die Öffentlichkeit, die Sprache. Die Attraktivität der Macht, die Hannah Arendt beschreibt, ist die Gewaltfreiheit durch kommunikativ erzeugten Konsens zur Aktion.

Gewalt ist das Mittel, mit dem man unabhängig von der Zahl der Akteure einen Zweck erreichen kann. Es fällt in die Kategorie des Herstellens und hat einen instrumentellen Charakter. Gewalt läßt sich speichern, anhäufen, Gewaltmittel können bis ins Unendliche aufgetürmt werden und die menschliche Stärke potenzieren. Gewalt tritt an die Stelle von Macht, wenn ein Ermächtigter die aktuelle Unterstützung seiner Mithandelnden verliert und trotzdem herrschen will, wenn aus gemeinsamem Handeln Befehl und Gehorsam wird und aus Ermächtigung Herrschaft.

Hannah Arendt selbst sieht Begriffe wie Macht, Gewalt, Stärke und Autorität in der Realität fast nie in Reinheit verwirklicht, sondern vermischt. Zum Beispiel wird in der Politik die Gewalt immer als das letzte Mittel bereitgehalten, so daß die Annahme entstehen kann, die Macht der PolitikerInnen stütze sich ausschließlich auf die vorhandenen Gewaltmittel. Das gehört zu den möglichen Irrtümern, die sie denen prophezeit, die mit den unterschiedlichen Begriffen in der Betrachtung der Realität nicht trennscharf hantieren(vgl. Arendt 1993a).

Im Aufeinandertreffen von Macht und Gewalt in Reinheit würde es eher zu Massenmord kommen als zu einer kommunikativen Entwaffnung. Macht und Gewalt sind Gegensätze. Auch wenn die Wirksamkeit der Gewalt hoch ist, besteht immer die Gefahr, daß durch ihre Anwendung letzten Endes die Mittel den Zweck bestimmen, also Zwang auch zu unsinnigen Entscheidungen durch den einfacheren Weg des Nachgebens führen kann. Machtverlust birgt auf der Seite der Ermächtigten immer die Versuchung, mit Gewalt das Angefangene zu vollenden.

In der »Vita Activa« zeigt Hannah Arendt im zweiten Teil auf, warum die Möglichkeiten zum Handeln und das Handeln selbst so reduziert worden sind in der Entwicklung zu einer individualisierten Arbeits- und Konsumgesellschaft. Diese isoliert den Menschen von den möglichen Mithandelnden und verstrickt ihn in eine Bürokratie, die so anonym ist, daß die Suche nach Verantwortlichen für Politik und Verwaltungsakte vergeblich ist (Arendt 1992: 51, 57, 287ff). Sowie die »Vita Activa« enthalten auch andere Arbeiten Hannah Arendts Appelle und Motivationen zu politischem Handeln und Machtentfaltung – an welche sie mit ungetrübter Hoffnung mit jedem neugeborenen Menschen glaubt – und an die Intellektuellen die Aufforderung, wachsam zu sein, damit man sich vor der Gewalt hüte. Hannah Arendt war so mutig, angesichts der Entwicklung der Konsumgesellschaft trotzdem ihre Hoffnung auf die Handelnden der Zukunft zu setzen. Sie glaubte fest an menschliche Initiative, und sie gibt dem Massengesellschaftsteilchen seine Identität als Individuum mit politischer Begabung zurück, und dies auch durch das Vertrauen in seine Begabung. Damit holt sie ihn wieder in seine Verantwortung als politisches Wesen zurück.

Die von ihr definierten Begriffe sind in ihrer theoretischen Reinheit in der Realität nicht zu finden. Der wissenschaftliche und auch politische Hintergrund für diese theoretische Leistung war, aufzuzeigen, welche Gefahren dem öffentlichen Raum drohen, welche ihn vernichten und vernichtet haben. Denn nur nach der Darstellung der Phänomene in Reinheit bietet sich wieder die Möglichkeit ihrer Entdeckung oder Entlarvung in den jeweiligen geschichtlichen Zusammenhängen oder in der gegenwärtigen Realität.

Die Instabilität des öffentlichen Raumes und die prinzipielle Unvorhersagbarkeit menschlichen Handelns, die die Einzigartigkeit des Individuums bedingen, sind die unbequemen Seiten ihrer Theorie sowohl für PolitikerInnen als auch für WissenschaftlerInnen.

Ein weiteres Problem liegt darin, daß die Begriffe, die sie so trennscharf darlegt, nicht unbedingt die heutigen Verflechtungen zwischen Politik, Ökonomie und Sozialem erfassen, wohingegen die historische Entwicklung bis zu diesem Verflechtungszustand von Hannah Arendt aus ihrem Blickwinkel nachgezeichnet wurde.

Somit sollten ihre Begriffe als Phänomene aufgefaßt werden und nicht als Schablone an die Realität und die Bedürfnisse der WissenschaftlerInnen angelegt werden, um bei mangelnder Übereinstimmung verworfen zu werden. Nicht die Komplexität der Realität sollte Vorbild für theoretische Begriffsbildung sein, sondern die Realität sollte anhand der Begriffsbestimmung erklärt werden können. Umgekehrt würde die Suche nach theoretischen Begriffen sonst eher zu einer Endloskette von Anpassungsleistungen an den aktuellen Verflechtungsgrad führen als zu neuer Erkenntnis.

Das mangelnde Interesse an einer Auseinandersetzung mit Arendts Begriff und Intentionen liegt unter anderem an der Seltenheit des Phänomens, die sie selbst betont, und daran, daß der Machtbegriff durch die Unvorhersehbarkeit menschlichen Handelns und die Instabilität des öffentlichen Raumes ein unbequemer Begriff ist.

Das Operationalisierungsproblem der Macht läßt sich für Hannah Arendts Machtbegriff dadurch lösen, daß man nicht das Phänomen selbst meßbar macht, sondern das entlarvt, was es nicht ist, und das aufdeckt, was es hindert. Das hat sie selbst in Ansätzen getan (»Über die Revolution« und »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«), und es entspricht ihrer Intention. Durch den höchstmöglichen Ausschluß der Gewalt kann eine Annäherung an das Phänomen erreicht werden. Auf der anderen Seite könne Gewalt und ihr Ausprägungsgrad sichtbar gemacht werden.

Der Vorteil der Begriffe Hannah Arendts für die Entwicklung einer Friedenstheorie liegt in der Ergänzung der Gewalt- und Friedensbegriffe durch Kategorien, die ein differenziertes Bild von politischen Situationen, Geschehnissen, Zuständen ermöglichen, um Realität erklärbar und verstehbar zu machen. Der friedenswissenschaftliche Blick sollte geschärft sein für die Bedingungen der Gewaltfreiheit heute und für die Gefahren, die dem Raum drohen, in dem Handeln und Machtentfaltung möglich sind. Die inflationäre Verwendung und Konstruktion von Machtbegriffen, die Gewalt nicht ausschließen, ist auch ein Zeichen für die stete Gegenwart der Gewalt in der zu erklärenden Realität.

Die Analyse gegenwärtiger politischer Situationen auf den Gehalt von Macht und Gewalt kann Indikatoren für potentiell unfriedliche Ergebnisse liefern. Die Beobachtung aktueller Parteipolitik im Zusammenhang mit dem Demokratieverständnis bundesdeutscher BürgerInnen könnte aufzeigen, wie weit entfernt Politik von Ermächtigungen politischen Handelns ist, und die Gefahr der Herrschaft durch Gewalt indizieren.

In positiver Hinsicht können friedensfördernde, tendenziell gewaltfreie Phänomene wie die moderne Solidarität – als freiwillige Unterstützung von Menschen mit dem Anspruch möglicher Reziprozität, basierend auf einer emotional erfahrenen Zusammengehörigkeit – auf andere Weise untersucht werden. Die jeweiligen Machtstrukturen, die Entstehung der gemeinsamen Aktion und die Motivation durch Rede und Aktion von Anstiftern zu gemeinsamem politischen Handeln, die Rückbindung der Ermächtigenden zu den Ermächtigten und den angestrebten Zielen und der Vergleich von Erreichtem mit dem ursprünglich gemeinsam Entschiedenen – all das kann zu weiterführenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über gewaltarme Formen politischer Aktion führen.

Die Ergebnisse solcher Untersuchungen wiederum führen zu praktischen Hinweisen, die den Erfolg und die Gewaltarmut solidarischer oder anderer sozialer Zusammenschlüsse befördern können.

Ein weiterer Aspekt wissenschaftlicher Weiterführung des Machtbegriffs von Hannah Arendt ist die mögliche Organisierbarkeit von Macht. Auch hier lassen sich sowohl negative Erscheinungen wie eine latente Führerschaft als auch positive Formen wie das gezielte Motivieren und Anregen zur Machtbildung mit den theoretischen Begriffen untersuchen.

Die Vielseitigkeit und das wissenschaftliche Potential des hier nachvollzogenen Machtbegriffes ist nicht von der Hand zu weisen. Vor allem in Zusammenarbeit von Politikwissenschaft, Soziologie und Sozialpsychologie besteht die Möglichkeit, friedenswissenschaftlich relevante Forschungsfelder hinsichtlich der theoretischen Trennung von Macht und Gewalt aufzuzeigen.

Literatur

Arendt, Hannah (1953): Understanding and Politics, in : Partisan Review 20/4, 377- 392.

Arendt, Hannah (1992): Vita Activa oder Vom tätigen Leben, 7. Auflage der Neuausgabe, München.

Arendt, Hannah (1993a): Macht und Gewalt, 8. Auflage, München.

Arendt, Hannah (1993b): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 3. Auflage, München.

Arendt, Hannah (1993c): Was ist Politik? Aus dem Nachlaß, herausgegeben von Ursula Ludz, München.

Arendt, Hannah (1994): Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München.

Habermas, Jürgen (1979): Hannah Arendts Begriff der Macht, in: Reif, Adalbert, Hg. (1979): Hannah Arendt, Materialien zu ihrem Werk, Wien.

Heuer, Wolfgang (1992): Citizen, Persönliche Integrität und politisches Handeln, Eine Rekonstruktion des politischen Humanismus Hannah Arendts, Berlin.

Luhmann, Niklas (1988): Macht, 2. durchgesehene Auflage, Stuttgart.

Röttgers, Kurt (1990): Spuren der Macht, München

Vollrath, Ernst (1970): Hannah Arendt und die Methode politischen Denkens, in: Reif, Adalbert, Hg (1979): Hannah Arendt, Materialien zu ihrem Werk, Wien.

Weber, Max (1976): Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Halbband, 5. revidierte Auflage, Tübingen.

Gesa Reisz arbeitet als Diplom-Sozialwissenschaftlerin an der UNI-GH Kassel

Der Pazifismus und die Vereinten Nationen

Der Pazifismus und die Vereinten Nationen

von Sibylle Tönnies

In dem folgenden Text handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem Buch »Pazifismus passé«, das im vorigen Jahr im Auftrag des Rowohlt-Verlags für die Reihe roroaktuell geschrieben wurde. Nach Meinung der Autorin haben aber die Lektoren des Verlages unter dem Eindruck der Ereignisse in Srebrenica ihre Meinung dahingehend geändert, daß auch ihnen der Pazifismus heute als »passé« erscheint und die Veröffentlichung abgelehnt. Im Rahmen unserer Debatte über Pazifismus dokumentieren wir Auszüge aus dem letzten Kapitel.

Es ist in den Jahren nach dem Golfkrieg gelungen, den Pazifismus als provinziell und versponnen hinzustellen; als eine Richtung, die von der großen Welteinigung wegführt und der UNO schädlich ist. Damit werden die Tatsachen verdreht, denn tatsächlich ist die UNO ein Kind des Pazifismus. Die sie tragende Völkerbundidee ist auf seiner Grundlage entstanden; sie wurde von Pazifisten entwickelt und in unermüdlicher Anstrengung durchgesetzt.

Die Geburt der Völkerbundes aus dem Geist des Pazifismus

Ein Meilenstein auf dem Weg zum Völkerbund war das Manifest des russischen Zaren von 1898, in dem es hieß: „Die Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens und eine mögliche Herabsetzung der übermäßigen Rüstungen, welche auf allen Nationen lasten, stellen sich in der gegenwärtigen Lage der ganzen Welt als ein Ideal dar, auf das die Bemühungen aller Regierungen gerichtet sein müßten. Im Namen des Friedens haben große Staaten mächtige Bündnisse miteinander geschlossen. Um den Frieden besser zu wahren, haben sie in bisher ungekanntem Grade ihre Militärmacht entwickelt und fahren fort, sie zu verstärken, ohne vor irgendeinem Opfer zurückzuschrecken … Es ist deshalb klar, daß, wenn diese Lage sich noch weiter so hinzieht, sie in verhängnisvoller Weise zu eben der Katastrophe führen wird, welche man zu vermeiden wünscht und deren Schrecken jeden Menschen schon beim bloßen Gedanken schaudern machen. Diesen unaufhörlichen Rüstungen ein Ziel zu setzen und die Mittel zu suchen, dem Unheil vorzubeugen, das die ganze Welt bedroht, das ist die höchste Pflicht, welche sich heutzutage allen Staaten aufzwingt.“ Das Manifest endete mit einer Aufforderung an alle Regierungen, ihre obersten Kriegsherren zu einer Konferenz zusammenzuführen, um „den großen Gedanken des Weltfriedens siegen zu lassen.“

Gegen diese schönen Worte kann man einwenden, daß sie den Absturz in den Ersten Weltkrieg nicht verhindert haben. Das ist richtig. Aber sie gaben den entscheidenden Impuls für die Haager Friedenskonferenzen, die den Völkerbund von 1919 nach sich zogen. Auch dieser konnte einen Weltkrieg nicht verhindern – richtig. Aber er war die Vorstufe für die UNO, und hier geht es nicht darum, die friedensstiftende Effektivität des Pazifismus unter Beweis zu stellen, sondern darum, eine Bildungslücke zu schließen und ihm sein Verdienst zukommen zu lassen: die UNO ist sein Kind! – und so schwach oder so stark wie der Pazifismus ist, so schwach oder so stark ist auch die UNO.

Das Manifest, das der Zar 1898 erließ, war beeinflußt von dem Werk I.v. Blochs »Der künftige Krieg in technischer, politischer und wirtschaftlicher Bedeutung«, in dem der verheerende Charakter eines modernen Krieges vorhergesehen wurde; den entscheidenden Impuls erhielt der junge Zar aber durch die Lektüre von Bertha v. Suttners »Die Waffen nieder!« Dieses Buch wurde von allen großen Staatsmännern gelesen; es hatte einen ungeheuren Einfluß auf seine Zeit.

Die Tatsache, daß der UNO-Gedanke auf den Ideen der Friedensbewegung aufbaut, ist uns heute durch die Tatsache verstellt, daß diese Ideen Gemeingut sind… »Natürlich« ist man für den Frieden, und »natürlich« ist die UNO eine Institution zur Friedenssicherung – darüber verliert man kein Wort mehr. Aber diese Ideen sind keineswegs natürlich, sondern eine späte und stets gefährdete Kulturerscheinung, die sich mit den allergrößten Anstrengungen gegen die natürliche Bereitschaft zum Krieg durchsetzen mußte.

Die deutsche Antwort auf das russische Manifest war die Rede, die Kaiser Wilhelm II. im Anschluß an eine Parade bei einem Bankett hielt: „Der Friede wird nie besser gewährleistet sein als durch ein schlagfertiges, kampfbereites Heer, wie wir es jetzt in einzelnen Teilen zu bewundern und darüber uns zu freuen Gelegenheit hatten. Gebe uns Gott, daß es uns immer möglich sei, mit dieser stets schneidigen und guterhaltenen Waffe zu siegen.“ Eine Tageszeitung schrieb damals: „Der Abrüstungsvorschlag des Zaren geht gegen die Natur und gegen die Kultur. Damit ist ihm das Urteil gesprochen. Freifrau von Suttner, die vor einigen Jahren 'Die Waffen nieder!' kommandierte und damit bei allen Männern einen Heiterkeitserfolg erzielt, erlebte zwar den großen Triumph, daß der Zar in ihren Ruf einstimmt, allein mehr wie eine kurze Freude wird für Frau von Suttner und alle guten Seelen nicht herauskommen.“ Dieses Urteil war richtig in Hinblick auf den Ersten Weltkrieg; es war aber falsch in Hinblick auf die Völkerbundidee und die UNO – eine Einrichtung, die ihre große Zeit erst vor sich hat.

Der Pazifismus war immer weltbezogen und besiedelte nie die parochiale Idylle, in die man ihn heute gern stellt. Selbst ein Mann wie Gandhi, dessen Bestreben ja war, indische Eigentümlichkeit gegen westliche Einflüsse abzuschirmen, antwortete 1947 auf die Frage „Sehen Sie die Möglichkeit voraus, daß die Welt einmal unter einer regierenden Körperschaft, die aus Vertretern aller beteiligten Staaten besteht, vereinigt sein wird?“Dies ist die einzige Möglichkeit, wenn die Welt leben soll.“

Wenn der Pazifismus mehr Tradition in Deutschland hätte, könnte man ihn auch nicht mit dem Argument bekämpfen, daß die von einer Weltzentrale aus wahrzunehmende Menschenrechtsdurchsetzung nun einmal nicht ohne Gewalt auskomme. Diese Ansicht ist mit dem Pazifismus nämlich durchaus vereinbar und wurde in seinen Reihen immer vertreten. Die Bewegung war sich in dieser Frage uneins, es gab zwei Flügel – vergleichbar mit den heutigen Auseinandersetzungen zwischen Realos und Fundis bei den Grünen. Von den sogenannten »organisatorischen Pazifisten« wurde ein Sanktionskrieg im Rahmen des Völkerbundes überwiegend bejaht; problematisch war dieser Gedanke für die radikalen Pazifisten (wie Helene Stöcker im sogenannten »Linkskartell«), die den Völkerbund zwar im Prinzip bejahten, aber vor den Konsequenzen der Völkerbundexekutive zurückschreckten und ihre Hoffnungen auf Kriegsdienstverweigerung und Generalstreik setzten. Der »völkerbundnahe« Pazifismus hingegen forderte eine im internationalen Auftrag tätig werdende internationale Exekutionsarmee.

Diese pazifistische Tradition, die eine Völkerbundexekutive fordert, erlaubt aber nicht, daß sich die Befürworter von NATO-geleiteten Interventionen in die Reihen der Pazifisten einordnen. Erstens wollen sie das gar nicht – es geht ihnen ja gerade darum, ihren schlottrigen Pazifismus endlich abzuschütteln wie Phönix die Asche. Zweitens aber handelt es sich bei der NATO trotz ihrer Verbindung zur UNO nicht um die »Völkerbundexekutive«- im Gegenteil. Die NATO ist ein Bündnis von der Art, wie sie in dem Manifest des Zaren gekennzeichnet wird: „Im Namen des Friedens haben große Staaten mächtige Bündnisse miteinander geschlossen. Um den Frieden besser zu wahren, haben sie in bisher ungekanntem Grade ihre Militärmacht entwickelt und fahren fort, sie zu verstärken.“ Die Völkerbundidee aber will diese Art von Bündnissen überwinden – das atlantische Bündnis stand von Anfang an in Rivalität zum UNO-Gedanken und wurde von dessen Anhängern deshalb auch von Anfang an bekämpft.

Jetzt ist eine problematische Vermischung zwischen NATO- und UNO-Idee eingetreten. Dadurch, daß die NATO in Bosnien durch die UNO bevollmächtigt war, genoß ihre Intervention eine Legitimation, die den wahren Machtverhältnissen nicht entsprach. Rußland nämlich – die Macht, deren Einmischung zu einer furchtbaren Eskalation führen könnte – ist nicht NATO-Mitglied und lehnte die Intervention ab. Insofern kann keine Rede davon sein, daß sich hier die Weltgesellschaft zum Eingreifen gegen einen Ruhestörer zusammengefunden und eine weltpolizeiliche Maßnahme gegen ihn durchgeführt hat. Es handelte sich um ein Bündnis im alten Stil, gegen das sich eine pan-slawische Vereinigung hätte formieren können. Die NATO-Aktivitäten waren ein Spiel mit dem Feuer eines neuen Weltbrandes. Der deutliche Warncharakter des Wortes »Sarajevo« wurde überhört. Man fühlte sich legitimiert durch die Tatsache, daß der Geist der UNO im Hintergrund schwebte; man verteidigte ja die UNO-Schutzzonen: Man beschützte die UNO und fühlte sich dadurch von ihr beschützt.

Die UNO ist aber noch viel zu unreif, um diesen Schutz gewähren zu können. Die Welt ist noch weit davon entfernt, daß die einzelnen Nationen – bzw. ihre Bündnisse – ihre militärische Souveränität der UNO übertragen hätten. Solange das nicht der Fall ist, ist die Legitimation, die die UNO einem Einsatz verleiht, trügerisch und gefährlich.

Historische Vorläufer: Der mittelalterliche Landfrieden und die nationale Gewaltmonopolisierung

Die Bemühungen, die Welt unter die Autorität der UNO zu stellen, lassen sich mit den Anstrengungen vergangener Jahrhunderte auf nationaler Ebene vergleichen. In diesem kleineren Maßstab hat sich der Staat seine Souveränität gegenüber den Teilgewalten der Gesellschaft erkämpft. Eine solche vergleichende Betrachtung bringt aus drei Gründen Gewinn: Erstens zeigen die nationalen Beispiele, daß ein solcher Prozeß sich gegen die massivsten Widerstände durchsetzen kann – das ermutigt. Zweitens belehrt das historische Vorbild, auf welche Weise dieser Prozeß, wenn er erfolgreich sein soll, abläuft: nicht als gewaltsam-natürliches Geschehen, sondern geistgelenkt. Drittens sieht man, welche Umstellung das Militärische erfährt, wenn es nicht mehr zwischen souveränen Staaten eingesetzt, sondern von einem Gewaltmonopol aus innenpolitisch dirigiert wird: es wandelt sich ins Polizeiliche um. Damit geht ein verändertes Ehr- und Moralgefühl einher.

Innerhalb der pazifistischen Literatur, die den Völkerbund vorbereitet hat, wurde deshalb, – insbesondere von Ludwig Quidde – immer die Parallele zwischen der Überwindung des Fehderechts am Ausgang des Mittelalters und der Überwindung der Kriege der einzelnen Nationen untereinander betont.

Erich Fechner schrieb: „Es besteht eine strenge soziologische Parallele zwischen der Überwindung der Blutrache durch die jungen staatlichen Mächte, die sich über den souveränen Familienverbänden entwickelten, einerseits, und der sich gegenwärtig in Teilräumen des Erdballs anbahnenden Überwindung des Krieges durch überstaatliche Organisationen oberhalb der ihrer Souveränität insoweit entkleideten Einzelstaaten andererseits. Auch die Blutrache (und die ihr verwandte Fehde) war ein primitives Mittel zum Ausgleich eines erlittenen Schadens, auf das das Gemeinwesen nur verzichten konnte, wenn die Aufgabe von einer anderen Stelle übernommen wurde. Wäre dieser Zusammenhang hinreichend bekannt, es ließe sich eine Unmenge fehlgeleiteter Energie und wohlgemeinten aber falschgerichteten Wollens in fruchtbare Bahnen lenken.“ 1

Die Fehden zwischen einzelnen Familien waren für die mittelalterliche Gesellschaft eine größere Plage als die nach außen geführten Kriege. Ihre Bekämpfung gelang durch die Anstrengungen einer großen Friedensbewegung, in deren Tradition sich die entsprechenden Bemühungen unserer Zeit stellen sollten. Es handelte sich um die »Gottesfriedensbewegung«, durch deren bis auf den heutigen Tag anhaltende Erfolge die Skeptiker, die von einer unausrottbar kriegerischen »anthropologischen Grundkonstante« sprechen, widerlegt sind.

Die Gottesfriedensbewegung war eine religiöse Bewegung. Im Süden Frankreichs, zwischen den Pyrenäen und der Rhône, wo die Königsgewalt schwach war, nahm sich die Kirche des Fehdeproblems an. Auf Diözesansynoden und anderen großen Versammlungen wurde der Adel dazu veranlaßt, sich durch Eid zur Einhaltung der Pax Dei zu verpflichten. Kirchen, Klöster und geistliche Personen, aber auch Frauen und Mädchen, der Bauer auf dem Feld, sein Pflug und sein Dorf sollten vor Totschlag, Vergewaltigung, Raub und Brandstiftung bewahrt sein. Zunächst gelang es lediglich, für die Sonn- und Feiertage einen Frieden auszuhandeln (die Treuga Dei); mit der Zeit gelang aber eine immer größere Ausdehnung des zunächst räumlich und zeitlich begrenzten Gottesfriedens. Im Jahre 1085 erließ Heinrich IV. auf dem Reichstag in Mainz den ersten Gottesfrieden für das ganze Reich, und es wurde Sache der königlichen Gewalt, diesen Frieden durchzusetzen. In regelmäßigen Abständen mußte der Adel ihn neu beschwören; nur dadurch erlangte er seine fortgesetzte Geltung.

Mehr als sich im allgemeinen Geschichtsbewußtsein ausdrückt, ist die Bekämpfung der Fehde durch die Gottesfriedensbewegung beteiligt an der Herausbildung des modernen Staates. Solange die Fehde, also die Befugnis, sich in selbständiger Entscheidung und mit eigener Kraft Recht gegen Unrecht zu verschaffen, ein legitimes Institut der Rechtsordnung war, konnte von einem Staat im modernen Sinne noch nicht die Rede sein. Er setzt voraus, daß seine Bürger entmachtet, das Recht auf Selbsthilfe abgeschafft und ein juristisches und faktisches Machtmonopol begründet ist. Da die Geschichtsschreibung bis vor kurzem im wesentlichen eine Kriegsberichterstattung war und die diskursiven, konsensualen Prozesse vernachlässigt hat, sind diese Zusammenhänge wenig bewußt. Tatsächlich aber läßt sich die Entstehung des modernen Staates genauso auf die Gottesfriedensbewegung zurückführen, wie die UNO auf den Pazifismus zurückzuführen ist – ein Hergang, der ebenfalls im Geschichtsbewußtsein unterzugehen droht, das die Völkerverbindung lieber auf die Peitschenhiebe von Lehrmeister Krieg zurückführen möchte.

Man betont seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts lieber die gewaltsame Entstehung der zivilisatorischen Errungenschaften. Der Sozialdarwinismus hat sich auf diese Weise ausgewirkt und ist – nach einer Unterbrechung in der Nachkriegsepoche – heute wieder einflußreich. Zwar ist die Blutspur in der Geschichte nicht zu übersehen; bei der Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols hat aber der bewußte, formende menschliche Geist den entscheidenden Einfluß gehabt. Die beiden Männer, die in diesem Geisteskampf in der vordersten Reihe standen, sind der Franzose Bodin und der Engländer Hobbes. Sie begründeten die Theorie der staatlichen Souveränität, einer Macht also, die keine andere Macht über oder neben sich hat, und nahmen damit unmittelbar Einfluß auf die Politik ihrer Zeit.

Wir sind so an den Gedanken gewöhnt, daß man den Staat in seiner Machtfülle wiederum einschränken muß, daß wir den großen historischen Fortschritt, den die Souveränität gebracht hat, nur unzureichend würdigen und Thomas Hobbes Name sogar einen schlechten Klang bekommen hat. Tatsächlich aber ist es ihm zu verdanken, daß sich die europäischen Nationen (innenpolitisch) friedlich unter einer Machtzentrale vereinigt haben, und man kann der Weltgesellschaft nur wünschen, daß sie einen Kopf findet, der ebenso wirkungsvoll den Weg weist, auf dem sich ein globales Machtmonopol bilden kann.

Hobbes legte den größten Wert auf den rationalen und konsensualen Hergang bei der Einrichtung des Staates. Er beginnt seinen »Leviathan« damit, daß er den Staat mit einem Kunstmenschen vergleicht: „Denn künstlich geschaffen wird jener große Leviathan“, und sagt: „Die Abmachungen und Verträge, durch die die Teile dieses politischen Körpers gemacht, zusammengesetzt und vereint werden, gleichen jenem Fiat oder 'Lasset uns Menschen machen', das Gott bei der Schöpfung aussprach.“ Kein Naturvorgang ist die Staatsentstehung also, sondern ein bewußter und gelenkter, demokratischer Vorgang; Hobbes geht von einer konstituierenden Urversammlung aus. Hobbes spricht vom Staat als einem Kunstwerk, um zum Ausdruck zu bringen, daß er keine Naturbildung ist, deren natürliche Elemente von natürlichen Kräften bewegt werden; er ist eine Schöpfung des menschlichen Geistes. Diese Auffassung steht in der Tradition einer Lehre, die den Staat als »corpus artificiale« oder als »homo artificialis« bezeichnet.2

Überträgt man diesen Gedanken auf die jetzt anstehende Weltstaatsbildung, so sind sie unverträglich mit den wieder modern werdenden sozialdarwinistischen Vorstellungen von dem bevorstehenden Prozeß, wie sie Karl-Otto Hondrich in seinem »Lehrmeister Krieg« vorträgt: Zwar sieht auch er die historische Parallele zu der nationalen Befriedung, aber sein Konzept läuft auf eine Weltstaatsbildung hinaus, die nicht konsensual, sondern gewaltsam ist. Er stellt sich den Vorgang so vor, daß die Weltpolizei in einem bewußtlosen Prozeß durch die wachsende tatsächliche Dominanz eines Weltteils – und er denkt natürlich an Amerika – von allein entsteht. Er nennt das Gebilde deshalb »Quasi-Weltstaat« (in Anlehnung an eine bewährte juristische Terminologie, die von »faktischer Gesellschaft« und »faktischer Ehe« spricht, hätte er gut »faktischer Weltstaat« sagen können). Ganz zu Unrecht hat man Hondrich vorgeworfen, seine Vorstellungen stammten von Hobbes.3 Hondrich setzt nämlich nicht dessen Modell fort, sondern rückt von ihm ab, wenn er auf Weltniveau das Gesetz der freien Wildbahn propagiert und der Durchsetzung der »bewußtlosen Dominanz« Vorschub leistet. Auch wenn er mit seinen Vorstellungen letzten Endes auf einen Weltstaat aus ist, unterminiert er die Völkerbundidee und demoralisiert die Friedensbewegung.

Hondrichs sozialdarwinistisches Entstehungsmodell, das die Weltgesellschaft aufgrund des Rechts des Stärkeren auf natürliche Weise um die Vereinigten Staaten herum anwachsen läßt, stößt auch gegen ein Faktum: Jenseits des Atlantik gibt es eine deutliche Neigung zum Isolationismus, die durch den Einsatz in Bosnien und im Irak nur überdeckt ist. Und wenn man historisch etwas weiter zurückblickt, stellt man fest, daß die Neigung, die Weltzentrale zu bilden, in den Vereinigten Staaten keineswegs eine feste Tradition hat. Im Gegenteil: Zu den schweren Schlappen, die die Weltvereinigung erlebt hat, gehört die Wahlniederlage, die Wilson mit dem von ihm ausgearbeiteten Völkerbundskonzept 1919 erlitt – mit der Wirkung, daß das Bündnis ohne die Mitgliedschaft der Vereinigten Staaten auskommen mußte. Mit Recht wurde gegen Hondrichs aus dem Golfkrieg stammende Euphorie eingewandt: „Was geschieht, wenn der amerikanischen Öffentlichkeit aufgeht, daß es sich nicht lohnt, Sheriff der ganzen Welt zu sein, während zu Hause das Geld für die Sozialausgaben fehlt?“ 4 Inzwischen zeichnet sich diese Situation schon ab. Wir können uns deshalb nicht darauf verlassen, daß sich die Weltmacht in einem naturwüchsigen Prozeß um die USA herum agglomeriert. Wir müssen die Zentralisation von allen Seiten der Welt her bewußt in Angriff nehmen.

Anmerkungen

1) Erich Fechner, Die Bedeutung der Gesellschaftswissenschaft für die Grundfrage des Rechts, in: Naturrecht oder Rechtspositivismus, S. 264. Zurück

2) Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 153. Zurück

3) Rezension Kößler. Zurück

4) Armin Adam in der SZ v. 5.6.1992. Zurück

Sibylle Tönnies ist Professorin an der Universität Bremen

Ist der Pazifismus am Ende?

Ist der Pazifismus am Ende?

von Horst-Eberhard Richter

Pazifismus und Friedensbewegung sind ursprünglich synonym gebrauchte Begriffe. In dem Band des Großen Brockhaus, der unmittelbar vor Hitlers Machtantritt erschien, heißt es zum Stichwort Pazifismus: „Friedensbewegung, die Gesamtheit der Bestrebungen zur Ausschaltung des Krieges aus dem internationalen Leben.“ Weiter wird erläutert:Sein (des Pazifismus) Endziel ist die Entwicklung von friedlichen Formen der internationalen Auseinandersetzung statt der kriegerischen.“ „Die praktischen Forderungen des Pazifismus sind in der Hauptsache militärische Abrüstung, die Lösung aller internationalen Streitfälle auf dem Wege der Schiedsgerichtsbarkeit und die Schaffung einer die einzelnen Staaten umfassenden Gesamtorganisation.“ Jenes Brockhaus-Lexikon nennt aber auch die Gegenströmung zum Pazifismus, die in Deutschland bald die Oberhand gewinnen sollte. Da lautet der Text: „Der Krieg wird hier aus der Natur des Menschen erklärt, er wird als ein Mittel der männlich-heldischen Erziehung und Bewährung für die einzelnen wie besonders für die Nationen gewertet.“ Im deutschen Volk sei ein neuer Wehrwille erwacht, der bewußt den Pazifismus verwerfe.

Diesen Wehrwillen habe ich dann als Schuljunge aufs eindringlichste vermittelt bekommen. Genau laut Lexikon-Text hieß Pazifismus alsbald soviel wie schändliche Feigheit, Unmännlichkeit und Verantwortungslosigkeit. 1933 war ich zehn Jahre alt. Bis zu meinem Abitur 1941 wurde ich in der Schule mit nationalistischer und militaristischer Literatur vollgestopft. Der Sportunterricht, der mir als sportbegeistertem Jungen am Herzen lag, war, ohne daß ich es anfangs durchschaute, ganz und gar auf Kriegstüchtigkeit ausgerichtet. Die Hitlerjugend, der anzugehören Pflicht war, sang militärische Lieder, übte sich in soldatischer Disziplin und wurde auf kriegerischen Heroismus eingeschworen. Mit Hilfe von Beziehungen erreichte es mein Vater allerdings, daß ich bald von der HJ beurlaubt wurde. Ich spürte auch selbst, daß die pausenlos eingehämmerten militaristischen Ideale meiner Natur wenig entsprachen. Allmählich schuf ich mir eine innere Gegenwelt durch Begeisterung für romantische Literatur und Philosophie. Aber ob meine Mentalität nicht eher ein Defizit an kämpferischer Männlichkeit bedeutete, darüber grübelte ich mit mancherlei Zweifeln.

Als 18jähriger Soldat an die russische Ostfront geschickt, machte ich dann eine einschneidende Erfahrung. Wir lagen ein paar Wochen in Ruhestellung in einem Dorf wenige hundert km von Moskau. Mit einem Kameraden verbrachte ich die Abende und Nächte bei einer russischen Familie in einer Holzhütte, die nur aus einem einzigen großen Raum bestand. Noch heute habe ich die Gesichter der Menschen vor Augen. Ein junges Paar mit einem kleinen Jungen und einem Baby, dessen Wiege an der Decke des Raums aufgehängt war. Meist saß die Oma auf dem Ofen, ließ die Wiege durch den Raum schwingen und sang dazu. Ich war von der Wärme und der ungeschützten Offenheit fasziniert, mit der die Russen untereinander und mit uns Eindringlingen verkehrten. Schnell entstand ein Gefühl von Nähe und Vertrautheit, aber auch von Scham, das mich fortan immer wieder verfolgte, wenn ich als Richtkanonier an meinem Geschütz das Feuer gegen Feinde lenkte, die ich ja nicht als meine Feinde empfand.

Da unsere Granaten meist in kilometerweit entfernten russischen Stellungen und Dörfern einschlugen, sah ich zwar nicht unmittelbar, wen wir trafen. Aber auf dem Vormarsch fanden wir dann die Leichen nicht nur von Soldaten, sondern auch von verstümmelten und zerfetzten Frauen und Kindern. Ich empfand es als die schlimmste Erniedrigung und Barbarei, Menschen von der Art, wie ich sie gerade kennengelernt hatte, töten zu sollen. Die aufgezwungene Verrohung, aus der es keinen anderen Ausweg gab als eine Abkapselung des Fühlens hinter einem oberflächlich mechanischen Funktionieren, war deprimierend. Ich lernte allmählich, daß der Krieg nicht nur Menschen tötet, übrigens viel mehr Zivilisten als Soldaten, sondern daß er auch die Kämpfer, die in ihm überleben, selbst wenn sie nicht in besondere Verbrechen verwickelt werden, psychisch »beschädigt«. Die Entwürdigung zu einem willfährigen Tötungswerkzeug bedroht, wer sich eine normale Empfindsamkeit bewahrt hat, mit bedrückenden Selbstwertkonflikten, denen zu entgehen auf Dauer nur eine antrainierte partielle Apathie hilft. Es wird dann vom Bewußtsein ferngehalten, was Albert Einstein unverblümt beim Namen genannt hat, nämlich daß seiner Auffassung nach Töten im Krieg nichts anderes als gewöhnlicher Mord sei.

Damals wußte ich nicht, wie sehr sich Einstein und andere führende deutsche Intellektuelle nach dem ersten Weltkrieg dafür eingesetzt hatten, die Jugend in pazifistischem Geist zu erziehen und vor militaristischer Ideologie zu bewahren. Ich wußte nicht, daß dieser große Physiker noch 1930 zusammen mit Sigmund Freud, Thomas Mann, Martin Buber, Stefan Zweig und anderen ein internationales pazifistisches Manifest unterschrieben hatte, in dem es unter anderem geheißen hatte: „Militärische Ausbildung ist Schulung von Körper und Geist in der Kunst des Tötens… Sie ist die Verewigung des Kriegsgeistes. Sie verhindert die Entwicklung des Willens zum Frieden.“ Wo Wehrpflicht bestehe, müsse sie abgeschafft werden. Wo sie fehle, dürften Jugendliche nicht durch moralischen oder wirtschaftlichen Druck zum Militärdienst verführt werden. Wörtlich: „Die ältere Generation begeht ein schweres Verbrechen an der Zukunft, wenn sie die Jugend in Schulen und Universitäten, in staatlichen und privaten Organisationen, oft unter dem Vorwand körperlicher Ertüchtigung, das Kriegshandwerk lehrt.“ Bekanntlich hatte sich Hitler hohnlachend über diese Stimmen hinweggesetzt. 1935 hatte er die Wehrpflicht etabliert und der Jugend, wie ich es erlebt habe, eben den angeprangerten Kriegsgeist einzupflanzen versucht. Er war aus der Genfer Abrüstungskonferenz ausgetreten, hatte den Völkerbund verlassen und war mit der Reichswehr in das entmilitarisierte Rheinland einmarschiert, alles ohne nennenswerten Widerstand der internationalen Gemeinschaft, ohne Sanktionen, die ihn hätten stoppen können.

Ich komme auf diese Vorgänge hier deshalb zurück, weil genau jenen Pazifisten heute von Heiner Geißler und manchen anderen dutzende Male vorgeworfen wird, sie hätten Auschwitz verschuldet. Man stelle sich vor: Es droht eine Seuche. Eine Gruppe von Leuten verlangt vorbeugende Maßnahmen wie Impfungen und eine Quarantäne für Infizierte. Aber es kommen Gegner an die Macht, die diese Schutzvorkehrungen systematisch verhindern und deren Befürworter vertreiben und zum Teil ermorden. Sind nun also die Warner am ungehinderten Ausbruch der Seuche schuld, d.h. Freud, Einstein, Thomas Mann und die anderen? Ist es ihre Schuld, daß die Deutschen nicht ihnen auf dem Weg zum Frieden, sondern Hitler auf dem Weg in die Katastrophe gefolgt sind? Und sind etwa die Pazifisten dafür verantwortlich, daß ihre alte Forderung nach einer wirksamen präventiven internationalen Organisation nur halbwegs in Gestalt des zahnlosen Völkerbundes realisiert wurde, so daß Hitler vor aller Augen ungestraft die internationale Gemeinschaft brüskieren und Deutschland zum Kriege rüsten konnte?

Im Falle von Bosnien werfen die Interventionisten ihren Kontrahenten vor, diesen sei es offenbar nicht recht, daß die Alliierten Deutschland militärisch von Hitler befreit hätten. Die Pazifisten geraten in der Debatte also nicht nur in die Defensive, sondern werden regelrecht inquisitorisch stigmatisiert. Es ist zwar nicht ganz so weit, daß man ihre Bücher verbrennen möchte, aber einige der tonangebenden Medien lassen sie Spießruten-Laufen. Ein Peter Handke, der gar die Serben verteidigt, wird bei seinen Lesungen von einer Meute verfolgt, als stehe er mit dem Teufel im Bunde.

Es ist, als müßten sich die Pazifisten schamvoll im Boden verkriechen. Sie stehen da als Verräter, Feiglinge oder rücksichtslose Egoisten. Genau diese Vorwürfe klingen mir aber noch aus meiner Kindheit und Jugend in den Ohren. Ich widerstehe der Versuchung, Geißlers, Cohn-Bendits und Fischers gezogene Parallele mit umgekehrten Vorzeichen zu reproduzieren. Aber eine Richtigstellung muß schon sein.

Natürlich wissen die heutigen Ankläger sehr wohl, daß die neuere deutsche Friedensbewegung gerade als Reaktion auf bzw. gegen den mörderischen Nazi-Kriegsgeist entstanden ist. Es war eine entschlossene Auflehnung gegen einen Militarismus, der dem Nationalismus und dem Herrenrasse-Wahn die mörderische Schlagkraft verliehen hatte. So steckt in der Maßlosigkeit der aktualisierten Vorwürfe gegen den Pazifismus jedenfalls eine fatale Irrationalität, über die nachzudenken ist. Es gehört meines Erachtens keine psychoanalytische Vorbildung dazu, in dieser haßerfüllten Kampagne eine aggressive Abwehr von Unsicherheit zu entdecken: Wer das zentrale humanistische Tabu des Tötungsverbots bricht und jungen Menschen das Trauma zumutet, das ich gerade aus der eigenen Erfahrung skizziert habe, der muß seine Gewissenszweifel niederkämpfen. Es erleichtert, die innere Auseinandersetzung nach außen zu wenden und zu hoffen, mit der Diskriminierung der Pazifisten die eigenen Zweifel zum Schweigen zu bringen. Dies kostet verständlicherweise besonders solche Interventions-Befürworter die größte Mühe, die noch vor kurzem selbst in der Friedensbewegung engagiert waren und nirgends auf der Welt mehr eine militärische Konfliktlösung zulassen wollten. Bekanntlich gehören Konvertiten immer zu den unnachsichtigsten Inquisitoren.

Bringt man es nichtsdestoweniger fertig, sich die Pazifisten und die Interventionisten auf beiden Seiten der Streitfront in Ruhe anzusehen, so kommt man nicht um die Feststellung herum, daß viele hier und dort einander an Integrität und humanistischen Zielvorstellungen kaum nachstehen. So liegt es nahe, den offenbar vorhandenen gemeinsamen Hintergrundkonflikt zu untersuchen, um dessen Gefährlichkeit besser zu verstehen.

Alle Bemühungen um Humanisierung unseres Zusammenlebens haben uns bis heute nicht von der Schwierigkeit befreit, die in uns und in unseren Gesellschaften wirkenden destruktiven Antriebskräfte verläßlich unter Kontrolle zu halten. So begleitet unsere Geschichte ein Standardmythos, der dieses Problem abbildet und zugleich eine Lösung zu verheißen scheint. Aber die Lösung trägt nicht, und deshalb müssen wir diesen Mythos immer wieder neu beleben. Es ist in der Urform der Schöpfungsmythos mit dem Drachen als Symbol der gottfeindlichen Mächte, der Sonne und Mond verschlingen und die Mutter des heilbringenden Gottes vernichten möchte. Er muß zur Erhaltung der Welt besiegt werden. Die Siegerrolle übernehmen später der Erzengel Michael und der heilige Georg. Zahlreiche Märchen haben die Geschichte variiert. Der Drachen als häßliches, feuerspeiendes Untier verweist die Destruktivität in den Bereich der atavistischen Primitivität, wo sie von dem Engel oder dem heiligen Ritter, also von unserer moralischen Kraft, unschädlich gemacht werden soll. Aber die Destruktivität ist ein Teil von uns selbst, und unsere moralische Energie kann sie nicht tilgen, deshalb verläßt das Böse in vielen Abwandlungen des Mythos auch die Tiergestalt und tritt uns als Hexe, als Luzifer oder auch als irrational dämonisierter politischer Weltfeind entgegen. Der moderne Ritter Georg ist etwa der sanfte Sheriff Gary Cooper in High Noon.

Dieses Drama muß pausenlos neu erfunden und uns vorgeführt werden. Wir brauchen den Drachenkampf in der Fiktion, um nach dem Sündenbock-Muster unsere Destruktivität auf ein zu bestrafendes Feindbild projizieren zu können. Auch reale Gangster, Mörder und Mafia-Gruppen üben auf uns eine unheimliche Anziehung aus und helfen uns, unbewußt an sie ein Stück von der eigenen inneren Gefahr zu delegieren. Noch im 19. Jahrhundert strömten in Teilen unseres Landes Tausende zu öffentlichen Hinrichtungen von Mördern, wobei sie sich insgeheim eine Entlastung von eigenen Trieb- und Schuldängsten versprachen. Heute macht es der täglich angebotene Fernseh-Krimi den Menschen bequemer. Werden Haß-, Rache- und Ressentimentgefühle aber übermächtig, reicht ihre Kanalisierung mit Hilfe von fiktiven Sündenbock-Szenarien nicht mehr aus, und es wird nach realen Feinden zur Abreaktion verlangt.

In der klinischen psychoanalytischen Forschung zeigt sich, daß speziell solche Menschen ein besonderes Feindbild-Bedürfnis entwickeln, die in der Kindheit oder Jugend selbst Opfer von schweren Kränkungen und Gewalt geworden sind. Die Verinnerlichung dieser Traumen drängt sie später zu fortgesetzter aktiver Wiederholung des passiv erlittenen. Diese Reaktionsweise findet sich nicht minder bei größeren Gemeinschaften. Erlittene kollektive Niederlagen, Demütigungen und Unterdrückungen können den Nährboden für massenpsychologische Haß-Eruptionen schaffen – bis hin zum Ausdruck in barbarischen Exzessen, wie der kulturelle Fortschritt sie nach unserem Wunsch längst hätte eliminieren sollen.

Man könnte nun glauben, daß das Vorhandensein oder Fehlen eines ausgeprägten Feindbildbedürfnisses ein psychologisches Kriterium zur Unterscheidung von militärischen Interventionisten und Pazifisten sein könnte. Wer wie ich Gelegenheit hatte, sich über viele Jahr in den Gruppen der Friedensbewegung umzusehen, der konnte diese Annahme nur ungenügend bestätigen. Auch der Friedensbewegung sind in der Vergangenheit nicht wenige zugeströmt, denen es weniger um pazifistische Versöhnung und Verständigung als um Bekämpfung der Amerikaner, der eigenen Regierung oder des eigenen Militärs ging. Die in die Friedensbewegung hineinwirkende Ostpropaganda tat alles, um die Bewegung gerade auch für Fanatiker attraktiv zu machen, denen insgeheim die amerikanischen Pershings gerade recht waren, um ihre ödipalen Vaterproteste oder sonstwie verursachte Haßemotionen ausleben zu können. Die Auflösung der Blockkonfrontation und die ersten Schritte der atomaren Abrüstung ließen das Engagement dieser Gruppen rasch erlahmen, das mehr ein Anti- als ein Pro-Engagement gewesen war.

Damit treffe ich auf einen Kernpunkt der Psychologie des echten Pazifismus. Dieser ist vom vorherrschenden Antrieb her eine Pro- und keine Anti-Bewegung. Seine bedeutendsten Leitfiguren bezeugen dies sehr deutlich. Studiert man die Biographien einiger von ihnen wie Gandhi oder Mandela, so stimmen sie in einem wesentlichen Punkt deutlich überein: Diese Männer vermochten diverse schwere Verfolgungen und Kränkungen hinzunehmen, ohne ihr soziales Grundvertrauen erschüttern zu lassen. Gandhi befolgte das Prinzip der ahimsa, das bedeutet, Leiden akzeptieren zu können, ohne das Wesen des anderen verletzend anzutasten. Der Grundgedanke dabei ist, daß der Mensch, der zu Gewalttätigkeit versucht sei, nicht die Wahrheit im anderen respektiere und stattdessen sich anmaße, allein über die Wahrheit zu verfügen, was regelmäßig zu schuldhafter Selbstgerechtigkeit verführe. Wer das Wesen des anderen verletze, beschwöre immer nur Gegengewalt herauf.

Mandela schützte sich vor Haß durch eine außergewöhnliche Fähigkeit, sogar in seinen Peinigern sympathische Züge wahrzunehmen und dadurch die innere Verbindung zu ihnen aufrecht zu erhalten. Er schreibt: „Selbst in den schlimmsten Zeiten im Gefängnis, als meine Kameraden und ich an unsere Grenzen getrieben wurden, sah ich einen Schimmer von Humanität bei einem der Wärter, vielleicht nur für eine Sekunde, doch das war genug, um mich wieder sicher zu machen und mich weiterleben zu lassen.“

Beide Männer haben für ihren gewaltlosen Widerstand wiederholt im Gefängnis gesessen, Mandela allein 27 Jahre lang. Aber beide haben die Welt nicht in Licht und Finsternis aufgeteilt, sich nicht einseitig als gute Verfolgte gegenüber bösen Verfolgern gesehen, – was sie davor schützte, das Erlittene aktiv zu reproduzieren. Der eine hat in 300 Millionen Menschen die Energien für einen erfolgreichen gewaltlosen Befreiungskampf entzündet, der das britische Empire erschütterte. Der andere hat einen Bürgerkrieg mit vieltausendfachem Blutvergießen abgewendet, den die meisten Sachkenner seit langem als absolut unvermeidlich prognostiziert hatten. Wer heute den Pazifismus totsagt, dem sollten solche historischen Beispiele helfen, seinen voreiligen Pessimismus zu überprüfen und zumindest die mögliche politische Wirksamkeit einer Einstellung anzuerkennen, die heute von den bekannten Zynikern gern als trügerische Gutmenschen-Romantik verächtlich gemacht wird.

Natürlich muß die Friedensbewegung die Destruktivität als ein in den Menschen und in den Gesellschaften wirksames Element registrieren, aber zugleich im Geiste ihrer großen Vorbilder daran arbeiten, dieses Element zurückzudrängen. Dabei wird sie am ehesten vorankommen, wenn sie sich nicht mit dem Erzengel Michael oder dem Heiligen Georg vergleicht und auch nicht wie Herakles versucht, der bösen Schlange Hydra den Kopf abzuschlagen, der danach bekanntlich gleich drei neue Köpfe nachgewachsen sind. (Meine Frau und ich haben übrigens gerade eine Grafik Max Pechsteins erworben, der dieses Motiv 1916 als Heimkehrer aus der Vernichtungsschlacht an der Somme dargestellt hatte.) Wir sollten den Drachen stets zuerst in seinem gefährlichsten Versteck suchen, – nämlich bei uns selbst beziehungsweise in unseren eigenen Gesellschaften.

Wir Deutschen haben gerade mit MIG-21 Kampfflugzeugen, Helikoptern und Aufklärungsmaschinen den Kroaten geholfen, 150.000 Krajiner-Serben zu bekämpfen und zu vertreiben. In 39 von 48 Länder mit ethnischen Konflikten exportieren die Amerikaner Rüstungsmaterial und Rüstungstechnologie, wie Ex-Senator William Proxmire in der New York Times moniert hat. Am Golf und in Somalia kämpften die Eingreiftruppen gegen Waffen aus ihren Heimatländern. Ex-Jugoslawien wird schon wieder kräftig aufgerüstet. Laut A.P. soll die bosnisch-kroatische Föderation schon wieder mit Militärgerät im Wert von 1,2 Milliarden Mark aufgerüstet werden, obwohl noch höchst ungewiß ist, ob die Kroaten an dieser wackeligen Konföderation überhaupt festhalten wollen. Jedenfalls läßt man der Hydra bereits wieder neue Köpfe nachwachsen, anstatt alle Kräfte und Mittel umgekehrt für friedliche Verständigungsarbeit einzusetzen. Denn weder die jetzigen NATO-Waffen noch die neu importierten werden neues Blutvergießen verhindern, wenn die Beteiligten es nicht wollen.

Die großen Rüstungsländer, mit an vorderer Front die Deutschen, wetteifern ohnehin weiterhin darin, durch ihre Waffenexporte neue Kriege führbar zu machen. So wiederholt sich ständig das absurde Schauspiel, daß schließlich in der UNO solche Nationen über kriegführende Regierungen zu Gericht sitzen, die diesen erst ihre Kriege möglich gemacht haben. In Afghanistan z.B. wäre das Blutvergießen längst erloschen, hätte man das Land nicht zunächst mit östlichem und westlichem Militärgerät überschwemmt.

Und die Deutschen? Weil die Tornados so gut sind, ist ihnen zu danken, daß Bonn durch sie das Eintritts-Ticket für internationale Kampfeinsätze erhalten hat. Zugleich können sich die Rüstungsforschung und die Rüstungsindustrie über die Anschubwirkung freuen, die ihnen die Militärintervention in Bosnien verschafft. Diejenigen Politiker reiben sich die Hände, die immer schon auf die Karte der militärischen Sicherheitslogik gesetzt haben. Während die Interventionsbefürworter im Lager der Grünen und der Sozialdemokraten eher an die Hilfe für die bedrängten Bosnier dachten, haben sie indirekt diejenigen unterstützt, die schon lange systematisch daran arbeiten, die gewachsene deutsche Verantwortung vor allem im Sinne militärischer Stärkepolitik zu definieren.

Wenigstens ein Wort noch zu der in der Bosnien-Debatte laut verkündeten neuen Ethik, die ich Affekt-Ethik nenne. Diese besagt nach Joschka Fischer, es müsse von außen militärisch eingegriffen werden, wenn ein Krieg oder Bürgerkrieg völkermörderische Ausmaße annehme. Er bezog sich bekanntlich speziell auf Sebrenica. Den Begriff Affekt-Ethik finde ich passend, wenn unter einer Reihe von völkermörderischen Kriegen oder Bürgerkriegen nur ein einziger militärischer Einmischung für bedürftig erklärt wird, an dem sich mit Hilfe der Medien besondere Emotionen wie Erschrecken, Mitgefühl und Empörung entzündet haben. Handelte es sich um ein echtes moralisches Prinzip, müßte die Interventionsforderung unbedingt auch dort laut werden, wo völkermörderisches Blutvergießen von der Politik und den Medien nicht oder weniger emotionalisierend aufbereitet wird.

In Bosnien hatten die Serben in der Tat nach Kräften mitgeholfen, ein klassisches Schwarz-Weiß-Szenario mit ihnen als Tätern und allen übrigen als Opfern zu etablieren. Die Abbildungen ihres Wütens steigerten die Erregung in der Öffentlichkeit zu solchen Ausmaßen, daß viele die militärische Intervention wie eine erlösende karitative Befreiungstat empfanden. Aber dann geschah etwas Sonderbares. Mit Wissen der Amerikaner, die im übrigen auch zuvor über die serbische Eroberung Sebrenicas informiert gewesen waren, stürmten die Kroaten an den Blauhelmen vorbei in die Krajina, vertrieben dort über 150.000 in der Mehrzahl alteingesessene Serben, töteten scharenweise Zurückgebliebene und brannten, wie UNO-Beobachter berichteten, dutzende ihrer Dörfer ab. Tjudman feierte seine Strategie. Gerühmt wurde der »Blitzkrieg«, – nach einem Begriff, der für Hitlers Überfälle 1940 und 1941 geprägt worden war. Die USA und Deutschland verhinderten eine Verurteilung Kroatiens in der UNO. Keiner der prominenten deutschen Interventions-Befürworter rührte sich. Die Rollen im Szenario und die entsprechenden affektiven Besetzungen waren schon definitiv sortiert.

Schon halbvergessen sind andere völkermörderische Aggressionen, die, wenn es um`s Prinzip ginge, die Interventionisten unbedingt hätten auf den Plan rufen müssen. Fast ungestört hatte Pol Pot mit seinen Roten Khmern etwa eine Million seiner Landsleute durch Massenhinrichtungen und Verhungern umbringen und Hunderttausende in die Flucht jagen lassen. Als Saddam Hussein 1988 noch Partner der Amerikaner war, die ihn als Bollwerk gegen den Iran der Mullahs aufgerüstet hatten, rottete er mit Giftgasbomben ganze kurdische Dorfbevölkerungen im nördlichen Irak aus. Niemand außer der Friedensbewegung rief dazu auf, ihm das Handwerk zu legen.

In Afghanistan läuft noch immer ein grausiges Trauerspiel ab, dem die Weltöffentlichkeit nach dem Abzug der Russen ihr Interesse entzogen hat. Seitdem haben Hunderttausende, vermutlich mehr als eine halbe Million, im Bürgerkrieg ihr Leben verloren. Das Elend der Menschen im laufend weiter beschossenen Kabul stellt alles in den Schatten, was die Bosnier in Sarajewo erlitten haben. Ein Ende der Massaker ist noch nicht abzusehen. Keiner ruft nach militärischem Schutz für die verzweifelte Bevölkerung. Warum? Es fehlen die dokumentierenden Bilder. Das Kampfgeschehen läßt sich auch nicht in ein einfaches Schwarz-Weiß-Szenario einordnen, wie es noch möglich war, als es russische Besatzer mit aus dem Westen aufgerüsteten afghanischen Freiheitskämpfern zu tun hatten.

Jedenfalls tut der Pazifismus gut daran, sich nicht eine Selbstrechtfertigung durch eine Affekt-Ethik aufnötigen zu lassen, die mit selektiven militärischen Läuterungs-Ritualen davon ablenkt, daß nicht er, sondern die Nichtbefolgung seiner Hauptforderungen immer noch kriegerische Massaker in verschiedenen Teilen der Welt begünstigt. Den Pazifismus kann man mit einer sanften Medizin vergleichen. Er versucht wie diese, durch Aufklärung und vorbeugenden Gesundheitsschutz Krankheiten zu verhindern. Nach deren Ausbruch tut er alles, um das Immunsystem, d.h. die Abwehrkräfte zur Überwindung des Übels zu stärken, also Antikriegsgruppen und Deserteure zu unterstützen und Opfern zu helfen. Er kann bei einem einzelnen Entzündungsherd wie Sebrenica momentan eine Niederlage erleiden. Aber da es sich um eine chronische Systemkrankheit mit diversen Entzündungsherden handelt, ist die chirurgische Lösung, d.h. militärisches Eingreifen, fürs Ganze kontraproduktiv, weil es automatisch den teuflischen Zirkel wieder in Gang setzt, nämlich neue Rüstung, neue Waffenexporte, Militarisierung des Sicherheitsdenkens und Schwächung des Immunsystems, nämlich der UNO, die sich von der NATO das Heft aus der Hand nehmen lassen mußte.

Der Hauptversager in Ex-Jugoslawien war nämlich die Institution, für deren Stärkung die Friedensbewegung seit altersher kämpft. Aber die UNO mußte versagen, weil sie von ihren wichtigsten Mitgliedern praktisch bankrott und nahezu handlungsunfähig gemacht worden ist. So hat sie in Bosnien die schlimmste Niederlage erlitten, indem sie die ihr von Rechts wegen zustehende politische Verantwortung an das westliche Militärbündnis abtreten mußte. Die Weltorganisation ist gelähmt. Die Mitgliedsländer schulden ihr mehr als drei Milliarden Dollar, 1,2 Milliarden allein die USA. Sie kann, wie man hört, nicht einmal mehr ihre Menschenrechts-Beauftragte für Ex-Jugoslawien mit den Mitteln ausstatten, die für die Erstellung kompetenter Berichte über Kriegsverbrechen nötig sind. Die Republikaner im US-Senat scheuen sich nicht damit zu drohen, die Unterstützung der Vereinten Nationen vollends einzustellen, wenn diese den eigenen nationalen Interessen in die Quere kommen. In der Schublade verschwunden ist das Programm einer dringlichen Reform der Weltorganisation, die eine internationale Kommission unter Federführung Richard von Weizsäckers erarbeitet hat.

Nationale Egoismen, Zerstrittenheit und Geiz der Mitgliedsländer bedrohen uns mit der Gefahr, daß die Weltsicherheitspolitik allmählich wieder in die Hände von Militärbündnissen gerät, während die Friedensbewegung umgekehrt darauf dringt, die supranationale Weltorganisation so zu unterstützen, daß diese als einzige dafür denkbare Instanz für Fortschritte in der internationalen Abrüstung, für Abbau des Rüstungshandels und endlich für die Schaffung von kompetenten, vernetzten Kriseninterventionszentren sorgt, die in Spannungsgebieten den Ausbruch von Feindseligkeiten verhüten können.

Es ist schon paradox: Alle müßten sehen, daß die Friedensbewegung mit ihren auf Prävention ausgerichteten Zielen heute mehr denn je gebraucht wird. Stattdessen erscheint sie vielen als Auslaufmodell und als kläglicher Hort von Gutmenschen-Kitsch. Aber ganz so trostlos ist ihre Situation wiederum nicht. In der jungen Generation findet sie jedenfalls trotz aller gegnerischen Propaganda einen zwar eher leisen, dennoch verläßlichen Rückhalt. Die Militarisierung des politischen Denkens hat die Jugend nicht mit ergriffen. Der Anteil der Kriegsdienstverweigerer ist entgegen der offiziellen Interventionspolitik noch stetig angestiegen. Die neuerdings hochgelobte Wehrpflicht findet bei den unter 24jährigen sowohl in Ost- wie in Westdeutschland deutlich mehr Ablehnende als Befürworter, wie Elmar Brähler und ich bei einer repräsentativen Vergleichsuntersuchung festgestellt haben. Fast einhellig hat sich unsere Jugend gegen die französischen Atombomben-Tests empört.

Nicht zu leugnen ist allerdings, daß diese Generation zwar überwiegend pazifistisch denkt, dafür aber vorläufig wenig tut. Die ökologische Krise und soziale Ängste sorgen für eine eher gedrückte Grundstimmung. Der Mißerfolg der Proteste gegen Chirac hat sich in Gefühlen von Ohnmacht und Resignation niedergeschlagen. Die Basisgruppen der Friedensbewegung sind mit sich selbst und der eigenen Konsolidierung nach manchen Verlusten und internen Konflikten beschäftigt. Zur Zeit sind sie dabei, ihre Erfahrungen aus der jüngsten Vergangenheit auszutauschen und aufzuarbeiten. Gerade hat in Frankfurt ein Treffen maßgeblicher Repräsentanten aus Organisationen stattgefunden, die in den achtziger Jahren die Friedensbewegung im wesentlichen getragen haben. Auf dem Tisch liegen auch schon wieder Programme für interessante Projekte. Aber im Vordergrund steht momentan noch das Bedürfnis zu kritischer und selbstkritischer Besinnung und zum Atemholen nach den zermürbenden Debatten und Kontroversen der letzten Zeit.

Wenn Sie mich nach meinen persönlichen Eindrücken und Einschätzungen fragen, so registriere ich im Moment unterschiedliche Signale. Die Einladungen, über Pazifismus zu reden, häufen sich wie nie zuvor in den letzten drei Jahren. Bei Veranstaltungen verspüre ich große Hoffnungen, aber vorwiegend solche passiver Art, also Erwartungen, die an andere delegiert werden, oder auch Enttäuschung darüber, daß so wenig erreicht wird. Ich selbst halte mich jedenfalls nach wie vor unbeirrt an eine Empfehlung, die ich einer Rede des verstorbenen Soziologen Max Horkheimer über Pessimismus entnommen habe: Jeder hat die Chance, seinem etwaigen theoretischen Pessimismus mit einer persönlichen optimistischen Praxis zu widersprechen. Das ist, wie ich gefunden habe, nicht nur ein psychohygienisches Rezept. Man kann damit auch etwas bewirken.

Prof. Dr. Dr. Horst-Eberhard Richter ist geschäftsführender Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt