Es geht um EU-Interessen

Kongo-Militäreinsatz:

Es geht um EU-Interessen

von Tobias Pflüger

Das Europäische Parlament hat formal kein Mitentscheidungsrecht bei Militäreinsätzen der Europäischen Union. Dennoch wurde am 22. und 23. März 2006 eine Debatte und Abstimmung über den EU-Militäreinsatz im Kongo durchgeführt, quasi als Einstimmung für die einzelstaatlichen Parlamente. Eine große Koalition von Konservativen, Sozialdemokraten, Liberalen und Rechtsnationalen stimmte für eine EU-Militärintervention in die Demokratische Republik Kongo. Interessant dabei war, dass genau zum Zeitpunkt der Debatte die eigentliche Entscheidung fiel, aber an anderem Ort: Das »Politische und Sicherheitspolitische Komitee« (PSK) votierte für eine Entsendung von damals noch 1.500 Soldaten. Im PSK sitzen die Botschafter der EU-Staaten oder deren für Militärpolitik zuständige Stellvertreter. Formal bestätigte dann – wie üblich – noch der EU-Ministerrat dieses Votum für eine Kongo-Militärintervention.

Anfang Juni gab dann auch der Bundestag, sozusagen als »Grüßaugust«, seine Zustimmung. Die Vorbereitungen, die auf EU-Ebene begannen, waren nicht mehr zu stoppen, während der Abstimmung im Bundestag liefen die Vorbereitungen des Militäreinsatzes bereits auf Hochtouren. Sie entfalteten einen enormen Druck für eine parlamentarische Zustimmung und so wurde auch die vorgesehene Mannschaftsstärke erneut heraufgesetzt. Jetzt sollen von insgesamt 2.000 Soldaten 780 aus Deutschland kommen. Am deutschen Oberkommando für den Einsatz und der operativen Verantwortlichkeit Frankreichs in Kinshasa wurde selbstverständlich nicht mehr gerüttelt.

Mit dieser Vorgehensweise wurden nicht einmal minimale demokratische Standards eingehalten. Die EU hat gegenüber Drittstaaten Kriterien für die parlamentarische Kontrolle von Militär aufgestellt. Sie selbst erfüllt diese Vorgaben aber nicht. Die Exekutive und dort ausgerechnet die Botschafter bei der EU oder deren Stellvertreter preschen vor, die einzelstaatlichen Parlamente nicken einen Einsatz ab, der de facto schon läuft.

Deckmantel Wahlhilfe

Offiziell geht es beim geplanten EU-Militäreinsatz im Kongo um die militärische Absicherung der bevorstehenden Wahlen. Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen wurden mehrfach verschoben. Derzeit ist das Datum der 31. Juli 2006. Die größte Oppositionspartei UDPS boykottiert jedoch die Wahlen, weil es bei der Wählerregistrierung eine Reihe von Unregelmäßigkeiten gegeben hat. Der Wahlsieger steht mit dem autokratischen Präsidenten Joseph Kabila damit praktisch schon fest. Kabila wird von der EU massiv unterstützt, dies obwohl seine Armee für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht wird und er zahlreiche Ressourcen des bitterarmen Landes an Verwandte privatisiert und vergeben hat. Die Wahlabsicherung ist also ein Vorwand, um was geht es tatsächlich?

Der deutsche Verteidigungsminister Franz-Josef Jung sagt ganz offen, dass es „um zentrale Sicherheitsinteressen unseres Landes“ ginge und „wir es mit einem großen Flüchtlingsproblem in ganz Europa zu tun bekommen“, sollte es den Einsatz nicht geben. Und weiter: „Stabilität in der rohstoffreichen Region nützt auch der deutschen Wirtschaft.“1 Gemeint sind strategische Rohstoffe wie Wolfram, Cobalt und Mangan. Das passt auch zum Entwurf des Weissbuchs der Bundeswehr von Franz-Josef Jung, in dem Militärinterventionen zur Rohstoffsicherung verankert wurden.2 Der CDU-Abgeordnete Andreas Schockenhoff schreibt: „Kongo ist eines der ressourcenreichsten Länder der Welt und verfügt vor allem über strategische Rohstoffe, die für Europa wichtig sind: Wolfram, Mangan- und Chromerze, Kobalt, Uran, Erdöl, Coltan, Beryllium. Europa und Deutschland haben ein Interesse daran, dass der Abbau dieser Ressourcen legal und nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten erfolgt. Kongo ist das mit Abstand wasserreichste Land auf dem Kontinent…“3

Schon jetzt wird der geplante EU-Militäreinsatz von vielen zu Recht als Unterstützung des autoritär regierenden Präsidenten Kabila und der War-Lords vor Ort angesehen gegen die Opposition und auch gegen viele in der Bevölkerung. Dazu passt, dass den – von der EU ausgebildeten – kongolesischen Sicherheitskräften zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden.

Der „arme, geschundene Kontinent ist auch von den Europäern kaputt gemacht worden,“4 stellte Jungs Vorgänger Peter Struck laut einer Meldung im Tagesspiegel fest, um damit einen Militäreinsatz der EU zu rechtfertigen: „Wer denn, wenn nicht wir, soll dahin?“, fragte Struck.

Der SPD-Politiker Johannes Kahrs meinte zur Stärke des Kongo-Einsatzes: „Das wäre so, als würden 750 Soldaten in Lissabon landen und sagen, damit würden sie ganz Westeuropa stabilisieren.“5 Auch militärisch gesehen macht dieser Einsatz also keinen Sinn. Selbst hochrangige Militärs, wie beispielsweise Generalmajor Jan Oerding, der Chef der neuen EU-Einrichtung »Kommando Operative Führung Eingreifkräfte« in Ulm, konnte keine klare Antwort auf die Frage geben, welchen Erfolg aus militärisch-strategischer Sicht 2.000 im Kongo eingesetzte Soldaten verbuchen können. In den Reihen der deutschen Militärs steigt die Ablehnung gegen diese „reine Show, die das Leben deutscher Soldaten nicht wert ist,“6 wie Bernhard Gertz, Sprecher des Bundeswehrverbands den Kongo-Einsatz in der Welt am Sonntag charakterisierte. Der Wehrbeauftragte Reinhold Robbe hatte indes die Bundesregierung aufgefordert, vor einem etwaigen Kongo-Einsatz der Bundeswehr die Bedingungen genauestens zu klären.

Demonstrierte Interventionsfähigkeit

Nicht einmal die drei wesentlichen internen Bedingungen für den Kongo-Einsatz sind erfüllt.

  • Erstens stand am Anfang nicht ein Beschluss der UNO, erst auf ausdrückliche Bitte Frankreichs im UN-Sicherheitsrat wurde die EU zu einer militärischen Intervention im Kongo berufen.
  • Zweitens wurde keine wirkliche Anforderung seitens der kongolesischen Regierung ausgesprochen. Präsident Kabila hat lediglich zu verstehen gegeben , dass er nichts gegen einen EU-Militäreinsatz habe, was bestenfalls als Unterstützung, aber keinesfalls als Anforderung zu bewerten ist.
  • Drittens fehlt weiterhin eine exakte zeitliche und räumliche Begrenzung für diesen Einsatz. Zur Dauer heißt es: vier Monate oder vielleicht doch länger, und eine räumliche Begrenzung wird in dem Beschluss des PSK nicht festgelegt, auch wenn im Bundestagsbeschluss von einer Beschränkung deutscher Soldaten auf den Raum Kinshasa die Rede ist.

Deutschland wird führend am EU-Militäreinsatz im Kongo beteiligt sein. Das im Potsdamer Einsatzführungskommando bereitgestellte »Operation Headquarter« (OHQ) der EU soll den Einsatz leiten. Das sogenannte »Force Headquarters« (FHQ) dafür, also eine verlegbare Befehlszentrale im Einsatzland wird bei diesem Einsatz das Pariser FHQ sein. Auch Deutschland verfügt seit knapp einem halben Jahr über ein FHQ, dem »Kommando Operative Führung Eingreifkräfte « in Ulm. Dass für den Kongo-Einsatz nun nicht das deutsche FHQ, sondern das französische ausgewählt wurde, ist der politische Deal, der Arbeitsteilung zwischen Deutschland und Frankreich. Das Kommando in Ulm wird für den Kongo-Einsatz mehrere Verbindungsoffiziere in das Potsdamer OHQ abstellen, damit ist Ulm in den Kongo-Militäreinsatz involviert.

Mit dem Kongo-Einsatz will die EU ihre Interventionsfähigkeit beweisen. Das ist auch Teil des neuen »großen Spiels« um Afrika, bei dem EU-Mitgliedstaaten, China und die USA um die Rohstoffausbeute konkurrieren. Die neuen Battle Groups der Europäischen Union, von denen zwischen 2007 und 2010 dreizehn mit einer Starke von jeweils 1.500 Soldaten gebildet werden sollen, haben nach EU-Strategiepapieren Afrika als Hauptziel. Die EU will zeigen, dass „Europas Sicherheitspolitik beginnt, handlungsfähig zu werden,“ denn „dies ist der einzige entscheidende Grund für diesen Einsatz,“ 7 wie es Klaus Naumann, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und ehemaliger Vorsitzender des NATO-Militärausschusses offen sagt.

Wie human die humanitäre Intervention im Kongo wirklich ist, lässt sich aus folgender Meldung der NZZ vom 28. Januar 2006 ersehen: „Während die UNO in ihrem Spendenaufruf für 2005 47 Millionen Dollar für die Republik Zentralafrika, 40,5 für Cote d’Ivoire und 33 Millionen für Guinea verlangte, versprachen die Geber an der Konferenz für die Hilfe an diese Länder nur je eine Million Dollar. Für die Demokratische Republik Kongo wurden 36,5 von 738 Millionen zugesagt, für den Sudan 106 Millionen von 1,5 Milliarden, für Somalia sogar nur 5 Millionen von den notwendigen 174 Millionen.“ 8 Allein der Bundeswehreinsatz im Kongo wird aber für die ersten Monate 56 Millionen Euro an zusätzlichen Kosten verschlingen.

Die EU-Militärintervention in der DR Kongo schreibt sich in die post-koloniale Tradition der militärinterventionistischen Afrikapolitik europäischer Kolonialmächte ein. Dazu passt, dass Frankreich seine Militärstützpunkte in Afrika, wie in Senegal, Djibouti, Gabun und der Elfenbeinküste europäisieren möchte.9 Während der Kongo-Mission sollen 400 deutsche Fallschirmjäger in Libréville/Gabun auf einem französischen Militärstützpunkt stationiert werden. Mit der EU-Militärintervention in der DR Kongo droht ein Exempel für die Europäisierung französisch/belgischer Hegemonialpolitik in Afrika.

AP schreibt in einer Agenturmeldung vom 07.06.2006: „Der EU-Außenbeauftragte Javier Solana hat den bevorstehenden Kongo-Einsatz europäischer Soldaten als Beispiel für die künftigen Aufgaben der EU bezeichnet.“ Wenn der Kongo das Probebeispiel ist, was soll dann alles noch folgen?

Anmerkungen

1) http://www.bundesregierung.de/Interview/,-975779/dokument.print.htm

2) http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID5519118_REF1,00.html

3) http://www.andreas-schockenhoff.de/politisches/standpunkte?template=detail&entryid=64

4) Tagesspiegel 29.03.2006

5) Deutschlandfunk, 21.03.2006, zitiert nach „Gute demokratische Tradition“, Grüne und Seeheimer Kreis für und gegen Kongo-Einsatz in: ngo-online, 21.03.2006

6) http://www.wams.de/data/2006/03/26/865573.html

7) Osnabrücker Zeitung, 03. April 2006

8) Neue Züricher Zeitung vom 28.01.2006

9) Vgl. http://www.swp-berlin.org/de/common/get_document.php?id=1410

Tobias Pflüger ist Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. und Mitglied des Europäischen Parlaments, dort Mitglied der Linksfraktion GUE/NGL, des Auswärtigen Ausschusses, des Unterausschusses Sicherheit und Verteidigung und der NATO-Parlamentarier-Delegation.

Abhängig von Rohstoffen und Monopolstrukturen

Europäische Energiepolitik:

Abhängig von Rohstoffen und Monopolstrukturen

von Karsten Smid

Die Zukunft der Energieversorgung berührt nicht allein die Umwelt- oder Wirtschaftspolitik, sondern wirft zunehmend außen- und sicherheitspolitische Fragen auf. Verknappung, wachsender Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt um Ressourcen, Klimaerwärmung und die Weiterverbreitung (Proliferation) von Atomwaffentechnik umschreiben die neue Dimension der Energiedebatte. Die Energiepolitik gewinnt in immer schärferer Form geostrategische Bedeutung. Bei rasant steigender Nachfrage wird immer offensichtlicher: Der Vorrat an fossilen Brennstoffen und Uran ist endlich. Der Zugriff auf die wertvollen Ressourcen wird daher mit politischer Macht gesichert und nötigenfalls mit militärischer Gewalt verteidigt. Diese Politik der Energiesicherung verstärkt die Ungerechtigkeit in der Welt: Während die reichen Industrieländer ungehemmt ihren Energiehunger stillen, haben die ärmeren Länder das Nachsehen.

Europa hat die Frage der Versorgungssicherheit bislang weitgehend den Energiekonzernen überlassen, deren Unternehmensstrategie vorrangig auf Gewinnmaximierung gerichtet ist. Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, die Interessen der Konzerne seien identisch mit denen der nationalen Regierungen. Folgerichtig ist es auch ein Fehler, die strategische Ausrichtung der Energiepolitik den Energiekonzernen zu überlassen. Die bisherige Energieversorgung führt dazu, dass einige wenige Konzerne riesige Gewinne realisieren und ihre Monopolstellung weiter ausbauen. Ihre Umsätze übertreffen das Bruttosozialprodukt einiger europäischer Staaten.

Wir stehen energiepolitisch am Scheideweg: Wird der Ausbau erneuerbarer Energien forciert oder setzten wir weiter vor allem auf fossile und atomare Energieträger mit der Folge doppelter und wachsender Abhängigkeit: Zum einen von den Energiekonzernen und zum anderen von Rohstoffimporten.1 Die erstere zementiert die alten, auf fossilen Brennstoffen basierenden Strukturen. Die zweite erhöht dramatisch den Beschaffungsdruck: Die begleitenden Umstände, die stoffgebundene Abhängigkeit, das unabweisbare Verlangen nach einem bestimmten Stoff, der Kontrollverlust über die Menge des Konsums und das bei Engpässen extrem aggressive Verhalten zum Beschaffen des Stoffes weist Parallelen auf zu einem Heroinabhängigen: Der Stoff – in diesem Falle Öl und Gas – muss »auf Teufel komm raus« beschafft werden, sonst droht der Kollaps.

Peak Oil – Schluss mit dem billigen Erdöl

Die Industriegesellschaften stehen an einem historischen Wendepunkt: 150 Jahre lang war Erdöl der Treibstoff der aufstrebenden Nationen. Der Zugang zur billigen Ressource sichert ihnen auch heute noch Wohlstand, Überfluss und Macht. Doch unaufhaltsam nähert sich das Ende des Ölzeitalters. Jedes Jahr wird so viel Erdöl verbraucht, wie die Natur im Laufe von einer Million Jahren geschaffen hat. Wir müssen davon ausgehen, dass 90 Prozent der förderbaren Erdölvorräte bereits entdeckt sind. Weltweit kommt auf zwei Fass Öl, die verbraucht werden, nicht einmal ein Fass Öl, das neu gefunden wird. Geologen sehen den »Peak Oil“ (auch: »depletion midpoint«) kommen, den Zeitpunkt, an dem die höchste Ölfördermenge erreicht wird. Manche Experten erwarten ihn bereits um das Jahr 2010. Nach dem »Peak Oil« wird die Weltölproduktion zwangsläufig sinken.

Auch Europas Ölvorräte gehen allmählich zur Neige. An ihre Stelle treten zunehmend Erdöllieferungen aus den OPEC-Ländern, insbesondere der Golfregion. Diese Länder gelten als politisch ebenso instabil wie die gesamte Kaukasus-Region. Weltweit müssen die Konzerne immer mehr Aufwand treiben, um Ölquellen zu erschließen. Sie dringen zu diesem Zweck in immer sensiblere Naturregionen vor. Unberührte Urwaldgebiete in Afrika und Lateinamerika werden von Ölpipelines durchschnitten, Ölleckagen bedrohen artenreiche Naturschutzgebiete in Alaska, Westsibirien oder Sachalin.

Bei der Verbrennung von Öl wird das Treibhausgas Kohlendioxid (CO2) freigesetzt. Vor den Konsequenzen der Erderwärmung in Folge der steigenden CO2-Konzentration in der Atmosphäre warnen Klimawissenschaftler immer eindringlicher. Gletscher schmelzen in ungeahntem Tempo ab. Der Meeresspiegel steigt. Der Permafrostboden taut auf und setzt Methan frei. Die Intensität von Hurrikanen steigt. Niederschläge nehmen zu. Dürren und Hitzewellen halten länger an.

Leidtragende sind in erster Linie die armen, unterentwickelten Länder. Überschwemmungen, Hurrikane und lang anhaltende Dürreperioden können in Zukunft eine Welle von Klimaflüchtlingen auslösen, die nach Europa drängt. Es kann auch Südeuropäer treffen, die wegen der Versteppung ganzer Landstriche nach Norden fliehen müssen.

Das Fazit ist eindeutig: Die knappen Ölvorräte, die bedrohte Versorgungssicherheit sowie der begonnene Klimawandel gebieten ohne Alternative, sich energisch den Erneuerbaren Energien zuzuwenden.

Die verletzlichen Adern der Öl- und Erdgasversorgung

Ungeachtet all dieser Probleme treibt die Europäische Union (EU) die Erschließung der Öl- und Gastransportrouten voran. Das Programm INOGATE (Interstate Oil and Gas Transport to Europe)2 hat den Ausbau des Pipelinenetzes, und damit den Zugriff auf russische, kaukasische und zentralasiatische Öl-Felder und Gasvorkommen zum Ziel.34

Im Ölsektor geht es vorrangig um die Erneuerung und den Ausbau der Druschba-Pipeline, über die Deutschland einen Großteil des russischen Öls aus Westsibirien5 importiert, und um zusätzliche Pipelines in Südosteuropa. Der Bosporus, Nadelöhr und riskante Schifffahrtsroute für die riesigen Öltanker, soll durch zusätzliche Pipelines entlastet werden.

Das Erdgas aus Russland wird bisher auf dem Landweg über Pipelines nach Europa gepumpt. Die deutschen Erdgasimporte laufen entweder über die Transitländer Ukraine, die Slowakei und Tschechien oder über Weißrussland und Polen. Wie anfällig dieses zweiadrige Versorgungssystem ist, hat der russisch-ukrainische Gasstreit gezeigt. Als Russland wegen Auseinandersetzungen um die Preisgestaltung zum 1. Januar 2006 die Gaslieferung an die Ukraine stoppte, meldeten gleich mehrere europäische Länder einen vorübergehenden Rückgang der vereinbarten Liefermengen um bis zu 40 Prozent.

Um diese Abhängigkeit zu verringern, sind zwei große Pipelineprojekte in Planung. Über die ca. 1.300 Kilometer lange Trans-European Gaspipeline (Ostseepipeline) soll das russische Gas von St. Petersburg durch die Ostsee nach Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern und dann weiter über die Niederlande nach Großbritannien gepumpt werden – zuerst 25 bis 30 Milliarden Kubikmeter pro Jahr, nach dem Bau einer zweiten Röhre das Doppelte. Das Gas soll aus dem westsibirischen Jushno-Russkoje-Gasfeld kommen.

Das zweite Projekt ist die Aserbaidschan – Georgia – Türkei Gaspipeline, die Gas aus der kaspischen Region liefern soll. Diese Pipeline (auch BTE Pipeline genannt) verläuft von Aserbaidschan nach Tbilisi und dann südwärts an der türkischen Stadt Erzurum vorbei. Es ist geplant, sie dort an das türkische Leitungssystem anzuschließen. Die BTE-Rohrleitung soll das Erdgas vom Giant-Offshorefeld Azeri von Shah Deniz transportieren, dessen Reserven auf 460 Milliarden Kubikmeter geschätzt werden. Im vollen Ausbaustadium ab 2009 wird sie laut Planung eine Kapazität von etwa 8 Milliarden Kubikmetern pro Jahr erreichen.

Wie der Erdölmarkt in Europa von den Ölmultis Esso, Shell, BP und Total beherrscht wird, ist auch der Gasmarkt unter Kontrolle von großen Versorgungsunternehmen. Russland ist mit seinem Staatsunternehmen Gasprom auf dem besten Wege, gemeinsam mit seinen (mehr oder weniger abhängigen) Nachbarländern eine Art »Gaskartell« aufzubauen. Auf der deutschen Seite finden sich E.ON-Ruhrgas, RWE, Wingas und Co., die ihre eigenen Interessen verfolgen – vor allem das Interesse der Profitmaximierung. Die Gefahr einer neuen Abhängigkeit von Oligopolstrukturen ist unabweisbar.

Grünbuch Energiesicherheit und Nato-Strategien

Die Abhängigkeit Europas von Öl- und Gasimporten wächst beständig. Das im März 2006 von der EU-Kommission vorgestellte Grünbuch »Eine europäische Strategie für nachhaltige, wettbewerbsfähige und sichere Energie« bemerkt dazu: „Der Energiebedarf der Union (wird) in den nächsten 20 bis 30 Jahren zu 70 % (statt wie derzeit zu 50 %) durch Importe gedeckt werden, wobei einige aus Regionen stammen, in denen unsichere Verhältnisse drohen.“

Was kaum ein Europäer weiß: Die EU importiert schon heute mehr Rohöl als die USA, die gemeinhin als besonders ölabhängig gelten. Im Jahr 2004 führte die EU 508 Millionen Tonnen Öl ein (USA: 501 Millionen Tonnen), davon allein 159 Mio. Tonnen aus dem Mittleren Osten.6

Das Grünbuch mahnt folgerichtig eine „klar definierte Energieaußenpolitik“ an. Diese soll die Modernisierung und den Bau neuer Infrastruktureinrichtungen, insbesondere Erdöl- und Erdgasrohrleitungen und Flüssiggas-(LNG)-Terminals sicherstellen, die für eine stabile Energieversorgung als erforderlich betrachtet werden. Daneben sollen Energiedialoge die Partnerschaft mit Erzeuger- und Transitländern festigen.

Für die EU ist die kaspische Region dabei von zentraler Bedeutung. Neue Öl- und Erdgaspipelines sollen die europäischen Energieversorger an die Region anbinden. Der Kampf um die Ölreserven am kaspischen Meer, das »Great Game«, ist unter den konkurrierenden Nationen voll entbrannt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion versucht Washington, auf die kaspischen Energievorräte zuzugreifen und unterstützt Initiativen, um die Ölfelder für westliche Investoren zu erschließen und Exportpipelines zu errichten, wie die drei Milliarden Dollar teure Baku-Tbilisi-Ceyhan-Pipeline (BTC). Das Engagement soll abgesichert werden durch die Stationierung amerikanischer Streitkräfte im kaspischen Raum. Neben Europa und den USA will sich auch China von Osten her über Kasachstan den Zugriff auf das kaspische Öl sichern.

Auf politischer Ebene will die EU bei der Internationalen Energie Agentur (IEA) und beim G8-Gipfel im Juli 2006 in St. Petersburg die Versorgungssicherheit auf die Tagesordnung setzen. Das Grünbuch sieht Europas Energiesicherheit durch Konkurrenten gefährdet: „Eine geringere Nutzung fossiler Brennstoffe durch diese Länder (Vereinigte Staaten, Kanada, China, Japan und Indien) wäre auch für die Energieversorgungssicherheit Europas von Vorteil.“

Die wachsende Energieabhängigkeit und die zunehmende Konkurrenz der Hochverbrauchsländer bei verknappten Weltreserven ist auch Thema der NATO und ihrer militärischen Strategien zur Ressourcensicherung. So ist die geostrategische Sicherung lebenswichtiger Ressourcen seit April 1999 ein Teil der offiziellen NATO-Strategie. „Die Interessen der Allianz können auch durch Risiken weitläufiger Natur gefährdet werden, zu denen die Zufuhr von lebenswichtigen Ressourcen gehört“, so das strategische Konzept der NATO.7

In Szenarien wird auch schon der Ernstfall geprobt. Im Garmisch Game´99 spielten 90 hochrangige Militärs und Diplomaten drei Tage unter Anleitung der US Army folgendes Szenario durch: Eine Krise in der Kaukasus-Region erfordert den militärischen Einsatz. Die Frage: Wie groß ist das strategische Interesse Europas an der Region? Die Rahmenbedingungen: September 2009, die kaspischen Energiequellen, in erster Linie Öl, sind wichtig für Europa; Georgien ist eine wichtige Transitroute; der Zugriff aufs Öl am persischen Golf ist unzuverlässig auf Grund von Spannungen zwischen Iran und Irak.8 57 Prozent der Beteiligten hielten das Szenario für plausibel und 62 % stimmten der These zu, dass der Zugriff aufs kaspische Öl im Jahr 2009 von signifikanter strategischer Bedeutung ist.

Die EU bereitet sich bereits auf kommende Kriege um Ressourcen vor. Dies geht aus Unterlagen des Instituts für Sicherheitsstudien (ISS) hervor. Das »European Defence Paper«, das im Auftrag des EU-Rates vom ISS in Paris erstellt wurde, spielt ebenfalls entsprechende Szenarien durch. So heißt es: „Das militärische Ziel der (fiktiven) Operation ist es, das besetzte Territorium zu befreien und Kontrolle über einige der Öl-Infrastrukturen, Pipelines und Häfen des Landes X zu bekommen.“9 Zukünftige regionale Kriege könnten Europas Interessen in wichtigen Fragen berühren. So könnte nach dem Szenario des »European Defence Paper« „die direkte Bedrohung von Europas Wohlstand und Sicherheit, zum Beispiel in Form von Unterbrechung der Ölversorgung und/oder der massiven Steigerung für die Kosten von Energie-Ressourcen“ einen NATO-Einsatz im Mittleren Osten notwendig machen.10

Die Militarisierung des kaspischen Raumes ist in vollem Gange. Auf der Konferenz »Versorgungssicherheit im Kaspischen Raum«, veranstaltet vom Marshall European Center for Security Studies (US Office of the Secretary of Defense), trafen sich im September 2005 Energieexperten aus der Region mit hochrangigen NATO-Vertretern und US-Experten in Garmisch Partenkirchen, um über die militärstrategische Dimension der Energiesicherung zu diskutieren. Auf der Tagesordnung standen die Reaktion auf kriegerische Auseinandersetzungen, terroristische Attacken und Unfälle in der Region sowie die Schulung von Streitkräften zur Sicherung von Ölpipelines, Pumpstationen und Gas- und Ölplattformen.11

Auch Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) lässt keinen Zweifel daran, im Krisenfall militärisch einzugreifen. Zu den sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands gehört nach Jungs Meinung „auch eine freie und sichere Energieversorgung“. „Wenn Terroristen etwa eine Meerenge kontrollieren, dann liegt es natürlich auch im deutschen Interesse, wieder für den freien Handel zu sorgen.“12 In bislang nicht gekannter Offenheit verriet Jung auch den Grund für den derzeitigen Einsatz deutscher Soldaten am Horn von Afrika: Beteiligung an der Sicherung der Ölversorgung.

Damit nähert sich die Strategie der europäischen Energieaußenpolitik unter dem Druck wachsender Ressourcenknappheit der vielfach kritisierten aggressiven US-amerikanischen Außenpolitik zur strategischen Absicherung ihrer Öllieferungen und Transportrouten an.

Klimakiller Kohle und Risikotechnik Atom

Angesichts der dramatischen Entwicklung auf den Rohstoffmärkten sieht die Kohleindustrie ihr Comeback und wirbt mit dem heimischen Energieträger Kohle und seinen ergiebigen Reserven. Auch Atomenergiebefürworter spekulieren immer lauter über die Verlängerung von Restlaufzeiten in Deutschland und präsentieren sich als Retter des Klimas. Betrachten wir deren Argumente einmal genauer.

Die Kohlelobby führt neue Kraftwerkstechnologien ins Feld, die darauf abzielen, das klimaschädliche Kohlendioxid zukünftig im Kraftwerk aufzufangen und im geologischen Untergrund zu speichern, das so genannte »CO2 freie Kraftwerk«. Doch die Entwicklung der CO2-Abscheidetechnik braucht noch Jahrzehnte, bei der Anwendung der Technik sinkt der ohnehin schon schlechte Wirkungsgrad der Kohlekraftwerke rapide. Und von einer vollständigen CO2-Abscheidung kann gar keine Rede sein. Optimisten rechnen mit einem Abscheidegrad von 85%, so dass noch ein erheblicher Anteil an Kohlendioxid in die Luft geschleudert wird. Beim derzeitigen Entwicklungsstand kann die Propagandaoffensive für das angeblich CO2 freie Kraftwerk deshalb nur als Alibi bewertet werden, um den Bau von herkömmlichen, klimaschädigenden Kohle-Kraftwerken zu rechtfertigen. Der Bau neuer Kohlekraftwerke führt uns zurück in eine ineffiziente Energiesteinzeit und energiepolitisch in eine Sackgasse.

Auch das Argument der Versorgungssicherheit ist nur oberflächlich betrachtet plausibel. Eine weitere Nutzung der Kohle ist mit dem Klimaschutz nicht vereinbar. Wie kann es im Interesse einer sicheren Versorgung liegen, unsere natürlichen klimatischen Verhältnisse zu destabilisieren?

Ebenfalls ist Atomkraft keine Lösung für die Energieprobleme der Welt. Die wirtschaftlich abbaubaren Uranvorräte sind weltweit in absehbarer Zeit erschöpft. Atomenergie ist gefährlich und nicht beherrschbar. Die Wahrscheinlichkeit von Atomunfällen erhöht sich mit der Zahl der Reaktoren. Das Unfallrisiko steigt mit längeren Laufzeiten aufgrund von Alterungsprozessen und Materialermüdungen. Für die hochradioaktiven Abfälle gibt es kein sicheres Endlager. Eine unvermeidliche Konsequenz aus der Nutzung von Atomenergie ist die Produktion des Bombenstoffes Plutonium. Je weiter die Atomtechnologie weltweit verbreitet wird, desto mehr Länder haben Zugriff auf die Grundstoffe und das Know-how zum Bau von Atombomben. Hinzu kommt, dass viele Atomanlagen nur unzureichend gegen Terrorattacken gesichert sind.

Auch ein wirkungsvoller Klimaschutz ist mit Atomkraft nicht machbar. Ein nukleares Klimaschutzszenario würde allein für Deutschland den Neubau von etwa 60 Atomkraftwerken bis 2050 bedeuten.13 Niemand kann dies ernsthaft bei dieser Risikotechnik in Erwägung ziehen.

Dezentrale Strukturen

Die traditionelle Kraftwerkstechnologie baut auf Großkraftwerke mit zentralen Versorgungsaufgaben und einer ebenso zentralisierten gigantischen Infrastruktur von der Förderung über den Transport bis zur Verteilung, die wenigen überregional agierenden Großkonzernen außerordentliche Renditen beschert. Die Nutznießer sind intensiv damit beschäftigt, unter anderem mit aufwändiger Lobbyarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Medien, den Umbau hin zu einer nachhaltigen Energieversorgung zu behindern.

Eine dezentrale Energieversorgung aus Blockheizkraftwerken, Windenergie-, Photovoltaik- und Geothermieanlagen sowie anderen regenerativen Quellen versetzt demgegenüber regionale Anbieter – wie Stadtwerke – wieder in die Lage, ihren eigenständigen Beitrag zu einer sicheren Energieversorgung der Bevölkerung zu leisten.

Nachhaltige Versorgungssicherheit können langfristig nur Erneuerbare Energien und dezentrale Strukturen garantieren. Nur sie sichern Unabhängigkeit, bewahren vor politischer und ökonomischer Erpressbarkeit und schützen vor Blackouts aufgrund politischer, militärischer oder gar terroristischer Ereignisse in den Erzeuger- oder Transitländern.

Wir brauchen eine mittel- und langfristig angelegte Umorientierung der Energiepolitik, die nicht nur die Risiken minimiert, sondern die Struktur der Energienutzung ändert und insbesondere die Bedrohung durch die globale Erwärmung der Erde mitberücksichtigt, einschließlich der dramatischen Zunahme von Klimaextremen.

Eine nachhaltige Energieversorgung mit der Ausrichtung auf erneuerbare Energien, Energiesparmaßnahmen und Energieeffizienz ist machbar. Sie schützt das Klima und die Ressourcen, reduziert die atomaren Risiken und verringert die Abhängigkeit von Rohstoffen und Monopolstrukturen. Sie schafft Arbeitsplätze und hilft, den Frieden weltweit zu sichern. Damit entstünde eine Versorgungssicherheit neuen Typs, die nachhaltig ist und einen Knäuel von Problemen lösen hilft: grüne Versorgungssicherheit.

Anmerkungen

1) Ausführlicher dazu: Karsten Smid: Schwarzbuch Versorgungssicherheit, Greenpeace, April 2006.

2) www.inogate.org, Das zweite europäische Programm TRACECA (Transport Corridor Europe-Caucasus-Central Asia) erschließt die dazu gehörigen Verkehrswege in die Region.

3) Kai Ehlers: Reicht Europa bis nach Kasachstan? in Jürgen Wagner, Tobias Pflüger: Welt -Macht- Europa, Juni 2006.

4) S.W. Garnett, A.Rahr, K. Watanabe: Der kaspische Raum vor den Herausforderungen der Globalisierung. Ein Bericht an die Trilaterale Kommission, Berliner Schriften zur internationalen Politik, 2001.

5) Zu der ökologisch katastrophalen Situation in Westsibirien siehe: IWACO, West Siberian Oil Industry – Environmental and Social Profile, Greenpeace, Juni 2001.

6) BP- Statistical Review 2005

7) North Atlantic Treaty Organization (NATO): The Alliance´s Strategic Concept, Brüssel, 1999.

8) International Game ´99 – Garmisch, The Center for Naval Warfare Studies, Captain James T. Harrington, U.S. Navy, Strategic Research Department, Research Report 13-99. Auch auf Details wird nicht verzichtet. So stirbt Sadam Hussain laut Spielanleitung im Jahr 2006 eines natürlichen Todes.

9) Zitiert nach Andreas Zumach: Die kommenden Kriege, Köln 2005.

10) Institute for Security Studies: European defence – A proposal for a White Paper, Report of an independent Task Force, Paris, May 2004, www.iss-eu.org

11) Energy Security in the Caspian Basin – September 25 – 28, 2005, www.marshallcenter.org

12) Interview mit Verteidigungsminister Jung: Bundeswehr wird künftig auch Energieversorgung sichern müssen, Focus, 21.05.2006.

13) Enquete-Kommission, Nachhaltige Energieversorgung, Deutscher Bundestag, Juli 2002

Karsten Smid, ist Kampagnenleiter bei Greenpeace. Er arbeitet zu den Themen Klimaschutz, internationale Energiepolitik und Corporate Social Responsibility (CSR) von Energiekonzernen.

LA: Ein wiederentdecktes Interessenfeld

LA: Ein wiederentdecktes Interessenfeld

EU verstärkt Einflussnahme

von Johannes Plotzki

Wenn es um den Ausbau ihrer ökonomischen Interessen geht, macht die Europäische Union weder vor dem Hinterhof der USA halt noch ist sie bereit, dieses Ziel der Achtung der Menschenrechte oder nachhaltiger Entwicklung unterzuordnen. Anders sind die aktuellen Bestrebungen der EU, den südamerikanischen Kontinent verstärkt in ihre Außen- und Handelspolitik einzubeziehen, nicht zu verstehen. Johannes Plotzki beschreibt das weit gediehene Beziehungsgeflecht zwischen der EU und Lateinamerika auf Grundlage bestehender bzw. angestrebter Freihandelsverträge und Kooperationsabkommen. Die Verträge sind in ihrer asymmetrischen Ausrichtung nicht geeignet, einen dauerhaften Zustand sozialer Sicherheit in Lateinamerika und der Karibik zu erreichen, sondern im Gegenteil oftmals Ursache für Armut und soziale Ungleichheit. Den daraus resultierenden Konflikten wird teilweise militärisch und repressiv begegnet; auch dafür gibt es Unterstützung aus der EU, wie exemplarisch am Beispiel Kolumbien ausgeführt wird.

Über 20 Jahre neoliberalen Umbaus durch Privatisierung von Dienstleistungsunternehmen, Deregulierung der Handelsbeziehungen und Liberalisierung der Märkte haben in Lateinamerika und der Karibik die Verarmung weiter Bevölkerungsteile vorangetrieben. Die Ergebnisse sind verheerend: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung kann ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen. Fast 91 Millionen Menschen in Lateinamerika fielen in den letzten 20 Jahren unter die Armutsgrenze.1Lateinamerika und die Karibik sind die Regionen mit der größten sozialen Ungleichheit weltweit“, fasst David de Ferranti, Vizepräsident der Weltbank für den Bereich Lateinamerika und die Karibik, den hauseigenen Report Inequality in Latin America & the Caribbean: Breaking with History? zusammen. Weiter führt er aus, „dass Lateinamerika eine hochgradige Ungerechtigkeit in Bezug auf Einkommen, dem Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Trinkwasser und Elektrizität aufweist.2 Die EU ist an dieser Entwicklung alles andere als unbeteiligt.

Global denken heißt alle Weltteile beobachten

Die Europäische Union ist der zweitwichtigste Handelspartner Lateinamerikas. Gegenüber dem regionalen südamerikanischen Wirtschaftsblock MERCOSUR3 als auch dem Andenstaat Chile nimmt sie diesbezüglich sogar die Spitzenposition ein. Zwischen 1990 und 2004 wurden die Importe der EU aus Lateinamerika von 26,7 Mrd. auf 62,1 Mrd. Euro mehr als verdoppelt, und die Exporte der EU nach Lateinamerika stiegen im gleichen Zeitraum von 17,1 Mrd. auf 54,8 Mrd. Euro. Die EU ist darüber hinaus die bedeutendste Investorin in Lateinamerika. Sie steigerte ihre Direktinvestitionen in der Region innerhalb von drei Jahren von 176,5 Mrd. (2000) auf 237,9 Mrd. Euro (2003).4

Der Ausbau der Handelsbeziehungen steht auch im Zentrum der »strategischen Partnerschaft«, welche die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, Lateinamerikas und der Karibik unter dem Co-Vorsitz von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder auf ihrem ersten Gipfel in Rio de Janeiro am 28. Juni 1999 eingegangen sind. „Für die strategische Partnerschaft ist es wichtig, dass die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Regionen ausgebaut werden. Trotz einer erheblichen Zunahme der Handels- und Investitionsströme zwischen den beiden Regionen in den letzten 15 Jahren wird ihr Wachstumspotenzial noch unzureichend genutzt,“ so die EU-Kommission in einer Mitteilung an den Rat und das EU-Parlament. Als konkrete Empfehlung benennt sie darin die „Schaffung eines Umfelds, das Handel und Investitionen begünstigt.“5 In diesem Zusammenhang ist beispielsweise das von der EU mit 15 Mio. Euro finanzierte Entwicklungsprojekt PRODESIS im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas zu sehen. Menschenrechtsorganisationen in Mexiko und Europa befürchten, dass die EU-Projektgelder der Aufstandsbekämpfung im anhaltenden Konflikt dienen.6

Als einer der größten Wirtschaftsräume und Freihandelszonen der Welt gilt der MERCOSUR seit seinen Anfängen für die EU als interessantes Betätigungsfeld. Schon vor der EU-Erweiterung auf 25 Mitglieder war sie – und nicht die USA – der größte Handelspartner des seit 1991 bestehenden MERCOSUR, der rund ein Viertel seines Außenhandels mit der EU bestreitet.7 Die ersten Verhandlungen zu einem EU-MERCOSUR-Abkommen wurden 1999 geführt. Fraglich ist nun, wann dieses in trockene Tücher kommt. Die geplante Abschlussrunde im Oktober 2004 in Lissabon scheiterte, weil laut EU-Kommission die MERCOSUR-Staaten keine zufrieden stellenden Angebote für die Liberalisierung von Industriegütern, des Telekommunikationssektors und des öffentlichen Auftragswesens gemacht hätten. Erst im September 2005 gab es wieder ein offizielles Treffen in Brüssel.

Diese Verzögerung beunruhigt führende Politiker. Schon im Mai 2001 mahnte Georg Boomgaarden, Beauftragter für Lateinamerikapolitik im Auswärtigen Amt: „Die Wirtschaft des MERCOSUR ist heute noch stärker auf Europa ausgerichtet als auf die USA. Wenn die deutsche und europäische Wirtschaft allerdings nicht aufpasst, kann sich das mit Verwirklichung der für 2005 geplanten panamerikanischen Freihandelszone FTAA/ALCA schnell ändern. Ein Markt wie der MERCOSUR mit einem größeren Sozialprodukt als das Chinas, ein Markt, in dem Europa traditionell sehr gut positioniert ist, braucht mehr Aufmerksamkeit. Global denken, heißt auch, alle Weltteile zu beobachten und nicht nur diejenigen, die gerade in Mode sind.8 Anhand dieser Aussage wird deutlich, dass man inzwischen bereit ist, in eine offene wirtschaftliche Konkurrenz mit den USA in deren eigenem Hinterhof einzutreten. Auf die Frage, ob er nicht glaube, dass Washington auf die empfundene Verletzung der Monroe-Doktrin äußerst scharf reagieren würde, antwortete Lothar Mark, Lateinamerika-Beauftragter der SPD: „Das müssen wir dann durchstehen, denn Lateinamerika ist ein potenzieller Markt und ein Partner für Europa.“ Es gehe nicht an, „sich US-amerikanischen Wirtschaftsinteressen unterzuordnen.“9

Am 26. Mai 2005 drückten auf dem Ministertreffen von MERCOSUR und EU in Luxemburg beide Seiten ihre „starke Überzeugung“ aus, dass die regionale Integration eine „wichtige Rolle für Wachstum, Handelsliberalisierung, ökonomische und soziale Entwicklung“10 spiele. Die Vertreterin der EU-Kommission auf diesem Treffen, Kommissarin Ferrero-Waldner, hofft, dass schon beim Wiener EU-Lateinamerika-Gipfel im Mai 2006 eine Einigung in Sachen Freihandel zwischen EU und MERCOSUR erzielt werden kann.11 Die Zeit drängt, denn die Konkurrenz schläft nicht. Zukünftig stellt China den größten Konkurrenten für europäische Investoren in Lateinamerika und der Karibik dar.12

Neben den Bestrebungen für ein EU-MERCOSUR-Abkommen hat die EU bereits durch andere Kooperationsverträge den Handel mit weiteren lateinamerikanischen Märkten liberalisiert. Besonderes Kennzeichen dieser so genannten »Abkommen der 2. Generation« ist eine Verbindung der bisherigen Programme der Wirtschaftsförderung mit politischen Inhalten wie Menschenrechten, Demokratisierung und Good Governance sowie entwicklungspolitischen Zielsetzungen wie beispielsweise Armutsbekämpfung und nachhaltige Entwicklung. Der Idealtypus dieser neuen Generation von Handelsabkommen beinhaltet neben einer „Institutionalisierung des politischen Dialogs über die Wahrung der Menschenrechte und demokratischer Prinzipien“ auch die Schaffung „einer WTO-kompatiblen Freihandelszone (…) einschließlich einer graduellen Liberalisierung im Agrar- und Dienstleistungssektor, die Liberalisierung der geistigen Eigentumsrechte, der Finanzkapitalbewegungen und des öffentlichen Beschaffungswesens.“13

Zu folgenden Wirtschaftsräumen bzw. Staaten regeln bereits heute solche Abkommen die Handelsbeziehungen: Andengemeinschaft14, Zentralamerika, Chile und Mexiko. Außerdem ist die EU mit den karibischen Staaten vor allem durch das sogenannte AKP-Vertragswerk Lomé IV und sein Nachfolgeabkommen Cotonou verbunden.

Die 1993 abgeschlossene Kooperationsvereinbarung zwischen EU und Andengemeinschaft bildete die Grundlage für ein am 15. Dezember 2003 in Rom unterzeichnetes Abkommen, welches als mittelfristige Perspektive die Errichtung einer biregionalen Freihandelszone vorsieht. Zeitgleich unterzeichnet wurde auch ein Abkommen zwischen der EU und dem Wirtschaftsblock Zentralamerikas.15

Die EU-Mitgliedstaaten, die EU-Kommission und Chile haben im Vorfeld des zweiten EU-Lateinamerika-Gipfels ein Assoziationsabkommen ausgearbeitet, das im März 2005 ratifiziert wurde. Es ist nach Angaben der EU-Kommission derzeit das umfassendste Abkommen mit einem Drittstaat. Kernbestandteil ist die Errichtung einer Freihandelszone EU-Chile bis zum Jahr 2015. Es schließt folgendes ein: „Die progressive Liberalisierung von Handel und Dienstleistungen, den politischen und kulturellen Dialog sowie praktisch alle Bereiche der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit16.

Zwischen der EU und Mexiko ist am 1. Juli 2000 ein Freihandelsabkommen in Kraft getreten. Dieses erfasst 95% des derzeitigen Warenhandels und sieht die weitgehende Beseitigung aller Diskriminierungen im Dienstleistungsverkehr vor. Die schrittweise Umsetzung der Zollfreiheit für alle gewerblichen Waren soll bis 2007 erfolgen. Die Grundlage der Beziehungen zwischen der EU und Mexiko bildet das sogenannte Globalabkommen.

Zwar wird in Paragraph 1 des Globalabkommens die Achtung von Demokratie und Menschenrechten festgeschrieben, aber es handelt es sich hierbei wohl eher um Lippenbekenntnisse, wie Alberto Arroyo, Vertreter des freihandelskritischen Netzwerks RMALC, ausführt: „Der einzige ausgearbeitete Teil widmet sich dem Freihandel. Was den politischen Dialog und die Menschenrechte betrifft, sind nicht einmal Kontrollmechanismen festgelegt worden.17 Auf dem »2. Forum zum Dialog zwischen den Zivilgesellschaften und den Regierungsinstitutionen Mexikos und der Europäischen Union« Anfang März 2005 in Mexiko-Stadt war die durchgängige Kritik seitens der Zivilgesellschaft die fehlende Partizipationsmöglichkeit in den europäisch-mexikanischen Beziehungen sowie mangelnde Transparenz bei den Verhandlungen.18

Freihandel statt Entwicklung und Menschenrechte

Noch vor Inkrafttreten des Freihandelsabkommens zwischen Mexiko und der EU äußerte Alfonso Moro von RMALC seine Befürchtungen darüber, wer die eigentlichen Profiteure des Abkommens sein werden: „Der Anteil mexikanischer Produkte, welche auf dem europäischen Markt konkurrieren können, ist sehr klein. Dazu kommt, dass von den zehn wichtigsten Exportprodukten Mexikos in die EU sieben von europäischen Unternehmen in Mexiko hergestellt werden.19 Letztlich profitieren daher hauptsächlich europäische Unternehmen von der Handelsöffnung, ähnlich wie US-Konzerne vom Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA begünstigt werden. Dieses seit 12 Jahren bestehende Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko hat speziell in Mexiko zu verschärften sozialen Spannungen und größerer Armut geführt.

Der Co-Autor der bereits erwähnten Weltbank-Studie und Chef-Ökonom der Weltbank für den Bereich Lateinamerika und Karibik, Guillermo Perry, benennt eine grundlegende »institutionelle Reform« als den Schlüsselfaktor für eine Verringerung der Ungerechtigkeit in Lateinamerika. Dafür sei es notwendig, dass zivilgesellschaftliche Kräfte mehr Einfluss in den politischen und sozialen Institutionen bekommen. Um solche Einflussnahme zu erreichen, „müssen diese Institutionen völlig offen, transparent, demokratisch und partizipativ20 gestaltet werden. Diesen Erfordernissen kommen die bisherigen biregionalen Verträge und Handelsabkommen zwischen EU und lateinamerikanischen Ländern jedoch nicht nach. Klaus Schilder (WEED) befürchtet, „dass die EU Menschenrechts- und Demokratiefragen nicht zum zentralen Anliegen der Abkommen macht, sondern vielmehr ihren wirtschaftlichen Freihandelsinteressen unterordnet. Praktisch nicht vorhanden sind in fast allen EU-Abkommen Hinweise auf die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Gruppen in einen strukturierten und umfassenden Dialogprozess.21

Auch wenn sich die EU-Kommission, vertreten durch das General-Direktorat für Außenhandel (DG Trade), im weltweiten Poker um Märkte von den US-amerikanischen Verhandlungspartnern dadurch unterscheidet, dass sie kompensatorische Maßnahmen in Form von Entwicklungs- und Hilfsprogrammen zum Aufbau gesunder Sozialstrukturen für unerlässlich hält und bemerkt, dass wirtschaftliche Öffnung nicht automatisch zu Entwicklung führt, ist das wirtschaftspolitische Paradigma das gleiche. Denn „in der handelspolitischen Praxis vertraut die EU unverändert auf die Wirksamkeit ihrer neoliberalen Freihandelsdoktrin »Handelsliberalisierung = Wirtschaftswachstum = Verringerung der Armut«.22

Von Seiten der EU wird dabei die Bedeutung der strukturellen Asymmetrie der an den Abkommen beteiligten Volkswirtschaften völlig ignoriert. Zieht man zur Verdeutlichung die strukturelle Aufteilung des Güterhandels zwischen EU und MERCOSUR heran, so wird erkennbar, dass fast 60% der Exporte in die EU aus Nahrungsmitteln und landwirtschaftlichen Rohstoffen bestehen, während die Ausfuhr von Industriewaren, also verarbeiteten Gütern, kaum 30% ausmacht. Im Gegensatz dazu sind von den Exporten aus der EU in den MERCOSUR über 90% Industriegüter mit bis zu 90% hohem Kapital- und Technologieanteil. Und rund 15% aller landwirtschaftlichen Importe der EU kommen aus dem MERCOSUR.23

Es deutet also alles darauf hin, dass die vielzitierte »Strategische Partnerschaft« zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika nichts anderes als die Fortsetzung und Festschreibung bekannter Abhängigkeitsmuster zwischen Zentrum und Peripherie darstellt. Denn das Ergebnis des EU-MERCOSUR-Abkommens und die vertragliche Festschreibung der seit den 80er und 90er Jahren laufenden Liberalisierungs- und Privatisierungsbestrebungen sind nichts anderes als die Instrumentalisierung Lateinamerikas für ein „eurokapitalistisch-neoliberales Integrationsprojekt.“24Das Urteil des Netzwerks gegen Freihandel RMALC über die europäische Wirtschaftspolitik fällt entsprechend hart aus: „Europa ist ein Imperium und führt sich hier genauso auf wie die USA.25

Waffenexporte und Militärhilfe – Das Beispiel Kolumbien

Die hinlänglich bekannte militärische Präsenz und Einflussnahme in Lateinamerika seitens den USA lässt sich in Ansätzen auch bei der EU ausmachen. Die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) erkennt eine Kategorie von »neuen Bedrohungen« für Europa, die „verschiedenartiger, weniger sichtbar und weniger vorhersehbar sind.26 Dazu zählen: Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, das Scheitern von Staaten und organisierte Kriminalität. Keine dieser Bedrohungen bringt die ESS ausdrücklich mit Lateinamerika und der Karibik in Verbindung. Anders beurteilt das Auswärtige Amt die von Lateinamerika ausgehenden Bedrohungen: „Heißt das, dass sie dort nicht existieren?“27, wird die Frage im Arbeitsbericht des Auswärtigen Amtes für die Jahre 2004-2005 aufgeworfen, um sie nur wenige Zeilen später selbst zu beantworten. Zwar sei mit dem Vertrag von Tlatelolco in ganz Lateinamerika eine atomwaffenfreie Zone geschaffen worden, dennoch: „andere der genannten »neuen Bedrohungen« sind in Lateinamerika durchaus vorhanden. (…) Gerade dann, wenn Regierungen im Interesse ihres innenpolitischen Überlebens populistischen Neigungen nachgaben, kam es noch jüngst zu vereinzelten regionalen Zuspitzungen.“ 28 Leider wird nicht weiter ausgeführt, welche Regierungen Lateinamerikas gemeint sind, die „populistischen Neigungen nachgaben.“

Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass die von der EU-Kommission empfohlene „Schaffung eines Umfelds, das Handel und Investitionen begünstigt,“29 auch eine militärische Komponente in Form von Rüstungsexporten und Militärhilfe besitzt.

Herman Schmid, Soziologieprofessor in Dänemark und ehemaliger schwedischer Abgeordneter der Linksfraktion im Europäischen Parlament, wies in einem Hearing im Europäischen Parlament darauf hin, dass die EU vor allem in so genannte Entwicklungsländer exportiert. Schmid betonte in diesem Zusammenhang, dass die Vergabe von Entwicklungshilfe zunehmend mit der Verpflichtung zum Kauf europäischer Waffen verknüpft werde.30

Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Drogenanbau und -handel – eine weitere in der ESS aufgelistete Bedrohung, welche vom Auswärtigen Amt auch für die Region Lateinamerika bestätigt wird – leisten besonders Frankreich, Spanien und Großbritannien umfangreiche Militär- und Ausbildungshilfe für lateinamerikanische Länder. Dies soll hinsichtlich des für diesen Beitrag nur begrenzt zu Verfügung stehenden Platzes, im Folgenden exemplarisch an Kolumbien umrissen werden.

Seit Jahren warnt Amnesty International, dass die von den EU-Staaten geleistete Militär- und Ausbildungshilfe auch bei Einsätzen des kolumbianischen Militär Verwendung finde, die von gravierenden Menschenrechtsverletzungen begleitet sind. 2002 gab Großbritannien Ausbildungshilfe und militärische Beratung an Kolumbien, 2003 hielten sich dort Verbindungsoffiziere der britischen Streitkräfte, auf und im gleichen Jahr unterstützte Großbritannien den Aufbau der neuen Gebirgseinheit Kolumbiens. Großbritannien ist der zweitgrößte Geldgeber für Militär- und Ausbildungshilfe an Kolumbien nach den USA.31 Ferner sind nach einem Bericht der kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo im Jahr 2004 von Spanien zwischen 32 und 46 Panzer (AMX-30 ) an Kolumbien verkauft worden, die Spanien in den 1970er Jahren von Frankreich erworben hatte. Die spanischen Behörden versäumten offensichtlich, gemäß internationalen Abkommen Frankreich vor dem Weiterverkauf an Kolumbien um Erlaubnis zu fragen. Dabei ist Frankreich selbst militärischer Pate Kolumbiens. Innenminister Nicolas Sarkozy sagte Kolumbiens Präsident Uribe bei dessen Frankreich-Besuch 2002 „die totale Unterstützung gegen die Guerilla und den Drogenhandel“ zu.32

Kooperationen zwischen den in Südamerika stationierten US-Streitkräften und einzelnen EU-Staaten lassen sich auch anhand der niederländischen Inseln Curaçao und Aruba ausmachen, auf denen das Southern Command des US-Militärs zwei Forward Operation Locations (FOL) installiert hat, die in den Plan Columbia eingebunden sind.33

Auch wenn die militärische Beziehung der EU zu Lateinamerika bedeutend schwächer ist als die der USA zur Region, kann es keinen Zweifel daran geben, dass die aktuellen Bemühungen der Europäischen Union darauf hinaus laufen, sich weitere Vorteile im traditionellen Hinterhof der USA zu sichern. Schlimmstenfalls gehen dabei weiter wachsende Armut und Konflikte Hand in Hand mit steigenden europäischen Militär- und Ausbildungshilfen.

Anmerkungen

1) Vgl. AFP-Meldung. In: La Jornada, 1.6.2004.

2) Vgl. Weltbank-Bericht: Inequality in Latin America & the Caribbean: Breaking with History?, Mexiko-City, 7. Okt. 2003.

3) Länder des am 26. März 1991 beschlossenen Gemeinsamen Marktes des Südens (Mercado Comun del Cono Sur) MERCOSUR sind: Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay. Im Dezember 2005 wurde die Aufnahme Venezuelas beschlossen. Chile und Bolivien sind assoziierte Mitglieder.

4) European Commission: EU-Latin America Trade relations at the bi-regional level. Quelle: http://europa.eu.int/comm/external_relations/la/index.htm#1b

5) EU-Kommission: Mitteilung an den Rat und das EU-Parlament: Eine verstärkte Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika. Brüssel, den 8.12.2005 – KOM (2005) 636.

6) Johannes Plotzki: IMI-Studie 2004/02 August 2004: Die Befreiungsbewegung der Zapatisten in Chiapas/Mexiko im Würgegriff neoliberaler Konzerninteressen und staatlicher Repression durch den »Krieg niederer Intensität«.

7) Vgl. EU-MERCOSUR: Ministertagung legt Fahrplan für Freihandelsverhandlungen fest. Trade Issues, Brüssel, 12. November 2003, Quelle: http://europa.eu.int/comm/trade/issues/bilateral/regions/MERCOSUR/pr121103_de.htm

8) Georg Boomgaarden, Beauftragter für Lateinamerikapolitik im Auswärtigen Amt: Deutsche Lateinamerikapolitik unter Bedingungen der Globalisierung. Frankfurt/Main, den 8.Mai 2001, Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/ausgabe_archiv?archiv_id=1521

9) Zit. nach Guha, Anton-Andreas: EU soll sich gegen USA behaupten, Frankfurter Rundschau, 16.05.02.

10) Rat der Europäischen Union – Presseerklärung (9426/05 Presse 127), 26.5.2005, Quelle: http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/en/er/84976.pdf

11) Vgl. Die Presse.com, 9.7.2005. Quelle: http://www.diepresse.com/Artikel.aspx?channel=p&ressort=eu&id=493652

12) Vgl. Ibero-Amerika-Verein (IAV) e.V.: Ausländische Direktinvestitionen in Lateinamerika, Umfrage des IAV unter den Auslandshandelskammern der Region, 13.12.2004. Quelle: http://www.ibero-amerikaverein.de/awz/aktuelles.php?module=show&id=17880

13) Klaus Schilder (WEED). Regionalisierung unter neoliberalem Vorzeichen? Die polit-ökonomische Geographie der EU-Handelspolitik. 10.6.2003.

14) Länder der Andengemeinschaft sind: Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela. Assoziierte Staaten sind: Mexiko, Panama, Chile, sowie die Mitgliedsstaaten des Mercosur seit dem 7.7.2005.

15) Hierzu zählen Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua und Panama.

16) Auswärtiges Amt: Beziehungen EU-Lateinamerika, Stand Mai 2004, Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/gasp/eu_aussenbez/lateinamerika_html#1

17) Zit. n. Boris Kanzleiter: Transatlantischer Freihandel frustriert Gewerkschaftler. In: Poonal Nr. 426 v. 27.3.2000.

18) Vgl. Johannes Plotzki: Forum zum Dialog zwischen den Zivilgesellschaften und den Regierungsinstitutionen Mexikos und der Europäischen Union. IMI-Standpunkt 2005/19, 03.03.2005.

19) Poonal, Pressedienst lateinamerikanischer Agenturen. Nr. 426 vom 31.3. 2000.

20) Vgl. Weltbank-Bericht 2003.

21) Klaus Schilder (WEED). ebenda.

22) Vgl. Klaus Schilder (WEED). ebenda

23) Vgl. Thomas Fritz: Feindliche Übernahme – Die geplante Freihandelzone zwischen der Europäischen Union und dem Mercosur. (BLUE 21 Arbeitspapier, Schwerpunkt: Handel, Umwelt und Entwicklung), Oktober 2004; Günther Maihold: Die südamerikanische Staatengemeinschaft – Ein neuer Partner für die EU? (Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 60) Dezember 2004.

24) Dieter Boris/Ingo Malcher: Die Konkurrenz zwischen den USA und der EU in Lateinamerika. In: Forschungsgruppe Europäische Integration (Hrsg.): Euroimperialismus? (Studie Nr. 20, Institut für Politikwissenschaft, Philipps-Universität Marburg, 2005).

25) Alberto Arroyo; zitiert nach: Wolf Dieter Vogel: Kampf um Mercados. In: Jungle World, Nummer 23 vom 26.5.2004.

26) Ein Sicheres Europa in einer besseren Welt – Europäische Sicherheitsstrategie. Dez. 2003. S. 3.

27) Auswärtiges Amt (Hrsg.): Deutsche Außenpolitik 2004-2005. S. 165.

28) Ebd., S. 165.

29) EU-Kommission: Mitteilung an den Rat und das EU-Parlament: Eine verstärkte Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika. Brüssel, den 8.12.2005 – KOM (2005) 636.

30) Vgl. Referat von Herman Schmid beim Public Hearing: Arms Exports in the European Union: A Threat to Peace and Security? 29.06.2005, Europäisches Parlament, Brüssel.

31) Amnesty International: Undermining Global Security: the European Union’s arms exports (ACT 30/003/2004), 2004, S. 54f.

32) Ebd., S. 81.

33) Ebd., S. 65.

Johannes Plotzki ist Mitarbeiter des Abgeordneten des Europäischen Parlaments Tobias Pflüger. Er war längere Zeit als Menschenrechtsbeobachter in Mexiko.

Unternehmen gegen Europa?

Unternehmen gegen Europa?

Die Europäisierung der Rüstung

von Lutz Unterseher

Aus den größeren Rüstungsunternehmen, die bereits europäisch verbandelt sind, von mit ihnen sympathisierenden Politikern aus dem Mitte-Rechts-Spektrum sowie militäraffinen Publizisten ist mit anschwellender Verve zu vernehmen, dass Europa als gobaler Akteur, womit auch die Befähigung zu entsprechender Machtprojektion impliziert sei, eine leistungsfähige, integrierte wehrtechnische Produktionsbasis brauche. Voraussetzung dafür sei die Erfüllung folgender Bedingungen: Die verteidigungspolitische Zusammenarbeit in Europa (mit »Europa« sind typischerweise jene Staaten des alten Kontinents gemeint, die sich in NATO und/oder EU zusammengeschlossen haben) müsse so vertieft werden, dass sich am Ende eine einheitliche strategische Konzeption ergibt, aus der die militärischen Anforderungen an die Rüstungstechnik stringent abgeleitet werden können. Dem müsse eine Produktionsbasis entsprechen, die durch eine Neuordnung und Kapazitätsbereinigung »Doppelarbeit« vermeide: was zum einen eine Spezialisierung im internationalen Rahmen und zum anderen die Bildung industrieller Konglomerate erfordere, in denen das Beste, was auf vormals nationaler Ebene zu finden war, gleichsam »aufgehoben« sei. In mehrerlei Hinsicht geht es also um die Überwindung nationaler Autonomie.

Fast frenetisch gefeiert werden jene – bislang allerdings seltenen – Rüstungsvorhaben, bei denen es gelungen ist, für mehrere Staaten einen gemeinsamen Ausrüstungsbedarf zu beschließen, der dann von einem projektbezogen integrierten Industriekonsortium internationalen Zuschnitts befriedigt werden soll. Nur auf diese Weise komme man zu den großen Stückzahlen, die eine kostengünstige Produktion erlauben. Und nur durch eine Zusammenfassung von Mitteln und Entwicklungspotenzialen sei es möglich, an der Spitze des technologischen Fortschritts zu marschieren bzw. dahin vorzurücken. Mit derlei Vorschusslorbeeren bedacht erscheinen solche Vorhaben geradezu als Pionierleistungen auf dem Wege zu einem einigen, auch nach außen handlungsfähigen Europa und werden damit virtuell zu heiligen Kühen.

Die Sache mit der europäischen Rüstungskooperation, die vermittels der Konstruktion einer Europäischen Rüstungsagentur in der EU inzwischen gar Verfassungsrang hat, erscheint freilich in mehrfacher Hinsicht nicht ganz koscher. Beginnen wir unsere kleine Untersuchung mit der Problematik der Formulierung eines einheitlichen verteidigungspolitischen Willens, samt wirklich instruktiver strategischer Konzeption, die den meisten Expertenstimmen gemäß eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung einer eindrucksvollen europäischen Rüstungsbasis ist!

Wille und Weg

Der Diskurs über die verteidigungspolitisch-konzeptionelle Integration Europas und deren Relevanz für die Rüstungsplanung hat bisher einen großen blinden Fleck. Zwar wird zur Kenntnis genommen, dass es national divergente Politiken gibt. Doch diese erscheinen als zufalls- bzw. historisch bedingte Abweichungen von einem Pfad, über dessen Richtung nicht weiter diskutiert zu werden braucht. Mit einiger Anstrengung werde sich – im Zuge des Zusammenwachsens Europas in zahlreichen Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik – auch auf dem hier interessierenden Felde ein gemeinsamer Wille bilden. Der Weg, nämlich die Orientierung auf militärische Machtprojektion hin, sei für einen globalen Akteur im Wesentlichen vorgegeben.

Dem muss energisch widersprochen werden. Hier ist die eigentliche Kontroverse erst noch auszutragen. Dass ihr aus dem Wege gegangen wird, mag zum einen den honorigen Grund haben, dass man den schwierigen Prozess der europäischen Integration nicht noch zusätzlich belasten will, zum anderen aber auch damit zusammenhängen, dass an der militär- und rüstungspolitischen Generalorientierung, wie sie sich bisher schon abzeichnet, manifeste Interessen hängen, die das Tageslicht scheuen. Worum geht es konkret?

Mit der durch die NATO vermittelten Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa und insbesondere auch dadurch, dass Neumitglieder der Allianz zur Schärfung ihres nationalen Profils beflissen die amerikanische Karte spielen, hat für zahlreiche Vertreter der sicherheitspolitischen Eliten des alten Kontinents die militärpolitische Entwicklung in den USA Vorbildcharakter gewonnen. Man möchte nicht nur im Hinblick auf die Verteidigungsausgaben, sondern auch die militärische Doktrin und die Ausrüstung betreffend das gegenüber den Vereinigten Staaten wahrgenommene Defizit verringern, um bei gemeinsamen Operationen – als Juniorpartner – endlich ernst genommen zu werden. Auch auf die Entscheidungsträger in der Europäischen Union scheint diese Attitüde abgefärbt zu haben. Ob man zum Lager derjenigen gehört, die Europa als atlantischen Junior sehen, oder zum Lager jener anderen, die eine echte Emanzipation von den USA gerade auch auf militärischem Sektor anstreben: In beiden Fällen geht es zumeist um die Befähigung zu weitreichender Machtprojektion mit Einsatzkräften, die insbesondere auch für intensive Kriegführung geeignet sind und dabei auf den Gebieten der Aufklärung, Kommunikation (Vernetzung!) sowie Bewaffnung über Erzeugnisse der Hochtechnologie verfügen.

Trotz der Bedrohung durch den modernen Terrorismus, der eher polizeipräventive Bemühungen erfordern würde (wobei militärische Aufklärung allenfalls Hilfestellung leisten könnte) und trotz des hohen Bedarfs an Kräften für Friedensunterstützung und nicht-provokative Stabilisierung in Krisenregionen steht im Zentrum die Entwicklung von Kräften, die sich für massive Angriffsoperationen aller Art eignen: also auch etwa für Bestrafungsfeldzüge oder Rückeroberungen nach dem Gusto der Administration des Mr. Bush jr.

Eine solche Orientierung kommt aus leicht nachvollziehbaren Gründen den Interessen gerade der besonders durch Hochtechnologie geprägten Sparten der Rüstungsindustrie und auch den Statusaspirationen der auf die USA als militärischem Trendsetter fixierten Führungen der Streitkräfte in Europa entgegen. Eine alternative Perspektive, die sich zuvörderst am militärischen Bedarf einer Sicherheits- und Verteidigungspolitik festmacht, die in übergreifende politische Konzepte eingebettete Friedensunterstützung vorsieht, würde zu anderen, weniger problematischen Ansprüchen an die Rüstungsindustrie führen.

Was man können möchte, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit mit den tatsächlich zu bewältigenden Aufgaben nur sehr wenig zu tun. Und das ist den Verantwortlichen sogar klar. Diese Schizophrenie, mit der man ohne Diskussionsbedarf glaubt leben zu können, tritt dem Vernehmen nach besonders prächtig in einem aktuellen Planungsdokument des Deutschen Heeres zutage: Darin ist davon die Rede, dass Deutschland im Regelfall situationsadäquate Heereskräfte für die vorsichtige Stabilisierung »vor Ort« in die Ferne entsenden müsse; zugleich werden aber Eingreiftruppen für den »richtigen Krieg« kreiert, die den Stabilisierungskontingenten vom Personal- und Materialbedarf her sowie organisatorisch das Wasser abgraben.

Projekte und Probleme

Von der Problematik des Rüstungsbedarfes und seiner Bestimmung zur Frage nach dem Angebot, also der Bedarfsdeckung! Wie werden in Europa wichtige Waffensysteme entwickelt? Um diesen Komplex systematisch erschließen zu können, empfiehlt sich der Blick auf einen Rüstungssektor, in dessen Rahmen im Ergebnis vergleichbare, aber im Entstehungsgang stark differierende Produkte entstanden sind. Damit haben wir es gleichsam mit einer Versuchsanordnung zu tun, deren Evaluation – begrenzt – verallgemeinerbare Erkenntnisse verspricht.

In diesem Sinne wurden drei Projekte taktischer Kampfflugzeuge bestimmt, deren Entwicklung in der ersten Hälfte der 80er Jahre begann und die als die europäische Antwort auf die sogenannte dritte Generation von Kampfjets erschienen, die in den 70er Jahren in den USA (F-14/15/16/18) und bald danach in der damaligen UdSSR (MiG-29, Su-27) das Tageslicht erblickte. Bei den ausgewählten Projekten handelt es sich um: Eurofighter, Rafale und Gripen. Abgesehen von der in besonderem Maße gegebenen Vergleichbarkeit spricht für diese Auswahl, dass es sich um die zu ihrer Zeit größten Rüstungsvorhaben in Europa handelt und dass dabei in ganz erheblichem Maße High-Tech im Spiel ist. Beim Vergleich, bei dem als »externe Referenz« auch noch Eindrücke aus den USA berücksichtigt werden, geht es um die Zusammenhänge, die einen Projekterfolg (zeitlicher Ablauf, Systemleistung, Kosten) begünstigen oder behindern. Es bleibt also die durchaus legitime Frage ausgeklammert, ob denn in einem zu präferierenden Konzept politisch dominierter militärischer Stabilisierung überhaupt taktische Kampfflugzeuge in immer noch großer Zahl und mit zunehmender Leistungsfähigkeit vorgehalten werden müssen.

Fall 1: Eurofighter

Beteiligt waren an diesem Vorhaben ursprünglich Deutschland, Großbritannien, Italien und Spanien. Inzwischen ist Österreich als erster und bislang einziger Importeur hinzugekommen. Offiziell geht es immer noch um einen kumulierten Bedarf von über 600 Maschinen – zu einem Preis pro System, der gegen 100 Mio. Euro tendiert. Allerdings gibt es aktuell zumindest in Großbritannien angesichts wiederholter Projektverzögerungen und einer überaus dynamischen Preisentwicklung die Tendenz, aus einem Teil der geplanten Bestellung auszusteigen – oder mit dieser Drohung die Kostenbelastung zu drücken. (In Deutschland wird offenbar in Kauf genommen, dass die Beschaffungsplanung der Luftwaffe den Modernisierungsspielraum vor allem des Heeres so verengt, dass dieses seiner wesentlichen Aufgabe – nämlich Friedensunterstützung – immer weniger genügen kann.)

Entwicklung und Bau des Flugzeuges werden von einem internationalen Konsortium getragen, das aus den Luft- und Raumfahrtriesen BAe Systems (UK) und EADS (deutsche Tochter) sowie zwei kleineren Unternehmen in Italien und Spanien besteht, wobei letzteres vor nicht allzu langer Zeit von EADS (International) geschluckt wurde.

Beim Eurofighter handelt es sich um einen schweren Jäger und Jagdbomber (wobei die prinzipielle Bombereignung vor allem in Deutschland aus politischen Gründen lange Zeit verschwiegen wurde). Die ersten Muster sind 2003/4 den Luftstreitkräften der ursprünglichen Partnerländer zugelaufen. Allerdings ist bisher nur ein probeweiser Flugbetrieb möglich und zwar unter sehr restriktiven Sicherheitsauflagen. Man hofft, die noch bestehenden zahlreichen technischen Mängel bis 2007 beheben zu können. Diese Hoffnung wird aber im relevanten Expertenkreis keineswegs einhellig geteilt. Und auch wenn ab 2007 ein normaler Dienstbetrieb möglich sein sollte, wird es sich um ein Flugzeug handeln, das in etlichen Leistungsmerkmalen signifikant unter den beschlossenen Vorgaben bleibt.

Die wiederholten Projektverzögerungen und Preisschübe sind von interessierter Seite damit gerechtfertigt worden, dass es sich um die unvermeidliche Auswirkung des Bemühens um technologische Innovation handele. Dem widerspricht, dass der Eurofighter seine eigenen Spezifikationen nicht erreicht und dass zumindest ein anderes in diesem Zusammenhang zu diskutierendes Vorhaben ähnlichen technologischen Niveaus weniger Verzögerungen und eine geringere Kostendynamik aufweist.

Beim Eurofighter ist es zwar auf eindrucksvolle Weise gelungen, die Nachfrage zu bündeln. Die damit entstandene Marktmacht wurde jedoch dadurch verspielt, dass sich die Partnerländer frühzeitig von der Gnade eines internationalen Konsortiums abhängig machten (welches sich überdies als Göttin Europa persönlich geriert). Konkurrierende Entwürfe und Angebote gab es nicht. Der Anbieter erhielt so ein Monopol, das er offenbar weidlich ausgenutzt hat. Hinzu kam der kostenträchtige Effekt der Friktion, die aus der Notwendigkeit resultiert, Vertreter unterschiedlicher Unternehmenskulturen miteinander kooperieren zu lassen. Besonders der Blick auf die anderen hier vorzustellenden Vorhaben lässt die Schutzbehauptung hohl klingen, es habe einfach kein anderes Konsortium in Europa gegeben, das ein Vorhaben solchen Niveaus hätte bewältigen können.

Wenn mit dem Argument, »Doppelarbeit« vermeiden zu wollen, der Marktmechanismus eskamotiert wird, müssen Streitkräfte und Steuerzahler büßen. Der in diesem Zusammenhang gerne gebrauchte Hinweis auf das »Modell Amerika« zieht nicht: Zwar ist der Konzentrationsprozess in der US-Rüstungsindustrie weiter fortgeschritten als in Europa, doch haben bislang Politik und Streitkräfte in den Vereinigten Staaten sorgfältig darauf geachtet, dass insbesondere bei technologischen Großvorhaben zumindest zwei Systemanbieter miteinander konkurrieren. Dies hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Ausstattung der US-Streitkräfte in Schlüsselbereichen weltweit eine führende Stellung genießt. Beispielsweise sind die Kampfflugzeuge F-22 (RAPTOR) und F-35 (Joint Strike Fighter) dem Eurofighter eine ganze Entwicklungsgeneration voraus (!).

Fall 2: Rafale

Bei diesem Vorhaben handelt es sich um einen Alleingang Frankreichs. Zwar waren Regierung und Rüstungsindustrie dieses Landes anfänglich für ein europäisches Kooperationsvorhaben offen. Wegen konzeptioneller Differenzen und weil bei einer Beteiligung am Eurofighter-Programm (damals: Jäger 90) eigener Einfluss und Industrieanteil zu gering erschienen, fiel die Entscheidung, sich auf nationale Entwicklungskapazitäten zu stützen. Vor dem Hintergrund einer Nachfrage der französischen Luft- und Seeluftstreitkräfte in der Größenordnung von nach wie vor etwa 300 Jägern und Jagdbombern eines einheitlichen Typs bekam das erfahrene »Systemhaus« Dassault den Zuschlag und damit das Angebotsmonopol. (Ein ähnlich kompetentes anderes französisches Unternehmen gab es nicht.)

Diese Tatsache und die Vorgabe, möglichst nur inländische Komponentenhersteller zu beauftragen, womit also der internationale Markt weitgehend ausgeschaltet wurde, bedingten von Anfang an hohe Preiserwartungen. Diese waren zu einem Leistungsprofil in Beziehung zu setzen, das in wesentlichen Aspekten 10-15 Prozent unter dem liegen sollte, was für den Eurofighter projektiert war. Insofern fühlten sich die an diesem internationalen Vorhaben Beteiligten bestätigt. Mittlerweile hat sich aber eine deutlich andere Lage ergeben: Der Eurofighter ist in seiner Kostendynamik auf dem Überholkurs und entspricht nicht mehr den ursprünglichen Leistungserwartungen. Hinzu kommt, dass die ersten Maschinen des Typs Rafale bereits seit 2001 den Dienst versehen und zwar zunächst bei den Marineluftstreitkräften Frankreichs (Zertifizierung für den Luftkampf: Frühjahr 2004).

Dieses Beispiel lässt zweierlei erkennen: Zum einen zeigt sich wiederum, dass für die Ausschaltung des Marktmechanismus ein Preis zu zahlen ist. Zum anderen wird aber auch deutlich, und zwar insbesondere im Hinblick auf den Zeitbedarf, welchen Vorteil die »Einhandsteuerung« durch ein Systemhaus hat, womit aufwendigste industrielle Abstimmungsprozesse entfallen.

Fall 3: Gripen

Auch in diesem Fall handelt es sich um einen nationalen Alleingang, der allerdings von demjenigen Frankreichs in wesentlicher Hinsicht abweicht. Der Typ JAS-39 (Gripen) ist ein leichtes Mehrrollenflugzeug, für das die schwedischen Luftstreitkräfte einen Bedarf von gut 200 Exemplaren angemeldet haben. Mit Entwicklung und Bau wurde auch hier nur ein erfahrenes Systemhaus beauftragt – nämlich Saab. Mögliche Konkurrenten gab es in Schweden ebenfalls nicht. Entwickelt wurde unter sehr stringenter – also nicht vordergründig unternehmensfreundlicher – Kostenkontrolle durch den Auftraggeber. Hinzu kam als äußerst wichtiges kostendämpfendes und leistungssteigerndes Moment die Entscheidung (bzw. bewährte Unternehmenspraxis), alle wesentlichen Komponenten auf dem – internationalen – Markt zu beschaffen, so dass der Firma selbst »nur« die Aufgaben von Design und Systemintegration blieben.

Im Ergebnis entstand ein Flugzeug, das dem technologischen Niveau des Eurofighter zumindest gleichkommt. In einigen Merkmalen, wie Reichweite und Waffenlast, liegen die Werte – durch das geringere Systemgewicht bedingt – unter jenen für das internationale bzw. das französische Muster. Dagegen lässt sich Ebenbürtigkeit, teilweise sogar besseres Abschneiden, feststellen, wenn es um jägertypische Eigenschaften geht: Im Hinblick auf Geschwindigkeit und Wendigkeit hat das schwedische Muster den Vergleich nicht zu scheuen. Bemerkenswert auch, dass der Gripen, die ersten Maschinen sind übrigens bereits in der zweiten Hälfte der 90er Jahre der Truppe zugelaufen, in den Beschaffungs- und vor allem auch den Betriebskosten sehr deutlich unter den hier diskutierten Konkurrenten liegt.

Seine Robustheit, es kann von relativ kurzen, provisorischen »runways« aus operiert werden, und der geringe Wartungsbedarf (Wartung durch nicht-professionelles Personal!) lassen den Gripen vor allem auch für out-of-area-Engagements geeignet erscheinen (wenn denn solche mit Luftwaffenelementen überhaupt für notwendig erachtet werden). Und das besonders günstige Preis-Leistungsverhältnis deutete zunächst auf sehr gute Exportchancen hin. Bisher haben sich allerdings »nur« Südafrika, Ungarn (Mietkauf) und Tschechien (Leasing mit Kaufoption) für diesen Typ entschieden. Andere europäische Länder, wie etwa die neutralen Alpenrepubliken und die Neumitglieder der NATO (letztere mit den genannten Ausnahmen) scheinen sich eher an US-amerikanischen Angeboten oder dem des Eurofighter-Konsortiums zu orientieren. Offenbar werden hier Angebote gemacht, etwa in Gestalt dubioser Kompensationsgeschäfte oder verquickt mit indirekter politischer Pression, die sich so leicht nicht ablehnen lassen. Dabei fällt auf: Die Vertreter von EADS scheinen sich auch nicht viel anders aufzuführen als die »imperialistischen Amis«. Anders ausgedrückt: Potenziell hat der Gripen das Zeug zum wirklichen Eurojäger.

Anmerkung: Saab Aerosystems hat sich mittlerweile unter die Fittiche von BAe Systems begeben. Dies wohl eher aus ökonomischen Erwägungen (Verstetigung der Auslastung!) als etwa wegen der Sorge, von Hochtechnologie abgekoppelt zu werden. Jedenfalls lässt sich dieser Vorgang nicht in dem Sinne interpretieren, dass kleinere Unternehmen gleichsam a priori Knowhow-Defizite haben.

Steuerung und Störung

Die im Kontext des europäischen Verfassungsprozesses konzipierte Rüstungsagentur kann vor dem Hintergrund eines in diesem Politikbereich nach wie vor intergouvernementalen Entscheidungsverfahrens die Transformation der Rüstungsindustrien in Europa sicherlich nicht im Sinne direkter Steuerung beeinflussen. Doch ist durchaus nicht auszuschließen, dass diese neue Einrichtung, die sich wie eine Spinne im Mittelpunkt relevanter Interessenverknüpfungen situieren kann, institutionelles Eigengewicht zu gewinnen vermag, welches zumindest indirekte Strategien der Einflussnahme ermöglicht.

Das Problem ist, ob die Europäische Rüstungsagentur mit akzeptabler Wahrscheinlichkeit jene Linien verfolgen könnte, die sich als Einsichten dieser kleinen Studie ergeben: Würde diese Institution einen Diskurs darüber einleiten (oder einleiten helfen), der danach fragt, welche Art von Rüstung gebraucht wird, welches Struktur- und Ausrüstungsmuster einer europäischen Politik des Ausgleichs und der nicht-provokativen Krisendämpfung kongenial ist? (Dies vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass eine auch verteidigungspolitisch zunehmend integrierte Europäische Union sich wegen der Vielfalt der Mitgliedschaft nicht auf Rachefeldzüge und Rechtsbrüche als gemeinsame Anliegen verständigen könnte.) Und: Würde diese Agentur – angesichts der durch die Schrumpfung der Rüstungsnachfrage bedingten Kapazitätsbereinigungen – in der Lage sein, im Zuge einer internationalen Arbeitsteilung und Spezialisierung jene (darunter auch kleinere) Systemhäuser zu stützen, die einen komparativen Vorteil besitzen? Würde sie diese – der Verstetigung der Auslastung und der Qualitätskonkurrenz wegen – Märkte erschließen können: etwa auch in den USA oder in der Russischen Föderation?

Wahrscheinlich nicht. Eher ist anzunehmen, dass sich jene industriell-politischen Kräfte auch in dieser neuen Institution durchsetzen, welche die Frage nach der Grundorientierung der Rüstungsanstrengungen möglichst ausblenden oder verdrängen möchten. Diese Kräfte sind übrigens weitgehend mit jenen identisch, für die eine Bildung internationaler, politisch verhakelter Konglomerate mit dem Charakter von Angebotsmonopolen zu einem Synonym für die Europäisierung geworden ist. Sie werden die Agentur wahrscheinlich in ganz besonderem Maße prägen und deren etwaiges institutionelles Eigengewicht als Interessenverstärker zu nutzen trachten.

Doch auch wenn die Europäische Rüstungsagentur nicht zum Spielball partikularer Interessen verkommen würde, wäre die Entwicklung einer wirkungsvollen, von nachvollziehbaren Kriterien geleiteten Strategie der Einflussnahme ein äußerst prekäres Unterfangen. Das Wechselspiel nationaler Egoismen und der oft über die Bande ausgetragenen Interessen der europäischen Industrie wird nämlich noch durch einen zusätzlichen Störfaktor kompliziert und damit weniger beherrschbar: US-Kapital geht in den Gefilden europäischer Rüstung zunehmend und gezielt auf Schnäppchenjagd. Bemerkenswert: Dabei kauft man sich weniger in Konsortien denn in kleinere, profilierte Systemhäuser ein (etwa bei Produzenten gepanzerter Fahrzeuge oder von konventionellen U-Booten) und zwar nicht so sehr weil dies weniger kostet, als vielmehr weil hier die Technologie zu holen ist, die dem US-Empire am meisten zu nützen verspricht.

Dr. Lutz Unterseher, Politikwissenschaftler und Soziologe, international tätiger Politikberater in Fragen der Streitkräfteplanung, Lehrtätigkeit an den Universitäten Münster und Osnabrück sowie an Militärakademien.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Friedensforum Östereich, dort erschienen in 5/6-2004.

Kriegsdienstverweigerung in der EU und den Beitrittsländern

Kriegsdienstverweigerung in der EU und den Beitrittsländern

von Gernot Lennert

Der vorliegende Beitrag verdeutlicht die Unterschiedlichkeit bis Gegensätzlichkeit der Handhabung von Kriegsdienstverweigerung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und den Staaten, deren Beitritt zur EU bis 2007 vorgesehen ist. Die Rede von der europäischen Wertegemeinschaft ist diesbezüglich wenig mehr als eine Leerformel. Allerdings scheint der Integrationsprozess zu einer zunehmenden Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung beizutragen. Ernüchternd wirkt dagegen, dass der noch zur Annahme ausstehende EU-Verfassungsentwurf keine einheitliche Regelung im Sinne dieses Rechtes vorsieht, sondern auch die repressivste einzelstaatliche Behandlung von Kriegsdienstverweigerern deckt.

Bis 1990 war Europa bezüglich Militärdienstpflicht klar eingeteilt.1 Auf der einen Seite standen die Staaten mit angelsächsischer politischer Kultur, Großbritannien und Irland. Das Vereinigte Königreich hatte die im 2. Weltkrieg eingeführte Dienstpflicht 1960 abgeschafft,2 in Irland und Nordirland hatte sie nie bestanden. In dieser politischen Tradition wird der Zwang zum Militärdienst als ein schwerwiegender Eingriff in die Freiheit des Individuums betrachtet, der nur im Notfall gerechtfertigt werden kann. Der Zwangsdienst gilt nicht als positiver Wert an sich. Im Hintergrund steht der Gedanke, dass der Staat seine Ansprüche an das Individuum rechtfertigen muss.

In Kontinentaleuropa waren 1989 nur Klein- und Kleinststaaten sowie Gebiete mit Sonderstatus wie West-Berlin frei von jeglichem Kriegsdienstzwang. In der vorherrschenden kontinentaleuropäischen Denktradition galt die Erfüllung der Wehrpflicht als selbstverständliche Pflicht des Staatsbürgers, unabhängig von militärischen Erfordernissen. In diesem Denken ist das Militär die Schule der Nation, das Individuum schuldet dem Staat oder dem Kollektiv einen Dienst. Diese kollektivistische Dienstideologie zeigt sich in einer älteren militärischen und in einer jüngeren zivilen Variante. In der zivilen Variante kann der Militärdienst kritisch gesehen werden, nicht aber der Zwang zum Dienst. Zwangsdienste erscheinen in diesem Weltbild als etwas Nützliches und Erstrebenswertes, als pädagogisch wertvoll.

Kriegsdienstverweigerern war bis Ende der 1980er Jahre in den nicht-kommunistischen Staaten Europas mit Dienstpflicht die Möglichkeit der Militärdienstverweigerung eingeräumt worden, verbunden mit Ableistung eines Ersatzdienstes, mit Ausnahme der Schweiz,3 Griechenlands, der Türkei und auch Zyperns, die ebenso wie die marxistisch-leninistischen Diktaturen keine legale Militärdienstverweigerung kannten. Es ergab sich ein West-Ost-Gefälle: keine Dienstpflicht an der westlichen Peripherie, in Westeuropa Kriegsdienstpflicht und Ersatzdienste für Verweigerer, im Osten Zwang ohne legale Militärdienstverweigerung.

Aussetzung und Abschaffung des Kriegsdienstzwangs

200 Jahre nach Einführung der modernen Wehrpflicht in der Französischen Revolution entschlossen sich mehrere Staaten Europas, sie auszusetzen oder abzuschaffen.4 In Belgien werden seit 1995, in den Niederlanden seit 1997 keine Wehrpflichtigen mehr einberufen, mit Ausnahme der Niederländischen Antillen, wo die Dienstpflicht nicht ausgesetzt wurde.5 2002 fand die Wehrpflicht sogar in ihrem Mutterland Frankreich sowie in Spanien ihr Ende. In Slowenien war schon für Oktober 2003 keine Einberufung von Wehrpflichtigen mehr vorgesehen.6 Weitere Staaten sind dabei, den Kriegsdienstzwang abzuschaffen oder auszusetzen: Portugal bis Ende 2004, Italien ab Anfang 2005, die Slowakei und Ungarn 2006, Tschechien bis Ende 2006.7

Aussetzung bedeutet, dass die Einberufungen jederzeit wieder aufgenommen werden können. In den Niederlanden unterliegen alle Wehrpflichtigen nach wie vor der Militärerfassung. In Frankreich demonstriert der Staat seinen Rekrutierungsanspruch mit einer eintägigen vom Militär durchgeführten Pflichtveranstaltung namens »Journée d‘appel de préparation à la défense« für alle Jugendlichen beiderlei Geschlechts zwischen 16 und 18 Jahren. Wer die Teilnahme verweigert, wird von staatlichen Prüfungen, sei es in Bildungseinrichtungen, sei es bei der Führerscheinprüfung, ausgeschlossen.

Der Militärdienstzwang wurde und wird wegen der militärstrategisch gebotenen Umstrukturierung, Modernisierung und Verkleinerung der Streitkräfte aufgegeben; Wehrpflichtige sind verzichtbar geworden. Lediglich der spanische Staat sah sich mit einer breiten antimilitaristischen Kampagne für die Abschaffung des Kriegsdienstzwangs konfrontiert, deren sichtbarster Ausdruck Tausende von inhaftierten totalen Kriegsdienstverweigerer waren.

Festhalten an der Militärdienstpflicht

Die nordischen Staaten sowie die Staaten am östlichen Rand der zukünftigen EU von Finnland bis Zypern halten am Kriegsdienstzwang fest. Die Abschaffung der Zwangsdienste wird in Deutschland und Österreich diskutiert.

In Deutschland, Dänemark und Schweden gibt es ein Recht auf Militärdienstverweigerung mit der Pflicht zur Ableistung eines Ersatzdienstes. Die Gewissensprüfung wird mittlerweile liberal gehandhabt oder entfällt. Die bloße Anerkennung ist unproblematischer geworden. Deutschland hat im November 2003 die Gewissensprüfungsausschüsse der Bundeswehr abgeschafft, alle Anträge werden seitdem in einem schriftlichen Verfahren vom Bundesamt für Zivildienst behandelt. Wegen begrenzter Kapazitäten der Bundeswehr und im Zivildienst sind die Chancen, beide Zwangsdienste zu umgehen, größer geworden. Nach wie vor strafrechtlich verfolgt werden totale Kriegsdienstverweigerer.

Die Bedingungen in Österreich, Finnland und Polen liegen deutlich unter den Standards, die in Westeuropa üblich geworden sind. In Österreich bemüht sich der Staat, den Zivildienst möglichst unattraktiv zu machen. Er wurde in den 1990er Jahren dreimal verlängert, von ursprünglich acht auf zwölf Monate. Anträge auf Verweigerung dürfen nur innerhalb eines kurzen Zeitraums von wenigen Wochen nach der Musterung gestellt werden. Ab 2000 wurden die Zivildienstleistende materiell drastisch schlechter gestellt, was zu massenhaften Protesten geführt hat.8 In Finnland ist zwar die Anerkennung als Militärdienstverweigerer einfach, doch pro Jahr werden etwa 60 totale Kriegsdienstverweigerer in der Regel für 197 Tage inhaftiert.9 Viele protestieren damit gegen die unzumutbare Gestaltung des Zivildienstes, andere gegen jeden Kriegs- und Zwangsdienst. Der Zivildienst dauert entgegen Empfehlungen internationaler Organisationen doppelt so lange wie der Militärdienst. Den Dienstleistenden werden ihnen gesetzlich zustehende Leistungen wie kostenlose Unterkunft vorenthalten. Amnesty international erkennt finnische Totalverweigerer als Gewissensgefangene an. Die Militärdienstverweigerung gilt wie auch in Polen nur in Friedenszeiten.

In den baltischen Staaten ist das Recht auf Militärdienstverweigerung seit 1991 anerkannt, wobei Estland entsprechend den Maßgaben des Europarats einen Ersatzdienst von der Länge des Militärdienstes eingeführt hat, während Lettland 2002 einen Ersatzdienst von doppelter Länge beschlossen hat. Im Baltikum kann die Dienstpflicht wegen geringer Einberufungsquoten leicht umgangen werden.10

In Rumänien, Bulgarien, Griechenland und Zypern gibt es in der Praxis kein Recht auf Militärdienstverweigerung. Entsprechende Bestimmungen sind wertlos, wegen mangelnder Ausführungsbestimmungen oder weil sie wie in Rumänien nur für Angehörige militärdienstablehnender religiöser Gemeinschaften gelten. Griechenland bestraft Verweigerer mit einem 30-monatigen Ersatzdienst, der damit 12 bis 18 Monate länger als der Militärdienst dauert, heimatfern stattfinden muss und in dem sie mit feindseliger Behandlung rechnen müssen. Verweigerer werden häufig über Jahre hinweg mit Einberufungen, Prozessen, Inhaftierungen, Aberkennung ihres Verweigererstatus und dergleichen überhäuft. Lazaros Petromelidis wird schon seit 1992 juristisch verfolgt.

Es gibt nach wie vor das West-Ost-Gefälle, aber die Gruppe der Länder ohne Militärdienstpflicht wird 2007 tief nach Ostmitteleuropa reichen, Militärdienstverweigerung ist in Ländern Osteuropas möglich.

Internationale Standards

Dass osteuropäische Staaten die Militärdienstverweigerung mehr oder weniger akzeptieren, ist wesentlich internationalen Organisationen zu verdanken, vor allem dem Europarat, aber auch der OSZE und der Europäischen Union, namentlich dem Europäischen Parlament.

Das Recht auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nicht in den grundlegenden Menschenrechtsdeklarationen der Vereinten Nationen und des Europarats enthalten, wird allerdings aus dem in Artikel 18 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen niedergelegten Recht auf Gedanken-, Religions- und Gewissensfreiheit und ähnlichen Bestimmungen anderer Menschenrechtskonventionen abgeleitet. Die UN-Menschenrechtskommission, das Europäische Parlament, der Europarat sowie KSZE/OSZE haben in Resolutionen und Empfehlungen das Recht auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen befürwortet.11

Das Interesse an einer Aufnahme in die EU und in andere euro-atlantische Strukturen erhöht die Bereitschaft, sich den geforderten Standards anzupassen. Das Europäische Parlament begründet sein Engagement damit, dass stark variierende Bestimmungen unter den Mitgliedsstaaten „ein Hemmnis für den Prozess der europäischen Integration im Hinblick auf die jungen Menschen“12 darstellten.

Die UN-Menschenrechtskommission, der Europarat sowie das Europäische Parlament bekennen sich dazu, „dass Personen, die aus Gewissensgründen den Militärdienst verweigern, die Möglichkeit zur Ableistung eines Ersatzdienstes geboten wird.“13 Dazu gehören die ausreichende Information der Betroffenen sowie das Recht, jederzeit, also auch während des Militärdienstes, einen Antrag auf Verweigerung zu stellen. Der Ersatzdienst soll in rein zivilem Rahmen stattfinden, seine Dauer soll angemessen sein und nicht als Strafe angesehen werden. Das Anerkennungsverfahren soll fair sein. Zahlreiche Mitglieder von EU, Europarat und OSZE erfüllen die genannten Anforderungen nicht.

Kriegsdienstverweigerer sind am wirksamsten geschützt, wenn sie erst gar nicht mit Zwangsrekrutierung konfrontiert werden. Doch so weit geht der Europarat nicht. Artikel 4 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarats von 1950 sagt deutlich: „(1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden. (2) Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten. (3) Als ‚Zwangs- und Pflichtarbeit‘ im Sinne dieses Artikels gilt nicht … b) jede Dienstleistung militärischen Charakters, oder im Falle der Verweigerung aus Gewissensgründen … eine sonstige anstelle der militärischen Dienstpflicht tretende Dienstleistung.“14

Die Staaten haben sich also abgesichert: Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit sind verboten, aber nicht wenn es um Krieg und Militär geht. Der Europarat und die anderen genannten Organisationen bewegen sich innerhalb dieser Logik.

Der im Jahr 2003 vorgestellte Entwurf für eine Verfassung der EU befasst sich zwar ausführlich mit der gemeinsamen EU-Militärpolitik, doch eine EU-weite Regelung der Kriegsdienstverweigerung ist nicht vorgesehen. In Artikel II-10 (2) heißt es: „Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln.“15 Das bedeutet, dass selbst die repressivste einzelstaatliche Behandlung von Kriegsdienstverweigerern gedeckt wird. Der Verfassungskonvent fällt damit hinter die Resolutionen des Europäischen Parlaments zurück.

Verweigerung von Militärangehörigen und situationsbedingte Verweigerung

Unabhängig vom Vorhandensein einer Dienstpflicht stellt sich die Frage nach der Verweigerung von Berufssoldaten und -soldatinnen. Die Regeln sind sehr uneinheitlich. In Deutschland ist die Antragstellung jederzeit möglich, seit November 2003 wird die Gewissensprüfung nicht mehr von den Prüfungsgremien der Bundeswehr vorgenommen. In Frankreich, Österreich und Spanien ist die Verweigerung von Militärangehörigen nicht vorgesehen. In Großbritannien gibt es eine Vorschrift der Armee, die aber nicht veröffentlicht werden darf, die entsprechenden Vorschriften von Marine und Luftwaffe sind ganz unbekannt.16 Hinzu kommt die Problematik von Minderjährigen, die mit 16 Jahren ins Militär eintreten und denen es schwer gemacht wird, es wieder vorzeitig zu verlassen.

Von Verweigerern wird gewöhnlich verlangt, Krieg und Gewalt grundsätzlich abzulehnen. Situationsbedingte oder selektive Verweigerung, wie die Weigerung israelischer Soldaten, in den besetzten Gebieten Dienst zu leisten, wird gesetzlich nicht akzeptiert. Dies hat historische Gründe und liegt im Interesse von Staat und Militär. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung begann als Ausnahmeprivileg für religiöse Sektierer, die aufgrund ihrer prinzipiell gewaltfreien Haltung fürs Militär unbrauchbar waren. Auch heutige säkulare Verweigerer müssen sich mehr oder weniger an diesem Muster orientieren, wenn sie anerkannt werden wollen. Verweigern darf nur, wer nicht töten kann, also charakterlich für den Militärdienst auf jeden Fall untauglich ist, aber nicht der, der zwar könnte, wenn er wollte, aber nicht will.

Soldaten sollen Befehlen gehorchen, sie nicht in Frage stellen. Die Möglichkeit der selektiven Verweigerung würde jedoch die Zuverlässigkeit der Militärmaschinerie gefährden. Da EU-Staaten immer häufiger völkerrechtswidrig Krieg führen, liegt es nahe, eine Möglichkeit der Verweigerung solcher Einsätze zu fordern. Doch schon jetzt sind Soldaten an Völkerrecht und Kriegsvölkerrecht gebunden. Ein Staat, der illegal Krieg führt, wird dies selbst kaum zugeben. Deshalb ist es wahrscheinlicher, dass situationsbedingte Kriegsdienstverweigerung von außen anerkannt wird. Beispiele sind die Empfehlungen der UN, denjenigen Aufnahme zu gewähren, die sich den Apartheid-Streitkräften verweigerten, die Resolutionen des Europäischen Parlaments zugunsten von Verweigerern und Deserteuren aus den jugoslawischen Auflösungskriegen sowie die den post-jugoslawischen Staaten auferlegten Amnestien für Deserteure.

Denkbar ist die Anerkennung situationsbedingter Verweigerung am ehesten im Nachhinein bei veränderten politischen Kräfteverhältnissen oder im Asylrecht. Bezüglich des Rechts auf Zwangsrekrutierung sind die Regierungen untereinander solidarisch, aber in bestimmten Situationen können sie für bestimmte Verweigerer eine Ausnahme machen.

Kriegsdienstverweigerung: Menschenrecht oder Ausnahmerecht?

Kriegsdienstverweigerer werden so lange verfolgt werden, solange die Kriegsdienstverweigerung nicht als Menschenrecht, sondern als Ausnahmerecht begriffen wird. Viele, die vom Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung reden, meinen oft nur ein Ausnahmerecht, wie z.B. amnesty international: „amnesty international betrachtet alle, die aus Überzeugung nicht zur Waffe greifen wollen, als Wehrdienstverweigerer. … Dabei stellt die Organisation das Recht von Staaten, Soldaten einzuberufen, nicht in Frage. Doch niemand sollte gegen seine Überzeugung zum Militärdienst gezwungen oder für seine Verweigerung in irgendeiner Form bestraft werden.“17 Der staatliche Zwangsrekrutierungsanspruch, die Wurzel des Problems, wird also nicht in Frage gestellt, sondern verinnerlicht. Konsequenterweise bekennt sich ai zur Gewissensprüfung, sei es eine staatliche, sei es die Beurteilung durch ai. Erwähnenswert ist auch, dass ai weder Gewissensprüfungen noch den Zwang zum Ersatzdienst als Problem ansieht, wenn sie bestimmten Kriterien entsprechen.

Solange das Recht auf Kriegsdienstverweigerung von der Gewissensfreiheit abgeleitet wird, bleibt es ein Ausnahmerecht für Menschen mit einer bestimmten Motivation oder einem bestimmten Persönlichkeitsbild, kein Menschenrecht für alle. Die Inanspruchnahme eines Menschenrechts auf einen bestimmten Personenkreis einzuschränken, abhängig von staatlicher Genehmigung sowie der Ableistung eines staatlichen Zwangsdienstes, ist ein Widerspruch in sich.

Die Rekrutierung für Kriegsdienst ist oft gleichbedeutend mit einem Todesurteil, nicht nur in Kriegszeiten, von Freiheitsberaubung und Aufhebung anderer Grundrechte einmal ganz abgesehen. Zwangsrekrutierte werden gegen ihren Willen zu Kombattanten gemacht und können im Krieg vom gegnerischen Militär legal getötet oder verstümmelt werden. Die Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit werden durch die Zwangsrekrutierung aufgehoben. Ausgehend davon, dass jeder Mensch ein Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und persönliche Freiheit hat, müsste Zwangsrekrutierung zum Kriegsdienst ebenso verworfen werden wie die von amnesty international und Europarat abgelehnte Todesstrafe.

Ausblick

Die osteuropäischen Staaten durchlaufen bezüglich Kriegsdienstverweigerung zeitversetzt ähnliche Entwicklungsstufen wie zuvor westeuropäische Länder, beschleunigt durch den Anpassungsdruck von Europarat und EU. Im Osten Europas zeigt sich ebenso wie in der Geschichte Westeuropas ein Nord-Süd-Unterschied, der mit dem religiösen Hintergrund korreliert. In den protestantischen Ländern Nordwesteuropas war schon im 1. Weltkrieg und in den 1920er und 1930er Jahren danach die Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen ermöglicht worden; katholische Staaten folgten erst widerstrebend in den 1960er und 1970er Jahren. Die protestantischen Ostseeländer haben die Idee der Kriegsdienstverweigerung akzeptiert, die orthodox geprägten Staaten und Gesellschaften im Südosten stehen ihr am feindseligsten gegenüber. Nationalismus und Militarismus sind dort starke ideologische Stützen der Militärdienstpflicht. Die NATO drängt ihre Mitglieder und Kooperationspartner zur Anpassung an die modernen Militärstrukturen des Bündnisses. Resultiert dieser Modernisierungsdruck in der Abschaffung der Dienstpflicht, schafft das für Kriegsdienstverweigerer einen besseren Schutz als Verweigerungsgesetze, die Kriegsdienstverweigerern Gewissensprüfungen und Zwangsdienst auferlegen.

In Mitteleuropa könnte aus militärstrategischen und volkswirtschaftlichen Erwägungen und aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen der Kriegsdienstzwang bald weichen. Dem stehen in Deutschland noch ideologische Hindernisse entgegen. Hier geht es nicht nur um die Militärdienstpflicht, sondern um die quer durch die politischen Lager von ganz rechts bis ganz links tief verankerte hohe Wertschätzung ziviler Zwangsdienste. Solange sich die neutralen Staaten Finnland, Schweden und Österreich noch am Konzept einer allgemeinen Volksbewaffnung mit kleinen aktiven Streitkräften und mit zahlreichen Reservisten orientieren, werden sie an der Kriegsdienstpflicht festhalten.

Anmerkungen

1) Der Begriff Wehrpflicht ist doppelt irreführend. In Bezug auf das zwischenstaatliche Verhältnis suggeriert Wehrpflicht, dass die Kriegsdienstleistung der Verteidigung diene. Allerdings haben auf Basis der Wehrpflicht so genannte Wehrdienstleistende schon viele Angriffskriege geführt. Das gilt vor allem für Deutschland, dessen »Wehrdienstleistende« seit Gründung des Staates 1871 noch nie einen Verteidigungskrieg geführt haben. Im Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Staat ist der Begriff ebenfalls abwegig. Wehrdienst leisten gerade diejenigen, die sich am wenigsten gegen die Zwangsrekrutierung zum Militär zur Wehr setzen. Die Begriffe Wehrdienst und Wehrpflicht (schwed. värnplikt, dän. værnepligt) ist eine deutsch-nordgermanische Besonderheit. Im Englischen und Französischen spricht man von conscription oder national service / service nationale, im Niederländischen schlicht von Dienstplicht, im Russischen ganz offen von voinskaja objazannost’, d.h. von Kriegspflicht.

2) Im britischen Überseegebiet Bermuda gibt es sie bis heute.

3) In ihrer Behandlung von Kriegsdienstverweigerern glich und gleicht die Schweiz Staaten in Osteuropa. Die Schweiz ist weder EU-Mitglied noch Beitrittskandidat und im Weiteren nicht Gegenstand dieses Artikels.

4) Alle Angaben zu Kriegsdienstzwang und zum Kriegsdienstverweigerungsrecht, die sich auf die Zeit vor 1998 beziehen, basieren, sofern nicht anders angegeben, auf Horeman, Bart & Stolwijk, Marc (1998): Refusing to bear arms. A world survey of conscription and conscientious objection to military service, London: WRI.

5) Lennert, Gernot (2001): Niederländische Antillen. In: Internationales Handbuch – Länder aktuell. Munzinger-Archiv 46/01, Ravensburg.

6) taz 11.09.03.

7) Vgl. Burmeister (2003): Hat die Wehrpflicht eine Zukunft? Ein Beitrag zur aktuellen Diskussion. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages. WF II-144/03. Verfügbar unter: http://www.bundestag.de/aktuell/ausarbeitungen/2003/2003_10_07_wehrpflicht.pdf

8) Vgl. http://www.sjoe.at und http://www.zivildienst.at, Anfang 2004.

9) Vgl. Peace News, Dezember 2003, S.7.

10) Vgl. Stolwijk, Marc (2003): Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung in der ehemaligen Sowjetunion. Rundbrief Kriegsdienstverweigerung im Krieg, September 2003.

11) Vgl. Speck, Andreas & Larsen, Kasper Jon (2003): The right to conscientious objection to military service in selected member states of the Organisation for Security and Cooperation in Europe. Report at the OSCE Supplementary Meeting on Freedom of Religion or Belief 17-18 July 2003, Vienna. Submitted by War Resisters International, London.

12) Europaparlament (1994): Entschluss vom 18. Januar 1994 zur Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen in den Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft (Ziff. 8). Verfügbar unter: http://www.ekd.de/eak/texte/EP1994.doc

13) Council of Europe / Europarat (2002): Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Strasbourg.Verfügbar unter: http://www.ekd.de/eak/texte/EuroparatKDV2003.pdf

14) Zit. nach Simma, Bruno & Fastenrath, Ulrich (Hrsg.) (1985): Menschenrechte. Ihr internationaler Schutz (S. 211). München: Beck.

15) Zit. nach http://www.european-convention.eu.int.

16) Vgl. Speck, Andreas & Larsen, Kasper Jon (2003): The right … (s. Anm. 11), S. 4.

17) Oberascher, Claudia (1997): Ein Menschenrecht auf dem Prüfstand. ai-Journal, Nr. 5, S. 6-9 (S. 7).

Dr. Gernot Lennert, Politologe und Historiker, Mainz

Europa – eine führende Macht im Weltraum?

Europa – eine führende Macht im Weltraum?

von Regina Hagen

„Auf globaler Ebene ist die wirklich entscheidende Entwicklung im Weltraumsektor die permanente Überarbeitung der US-Weltraumpolitik“, zeigt sich der Generaldirektor der Europäischen Weltraumagentur (ESA) überzeugt.1 Kombiniert mit der Erweiterung der Europäischen Union, der Umsetzung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, gestiegenen Sicherheitsanforderungen und der wichtigen Rolle von Weltraumtechnologie für eine Vielzahl von Nutzern ergibt sich aus seiner Sicht die Notwendigkeit, die Rolle der ESA neu zu definieren. Das heißt, die ESA soll in Zukunft zu »Verteidigung und Sicherheit« beitragen. Regina Hagen über die erstaunliche Entwicklung einer Organisation, die sich noch vor wenigen Jahren beleidigt dagegen wehrte, mit Militär überhaupt in Zusammenhang gebracht zu werden, die jegliche Anspielungen auf »dual use« empört von sich wies und die gemäß ihren Statuten auf „friedliche Zwecke“ verpflichtet ist.

Voraussetzung für die Neuorientierung der ESA waren politische Entscheidungen der EU, so die Festlegung auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) im Vertrag von Maastrich 1992, die Definition der so genanntenen Petersberg-Aufgaben durch die Staats- und Regierungschefs der Westeuropäischen Union (WEU) auf dem Petersberg bei Bonn im selben Jahr und schließlich 2000 im Vertrag von Nizza die Einigung auf Grundzüge einer Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP).

Seither ist in der Europäischen Union nicht alles friedlich, wo friedlich drauf steht. Zählen zu den Petersberg-Aufgaben im Verfassungsentwurf der EU neben humanitären Aufgaben und Rettungseinsätzen doch auch „Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung“.2

Diese Entwicklung kam manchen in der ESA-Führungsspitze entgegen. Das Umfeld für Weltraumaktivitäten war in den vergangenen Jahren schwierig. Die ökonomische Krise führte zu einer zurückhaltenden Ausgabenpolitik der öffentlichen Hand, folglich konnten manche Forschungsprojekte nicht realisiert werden. Dass einige groß angelegte kommerzielle Projekte platzten, traf vor allem die Weltraumindustrie schwer.

In dieser Situation sehen sie in der »Globalisierung des Militärs« eine große Chance. Für Einsätze zwischen Hindelang und Hindukusch sind die nationalen Armeen in Europa nicht gut genug ausgerüstet. Es fehlen unter anderem eigene Aufklärungskapazitäten, schnelle und geschützte Kommunikationsmöglichkeiten, zuverlässige Zeit- und Positionsgebung.

Ein neues Kapitel der europäischen Raumfahrt

Hier kommen Satelliten ins Spiel – und damit auch die ESA. Weltraumagentur und Europäische Kommission haben in den vergangenen Jahren in zahlreichen Kontakten eine neue Partnerschaft abgesteckt. Dabei wurde in rasendem Tempo das Tabu der ESA, sich mit militärischen Aufgaben zu befassen, über Bord geworfen.

In einem »Gemeinsamen Grundsatzpapier der (Europäischen) Kommission und der ESA zur europäischen Strategie für die Raumfahrt« stellten die Partner fest: „Der Weltraum hat eine sicherheitspolitische Dimension, die bisher auf europäischer Ebene nur im Kontext der WEU eine Rolle gespielt hat. Durch die anstehende Integration der WEU in die EU und die auf dem europäischen Gipfel von Helsinki unternommenen Schritte in Richtung einer ESVP erlangt die Raumfahrt für die Europäische Union einen neuen Stellenwert, beispielsweise für die Entscheidungsfindung zur Planung und Durchführung der Petersberg-Aufgaben.“3 In dem Papier wird empfohlen, ein satellitengestütztes Informationsnetz zu schaffen, „das den politischen Erfordernissen Europas entspricht“.

Gleichzeitig tagte im Auftrag des damaligen ESA-Kabinettchefs der Rat der »drei Weisen«. Carl Bildt (ehemaliger schwedischer Ministerpräsident), Jean Peyrelevade (Präsident der Crédit Lyonnaise) und Lothar Späth (ehemaliger baden-württembergischer Ministerpräsident und dann Chef von Jenoptik) erstellten den Bericht »Towards a Space Agency for the European Union«. Der Bericht empfiehlt der Agentur, „die Fähigkeiten der ESA auch für die Entwicklung der eher sicherheitsorientierten Aspekte der europäischen Weltraumpolitik einzusetzen. Da die Anstrengungen der Europäischen Union in diesen Bereichen auf die so genanntenen Petersberger Aufgaben … abgestimmt sind, sehen wir kein Problem mit der Satzung der ESA.“4

In einer Charme-Offensive wurde seitdem an einer Begriffsfindung gearbeitet. »Sicherheit« und »Verteidigung« fallen jetzt unter den Oberbegriff „ »utilitaristische« Aktivitäten: Entwicklung von Weltraumsystemen zur Unterstützung öffentlicher Dienste … zum Wohl der Bürger.“5 Das ehemals verpönte »Militärische« ist somit positiv belegt, der ESA-Satzung Genüge getan.

„Weltraum ist ein strategischer Aktivposten“, heißt es denn auch gleich zu Beginn eines Internationalen Berichts über Weltraum- und Sicherheitspolitik in Europa.6 vom Herbst 2003. Und es folgt der Verweis, dass die Entwicklung zivil-militärischer Weltraumtechnologie danach ruft, die momentanen nationalen Verteidigungsprogramme mit den vorwiegend zivil ausgerichteten europäischen Programmen zu verschmelzen. Konsequent ist folglich die Gründung eines eigenen Europäischen Weltrauminstituts, das mit Sitz in Wien „eine gesellschaftliche und politische Debatte initiieren, unterstützen und fördern soll, um das öffentliche Bewusstsein für die Bedeutung weltraumgestützter Infrastrukturen und Dienstleistungen zu heben.“7

Vorläufiger Endpunkt bei der Neudefinition europäischer Weltraumpolitik ist ein Rahmenabkommen zwischen ESA und Europäischer Kommission vom Oktober 2003 und das »Weißbuch« vom November 2003. Nach einem angeblich offenen gesellschaftlichen Diskussionsprozess, in Wirklichkeit unter Ausschluss einer kritischen Öffentlichkeit und bei vollständiger Missachtung durch die Medien, wurde der »Aktionsplan (Europäisches Raumfahrtprogramm) einschließlich einer Liste empfohlener Maßnahmen zur Durchführung der europäischen Raumfahrtpolitik« erstellt.8 Hier fließen alle früheren Entscheidungen zusammen. Gesehen wird „Die Chance: Ergänzung der in Europa bestehenden raumgestützten Kapazitäten und Analyse der Erfordernisse im Hinblick auf die Schaffung einer glaubwürdigen Sicherheitskapazität mit hohem Zusatznutzen für die EU.“

Das Beispiel Galileo: ein transatlantischer Machtkampf

Als Systembeispiele genannt werden in allen oben zitierten Papieren jeweils zwei Systeme: GMES und Galileo.

GMES ist mehr eine europäische Initiative denn ein Projekt. »Global Monitoring for Environment and Security« wurde im Jahr 2000 durch die EU gestartet und soll vorhandene, eigentlich für Forschung und Umweltbeobachtung konzipierte europäische Satelliten bis 2008 so vernetzen, dass Satellitenaufnahmen und daraus gewonnene Aufklärungsdaten an europäische „Gremien und Einrichtungen“ geliefert werden können – ein Informationsnetz mithin, das „den politischen Erfordernissen Europas entspricht“.9

An Galileo lassen sich exemplarisch die Probleme aufzeigen, die sich aus der militärischen Orientierung europäischer Weltraumpolitik ergeben. Ursprünglich als rein ziviles System geplant,10 sollen die 30 Satelliten spätestens ab 2008 den Nutzern jederzeit die exakte Bestimmung des eigenen Standorts und die Nutzung präziser Zeitsignale ermöglichen. Die Einsatzmöglichkeiten sind vielfältig, z.B. beim vollautomatischen Landeanflug von Flugzeugen, für Zugleitsysteme, zur Positionsbestimmung im Fahrzeug, beim Wandern und vieles mehr.

In der Berichterstattung wird die dual use-Fähigkeit der Signale häufig verschwiegen. Auch Raketen, Bomben und Marschflugkörper finden durch Satellitennavigation ins Ziel, die Fernsteuerung unbemannter Flugzeuge (Drohnen) wäre ohne die Signale nicht denkbar, und das Militär nutzt die Daten zur exakten Lokalisierung seiner Truppen. Dafür war es bisher auf GPS (global positioning system) angewiesen, entwickelt und betrieben vom US-Militär. Mit dem europäischen System soll sich das ändern.

Das rief die USA auf den Plan. Gemäß dem Motto „Für das US-Militär ist jedes Weltraumprogramm, das sie nicht selbst kontrollieren, eine Herausforderung für seine offizielle Politik, den Weltraum militärisch zu dominieren“11 und zum Schutz seiner eigenen Industrie insistierte Washington auf »Gesprächen«. Als absehbar war, dass Europa auf Galileo besteht, feilschten Verhandlungsdelegationen jahrelang an Präzisionsgraden, Frequenzen und Abschaltmöglichkeiten. Und im Endergebnis haben die Europäer bei diesen Verhandlungen verloren: Ursprünglich sollte Galileo Europa unabhängig von den USA machen. Das US-Militär kann nämlich je nach Bedarf entscheiden, in welcher Qualität und ob überhaupt GPS-Signale in bestimmten Regionen der Erde empfangbar sind. Jetzt wird das neue System seine Dienste für Nicht-Militärs nicht nur auf anderen, weniger geeigneten Frequenzen und mit geringerer Präzision abstrahlen als bislang geplant, die USA erhalten zusätzlich die Option, Galileo über einem Krisengebiet nach »Diskussion« mit den Europäern eigenmächtig zu stören. Die Brauchbarkeit der Galileo-Technologie wird damit für Industrie und kommerzielle Nutzer fraglich, die vorgesehene Investitionssumme – bis 3,6 Mrd. Euro – scheint pure Verschwendung.

Das System wirft aber noch ganz andere Probleme auf.

Internationale Zusammenarbeit ist von Europa gewünscht, entsprechend wurden zu Galileo Kooperationsabkommen mit China und Indien abgeschlossen. Damit sind aber auch Fragen der Rüstungskontrolle aufgeworfen. Schon kündigten die USA an, Technologietransfers Richtung China genau im Blick zu behalten und notfalls die Lieferung sensitiver Technologie an China zu verhindern.

Der Galileo-Vertrag mit Indien schließt von vornherein verschlüsselte Signale für Sicherheits- und Militäranwendungen aus. Indien hat daraus die Konsequenz gezogen und verhandelt parallel ein Abkommen mit Russland, das zivile wie militärische Anwendungen zulassen soll. Russland betreibt seit langem Glonass, das aufgrund von Satellitenausfällen allerdings nur bedingt einsatzbereit ist. Mit indischer Hilfe sollen 8-9 neue Glonass-Sateliten gestartet werden und dem System wieder auf die Sprünge helfen. So wird die Rüstungsspirale weiter gedreht.

Europäisch, aber auch national

Die militärische Nutzung des Weltraums durch die Bundeswehr reduziert sich aber nicht auf GMES und Galileo.

»SAR-Lupe« wird das erste satellitengestützte Radar-Aufklärungssystem Deutschlands. In Auftrag gegeben wurde es noch vom ehemaligen Verteidigungsminister Scharping – unter Verweis auf fehlende Aufklärungskapazitäten im Kosovo-Krieg – bei der Bremer Firma OHB-Systems, die mehrheitlich im Besitz der französischen Rüstungskonzerns THALES ist. Fünf baugleiche Kleinsatelliten sollen im Dienste der Bundeswehr die Erde rund um die Uhr bei jeder Tages- und Nachtzeit überwachen. Das System wird nach Aussage des deutschen Verteidigungsministers Struck „militärischen Forderungen nach … weltweiter Aufnahmefähigkeit“ gerecht. Die Realisierung dieses Projektes ist nach Struck „gleichzeitig die Voraussetzung für die Beteiligung an einem europäischen Verbundsystem der raumgestützten Aufklärung, in das die Partner Systeme mit unterschiedlicher Sensorik einbringen können.“12 Im Klartext heißt das, einzelne europäische Länder bringen unterschiedliche Satellitentechnologien in das Aufklärungs-Gesamtsystem ein, Frankreich z.B. seine optischen Helios-Satelliten.

»SATCOMBw« ist nach gescheiterten bi- und trilateralen Projekten ein neuer Versuch Deutschlands, ein satellitengestütztes System für die Kommunikation der Bundeswehr „in und mit weit entfernten Einsatzgebieten“ bereitzustellen. Stufe 1 ist bereits realisiert und nutzt zivile Satellitenkapazitäten, um Kommunikationsnetze für Auslandseinsätze bereit zu stellen. In Stufe 2 sollen die Daten über eigene Satelliten ausgetauscht werden. Bis zum Jahr 2013 sollen für dieses Vorhaben insgesamt 935 Mio. Euro bereitgestellt werden.13

Probleme, Triebkräfte und Rüstungswettlauf

Aus der militärischen Ausrichtung der Weltraumpolitik durch EU und ESA ergeben sich Probleme zwischen den Mitgliedsländern. Die Mitgliedschaft ist zwar großenteils identisch, aber nicht in jedem Fall. So sind die Schweiz und Norwegen Mitgliedstaaten der ESA, nicht aber der EU. Besonders bei den neutralen Eidgenossen dürfte die Zuarbeit der ESA für Militärvorhaben der EU nicht unbedingt auf Gegenliebe stoßen. Umgekehrt gehören Griechenland und Luxemburg zur EU, aber noch nicht zur ESA. Nach der Erweiterung der EU am 1. Mai 2004 klafft die Mitgliedschaft noch weiter auseinander.

Aus friedenspolitischer Sicht ist die Tatsache schwerwiegender, dass der massive Einsatz von Weltraumtechnologie für US-militärische Zwecke und die von den USA unverhohlen geäußerte Absicht, den Weltraum militärisch zu dominieren und auch die Stationierung von Weltraumwaffen zu realisieren, weltweit zu einer Rüstungsspirale im Weltraum führt.14 Auch für den ESA-Generaldirektor ist das US-Militär der Vergleichsmaßstab: „Die US-Luftwaffe … wird ihre Rolle im Weltraum konstant ausbauen und, sofern der momentane Schwerpunkt bei der Verteidigung beibehalten wird, [in vier Jahren] zur führenden Weltraumagentur der Welt.“15

Anstatt dieser Tendenz mit vereinter Kraft entgegen zu steuern, lässt sich Europa auf eine neue Rüstungsspirale ein. Denn – technische Machbarkeit und nötige Finanzen vorausgesetzt – wird technische Aufrüstung durch ein Land in der Regel von anderen Ländern oder Machtblöcken kopiert.

In diesem konkreten Fall führt die Dominanz der USA bei Weltraumsystemen, der Unwille der Washingtoner Regierung, die entsprechenden Kenntnisse mit den Bündnispartnern zu teilen, und das Streben nach militärischer Eigenständigkeit zum europäischen Wunsch nach verstärkter Nutzung von Weltraumtechnologien für das europäische Militärarsenal. Wie zuvor beim US-Militär, steigt damit die Abhängigkeit von genau diesen Systemen. Dann ist es nur noch ein Schritt bis zur Befürchtung, Satelliten seien ein lohnendes Ziel für etwaige Gegner – und zum Beschluss, diese mit Waffengewalt zu schützen. Ein Teufelskreis, aus dem es dann kaum noch einen Ausweg gibt.

Anmerkungen

1) ESA Strategy Department: Agenda 2007 – A Document by the ESA Director General. Noordwijk, Oktober 2003; http://esamultimedia.esa.int/docs/BR-213.pdf. Generaldirektor der ESA ist seit Juli 2003 Jean-Jacques Dordain.

2) Europäischer Konvent: Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Brüssel, 18. Juli 2003; Artikel III-210; http://www.europa.eu.int/futurum/constitution/index_de.htm.

3) Kommission der europäischen Gemeinschaften: Mitteilung der Kommission an den Rat und das europäische Parlament – Ein neues Kapitel der europäischen Raumfahrt. KOM(2000) 597 endgültig vom 27. September 200

4) Towards a Space Agency for the European Union. Report by Carl Bildt, Jean Peyrelevade, Lothar Späth to the ESA Director General. Vorgestellt am 9. November 2000 in Paris; http://esamultimedia.esa.int/docs/annex2_wisemen.pdf. Siehe dazu auch Regina Hagen und Jürgen Scheffran: Weltraum – ein Instrument europäischer Macht, Wissenschaft und Frieden 3/2001.

5) ESA Strategy Department, op.cit.

6) ESA und Istituto Affari Internatzionali: International Report on Space and Security Policy in Europe. Rom, November 2003;

7) ESA: European Space Policy Institute founded in Vienna. Pressemitteilung Nr. 80-2003 vom 26. November 2003.

8) Kommission der europäischen Gemeinschaften: Weissbuch – Die Raumfahrt: Europäische Horizonte einer erweiterten Union. Aktionsplan für die Durchführung der europäischen Raumfahrtpolitik. KOM(2003) 673 vom 11. November 2003; http://europa.eu.int/comm/space/whitepaper/pdf/whitepaper_de.pdf.

9) Kommission der europäischen Gemeinschaft, op.cit.

10) Eine Entschließung des [Europäischen] Rates zu GALILEO vom 5. April 2001 beispielsweise „weist darauf hin, daß GALILEO ein ziviles Programm unter ziviler Kontrolle ist“, http://europa.eu.int/comm/space/doc_pdf/council_galileo.pdf.

11) Dan Plesch: China’s space mission may clash with US. Dawn/The Guardian News Service, 17. Oktober 2003; http://www.dawn.com/2003/10/17/int14.htm.

12) Satellitenkommunikation für die Deutsche Bundeswehr – Ein Interview mit dem Bundesverteidungsminister Dr. Peter Struck. Raumfahrt Concret 4+5/2003.

13) Europäische Sicherheit online: Satellitenkommunikation der Bundeswehr. Dezember 2003; http://www.europaeische-sicherheit.de/Rel/2003_12/2003,12,umschau.html.

14) Zu den militärischen Weltraumplänen der USA siehe Regina Hagen und Jürgen Scheffran: Mit Weltraumwaffen gegen Teppichmesser? Das Streben der USA nach Dominanz im All. Wissenschaft & Frieden 1/2002. Die darin beschrieben Tendenz hat sich seither noch deutlich verschärft.

15) ESA Strategy Department, op.cit.

Regina Hagen ist Koordinatorin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) an der TU Darmstadt

Der andere Kriegsschauplatz

Der andere Kriegsschauplatz

Aspekte der EU-Handelspolitik

von Johannes Lauterbach

Das Augenmerk vieler zivilgesellschaftlicher Gruppen richtet sich aus aktuellem Anlass auf die Entwicklung der gemeinsamen EU-Militärpolitik. In einem anderen Feld, der Handelspolitik, ist die Ausbildung einer zentralen EU-Kompetenz durch den Vertrag von Nizza bereits erheblich weiter fortgeschritten. Johannes Lauterbach gibt einen Überblick über die handelspolitischen Aktivitäten der EU, insbesondere im Rahmen der 5. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Cancun.

Diese Aussage: „Die WTO ist eine mittelalterliche Organisation. … Sie ist nicht in der Lage ihre Aufgabe zu meistern,“ stammt nicht etwa von einem Freihandelsgegner. Mit diesen Worten kommentierte Pascal Lamy, EU-Handelskommissar, den Ausgang der gescheiterten WTO-Ministerkonferenz in Cancun.1 Unisono versuchten Lamy und sein Kollege, der US-Handelsbeauftragte Zoellick, die Schuld für das Scheitern der Verhandlungen denjenigen Ländern in die Schuhe zu schieben, die sich dem Diktat der beiden großen Handelsblöcke verweigert hatten.

Von Doha nach Cancun

Noch zwei Jahre zuvor, im November 2001 bei der 4. Ministerkonferenz in Doha/Quatar, war es den großen Handelsmächten2 gelungen, die Mitgliedstaaten der WTO zur Verabschiedung eines umfangreichen Arbeitsprogramms zu bewegen, um das Flaggschiff der neoliberalen Globalisierung nach dem Desaster in Seattle 1999 wieder in Fahrt zu bekommen. Vor dem Hintergrund des 11.September, fern von welt-öffentlicher Aufmerksamkeit in einem Land in dem Demonstrationen verboten sind, wurde den Delegierten in nächtelangen Geheimverhandlungen und nach einer informell beschlossenen Verlängerung der Konferenz die Zustimmung zur Abschlusserklärung abgerungen. Das Arbeitsprogramm wurde als »Doha-Entwicklungs-Agenda« deklariert, es sollte angeblich die Probleme der so genanntenen Entwicklungsländer bei der Umsetzung der WTO-Abkommen lösen. Insbesondere sollten die Vereinbarungen in dem für die Entwicklungs- und Schwellenländer wichtigen Agrarsektor überarbeitet werden. Im Gegenzug gaben die Entwicklungsländer widerstrebend die Zustimmung, bei der 5. Ministerkonferenz in Cancun über die Aufnahme von Verhandlungen über neue Abkommen, die »new issues«, zu beschließen.

»New issues« – Investorenschutz durch die Hintertür

Bei der Gründung der WTO 1994 waren einige Bereiche aus den Abkommen ausgespart worden, die als »new issues« (neue Themen) oder »Singapur Themen« bezeichnet werden: Investitionen, öffentliches Beschaffungswesen, Wettbewerb und Handelserleichterungen. Multilaterale Abkommen über diese Bereiche bergen die Gefahr einer weitgehenden Entmündigung der gewählten Regierungen und Parlamente, bei der Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Insbesondere gegen ein Investitionsschutzabkommen regte sich starker Widerstand bei der Mehrzahl der WTO-Mitgliedsländer und in der globalen Zivilgesellschaft, auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit einem solchen Abkommen im Rahmen der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA. Es sind dort etliche Fälle dokumentiert, in denen Regierungen von Investoren zur Änderung von Gesetzen gezwungen wurden, die sich für den Investor als Profit mindernd herausstellten.3 Bei einem Abkommen zu öffentlichem Beschaffungswesen, oder Wettbewerbsregeln, befürchten viele Entwicklungsländer den Verlust der verbleibenden Möglichkeiten, die heimische Wirtschaft durch öffentliche Aufträge, oder wettbewerbsrechtliche Besserstellung, zu unterstützen.4

Den Verhandlungen über diese Themen wird vom EU-Handelskommissariat hohe Priorität eingeräumt, obwohl innerhalb der EU-Mitgliedstaaten hierzu keine einhellige Meinung existiert. Umfragen europäischer NGO´s ergaben, dass das deutsche Wirtschaftsministerium die Linie des Kommissariats unterstützt, während z.B. in England diesen Themen geringere Bedeutung beigemessen wird.

Aufgrund des starken Widerstandes gegen die »new issues«, versuchte die EU eine Strategie des niederschwelligen Einstiegs. Es wurden Vorschläge für die Verhandlungsmodalitäten unterbreitet, bei denen keine deutliche Aussage über den Verhandlungsumfang gemacht wurde und beim Investitionsthema wurde eine Beschränkung auf Direktinvestitionen angeboten. Die USA winkte dagegen ab – dort war man nur an einem der NAFTA ähnlichen Abkommen interessiert und zog es vor, die Verhandlungen gegebenenfalls zu verschieben.

Vor und während der Cancun-Konferenz gab die Mehrheit der WTO-Mitgliedstaaten zu Protokoll, dass sie Verhandlungen über diese Themen nicht wollen, zuletzt am 12. September in einem Brief von 70 Staaten an den Vorsitzenden der Verhandlungsrunde. Am 13. September wurde vom WTO-Sekretariat der Entwurf einer Ministererklärung herausgegeben, der die Aufnahme von Verhandlungen zu allen vier »new issues« vorsah und im wesentlichen dem Vorschlag der EU entsprach.

»WTO kills farmers«

Am 10. September, kurz nach der Eröffnungszeremonie der WTO-Konferenz, nahm sich der koreanische Aktivist Lee Kyung Hae, während der Kundgebung der Bauernbewegungen vor den Absperrgittern in Cancun, das Leben. Diese drastische Demonstration rückte das Schicksal der Menschen in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in den so genanntenen Entwicklungs- und Schwellenländern ins Rampenlicht. Nach der, durch die WTO und andere Freihandelsabkommen, erzwungenen Öffnung der Märkte, mussten sie mit hochsubventionierten Agrarprodukten aus Ländern mit industrialisierten Agrarstrukturen konkurrieren und gerieten dadurch in eine Abwärtsspirale, an deren Ende für viele der Verlust des eigenen Bodens und der Lebensgrundlage stand. Das Versprechen an die Entwicklungsländer, durch Beitritt zur WTO Marktzugang in den reichen Ländern zu erhalten und dadurch vom Weltmarkt zu profitieren, wurde ins Gegenteil verkehrt.5

Das Agrarabkommen, das bei der Gründung der WTO 1995 in Kraft getreten ist, erlaubte der EU bisher, die umfangreiche Subventionierung des Agrarsektors aufrechtzuerhalten. Im Vorfeld der 5. Ministerkonferenz hatten die EU und die USA ein gemeinsames Verhandlungspapier zu den Agrarverhandlungen vorgelegt, in dem die Differenzen zwischen den beiden Handelsblöcken auf Kosten der Entwicklungsländer ausgeglichen wurden. Anstelle eines Verhandlungsangebotes mit klaren Aussagen über den Abbau der eigenen Subventionen, enthielt dieser kryptische Text Formeln über den Abbau von Zöllen, die zur Verschlechterung der Situation der Entwicklungsländer geführt hätten.6

In Cancun sahen sich dann die EU und die USA einem neuen Staaten-Block, der »G-20« gegenüber, dem einige der großen agrarexportierenden Schwellenländer, aber auch einige der so genanntenen »Least developed Countries« angehören. Dieser Block konfrontierte sie mit einem eigenen Vorschlag zur Reform des Agrarabkommens und trat mit der Devise auf: „Besser kein Abkommen als ein schlechtes Abkommen“.

Aber obwohl das Verhandlungsangebot der EU und der USA bereits im Vorfeld auf breite Ablehnung der Mehrheit der WTO Mitgliedsstaaten gestoßen war und mit dem »G-20«-Papier ein Gegenvorschlag vorlag, fand sich nahezu der identische Wortlaut der EU/US-Position im Entwurf der Ministererklärung wieder.

Welchen Teil des Wortes »nein« verstehen sie nicht?

Die Versprechungen von der »Entwicklungsrunde« hatten sich ins Gegenteil verwandelt. Zusätzlich zu den Widersprüchen im Agrarsektor und bei den »new issues« lagen auch noch Forderungen der EU nach weiterer Öffnung der Märkte für Industrieprodukte in den Entwicklungs- und Schwellenländern vor, deren Umsetzung nach Einschätzung Martin Khors vom Third World Network die De-Industrialisierung des Südens bedeutet hätten. Auch diese umstrittenen Forderungen waren im Entwurf der Ministererklärung vertreten, ein weiterer Beleg für die undemokratischen und intransparenten Strukturen der WTO – das Zustandekommen der Textentwürfe ist undurchschaubar, nur am Ergebnis kann abgelesen werden, welche Kräfte sich hier hinter den Kulissen erfolgreich betätigt haben.7

Am planmäßig letzten Konferenztag galt zunächst eine Verlängerung der Konferenz um mindestens ein bis zwei Tage als sicher. In der Nacht hatte der so genannte green room-Prozess begonnen, Verhandlungen, bei denen im kleinen Kreis die großen Handelsblöcke mit gezielt eingeladenen Staaten eine Lösung vorbereiten, die dann der gesamten Versammlung vorgelegt wird.

Aber es kam anders. Der mexikanische Vorsitzende Derbes steuerte die Verhandlungen so, dass zunächst die umstrittensten Fragen, die »new issues«, diskutiert wurden und stellte dann fest, dass es hierzu keinen Konsens gäbe und die Verhandlungen gescheitert seien. Erst in letzter Minute, als das Tischtuch schon zerschnitten war, zog Pascal Lamy die Reißleine und bot einen Kompromiss bei den »new issues« an, der aber am Ausgang nichts mehr änderte.

Bei einem NGO-Briefing am Mittag des letzten Tages verteidigten Vertreter der deutschen Delegation die EU-Linie noch zu einem Zeitpunkt, zu dem die Verhandlungen bereits auf Messers Schneide standen. Auf die Frage, wie dies mit dem Bundestagsbeschluss vom Juli vereinbar sei, in dem die Bundesregierung explizit aufgefordert wurde die »new issues« erst einzufordern, wenn die Belange der Entwicklungsländer angemessen berücksichtigt seien, wurde lediglich geantwortet, der Bundetagsbeschluss sei der deutschen Delegation bekannt.8 In der Diskussion wurde deutlich, dass die EU-Kommission das Nein der Entwicklungsländer zu den »new issues« als rein verhandlungstaktische Position missverstanden hatte und auch den Forderungen der »G20-Staaten« in der Agrarfrage keine Nachhaltigkeit beimaß.9

Unbeschadet dieser Vorgänge hält die EU noch immer an den »new issues« fest. Die neuen Vorschläge, die einhergehen mit Überlegungen zur Reform der WTO, beinhalten die Möglichkeit, diese Verhandlungen auch im plurilateralen Rahmen nur mit den »Willigen« zu führen, mit der Möglichkeit für die übrigen Staaten zu einem späteren Zeitpunkt dem Abkommen beizutreten, das dann allerdings ohne sie ausgehandelt wird.10 Die Strategie ähnelt den Ideen vom Europa der zwei Geschwindigkeiten.

Gegenwärtig versucht die EU, im Einklang mit den USA, aber im Widerspruch zu den Regeln der WTO und dem Willen der andern Mitglieder, eine weitere Ministerkonferenz noch 2004 auf den Weg zu bringen, um das ursprünglich geplante Abschlussdatum des Doha-Arbeitsprozesses im Januar 2005 noch zu erreichen.

Andere handelspolitische Schauplätze

Neben den Cancun-Verhandlungen ist die EU auf anderen handelspolitischen Schauplätzen aktiv. In Cancun spielten die WTO-Verhandlungen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) keine Rolle, obwohl diese für erhebliche Aufregung sorgten, als es NGO-Netzwerken gelang, die geheimen Verhandlungsforderungen der EU zu veröffentlichen. In diesen Forderungen ist erheblicher Sprengstoff enthalten. Insbesondere die Forderung an einige Entwicklungsländer, ihre Märkte für Wasserversorgung dem Wettbewerb zu öffnen, gibt, angesichts der verheerenden Erfahrungen mit der Kommerzialisierung der Wasserversorgung in vielen Teilen der Welt, Grund zur Sorge. Die EU ist Sitz einiger der weltweit größten Wasserkonzerne – z.B. Vivendi, RWE, Thames Water, Suez Lyonnais – , die seit langem in internationalen Institutionen, wie dem World Water Council, Lobby-Arbeit für private-public-partnerships als Lösung für Infrastrukturprobleme machen.11

Ein weiteres Feld sind die so genanntenen Economic Partnership Agreements, die auf Grundlage des Cotonou-Abkommens mit den AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik) verhandelt werden. Ein Vergleich dieser Verhandlungen mit den EU-Vorhaben in der WTO zeigt, dass hier eine mehrgleisige Strategie gefahren wird. Was im multilateralen Rahmen der WTO nicht durchsetzbar ist, wird im Rahmen bilateraler Abkommen mit schwächeren Partnern weiterverhandelt. So finden sich in den EPA-Verhandlungen u.a. Forderungen der EU nach einem Investitionsabkommen.12

Diese bilateralen Abkommen werden auf Grund der aktuellen Schwäche des WTO-Systems an Gewicht gewinnen, auch wenn sie nicht die Präferenz der Konzerne darstellen, die ein überschaubares, multilaterales System bevorzugen.

Schlussfolgerungen

Die EU strebt an, bis 2010 der wettbewerbsstärkste Wirtschaftsraum zu werden. Dies ist eine Zielsetzung die u.a. auf weit zurückreichende Einwirkungen einflussreicher Wirtschafts-Lobbygruppen, wie z.B. dem European Roundtable of Industrialists, zurückgeht, die sich aufgrund noch bestehender Beschränkungen im Binnenmarkt auch im globalen Wettbewerb gegenüber den USA und den Ostasiatischen Konkurrenten benachteiligt sehen. Diesem Ziel soll in Zukunft auch der Dienstleistungssektor im Rahmen der EU-Binnenmarktstrategie untergeordnet werden.13

Dieser Zielsetzung entspricht die aggressive Handelspolitik, die auf eine Verschärfung des globalen Wettbewerbs und auf einen weitreichenden Abbau der Schranken für die Aktivitäten europäischer Konzerne auch im außereuropäischen Raum hinausläuft. Dabei werden allerdings berechtigte Belange der Menschen in den Entwicklungsländern missachtet, wie sich etwa im Umgang mit den Ungerechtigkeiten im Agrarhandel zeigt. Auch die Versuche zur Liberalisierung der Wasserversorgung, des sensibelsten Gutes überhaupt, lassen erwarten, dass in Zukunft weltweite soziale Belange von der EU-Politik noch stärker in den Hintergrund gedrängt werden. Eine friedliche Weltordnung ist auf diesem Weg nicht zu erreichen.

Anmerkungen

1) Pressekonferenz am Nachmittag des 14.09.03. Die 5. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) fand in Cancun/Mexico vom 10.-14.09.2003 statt. Die Ministerkonferenzen sind das höchste Gremium der WTO.

2) Die 15 bisherigen EU-Mitgliedstaaten, zusammen mit den USA, Kanada und Japan teilen sich 80% des Welthandels. Sie bilden in der WTO die »Quad« (Vier).

3) siehe. hierzu den Fall »S. D. Myers gegen Kanada«, deutsche Übersetzung unter www.uwkw.de/cancunmaterial

4) siehe Martin Khor: Singapur issues – neue Gefahren für Entwicklungsländer und Nachhaltigkeit, Third World Network 2003, zur Position der Entwicklungsländer siehe CAFOD-Studie: The Singapure issues – what do Developing countries say, unter www.uwkw.de/cancunmaterial

5) Dass diese Zusammenhänge Bauern das Leben kosten, belegen u.a. Studien von Vandana Shivas Organisation Navdanya in Indien, die die seit einigen Jahren sprunghaft gestiegene Selbstmordrate unter verschuldeten Kleinbauern dokumentieren, siehe www.diversewomen.org/pdf_files/agriculture.pdf

6) siehe hierzu Martin Khor: Comment on the EC-US joint paper on agriculture in WTO, 14.08.03, Third World Network, www.twnside.org.sg

7) Zu den Methoden der Interessendurchsetzung in der WTO siehe Aileen Kwa: Power Politics at the WTO, Focus on the Global South 2003 sowie Corporate Europe Observatory (Hrsg.): The cunning bully, EU-bribary and armtwisting at the WTO, 2003.

8) BT Drucksache 15/1317, Sitzung vom 03.07.03, Punkt 11a.

9) Was genau zu dem überraschenden Ende führte ist allerdings unklar. Es gibt auch Spekulationen, die USA hätten die Verhandlungen hinter den Kulissen torpediert, um Zugeständnisse im Agrarsektor zu vermeiden, die innenpolitisch nicht durchsetzbar gewesen wären. In diesem Fall wäre die EU mit ihrer unrealistischen Position in eine Falle getappt. Zu den Vorgängen am Ende der Konferenz siehe Marc Maes: What happened in Cancun, www.ourworldisnotforsale.org/cancun.asp

10) z.B. Note of the EU Comission to the 133 committee, 30.10.03, Ref. 514/03

11) siehe hierzu Maude Barlow/Tony Clarke: Blaues Gold – Das globale Geschäft mit dem Wasser, Kunstmann Verlag 2003.

12) siehe z.B. Klaus Schilder: Stillstand oder Fortschritt, Zwischenbilanz nach einem Jahr EU-AKP Verhandlungen, WEED-online Publikation 2003.

13) EU-Kommission: Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt, vorläufige Fassung, 2003.

Johannes Lauterbach ist beim globalisierungskritischen Netzwerk Attac in der Regionalgruppe Stuttgart und in der bundesweiten AG Welthandel & WTO aktiv, er war bei den WTO-Ministerkonferenzen 2001 in Doha und 2003 in Cancun als Journalist akkreditiert

Schutz für Flüchtlinge oder Schutz vor Flüchtlingen?

Schutz für Flüchtlinge oder Schutz vor Flüchtlingen?

von Karl Kopp

Ein breites Bündnis aus Wohlfahrtsverbänden und Menschenrechtsorganisationen forderte Mitte Februar 2004 die rot-grüne Bundesregierung auf, ihren Versuch aufzugeben, die deutsche Drittstaatenregelung auf die EU-Ebene zu exportieren. Die Verbände sehen die Gefahr, dass elf Jahre nach der Grundgesetzänderung die Übernahme des deutschen Modells einer Drittstaatenregelung durch ein Europa der 25 den flüchtlingspolitischen GAU produzieren würde. Die potentiellen künftigen »sicheren Drittstaaten« hießen dann Russland, Weißrussland, Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Serbien, Kroatien, Mazedonien und Türkei – Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen immer noch an der Tagungsordnung und internationale Flüchtlingsrechtsstandards nicht vorhanden sind. Das wäre das Ende des individuellen Asylrechts in Europa. Karl Kopp untersucht die Trends in der europäischen Flüchtlingspolitik und setzt sich besonders mit der deutschen Position auseinander.

UN-Flüchtlingshochkommissar Ruud Lubbers warnte in einer Rede am 22. Januar 2004 vor dem EU-Rat für Justiz und Inneres vor einem Zusammenbruch des Asylsystems in den zehn Beitrittsstaaten der EU. Wenn Tausende zusätzlicher Asylsuchender von den alten EU-Staaten in die neuen auf Grund technokratischer EU-Zuständigkeitsregelungen zurückgeschickt würden, überfordere dies die kaum vorhandenen Asylsysteme in den Beitrittsstaaten. Lubbers kritisierte außerdem die derzeitige Fassung der EU-Asylverfahrensrichtlinie, die noch nicht verabschiedet ist. Sie enthalte weitgehende Möglichkeiten, Asylsuchende vom Verfahren ohne rechtliche Überprüfung auszuschließen – konkret in über 20 Kategorien von Fällen. Einen Abwärtstrend zu einem immer restriktiveren Asylrecht stellt Lubbers ebenso fest wie die Tatsache, dass Flüchtlinge es immer schwerer haben, überhaupt Schutz in Europa zu finden.

Folgen der Grenzabschottung

Offiziell kamen über 1.000 Menschen allein seit Anfang 2002 an den europäischen Außengrenzen ums Leben. Die tatsächliche Opferzahl liegt wesentlich höher. Flüchtlinge und Migranten sterben in den Minenfelder zwischen Griechenland und der Türkei, ertrinken in der Agäis, vor den Küsten Italiens, in der Meeresenge von Gibraltar und auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln. Die großen Flüchtlingstragödien, wie die Schiffsuntergänge im Mittelmeer, machen nur für kurze Zeit Schlagzeilen. Der Preis der Abschottung wird bei den europäischen Politikern abgebucht im Haushaltskapitel »Bekämpfung der illegalen Migration«. Dabei wird unterschlagen, welche Zustände die Menschen zwingen ihr Land zu verlassen, oft sind dies die Folgen von Bürgerkrieg, Diktatur, Entrechtung und extremer Armut.

Ohne Fluchthilfe kein Zugang nach Europa

Die Schließung der europäischen Außengrenzen entwickelt sich zu einem immensen Arbeitsbeschaffungsprogramm für kommerzielle Fluchthilfe. Diese findet häufig unter menschenverachtenden und lebensgefährdenden Bedingungen statt. Untersuchungen belegen, dass später anerkannte Flüchtlinge das Territorium der EU ohne den Rückgriff auf diese »Dienstleistung« nicht erreicht hätten. Die EU hat in den letzten Jahren fast alle legalen Zugangsmöglichkeiten zu ihrem Territorium verschlossen. Alle Herkunftsländer sind für die EU-Staaten visumspflichtig. Visa für Flüchtlinge gibt es aber nicht. Die EU verhindert jedoch nicht nur die legale und gefahrenfreie Einreise von Flüchtlingen. Seit Jahren arbeitet sie daran, illegale Grenzübertritte zu unterbinden. Dies geschieht mit einer Aufrüstung an den EU-Außengrenzen: Radartürme, Nachtsichtgeräte, Wärmebildkameras, Kohlendioxydsonden und vieles mehr kommen zum Einsatz. Man schließt mit möglichst allen Nachbar- und Herkunftsstaaten so genannte Rückübernahmeabkommen ab.

Politischer Roll back

Die Terroranschläge in den USA haben sowohl im EU-Kontext als auch in den Mitgliedstaaten zu einem politischen »roll back« geführt. Der 11.September 2001 hat das Bedürfnis nach Maßnahmen zum »Schutz der inneren Sicherheit« auf europäischer Ebene selbst bei EU-skeptischen Mitgliedsstaaten bestärkt. Antiterrormaßnahmen wurden innerhalb weniger Wochen verhandelt und beschlossen. Darunter fallen u.a. die Verschärfung der Einreisebestimmungen, Aktionspläne zur »Bekämpfung der illegalen Einwanderung«, die Schaffung eines gemeinsamen Visa- Identifikationssystems. Dies hat zwar alles nichts mit einem gemeinsamen Asylrecht zu tun, hat aber verheerende Auswirkungen auf den Flüchtlingsschutz.

Unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands soll jetzt eine gemeinsame Grenzschutzagentur aufgebaut werden. Auf dem EU-Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 bewilligten die Staats- und Regierungschefs knapp 400 Millionen Euro, um den europäischen Grenzschutz auszubauen und vor allem die Transit- und Herkunftsländer noch stärker in die Flucht- und Migrationskontrolle einzubeziehen. Die Flüchtlingsabwehr findet zunehmend bereits weit vor den Grenzen der EU statt.

EU-Asylzahlen im freien Fall

Laut UNHCR leben über 80 Prozent der aktuell zwölf Millionen Flüchtlinge weltweit meist unter katastrophalen Bedingungen in der jeweiligen Herkunftsregion. In der EU hat sich dagegen die Zahl der Asylanträge in den letzten zehn Jahren mehr als halbiert. 2003 wurden nur noch 288.000 Asylanträge gestellt – ein Rückgang von über 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In Deutschland sanken die Asylzugangszahlen im Jahr 2003 auf 50.000. Das ist der niedrigste Stand seit 1984. Einerseits ist das eine Folge der Politik der Abschreckung – Hochrüstung an den Außengrenzen, Entrechtung in Asylverfahren, Auslagerung des Flüchtlingsschutzes – andererseits stellen immer mehr Flüchtlinge gar keinen Asylantrag mehr, sie leben als »Illegalisierte« in Europa.

Seit Mai 1999 ringen die Innenminister der EU um gemeinsame Mindeststandards im Asyl- und Einwanderungsrecht. Die EU-Mitgliedstaaten verpflichteten sich, bis Mai 2004 in zentralen Feldern des Asylrechts Mindeststandards zu beschließen. Damit soll gemeinsames Recht geschaffen werden, wird der Prozess der Abgabe nationalstaatlicher Souveränitätsrechte – wahrscheinlich unumkehrbar – eingeleitet. Alle asylrechtlichen Beschlüsse gelten dann auch für alle künftigen EU-Mitgliedsstaaten und das Asylrecht des »Clubs der 25« wird weltweite Auswirkungen haben.

Pro Asyl und andere Menschenrechtsorganisationen sehen in verbindlichen europäischen Regelungen eine wesentliche Möglichkeit um zu verhindern, dass das Asylrecht weiter zwischen den Einzelinteressen der Mitgliedstaaten zerrieben wird.

Rückblick: Gute Ansätze aus Brüssel

Zwischen Dezember 1999 und September 2001 veröffentlichte die EU-Kommission u.a. Vorschläge zu Asylverfahren, zu sozialen Aufnahmebedingungen, zur Familienzusammenführung, zum Flüchtlingsbegriff und für ergänzende Schutzformen. Diese haben in Europa zum Teil für Aufregung gesorgt, weil Brüssel einen höheren Mindeststandard anstrebte als ihn der kleinste gemeinsame Nenner der Asylpraxis bot. Alle Initiativen der Kommission zeichneten sich aus durch hohe Schutzstandards bei minderjährigen Flüchtlingskindern, bei traumatisierten Flüchtlingen und Vergewaltigungsopfern.

Zur asylpolitischen Kardinalfrage: »Wer ist Flüchtling und wer braucht so genannten ergänzenden Schutz?« legte die Kommission einen Richtlinienvorschlag vor, der im Einklang mit der überwiegenden Staatenpraxis – allerdings im Widerspruch zur deutschen Praxis – explizit die Anerkennung von nichtstaatlicher Verfolgung vorsieht. Außerdem wurde klargestellt, dass die EU-Mitgliedsstaaten geschlechts- und kinderspezifische Formen von Verfolgung zu berücksichtigen haben.

Dieser Richtlinienvorschlag steht deutlich im Gegensatz zu der restriktiven Asylpolitik der 90er-Jahre.

Filettierung einer zukunftsweisenden Richtlinie

Der erste Richtlinienvorschlag vom Dezember 1999 gewährte Flüchtlingen einen Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung. Das in der EU übliche Nachzugsalter für Kinder unter achtzehn Jahren wurde aufgegriffen. Außerdem legte die EU-Kommission einen Familienbegriff zu Grunde, der auch nichteheliche und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften umfasst.

Dieser Vorschlag wurde dann aber Stück für Stück in mehrjährigen Verhandlungen unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands und Österreichs zerpflückt. Aus Rechtsansprüchen wurden im Laufe der Verhandlungen Dutzende von Kannbestimmungen. Erst der dritte Vorschlag der Kommission zur Familienzusammenführung war dann mit dem Entwurf des geplanten deutschen Zuwanderungsgesetzes kompatibel. Die mittlerweile beschlossene Richtlinie beinhaltet nach deutschem Drängen eine Ausnahmevorschrift, die eine Herabsenkung des Kindernachzugsalters von 18 auf 12 Jahre ermöglicht.

Asylrecht weiter in der Zange der Nationalstaaten

Diese Blockadepolitik einzelner Mitgliedsstaaten ist möglich, weil die Entscheidungsprozesse im Bereich Justiz und Inneres in einem fünfjährigen Übergangszeitraum – also bis Mai 2004 – weiterhin von den Schwächen und dem Demokratiedefizit der bisherigen zwischenstaatlichen Ebene geprägt sind. Alle asylrechtlichen Maßnahmen müssen einstimmig im Ministerrat angenommen werden. Die Beschlüsse des Parlaments bleiben weitgehend unberücksichtigt. Das Europäische Parlament besitzt nur ein Anhörungsrecht, kein Mitentscheidungsrecht. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat vorerst nur äußerst eingeschränkte Befugnisse. In der ersten Etappe der Vergemeinschaftung bleibt die Asylpraxis der Union weiterhin von nationalstaatlichen Partikularinteressen geprägt. Das alles blockierende Einstimmigkeitsprinzip kommt einem Vetorecht gleich und verhindert eine zügige, völkerrechtskonforme Vergemeinschaftung.

Deutsche Blockadepolitik

Die Bundesrepublik nimmt in dem Kreis der Blockierer Platz eins ein: Kein Land setzte sich so vehement für das alles blockierende Einstimmigkeitsprinzip ein und nutzt es so weidlich aus, um anvisierte höhere europäische Standards auf deutsches Niveau abzusenken.

Die Bundesregierung unter Helmut Kohl setzte bei den Verhandlungen über den Amsterdamer Vertrag das Einstimmigkeitsprinzip und das bloße Anhörungsrecht des Europäischen Parlamentes maßgeblich durch. Auf dem »Reformgipfel« in Nizza im Dezember 2000 verhinderte die rot-grüne Bundesregierung den automatischen Übergang zu Mehrheitsentscheidungen, zu realen Mitentscheidungsrechten des Europäischen Parlaments im Asylrecht. Deutschland setzte im Vertrag von Nizza als Bedingung durch, dass vorher in den einzelnen asylrechtlichen Bereichen Maßnahmen einstimmig beschlossen werden müssen.

Diese EU-skeptische Haltung prägt auch den bundesdeutschen Beitrag zu der künftigen Verfassung Europas. „Fragen der Einwanderungspolitik gehören zu den besonders sensiblen Bereichen der Innenpolitik,“ schrieb Außenminister Fischer im Sommer 2003 in den Erläuterungen zu seinem Veränderungsvorschlag bezüglich der künftigen EU-Einwanderungspolitik. Er forderte im Chor mit Stoiber, Schröder und Schily das Prinzip der Einstimmigkeit in der Einwanderungspolitik auch in der Europäischen Verfassung fortzuschreiben. Die Einreise zum Zwecke der selbstständigen und unselbstständigen Arbeitsaufnahme bleibt nach dieser Intervention in der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten. Damit hat die deutsche Verhandlungsführung erreicht, dass sich über Jahre hinweg keine gemeinsame Einwanderungspolitik der EU entwickeln wird.

Das Bundesinnenministerium mauert nahezu bei allen Vorschlägen der EU-Kommission und die CDU/CSU läuft Sturm gegen jede haarkleine, liberale Abweichung Brüssels vom bundesdeutschen Recht.

  • Seit Monaten blockiert die Bundesregierung – gegen alle anderen EU-Mitgliedstaaten – die Verabschiedung der Richtlinie zum Flüchtlingsbegriff mit dem Hinweis: Zuerst das bundesdeutsche Zuwanderungsgesetz – Europa muss warten. Deutsche Vorbehalte verhindern damit auch, dass endlich das Fundament eines europäischen Asylrechts gelegt werden kann.
  • Die anvisierten hohen europäischen Schutzstandards für Flüchtlingskinder erfuhren einschneidende Einschränkungen: Bei den Aufnahmebedingungen setzte Deutschland durch, dass unbegleitete Minderjährige bereits ab 16 in Aufnahmezentren für erwachsene Asylsuchende untergebracht werden können. Aktuell schraubt Deutschland in der Asylverfahrensrichtlinie den europäischen Standard bei der so genannten Verfahrensmündigkeit von 18 auf 16 Jahre herunter.
  • Die Bundesrepublik setzte ihre EU-weit einzigartige Einschränkung der Bewegungsfreiheit für Asylsuchende – die so genannte Residenzpflicht – als Kann-Bestimmung in der Aufnahmerichtlinie durch.
  • Deutschland verhinderte, dass EU-weit der Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylsuchende geregelt wurde. Der Bundeskanzler schaltete sich dafür höchstpersönlich ein – obwohl dieser Bereich eindeutig in EU-Kompetenz fällt und obwohl die Bundesrepublik bei der politischen Einigung im April 2002 zugestimmt hatte.

Großbritannien nutzte die bundesdeutsche Blockadepolitik als Steilvorlage und setzte eine weitere Veränderung der bereits beschlossenen Richtlinie durch: Künftig können allen Asylsuchenden, die nicht »unverzüglich« einen Antrag stellen, Sozialleistungen völlig verweigert werden.

Wettlauf der Schäbigkeiten geht weiter

Während über gemeinsame Standards gestritten wird, schaffen die Nationalstaaten neue Fakten. In nahezu allen Mitgliedstaaten gibt es grundlegende Änderungen im Asylrecht. Der Grundtenor: Schnellere Asylverfahren, mehr Lager, längere Abschiebungshaft, effizientere Abschiebungspraktiken, teilweiser oder völliger Ausschluss von Sozialleistungen usw. Mit den neuen Gesetzen kehren die Innenminister an den Brüsseler Verhandlungstisch zurück um den jeweils aktuellen Richtlinienentwurf weiter zu verwässern. Man inspiriert sich wechselseitig bei den Gesetzesverschärfungen und einigt sich auf EU-Ebene schnell und verbindlich auf Maßnahmen, die den Fluchtweg nach Europa versperren. In der ersten Etappe der Vergemeinschaftung bis Mai 2004 bewegt sich der Harmonisierungsgrad im Asylrecht nur knapp über null. Der europäische Flickenteppich im Asylrecht existiert auf absehbare Zeit weiter und bietet mannigfaltige Möglichkeiten in einem ungebremsten Wettlauf der Schäbigkeiten zwischen den Nationalstaaten, die noch jeweils existierenden höheren Standards nach unten anzugleichen.

Allianz gegen den Flüchtlingsschutz

Die Errungenschaft der Menschenrechtsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, die zivilisatorischen Antworten auf die Barbarei stehen zur Disposition. Die Genfer Flüchtlingskonvention war und ist auch eine Antwort auf die gescheiterte Flüchtlingskonferenz von Evian im Jahre 1938. Die Unwilligkeit der beteiligten Staaten, Verfolgten des Naziregimes Schutz zu gewähren, besiegelte das Schicksal vieler Menschen. Mit der Genfer Flüchtlingskonvention vollzog sich der Übergang von der Flüchtlingsaufnahme als einem Akt staatlicher Gnade zu einem individuellen Schutzanspruch für Flüchtlinge. Asyl bedeutet im Kern, Schutz der Flüchtlinge vor Zurückweisung und Abschiebung in den Verfolgerstaat, Gewährleistung des hierfür notwendigen Prüfungsverfahrens und eines menschenwürdigen Daseins. Die Konzeptionen, die auf EU-Ebene verhandelt werden, sind der Versuch, den Rechtsschutz für Asylsuchende in Europa weitgehend abzubauen und selbst Asylberechtigte nur noch nach politischer Opportunität und in geringen Zahlen aufzunehmen.

EU – weitgehend flüchtlingsfrei

Unter der zynischen Überschrift »Eine neue Vision für Flüchtlinge« haben der britische Premier Blair, sein Außenminister Straw und Innenminister Blunkett im Frühjar 2003 ein Modell vorgestellt, das das Asylrecht in Europa in seiner Substanz angreift. Die Idee: Flüchtlinge, denen es gelingt, europäischen Boden zu erreichen, sollen hier kurzfristig interniert und dann so schnell wie möglich in »Schutzzonen« in der Herkunftsregion zurückgeschafft werden, das heißt in große Flüchtlingslager. In allen Hauptherkunftsregionen von Schutzsuchenden will Großbritannien zusammen mit anderen Staaten solche Flüchtlingsreservate schaffen, z.B. in der Türkei, dem Iran, in Nordsomalia und Marokko.

In einer ersten Phase mit verschiedenen Pilotprojekten, die in diesem Jahr beginnen soll, fühlt man sich noch an die Maßstäbe der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention gebunden, mittelfristig aber soll auch über eine Veränderung der Genfer Flüchtlingskonvention und über eine Revision der Europäischen Menschenrechtskonvention nachgedacht werden. Das absolute Verbot der Europäischen Menschenrechtskonvention, jemand der Folter oder einer unmenschlichen Behandlung auszusetzen, soll nicht mehr gelten. Die britische »Vision für Flüchtlinge« zielt offensichtlich darauf, die EU weitgehend flüchtlingsfrei zu machen.

Im Sommer 2003 wurde diese britische Initiative auf EU-Ebene zunächst abgelehnt. Durch die Hintertür, schafft der aktuelle Richtlinienentwurf zum Asylverfahren jedoch die rechtlichen Grundlagen für eine Realisierung des britischen Vorschlags: Ein Asylsuchender könnte in ein beliebiges Drittland zurückgewiesen werden, ohne dass er dieses vorher jemals betreten hat. Selbst Staaten, die die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert haben, dürften als »sichere Drittstaaten« qualifiziert werden. Großbritannien setzte in den Verhandlungen durch, das auch Teilstaaten als »sicher« erklärt werden können. Nimmt man diese beliebigen Kriterien zusammen, ermöglicht der aktuelle Richtlinienentwurf eine weitgehende Auslagerung des Flüchtlingsschutzes in die unmittelbare Herkunftsregion oder gar in das Land des Flüchtlings.

Der deutsche Ansatz ergänzt dieses Asylverhinderungsprogramm. Exportiert die Bundesrepublik ihre »sichere Drittstaatenregelung« auf die EU-Ebene, werden die Beitrittsländer umgehend ihre nationalen Bestimmungen nach deutschem Vorbild verschärfen. Anstatt Hilfe zum Ausbau der immer noch prekären Aufnahmesysteme in den neuen Mitgliedsstaaten zu leisten, liefern die alten EU-Staaten ein Arsenal von Asylverweigerungsmaßnahmen. Die Nachbarregionen Europas werden diesem Beispiel folgen. Dieser Dominoeffekt gefährdet das existierende internationale Flüchtlingsschutzsystem.

Fazit

Nach knapp fünfjährigen Verhandlungen der EU-Innenminister fällt die asylpolitische Bilanz desaströs aus: Man gewinnt zunehmend den Eindruck, dass es bei der Debatte um ein gemeinsames europäisches Asylrecht nicht um den Schutz von Flüchtlingen sondern um den Schutz Europas vor Flüchtlingen geht, statt ein europäisches Asylrecht zu kreieren, gibt es eine kollektive Verantwortungsverlagerung für die Flüchtlingsaufnahme in Nicht-EU-Staaten und Herkunftsregionen. Die europäische »Harmonisierung« des Asylrechts lässt völkerrechtliche Standards außer Acht, fungiert als negatives Vorbild für andere Weltregionen und dokumentiert in erster Linie den gemeinsamen Unwillen, Flüchtlinge in der Europäischen Union aufzunehmen.

Die bittere Ironie: Die rot-grüne Koalition in Berlin hat maßgeblich diese verheerende Entwicklung forciert und gestaltet.

Karl Kopp ist Europareferent von PRO ASYL

Kultur der Prävention – Anspruch und Wirklichkeit

Kultur der Prävention – Anspruch und Wirklichkeit

Ziviles Konfliktmanagement in der europäischen Sicherheitspolitik

von Elisabeth Schroedter

Die EU hat in den letzten Jahren die politischen und militärischen Entscheidungsstrukturen zur Krisenbewältigung systematisch ausgebaut. Mit der neuen militärstrategischen Planung sollen jetzt offensichtlich die Voraussetzungen geschaffen werden, um den Entscheidungsstrukturen die militärischen Kapazitäten zur Durchsetzung an die Seite zu stellen. Elisabeth Schroedter schildert vor diesem Hintergrund die Entwicklungen auf dem Gebiet der zivilen Konfliktbearbeitung und geht der Frage nach, inwieweit diese als Ergänzung des militärischen Handelns oder aber als Alternative gesehen werden.

Mit dem Beschluss des Europäischen Rates in Köln 1999 haben die EU-Mitgliedstaaten Kriseneinsätze, wie sie die WEU als »Petersberg-Aufgaben«1 definierte, als Herzstück der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erklärt: „Im Hinblick darauf muss die Union die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten, sowie die Mittel und die Bereitschaft besitzen, deren Einsatz zu beschließen, um – unbeschadet von Maßnahmen der NATO – auf internationale Krisensituationen zu reagieren.“2 Im neuen Grundlagenvertrag von Nizza wird die qualifizierte Mehrheit ausgeweitet und die für das autonome Handeln bedeutsame politische und militärische Leistungs- und Entscheidungsstruktur offiziell eingesetzt. Das »Politische und Sicherheitspolitische Komitee« (PSK) erhielt die Funktion eines Krisenstabes bei entsprechenden Operationen. Neben »Militärausschuss« und »Militärstab«, zusammengesetzt aus Militärexperten der Mitgliedstaaten, wurden auch im Ratssekretariat Einheiten geschaffen, um die für die Krisenreaktion notwendigen politisch-militärischen Expertisen beizusteuern.

Die Dominanz des militärischen Arms in der ESVP

Verfolgt man die großen Reden zum Thema Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), scheint die Europäische Union im Moment mit allen ihren politischen Kräften damit beschäftigt zu sein, dieser Entscheidungsstruktur die entsprechenden militärischen Kapazitäten zur Seite zu stellen und in ersten Einsatzfeldern ihre Rolle als neue Militärmacht in der Welt zur Schau zustellen.

Entgegen des bisherigen Anspruches der Europäischen Union, sowohl sozialökonomisch als auch friedenspolitisch ein Gegenmodell zur führenden US-Politik darzustellen, folgt die Europäische Politik in den letzten Jahren stärker dem US-Prinzip und untermauert durch militärische Stärke ihre wirtschaftliche Führungsrolle in der Welt. Besonders Frankreich drängt auf eine von der USA unabhängige militärische Einsatzfähigkeit der Europäischen Union. Nun sei „die Union in der Lage, einige Operationen zur Krisenbewältigung durchzuführen“, hieß es in der Abschlusserklärung des Gipfels vom Dezember 2001 in Laeken, die fehlende parlamentarische Kontrolle für solche Einsätze ignorierend. Bestandsaufnahmen zum verfügbaren militärischen Gerät, den notwendigen Neuanschaffungen und der Mobilität der Truppe von 60.000 Soldaten prägten daraufhin die Beschlüsse zur ESVP. Zur Form der Gemeinsamkeit gibt es unterschiedliche Interpretationen. Was für die einen bereits die EU-Truppe darstellt, ist für die anderen der Zusammenschluss nationaler Truppenteile. Zudem ist ein Teil der Mitgliedstaaten der Meinung, dass nur mit der Zustimmung der NATO für den Zugang der EU zu ihren militärischen Möglichkeiten die reale Einsatzfähigkeit gegeben ist.

»Zivile Konfliktprävention«: Erfolge trotz Schattendasein

Ohne Zweifel steht das zivile Konfliktmanagement im Schatten der dynamischen Entwicklung der neuen Militärpolitik Europas. Trotzdem sind auch dort bedeutende Fortschritte zu verzeichnen, die vor einigen Jahren von FriedenspolitikerInnen zwar als notwendig erachtet, aber im politischen Alltagsgeschäft als chancenlos betrachtet wurden.

Maßgeblich haben dazu die finnische und die schwedische Präsidentschaft beigetragen. Die Regierungen hatten ein großes Interesse daran, um gegenüber der eigenen Bevölkerung zu beweisen, dass sie in der Lage sind, eigene Akzente in der ESVP zu setzen. Beide haben es geschafft, das zivile Konfliktmanagement der militärischen Dimension gleichzusetzen. Ihnen lag daran, dass auch hier Ziele festgelegt werden, die im Rahmen eines Aktionsplanes Aufträge an die jeweilige Präsidentschaft erteilen, über deren Umsetzung diese dann Bericht erstatten muss.

Finnischer Aktionsplan für ziviles Konfliktmanagement

Finnland entwickelte während seiner Präsidentschaft (2. Halbjahr 1999) den ersten Aktionsplan zur nichtmilitärischen Krisenbewältigung. Das finnische Konzept geht davon aus, dass es in erster Linie notwendig ist, die vorhandenen Erfahrungen bzw. beträchtlichen Ressourcen von Union und Mitgliedstaaten zu bündeln. Im vorgeschlagenen Aktionsplan wurden drei Ziele formuliert. Als Erstes sollten die vorhandenen nationalen und europäischen Instrumente verbessert werden, Überschneidungen vermieden und ihre Leistungsfähigkeit gesteigert werden. Die Finnen bezogen das nicht nur auf die staatlichen, sondern auch auf die zivilgesellschaftlichen Kapazitäten, also die der Nichtregierungsorganisationen (NROs). Außerdem lag der finnischen Regierung daran, die nichtmilitärischen Instrumente der EU sowie die Krisenarbeit der internationalen Organisationen, wie der Vereinten Nationen und der OSZE zu stärken. Autonome Aktionen der EU schlossen sie dabei nicht aus. Letztendlich lag der finnischen Präsidentschaft auch daran, die Krisenprävention in der EU als kohärentes Ziel aller Politikbereiche zu betreiben. Außenwirtschaftspolitik, Agrarsubventionen und Finanzhilfen sollten den politischen Präventionsstrategien in gleicher Weise unterworfen sein. Um diese Ziele zu erreichen, schlugen die Finnen mehrere Aktionen vor. Dazu gehörte auch der Vorschlag, einen Reaktionsmechanismus zu schaffen, um im Konfliktfall schnell personelle, materielle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung zu haben. Konkret gemeint war ein Sonderfonds bei der Kommission, der für Kriseneinsätze eingerichtet werden sollte. In einer Datenbank sollten die vorhandenen Instrumente und Kapazitäten erfasst werden, die im Krisenfall schnell zur Verfügung stehen. Eine Studie sollte die zukünftigen Fähigkeiten und Möglichkeiten der EU ermitteln, nichtmilitärisch auf Krisensituationen zu reagieren, z.B. die Fähigkeit, kurzfristig eine bestimmte Zahl von Polizeikräften zu verlegen und diese für einen bestimmten Zeitraum einsatzfähig zu halten. Das Konzept war vor allem geprägt durch die Erfahrung des Kosovo-Konfliktes, wo im Vorfeld der Eskalation die Staatengemeinschaft sich nicht in der Lage sah, der Bitte der OSZE um einen umfassenden Polizeieinsatz zu entsprechen. Auch in Bosnien-Herzegowina zog sich die Ablösung des Militärs durch eine zivile Ordnungsmacht hin, weil keine einsatzfähigen Polizeikräfte zur Verfügung standen. Deshalb schlug die finnische Regierung ihren EU-Kollegen ebenfalls vor, die Instrumente der zivilen Krisenreaktionsfähigkeiten einer Stärken-Schwächen-Analyse zu unterziehen und bewährte Verfahren untereinander auszutauschen. Sie wollte einen gemeinsamen Ausbildungsstandard entwickeln und bilaterale bzw. multilaterale Projekte auf dem Gebiet fördern. Die Finnen bestanden darauf, dass im Ratssekretariat neben den militärischen Organen auch ein permanenter Koordinierungsmechanismus für die nichtmilitärische Krisenintervention mit der Befähigung zu einem Ad-hoc-Koordinierungszentrum im Krisenfall aufgebaut wird.

Im Gegensatz zur militärischen Zusammenarbeit, die sich nicht über die Ebene der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit von Nationalstaaten hinaus bewegt, wurde der Europäischen Kommission im nichtmilitärischen Krisenmanagement eine zentrale Rolle zugeschrieben. Dadurch hat in der ESVP allein das nichtmilitärische Krisenmanagement einen wirklichen europäischen Charakter.

Schweden entwickelt europäische Kultur der Prävention

Die schwedische Präsidentschaft (1. Halbjahr 2001) nahm den Auftrag von Helsinki, die zivile Konfliktbearbeitung weiterzuentwickeln, sehr ernst. Schweden ging, wie auch die Finnen, davon aus, dass die EU durch die Kombination von ökonomischen, sozialen und politischen Instrumenten große Potentiale hat, diese aber nicht wirksam und zusammenhängend genug einsetzt. Schweden nahm die Zielsetzung der finnischen Präsidentschaft wieder auf und verlieh der Zusammenarbeit mit der OSZE und der UN im Konfliktmanagement stärkeres Gewicht. Die schwedische Präsidentschaft setzte gezielt auf die Zusammenarbeit mit NROs und bereitete mit Experten aus den Mitgliedsstaaten und einer internationalen NRO-Konferenz ein europäisches Programm zur Konfliktprävention vor. Welche Priorität die Schweden der Konfliktprävention einräumten, wurde bei jedem Treffen des Allgemeinen Rates deutlich, wo man stets dieses Thema auf der Tagesordnung fand. Auch der schwedische Abschlussgipfel von Göteborg beschäftigte sich mit dem zivilen Krisenmanagement. Zum ersten Mal wurden konkrete Ziele in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Zivilverwaltung und Bevölkerungsschutz festgelegt. Der Bericht der schwedischen Präsidentschaft forderte aber auch zum ersten Mal die Entwicklung neuer Instrumente und Modalitäten für die zivil-militärische Zusammenarbeit.

Im Vordergrund der schwedischen Präsidentschaft stand jedoch der Auftrag der portugiesischen Präsidentschaft (erstes Halbjahr 2000): das Aufstellen einer Polizeitruppe und einer Rechtsexpertengruppe für den langfristigen Nacheinsatz in den Konfliktherden des Balkans. Ziel war es, bis 2003 im Rahmen einer freiwilligen Zusammenarbeit bis zu 5.000 Polizeibeamte bereitzustellen, von denen 1.000 innerhalb von 30 Tagen einsetzbar sind. Die Kommission übernahm in dieser Zeit das WEU-Polizeiprogramm in Albanien. Ferner brauchte man eine Kerngruppe von 200 Experten für den Bereich Rechtsstaatlichkeit. Für die Expertenreserve, die ein breites Aufgabenspektrum in der Zivilverwaltung abdeckt, sollte von den Mitgliedstaaten im Bereich Zivil- und Katastrophenschutz ein Pool gebildet werden, aus dem innerhalb von drei bis sieben Stunden zwei bis drei Evaluierungsteams gebildet und in Konfliktregionen entsandt, sowie kurzfristig einsetzbare Interventionsteams von bis zu 1.500 Personen gebildet werden können. Die ministerielle Beitragskonferenz für die zivile Krisenbewältigung vom 19. November 2002 hat später bestätigt, dass diese Zielvorgaben dank der freiwilligen Zusagen der Mitgliedstaaten sogar überschritten werden konnten. Auch dieses Ergebnis ist auf das Engagement der schwedischen Regierung zurückzuführen. Sie hatte im Abschlussdokument des Gipfeltreffens von Göteborg jeden Mitgliedstaat aufgefordert, nationale Pläne zur Umsetzung der gemeinsamen Vorhaben des zivilen Konfliktmanagements zu erarbeiten.

Die erste EU-Polizeimission in Bosnien und Herzegowina (EUPM) begann am 1. Januar 2003 und ist bis Ende 2005 geplant. Sie löste die Internationale Polizeieinsatztruppe der Vereinten Nationen (IPTF) ab. Alle EU-Mitgliedstaaten beteiligen sich daran und arbeiten mit 18 weiteren Staaten zusammen. Der internationale Polizeieinsatz soll die Rechtsstaatlichkeit und den Aufbau der demokratischen Strukturen in Bosnien und Herzegowina stabilisieren. Dank der schwedischen und finnischen Vorarbeit ist die allererste gemeinsame Operation, welche die EU-Mitgliedstaaten zustande brachten, und welche damit Quelle der Erfahrungen sein wird, ein ziviler Einsatz.

Am 15. Dezember 2003 begann die vorerst für ein Jahr geplante EU-Polizeimission (EUPOL) »PROXIMA« in Mazedonien, die den Aufbau eines effizienten und professionellen Polizeidienstes unterstützen und die Einführung europäischer Standards für die Polizeiarbeit fördern soll.

Kommission entwickelt Konzepte

Der Kommission wurde durch den finnischen Vorschlag eine wichtige Rolle in der nichtmilitärischen Krisenprävention eingeräumt, die der verantwortliche Kommissar Patten aufgenommen hat. Immer wieder stellte er vor dem Parlament die bekannte Tatsache heraus, dass es weitaus billiger ist, Konflikte in Dialog und konstruktives Handeln umzulenken, als sich, nachdem sie in gewaltsame Auseinandersetzungen ausgeartet sind, mit ihren Folgen zu befassen.

Während der schwedischen Präsidentschaft war die Kommission fest entschlossen (so geht es aus ihrer Mitteilung zur Krisenprävention hervor), die Gemeinschaftsinstrumente wirkungsvoller für Konfliktprävention einzusetzen und zu koordinieren. Sie plante, die Hilfsprogramme gezielter zur Beseitigung von Ursachen für Konflikte und zivilen Unfrieden einsetzen. Im Rahmen ihrer Kompetenz im Außenhandel setzte sie sich für internationale Sanktionen zur Eindämmung der Verbreitung von Kleinwaffen, gegen Diamanten- und Drogenhandel, sowie gegen den Einsatz von Kindersoldaten ein. Handels- und Kooperationsabkommen sollten ebenso wie Instrumente aus den Politikfeldern Justiz und Inneres, Migration, Soziales oder Umwelt dem Präventionsziel untergeordnet werden. Der in dem Dokument ebenfalls vorgeschlagene Kriseneinsatzmechanismus für eine raschere Mobilisierung der Gemeinschaftsinstrumente wurde inzwischen geschaffen.

Parlament entwickelt „zivilen Friedenskorps“

Dem Europäischen Parlament werden in der Außen- und Sicherheitspolitik keine Rechte eingeräumt. Um Einfluss zu nehmen, muss es allein auf die öffentliche Wirkung seiner Plenardiskussionen und Vorschläge setzen. In seiner Resolution zum Kommissionsdokument hatte es die verfehlte Handelspolitik der Union (mit Zollschutz und Agrarexportbeihilfen) angeprangert und ein Präferenzsystem zur Unterstützung der armen Länder gefordert. Ziel der Europäischen Außenbeziehungen müsste eine nachhaltige Strukturpolitik sein. Auch sollten die Wirtschafts- und Migrationspolitik dem Präventionsziel untergeordnet werden. Zu weiteren Kernforderungen gehörte der Stopp der Waffenexporte in potentielle Konfliktregionen, der Aufbau eines gemeinschaftlichen Frühwarn- und Analysesystem, die Forderung nach Zusammenarbeit mit den Vertretern der zivilen Gesellschaft, der Koordination von EU-Initiativen mit den Maßnahmen von OSZE und UN sowie die Einrichtung eines Zivilen Friedenskorps.

Letzteres geht auf ein Konzept der Grünen Fraktion zurück, welches im Jahr 1999 vom Europäischen Parlament beschlossen wurde. Vorgesehen ist eine Art Personalpool von zivilen Inspektoren, Vermittlern und Spezialisten, die nach entsprechender Schulung im Bereich der Konfliktbeilegung kurzfristig als Unterstützer oder Mediatoren in Konfliktregionen eingesetzt werden können. Zum Beispiel gibt es NROs in den Mitgliedsstaaten (auch mit internationalen Teams), welche bereits in verschiedenen Regionen Erfahrungen in der Friedensarbeit vor Ort gesammelt haben. Für die Startphase eines Friedenskorps würde die Vernetzung und Verbesserung der Einsatzfähigkeit dieses Personals ausreichen. Ein wichtiger Teil dieses Konzeptes, das gemeinsame Trainingsprogramm für das Personal im operativen Einsatz, wurde 2003 von der griechischen Präsidentschaft als „wesentliches Instrument der europäischen Sicherheitskultur“ übernommen und stellte für die Union das Ziel auf, ab Juli 2003 mit der Ausbildung von 250 Experten zur Beratung beim Aufbau ziviler Verwaltungen zu beginnen.3 Im Oktober 2003, während der italienischen Präsidentschaft, wurde in Rom auf einer ersten EU-Konferenz beraten, wie die Instrumente, die der EU auf dem Gebiet der Ausbildung in Bezug auf die zivilen Aspekte der Krisenbewältigung zur Verfügung stehen, konkret verbessert werden können.

Im Bereich der Haushalts-, Außenhandels- und Wirtschaftspolitik ist der Einfluss des Parlaments größer. Das geht soweit, dass bei dem mit Haushaltfragen verbundenen schnellen Kriseneinsatzmechanismen das Parlament zustimmen muss.

Verlust der Eigenständigkeit

Das Trauma des 11. Septembers führte dazu, dass die spanische Präsidentschaft (1. Halbjahr 2002) den Ausbau der Kapazitäten der EU-Spionagedienste, einschließlich dem europäischen Satellitensystem »Galileo«, zum wichtigsten Ziel der Konfliktprävention erklärte. Institutionell sollte die Aufgabe einer effektiven Frühwarnung nun nicht mehr der Kommission überlassen werden, sondern wurde dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee des Rates (PSK), welches ebenfalls für die politische Koordination der militärischen Einsätze zuständig ist, übertragen. Nach dem spanischen Konzept sammeln das PSK und die geografischen Arbeitsgruppen des Rates die Überwachungsergebnisse, prüfen die potentiellen Auswirkungen eines etwaigen Konflikts auf die EU-Mitgliedstaaten und bereiten aus diesen Erkenntnissen strategische Beschlüsse vor. Die griechische Präsidentschaft (1. Halbjahr 2003) berichtete später davon, dass seine Frühwarneinrichtungen, zu denen auch die Militärexperten gehören, eine Frühwarnmethodik entwickelt haben, in welche auch die Kommission eingebunden ist. Ihr obliegt die Arbeit einer »Sekretärin«, indem sie ihre Länderberichte beisteuert. Mit diesen strukturellen Veränderungen zwischen Rat und Kommission wurde der zivile Arm des Konfliktmanagements stärker mit dem militärischen verzahnt.

Insgesamt ist in den letzten beiden Jahren eine Konzentration der zivilen Instrumente auf die vier vorrangigen Bereiche Polizei, Rechtsstaatlichkeit, Zivilschutz und Zivilverwaltung zu beobachten. Die zivilen Mechanismen werden allein auf das »Aufräumen« nach Kriegen und anderen militärischen Auseinandersetzungen ausgerichtet. Auch die dänische Präsidentschaft (2. Halbjahr 2002) widmete sich überwiegend der Koordinierung der zivilen und militärischen Instrumente als Konfliktmanagement und erarbeitete dafür einen Aktionsplan. Während ihrer Zeit fand die erste Koordinationskonferenz zu Konfliktprävention unter dem Titel »Partner in der Prävention« im August 2002 in Helsingborg/Schweden statt. Die EU holte die Diplomaten der UN, der OSZE, des Europarates und der NATO an einen Tisch. Für die gemeinsame Arbeit der Organisationen auf dem Balkan oder in anderen Konfliktgebieten ist die Koordinierungsarbeit der Europäischen Union zwischen den internationalen Organisationen von großer Bedeutung.

Positive Bilanz und doch Straßenkehrer

Die Union verfügt inzwischen über einsatzfähige Instrumente eines zivilen Krisenreaktionsmechanismus. Auf institutioneller Ebene hat der Rat Koordinierungsorgane geschaffen: das Politische und Sicherheitspolitische Komitee, dem ein Ausschuss – verantwortlich für die zivilen Krisenmanagementmechanismen und die Kapazitäten der Gemeinschaft – an die Seite gestellt wurde, sowie Koordinationsmechanismen zwischen Rat und Kommission. Während der italienischen Präsidentschaft (2. Halbjahr 2003) hatte der Rat die Leitlinien für die Finanzierung von zivilen Krisenbewältigungsoperationen beschlossen. Für die vier Schwerpunkte der Reaktionsfähigkeiten wurden die Datenbanken über die vorhanden Kapazitäten fertig gestellt. Auf der Kapazitätenkonferenz konnte festgestellt werden: Es gibt ausreichend Einsatzkräfte, um für zivile Krisenreaktionsaufgaben handlungsfähig zu sein. Die Union hat inzwischen bewiesen, dass sie in der Lage ist, operative Polizeieinsätze zu planen und zu führen. Die vor vier Jahren anvisierten Kapazitäten für einsatzfähige Polizeieinheiten sind mit 1.400 Polizisten übererfüllt. Elemente für gemeinsame Trainingseinheiten wurden beschlossen, und während der italienischen Präsidentschaft wurde eine erste gemeinsame Übung »Lucerna 03« durchgeführt. Während der irischen Präsidentschaft (1. Halbjahr 2004) soll eine ähnliche Übung in Frankreich stattfinden. Um zu gewährleisten, dass die Standards der Mitgliedstaaten übereinstimmen, wurde für das Personal der Polizeimissionen unter Rückgriff auf UN-Erfahrungen ein Handbuch verfasst.

Im Bereich der Zivilverwaltung ist geplant, auch einen Personalpool, besonders für die Unterstützung lokaler Verwaltung von Gebietskörperschaften und die Wahldienste zu schaffen.

Die Europäische Sicherheitsstrategie weist dem zivilen Konfliktmanagement seinen Platz zu: „in der Zeit nach Beilegung des Konfliktes können aber auch militärische Mittel und eine wirksame Polizeiarbeit vonnöten sein. Wirtschaftliche Instrumente dienen dem Wiederaufbau und ziviles Krisenmanagement trägt zum Wiederaufbau einer zivilen Regierung bei.“4 Der breite Präventionsansatz, den auch das Parlament verfolgt hatte, wird hier auf Reaktionsmechanismen reduziert. Meines Erachtens nach ist das eine zu verengte Sicht des zivilen Konfliktmanagements, welches die präventiven Möglichkeiten außenpolitischen Handelns zunehmend aus dem Blick verliert.

Anmerkungen

1) Die Petersberg-Aufgaben sind definiert als humanitäre Aufgaben, Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben und Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedenschaffender Maßnahmen.

2) Europäischer Rat: Anhang III der Schlussfolgerungen des Rates, Tagung des Europäischen Rates, 3. und 4. Juni 1999 in Köln.

3) Presidency to COREPER/Counsil: »Implementation of the EU Programme for the Prevention of Violent Conflicts – Draft conflict prevention report«, Council of the European Union 10189/03, Brussels, 10 June 2003.

4) Europäischer Rat: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel, den 12. Dez.2003.

Elisabeth Schroedter ist Mitglied der Grünen Fraktion des Europa Parlaments

Quo vadis Europa?

Quo vadis Europa?

Andreas Zumach im Interview

von Andreas Zumach und Regina Hagen

Die Europäische Union hat demnächst 25 Mitglieder und es sieht so aus, als ob mit der wachsenden Zahl auch die Differenzen zwischen den Regierungen der Mitgliedsländer zunehmen würden. Das zeigte sich besonders deutlich in den Auseinandersetzungen um den Irakkrieg, wird aber auch in der Diskussion um eine europäische Verfassung sichtbar. Gleichzeitig wächst die Konkurrenz zwischen der EU und den USA. In dieser Situation bekommt die Debatte über ein »Kern-Europa«, einen engeren Zusammenschluss der Länder, die »schneller vorangehen möchten«, eine neue Bedeutung. Andreas Zumach im Gespräch mit Regina Hagen über die transatlantischen und innereuropäischen Probleme sowie über den künftigen Weg Europas.

W&F: Aus Anlass des Irak-Kriegs wurden Differenzen sichtbar zwischen den Regierenden zahlreicher EU-Staaten und der großen Mehrheit der Bevölkerung einerseits und der US-Regierung andererseits …

Zumach: … Es ist zu differenzieren zwischen dem Widerspruch, der von bestimmten Regierungen formuliert wurde und dem der Friedensbewegung. Der Widerspruch der Regierung Schröder z.B. war kein grundsätzlicher zum Krieg als Mittel der Politik, es war ein Widerspruch zu diesem Krieg mit diesen US-Interessen; er kam auch erst zu einem Zeitpunkt, als der Bundeskanzler sich davon eine Hilfe für den Wahltag am 22. September versprach. Im Mai 2002 hatte Herr Schröder noch Herrn Bush signalisiert, dass man die Absichten der USA mit Blick auf Irak nicht kritisieren werde, solange die USA nicht von Deutschland die Entsendung von Bundeswehrsoldaten erwarte. Das hatte Bush damals zugesichert und von daher war die Positionierung Schröders Anfang August 2002 eine böse Überraschung für die Bush-Administration. Der Widerspruch, der sich am 15. Februar 2003 auf der Strasse manifestiert hat und der an die Friedensbewegung der 80iger Jahre erinnerte, ist der viel grundsätzlichere Widerspruch gegen den Krieg …

W&F: … trotzdem eine punktuelle Überweinstimmung.

Zumach: Ja, aber das beinhaltet auch Gefahren. Die Entwicklung zeigt, dass der Widerspruch der Straße inzwischen zum Teil instrumentalisiert und missbraucht wurde für einen Euronationalismus. Aus der positiv besetzten Absicht, sich von den USA ein Stück weit zu emanzipieren, wurde zunehmend »Honig gesogen« für die Militarisierung EU-Europas. Diese Brisanz hat die Friedensbewegung viel zu lange nicht erkannt. Ich erinnere an den großen Kongress der »Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg« im Dezember 2000. Damals habe ich auf einem Podium mit Egon Bahr, Richard von Weizsäcker und Ernst Otto Czempiel dieses Thema bewusst angesprochen, da ich vermutete, dass die anderen drei im Grunde dafür sind, dass sich EU-Europa auch militärisch emanzipiert. Es gab damals eine heftige Debatte, aber in der Friedensbewegung wurde das Thema nicht nachhaltig diskutiert. Inzwischen sind wir drei/vier Jahre weiter und es sind massive Fakten geschaffen worden, die ja weitgehend bekannt sind. Mit dem jetzt vorliegenden EU-Verfassungsentwurf wird noch mal eine neue Qualität im negativen Sinne erreicht, erstmals in der modernen Verfassungsgeschichte wird hier Aufrüstung als Verfassungspflicht festgeschrieben.

W&F: Sieht man sich die Spaltung innerhalb der Europäischen Union in der Irakkriegsfrage an, stellt sich die Frage nach der Handlungsfähigkeit. Welches Gewicht kann Europa auf absehbare Zeit in die Weltpolitik einbringen?

Zumach: Die Spaltung hat ja verschiedene Ebenen. Da sind zum einen die Differenzen zwischen dem so genannten Alten Europa und dem so genannten Neuen Europa. Aber auch zwischen den Ländern des »Alten Europa« und innerhalb dieser Länder gibt es deutliche Differenzen. Nehmen wir nur Deutschland: Ich habe es bereits angesprochen, zwischen dem grundsätzlichen Nein der Friedensbewegung zu diesem Krieg und dem opportunistischen Nein der Regierung Schröder/Fischer liegen Welten. Die Regierung hat schließlich alles, was Washington als Unterstützungsleistungen eingefordert hat, erfüllt: Logistische Unterstützung, Überflugrechte, Nutzung von militärischen Anlagen auf deutschem Boden, Lieferung von Patriot-Raketen an Israel und die Türkei, Belassung der Fuchs-Spezialpanzerverbände in Kuwait, Begleitschutz für amerikanische Kriegsschiffe durch die deutsche Marine usw. An Bundeswehrsoldaten hatte Washington nie Interesse, das war eine inszenierte Debatte für die Öffentlichkeit.

Spannender ist da schon, dass – erstmals, soweit ich weiß – eine Spaltung quer durch die deutsche Wirtschaft ging. Der Teil der Wirtschaft, der zum Teil aus früherer intensiver Wirtschaftstätigkeit im Irak noch Verbindungen hatte und der existierende Vorverträge nicht verlieren wollte, unterstützte die Linie des Kanzlers. Ein anderer Teil befürchtete durch das Nein des Kanzlers erhebliche Belastungen für das deutsch-amerikanische Verhältnis und wandte sich deshalb gegen den Regierungskurs.

W&F: Kommen wir zurück zur Frage nach den Differenzen zwischen den Ländern .

Zumach: Das, was viele Journalisten leichtfertig als die neue Achse Moskau-Berlin-Paris bezeichnet haben, war ein zeitlich befristetes Zweckbündnis. Es gab eine gewisse Schnittmenge gemeinsamer Interessen, aber das war kein auf Dauer angelegtes Friedensbündnis. Was die Differenzen zwischen der »Koalition der Willigen« und den Kriegsgegnern betrifft, so liegen diese auf der Hand. Ich denke, dieser Konflikt hat auch eine positive Seite: Das damit verbundene nicht einheitliche Handeln bremst zuerst einmal den Militarisierungszug. Allerdings ist die andere Dynamik schon sichtbar: Die Interessenkonflikte zwischen Gesamteuropa – zumindest der gesamten EU inklusive der Neuen – einerseits und den USA andererseits werden wachsen. Wenn wir uns nur das Thema Energiereserven anschauen und die bekannten Fakten wirklich ernst nehmen, wenn wir uns ansehen wie lange die Gas- und Ölvorräte noch reichen, wenn wir so weitermachen wie bisher, dann ist der Konflikt um den Zugriff auf diese Ressourcen vorprogrammiert. Wenn die Abhängigkeit von Öl und Gas nicht dramatisch reduziert wird, dann bewegen wir uns auf Konflikte zu, die möglicherweise noch zu unseren Lebzeiten zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen der EU und den USA führen können.

W&F: Ein Krieg um Energieressourcen zwischen Europa und den USA? Ist das wirklich denkbar?

Zumach: Ich denke nicht an direkte militärische Zusammenstöße sondern eher an Auseinandersetzungen in den Konfliktgebieten Kaukasus oder Naher Osten, die über örtliche Konfliktparteien geführt werden oder aber auch unter Verwicklung eines dritten Akteurs, z.B. Russlands.

W&F: Stehen dem nicht doch die zahlreichen transatlantischen Gemeinsamkeiten entgegen?

Zumach: Für mich gibt es fünf Grundpfeiler des transatlantischen Verhältnisses nach 1945: Erstens der gemeinsame Feind, die Sowjetunion. Ob zu Recht oder zu Unrecht lassen wir mal dahingestellt, dieses Feindbild war schließlich der Gründungskick für die NATO. Zweitens die gemeinsame Geschichte. Die Besiedlungsgeschichte der neuen Welt war wesentlich eine europäische Besiedlungsgeschichte. Drittens die gemeinsamen universellen Werte, wie sie nach dem zweiten Weltkrieg und dem Holocaust entstanden sind, etwa in Form der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte und der Genozidkonvention. Viertens die im engeren Sinne westlichen Werte. Dazu zähle ich unser westliches Demokratiemodell, aber vor allem natürlich auch das gemeinsame transatlantische Interesse an einer kapitalistischen Wirtschafts- und Wohlstandsordnung. Der fünfte Pfeiler, das ist jetzt der entscheidende, war das gemeinsame Bewusstsein, der Glaube und heute im Rückblick können wir sagen, die Naivität, dass es für diese kapitalistische Gesellschafts- und Wohlstandsordnung auf Dauer unbegrenzte und auch stets preiswerte Energiereserven gäbe.

Dieses Bewusstsein, oder dieser Glaube, ist während der so genanntenen Ölpreis-Krise von 1974 erstmals leicht angeknackst worden. Die Krise wurde aber hüben und drüben des Atlantiks unterschiedlich verarbeitet, und damit beginnen nach meiner Analyse die Haarrisse im transatlantischen Verhältnis: In den USA gab es – mit der Ausnahme einiger weniger Jahre während der Carter-Regierung – nicht einmal Ansätze in Richtung Energie sparen. Sie setzten und setzen auf das Militär zur Sicherung des Zugriffs auf die Energieressourcen. In Europa wurden die Weichen etwas anders gestellt. Heute verbrauchen die USA bei einen Weltbevölkerungsanteil von 4,3% etwa 25% des Öls. Europa mit einem Weltbevölkerungsanteil von 6,8% verbraucht knapp 11%. In Deutschland lag der durchschnittliche Benzinverbrauch pro Auto im Jahr 2003 bei etwa 8,1 Liter auf 100 km, in den USA lag er bei etwa 16,2 Liter, also das Doppelte. In beiden Fällen war die Schere in den 1970iger Jahren längst nicht so weit.

Damit sage ich nicht, dass wir grundsätzlich alles anders und besser gemacht haben. Bei einem grundsätzlichen Umsteuern wäre viel mehr drin gewesen, technisch ist ja z.B. auch das 4-Liter-Auto machbar.

W&F: Die Energiefrage als zentrale Frage für Krieg und Frieden? Wird da nicht die ökonomische Frage etwas zu sehr verabsolutiert?

Zumach: Ob wir die Abhängigkeit von Öl und Gas senken können, indem wir heute die notwendigen Weichen stellen in Richtung Förderung regenerativer Energien, das scheint mir die zentrale Frage zu sein, die Frage, die auch über Krieg und Frieden in den nächsten dreißig/vierzig/fünfzig Jahren entscheiden wird. Daneben gibt es natürlich noch viele andere Probleme, die gelöst werden müssen. Ich denke z.B. an unsere Wirtschaftsbeziehungen mit dem Süden. Wir brauchen eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung. Ich halte es auch für notwendig, dass die Europäer sich aus dem US-geführten »Krieg gegen den Terrorismus« zurückziehen und klar sagen, dass dieser Krieg das Problem des Terrorismus nicht löst sondern eher verschärft – mal ganz abgesehen von den damit verbundenen Verstößen gegen das Völkerrecht.

W&F: Welche Mittel, welche Kapazitäten, welches Wissen hat die EU, hat Deutschland zur zivilen Konfliktbewältigung?

Zumach: Wenn unser Außenwirtschaftsverhalten gegenüber bestimmten Staaten und bestimmten Regionen sich verändern würde, wäre das wahrscheinlich der wesentlichste Beitrag, um diese Länder zu stabilisieren. Nehmen wir z.B. die Agrarsubventionspolitik der EU. Jede EU-Kuh wird mit mehr als 2$ pro Tag subventioniert, das ist mehr Geld als über 3,3 Milliarden Menschen dieser Welt täglich zur Verfügung haben. Diese Subventionspolitik führt dazu, dass wir Überschüsse produzieren, die dann erneut subventioniert auf den Weltmarkt geworfen werden. Das zerstört dann u.a. die Lebensbedingungen von Bauern in afrikanischen Staaten, die mittellos in die großen Städte abwandern, was wiederum Überbevölkerung und Flüchtlingsströme zur Folge hat. Eine Korrektur unserer Agrarsubventionspolitik, natürlich auch der der Amerikaner und der Kanadier, ist also dringend notwendig. Oder nehmen wir die Entwicklungshilfepolitik. Sie zielt im Grunde darauf, die Absatzbedingungen für deutsche und andere EU-Unternehmen zu verbessern. Wir brauchen aber eine Politik, die diesen Ländern hilft, ihre eigene Wirtschaft zu entwickeln und mit ihren Produkten auf den Markt zu gehen.

W&F: Das ist langfristige Konfliktprävention, aber was ist mit den zahlreichen existierenden Konfliktherden?

Zumach: Wenn Konflikte bereits länger existieren, wenn es darum geht Konflikte zu deeskalieren, zu befrieden, möglicherweise sich auch mal in zugespitzten Situationen dazwischen zu stellen, dann braucht man dafür geschultes Personal. 1998 haben Herr Milosevic und Herr Holbrooke die Entsendung von 2.000 OSZE-Beobachtern in das Kosovo vereinbart. Wo der sofortige Einsatz notwendig gewesen wäre, dauerte es Wochen und Monate, und die beschlossene Zahl wurde nie erreicht. Es fehlte sicher in einigen Entsendestaaten die Einsicht in die politische Notwendigkeit, es fehlte aber auch geschultes Personal. Warum stellen wir uns nicht das Ziel, Deutschland bildet in den nächsten fünf Jahren 5.000 Menschen für Einsätze in Konfliktgebieten aus. Menschen mit verschiedenen Hintergründen, aus unterschiedlichen Berufen, die gut bezahlt werden und auch für die Zeit nach dem Einsatz abgesichert werden? Geschultes Personal, dass dann im Bedarfsfall der OSZE und der UNO oder auch für EU-Einsätze zur Verfügung gestellt werden kann. Das kostet natürlich Geld und man muss sich darüber im Klaren sein, man wird nicht eine hochmilitarisierte nationale- und EU-Außenpolitik finanzieren können und gleichzeitig wirklich wirksame Instrumente zur Früherkennung, zur Prävention, zur Bearbeitung und Überwindung und Deeskalation von Konflikten. Beides gemeinsam geht nicht, das ist eine entweder/oder-Entscheidung. Im Moment wird auch von dieser Regierung gesagt, wir machen zivile Konfliktbearbeitung. Wenn wir uns aber die Dimensionen ansehen, dann ist das nur ein »Tröpfchen auf dem heißen Stein« verglichen mit dem, was für den militärischen Bereich ausgegeben wird.

W&F: Sie haben die von den Friedensbewegung heftig kritisierte «Aufrüstungsverpflichtung« im EU-Verfassungsentwurf bereits angesprochen. In den Debatten um die Verfassung wird immer öfter von einem »Kern-Europa« gesprochen, auch und gerade, wenn es um die zukünftige militärische Zusammenarbeit in Europa geht. Fragmentiert sich Europa oder ist das der richtige Weg: Jeder in seinem eigenen Tempo und die anderen klinken sich dann nach und nach ein?

Zumach: Es ist der falsche Weg, weil das »Militärische« und nicht das »Zivile« dominiert. Er berücksichtigt lediglich, dass es Staaten gibt, die sagen, wir können noch nicht so schnell. Die Staaten, die sich möglicherweise jetzt ausgeschlossen fühlen aus diesem »Kern-Europa-Gedanken«, das sind ja keine Staaten, die grundsätzliche Widersprüche gegen die EU-Verfassung oder das »Solana-Papier« haben. Auch von den neutralen, den nicht NATO-Staaten in der EU, wie Österreich, Schweden und Finnland, wurde kein nennenswerter Widerspruch gegen die EU-Verfassung angemeldet, obwohl sie damit rechnen müssen, dass sie mit ihren eigenen, die Neutralität festschreibenden Verfassungen schwer unter Druck kommen.

W&F: Weil die EU-Verfassung dann Vorrang vor der nationalen Verfassung hat …

Zumach: … genau! Das heißt zwar nicht, das bei einem Kriegseinsatz der EU eines der Länder gezwungen werden kann, eigene Truppen zu stellen, aber ein solcher EU-Kriegseinsatz würde dann auch im Namen Österreichs oder Schwedens passieren. Auch das wäre natürlich ein Bruch mit der Neutralitätspolitik, da kann man sich drehen und wenden, wie man will.

W&F: Noch mal zurück zum »Kern-Europa«. Welche Rolle spielt die militärische Handlungsfähigkeit?

Zumach: Bei den USA sehen wir seit Jahren, wie sie sich eine Vielzahl von Optionen für militärische Einsätze schaffen : Im Idealfall handeln sie im Rahmen der UNO oder mit einem klaren UNO-Mandat, wenn das nicht geht, setzen sie auf die NATO, wenn das auch nicht geht, dann gibt’s eben eine »Koalition der Willigen«, die je nach konkretem Bedarf unterschiedlich aussehen kann. Bei einem »Kern-Europa« besteht die Gefahr, dass es auch als so eine Art »Koalition der Willigen« anfängt, zuerst mal mit vieren – ich glaub noch gar nicht dass Großbritannien von Anfang an dabei wäre –, dann kommt vielleicht irgendwann mal ein Fünfter dazu oder auch ein Sechster oder Siebter. Im Grunde ist das die ideale Situation: man zwingt kein EU-Mitglied bei irgendetwas mitzumachen, bei dem es unbedingt nicht will oder bei dem es innenpolitisch größere Probleme bekäme und man ist trotzdem handlungsfähig.

W&F: Handlungsfähig bei militärischen Einsätzen oder auch in Richtung Entwicklung eines »Zivilen Europa«?

Zumach: Dass darin die Chance für ein anderes Europa liegt, sehe ich nicht. Es gibt gegenwärtig keine Debatten, die Militäreinsätze grundsätzlich in Frage stellen. Bei diesem »Kern-Europa« geht es ja gerade darum, dass nicht alle 15 oder demnächst alle 25 Ja sagen müssen. Ich befürchte, dass das in der Praxis dazu führt, dass schneller militärisch gehandelt wird. Ein »Kern-Europa« – sagen wir mal Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg – wird nicht verhindern, dass die USA einen Irak-Krieg führen und es kann auch nicht verhindern, dass Polen in einem künftigen Konflikt sich wieder auf die Seite der USA schlägt. Wenn überhaupt, macht dieses »Kern-Europa« ja nur als Koalition Sinn, die eigenständig handelt, da wo andere noch nicht bereit, nicht willens oder nicht in der Lage sind. Das ist dann aber eher eine bedrohliche Entwicklung.

W&F: Eine EU, oder ein »Kern-Europa«, die weltpolitisch eine größere Rolle spielen will und deshalb forciert aufrüstet. Das erhöht das Konfliktpotential zwischen den USA und Europa und führt doch nicht zu einer neuen Machtbalance. Ich denke, wir stimmen überein, dass es undenkbar – und auch gar nicht wünschenswert – ist, dass Europa die USA militärisch einholt. Sehen Sie eine Chance für eine Kursänderung?

Zumach: Die Illusion,West-Europa oder später dann EU-Europa wäre die bessere Alternative zu den USA, hat es immer geben – auch und gerade bei den Linken und in der Friedensbewegung. Die Verhaltensweise einer vermeintlich übermächtigen Hegemonialmacht USA seit Ende des Kalten Krieges und vor allem seit dem letzten Irakkrieg, hat den Wunsch nach einer Emanzipation Europas noch einmal verstärkt.

Aber Europa ist nun mal nicht per se besser als die USA. Wenn der Grünen-Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit sagt, Europa wäre die global bessere Alternative zu den USA, dann ist es Propaganda. Und wenn Egon Bahr schreibt, der Unterschied zwischen den USA und Europa ist der Unterschied zwischen einer Hegemonialmacht, die ihre Dominanz ausdehnen will, und einem Kontinent, der friedliche Stabilität erstrebt, so kann ich nur zu seinen Gunsten annehmen, dass er das gern möchte. Tatsächlich ist Europa nur dann besser, wenn es eine andere Politik, eine andere Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik betreibt. Einige Punkte habe ich eingangs angeschnitten.

Ich denke, es ist sehr wichtig, dass sich Friedensbewegung und kritische Öffentlichkeit das klar machen. Nur dann können sie sich auch der Vereinnahmung durch gewisse offizielle Politiken erfolgreich widersetzten.

Ganz konkret denke ich, dass die EU-Verfassung sehr wichtig ist für den zukünftigen Weg der EU. Wir müssen den Streit um diese Verfassung entzünden. Das geht aber nur, wenn wir eine Kampagne starten zur vollständigen Ablehnung dieser Verfassung, die ja nicht nur in ihren militärischen Teilen problematisch ist, sondern auch in ihrem wirtschaftsliberalen und in ihrem durchgehenden Demokratiedefizit. Diesen Streit entzünden wir aber nicht, wenn wir hier einen Paragraphen und da ein paar Sätze ändern wollen.

Es wäre gut, wenn sich die globalisierungskritische Bewegung und die Friedensbewegung, die Umweltbewegung und die Nord-Süd-Solidaritätsbewegung darauf verständigen könnten, eine solche Kampagne los zu treten, in Deutschland und auch in den anderen EU-Staaten.

Eine Kampagne zur Ablehnung dieser Verfassung, verbunden mit der Forderung, dass über einen künftigen Entwurf in allen Mitgliedstaaten die Bevölkerungen abstimmen müssen, dann schließe ich nicht aus, dass wir eine Debatte bekommen, die zu Veränderungen führt. Der Wahlkampf zu den EU-Wahlen könnte dafür genutzt werden.

W&F: Vielen Dank für das Gespräch.

Andreas Zumach ist seit 1988 Korrespondent am UNO-Sitz in Genf für die Berliner taz und andere Zeitungen und Radiostationen im deutschsprachigem Raum. In den 1980er Jahren war er für die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste im Koordinationsausschuss der bundesweiten Friedensbewegung und zeitweise einer der Sprecher.