EG-Exportkodex

EG-Exportkodex

EG-Exporte von Waffen und Gütern mit doppeltem Verwendungszweck

von Saferworld

Dies ist die Zusammenfassung der wichtigsten Punkte eines Berichtes über „Arms and Dual-Use Exports from the EC. A Common Policy for Regulation and Control“. Der Bericht wurde von Harald Bauer (Saferworld), Owen Greene (Fakultät für Friedensstudien, Universität Bradford), Dr. Vaughan Lowe (Forschungszentrumm für Internationales Recht, Universität Cambridge), Dr. Nathalie Prouvez (Forschungszentrum für europäische Gesetzesstudien, Universität Cambridge) Marc Weller (Forschungszentrum für Internationales Recht, Universität Cambridge), verfaßt und von Paul Eavis, Forschungsdirektor von Saferworld, koordiniert und bearbeitet.

Der 1. Januar 1993 steht für einen unwiderruflichen Schritt der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft in eine neue Ära. Der Binnenmarkt erlaubt den grenzenlosen Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskraft auf dem Gebiet der Zwölf. Doch sind mit dieser wichtigen politischen Entwicklung einige Risiken verbunden, von denen eine die Unterminierung der nationalen Exportkontrollen für Waffen- und Güter mit doppeltem Verwendungszweck – oder dual-use Gütern – ist.

Der Zweite Golfkrieg hat eine nützliche Überprüfung der Exportkontrollen nach sich gezogen. Das Bewußtsein über die Tatsache, daß die Truppen der Koalition sich Waffen gegenüber gesehen hatten, die von ihren eigenen Regierungen an den Gegner geliefert worden waren, führte zu Forderungen nach strengeren Kontrollen. Im Oktober 1991 verpflichteten sich die fünf Ständigen Mitglieder des UN Sicherheitsrates, selbst für 85% aller Waffenexporte weltweit verantwortlich, im Prinzip, die Belieferung der Region zu verringern. Viele glaubten, diese Bemühungen könnten zu einer umfassenden Übereinkunft zur Einschränkung des internationalen Waffenhandels führen.

Im Mai 1992 schien der Initiative jedoch der Dampf auszugehen, es gab Schwierigkeiten, sich lediglich auf Konsultationsprozeduren zu einigen. In der Zwischenzeit stiegen die Exporte in den Mittleren Osten. Seit dem Zweiten Golfkrieg wurden Verträge über 35 bis 45 Mrd. Dollar abgeschlossen, verglichen mit 6,8 Mrd. 1990. Auf der Jagd nach Devisen hat Rußland an Regierungen im Mittleren Osten hochwertige Waffensysteme verkauft, darunter Kampfpanzer, -flugzeuge und U-Boote. Kürzlich hat China sich aus den Beratungen der fünf ständigen Mitglieder des UN Sicherheitsrates zurückgezogen, in Reaktion auf eine us-amerikanische Entscheidung, nach dreizehn Jahren seine Politik zu ändern und Taiwan 150 Kampfflugzeuge vom Typ F-16 zu verkaufen. Die Aussichten für schnelle Fortschritte weltweit sind entsprechend geringer geworden.

Für eine Initiative der Europäischen Gemeinschaft

Die Europäische Gemeinschaft (EG) hat gute Gründe, eine führende Rolle bei den Bestrebungen für ein internationales Kontrollsystem des Rüstungshandels zu übernehmen. Zu allererst sind Mitgliedstaaten, insbesondere Großbritannien, Frankreich und Deutschland, stark in das internationale Waffengeschäft verwickelt. Die fünf größten Waffenexporteure der EG zeichnen gegenwärtig für 19% des weltweiten Handels mit Großwaffen verantwortlich und für 17% der Verkäufe an Länder der Dritten Welt.

Zweitens wird die EG von der Außenwelt zunehmend als beträchtlich mehr als die Summe ihrer Bestandteile wahrgenommen. Ein koordiniertes Herangehen der EG an andere wichtige Waffenexporteure erbrächte weit größere internationale Glaubwürdigkeit als die Initiative eines einzelnen Mitgliedstaates. Dieser Faktor hat angesichts eines immer wiederkehrenden Problems bei Verhandlungen über Rüstungsexportkontrollen besondere Bedeutung. Größere Lieferstaaten können Aufforderungen zur Zurückhaltung, die ihren Konkurrenten leichteren Zugang zu lukrativen Märkten gäben, wenig Anreiz abgewinnen. Solche Argumente wurden oft von Regierungen angeführt, um ihre Legislative und die Öffentlichkeit von der Erwünschtheit eines speziellen Exports zu überzeugen.

Ein dritter und drängender Grund zum Handeln auf Gemeinschaftsebene ist der Binnenmarkt. Die Wirksamkeit bestehender Kontrollvereinbarungen ist an Grenzkontrollen gebunden. Solche Kontrollen werden nun aber an die Außengrenzen der EG verlagert. Für Hersteller in der EG, die verbotene Märkte beliefern wollen, scheint der Weg weit offen, ihre Produkte ungehindert durch die Gemeinschaft zu einem genehmen Ausfuhrpunkt zu transportieren, an dem die Kontrollen als weniger effizient angesehen werden.

Um glaubhaft und effizient zu sein, müßte eine Initiative der EG zwei Bestandteile umfassen. Der erste wäre ein Versuch, die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates davon zu überzeugen, sich der Gemeinschaft bei der rationalen Handhabung und dem stufenweisen Abbau des internationalen Waffenhandels anzuschließen. Der zweite, in vielerlei Hinsicht eine Voraussetzung für den ersten, würde im Erweis des grundsätzlichen Willens der Mitgliedstaaten zur Verbesserung der eigenen Praktiken bestehen. Dies umfaßt insbesondere die Definition unzweideutiger Exportrichtlinien und die Anwendung einheitlich hoher Standards bei den Kontrollen an den Außengrenzen.

EG-Kontrollen im Aufbau

Um geeignete Maßnahmen für eine effiziente Exportkontrolle einzuführen und durchzusetzen, muß die Gemeinschaft schnell handeln und einen hohen Grad an Harmonisierung erzielen.

In einer ordnungsgemäß verwalteten Welt wäre es am sinnvollsten, ein einziges Kontrollsystem für Waffen und dual-use Güter aufzubauen. Unglücklicherweise ist diese Möglichkeit der EG gegenwärtig versperrt. Die Römischen Verträge schließen Waffenexportkontrollen explizit von den Kompetenzen der Institutionen der Gemeinschaft aus und eine Revision der Verträge (wobei die Annullierung des relevanten Artikels 223 keineswegs beschlossene Sache ist) ist nicht vor 1996 vorgesehen. Es ist kaum vorstellbar, wie in der Zwischenzeit eine gemeinsame Regelung für Waffenexporte anders als durch gemeinsame Erklärungen der Mitgliedstaaten zustande kommen könnte.

Die Entwicklung einer gemeinsamen Politik für dual-use Güter

Im Januar 1992 präsentierte die Kommission eine Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament, um die lizenzfreie Zone mit effektiven Kontrollen an den Außengrenzen der EG zu ergänzen. Als Kernelemente für die effektive Kontrolle von Exporten wurden bezeichnet: eine gemeinsame Liste von dual-use Gütern und Technologien; eine gemeinsame Liste von Bestimmungsorten; gemeinsame Kriterien für die Ausstellung von Exportlizenzen; ein Forum oder Einrichtung zur Koordinierung der Genehmigungspolitik und der Durchführungsverfahren; festgelegte Verfahren für die administrative Zusammenarbeit von Zoll und Genehmigungsbehörden. Zur Unterstützung dieser Anforderungen forderte die Kommission die Stärkung der Kontrollsysteme der Mitgliedstaaten. Dies soll die Einrichtung eines Informationssystems zwischen den Mitgliedstaaten und die Untersuchung der zollrechtlichen Aspekte von Exporten über andere Mitgliedstaaten umfassen.

Der Europäische Rat beauftragte die Kommission dann mit der Ausarbeitung eines Kontrollsystems für dual-use Exporte. Im August 1992 veröffentlichte die Kommission einen vollständigen „Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Kontrolle bei der Ausfuhr bestimmter Güter und Technologien mit doppeltem Verwendungszweck und bestimmter Nuklearerzeugnisse und Technologien“.

Gegenwärtig erscheint es unwahrscheinlich, daß das Ziel der Kommission, eine lizenzfreie Zone zu schaffen, erreicht wird. Das Kontrollsystem für dual-use Technologien wird nicht eher inkraft gesetzt werden als bis alle Mitgliedstaaten mit den Regelungen der Verordnung übereinstimmen. Der gegenwärtige Stand ist der folgende:

Zu kontrollierende Güter: Die Zwölf werden sich wahrscheinlich auf eine einzige Produktliste einigen, die der deutschen Ausfuhrliste vom Oktober 1992 ähnlich sein wird und die Listen der Nichtweiterverbreitungsregime einschließt. Für einen Übergangszeitraum wird eine Ausschlußliste bestehen, die vier Technologien mit besonders sensitivem Charakter umfaßt (Supercomputer, Unterwasserakustik, Verschlüsselungstechnologie und Materialien zur Absorption von Hochfrequenzen).

Zollkontrollen: Im Rahmen von CoCom wurde vor einiger Zeit festgestellt, die Kontrollen aller Mitglieder seien ausreichend. Der Vorschlag der Kommission, Programme zur Unterstützung einiger Mitgliedstaaten bei der Fortentwicklung ihrer Praktiken einzurichten, scheint dem in gewisser Weise zu widersprechen. Es bleiben Fragen hinsichtlich des Umfangs der Programme. Werden sie ausreichen, um in Ländern mit bekanntermaßen unterbesetzten und schlecht bezahlten Zollbehörden, wie etwa Griechenland, schnelle Verbesserungen zu bewirken? Wird das Computernetz, das die Zolldienste verbinden soll, rechtzeitig fertig sein?

Kriterien und Länderlisten: Neuere Informationen besagen, die sieben von der Kommission in ihrem Vorschlag aufgeführten Kriterien sollen auf vier bis fünf verringert werden. Eine Konsequenz davon ist, daß die Zwölf sich wahrscheinlich nicht auf eine Liste von untersagten Bestimmungsländern einigen können werden. In erster Linie Frankreich und Großbritannien sind gegen solche gemeinsamen Listen. Bis sich das ändert besteht das Problem, Hersteller von Exporten über andere Mitgliedstaaten abzuschrecken, die nicht dieselben Embargos beachten. Es scheint wahrscheinlich, daß sich die Kommission in einer Situation wiederfindet, in der sie ein Kontrollsystem einzurichten hat, ohne über eine gemeinsame Liste untersagter Empfängerländer zu verfügen und mit nicht ausreichenden Kontrollen in einigen Mitgliedstaaten. Das würde bedeuten, das Kontrollsystem für dual-use Exporte der Gemeinschaft nähert sich dem kleinsten gemeinsamen Nenner.

Die Entwicklung einer gemeinsamen Politik für Waffenexporte

Die EPZ gab den Rahmen für die Diskussion bestimmter Embargos ab, zum Beispiel gegen Argentinien 1982, gegen Syrien und Libyen 1985, gegen Südafrika 1986 und gegen Irak 1990.

Während der Regierungskonferenz war eine gemeinsame Politik bei Waffenexporten zum ersten Mal auf der Tagesordnung der EG. Die Streichung des Artikels 223 hätte daraus eine Gemeinschaftsaufgabe gemacht. Aber einige Mitgliedstaaten haben sich dem widersetzt. Der Vertrag erlaubt jedoch die mögliche Entwicklung einer engeren Koordination der Politiken zur Waffenexportkontrolle im Rahmen der zukünftigen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EG. Großbritannien wurde die Verantwortung für die Ausarbeitung der Themenbereiche übertragen, die Gegenstand „gemeinsamer Aktionen“ werden sollen, und soll diesbezüglich beim Gipfel in Edinburgh Vorschläge unterbreiten.

1991 hat der Politische Ausschuß der EPZ eine ad-hoc Arbeitsgruppe gebildet, die sich getroffen hat, um Vorschläge hinsichtlich der Stärkung einer gemeinschaftlichen Herangehensweise und eine gemeinsame Liste konventioneller Waffen zu entwickeln. Darauf aufbauend, hat der Europäische Rat im Juni 1992 sieben Kriterien veröffentlicht, die in bezug auf Waffenexporte in den Mitgliedstaaten angewendet werden. Ein achtes Kriterium wurde beim Gipfel in Lissabon im Juni 1992 hinzugefügt. Schritte zur Definition der genauen Bedeutung der Kriterien wurden eingeleitet. Jedoch konnte sich die Arbeitsgruppe der EPZ bislang noch nicht auf eine gemeinsame Interpretation einigen. Bis zur Erzielung von Fortschritten können die Mitgliedstaaten weiterhin frei entscheiden, an wen sie exportieren und die Aussichten für die Harmonisierung der Kontrollen für Waffenexporte sind somit beschränkt.

Kriterien für Waffen- und dual-use-Exporte

Die Kriterien des Europäischen Rates für Exporte von Waffen und dual-use Gütern werden im Bericht im Detail definiert, um sie so konkret wie möglich zu gestalten und damit die Grundlage für ihre Anwendung im Rahmen einer gemeinsamen EG Exportpolitik zu legen.

Zusammengefaßt ergibt der Report, daß die Kriterien des Europäischen Rates gegenwärtig alle Situationen abdecken, in denen Exportbeschränkungen im Rahmen des Völkerrechts zwingend vorgeschrieben sind. Es handelt sich um Situationen, in denen ein internationales Staatsverbrechen vorliegt (insbesondere der illegitime Einsatz von bewaffneter Gewalt, die Unterdrückung des Rechts auf Selbstbestimmung, Völkermord, etc.) und/oder im Fall der Annahme von bindenden Sanktionen durch den UN Sicherheitsrat. Es ist möglich, das Vorliegen solcher Umstände weiter zu klären, indem international anerkannte Definitionen als Indiz für die Notwendigkeit eines vollständigen Embargos, das Waffen und dual-use Güter umfasst, herangezogen werden.

Eine zweite Gruppe von Kriterien bezieht sich auf Umstände, in denen ein potentielles Importland eine Verletzung internationaler Verpflichtungen begangen hat oder zwischen Staaten eine Situation der Unsicherheit besteht. Es gibt eine Debatte darum, ob in diesen Fällen automatisch die Einschränkung von Waffenexporten erforderlich wird oder nicht. Diese Umstände umfassen Situationen, die von nicht bindenden Sanktionen abgedeckt werden, wie schwere oder fortgesetzte Verletzungen der Menschenrechte oder des humanitären Völkerrechts, Verwicklung in Terrorismus oder Drogenhandel, Situationen des internen Aufruhrs und Nichtanerkennung oder -befolgung von Nonproliferationsverpflichtungen.

Die Reaktion auf solche Verletzungen würde unter allen Umständen Beschränkungen bei schweren oder »offensiven« Waffen erfordern, also jenen Waffensystemen, die in dem neu eingerichteten UN Waffenregister erfaßt werden sollen. Zusätzliche Maßnahmen wären erforderlich, um den Erfordernissen einer besonderen Situation gerecht zu werden. Beispielsweise im Fall von groben Verletzungen der Menschenrechte durch ein diktatorisches Regime, das seinen Zugriff auf die Macht mit Unterdrückung und Einschüchterung aufrecht erhält, müßte ein Exportverbot auch Güter umfassen, die diese Regierung bei der Unterdrückung der eigenen Bevölkerung benutzen könnte. Im Fall von Nichtanerkennung oder -befolgung von Vorkehrungen zur Nichtweiterverbreitung müßte der Export von strategischen Gütern, Materialien und Technologien untersagt werden.

Schließlich sind Situationen möglich, in denen Beschränkungen von Waffenexporten politisch angeraten oder moralisch wünschenswert erscheinen, aber in denen die Anwendung davon weit über das hinaus geht, was nach dem Völkerrecht erforderlich wäre. Zum Beispiel in einem Fall, in dem die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten hoffen, einen Staat zur Aufgabe der Absicht des Kaufs von Waffen zu bewegen, die ein regionales Gleichgewicht stören könnten, oder sich den Maßstäben verantwortlichen Regierens anzuschließen. Hier könnte die Auferlegung selektiver Exportbeschränkungen genutzt werden, um Druck auf die fragliche Regierung auszuüben.

Liste der betroffenen Länder

Die wirkungsvolle Umsetzung der Kriterien für Waffen- und dual-use Exportkontrollen würde erfordern, daß alle Mitgliedstaaten detaillierte Länderlisten beibehalten, in denen die Richtlinien für Exportgenehmigungen an jeden Staat außerhalb der EG festgelegt werden. Im Detail werden die Richtlinien für jeden Staat sich unterscheiden. Die Kategorien werden sich im Laufe der Zeit weiterentwickeln. Es ist dennoch möglich, die Länder in vier verschiedene Gruppen einzuteilen.

Gruppe 1: Staaten, für die alle Arten von Waffen- und dual-use Exporten von den EG Mitgliedstaaten genehmigt würden, wie die Mitglieder von CoCom und Länder wie Neuseeland und die Schweiz.

Gruppe 2: Staaten, für die Exporte einiger Kategorien militärischer und dual-use Güter genehmigt würden, unter strengen Anforderungen an den Endverbleib und Bedingungen für den Wiederexport. Diese Gruppe würde beispielsweise Singapur oder Hong Kong umfassen.

Gruppe 3: Staaten, denen Genehmigungen für bestimmte Kategorien von Waffen und dual-use Gütern verweigert würden. Beispielsweise Staaten in Spannungsgebieten, wie dem Mittleren Osten und Südostasien, würden offensive Waffen verweigert. Staaten, die Verpflichtungen aus Nichtweiterverbreitungsverträgen gebrochen haben (wie Indien, Israel und Pakistan), würden alle »sensitiven« dual-use Güter verweigert.

Gruppe 4: Staaten, an die Waffenexporte und die Lieferung von dual-use Technologien vollständig untersagt würden. Beispielsweise Staaten, die Krieg führen (wie Serbien und Kroatien) oder Staaten im Bürgerkrieg (wie Sudan), ausgenommen diejenigen, die sich nach UN Einschätzung gegen einen Angriff verteidigen; Staaten, die systematisch oder vorsätzlich Endverbleibserklärungen verletzen oder versuchen, von der EG verhängte oder unterstützte Embargos zu umgehen; Staaten in Spannungsgebieten, die sich weigern, an von der UNO eingeleiteten regionalen Sicherheitsverhandlungen oder Vermittlungsbemühungen teilzunehmen (wie Irak und Nordkorea); Staaten, die Terrorismus unterstützen oder dulden (wie Libyen); Staaten, die der groben Mißachtung der Menschenrechte für schuldig erachtet werden (wie Burma und Iran).

Alles in allem würde die strikte Durchsetzung dieser Kriterien den Export einiger Kategorien von Waffen und dual-use Technologien an eine ganze Reihe von Staaten außerhalb der EG zulassen. Exporte von offensiven Waffensystemen würden jedoch für fast alle der zehn größten Waffenimporteure in der Dritten Welt untersagt.

Überprüfung und Durchsetzung

Die Annahme gemeinsamer Waren- und Länderlisten hat wenig Zweck, insofern sie nicht von der Harmonisierung der Durchführungsmaßnahmen begleitet wird. Die Mitgliedstaaten müssen eine gemeinsame Herangehensweise nicht nur bei der Entwicklung der Politik, sondern auch bei deren Durchführung anwenden. In dieser Hinsicht empfiehlt der Bericht:

  • Die Mitgliedstaaten sollten ihre Genehmigungsprozeduren harmonisieren, um der bestehenden großen Bandbreite ein Ende zu setzen. Ohne standardisierte Lizenzen werden Diskrepanzen in der Umsetzung von politischen Entscheidungen auf Gemeinschaftsebene die Effizienz von Kontrollen beeinträchtigen.
  • Die Mitgliedstaaten sollten ihre Bemühungen zur Überprüfung des Endverbleibs verstärken, vermittels der Überprüfung der Ankunft der Waren durch die Zollbehörden des Einfuhrlandes und der Kontrolle der Verwendung von Gütern durch Botschafts- oder Konsulatsangehörige.
  • Einen hohen Ausbildungsstand für das gesamte Personal der mit der Überwachung und Genehmigung befaßten Behörden, mit ausreichend Mitteln, Austauschprogrammen und Koordinierung der Genehmigungsinstanzen durch die zwölf Mitgliedstaaten.
  • Hersteller von Waffen und dual-use Gütern sollten einen ihrer Direktoren als verantwortliche Person für die Befolgung der Exportregeln benennen.
  • Eine EG Exportagentur zur Überwachung des Funktionierens des harmonisierten Exportkontrollsystems sollte eingerichtet werden, die gleichzeitig Expertise und technische Hilfestellung für die Mitgliedstaaten bereitstellt.
  • Die Mitgliedstaaten sollten ihre Strafen, die widerrechtliche Exporte wirtschaftlich unrentabel machen sollten, harmonisieren. Strafen, wie Geldbußen bis zum fünffachen des fraglichen Warenwertes, sollten angesetzt, der gesamte Umsatz einer Transaktion sollte beschlagnahmt werden; eine Mindestdauer für Gefängnisstrafen, entsprechend den gegenwärtig in Deutschland angedrohten, sollte eingeführt werden.
  • Die nationalen Parlamente und das Europaparlament sollten verstärkt in die Beobachtung des Exportkontrollsystems einbezogen werden, inklusive einer Vorabbenachrichtigung und einem parlamentarischen Vetorecht bei Exporten über einem gewissen Schwellenwert. Eine solchermaßen erhöhte Transparenz würde auf Waffenhersteller und Regierungsbeamte auf Abwegen abschreckend wirken.

Zusammenfassung

Zur Erzielung bestmöglicher Ergebnisse müßten die Exportkontrollen der EG, wo immer möglich, mit denen anderer Exporteure harmonisiert werden. Einige multilaterale Regime zur Begrenzung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Raketen und destabilisierenden dual-use Technologien bestehen bereits. Diese Regime müssen verstärkt und ausgedehnt werden. Insbesondere müßte ein wirkungsvolles multilaterales Regime in der Art entwickelt werden, daß es die Verbreitung sensibler und destabilisierender Technologien in Teile der Dritten Welt begrenzt, ohne zivile Entwicklungsprogramme zu behindern. Dies würde »höhere Zäune um weniger Güter« erfordern, bei stärkerer Betonung der Überprüfung des Endverbleibs. Die Verordnung der Kommission könnte, falls sie erheblich verbessert wird, hierzu beitragen.

In Hinsicht auf Rüstungsexportkontrollen ist klar, daß die EG kurzfristig mit anderen großen Lieferstaaten zusammenarbeiten muß. Die NATO und die Bemühungen der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates verbindet Mitgliedstaaten der EG mit den USA, Kanada und China, und CoCom bringt Japan in den konsultativen Prozeß. Darüber hinaus wurden Treffen der G7 1991 und '92 dazu genutzt, um Deutschland, Japan, Kanada und Italien lose in die Bemühungen der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates einzubinden. Das Forum für Sicherheitskooperation der KSZE könnte den Rahmen für die wichtige Zusammenarbeit der EG mit Staaten Mittel- und Osteuropas, sowie GUS-Staaten, abgeben. Wegen ihrer besonderen Verbindungen mit den und Einflußmöglichkeiten auf die Staaten Osteuropas und der GUS ist die EG in einer idealen Position, in diesen Foren eine Führungsrolle zu übernehmen.

Der vollständige Bericht kann bei Saferworld, 82 Colston Street, Bristol BS1 5BB, Tel. 00-44-272-276 435, bezogen werden. Preis: £ 60 für Institutionen, £ 15 für Privatpersonen.

Zur Zukunft des Nationalismus in Europa

Zur Zukunft des Nationalismus in Europa

Unvollendeter Nationenbau oder postnationale Gesellschaft?

von Rainer Bauböck

Wie Eric Hobsbawm in seinem jüngsten Buch über Nationen und Nationalismus feststellt, gibt es einen Konsens der neueren Literatur zu diesem Thema, daß Nationen Phänomene der Moderne, genauer gesagt der letzten zweihundert Jahre sind und nur in ihrem Bezug auf den modernen bürokratisch verwalteten Territorialstaat bestimmt werden können. „Nicht Nationen bilden Staaten und Nationalismen, sondern umgekehrt.“ (Hobsbawm 1990, S.10, ähnlich Krippendorff 1985, S.301).

Ferner besteht weitgehende Einigkeit, daß eine Definition von Nationen anhand einer Liste objektiver Merkmale wie Sprache, Territorium, gemeinsame Abstammung, Wirtschaftsgemeinschaft etc., wie sie z.B. von Stalin 1913 formuliert wurde, unmöglich ist. Subjektive Definitionen der Nation als politische Willensgemeinschaft wiederum setzen tautologisch voraus, was zu erklären ist – die Herausbildung einer nationalen Gemeinschaftsidee (Bauböck 1991).

Nationalismus ist für Ernest Gellner (1983/1990) die Forderung nach der Übereinstimmung von kulturellen und staatlichen Grenzen. Benedict Anderson untersucht die Entstehungsbedingungen von Nationen als „imaginierten Gemeinschaften“ (Anderson 1983/1988). Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein befassen sich in ihrem Dialog mit der Frage, wie im Rahmen eines kapitalistischen Weltsystems die „Konstruktion von Völkern“ mit den Kategorien der Rasse, der Nation und der Ethnizität erfolgt. (Balibar/Wallerstein 1988/1990). Bei aller Verschiedenheit des Zugangs teilen diese Autoren eine Überzeugung. Das Rätsel der Nation entspringt aus einer falsch gestellten Frage. Es läßt sich erst lösen, wenn sie nicht lautet: Wie erzeugen die zuvor bestehenden religiösen und ethnischen Kulturgemeinschaften die moderne Nation, sondern umgekehrt: Wie erzeugt der moderne Staat jene Kulturgemeinschaft und jene historischen Traditionen, durch die er sich selbst als Nation legitimiert? Gellners Antwort darauf scheint mir die bisher überzeugendste: Die soziale Arbeitsteilung in der industrialisierten Gesellschaft bedingt eine Homogenisierung von Kultur in nationalen Standardsprachen, welche in erster Linie durch ein staatliches Bildungssystem herbeigeführt wird. Dies bedingt auch eine grundlegende Veränderung der Legitimation politischer Ordnung.

In der für den modernen Nationalstaat charakteristischen Vorstellung, daß das Volk der Souverän der politischen Ordnung sei, wird dieses Volk immer auch als Kulturgemeinschaft gedacht (in pluri-nationalen Staaten als gegenüber Außenstehenden exklusive Föderation mehrerer Kulturgemeinschaften). Souveränität im Nationalstaat ist daher auch nicht an das demokratische Legitimationsprinzip der Partizipation auf der Grundlage gleicher Rechte gebunden. Dieser Widerspruch zwischen demokratischer und nationaler Selbstbestimmung ist der rote Faden des folgenden Essays. Er soll zunächst durch das Labyrinth der neuen nationalen Ideologien und Kämpfe führen und am Ausgang in einige theoretische und politische Folgerungen eingeflochten werden.

Symptome einer postnationalen Epoche

Hobsbawm deutet den Aufschwung der Nationalismus-Forschung in den letzten 20 Jahren als Signal eines historischen Niedergangs des analysierten Phänomens. Solange er wirksam war, hielt der Mythos der Nation auch seine politischen Gegner, die Internationalisten und Kosmopoliten gefangen. Erst wenn er seine Kraft verliert, können wir ihn als Mythos begreifen und überwinden. Es gibt auch andere und weniger esoterische Symptome einer zunehmend postnationalen Entwicklung, die jedoch von Gegentendenzen begleitet werden.

Die Rolle von Nationalstaaten in der Weltökonomie hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg tiefgreifend verändert. Gab es zuvor einen breiten Konsens, daß ein Minimum an Bevölkerung, Territorium und materiellen Ressourcen unerläßlich sei für die Lebensfähigkeit eines Staates, so hat sich seither eine neue Arbeitsteilung entwickelt, in der nicht mehr Nationalökonomien die zentrale Rolle einnehmen, sondern „global cities“ (Saskia Sassen 1991), die zu Drehscheiben weltweiter Ströme von Kapital, Waren, Dienstleistungen, Informationen und auch Arbeitsmigrationen werden. Es könnte sein, daß die Epoche der internationalen Struktur des ökonomischen Weltsystems nur eine Phase zwischen den transnationalen Strukturen des 16.-18. Jahrhunderts und der Gegenwart war (Hobsbawm 1990, S.174f.).

Paradoxerweise begünstigt jedoch gerade dieser ökonomische Bedeutungsverlust des Nationalstaats die Proliferation von Nationalismen. Schon in der Phase der Dekolonisierung nach 1945 konnten beliebige, nach rein administrativen Gesichtspunkten durch die Kolonialmächte gezogene Grenzen durch Befreiungsbewegungen zu nationalen umgedeutet werden. Wenn heute in Osteuropa die Ansprüche auf kollektive Selbstbestimmung von den ökonomischen Bedingungen ihrer Einlösung entkoppelt werden, so ermöglicht dies zugleich die Vervielfältigung dieser Ansprüche. Erfolg oder Scheitern hängt dann nur mehr von politischen und militärischen Machtverhältnissen ab. Die Kettenreaktion kommt erst dann zum Stillstand, wenn die verbleibenden Minderheiten zu schwach sind, um ihrerseits souverän zu werden oder sich einem Mutterland anzuschließen.

Der Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts hatte seine Grundlage nicht nur in der ökonomischen Struktur des Weltsystems, sondern auch in der internen sozialen Transformation industrieller Gesellschaften. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts beobachten wir jedoch gerade in den Metropolen Zerfallserscheinungen nationaler Kulturgemeinschaften und ihrer institutionellen Voraussetzungen: die ideologische Kritik und partielle Rücknahme der wohlfahrtsstaatlichen Regulierung des Kapitalismus; eine Aufweichung des staatlichen Bildungsmonopols mit sozialen und kulturellen Segregationstendenzen in den Grundschulen; einen Funktionsverlust von Grundbildung und standardisierter Kommunikation für die unteren Segmente eines zersplitterten Arbeitsmarktes; die Subkulturalisierung von Mehrheitsbevölkerungen und dauerhafte kulturelle Grenzziehungen gegenüber zugewanderten Minderheiten.

Die Zersetzung der institutionellen Grundlagen des Nationalismus bewirkt jedoch noch nicht sein Verschwinden, sondern eine Verwandlung seiner Manifestationen: Er wird zunehmend negativ definiert, d.h. als Abgrenzung gegenüber Fremdgruppen, wobei die inneren von größerer Bedeutung sind als die externen. Er verbindet sich mit einem politischen Populismus, welcher gegen die technokratische Legitimation politischer Entscheidungen gerichtet ist, aber wenn er zur Macht kommt, selbst das technokratische Modernisierungsprogramm exekutiert (siehe Schedler 1991). Nationalismus wird solange nicht überwunden werden, als er nicht durch ein anderes Legitimationsprinzip politischer Ordnung ersetzt werden kann.

Europäische Ungewißheiten

Noch nie seit 1945 schien die zukünftige politische Gestalt Europas so ungewiß wie jetzt. In politischen Feuilletons ebenso wie in halbamtlichen Dokumenten finden sich drei ganz verschiedene Skizzen für den Umbau.

  • Erstens ein geeintes Europa vom Atlantik bis zum Ural, in dem staatliche Grenzen an Bedeutung verlieren und Nationalismus die harmlosere Gestalt des Regionalismus annimmt.
  • Zweitens ein solches postnationales Europa im Westen innerhalb einer um die EFTA-Staaten erweiterten EG bei gleichzeitiger Desintegration des ehemaligen Ostens in zahlreiche nationale Kleinstaaten und Verwandlung dieser größeren Hälfte in einen halbkolonialen Hinterhof des reichen Westens.
  • Drittens die Verkleinstaatlichung ganz Europas, bei der die Krise des Ostens in den Westen überschwappt und zu einem neuen Gleichgewicht auf der Basis der Selbstbestimmung aller Nationalitäten unabhängig von ihrer Größe führt.

Die Unsicherheit über die Zukunft Europas speist sich aus zwei Quellen: Erstens aus der Ungewißheit, welches dieser Szenarien das wahrscheinlichste ist; zweitens aus der Uneinigkeit, welches darunter das wünschbarste wäre. Was für die einen eine Horrorvision ist, gilt den anderen als bessere Zukunft. Der europäische Umbruch hat die These vom Ende der Geschichte gründlich widerlegt, aber zugleich jene vom Ende der abendländischen Geschichtsphilosophie ebenso gründlich bestätigt. Wir können nicht mehr an ein durch den Sinn der Geschichte verbürgtes Ziel glauben, aber zugleich scheint auch ein spätaufklärerischer Konsens abhanden gekommen zu sein, daß die Überwindung des Nationalismus ein erstrebenswertes Ziel sei. Wenn allerdings die Teleologie nicht nur aus der Geschichtsdeutung, sondern auch aus der politischen Praxis verschwindet, dann ist die Zukunft nicht nur ungewiß, sondern wird zum unbeeinflußbaren Schicksal.

Self-accelerating prophecies

Die Verwirrung im Westen wie im Osten Europas hält sich allerdings in Grenzen – jenen, die durch die Trennlinie der beiden Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme vorgegeben war. Westlich davon dominiert die Grundüberzeugung, daß die europäische Vereinigung ein unumkehrbarer Prozeß sei, östlich davon die gegenteilige, daß die Kettenreaktion der Verselbständigung von Nationalitäten zu Nationalstaaten kaum gebremst werden kann. Insofern scheint das zweite der eingangs skizzierten Szenarien einer Addition der Stimmungen in beiden Hälften Europas zu entsprechen.

Dies könnte zu einer self-fulfilling prophecy werden. Solche Vorhersagen werden von manchen auch in der Absicht gemacht, dieses Resultat herbeizuführen. Ein befriedetes, aber erschöpftes und in ökonomisch impotente Kleinstaaten zersplittertes Osteuropa, das keinerlei internationale Verhandlungsmacht einzubringen hat, würde durchaus ein geeignetes Hinterland für ein prosperierendes und geeintes Westeuropa abgeben. Aber auch jene Propheten, welche auf die sich selbst erfüllende Wirkung ihrer Voraussagen vertrauen, könnten sich als Zauberlehrlinge wiederfinden: Gerade das Eintreffen der Erwartung kann den Prozeß jeder Steuerung entziehen.

Dieses Paradox möchte ich als selfaccelerating prophecy bezeichnen. Die Vereinigung Deutschlands kann als Exempel für eine solche modernisierte Variante der self-fulfilling prophecy angeführt werden. Die nationalistische Umdeutung der Demokratiebewegung vom »Wir sind das Volk« zum »Wir sind ein Volk« erzeugte erst den Konsens, „daß zusammenwachsen muß, was zusammen gehört“. Die Folge dieser Prophezeiung war nicht nur ihre Erfüllung, sondern eine Beschleunigung ihrer Einlösung, welche eine technokratisch rationale Steuerung dieses Prozesses weitgehend außer Kraft setzte. Genau umgekehrt verläuft die Entwicklung in Mittel-Süd-Ost-Europa. Die Erwartung eines unaufhaltsamen Zerfalls des Sowjetimperiums und des titoistischen Staates weckte die nationalistischen Geister, welche diesem Zerfall einen neuen Sinn unterlegen: jenen der Selbstbestimmung der so lange unterdrückten Völker. Dies setzte jedoch eine Dynamik in Gang, die vor keinen einmal etablierten staatlichen Grenzen Halt macht, wenn ihr nicht mit den Mitteln der gewaltsamen Unterdrückung von Minderheiten Einhalt geboten wird. Die daraus entstehende Ordnung ist um nichts gerechter oder weniger konfliktträchtig als die alte, nicht einmal gemessen an jenem Selbstbestimmungsrecht, in dessen Namen sie erzwungen wird.

Die mathematische Chaos-Forschung hat illustriert, daß Rückkoppelungsprozesse, wie sie der self-accelerating prophecy zugrunde liegen, unter Umständen auch zu völlig unvorhersehbaren Resultaten führen. Eine solche fatale Schleife wird erzeugt, wenn die jeweils dominierenden Erwartungen zur Grundlage von Vorhersagen über die europäische Entwicklung gemacht werden, welche ihrerseits die politischen Handlungsorientierungen beeinflussen.

Zu den Rückkoppelungsprozessen kommen als weitere Beiträge zur Verunsicherung von Zukunft auch noch Interaktionseffekte hinzu. Das Senario der getrennten Entwicklungswege berücksichtigt nicht, daß bereits der Zusammenbruch der spätstalinistischen Ordnung auch ein Ergebnis verstärkter Wechselwirkungen zwischen West und Ost war. Vor allem die von west- wie osteuropäischen Regierungen in den 80er Jahren gemeinsam betriebene Politik der Verschuldung hatte den doppelten Effekt der Verringerung innerer ökonomischer Reserven und der Verstärkung äußerer politischer Abhängigkeit. Daß auf die jetzige Phase der rapiden Umbrüche ein neuer Isolationismus folgt, ist schwer vorstellbar. Aber ob die fast zwangsläufig zunehmende Interaktion zwischen West und Ost einen stabilisierenden oder destabilisierenden Einfluß auf die Gesamtentwicklung haben wird, ist keineswegs schon ausgemacht.

Die Feststellung, daß die Verwirrungen über die Zukunft innerhalb beider Teile Europas sich in Grenzen halten, hilft uns also nicht besonders weiter. Die Unsicherheit wird verschärft durch die weitere Feststellung, daß die Verwirrungen über die Vergangenheit und die Ursachen der jetzigen Krise grenzenlos scheinen, vor allem wenn man als »Beobachter zweiter Ordnung« den westlichen Blick nach Osten analysiert. Um einen kleinen Beitrag zur Entwirrung zu leisten, soll im folgenden versucht werden, drei Erklärungsmuster für das Aufleben des Nationalismus in Mittel-Süd-Ost-Europa zu unterscheiden, die m.E. in der Reihenfolge ihrer Präsentation an Verbreitung ab-, aber an Plausibilität zunehmen.

Kühltruhe, Dampfkessel oder Akzelerator

Die gängigste Erklärung möchte ich als Kühltruhentheorie bezeichnen. Sie geht davon aus, daß der Nationalismus eine urtümliche Kraft im gesellschaftlichen Leben sei, die zwar vorübergehend unterdrückt werden kann, aber zusammen mit einer Befreiung von Diktatur sich unweigerlich von neuem manifestieren muß. Der Stalinismus habe den Nationalismus also nur vorübergehend eingefroren und damit ein Auf- und Abarbeiten dieser Primärenergie verhindert. Was wir jetzt erleben, sei einfach das Wiederanknüpfen an einer 1917 bzw. 1945 unterbrochenen Entwicklung. Diese These stützt sich auf eine noch immer nicht ausgerottete Variante der Geschichtsphilosophie, jene, die in Deutschland von Herder begründet wurde und deren ursprünglich demokratischer Gehalt in zwei Jahrhunderten eliminiert worden ist. Es ist die Vorstellung, daß Völker das Subjekt der Geschichte seien und ihre Befreiung in Form der Eigenstaatlichkeit nicht nur das Ziel, sondern auch ein unaufhaltsamer Prozeß sei.

Außer von jenen, die einen neuen Völkerfrühling im Osten spüren, wird die Tiefkühltheorie meist mit einer spezifischen Rückständigkeit des Ostens in Zusammenhang gebracht. Demnach hätte der Westen durch die fortgeschrittene industrielle Entwicklung unter demokratischem und kapitalistischem Vorzeichen nach den heftigen Krisen der 30er und 40er Jahre endlich zu einer abgeklärten Form des Nationalismus gefunden, in welcher die Gewalt der Eruptionen gerade dadurch verringert wird, daß die Grundforderung »ein Volk – ein Staat – eine Kultur« im wesentlichen erfüllt sei. Im Osten und Südosten dagegen stünden eben noch einige Flurbereinigungen aus.

Eine optimistische Variante dieser Auffassung könnte als Latenzzeit-These bezeichnet werden. Nach Freud knüpft die Persönlichkeitsentwicklung in der Pubertät nicht einfach an den frühkindlichen Erfahrungen an; die in der Latenzphase verdrängte Sexualität bricht nun in neuen Formen hervor, um schließlich in einen Reifungsprozeß zu münden. Ebenso sei der osteuropäische Nationalismus nach der Unterbrechung durch den Stalinismus zwar kaum weniger gewalttätig, aber gleichzeitig doch reifer geworden. Als Indikator dafür dient der Umstand, daß die neuen populistischen oder auch extrem autoritären Kräfte immerhin durch demokratische Wahlen an die Macht gespült worden seien. Darin und im gesamteuropäischen Integrationsprozeß wird oft eine Art institutionelle Garantie für eine zunehmend ruhigere Entwicklung gesehen. In der Sicht der Latenzzeit-These hätte die stalinistische Diktatur nicht nur die nationalen Triebe unterdrückt, sondern mit ihren massenhaften Vertreibungen bis hin zum Genozid an manchen Nationalitäten sogar bessere Voraussetzungen für eine dauerhafte Lösung durch die Separierung der Völker in Staaten geschaffen.

Gärung im Kessel, Feuer unter dem Topf

Die Dampfkessel-Theorie teilt mit der Tiefkühlthese die Grundannahme einer nationalen Urkraft. Sie argumentiert jedoch anders hinsichtlich des Einflusses, den der Stalinismus gehabt hat, und gelangt zu wesentlich pessimistischeren Schlüssen. In dieser Perspektive bewirkte die Phase des bürokratischen Staatsmonopolismus kein Einfrieren, sondern ein Aufstauen der alten Nationalismen: Erst dadurch hätten sie die jetzt beobachtete Explosivität erhalten. Dies setzt ein differenzierteres Bild der Gesellschaft in der stalinistischen Phase voraus. Zwar hat es keine entwickelte Zivilgesellschaft gegeben, aber in der Privatsphäre der informellen Netze und Beziehungen konnten sich die ethnischen Traditionen behaupten und sogar entwickeln, um nun als Nationalismen neu in Erscheinung zu treten. Unterschwellige Gärung hat also die innere Hitze vergrößert. Zusätzlich heizte der Stalinismus auch das Feuer an, auf dem der Kessel stand. Jetzt ist der Deckel weggeflogen und der Topf quillt über.

In ihren öffentlichen Manifestationen war die Herrschaft der Kommunistischen Parteien eine Schule in brutaler Machtpolitik von oben, durch welche als Beteiligte oder als Opfer auch die jetzigen politischen Führungen der unterdrückten Nationalitäten gegangen sind. Die Masse der Bevölkerung sei gleichzeitig durch realsozialistische Sozialisation zu Passivität, Unmündigkeit und Mitläufertum erzogen worden. Die Ausbrüche der neuen Xenophobie in Ostdeutschland wurden besonders gerne mit einem eigenen stalinistischen Sozialisationstyp erklärt, bis sich Hoyerswerda im Westen wiederholte und zuvor nicht beachtete Untersuchungen zeigten, daß das rassistische Potential in den alten Bundesländern mindestens ebenso groß ist wie in den neuen.

In der Reihenfolge Kühltruhen-, Latenzzeit- und Dampfkessel-These steigt jeweils die Bedeutung der jüngeren Vergangenheit für die Erklärung der Gegenwart. Allen diesen Erklärungen ist jedoch die Annahme gemeinsam, daß der Urgrund des Nationalismus letztlich zeitlos sei oder in einer fernen stammesgeschichtlichen Vergangenheit liege. Es gibt in dieser Sicht einen uneingelösten Wechsel der Geschichte und es scheint nur eine Frage der Zeit und günstigen Gelegenheit, wann er präsentiert wird. Die Oberflächenerscheinung, daß sich die osteuropäischen Nationalismen als unbefriedigte Ansprüche von Völkern auf Selbstbestimmung äußern, wird zur einzig relevanten Ursache umgedeutet. Dabei ist doch nicht nur erklärungbedürftig, warum diese Ansprüche gerade jetzt so heftig geltend gemacht werden, sondern auch unter welchen Bedingungen sie überhaupt entstehen.

Statt nun diese Ideen ausführlicher zu kritisieren, will ich im folgenden nur zwei Aspekte skizzieren, die von ihnen ausgeblendet werden, aber m.E. entscheidend zum neuen Nationalismus beitragen.

Neue Eliten auf Staatssuche

Der erste Aspekt bezieht sich auf eine Neubewertung der stalinistischen Regime, so daß diese nicht nur als Unterdrücker, sondern zugleich als Wegbereiter der gegenwärtigen Nationalismen erkennbar werden.

Die bürokratischen Diktaturen haben von Anfang an oder relativ kurz nach der Unterdrückung aller revolutionär-demokratischen Bewegungen und Experimente zu einer Stagnation der politischen Entwicklung geführt, welche die Entfaltung einer vom Staat unabhängigen Zivilgesellschaft verhinderte. Dennoch fand in dieser Epoche die bis dahin umfassendste Transformation dieser Gesellschaften in sozioökonomischer Hinsicht statt. Die staatlich forcierte Industrialisierung, die Kollektivierung der Landwirtschaft (mit der einzigen Ausnahme Polens), die massive Verstädterung, das Aufbrechen traditioneller Familienstrukturen durch allgemeine Lohnarbeit der Frauen, die wechselseitige ökonomische Abhängigkeit früher fast autarker Regionen, all das zerstörte die Voraussetzungen für ein Überleben der alten agrarischen Volkskulturen ebenso gründlich wie es die industriellen Revolutionen im Westen getan hatten. Allerdings erwies sich nach anfänglichen, um den Preis des Massenterrors erzielten Erfolgen die zentralstaatliche bürokratische Steuerung als Hemmschuh für eine zweite, »qualititative« Industrialisierung. Das Grundproblem war nicht die Unfähigkeit, High Technologies zu entwickeln, sondern die Lähmung der Gesellschaft durch eine vertikale Kommandostruktur, welche die Umsetzung von Produktivitätssteigerungen in wachsenden Wohlstand verhinderte. Dies mündete in der Breschnew-Ära in eine ökonomische Stagnation, welche schließlich die sozialen Grundlagen der Regime unterminierte.

AII das ist wohlbekannt. Weniger beachtet wird jedoch, daß es zumindest ein Gebiet gibt, auf dem in allen diesen Staaten bis in die 80er Jahre hinein Erfolgsbilanzen vorgewiesen werden konnten – dies ist die Bildungspolitik. Über der Kritik an der ideologischen Orientierung wird meist vergessen, daß außer in Ostdeutschland, der Tschechoslowakei und Polen diese Gesellschaften vor der stalinistischen Machtübernahmen von weit verbreitetem Analphabetismus geprägt waren. In dieser Hinsicht wurde im Osten unter »realsozialistischem« Vorzeichen wiederholt, was im Westen Europas einige Dekaden zuvor unter kapitalistischem geschehen war.

Erstens schuf die Massenerziehung in standardisierten Schriftsprachen überhaupt erst eine potentielle Basis für nationale Kommunikationsgemeinschaften und politische Bindungen zwischen Bildungseliten und den breiteren Bevölkerungsschichten. Gemessen an diesem starken und vom Gesellschaftssystem ziemlich unabhängigen Struktureffekt ist die Wirkung der jeweiligen ideologischen Indoktrination offensichtlich von geringerer Bedeutung. Zweitens wurde Bildung in den Gesellschaften sowjetischen Typs, in denen die persönliche Akkumulation von Kapital unterdrückt war, noch stärker als im Westen zum wichtigsten symbolischen Kapital der Aufstiegsorientierten. Drittens wurden durch die staatlich gelenkten Bildungssysteme auch die internen kulturellen Differenzen als territoriale zwischen Nationalitäten neu definiert.

Die explosiven Folgen dieser Politik kommen nun am stärksten dort zum Ausdruck, wo der Staat selbst als Föderation von Nationalitäten definiert worden war, also in Jugoslawien, in der Sowjetunion und nach 1968 in der CSSR. Die strikte Unterordnung aller lokalen Zweige des Machtapparats unter die Zentrale ging Hand in Hand mit der Förderung und Privilegierung lokaler Eliten und einer gleichzeitig anhaltenden ethnischen Durchmischung der Peripherien. In der Sowjetunion wurde innerhalb jeder Republik der namensgebenden ethnisch-nationalen Gruppe ein Vorrang beim Zugang zu den Bildungseinrichtungen ebenso wie zu den lokalen Machtapparaten eingeräumt. Das interne Paßsystem regulierte die Mobilität zwischen Regionen und vor allem den Zuzug in die Großstädte und schrieb gleichzeitig die Nationalität jeder Person fest. Die kombinierte Wirkung beider Maßnahmen war aber nicht eine ethnische Homogenisierung, sondern vielmehr eine künstliche Schichtung der Bürger nach Nationalität innerhalb jeder politischen Region. (Zaslavsky 1991, S.12 ff.). Diese Widersprüche mußten aufbrechen, sobald die mittels der Partei ausgeübte politische Kontrolle der Zentralmacht zusammenbrach. Das »Teile und Herrsche« der Stalinschen Nationalitätenpolitik schuf die Voraussetzungen dafür, daß die Herrschaft schließlich jenen zufiel, die sich ihrer im Namen der Teile bemächtigen konnten.

In diesem politischen Kontext wurden also Bildungseliten geschaffen, die mit der Bevölkerung innerhalb ihrer Nationalkulturen kommunizieren konnten. Ein Teil davon suchte den Zugang zur politischen Macht durch Integration in die Nomenklatura, in deren Hierarchie jedoch keine nationalen Sonderinteressen toleriert wurden. Ein anderer blieb frustriert vom Zugang zur politischen Herrschaft ausgesperrt. Es ist keineswegs verwunderlich, daß im Prozeß des Umbruchs die Machtansprüche beider Schichten in der Sprache des Nationalismus formuliert wurden, denn im Rahmen eines demokratisierten, aber weiterhin zentralisierten politischen Systems wie es wohl Gorbatschows Projekt war, hätten die meisten von ihnen nur untergeordnete Plätze einnehmen können. Die Multiplikation autonomer Staatsapparate ist zwar vom Standpunkt ökonomischer Rationalität im Übergang zur Marktwirtschaft aus gesehen widersinnig, aber die Forderung nach nationaler Souveränität für die jeweils eigene Gruppe ergibt als Strategie zur Maximierung der Macht dieser neuen Gruppen durchaus Sinn.

Die gegenwärtigen Nationalismen sind also nicht einfach ein Ergebnis der Demokratisierung nach einer Phase der Unterdrückung; sie knüpfen vielmehr an Ansprüche auf nationale Autonomie an, die sich zumindest in papierener Form schon innerhalb der stalinistischen Regime Legitimität verschaffen konnten. Gemeinsamkeiten der Sozialstrukturen und der Nationalitätenpolitik im sowjetischen Machtbereich zeigen sich heute darin, daß in allen Regionen und Staaten nationalistische Potentiale aktiviert und linksliberale und demokratische Strömungen an den Rand gedrängt wurden. Die beträchtlichen Unterschiede zwischen den Manifestationen der Nationalismen haben weniger mit dem politischen Erbe als mit dem ökonomischen Entwicklungsstand zu tun.

In den am stärksten entwickelten Regionen wie Slowenien oder den baltischen Staaten ist die dominante Forderung jene nach staatlicher Autonomie. In letzteren haben trotz der vehement antirussischen Kampagnen der neuen Republikführungen sogar die russischen Minderheiten für die Lostrennung gestimmt – in der Hoffnung, daß eine privilegierte Beziehung zum Westen den Erfolg der ökonomischen Reformen garantieren könnte. In Zentralasien dagegen und in den südlichen jugoslawischen Republiken überwiegt die Tendenz, nach neuen Formen des Zusammenschlusses mit einem externen Zentrum zu suchen, weil die wirtschaftliche Autarkie ein fürchterlicher Preis für die staatliche Autonomie wäre (siehe auch Zaslavsky 1991, S. 34ff.). Der Zerfall der UdSSR und die Instabilität der GUS haben für den islamischen Süden eine zweite Option eröffnet – der Iran und die Türkei scheinen durchaus willens als neue Regionalmächte an die Stelle Moskaus zu treten. Die Albaner des Kosovo befinden sich dagegen in einer viel schwierigeren Lage. Mit extremer Repression durch die alte Hegemionalmacht Serbien konfrontiert, bleibt für sie die Orientierung auf den Zusammenschluß mit einem von politischen Krisen und ökonomischen Katastrophen gebeutelten Mutterland ein wenig attraktiver Ausweg.

In jenen Regionen, wo Nationalismus mit ökonomisch motivierten Ohnmachtsgefühlen geladen ist und sich nicht ungehemmt gegen das bisherige politische Zentrum richten kann, wird das Schüren von Haß gegen Minderheiten zum probatesten Mittel für Machthungrige, Unterstützung zu mobilisieren.

Modernisierungsschock und negative Ethnizität

Daß sie diese Unterstützung auch erhalten, ist wesentlich schwieriger zu erklären als das national verbrämte Eigeninteresse der neuen Eliten selbst. Woher kommt die Bereitschaft, den offenkundig falschen Versprechungen zu trauen, daß nationale Souveränität auch schon eine Besserung ihrer materiellen Situation brächte; woher die noch viel weitergehende, für die neuen Vaterländer zu töten oder getötet zu werden?

Vielleicht ist gegenüber diesen Fragen zunächst einmal Skepsis angebracht. Wir kennen im wesentlichen nur die Worthülsen der machthabenden oder zur Macht strebenden Nationalisten und sollten deren Echo im Fernsehinterview mit dem kroatischen, serbischen, georgischen oder litauischen Bauern oder Arbeiter nicht von vornherein als eine adäquate Wiedergabe von Interessen und Meinungen akzeptieren. (Die Bäuerinnen oder Arbeiterinnen, deren Söhne in Bürgerkriege geschickt werden, äußern sich selbst im Fernsehen oft recht dissident). Dazu kommt die Erfahrung, daß in Staaten wie Polen oder Ungarn, in denen die Glut nicht von einem internen Nationalitätenkonflikt permanent angefacht wird, recht bald Ernüchterung gegenüber populistischen Führungen eingesetzt hat, die jedoch angesichts fehlender Alternativen meist in Apathie umschlägt.

Es scheint, daß der Grundbestand des gegenwärtigen Nationalismus im Osten ebenso wie im Westen eine negativ definierte symbolische Ethnizität geworden ist. Deren Antriebskraft wie bereits erwähnt ist nicht so sehr die Neudefinition des staatlichen Rahmens nationaler Selbstbestimmung, sondern vielmehr die Abgrenzung gegen Fremdgruppen. Daher ist es auch schwer, diesen Nationalismus mit politischer Demokratisierung zu verknüpfen. Die resignierende Verbitterung wie die gewalttätigen Ausbrüche dieses negativ definierten Nationalismus können vielleicht am ehesten als Folgen eines sozialen Modernisierungsschocks begriffen werden. Die marktwirtschaftliche Transformation der ost-mittel-süd-europäischen Gesellschaften hat zusammen mit den bescheidenen materiellen Sicherheiten auch jene der bisherigen Formen der Lebensplanung eliminiert. Dabei wird sowohl die Zukunft unsicher als auch die Vergangenheit entwertet. Nicht nur Randgruppen von Dauerarbeitslosen, sondern ganze Generationen von Dreißig-, Vierzig- oder Fünfzigjährigen erleben heute das Trauma einer rapiden Dequalifikation ihres beruflichen Wissens und ihrer erlernten sozialen Fähigkeiten. Wenn diese Analyse zutrifft, so können die strategischen Projekte der nationalen Eliten zwar mit keiner dauerhaften Massenunterstützung rechnen, aber die ethnophobe – gegen Minderheiten gerichtete – Deutung sozialer Krisen kann immer wieder in der Erfahrung sozialer Minderwertigkeit von Mehrheitsbevölkerungen ihren Resonanzboden finden.

Zusammenfassend könnte diese Analyse als Akzelerator-Theorie bezeichnet werden, in welcher stalinistisches Erbe und marktwirtschaftliche Modernisierung nicht zu einem Wiederaufleben alter, sondern zu genuin neuen Nationalismen führen, die sich jedoch in traditionelle Gewänder kleiden, um ihre Machtansprüche historisch zu fundieren. Sowohl der Stalinismus der Zwangsindustrialisierung als auch die derzeitige kapitalistische Umgestaltung sind in dieser Sicht politisch induzierte Beschleunigungen sozialen Wandels. Auf eine Kurzformel gebracht war die Erzeugung einer Massenbasis für Nationalkulturen paradoxerweise ein Hauptresultat der Sowjetpolitik, die politische Formierung nationaler Machteliten ein Ergebnis ihres Zusammenbruchs und die Mobilisierbarkeit der Bevölkerung für deren Ziele Folge einer Modernisierungspolitik ohne soziale Sicherheitsgurte.

 Westeuropa – bleibt der Geist in der Flasche?

Die Bedingungen für die Herausbildung neuer Nationalismen in beiden Teilen Europas sind denkbar verschieden. Im Osten erleben wir eine Implosion astronomischer Größenordnung. Die sowjetische Supernova dehnte sich in zwei Schüben nach dem ersten und zweiten Weltkrieg auf ihre maximale Größe aus. Seit den späten 50er Jahren erlahmte die Aktivität in ihrem Kern – das Innere erkaltete und die gewaltige Hülle verkrustete. 35 Jahre lang erschütterten periodische Beben einige der Peripherien, aber das Zentrum selbst schien aufgrund seines Repressionsapparats und einer elaborierten militärischen Gleichgewichtsbeziehung mit seinem westlichen Gegenpart durch nichts aus den Angeln zu heben. Niemand hatte vorhergesehen, daß die Sowjetgesellschaften letztlich nicht an der Diktatur und dem Terror scheitern würden, sondern am mutigen Versuch, in einem extremen politischen Vakuum Reformen in Gang zu setzen. Gorbatschows Appell zur Umgestaltung richtete sich an Partei und Volk. Seine Hoffnung war, daß dieses »und« noch mit Bedeutung gefüllt werden könnte. Das war sein entscheidender Fehler, an dem er hartnäckig festhielt. Aber wer kann heute schon sagen, ob 1956 oder 1968 eine Demokratisierung á la Gorbatschow Aussichten auf Erfolg gehabt hätte? Sicherlich nicht im Sinn einer Stabilisierung der bürokratischen Herrschaft, aber doch vielleicht in Richtung eines damals überaus populären »dritten Weges«? Jetzt fliegen die Trümmer des Sowjetreichs durch den politischen Raum und erschlagen Menschen.

Im Westen Europas ist es gerade umgekehrt: Die äußere Hülle ist über Jahrzehnte soweit gefestigt worden, daß ihre schrittweise Ausdehnung risikoarm scheint. Hier gibt es im Inneren kein Vakuum, sondern eine mit Macht gesättigte Lösung. Aber auch in dieser Lösung kann Nationalismus kristallisieren. Statt eine Folge von Destabilisierung scheint der neue Nationalismus hier paradoxerweise das Resultat von anhaltender politischer Stabilität bei raschem sozialen Wandel. Gesicherte Ordnung hier wird nicht nur durch ein kräftiges Skelett von Repressionsapparaten erzeugt, sondern dieses wird von einem dichten Nervengewebe mit einer Überfülle miteinander verflochtener und sich wechselseitig stabilisierender Knoten der Macht überlagert und gesteuert. Wie bei einem gut gebauten Kartenhaus macht die vielfach abgestützte Statik des westeuropäischen Hauses es sogar theoretisch möglich, einzelne Mauern herauszunehmen und auszutauschen, ohne daß das Gebilde selbst einzustürzen droht.

Vielleicht ist das wichtigste Merkmal, das die relative Stabilität Westeuropas seit den 50er Jahren erklären kann, der allmähliche Souveränitätsverlust von Nationalstaaten. Dies ist eine ungleichmäßige Entwicklung, sie erfolgt in Schüben und betrifft nicht alle Gebiete staatlicher Politik in gleicher Weise. Das Wesentliche scheint mir jedoch zu sein, daß Souveränitätsverlust ohne Demokratiegewinn nationalistische Gegenbewegungen auslöst.

Zwischen einem auf der Ebene der ökonomischen und politischen Machtzentren integrierten Europa und solchen Gegenströmungen gibt es jedoch keine grundlegende Unvereinbarkeit. Zwar sehen sich einzelne dominierende Parteien durch nationale Populisten bedrängt, doch ihre gemeinsamen Projekte sind noch keineswegs gefährdet und würden wohl sogar den einen oder anderen Durchbruch von Rechtsextremisten überleben. Wir leben heute nicht nur in einem Europa der »zwei Geschwindigkeiten« auf dem einen Weg in die Integration, sondern auch in einem Europa der zwei Fahrtrichtungen. Drei Phänomene zeigen, daß der Konsens über die Zukunft Westeuropas weniger breit ist, als seine Vorbeter glauben machen wollen: erstens die neue Virulenz eines xenophoben westlichen Nationalismus, zweitens anhaltende und neubelebte Konflikte um Autonomie für alte nationale Minderheiten und drittens die Beschwörung der nationalen Souveränität im wachsenden Widerstand gegen die westeuropäische Integration auf der Basis des Maastrichter Vertrags.

Das Programm der Ent-Fremdung als Selbstvergewisserung

Wo in der Vergangenheit noch Verfassungspatriotismus und demokratisch fundierter Staatsnationalismus gepredigt wurde, gibt es heute eine Rückkehr zu integralen und kulturalistischen Definitionen der nationalen Identität. In einer beliebten Gattung von Witzen geht es darum, was denn nun »die Deutschen«, »die Franzosen«, »die Briten« charakterisiere, wenn sie in den Himmel oder in die Hölle kommen. Daraus wird plötzlich die mit unerträglichem Ernst gestellte Frage, was denn uns Deutsche, uns Franzosen oder uns Briten von anderen unterscheide, wenn wir in das postmoderne Europa eintreten. Dieser Diskurs wird viel weniger an Stammtischen gepflegt als von einer neuen nationalen Intelligenzia, die sich nicht mehr ausschließlich rechts verorten läßt, und er findet sein Echo in den Reden der seriösesten Politiker.

Wer dabei als »die anderen« herhalten muß, um verunsicherten Europäern ihre aufgefrischte Identität zu verschaffen, sind in erster Linie Flüchtlinge und Immigranten. Xenophobie und Rassismus, die sich gegen außereuropäische, aber auch gegen osteuropäische Einwanderer richten, grassieren in praktisch allen Staaten des industriell entwickelten Europa. Auch Immigration und die Forderung nach Gleichberechtigung für die Immigrierten wird als Verlust von Souveränität erlebt, denn diese ermächtigte seit jeher zur Kontrolle über den Zugang zum Gemeinwesen und zur Unterscheidung zwischen Bürgern und Fremden.

Das selbsterzeugte Dilemma der Immigrationspolitik ist: Wirtschaftlicher Zusammenschluß plus Deregulierung von Arbeitsmärkten wirken als Magneten für Einwanderung. Gleichzeitig hat die Steuerung der Immigration durch die Nachfrage der Unternehmen einen weiteren Abbau sozialer Sicherung zur Folge – in erster Linie für die vorletzten Einwanderer. Offene Grenzen erzeugen unter diesen Bedingungen Angst und nicht nur unter jenen, die gute Gründe haben, sich bedroht zu fühlen. Die selektive Schließung der Grenzen für bestimmte Gruppen (vor allem Flüchtlinge und Migranten aus islamischen Regionen) und deren interne Diskriminierung als Lohnarbeiter, Wohnungssuchende und Bürger zweiter Klasse beseitigt diese Angst nicht, sondern präsentiert der rassistischen Gewalt auch noch ihre Zielscheiben.

Alte Minderheiten neue Eskalationen

Der neue Nationalismus richtet sich jedoch nicht nur gegen die neuen Bewohner Westeuropas, sondern ebenso gegen seine alten Minderheiten. Nur bietet er für letztere im Unterschied zu ersteren auch eine Chance, ihre Forderungen nach Autonomie oder Souveränität stärker anzumelden. In dieser Hinsicht ist nicht so sehr mit neuen Bruchlinien als mit einer Vertiefung der bestehenden zu rechnen.

Vor allem jene Streitfragen, in denen aufgrund langwieriger Verhandlungen allen ethnischen Kollektiven ein Zipfel der Macht garantiert wurde, können leicht eskalieren. Ausgerechnet kurz vor der Erfüllung der letzten noch offenen Punkte des Südtirol-Pakets brach innerhalb der Einheitspartei der Deutschsprachigen eine Debatte um Autonomie und staatliche Zugehörigkeit auf. Und wer würde heute so unvorsichtig sein, eine Hypothek bis zum Jahr 2000 auf den Fortbestand des belgischen Staates aufzunehmen? In diesen und anderen Fällen hat eine rigide Politik des Ethno-Proporzes den Streit nur oberflächlich beigelegt. Die Festschreibung ethnischer Machtverhältnisse führt bei fortlaufenden sozialen und ökonomischen Veränderungen (etwa durch demographische und Wanderungsbewegungen) zu erhöhter sozialer Reibungsenergie. Wo diese frei wird, versuchen politische Bewegungen, sich einen Teil jener Souveränität zu holen, die von den Nationalstaaten an ein vereinigtes Westeuropa abgegeben wird. Dies gilt noch stärker in Regionen wie Schottland oder Katalonien, wo Nationalbewegungen bei der friedlichen Eroberung der kulturellen und politischen Hegemonie in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht haben. Die Entwertung staatlicher Souveränität im westlichen Integrationsprozeß könnte sie für jene durchaus erschwinglich machen, die bisher als Sprecher minderer Sprachen vom Konzert der Nationen ausgeschlossen wurden.

Gerade in jenen beiden Konflikten in Euzkadi (Bakenland) und Nordirland, die schon bisher einen hohen Blutzoll gefordert haben und das Gespenst nationalistischer Bürgerkriege in Westeuropa am Leben erhalten haben, gibt es dagegen Anlaß zur Hoffnung, daß alte Gräben nicht weiter vertieft sondern zugeschüttet werden. Hier könnten die militanten Nationalisten zunehmend ihre Unterstützung in der Bevölkerung verlieren, wenn die Föderalisierung Europas neue Chancen auf symbolische oder auch reale Abkoppelung von alten Hegemonialmächten eröffnet.

Selbstbestimmung  jenseits der Nation?

Für zeitgenössische politische Wissenschaft würde es sich lohnen, über die Frage nachzudenken: Was geht verloren, wenn nationale Souveränität schwindet und wodurch wäre der Verlust ersetzbar? Die Reflexion über die Zukunft des Nationalismus in Europa würde dann auch eine Diskussion über Alternativen eröffnen. Ich kann dazu vorläufig nur ein paar Gedankensplitter beitragen:

Demokratische oder nationale Souveränität?

Souveränität ist nicht dasselbe wie Staatlichkeit. Im internationalen politischen System, in der Außen- und Sicherheitspolitik, werden weiterhin Staaten die wesentlichen Akteure sein. Und auch in der internen Struktur politischer Gemeinwesen wird die Ebene des Staates gegenüber jener der Gemeinden, der förderalen Einheiten und der übernationalen Bündnisse wohl auf lange Sicht deutlich hervorgehoben bleiben. Was diese Ebene heute und in absehbarer Zukunft auszeichnet, ist die Konzentration, aber nicht mehr das Monopol, der Gesetzgebung. Staatlichkeit fixiert einen vorläufig unverzichtbaren Bezugsrahmen für alle Politik, aber nicht jeder Instanzenzug im politischen Spiel endet in derselben souveränen Spitze.

Jean Bodin hat 1576 die klassische Definition formuliert: „Souveränität ist die dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt“ (Bodin 1576/1981, S.205). Gemessen an dieser Begriffsbestimmung gibt es zwei mal zwei Einschränkungen von Souveränität: die externe durch Unterwerfung, aber auch mit der freiwilligen Einfügung in einen dauerhaften Staatenbund; die interne, wenn das Allgemeinwohl partikularen Interessen geopfert wird, aber auch mit der Beschränkung staatlicher Macht durch Bürger- und Menschenrechte. Im Grunde werfen schon Montesquieu's und Locke's Theorien der Gewaltenteilung die Frage auf, ob nicht demokratische Souveränität ein in sich widersprüchliches Konzept ist.

Auch das nationale Selbstbestimmungsrecht hat zwei Bedeutungen – eine mythologische: die Emanzipation von unterdrückten Völkern als Nationen; und eine historische: die Legitimierung des Strebens nach Souveränität, nachdem dynastische und imperiale Ansprüche auf dieses höchste politische Gut normativ außer Kraft gesetzt wurden. Nur in diesem letzteren Sinn war und ist das Selbstbestimmungsrecht auch eine Emanzipationschance, weil es die Egalität der Staaten untereinander postuliert (Wallerstein in Balibar/Wallerstein 1988, S 111 f.). Es gebührt den Opfern kolonialer, rassistischer oder ethnischer Unterdrückung, weil sie nur so und zunächst nur als Kollektive jene Gleichrangigkeit erreichen können, die ihnen zuvor als Bürger verwehrt wurde.

Zugleich ist das Selbstbestimmungsrecht unabhängig von der internen Verfassung des Staates d.h. es ist nicht das Recht der politischen Selbstbestimmung, sondern das Recht jener, die erfolgreich im Namen der Nation die souveräne Gewalt ausüben. In der demokratischen Tradition ist das nationale Selbstbestimmungsrecht die Voraussetzung, aber nicht schon die Einlösung der politischen Selbstbestimmung:

Dem aufgrund seiner Rechte in der Zivilgesellschaft souveränen Bürger muß ein in seiner Sphäre souveräner Staat korrespondieren, innerhalb dessen diese Rechte garantiert werden.

Wenn die äußere Souveränität nicht unterjocht, sondern diffus wird, dann gibt es darauf zwei verschiedene politische Antworten: erstens die symbolische, aber in der Eskalation von Konflikten unter Umständen auch gewaltsame Rückforderung der Souveränität im Namen der Nation; zweitens das Auffüllen der neu entstandenen politischen Räume durch demokratische Bürgerrechte.

Multiplikation von Mitgliedschaft

Was einen politischen Raum zur Nation macht, sind nicht seine territorialen Grenzen, sondern die kollektive Selbstabgrenzung seiner Bürger gegen jene, die nicht dazugehören. Wenn in Europa ausschließlich die EG als transnationaler politischer Raum konstruiert wird, dann wird sich in der Abgrenzung von den Peripherien des Ostens und Südens und vor allem in der Abwehr der Einwanderer aus diesen Regionen eine Art westeuropäischer Hypernationalismus entwickeln.

Die Alternative dazu wäre die Anreicherung und Überwindung traditioneller Staatsbürgerschaften durch transnationale ebenso wie subnationale Bürgerschaften. Der institutionelle Raum, innerhalb dessen solche Rechte eingefordert werden können, hätte keine einheitliche Gestalt und scharfen Konturen mehr. Doppelstaatsbürgerschaften, die Angleichung sozialer und politischer Rechte niedergelassener Ausländer an jene der Inländer, die Einräumung spezifischer Einwanderungsrechte auf jenen Verbindungswegen, die in den bisherigen Migrationen ausgebaut wurden und schließlich die stärkere institutionelle Verankerung universeller Menschenrechte, dies wären einige Elemente einer transnationalen Bürgerschaft, welche über Staatenbünde hinausreicht (Bauböck 1992).

Hand in Hand damit könnte die Entwicklung von spezifischen lokalen und Stadtbürgerschaften gehen, welche im Gegensatz zum ethnisch oder pseudo-ethnisch begründeten Föderalismus die Ausdifferenzierung von Funktionen anstelle der Abgrenzung von Regionen und Kulturen als Anknüpfungspunkt politischer und sozialer Rechte nimmt. So wie egalitäre Rechte im Staat den Spielraum für gesellschaftliche Differenzierung durch Erweiterung individueller Wahlchancen eröffnen, so müßte der Anspruch auf adäquate kommunale Infrastrukturen zu einem gleichen Grundrecht für alle Bewohner werden. Um das zu realisieren bedarf es einer negativ bestimmten und einer positiven Leitidee: erstens einer Politik der Desegregation, welche der territorialen Sortierung von Bevölkerungsgruppen in Stadtviertel ebenso entgegenwirkt wie ihrer Zuordnung in vorbestimmte Plätze in institutionellen Hierarchien, und zweitens einer Förderung von Chancengleichheit in den Grundfunktionen städtischen Lebens: Wohnen, Arbeit, Konsum, Bildung, Freizeit, Verkehr.

Multiple Bürgerschaft korrespondiert dann mit multipler Souveränität, welche auf ihre einfachste Bedeutung reduziert wäre: daß jedem Recht eine jeweils höchste Instanz der Gesetzgebung zugeordnet sein muß. Es gäbe dann allerdings nicht mehr eine einzige oberste Instanz für alle Bürgerrechte, sondern eine komplexe Ordnung von vertikal wie lateral angeordneten institutionellen Endpunkten.

Gegen dieses m.E. attraktive Bild gibt es einen wahrhaft schlagenden Einwand: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (Schmitt 1990). Man könnte ergänzen: Der Krieg ist die ultima ratio der Souveränität. In der Logik des Krieges ist diffuse Souveränität tatsächlich eine Schwächung der Angriffs- wie der Verteidigungschancen. In einer Logik der Verhinderung von Kriegen könnte sie dagegen eine Variable mit positivem Vorzeichen werden. Die alte und noch immer gegenwärtige politische Ordnung der Welt ist aus Nationalstaaten als Bausteinen gefügt. In den Fugen gibt es viel Mörtel und hier und da existieren solide Mauern, mit deren Zusammenbruch niemand rechnen würde. Aber bei einem Erdbeben ist jede Mauerfuge eine potentielle Bruchlinie, entlang derer das Ganze zerfallen kann. Die Automobilkonstrukteure standen bei der Entwicklung brauchbarer Windschutzscheiben vor einem ähnlichen Problem: Beim Aufprall eines Fremdkörpers zerbricht Glas in große zusammenhängende Splitter, welche die Fahrgäste schwer verletzen können. Die von den Ingenieuren gefundene Lösung ist vorbildlich: Statt die Scheibe durch aufwendige Panzerung völlig bruchsicher zu machen, erfanden sie eine Sorte Glas mit einer durchsichtigen Netzstruktur. Beim Zusammenstoß wird dieses Netz als Mosaik von Teilchen und Linien sichtbar und je dichter es ist, umso geringer die Gefahr, daß ein Stück herausbricht.

Anmerkung

Bei dem Text handelt es sich um einen Beitrag für den Friedensbericht 1992 der schweizerischen, deutschen und österreichischen Gesellschaft für Friedensforschung.

Literatur

Benedict Anderson (1983/1988): Imagined Communities, deutsch: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Campus Verlag: Frankfurt a.M.

Etienne Balibar<|>/<|>Immanuel Wallerstein (1988/1990): Race, Classe, Nation. Les identités ambigues. Paris, deutsch: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Argument-Verlag: Berlin.

Rainer Bauböck (1991) Nationalismus versus Demokratie, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, Heft 1, S. 73-90.

Rainer Bauböck (1992): Immigration and the Boundaries of Citizenship. Monograph in Ethnic Relations, Centre for Research in Ethnic Relations, University of Warwick.

Jean Bodin (1567/81): Sechs Bücher über den Staat, Buch I-III, Beck-Verlag: München.

Ernest Gellner (1983/90): Nations and Nationalism. Cambridge Oxford, deutsch: Nationalismus und Moderne, Rotbuch: Berlin

Eric J. Hobsbawm (1990/1991): Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality, Cambridge. deutsch: Nationen und Nationalismus seit 1789. Mythos und Realität, Campus Verlag: Frankfurt a.M.

Ekkehart Krippendorff (1985): Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft. Frankfurt/Main: suhrkamp.

Saskia Sassen (1991): The Global City. New York, London, Tokyo. Princeton.

Andreas Schedler (1991): Die Nicht-repräsentative Demokratie. Unveröffentlichtes Manuskript. Institut für Höhere Studien, Wien.

Carl Schmitt (1990): Politische Theologie; Duncker und Humblot, Berlin.

Josef Stalin (1913): Marxismus und nationale Frage, Stern-Verlag: Wien. Victor Zaslavsky (1991): Das russische Imperium unter Gorbatschow. Seine ethnische Struktur und ihre Zukunft. Wagenbach: Berlin.

Rainer Bauböck ist Mitarbeiter im Institut für höhere Studien in Wien.

Rüstungskooperation in Westeuropa

Rüstungskooperation in Westeuropa

von Harald Bauer

Hinter dem Begriff »(west)europäischer Rüstungsmarkt« verbergen sich Vorstellungen von der simplen Fortführung der Kooperationsformen der Vergangenheit bis hin zu einem deregulierten Markt für Rüstungsgüter. Angesichts dieser Spannbreite und dem Bestreben der Nationalstaaten, den Rüstungsbereich möglichst eng unter ihrer Kontrolle zu halten, ist es angebracht, die Optionen für diesen Rüstungsmarkt zu untersuchen. Die Frage ist, wie weit die nationale Kontrolle gelockert werden muß und welcher Rahmen für den Markt bzw. die Kooperation gewählt wird.

Aus dem bisherigen Fortgang ist ablesbar, daß die EG keine alleinige Zuständigkeit für den Rüstungsmarkt und die -industrie erhalten wird. Daneben steht die IEPG, das Verhältnis der beiden ist zu bestimmen. Die Foren bisheriger Rüstungskooperation, allen vorweg die NATO, können darüber nicht vernachlässigt werden. Es ist zu fragen, welche Funktion sie weiter haben, wie sie sich wandeln wird; im Rüstungsbereich ist eine exklusiv westeuropäische Politik genauso wenig durchführbar wie in anderen Sektoren der technologischen Kooperation. Deshalb wird auch das transatlantische Verhältnis neu bestimmt werden müssen. Der prädestinierte Rahmen dafür wäre die NATO.

Damit sich die westeuropäische Rüstungsindustrie gegenüber der US-amerikanischen, die ein dreimal größeres Marktvolumen im Rücken hat, behaupten kann, soll ein westeuropäischer Rüstungsmarkt entstehen. Wie der jedoch gestaltet sein, welchen Grad die Marktöffnung haben und von welchen Institutionen er kontrolliert werden soll, ist heftig umstritten. Es herrschen große Zweifel an der Fähigkeit der EG und der IEPG, mit ihrem Instrumentarium die Konzentrationsprozesse in der Rüstungsindustrie zu kontrollieren.

Bis Ende der 80er Jahre war westeuropäische Rüstungskooperation immer an Regierungsvereinbarungen oder Memoranda of Understanding (MoU) geknüpft, die den Rahmen für die einzelnen Projekte festlegten. Dem gingen lange Verhandlungen über die Konzeption unter Berücksichtigung der (meist teilweise widersprüchlichen) Anforderungen der nationalen Armeen, zu beschaffende Anzahl der Waffensysteme, Anteile an F & E, Fertigung und industrielle Führerschaft voraus.

Foren der Rüstungskooperation

Foren, in denen Rüstungskooperation, Standardisierung und Interoperabilität besprochen und arrangiert werden können, gibt es auf einer Vielzahl von Ebenen. Zu nennen sind bilaterale Ebenen, etwa der deutsch-französische Sicherheitsrat, die sogenannte Vierergruppe1, die WEU, mit Ständigem Rüstungsausschuß und Agentur III zur Entwicklung der Rüstungszusammenarbeit und die NATO, um die herum eine Vielzahl von Initiativen und Gremien existiert, wie die FINABEL2 und die Eurogroup.3 Eine besondere Rolle kommt dabei den nationalen Rüstungsdirektoren (National Armament Directors, NAD) zu. Sie treffen sich in der CNAD (Conference of NAD) der NATO. Am Tage vor dem zusammentreten der CNAD tagen sie unter dem Signum der Eurogroup als EuroNAD, um zu überlegen, welche spezifisch westeuropäischen Interessen es in der CNAD zu wahren gilt. Daneben sind sie auch in der IEPG (Independent European Programme Group) aktiv, die ursprünglich ebenfalls bei der NATO angesiedelt war; neben diesen multilateralen Ebenen, kommen dieselben Rüstungsdirektoren aber auch im bilateralen Rahmen zusammen.

Ebenso wie die Rüstungsdirektoren ist auch der Rahmen der Berater aus der Industrie konstant. Die NIAG (NATO Industrial Advisory Group) wird von westeuropäischer Seite mit denselben Repräsentanten der Rüstungsindustrie beschickt, die auch in der EDIG (European Defence Industry Group) der IEPG beratende Funktionen wahrnehmen. Im Rahmen der IEPG wird auf Initiative der französischen DGA seit 1989 jährlich ein vierwöchiges Treffen der NAD, der Vertreter der Rüstungsindustrie und weiterer Rüstungsexperten durchgeführt, um Problemkenntnis und persönliche Kontakte zu vertiefen.

Weil der bilaterale Rahmen in den Länderteilen stärker zur Geltung kommt und etwa über die FINABEL keine Berichte im Sinne einer bedeutenden Aktivität vorliegen, werden hier die WEU und die NATO als Foren der Rüstungskooperation behandelt. Im folgenden geht es dann, unter dem Aspekt des Rüstungsmarktes und der Technologiepolitik, um IEPG und EG. Zwar ist etwa durch die Taft-Initiative das Problem der Gestaltung des westeuropäischen Binnenmarktes für Rüstungsgüter auch in der NATO tangiert, doch ist der Schwerpunkt dort nach wie vor auf Kooperation und nicht auf Marktregelungen. Im Zentrum des Interesses steht Westeuropa, und die Westeuropäer suchten durch die Gründung der IEPG gezielt, sich dem übermächtigen Einfluß der USA in der NATO zu entziehen.

Die Westeuropäische Union (WEU)

Die WEU richtete 1955 den Ständigen Rüstungsausschuß ein, Expertengruppen und Unterausschüsse befaßten sich mit Fragen der Rüstungsplanung und -standardisierung. In den 60er Jahren wurde eine ad-hoc-Gruppe eingerichtet, die eine Reihe von Studien und Empfehlungen für Kooperationsvorhaben bei den westeuropäischen Landstreitkräften vorbereitete. Zu konkreten Projekten kam es nicht, und als Großbritannien sich 1973 der FINABEL anschloß, wurde der Ständige Rüstungsausschuß vollends bedeutungslos. Zwar versuchte die französische Regierung nach 1970, ihn zu stärken, fand damit aber wenig Anklang.4 Seit der Reaktivierung der IEPG 1984 hat der Ständige Rüstungsausschuß nicht mehr getagt.5 Im Rahmen der Umstrukturierung der WEU nach der Verabschiedung der »Sicherheitspolitischen Plattform« 1987 wurde er schließlich ganz abgeschafft. An die Stelle der Ausschüsse trat, auf Beschluß des Rates vom November 1989, das Forschungsinstitut der WEU, das 1990 seine Tätigkeit aufnahm.

Durch die Schaffung einer militärischen Weltraumkoordination bei der WEU 1991 erhielt sie wieder neue Relevanz als Forum der Rüstungskooperation. Diese Option wurde im Rahmen der Regierungskonferenz zur Europäischen Union noch ausgeweitet. Neben der Absicht, die WEU nach 1996 in die EG zu überführen, enthielt der deutsch-französische Vorschlag vom 16. Oktober 1991 einen Passus zur „verstärkten Kooperation bei der Rüstung, mit dem Ziel der Schaffung einer Europäischen Rüstungsagentur6, der sich als „zu prüfender Vorschlag“ auch in der Erklärung zur Westeuropäischen Union im Anhang des Vertrages zur Europäischen Union befindet7. Die Realisierungschancen sind angesichts der vagen Formulierung als nicht besonders groß einzuschätzen, wenngleich der Vorschlag von französischer Seite nachhaltig unterstützt wird. Der Leiter der DGA, Sillard, schlug im Dezember 1991 die Schaffung einer Agentur für Rüstungsbeschaffung bei der WEU vor.8

Die NATO

In der NATO waren Rüstungskooperation und Standardisierung von Beginn an ein konfliktträchtiger Gegenstand. Durch das amerikanische Übergewicht in der Waffenproduktion war Rüstungskooperation bis 1966 gleichbedeutend mit der Herstellung von Waffen amerikanischen Ursprungs und Entwurfs durch die Westeuropäer, mit der Ausnahme der Flugzeuge FIAT G91 und Breguet-Atlantic. Mit Beginn der 60er Jahre setzten transatlantische Differenzen ein, die auch die Strategie der NATO betrafen. Der Wunsch der Westeuropäer nach größerer technologischer Eigenständigkeit, dem Schließen der »technologischen Lücke«, schlug sich auch in der Rüstungskooperation nieder. 1966 wurde das Armament Committee der NATO aufgelöst und die CNAD eingerichtet, 1968 ergänzt um die NIAG. Gegen Mitte der 70er Jahre trat die US-Administration wieder verstärkt mit Forderungen nach »Standardisierung« der NATO-Ausrüstung an die Westeuropäer heran. Sie verstanden Standardisierung als Weg der USA, ihre Rüstungsprodukte in Westeuropa abzusetzen, ohne dort entsprechende Käufe zu tätigen, als »one-way-street«. Das Gegenkonzept hieß Interoperabilität, das hauptsächlich von französischer Seite vertreten wurde.

Bei der Gründung der IEPG auf Beschluß der Eurogroup von 1975 ging es um die Einbindung Frankreichs, das sich der 1968 als informelles NATO-Organ gegründeten Eurogroup, bestehend aus den Verteidigungsministern der europäischen NATO-Mitgliedstaaten, nicht angeschlossen hatte.9 Die IEPG war formal von der NATO unabhängig, was durch das »Independent« unterstrichen wurde, ihre höchste Instanz wurde lange Zeit von den jeweiligen Botschaftern bei der NATO gebildet. Zu den Aufgaben der IEPG gehörte es u.a., die Standardisierung und Interoperabilität zu verbessern und eine ausgewogenere Rüstungskooperation mit den USA zu erreichen. Relevanz erhielt sie erst nach 1984, als sie sich immer mehr von der NATO löste und schließlich ein eigenes Sekretariat in Lissabon gründete.

Die CNAD umfaßt sechs Hauptgruppen, für die drei Teilstreitkräfte, für Rüstungsforschung, zur Luftverteidigung und für das Fernmeldewesen. Daraus wurden, unter Einschluß der Industrievertreter in der NIAG, über 220 Arbeitsgruppen gebildet. Dieser enorme Aufwand brachte zwar eine ganze Reihe von Rüstungsprojekten unter NATO-Aufsicht hervor10, befriedigte dennoch die beteiligten Regierungen und ihre Vertreter nicht. 1982 machte der US-Verteidigungsminister Weinberger einen Vorschlag für die bessere Nutzung der Technologiebasis zur Konventionalisierung der NATO-Strategie. Die Initiative traf auf wenig Enthusiasmus auf Seiten der Westeuropäer, 1984 wurde eine Liste mit ganzen 11 Projekten zur Anwendung neuer Technologien (emerging technologies) von der CNAD gebilligt. Nach dem demokratischen US-Senator Nunn ist die Initiative von 1985 benannt, mit der die Rüstungskooperation in der NATO vor allem bei der F & E gefördert werden sollte.11 Ende 1989 sah die Bilanz so aus, daß von Seiten der USA 82 Programme für die Nunn-Initiative bestätigt worden waren, davon 28 mit Vertragsabschluß und acht mit unterzeichnetem Memorandum of Understanding mit NATO-Verbündeten, weitere elf MoUs standen noch in der Verhandlungsphase. Die US-Behörden drückten ihre Unzufriedenheit mit den wenig greifbaren Resultaten der Projekte bis zu diesem Zeitpunkt aus.12 Der frühere Generalsekretär der NATO, Lord Carrington, initiierte 1987 das Conventional Armaments Planning System (CAPS) der NATO. Es ersetzte das 1976 von der CNAD geschaffene Periodic Armaments Planning System (PAPS), das erste konkrete Planungssystem der NATO. Weil PAPS keine koordinierte Planung der Rüstungsprojekte gebracht hatte, erschien CAPS notwendig. Über die Erfassung der langfristigen nationalen Planung der Mitgliedstaaten soll deren Rüstungsbeschaffung koordiniert werden. Seit Sommer 1989 sind fast alle größeren Rüstungsprojekte, die im Rahmen der NATO durchgeführt werden sollten, durch den Rückzug eines oder mehrerer Partnerländer in größere Probleme geraten oder ganz gestrichen worden.13

Nicht in erster Linie auf Rüstungskooperation, sondern auf einen transatlantischen Rüstungsmarkt, ein »defence GATT«, zielte die Initiative des US-Botschafters bei der NATO, William Taft. Im März 1991 legte eine bei der CNAD eingerichtete Arbeitsgruppe den ersten Zwischenbericht zur Taft-Initiative vor. Darin wird ein möglicher NATO-Verhaltenskodex vorgeschlagen, in Anlehnung an die Regelung öffentlicher Ausschreibungen der Tokio-Runde des GATT und der EG. Ein NATO-Abkommen über den Rüstungshandel wird für möglich gehalten, eine NATO-Rüstungsagentur als utopisch bezeichnet. Neben einem Komitee über Folgeaktionen wird ein weiterer Bericht an die CNAD für Oktober 1991 vorgeschlagen.14 Im Sommer 1992 sollte ein weiterer Bericht zu den Arbeiten in der Folge der Taft-Vorschläge fertiggestellt werden. Nach Aussage eines Pressesprechers der NATO sollte er auch Vorschläge für Zollregelungen etc. enthalten, entsprechend den durch den Binnenmarkt geschaffenen Erfordernissen. Angesichts der vagen Vorschläge ist nicht zu erwarten, daß die NATO in absehbarer Zeit eine substantielle Übereinkunft zur Liberalisierung des transatlantischen Rüstungshandels erzielen wird. Für die westeuropäische Rüstungsindustrie wäre die Furcht vor der übermächtigen US-Konkurrenz Grund genug, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um den nordatlantischen Rüstungsmarkt zu verhindern.

Der westeuropäische Binnenmarkt für Rüstungsgüter

Offizielle Regierungsvertreter haben die Bezeichnung »Europäischer Markt für Verteidigungsgüter« (EMVG) kreiert. Seine institutionelle Verankerung ist umstritten, mit der IEPG und der EG-Kommission stehen zwei Akteure bereit, sich die Kompetenz dafür zu sichern. Den Ansprüchen der Kommission, den Art. 223 des EG-Vertrages zu streichen, der die nationalen Vorrechte für die Rüstungsproduktion festlegt, steht die IEPG entgegen. Diese will, laut »Action Plan« von 1988, die nationale Beschaffung liberalisieren und für den Wettbewerb öffnen. Die Ansiedlung des EMVG bei der IEPG ist die Option derjenigen, die zwar eine geringfügige Deregulation des Rüstungsmarktes für notwendig halten, die Kontrolle darüber aber unter keinen Umständen der Kommission übergeben wollen. Nationale Verfügungsgewalt, obschon stark eingeschränkt durch den Verlust an Autonomie des Rüstungsbereichs, soll wenigstens über dessen harten Kern erhalten bleiben. Dieser Standpunkt hat einen Etappensieg erzielt: der Art. 223 wurde beibehalten. Damit ist der Kompetenzstreit nicht beendet. Sollte die IEPG es nicht schaffen, die für erforderlich gehaltene minimale Liberalisierung des Rüstungsmarktes zu erreichen, wäre die Forderung der Kommission nach Kompetenzübertragung spätestens bei dem für 1996 anstehenden Bericht zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik kaum noch ablehnbar. Es ist deshalb erforderlich, sich mit den Optionen hinsichtlich des EMVG und den Möglichkeiten zu deren Durchsetzung von IEPG und Kommission zu befassen.

Die Independent European Programme Group

Wie bereits erwähnt, wurde die IEPG 1976 gegründet. Vorausgegangen war im Sommer 1975 die Entscheidung von vier kleineren NATO-Staaten, statt einer französischen Mirage die amerikanische F-16-Maschine zu beschaffen. Der damalige niederländische Verteidigungsminister Vredeling lud seine Kollegen der Eurogroup zu einer Sondersitzung, bei der die Gründung der von der NATO formal unabhängigen IEPG beschlossen und auch Frankreich dazu eingeladen wurde. Die IEPG erhielt drei Panels: I Rüstungsplanung, II Projektgebiete und III Rüstungswirtschaft und Verfahren. Nach der Gründung konnte man sich in kaum noch einem Punkt einigen, vor allem Frankreich widersetzte sich dem US-Interesse der Standardisierung und der transatlantischen Ausrichtung der Rüstungsstrukturen.

Ab 1983 gab es Bemühungen, der IEPG neues Leben einzuhauchen, die vor allem von Großbritannien in Person des damaligen Verteidigungsministers Heseltine vorangetrieben wurden. Heseltine war zunächst Vorsitzender der Eurogroup, fand dieses Gremium wegen des Fehlens Frankreichs für ungeeignet. Mit Unterstützung durch den niederländischen Vorsitzenden der IEPG betrieb er deren Wiederbelebung. Die Verteidigungsminister der Mitgliedsstaaten bildeten ab 1984 das oberste Gremium der IEPG. Die Betonung der Unabhängigkeit von der NATO ging nun so weit, daß man den USA bedeutete, sie seien in der IEPG unerwünscht.

Die britische Regierung hatte ein Interesse an der Ausdehnung der von ihr eingeführten Neuerungen in der Rüstungsbeschaffung. In Großbritannien selbst wurde der Anteil der in Konkurrenz vergebenen Aufträge im Zuge der sogenannten Levene-Reformen wesentlich gesteigert. Diese umfassen drei Prinzipien: die Lieferanten sollen um Entwicklungs- und Produktionsaufträge konkurrieren; der Hersteller, und nicht der Kunde, trägt das Risiko eines Fehlschlags, erzielt auch andererseits bei effizienter Arbeit größere Profite; Projekte werden auf allen Stufen überwacht, Zahlungen erfolgen erst nach nachgewiesenen Fortschritten. Angeblich wurden damit starke Einsparungen für den Beschaffungshaushalt erzielt, das Ende des Nimrod-Projekts war ein eindeutiger Hinweis an die Industrie auf die Ernsthaftigkeit der Regierungsabsichten. Im Interesse des Wettbewerbs bemühte sich die britische Regierung gleichzeitig, Fusionen und Konzentration auf dem Rüstungsmarkt zu verhindern. Das paradoxe Ergebnis war jedoch eine Konzentration der Marktmacht bei der Rüstungsindustrie.15

Die 1985 eingerichtete EDIS-Gruppe unter Vredeling, der mittlerweile auch EG-Kommissar war, bestehend aus Vertretern der Rüstungsindustrie und regierungsunabhängigen Politikern, erstellte im Auftrag der IEPG eine Studie zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Rüstungsindustrie. Die Ergebnisse wurden 1986 in zwei Bänden mit dem Titel „Towards a stronger Europe“ vorgelegt.

Wenn die Westeuropäer Rüstungskooperation so weiterbetrieben wie bisher, so der Tenor der Studie, seien sie Ende der 90er Jahre nur noch untergeordnete Zulieferer und nicht mehr in der Lage, die technische Führung zu übernehmen. Für eine effiziente Nutzung der Ressourcen zur Rüstungsproduktion wurden vielerlei Hindernisse gesehen. Hauptursache sei der fehlende Wettbewerb in Westeuropa.16

Die konkreten Anforderungen für die Errichtung eines Binnenmarkts für Rüstung in der IEPG wurden im Vredeling-Bericht folgendermaßen formuliert:

  • die graduelle Öffnung der nationalen Beschaffungsmärkte mit dem langfristigen Ziel der Schaffung eines Rüstungsbinnenmarktes der IEPG-Staaten. Durch die regionale Ausschreibung von nationalen Auftragsvorhaben soll der Wettbewerb vergrößert und die Restrukturierung der westeuropäischen Rüstungsindustrie beschleunigt werden. So möglich, sollen westeuropäische Konsortien gegeneinander um Aufträge konkurrieren;
  • die Regierungen sollen, Kraft ihrer Stellung bei der Auftragsvergabe, Fusionen im westeuropäischen Rahmen fördern;
  • zur Stärkung der technologischen Basis der Rüstungsindustrien soll ein Forschungs- und Entwicklungsprogramm eingerichtet werden, das aus einem Gemeinschaftsfonds zunächst 100 Mio., später 500 Mio. ECU erhalten soll;
  • das Prinzip der »juste retour« des längerfristigen industriellen Ausgleichs, wie es in der ESA praktiziert wird17, soll übernommen werden;
  • die Mitgliedsstaaten mit einer gering entwickelten Rüstungsindustrie (LDDI) sollen beim Aufbau des Rüstungssektors unterstützt werden, damit sie nicht bei der Öffnung der Märkte ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren;
  • zur besseren Durchführung der Vorschläge soll ein IEPG-Sekretariat eingerichtet werden, das die Zahl von 20 operationellen Beamten nicht übersteigen soll.18

Die Verteidigungsminister der IEPG lehnten 1987 zunächst ein gemeinsames Sekretariat ab, ebenso wie den Forschungsfonds, beauftragten aber die nationalen Rüstungsdirektoren mit der Ausarbeitung eines Aktionsplanes für die schrittweise Annäherung an einen offenen europäischen Markt für Rüstungsgüter. Diese Stockung in der Weiterentwicklung der IEPG hängt mit dem Rücktritt des »Europäers« Heseltine im Januar 1986 nach seiner Niederlage in der Westland-Frage und der Übernahme des Vorsitzes in der IEPG durch Spanien zusammen. Für die britische Orientierung hatten sich die Transatlantiker um Premierministerin Thatcher durchgesetzt. Ab 1987 erfolgte eine Reorientierung der britischen Interessen. Zum einen wurde klar, daß der US-Rüstungsmarkt von nun an schrumpfen würde. Zum anderen trat 1987 die Einheitliche Europäische Akte in Kraft, und die Folgen des zu schaffenden Binnenmarktes beschäftigten Wirtschaft und Politik. Da die britische Industrie in der Elektronik, einem Schlüsselbereich, nur im Rüstungssektor stark und konkurrenzfähig ist, mußte sie versuchen, diese Stärke abzusichern. Dafür werden einerseits Allianzen gesucht, so GEC und Siemens, andererseits ist ein größerer Markt wie der Rüstungsbinnenmarkt zur Absicherung des eigenen Wettbewerbsvorteils von Nutzen, so die Einschätzung von Gummett/Walker.19

Ein Ausdruck der Reorientierung war das 1987 mit Frankreich abgeschlossene Abkommen, die Möglichkeit zu schaffen, bereits entwickeltes Gerät im jeweils anderen Land anbieten zu können und sich um Entwicklungsaufträge bewerben zu können. Dazu werden Ausschreibungen in Bulletins in beiden Ländern veröffentlicht, für Produktionsaufträge von 1 – 50 Mio. und für Entwicklungsaufträge von 1 – 10 Mio. Pfund ist Gleichbehandlung von Wettbewerbern aus beiden Ländern zugesichert. Die britisch-französische Zusammenarbeit erscheint auf den ersten Blick ungewöhnlich, weil grundsätzlich verschiedene Auffassungen von Markt und industriepolitischer Bedeutung des Rüstungssektors bestehen. In Frankreich bestehen seit je Befürchtungen über eine technologische Abhängigkeit von den USA, vor allem im Rüstungsbereich, der Großteil der Rüstungsindustrie ist in Staatsbesitz und spielt zudem eine große Rolle in der industrie- und technologiepolitischen Konzeption des Staates. Überlegungen dieser Art haben für das britische Verteidigungsministerium keine Bedeutung, man will einzig durch einen offenen Rüstungsmarkt die Beschaffungskosten so niedrig wie möglich halten. Während die Gründe für Großbritanniens Umorientierung schon genannt sind, liegen sie im Fall Frankreichs etwas anders. Die Rüstungsindustrie hat in der ersten Hälfte der 80er Jahre starke Einbußen bei Rüstungsexporten hinnehmen müssen. Ausserdem waren die britisch-bundesrepublikanische Zusammenarbeit (Tornado, Jäger 90, GEC-Siemens), sowie die Konzentration der bundesdeutschen Rüstungsindustrie bei Daimler-Benz Anlaß zur Sorge. Deshalb bemühte man sich verstärkt um französisch-britische Zusammenschlüsse und Kooperation, war auch bereit, auf britische Vorstellungen beim gemeinsamen Rüstungsmarkt einzugehen.20

Der auf Anregung der Vredeling-Studie vom Panel III der IEPG (Vorsitz Bundesrepublik) erstellte „Aktionsplan zur schrittweisen Errichtung eines europäischen Rüstungsmarktes“ betont die Bedeutung grenzüberschreitenden Wettbewerbs und ungehinderten Technologietransfers zur Kostenersparnis und Vermeidung von Doppelentwicklungen. Umfassende und systematische Kooperation bei Forschung und Entwicklung wird als zentraler Bestandteil für die Schaffung eines europäischen Rüstungsmarktes bezeichnet. Die »kooperativen Technologieprojekte« seien ein Anfang, nun müsse systematische Zusammenarbeit im Bereich prioritärer Technologie erfolgen. Dazu sei ein Gemeinschaftsfonds das Beste, da die Verteidigungsminister diesen abgelehnt hätten, müßten nunmehr die Projekte je einzeln finanziert werden. Für die LDDI-Länder21 wird die Einräumung besonderer Übergangsperioden vorgeschlagen. Im einzelnen werden die Erarbeitung eines Konzepts für den europäischen gemeinsamen Rüstungsmarkt und eine Fülle vorbereitender Schritte vorgeschlagen. Im Forschungs- und Entwicklungsbereich wird als Fernziel ein „European Technology Plan“ (ETP) mit eigenem Fonds genannt, zunächst sollen prioritäre Technologiebereiche festgelegt, nationale F&E-Pläne abgestimmt werden. Für den »juste retour« genannten industriellen Ausgleich, der nach dem Muster der ESA über mehrere Projekte und über längere Zeiträume organisiert werden soll, wurde eine besondere Prozedur, mit jährlichem Bericht, vorgeschlagen. Der Konflikt zwischen »juste retour« und dem angestrebten Wettbwerb wird benannt. Transnationale Konsortien könnten ein Mittel sein, »juste retour«, die Beteiligung der Länder mit gering entwickelter Rüstungsindustrie und den Technologietransfer zu sichern.22

Die Verteidigungsminister der 13 IEPG-Mitgliedsstaaten billigten bei ihrem Treffen in Luxemburg im November 1988 den Aktionsplan. Frankreich wurde der Vorsitz in einer neuen Arbeitsgruppe zur Entwicklung des European Technology Plans (ETP) angetragen. Gemeinsame Projekte sollen vorläufig auf einer Fall-zu-Fall-Regelung aus den nationalen Budgets finanziert werden. Die Rahmenbedingungen für solche Projekte sollen nach denen von EUREKA und ESPRIT ausgerichtet werden. Dem Vorhaben wurde der Namen European Cooperative Long-Term Initiative in Defence (EUCLID) gegeben, es wurde mit zunächst 120 Mio. Ecu dotiert und am 27.6.1989 bei einem Treffen in Estoril (Portugal) von der IEPG akzeptiert.23 Bereits in Luxemburg war die Einrichtung eines kleinen ständigen Sekretariats in Lissabon beschlossen worden, das dem IEPG-Vorsitz direkt verantwortlich ist.

Die Berichte über die bei der Umsetzung des Aktionsplanes erzielten Fortschritte sind nicht unbedingt mit Erfolgsmeldungen angefüllt. Panel I, operationelle Anforderungen und Ausrüstung (Vorsitz Norwegen), soll eine langfristige Rüstungsplanung und gemeinsame Projekte bewerkstelligen. Laut einem Bericht des Leiters von Panel I vom Oktober 1990 war seit 1984 kein einziges konkretes Projekt verabredet worden. Lediglich vier Projekte wurden mit besonderem Potential für Kooperation gesehen.24

Panel II, Forschung und Technologie (Vorsitz Frankreich), ist im wesentlichen mit der Umsetzung des EUCLID-Programmes beschäftigt. Die Kommuniqués der beiden Treffen der IEPG vom Juli 1991 und März 1992 berichten von gewissen Fortschritten. Die Rahmenabkommen für die neuen Projekte wurden 1991 abgeschlossen, im März die ersten Verträge für neue Projekte vorbereitet.

Die Öffnung der Rüstungsmärkte obliegt Panel III, Verfahren und ökonomische Aspekte (Vorsitz Deutschland). Als erste Schritte in diese Richtung sollten in den jeweiligen nationalen Beschaffungsbehörden zentrale Büros (focal points) eingerichtet werden, bei denen sich Firmen aus IEPG-Ländern als potentielle Lieferanten registrieren lassen können; die nationalen Prozeduren für Angebotsabgaben sollten vereinheitlicht werden; Daten zu nationalen Ausschreibungen sollten dem permanenten Sekretariat zugehen, das auch die Vergabe von transnationalen Verträgen registriert; Bulletins über nationale Ausschreibungen regelmäßig veröffentlicht werden.25 Diese Maßnahmen sollten bis Ende 1989 umgesetzt sein. Die Kommuniques der Treffen der IEPG im Juli 1991 und März 1992 enthalten zur weiteren Umsetzung der Maßnahmen des Aktionsplanes keine genauen Angaben. Dies kann einerseits im Zusammenhang mit der Unsicherheit über die weitere Kompetenzverteilung zwischen Europäischem Rat, Kommission und Mitgliedsstaaten der EG gesehen werden, deren Regelung nach wie vor aussteht. Andererseits ist die mangelnde Umsetzung des Aktionsplanes ein möglicher Grund für den fehlenden Bericht über den Stand der Dinge. Dieser Erklärungsstrang wird durch Berichte aus kleineren Ländern wie Belgien verstärkt, wonach in der Folge der Kürzungen der Rüstungshaushalte es in den beiden letzten Jahren sehr schwer geworden sei, Rüstungsgüter in den anderen IEPG-Staaten abzusetzen. Es sei in den drei großen Ländern die Tendenz zu beobachten, auf das Aus für die kleineren Wettbewerber zu warten. Oft sei dies schon nach einem nicht erhaltenen Auftrag der Fall.

In Kopenhagen redeten die Minister, angeblich erstmals, über das Verhältnis der IEPG zur EG. Mehrheitlich war man für die Fortführung der Maßnahmen, bis im Rahmen der gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik eventuell der IEPG-Markt in den Binnenmarkt übernommen werde. Ein mögliches Scheitern der IEPG und die Übernahme des Rüstungsmarktes durch die EG ist auch unabhängig von der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht auszuschließen.

Denn trotz des Ergebnisses der Regierungskonferenz ist der Erfolg der IEPG nicht gesichert. Während für die gemeinsame Rüstungsplanung und -forschung ein Scheitern voraussehbar war – denn die Probleme lösen sich nicht durch die Verlagerung in andere, westeuropäische Gremien – stehen dem Kernprojekt der IEPG, dem Rüstungsbinnenmarkt, strukturelle Defizite und Probleme im Weg. Die IEPG ist eine rein intergouvernementale Institution, ihre Abmachungen haben keinen völkerrechtlich verbindlichen Charakter und sind nicht einklagbar. Hinzu kommt die institutionelle Schwäche. Der rechtliche Rahmen und die Voraussetzungen für das Funktionieren werden außerhalb der IEPG geschaffen. Aus diesen Gründen werden die Erfolgsaussichten der IEPG in der Literatur allgemein skeptisch beurteilt.26 Besonders schwierig ist es, das Verlangen nach industriellem Ausgleich, »juste retour«, und Berücksichtigung der Interessen der DDI-Länder, das heißt derjenigen Länder, die eine schwache Rüstungsindustrie besitzen, mit dem angestrebten Wettbewerb in Einklang zu bringen. »Juste retour« steht wettbewerblichen Prinzipien diametral entgegen, was auch innerhalb der IEPG klar ist.

Ein allmähliches Abrücken vom Prinzip der »juste retour« deutet sich an. Am Ende werden die neuformierten und schlagkräftigen Rüstungskonsortien der großen Drei und des italienischen Pols den westeuropäischen Markt beherrschen. Die Chancen der DDI-Länder, ihren Rüstungssektor zu entwickeln, sind gering. Das gilt aber auch für Staaten, wie die Niederlande und Belgien, mit einer mittleren Rüstungsindustrie, die in der Regel von den großen Konsortien beherrscht werden wird oder bereits übernommen ist.

Die EG-Kommission

Neben der abgeleiteten Kompetenz in Dingen, die den Rüstungssektor betreffen, gibt es in der Kommission eine lange Linie von Bestrebungen, im Rahmen der Industriepolitik auch die direkte Zuständigkeit für den Rüstungsbereich zu erlangen. In seiner Amtszeit als Kommissar und Leiter der DG III hatte Spinelli versucht, seinen Vorschlag der Zusammenfassung des Luftfahrtsektors, zivil und militärisch, in einem einzigen westeuropäischen Unternehmen durchzusetzen. Im Tindemans-Bericht, der 1975 an den Rat übergeben wurde, war der Vorschlag für eine westeuropäische Rüstungsagentur unter dem Dach der EG enthalten. Der sogenannte Klepsch-Bericht des Politischen Komitees des EP über »European Armaments Procurement Cooperation« argumentierte auf der Linie des Tindemans-Berichts. Die Kommission wurde darin aufgefordert, „to submit to the Council in the near future a European actions programme for the development and production of conventional armaments within the framework of the common industrial policy“.27

In der sachlichen Begründung des Antrages tritt Klepsch (CDU) für die enge Kooperation von Kommission und IEPG bei der zu schaffenden Rüstungsagentur ein.28 Nach der ersten Direktwahl zum EP 1979 war es die christdemokratische Fraktion, die beharrlich versuchte, gegen den Widerstand der linken Fraktionen Sicherheitspolitik im EP zum Thema zu machen. Erst 1989 wurden zwei Berichte verabschiedet, die sich direkt mit Sicherheitspolitik befaßten.29

In der Kommission war es weiter die DG III, die wiederholt offene Vorstöße unternahm, in größerem Ausmaß nichtöffentliche Planungen betrieben hat und betreibt. Im Zusammenhang mit dem Klepsch-Bericht sprach Kommissar Davignon von einer Industriepolitik bezüglich militärischer Güter, die angestrebt sei. Der Nachfolger von Davignon, Narjes, hat in einer ähnlichen Art argumentiert (militärisches Nutzungspotential der EG-Technologieprogramme, dual-use und öffentliche Beschaffung) und es vermieden, öffentlich die Erweiterung der Kompetenzen der EG zu fordern, über die Technologiepolitik und den dual-use Bereich hinaus.30 Im Zusammenhang mit der Regierungskonferenz zur Europäischen Union forderte die Kommission die Streichung des Art. 223 und eine gemeinsame Rüstungspolitik. In Art. Y 13 des Entwurfs der Kommission heißt es: „im Rahmen der gemeinsamen Sicherheitspolitik legt die Union ein politisches Konzept für Forschung und Produktion im Rüstungssektor fest.31

Während man in der DG III lange Zeit von der Abschaffung des Art. 223 ausging, befaßte man sich doch gleichzeitig mit dem Fall, unter den alten Restriktionen weiterarbeiten zu müssen. 1990 wurden eine Studie zur Umstrukturierung der dual-use- oder verteidigungsnahen Industrien und eine zum öffentlichen Auftragswesen und Rüstungsbeschaffung in der Gemeinschaft in Auftrag gegeben. Die Studie zur Umstrukturierung befaßte sich mit der Rüstungsindustrie insgesamt. In den Empfehlungen des zugänglichen Teils wird eine Ausdehnung der Aktivität der Kommission in den Bereichen Forschung, Strukturpolitik und Rüstungsexportkontrolle, in CoCom und anderen Regimes, empfohlen.32 Die Dinge klarer beim Namen genannt hat der Generaldirektor der DG III, Riccardo Perissich, in einem Vortrag bei einer Konferenz zur Zukunft der europäischen Sicherheit.33 Dort führte er aus, man nenne die Rüstungsindustrie lieber dual-use- oder verteidigungsrelevante Industrien, weil sie nicht einem einzigen Sektor zuzuordnen sei, die Zulieferer nur in geringem Umfang Rüstung produzierten und alle Hochtechnologiebereiche einbezogen seien. Weiter sieht er in der Kommission das ideale Gremium, um die bekannten Mängel der Rüstungsproduktion und -beschaffung zu beseitigen, die Konversion von Überkapazitäten umzusetzen und Wettbewerb einzuführen.

Die DG III hat eine Studie in Auftrag gegeben, die, analog dem Cecchini-Bericht zu den Kosten von »Non-Europe«, die vorgeblichen Kosten der Nichtöffnung der Rüstungsmärkte untersucht. Während die Veröffentlichung für den Spätsommer 1992 vorgesehen ist, zitierte ein EG-Offizieller auf einer Konferenz bereits daraus. Hans Feddersen sagte, die Studie habe ergeben, 30 Mrd. Dollar, oder 25% der Rüstungsausgaben der EG, könnten durch einen offenen Rüstungsmarkt gespart werden, wobei allerdings dafür kein Zeitraum angegeben wird.34

Schlußbemerkung

Komplexität, Entwicklungs- und Produktionskosten für neue Produkte sind durch die generische Technologie der Mikroelektronik derart gestiegen, daß nationale Märkte nicht mehr ausreichen, um rentabel zu arbeiten. Die Firmen müssen eine immer größere Kompetenz vereinigen, um komplexe technologische Systeme planen und integrieren zu können. Deshalb nehmen Unternehmensgrößen, auch transnational, und internationaler Konkurrenzdruck stetig zu. Das gilt für militärische wie zivile Bereiche, wobei die Ähnlichkeiten zwischen technologischen Großsystemen beider Bestimmungen immer größer geworden sind. Zusätzlich ist der militärische Sektor, durch die größere Flexibilität und Adaptionsfähigkeit ziviler Firmen, mit wesentlich kürzeren Entwickungszyklen, in Kernbereichen von zivilen Zulieferungen abhängig geworden. Das gilt vor allem für elektronische Komponenten. Elektronik hat an modernen Waffensystemen einen Wertanteil zwischen 30 und 60%.

Technologiepolitik in Westeuropa hat seit ihren Anfängen in den 60er Jahren immer eine starke militärische Komponente gehabt, auch wenn regelrechte Rüstungsprojekte selten die Träger waren. Atomenergie, Luft- und Raumfahrt sind wesentlich mit militärischen Anwendungen verbunden, der Aufbau und Erhalt entsprechender industrieller Kapazitäten und der komplementären Technologien war ein Ziel staatlicher Politik. Die sogenannten »strategischen Industrien«, die Fähigkeit, für die staatliche Autonomie und deren technologische Basis eigenständig die erforderlichen Güter, Waffensysteme und zivile Produkte, erforschen, planen und herstellen zu können, stand und steht im Zentrum staatlicher Technologiepolitik. Mit dem Einzug der neuen Technologien, in erster Linie der Mikroelektronik, von manchen als neuerliche industrielle Revolution charakterisiert, haben sich die Gewichte verschoben. Durch den Vorsprung ziviler Halbleiter- und Komponentenentwicklung auf militärische Projekte wird es für die Rüstungsproduktion immer wichtiger, Zugang zu zivilen Entwicklungen zu haben. Dieser wird in den USA systematisch organisiert. Damit wird der Zugriff des Militärischen auf zivile Segmente der Wirtschaft und Gesellschaft verstärkt, es ist ein weiterer Schritt der Militarisierung von Forschung, Wirtschaft und Politik zu konstatieren. Jegliche Technologiepolitik hat nunmehr einen militärischen Aspekt, auch wenn sie in ziviler Umgebung stattfindet, wie etwa die Forschungsprogramme der EG. Ein illustratives Beispiel ist die Unterstützung der US-Forschung zum hochauflösenden Fernsehen durch das DoD in Milliardenhöhe. Direkte militärische Anwendungen sind vorläufig nicht absehbar, aber das Verteidigungsministerium will sich den Zugriff auf die Technologie sichern.

In Westeuropa war die Reaktion in der Industrie auf die neuen Technologien und ihre Auswirkungen die Forderung nach größeren Märkten und Unterstützung gegen die übermächtige Konkurrenz aus den USA und Japan. Gleichzeitig wurde die Kooperation auf allen Ebenen verstärkt, durch gemeinsame Forschung und Entwicklung, Bildung von Konsortien, Übernahme von Konkurrenten etc. Doch waren die rechtlichen Möglichkeiten dafür durch nationale Gesetzgebungen eingeschränkt, ebenso wie die Märkte. Die Forderung von seiten einflußreicher industrieller Verbände nach einem großen westeuropäischen Binnenmarkt, mit entsprechendem gesetzlichen Regelwerk für die Unternehmen, und einer gemeinschaftlichen Technologiepolitik, trafen sich mit alten Plänen der EG-Kommission und erhielten partielle Zustimmung in den nationalen Regierungen. Die Einheitliche Europäische Akte, der Binnenmarkt und die Verhandlungen über die Europäische Union waren somit möglich geworden. In der Technologiepolitik ziviler Ausrichtung erhielt die EG eine begrenzte Kompetenz, mit der Schaffung von Eureka und der Verstärkung traditioneller Projekte wie Airbus, wurde der Großteil in einem weniger stark integrierten Rahmen behalten.

Rüstungsindustrie und -kooperation, ein gemeinschaftlicher Markt für Rüstungsgüter sollte (nach dem Willen der Mitgliedstaaten) der EG weiter entzogen bleiben. Der Art. 223 des EG-Vertrages, der die nationalen Vorrechte für die Rüstungsproduktion festlegt, blieb erhalten. Und das, obwohl Güter zivilen Ursprungs mehr und mehr auf militärische Märkte vorgedrungen sind, die öffentlichen Märkte geöffnet, Unternehmens- und Wettbewerbsrecht, steuerliche Regelungen etc. für den Binnenmarkt von der EG-Kommission gesetzt und überwacht werden. Davon ist die Rüstungsindustrie in vollem Umfang betroffen, wie sie auch von den dadurch eröffneten Möglichkeiten profitiert.

Der Wahl der Foren der Rüstungskooperation kommt Bedeutung in zweierlei Hinsicht zu. Es ist der Aspekt der Beschränkung auf den westeuropäischen Rahmen, der Einschluß oder Ausschluß der USA. Und zweitens die Intensität, das Ausmaß der Integration bei der Kooperation, der Grad der institutionellen Verankerung. Die militärischen Administrationen der Mitgliedstaaten bevorzugen als Rahmen für den Rüstungsmarkt die IEPG, die auch die Rüstungskooperation und -forschung leiten soll. In ihr sind die USA nicht vertreten, sie hat nur eine schwache Infrastruktur und ist institutionell nicht in der Lage, Maßnahmen gegen zögerlich handelnde Mitglieder durchzusetzen. Die Gremien der NATO und der WEU haben in diesen Bereichen wesentlich an Boden verloren, trotz Initiativen wie etwa der des US-Senators Taft für eine nordatlantische Freihandelszone für Rüstung. Eine solche erscheint den westeuropäischen Verantwortlichen wegen der Übermacht der US-Industrie als wenig erstrebenswert.

Ob die IEPG die gesteckten Ziele erreichen kann, ist unsicher. Im Rüstungsbereich ist die Beharrungskraft nationaler Präferenzen am stärksten, er wird als Kern der nationalen Souveränität gesehen. Entsprechend wird die Öffnung der Märkte bislang nur langsam und eingeschränkt vollzogen. Die Rüstungskooperation hat auf der zwischenstaatlichen Ebene ebenfalls keinen Schub erhalten. Dagegen ist die Unternehmenskonzentration im westeuropäischen Maßstab schon weit fortgeschritten. Wenn die Rüstungsmärkte nicht internationalisiert werden, erreicht die Industrie die nötigen Marktgrößen durch transnationale Verflechtung. Das wird durch den Binnenmarkt und die Konzentration der Rüstungsproduktion in Großunternehmen mit überwiegend ziviler Produktion wesentlich erleichtert. Angesichts der für 1996 angesetzten Überprüfungskonferenz der Verträge zur Europäischen Union ist es wahrscheinlich, daß dann die Kompetenz für die Rüstungsindustrie in vollem Umfang an die EG fällt, der Art. 223 gestrichen wird.

Sollte dieser Fall nicht eintreten, so ändert das nichts an dem Faktum der gestiegenen Integration der Rüstungsindustrien in Westeuropa. Am stärksten miteinander verwoben sind die Unternehmen selbst, wobei die Rahmensetzung des Binnenmarkts entscheidende Erleichterungen für die Prozesse der Konzentration, Kooperation etc. bietet.

Die Beibehaltung des Art. 223 schafft für die Märkte eine gespaltene Situation. Während militärische Massengüter, »weiches« Material und sogenannte duale Technologien den Richtlinien für öffentliche Aufträge unterliegen, wird das Procedere für »hartes« Militärmaterial in einem getrennten Bereich, der IEPG, geregelt. Dort erfolgt eine vorsichtige Öffnung der Märkte, ab gewissen Schwellenwerten und nach oben eingeschränkt, die mit der Öffnung im Binnenmarkt nicht zu vergleichen ist. Obendrein ist nicht sicher, daß dies so funktionieren wird wie vorgesehen, denn nationale Verhinderungs- und Verzögerungstaktiken können nicht mit juristischen Sanktionen belegt werden. Dazu gibt es, mit der NATO und der WEU, noch zwei konkurrierende Institutionen, die im selben Bereich tätig sind und die Kompetenzen für die Rüstungsindustrie und -märkte gerne an sich ziehen würden.

Doch unbeachtet des Ausgangs des institutionellen Wettbewerbs bleibt es dabei, daß es dieselben Personen sind, die sich in den unterschiedlichen Einrichtungen treffen, wenn es um Rüstungsangelegenheiten geht. Ob CNAD, WEU oder IEPG, die Vertreter der Verteidigungsadministrationen und der Industrie kennen sich aus den anderen Gremien oder aus bilateralen Zusammenhängen. Sollte die EG 1996 die Kompetenz erhalten, wird sich das auch nicht ändern. Was nicht heißt, es sei völlig gleichgültig, unter welchem Dach Rüstung behandelt wird. In der westeuropäisch-amerikanischen Konkurrenz ist es wichtig, ob die Westeuropäer ihren eigenen Markt gegen die starken US-Firmen abschotten oder es eine nordatlantische Freihandelszone für Militärgüter gibt. Genauso ist es ein Unterschied, ob die Kommission die Kontrolle über die Rüstungsmärkte erhält oder ob die Nationalstaaten ihre Administrationen damit beauftragen. Schließlich ist Rüstung, die Fähigkeit und das Recht, Krieg zu führen, in der historischen Entwicklung der Kern der staatlichen Souveränität gewesen.

Anmerkungen

1) Besteht aus den Leitern der Rüstungsabteilungen der USA, Frankreichs, Großbritanniens und der Bundesrepublik, soll Rüstungszusammenarbeit erörtern. Wehrtechnik 2/1991, S. 40. Zurück

2) Gegründet 1953 auf französische Initiative, besteht aus den Heeresinspekteuren Frankreichs, Italiens, der Niederlande, der Bundesrepbulik, Belgiens, Luxemburgs und Großbritanniens, soll die Standardisierung vorantreiben, nach: Das Atlantische Bündnis. Tatsachen und Dokumente, Siebte Auflage, neu bearbeitet und erweitert, Brüssel (NATO Informationsdienst) 1990, S. 33. Zurück

3) Einen Überblick über Geschichte und Funktion der verschiedenen Foren geben Campbell, Kelly und Zweerts, Robert: The Search for Integrated European Programme Management, in: Drown, Jane Davis/Drown, Clifford/Campbell, Kelly (ed.): A single European Arms Industry? European Defence Industries in the 1990s, S. 70 – 96. Zurück

4) Fischer, Martina: Die Westeuropäische Union (Teil I): Vom bürokratischen Wasserkopf zur zweiten Säule der NATO?, in: Antimilitarismusinformation 2/1985, S. Y-9. Zurück

5) Gerner, Michael: Die WEU als Forum der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit in Westeuropa, S. 203; in: Seidelmann, Reimund (Hrsg.): Auf dem Weg zu einer westeuropäischen Sicherheitspolitik, Baden-Baden 1991 Zurück

6) Le Monde, 17.10.1991. Zurück

7) Bulletin der Bundesregierung, Nr. 16, 12.2.1992, S.183. Zurück

8) Sillard, Yves: Vers l'Europe de la Défense, in: L'Armement, NS N° 30, décembre 1991, S. 4 – 6. Zurück

9) Die Eurogroup hat eine Untergruppe EURONAD, die sich mit Rüstungskooperation befaßt. Zurück

10) Die bekanntesten sind der Tornado, Jäger 90, Milan, MLRS, Nato-Hubschrauber 90. Zurück

11) Die Grundlage war bereits 1977 mit dem sogenannten Culver/Nunn-Amendment gelegt worden, das im Ziel identisch war mit der Wiederaufnahme der Initiative 1985. Zurück

12) Jane's Defence Weekly, 25 November 1989, S. 1147 f. Zurück

13) So die NATO-Fregatte 90, die Luft-Luft-Rakete kurzer Reichweite ASRAAM, die modulare Abstandswaffe MAW, der NATO-Hubschrauber 90. Offizielle in Washington sprachen von einem »Frontalangriff auf die transatlantische Rüstungskooperation«, die tageszeitung, 3.10.1989. Zurück

14) North Atlantic Council/Conference of National Armaments Directors: Initial Investigation of the Feasibility of Improving the Conditions of Defence Trade between NATO Allies, Document AC/259-D/1437, Brussels, 12th March 1991, S. 33 ff. Zurück

15) Walker/Gummett, a.a.O., S. 5f. a.a.O., Walker/Gummett, a.a.O., S. 421 f. Zurück

16) Vredeling (Hrg.): Towards a Stronger Europe, Brüssel 1986, S. 38. Zurück

17) Siehe dazu Morel de Westgraver, E./Imbert, P.: Le 'juste retour': contrainte ou instrument d'intégration européenne? in: ESA Bulletin 59, S. 62 – 69. Zurück

18) Towards a Stronger Europe, a.a.O., Volume 1, S. 6 – 14; Zurück

19) Walker/Gummett, a.a.O., S. 424 ff. Zurück

20) Walker/Gummett, a.a.O., S. 428 f. Zurück

21) In der IEPG sind damit Griechenland, Portugal und Spanien gemeint. Sie wurden zunächst mit dem Terminus »Less Developped Defence Industry« (LDDI), später Developping Defence Industry (DDI) belegt. Zurück

22) IEPG: Action Plan, a.a.O. Zurück

23) Estoril Communiqué, IEPG/Min/D-12, 28 June 1989; North Atlantic Assembly, Defence and Security Committee: Report of the Sub-Committee on Challenges to Transatlantic Cooperation: – Burden-Sharing in the Alliance; – European Integrative Efforts, Corapporteurs: Mr José Lello, Mr Bill Richardson, Brussels, October 1989, S. 12 f. Zurück

24) NATO's Sixteen Nations, October 1990, S. 43 – 48. Zurück

25) Independent European Programme Group: Luxemburg Communiqué of the meeting of the Defence Ministers of the thirteen IEPG member countries, IEPG/MIN/D-11, 9th November 1988, S. 2. Zurück

26) Siehe beispielsweise Harbor, 1989a, a.a.O., S. 21 f; Walker/Gummett, a.a.O., S. 441. Auch Vredeling sieht die Zukunft der unabhängigeren westeuropäischen Verteidigung und Rüstungskooperation innerhalb der »organisierten Union der Europäischen Gemeinschaft«, nach: NATO's Sixteen Nations, Dec. 1987 – Jan. 1988, S. . Zurück

27) European Parliament, Doc 83/87, Report drawn up on behalf of the Political Affairs Committee on European Armaments Procurement Cooperation, 8 May 1978, S. 6. Zum Zeitpunkt der Annahme des Berichts (20 zu 5 Stimmen, drei Enthaltungen) waren auch Spinelli und Bangemann Mitglieder des Politischen Ausschusses. Zurück

28) Ebenda. S. 48. Zurück

29) Der Bericht Penders über die Sicherheit in Westeuropa (Dok A2-410/88) und der Bericht Ford über Waffenexporte europäischer Länder (Dok A2-0398/88). Zurück

30) Narjes äußete sich im genannten Sinn beispielsweise am 17. November 1987 vor der Führungsakademie der Bundeswehr und beim Kolloquium der WEU zur Kooperation bei Forschung und Entwicklung von Rüstung, Assemblée de l'Europe Occidentale, Commission scientifique, technique et aérospatiale: La coopération européenne en matière de recherche et de développement dans le domaine des armements, Colloque, Londres, 7 et 8 mars 1988, S. 36 – 42. Zurück

31) Regierungskonferenz „Politische Union“, Text betreffend die gemeinsame auswärtige Politik, den die Kommission als Arbeitsdokument an die persönlichen Vertreter im Rahmen der Regierungskonferenz verteilt hat, PE 149.438, Bulletin 14.3.1991, S. 4, Erläuterungen auf der Seite 17 f. Zurück

32) Neben der Zusammenfassung der Studie, die begrenzt zugänglich gemacht wurde, gab es noch Länderstudien zu den Rüstungsindustrien in den einzelnen Mitgliedstaaten, die von Instituten vor Ort ausgeführt wurden. Die Gesamtstudie wurde vom Brüsseler Institut Eurostratégies geleitet. Zurück

33) Perissich, Riccardo: The Defence Industry in Europe: Competition, Cooperation and Rationalisation, International Herald Tribune Conference on „The Future of european Security – Political, Strategic and Industrial Aspects“, mimeo, Rome 3rd May 1991. Zurück

34) Jane's Defence Weekly 4 July 1992, S. 46. Zurück

Harald Bauer ist Politikwissenschaftler und Mitarbeiter bei Saver World (London).

Ein demokratisches Europa – Europa von unten

Ein demokratisches Europa – Europa von unten

von Andreas Buro

Europa von unten ist positiv besetzt. Es suggeriert Gemeinsamkeit und Solidarität der Menschen. Es klingt, als ob die wohlverstandenen Interessen aller die Politik des Ganzen bestimmten. Ja, ein Hauch jener Verse verbindet sich mit dem Slogan »Europa von unten«, in denen es heißt: „Sprechen erst die Völker selber, werden sie schnell einig sein.“

Gute Hoffnungen, wichtige Ermutigungen in einer Zeit, die so sehr von Skepsis geprägt ist. Doch kann man sich derartig einfache, schöne Bilder noch leisten bzw. sind sie realistisch angesichts einer zerklüfteten politischen, ökonomischen und sozialen Landschaft – gerade in Europa? Angesichts der Entstehung einer Festung Europa, einer Festung der Reichen, die nicht einmal Europa zusammenbringt, sondern vielmehr Europa mit neuen Festungsmauern zertrennt; in Zonen der Integration und Zonen des Chaos und Absturzes, wobei das Integrationsgebiet selbst durch die Ausgrenzung ganzer Teile der Gesellschaft ebenso gekennzeichnet ist, wie durch die Angst der Eingegrenzten aus ihrer Insel der Wohlstandsglückseligkeit hinausfallen zu können.

Die soziale, wirtschaftliche und politische Situation der Menschen in Gesamteuropa klafft also weit auseinander. Der anvisierte Supranationale Staat, genannt Politische Union, gilt nur für das EG-Europa, während sich die Staatsbildung und Konsolidierung bei gleichzeitigen Bemühungen um gesellschaftssystemare Transformation die ehemals bürokratisch-etatistischen, sogenannten real-sozialistischen Gesellschaften kennzeichnet. Tendenzen der Entdemokratisierung durch Supranationalisierung, stehen sehr vielfältige ethnisch-nationalistische Ideologisierungen von Gesellschaften des Ostens gegenüber, die nicht zuletzt als Herrschaftsinstrumente rivalisierender alter und neuer Eliten eingesetzt und entwickelt werden. Darüber hinaus wird angesichts der ungeheueren ökologischen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme in den bürgerlich-parlamentarischen Demokratien deutlich, wie wenig funktionsfähig diese sind, wenn nicht Demokratisierung in den Gesellschaften, und zwar diesseits von Parteienarbeit kräftig sich entfaltet, um als Korrektiv für die oft zu kurzatmige, taktische Parteienpolitik, langfristige, auf Problemlösung orientierte soziale Lernprozesse zu befördern. Vergleichbare Arbeit gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung durch Basisaktivitäten ist aber auch für die ehemaligen Ostblock-Gesellschaften dringend, um die Möglichkeiten der ideologischen Verhetzungen und Verführungen in den sich transformierenden Gesellschaften einzuschränken und das gut verstandene Interesse der Menschen zur Geltung zu bringen.

Innergesellschaftliche soziale Bewegungen als Voraussetzung

Diese ersten Aussagen lassen doch bereits eine erste wichtige Schlußfolgerung zu: Ein Europa von unten mit europäischer Gestaltungskraft wird es nur geben, wenn sich in den Gesellschaften der einzelnen Staaten und Regionen tatsächlich eine Basiskultur der BürgerInnen-Initiativen und sozialen Bewegungen entwickelt. Nach allen Erfahrungen – vor allem im EG-europäischen Raum – entstehen Basisaktivitäten nur aus Situationen, welche die Menschen materiell und psychisch stark berühren, und die eine kollektive (also nicht individuelle) Antwort und Reaktion begünstigen. In der Regel werden solche Situationen und daraus folgende Betroffenheiten nationalen Charakter haben. Unmittelbarkeit und Besonderheit der Situationen wirken sich in diesem Sinne aus.

Europäische Gemeinsamkeiten von unten sind nur dort zu erwarten, wo auch eine gemeinsam betreffende Herausforderung vorliegt, die in den einzelnen Gesellschaften in ähnlicher Weise psychisch verstanden und verarbeitet wird. Solche Gemeinsamkeiten müssen nicht immer gesamteuropäischen Charakter haben. Dies ist eher unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher sind internationale Basiskooperationen zwischen einigen Ländern, die je nach Thematik variieren können. Ein gemeinsames Thema dieser Art, das über Jahrzehnten hinweg immer wieder europäische Basiskooperation anregte, waren die Bedrohungen aus dem Ost-West-Abschreckungssystem. Dabei ergaben sich zwei wichtige Beobachtungen. Eine Kooperation über die Blockgrenzen hinweg, kam kaum zustande, da sich im Ostblock Bewegungen von unten kaum entwickeln konnten, bzw. sich auf ihre sehr spezifischen nationalen Situationen einzustellen hatten.

In den westeuropäischen Staaten, in denen sich eine starke Friedensbewegung entwickeln konnte, blieb die internationale Kooperation trotz guter organisatorischer Ansätze und kompetenter Bemühungen häufig sehr schmalbrüstig. Neben den finanziellen Problemen, lag ein Grund hierfür darin, daß die nationalen Besonderheiten der Sicherheits- und Militärpolitik, auf die zu reagieren war, so viel Aufmerksamkeit der jeweiligen Friedensgruppen forderten, daß für eine wirksame Kooperation über die Grenzen hinweg nur wenig Kraft blieb. Am wirksamsten verlief die Zusammenarbeit dort, wo Internationales in die nationale Arbeit eingebaut werden konnte.

Ein zweiter Grund dafür, daß kaum mit einer starken europäichen Kooperation von unten zu rechnen ist, sondern eher die Ausnahme als die Regel sein wird, ist die Heterogenität der Bedingungen von Basisaktivitäten. Selbst eine so allgemeine Bedrohung wie sich anbahnende oder schon wirksame ökologische Katastrophen werden nicht unbedingt die Gemeinsamkeit herstellen können, bedeutet doch z.B. Umweltzerstörung unter den Bedingungen des Überflusses und denen der Armut sehr Verschiedenes.

Trotz dieser nicht gerade ermutigenden Prognose für die Entstehung gemeinsamer europaweiter Basisaktivitäten ist das Bemühen um europaweite Basisvernetzung sehr wichtig. Dabei kann es vorrangig nicht um eine Vereinheitlichung von Forderungen, Prioritäten und Interpretationen gehen. Die zentrale Aufgabe liegt in der Herausbildung von Vernetzungsstrukturen, die gegenseitige Information, einen argumentativen Dialog und falls dann gewünscht eine zumindest punktuelle Zusammenarbeit ermöglichen.

Bis zum Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums konnte dieses Ziel gesamteurpäisch nicht erreicht werden. Zwar gab es Versuche aus dem Bereich der östlichen Friedensräte, die jedoch die Block-Parteilichkeit nicht überwinden konnten und so Glaubwürdigkeit nie erreicht haben. Ansätze aus dem Bereich »östlicher Dissidenten« konnten sich aufgrund der herrschenden Repression nicht entwickeln.

Erst mit der Auflösung der Ost-West-Konfrontation und den gesellschaftlichen Umwälzungen im Ostblock verbesserten sich die Bedingungen für den Versuch, ein gesamteuropäisches Basisnetz zu knüpfen.

Helsinki Citizens Assembly (HCA)

Das wohl wichtigste und umfassendste Experiment in dieser Absicht war die Gründung der Helsinki Citizens Assembly (HCA), also einer Bürgerversammlung aus den KSZE-Ländern, sowohl aus Osteuropa als auch aus Westeuropa. Mit diesem Rahmen wurde signalisiert, es solle nicht nur um Friedens- und Abrüstungsfragen, sondern um das gesamte Spektrum menschenrechtlich orientierter, gesellschaftlicher und politischer Entwicklung gehen.

Die HCA wurde am 19.-21. Oktober 1990 in Prag gegründet. Fast tausend Menschen aus fast allen KSZE-Staaten waren gekommen. Präsident Vaclav Havel forderte die Anwesenden auf, dem Helsinki Prozess unter den nun ganz anderen Bedingungen neue Impulse zu versetzen, um zu einem gemeinsamen Sicherheitshintergrund für ein intergriertes Europa zu gelangen. Die Hoffnungen waren groß, die Praxis erwies sich, wie nicht anders zu erwarten war, als sehr schwierig. Trotzdem konnte auf der Versamlung der HCA im März 1992 in Bratislava eine ansehnliche Bilanz von Aktivitäten vorgelegt werden. Eine der spektakulärsten war die von der HCA organisierte Friedenskarawane Ende September 1991 durch die Folgerpubliken Jugoslawiens. Die Arbeit der HCA wird in 7 Internationalen Kommissionen organisiert: Zivile Gesellschaft, europäische Institutionen und europäische Integration; Menschenrechte; Wirtschaft und Ökologie; Frauen; Demilitarisierung und Friedenspolitik; Kultur; Nationalismus und föderale Strukturen.

Die beiden Vorsitzenden der HCA Mary Kaldor (Großbritannien) und Sonja Licht (Serbien) beschrieben die HCA folgendermaßen: Sie sei zwar keine wirkliche Organisation im engeren Sinne, aber habe doch die Doppelfunktion, gleichzeitig Netzwerk und soziale Bewegung zu sein. Richtiger wäre wohl, von einer partiellen Zusammenarbeit vieler einzelner sozialer Initiativen und Bewegungen zu sprechen, welche dann aber doch gebündelt in den Organisationsstrukturen der HCA viele konkrete Projekte vorangetrieben haben.

Projekte und Aktivitäten

So wurde in Subotica in der Vojwodina/Serbien ein ziviles Zentrum für Konfliktbewältigung gegründet, das in ethnischen, linguistischen und religiösen Konflikten zu vermitteln sucht. Mit dem Europarat und EG-Vertretern wurde über die Formen möglicher politischer Superstrukturen für Europa in Seminaren diskutiert. Die HCA bekam im Europa-Rat sogar den Status einer konsultativen Organisation. Zum KSZE-Gipfel-Treffen 1990 in Paris war eine HCA-Delegation mit am Tisch.

Man bemühte sich auch, die Zusammenarbeit mit anderen NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen) zu verbessern, insbesondere in bezug auf den »Helsinki-Prozess«. Kommissionen der HCA beschäftigten sich mit Problemen der Rüstungskonversion und forderten eine internationale Agentur, die sich um die Unterstützung und Finanzierung solcher Umwandlungen bemühen sollte. Über die Probleme der Privatisierung in Osteuropa wurde gearbeitet. Dieser Prozess sollte nicht allein von oben und durch die großen Kapitale erfolgen, es sollten auch genossenschaftliche, kommunale und von den ProduzentenarbeiterInnen selbst betriebene Unternehmungen entstehen, um mehr Sozialverpflichtung zu sichern.

Italienische, französische und spanische HCA-Gruppen waren besonders aktiv, um einen KSZE-Prozess für die Mittelmeerregion vorzubereiten – ein besonders schwieriges Projekt angesichts der besonderen Differenzen in Reichtum und Armut, Kultur und Religionen, die hier zusammentreffen. Man schickte ferner eine Delegation, um auf den türkisch-kurdischen Konflikt einzuwirken, organisierte Treffen zu Fragen der ukrainischen Sicherheit und Minoritäten und vieles mehr.

Probleme

Die erste Jahrestagung nach Gründung brachte aber auch die Fülle der Probleme zum Vorschein. Wie nicht anders zu erwarten, machen der HCA die oben schon angedeuteten Strukturprobleme und die Heterogenität der europäischen Landschaft kräftig zu schaffen. Auf der Jahresversammlung 1992 in Bratislava waren z.B. die »Westeuropäer« im Vergleich zur Gründungsversammlung in Prag nur relativ dürftig vertreten, repräsentativ für die zivile Gesellschaft der sozialen Bewegungen waren sie keineswegs. Über 60% der immerhin 700 Teilnehmer und Teilnehmerinnen kamen aus Osteuropa. Sie spiegelten die Vielfalt der dortigen Sichtweisen wieder, also auch den aufkeimenden Nationalismus im Gefolge des Zerfalls des sowjetischen Imperiums. Das Motto der Tagung „Neue Mauern in Europa. Nationalismus und Rassismus – zivile Lösungen“ griff zwar diese Problematik auf, die Diskussionen zeigten jedoch, wieviel hiernoch aufzuarbeiten sein würde, um ein gegenseitiges Verständnis zu erreichen.

Mary Kaldor und Sonja Licht wiesen in ihrer Einleitung auf die großen organisatorischen Probleme der HCA hin. Es fehlt nicht nur an den materiellen Ressourcen für die teure internationale Arbeit, sondern es hat sich auch die typische Struktur der Überlastung einzelner Personen und Sekretariate ergeben, während andere sich ganz ungenügend in den Arbeitsprozeß eingebunden und schlecht informiert fühlen. Ein Mangel an Konsultationsmöglichkeiten trägt zur Entstehung von Mißverständnissen und Konflikten bei. Obwohl inzwischen 33 nationale HCA-Sektionen gegründet sind, muß bezweifelt werden, ob diesen bereits eine wirksame Arbeit in ihren jeweiligen Bereichen gelungen ist. Darüberhinaus stellt sich die Frage, wie weit nicht eine Regionalisierung der Arbeit angesichts des Bedeutungsverlustes der Nationen zumindest in Westeuropa anzustreben sei. Eine geplante Neustrukturierung der HCA soll die Probleme überwinden helfen.

Hier sollte ein kurzer Einblick sowohl in die Notwendigkeit als auch in die Schwierigkeit eines Aufbaus eines Europa von unten am Beispiel der HCA gegeben werden. Viel Energie, Ideen und Leidenschaft sind erforderlich, um wenigstens eine beständige Arbeit für das bisher Erreichte zu gewährleisten. Aber wer glaubt, ein Europa von unten ist einfacher zu bauen als ein Europa von oben, der täuscht sich.

Andreas Buro ist Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie und Mitglied im Vorstand.

Thatcherismus mit anderen Mitteln?

Thatcherismus mit anderen Mitteln?

Die britische Sicherheitspolitik nach dem Wahlsieg der Konservativen

von Lothar Gutjahr

Kaum einer der BeobachterInnen hatte damit gerechnet und selbst im Central Office der Tories war die Schlachtordnung für Schuldzuweisungen nach der Wahlniederlage bereits gezogen. Am Morgen des 10. April 1992 sah jedoch alles ganz anders aus. Der Nachfolger von Margaret Thatcher hatte ein eigenes Mandat für weitere 4-5 Jahre konservativer Regierungsmacht. Trotz des Verlustes einiger Sitze im Unterhaus blieb der Anteil von Majors Partei mit 42,3% konstant und sicherte die Alleinregierung. Zum vierten Mal hintereinander verlor die Labour Party, obwohl sie sich seit Beginn der achtziger Jahre kontinuierlich von einer sozialistischen zu einer Partei der linken Mitte gewandelt hatte. Welche Konzepte wurden bzw. werden von der Opposition vertreten? Werden Major, Hurd und Rifkin demgegenüber die Politik der vergangenen 13 Jahre fortsetzten?

Die Axiome britischer Außenpolitik blieben von den Veränderungen seit 1989 relativ unberührt. Sie sind weiterhin von den Traditionen des Politischen Realismus geprägt und kreisen um eine vor allem militärisch definierte Politik der Machtbalance. Das internationale System wird als anarchisch angesehen und die einzelnen Staaten, Hauptakteure hierin, können ihre Existenz nur durch militärische Vorbereitung, d.h. Abschreckung garantieren. Das Selbstbild der britischen Politikelite ist seit 1945 zudem von Niedergangsvorstellungen geprägt.1 Schrumpfende wirtschaftliche Kraft hätten Großbritannien demnach zum Rückzug von Stützpunkten und Machtpositionen gezwungen. Diese Anpassungen wurden als Verlust von Einfluß erlebt. Die Struktur der Streitkräfte orientiert sich aber auch weiterhin an den drei konzentrischen Kreisen: Atlantische Gemeinschaft, West-Europa und der Commonwealth2.

Für das Vereinigte Königreich hätte zwar die Möglichkeit einer grundsätzlichen Revision der Sicherheitspolitik bestanden3, aber in der Tradition des britischen Pragmatismus wurde das außenpolitische Denken auch weiterhin von herkömmlichen Begriffen traditioneller Machtpolitik bestimmt4. Militärische Stärke soll weiterhin zum Schutz vor Risiken für das britische Territorium und zur Durchsetzung nationaler Interessen dienen5. Sicherheit bleibt für London eine Aufgabe einseitiger staatlicher Vorsorge, lediglich durch die atlantische Kooperation ergänzt. Mit dem Ende des Kalten Krieges wird der Kontinent zwar zunehmend durch regionale und globale Interdependenzstrukturen gekennzeichnet, aber die Fähigkeit eigene Interessen in multilateralen und supranationalen Organisationen durchzusetzen bleibt für die britische Politikelite gegenüber dem Besitz eines größtmöglichen Zerstörungspotentials nachgeordnet.

Verteidigungspolitische Aufgaben

Die in der Vergangenheit, teilweise noch vor der Auflösung des Empire eingegangenen verteidigungspolitischen Verpflichtungen bleiben bestimmend für die britische Streitkräftestruktur. Diese Aufgaben gliedern sich in sechs Bereiche:

  • die Verteidigung des britischen Territoriums
  • das unabhängige strategische Atompotential
  • der Beitrag zur Verteidigung der »Zentralfront« auf dem europäischen Kontinent
  • die Sicherung des transatlantischen Nachschubs
  • die maritime Unterstützung der skandinavischen Verbündeten und
  • die Aufrechterhaltung von Interventionskräften.6

Seit 1945 ist Großbritannien vor allem zu einer Militärmacht auf dem Kontinent geworden, so daß dort heute die bei weitem meisten Truppen und Resourcen gebunden sind. Demgegenüber wurden 1990 lediglich 3,2 Prozent der für spezifische Verteidigungsaufgaben ausgewiesenen Mittel für Interventionsstreitkräfte aufgewendet7. Entgegen der regierungsamtlichen Rhetorik im Falkland-Konflikt 1982 und dem Golfkrieg 1991 kann Großbritannien »out-of-area« Operationen nur noch im Verbund mit den Vereinigten Staaten durchführen8. London ist abhängig von den Transportkapazitäten und der Aufklärungstechnologie Washingtons.

Unter Mrs Thatcher blieb die Konzentration britischer Sicherheitsplanungen auf Europa erhalten, da die Sowjetunion auch nach 1989 als Hauptbedrohung angesehen wurde. Trotz der Kritik von ExpertInnen, diese Sicherheitspolitik sei illusionär9, wurde an herkömmlichen Feindbildern festgehalten. Zwar meinte die Regierungschefin bereits vor 1989, mit Gorbatchow könne man Geschäfte machen, ihre Verteidigungspolitik unterstützte jedoch das Reaganschen Ziel strategischer Überlegenheit. Auch als der US-Präsident zu einem entspannungsfreundlicheren Kurs wechselte und sogar noch nach den Revolutionen 1989/90 forderte die »Eiserne Lady« vor allem Kontinuität bei der Waffenmodernisierung der NATO10.

Ihr Nachfolger John Major verfolgte von Anfang an nicht eine bloße Fortführung dieser atlantischen Traditionen11. Unterstützt von proeuropäischen Konservativen wie Edward Heath, Leon Brittan und Lord Carrington waren Außenminister Douglas Hurd und der Premierminister bemüht, den Riß in der Konservativen Partei durch vorsichtigen Pragmatismus zu überbrücken bzw. zu überdecken. Der reformierte Atlantizismus bildete die Basis des verteidigungspolitischen Konsenses zwischen Regierung und Opposition vor den Wahlen. Eine strategische Neubestimmung der Verteidigungsaufgaben wurde nicht durchgeführt.12

Die Verteidigungsausgaben übersteigen allerdings immer mehr die schwindenden Möglichkeiten der britischen Ökonomie. Ausrüstung und Truppenstärke zur Bewältigung der sechs genannten Aufgabenfelder stellen lediglich noch eine Fassade dar.13 So blieben beispielsweise etwa 200 Maschinen der Royal Air Force 1990 mangels Besatzung am Boden, die Royal Navy verlängerte den Aufenthalt ihrer Schiffe in den Heimathäfen, und die Armee hatte im gleichen Jahr ungefähr 15.000 Angehörige weniger als geplant.14 Reservisten wurden nur noch zu einem geringen Bruchteil zu Übungen bzw. zur Weiterbildung einberufen. Im Ergebnis stieg der Sachzwang strukturelle Alternativen zu formulieren – jedoch bislang ohne politische Ergebnisse.

Der Golfkrieg belebte zwar offiziell das spezielle anglo-amerikanische Verhältnis, brachte in der Substanz jedoch kaum Veränderungen15. War im März 1991 erwartet worden, daß das Stichwort für die Streitkräftereform »mean and lean« (klein und gemein) lauten würde16, so wurden in den „Options for Change“ des Verteidigungsministeriums kaum strukturelle Eingriffe vorgenommen. Elemente der amerikanischen Strategie zur flexiblen Machtprojektion17 werden zwar von britischen ExpertInnen diskutiert, finden aber in den Planungen des Ministry of Defence (MoD) keinen Niederschlag. Überlegungen beispielsweise zu mobilen Lufteinsätzen der Armee18 wurden noch nicht in neue militärische Ausrüstungsplanungen umgesetzt. Die Breite britischer Streitkräftefunktionen soll aufrechterhalten werden, ohne die im Golfkrieg getesteten technologischen Neuerungen, insbesondere präzise gelenkte Munition und Aufklärungstechnik im Hinblick auf ihre militärstrategischen Auswirkungen analysiert zu haben.

Rapid Reaction Force

Mit der Bereitstellung von Truppen für die NATO Rapid Reaction Force (RRF) unter britischem Oberbefehl hat London eine zusätzliche Rolle übernommen19. Die Funktion dieser Truppe bleibt allerdings ungewiß. Sie soll zwar gegen Risiken und Bedrohungen in und außerhalb Europas schützen20; wie dies zu den Restriktionen der NATO Verfassung passt, bleibt ebenso unklar wie die konkrete Einsatzplanung der Eingreiftruppe. Das mittel- und langfristige Potential dieser Einheiten als ein Bindeglied zwischen NATO und Westeuropäischer Union (WEU) wurde in London zwar gesehen und als Stärkung des atlantischen Verbundes begrüßt, stellte jedoch wohl nicht den wesentlichen Begründungszusammenhang dar. Vielmehr muß die RRF als ein weiteres Beispiel pragmatischer Politik gesehen werden: Wären die britischen Einheiten nicht unter NATO Befehl gestellt worden, hätte der damalige Verteidigungsminister King sie aus finanziellen Gründen auflösen oder verkleinern müssen. So sind es denn auch die finanziellen Möglichkeiten, die die Verteidigungsdiskussion zwischen den politischen Parteien im Unterhaus bestimmten.21

Die Labour Party

Während die KritikerInnen zurecht darauf verwiesen, daß die Kürzungen von Forderungen des Finanzministeriums bestimmt worden sind22, formuliert die Labour Party keine grundsätzliche Alternative. Diese Partei hatte zu Beginn der achtziger Jahre mit dem Nachkriegskonsens gebrochen, indem sie für einseitige Abrüstung der britischen Atomwaffen eintrat. Damit setzte sich eine »anti-realpolitische« Denktradition durch. Auf der Suche nach einer sogenannten sozialistischen Außenpolitik hatte es seit ihrer Gründung in der Labour Party VertreterInnen gegeben, die Machtpolitik aus unterschiedlichen Gründen ablehnten23 und für ein System kollektiver Sicherheit im Rahmen des Völkerbundes bzw. der Vereinten Nationen eintraten. Die Machtbalance zwischen Einzelstaaten sollte von intergesellschaftlicher Kooperation und Entspannung abgelöst werden.

Da die Wahlniederlagen 1983 und 1987 vor allem auch in der radikalen Ablehnung der britischen Atomwaffen durch die Labour Party begründet lagen, wollten Kinnock und sein Schattenkabinett diese Politik revidieren. Mittels eines »Policy Review« verschob sich das Profil der Programmatik zur Mitte. Erneut wurden konsensuale Positionen betont, in dem Bestreben den Negativfaktor Verteidigung bei Wahlen auszuschalten. Die Neubestimmung der Politik war nicht geprägt von dem europäischen Wandel, sondern durch die betonte Distanzierung von älteren Positionen.

Die Kritik an den (Ab-)Rüstungsvorstellungen der Regierung beschränkte sich dementsprechend auf Einzelkritik einerseits an der geplanten Zusammenlegung traditionsreicher Regimenter24 und andererseits an den Auswirkungen der Kürzungen für die Rüstungsindustrie. Diese ist wesentlich »anfälliger« für die Folgen der internationalen Abrüstung als die der Bundesrepublik, da die Einzelbetriebe weit weniger diversifiziert wurden und teilweise reine Waffenhersteller sind.25 Wegen Labours enger Verbindungen zu den Gewerkschaften und ihrer Dominanz in den schottischen Wahlkreisen, die von der Waffenproduktion leben, konzentrierte der Schattenverteidigungsminister Martin O'Neill seine Kritik auf die fehlende finanzielle Unterstützung für die betroffenen Betriebe und ArbeitnehmerInnen, nicht auf den Mangel einer Friedensdividende. So sah sich Tom King als der »einsame Abrüster« Großbritanniens im Kreuzfeuer der Kritik von Lobbyisten sowie sektoralen InteressenvertreterInnen bei Opposition und den eigenen Hinterbänklern.

Die Liberal Democrats

Auch die Liberal Democrats konzentrierten 1991 ihre Kritik an der Regierung auf die Folgen für die schottische Wirtschaft, da sie hofften die dortigen Nachwahlen zum Unterhaus zu gewinnen. Ihre konzeptionelle Ausrichtung ist jedoch weitreichender und vor allem potentiell gegen den bestehenden Konsens gerichtet. Als einzige gesamtbritische Partei treten sie für einen außen- und verteidigungspolitischen Ausbau der Europäischen Gemeinschaft (EG) ein.26 Ähnlich wie in anderen politischen Bereichen wollen die Liberalen einen gezielten Souveränitätsverzicht zugunsten der EG. Ihre Verteidigungspolitik basiert auf abgewandelten Vorstellungen gemeinsamer Sicherheit, wenngleich sie meinen dies sei mit einer nuklearen Minimalabschreckung vereinbar. Während sie hierin die fortlaufende Funktion der NATO sehen, betrachten sie den KSZE-Prozeß als Rahmen einer pan-europäischen Sicherheitsstruktur.

Die Liberalen artikulieren somit ähnliche Vorstellungen wie eine Reihe von Labour VertreterInnen. Gemeinsam ist ihnen das proeuropäische Engagement zur Überwindung der nationalen Trennung in West-Europa und die Bemühung um gesamteuropäische Strukturen. Trotz aller Unterschiede im Einzelnen könnte sich hier ein Potential entwickeln, daß, verbunden mit den weitergehenden Überlegungen zur konstituionellen Reform (beispielsweise des Wahlrechts, der Eigenständigkeit Schottlands), die Politik des vereinigten Königreiches modernisieren könnte. Insbesondere bei einer Nachfolge Kinnocks durch John Smith, einem alten Befürworter der EG-Integration würden Voraussetzungen geschaffen für eine weitere programmatische Annäherung.

Die britischen Grünen

Die britischen Grünen sind auch weiterhin nicht im Parlament vertreten, besitzen aber bereits jetzt Einfluß auf die Diskussionen der politischen Linken in Großbritannien. Diese Partei befindet sich außerhalb des atlantischen Konsenses und ihre Vorstellungen stehen insbesondere denen linker Labour Abgeordneter wie Tony Benn nahe. Als ökologische Partei sind ihre Ausgangspunkte die globalen Probleme und die zu deren Lösung notwendige Abrüstung. In ihrem Parteitagsbeschluß vom September 1991 heben sie fünf Prinzipien hervor, die eine fundamentale Revision britischer Militärpolitik zur Folge hätten.27 Zu den Kernpunkten gehören Gemeinsame Sicherheit, nichtprovokative konventionelle Verteidigung und eine größtmögliche Öffentlichkeit bei der Verteidigungsplanung. Als einzige größere britische Partei fordern sie den Austritt aus der NATO. Ihre Vorstellungen werden jedoch nicht in eine kohärente Strategie umgesetzt. Es bleibt eine Ambivalenz zwischen Elementen gewaltfreier Sozialer Verteidigung durch autonome Regionen und zentraler Konfliktregelung durch internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen und der Helsinki Prozeß.

Die zukünftige britische Außen- und Sicherheitspolitik

Zu Beginn des Jahres 1991 schien es noch so als bezögen sich die gravierendsten Meinungsunterschiede zwischen den großen Parteien auf einzelne britische Atomsysteme. Die Labour Party lehnte insbesondere eine neue Luft-Boden-Rakete (TASM) ab, während die Konservativen an den noch zu Zeiten des Kalten Krieges begonnenen Planungen festhalten wollten. Die Kürzungen von US-Präsident Bush und vor allem seine Streichung der SRAM II-Rakete, die als billigste Variante britischer TASMs geplant war, könnte zu einer Meinungskonvergenz auch in diesem Bereich führen.28 Großbritannien müßte somit entweder eine eigene Luft-Boden-Rakete entwickeln – was erheblich teurer werden würde – ; oder mit Frankreich kooperieren. In jedem Fall erweist sich die »souveräne« Nuklearstreitmacht des Vereinigten Königreiches als abhängig von amerikanischen Entscheidungen über Forschung, Entwicklung und Produktion.

Am Anfang der neuen Legislaturperiode steht der Nachfolger von Tom King, Malcolm Rifkin vor drei Optionen zum Wandel: Entweder rüstet Großbritannien strukturell ab und um oder erhält seine Verantwortlichkeiten aufrecht oder gibt Teile seiner Souveränität ab. Während die zweite Variante aufgrund der steigenden Kosten wohl nur eine Fortsetzung der jetztigen pragmatischen Anpassung wäre, dürften die anderen Möglichkeiten Pole einer künftigen Strategiedebatte darstellen 29. London könnte zum einen seine Verteidigungsrollen im Rahmen der NATO spezialisieren. Wie im Golfkrieg angedeutet, würden die britischen Streitkräfte komplementäre Funktionen zu denen der USA übernehmen, d.h. wahrscheinlich vor allem als maritime Unterstützung bei Interventionen außerhalb Europas dienen.30 Andererseits könnte London seine Truppen in multinationale Verbände unter Kontrolle der WEU/EG integrieren. Hierzu müßten die von einzelnen ExpertInnen geäußerten Überlegungen über nationale Rollenspezialisierung jedoch in Verbindung mit anderen europäischen Staaten und Regionen diskutiert werden. Die steigenden Kosten der Rüstung und die fast vollständige Identität der Sicherheitsinteressen aller (west-)europäischen Länder legen eine Kommunalisierung dieser klassischen Souveränitätsrechte nahe. Der bis zu den Wahlen bestehende Konsens, die britische Fixierung auf traditionell-machtpolitische Instrumente behinderte die Realisierung dieser Option. Während die erste Variante zwar Neuorientierungen signalisieren würde, aber auf atlantische Nachkriegstraditionen zurückgriffe, müßten die Axiome britischer Außenpolitik im letzteren Fall neu bestimmt werden.

Als eine pragmatische Partei der linken Mitte konnte die Labour Party nicht überzeugen, weil ihren Positionen ein roter Faden fehlte. Die Darstellung von Respektabilität allein genügte nicht. Im Verlauf der vierten Amtsperiode einer konservativen Regierung dürfte es für die Opposition darauf ankommen, ein ausstrahlungsfähiges Reformprogramm zu entwickeln und die Notwendigkeit struktureller Veränderungen in Großbritannien zu vermitteln. Wenngleich die Bereiche Wirtschafts- und Sozialpolitik von entscheidender Bedeutung sein dürften, hat eine solche Orientierung doch auch Konsequenzen für die Sicherheitspoliitk. Eingebettet in Diskussionen über die Folgen der komplexen Interdependenz in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen die Außen- und Verteidigungspolitik des Inselreiches europäisiert und demilitarisiert werden. In den kommenden Jahren dürfte die Regierung Major eine Reihe von Anpassungsmaßnahmen vollziehen, die in eine ähnliche Richtung weisen. Diese Art der Politik würde aber die Traditionen einer traditionellen Realpolitik sowie den machtpolitischen Niedergang der Insel fortschreiben. Die Sicherheitspolitik der Konservativen hat sich bislang noch nicht ausreichend von den Axiomen der Thatcher-Ära gelöst. Rifkin ist noch längst nicht »sein eigener Herr«.

Literatur

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Anmerkungen

1) KENNEDY 1989. Zurück

2) HEALEY 1991:68. Zurück

3) HOWARD 1991. Zurück

4) CROFT/WILLIAMS 1991:148. Zurück

5) HOWARD 1991. Zurück

6) ISBY 1991:286-88. Zurück

7) ebd. S.289. Zurück

8) HOWARD 1991. Zurück

9) JACQUES 1991. Zurück

10) THATCHER 1990. Zurück

11) MAJOR 1990. Zurück

12) FREEDMAN 1991. Zurück

13) HASTINGS 1991. Zurück

14) ISBY 1991:279-82. Zurück

15) BELLAMY 10.7.1991. Zurück

16) HASTINGS 1991. Zurück

17) GUTJAHR/RAMSBOTHAM 1991:36 Zurück

18) ISBY 1991:294f und WILKIE 1991. Zurück

19) MINISTRY OF DEFENCE 1991. Zurück

20) THOMPSON 1991. Zurück

21) Für eine detaillierte Auflistung der Streichungen siehe: INDEPENDENT 10.Juli 1991. Zurück

22) MATES 1991. Zurück

23) Hier treffen sich unterschiedliche Charaktere wie der Pazifist Lansbury in den 1930er Jahren und der pro-sowjetische Aneurin Bevin in den frühen Fünfzigern. Zurück

24) EVANS 1991. Zurück

25) ISBY 1991:272. Zurück

26) LIBERAL DEMOCRATS 1991:4 bzw. S.10ff. Zurück

27) GREEN PARTY 1991:4. Zurück

28) BEAUMONT/MILLINSHIP 1991 bzw. FAIRHALL 1991. Zurück

29) RIDGE/SMITH 1991. Zurück

30) WILKIE 1991. Zurück

Lothar Gutjahr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Aus dem Nebel – aber ohne Fernsicht

Aus dem Nebel – aber ohne Fernsicht

Der neubegonnenen Europadiskussion fehlen Visionen

von Corinna Hauswedell

Ganz offensichtlich drückt der deutsche Vereinigungsprozeß der sich belebenden Europadiskussion seinen Stempel des Pragmatismus auf. Die NATO tut sich schwer, zu anderen Ufern aufzubrechen. Es scheint, als seien die Zeit und wichtige Akteure »nicht reif«, wirklich neu zu denken und einzuleiten, was wesentlich durch Gorbatschows Reforminitiative vor etwas über fünf Jahren inspiriert und durch die folgenden Umbrüche in Osteuropa möglich wurde.

Die im Umfeld der DDR-Wahlen im März – eher nachholend – wieder einsetzende Diskussion über europäische Sicherheit trägt alle Zeichen dieses Dilemmas. Von wenigen Ausnahmen – erfreulicherweise aus den Reihen der Friedensforschung – abgesehen, enthalten die ein- und mehrseitigen Positionspapiere zur »Neuen Bündnisstrategie«, einer »Europäischen Sicherheitsgemeinschaft«, »Gesamteuropäischen Architektur« u.ä. wenig echte Innovation und Mut zu neuen Lösungsansätzen. Mit Beharrlichkeit wird trotz gegenteiliger Rhetorik Sicherheit vor allem militärisch gedacht – auch in den strukturell weiterreichenden Veränderungsvorschlägen.

„Endsieg im Kalten Krieg oder gemeinsame gesamteuropäische Friedensordnung, für eines dieser beiden Ziele muß man sich aber entscheiden “ – die Alternative des Friedensforschers Horst Afheldt trifft den Kern der Problematik.

Die Debatte kreist im wesentlichen um vier Hauptthemen:

  • die Einbeziehung der Sowjetunion in das neue Europa
  • die Neubestimmung der Funktion der NATO
  • die KSZE als mögliche Basis eines neuen europäischen Sicherheitssystems
  • die Rolle der deutsch-deutschen Einigung bzw. des neuen Deutschland in und für diesen Prozeß.

Der Artikel bemüht sich um eine Übersicht und Wertung der Standpunkte entlang dieser Stichworte.

Einbeziehung der Sowjetunion – Kuhhandel oder Essential

Die gemeinsame Erklärung von Helmut Kohl und Michael Gorbatschow vom Mai 1989 – fünf Monate vor der Öffnung der Berliner Mauer – formulierte noch die Selbstverständlichkeit gleichberechtigter Interessen in Europa, die jetzt unter die Räder des Deutschland-Express zu kommen drohen.

Mit einem 5 Milliarden-Kredit will die Bundesregierung der hilfsbedürftigen Sowjetunion eine auf die deutsche Einheit reduzierte Sicherheit in Europa abkaufen. Die 4 plus 2 – Verhandlungen sollen besiegeln, was nur in einem größeren Kontext aller in Europa involvierten Nachbarn Akzeptanz finden kann. Denn ein Dreischritt ohne historisches Vorbild soll gelingen: Erstens die friedliche Beilegung des Kalten Krieges unter allen Beteiligten; zweitens die Resouveränisierung Deutschlands, ohne die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges zu negieren, jedoch unter Aufhebung des Systemgegensatzes, der für die Konfrontation der letzten vierzig Jahre prägend war; drittens der Beginn einer neuen Form staatlicher Zusammenarbeit, für die andere Sicherheitsparadigmen als militärische – soziale, ökonomische, ökologische – zu entwickeln sind: Europa muß innerhalb seines Territoriums und gegenüber Dritten den Schritt von der Politik der Stärke und Hegemonie zur gleichberechtigten Kooperation gehen lernen. Die große wirtschaftliche Kraft der EG wäre dafür eigentlich eine gute Voraussetzung.

Daß für diese dreifache Aufgabe ein Höchstmaß an Besonnenheit und Rücksichtnahme auf alle beteiligten Interessen sowie die Bereitschaft, Altes und Neues nebeneinander zu denken, erforderlich ist, liegt auf der Hand.

Demgegenüber erwecken die Regierungspolitik und manche westdeutsche Kommentare den Eindruck eines rein taktischen Verhältnisses zu der Kernfrage, wie das vollständig im Umbruch befindliche, verwundbare sowjetische Reich sich an dem europäischen Friedensprozeß beteiligen kann: „Kurz: Die Sowjetführung soll die Einigung in und über Deutschland nicht als eine Fehlschlag ihrer Politik begreifen müssen, die Deutschland-Regelung ihren innenpolitischen Kritikern als einen Schritt zu künftigem Erfolg verkaufen können.“(C.Bertram, Viele Pläne für das Europäische Haus, Die Zeit, 27.4.90.) Die Tatsache, daß es der sowjetischen Führung angesichts der nationalen und ökonomischen Zerreißproben offensichtlich schwer fiel, in den letzten Monaten klare Konzepte für Europa auf die Verhandlungstische zu legen, erhöht eher die Verantwortung der westlichen Seite, »für das Ganze« zu denken. Kategorien eines Kuhhandels greifen mit Sicherheit zu kurz, auch wenn Finanzhilfe für die Sowjetunion dringlichst geboten ist. Es ist der Zeitpunkt (und die Chance), einen internationalen Prozeß von großer Tragweite in Gang zu setzen: Das Ende der Siegerpose und -politik gegenüber dem jeweils Schwächeren. Der Friedensforscher Horst Afheldt verweist zu Recht auf die Gefahren der „bedingungslosen Kapitulation“ und ihrer historischen Dimension: „Denn eine solche Kapitulation untergräbt die Position jeder sowjetischen Führung, die sich den Abbau der Konfrontation zum Ziel gesetzt hat und bereit ist, an einer neuen Friedensordnung mitzuwirken, die die Erfüllung unserer nationalen Sehnsüchte erlaubt. So gefährdet man nicht nur unser nationales Ziel, sondern auch das vorrangigste Interesse: den europäischen Frieden. Versailles führte in den Zweiten Weltkrieg. Roosevelts und Churchills Forderung nach bedingungsloser Kapitulation Deutschlands und Japans nahm dem deutschen Widerstand die Grundlage, verlängerte den Krieg in Europa und führte die USA in die Schande der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki …“. (H.Afheldt, Erstes Ziel ist die Festigung des Friedens mit allen Nachbarn, Frankfurter Rundschau, 8.5.1990)

Indem der SIPRI-Direktor Walther Stützle die historischen und aktuellen Interessenlagen der Sowjetunion explizit zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht, ragt sein „Plädoyer für eine europäisch-amerikanische Allianz unter Einschluß der Sowjetunion“ (EATO) aus den vorliegenden Konzepten heraus:

„…<|>Gelingen kann das Unternehmen (föderative Reform in der Sowjetunion, C.H.) aber nur, wenn selbständig werdende Republiken Zugang zu Europa finden, ohne sich gegen die Sowjetunion wenden zu müssen. Außerdem müßte der sowjetisch-amerikanisch/westeuropäische Prozeß Schaden erleiden, entstünde im Kreml der Verdacht – begründet oder unbegründet –, der Westen versuchte aus den Verfallstendenzen der Sowjetunion Kapital zu schlagen. Man würde Gorbatschow vorwerfen, er habe den Deutschen die Einheit und dem eigenen Land den Zerfall beschert, er habe verspielt, was 1945 mit einem blutig erfochtenen Sieg gegen Hitler-Deutschland errungen worden war. Das alles spricht für eine neue sicherheitspolitische Struktur, an der die Sowjetunion beteiligt ist, bei der sie bei denen am Tisch sitzt, die über diese neue Struktur zu entscheiden haben. Eine Mitgliedschaft des neuen Deutschland in der ansonsten unveränderten NATO schlösse die Sowjetunion aus statt ein. Neue Unsicherheiten würden just in dem Moment geschaffen, da Gewißheit auf allen Seiten mehr denn je nötig ist, daß die Eingliederung ganz Deutschlands in die europäische Einigung auf niemandes Kosten geht.“ (W.Stützle, West und Ost in einem Bündnis, Die Zeit, 25.5.1990) Stützle verweist hier auch auf die Interdependenz zwischen der Einbeziehung der Sowjetunion und der Neukonzipierung der NATO.

Bleibt die Nato (wie sie ist)?

Der Niedergang des einen der beiden großen Militärbündnisse kann – wegen der zugrundeliegenden Ursachen – nicht einfach die (Re)vitalisierung des anderen zur Folge haben. Zum einen entfallen zukünftig zentrale Voraussetzungen, die nur auf der Feindbildprojektion und Konfrontation zwischen beiden Bündnissen beruhten. Andererseits wurde der schnellere Verfall der WVO durch Prozesse hervorgerufen, für die es bei aller Unterschiedlichkeit der ökonomischen Systeme durchaus Parallelen im Kapitalismus gibt: Die Bindung enormer wissenschaftlich-technischer, ökonomischer und menschlicher Kapazitäten durch den Militär-Industrie-Komplex wird heute auch von führenden westlichen Politikern als zentrales Entwicklungshemmnis gesehen. Im Kontext mit Lösungswegen für die Probleme der »Einen Welt« – »Bevölkerungsexplosion«, »Energieknappheit«, »Globales Umweltrisiko« – schreibt Helmut Schmidt: „Es wird großer politischer Kraft bedürfen, den Interessendruck des militärisch-industriellen Komplexes auf Fortsetzung der bisherigen Über-Rüstung abzuwehren – in Amerika, in der Sowjetunion, aber auch in Europa, überall. In aller Welt müssen den alten Rüstungsindustrien neue nützliche, zivile Aufgaben gestellt werden. Dazu bedarf es eines gemeinsamen Programms…“ (H.Schmidt, Die Tagesordnung für alle Gipfel: Eine Welt, Die Zeit, 6.7.1990) Hier liegt eine essentielle Begründung für beides: Einerseits für die Einbeziehung der Sowjetunion in den europäischen Friedensprozeß; im Westen wird angesichts der tiefen ökonomischen Krise Osteuropas gern vergessen, daß Gorbatschow als Zentralpunkt des Neuen Denkens und der Perestroika den Abschied von der Konfrontation zugunsten gemeinsamer Lösung der globalen Menschheitsprobleme formulierte.

Zweitens liefert Schmidt die Begründung zur Zivilisierung auch der NATO, was auf Dauer mit ihrer Auflösung identisch sein kann.

Der Anpassungsdruck „an die veränderte Wirklichkeit Europas“ ist seit einigen Wochen in aller Widersprüchlichkeit auch in den konservativen Medien spürbar: „Das führt notwendigerweise zur Diskussion darüber, ob das Prinzip der nuklearen Abschreckung, eine der Säulen der westlichen Verteidigungsstrategie, auch dann unabdingbar und damit bestimmend für das Ost-West-Verhältnis bleiben soll, wenn die Politik der Bedrohung immer mehr von einer Politik der Zusammenarbeit abgelöst wird.“ (K.Feldmeyer, Die NATO braucht eine neue Strategie, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 12.5.1990) Vier Wochen später, nach dem NATO-Außenminister-Treffen in Turnberry, nimmt derselbe Autor seinen mutigen Gedanken wieder zurück : „NATO und Warschauer Pakt müssen ihr Verhältnis zueinander so verändern, daß eine deutsche NATO-Mitgliedschaft für die Sowjetunion annehmbar ist. Aus Bündnissen, die militärisch gegeneinanderstehen, müssen Organisationen werden, die vor allem politischen Aufgaben dienen…“ (FAZ,11.6.90). Die WVO hatte zu diesem Zeitpunk bereits in Moskau die Umwandlung in einen politischen Vertrag „souveräner, gleichberechtigter Staaten, der auf demokratischen Prinzipien beruht“, angekündigt.

Die NATO tut sich vergleichsweise schwer, an den Essentials ihrer Militärdoktrin zu rütteln. Mag sein, daß dem die Sorge zugrundeliegt, dem Bündnis damit zu schnell gänzlich die Existenzberechtigung zu entziehen. Der Alt-Ostpolitiker Egon Bahr befürchtet zwar auch, daß eine allzu langwierige Strategiediskussion in der NATO eine Zumutung darstellt: „Die Sowjetunion soll die Katze im Sack kaufen: Ohne zu wissen, ob Vorneverteidigung, atomarer Ersteinsatz und die Strategie der flexiblen Antwort verändert werden, ob luftgestützte Mittelstreckenraketen an die Stelle der wegverhandelten Pershing II kommen.“ Im nächsten Satz mutmaßt Bahr jedoch, die NATO werde „sich kaum vorschreiben lassen…“ (E.Bahr, Sicherheit durch Annäherung, Die Zeit, 29.6.1990.) Es sind unter anderem Zugeständnisse wie dieses an das politische Beharrungsvermögen der alten Strukturen, die eine wirkliche Revision der von Bahr benannten Kernelemente der NATO-Strategie bis heute behindern. Warum können Bahr und andere auch ein sich veränderndes Bündnissystem – also auch auf längere Sicht – nur in Kategorien eines »militärischen Kerns« (mit integrierter Kommandostruktur) und eines »sicherheitspolitischen Kerns« (amerikanische Streitkräftepräsenz in Europa) denken (Zitate Bahr, a.a.O)? Ideen für eine zivile Ankoppelung der USA (und anderer) an Europa sowie die Entwicklung entsprechender Kooperationsstrukuren entsprächen den gemeinsamen Zukunftsinteressen viel mehr. Es mag nicht überraschen, wenn der zum NATO-Strategen gewordene Friedensforscher Karl Kaiser unter „Revision der militärischen Strategie des Westens“ vor allem die Modifikation militärischer Bedrohungsszenarien versteht, die die „Option des Erstgebrauchs“ und die „Kernwaffen als Rückversicherung“ ungebrochen enthalten ( K.Kaiser, Von der nuklearen Abschreckung zur Abgestuften Konfliktkontrolle, Frankfurter Rundschau, 2.7.1990). Die von Kaiser einmal erwähnte „neue europäische Sicherheitsordnung“ gewinnt keinerlei Profil.Aber auch eine anläßlich des NATO-Gipfels am 5./6.Juli in London erstellte Studie der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung kommt zu dem Ergebnis, „daß die Überwindung der nuklearen Abschreckung (noch) nicht auf der Tagesordnung steht.“ Wenig folgerichtig erscheint die Einschränkung, „ein vollständiger Verzicht auf Nuklearwaffen in Europa (sei) allerdings möglich“, da die Abschreckungsfunktion hier „entweder nie relevant, mittlerweile obsolet oder mit politischen Mittel (zu) erfüllen“ sei. So haben die Ergebnisse des Londoner NATO-Gipfels zwar die Funktion von „Friedenssignalen“ (FAZ, 7.7.1990) in Gestalt der Gewaltverzichtserklärung und der Einladung an Gorbatschow ins NATO-Hauptquartier; die dort verbalisierten Wandlungen der Doktrin der »flexible response« sind jedoch so zaghaft, daß der Bonner Regierungssprecher kommentieren konnte: „Das ist doch das, was wir seit vierzig Jahren sagen “ (aus TAZ, 7.7.90). Über den NATO-immanenten Rahmen hinaus denken wenige Positionen. Horst Afheldt unternimmt in dem erwähnten Papier den interessanten Versuch, diejenigen Verpflichtungen aus dem NATO-Vertrag von 1949 und dem Warschauer Vertrag von 1955 zusammenzustellen, die nicht zueinander in Widerspruch stehen: Beitrittsmöglichkeiten, UNO-Friedensverpflichtung, Beistandspflicht. „Die trotz dieser kompatiblen Vertragstexte früher bestehende Unvereinbarkeit des Geistes beider Verträge ist durch die politische Entwicklung von der ideologisch-machtpolitischen Konfrontation zweier Blöcke zur Kooperation beseitigt worden.“ (a.a.O) Man braucht Afheldts Schlußfolgerung einer Doppelmitgliedschaft Deutschlands in beiden Bündnissen nicht zu teilen, um in dem Vertragsvergleich (der ja eine Basis für Angleichung werden könnte) Grundgedanken für blockübergreifende Strukturen erkennen zu können. Unzureichend bleiben Afheldts Überlegungen, insofern sie – einschließlich seines Streitkräftekonzepts einer zur »Rundumverteidigung« weiterentwickelten Defensivstruktur – politisch und geographisch auf Deutschland bzw. Mitteleuropa zentriert sind. Weiterreichend, weil gesamteuropäischer gedacht, erscheinen die oben genannten Vorstellungen des SIPRI-Direktors für eine europäisch-amerikanische Allianz EATO, die in der Tat mehr wäre, als eine um die Sowjetunion erweiterte NATO. Hier wird konzeptionell der Schritt über die bisherigen (auch den westlichen) Bündnisrahmen hinaus vollzogen. Stützle belegt sehr überzeugend, warum von diesem auf den ersten Blick exotischen Gedanken alle profitieren könnten. „Die NATO-Mitglieder wären gezwungen, sich aus der so sichtbar gewordenen Enge militärischen Denkens zu lösen und politisch zu handeln, und zwar gemeinsam mit denen, die froh sind, der aufgezwungenen Rolle des militärischen Gegenübers entledigt zu sein …“ (a.a.O.); Frankreich könnte Europa mitgestalten, ohne in die NATO zurückkehren zu müssen; die deutsche Frage wäre weniger singulär einzubetten; der sowjetische Truppenrückzug könnte entzerrt werden…; sogar die nukleare Seite:„Warum nicht, vielleicht für einen Übergangszeitraum, eine europäisch-amerikanische Nukleare Planungsgruppe, in der die vier Atommächte ihr Wissen mit allen anderen teilen? Dergleichen könnte sehr dazu beitragen, über Reduzierung statt über Modernisierung von Kernwaffen in Europa zu sprechen“ (a.a.O.).

KSZE – eine brauchbare Basis

Die Bedeutung von Stützles Vorschlag liegt nicht nur in seinem innovativen Inhalt, sondern auch in seiner Politikfähigkeit: Der Charakter der EATO als erklärter „Zwischenschritt auf dem Weg zu einer gänzlich neuen, im KSZE-Rahmen etablierten Sicherheitsstruktur“ (a.a.O) knüpft an gegenwärtigen Interessenkonstellationen an, ohne zukünftige Entwicklungen auszublenden. Dies gilt, auch wenn seine Vorstellungen für einen neuen KSZE-Rahmen demgegenüber merkwürdig blaß und wiederum auf das »sicherheitspolitische Kernelement« reduziert erscheinen.

Dabei bietet gerade die wachsende Bezugnahme der unterschiedlichen politischen Kräfte auf die KSZE die Chance, den tagespolitischen Pragmatismus mit der Vision im Sinne politischer Zukunftsgestaltung zu verbinden. Der Grund hierfür liegt im Doppelcharakter der KSZE: Als seiner Zeit vorauseilendem Impuls für politische (weniger militärische) Entspannung und als (ziviles) Exerzierfeld staatlicher Kooperation zwischen quantitativ und qualitativ sehr divergenten Partnern, insbesondere der Beteiligung der USA und der Sowjetunion am europäischen Geschehen. Deshalb hätte die Erweiterung und Institutionalisierung der KSZE – entgegen manchen Vorstellungen in der NATO – keinen komplementären Charakter zur NATO. Sie müßte als politischer Zusammenschluß mit neuen Inhalten und Strukturen an die Stelle der beiden alten Militärbündnisse treten. Es erscheint deshalb kurzatmig, wenn diejenigen, die für das Anknüpfen an der KSZE in einer neuen europäischen Ordnung plädieren (und schon 1975 Helsinki befördert haben) heute über eine »Europäische Sicherheitsgemeinschaft (ESG)«, wie sie Egon Bahr für die SPD entwirft, nicht hinausdenken: »Friedenshaltungspflicht«, »Friedensförderungspflicht«, »Schiedspflicht«, »Beistandspflicht«, »Bündnisverzicht«, »Souveränitätsverzicht« und »Rüstungsbegrenzungspflicht« (a.a.O.) – hinter diesen Begriffen verbergen sich zwar richtige Prinzipien, um auch im Sinne einer Integration Deutschlands die nächste Etappe zu skizzieren. Identisch mit einem europäischen Sicherheitssystem, das neue Vorstellungen von Sicherheit im umfassenderen Sinn enthält, ist das jedoch nicht.

Es soll die Frage aufgeworfen werden, ob eine Struktur (auch eine neue), in der nur das (noch verbleibende) Militärische bzw. Konfliktträchtige geregelt wird, den langfristigen Abschied vom Militär erleichtert oder erschwert und der zivilen Kooperation (in davon separaten Gremien) eher den Weg ebnet oder versperrt.

Die detailliertesten Vorstellungen in Anlehnung an die KSZE, einen »Bauplan für eine gesamteuropäische Architektur«, entwickelt Walter Schütze, der Generalsekretär des deutsch-französischen Studienkomitees im Institut Francais des Relations Internationales in Paris (In: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/90). Seine – nicht immer klar abgegrenzte – Dreiteilung neu zu schaffender Strukturen sieht erstens den Zusammenschluß der NATO- und WVO-Mitgliedsstaaten in einer »Europäischen Sicherheitsunion (ESU)« vor, die an die Stelle der beiden Bündnisse tritt. Parallelen zu Stützles EATO-Konzept sind erkennbar. Die ESU soll auf UNO-Prinzipien beruhen und gegen niemanden gerichtet sein, den Abrüstungsprozeß über den Hebel neustrukturierter VKSE-Verhandlungen weitertreiben, „eine echte gesamteuropäische Sicherheitsidentität“ schaffen – auf Dauer ohne die USA und die Sowjetunion, aber mit Sonderregelungen für ihre Potentiale in Europa. Zweitens soll eine »Konföderation der Staaten Europas (KSE)“ als Staatenbund gebildet werden, unter desssen Dach alle europäischen Länder – der Status der UdSSR bleibt offen – ihre Kooperation auf den verschiedenen Gebieten regeln. Vermeiden will Schütze „die Herausbildung eines Zwei-Klassen-Europa, also die Vertiefung der heutigen EG der Zwölf…“ (a.a.O.); wie die wirtschafliche Integration der EG unter dem Dach der KSE weiterentwickelt werden kann, wird jedoch wenig spezifiziert. Drittens schließlich die Institutionalisierung der KSZE in einer »Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)“; das Konsensprinzip soll erhalten bleiben, Konventionen bindende Wirkung erhalten; es werden eine Garantie-Verpflichtung für das europäische Territorium und eine Beistandspflicht eingegangen. Der KSZE-Gipfel im Herbst 1990 soll „einschließlich der Transformation/Auflösung der Militärbündnisse … in Form einer europäischen Generalakte die OSZE ins Leben rufen…Eine solche Generalakte würde einen Friedensvertrag mit der Republik Deutschland ersetzen und zugleich die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes und das Besatzungsstatut in Berlin ablösen.“ (a.a.O.) Man mag Details der Strukturvorschläge Schützes skeptisch beurteilen; und natürlich sind die französischen Interessenlagen unverkennbar, die einen Einfluß der Großmächte in Europa minimieren möchten. Ein vergleichsweise konkretes und über den Status quo positiv hinausweisendes Konzept liegt von deutscher Seite jedoch noch nicht vor. Vielleicht läge hier eine Chance, die von sozialdemokratischer Seite immer wieder beschworene Führungsinitiative Frankreichs für Europa ernst zu nehmen. Möglicherweise, indem man die zivilen und die (noch) militärischen Strukturen europäischer Sicherheit stärker verzahnt. Der Vorschlag des NATO-Gipfels zur Einrichtung eines permanenten KSZE-Zentrums für Konfliktverhütung weist möglicherweise in die richtige Richtung.

Wie neu wird das Neue Deutschland?

War das bisherige Tempo des deutschen Vereinigungsprozesses schon »innerdeutsch« eine fragwürdige Sache, außenpolitisch droht dadurch die empfindliche Verletzung der Interessen anderer. Dabei bestand – vor der Öffnung der Mauer und den Umbrüchen in der DDR – die Chance, die europäische Neugestaltung gemeinsam und in Ruhe zu entwickeln. Die Konsultationen mit Frankreich im Frühsommer 1989, die Erklärung Kohl/Gorbatschow im Mai vergangenen Jahres waren ein Beginn. Welchen sachlichen Grund gab es, daß dies nach dem November nicht fortgesetzt wurde? Das beliebte Argument der ungeduldig drängenden DDR-BürgerInnen mag auf wirtschaftlichen Gebiet noch taugen, für die Friedenspolitik gilt es nicht. Hier drängt die DDR bis heute – wenn auch unter dem Druck der Bundesregierung zaghafter als zu Beginn – auf Entmilitarisierung in Europa, auf Berücksichtigung vor allem der sowjetischen Sicherheitsinteressen. Der Weg von der 10-Punkte-Erklärung Kohls zur Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland in der NATO ist der Verzicht auf Neues Denken aus „deutscher Hybris“ (H.Afheldt); der »Genscher-Plan«, keine Truppen östlich der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze zu stationieren, soll im Wortsinne die Sprengkraft der Sache mindern. Eine ernsthafte Infragestellung der »Vorneverteidigung« hat er bisher nicht ausgelöst. Stattdessen hat er hat mit dazu beigetragen, daß bisher – wider den Geist der friedenspolitischen Diskussionen des letzten Jahrzehnts – kein öffentlicher Streit um Alternativen in dieser gänzlich neuen offenen Situation entbrannte.

Ein gewisser Dämpfer war vor diesem Hintergrund der Beschluß des NATO-Gipfels, die Truppenstärke des vereinten Deutschland zum Zeitpunkt des Abschlusses der ersten Wiener Verhandlungsrunde – vor der Festlegung aller Streitkräfte in Zentraleuropa – auszuhandeln. Deprimierend bleibt, daß dies gegenwärtig vielleicht das substantiellste Friedenssignal an die UdSSR und die einzige Grenzziehung für den deutschen Mitsieg im Kalten Krieg darstellt. In der Sache wird häufiger die Zahl 300.000 deutsche Soldaten genannt; weniger als alle anderen Zentraleuropäer zusammen (!), denen Egon Bahr etwa in seinem Vorschlag 350.000 Mann zugestehen will. Bahr selbst verweist auf das Paradoxon dieses Zahlenspiels: Selbst nach dem Abschluß von Wien I, wo dies besiegelt würde, „bleibt Zentraleuropa noch bei Truppen und Material Weltspitze“ (a.a.O.). Ein absurder Rekord für eine Region, in der – mit dem neuen Deutschland in der Mitte – der alte Konfliktherd des Systemgegensatzes am gründlichsten eliminiert wurde. Deutlicher kann der Anachronismus der jetzigen Wiener Verhandlungen, des Zurückbleibens militärischen Denkens kaum zu Tage treten. Wo bleiben die deutschen Initiativen für eine qualitativ neue Tagesordnung in Wien, für eine Minimierung aller Truppenstärken, für eine Denuklearisierung Europas in festgelegten Etappen?

Welche Gestalt könnte ein Deutschland haben, das in eine europäische Friedensordnung des Jahres 2000 paßt? Müßte man damit nicht heute beginnen? Neutralität erweckt in der heutigen Konstellation (vor einer vollständigen Demilitarisierung) berechtigte Sorgen der Nachbarn; konzeptionell stammt sie darüberhinaus ebenso aus alten Tagen wie die Blockstrukturen.

In der Friedensbewegung wurde die Kampagne »BOA – Für Republik ohne Armee« begonnen. Einer der Gründe für die bisher geringe Resonanz liegt meines Erachtens in der Problematik, daß dies als zu ausschnitthaft empfunden wird in einer Situation, wo es einen großen Bedarf an neuen Gesamtentwürfen gibt. Dabei gäbe es Handlungsbedarf für eigene Beiträge unseres Landes. Interessant, aber ebenfalls noch wenig populär ist die »Initiative EVV – Für Entmilitarisierung, Volksabstimmung und Verfassungsdiskussion« aus Friedenskreisen der DDR und der BRD, die die deutsche Vereinigung mit der Entmilitarisierung Deutschlands und Europas über eine Volksabstimmung zu verbinden versucht.

Das Vorfeld der KSZE-Herbstkonferenz wäre geeignet, konkrete Angebote für die Einrichtung neuer Strukturen auch auf deutschem Boden zu machen; man könnte diesen Prozeß einleiten, ohne daß alle Außenaspekte der deutschen Vereinigung schon geklärt wären. Das wäre vertrauensbildender als ein vorschneller Abschluß der 4 + 2 – Verhandlungen.

Stattdessen wird es wohl eher so kommen: „Man nehme die DDR, verleibe sie der Bundesrepublik ein, schlage das neue Deutschland der NATO zu und nenne das Ganze eine europäische Friedensordnung … das Ende des Kalten Krieges sah uns auf der Seite der Sieger, und der Sieger weiß, was recht und gut ist. War es nicht immer so?“ (Stützle, a.a.O.)

Mut zum Streit für allgemeine Abrüstung

Es wäre schon viel gewonnen, wenn diese Kritik an der uralten Machtpolitik, dem Haupthemmnis für Neudenken, (wieder) Einzug in den Alltag der friedenspolitischen Diskussion hielte. Der Deutschland-Express der letzten Wochen hat eher Tabus aufgebaut als Blicke über den Tellerrand eröffnet.

Das Wort Entmilitarisierung kommt in kaum einem der Positionspapiere für den Frieden in Europa vor. Und es mutet seltsam an, daß man gerade bei Helmut Schmidt etwas über den „Interessendruck des militärisch-industriellen Komplexes“ und die Notwendigkeit der Zivilisierung lesen kann. Warum traut sich niemand über, allgemeine Abrüstung zu sprechen, obwohl sie erstmals wirklich auf der Tagesordnung steht?

In der Tat wird die »Kunst« der Friedenspolitik ab sofort darin bestehen, weit in die Zukunft zu denken und gleichzeitig die ersten kleinen Schritte dahin zu organisieren. Aber man spürt, daß das zweite ohne das erste nicht beginnt. Pragmatismus allein ist kein guter Ratgeber – allemal in Zeiten großer Veränderungen.

Für die Diskussion um eine neue Friedensordnung in Europa, für ein Gemeinsames Europäisches Haus, wären wichtige Merkposten:

  • die ganze Dimension der Veränderungen in Europa muß auf den Tisch und zur Grundlage der Politik werden; nichts kann und darf bleiben, wie es war.
  • Sicherheit ist noch ein militärisches, aber auch schon ein ziviles Problem; die zivilen Dimensionen sind noch unscharf; das erfordert zweierlei Konsequenzen: In neuen Strukturen sollte es Raum für den Abbau des Militärischen geben; neue Konfliktfelder (und ihre Gewaltpotentiale) sollten aber von vornherein ohne Militär gedacht werden.
  • Europäische Friedenssicherung kann in Zukunft nur im Kontext mit wirtschaftlicher Gerechtigkeit und ökologischer Verantwortung erarbeitet werden. Das erhöht die Rolle der EG als ökonomischem Machtzentrum; sein Hegemoniepolitik muß prinzipiell in Frage gestellt, neue Prinzipien der Kooperation erarbeitet werden.
  • Die Europäische Friedensordnung wird es nicht auf Kosten oder in Konkurrenz zu anderen Staaten oder Teilen der Welt geben. Das reiche und entwickelte Europa ist ganz besonders in der Pflicht, an einem menschenwürdigen Zusammenleben auf der »Einen Welt« mitzuwirken.

Corinna Hauswedell, Historikerin, Vorsitzende der Informationsstelle Wissenschaft & Frieden in Bonn.

FRONTEX

FRONTEX

Der Europäische Grenzschutz und seine Agentur

von Timo Tohidipur

Der Barbar ist die Gefahr. So ähnlich könnte man den Blick der Römer auf die ihrem Imperium angrenzenden Völker, beispielsweise die jenseits des Limes angesiedelten germanischen Stämme, umschreiben. Die Konsequenz bedeutete unnachgiebige Behandlung vermeintlich illegaler Grenzübertritte bei gleichzeitiger Zulassung handelsfördernder Kontakte. Die Zeiten ändern sich, doch dieser Blick auf den Fremden scheint auf dem europäischen Kontinent eine gewisse Kontinuität aufzuweisen.

Tausende Migranten versuchen Monat für Monat, ausgelöst durch Bürgerkriege, Verfolgung oder wirtschaftliche Not, das Gebiet der EU zu erreichen und sehen sich dabei einem ausgefeilten Sicherheitsapparat gegenüber, der sie bereits vor Erreichen des Festlandes abwehrt oder nach Erreichen kollektiv kaserniert, offen kriminalisiert und schnellstmöglich abschiebt. Die Wahrung der Sicherheit der Bürger im Inneren, auch mittels Abschirmung vor Gefahren von Außen, ist eine der stets hervorgehobenen Aufgaben des Staates. Die organisatorische Hoheit über Fragen der Migration und der Sicherheit liegt indes nicht mehr allein beim Staat als Mitgliedstaat der EU, vielmehr gerät die Grenzsicherung verstärkt in das Blickfeld einer auf einheitlicher Steuerung und Koordination bedachten Europapolitik. Dazu gehört eine neue Verwaltungseinrichtung, die »Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union«: FRONTEX (abgeleitet von Frontières Extérieures). Der bereits enorme Umfang operativer Befugnisse, die koordinierend-integrierende Funktionsausrichtung und die politische Bedeutungszuschreibung machen eine eingehende Auseinandersetzung mit ihr notwendig. Dabei führen die Betrachtung der internen Struktur und die anschließende Darlegung der weitreichenden Befugnisse zu Fragen nach den Bedingungen politischer und rechtlicher Verantwortlichkeit im Kontext einer interpretationsoffenen bis beliebigen Vorstellung von Sicherheit.

FRONTEX als Gemeinschaftsagentur

Die institutionelle Ausgestaltung von FRONTEX beruht auf den Vorgaben einer EG-Verordnung aus dem Jahre 2004 (FRONTEX-VO)1, die sich auf die gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzen über die Regulierung von Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen stützt. Dabei enthält das Primärrecht (also die Verträge über die EG bzw. die EU: EGV und EUV) keine explizite organisationsrechtliche Kompetenz zur Schaffung von Agenturen. Doch bereits seit den 1970er Jahren werden solche Agenturen in der Form sekundärrechtlich (i.d.R. durch eine Verordnung) begründeter Verwaltungseinrichtungen errichtet, die zunächst nicht mehr als ein Forum für Informations- und Erfahrungsaustausch waren, und erst später zunehmend hoheitsrechtliche Befugnisse erhielten.2 Das stetig anwachsende Agenturwesen ist und bleibt legitimatorisch nicht unproblematisch, wurde aber zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Frage gestellt. Die eigenständige Ausdifferenzierung verwaltungsorganisatorischer Strukturen wird letztlich mit der auf die Gemeinschaft übertragenen Sachkompetenz begründet.

FRONTEX ist durch die Verleihung eigener Rechtspersönlichkeit rechtsverbindliches Handeln in eigenem Namen möglich. Der ihr vorstehende Exekutivdirektor ist in seiner Funktion unabhängig gegenüber den Regierungen der Mitgliedstaaten und sonstigen Stellen. Er wird von dem Verwaltungsrat ernannt, der sich aus je einem Vertreter der Mitgliedstaaten und zwei Vertretern der Europäischen Kommission zusammensetzt. Diesem Verwaltungsrat gegenüber bleibt der Exekutivdirektor hinsichtlich der Tätigkeitsberichte für das jeweils vergangene Jahr und der Festlegung der Arbeitsprogramme für das jeweils zukünftige Jahr verantwortlich. Eine über Berichtspflichten hinausgehende parlamentarische Verantwortlichkeit oder gar Steuerung der Agentur ist nicht vorgesehen. Nur bei Änderungen oder Erweiterungen der Rechtsgrundlage kann das Europäische Parlament mitentscheiden. Das Spezifikum der Agenturen besteht darin, dass sie in der Diktion der EU »autonome« Verwaltungseinrichtungen der EU sind. Die Agentur bleibt damit, jenseits des Potentials öffentlicher Skandalisierung, »im Schatten« demokratischer Kontrollen. Lediglich die allgemeine Haushaltskompetenz des Europäischen Parlaments lässt eine begrenzte finanzielle Kontrolle durch Genehmigung der Haushaltsmittel entsprechend der Stellen- und Bedarfslage zu.

Europäischer Grenzschutz als integrierte Verwaltungskooperation

In den Begründungserwägungen der FRONTEX-VO wird ausdrücklich betont, dass der integrierte Schutz der Außengrenzen der EU das Ziel der Gemeinschaftspolitik ist. Der im Rahmen des Binnenmarktes und auf der Grundlage der Schengener Vereinbarungen umfassend garantierte freie Personenverkehr innerhalb der EU soll durch ein einheitliches und hohes Kontroll- und Überwachungsniveau an den Außengrenzen ermöglicht werden. Da die grundsätzliche Verantwortung und rechtliche Kompetenz für die Überwachung der Außengrenzen noch bei den Mitgliedstaaten liegt, setzt das angestrebte Kontroll- und Überwachungsniveau eine besondere Koordinierung voraus, die insbesondere durch FRONTEX geleistet werden soll. Gemeinsam ist den bisherigen Formen der Zusammenarbeit im europäischen Grenzschutzregime die horizontale Vernetzung von mitgliedstaatlichen Behörden, mit einer Betonung der Dimension »Informationsvernetzung«. Die Errichtung von FRONTEX erweitert das System um die entscheidende vertikale Komponente.

Während beispielsweise die 2007 neu konstituierte »Europäische Agentur für Grundrechte« lediglich Forschungs-, Beratungs- und Informationsrechte hat, enthält die FRONTEX-VO folgende umfassende Aufgabenzuweisung an die Agentur, die auch hoheitsrechtliches Handeln ermöglicht:

  • Koordinierung der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Schutzes der Außengrenzen;
  • Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Ausbildung von Grenzschutzbeamten einschließlich der Festlegung gemeinsamer Ausbildungsnormen;
  • Durchführung von Risikoanalysen;
  • Verfolgung der Entwicklungen der für die Kontrolle und Überwachung der Außengrenzen relevanten Forschung;
  • Unterstützung der Mitgliedstaaten in Situationen, die eine verstärkte technische und operative Unterstützung an den Außengrenzen erfordern;
  • Bereitstellung der notwendigen Unterstützung für die Mitgliedstaaten bei der Organisation gemeinsamer Rückführungsaktionen.

Entsprechend dem Arbeitsprogramm für 2007 verfügt FRONTEX derzeit über ein Budget von 22 Mio. Euro und hat 78 Bedienstete, wobei deren Anzahl im Laufe des Jahres auf 140 erhöht werden soll. In den eineinhalb Jahren ihres Bestehens hat die Agentur in den drei Kernbereichen ihres Tätigkeitsfeldes bereits beträchtliche Aktivitäten entfaltet.

Operatives Handeln

Die größte Herausforderung für die Implementierung des Grenzkontrollregimes besteht nach Einschätzung von FRONTEX auf vier Hauptrouten der Migration in die EU, d.h. die Routen über die südlichen Seeaußengrenzen, die östlichen Landaußengrenzen, über den Balkan und über bedeutende internationale Flughäfen.3 Dabei werden Fragen nach dem Umgang mit Migranten im Kontext (menschen)rechtlicher Verpflichtungen und sicherheitspolitischer Anforderungen aufgeworfen.

Unter der Beteiligung von FRONTEX haben im Jahr 2006 die Grenzschutzaktionen »Hera I und II«, »Nautilus« sowie »Jason I« im Mittelmeerraum stattgefunden.4 Die mit dem Codenamen »Hera« versehenen Aktionen bezeichneten den Einsatz im Gebiet der Kanaren, der Kapverden und vor dem Senegal. Die Probleme des europäischen Grenzkontrollregimes manifestieren sich hier sehr deutlich. Die Einsätze zielten auf die Identifikation von Migranten und die Bestimmung ihres Herkunftsstaates sowie den Einsatz von Grenzüberwachungsgeräten zur Kontrolle des Meerabschnittes zwischen der Afrikanischen Küste und den Kanarischen Inseln. Zudem wurden zwischen August und Oktober 2006 mit der Unterstützung von FRONTEX insgesamt 3887 Menschen „nahe der Afrikanischen Küste abgefangen und umgeleitet“.5 In ähnlicher Form sollen die Operationen im Jahr 2007 für die Kanarischen Inseln und die Afrikanische Küste ablaufen.6

Während die bisherigen Einsätze bloße »Unterstützungseinsätze« darstellten, bei denen die FRONTEX-Experten und die durch FRONTEX koordinierten nationalen Unterstützungsteams keine eigenen exekutiven Kompetenzen innehatten, sollen in Zukunft Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke (Rapid Border Intervention Teams, RABITs) gebildet werden, denen einsatzbezogen hoheitliche Befugnisse im jeweiligen Mitgliedstaat übertragen werden. Das Einsatzfeld dieser RABITs ist die zeitlich befristete Unterstützung von Mitgliedstaaten, die sich an bestimmten Stellen ihrer Außengrenzen einer voraussehbar übergroßen Anzahl an einreisewilligen Migranten gegenübersehen. Diese vom Exekutivdirektor ausdrücklich betonte Beschränkung auf zeitlich begrenzte Einsätze7 überzeugt nicht, denn der Versuch des massenhaften Grenzübertritts über das Mittelmeer ist aus Sicht des Grenzschutzes ein erkennbar kontinuierliches und eben kein punktuelles Problem.

Die entsprechende neue EG-Verordnung (RABIT-VO)8 konturiert den Umfang und die Grenzen der temporär zu übertragenden Hoheitsbefugnisse für die Einsätze der RABITs und versucht das für die jeweiligen Konstellationen eines Einsatzes geltende Recht zu definieren. Hier offenbaren sich, gemessen an Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und der Transparenz, Defizite. Denn während einerseits die entsandten Teammitglieder das Gemeinschaftsrecht und das nationale Recht des Einsatzmitgliedstaates einhalten sollen, sind sie beispielsweise im Hinblick auf die benutzbare Ausrüstung (Dienstwaffe etc.) an das Recht des Herkunftsmitgliedstaates gebunden. Überaus problematisch ist in diesem Zusammenhang die für den speziellen Einsatz bestehende Weisungskompetenz der Beamten des Einsatzstaates gegenüber den RABIT-Beamten, da gleichzeitig der Exekutivdirektor von FRONTEX den maßgeblichen Einsatzplan für die RABIT-Beamten verbindlich erstellt. Eine zusätzliche Ebene rechtlicher Verantwortlichkeit wird dadurch implementiert, dass die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit des einzelnen RABIT-Beamten allein gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat besteht. Der einzelne Beamte sieht sich damit im Einsatz zumindest drei unterschiedlichen Rechtsmaßen gegenüber, die nicht immer klar zu trennen sind. Noch weniger überschaubar ist diese Rechtskonstruktion – und damit der daran anknüpfende Rechtsschutz im Einzelfall – aus der Sicht des von Maßnahmen betroffenen Flüchtlings. Hier offenbaren sich Defizite greifbarer rechtlicher Verantwortlichkeit, die spätestens dort notwendig wird, wo hoheitsrechtliche Befugnisse potentiell in Rechte Einzelner einzugreifen geeignet sind. Der Grundsatz des umfassenden und effektiven Rechtsschutzes ist über das Rechtsstaatsprinzip in Art. 6 EU und darüber hinaus in Art. 6 Abs. 1, 13 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) verankert und beansprucht so als allgemeiner Rechtsgrundsatz Geltung für die EU und damit auch für die Handlungen von FRONTEX. Hier spielt die Frage des exterritorialen Anwendungsbereichs der Grund- und Menschenrechte eine entscheidende Rolle.9

Zusammenarbeit und Informationsvernetzung

Politische Zielvorgabe der EU ist die in den Art. 61 ff. des EG-Vertrages fixierte Schaffung eines so genannten Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Die besondere Fokussierung auf den Aspekt der Sicherheit zeigt sich in der Errichtung einer Vielzahl verschiedenster Agenturen und ihrer Vernetzung: so sind für den »Außenbereich« dieser Sicherheitspolitik der EU insbesondere die Agenturen für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, also namentlich die Europäische Verteidigungsagentur (EDA), das Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien (ISS) und das Satellitenzentrum der Europäischen Union (EUSC) zuständig. Die Verwirklichung des »Innenbereichs« obliegt dem Europäischen Polizeiamt (Europol), der Europäischen Polizeiakademie (EPA), dem Europäischen Organ zur Stärkung der justiziellen Zusammenarbeit (Eurojust), der Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF und eben FRONTEX. In ihren verschiedenen Ausrichtungen bilden diese Agenturen eine umfassende operative Basis. Die enge Kooperation zwischen Europol, Eurojust, OLAF und selbst dem EUSC mit FRONTEX ist über Arbeitsvereinbarungen garantiert.

Besondere Bedeutung kommt der Erleichterung des interinstitutionellen und mitgliedstaatlichen Informationsaustauschs zu, der ein in der FRONTEX-VO ausdrücklich festgeschriebenes Ziel der Agentur ist. FRONTEX wird daher Zugang zum Informationsnetz der Migrationsbehörden der Mitgliedstaaten erhalten und kann in der Zusammenarbeit mit Europol auf dessen umfangreiche Datenbestände zugreifen.10 Zugleich forciert die FRONTEX-VO eine Öffnung hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen FRONTEX und internationalen Organisationen sowie Behörden von Drittstaaten, die für vergleichbare Aufgabenbereiche zuständig sind. So ist die Verstärkung der Beziehungen zu den nord- und westafrikanischen Drittländern, die so genannte »Herkunfts- oder Transitländer« für illegale Migranten sind, ein wesentliches Ziel der Maßnahmen des Rates zur Bekämpfung illegaler Einwanderung. Überdies ist sogar eine Zusammenarbeit von FRONTEX mit Geheimdiensten nachdrücklich erwünscht.11

Die integrative Kraft der Vernetzung bezieht sich auch auf die Zusammenlegung von grenzschutzrelevanten Ressourcen. FRONTEX verwaltet eine Toolbox, die einmal schweres technisches Gerät wie Flugzeuge, Hubschrauber, Schiffe und sonstige Fahrzeuge, sowie, in der »humanen« Version, Grenzschutzspezialisten mit ihren spezifischen Einsatzpotentialen umfasst. Aus diesem Pool werden die koordinierten Einsätze »bestückt«. Der Vergleich zur schnellen (militärischen) Eingreiftruppe drängt sich hier förmlich auf.

Migrationssteuerung als Sicherheitsproblem

Die gesamte Einsatzstruktur von FRONTEX und ihres umgebenden Grenzschutzregimes ist auf Abwehr ausgerichtet. Die Vollstreckung dieser Strategie erfolgt im Kern auf drei Wegen: Erreichen Migranten das europäische Festland, werden sie (bisweilen in fragwürdigen Auffanglagern) kaserniert, bis ihre Identität und/oder ihr Herkunftsstaat festgestellt ist, und sodann abgeschoben. Werden Migranten bereits auf dem Weg zum Gebiet der EU aufgespürt, erfolgt entweder eine unmittelbare Rückführung oder sie werden, wenn dies nicht sofort vertretbar scheint, erst aufgenommen und dann nach obigem Verfahren abgeschoben. Der dritte Weg – und damit die für die EU »sauberste« Lösung – liegt darin, bereits die Abreise des Flüchtlings aus seinem Heimatland zu verhindern.

Der Erfolg von FRONTEX wird in dieser Logik stets in Zahlen gemessen: Wenn bis September 2006 noch zwischen 4.500 und 7.000 Migranten monatlich das Gebiet der Europäischen Union erreichten und nach koordinierten Maßnahmen von FRONTEX nur noch ca. 600 im Oktober 2006 so weit kamen, dann wird dies als Erfolg bewertet.12 Der logistische Aufwand, den FRONTEX zur Abwehr illegaler Migranten betreibt, ist dabei enorm. Gerade darin zeigt sich die Problematik dieses speziellen Politikbereichs, dessen Organisation mehr und mehr einem Kampfeinsatzszenario gleicht denn einer nachhaltigen Reaktion auf katastrophale humanitäre Umstände. So wird beispielsweise die zivile Seenotrettung materiell und institutionell vernachlässigt.

Der Ansatz, die Staaten einzubeziehen, aus denen die meisten Migranten aufbrechen oder die als Transitstaaten dienen, ist richtig, doch darf er nicht unter dem Vorzeichen radikaler Abschottung ohne Ansehung des Kontextes und der flüchtlings- und menschenrechtlichen Verpflichtungen geschehen. Ansonsten werden sich die Flüchtlingsströme – und hier ist der Vergleich mit dem Wasserstrom ausnahmsweise angebracht – neue Wege erschließen, die dann noch unmenschlichere Strapazen bedeuten. Dauerhaft kann dies nicht durch Abschottung und Aufrüstung der Grenzbehörden verhindert werden. Die Probleme der USA an der hochaufgerüsteten Grenze zu Mexiko sind nur ein Beispiel des Scheiterns einer ähnlichen Strategie. Eine nachhaltige Strategie kann nicht allein auf einem Regime integrierter Sicherheitsbehörden gegründet werden, sondern muss notwendig auch Strategien der Entwicklungsförderung und konstruktiven Kooperation einbeziehen.

Stellt sich die EU diesen Herausforderungen nicht auf eine Weise, die der unbestreitbar existenten Migrationsproblematik gerecht wird, also ohne diese allein auf der Ebene einer Sicherheitspolitik zu lösen, die die stets nach außen reklamierten grund- und menschenrechtliche Grundsätze ebenso wie rechtsstaatliche Verfahrensgarantien in eigener Anwendung selbst partiell zu suspendieren geneigt ist, so bleibt die Frage: Wer ist der Barbar?

Anmerkungen

1) Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 v. 26. Oktober 2004, ABl. EG L 349/1 v. 25.11.2004.

2) Zur Historie: Robert Uerpmann, Mittelbare Gemeinschaftsverwaltung durch gemeinschaftsgeschaffene juristische Personen des öffentliches Rechts, in: Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 125 (2000), S.551 ff.

3) FRONTEX, Pressemitteilung v. 22.02.2007, http://www.eu2007.de/de/News/Press_Releases/February/0222BMIFrontex.html.

4) Ein Überblick über die bisherigen Operationen findet sich bei Roderick Parkes, Gemeinsame Patrouillen an Europas Südflanke, SWP-Aktuell 44 (09/2006).

5) FRONTEX, statistische Angaben zu den Operationen HERA I und II v. 19.12.2006, http://www.frontex.europa.eu/gfx/frontex/files/hera-statistics.pdf

6) FRONTEX, Presseerklärung v. 15.02.2007, http://www.frontex.europa.eu/newsroom/news_releases/art13.html.

7) Ilkka Laitinen, Frontex – Facts and Myths, http://www.frontex.europa.eu/newsroom/news_releases/art26.html.

8) Verordnung (EG) Nr. 863/2007 des EP und des Rates v. 11. Juli 2007, ABl. EG L 199/30 v. 31. Juli 2007

9) Andreas Fischer-Lescano/Timo Tohidipur, Europäisches Grenzkontrollregime, in: ZaöRV 4/2007 (im Erscheinen).

10) Zu den Vernetzungen von FRONTEX: Mark Holzberger, Europols kleine Schwester. Die Europäische Grenzschutzagentur „FRONTEX“, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 84 (2/2006), S.56 ff.

11) Entschließung des Europäischen Parlaments zur externen Dimension der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, 15.02.2007, P6_TA-PROV(2007)0050, Ziff. 33 lit. k).

12) Exekutivdirektor Laitinen im Tagesspiegel v. 30.10.2006, http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Die-Dritte-Seite; art705,2277672.

Dr. Timo Tohidipur ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für öffentliches Recht der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main

»Festung Europa«

»Festung Europa«

von Gabriele del Grande

Täglich sterben Menschen beim Versuch, auf ihrer Flucht vor Krieg und Verfolgung, Elend, Umweltzerstörung und Gewalt nach Europa zu gelangen. Für uns im Norden sind sie namenlos, aber ihre Angehörigen bangen und hoffen, von ihnen ein Lebenszeichen zu hören. Die Initiative »fortresseurope« bemüht sich darum, die tödlichen Ergebnisse der EU-Abschottungspolitik zu erfassen. Wir dokumentieren den Bericht für den Monat September.

Unseren internationalen Presseberichten nach sind mindestens 99 Personen im September dieses Jahr an den Pforten Europas gestorben. Es gibt 1.096 Opfer seit Anfang des Jahres, 10.355 Migranten sind seit 1988 gestorben. Im letzten Monat sind 43 Personen vor den Kanarischen Inseln ertrunken; 19 auf dem Weg zu der französischen Insel Mayotte im Indischen Ozean, 11 Leute starben auf dem Weg zwischen der algerischen und spanischen Küste, 13 starben im Kanal von Sizilien und 10 vor den griechischen Inseln. Drei tschetschenische Mädchen, im Alter von 6, 10 und 13 Jahren sind beim Versuch, mit ihrer Mutter von der Ukraine zu Fuß nach Polen zu gelangen, erfroren. Die Zahl der Ankünfte über See nimmt ab (-75% in Spanien und -7% in Italien), nicht aber die Zahl der Opfer. Unterwegs zwischen Libyen und Spanien, sind dieses Jahr bereits 500 Personen gestorben, verglichen mit den 302 des ganzen vorigen Jahres. Inzwischen geht in Libyen das Leiden der 600 Eritreer weiter, die in Misratah gefangen sind. Aber Europa schaut weg und Frattini kündigt ein neues Abkommen mit Tripoli an, um Migranten, die im Meer aufgegriffen werden, zurückzuschicken.

Am 10. September überwachten Frontex-Patrouillen den Kanal von Sizilien und den Süden von Sardinien, von Annaba aus, entlang der algerischen Route nach Italien. Im ersten Teil ihrer Mission, genannt »Nautilus II«, die im Juni und Juli 2007 stattgefunden hat, wurden 464 Migranten festgenommen und 166 gerettet. Der EU Kommissar Frattini hat vor kurzem mitgeteilt, dass diese Patrouillen ab 2008 permanent eingesetzt werden und dass Libyen dann mitarbeiten wird. Der Kommissar hat bereits 30 Millionen Euro zusätzlich erbeten, mit denen das Frontex-Budget aufgestockt werden soll (34 Millionen Euro in 2007) – und das, obwohl ein Verfassungszusatz des Europäischen Parlaments verlangt hat sofort 30% der administrativen Ausgaben einzufrieren. Momentan ist »fortresseurope« sehr besorgt über die zukünftige Zusammenarbeit mit Libyen, um Migranten zurückzuschicken.

Frontex schickt sie bereits in Mauretanien und Senegal zurück, wo mehr als 1.500 Personen in 2007 abgefangen wurden und wo mehr als 18.000 Senegalesen im Jahr 2006 von Europa aus abgeschoben wurden. Human Rights Watch teilt mit, dass sie große Besorgnis über Misshandlungen und Folter von Migranten in Libyen hege. Aber Europa schaut weg. Frontex hat bereits Kontakt mit libyschen Offiziellen aufgenommen. Brüssel schenkt Gaddafi ein elektronisches Sicherheitssystem, um die südlichen Grenzen zum Niger, Tschad und Sudan zu überwachen, von wo aus Tausende Menschen jedes Jahr ins Land eindringen und manchmal weiter nach Lampedusa reisen. Frattini wird in Kürze eine Truppe nach Tripoli schicken, um die Geräte zu installieren, wie der italienischen Innenminister Giuliano Amato am 18. September verkündete.

Am selben Tag – was für ein schizophrenes Europa! – hat eine offizielle Mitteilung der Europäischen Union das „ernste Missachten der Menschenrechte“ in Eritrea verurteilt. Aber kein Wort wurde über die 2.589 eritreischen Flüchtlinge verloren, die im Jahr 2006 an der sizilianischen Küste ankamen, nachdem sie der Diktatur entflohen waren. Sie machen 12% der 22.016 Migranten aus, die im letzten Jahr illegal in Italien angekommen sind, und 20,8% der 10.438 AsylbewerberInnen der gleichen Zeit. Und nichts wurde gesagt über die 600 Eritreer, die seit einem Jahr und 6 Monaten in Misratah gefangen sind, 200 km östlich von Tripoli, unter menschenunwürdigen Verhältnissen, darunter drei schwangere Frauen, zwei Babies und mehr als zehn Kinder. Weitere 70 Eritreer wurden in Zawiyah in einer Razzia in der Nacht vom 8. auf den 9. Juli 2007 festgenommen. Viele von ihnen sind vom Flüchtlingshilfswerk der UNO anerkannte Flüchtlinge, die versuchen eine Umsiedlung zu organisieren. Die meisten von ihnen sind der Armee und dem Krieg entflohen. Sie haben die Sahara durchquert und haben versucht durchs Mittelmeer nach Italien zu gelangen und politisches Asyl zu beantragen. Wenn sie zurückgebracht werden, steht ihr Leben auf dem Spiel, so wie das der 161 Kriegsdienstverweigerer, die im Jahr 2005 nach Angaben von amnesty international in Eritrea erschossen wurden. Die eritreische Diaspora demonstrierte am 18 September überall in Europa für ihre Freilassung.

Das Grünbuch der EU zum Thema Asyl vermerkt, dass es eine Vermischung der Arbeitsmigration mit den Flüchtlingen ohne Papiere gibt. Europäische Statistiken zeigen, dass im Jahr 2006 192.000 Migranten in den 27 EU-Ländern um Asyl nachgesucht haben; das ist nur ein Fünftel der 670.000 Anfragen im Jahr 1992 in damals 15 Ländern. Die Anzahl der Asylanträge ist in den letzten fünf Jahren um die Hälfte zurückgegangen. Das ist das Ergebnis der Jagd auf die illegale Migration, die die meisten der Iraker, Sudanesen, Afghanen und anderen Flüchtlinge dazu zwingt, Europa auf illegalem Weg zu erreichen. Europa wehrt sich gegen sie mit Armeen, rassistischen Gesetzen, Mauern und Gefängnissen und bringt sie zurück in ihren Krieg.

Sie kommen aus dem Irak, Afghanistan und Iran und sie gelangen in Patras und Igoumenitsa an Bord von Touristenschiffen aus Griechenland und erreichen so Italien. Täglich findet die italienische Polizei Dutzende von Migranten ohne Papiere in den Häfen der Adria. Sie werden an Bord festgehalten, bis das Schiff wieder nach Griechenland zurückkehrt, wo sie dann festgenommen werden und vielleicht in die Türkei abgeschoben werden, die sie dann wiederum in ihre Heimatländer abschiebt. Nach italienischen Pressemitteilungen vom September wurden 194 Migranten zurückgeschickt; davon waren 95 Iraker, 30 Türken und 19 Afghanen. Die meisten von ihnen wurden in Griechenland wieder »aufgenommen«. Am 19. September wurde eine irakische Familie – Mutter, Vater und 4 Kinder im Alter von einem bis acht Jahren, vom Hafen in Ancona nach Griechenland zurückgeschickt. Im August wurden mindestens 362 Personen auf die gleiche Art zurückgebracht. Vom Hafen von Bari aus – so die Angaben der Grenzpolizei – wurden im Jahr 2006 850 Migranten nach Griechenland zurückgebracht, davon waren 300 Iraker und 170 Afghanen. Am 9. April 2007 wurden – wiederum von Bari aus – an einem einzigen Tag mindestens 150 Iraker auf die gleiche Weise zurückgebracht; 120 Iraker waren es im August 2007 und 43 im September.

Einen Asylbewerber zurückzuschicken, ist nach italienischem Gesetz sowie nach UN-Konvention für Flüchtlinge verboten. Das europäische Parlament und das UNHCR haben Empfehlungen gegen die Wiederaufnahme von Irakern in Griechenland ausgesprochen.

Einem EU-Bericht nach hat Griechenland noch kein einziges Mal einen Iraker als Flüchtling anerkannt. Im Gegenteil: Griechenland hat im Jahr 2001 einen Rückführungsvertrag mit der Türkei unterschrieben. In den ersten acht Monaten des laufenden Jahres haben die griechischen Behörden über 4.500 Migranten festgenommen, wovon viele in die Türkei abgeschoben wurden, darunter auch Iraker. Und von der Türkei aus wurden im Juli dieses Jahres 135 Iraker deportiert, so die UNHCR. Am 11. September habe die türkischen Behörden 145 Migranten bei Durchsuchungen in Edirne und Ipsala festgenommen. Die Orte liegen nahe der griechischen Grenze. 50 Afghanen, 21 Somalier und 74 Iraker, Mauretanier, Ruander, Georgier, Palästinenser und Birmesen.

In der Zwischenzeit wird in der Türkei eine 473 km lange Mauer entlang der irakischen Grenze gebaut, um den bewaffneten Kampf der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und das Eindringen von Migranten zu stoppen. Syrien hat die östliche Grenze Tanaf geschlossen und Saudi Arabien hat 3,2 Billionen Dollar investiert, um einen 900 km langen Stacheldrahtzaun zur irakischen Grenze zu ziehen. Wundert sich da noch jemand, dass die Zahl der Asylanträge rückläufig ist?!

Zäune, die an die von Ceuta und Melilla erinnern und die die Geister der 17 Migranten rufen, die von der Marokkanischen »Forces Auxiliaires« und der Spanischen »Guardia Civil« im Sommer und Herbst 2005 erschossen wurden. Zwei Jahre später, am 21. Oktober, wird eine Karawane zu diesen Orten zurückkehren, eine Karawane der Solidarität, um an die Opfer eines Krieges zu erinnern. Ein Krieg gegen die Migranten, der noch nicht vorbei ist und der seine Opfer ebenfalls an der östlichen Front fordert.

Der neue Vorhang verläuft von der Slowakei über Polen, Ungarn und Rumänien. Die externe Grenze der EU ist der Ukraine anvertraut. Auch dort ist die Behandlung von Flüchtlingen und Asylsuchenden jedoch häufig nicht an menschenrechtlichen Standards orientiert. „Die Ukraine misshandelt regelmäßig Migranten und Asylbewerber, sperrt sie unter unmöglichen Bedingungen ein, verübt Gewalt, Folter und Ausbeutung und schiebt sie danach ab, zurück in die Folter und die Gefangenschaft“, so ein Bericht von Human Rights Watch (HRW) im November 2005. „Das Asylsystem funktioniert kaum, und das führt zu Zwangsrückführungen in Länder, in denen die Einwohner Folter und Verfolgung riskieren“. Daher verlangt HRW von der EU, dass zunächst eine Reihe von Verbesserungen hinsichtlich der Behandlung von Asylsuchenden mit der Ukraine vereinbart werden müssen, bevor irgend ein neuer Rückführungsvertrag unterschrieben wird. Es gibt bereits Rückführungsverträge zwischen der Ukraine und ihren EU-Nachbarn, um Migranten und Asylsuchende in die Ukraine abzuschieben. Dies ruft zum Teil große Sorge hervor, weil dabei Asylbewerber aus Tschetschenien und Usbekistan oft nach Russland abgeschoben werden – trotz des Risikos der Verfolgung, dem sie dort ausgesetzt sind.

Die Ukraine hat im Jahre 2004 5.000 Migranten und in den ersten 6 Monaten des Jahres 2005 2.346 Migranten zurückgeschickt – 50% davon nach Russland, die anderen nach China, Indien, Pakistan und Bangladesh. Die EU wusste davon Bescheid, doch Brüssel hat am 18. Juni 2007 bereits einen Wiederaufnahme-Vertrag mit Kiew unterzeichnet. Der Vertrag soll noch vor Ende dieses Jahres in Kraft treten. Der HRW-Bericht wurde vor zwei Jahren veröffentlicht, aber der kürzlich erschienene Bericht von Pawschino, einer ukrainischen Organisation, verdeutlicht, das sich nichts zum Positiven verändert hat.

Gabriele del Grande ist Mitarbeiter des Projektes »fortresseurope« (fortresseurope.blogspot)

Eine Traurige Bilanz

Eine Traurige Bilanz

Die EU und der Kosovo

von Gabriele Rasch

Ende Juli diesen Jahres stimmten 217 Abgeordnete des serbischen Parlaments für eine Resolution, in der der Kosovo als unveräußerlicher Bestandteil Serbiens bezeichnet wird. Zur selben Zeit sprechen die Kosovo-Albaner von Unabhängigkeit noch in diesem Jahr und die kosovarische Übergangsregierung arbeitet fleißig an den Insignien eines unabhängigen Staates.

Acht Jahre nach dem völkerrechtswidrigen Krieg der NATO sind Serben und Kosovo-Albaner in ihren Positionen noch immer weit von einander entfernt.

Eine Lösung der Kosovo-Frage ist nicht in Sicht. Die Lage in der Provinz ist dabei denkbar schlecht: Armut und Arbeitslosigkeit, Korruption und das organisierte Verbrechen prägen das Bild. Die Statusfrage lastet über allem. Das uneinige Europa hat sich bisher nicht in der Lage gezeigt, an der bestehenden und wohlmöglich eskalierenden Situation in der Region etwas zu verändern. Stattdessen hat die EU zugelassen, dass die Provinz zum Spielball der Großmächte USA und Russland geworden ist. Die Kosten für diese Politik wird am Ende Europa tragen müssen. Der Kosovo ist damit schon heute ein trauriges Beispiel für das Versagen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.

Die internationale Gemeinschaft hat versagt

Bereits 1999 ließ Europa es zu, dass die NATO ohne VN-Mandat Luftangriffe auf serbische Ziele flog. Statt nach 79 Tagen Krieg dann die entscheidenden Konfliktursachen anzugehen, entschied sich die internationale Gemeinschaft jedoch für eine Politik des Aussitzens. Mit Resolution 1244 wurde keine umfassende Friedensregelung getroffen, sondern ein Waffenstillstand mit ungewisser Zukunft ins Leben gerufen. So schrieb die VN-Resolution dem Kosovo substantielle Autonomie im Rahmen der Jugoslawischen Föderation zu und bekräftigte die territoriale Unversehrtheit Jugoslawiens. Gleichzeitig wurde jedoch eine VN-Mission ins Leben gerufen, die ab 1999 die Verwaltung des Kosovo übernahm. Völkerrechtlich gehört die Provinz somit noch zu Serbien, mit Einrichtung der »United Nations Mission in Kosovo« (UNMIK) hat die serbische Regierung jedoch keine hoheitlichen Befugnisse mehr in der Provinz. Eine Hauptaufgabe der UNMIK wird fortan die Förderung eines politischen Prozesses sein, mit dem Ziel den künftigen Status des Kosovo zu bestimmen.

UNMIK ist dabei die erste VN-Mission, in der andere Organisationen Schlüsselfunktionen übernehmen. Diese Konstellation schlägt sich in den Verantwortlichkeiten der vier Säulen der Mission nieder: Polizei und Justiz (KFOR, internationale zivile VN-Polizeimission), Zivilverwaltung (VN), Demokratisierung und institutioneller Wiederaufbau (OSZE) sowie Wiederaufbau und wirtschaftliche Entwicklung (EU). Von Anfang an erwies sich jedoch die Koordination der verschiedenen Interessen und Projekte als schwierig, zumal noch eine Vielzahl von internationalen und lokalen NGOs in der Provinz tätig sind.

Im Mai 2001 wurde von der UNMIK der Verfassungsrahmen für eine provisorische Selbstverwaltung erlassen, welche die Bildung von provisorischen Selbstverwaltungsinstitutionen (PISG) vorsah. Spätestens mit dieser Maßnahme wagte die internationale Gemeinschaft jedoch einen Spagat, der nicht nur auf serbischer Seite auf Unwillen stieß: Während Resolution 1244 noch alle Optionen für den künftigen Status des Kosovo offen hielt, begann man nun, ohne einen klaren Fahrplan die Macht sukzessive an die Kosovo-Albaner zu übertragen. Im November 2001 wurden zum ersten Mal ein Parlament, der Präsident und die Regierung gewählt. Im Oktober 2004 fanden die zweiten Wahlen statt. Sie waren unter diesen Vorzeichen jedoch geprägt durch eine niedrige Wahlbeteiligung und den Boykott der Kosovo-Serben.

Im Jahr 2002 stellte der UN-Sondergesandte Michael Steiner acht »Benchmarks« auf – die späteren »Standards for Kosovo«, zu denen unter anderem funktionierende demokratische Institutionen, Rechtsstaatlichkeit, Bewegungsfreiheit für alle Volksgruppen und die Reintegration von Flüchtlingen gehörten. Nach dem Motto »Standards before Status« wurde nun an den Beginn der dringend benötigten Verhandlungen die Erfüllung eben dieser Kriterien geknüpft. Davon ist der Kosovo aber selbst heute noch weit entfernt. Im Jahr 2005 stellte die »Internationale Balkan-Kommission« folglich fest, dass die internationale Gemeinschaft in ihrem Versuch, Sicherheit und Entwicklung in den Kosovo zu bringen, klar versagt hat. UNMIK habe weder die Kapazität noch die Courage bewiesen, den Abwärtstrend in der Provinz aufzuhalten.1

Ernüchternd ist dabei vor allem die Bilanz jener Säule UNMIK, für die die EU verantwortlich zeichnet: Wiederaufbau und wirtschaftliche Entwicklung. Das europäische Ziel, Aufbau einer robusten und modernen Wirtschaft im Kosovo, ist klar verfehlt worden. Die Provinz gehört zu den ärmsten Regionen Europas. Etwa 40% der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Mehr als die Hälfte der Erwerbsfähigen ist arbeitslos. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 75% in einer Region, in der 60% der Bevölkerung jünger sind als 25 Jahre. Es gibt kaum Industrie. In den Städten sind die internationalen Organisationen und NGOs Hauptarbeitgeber. Die Wirtschaft ist von internationalen Hilfen und Unterstützungsleistungen aus der Diaspora abhängig. Eine Hauptaufgabe der EU-Säule ist die Initiierung eines Privatisierungsprozesses, der die wirtschaftliche Entwicklung und Investitionen fördern soll. Zu diesem Zwecke wurde eigens die sogenannte »Kosovo Trust Agency« geschaffen. Eben jener von der EU verantwortete Prozess wird jedoch erheblich kritisiert. Zum einen ist die Privatisierung der ehemals volkseigenen, serbischen Betriebe an sich umstritten und nach Meinung von Rechtsberatern der VN durch Resolution 1244 nicht gedeckt. Zum anderen warnte der VN-Sondergesandte Kai Eide in seinem Report 2005, dass der Privatisierungsprozess erhebliches Potential für Geldwäsche und organisierte Kriminalität birgt sowie die Gefahr der Diskriminierung zum Beispiel durch ethnisch motivierte Einstellungen in sich trägt.2 Und tatsächlich stellte die Balkan-Kommission fest, dass sich bspw. die Anzahl der in der »Kosovo Electric Company« angestellten Serben von 4.000 im Jahr 1999 auf 29 im Jahr 2005 reduziert hat. Zu Recht kommt die Kommission deshalb zu dem Schluss, dass UNMIK und die internationale Gemeinschaft – und damit auch die EU – einen substantiellen Anteil am Scheitern des Projektes einer multi-ethnischen Gesellschaft im Kosovo trägt.

Europas Machtlosigkeit in außen- und sicherheitspolitischen Fragen

Ein ähnlich trauriges Ergebnis wie bei der Erfüllung der wirtschaftlichen Standards leistet sich Europa auch bei der Status-Frage. Seit April 2006 bereitet ein EU-Planungsteam für den Kosovo die bisher größte EU-Krisenmission vor. Im September 2006 beschloss der Rat die „Einsetzung eines Teams der Europäischen Union zur Mitwirkung an den Vorbereitungen für die Einsetzung einer eventuellen internationalen zivilen Mission im Kosovo, einschließlich der Komponente eines Sonderbeauftragten der Europäischen Union“. In der Gemeinsamen Aktion heißt es dabei, dass sich die EU bereit erklärt, „ihre Rolle im Kosovo nach der Lösung der Statusfrage auszubauen.“ Zur Lösung der Statusfrage selbst wird mitgeteilt: „Die EU hat ein grundlegendes Interesse an einem positiven Ergebnis dieses Prozesses sowie die Verantwortung und die Mittel, um zu einem solchen Ergebnis beizutragen.“3 So ermutigend diese Aussage auf den ersten Blick erscheint, das tatsächliche Engagement Europas in der Statusfrage hat den Prozess bisher wenig befördert.

Mit den Massenunruhen im Kosovo im März 2004 – dem sichtbaren Beweis, dass die KFOR ihrer Aufgabe nicht gewachsen war – kam die Wende in der westlichen Politik. Das Mantra »Standards before Status« wurde fallengelassen. Im Oktober 2005 gab der Sicherheitsrat den Startschuss für die Verhandlungen über den zukünftigen Status des Kosovo. Bereits vor Beginn der Gespräche in Wien sprachen sich jedoch die USA und Großbritannien für eine Unabhängigkeit der Provinz aus. Die USA hofften dabei, dass ihre Unterstützung für die überwiegend islamischen Albaner im Kosovo als positives Signal an Muslime weltweit interpretiert wird. Der U.S.-amerikanische Gesandte im Wiener Verhandlungsteam machte deshalb schnell klar, dass Slobodan Milosovic und die nationalistische Serbische Radikale Partei den Verlust des Kosovo zu verantworten hätten. Mit der klaren Aussage „Unabhängigkeit ist das Ergebnis“ von U.S.-Präsident Bush in Tirana im Juni diesen Jahres ist die Souveränität des Kosovo für die USA zudem kein verfrühtes Zugeständnis mehr, sondern eine echte Prestigefrage.

Während die Kosovo-Albaner die USA hinter sich wissen, können sich die Serben gleichermaßen der Unterstützung Russlands sicher sein. Moskau hat das frühe Vorpreschen der USA zum Anlass genommen, seine ganz eigenen Machtinteressen durchzusetzen. Der Kosovo bietet Russland die Möglichkeit, nach den Erhöhungen der U.S.-Militärausgaben und den Querelen um die Raketenabwehr in seinem traditionellen Einflussgebiet, dem Balkan, Stärke zu zeigen. Außerdem kann Moskau so vom eigenen Vorgehen in Tschetschenien ablenken. Russland wird deshalb nicht müde zu betonen, dass die Unabhängigkeit des Kosovo einen Präzedenzfall schaffe, welcher einen weltweiten Dominoeffekt auslösen könne und spricht sich demnach für Verhandlungen auf Basis der Resolution 1244 aus.

Die USA und Russland scheuen sich also nicht, klar für eine Partei Stellung zu beziehen. Diese Unterstützung nehmen Serben und Kosovo-Albaner dankbar zum Anlass, auf ihren Positionen zu beharren. Indessen beweist die EU ihre eigene Machtlosigkeit in außen- und sicherheitspolitischen Fragen. Mit einem durch Russland blockierten Sicherheitsrat ist eine neue VN-Resolution, auf der die großangelegte EU-Mission beruhen soll, in weite Ferne gerückt. Während sich Großbritannien auf die Seite der USA schlägt, haben Länder wie Spanien oder Rumänien Angst vor dem prognostizierten Dominoeffekt. Hinzu kommt die lange »Reflexionsphase« der EU nach dem Scheitern der Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden sowie die damit verbundene Erweiterungsmüdigkeit. Das »Strategiepapier 2005 zur Erweiterung« war zwar als Beruhigung gedacht, führte mit seinen »Drei Ks« – Konsolidierung, Konditionierung und Kommunikation – jedoch eher zur Verunsicherung der Balkanländer, die diese als Erschwernisse für ihren Weg in die EU ansehen. Ein Treffen der EU-Außenminister mit ihren Kollegen vom Westbalkan im März 2006 brachte zudem keine neuen Stabilisierungs- und Entwicklungsinitiativen für die Region. Von echten Anreizen und Perspektiven inklusive einer beschleunigten EU-Mitgliedschaft, wie sie von der Balkan Kommission als notwendige Voraussetzung vor allem für ein Einlenken Serbiens gefordert werden, kann demnach nicht die Rede sein. Ein stringentes Konzept Europas für den Kosovo unter Einbeziehung der USA und Russland – statt unter deren Führung – ist bisher nicht in Sicht.

Der Ahtisaari-Plan – kein tragbarer Kompromiss

In Anbetracht dieser klaren Konstellationen und frühen Zugeständnisse noch vor Beginn der Statusgespräche verwundert es im Nachhinein nicht, dass die Verhandlungen in Wien nach 14 Monaten scheiterten. Der VN-Sondergesandte Martti Ahtisaari, der das Verhandlungspotential als erschöpft ansah, erarbeitete deshalb einen eigenen umfangreichen Vorschlag zur Lösung der Status-Frage.4 Dieser Plan, den die EU-Ratspräsidentschaft im März diesen Jahres als fairen, ausgewogenen und zukunftsweisenden Kompromiss bezeichnete, ist jedoch mit Vorsicht zu genießen. Zwar wird an keiner Stelle der Status dieses zukünftigen Kosovo explizit ausgesprochen, mit Ahtisaaris Vorschlag würde der Provinz jedoch eine graduelle Souveränität gewährt. So erhielte der Kosovo zum Beispiel eine eigene Flagge, Siegel und Hymne und würde Herr über seine eigenen Grenzen. Gleichzeitig würde aber eine Art internationale Vormundschaft eingesetzt und der Provinz würden somit wesentliche Elemente der staatlichen Selbständigkeit entzogen. Neben der Stationierung einer internationalen Militärpräsenz ist die Einsetzung eines »Internationalen Zivilen Repräsentanten« vorgesehen, welcher mit der obersten zivilen Autorität des Landes ausgestattet werden soll. Der neue Staat würde somit auf unbestimmte Zeit unter internationale Aufsicht gestellt. Die Kosovo-Albaner können mit dieser unbefristeten Bevormundung deshalb auf lange Sicht nicht zufrieden sein. Zudem hat der Fall Bosnien-Herzegowina bereits gezeigt, dass ein solches System Korruption begünstigt und sich kontraproduktiv auf den Aufbau demokratischer Institutionen auswirkt.

Der Ahtisaari-Plan fordert des Weiteren etwas, woran schon UNMIK gescheitert ist: den Aufbau einer multiethnischen Gesellschaft. Dazu soll der neue Staat Kosovo den dort lebenden Serben mit einigen Privilegien schmackhaft gemacht werden. So werden den serbischen Enklaven weitreichende Autonomierechte zugestanden. Auch würde es Serbien gestattet, über die Enklaven in die Provinz »hineinzuregieren«. Lässt man einmal außer Acht, dass die Kosovo-Albaner eine derartige Beschneidung ihres Machteinflusses wohl kaum zulassen werden, so spielt eine solche Regelung eher dem Ausbau der bereits vorhandenen serbischen Parallelgesellschaft in die Hände, als Multiethnizität zu fördern. Weiterhin ist absehbar, dass trotz dieser Zugeständnisse Serbien der Abtrennung der Provinz vom serbischen Staatsgefüge nicht zustimmen würde. Mit diesem »Kompromiss« können daher weder Serben noch Kosovo-Albaner zufrieden sein, geschweige denn auf lange Sicht leben.

In Anbetracht dieser Defizite ist es umso verwunderlicher, dass die EU diesen Vorschlag begrüßt hat. Das zeugt einmal mehr von der Kurzsichtigkeit der Europäer. So ist es doch die EU, die ab Inkrafttreten des Plans neben den Kosten für den wirtschaftlichen Aufbau vielleicht für Jahrzehnte auch die Mittel für die zivilen und militärischen Einsätze bereitzustellen hat. Zudem wird Europa die politische Verantwortung für alle Unzulänglichkeiten übernehmen müssen und damit bald zur Zielscheibe für serbische und albanische Nationalisten werden. Hinzu kommen die völkerrechtlichen Probleme des Ahtisaari-Plans: Der VN-Sicherheitsrat kann weder »Staaten schaffen« noch die Grenzen souveräner Staaten gegen deren Willen verändern. Laut Resolution 1244 ist der Kosovo noch integraler Bestandteil der Republik Jugoslawien. Jede neue VN-Resolution, die gegen den Willen Serbiens die Unabhängigkeit des Kosovo fordert, würde somit eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates darstellen. Das ist momentan zwar wenig wahrscheinlich, da Russland in diesem Fall sein Veto einlegen würde, es gibt jedoch noch eine zweite Option, die für die EU eine viel größere Problematik in sich trägt: Die Regierung im Kosovo könnte den Ahtisaari-Plan als Grundlage nehmen, um unilateral die Unabhängigkeit auszurufen. Rein theoretisch müsste die UNMIK diese Entscheidung dann sofort annullieren, und die KFOR müsste einschreiten. Die EU wäre zu diesem Zeitpunkt vor die Wahl gestellt, ob sie nach 1999 zum zweiten Mal eine nicht-völkerrechtskonforme Politik mittragen will. Europa wird sich dann aller Voraussicht nach in eine »Koalition der Willigen« hinter den USA – die in diesem Fall den Kosovo anerkennen würden – und eine »Koalition der Verweigerer« spalten. Für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik hätte dies fatale Folgen.

Europa muss wahre Verantwortung übernehmen

Mit viel Mühe ist es Europa nun gelungen, noch einmal Zeit für eine Verhandlungslösung zu gewinnen. Eine Troika aus Vertretern der EU, USA und Russland soll bis zum 10. Dezember 2007 Gespräche zwischen den Kosovo-Albanern und den Serben überwachen. Vertreten durch den deutschen Diplomaten Wolfgang Ischinger bemüht sich die EU nun darum, Einigkeit zu demonstrieren; sie warnt jedoch gleichzeitig vor »überhöhten Erwartungen«. Allein die Eröffnung einer neuen Verhandlungsrunde kann keine Wunder bewirken, denn die Fronten sind längst verhärtet. Es gilt deshalb nun, gleichberechtigte, faire und vor allem ergebnisoffene Gespräche einzuleiten. Erste Bewegungen sind bereits erkennbar: Vuk Jeremic, der serbische Außenminister, hat mit Beginn der Gespräche seinen Glauben an einen Kompromiss bekräftigt und dem Kosovo erhebliche Autonomierechte inklusive einiger souveräner Vorrechte angeboten. Auch hält Russland mittlerweile eine Teilung der Provinz für möglich, sollten beide Seiten einwilligen. Klar ist, dass jede getroffene Regelung von Serben und Kosovo-Albanern mitgetragen und vor allem unterstützt werden muss. Solange jedoch die USA die Unabhängigkeit des Kosovo propagieren, ist ein Einlenken der Kosovo-Albaner nicht wahrscheinlich.

Für Europa ist es nun Zeit, endlich das zu halten, was es seit langem verspricht: Verantwortung zu übernehmen. Es ist deshalb auf den ersten Blick zu begrüßen, wenn Wolfgang Ischinger verkündet: „The key question is whether the EU will be capable of making decisions that will allow it to remain in the driver‘s seat of this situation.“5 Das wiederum heißt jedoch, ein eigenes außen- und sicherheitspolitisches Konzept zu entwickeln und es mit einer Stimme zu vertreten. Der Kosovo ist das beste Beispiel dafür, dass das Zurschaustellen militärischen Potentials und die Übernahme großangelegter »Folge- und Aufräummissionen« allein keine Konflikte löst. Stattdessen braucht die Region echte europäische Unterstützung, d.h. eine ökonomische Entwicklungsstrategie und vor allem eine glaubwürdige EU-Perspektive.

Anmerkungen

1) International Commission on the Balkans: The Balkans in Europe’s Future, Report April 2005, http://www.balkan-commission.org.

2) A Comprehensive Review of the Situation in Kosovo, United Nations Security Council S/2005/635l.

3) Gemeinsame Aktion 2006/623/GASP des Rates vom 15. September 2006.

4) Report of the Special Envoy of the Secretary-General on Kosovo’s future status, United Nations Security Council S/2007/168.

5) Dan Bilefsky, Top EU Mediator warns against partition of Kosovo, in: International Herald Tribune, 6. September 2007, http://www.iht.com/articles/2007/09/06/europe/kosovo.php.

Gabriele Rasch ist Politikwissenschaftlerin und Historikerin. Sie ist Mitarbeiterin im Arbeitskreis Internationale Politik der Bundestagsfraktion DIE LINKE

Eine britische Sicht

Eine britische Sicht

Die Europäische Verfassung – der so genannte »Reformvertrag«

von Rae Street

Im Oktober 2007 haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU beim Gipfel in Lissabon auf den endgültigen Vertragstext des EU-Reformvertrages verständigt. In der Substanz ist dieser gegenüber dem EU-Verfassungsvertrag nahezu unverändert.

Die Bestimmungen der Verfassung bezüglich der Implementierung einer »gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« sind nun in den »Reformvertrag« aufgenommen worden und es scheint kein Zweifel am Willen zu bestehen, die EU als Militärmacht zu stärken. Die EU-Politik wird mit der NATO kompatibel sein, die sich noch immer zu strategischen Ansätzen wie »nukleare Mindestabschreckung« und »Ersteinsatz von Atomwaffen« bekennt. Militarismus kommt auch bereits in der 2004 gegründeten Europäischen Verteidigungsagentur zum Ausdruck: immer mehr Geld für Rüstung und die Erforschung von High-Tech-Waffen, ganz zu schweigen von der Förderung der Rüstungsverkäufe.

Viele von uns, die sich darum sorgen, mehr Frieden und Stabilität in die Welt zu bringen, suchen nach Wegen, um ein ent-militarisiertes Europa zu erreichen; ein atomwaffenfreies Europa, ein Europa ohne fremdes Militär und ohne so genannte »Raketenabwehr-Basen« und Nuklearwaffenstützpunkte und eine Reduzierung der Aufwendungen für Rüstung. Bedauerlicherweise ist nicht zu erkennen, dass der Reformvertrag in diesem Sinne Ergebnisse verspricht.

Während der letzten Jahrzehnte haben wir beobachten können, wie die EU zu einer eigenständigen Militärmacht gemacht wurde. Für viele derjenigen, die für Frieden und soziale Gerechtigkeit eintreten, war dies eine Zeit voller Schwierigkeiten und Enttäuschungen. Schließlich gab es nach dem Zweiten Weltkrieg einmal einen großen Traum, als die ursprünglichen Gründer der EU und die durch den Krieg erschütterten Menschen Europas die Schaffung von Institutionen erhofften, durch die die Kriegsursachen beseitigt würden. Es stimmt, dass wir durch das starke Bekenntnis des Europarates zu den Menschenrechten ermutigt wurden und dass heute beispielsweise die Todesstrafe überall in seinen Mitgliedsstaaten abgeschafft ist. Gegenwärtig führt der Europarat entsprechende Kampagnen in Japan und den USA durch, in den einzigen Staaten mit Beobachterstatus beim Europarat, in denen die Todesstrafe noch in Kraft ist. Dies ist ein gutes Beispiel für eine europäische Kooperation gegen eine barbarische Form der Bestrafung.

Allerdings verhält sich die Sache hinsichtlich der EU selbst anders. Ich bin seit dreißig Jahren in der englischen Kampagne für nukleare Abrüstung (CND) aktiv, die international für ihr Friedenssymbol bekannt ist. In den letzten Jahren ist die Opposition der CND und anderer Gruppen für Frieden und soziale Gerechtigkeit, von Gewerkschaftsgruppen und vielen politischen Initiativen – die Opposition der extremen Rechten in Großbritannien lasse ich hier außen vor, da sie ganz anderen Motiven entspringt – gegen die Außen- und Verteidigungspolitik der EU gewachsen.

Die Verträge von Maastricht und Amsterdam führten zur Herausbildung eines europäischen Superstaates mit einer gemeinsamen Verteidigungspolitik und Armee. Es sei daran erinnert, dass im Maastricht-Vertrag von 1992 eine »gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« vereinbart wurde, die – so hieß es unter Titel V – „sämtliche Fragen [umfasst], welche die Sicherheit der Europäischen Union betreffen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte.“ Anlässlich des Gipfeltreffens in Amsterdam im Juli 1997 hatten die Außenminister der EU bereits detaillierter ausgearbeitet, wie die EU in Verbindung mit der WEU (Westeuropäische Union) bei der Entwicklung der gemeinsamen Verteidigung kooperieren könnte. Außerdem, und dies war besonders betrüblich für die CND, wurde die WEU mit ihren Atomwaffen zu einem „integralen Teil der Entwicklung der EU“ erklärt. Zugleich wurde von Seiten der Minister erklärt, dass die WEU einen aktiven Beitrag im Rahmen der Verteidigungsplanung der EU spielen solle. Zwar hat die WEU inzwischen als eigenständige Organisation aufgehört zu existieren, aber eine eindeutige Politik bezüglich der Nuklearwaffen gibt es bisher nicht.

Mit dem Vertrag von Amsterdam 1999 wurde vereinbart, dass die EU auf der Grundlage von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat eine eigenständige Außenpolitik verfolgt. Beim Gipfel in Köln (2000) erklärte der Europäische Rat, dass die „EU eine umfassende Rolle auf der internationalen Bühne spielen wird. Zu diesem Zweck beabsichtigen wir, der Europäischen Union die notwendigen Mittel und Fähigkeiten zu geben, um den Verantwortlichkeiten für eine gemeinsame Europäische Politik der Verteidigung und Sicherheit entsprechen zu können… Wir sind überzeugt, dass der Rat die Möglichkeit haben sollte, entsprechend der ganzen Bandbreite von Aufgaben der Konfliktprävention und des Konfliktmanagements… den »Petersberg-Aufgaben« zu entscheiden“. Die »Petersberg-Aufgaben« waren ursprünglich als humanitäre und Notfall-Aufgaben, Friedenserhaltung und als Aufgaben für Kampfeinheiten für das Krisenmanagement, einschließlich Friedenserzwingung, definiert worden. Dies kann erstrebenswert sein, es war jedoch immer und wird auch in Zukunft insofern gefährlich bleiben als die Frage auftaucht, wer darüber entscheidet, was als »humanitär« gilt und wo eine Intervention stattfinden soll.

Dies galt beispielsweise für den Beginn der Aufstellung einer Europäischen Armee, besser bekannt als »Schnelle Eingreiftruppe« (European Rapid Reaction, ERR). Die ERR und die »Europäischen Kampfgruppen« wurden beim europäischen Ministertreffen in Helsinki 1999 ins Leben gerufen. Obwohl sie zahlenmäßig klein sind, ihr Auftrag begrenzt sein wird und sie von UN Generalsekretär Kofi Annan positiv bewertet wurden, so legen sie doch die Grundlage für eine stärkere Militärmacht; zudem gibt es keine demokratische Kontrolle über ihre Entsendung.

Zeitgleich hat der Europäische Rat auch deutlich gemacht, dass er „entschlossen ist, die Restrukturierung der Europäischen Verteidigungsindustrien der beteiligten Staaten zu pflegen“ und dass „er sich um weiteren Fortschritt in der Abstimmung der militärischen Bedarfe und der Planung und Beschaffung von Waffen bemühen wird“. Kann eine solche »Pflege« als Hilfe für das Wachstum der europäischen Rüstungsindustrien verstanden werden? Kann die Lobbytätigkeit dieser Industrie gegenüber der EU als ein treibender Faktor für eine europäische Militärmacht angesehen werden? Es hat immer Stimmen gegeben, die – insbesondere unter Verweis auf die Knappheit der Ressourcen – von der Notwendigkeit gesprochen haben, dass Europa für den Schutz seiner Interessen das Militär benötigt. Die Europäische Verteidigungsagentur wurde im Juli 2004 vom Ministerrat ins Leben gerufen – ohne Gedanken an ein demokratisches Mandat. Aber sie hat Eingang in die Verfassung gefunden. Ihre Aufgabe war die „Verbesserung der Verteidigungsmöglichkeiten“. Das mag sein; aber zugleich wurde ein Markt geschaffen mit einem Budget von Euro 30 Milliarden im Jahr. Es gibt eine Abteilung für Forschung und Technologie: im Ergebnis ein Paradies für die europäischen Waffenhersteller und -händler.

EU und NATO

Selbstverständlich gibt es auch zwischen den militärisch ausgerichteten Regierungen Spannungen, wenn es um die Gestaltung der EU-Militärpolitik geht. Die Regierung Großbritanniens mit ihrer engen Beziehung zur US-Administration würde gerne die NATO in den Vordergrund rücken; die französische Regierung möchte im allgemeinen eine europäische Verteidigung, die unabhängig von den USA ist. Dennoch hat die Regierung Großbritanniens nie jemals die Frage aufgeworfen, die »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« zu verlassen – wie es etwa Dänemark getan hat. Großbritannien mit seinen großen Rüstungsunternehmen wollte auf jeden Fall wie jeder andere Staat auch an diesem »Markt« teilhaben. Der Militärisch-Industrielle-Komplex mag der Gewinner sein, wer aber sind die Verlierer? Dies ist die Mehrheit der BürgerInnen Europas, besonders jedoch die Unterprivilegierten, die massive Kürzungen bei den Sozialleistungen hinnehmen mussten. Großbritannien, das Land mit dem größten Verteidigungs-(d.h. Militär)-Budget in Europa (gegenwärtig über $ 66 Milliarden) hat eine zunehmende Einkommenslücke zwischen den Reichen und den Armen, die größte seit den 1920er Jahren, wie einige schätzen.

Betrachten wir die Verfassung, wie sie dem Europäischen Rat 2003 vorgelegt wurde. Dort heißt es in Artikel 41 schwarz auf weiß, dass „die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine zunehmende Gestaltung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU umfassen soll. Dies führt zu einer gemeinsamen Verteidigung, sofern der Europäische Rat dies übereinstimmend beschließt“. Dies wären jedoch keine echten demokratischen Entscheidungen. Die Entscheidungen würden vom Ministerrat getroffen, der einstimmig auf der Grundlage einer Entschließung der Außenminister der EU oder eines Mitgliedsstaates handeln würde. Die gewählten RepräsentantInnen, die Mitglieder des Europäischen Parlaments, wären an die Seitenlinie verbannt. Im Kern der EU besteht ein Defizit an Demokratie.

Dennoch sind es häufig die Überlegungen und Entschließungen des Parlaments sowie des Europarates, die KriegsgegnerInnen Anlass zur Hoffnung geben. Es ist beispielsweise das Europäische Parlament, das die Mitgliedsstaaten bereits dreimal zu einem Moratorium hinsichtlich des Einsatzes von Uranmunition aufgefordert hat – letztlich mit dem Ziel der Verbannung dieser Waffe. Da es jedoch über wenig realen Einfluss verfügt, wurde dieses Ansinnen von Großbritannien, das neben den USA das erste Land war, das diese Waffen im Kampf eingesetzt hat und auch noch im Golfkrieg 2003 verwendet hat, vollständig ignoriert. Punkt 8 des Artikels besagt: „Das Europäische Parlament soll regelmäßig über die wesentlichen Aspekte und grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik konsultiert und über die Fortschritte informiert werden.“ Es hätte auch hinzugefügt werden können: „… aber weder der Ministerrat noch die Mitgliedsstaaten müssen den Resolutionen des Parlaments irgendeine Beachtung schenken“.

Die NATO musste Erwähnung finden und so hält die Verfassung fest, dass die »Verpflichtungen« gewisser Mitgliedsstaaten, die „ihre gemeinsame Verteidigung gemäß des Nordatlantikvertrages in der NATO realisiert sehen, mit der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik abgestimmt realisiert werden sollen.“ Das ist eine nichts sagende Formulierung. Es gibt keine Erwähnung der EU-Position zu Nuklearwaffen, während die NATO-Politik seit der »Strategic Review« von 1999 in der »nuklearen Mindestabschreckung« unverändert einen Grundbaustein „zur Sicherung des Friedens“ sieht. Großbritannien und Frankreich sind beides Atomwaffenstaaten. Und tatsächlich ist das große TRIDENT-Atomwaffen-U-Bootsystem, von dem Großbritannien über vier verfügt, in die NATO »integriert«. Diese hält an einer Politik des »Ersteinsatzes« von Atomwaffen fest. Jedes NATO-Mitglied ist zur Sicherstellung der »Interoperationalität« verpflichtet, so dass alle NATO-Mitgliedsstaaten de facto Nuklearwaffenstaaten sind. Die NATO verfügt über sechs nuklear bestückte Basen in Europa – von Lakenheath im Osten Englands bis hinunter nach Incirlik in der Türkei.

Dies ist der Grund, warum viele BeobachterInnen der Ansicht sind, die NATO verletze Geist und Buchstaben des Atomwaffensperrvertrages. Zudem hat die NATO niemals verlauten lassen, sie wolle mit der nuklearen Abrüstung fortfahren oder gar ihre Politik ändern. Sie fährt angesichts der Dominanz durch die USA mit einer Politik fort, die zum Faktor von Unruhe und Instabilität nicht nur in Europa, sondern in der gesamten Welt wird. Die NATO hat sich nun bis an die Grenze zu Russland ausgedehnt und bereits seit langem aufgegeben, nicht »out-of-area« zu intervenieren.

Diejenigen unter uns, die gegen die NATO und deren Nuklearpolitik sind, fragen sich, was diese Politik für die EU und deren Politik bedeutet. Warum findet all dies in der Verfassung keine Erwähnung? Meinen diejenigen, die das Papier verfasst haben, tatsächlich »Kompatibilität«?

Der Reformvertrag in Großbritannien

Nachdem die Verfassung sowohl in den Niederlanden als auch in Frankreich deutlich abgelehnt worden war, begannen die Minister der EU-Mitgliedsstaaten damit, die Verfassung doch noch durch die Hintertür zu verabschieden. Sie traten nun mit dem »Reformvertrag« auf. Das ist die Verfassung unter einem anderen Namen. Im Bereich der Außenpolitik gibt es tatsächlich wenig Änderungen, außer dass es nun einen Sprecher für die Außenpolitik geben soll: den »Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik«.

Wie wurde dies in Großbritannien aufgenommen? Die Labour-Partei hat in ihrem letzten Programm versprochen, dass es ein Referendum über die Europäische Verfassung geben werde. Nun weist der neue Premierminister Gordon Brown dies zurück. Beständig hat er diese Idee in Radio- und Fernsehinterviews zurückgewiesen. Er und seine Regierung seien, so sagt er, damit zufrieden, dass es im »Reformvertrag« keine Einschränkung der Souveränität Großbritanniens gebe. Allerdings hat gerade dieses Thema im September große Medienbeachtung gefunden. Zu denjenigen, die sich überraschend für eine Volksabstimmung ausgesprochen haben, gehörte die deutschstämmige Labour-Abgeordnete Gisela Stuart, die in dem Steuerungskomitee mitwirkte, das den Verfassungsentwurf produziert hat. Sie wird damit zitiert, dass „der Premierminister gesagt hat, er möchte den Leuten zuhören und sie in die Entscheidungen einbeziehen. Er spricht von der »Erneuerung der Demokratie«… Er kann dies unter Beweis stellen, indem er der Bevölkerung im Rahmen eines Referendums das letzte Wort über den Vertrag gibt“. Auch Gewerkschaften, insbesondere die GMB (Gas Workers and General Union) und die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes UNISON mit ihren 1,6 Millionen Mitgliedern fordern eine Abstimmung. Eine der besonders aktiven Gruppen, die zunehmend Gehör findet, ist die Organisation »Trade Unions Against the EU Constitution«. Weitere Gruppen sind enstanden, um eine Kampagne für ein Referendum zu beginnen, darunter die rechten Medien mit der Kampagne der Zeitung »Daily Telegraph«.

Andere Tageszeitungen, insbesondere der »Guardian« möchten eine Verabschiedung des Reformvertrages. Merkwürdigerweise enthielt die Argumentation des Chefkolumnisten des »Guardian« am 7. September einen Gedanken, der die Gegner des Vertrages alarmiert, weil er die Sicherheit nicht erhöht, sondern gefährdet. Ihm zufolge gehöre zu den gemeinsamen Anliegen der Europäer „der wieder auflebende russische Nationalismus, die Sicherheit der Energieversorgung, die Klimakrise, Immigration, die Bevölkerung mit Migrationshintergrund“. Dies wird von der gewerkschaftlichen Opposition und von vielen anderen SozialistInnen als ein direkter Aufruf zu einem »Euro-Militarismus« im Rahmen von Ressourcen-Kriegen angesehen.

So ist es denn, dass wir im globalen Norden – wieder einmal – nicht ein Europa des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit schaffen, worin die Hoffnung so vieler der Nachkriegsgeneration bestand, sondern ein Europa, das seine Stellung als reiche Region der Welt festigen möchte. Dies erweckt den Anschein eines Europa, das sich nicht in erster Linie für Frieden und soziale Gerechtigkeit einsetzt, sondern eines, das sich darum bemüht, die Kontrolle der Energieversorgung zu sichern, eine bedrohliche Militärmacht mit fortgeschrittener Waffentechnologie zu schaffen und dabei die Notwendigkeit der nuklearen Abrüstung zu missachten sowie die Waffenindustrie zu fördern.

Es wird interessant sein zu sehen, wohin das alles führt. Gewiss, was auch immer passieren wird, wir von den Bewegungen für Frieden und soziale Gerechtigkeit werden unsere Kampagnen für ein weniger militarisiertes und nuklear-freies Europa fortsetzen.

Rae Street ist Vizepräsidentin und Sprecherin der Campaign for Nuclear Disarmament (CND) in Großbritannien