EU-Militarisierung

EU-Militarisierung

Absichern der »globalen hierarchischen Klassengesellschaft«

von Gerald Oberansmayr

Im Jahr 2001 richtete der EU-Rat das EU-Institut für Sicherheitsstudien (EUISS) ein. Aufgabe dieses Think-Tanks sei es – so die offizielle Selbstbeschreibung – „eine gemeinsame Sicherheitskultur für die EU zu entwickeln, zu helfen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zu finden und zu projektieren und die strategische Debatte Europas zu bereichern.“ In seiner Eigenschaft als „EU-Agentur“ liefere das EUISS „Analysen und Prognosen für den EU-Rat und den Hohen Beauftragten der GASP“.1 Die Dokumente und Studien des EUISS gewähren einen tiefen Einblick in die militärpolitische Strategieentwicklung der EU-Machteliten. Ein Einblick, der aus friedenspolitischer Sicht beunruhigen muss. Zwei Studien des EUISS sollen im Folgenden näher vorgestellt werden.

Im Jahr 2004 entwickelte das EUISS das sog. »European Defence Paper« als Vorlage für ein Weißpapier der EU für die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.2 Während PolitikerInnen in Sonntagsreden gerne von der »Friedensmacht EU« schwärmen, wird in dieser Studie keine Mühe auf die friedenspolitische Bemäntelung kriegerischer Ziele aufgewendet: „Die Transformation Europäischer Streitkräfte von der Landesverteidigung in Richtung Intervention und Expeditionskriegszügen ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine effektive Europäische Sicherheitsstrategie.“ (S.55). Die EU „will mehr globale Verantwortung übernehmen … und eine Strategie präventiven Engagements (…) übernehmen.“ Dafür brauche man sowohl „mobile, flexible und schnelle Streitkräfte für Expeditionsinterventionen“ als auch Besatzungstruppen, um diese „über sehr lange Zeiträume einzusetzen und aufrechtzuerhalten.“ (S.7). Militärische Szenarien werden entwickelt, „in denen die nationalen Atomstreitkräfte von EU-Mitgliedstaaten (Frankreich und Großbritannien) in die Gleichung entweder explizit oder implizit eingehen können.“ (S.68).

Regionalkriege zur Verteidigung europäischer Interessen

Über die Missionsziele für die imperialen Streitkräfte wird ebenfalls Klartext geredet: „Stabilitätsexport zum Schutz der Handelswege und des freien Flusses von Rohstoffen.“ (S.13). Dafür gelte es – so heißt es wörtlich – „Regionalkriege zur Verteidigung europäischer Interessen“ (S.80) zu führen. Dankenswerterweise klären die EU-Strategen darüber auf, was hinter dem sog. »Antiterrorkampf« tatsächlich steht: „Künftige regionale Kriege könnten europäische Sicherheit und Wohlstand direkt bedrohen. (…) Durch die Unterbrechung der Ölversorgung und/oder eine massive Erhöhung der Energiekosten, … oder die Störung der Handels- und Warenströme.“ (S.81). Auch ein Vorbild für diese »Regionalkriege zur Verteidigung europäischer Interessen« wird ausführlich dargelegt: der Golfkrieg von 1991. „Europa kann seine Verteidigungspolitik nicht auf der Annahme aufbauen, dass es nicht größere militärische Herausforderungen im Mittleren Osten gibt, die von der gleichen oder sogar einer größeren Dimension als der des Golfkrieges von 1990-1991 sind.“ Zur Erinnerung: Im Golfkrieg Anfang der 1990er Jahre wurden ca. 300.000 IrakerInnen unmittelbar getötet.

Auch die entsprechenden militärischen Planspiele werden elaboriert: „In einem Staat X am Indischen Ozean haben antiwestliche Elemente die Macht erlangt und benützen das Öl als Waffe, vertreiben westliche Bürger und greifen westliche Interessen an. Darüber hinaus haben sie mit der Invasion des Nachbarlandes Y begonnen, dessen Regime pro-westlich orientiert ist und eine zentrale Rolle beim freien Fluss von Öl in den Westen spielt. (…) Die EU interveniert gemeinsam mit den USA mit einer starken Streitmacht, um das Land Y zu unterstützen und ihre eigenen Interessen zu schützen. (…) Das militärische Ziel der Operation ist es, das besetzte Territorium zu befreien und Kontrolle über einige der Öl-Infrastrukturen, Pipelines und Häfen des Landes X zu bekommen. (…) Der EU-Beitrag besteht aus 10 Brigaden (60.000 Soldaten). Diese Landstreitmacht wird von 360 Kampfflugzeugen und zwei maritimen Einheiten, die aus 4 Flugzeugträgern, 16 amphibischen Schiffen, 12 U-Booten, 40 Fregatten, 2 Kommandoschiffen, 8 Unterstützungsschiffen und 20 Patrouillierschiffen bestehen, unterstützt.“ (S.84).

»Kriege führen und gewinnen«

Weil sich die imperialen Streitkräfte noch nicht in der Lage sehen, dieses Golfkriegsszenario zu verwirklichen, durchzieht die Klage über die »militärischen Defizite« den Text von Anfang bis zum Schluss. „Die Fähigkeit, Kriege in einem anspruchsvollen Szenario zu führen und zu gewinnen, ist noch sehr beschränkt.“ Denn: „Noch fehlt es der EU an militärischer ‚Eskalationsdominanz'.“ (S.105) Das soll sich ändern. Daher ist das allgemeine Credo klar: „Die militärischen Ausgaben müssen gesteigert werden.“ (S.86) Alle Waffengattungen, die für die Entwicklung der sog. »Netzwerkzentrierten Kriegsführung«, die die USA in Afghanistan und im Irak so „eindrucksvoll“ (O-Ton EUISS) vorgeführt haben, müssten ausgebaut und verbessert werden. Denn „die anspruchsvollste Aufgabe ist die Machtprojektion, die aus der Kombination von Luftschlägen, Landangriffen und amphibischen Operationen besteht.“ (S.103)

»Symbiotische Beziehung«

Fünf Jahre später, im Juli 2009, legt das EUISS eine neue Studie vor: »What Ambition for European Defence in 2020«.3 Versehen mit einem Vorwort von Javier Solana skizziert der Think Tank die militärpolitische Zukunft der EU bis zum Jahr 2020. Angesichts der tiefen Wirtschaftskrise werden dabei die ökonomischen Interessen und Hintergründe der EU-Militarisierung noch ungeschminkter vorgetragen.

Die wichtigste Aufgabe der EU-Sicherheitspolitik werde es – so das EU-ISS – sein, die „transnationalen funktionellen Ströme und deren Knotenpunkte“ sicherzustellen: also vor allem die Waren-, Kapital- und Rohstoffströme. Das erfordere „globale militärische Überwachungskapazitäten und die Fähigkeit zur Machtprojektion“ (S.63) – vor allem durch die Zusammenarbeit von „Transnationalen Konzernen“ und den sog. „Postmodernen Gesellschaften“ (EU, USA), da diese an der Spitze der „globalen hierarchischen Klassengesellschaft“ stünden und damit die wichtigsten „stakeholder“ der Globalisierung seien. Die EU brauche daher eine „symbiotische Beziehung mit den Transnationalen Konzernen“, denn „diese brauchen den Staat und der Staat braucht sie“ (S.62). Mit Hilfe eines ausgereiften „zivil-militärischen Instrumentariums“ müsste dabei jenen unteren zwei Dritteln der Weltbevölkerung begegnet werden, die den Bodensatz dieser »globalen Klassengesellschaft« bilden. Diese werden in drei, unterschiedlich zu behandelnde bzw. bekämpfende Kategorien unterteilt:

Erstens: Den Eliten willfähriger Staaten – v.a. im arabischen Raum – solle „militärischer Beistand“ bei der „Modernisierung des Sicherheitssektors“ geleistet werden, um in ihren Staaten, die oft Brutstätten des „transnationalen Terrorismus und der organisierten Kriminalität“ seien, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Zweitens: Den sog. „vormodernen Gesellschaften“, die die „unterste Milliarde der Menschheit“ beherbergen, solle durch „State-buildung“ – Marke Afghanistan – unter die Arme gegriffen werden. Während für die Konzerne die „Ströme der Globalisierung“ fließen sollen, sollen gegenüber diesen extrem armen Staaten die Ströme unterbunden werden und zwar durch entsprechende „Abriegelungs-Operationen, die die global Reichen von den Spannungen und Problemen der Armen abschirmen. Da das Verhältnis der Weltbevölkerung, die in Armut und Frustration lebt, massiv bleiben wird, werden die Spannungen und Konflikte zwischen ihrer Welt und der der Reichen weiterhin wachsen. Da wir bis zum Jahr 2020 die Wurzeln dieser Probleme nicht gelöst haben werden, ist es wichtig die Absperrungen zu verstärken.“ (S.66).

Drittens: Die größte militärische Herausforderung verorten die EU-Strategen bei den sog. „entfremdeten modernen Staaten“, also jenen, die offenen Widerstand gegen die Globalisierung und deren „Ströme“ leisten würden. Diesen Staaten müsse auf die harte Tour begegnet werden: „Die Aufgabe besteht darin, diese so weit als möglich umzudrehen und, falls das scheitert, mit ihrer Kampfansage an die globalisierte Welt fertig zu werden. Das wird Kapazitäten für harte Machtausübung erfordern.“ Hier kann es „zur direkten militärischen Konfrontation kommen.“ (S.62) Zu diesen Staaten werden neben Nord-Korea und Burma auch – wenn auch noch mit Fragezeichen – Russland gezählt, d.h. die EU-Strategen schließen Krieg gegen Russland bis zum Jahr 2020 nicht aus, wenn dieses nicht bereit sei „umzudrehen“, und sich den globalen „Strömen“ der Transnationalen Konzerne und der mit ihnen „symbiotisch verbundenen Staaten“ hemmungslos zu öffnen.

360.000 Mann-Frau-Truppe

Damit die EU in der Lage ist, diese Kriegsdrohungen mit entsprechenden militärischen Fähigkeiten zu hinterlegen, schlägt die EU-Studie ein ganzes Maßnahmenbündel der weiteren Militarisierung vor:

Bis 2020 soll eine 360.000 Mann/Frau starke EU-Eingreiftruppe einsatzbereit sein, um sicherzustellen, dass permanent 120.000 SoldatInnen für globale Militäreinsätze zur Verfügung stehen.

Rasche zusätzliche Rüstungskapazitäten brauche es außerdem im Bereich des „Streitkräfteschutzes in kriegsähnlichen Szenarien“, beim strategischen Waffen- und Truppentransport sowie im Bereich der Weltraum-gestützten Aufklärung und Überwachung, um eine moderne „netzwerkszentrierte“ Kriegsführung sicherzustellen.

Unbedingt gestärkt werden müssten die EU-Kommandostrukturen für Auslandseinsätze.

Größte Bedeutung habe die rasche Umsetzung der Militarisierungs- und Zentralisierungsvorhaben des Lissabon-Vertrages (Schaffung von militärischen »Avantgarde-Gruppen«, Schaffung des Amtes eines zentralen EU-Außen- und Kriegsministers, Erweiterung des militärischen Aufgabenfeldes, Schaffung des EU-Rüstungsetats, usw.). Das alles gelte es umzusetzen – unabhängig davon, ob der neue EU-Vertrag nun auch ratifiziert werde oder nicht.

Bei diesem Demokratieverständnis verwundert nicht mehr, dass im Bereich der Sicherheitspolitik grundsätzlich die Aushebelung demokratischer Entscheidungsmechanismen angedacht wird: „Die Möglichkeit militärische Missionen zu starten, bevor alle politischen Diskussionen dazu stattgefunden haben, muss in Erwägung gezogen werden, damit es zu keinen Verzögerungen kommt.“ (S.157)

EU-Konzerne in Führung

Die Hektik, mit der in der EU die Militarisierung vorangetrieben werden soll, korrespondiert mit der wachsenden globalen Macht von EU-Konzernen. Das bestätigt die vom US-amerikanischen Wissenschaftsmagazin regelmäßig herausgegebene Liste der 500 größten Konzerne.4 Waren 2004 in dieser Liste noch die US-Konzerne in Führung, so haben ihnen 2008 die EU-Konzerne den Rang abgelaufen. 178 EU-Konzerne mit einem Umsatzanteil von 39,2% befinden sich unter den Top 500. Zum Vergleich: USA: 140 Konzerne (Umsatzanteil 30,1%), Japan: 68 Konzerne (Umsatzanteil 11,9%), China: 37 Konzerne (Umsatzanteil 6,6%). Die EU-Konzerne sind sowohl beim Warenexport im allgemeinen und dem Rüstungsexport im besonderen klare Nummer 1. Geradezu explodiert sind zwischen 2004 und 2007 die Nettokapitalüberschüsse der EU-Konzerne bei den ausländischen Direktinvestitionen, sie übertrafen im Jahr 2007 die US-amerikanischen um das vier- und die japanischen um das sechs-fache.5 Auch beim Import strategischer Rohstoffe sind die EU-Staaten ganz vorne. Der Anteil der EU am globalen Rohölimport betrug 2007 28,3% (vor den USA mit 22,5%, Japan mit 9,4% und China mit 7,3%), beim Anteil an den weltweiten Erdgasimporten führten die EU-Europäer mit 35,2% (vor den USA mit 14,2%, Japan mit 9,6% und der Ukraine mit 5,4%). Und nicht zuletzt verbraucht die EU 32,4% des globalen Urans (USA: 30,9%, Japan 10,1%, Russland 5,8%).6 Der Zugang zu Absatz-, Kapitalmärkten und Rohstoffquellen für die „Weltmacht EU“ (O-Ton Verheugen) soll nötigenfalls auch mit militärischer Gewalt abgesichert werden. Schon Anfang der 1990er Jahre, als die EU mit dem Vertrag von Maastricht aus der Taufe gehoben wurde, hatte der damalige Generalinspekteur der deutschen Bundeswehr Klaus Naumann diese neue Weltordnung auf den Punkt gebracht: „Es gelten nur mehr zwei Währungen in der Welt: wirtschaftliche Macht und die militärischen Mittel, sie durchzusetzen.“ 7

Herausforderung für die Friedensbewegung

Mittlerweile ist die Ratifizierung des EU-Reformvertrages über die Bühne gegangen. Die Bevölkerungen der meisten Länder wurden von vornherein nicht gefragt. Die Volksabstimmungen in Frankreich, den Niederlanden und das erste Referendum in Irland wurden kalt entsorgt. Im Frühjahr 2009 fand bereits ein Militärmanöver statt, das frappant an die strategischen Zielsetzungen der neuesten EUISS-Studie erinnert. Beim EU-Militärmanöver »European Endeavour 2009«, das im Mai 2009 in Deutschland über die Bühne ging, wurde der Einmarsch einer 40.000 Mann/Frau starken EU-Truppe samt Luft- und Seeunterstützung in einem Staat in 5.000 km Entfernung inszeniert. Geprobt wurde eine „Operation hoher Intensität“, also offener Kriegseinsatz. Die Übungsannahmen waren so gestaltet, dass unschwer die rohstoffreiche kaspische Region als Kriegsziel auszumachen war. Die EU-Machteliten werden rasch daran gehen, die neuen Möglichkeiten des Lissabon-Vertrages für die weitere Militarisierung zu nutzen. Dem mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten, gehört zu den wichtigsten Herausforderungen der Friedensbewegungen hierzulande.

Anmerkungen

1) http://www.iss.europa.eu/about-us/

2) Institut für Sicherheitsstudien (2004): European Defence – A proposal for a White Paper, www.iss-eu.org

3) Institut für Sicherheitsstudien (2009): What Ambitions for European Defence in 2020, http://www.iss.europa.eu/uploads/media/What_ambitions_for_European_defence_in_2020.pdf

4) Fortune (2008): The 500 biggest companies, http://money.cnn.com/magazines/fortune/global500/2008/full_list/

5) UNCTAD (2008): World Investment Report 2008, http://www.unctad.org/Templates/webflyer.asp?docid=10502&intItemID=2068&lang=1

6) Bundesanstalt für Geowissenschaften, http://www.bgr.bund.de/

7) Der Spiegel vom 18. Januar 1993, vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13679608.html.

Gerald Oberansmayr ist Mitarbeiter der »Werkstatt Frieden & Solidarität« in Linz/Österreich (www.werkstatt.or.at), Redakteur der antimilitaristischen Zeitschrift »guernica« und Autor des Buches »Auf dem Weg zur Supermacht – Die Militarisierung der Europäischen Union« (Wien).

Rüstung durch die Hintertür

Rüstung durch die Hintertür

Das EU-Sicherheitsforschungsprogramm

von Sabine Lösing und Jürgen Wagner

Im Jahr 2003 fällte die EU-Kommission die Entscheidung, künftig unter dem Dach des 7. Forschungsrahmenprogramms 2007-2013 (7FPR) einen eigenen Budgetposten für Sicherheitsforschung (ESRP) einzurichten. Die für diesen Zeitraum bereit gestellte Gesamtsumme umfasst 1.4 Mrd. Euro.1 Um die Ausgestaltung dieses Sicherheitsforschungsprogramms zu konkretisieren und erste Projekte auf den Weg zu bringen, wurde eine »Group of Personalities« (GoP) und ein weiteres Beratungsgremium (ESRAB) einberufen. Dies alles geschah ohne irgendeine Beteiligung des europäischen oder eines nationalen Parlaments, geschweige denn der Zivilgesellschaft. Im stillen Kämmerlein konnten sich somit Vertreter der Rüstungslobby sowie staatlicher Sicherheitsorgane daran machen, die künftige europäische Sicherheitsforschungsagenda auszutüfteln. Für die Ausarbeitung einer Zukunftsagenda wurde darüber hinaus im Jahr 2007 das ebenso unrepräsentativ und undemokratisch zusammengesetzte »European Security & Information Forum« (ESRIF) ins Leben gerufen, das im Dezember 2009 seinen 324-seitigen Forderungskatalog vorlegte.

Auch wenn dies sicherlich nicht für jede einzelne geförderte Maßnahme zutrifft, so ist die gesamte Ausrichtung des Sicherheitsforschungsprogramms überaus Besorgnis erregend. Trotz der Tatsache, dass sich dort mit nahezu jedem erdenklichen Aspekt von Sicherheit beschäftigt wird, sind die Lösungen nahezu immer dieselben, wie Ben Hayes von »Statewatch« kritisiert: „Für jeden dieser scheinbar unterschiedlichen Bereiche stellt sich heraus, dass dieselbe Antwort vorgeschlagen wird: Maximierung des Einsatzes von Sicherheitstechnologie; Verwendung von Risikoabwägungen und Modellen, um menschliches Verhalten vorherzusagen (und darauf Einfluss zu nehmen); die Gewährleistung schneller »Antworten auf Störungen«; und schließlich die Intervention, um die Gefahr zu neutralisieren, automatisch, sofern möglich. […] Was sich hinter der irritierenden Zahl an Aufträgen, Abkürzungen und EU-Politiken verbirgt, ist die rasche Entwicklung eines mächtigen neuen »interoperablen« europäischen Überwachungssystems, das für zivile, kommerzielle, polizeiliche, sicherheits- wie auch verteidigungsbezogene Zwecke eingesetzt werden wird.“ (Hayes 2009: 30)

Eine Forschungsagenda von Lobbyisten für Lobbyisten

Schon durch die Zusammensetzung der entscheidenden Gremien wurde sichergestellt, dass Konzerninteressen ausgiebig Berücksichtigung finden würden. Die Tradition, Firmenvertretern in der GoP und im ESRAB eine maßgebliche Rolle zuzugestehen, fand im ESRIF seine ungebrochene Fortsetzung. So setzen sich sowohl das 65 Personen umfassende Direktorium als auch seine 660 Berater etwa je zur Hälfte aus Industrievertretern (vorrangig von Rüstungsunternehmen) und aus Repräsentanten staatlicher Sicherheitsorgane zusammen.2 Weit und breit finden sich keine Vertreter der Bürgerrechts- oder der Friedensbewegung oder wenigstens der ein oder andere Datenschutzbeauftragte. Mit der Ausarbeitung der Forschungsagenda wurden also genau jene Konzerne und Organe betraut, die am meisten an einer ausufernden Sicherheitspolitik interessiert sind (Nagel 2009: 4).

Da im Sicherheitsbusiness einiges zu verdienen ist – das Auftragsvolumen beträgt weltweit etwa 140 Mrd. Dollar im Jahr 2009 -, besteht eines der Hauptziele der ESRIF-Agenda in der Herausbildung eines international wettbewerbsfähigen europäischen Sicherheitsindustriellen-Komplexes. Bislang verhindere der »fragmentierte Markt« innerhalb der Europäischen Union eine optimale Positionierung im internationalen Wettkampf. „Sollte dies behoben werden, würde dies die Tür für eine globale Führungsrolle auf dem Sicherheitsmarkt öffnen.“ (ESRIF 2009: 13) Folgerichtig will man nicht nur Investitionen der öffentlichen Hand anregen, sondern durch einen einheitlichen europäischen Sicherheitsmarkt das Auftragsvolumen und damit die Wettbewerbsfähigkeit vergrößern: „Durch seine Tätigkeit wird ESRIF dazu beitragen, einen europaweiten einheitlichen Markt für Sicherheitsequipment und Sicherheitsdienstleistungen zu fördern.“ (ESRIF 2009: 245)

Zivil-militärische Vermischung

Ein Hauptkritikpunkt am EU-Sicherheitsforschungsprogramm besteht darin, dass es munter die – sinnvollen und wichtigen – Grenzen zwischen »innerer« und »äußerer« Sicherheit sowie »ziviler« und »militärischer« Forschung verwischt, und zwar gezielt: „ESRIF befürwortet, dass die externe Dimension von Sicherheit auf der Agenda jeglicher künftigen Sicherheitsforschungs- und Innovationspolitik eine große Rolle spielen soll. Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten sind Teil einer hochgradig komplexen und interdependenten Welt. Gescheiterte Staaten, Grenzstreitigkeiten, umweltbedingte Migration und Ressourcenkonflikte haben allesamt interkontinentale, wenn nicht globale Auswirkungen. Europa kann diese externen Risiken und Bedrohungen […] für seine innere Sicherheit nicht ignorieren. […] Aber dies erfordert auch eine neue Mentalität, um die Zusammenarbeit ziviler und militärischer Autoritäten auszubauen, die in vielen Fällen auf die gleichen Organisationen und Kapazitäten zurückgreifen.“ (ESRIF 2009: 10)

Hier wächst offensichtlich zusammen, was in den Augen derjenigen, die diese Forschungsagenda ausgearbeitet haben, schon lange zusammengehört. Von politischer Seite ist dies jedenfalls explizit gewollt. Auf dem EU-Ratstreffen Mitte November 2009 wurde in der Abschlusserklärung festgehalten: „Der Rat unterstreicht die Notwendigkeit, Synergien hinsichtlich verteidigungs- und sicherheitsforschungsbezogener Aktivitäten zu finden.“

Freier Strom der Güter, nicht der Menschen

In elf Arbeitsgruppen wurden im Rahmen des ESRIF Detailvorschläge für die künftige Sicherheitsforschungsagenda ausgearbeitet. Die größte dieser Arbeitsgruppen beschäftigte sich mit dem »Schutz kritischer Infrastrukturen«, wozu normalerweise sensitive Gebäude (Banken und Behörden), Bahnhöfe, die Energieversorgung, Informationssysteme u.ä. gezählt werden. Das ESRIF erweitert die Definition aber auch auf wichtige »natürliche Ressourcen« und, so sich diese im Ausland befinden, auch auf deren Zuleitungswege. Dabei handele es sich auch um eine „sicherheitspolitische Frage“, weshalb die Forschung einen Beitrag zur Sicherheit von Gütern von der „Farm bis zur Gabel“ leisten müsse. Als Begründung wird angegeben: „Europa ist extrem abhängig vom regionalen und globalen Fluss von Gütern und Menschen.“ (ESRIF 2009: 25)

Allerdings will man dabei nur, dass sich bestimmte – gewünschte – Personen frei bewegen können. Mit dem ganzen Rest beschäftigte sich die ESRIF-Arbeitsgruppe 3 (»Grenzsicherheit«): „Die Hauptaugenmerke im Bereich der Grenzsicherheit sind die effiziente und effektive Kontrolle des Flusses von Menschen und Gütern an Grenzübergängen und die Überwachung der Grenzregionen – zu Lande, zu Wasser und im Luftraum – jenseits dieser Grenzübergänge.“ (ESRIF 2009: 29) Wie ein Blick auf die bislang begonnen Projekte zeigt, zielen viele von ihnen tatsächlich auf eine Verbesserung der Überwachungskapazitäten an den EU-Außengrenzen ab (European Commission 2009).

Militärisches und paramilitärisches Krisenmanagement, die Bekämpfung von Symptomen statt Ursachen steht jedoch nicht nur im Migrationsbereich im Zentrum des Sicherheitsforschungsprogramms. Ein solches Vorgehen ist charakteristisch für eine »Sicherheitsgesellschaft« wie sie von Tobias Singelnstein und Peer Stolle (2008: 75) beschrieben wurde: „Der vormalige Anspruch, zugrunde liegende soziale Konflikte zu lösen, wird zugunsten einer reinen Verwaltung von Problemen durch dauernde Kontrolle aufgegeben.“

Bevölkerungskontrolle innen wie außen

Die ESRIF-Arbeitsgruppe 1 beschäftigte sich mit der »Sicherheit der Bürger«; bei genauerer Betrachtung drängt sich jedoch der Verdacht auf, dass es hierbei eher um die Sicherheit vor den Bürgern geht. U.a. wurde dabei untersucht, wie der „Radikalisierung von Gruppen in der Bevölkerung“ begegnet werden kann. Dabei wird folgende Bedrohungsanalyse präsentiert: „In bestimmten Gruppen der Bevölkerung, die über bestimmte Charakteristika verfügen (zB ethnische Herkunft, Religion, Studenten, Armut) kann sich eine Stimmung von Entfremdung und Ausgrenzung breit machen. Sollten diese Gefühle ignoriert werden, besteht die Gefahr, dass ungewünschte Entwicklungen ausgelöst werden, die zu einer sich verschlimmernden Unzufriedenheit in organisierten Gruppen und Netzwerken führen. Das nächste Stadium könnte die Mobilisierung möglicher Akteure sein, um ihre Rechte zu verteidigen. Am Ende sind gewalttätige Handlungen möglich.“ (ESRIF 2009: 49)

Als ein Teil der künftigen Forschungsagenda soll deshalb die Bevölkerung über die „Grenzen des politischen Aktivismus“ aufgeklärt werden. „Wo befinden sich die so genannten roten Linien sozialer Proteste? Mehr Forschungsanstrengungen müssen darauf verwendet werden, wie weit politischer Aktivismus gehen kann und sollte.“ (ESFRIF 2009: 235) Überschreitet die Bevölkerung diese vom Sicherheitsforschungsprogramm gezogenen roten Linien, so sind bereits jetzt zahlreiche Programme zur Verbesserung der Bevölkerungskontrolle bei Demonstrationen und anderen Großveranstaltungen angelaufen. Ein Beispiel hierfür ist das Sicherheitsforschungsprogramm für die »Automatische Aufspürung abnormalen Verhaltens und von Bedrohungen in bevölkerten Räumen« (ADABTS): „ADABTS zielt auf den Schutz von EU-Bürgern, Eigentum und Infrastruktur gegen Gefahren des Terrorismus, Kriminalität und Unruhen durch das automatische Aufspüren abnormalen menschlichen Verhaltens ab.“ (European Commission 2009: 6f.) Es liegt auf der Hand, dass derlei Fähigkeiten sich auch zur Aufstandsbekämpfung im Ausland bestens eignen (Hayes 2009: 63f.). Nicht nur hier sind die Synergieeffekte zwischen »ziviler« und militärischer Anwendung ebenso offensichtlich wie erwünscht.

Verdeckte Rüstungsforschung

Ganz offen fordert das ESRIF (2009: 38), dass zivile Sicherheitsforschung auch für Militäreinsätze nutzbringend sein sollte: „Aufgrund der hohen Priorität der externen Sicherheitsdimension […] sollten Forschungs- und Innovationsprogramme Friedenseinsätze sowie humanitäre und Krisenmanagementaufgaben unterstützen.“ Dass man deshalb sogar von einem Etikettenschwindel sprechen kann, wird teils sogar offen eingestanden: „»Sicherheit« ist ein politisch akzeptablerer Weg etwas zu beschreiben, was früher traditionelle Verteidigung war“, so Tim Robinson, Vizepräsident der Sicherheitsabteilung von Thales, der als ehemaliger ESRAB-Vorsitzender maßgeblich an der Ausarbeitung der Forschungsagenda beteiligt war (Hayes 2009: 72).

Nachdem die EU-Verteidigungsminister im Mai 2009 die Verteidigungsagentur damit beauftragt haben, einen »Europäischen Kooperationsrahmen für Sicherheits- und Rüstungsforschung« auszuarbeiten, scheint endgültig klar, wohin die Reise wohl gehen wird. „Dieser neue Rahmen wird die übergreifende Struktur zur Maximierung von Komplementarität und Synergie zwischen Forschungsaktivitäten mit Verteidigungs- und zivilem Sicherheitsbezug bereitstellen.“ (European Defence Agency 2009)

Abschließend sollte noch betont werden, dass das bislang relativ geringe bereitgestellte Budget sich bald erhöhen dürfte. Schon jetzt fordert das ESRIF (2009: 37), die EU solle schnellstmöglich 1 Mrd. Euro jährlich bereitstellen, also den Etat verfünffachen. Grund genug also, diesem Forschungszweig künftig deutlich mehr Beachtung zu schenken, als dies bislang der Fall ist.

Literatur

European Commission (2009): Security Research Projects under the 7th Framework Programme for Research, Brüssel.

European Defence Agency (2009): EDA and Commission to Work Closely Together on Research, Press Release vom 18. Mai 2009.

ESRIF (2009): Final Report, December 2009, URL: http://www.esrif.eu/documents/esrif_final_report.pdf (18.12.2009).

Hayes, Ben (2009): Neoconopticon – The EU Security-Industrial Complex, Statewatch/Transnational Institute.

Nagel, Sarah (2009): Hochschulen forschen für den Krieg, in: Ausdruck – Das IMI-Magazin (Juni), S.1-6.

Singelnstein, Tobias & Stolle, Peter (20082): Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, Wiesbaden.

Anmerkungen

1) Darüber hinaus sind im 7FPR noch 1.4 Mrd. für »zivile« Weltraumforschung eingestellt, mit denen direkt militärrelevante Forschung betrieben wird (Hayes 2009: 52ff.).

2) Hinzu kommt eine Handvoll Nichtregierungsorganisationen, die sich aber nahtlos, wie etwa die interventionistische Crisis Management Initiative, in diesen illustren Haufen einfügen.

Sabine Lösing ist Mitglied des Europäischen Parlaments, Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung und Redaktionsmitglied von »Wissenschaft & Frieden«.

Das Parlament als Friedenswächter?

Das Parlament als Friedenswächter?

Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts

von Martin Kutscha

Am 30. Juni 2009 verkündete das Bundesverfassungsgericht das Urteil im Zusammenhang mit den – u.a. von der Bundestagsfraktion »Die Linke« – eingereichten Verfassungsbeschwerden gegen das Zustimmungsgesetz zum Lissabon-Vertrag. Hinsichtlich zukünftiger militärischer Interventionen der EU sieht das Gericht im Deutschen Bundestag das zentrales Gremium um sicherzustellen, dass diese in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz erfolgen – eine idealistische Sichtweise.

Ursprünglich als reine Wirtschaftsorganisation gegründet, etabliert sich die EG/EU inzwischen mehr und mehr auch als Militärmacht. Schon im Vertrag von Amsterdam aus dem Jahre 1997 wurde die „schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik“ gefordert (Art. 17 Abs. 1 EU-Vertrag). Ab 1998 wurden dann durch Beschlüsse des Rates Schritt für Schritt verschiedene Untergremien und Einrichtungen geschaffen, die sich mit der Entwicklung und Koordinierung der militärischen Komponente befassen.1 2001 erhielt die Europäische Union einen eigenen Militärstab, und bereits im Jahre 2003 fanden die ersten Militäreinsätze unter dem Signum der EU statt, nämlich »Concordia« in Mazedonien und »Artemis« im Kongo.2

Zur Legitimation solcher Einsätze auch für die Zukunft sollen entsprechende Bestimmungen im 2007 ausgehandelten Vertrag von Lissabon, der an die Stelle des gescheiterten Verfassungsvertrages treten soll, dienen: Zwar bekennt sich die Union in Art. 3 Abs. 1 des neuen EU-Vertrages u. a. zur Förderung des Friedens. Art. 42 Abs. 1 dieses Vertrages enthält jedoch eine Ermächtigung zu „Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen. Sie erfüllt diese Aufgaben mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden“. Noch deutlicher spricht dann Art. 43 Abs. 1 des Vertrages von „Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet“.

Die friedenspolitische Brisanz dieser Ermächtigungen folgt aus der Konturlosigkeit solcher Begriffe wie »Krisenbewältigung« oder »Terrorismus« – Krisen und Terrorismus kann es schließlich auf den verschiedensten Schauplätzen rund um die Welt und aus ganz unterschiedlichen Ursachen geben. Richtig schreibt ein Kritiker des Vertrages: „Der Begriff des Terrorismus ist ungeklärt und unklar. Mit der Annahme des Terrorismus lässt sich daher jeder Einmarsch in ein Drittland und die Besetzung eines Drittlandes rechtfertigen. Damit misst sich die Union ein Recht zum Kriege (ius ad bellum) zu, das sie zu Angriffskriegen ermächtigt, welche mit den oben genannten Zwecken nicht gerechtfertigt werden können. Das Gewaltverbot ist ein Grundpfeiler des modernen Völkerrechts (Art. 2 Abs. 1 UNO-Charta). Es verbietet Interventionen, auch die humanitäre Intervention. Der Weltfrieden rechtfertigt den Einsatz militärischer Gewalt auch nur, wenn dies der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschließt (Art. 42 UNO-Charta)“.3

Nicht weniger bedenklich ist die Bestimmung in Art. 42 Abs. 3 des Vertrages: „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“. Damit enthält der Vertrag von Lissabon eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur militärischen Aufrüstung, die alle Abrüstungsschritte der Vergangenheit ad absurdum führt.

Die hier dargestellten problematischen Bestimmungen des Vertrags von Lissabon zur künftigen Militärpolitik der EU sowie die Festschreibung der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ veranlasste die Bundestagsfraktion der Partei »Die Linke«, gegen das deutsche Zustimmungsgesetz ein Organstreitverfahren beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe anhängig zu machen. Gerügt wurde von der Fraktion u. a., dass mit einer Beteiligung Deutschlands an Militäreinsätzen der EU, zu denen der Vertrag von Lissabon ermächtige, die in Art. 26 des Grundgesetzes normierte Verpflichtung zur Friedensstaatlichkeit missachtet werde. Mit Recht wurde in der Antragsschrift auch daran erinnert, dass die deutschen Streitkräfte nach Art. 87a Abs. 2 des Grundgesetzes grundsätzlich auf die Aufgabe der Verteidigung beschränkt sind. Soweit Soldaten der Bundeswehr im Rahmen eines internationalen „Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ gemäß Art. 24 Abs. 2 des Grundgesetzes eingesetzt werden, müssen die verfassungsmäßig vorgeschriebene Zweckbestimmung dieser Systeme, nämlich die „Wahrung des Friedens“ , sowie die verbindlichen Regeln dieses System, also insbesondere das prinzipielle Gewaltverbot der UNO-Charta, strikt eingehalten werden.4 Durch die militärpolitischen Ermächtigungsnormen des Vertrags von Lissabon, so die Kritik der Bundestagsfraktion, würde die Geltung dieser verpflichtenden Vorgaben des deutschen Grundgesetzes in gravierender Weise in Frage gestellt.

Nachdem auch von anderer Seite Verfassungsbeschwerden gegen das Zustimmungsgesetz zum Lissabon-Vertrag erhoben worden waren, verkündete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil schließlich am 30. Juni 20095: Das Zustimmungsgesetz selbst sei mit dem Grundgesetz vereinbar, allerdings müsse das die Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat in EU-Angelegenheiten regelnde Begleitgesetz geändert werden, da es den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Mitwirkung dieser deutschen Verfassungsorgane nicht genüge.

Ermahnungen aus Karlsruhe

In seinem Kern versucht das umfangreiche Urteil des höchsten deutschen Gerichts, den Vertrag von Lissabon durch die Brille des deutschen Grundgesetzes zu lesen und zu interpretieren. Recht deutlich werden die Demokratiedefizite des Entscheidungssystems der EU benannt, die auch nicht durch eine partielle Stärkung der Rechte des europäischen Parlaments wettgemacht würden. Im Gegensatz zu den vollmundigen Beteuerungen vieler Politiker konstatiert das Gericht nüchtern: „Der Vertrag von Lissabon führt nicht auf eine neue Entwicklungsstufe der Demokratie“.6 In Anbetracht dieser Situation verspricht sich das Bundesverfassungsgericht Abhilfe durch eine Stärkung der Mitwirkungsrechte der nationalstaatlichen Parlamente7 sowie durch das Kontrollrecht der Verfassungsgerichtsbarkeit, um den „unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes“8 vor einer Preisgabe bei weiteren Integrationsschritten der EU bewahren zu können.

Nicht ohne ein gewisses Pathos erinnert das Gericht an die Aussagen unserer Verfassung zur Friedenswahrung: „Die Präambel des Grundgesetzes betont nach den Erfahrungen verheerender Kriege, gerade auch unter europäischen Völkern, nicht nur die sittliche Grundlage verantworteter Selbstbestimmung, sondern auch den Willen, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen….Das Grundgesetz will die Mitwirkung Deutschlands an internationalen Organisationen, eine zwischen den Staaten hergestellte Ordnung des wechselseitigen friedlichen Interessenausgleichs und ein organisiertes Miteinander in Europa….Es bricht mit allen Formen des politischen Machiavellismus und einer rigiden Souveränitätsvorstellung, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Recht zur Kriegsführung – auch als Angriffskrieg – für ein selbstverständliches Recht des souveränen Staates hielt“.9 Diesen historisch wohlbegründeten Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts kann nur zugestimmt werden.

Im Hinblick auf die oben dargestellten Ermächtigungen im Lissabon-Vertrag zu militärischen »Missionen« einschließlich von „Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung“ legt das Gericht dann allerdings eine erstaunliche Lesart zu Grunde: „Der Wortlaut des Vertrags von Lissabon verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, nationale Streitkräfte für militärische Einsätze der Europäischen Union bereitzustellen“.10 Aber sollen die militärischen »Missionen« der Union nach Art. 42 Abs. 1 des EU-Vertrages nicht gerade „mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden“, durchgeführt werden? Und was bedeutet die in Abs. 3 desselben Artikels enthaltene Verpflichtung der Mitgliedstaaten, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“? Es ist zwar richtig, dass schon wegen des im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geltenden Einstimmigkeitsprinzips kein Mitgliedstaat gegen seinen Willen zu einer Beteiligung an einer militärischen Operation der EU verpflichtet werden könnte11; aber kann es als erwiesen gelten, dass der im Rat anwesende Regierungsvertreter Deutschlands bei Abstimmungen dem Friedensgebot des Grundgesetzes immer strikte Beachtung zollt? Die Beteiligung Deutschlands an der Bombardierung Jugoslawiens im Jahre 1999 ohne ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates12 gibt insoweit wenig Anlass zu Optimismus hinsichtlich der Verfassungstreue der verantwortlichen Politiker.

Das Bundesverfassungsgericht setzt seine Hoffnungen indessen auf den Bundestag, der jedem Einsatz bewaffneter Streitkräfte seine Zustimmung erteilen muss. Dieser Parlamentsvorbehalt für solche Militäreinsätze ist nicht explizit im Grundgesetz verankert, sondern zuerst im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 zu den Bundeswehreinsätzen in der Adria, in Somalia sowie in AWACS-Flugzeugen statuiert worden.13 Die verfassungsrechtliche Problematik von Bundeswehreinsätzen im Ausland wurde damit, so die berechtigte Kritik, auf eine bloße Kompetenzfrage reduziert.14 Die Bundeswehr ist danach ein »Parlamentsheer«, wie das Bundesverfassungsgericht inzwischen in mehreren Entscheidungen betont hat.15 Nach dem Urteil zum Vertrag von Lissabon soll sich daran auch nichts ändern, wenn Bundeswehreinsätze im Rahmen von militärischen »Missionen« der EU stattfinden. Dieser verfassungsrechtlichen Bindung soll sich die Bundesregierung auch bei ihrer Mitwirkung an Entscheidungen der EU-Organe nicht entziehen können: Der deutsche Vertreter im Rat sei „von Verfassungs wegen verpflichtet, jeder Beschlussvorlage die Zustimmung zu verweigern, die den wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt des Grundgesetzes verletzen oder umgehen würde“.16

Ein parteiischer Wächter

Es bleibt aber zu fragen, ob sich der vom Bundesverfassungsgericht statuierte Parlamentsvorbehalt überhaupt als Korrektiv für die Militärpolitik der Regierung eignet. Schließlich hat der Deutsche Bundestag bisher zu jedem der inzwischen über 50 Anträge der Bundesregierung, bewaffnete Bundeswehreinheiten auf bestimmten Schauplätzen im Ausland einzusetzen, sein Placet erteilt.17 Abgeordnete der Regierungsparteien, die vor der jeweiligen Abstimmung ihr Unbehagen artikuliert hatten, wurden durch politischen Druck – bis hin zur Verknüpfung mit der Vertrauensfrage durch Bundeskanzler Gerhard Schröder – zur Zustimmung bewegt.

Das von einem tiefen Vertrauen in die bremsende und kontrollierende Kraft des nationalstaatlichen Parlaments durchdrungene (und deutlich die Handschrift des berichterstattenden Richters Udo Di Fabio verratende) Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon geht offenbar von einer lehrbuchgemäßen Idealvorstellung des Verhältnisses zwischen Legislative und Exekutive aus. Danach verabschiedet die Legislative nicht nur die für die »vollziehende Gewalt« verbindlichen Gesetze, sondern kontrolliert auch das Handeln der Exekutive. Mit der Realität des heutigen Parlamentarismus hat dieses Idealbild allerdings wenig gemein: Politischer Gegenspieler der Regierung als Spitze der Exekutive ist nämlich nicht das Parlament, sondern nur dessen oppositionelle Minderheit. Nur diese hat ein politisches Interesse, wirksame Kontrolle auszuüben, um Fehlentscheidungen im Bereich der Exekutive aufzudecken und anzuprangern. Das wusste auch das Bundesverfassungsgericht früher schon besser als im Urteil zum Lissabon-Vertrag: Im heutigen parlamentarischen Regierungssystem, so heißt es z. B. in einem Beschluss des Gerichts vom 2. August 1978, überwache „in erster Linie nicht die Mehrheit die Regierung, sondern diese Aufgabe wird vorwiegend von der Opposition – und damit in der Regel von einer Minderheit – wahrgenommen“.18 Wer hierfür nach anschaulichen Beispielen sucht, schaue sich nur das Verhalten von Abgeordneten der verschiedenen Fraktionen in den Untersuchungsausschüssen des Bundestages an.

Die Mehrheit des Parlaments wird regelmäßig bestrebt sein, die Regierung zu stützen, und gibt deshalb einen recht parteiischen Wächter für deren Handeln ab. Abgesehen von Ausnahmesituationen wird sie sowohl die Gesetzesvorlagen aus der Regierung (von denen manche inzwischen ja sogar von wirtschaftsnahen Anwaltskanzleien ausgearbeitet werden19) unterstützen als auch den von der Regierung gewünschten Auslandseinsätzen der Bundeswehr ihre Zustimmung erteilen. Die parlamentarische Minderheit hingegen kann den zustimmenden Beschluss mit ihren Stimmen nicht verhindern, sondern nur versuchen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren.

Der Parlamentsvorbehalt bietet jedenfalls keine Sicherheit dafür, dass die deutschen Streitkräfte strikt nach Maßgabe der Vorgaben des Grundgesetzes und der UNO-Charta verwendet werden. Es wäre deshalb überzeugender gewesen, wenn das Bundesverfassungsgericht die fragwürdigen militärpolitischen Bestimmungen des Vertrags von Lissabon genauer unter die Lupe dieser verfassungs- und völkerrechtlichen Beschränkungen genommen hätte. Aber angesichts einer ganz großen Koalition, die jegliche Kritik am Lissabon-Vertrag als »Europafeindlichkeit« verteufelt, hätte es dazu schon sehr viel Mut bedurft.

Anmerkungen

1) Vgl. nur Oppermann, T. (2005): Europarecht, 3. Aufl. S.723 ff. (§ 33 III); kritisch Pflüger, T. (2005): Keine Rede von einer Zivilmacht EU, FR v. 9. 4. 2005.

2) Vgl. Wagner, J. (2009): Außenpolitik, in: Gillen, G./v. Rossum, W. (Hg.), Schwarzbuch Deutschland, S.77 (81).

3) Schachtschneider, K. A. (2008): Verfassungsrechtliche Argumente gegen den Vertrag von Lissabon. Leviathan 3/2008, S.317 (335).

4) Vgl. im Einzelnen Kutscha, M. (2007): Konfliktverhütung durch Krieg? Verfassungsfragen an das neue Bundeswehr-Weißbuch, Wissenschaft & Frieden 2/2007, S.27 (28).

5) Der Text des Urteils findet sich unter www.bverfg.de/entscheidungen.html sowie in der Neuen Juristischen Wochenschrift 31/2009, S.2267-2295.

6) BVerfG a. a. O., Absatznummer (Abs. Nr.) 295.

7) Kritisch zu diesem »Parlamentspatriotismus« Fischer-Lescano, A. (2009): Bundesverfassungsgericht: Zurück zum Nationalstaat, Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2009, S.15 (16).

8) BVerfG a. a. O, Leitsatz 4.

9) BVerfG a. a. O., Abs. Nr. 222/223.

10) BVerfG a. a. O. Abs. Nr. 384.

11) So BVerfG a. a. O., Abs. Nr. 391.

12) Dazu z. B. Bald, D. (2005): Die Bundeswehr, S.162 ff.

13) Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Bd. 90, S.286 (Leitsatz 3a u. S.381 ff.); ausführlich dazu Kutscha, M. (2004): Militäreinsätze vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Kramer, H./Wette, W. (Hg.), Recht ist, was den Waffen nützt, S.321 (328 f.).

14) V. Ooyen, R. Chr. (2008): Das Bundesverfassungsgericht als außenpolitischer Akteur: von der »Out-of-Area-Entscheidung« zum »Tornado-Einsatz«, Recht und Politik 2/2008, S.75 (78).

15) So z. B. im Urteil vom 7. 5. 2008, Neue Juristische Wochenschrift 28/2008, S.2018.

16) BVerfG, Urteil v. 30. 6. 2009 a. a. O., Abs. Nr. 388.

17) Vgl. Voss, K. U. (2007): Rechtsstaat ad hoc? – Anwendung von Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr, Zeitschrift für Rechtspolitik 3/2007, S.78 (81).

18) Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Bd. 49, S.70 (86).

19) Vgl. z. B. Berliner Zeitung v. 13. 8. 2009: »Minister machen Anwälte reich«.

Prof. Dr. Martin Kutscha lehrt Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.

Hallo Brüssel – Hört ihr uns?

Hallo Brüssel – Hört ihr uns?

von Michael Youlton

Das Nein-Lager hat einen umfassenden Sieg im Referendum über den Lissabonvertrag errungen. 53,4 Prozent Nein-Stimmen standen 46,6 Prozent Ja-Stimmen entgegen. Die Wahlbeteiligung war mit 53,1 Prozent doppelt so hoch wie beim Referendum zum Vertrag von Nizza. In 33 der 43 Wahlbezirke errang das Nein eine Mehrheit; zudem war das Nein – mit bis zu 65 Prozent – am stärksten in den Arbeitervierteln. Der Sieg des Nein-Lagers wurde überwiegend errungen von einer Reihe kleiner linker Organisationen, einigen Gewerkschaften und Sinn Fein – gegen das gesamte irische politische Establishment (die vier großen Parteien, Fianna Fail, Fine Gail, Labour und die Grünen), gegen alle Arbeitgeberorganisationen, die Führung der Katholischen Kirche, die mächtige »Allianz für Europa« und gegen 90 Prozent der Medien.

Es gab drei Hauptgründe warum das Nein-Lager gewonnen hat:

die völlige Missachtung des Ja-Lagers sowohl gegenüber der Opposition als auch gegenüber der Bevölkerung im allgemeinen, indem sie sich weigerten den Vertrag an die Haushalte zu verteilen und seine Inhalte zu diskutieren. Statt dessen stützte man sich auf ideologische Ausflüchte („Europa war gut zu uns – jetzt ist es an uns, gut zu Europa zu sein“, „Lasst uns im Herzen Europas sein“),

die Stärke der drei Hauptargumente, die von der Nein Kampagne vorgebracht wurden: Die Drohung einer fortschreitenden Militarisierung, während die Iren den Wunsch haben, ihre Neutralität zu erhalten; die Furcht vor unverfälschtem Wettbewerb und Marktwirtschaft bei den öffentlichen Dienstleistungen, besonders im Gesundheits- und Bildungssektor; die befürchtete Gefährdung von Arbeitnehmerrechten in Folge der jüngsten Urteile vor dem Europäischen Gerichtshof (Viking – Laval – Rüffert.),

die generelle Wirkung der weiteren vorgebrachten Argumente, vor allem das Demokratiedefizit, der Verlust eines Kommissars sowie die Verringerung des ohnehin kleinen Stimmengewichts Irlands im Rat und Parlament.

Der linke bzw. progressive Teil der Nein Kampagne hatte seit November 2007 unablässig gearbeitet, 15 Gruppierungen haben sich zu einer Dachorganisation (Campaign Against the EU Constitution/CAEUC) zusammengeschlossen. Einige der Mitgliedsorganisationen führten eigene Aktivitäten durch, doch gab es gleichzeitig einen starken inneren Zusammenhalt, sowohl über die Website der Kampagne [www.sayno.ie] als auch über gemeinsame Papiere, Versammlungen im ganzen Land, Presseerklärungen und weitere Öffentlichkeitsarbeit. Meine persönliche Einschätzung, als Mit-Koordinator der landesweiten Kampagne, war, dass die Zusammenarbeit so außergewöhnlich gut funktionierte, dass sie nun die Grundlage bildet für weitere programmatische und politische Kooperation zwischen den meisten, wenn nicht allen, Beteiligten.

Während ich diese Zeilen schreibe, gerade einmal 48 Stunden nach unserem Sieg, sind wir bereits mit einem politischen Szenario konfrontiert, das sich auf zwei parallelen und potentiell widerstreitenden Ebenen bewegt. Einerseits sind wir voller Enthusiasmus, feiern – so selten in Irland – den Sieg der Bevölkerung und eine Welle der Unterstützung und Gratulationen aus ganz Europa erreicht uns, besonders aus Frankreich, Deutschland, Österreich und Griechenland.

Auf der anderen Seite ist Angst, Bedrücktheit und Unverständnis bei den politischen Eliten festzustellen gegenüber dem, was tatsächlich geschehen ist. Im Inland geben sich die politischen Parteien gegenseitig die Schuld, nicht genügend getan zu haben, während die Pro-„Ja“-Medien spotten, dass sie das außerordentliche Kunststück geschafft hätten, das Ja alles andere als positiv erscheinen zu lassen.

In Europa ist die Stimmung im Krisenmodus. Brüssel, Paris und London sind schockiert und die Londoner Financial Times titelt: „Die Abstimmung in Irland versetzt der Moral der EU einen großen Schlag.“

Es ist viel zu früh, um zu spekulieren, welche Medizin die Eurokraten verschreiben werden, um ihre Schmerzen zu lindern, welche Machenschaften und Szenarien sie entwickeln werden. Wir werden jedoch mit einigem rechnen können, während wir selbst uns zusammensetzen, um die nächsten Schritte zu diskutieren.

Unsere politischen Traditionen in Irland kommen aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, dem Republikanismus der amerikanischen Revolution gegen die Briten, unserem Republikanismus aus den antikolonialen Kämpfen der letzten 150 Jahre sowie dem internationalistischen Sozialismus von Larkin und Connolly und Constance Markievicz.

Wir sind überzeugt, dass Demokratie zu den besten Ideen und Wirklichkeiten gehört, die in Europa entwickelt wurden, und wir bitten Brüssel, das zu respektieren. Frankreich wählte NON, die Niederlande wählten NEE und nun wählten wir NO! Respektiert den demokratischen Geist der Menschen. Beginnt damit Europa zu definieren, unser Europa, nicht einfach als Paradies für multinationale Unternehmen, und denkt stattdessen an Arbeitnehmerrechte, die Umwelt und eine Ende der militärischen Aggression. Denkt nach über die Botschaft, die dieser demokratische Prozess vor eure Schwelle gebracht hat.

Wir wünschen uns ein demokratisches, demilitarisiertes und soziales Europa. Wir warten ungeduldig auf eine Antwort.

Michael Youlton – Nationaler Koordinator der Nein Kampagne (CAEUC)
[Übersetzung Claudia Haydt]

Fremdenfeindlichkeit vor den Toren der EU

Fremdenfeindlichkeit vor den Toren der EU

von Femke van Praagh und Kerstin Zimmer

Lange Zeit galt die Ukraine als eine tolerante multi-ethnische Gesellschaft, als eine Art Musterstaat im sonst von interethnischer Gewalt geprägten postsowjetischen Raum. In den vergangenen beiden Jahren häufen sich jedoch alarmierende Berichte über antisemitisch und rassistisch motivierte Straftaten. Die meisten Opfer sind Roma und Juden, jedoch nehmen Gewalttaten gegenüber Studierenden, Flüchtlingen und Migranten aus Asien und Afrika zu.

Im Folgenden zeigen wir zunächst die gesellschaftlichen Ursachen des aufflammenden Rassismus auf. Die anschließende Darstellung der aktuellen Lage gliedert sich in eine Charakterisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen, der Angriffe sowie der Täter und Opfer. Schließlich beleuchten wir die politischen und gesellschaftlichen Gegenmaßnahmen und bewerten deren Wirksamkeit.

Gesellschaftliche Bedingungen

Unter einer friedlichen gesellschaftlichen Oberfläche befindet sich ein Nährboden für rechte Gewalt. Seit der staatlichen Unabhängigkeit 1991 ist die Fremdenfeindlichkeit in der Ukraine kontinuierlich angestiegen. Ostslawische Gruppen (Ukrainer, Russen, Weißrussen) werden gesellschaftlich toleriert, während »historische« Nachbarn und Minderheiten wie zum Beispiel Polen, Moldawier, Juden und Krimtataren auf geringere Akzeptanz stoßen.1 Gruppen, die keine »historischen« Wurzeln im Gebiet der heutigen Ukraine haben, werden offen abgelehnt. Dies gilt besonders für »neue« Minderheiten, d.h. Menschen aus Afrika oder Asien. Flüchtlinge und Asylsuchende werden zumeist als illegale Migranten und als Bedrohung der öffentlichen Wohlfahrt und Gesundheit wahrgenommen (ECRI 2008: 16). Einige Nationalitäten/Ethnien – wie Araber oder Tschetschenen – werden mit gewaltsamen Konflikten und Terrorismus in Verbindung gebracht und erfahren eine massive Ablehnung (Panina 2005b). Der Grad der Ablehnung ist der Tabelle 1 zu entnehmen, deren Grafik auf der Bogardus-Skala beruht.

Grad der interethnischen Toleranz Anteil der Bevölkerung mit dem entsprechenden Grad an Toleranz, %
1992 2002 2005
Toleranz 35.2 9.9 10.4
Intoleranz 25.2 16.0 14.8
Segregation
(verdeckte Form der Xenophobie)
33.3 48.1 49.5
Xenophobie
(offene Form)
6.3 27.0 25.2
Tabelle 1:
Grad der allgemeinen interethnischen Toleranz der Bevölkerung der Ukraine nach der Bogardus-Skala (Quelle: Panina 2005a)

Diese fremdenfeindlichen Einstellungen lassen sich durch das Zusammenwirken von Transformationsproblemen und der totalitären Vergangenheit erklären. Sztompka (1993) argumentiert mit einer »unechten Modernität« einer Gesellschaft, die im Sozialismus von oben modernisiert wurde und nur die äußeren Attribute, jedoch nicht die psychologischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine demokratische Gesellschaft aufweist. Außerdem hat die dreifache Transformation von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Ende der Sowjetunion zu einer wachsenden Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern geführt. Die daraus hervorgehende Verunsicherung und Perspektivlosigkeit, die durch soziale Anomie und Misstrauen verstärkt werden, bieten Mobilisierungspotenziale für Extremisten (Thieme 2007). Besonders ausgeprägt sind intolerante Haltungen bei sozial benachteiligten und arbeitslosen Jugendlichen (Zhdanova 2007). Typisch ist hier eine grundsätzliche Ablehnung von Modernisierung und Demokratie sowie ein Überhöhung der ukrainischen Nation. Diese Grundhaltung zieht die Suche nach Sündenböcken und »leichten Opfern« nach sich.

Rechte Gruppierungen

Die rechte Szene in der Ukraine ist ein buntes Gemisch aus Parteien, Bewegungen und informellen, zum Teil offen gewalttätigen Gruppen. Die organisatorischen und ideologischen Verbindungen und Trennlinien zwischen den Gruppierungen sind zumeist unklar. Viele Gruppen sind nicht eindeutig »nur« rechtsradikal, sondern vertreten auch linksextremistische Positionen, vor allem in sozialen und ökonomischen Fragen.

In der politisch-parlamentarischen Landschaft finden sich ukrainisch-nationalistische Gruppierungen, die sich mehr oder weniger offen fremdenfeindlich äußern. Sie propagieren, Migranten gefährdeten die Zukunft der Ukraine. Einige dieser Parteien oder führende Mitglieder waren bzw. sind Teil der Wahlblöcke von Julia Timoschenko und Viktor Juschtschenko und damit auch im Parlament vertreten. Dies zeigt, dass die Politik den Rechten nicht den Kampf ansagt, sondern sie im anhaltenden Wahlkampfdruck für sich mobilisiert und zum Teil sogar in Wahlbündnisse integriert. 2004 organisierte Viktor Janukowitsch offenbar Skinhead-Gruppen zur Einschüchterung politischer Gegner.

Am äußersten rechten Rand befindet sich die Partei »Freiheitsunion«, die offen gegen Russen und Juden hetzt. Ihre Jugendorganisation griff am 1. Mai 2007 in Charkow vietnamesische Migranten auf und übergab sie den zuständigen Behörden, welche die Abschiebung veranlassten (UCSJ 2007). Rassistische Demonstrationen, wie der »Marsch gegen illegale Migranten« im April 2007, werden meist offiziell genehmigt. Eine weitere Organisation ist die offen nationalsozialistische »Ukrainische Nationalistische Arbeiterpartei« (UNTP). Diese ist nicht als Partei zugelassen und unterhält enge Verbindungen zu gewalttätigen Gruppen wie Skinheads (Bruder 2007). Skinheads, welche nach Medien- und Polizeiberichten die hauptsächliche Tätergruppe bei rassistischen Überfällen sind, werden auch von anderen ultrarechten Parteien und Gruppierungen als Wählerpotential umworben. Nach offiziellen Angaben gibt es in der Ukraine 500 Personen, die sich selbst als Skinheads bezeichnen. Die Organisationsstrukturen sind unklar und eher schwach ausgeprägt. Sie treten eher in Form von Banden in Großstädten und wenig ideologisch organisiert auf. Einige der Gruppen sind international vernetzt, wie zum Beispiel die ukrainische Abteilung der internationalen »Blood & Honour Division«. Eine wichtige Position in der rechten Szene nehmen Musikgruppen mit rassistischen Liedtexten ein. Zudem sind die Trennlinien zwischen den gewalttätigen Skinheads und Teilen der Fußball-Hooligans schwer auszumachen. Skinhead-Gruppierungen organisieren regelmäßig öffentliche Demonstrationen und Konzerte, bei denen faschistische Parolen skandiert werden.

Rassismus gegenüber Migranten

Die Opfer von Übergriffen sind meistens sichtbare Minderheiten, wie z.B. Roma und als solche erkennbare Juden bzw. jüdische Einrichtungen, Menschen dunkler Hautfarbe, aber auch alternative Jugendliche. Zunehmend geraten »neue« Minderheiten, vor allem ausländische Studierende und Einwanderer, ins Visier der gewalttätigen Gruppen. Einwanderung ist für Ukraine zwar kein neues Phänomen, allerdings haben sich die Größenordnung und die Bedingungen seit dem Zerfall der Sowjetunion stark verändert. Zuvor kamen Migranten vorwiegend auf der Grundlage von Studien- und Arbeitsabkommen mit »sozialistischen Bruderstaaten« mit gesichertem Aufenthaltstatus und gefestigtem Einkommen. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine änderte sich die Situation grundlegend. Die Zahl der aufgegriffenen irregulären Migranten stieg von 148 im Jahr 1991 auf 25.782 im Jahr 2006.2 Die tatsächliche Zahl der irregulär einreisenden Personen, die in der Regel auf dem Weg in die EU sind, dürfte viel höher liegen; die ukrainische Regierung geht von 35.000-50.000 jährlich aus (Cross-Border Cooperation/Söderköping Process 2007). Obwohl die Ukraine nicht Zielland dieser Migrationsbewegungen ist, sitzen viele Migranten in der Ukraine fest, da die EU-Außengrenze kaum zu überwinden ist. Ihr Leben am Rande der Gesellschaft in den Großstädten ist geprägt von prekären Aufenthalts- und ungünstigen Lebensbedingungen wie hoher Arbeitslosigkeit und Armut, schlechter medizinischer Versorgung, knappem baufälligen Wohnraum und geringen Bildungsmöglichkeiten. Die meisten Migranten stammen aus Russland und anderen GUS-Staaten. Die Zahl »neuer« Einwanderer, zu denen auch viele Flüchtlinge zählen, ist zwar noch verhältnismäßig gering, aber stark ansteigend. Anhand der Asylantragszahlen lässt sich erkennen, dass sie überwiegend aus Afghanistan, Indien, Pakistan, Russland (vor allem Tschetschenien), Bangladesch, Vietnam, China und Irak stammen.3

Auch Rassismus gegenüber diesen Migrantengruppen ist in der Ukraine kein neues Phänomen. Das US Bureau of Democracy, Human Rights and Labor wies bereits 1999 in seinem Bericht zur Menschenrechtslage in der Ukraine darauf hin, dass es häufig zu Bedrohungen von Minderheitengruppen und rassistischer Gewalt gegenüber Migranten aus Afrika und Asien kam (U.S. Department of State 2000). Auch die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz verzeichnet im Jahresbericht 2001 einen Anstieg rassistischer Personenkontrollen und Übergriffe auf Migranten und Flüchtlinge (ECRI 2002). Dies bestätigt auch der UNHCR, der seit dem Mord an einem ruandischen Flüchtling 2001 vermehrt Problemanzeigen aus Kiew und anderen Städten erhält (UNHCR 2007). Nach Angaben der IOM (International Organization for Migration) ist seit Dezember 2006 die Anzahl fremdenfeindlicher Überfälle stark angestiegen: Im Oktober 2006 wurde ein Flüchtling aus Nigeria durch Neonazis ermordet; 2007 wurden laut UNHCR allein in Kiew 17 rassistische Übergriffe bekannt (UNHCR 2008). Bereits in den ersten beiden Monaten 2008 kam es zu acht Übergriffen auf Migranten durch faschistoide Jugendliche, wovon einer tödlich endete. Offensichtlich ist auch, dass Flüchtlinge und andere sichtbare Minderheiten überproportional von Personenkontrollen betroffen sind: Folterungen und Misshandlungen im Gewahrsam der Polizei und durch Vollzugsbeamte kommen immer häufiger ans Licht der Öffentlichkeit (Amnesty 2007).

Aber nicht nur Flüchtlinge sind Opfer von Rassismus. Einige der 40.000 ausländischen Studierenden sind das Ziel tätlicher Angriffe. Fackelaufmärsche von Neonazis vor den Studierendenunterkünften und Drohungen führen dazu, dass viele Studierende sich nachts nicht mehr auf die Straße trauen. Im April 2007 veröffentlichte das Bildungsministerium eine Pressemitteilung, in der es sich besorgt zeigte über Gewalttaten neo-faschistischer Gruppen und Skinheads gegenüber ausländischen Studierenden (ECRI 2008). Zudem kam es zu Überfällen auf Personen aus Diplomatenkreisen. Ein afro-amerikanischer Mitarbeiter der US-amerikanischen Botschaft und der ägyptische Botschafter sind Opfer von Neonazigewalt geworden.

Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, wie der ukrainische Staat der Situation begegnet. Ukrainische und internationale Menschenrechtler und Experten sind sich einig, dass die Gesetzeslage unzureichend ist. Die Kritik internationaler Organisationen wurde bislang aber nur teilweise umgesetzt.

Probleme der Strafverfolgung

Das verfassungsrechtliche Verbot der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, politischer, religiöser oder anderer Überzeugungen, Geschlecht, ethnischer oder sozialer Herkunft, Besitz, Wohnort, sprachlicher oder anderer Eigenschaften gilt in der Ukraine nur für »Bürger« und nicht allgemein für alle Menschen. Die ukrainische Regierung spielt die Diskrepanz herunter und betont die „faktische Irrelevanz“ des Unterschieds (ECRI 2008: 8). Zudem fehlen gesetzliche Definitionen von »Diskriminierung« und »Rassismus«. Artikel 161 des Strafgesetzbuchs setzt sich mit der Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes auseinander und bezieht das Diskriminierungsverbot ebenfalls nur auf »Bürger«. Eine Verurteilung nach diesem Artikel verlangt zudem, dass die rassistische Motivation der Tat eindeutig nachgewiesen wird. Aus diesem Grund wurde dieser Artikel bei Straftaten gegenüber Migranten (Körperverletzung, zum Teil mit Todesfolge) fast noch nie angewandt. Und in nur einem Fall (anti-semitischer Übergriff auf eine Synagoge im Jahr 2002) kam es zu einer Verurteilung des Täters, der allerdings vorzeitig aus der Haft entlassen wurde. Auch wenn Artikel 161 Strafgesetzbuch bei antisemitischen Zeitungen und Zeitschriften häufiger zur Einleitung eines Prozesses geführt hat (weil hier die „Absicht“ leichter nachweisbar ist), kam es auch hier bislang nur einmal zu einer Verurteilung. Eine eindeutige Gesetzesgrundlage für die Strafverfolgung rassistischer Publikationen fehlt bislang. Obwohl Artikel 46 des Informationsgesetzes und Artikel 3 des Gesetzes über Printmedien die Verbreitung von Informationen, die rassistische, ethnische oder religiöse Feindseligkeit schüren, Menschenrechte oder Freiheiten beeinträchtigen verbietet, erschweren Artikel 34 der ukrainischen Verfassung und Artikel 18 des Pressegesetzes eine strafrechtliche Verfolgung, da eine Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht erlaubt ist.

Ein weiteres Problem ist, dass nur wenige rassistisch motivierte Straftaten als solche angezeigt bzw. verfolgt werden. Die Miliz verbucht selbst viele davon unter „Rowdytum“ und leitet Strafverfahren nach dem entsprechenden Artikel 296 des Strafgesetzbuches ein. Die schlecht bezahlte ukrainische Miliz ist noch nicht wirklich reformiert, so dass sie noch sowjetische Züge trägt und sehr zentralistisch organisiert ist. Noch dazu haben die Opfer Angst, Straftaten anzuzeigen, da die Polizei oftmals selbst rassistisch handelt. Zwar hat die Miliz im Sommer 2007 den Skinheads den Kampf angesagt, aber die Einheiten, die in diesem Zuge geschaffen werden, sollen sich gleichzeitig mit Straftaten gegen und von Ausländern befassen. In den ukrainischen Medien findet dabei ein Aufrechnen statt – und es wird festgestellt, dass Ausländer häufiger Straftaten begehen, als dass sie Opfer von Gewalt werden. Dabei wird nicht nach Arten von Straftaten differenziert und auch nicht bedacht, dass viele Gewalttaten gegenüber Minderheiten nicht angezeigt werden. Hinzu kommt, dass ukrainische Politiker und Strafverfolgungsbehörden das Problem lange Zeit geleugnet haben. Schließlich trägt auch die offizielle Doktrin, die Ukraine sei ein multi-ethnischer und toleranter Staat dazu bei, die Augen zu verschließen. Weiterhin besteht das Problem, dass die Ukraine keine Vergangenheitsbewältigung betreibt, d.h. dass weder Verbrechen, die während des Zweiten Weltkrieges – zum Teil in Kooperation mit deutschen und rumänischen Faschisten – geschahen, noch die stalinistischen Verbrechen aufgeklärt werden. Dies schafft eine problematische Grundlage für den Umgang mit rechter Gewalt.

Ansätze antirassistischer Maßnahmen in Staat und Gesellschaft

Konkretes gesellschaftlich-politisches Engagement gegen Rassismus wird von internationalen Organisationen dominiert und finanziert. Geldgeber für Aktionen in der Ukraine sind verschiedene Staaten wie Norwegen, Niederlande, USA, Kanada, England, Schweiz und die von George Soros finanzierte International Renaissance Foundation. Viele ukrainische NGOs haben ihre Wurzeln in der Menschenrechts- und Demokratiebewegung der Sowjetunion. Daher sind ihre Arbeitsschwerpunkte überwiegend Demokratisierungsprozesse, Rechtstaatlichkeit sowie Umsetzung und Einhaltung der Menschenrechte. Das Ausmaß von Rassismus in der Ukraine schätzen sie als eher gering ein. Nur eine NGO – SOS! Racism – hat sich dem Ziel verschrieben, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der Ukraine mittels Öffentlichkeitsarbeit zu bekämpfen.

Rassismus wird in erster Linie von internationalen Organisationen als Problem wahrgenommen, während die ukrainische politische und intellektuelle Elite weiterhin das Bild einer toleranten Gesellschaft pflegt. Zudem haben die betroffenen Migranten keine Lobby, die auf die Lösung ihrer Probleme drängt. Dies sieht bei den neuerdings von rassistischen Übergriffen betroffenen Diplomaten anders aus: Nachdem auch diese Personengruppe Opfer von Attentaten wurde und auf anhaltendes Drängen der NGOs hat die Regierung Schritte unternommen, um das Problem Rassismus anzugehen. In verschiedenen Ministerien wurden während des Jahres 2007 auf oberster Ebene Sonderabteilungen eingerichtet bzw. Beauftragte eingesetzt, so im Innenministerium, im Außenministerium und beim Geheimdienst. Kritisch zu beobachten bleibt auch die erwähnte Formierung einer speziellen Einheit zur Bekämpfung von Skinheads und straffälligen Ausländern bei der ukrainischen Miliz. Die Verknüpfung dieser beiden Problemfelder mit dem Ziel, die nationale Sicherheit zu wahren und nicht an internationalem Image zu verlieren, ist eine bedenkliche Entwicklung.

Die Gegenmaßnahmen erwecken den Verdacht von Aktionismus, dessen Adressat nicht die ukrainische Gesellschaft sondern die internationale Gemeinschaft ist. Es bleibt abzuwarten, wie handlungsfähig und -willig die verschiedenen neuen Einheiten sind. Es besteht die Gefahr der Zersplitterung aufgrund einer ungenügenden Koordination zwischen den einzelnen Stellen. Zudem blieben bisher konkrete Maßnahmen und Aktionen aus, so dass sich die Frage nach der Zielrichtung und Effektivität stellt. Ohne ein gut koordiniertes, umfassendes Programm zur Bekämpfung von Rassismus auf gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Ebene ist zu befürchten, dass die Ukraine das Problem Fremdenfeindlichkeit vorerst nicht in Griff bekommt.

Literatur

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UNHCR (2008): Concern over the murder of an asylum seeker in Ukraine, http://www.unhcr.org/news/NEWS/47a304432.html. [download 29. Februar 2008]

UCSJ (2007): Union of Councils for Jews in the Former Soviet Union: News. Antisemitism and Xenophobia in Ukraine, http://www.fsumonitor.com/. [download: 26. Januar 2008]

U.S. Department of State (2000): Ukraine: Country Reports on Human Rights Practices 1999 Released by the Bureau of Democracy, Human Rights, and Labor; http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/1999/367.htm, [download 29. Februar 2008]

Zhdanova, Irina (2007): Reiting for ever? O molodoshi i tolerantnosti, real'nosti i virtual'nosti, Zerkalo Nedeli 15.-21. September.

Anmerkungen

1) Die Roma sind hier eine Ausnahme. Trotz ihrer jahrhundertelangen Präsenz werden sie ähnlich stark abgelehnt wie moslemische Minderheiten.

2) Hiervon wurde 18.173 MigrantInnen der Grenzübertritt in die Ukraine verwehrt. Ergänzend gab das Innenministerium 2006 bekannt, dass 8.264 irreguläre MigrantInnen im Landesinneren registriert wurden.

3) Cross-Border Cooperation / Söderköping Process: Asylums Seekers and Refugees http://soderkoping.org.ua/page12484.html?template=print; 29.02.2008.

Femke van Praagh, Diplom-Sozialpädagogin, studiert Friedens- und Konfliktforschung (Master) und arbeitet seit 2003 bei Pro Asyl Dr. Kerstin Zimmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Philipps-Universität Marburg

Paramilitärische EU-Außenpolitik

Paramilitärische EU-Außenpolitik

von Claudia Haydt

Die Europäische Union versteht sich als weltpolitischer Akteur der mit zivilen und militärischen Mitteln seine „Werte und Interessen“ (Vertrag von Lissabon, Artikel 2) durchsetzt. Die militärpolitischen Strategien und Programmen der EU werden meist flankiert von mehr oder weniger zivilen Maßnahmen. Aus der konsequenten Verknüpfung von zivilen und militärischen Mitteln versprechen sich die maßgeblichen Akteure im Rahmen der EU sowohl eine effektivere Umsetzung ihrer machtpolitischen Ziele als auch eine größere Akzeptanz für ihre Politik – sowohl im Inneren als auch in den jeweiligen Einsatzgebieten.

Ein zentrales Bindeglied in der Grauzone zwischen militärischem und zivilem Agieren stellt die European Gendarmerie Force (EGF) dar. Wenn Auslandseinsätze der EGF thematisiert werden, dann meist nur im Rahmen einer »zivilen« Außenpolitik. Wie irreführend diese Einordnung ist, soll im Folgenden erläutert werden.

Vom Plan zur Umsetzung

Am 18. Oktober 2007 unterzeichneten Vertreter der Regierungen Spaniens, Frankreichs, der Niederlande, Italiens und Portugals in Velsen einen Vertrag zur Etablierung der European Gendarmerie Force. Die Idee, eine paramilitärische Polizeitruppe für den Einsatz innerhalb und außerhalb der EU zu schaffen, ist jedoch älter. Bereits am 25. und 26. Januar 2000 trafen sich Offiziere von paramilitärischen Einheiten aus Frankreich, Italien und Portugal. Sie stellten einen Bedarf für multinationale Spezialeinheiten fest, die in sogenannten »Peace Support Operations« eingesetzt werden sollten, die sowohl präventive als auch repressive Aktionen ausführen können sollten.1 Beim Ratsgipfel in Santa Maria de Feira (Portugal) wurden im Juni 2000 Prioritäten für ziviles Krisenmanagement festgelegt. Dafür wurde unter anderem vereinbart, 5.000 Polizisten zur Verfügung zu stellen.

Auf einem informellen Treffen der EU-Verteidigungsminister präsentierte die damalige französische Verteidigungsministerin Alliot-Marie einen entsprechenden Vorschlag, der dann beim Treffen der Verteidigungsminister am 4. September 2004 zu einem gemeinsamen »letter of intent« führte. Auch wenn sich bald herausstellte, dass nur fünf Mitgliedsstaaten bereit waren, sich zu beteiligen, nahm das EGF Projekt seinen Lauf. Die Einrichtung der EGF wurde am 19. Januar 2005 in Vicenza (Italien) gestartet. Das permanente Hauptquartier war am 15. Februar 2005 arbeitsfähig und am 23. Januar 2006 wurde das Quartier in Vicenza offiziell eingeweiht. Im Juni 2006 wurde die Einsatzfähigkeit der EGF festgestellt. Seit Dezember 2007 befinden sich Mitglieder der EGF in ihrem ersten größeren Auslandseinsatz im Rahmen der EUFOR Bosnien-Herzegowina. Die EGF bilden den Kern der Integrated Police Unit (IPU) in Sarajevo zu deren Hauptaufgaben nachrichtendienstliche Tätigkeiten und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gehören.

EUropäische Paramilitärs

Mit der EGF steht der Europäischen Union eine stehende Polizeitruppe zur Verfügung, die sie in beliebigen Krisengebieten schnell einsetzen kann. Die EGF kann Polizeimissionen und Krisenmanagement im Rahmen der ESVP durchführen. Darüber hinaus kann sie auch im Rahmen der UN, der OSZE, der NATO und in ad hoc-Koalitionen eingesetzt werden. Die Einheiten können sowohl unter ein militärisches als auch unter ein ziviles Kommando gestellt werden – die EGF ist also eine »Dual-Use«-Einheit; ihr Aufgabenspektrum macht diese Truppe zudem sowohl für Auslandseinsätze als auch für Einsätze im Inneren verwendbar. Die EGF besteht bis jetzt fast ausschließlich aus Polizeieinheiten, die teilweise oder ganz den jeweiligen Verteidigungsministerien unterstellt sind. Es geht also um eine multinationale Paramilitärtruppe. Zur Zeit gehören der EGF Einheiten aus fünf Ländern an: Carabinieri (Italien), Guardia National Republicana (Portugal), Guardia Civil (Spanien), Gendarmerie Nacional (Frankreich) und Royal Marechausee (Niederlande). Polnische Paramilitärs sind als Beobachter in die EGF eingebunden. Diese Kräfte sind teilweise kaserniert und funktionieren auch im Inneren paramilitärisch. Sie sind historisch selten demokratischen Traditionen verpflichtet; so beteiligte sich beispielsweise die spanische Guardia Civil maßgeblich am Putschversuch in Spanien 1980.

Die EGF besteht zurzeit aus 800 Polizisten, die innerhalb von 30 Tagen eingesetzt werden können. Zu ihrer Verstärkung stehen weitere 2.300 Mann bereit. Die Aufgaben der EGF sind »Missionen zur Aufrechterhaltung öffentlicher Sicherheit und Ordnung«, die auf deren Homepage wie folgt beschreiben werden: „1. Während der ersten Phase erscheint die EGF mit dem Militär zusammen auf dem Schauplatz; 2. Während einer Übergangsphase regeln sie die öffentliche Ordnung (…) zusammen mit den Militärs (…); 3. In der Abzugsphase regeln sie die Übergabe von Aufgaben an zivile Institutionen.“2

Zur Erreichung dieser Einsatzziele gehören u.a. folgende Maßnahmen:

Überwachung im öffentlichen Raum, Informationsbeschaffung

Grenzkontrollen (inkl. Dokumentenprüfung)

Bekämpfung von Kriminalität

Aufstandsbekämpfung »im Falle von Unruhen« (riot control).

Besonders Letzteres ist eine zentrale Motivation für die Aufstellung und den Einsatz der EGF. Die einzelnen Mitglieder der EGF bringen aus ihren nationalen Herkunftsverwendungen bereits Erfahrung im Bereich »Riot control« mit. Diese Erfahrungen werden nun im Rahmen der gemeinsamen Ausbildung, bei Übungen und bei Einsätzen außerhalb der EU perfektioniert. Anschließend werden diese paramilitärischen Polizeikräfte wieder für Einsätze in ihren jeweiligen Herkunftsländern oder auch für gemeinsame Einsätze innerhalb der EU zur Verfügung stehen. Die EGF soll in der Lage sein, zwei Missionen gleichzeitig durchzuführen, in deren Rahmen sie wiederum verschiedene Funktionen parallel wahrnehmen kann.

Die Vertragslage

Im oben bereits erwähnten Vertrag zur Einrichtung der EGF werden die Einsatzmodalitäten, der juristische Rahmen und die Bedingungen für die Aufnahme weiterer paramilitärischer Kräfte aus weitern Staaten geregelt. Wie sehr die Einbindung der EGF in militärische Strukturen Grundlage ihrer Aufstellung ist, wird bereits im Artikel 1 festegelegt: „Der Inhalt des Vertrags ist die Aufstellung einer European Gendarmerie Force, diese soll arbeitsfähig, vororganisiert, robust und schnell einsatzfähig sein, ausschließlich aus Elementen aus Polizeikräften mit militärischem Status bestehen (…)“.

EGF Kräfte können ein breites Spektrum von Aufgaben wahrnehmen, sie können lokale Polizei ersetzen (substitution missions) und damit die Kontrolle von Besatzungsregimen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens etablieren. EGF-Kräfte können aber auch im Rahmen von sogenannten strengthening missions lokale Polizeikräfte unterstützen, ausbilden und in die jeweiligen EGF-Strategien einbeziehen (Artikel 4). EGF-Kräfte können sowohl auf dem Territorium der teilnehmenden Staaten zum Einsatz kommen als auch in Drittstaaten, wobei nicht festgelegt wird, ob diese Drittstaaten innerhalb oder außerhalb der EU sind. Da die EGF (noch) nicht direkt in die Strukturen der ESVP (Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) eingebunden sind, muss die Entscheidung über mögliche Einsätze im Rahmen des CIMIN, eines intergouvernementalen Gremiums, getroffen werden. Es ist davon auszugehen, dass nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon die EGF als strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der EU organisiert werden wird.

Keine reguläre Polizei

Auch reguläre Polizeikräfte in Staaten, die mehr oder weniger als Rechtsstaaten zu bezeichnen sind, tragen gelegentlich mehr zur Gefährdung als zum Schutz der Zivilbevölkerung bei (siehe G8-Proteste in Rostock oder das Agieren der Polizei am Rande der Sicherheitskonferenz in München), dennoch bewegen sich hier Polizisten und Zivilbevölkerung im gleichen Rechtsrahmen. Dadurch können Übergriffe der Polizei wenigstens gelegentlich juristisch geahndet werden und Polizisten müssen diese Möglichkeit bei der Interpretation ihres Auftrags mit berücksichtigen. Bei den meisten Auslandseinsätzen von Polizei ist dieser gleiche Rechtsraum von Zivilisten im Einsatzgebiet und dort agierenden »fremden« Polizisten aber nicht gegeben. Im Vertrag der EGF ist entsprechend festgelegt: „Ein Mitglied des Personals der EUROGENFOR soll bei Angelegenheiten, die mit der Ausübung ihrer offiziellen Pflichten zu tun haben, der Strafverfolgung im Gaststaat nicht unterworfen sein.“ (Artikel 29,3) Durch solche Regelungen werden Übergriffe gegen Zivilisten und Missbrauch von Machtpositionen zwar nicht automatisch zur Selbstverständlichkeit, sie werden jedoch wahrscheinlicher. Wenn Polizei »exportiert« wird, dann wird damit keineswegs automatisch Recht exportiert, und der Einsatz von »Sicherheitskräften« bringt nicht in jedem Fall Sicherheit für die betroffene Bevölkerung.

Deutsche Beteiligung?

Die Frage einer deutschen Beteiligung an der EGF ist nach wie vor offen. Frühere Überlegungen betrafen eine Einbeziehung der Bundespolizei in die EGF. Durch die rigide Formulierung der Aufnahmebedingungen, können jedoch nur „Polizeikräfte mit militärischem Status“ ihre Aufnahme in die EGF beantragen. Zudem gibt es in Deutschland noch eine Reihe juristischer Barrieren. So wurde im »Polizeibrief der alliierten Gouverneure« 1949 festgelegt, „Polizei ist Ländersache“. Ebenfalls geregelt wurde die Trennung von Polizei und Militär sowie die Trennung von Polizei und Geheimdiensten.

Diese Festlegungen waren ein Versuch, Lehren aus den Erfahrungen im Dritten Reich zu ziehen, sie wurden jedoch bald aufgeweicht, besonders auffällig in den letzten Jahren. Die Trennung der Aufgaben von Polizei und Militär wird immer schwieriger, wenn die Bundeswehr im Inneren Polizeiaufgaben wahrnimmt und Polizisten im Ausland paramilitärisch eingesetzt werden. Gemeinsame Dateien von Polizei und Geheimdienst machen die Zusammenarbeit dieser Institutionen im Inneren immer enger, und auch im Auslandseinsatz ist die EGF für Informationsgewinnung und entsprechende Kooperation zuständig. Das ursprüngliche Ziel, staatliche Machtkonzentration bei dann unkontrollierbaren Diensten zu verhindern, wird heute als hinderlich für effektive Sicherheitspolitik betrachtet – im Inneren und im Auslandseinsatz. Die Gesetzesvorlagen, die den unbegrenzten Einsatz deutscher Bundespolizisten im Ausland ermöglichen, liegen bereits in den Schubladen des Innenministeriums. Sie sorgen bei den betroffenen Bundespolizisten zur Zeit für große Unruhe, da diese dann auch gegen ihren Willen ins Ausland abkommandiert werden könnten.

Die Teilnahme deutscher Kräfte an der EGF ist offensichtlich leider noch nicht vom Tisch. Der EGF-Vertrag bietet zudem die Möglichkeit, als Partner akzeptiert zu werden, wenn ein Staat „Kräfte mit militärischem Status und einigen polizeilichen Fähigkeiten“ besitzt. Diese Beschreibung würde etwa eine Kooperation der Feldjäger mit der EGF ermöglichen. Dass die Feldjäger in Afghanistan massiv an der Ausbildung afghanischer Polizisten beteiligt sind und sich damit bereits heute in einem der Aufgabenspektren der EGF betätigen, lässt eine solche Option als möglich erscheinen. Klar ist jedoch die eindeutige Festlegung der EGF auf militärische Fähigkeiten.

Paramilitarisierung der Außenpolitik

Der kritische Jurist Andreas Fischer-Lescano sieht in der Entsendung von Polizisten im Rahmen militärischer Missionen mit militärnahen Aufgaben eine ernst zu nehmende Gefahr für demokratische und völkerrechtliche Errungenschaften. Er kritisiert die bereits stattfindende deutsche Entsendepraxis. Diese „verfängt sich in der Logik der Ununterscheidbarkeit von Kombattanten/Nichtkombattanten (…). Daraus resultiert nicht nur die Gefahr einer zunehmenden Entparlamentarisierung der deutschen Außenpolitik, sondern auch ihrer Paramilitarisierung; kurz: der Schwächung gewalthemmender Errungenschaften in Völker- und Verfassungsrecht.“3 Was hier für Deutschland formuliert wird, gilt verstärkt für die EU-Ebene, auf der parlamentarische Kontrolle von Auslandseinsätzen nahezu ein Fremdwort ist.

Die Integration von polizeilichen Missionen als »zivile« Außenpolitik in militärische Strategien hat mehrere zentrale Vorteile. Dazu gehört die Entlastung militärischer Personalressourcen, die flexiblere Einsatzfähigkeit der Polizeitruppen und nicht zuletzt auch die Entlastung der Militäretats. Der Öffentlichkeit in den Entsendeländern lässt sich ein »ziviler« Polizeieinsatz ebenfalls leichter »verkaufen« als die Entsendung von Soldaten.

Die meisten Auslandseinsätze, an denen EU-Mitglieder mit ihren Soldaten beteiligt sind, haben den Einsatzschwerpunkt im zivilen Umfeld. Dabei nähern sich sowohl die Ausbildung und auch die Praxis des Einsatzes von Militärs, Paramilitärs und Polizisten im Auslandseinsatz (früher oder später auch im Inneren) immer mehr an. Leider ist dabei nicht von einer »Zivilisierung des Militärischen« auszugehen, sondern von einer »Militarisierung des Zivilen«. Die stark militärische Ausgestaltung der EGF steht hier lediglich exemplarisch für das grundsätzliches Problem der zivilmilitärischen Kooperation.

Anmerkungen

1) Statewatch News Online, 22.1.2005

2) Offizielle Internetseite der European Gendamerie Force, Übersetzung CH, URL: http://www.eurogendfor.org/mission_tasks.htm

3) Fischer-Lescano, Andreas: Soldaten sind Polizisten sind Soldaten, in: Kritische Justiz 1/2004

Claudia Haydt ist Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI).

Quo Vadis EU

Quo Vadis EU

von Jürgen Nieth

Am 29. Mai haben die Franzosen in einem Referendum Nein zur
EU-Verfassung gesagt und am 1. Juni die Niederländer. Meinungsumfragen hatten
diese Ergebnisse längst vorausgesagt, überraschen konnte eigentlich nur die
große Zahl der Neinsager. Schon vorher wäre also Zeit gewesen, sich über die
Gründe und über das »wie weiter?« Gedanken zu machen. Stattdessen reduziert
sich die erste Reaktion der Europapolitiker auf ein »weiter so« (siehe Artikel
von Tobias Pflüger: Ein »weiter so« ist ausgeschlossen!, in dieser Ausgabe).
In den deutschen Medien geht es in den ersten Berichten vor allem um die Gründe
für dieses Nein: War es der Zorn auf die eigene Regierung, oder dominierten
»Zukunftsängste«? Nur wenige JournalistInnen gehen auf den Inhalt des
Verfassungsvertrages ein, der hier zur Abstimmung stand und auf die inhaltliche
Kritik, die zur Ablehnung führte.

»Volksbeschimpfungen«

„Zunächst einmal allerdings ist zu sagen, dass die
Franzosen nicht alle Tassen im Schrank haben. Sollen sie ihre Regierung
abwählen, wenn das auf der Tagesordnung steht
! Am Sonntag stand es nicht
auf der Tagesordnung. Am Sonntag ging es um einen Verfassungsvertrag, in dem es
keinen einzigen Punkt gibt, der die Franzosen auf die Barrikaden bringen
könnte. Auf die Barrikaden gegangen sind sie wegen Chirac und der Zumutung
seiner Reformpolitik, wegen eines möglicherweise drohendne Türkei-Beitritts…
und so weiter und so fort.“ (Eckhard Fuhr, Die Welt, 01.06.2005)

„In Frankreich sind 40 Prozent der Wähler antieuropäisch
und antidemokratisch eingestellt. Fabius besorgt den Rest… Der Erfolg des Neins
in Frankreich und das demagogische Abdriften der Sozialisten auf dem Kontinent
zeugt von einem allgemeinen geistig-moralischen Niedergang.“
(André
Glucksmann, Die Welt, 01.06.2005)

Die Regierung trägt Hauptschuld

„Nun hat der Zorn des Volkes, nach einer überzeugenden demokratischen
Debatte und mit einer unglaublich hohen Wahlbeteiligung sein Ventil gefunden.
Die europäische Idee bleibt auf der Strecke und büßt für die Unfähigkeit des
Präsidenten und der politischen Klasse Frankreichs, Antworten zu geben auf die
drängenden Fragen der Menschen.“
(Hans-Helmut Kohl, Frankfurter Rundschau,
30.05.2005)

„Was wollen die Franzosen? Was sie nicht wollen,
haben sei am Sonntag sich und Europa gezeigt. Sie haben eine Verfassung
abgelehnt, aber ihre Regierenden gemeint… Sie haben mehrheitlich ihr Nein in
die Welt gerufen, denn das Nein gegenüber den Mächtigen hat in Frankreich einen
guten Ruf.“ (Gerd Kröncke, Süddeutsche Zeitung, 01.06.2005)

Angst vor der Zukunft

„Die Niederländer haben sich Jahrhunderte lang als
offenes und kosmopolitisches Volk betrachtet. Wie berechtigt dieses Bild war,
ist weniger bedeutsam als seine pure Existenz… Diese Sicht wird seit einiger
Zeit drastisch revidiert. In vielerlei Hinsicht sind die Niederländer längst
dabei, Fenster und Türen gut zu schließen
; die Zugluft ist ihnen lästig
geworden… Es besteht eine besorgniserregende Kluft zwischen dem politischen
Establishment und der Wählerschaft, und diese Kluft heizt das Misstrauen weiter
an, bei europäischen Fragen ganz besonders.“ (Michael Zeemann in der FAZ 03.06.2005)

„Das Volk ist nicht so blöd, wie seine gewählten
Vertreter gelegentlich meinen… die frühere Begeisterung für Europa (wird) von
immer mehr Ängsten überlagert. Vor allem dort, wo schwächelnde Konjunktur und
Arbeitslosigkeit den Alltag beherrschen. Bei Einführung des Euro war den
Menschen ein europäisches Wirtschaftswunder versprochen worden. Es hat nicht
stattgefunden. Warum sollten die Niederländer nun den neuen Verheißungen
glauben
?“ (Jörg Beckmann, Frankfurter Rundschau, 02.06.2005)

Votum für ein sozialeres Europa

„Es war ein historischer Fehler der regierenden
europäischen Linken dieser EU-Verfassung auf der Spitzenebene zuzustimmen. Doch
noch fataler wäre es, das Monopol der Kritik am Marktliberalismus den
Nationalisten und Rechtsextremen zu überlassen. Die französische Linke hat in
den vergangenen Monaten bewiesen, dass das auch anders geht. Damit hat sie die
EU einen großen Sprung voran gebracht.“
(Dorothea Hahn in der taz,
31.05.2005)

„Mit seinem deutlichen Nein zum europäischen
Verfassungsvertrag hat das rebellische Frankreich seiner Tradition als
»politischer Nation par ecellence« alle Ehre gemacht. Es hat den alten
Kontinent wachgerüttelt, den Völkern neue Hoffnung gegeben und die Eliten
verstört. Es knüpft an seinen »historischen« Auftrag an und beweist durch den
Mut seiner Bürger, dass es sehr wohl möglich ist, sich angeblichen
wirtschaftlichen und politischen Sachzwängen zu entziehen. Dieses Nein stoppt
den ultraliberalen Anlauf, überall in der Welt… ein einheitliches
Wirtschaftsmodell durchzusetzen… Diese Votum war nicht nationalistisch
motiviert, sondern mehrheitlich ein proeuropäisches Votum“
(Ignacio
Ramonet, Le Monde diplomatique, Juni 2005)

Wie weiter nach dem Nein?

„Die dritte mögliche Antwort auf die Frage »Was nun
wäre die für Europa kurzfristig ungünstigste, langfristig aber vielleicht
tragfähigste: Nach mehreren verlorenen Referenden würde die EU zunächst
in Stagnation verfallen, weil die EU der 25 oder mehr Mitgliedstaaten auf dem
Status quo des Nizzaer Vertrags nicht gut funktionieren kann. Einziger
Lichtblick dieses Worst-Case-Szenarios: Alle EU-Staaten, auch solche,
die keine Referenden kennen, müssten in einen radikal neuen, offenen und für
die Wünsche und Ängste der Menschen empfänglichen Dialog mit ihren Bürgern
eintreten, um wieder Akzeptanz für dieses friedens- und wohlstandssichernde,
dieses unverzichtbare Europa zu schaffen. So betrachtet, könnte das
französische Non ein Weckruf für Europa sein!“ (Gisela
Müller-Brandeck-Bocquet, Süddeutsche Zeitung, 02.06.2005)

„Es wäre fatal, die EU-Regierungschefs machten jetzt
einfach weiter wie bisher…Mehr denn je, wird man sich an eine Europäische Union
gewöhnen müssen, in der sich Staaten mit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit
fortbewegen, mal allein, mal in kleinen Gruppen… Das Europa der 25 wird
zwangsläufig ein Bund offener Staaten sein – und eine Gemeinschaft der Bürger,
auf die ihre Eliten größere Rück­sicht nehmen müssen. Für diese Weichenstellung
braucht man einsichtige, tatkräftige Staatschefs. Schröder, Chirac, Blair und
Berlusconi fehlt dafür die Kraft.“
(Martin Klingst, Die Zeit, 02.06.2005)

EU-Verhaltenskodex für Rüstungsexporte

EU-Verhaltenskodex für Rüstungsexporte

(K)eine Antwort auf die Kleinwaffenproblematik?

von Sibylle Bauer

Während der letzten Jahre findet der Problemkomplex Kleinwaffen bei Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Akademikern und Politikern zunehmend Beachtung. Die Bandbreite der NGOs, die inzwischen zu verschiedenen Aspekten dieses Themas arbeiten, umfaßt u. a. die Bereiche Menschenrechte, Entwicklung, humanitäre Hilfe sowie Frieden und Abrüstung. Seit etwa einem Jahr nimmt auch die Vernetzung und Koordinierung der Aktivitäten deutlich zu, so daß sogar von einer im Entstehen begriffenen Kleinwaffenkampagne gesprochen wird. In dem Beitrag von Sibylle Bauer geht es um eine dieser Initiativen, konkret um den am 25.5.1998 von den EU-Außenministern beschlossenen EU-Verhaltenskodex für Rüstungsexporte. Ein solcher Kodex gehört als Möglichkeit zur Einschränkung und besseren Kontrolle von Kleinwaffenexporten seit Langem zu den Standardforderungen vieler NGOs.

Es ist zum Allgemeinplatz geworden, daß heute primär oder ausschließlich Kleinwaffen1 in gewaltsamen Konflikten eingesetzt werden. Diese Waffen sind billig, lange funktionsfähig, im Übermaß verfügbar, leicht zu handhaben (auch von Kindern), leicht zu transportieren und erfordern wenig Wartung. Auswirkungen der Proliferation von Kleinwaffen sind inzwischen weithin anerkannt: die Verlängerung gewaltsamer Konflikte, Menschenrechtsverletzungen, humanitäre Krisen, sie erschweren die Suche nach gewaltfreier Konfliktlösung etc. Weitaus langsamer als das Ausmaß an Wissenszuwachs und politischer Rhetorik ist jedoch die Einleitung konkreter Schritte zur Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse fortgeschritten. Die Komplexität der Kleinwaffenproblematik und die spezifischen Charakteristika der Angebots- und Nachfrageseite, der innenpolitischen, regionalen und internationalen Dimensionen und des legalen und illegalen Handels erfordert ein breites Spektrum an Konzepten und Programmen zur Problemlösung. In den letzten Jahren gibt es eine Reihe neuer politischer Initiativen im Bereich der konventionellen Rüstungskontrolle, in deren Folge auch der von den EU-Außenministern beschlossene Verhaltenskodex für Rüstungsexporte gesehen werden kann. Doch welche praktische Bedeutung hat dieser Kodex für die Kleinwaffenproblematik wirklich?

Grundzüge des EU-Verhaltenskodexes

1991/92 hat der EU-Ministerrat erstmals acht gemeinsame Kriterien für Rüstungsexporte beschlossen, die jedoch völlig unverbindlich und äußerst vage formuliert sind. Auf Grundlage dieser Kriterien erarbeitete eine Gruppe britischer NGOs einen Entwurf für einen EU-Verhaltenskodex.2 Dieser besteht aus einer detaillierten Interpretation der acht Kriterien und einer Reihe zusätzlicher Maßnahmen, v.a. im Bereich der parlamentarischen Kontrolle und öffentlichen Transparenz von Rüstungsexporten. Hinter der NGO-Initiative steht somit das Bestreben, angesichts der zunehmenden Europäisierung der Rüstungsindustrie und des Wegfalls der Binnengrenzen, eine Aushebelung restriktiverer nationaler Rüstungsexportkontrollen zu verhindern. Gemeinsame europäische Rüstungsexportrichtlinien auf hohem Niveau sollen zur Verhinderung gewaltsamer Konflikte, zur Beachtung der Menschenrechte und zur Förderung nachhaltiger Entwicklung beitragen.

Seit Februar 1998 wird im zuständigen Gremium des EU-Ministerrats, der Arbeitsgruppe für konventionelle Waffen (COARM), konkret über einen Verhaltenskodex verhandelt.3 Das schließlich Anfang Juni 1998 verabschiedete Dokument besteht, neben einer Präambel, aus zwei Teilen: einer expliziten Formulierung der »Acht Kriterien« von 1991/92 und einer Reihe von operativen Maßnahmen. Die Kriterien umfassen folgende Punkte:

  • Die Einhaltung der internationalen Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten (Rüstungskontrollabkommen, Embargos etc.).
  • Die Achtung der Menschenrechte.
  • Die innere Lage im Endbestimmungsland, als Ergebnis von Spannungen oder bewaffneter Konflikte.
  • Erhalt von Frieden, Sicherheit und Stabilität in einer Region.
  • Die nationale Sicherheit der Mitgliedsstaaten sowie der befreundeten und verbündeten Länder.
  • Das Verhalten des Käuferlandes gegenüber der internationalen Gemeinschaft (Haltung zum Terrorismus, Einhaltung des Völkerrechts etc.).
  • Das Risiko der Umleitung der Ausrüstung im Käuferland oder der Wiederausfuhr unter unerwünschten Bedingungen.
  • Die Vereinbarkeit der Rüstungsexporte mit der technischen und wirtschaftlichen Kapazität des Empfängerlandes.

Die operativen Bestimmungen enthalten u.a. ein Verfahren zur Unterrichtung über abgelehnte Exporte und die jeweiligen Ablehnungsgründe. Wenn ein Mitgliedsstaat beabsichtigt, die Genehmigungsverweigerung eines anderen Staates zu unterlaufen (undercutting), sollen bilaterale Konsultationen stattfinden. Die Ausfuhr kann durch einen anderen EU-Staat letztendlich dennoch erfolgen, muß aber begründet werden. Darüber hinaus ist die Erstellung vertraulicher nationaler Berichte über Rüstungsexporte sowie die Umsetzung des Kodexes vorgesehen. Im Rahmen eines jährlichen Treffens auf intergouvernementaler Ebene sollen die Berichte wie auch Nachbesserungsvorschläge für den Kodex diskutiert werden.

Relevanz des EU-Verhaltenskodexes für Kleinwaffentransfers

Ein EU-Verhaltenskodex kann sich per Definition nur auf einen Aspekt der Kleinwaffenproblematik auswirken: legale Transfers aus den EU-Mitgliedsstaaten. Das Ausmaß des illegalen Waffenhandels ist beträchtlich, genauere Angaben sind aufgrund der Natur der Sache nicht möglich. Hinzu kommt die leichte Verfügbarkeit von Kleinwaffen. Da diese bereits in Massen vorhanden und lange funktionsfähig sind, würde selbst ein Produktionsstop keine schnelle Lösung darstellen. Die Zahl der Anbieter ist zudem ungleich höher als bei schwereren Waffen, so daß sich bei Exportverweigerung eines EU-Staates problemlos ein anderer Anbieter mit weniger strengen Exportkontrollen finden lassen dürfte. Viele Lizenzen für die Produktion von Kleinwaffen wurden – u.a. von der Bundesrepublik – schon vor Jahrzehnten auch an Entwicklungsländer vergeben. So werden z.B. Heckler und Koch Gewehre heute in einer ganzen Reihe von Staaten in Lizenz produziert. Letztendlich ist ein Exportkodex auf den Angebotsaspekt beschränkt. Dies macht deutlich, daß von Seiten der EU-Staaten eine ganze Bandbreite von Maßnahmen beschlossen bzw. wenn sie beschlossen wurden, auch umgesetzt werden müssen.4

Die praktische Relevanz des EU-Kodexes in seiner gegenwärtigen Form ist jedoch nicht nur durch die aufgeführten inhärenten Grenzen beeinträchtigt – theoretisch könnte er weitaus mehr leisten. Aufgrund der unterschiedlichen Interessenlagen und Traditionen in den EU-Mitgliedsstaaten ist auf Basis des Konsensprinzips innerhalb der »Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik« (GASP) ein Dokument voller Schlupflöcher entstanden. Es fehlen genau die Elemente und Formulierungen, welche die Vereinbarung zu einem effektiven Instrument restriktiver Rüstungsexportpolitik machen würden.5 Die vielen Schwächen zeigen, daß der Kodex weder verbindlich, restriktiv, überprüfbar, noch umfassend ist.

Rechtliche Verbindlichkeit

Der Kodex ist eine Erklärung des Rates. Sie ist rechtlich nicht verbindlich. Verzichtet wird auf die Verabschiedung als politisch verbindlichere »gemeinsame Position«. Es bestehen keine Sanktionsmechanismen im Falle einer Nichteinhaltung des Kodexes.

Überprüfbare restriktive Kriterien

Die Erläuterungen lassen noch immer einen beträchtlichen Spielraum für Interpretation und Anwendung. Es wird zwar eine Reihe von Faktoren benannt, die bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden müssen, doch welche Konsequenzen für die Vergabe von Exportlizenzen konkret gezogen werden, können letztlich die jeweiligen nationalen Behörden entscheiden. Dies ist um so problematischer, weil unzureichende Transparenzmechanismen vereinbart wurden. Diese verhindern die Überprüfung, inwiefern die Interpretationsspielräume tatsächlich ausgenutzt werden. Der v.a. von Schweden unterstützte Vorschlag, die Umsetzung der Kriterien parlamentarischer und öffentlicher Kritik auszusetzen, hat keinen Konsens gefunden.

NGOs kritisieren zudem eine Reihe von Schlupflöchern, beispielsweise in den Menschenrechtskriterien. Diese sind von besonderer Bedeutung für Kleinwaffen, die häufiger zu Menschenrechtsverletzungen und gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden als z.B. Kriegsschiffe. Nur „wenn eindeutig das Risiko besteht“ , daß die gelieferten Güter zur „internen Repression“ verwendet werden, darf keine Exportgenehmigung erteilt werden. Auch Rüstungsexporte an Staaten, in denen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begangen werden, sind weiterhin erlaubt, nur soll bei der Erteilung von Exportgenehmigungen „besondere Vorsicht und Wachsamkeit“ ausgeübt werden.

Parlamentarische Kontrolle und öffentliche Transparenz

Der Kodex sieht keinerlei Beteiligung von Legislative und Öffentlichkeit vor, weder beim vorgesehenen Informationsaustausch noch bei der Überprüfung und möglichen Verbesserung des Kodexes. Der einzige explizite Bezug auf Transparenz ist sehr unverbindlich: die „Verstärkung des Austausches relevanter Informationen mit dem Ziel, größere Transparenz zu erreichen.“ Damit wird Transparenz lediglich als Zukunftsziel benannt, für die Gegenwart aber offensichtlich abgelehnt.

Transparenz in bezug auf Vergabe und Verweigerung von Exportlizenzen ist jedoch die Voraussetzung für eine parlamentarische und öffentliche Diskussion. Eine parlamentarische Kontrolle über Rüstungsexporte ist zudem nur durch eine Vorabinformation möglich, wie dies in Schweden und den USA praktiziert wird. Derartige Regelungen wären insbesondere in Deutschland von Bedeutung, da hier das Demokratiedefizit in bezug auf den Rüstungsbereich besonders stark ausgeprägt ist. So legt die Bundesregierung dem Parlament nicht einmal einen jährlichen Bericht über Rüstungstransfers vor, wie dies (mit sehr unterschiedlicher Aussagekraft) in den meisten EU-Staaten der Fall ist bzw. angekündigt wurde. Parlament und Öffentlichkeit erhalten über deutsche Rüstungsexporte bislang nur Auskunft, wenn eine der Bundestagsfraktionen eine entsprechende Anfrage an die Regierung stellt. Oft mangelt es den Antworten der Bundesregierung dann aber auch noch an konkreten Angaben über Empfänger und gelieferte Waren, da solche Angaben nach deutschem Recht Geschäftsgeheimnis der Firmen sind. Details über den Export von Kleinwaffen s<2>ind daraus nicht erschließbar.<0>

<2>Mit dem EU-Kodex muß die Bundesregierung erstmals einen Rüstungsexportbericht erstellen. Offen ist jedoch, ob der deutsche Bericht öffentlich gemach<0>t und damit auch vom Bundestag bzw. in den zuständigen Ausschüssen debattiert werden wird. Offen ist auch, inwieweit der Bericht über die begrenzten Mitteilungen an das UN-Waffenregister6 hinausgehen wird. Das Register umfaßt lediglich sieben Kategorien größerer konventioneller Waffen, aber keine Kleinwaffen. Transparenz im Kleinwaffenbereich ist allgemein noch geringer als bei schwere<2>re<0>n Waffen. Weder regierungsamtliche Berichte noch Statistiken der Forschungsinstitute SIPRI und IISS enthalten entsprechende (detaillierte) Angaben.

Intergouvernementale Transparenz

Über die Schlüsselfrage, den Inhalt und damit die Aussagekraft der vorgesehenen nationalen Berichte konnte keine Einigung erzielt werden. Nationale Berichte enthalten bisher eher lückenhafte oder gar keine detaillierten Informationen über Stückzahlen, Kategorie und Typ der gelieferten Waffen, ihre Empfänger, den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses und der tatsächlichen Lieferung, die Finanzierungsbedingungen/Bürgschaften etc. Keiner der EU-Staaten stellt bisher aussagekräftige Angaben zu Kleinwaffen zur Verfügung.

Umfassende multilaterale Konsultationsmechanismen

Das vorgesehene Notifikationsverfahren über das Unterlaufen von Genehmigungsverweigerungen stellt eine bemerkenswerte Neuerung dar. Nur umfassende Konsultationsmechanismen auf der Basis restriktiver Kriterien können jedoch das altbekannte Argument entwerten: „Wenn wir nicht liefern, liefern die anderen.“ Um zu verhindern, daß der Kodex national unterschiedlich umgesetzt wird und insbesondere sensitive Exporte unbemerkt vonstatten gehen, sind rechtzeitige Information und Konsultationen zwischen allen Mitgliedsstaaten über Ablehnung sowie Genehmigung von Ausfuhranträgen erforderlich. Zudem fehlt die Festlegung einer Frist für die Notifikation über Exportverweigerungen. Die Regelung kann also durch rasches Beantragen einer Genehmigung in einem anderen EU-Mitgliedsstaat möglicherweise unbemerkt umgangen werden. Ferner basieren die Angaben bis zur Einigung auf gemeinsamen Kontrollisten auf unterschiedlichen nationalen Listen. Nicht nur der öffentliche Zugang zu relevanten Daten, sondern auch der vertrauliche Informationsaustausch zwischen den Regierungen ist somit sehr begrenzt.

Gemeinsame Kontrollisten

Bisher kann auch keine Einigung darüber erzielt werden, auf welche Rüstungsgüter der Kodex Anwendung finden soll. Vor allem Frankreich, der Hauptgegner eines effektiven Kodex, spricht sich gegen eine Verwendung der relativ umfassenden Wassenaar-Liste aus. Deshalb wird bis zu einer möglichen späteren Einigung innerhalb von COARM auf die jeweiligen, mehr oder weniger lückenhaften, nationalen Kontrollisten zurückgegriffen. NGOs fordern, daß gemeinsame Listen alle Rüstungsgüter umfassen (inklusive Kleinwaffen, Munition, Ausrüstungs- und Ausbildungshilfen) sowie für Militär, paramilitärische Gruppen und Polizei bestimmte Dual-Use-Güter und ausdrücklich auch auf Lizenzproduktion zutreffen. Zudem soll eine Liste von Rüstungsgütern bzw. Unterdrückungstechnologie vereinbart werden, deren Export verboten ist, wie z.B. Landminen und Elektroschlagstöcke.7 Eine derartige Liste wird gegenwärtig in EU-Kommission und Rat diskutiert.

Wichtige Fragen blieben ausgeklammert

Folgende Elemente wurden in den Verhandlungen nicht einmal als Optionen eingebracht:

Wirksame Endverbleibskontrollen und Verbot des ungenehmigten Weiterexports

Vereinbarungen über den Endverbleib der Exporte sollen rechtlich verbindlich sein und deren Einhaltung durch Verifikationsmechanismen überprüft werden. Darüber hinaus soll vertraglich festgeschrieben werden, daß ein Weiterexport ohne Genehmigung des Lieferlandes ausgeschlossen ist – auch dann, wenn die Waffen nach jahrelanger Benutzung als Überschuß weiterverkauft oder auch verschenkt werden sollen. Der Endverbleib von Kleinwaffen ist besonders wichtig, aber schwerer verifizierbar. Aufgrund ihrer langen »Lebensdauer« und hohen »Mobilität« sind Kleinwaffen auch nach Beendigung von gewaltsamen Konflikten jahrzehntelang einsetzbar und werden häufig von einem Krisengebiet zum nächsten transferiert. In diesem Zusammenhang sind auch verstärkte Bemühungen sinnvoll, die Traceability von Waffen, d.h. die Verfolgbarkeit der Wege, durch Maßnahmen zu erhöhen, die v.a. in Zusammenhang mit Initiativen zur Bekämpfung des illegalen Waffenhandels diskutiert werden. Ein Weg könnte z.B. in der Verbesserung von Markierungen und Registrierungen von Waffen bestehen.

Kontrollmechanismen für die Weitervermittlung von Waffengeschäften

Die Problematik der Weitervermittlung von Waffengeschäften (Brokering) ist durch den Skandal um die Beteiligung der britischen Söldnerfirma »Sandline International« an Lieferungen von Kleinwaffen von Bulgarien nach Sierra Leone in die öffentliche Debatte geraten. Die Kontrolle der Vermittlung von Rüstungsgeschäften durch Einzelpersonen oder Firmen innerhalb der EU ist unzureichend. Entsprechende Vorschläge von NGOs sind die Einrichtung eines EU-weiten Registers für Waffenhändler und die Einführung einer Genehmigungspflicht für derartige Waffengeschäfte.

Ausblick

Der Kodex könnte eine Reihe von Lösungsansätzen zur effektiven Kontrolle und Beschränkung von Kleinwaffenexporten aus der EU beinhalten, insbesondere in bezug auf die dringend erforderliche Transparenz. In seiner gegenwärtigen Fassung stellt der Kodex jedoch lediglich ein Rahmenwerk dar, in dem die wesentlichen Schlüsselelemente fehlen. Es ist anzunehmen, daß er eher deklarativen Charakter als substantiellen Einfluß auf Umfang und Empfänger von EU-Rüstungsexporten haben wird. Doch zumindest macht die vorgesehene jährliche Überarbeitung diesen Themenkomplex zu einem regelmäßigen Tagesordnungspunkt des Rates. Es gilt nun, das Potential des Dokuments möglichst frühzeitig für eine kontinuierliche Fortschreibung im Sinne restriktiver, transparenter und effektiver Rüstungsexportkontrollen der EU-Staaten zu nutzen. Die Überprüfungsnotwendigkeit bezieht sich zum einen auf allgemeine Schwächen des Kodexes, die auch auf Kleinwaffen zutreffen, zum anderen auf kleinwaffenspezifische Maßnahmen. Zu letzteren gehört z.B. die Transparenz der Wege durch entsprechende Markierungen, ein bisher vernachlässigter Bereich. Auch ist noch vor einer Überprüfungskonferenz zu klären, ob gemeinsame Kontroll-Listen die volle Bandbreite an Rüstungsgütern, inklusive Polizeiausrüstung enthalten werden und ob die EU-Regierungen in den zu verfassenden Berichten erstmals detaillierte Angaben zu Kleinwaffentransfers zur Verfügung stellen müssen. Erstmals nachgebessert werden kann der Kodex im Juni 1999, während der deutschen EU-Präsidentschaft. Die Bundesregierung ist im Rahmen der UNO positiv als Initiator von Resolutionen und Unterstützer von Initiativen im Kleinwaffenbereich aufgetreten. Es wird sich zeigen, ob sie diese Vorreiterrolle auch im Rahmen der Entwicklung des EU-Kodexes einnehmen wird.

Anmerkungen

1 Es gibt unterschiedliche definitorische Abgrenzungen des Begriffs Kleinwaffen. In diesem Artikel wird auf folgende häufig verwendete, relativ anschauliche Erläuterung zurückgegriffen: Alle Waffen, die von ein oder zwei Personen oder einem leichten Fahrzeug transportiert werden können, sowie Munition. Zurück

2 British American Security Information Council, BASIC, Saferworld und World Development Movement, WDM, A European Code of Conduct on the Arms Trade, Januar 1995. Zurück

3 Zum Verhandlungsprozeß und den nationalen Positionen vgl. ami, Berlin, Juli 1998. Zurück

4 Vgl. z.B. Owen Greene, Tackling light weapons proliferation: Issues and priorities for the EU, Saferworld Report, London, April 1997. Zurück

5 Vgl. z.B. Amnesty International, BASIC, Oxfam and Saferworld: Proposals for an Effective Code of Conduct on the Arms Trade, London, Februar 1998; Eurostep, Position Paper on Arms Exports Control, Brussels 1998, Amnesty International, BASIC, Christian Aid, Oxfam, Saferworld, WDM, The EU Code of Conduct on the Arms Trade: Final Analysis, London, 5 June 1998. Zurück

6 Vgl. http://www.un.org/Depts/dda/Register/Register.htm. Zurück

7 Vgl. Amnesty International et.al. 1998. Zurück

Sibylle Bauer ist Mitarbeiterin bei ISIS Europe (International Security Information Service, Brüssel), einer unabhängigen Nichtregierungsorganisation, deren Ziel darin besteht, die parlamentarische Kontrolle im Sicherheits- und Verteidigungsbereich durch die Bereitstellung von Dokumenten, Hintergrundinformationen und Analysen zu verbessern.

Für eine zivile Außenpolitik der EU

Für eine zivile Außenpolitik der EU

von Martina Fischer

Mit Maastricht II steht die EU an einer Wegscheide. Sie kann die Weichen stellen für die Errichtung einer »Europäischen Friedensordnung«, die sich als Etappe auf dem Weg zur internationalen Zivilgesellschaft versteht, als Ergebnis einer Politik, die sich im regionalen Verbund für deren Schaffung einsetzt. Der EU kommt, da sie den wirtschaftlich wohlhabenden Teil Europas repräsentiert, dabei eine besondere Verantwortung zu. Diese Vision macht jedoch ein radikales Umdenken nötig, denn sie steht in Abgrenzung zu der Vorstellung von einem Europa, das sich durch politische, ökonomische und militärische Stärke gegenüber anderen Mächten behaupten will und/oder Wirtschaftsinteressen und Einflußsphären notfalls mit militärischer Gewalt sichern muß.

Mit der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrags haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union 1991 beschlossen, ihre Außenpolitik im Rahmen einer »Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP) stärker miteinander abzustimmen. Als Ziele werden im Vertrag zuerst „die Wahrung der gemeinsamen Werte, der grundlegenden Interessen und der Unabhängigkeit“ sowie „die Stärkung der Sicherheit der Union und ihrer Mitgliedstaaten“ genannt. Erst nachfolgend ist von der Förderung von Frieden, Demokratie und Menschenrechten die Rede.

Bei der 1996 begonnenen Regierungskonferenz zur Revision des Maastricht-Vertrags nimmt die Gestaltung der GASP neben wirtschaftlichen Problemen breiten Raum ein. Im Mittelpunkt steht die Frage, mit welchen Mechanismen und Verfahren »Handlungsfähigkeit« der EU nach außen hergestellt werden kann und auf welche Weise sie ihre Beschlüsse fassen soll.1 Auf verschiedenen Ebenen der EU wurde außerdem darüber nachgedacht, wie der GASP mehr Profil hinsichtlich eines abgestimmten Vorgehens zur Vorbeugung und Eindämmung von Krisen verliehen werden kann und wie die Kapazitäten im Bereich der präventiven Diplomatie gestärkt werden können. Das EP hatte in einer Entschließung vom 14.6.1995 angeregt, ein »Zentrum zur Erforschung und aktiven Verhütung von Krisen« bei der Kommission einzurichten2 und die Etablierung eines »European Civil Peace Corps« (ECPC) auf europäischer Ebene befürwortet.3 Im Zuge der Regierungskonferenz hingegen wird in Abkehr von der Parlamentsempfehlung die Einrichtung einer »Planungs- und Analyseeinheit« auf Ratsebene erwogen.

Herstellung von »Effizienz« bestimmt als Anspruch das Geschehen bei der Regierungskonferenz. Die Zielsetzung, mehr Effizienz zu schaffen, ist an sich durchaus zu befürworten, jedoch betrifft sie zunächst nur die Form und nicht den Inhalt. Aus friedenspolitischer Perspektive ist das Plädoyer für Handlungsfähigkeit und Effizienz nur dann zu unterstützen, wenn es um eine zivile Gestaltung der Außenpolitik der EU geht, wenn auf die Einbeziehung militärischer Komponenten in die Gemeinschaftsaufgaben verzichtet wird und wenn die zur Schaffung von Effizienz anvisierten Strukturen gleichzeitig für einen Zuwachs an Trans-parenz und demokratischer Legitimation bürgen. Im Verlauf der Regierungskonferenz zeichnet sich ab, daß für die Gestaltung einer zivilen Außenpolitik von Maastricht II kaum etwas zu erwarten und daß im Hinblick auf »Demokratie« und »Transparenz« eher ein Verlust als ein Gewinn zu befürchten ist.

Tendenzen zur Militarisierung und Verluste an Demokratie und Transparenz

Auch wenn es weiterhin Widersprüche und Interessensunterschiede der Mitgliedstaaten gibt, so zeichnen sich doch deutliche Tendenzen zur Militarisierung der EU ab: Durch eine enge institutionelle Verbindung mit der EU soll der Europäische Rat die WEU mit militärischen Missionen beauftragen können. Die sogenannten Petersberg-Aufgaben, welche die Interventionsaufgaben der WEU bis hin zu Kampfeinsätzen zur Friedenserzwingung enthalten, sollen in Form eines Protokolls in den EU-Vertrag aufgenommen werden, und die WEU soll folglich ohne Mandat von UNO oder OSZE agieren können.

Für friedenspolitisch engagierte ZeitgenossInnen steht weiterhin die Frage im Raum: Wozu benötigt man Beschlüsse nach dem Muster der Petersberg-Erklärung? Sie werden weder zur Verteidigung ihrer Mitgliedstaaten noch zur Mitwirkung an Zwangsmaßnahmen der UN (ob man diese befürwortet oder nicht, sei dahingestellt) von der WEU oder der NATO benötigt. All diese Fälle sind längst in der UN-Charta oder in Bündnisverträgen geregelt. Die Vermutung liegt daher nahe: „Die Militärallianzen brauchen eine solche Generalvollmacht zur Kriegführung nur, wenn sie an den Vereinten Nationen vorbei aus eigenem Entschluß militärisch gegen Staaten einschreiten wollen, die keinem ihrer Mitglieder gegenüber eine Angriffshandlung begangen haben. Wollen sie das denn? Und mit welcher Begründung?“ (Mutz 1996: 101).

Dem im Maastricht-Vertrag postulierten Ziel, zur Wahrung von Frieden, Demokratie und Menschenrechten beizutragen, laufen zunächst die derzeitigen Umrüstungsbestrebungen in den EU-Mitgliedstaaten elementar zuwider: Die wenigen Initiativen zur Rüstungs- bzw. Exportkontrolle sind als zwiespältig zu bewerten; statt radikaler Abrüstung ist eine Weiterentwicklung atomarer Waffen und eine Perfektionierung konventioneller Rüstungstechnik für die Schlachtfelder der Zukunft zu beobachten; Systemen »kollektiver Sicherheit« (UNO und OSZE) wird bei gleichzeitiger Aufwertung von Systemen »kollektiver Verteidigung« wie der NATO, in deren Abhängigkeit die WEU agiert, eine Absage erteilt.

Weiterhin hat Militärlogik in den vergangenen Jahren auch im EU-offiziellen Diskurs insgesamt an Terrain gewonnen. Das betrifft auch die Ebene des Europäischen Parlaments (siehe dazu auch Fischer 1996). Nahezu alle Berichte und Entschließungen, die das EP seit Anfang der neunziger Jahre verabschiedete, enthalten Hinweise auf die angebliche Notwendigkeit, die EU gegen nichtmilitärische Risiken und Instabilitäten zu wappnen. Die Forderung von Friedensforschung und -bewegung nach Ausweitung des militärischen Sicherheitsbegriffs wurde also absorbiert und gegen diese selbst gekehrt.

Bilanz der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik

Die Bilanz der bisherigen GASP läßt den Schluß zu, daß zahlreiche Mitgliedstaaten der EU sich bislang primär auf die im Maastricht-Vertrag zuvorderst genannten gemeinschaftliche Ziele – Wahrung der „grundlegenden Interessen der Mitgliedstaaten“ und weniger auf die Sicherung von Frieden, Demokratie und Menschenrechten ausgerichtet haben. Das zeigte sich bei der fatalen, konfliktverschärfenden und an nationalen Einflußinteressen orientierten Allianzpolitik der westeuropäischen Regierungen im Umgang mit den kriegführenden Parteien im ehemaligen Jugoslawien, aber auch in einem ambivalenten Umgang der EU-Staaten mit den angrenzenden Regionen und der Gestaltung ihrer Beziehungen mit der dritten Welt (vgl. Fischer 1996: 12ff). Es ist zu befürchten, daß sich diese Tendenz mit Maastricht II sogar noch verstärken könnte. Damit würde die EU den gegenwärtigen internationalen Herausforderungen, nämlich zur Eindämmung der Krisen beizutragen, die sich weltweit und auch in unmittelbarer Umgebung der EU nach jahrzehntelanger Unterdrückung zunehmend in (Bürger-)Kriegen entladen.

Neben zwischenstaatliche Auseinandersetzungen treten vermehrt solche, in denen sich inner- und zwischenstaatliche Konflikte vermischen. Es steht die Frage im Raum, was seitens der EU getan werden kann, um Gewalteskalation und Menschenrechtsverletzungen vorzubeugen und Einhalt zu gebieten. Die Herausforderung besteht in der Verwirklichung einer »internationalen Zivilgesellschaft« im Sinne einer Weltgesellschaft, die nicht die Verteidigung bestehender Hierarchien, Privilegien und Wohlstandsgefälle betreibt, sondern im Sinne des Ausgleichs von Lebenschancen, von nachhaltiger Entwicklung und von nichtmilitärischen Formen der Konfliktbearbeitung gestaltet wird.

Wenn man ernsthaft nach Handlungsoptionen sucht, wie die EU zur Prävention und Eindämmung von Gewalt beitragen kann, so muß man den engen Blickwinkel auf die GASP, die uns als offizielles Konstrukt mit Maastricht I im Rahmen einer fragwürdigen »Säulenstruktur« vorgegeben wurde, überwinden. Alle drei Säulen der EU-Politik haben außenpolitische Implikationen, nicht nur die GASP, sondern auch die Innen- und Justizpolitik sowie die Agrar- und Außenhandelspolitik. Unabdingbare Voraussetzung für konfliktpräventive und zivile Außenpolitik ist eine stärkere Verbindung der bisher voneinander getrennten Säulen in den Außenbeziehungen.

Friedenspolitische Herausforderungen für die EU

Um Gewalt und Krieg im Umgang mit zwischen- und innerstaatlichen Konflikten in der Welt vorzubeugen, bedarf es in erster Linie der Bewältigung ihrer Ursachen. Konfliktursachen bilden häufig Armut und Mangel an Entwicklungsperspektiven und soziale Ungleichheit. Erst in zweiter Linie kommen meist im Verlauf von Eskalationsprozessen und konfliktverschärfend kulturelle, religiöse und ethnische Konfliktpotentiale ins Spiel. Darüber hinaus gibt es Anzeichen dafür, daß in vielen Teilen der Welt Gewalt auch aus der Dynamik der westlichen industriellen Metropolen entspringt, von denen ein Anpassungsdruck ausgeht, der die Menschen überfordert und in Kämpfe zur Wahrung ihrer Identität treibt (vgl. dazu ausführlicher Siegelberg 1994).

Wenn man ernsthaft an einer Überwindung von Konfliktursachen interessiert ist, kommt man um eine Neukonzeption von Entwicklungspolitik und von Außenhandelspolitik nicht umhin. Diese Politikbereiche aber sind gar nicht Gegenstand der Regierungskonferenz der EU – allen Forderungen entwicklungspolitischer NGOs zum Trotz. Diese forderten immer wieder erfolglos, dieses Politikfeld in die Agenda für Maastricht II mit aufzunehmen und Artikel 113 auf den Handel mit Waren und Dienstleistungen auszudehnen. Als Voraussetzung dafür, daß eine für die Dritte Welt günstigere Handelspolitik auf den Weg gebracht werden kann, erachten sie die Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten, den zunehmenden Verarmungsprozessen im Zuge globaler Liberalisierung der Märkte auf Betreiben transnationaler Unternehmen politisch entgegenzuwirken.

Konfliktprävention durch die gerechte Gestaltung von Handelsbeziehungen

Der effektivste Beitrag zur Konfliktprävention und Eindämmung würde von den westlichen Industriestaaten und damit auch von Staatenorganisationen wie der EU dadurch geleistet werden, daß durch die gerechtere Gestaltung von Handelsbeziehungen einerseits sowie durch aktive Hilfemaßnahmen in den konfliktträchtigen Regionen andererseits wirkliche Entwicklungsprozesse angeschoben werden, welche Voraussetzungen für Prozesse gesellschaftlicher Zivilisierung (Demokratisierung, politische Partizipation, soziale Gerechtigkeit, ökologisches Wirtschaften) schaffen. Es ist also auch danach zu fragen, wie die von den industriellen Metropolen ausgehende Dynamik „dahingehend beeinflußt werden kann, daß sie friedensverträgliche Züge annimmt und die Grundbedürfnisse nach Überleben, Wohlfahrt, Gerechtigkeit, Identität und Ausgleich mit der Natur achtet“ (Birckenbach u.a. 1994: 16).

Die EU müßte folglich eine »internationale Strukturpolitik« betreiben, die Chancen für gesellschaftliche Fortentwicklung und soziale Sicherung eröffnet und sich für eine Reform der globalen ökonomischen und finanzpolitischen Institutionen, aber auch des UN-Systems einsetzt. Es geht nicht einfach um eine Vervielfachung der Ausgaben für die Fortsetzung bisheriger Entwicklungshilfeleistungen, sondern um eine Veränderung des Wirtschaftens im Norden selbst auf der Grundlage von Selbstbeschränkung und um die Konzipierung eines ökonomisch-technologischen Anschubs bei gleichzeitiger Einmischung und Druck auf neokoloniale Eliten in den Ländern des Südens.

Mit Instrumenten einer solchen internationalen Strukturpolitik kann nicht nur Armutskonflikten vorgebeugt, sondern auch auf eine Deeskalation bereits gewaltsam eskalierter Konflikte hingewirkt werden – etwa mit positiven Anreizen, die den Frieden für die Konfliktparteien attraktiver machen als den Krieg, in Form von wirtschaftspolitischen Hilfen. Die Wirkung solcher positiver Anreize muß sorgfältig gegen die Auswirkungen von negativen Sanktionen wie Boykotten und Embargos abgewogen werden. Instrumente internationaler Strukturpolitik können überdies zur Konsolidierung eines dauerhaften Friedens beitragen: Handelsbegünstigungen, Entschuldungsmaßnahmen oder materielle Wiederaufbauhilfen können zur Ankurbelung der Wirtschaft und zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen und so neue Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen vermeiden helfen. Die Finanzierung von Projekten zur Verständigung verfeindeter Gruppen kann Voraussetzungen dafür schaffen, daß Verständigungs- und Versöhnungsprozesse in zerrissenen Gesellschaften in Gang kommen.

Unterstützungsprogramme, wie sie die EU in den vergangenen Jahren für Osteuropa, die GUS oder die Mittelmeerregion initiiert hat, enthalten dafür ausbaufähige Ansätze. Das Hilfsprogramm PHARE umfaßt Zuschüsse für demokratische und wirtschaftliche Reformen, technische- und Infrastrukturhilfe für Industrie, Finanzsektor, Landwirtschaft und Umweltschutz in den Mittel- und Osteuropäischen Ländern.4 Im Rahmen des »Stabilitätspakts«5, den die EU mit den mittel- und osteuropäischen Staaten einging, wurde die Bestimmung der Mittel teilweise ausgeweitet. Zum einen sollen sie die Voraussetzungen für den EU-Beitritt schaffen. Zum anderen werden konkrete Projekte gefördert, welche die Ziele des Paktes (friedliche Streitbeilegung) umsetzen sollen. 200 Mio. ECU wurden dafür zunächst von der EU bereitgestellt. Die vom ständigen Rat der OSZE 1995 ausgearbeiteten Leitlinien und Beschlüsse widmen sich vor allem dem Ausbau des Instruments der regionalen »runden Tische« zur Behandlung von Meinungsverschiedenheiten und Konflikten.

Das PHARE-Programm wurde bislang von der EU-Kommission koordiniert. Auf eine Initiative des EP hin wurde mit PHARE ein Programm zur Förderung demokratischer Strukturen verknüpft, das auch regierungsunabhängige Organisationen in jenen Ländern einbezieht.6 Das PHARE-Programm und auch die im Rahmen des TACIS-Programms (Technical Assistance for the CIS) für die GUS geleistete »Entwicklungshilfe« bilden einen Schritt in die richtige Richtung, weil sie die Gesellschaftswelt mit einbeziehen. Sie enthalten konstruktive Ansätze im Sinne der Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen und können damit als Bausteine konfliktpräventiver Politik bewertet werden, wenngleich die dafür bereitgestellten Mittel gemessen am Bedarf einfach nicht ausreichend sind.

Auch das zur Förderung der an die EU angrenzenden Regionen im Mittelmeerraum initiierte MEDA-Projekt enthält – bei aller damit verbundenen Ambivalenz (vgl. dazu Telkämper 1994, 1996 und Falk 1995) – ausbaufähige Ansätze; gleichwohl hängt der Erfolg einer »Europa-Mittelmeer-Partnerschaft« entscheidend davon ab, ob die EU sich auf die Durchsetzung einer »Freihandelszone« beschränkt, welche die eigenen Absatzinteressen bedient, oder ob sie langfristig Kooperationsprojekte initiiert, deren Wirkungsbereich in den Mittelmeerdrittländern selbst liegt und dort nachhaltige Entwicklung in Gang zu setzen vermag.

Das wiederum setzt voraus, daß die wirklichen Ursachen für Armut und Konflikte zur Kenntnis genommen werden. Die seit 1972 betriebene Mittelmeerpolitik der EU hat in den vergangenen Jahren selbst zur Verschuldung und (durch massive EU-Exporte subventionierter Lebensmittel bei gleichzeitigen Einfuhrbeschränkungen für Nahrungsmittel und Textilien) zur wachsenden Abhängigkeit, anstatt zur Selbstversorgung der nordafrikanischen Staaten beigetragen.

Betrachtet man die Entwicklungspolitik der EU insgesamt, so wird ein weiteres Problem deutlich: Die Investition in die »Stabilisierung« der angrenzenden Regionen erfolgt keineswegs zusätzlich zu den bisherigen Aufwendungen in diesem Bereich, sondern zu Lasten der Finanzmittel, die für die übrigen bedürftigen Regionen benötigt werden. Für die finanzielle und technische Unterstützung Mittel- und Osteuropas wurden für den Zeitraum bis 1999 etwa 7 Mrd. Ecu veranschlagt, für den Mittelmeerraum 5,5 Mrd.: „Bei einem Haushaltsvolumen von insgesamt 18 Mrd. Ecu bleiben gerade mal 5,5 Mrd. Ecu für die restliche Welt, in der der Mercosur zukünftig vielleicht die gewichtigste Rolle spielen könnte“ (Meyer 1995: 4).

Die EU wurde damit der im Maastricht-Vertrag enthaltenen Verpflichtung, eine „nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung (…) insbesondere der am meisten benachteiligten Entwicklungsländer“ zu fördern und Frieden und Sicherheit weltweit zu sichern, nicht gerecht. Vielmehr konstatiert die entwicklungspolitische Organisation Oxfam zu Recht, die Konzentration seitens der EU auf die angrenzenden Regionen habe so disproportionale Ausmaße angenommen, daß sie die EU von der Entwicklung einer globalen Außenpolitik abgehalten habe. Man habe es außerdem versäumt, diese auf die Prävention und Beseitigung von Konfliktursachen auszurichten. Das habe dann die von der EU selbst beklagte mangelnde »Kohärenz« zwischen Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfsmaßnahmen nach sich gezogen (vgl. Oxfem 1996: 7).

Diese Erkenntnis und die Überzeugung, daß nach neuen Ansätzen zur Bearbeitung von Konfliktursachen gesucht werden müssen, setzt sich zumindest bei MitarbeiterInnen der EU-Kommission inzwischen immer mehr durch. Hoffnungsvoll stimmen neuere Initiativen der Kommision in Somalia (vgl. Paffenholz 1997). Nach dem Scheitern der internationalen Politik in Somalia bemühte sich die EU-Kommission um einen Ansatz, der friedenspolitische und entwicklungspolitische Maßnahmen miteinander verbindet: Sicherung von Grundbedürfnissen aller Bevölkerungsgruppen gilt als Voraussetzung für den Friedensprozeß; Existenzsicherung von Ex-Kombattanten, vor allem die Schaffung von Alternativen für Milizionäre und arbeitslose Jugendliche, deren Perspektivlosigkeit eine ständige Bedrohung für die Zivilgesellschaft darstellt, bilden wichtige Bestandteile des Engagements des »Somalia-Units« der Kommission.

Aufbau zivilgellschaftlicher Strukturen in Konfliktregionen fördern

Der massive Ausbau von Ansätzen, die gesellschaftliche Akteure als Träger von Entwicklungsprozessen miteinbeziehen und Lernprozesse zur Demokratisierung begünstigen können, wäre eine der wichtigsten Handlungsoptionen für eine zivile Außenpolitik der EU. Die bisherigen Unterstützungsprogramme für Osteuropa und die GUS oder auch für die Mittelmeerregion müssen fortgesetzt und ausgebaut werden, sie dürfen aber nicht durch Einsparungen von Hilfen für besonders benachteiligte Weltregionen im südlichen Afrika, Asien und Lateinamerika finanziert werden. Der Stabilitätspakt und die daran geknüpften Hilfsprogramme müßten vielmehr auf Afrika erweitert werden.

Die EU müßte sich außerdem mit Nachdruck für den Ausbau eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems im Rahmen der OSZE engagieren. Das bedeutet, die OSZE finanziell, konzeptionell und personell deutlich zu stärken, anstatt in Konkurrenz zu ihr zu treten.

Die Maßnahmen, welche die OSZE bei der Prävention und Deeskalation von Konflikten in Osteuropa und der GUS-Region (etwa im Baltikum und in Moldavien, vgl. dazu jeweils die Beiträge von Birckenbach und von Troebst in »Wissenschaft & Frieden« 1/97) aufzuweisen hat, sind ein Schritt in die richtige Richtung und daran ist anzuknüpfen. Wenn gewaltsame Eskalation verhindert werden soll, sind Verfahren der Vermittlung durch dritte Parteien verstärkt zum Einsatz zu bringen sowie zivilgesellschaftliche Strukturen in Konfliktregionen zu stärken und Verknüpfungen mit NGOs und sozialen Bewegungen herzustellen.

Eine wichtige Voraussetzung für effektive Präventionsmaßnahmen wären Institutionen zur frühzeitigen Erkennung von Konflikten, die eine genaue Analyse der Ursachen und der Rolle der beteiligten Akteure liefern und darüber hinaus friedensorientierte gesellschaftliche Gruppen und Akteure ausmachen, die der Eskalation entgegenwirken, Versöhnungsprozesse in Gang setzen und daher Unterstützung verdienen. Die Einrichtung eines Konfliktverhütungszentrums auf EU-Ebene, das die Zusammenstellung von Informationen und die Erarbeitung von Vorschlägen zur Gewaltprävention und zur zivilen Konfliktbearbeitung vornimmt, wäre – sofern es sich mit den entsprechenden Aktivitäten der OSZE bzw. der in ihrem Umfeld wirkenden NGOs koordinieren würde – im Prinzip zu begrüßen. Ein solches Zentrum müßte allerdings, wie es das EP 1995 in einer Entschließung gefordert hat, bei der Kommission angesiedelt werden und nicht beim Generalsekretariat des Rats. Die jetzt anvisierte »Planungs- und Analyse-Einheit« auf Rats-Ebene wird den eigentlichen, oben skizzierten Anforderungen nicht gerecht: Die Einbindung der zivilgesellschaftlichen Ebene, wie sie bei der Kommission gegeben wäre, muß zwangsläufig entfallen.

Angesichts der sich abzeichnenden, wenig optimistisch stimmenden Ergebnisse der Regierungskonferenz ist die gesellschaftliche Ebene erst recht gefordert, auch über die Etablierung alternativer Foren für zivile Konfliktbearbeitung nachzudenken. Erstrebenswert wäre die Verknüpfung der Aktivitäten von NGOs, die auf europäischer Ebene tätig sind, mit einer zu schaffenden OSZE-Stiftung, wie sie von Norbert Ropers schon vor Jahren angeregt und von Dieter Bricke der außenpolitisch zuständigen Generaldirektion IA der EU-Kommission bereits 1995 vorgeschlagen wurde.7 So würde die Durchführung von Maßnahmen zur Gewaltprävention, ziviler Konfliktbearbeitung und -Nachsorge durch private Träger im Rahmen einer gesamteuropäischen Stiftung ermöglicht. Die Aufgabe einer solchen Stiftung bestünde im Aufbau und Unterhalt einer Vermittlungsstelle für Friedensfachkräfte, die in den Landessprachen von Konfliktbeteiligten, in Mediationstechniken und in Völkerrechtsfragen speziell geschult und auf freiwilliger Basis in Konfliktregionen eingesetzt werden.

Auch das von EP-Abgeordneten angeregte Projekt zur Etablierung eines »European Civil Peace Korps« könnte mit diesem Stiftungsprojekt verbunden werden. Die Initiative war seinerzeit vom grünen Europa-Abgeordneten Alexander Langer angeregt worden und ist entsprechend einer Empfehlung des Koordinators des »International Peace Training« – Programms in Schlaining konzeptionell weiterentwickelt worden (vgl. Truger 1996). Es ist beabsichtigt, das ECPC als ein offizielles Gremium auf EU-Ebene zu verankern und dieses aus dem Gemeinschaftshaushalt und seitens der Mitgliedstaaten zu finanzieren. Es soll unter dem Mandat der UNO oder der OSZE zum Einsatz kommen und auf keinen Fall der WEU unterstellt werden.

Im EU-offiziellen Sicherheitsdiskurs wird das ECPC leider immer wieder unter der Rubrik einer Ergänzung der militärischen »Verteidigung« subsumiert. Von der Reflexionsgruppe etwa wird es in die Aufzählung militärischer Sicherheitspolitik-Kapazitäten, zwischen den Ausbau von »Joint-Task-Forces« und »Rüstungszusammenarbeit« eingebettet. Auch auf Parlamentsebene wird es immer wieder als Komponente einer »Verteidigungspolitik« diskutiert. Im auswärtigen Ausschuß brachte im Dezember 1996 der Abgeordnete Depuis sogar den Vorschlag ein, man möge Rat und Kommission beauftragen, die Aufstellung eines »European Peace Corps« zu prüfen, das sowohl zivile als auch militärische Elemente kombinieren und in Zusammenarbeit mit der WEU für »peace-keeping« und »peace-making«-Operationen im Rahmen der »Petersberg-Aufgaben« eingesetzt werden solle. Die ursprüngliche Intention derjenigen, welche die Idee des ECPC aufgebracht und dieses für umfassende Aufgaben des »peace-building« – also zur Stärkung des Aufbaus zivilgesellschaftlicher Strukturen, von Konfliktmanagement-Kapazitäten und Versöhnungsprozessen – konzipiert hatten, ist offensichtlich von einigen Parlamentariern gründlich mißverstanden oder bewußt ignoriert worden.

Um sicherzustellen, daß das ECPC als friedenspolitisches Instrument etabliert werden kann, wird man eine Konstruktion finden müssen, die enge Verbindungen und Mitbestimmung von NGOs und Friedensbewegungen über die Ausbildungs- und Einsatzmodalitäten zuläßt. In enger Verbindung mit diesen gesellschaftlichen Akteuren und mit einem OSZE-Mandat versehen, könnte mit dem ECPC ein sinnvolles Instrument für zivile Konfliktbearbeitung geschaffen werden. Aus der Grünen Fraktion im EP heraus wurde kürzlich auch die Idee aufgegriffen, Ausbildung, Rekrutierung und Einsatzentscheidung für das ECPC der schon erwähnten, neu zu gründenden »OSZE-Stiftung für zivile Konfliktbearbeitung« zu überantworten.

Die EU ist für die Finanzierung derartiger Ansätze natürlich in Anspruch zu nehmen. Mit Appellen an die Staatenorganisation allein ist es aber nicht getan. Schließlich bleiben die EU-Bürgerinnen und Bürger gefordert, die politischen Entscheidungsträger auch auf nationaler Ebene zu einer Umschichtung der Ausgaben für Rüstung zugunsten von Institutionen ziviler Einmischung zu drängen. Für die Konzeption einer zivilen Außenpolitik der EU sind die wichtigsten Voraussetzungen: Der Verzicht auf offensivfähige Militärapparate, eine Politik der Selbstbeschränkung im militärischen Bereich und massive Abrüstungsschritte. Durch Einbeziehung europäischer Atomwaffenarsenale in Abrüstungsverhandlungen, gemeinsame Festlegungen zur Rüstungskontrolle, gemeinsame Programme der Umstellung auf zivile Fertigung, Verzicht auf Rüstungsexporte und Verzicht auf überflüssige Beschaffungsvorhaben wie den Eurofighter könnte die EU einen sinnvollen Beitrag zur Prävention leisten. Nur durch den Abzug der Mittel aus dem militärischen Bereich können Maßnahmen für »zivile Konfliktbearbeitung« in nennenswertem Umfang finanziert und Glaubwürdigkeit überhaupt beansprucht werden. Solange die OSZE nur über ein Tausendstel des NATO- Budgets verfügt und die UNO ein Jahr lang mit den Ressourcen auskommen muß, die die Armeen der Welt an einem Tag verpulvern, behalten Maßnahmen ziviler Konfliktbearbeitung weiterhin den Charakter des berühmten Tropfens auf den heißen Stein.

Literatur

Birckenbach, Hanne-Margret u. a. (1994), Im Brennpunkt: Nichtmilitärische Konfliktbearbeitung, in: Dies. u. a. (Hg.), Jahrbuch Frieden 1995, München, S. 9-16.

Falk, Rainer (1995): Ein Euro-Mediteraner Wirtschaftsraum? Neue Strategie für die Südflanke. in: WEED, Informationsbrief für Weltwirtschaft und Entwicklung, Sonderdienst Nr. 2, Januar, S. 1-3.

Fischer, Martina (1996): Bausteine für eine zivile Außenpolitik der Europäischen Union: Die Bilanz der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und mögliche Perspektiven: Gewaltprävention, konstruktive Konfliktbearbeitung und internationale Strukturpolitik als Beitrag zur „internationalen Zivilgesellschaft“. Gutachten anläßlich der Regierungskonferenz zur Revision des Maastricht-Vertrags im Auftrag des Arbeitskreises „Außen- und Sicherheitspolitik“ der Grünen Fraktion im Europäischen Parlament, Brüssel (i. E.)

Meyer, Sabine (1995): EU-Außenpolitik nach Essen: Geopolitische Hierarchisierung, in: WEED, Informationsbrief für Weltwirtschaft und Entwicklung, Sonderdienst Nr. 2, Januar, S. 4.

Mutz, Reinhard (1996): Friedenssicherung in Europa, in: Schuster, Joachim / Weiner, Klaus-Peter: Maastricht neu verhandeln, Köln, S. 96-109.

Oxfam United Kingdom and Ireland (1996): A Global Foreign Policy for Europe. An Oxfam briefing for the 1996 European Union Inter-Governmental Conference, London/Oxford.

Paffenholz, Thania (1997): Friedenspolitische Ansätze der Europäischen Union in Somalia, in: Friedensforum, Jan./Feb., S. 16.

Rummel, Reinhardt (1996): Common Foreign and Security Policy and Conflict Prevention, published by Saferworld/International Alert, London, May.

Siegelberg, Jens (1994): Ethnizität als Kriegsursache: Realität oder Mythos?, in: Birckenbach, Hanne-Margret u.a. (Hg.), Jahrbuch Frieden 1995, München, S. 29-41.

Telkämper, Wilfried (1995): Süderweiterung um jeden Preis? Die „Mittelmeerpolitik“ der Europäischen Union, Thesenpapier, Freiburg, November.

Telkämper, Wilfried (1996): Stellungnahme für den Entwicklungsausschuß zum Bericht Dury/Maij-Weggen bezüglich der Regierungskonferenz, 13.03.1996.

Truger, Arno (1996): The concept of a European Civilan Peace Corps, Policy Paper v. 01.07.1996 (draft EP).

Weiner, Klaus Peter (1994): Gemeinschaftskunde. Die Europäische Union zwischen Schadensaufnahme und Rekonstruktion, in: Blätter für Deutsche und Internationale Politik, Heft 4, S. 462-468.

Eine Liste mit weiteren Angaben zur Literatur sowie zu Dokumenten und Materialien zur GASP kann bei der Redaktion angefordert werden.

Anmerkungen

1) Allgemein wird von den Regierungen der Mitgliedstaaten ein Mangel an Planungskapazität der EU bezogen auf die GASP konstatiert, weil bislang außenpolitische Fragen in unterschiedlichen Gremien der Kommission, des Rates, dem Ausschuß der ständigen Vertreter der nationalen Regierungen bei der EU, des politischen Komitees und des Ratspräsidenten diskutiert werden. Zurück

2) EP: A4-0135/95: Entschließung zur Gründung eines Zentrums der EU zur Erforschung und aktiven Verhütung von Krisen, 14.6.1995. Zurück

3) Mit der Annahme des Boulanges/Martín Reports am 17. Mai 1995 hatte sich das EP erstmalig für die Etablierung eines solchen »European Civil Peace Corps« (ECPC) ausgesprochen. Zurück

4) PHARE (Polish Hungarian Assistance for Recovery Economies) wurde 1989 von den 24 OECD-Staaten beschlossen. Es war ursprünglich nur auf Polen und Ungarn bezogen und wurde schließlich auf alle Staaten Mittel- und Osteuropas und auch auf die Gebiete des ehemaligen Jugoslawiens ausgedehnt. Zurück

5) Der „Stabilitätspakt“ geht zurück auf einen Vorschlag des französischen Premierministers Balladur. Er wurde unter dem Eindruck des Versagens bei der Prävention im ehemaligen Jugoslawien von EU-Beamten weiterentwickelt und im November 1993 als „gemeinsame Aktion“ der EU angenommen. Als Leitlinien wurden formuliert: Stabilität, Stärkung von Demokratisierungsprozessen, Ausbau der regionalen Kooperation in Mittel- und Osteuropa, Regelung von Minderheitenfragen, Gewährleistung der Unverletzlichkeit von Grenzen. An der Eröffnungskonferenz über den Stabilitätspakt im Mai 1994 nahmen Vertreter der 52 OSZE-Staaten und von internationalen Organisationen teil. Die EU schreibt sich darin die Rolle eines Moderators zu und agiert dabei in enger Absprache mit OSZE und Europarat. Bei der Abschlußkonferenz im März 1995 in Paris wurde der Pakt angenommen, und die OSZE wurde mit der Aufgabe betraut, seine Durchführung zu verfolgen. Vgl. dazu ausführlich Ehrhart (1996). Zurück

6) Für 1995 wurden 8 Mio ECU für 50 Makro- und 100 Mikro-Projekte bereitgestellt. Im Rahmen der Mikro-Projekte können NGOs direkt unterstützt werden. Dazu im Detail Rummel (1996), S. 23. Das PHARE-Rahmenprogramm für 1996 war schließlich mit 1 Mrd ECU ausgestattet. Zurück

7) Diese Stiftung sollte sich – so lautet der Vorschlag – aus Spenden, Mitteln der Mitgliedstaaten und zusätzlich auch aus Mitteln der „Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung“ und aus dem Regionalfonds der Europäischen Union finanzieren. Die Stiftung soll von international anerkannten Persönlichkeiten der Friedenspolitik, gewählten Vertretern europäischer Menschenrechtsorganisationen bzw. Friedensdiensten und aus Mitgliedern des Forums für Sicherheitskooperation der OSZE getragen werden. Zurück

Dr. Martina Fischer ist Politologin und hat sich in verschiedenen Einrichtungen der Friedens- und Konfliktforschung mit westeuropäischer Sicherheitspolitik beschäftigt.

Export von dual-use Gütern

Export von dual-use Gütern

Die Europäische Gemeinschaft kontrolliert

von Harald Bauer

Die Frage der Rüstungsexportkontrolle innerhalb der EG ist ein Beispiel für die fehlende Wahrnehmung der europäischen Ebene durch die friedenspolitische Öffentlichkeit. Während die Industrie ihre Vorstellungen im Rahmen von Arbeitsgruppen der Industriellenvereinigung »European Round Table« und des europäischen Unternehmerverbandes UNICE zur Geltung brachte, ist nur wenig über entsprechende Aktivitäten von friedensbewegten oder artverwandten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bekannt. Dabei wäre die Herstellung einer EG-weiten Öffentlichkeit in diesem Fall sicher von Nutzen gewesen und wäre es auch jetzt noch. Denn nur so kann der nötige Druck auf die Regierungen erzeugt werden, um eine halbwegs zufriedenstellende Lösung zu erzielen.

Streng genommen hat die EG laut Art. 223 der Römischen Verträge keine Kompetenz für Rüstungsproduktion und -export. Doch wegen der Einrichtung des Binnenmarktes und des damit verbundenen Wegfalls der Kontrollen an den Binnengrenzen müßte eine Lösung gefunden werden, die das Aufreissen allzu großer Löcher im System der Rüstungsexportkontrollen verhindert. Bis heute ist das nicht gelungen, beim Gipfel in Edinburgh im Dezember 1992 setzte der Europäische Rat eine neue Frist bis Ende März.

Das Problem

Um die gegenwärtige Lage verstehen zu können, ist es erforderlich, den gegenwärtigen Stand des Bezugs der EG auf Rüstungsfragen zu erläutern.

Wie bereits erwähnt, spielt Art. 223 des EWG-Vertrags von 1957 eine wichtige Rolle. Er besagt, daß kein Staat Auskünfte erteilen müsse, die seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen widersprechen. Jeder Staat könne seine „wesentlichen Sicherheitsinteressen“ im Bereich der „Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder dem Handel damit“ wahren. Zur Klarstellung der Warengruppen, die somit vom Freihandel innerhalb der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden, wurde 1958 eine Liste von Kriegsmaterialien aufgestellt, die seither unverändert blieb.

Artikel 223 überstand auch die Verhandlungen, genannt Regierungskonferenz, die zum Vertrag über die Europäische Politische Union, besser bekannt als Maastrichter Verträge, führten. Zwar schlug die Kommission, unterstützt von der Bundesregierung und weiteren Mitgliedstaaten, die ersatzlose Streichung vor, doch war dies gegen die Staaten mit starken nationalen Vorbehalten, an ihrer Spitze Frankreich und Großbritannien, nicht durchsetzbar.

Während in vielerlei Angelegenheiten eine zentrale Kompetenz der EG-Kommission nicht unbedingt wünschenswert ist, gehört die Kontrolle von Rüstungsexporten und sogenannten dual-use Gütern zu den wenigen Fällen, in denen sie nützlich wäre, vorausgesetzt, bestehende stärkere nationale Regelungen werden nicht ausgehöhlt. Das ist im Prinzip durch die Subsidiarität verhindert. Momentan besteht für die Kontrolle des Exports oben genannter Güter innerhalb der EG ein wahres Wirrwarr. Am einfachsten ist es noch für die auf der 58er Liste stehenden Güter; für sie besteht unzweifelhaft die nationale Kompetenz weiterhin fort. Auf der anderen Seite verwenden fast alle EG-Mitgliedsstaaten CoCom-Listen zur Kontrolle der Ausfuhr sog. strategischer Güter. Diese umfassen Gruppen militärischer wie doppelt verwendbarer oder dual-use Waren. Seit dem Ende des Ost-West Konflikts sind sie zwar stark gekürzt worden, werden aber, in erster Linie von der Bundesrepublik, mittlerweile schon auf südliche Länder umgepolt.

In der Praxis gestalteten sich die Verhandlungen in der EG um das Ausmaß der gemeinsamen Kontrollen daher sehr schwierig. Die Kommission erhob Anspruch auf Zuständigkeit für die Kontrolle der Ausfuhr aller Warengruppen, die nicht auf der 58er Liste aufgeführt waren. Deshalb ihr Interesse, alle nur irgend möglichen Güter für »dual-use« zu erklären, eine Strategie, die auch im Zusammenhang mit der Rüstungsindustrie gefahren wird. Die entgegengesetzte Strategie der »Nationalen« war es, die Liste von 58 zu erweitern, möglichst bis zum CoCom-Umfang. Man einigte sich im Herbst '92 auf eine Zwischenlösung, bei der für einen Übergangszeitraum bestimmte Technologien (siehe folgende Zusammenfassung des Saferworld Bericht) ausgenommen sind. Wenn alle Beteiligten gleiches Vertrauen in die Kontrollmechanismen der restlichen Mitgliedstaaten haben, soll diese Periode auslaufen. Zeitpunkt: unbestimmt. Die Einigung bezieht sich jedoch nur auf die Warenlisten.

Laut FAZ ist die neue deutsche Liste (Ausfuhrliste zum Außenwirtschaftsgesetz, AWG) das Muster der neuen »Euro-Liste«, auf die sich, unter britischem Vorsitz, die Regierungen von Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden geeinigt haben sollen. Diese neue Liste ist anders strukturiert und wesentlich länger als die vorigen, weil sie, zu den CoCom-Listen, noch diejenigen der bestehenden Nichtweiterverbreitungsregime für bestimmte Chemikalien (australische Gruppe), Raketen- (MTCR-Regime) und nukleare Technologien (NPT, London supplier group) enthält. Die »Euro-Liste« soll außerdem noch mit den us-amerikanischen und japanischen Listen kompatibel gemacht werden. Was das in der Praxis heißen wird, ist gegenwärtig unklar.

Streitpunkte der EG-Verhandlungen

Bei den Verhandlungen der vom Europäischen Rat eingesetzten ad-hoc Gruppe auf hoher Ebene über die gemeinsame Ausfuhrkontrolle, mit Bezug auf den Kommissionsvorschlag vom August 1992 gibt es noch diverse Meinungsverschiedenheiten, die vor einer Einigung stehen. Es ist umstritten, ob neben Waren und verwandten Technologien (technische oder wissenschaftliche Daten, einschließlich Know-how oder Ingenieurleistungen) auch Dienstleistungen und der Transfer von Know-how ausdrücklich erfaßt werden sollen. Dafür, dies zu tun, wird es allerdings kaum eine Mehrheit geben. Bedeutender ist der Streit um eine catch-all oder reason-to-know Klausel. Damit ist gemeint, Exporte von Waren, die nicht auf den Listen aufgeführt sind, sollen verboten sein, wenn das exportierende Unternehmen Grund zu der Annahme hat, sie sollten für militärische Zwecke verwendet werden. In der EG haben nur Großbritannien und Deutschland solche Klauseln in ihrer Gesetzgebung. Im Rahmen der EG Verhandlungen wird über eine catch-all Klausel für ABC-Waffensysteme verhandelt, Deutschland will sie auch für konventionelle Waffen haben. Doch sind etliche Mitgliedstaaten, an ihrer Spitze Frankreich, kategorisch dagegen. Auch die übergroße Zahl der Unternehmen wehrt sich vehement, mit dem Argument, catch-all Klauseln bürdeten der Industrie die Verantwortung auf und erfordere von ihr beinahe geheimdienstliche Tätigkeiten.

Das potentiell folgenreichste Problem ist mit der Frage der Antragstellung für Ausfuhren verbunden. Wird im Land der Herstellung der Waren oder am Sitz des Exporteurs der Antrag gestellt? Der Kommissionsvorschlag sah letzteres vor, was Umgehungspraktiken, im EG-Jargon »Verkehrsverlagerung« oder licence-shopping genannt, Tür und Tor öffnen würde. Dann könnten etwa Exporteure in Luxemburg, das eine Geschichte als Sitz von zweifelhaften Händlern mit Tätigkeitsbereich Rüstungsgeschäfte hat, den Export von Maschinenteilen bundesdeutscher Provenienz beantragen, die sich unter Umständen etwa in iranischen militärischen Anlagen wiederfinden. Kurz, es wäre für eine wahre Springflut von neuen Skandalen gesorgt und das bundesdeutsche Ausfuhrrecht wäre Makulatur, weil es beliebig zu umgehen wäre. Eine Lösung ist noch nicht in Reichweite. Einige Mitgliedstaaten sehen sie im Rahmen der Übergangslösung bis zur völligen Abschaffung nationaler Kontrollen für den Binnenverkehr innerhalb der EG. Laut Binnenmarktprojekt sollte dies ab 1.1.1993 der Fall sein, was sich als irreal erwiesen hat. Alleine deshalb ist eine Übergangsperiode notwendig. Dazu gibt es noch Bedenken einiger Mitgliedstaaten hinsichtlich der Verläßlichkeit und Effizienz mancher Mitgliedstaaten, wobei oft Griechenland und Portugal genannt werden. In der Praxis war aber auch Belgien in Umgehungsgeschäfte im Rahmen der lizenzfreien Zone des Benelux-Abkommens verwickelt; Beispiele für weitere Staaten wären anführbar.

Von verschiedenen Mitgliedstaaten gewünschte Maßnahmen für den Übergangszeitraum sind die Beibehaltung von Einzelgenehmigungen innerhalb der EG wenn bekannt ist, daß der endgültige Zielort außerhalb der Gemeinschaft liegt. Frankreich will diese Möglichkeit auf Dauer beibehalten, wie auch die Nichtanerkennung von Ausfuhrgenehmigungen anderer Mitgliedstaaten. Weiter wird für die besonders sensitiven Güter auf der Ausschlußliste über mögliche Endverbleibsklauseln auch innerhalb der EG gesprochen. Auch über die Dauer der Gültigkeit der Ausschlußliste, damit verbundener innergemeinschaftlicher Genehmigungen und die Übergangszeit insgesamt besteht Uneinigkeit. Die Kommission will die Übergangsperiode auf ein Jahr einschränken. Die meisten Mitgliedstaaten wollen keine feste Frist akzeptieren, sondern sehen das Erreichen der völligen Gleichwertigkeit der nationalen Kontrollsysteme als Bedingung für das Ende der Periode. Vereinfachend gesagt, stehen sich hier die Auffassungen der Kommission und der Bundesregierung, die einen ungehinderten Handel innerhalb der EG wollen, und Frankreichs gegenüber, das die strikte nationale Kontrolle, die mit der Herstellung und dem Export von Waffen und dual-use Gütern verbunden ist, nicht lockern will. Während eines Seminars in Paris verkündete der Leiter der Exportkontrollabteilung (CIEEMG) beim Premierminister, Frankreich werde seine Gesetze so ändern, daß auch innerhalb des Binnenmarktes die lückenlose nationale Kontrolle gesichert sei.

Grundsätzliche Mängel der EG-Regelung sind bereits jetzt zu konstatieren. So wird es voraussichtlich keine gemeinsamen Kriterien für die Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen geben, bzw. diese werden keine Verbindlichkeit haben. Während des Luxemburger Gipfels im Juni 1991 veröffentlichte der Rat eine Liste von Kriterien, die von allen Mitgliedsstaaten angewandt werden. Der Kommissionsentwurf für die dual-use Verordnung enthielt diese ebenfalls, in der Folge wurde ihre Anzahl reduziert und sie in einen Annex verbannt. Der Grad der Verbindlichkeit dürfte gering sein. Bei den Listen der Länder, für die Beschränkungen gelten sollen, ist man nicht voran gekommen. Es sollen lediglich positive Listen, mit den unproblematischen Fällen, für die vereinfachte Verfahren gelten, eingeführt werden. Im Bereich der konventionellen und ABC-Waffen gibt es zwar Arbeitsgruppen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), doch ist auch dort nicht mit weitergehenden Vereinbarungen zu rechnen. Konflikte in der EG um Exporte sind somit wahrscheinlich, wenn es um konträre Interessen geht. Indonesien ist dafür Anschauungsmaterial. Während Großbritannien und die Bundesrepublik nichts dabei fanden, dem dortigen Regime zum Teil umfangreiche Lieferungen von Waffen zukommen zu lassen, hat Portugal dagegen protestiert, weil es die von Indonesien auf Osttimor geschaffenen Zustände, mit rigider Unterdrückung der Bevölkerung, nicht anerkennen will.

Die Eurolücke

Abgesehen von den aktuellen Differenzen über die Ausgestaltung der konkreten Regelung, weist das Gesamtsystem der Exportkontrolle innerhalb der EG einige EG-spezifische Strukturmerkmale auf, die zusammen als Eurolücke bezeichnet werden können.

Merkmal Nummer eins: Das Aushebeln oder Umgehen nationaler Standards oder Regelungen über EG-Verordnungen oder Mitgliedsstaaten. In diese Kategorie gehört das bereits erwähnte Problem des Ortes der Antragstellung für Exporte, aber auch Initiativen der Industrie wie der Brief von Daimler-Chef Reuter vom März 1991 an Kanzler Kohl und Kommissionsvorsitzenden Delors, in dem er ein EG-weites System der Exportkontrolle verlangte. Dies, so das Kalkül, würde notwendigerweise ein Kompromiß und damit weniger strikt als das bundesdeutsche sein müssen, das zum damaligen Zeitpunkt noch dazu unter enormen öffentlichen Druck in Richtung Verschärfung stand, infolge der Rabta-Affäre und weiterer Skandale.

Ein zweites Kennzeichen ist die Vielzahl sich überschneidender Vereinbarungen, Kompetenzen und Geltungsbereiche. Nationale, intergouvernementale und gemeinschaftliche Kreise schneiden und überlappen sich, je nach politischer Opportunität und Ergebnissen der Verhandlungen werden Lösungen angewandt, die für Außenstehende kaum noch durchschaubar sind. Bei der Exportkontrolle wurde der grundsätzliche Trennstrich zwischen Waffen und dual-use Gütern bereits erwähnt. Das ist gleichzeitig die prinzipielle Abgrenzung von nationaler und Gemeinschaftskompetenz. Dazu gibt es jedoch noch einige weitere Regelkreise, die in das System eingreifen. Der Benelux-Raum, innerhalb dessen Kontrollen seit langem abgeschafft sind, das Schengen-Abkommen und das CoCom-Regime sind hierunter zu verbuchen. In Artikel 91 des Schengener Abkommens ist die Zusammenarbeit bei der polizeilichen Überwachung des Handels mit Schußwaffen vereinbart, eine Arbeitsgruppe hat hierfür eigene Waffenlisten aufgestellt. Zudem haben die Schengen-Länder vereinbart, für die Waren der CoCom-Industrieliste die Kontrollen untereinander einzustellen. Das Schengener Abkommen haben aber lediglich neun Mitgliedstaaten (alle außer Dänemark, Großbritannien und Irland) unterzeichnet. Dies ist auch für die Zollkontrolle von Belang.

Für die Außenkontrollen von Exporten wird ein Computersystem eingerichtet. Es war jedoch nicht zu klären, ob dieses System identisch mit dem der Schengen-Gruppe ist. Wäre das der Fall, wären drei Mitgliedstaaten nicht darin eingeschlossen, das System damit mehr als löchrig. Zudem fehlt schon in der Planung die Komponente der Verbindung mit den jeweiligen nationalen Genehmigungsbehörden, die für schnelle Rückfragen unverzichtbar ist. In dieser Situation sollte über das Angebot einer amerikanischen Elektronikfirma, für die Gemeinschaft kostenlos ein EG-weites Computernetz aufzubauen, beinahe schon ernsthaft nachgedacht werden. Denn im Dezember 1992 verpflichteten sich die Mitgliedsstaaten, ab 1.1.1993 bezüglich dual-use Gütern keine Kontrollen mehr an den Binnengrenzen durchzuführen. Laut offiziellen Angaben wird die noch zu findende Lösung für die EG alle anderen Kreise umschließen und rechtlich über diesen stehen. Wie sich dies in der Praxis gestalten wird, bleibt jedoch abzuwarten.

Durchaus der Eurolücke zuzurechnen ist die öffentliche Wahrnehmung. Während jeder größere Skandal auf bundesdeutscher Ebene sofort die Forderung nach schärferen Kontrollen für Rüstungsexporte und dem Stopfen der Schlupflöcher auslöst, ist das mit dem Binnenmarkt verbundene potentielle Scheunentor der Perzeption völlig entgangen. So waren die Regierungsvertreter, Kommissionsmitarbeiter und Industrierepräsentanten unter sich, als es um die Ausgestaltung des Kontrollsystems in der EG ging. Im Frühsommer 1992 war bereits von Industrierepräsentanten zu hören, man wisse nicht, was irgendwelche Initiativen hinsichtlich der Kontrolle von dual-use Gütern noch sollten, das sei doch längst klar und ausgehandelt. Durch Arbeitsgruppen bei der UNICE und dem »European Round Table« waren die Interessen der Industrie an einem möglichst einheitlichen und einfachen Verfahren zusammengefaßt und in Gesprächen mit den Verantwortlichen in ihrem Sinn ausreichend klar gemacht worden.

Friedenspolitische Lobbyarbeit

Auf friedensbewegter Seite ist die Notwendigkeit einer konstanten Präsenz in Brüssel zwar einigermaßen klar. Die bisherigen Versuche, ein Büro einzurichten, scheiterten jedoch am Geldmangel. Die übernationalen Strukturen innerhalb der Bewegung sind noch wesentlich schwächer als diese selbst. Mit der Exportkontrolle der EG als wichtigem Problem beschäftigte sich so nur eine kleine britische Organisation namens Saferworld, die diesen Themenbereich als Kern ihrer Aktivitäten ausgewählt hat. Ihr Konzept, vermittels gezielter Forschung und Lobbyarbeit bei Regierungen, EG-Stellen und Parteien jeglicher Couleur auf eine Veränderung hinzuwirken, ist außerhalb des angelsächsischen Raumes wenig verbreitet und wird von der Bewegung so nicht angewandt. Saferworld hat 1991 einen Bericht mit dem Titel „Controlling Arms Exports: A Program for the European Community“ veröffentlicht, der 1992 eine umfangreiche Studie mit dem Titel „Arms and Dual-use Exports from the EC: A Common Policy for Regulation and Control“ (siehe folgende Zusammenfassung) folgte. Diese wurde auf Konferenzen in europäischen Hauptstädten den Verantwortlichen aus den Ministerien und den Medien präsentiert. Aber auch Saferworld hat den strukturellen Nachteil, keine ständige Vertretung in Brüssel zu haben.

Harald Bauer ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Mitarbeiter für die Fraktion Bündnis 90/Grüne im Bundestag.