Der »Konsens für den Frieden«


Der »Konsens für den Frieden«

Friedenspolitische Ansätze der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

von Elsa Benhöfer

Durch die COVID-19-Krise, aber auch die sich ständig verändernden internationalen Allianzen, steht die externe Politik der Europäischen Union vor großen Herausforderungen. Am 1. Juli 2020 übernahm Deutschland für ein halbes Jahr die Präsidentschaft des EU-Rates. „Eine handlungsfähige Europäische Union für eine partnerschaftliche und regelbasierte internationale Ordnung“ – so beschreibt die Bundesregierung im letzten Kapitel ihrer Agenda »Gemeinsam. Europa wieder stark machen« das Ziel des europäischen „Außenhandelns“ (Auswärtiges Amt 2020, S. 21). Dieser Artikel skizziert die dort vorgestellten friedens­politischen Ansätze und fragt, wo Lücken bestehen bleiben – mit Blick auf die EU-Ratspräsidentschaft und darüber hinaus.

Deutschland verfolgt für die Zeit seiner EU-Ratspräsidentschaft verschiedene Ziele, die die EU-Friedenspolitik betreffen. Zusammengefasst finden sich dazu in der deutschen Agenda folgende Ansätze:

Deutschland möchte die Wirksamkeit der externen EU-Krisenprävention, inklusive die der Mitgliedstaaten, überprüfen und stärken. Darüber hinaus soll die Glaubwürdigkeit der EU als globaler Akteur zur „Stärkung resilienter Systeme zu Krisenprävention“ erhöht und das EU-Engagement in großen internationalen Konflikten intensiviert werden. Des Weiteren soll der »integrierte Ansatz« der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) durch die Entwicklung politischer Leitlinien zu Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung gestärkt werden. Zudem arbeitet die Bundesregierung weiterhin für eine „kohärente europäische Entwicklungsfinanzarchitektur“ sowie für die Umsetzung des 2018 vereinbarten »Pakts für eine zivile GSVP« und die Verabschiedung der Europäischen Friedensfazilität zur militärischen Ertüchtigung von Partnern“ (Council of the European Union 2018a).

Inwiefern es während der deutschen Ratspräsidentschaft gelingen wird, diese Ansätze umzusetzen, lässt sich anhand derzeit laufender politischer Prozesse und aktueller Diskussionen abschätzen. Dazu zählen unter anderem die Verhandlung des Mehrjährigen Finanzrahmens, inklusive des »Instruments für Nachbarschaft, Entwicklung und internationale Kooperation«, aber auch Diskussionen rund um das deutsche und europäische zivil-militärische Engagement, etwa im Sahel, sowie die Verhandlungen zur Europäischen Friedensfazilität. Zivilgesellschaftliche Forderungen geben Aufschluss darüber, wie Deutschland seine Ratspräsidentschaft nutzen kann, um friedenspolitische Ansätze der EU zu verbessern. Sie reichen von der Schaffung neuer Strukturen innerhalb des EU-Systems über eine Erhöhung der finanziellen Mittel und die Stärkung der Instrumente für Friedensförderung bis hin zu Schutz- und Kontrollmaßnahmen auf Interventionsebene.

Geplante Ressourcen unzureichend

Damit die EU ihre selbstgesteckten Ziele erreichen kann, müsste sie sich sowohl politisch als auch finanziell stärker für die zivile Krisenprävention und Friedensförderung einsetzen. Mit Blick auf den am 21. Juli 2020 vom Europäischen Rat verabschiedeten Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 (MFR) darf man skeptisch sein.

Aufgrund der zur Bewältigung der Corona-Krise neu eingeplanten Mittel wurde der übrige Gesamthaushalt gegenüber dem Entwurf vom Februar nochmals gekürzt. Der neue Entwurf enthält nun 98,4 Mrd. Euro (gut 9 % des Gesamthaushalts) für Auswärtiges bereit. Davon sind 70,8 Mrd. Euro für das neu geschaffene Instrument für Nachbarschaft, Entwicklung und internationale Kooperation (NDICI) vorgesehen (Europäischer Rat 2020). Im NDICI werden ehemals eigenständige Instrumente der Entwicklungs- und Friedensarbeit zusammengeführt. Die EU möchte damit fragmentierte Budgets abbauen und erhofft sich einen geringeren bürokratischen Aufwand und mehr Flexibilität bei der Mittelvergabe.

Diese Umstrukturierung wirft bei der Zivilgesellschaft gravierende Fragen auf: zunächst natürlich die nach der Höhe der für entwicklungspolitische Friedensarbeit zur Verfügung stehenden Mittel, aber auch die, ob die Politikfelder Migration und »Ertüchtigung« gegenüber Frieden und Entwicklung priorisiert werden.

NDICI – (k)ein Segen für die europäische Friedenspolitik?

Seit dem ersten MFR-Vorschlag der EU-Kommission von 2018 haben zivilgesellschaftliche Organisationen die dort eingestellten Mittel für zivile Konfliktbearbeitung und Friedensförderung (eine Mrd. Euro) als zu niedrig kritisiert und eine deutliche Budgeterhöhung für die Prävention von Gewaltkonflikten, Friedensförderung und Vergangenheitsbewältigung sowie ein politisches Bekenntnis für den Vorrang der zivilen Krisenprävention gefordert. Der nun beschlossene MFR-Entwurf steht dem entgegen: Die Kürzungen in den thematischen NDICI-Programmen, darunter auch Frieden und Sicherheit, sowie in der ohnehin niedrig bemessenen NDICI-Säule zu Krisenreaktionsmaßnahmen sind fatal für die oben genannten Ansprüche und Ziele.

Zudem ist nicht erkennbar, wieviel Prozent dieser Haushaltsrubrik tatsächlich auf die Friedensförderung entfallen soll. Es wird befürchtet, dass die Kohärenz der verschiedenen, nun in NDICI-integrierten Instrumente nicht gewährleistet wird und die in den letzten Jahren geschaffenen, auf Friedensförderung spezialisierten Instrumente durch die Zusammenlegung verlorengehen werden.

In den letzten Monaten musste trotz der Verzögerung der Haushaltsentscheidungen schon mit dem Pre-Programmierungsprozess begonnen werden, denn schließlich handelt es sich um die finanzielle Ausgestaltung von Programmen, die in wenigen Monaten Gültigkeit haben werden. In den Monaten der dt. Ratspräsidentschaft wird dieser Prozess nun mit den veränderten Haushaltsdaten fortgesetzt und präzisiert werden müssen. Für die zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Europa und aus ihren Partnerländern wird es schwierig werden, mit dieser Situation umzugehen und Vorschläge zu unterbreiten, die ihre Arbeit nachhaltig absichern können.

Neben der Kritik an zu geringen finanziellen Mitteln und der großen Frage nach der Operationalisierung des derzeitigen Entwurfs wird von Seiten der Zivilgesellschaft kritisiert, dass der NDICI stark auf Migrationskontrolle und »Ertüchtigung« fokussiert und dieser Budgetanteil in Krisenzeiten noch weiter erhöht werden kann. Zur Ertüchtigung sollen insbesondere die Maßnahmen bzw. Programme für den „Kapazitätsaufbau zur Förderung von Sicherheit und Entwicklung“ beitragen (Europäische Kommission 2015), wobei »Sicherheit« in diesem Kontext »Verteidigung« einschließt. Kritisch wird die Verwicklung von Entwicklung und Migration(skontrolle) gesehen, aber auch, dass diese sicherheitsgeleiteten Ansätze mit deutlich mehr finanziellen und strukturellen Ressourcen verfolgt werden als die friedensgeleiteten. Ein Grund hierfür ist das innerhalb der EU sehr unterschiedliche Verständnis von Konfliktprävention, das oftmals einer Gleichsetzung mit Stabilisierung folgt. Dabei wäre das klassische Verständnis von Krisenprävention die Verhinderung und Prävention von struktureller Gewalt, wie Armut und Ausgrenzung/Benachteiligung, wesentlich hilfreicher, um langfristig das Entstehen gewalttätiger Konflikte zu verhindern. Nicht zuletzt die Corona-Krise führt uns diesen Zusammenhang vor Augen. Um genau diese langfristig angelegte Förderung von Frieden zu erreichen, wird gefordert, dass zumindest adäquate Risiko- und Konfliktanalysen vorausgehen müssten.

Die Vision des »Europäischen Konsens für den Frieden«

Die Verhandlungen um das NDICI und die darin abgebildeten Maßnahmen spiegeln das lang bemängelte Fehlen eines gemeinsamen Verständnisses von Prävention, Friedensförderung und Konfliktbearbeitung innerhalb der EU wider. Eine Antwort darauf wäre, wie es in der deutschen Agenda heißt, „politische Leitlinien für Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung“ (Auswärtiges Amt 2020, S. 23) zu entwickeln, um zwischen Parlament, Kommission und Rat einen Dialog über die Friedensförderung der EU zu ermöglichen. Die Einrichtung einer Arbeitsgruppe für Konfliktprävention und Friedensförderung im Europäischen Rat könnte diesen Dialog zwischen den Mitgliedstaaten eröffnen. Während seiner Ratspräsidentschaft sollte Deutschland versuchen, einen solchen Prozess anzustoßen, der sowohl die unterschiedlichen EU-Institutionen als auch die Mitgliedsstaaten zusammenbringt. Dies könnte unter Umständen auch das politische Interesse der Führungsebene der EU für Konfliktprävention erhöhen und langfristig friedensfördernde gegenüber kurzfristig stabilisierenden Maßnahmen prominenter platziert werden.

Ein gemeinsames Verständnis in Form eines »Europäischen Konsens für den Frieden« würde nicht nur zu mehr Durchsetzungskraft auf institutioneller und mitgliedsstaatlicher Ebene führen, auch die EU-Friedensmissionen könnten an friedensfördernder Wirkung gewinnen.

Weder konfliktpräventiv noch friedensfördernd

Die EU ist mit elf zivilen und sechs militärischen Missionen in europäischen Ländern, in den palästinischen Gebieten, im Irak und in Afrika vertreten. Die EU-»Friedensmissionen« sollen im jeweiligen Land bzw. in der Region zur Stabilisierung beitragen. Die GSVP-Missionen wurden über die letzten Jahre personell verkleinert (5-30 Mitarbeitende) und betreiben fast nur noch Kapazitätsbildung, z.B. in Form von Trainings. Um Wirkung zu erzielen, wären die Missionen auf langfristige Lösungsansätze auszurichten, anstatt auf die kurzfristige Bewältigung von »Sicherheitsbedrohungen«, wie Migration und Flucht, zu setzen. Insbesondere mit Blick auf diverse EU-Missionen oder auf Missionen einzelner EU-Mitgliedstaaten im Sahel, zum Beispiel in Mali, wird deutlich, dass die Missionen hier nicht in der Lage sind, zu einer nachhaltigen Konfliktlösung beizutragen. Auf der Basis eines »Konsens für den Frieden« wäre das EU-Engagement von der Migrations- und Terrorbekämpfungsagenda zu lösen und es wären entwicklungs- und friedenspolitische Perspektiven zu fördern.

Bewaffnete Missionen werden auch keinen Frieden bringen

Wie wichtig ein »Europäischer Konsens für den Frieden« wäre, zeigt sich einmal mehr in der Debatte um die »Europäische Friedensfazilität«, deren Budget außerhalb des MFR aus Beiträgen der EU-Mitgliedsstaaten gespeist werden soll. Aus der Friedensfaszilität sollen zukünftig u.a. die militärischen Missionen der GVSP finanziert werden. Damit soll eine gemeinsame Verteidigungspolitik gestärkt werden, und die militärischen Kapazitäten der Nationalstaaten sollen einbezogen werden können. Mit der Begründung, dass es ohne Sicherheit keine Entwicklung gäbe, wird es möglich sein, Munition und Waffen an Sicherheitskräfte der Partnerländer zu liefern, also z.B. auch an Friedensmissionen der Afrikanischen Union, die die EU über die »African Peace Facility« unterstützt. Mangelt es hier an mit Waffen ausgestatteten, repressiven Sicherheitsorganen, oder werden Instabilitäten hier nicht doch eher durch strukturelle Ursachen, wie Marginalisierung, fehlenden politischen Dialog und Armut hervorgerufen? Sollte es zu solchen Waffenlieferungen an Partnerländer kommen, fordert die Zivilgesellschaft zumindest Kontrollmechanismen einzuführen, um nachvollziehen zu können, welche Waffen zu welchem Zweck wohin gehen.

Stärkung der zivilen Missionen

Deutschland hatte sich auf EU-Ebene sehr für den im Mai 2018 verabschiedeten Beschluss des Europäischen Rates zur Stärkung der zivilen Aspekte der GSVP eingesetzt. Hierauf ist die Gründung des »Europäischen Kompetenzzentrum Ziviles Krisenmanagement« in Berlin zurückzuführen. Als gemeinsames Projekt der Mitgliedstaaten bündelt das Zentrum »best practices« im Bereich des zivilen Krisenmanagements. Die zivilen Kompetenzen der EU-Mitgliedstaaten sollen professionalisiert und eine schnellere Einsatzbereitschaft ziviler Fachkräfte in GSVP-Missionen ermöglicht werden.

Jenseits dieser eher technischen Verbesserung der zivilen GSVP verweisen kritische Stimmen auf weitere notwendige Anpassungen. Zur Stärkung der GSVP-Missionen und des integrierten Ansatzes sollte sich Deutschland im Rahmen seiner Ratspräsidentschaft für eine deutliche Aufstockung der personellen Kapazitäten der zivilen Missionen einsetzen. Ohne qualifiziertes Personal wird es schwierig sein, die in der deutschen Agenda beschriebene integrierte und umfassende Krisen- und Konfliktbewältigung zu betreiben. Der Schwerpunkt der GSVP-Missionen sollte wieder auf Krisenbewältigung gelegt werden, und Migrationsmanagement und Grenzschutz (sinnvoll oder nicht) sollten anderen EU-Akteuren überlassen werden. Darüber hinaus sollten die personellen Kapazitäten innerhalb der EU für Konfliktanalysen und -prävention sowie Mediation deutlich aufgestockt und professionalisiert werden. Hierbei sollten lokale Akteure in das Design der EU-Missionen mit einbezogen werden. Insbesondere die Stärkung der Aktivitäten lokaler Partner und Organisationen der Konfliktbearbeitung sollten im Fokus der EU-Förderung stehen, um resiliente Gesellschaften zu fördern.

Zu viele Baustellen für sechs Monate

Alle hier genannten Themen werden über die deutsche Ratspräsidentschaft hinaus friedenspolitisch bearbeitet und begleitet werden müssen. Nicht zuletzt die noch lange nicht bewältigte Corona-Pandemie fordert Europa dazu heraus, eine integrierte EU-Entwicklungs- und Friedenspolitik voranzutreiben. Sie untermauert, dass nur resiliente Gesellschaften Krisen etwas entgegen setzten können. Militärische Ansätze fördern keine Resilienz. Globale Agenden und deren Operationspläne, wie die der »Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung« der Vereinten Nationen sowie der Resolutionen 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, und 2250, »Jugend, Frieden und Sicherheit«, des UN-Sicherheitsrates, gäben hinreichend Anleitung für eine wirkungsvolle EU-Friedenspolitik. Ein gemeinsames friedenspolitisches Verständnis sowie ausreichend finanzielle Mittel sind hierfür zentral.

Literatur

Auswärtiges Amt (2020): Gemeinsam. Europa wieder stark machen – Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Berlin. Online auf eu2020.de.

Council of the European Union (2018a): Conclusions of the Council and of the Representatives of the Governments of the Member States, meeting within the Council, on the establishment of a Civilian CSDP Compact. Dokument 14305/18 vom 19.11.2018.

Council of the European Union (2018b): Council Conclusions on strengthening civilian CSDP. Dokument 9288/18 vom 28.5.2018.

Europäische Kommission (2015): Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat: Kapazitätsaufbau zur Förderung von Sicherheit und Entwicklung – Befähigung unserer Partner zur Krisenprävention und -bewältigung. Dokument JOIN(2015)-17-final vom 28.4.2015.

Europäischer Rat (2020): Außerordentliche Tagung des Europäischen Rates (17., 18., 19., 20. und 21.Juli 2020) – Schlussfolgerungen. Dokument EUCO 10/20 vom 21. Juli 2020.

Elsa Benhöfer ist Referentin für Internationale Prozesse bei der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung (FriEnt).

Wir haben die Wahl

Wir haben die Wahl

von Martina Fischer

Ende Mai werden die EU-Bürger*innen ein neues Parlament wählen. Sie sollten die Kandidat*innen sorgfältig auswählen. Nicht nur für den inneren Zusammenhalt, sondern auch für die Friedenspolitik steht viel auf dem Spiel. Werden zukünftig die zivilen Stärken der EU als Brückenbauerin, als wirtschaftliche und entwicklungspolitische Kooperationspartnerin ausgebaut, oder wird stattdessen außenpolitisch vermehrt auf militärische Stärke gesetzt und die Rüstungsindustrie subventioniert? Die Europäische Union war in den vergangenen Jahrzehnten ein wichtiger
Referenzrahmen für Menschen, die sich im Globalen Süden für Entwicklung, Frieden und Menschenrechte engagieren, nicht zuletzt, weil sie sich jenseits nationaler Interessen entwicklungspolitisch engagierte und Instrumente für die Förderung von Zivilgesellschaft bereitstellte. Dieses Image darf nicht zur leeren Worthülse werden.

In den vergangenen Jahren verlagerte die EU den Schwerpunkt deutlich hin zur militärischen Kooperationen. Im Haushalt 2021-27 sollen 13 Mrd. € für einen »Verteidigungsfonds« (zur Subventionierung der Rüstungsindustrie) und 6,5 Mrd. € für »Militärische Mobilität« (zur Entlastung der NATO) aus dem Gemeinschaftshaushalt investiert werden. Zugleich verpflichten sich die Mitgliedstaaten in der »Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit« zur kontinuierlichen Erhöhung ihrer Verteidigungsausgaben. Im Bereich der zivilen Krisenprävention und Friedensförderung ist eine ähnliche Dynamik nicht erkennbar,
vielmehr drohen die Mittel dafür sogar gekürzt zu werden, wenn es nach einem Vorschlag der EU-Kommission für den neuen »Finanzrahmen« geht. Es fehlt weiterhin an einem verlässlichen Expert*innenpool für zivile EU-Missionen. Die wenngleich definierte, aber stark vernachlässigte zivile Dimension der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss ausgebaut und dringlich mehr Personal für den Aufbau von Institutionen und Rechtsstaatlichkeit in Nachkriegsregionen bereitgestellt werden. Stattdessen ist geplant, die EU-Finanzarchitektur so zu »flexibilisieren«, dass zivile und
entwicklungspolitische Mittel zunehmend für die Grenz- und Migrationskontrolle genutzt werden können. Mit der »Versicherheitlichung« dieser Politikbereiche und mit der Militärhilfe für Diktaturen, die der EU bei der Vorverlagerung ihrer Grenzen helfen, riskiert die EU, ihre Glaubwürdigkeit als Wertegemeinschaft für Menschenrechte, Demokratie und Frieden zu verlieren. Ihre Stärken – Demokratisierung zu fördern, Brücken zu bauen, Friedensprozesse mit Mediation, Diplomatie, Dialog und Kooperation sowie entwicklungspolitischen und wirtschaftlichen Anreizen zu flankieren und
Zivilgesellschaft zu unterstützen – setzt sie mit der neuen Schwerpunktsetzung aufs Spiel.

Auch mit Blick auf die Nachbarn im Osten sollte sich die EU auf ihre Stärken besinnen, statt auf die militärische Karte zu setzen. Sicherheit muss partnerschaftlich gedacht werden, und Frieden lässt sich nur mit einer über die EU hinausweisenden, gesamteuropäischen und globalen Perspektive gestalten. Für die Lösung des Ukraine-Konflikts bietet allein die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein bewährtes »System kollektiver Sicherheit«, das auf Vertrauensbildung setzt sowie Schiedsgerichtsverfahren und diplomatische Instrumente zur Krisenverhütung,
Konfliktbearbeitung und Rüstungskontrolle vorhält. Das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte bildet Staatsbeamt*innen und Nichtregierungsorganisationen im Menschenrechtschutz aus, ein Hochkommissariat überwacht die Minderheitenrechte. Wo bleibt die eindeutige strategische und finanzkräftige Unterstützung der EU hierfür?

Nicht Investition in bestehende oder neue Militärbündnisse, sondern den Vereinten Nationen und der OSZE bei ihren Friedensbemühungen tatkräftig zur Seite zu stehen ist das Gebot der Stunde. Durch konsequente Abrüstung, Konversion der hochsubventionierten Rüstungsindustrie und Einhegung der Verteidigungsausgaben könnten viele Mittel freigesetzt werden, um Friedenspolitik auf globaler Ebene aktiv mitzugestalten.

Mehr als 90 Nichtregierungsorganisationen aus EU-Ländern unterzeichneten im Vorfeld der EU-Wahl einen Aufruf mit friedenspolitischen Forderungen an das EU-Parlament (rettetdasfriedensprojekt.eu). Der Aufruf, das Friedensprojekt Europa zu retten, zeigt, dass die Zivilgesellschaft sich der Friedensverantwortung Europas bewusst ist. Ob das zukünftige Parlament diese Verantwortung ausfüllt, hängt nicht allein, aber auch von unserer Wahl ab.

Dr. Martina Fischer, Politikwissenschaftlerin, war als Friedensforscherin in verschiedenen Einrichtungen der Friedens- und Konfliktforschung tätig, darunter knapp 20 Jahre lang an der Berghof Foundation in Berlin. Seit 2016 arbeitet sie bei »Brot für die Welt« als Referentin für Frieden und Konfliktbearbeitung. Weitere Informationen zur EU-Politik finden sich in ihren Blogbeiträgen unter info.brot-fuer-die-welt.de/blog/dr-martina-fischer.

Der Europäische Verteidigungsfonds


Der Europäische Verteidigungsfonds

Ein Rüstungsbudget für die »Militärunion«

von Björn Aust

Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit legte die EU-Kommission im Juni 2018 ihren Verordnungsvorschlag für einen Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) vor, der von 2021 bis 2027 zusätzliche Rüstungsinvestitionen von bis zu 48,6 Mrd. Euro anschieben soll. Im Widerspruch zu den EU-Verträgen sollen über den Fonds erstmals ganz offen EU-Haushaltsmittel für Rüstungszwecke bereitgestellt werden. Damit markiert er eine neue Etappe der Militarisierung der EU-Außen- und Sicherheitspolitik. Nachdem das Europäische Parlament im Dezember 2018 mehrheitlich den Fonds befürwortete und seine Position für die Verhandlungen mit der Europäischen Kommission und dem Europäischen Rat festlegte, befindet sich der EVF auf der Zielgeraden. Viel Zeit bleibt nicht, ihn noch zu stoppen.

Die Warnungen vor einer, seit dem Vertrag von Lissabon beschleunigten, Militarisierung der EU-Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurden vom politischen Mainstream lange als unbegründet abgetan: zu groß seien die Interessensgegensätze der Mitgliedstaaten und zu gering die eingesetzten Ressourcen. Tatsächlich verliefen entsprechende Bemühungen lange Zeit nur schleppend.1 Doch seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 entwickelte sich eine zuvor nicht gekannte Dynamik, weil mit dem absehbaren EU-Austritt Großbritanniens ein »Veto-Spieler«, der bis dahin alle verteidigungspolitische Integrationsschritte blockiert hatte, entfiel. Seither habe die EU in diesem Bereich „mehr Fortschritte erreichen können als in den letzten 20 Jahren“ resümierte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker schon im Februar 2018 (zit. in Lösing und Wagner 2018).

Drei Säulen der »Militärunion«

Den Beginn markierte die Ende Juni 2016 verabschiedete Globalstrategie, in der die EU vor dem Hintergrund einer düsteren Lage- und Bedrohungsanalyse vehement eine intensivierte verteidigungspolitische Kooperation und den Ausbau militärischer Kapazitäten (in) der Union forderte. Dies sei zur Bedrohungsabwehr, zur Durchsetzung (geo-) politischer Interessen und für das Erreichen der »strategischen Autonomie« nötig, also für die Fähigkeit zu militärischem Handeln unabhängig von den Strukturen der NATO. Seither wurden auf EU-Ebene viele Strategiepapiere erarbeitet, und die EU-Regierungen befassten sich auf mehreren Ratstagungen mit der Umsetzung der Globalstrategie. So konnten bis Ende 2017 drei eng zusammenhängende Vorhaben auf dem Weg zur Verteidigungs- bzw. Militärunion eingeleitet werden:

  • Mit der »Koordinierten jährlichen Überprüfung im Verteidigungsbereich« (engl. CARD) wurde ein von der Europäischen Verteidigungsagentur durchzuführender Überprüfungsprozess der Verteidigungsplanungen und -programme der EU-Staaten aufgesetzt, um diese aufeinander abzustimmen, gemeinsame Bedarfe zu ermitteln und z.B. die Entwicklung und Beschaffung von Waffensystemen zu koordinieren. So sollen Doppelstrukturen abgebaut, die Verteidigungsetats effizienter eingesetzt und die militärischen Fähigkeiten der EU erhöht werden.
  • Die zweite Säule ist die »Ständige Strukturierte Zusammenarbeit« (engl. PESCO), die schon im Lissabon-Vertrag angelegt ist und teilnehmenden Staaten ein breites Spektrum verteidigungspolitischer Kooperationen ermöglicht. Sie zielt darauf, militärische Strukturen der EU-Staaten enger miteinander zu verzahnen, u.a. um die Interoperabilität der Streitkräfte zu verbessern. Im Dezember 2017 beschloss der Rat der Außen- und Verteidigungsminister*innen die förmliche Aktivierung von PESCO. Damit gingen die 25 teilnehmenden EU-Staaten bindende Verpflichtungen ein, zu denen u.a. gehört, die Militärausgaben regelmäßig zu erhöhen sowie mittelfristig 20 % ihrer Verteidigungsetats für Rüstungsinvestitionen und zwei Prozent für militärische Forschung vorzuhalten. Die Umsetzung der Projekte und die Einhaltung der 20 PESCO-Verpflichtungen soll die Europäische Verteidigungsagentur überwachen.2
  • Der Europäische Verteidigungsfonds ist die dritte Säule der Militärunion. Schon im November 2016 hatte die EU-Kommission im Verteidigungs-Aktionsplan zur Umsetzung der Globalstrategie erste Vorschläge für einen solchen Fonds unterbreitet, denn Voraussetzung für die Verwirklichung der EU-Sicherheitsinteressen sei eine global wettbewerbsfähige Rüstungsindustrie. Diese Vorschläge nahmen u.a. mit dem 2017 aufgelegten Programm zur »industriellen Entwicklung im Verteidigungsbereich« für 2019 und 2020 konkrete Form an.3 Im Juni 2018 folgte der Verordnungsvorschlag für den EVF, mit dem ab Beginn des nächsten Mehrjährigen Finanzrahmens im Jahr 2021 diese EU-Finanzierung von Rüstungsforschungs-, Entwicklungs- und Beschaffungsvorhaben auf Dauer sicher gestellt werden soll (EU Kommission 2018).

Ein Fonds für ein »militärisches Kerneuropa«

Ab 2021 soll auch nicht mehr gekleckert, sondern geklotzt werden: Der EVF soll bis 2027 13 Mrd. Euro aus EU-Haushaltsmitteln bereitstellen. 4,1 Mrd. Euro davon sollen aus dem »Forschungsfenster« des EVF für Zuschüsse z.B. zur Neu- oder Weiterentwicklung militärrelevanter Technologien (Elektronik, Robotertechnik, verschlüsselte Software usw.) ausgeschüttet werden. Über das mit 8,9 Mrd. Euro ausgestattete »Fähigkeitenfenster« sind die Förderung von Entwicklungs- und Beschaffungsprojekten von mindestens drei Unternehmen aus mindestens drei Ländern geplant, u.a. zur Entwicklung von (Waffen-) Prototypen in den Bereichen künstliche Intelligenz, Robotik, Cyberabwehr. Auch die Weiterentwicklung und Beschaffung konventioneller Waffensysteme ist vorgesehen. Die Mittel des EVF sollen durch Kofinanzierungsbeiträge der Mitgliedstaaten zusätzlich »gehebelt« werden, so dass insgesamt bis zu 48,6 Mrd. Euro für militärrelevante Investitionen angeschoben werden könnten (EU Kommission 2018, S. 28ff; Lösing und Wagner 2018).

Mit den angestrebten Synergie-Effekten des EVF – u.a. niedrigere Beschaffungskosten (aufgrund höherer Auftragszahlen) und größere Interoperabilität von Waffensystemen – sind aber keineswegs reale Einsparungen in den Verteidigungsetats vorgesehen. Der EVF soll die nationalen Rüstungsausgaben nicht ersetzen, sondern durch zusätzliche Investitionen ergänzen. In den Begleitdokumenten zum EVF werden die »niedrigen« Verteidigungsausgaben in der EU beklagt und es wird ihre Erhöhung angemahnt. Zielgröße ist das NATO-Ziel von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung.

Der EVF ist ein in der EU-Geschichte bisher einmaliges Subventionsprogramm für die Rüstungsindustrie und befördert die Bildung eines »militärischen Kern­europas«: Vor allem wirtschafts- und finanzstarke Staaten mit hochentwickelten Rüstungsindustrien dürften von ihm profitieren, da sie leichter Unternehmen und förderfähige Projekte benennen und die Kofinanzierung aufbringen können. Verstärkt wird dies durch die systematische Verzahnung von EVF und PESCO: PESCO-Vorhaben zur Rüstungsentwicklung und -beschaffung sollen mit bis zu 30 % aus dem Fonds bezuschusst werden, wohingegen für andere Entwicklungs- und Beschaffungsprojekte eine maximale Förderungsrate von 20 % gilt.

Die im November 2018 beschlossene »zweite Welle« von PESCO-Projekten weist bereits auf das militärische Kern­europa hin: Deutschland und Italien führen nun je sechs PESCO-Projekte an, Frankreich sogar sieben. Mit der geplanten Weiterentwicklung des Tiger-Kampfhubschraubers und der Euro-Drohne MALE RPAS unter deutscher Führung enthält die neue PESCO-Projektliste zudem die ersten milliardenschweren Rüstungsvorhaben. Laut Medienberichten sollen die auf rund eine Mrd. taxierten Entwicklungskosten für MALE RPAS entsprechend dem »PESCO-Bonus« zu einem Drittel aus dem EVF subventioniert werden. Weitere Großprojekte sollen bereits in der Pipeline sein (Wagner 2018).

Militärische Neuausrichtung des EU-Haushalts

Die großen EU-Staaten und ihre Rüstungsindustrien profitieren davon, dass sich über den EVF die Kosten für milliardenschwere Vorhaben zum Teil »europäisieren« lassen: Durch die Verankerung im EU-Haushalt zahlen alle Mitgliedstaaten in den Fonds ein, auch solche, die aus finanziellen oder friedenspolitischen Gründen selbst keine Rüstungsvorhaben durchführen können oder wollen.

Das ist kein Zufall. Der von der EU-Kommission im Mai 2018 vorgelegte Plan zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 markiert mit der Einrichtung der neuen Haushaltsrubrik »Sicherheit und Verteidigung« mit einem Volumen von 25,5 Mrd. Euro einen militärpolitischen Paradigmenwechsel. Die mit Abstand größten Einzelposten dieser Rubrik sind der EVF und ein 6,5 Mrd. Euro schweres Programm zur Förderung der militärischen Mobilität, mit dem Verkehrsinfrastrukturen in der EU für militärische Schwertransporte ausgebaut werden sollen (siehe dazu den Artikel von Christoph Jehle auf S. 44 in dieser W&F-Ausgabe). Die sicherheits- und verteidigungsrelevanten Ausgaben der neuen Rubrik übersteigen die im laufenden Finanzrahmen um das 22-fache (Aust 2018, S. 16 ff).4

Ein Mauerblümchendasein fristen dagegen Maßnahmen zur zivilen Konfliktbearbeitung, Konfliktnachsorge und Prävention. Überdies sieht der Entwurf des Finanzrahmens bei vielen Programmen zur Struktur- und Regionalförderung, mit denen auch die Angleichung der Lebensverhältnisse und soziale Programme finanziert werden, massive Streichungen vor. Noch laufen die Verhandlungen, doch ist absehbar, dass erhebliche zivile Mittel gekürzt und zugunsten militärrelevanter Ausgaben umgeschichtet werden. Sozial- und friedenspolitisch ist bereits dies ein Skandal.

Illegale Rüstungsfinanzierung

Von noch größerer Tragweite ist die Einstellung des EVF in den Haushalt an sich: Erstmals werden EU-Haushaltsmittel ganz offen (und nicht »versteckt« in Fonds außerhalb des Budgets) für verteidigungs- und rüstungspolitische Programme bereitgestellt. Dass dies zuvor nie geschehen ist, hat einen einfachen Grund: Der Vertrag der Europäischen Union (EUV) verbietet unmissverständlich die Finanzierung von „Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen“ (Artikel 41(2) EUV) aus dem EU-Haushalt. Der EVF ist also illegal (u.a. Lösing und Wagner 2018).

Mit einer abenteuerlichen Rechtskonstruktion will die Kommission diesen offenen Bruch der EU-Verträge umgehen: Als Rechtsgrundlage für den EVF-Verordnungsvorschlag zog sie kurzerhand den Artikel 173 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sowie ergänzend die Artikel 182, 183 und 188 AEUV heran. Diese Artikel regeln Maßnahmen der Industrie- und Forschungsförderung in der EU. Das heißt, der Verteidigungsfonds wird einfach zu einem Programm der Industrie- und Forschungsförderung umdefiniert (siehe dazu auch Töpfer 2018).

Allerdings muss sich die Rechtsgrundlage für bestimmte Maßnahmen auf objektive und nachprüfbare Kriterien stützen und das Hauptziel bzw. die Hauptziele der Maßnahme eindeutig begründen. Im vorliegenden Fall ist diese Klarheit nicht gegeben, denn die Verteidigungsindustrie und -forschung soll nicht nur aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit gefördert werden, sondern auch, um die Verteidigungsfähigkeit und die »strategische Autonomie« der EU zu gewährleisten. Tatsächlich nimmt der Verordnungstext an zentralen Stellen Bezug auf verteidigungspolitische Zielsetzungen, Programme und Vorhaben der EU, berücksichtigt diese bei den Rechtsgrundlagen aber nicht. Der Versuch der Kommission, diese Zielsetzungen zu bloßen »Nebeneffekten« des EVF herunterzuspielen, ist juristisch unzulässig (Fraktion DIE LINKE 2018).

Die Linksfraktionen im EU-Parlament (EP) und im Deutschen Bundestag kritisierten den illegalen Charakter des Fonds (und die friedenspolitische Fehlausrichtung) wiederholt scharf, fanden jedoch weder in Berlin noch in Brüssel ausreichende politische Unterstützung. Ein im Auftrag der Linksfraktion im EP erstelltes und Anfang Dezember 2018 veröffentlichtes Gutachten des Juristen Andreas Fischer-Lescano bekräftigt aber eindeutig die Rechtsauffassung der Linksfraktionen (Der Spiegel 8.12.2018; Fischer-Lescano 2018).

EVF-Verhandlungen auf der Zielgeraden

Ungeachtet dessen will die Kommission den EVF in den kommenden Monaten auf den Weg zu bringen. Auch die EU-Regierungen treiben das Projekt mit Hochdruck voran und verabschiedeten im November 2018 einen konkretisierten Standpunkt zum EVF und das Ziel, „so früh wie möglich 2019“ eine Einigung mit dem EP herzustellen (Rat der EU 2018, S. 7). Aktuell planen Kommission und Rat eine vorgezogene separate Einigung über den Verteidigungsfonds, da eine Verständigung über den Mehrjährigen Finanzrahmen vor den EP-Wahlen im Mai 2019 aufgrund großer Konflikte in anderen Haushaltsfragen unmöglich erscheint.

Zuletzt gab das EP grünes Licht für den EVF, als es am 12. Dezember 2018 mit knapper Mehrheit einen entsprechenden Bericht annahm und so den Weg für die Verhandlungen mit Rat und Kommission freimachte.5 Die EP-Position enthält zwar einige Änderungen am Verordnungsentwurf, grundsätzliche EU-rechtliche oder friedenspolitische Bedenken gehören jedoch nicht dazu. Der wichtigste Unterschied liegt darin, dass das EP restriktivere Ethik-Grundsätze forderte und autonome Waffensysteme nicht fördern will. Zudem sind EP, Rat und Kommission in Fragen der Steuerung des EVF uneins sowie darin, ob und wie Drittstaaten – u.a. Großbritannien nach dem Brexit – Zugang zu EVF-Projekten bekommen sollen. Da alle drei Institutionen den EVF wollen, dürften diese Differenzen überwindbar sein.

Daher drängt die Zeit. Die Bundestagsfraktion DIE LINKE bereitet aktuell eine Klage gegen den EVF vor dem Bundesverfassungsgericht vor. Darüber hinaus sind weitere Anstrengungen der Friedensbewegung und der politischen Linken nötig. Um den EU-rechtswidrigen Rüstungsfonds und die weitere Militarisierung der EU-Außen- und Sicherheitspolitik noch zu stoppen, müssen öffentlicher und politischer Druck schnell und deutlich wachsen.

Anmerkungen

1) Zur Militarisierung der EU siehe u.a. Schirmer (2013) und Paech (2018).

2) Ausführlicher und kritisch zu PESCO siehe u.a. Nesch (2008) und Fraktion DIE LINKE (2017); für aktuelle Entwicklungen Wagner (2018).

3) Mit diesem Programm sollen 590 Millionen Euro aus dem EU-Budget bereitgestellt werden, um Investitionen in Rüstungsforschung, -entwicklung und -beschaffung von bis zu 2,59 Mrd. Euro anzuschieben.

4) Außerhalb des EU-Haushalts werden zudem 10,5 Mrd. Euro für die Durchführung von Missionen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – u.a. Militär- und Ausbildungsmissionen – eingeplant und über die so genannte Europäische Friedensfazilität bereitgestellt.

5) Für den EVF stimmten die Fraktionen der Konservativen (EVP) und Liberalen (ALDE); die linke GUENGL und die Grünen-Fraktion lehnten den Fonds fast geschlossen ab. Die sozialdemokratische S&D-Fraktion stimmte uneinheitlich, doch mit knapper Mehrheit für den EVF.

Literatur

Aust, B. (2018): Die Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen der EU für die Jahre 2021-2027. Sachstand über die Debatte und Positionen nach Vorlage des Kommissionspaketes vom 2. Mai 2018. Berlin; online auf andrej-hunko.de.

Europäische Kommission (2018): Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds. 13.6.2018, KOM(2018) 476 final, Ratsdokument Nr. 10084/18.

Fischer-Lescano, A. (2018): Rechtsfragen der Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds (EVF). Rechtsgutachten im Auftrag der Fraktion der GUE/NGL im EP; online auf sabine-­loesing.de

Fraktion DIE LINKE (2017): Antrag: Militarisierung der EU beenden – Einrichtung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit stoppen. 20.11.2017, Bundestagsdrucksache 19/82.

Fraktion DIE LINKE (2018): Antrag zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds. 11.9.2018, Bundestagsdrucksache 19/4214.

Lösing S.; Wagner J. (2018): PESCO – Ein Rüstungsfonds für die Weltmacht Europa. Neues Deutschland, 14.5.2018, S. 10.

Nesch, F. (2018): Die PESCO der Großmächte – Die EU auf dem Weg zur Aufrüstungs- und Interventionsunion. IMI-Studie 2/2018. Tübingen: Informationsstelle Militarisierung.

Paech, N. (2018): Zur Militarisierung der EU. 12.4.2018, nachdenkseiten.de.

Rat der EU (2018): Schlussfolgerungen des Rates zu Sicherheit und Verteidigung im Kontext der Globalen Strategie der EU. 19. November 2018, Ratsdokument 13978/18.

Schirmer, G. (2013): Militarisierung der EU ohne Alternative? Militärmissionen, indirekte Kriegsbeteiligung, Widersprüche der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Z – Zeitschrift für marxistische Erneuerung, Nr. 94, Juni 2013.

Der Spiegel (2018): Illegaler Verteidigungsfonds? Der Spiegel Nr. 50/2018, S. 75.

Töpfer, E. (2018): Paradigmenwechsel? Rüstungsforschung in der EU. W&F 2-2018, S. 27-30.

Wagner, J. (2018): PESCO-Rüstungsprojekte – Deutschland, Italien und Frankreich sahnen ab. Telepolis, 20. November 2018.

Björn Aust ist Referent für Europa­politik der Bundestagsfraktion DIE LINKE.

Militärische Mobilität in der EU


Militärische Mobilität in der EU

NATO, EU und »Military Schengen«

von Christoph Jehle

Die Verkehrsinfrastruktur in Mitteleuropa ist bislang nicht auf die Nutzung durch das US-amerikanische Militär ausgelegt. Weder die Belastbarkeit von Brücken noch die Lichtraumprofile von Tunneln entsprechen den Vorstellungen des US-Militärs, das sich darum bemüht, seine Ausrüstung möglichst schnell und ohne bürokratische Hindernisse an die Ostgrenze der NATO verlagern zu können, um jederzeit auf eine gefühlte russische Bedrohung reagieren zu können. Zu Zeiten des Kalten Kriegs lag die vorgesehene Verteidigungslinie noch am Rhein. Mit der Osterweiterung von NATO und EU wurde sie weit nach Osten verschoben. Jetzt sollen daher auch die Nachschublinien entsprechend ausgebaut werden.

Die New York Times meldete am 6. August 2017, dass kurz zuvor ein Militärkonvoi eines US-amerikanischen Logistikverbandes an der Landesgrenze des Nicht-­NATO-Mitgliedslandes Österreich mitten in einer Übung gestoppt wurde, als er von Deutschland auf dem Weg nach Rumänien war. Der Munitionstransport war an einem Freitag an der österreichischen Grenze angekommen und dort aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens während der Ferienzeit erst am Montag zur Weiterfahrt zugelassen worden (Schmitt 2018). Im Selbstverständnis des US-Militärs ist eine solche Behinderung seiner Arbeit keinesfalls akzeptabel.

In der Planung des Manövers war eine Behinderung der Bewegungsfreiheit der US-Truppen durch den Zoll eines EU-Mitgliedslandes nicht berücksichtigt worden – in vielen Ländern, in welchen US-Truppen stationiert sind, können sie sich weitgehend frei bewegen. Als einzige Einschränkung für den Transit durch Österreich war im Vorfeld bekannt geworden, dass die Truppen ihre Zwischenstopps nur in Liegenschaften des Bundesheers vornehmen dürften.

Weil sich die US-Truppen aufgrund der bestehenden Zollformalitäten und Vorkommnissen wie dem geschilderten in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt fühlen, drängt man vonseiten der USA darauf, die EU solle dafür sorgen, dass Soldaten auch mit schwerem Gerät schnell innerhalb Europas verlegt werden können.

Freie Fahrt für US- und NATO Truppen in der EU

Dieses Konzept wurde unter dem Schlagwort »Military Schengen« diskutiert. Der Begriff kam im Herbst 2017 auf, als man das vom Schengener Durchführungsabkommen geprägte Bild des unkontrollierten Passierens der Grenzen zwischen den sogenannten Schengen-Staaten auf die Bewegungsfreiheit der US-Truppen in Europa übertragen wollte. Inzwischen ist in Europa jedoch der politische Druck gewachsen, Schengen eher zurückzufahren und für möglichst lange Zeit wieder robuste Grenzkontrollen zwischen den Schengen-Staaten durchzuführen. Mit Schengen wird nun oftmals eine Bedrohung der Landesgrenzen verbunden, und so wird der Begriff »Military Schengen« inzwischen eher seltener genutzt.

Die Idee wurde jedoch keinesfalls aufgegeben, denn für die Verlegung von Truppen der NATO und von US-Truppen, die nicht der NATO unterstehen, sollen künftig die Grenzen zwischen den NATO-Mitgliedsstaaten, aber auch den bislang neutralen EU-Mitgliedern wie Österreich oder Finnland, keine Truppenbewegungen mehr behindern. Zudem bahnte die Diskussion um Military Schengen den Weg für Pläne für eine von der NATO unabhängige Militärzusammenarbeit in der EU.

Ein viel gravierenderes Problem als die Zollformalitäten stellte bei dem Militärmanöver allerdings die deutsche Verkehrsinfrastruktur dar, die zumeist nicht für die Ansprüche des Militärs ausgelegt ist. So sind Tunnel oftmals nicht für die Durchfahrt von Panzern ausgelegt, und Brücken verfügen nicht über die benötigte Tragkraft, sodass die US-Militärkonvois bei dem eingangs erwähnten Manöver Umwege fahren mussten, die man bei der Planung nicht berücksichtigt hatte.

Die Verkehrsinfrastruktur in Westdeutschland wurde in den vergangenen sieben Jahrzehnten nur auf eine zivile Nutzung ausgelegt. Daher steht man nun vor dem Problem, dass die Truppen nicht so schnell vorankommen, wie vom Navigationssystem angezeigt.

Verlagerung der Kosten

In NATO-Kreisen wird die militärische Ertüchtigung der Verkehrsnetze immer häufiger mit der wiederentdeckten »russischen Bedrohung« und der Abschreckung Russlands begründet. Die EU-Kommission verabschiedete im März 2018 einen Aktionsplan zur Ertüchtigung des europäischen Verkehrsnetzes für militärische Land-, Luft- und Seetransporte innerhalb und jenseits der EU (EC 2018). Statt »Military Schengen« lautet das Schlagwort jetzt »militärische Mobilität«.

Die Kosten für den militärgerechten Ausbau von Autobahnen und Bahntrassen werden dabei nicht dem Rüstungshaushalt, sondern dem Verkehrsetat zugeordnet. Dieser reicht jedoch in Deutschland nicht einmal aus, um die zivile Mobilität sicherzustellen, was sich in der Sperrung maroder Autobahnbrücken, zahlreichen Schlaglöchern und anhaltenden Problemen beim Bahnverkehr zeigt. Bis 2019 will die EU-Kommission ermitteln, welche Voraussetzungen für Militärtransporte erforderlich sind und welche Teile des transeuropäischen Verkehrsnetzes sich dafür eignen. Dabei soll nicht nur die im Besitz der öffentlichen Hand liegende Infrastruktur berücksichtigt werden, sondern auch die Autobahnstrecken, die von Privatfirmen bewirtschaftet werden. In welchem Umfang solche Strecken betroffen sind und wie die jeweiligen Verträge angepasst werden sollen, ist derzeit noch nicht bekannt.

Des Weiteren soll im Rahmen des europäischen Aktionsplans zur »militärischen Mobilität« ermittelt werden, welche rechtlichen und regulatorischen Barrieren neben den physischen Hindernissen bislang den freien Transport von militärischen Gütern und Mannschaften durch die EU behindern. So gibt es z.B. EU-weite Vorschriften für den Transport gefährlicher Güter, die allerdings nur für zivile Transporte gelten; beim militärischen Transport von Gefahrgütern gelten meist nationale Regeln. Das Regelwerk soll nun überprüft und vereinheitlicht werden.

Die Verquickung von NATO und EU

Die seit mehreren Jahren vorangetriebene Vermischung der Ambitionen der NATO und der aus der Europäischen Montanunion über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hervorgegangenen Europäischen Union ist bereits weit fortgeschritten. Wer in den letzten Monaten in Brüssel war, dem wird aufgefallen sein, in welchem Umfang die Stadt inzwischen von militärischen Streifen geprägt ist. Da Brüssel gleichzeitig EU-Verwaltungszentrum wie auch Sitz des NATO-Hauptquartiers ist, kann eine Abstimmung auf kurzem Wege erfolgen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigt sich erfreut: „Militärische Mobilität kann ein Flaggschiff der NATO-EU-Zusammenarbeit sein.“ (NATO 2017)

Unter dem Kürzel »PESCO« (Permanent Structured Cooperation; Ständige stukturierte Zusammenarbeit) will die Europäische Union die Mitgliedsländer zu einer kontinuierlichen militärischen Zusammenarbeit verpflichten. Im Kern geht es darum, die EU-Mitgliedsstaaten schneller und leichter für militärische EU-Missionen aktivieren zu können, ohne dass ein einzelnes EU-Mitglied derartige Aktivitäten verzögern oder gar blockieren könnte. Mit dabei sind inzwischen 25 EU-Mitglieder; nicht beteiligt sind Großbritannien, das die EU verlässt, Dänemark, das traditionell bei der europäischen Militärpolitik nicht mitmacht, und Malta, das die in PESCO vorgesehene regelmäßige Erhöhung der Militärausgaben ablehnt. (Mehr zu PESCO siehe Wagner 2018)

Zwei Klassen von Mitgliedern

PESCO wurde von Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien initiiert, die sowohl NATO- als auch EU-Mitgliedsstaaten sind. Sie hoffen, dass ihre Rüstungsindustrie von PESCO profitiert. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang, dass PESCO mit dem in der EU-Militärpolitik bislang geltenden Konsensprinzip bricht. Jetzt dominieren die großen EU-Mitglieder über die kleinen, denn eine Entscheidung gilt dann als getroffen, wenn sie 65 % der Bevölkerung und mindestens 55 % der Staaten hinter sich hat. Andersherum betrachtet haben Deutschland und Frankreich inzwischen eine Sperrminorität und können jede Entscheidung blockieren, die ihnen nicht behagt. Stimmberechtigt sind bei PESCO ohnehin nur die EU-Mitglieder, die sich an der »strukturierten Zusammenarbeit« beteiligen. Somit entwickeln sich hinsichtlich der EU-Militärpolitik inzwischen zwei Klassen von Mitgliedern: solche, die mitentscheiden dürfen, und solche, die mit deren Entscheidungen leben müssen.

Deutschland und Frankreich sicherten sich durch die EU-Militärkooperation einen erheblichen Einfluss. Die anderen Mitglieder mussten sich auf die Einhaltung von Rüstungskriterien verpflichten, welche die beiden Großen im Vorfeld festgezurrt hatten. Jedes teilnehmende Land muss zudem als strategisch bedeutsam erkannte Fähigkeiten entwickeln und bereitstellen sowie einen wesentlichen Beitrag zu EU-Gefechtsverbänden leisten. Außerdem müssen sich die PESCO-Staaten zu einer jährlichen realen, also inflationsbereinigten, Aufstockung ihrer Rüstungshaushalte bereit erklären (siehe dazu z.B. EU Defence 2018). Die PESCO-Mitglieder haben sogar eingewilligt, sich jährlich von der EU-Verteidigungsagentur evaluieren zu lassen, ob sie den zugesagten Aufrüstungsverpflichtungen nachgekommen sind. Dadurch besteht die Möglichkeit, rüstungsunwillige Staaten mit Sanktionen zu belegen, sie sogar per Mehrheitsentscheid aus der PESCO-Zusammenarbeit auszuschließen und damit zum EU-Mitglied zweiter Klasse zu erklären. Das erinnert stark an die Diskussion um die Umsetzung des Zwei-Prozent-Ziels der NATO (Henken 2018).

Was im Umfeld von PESCO passiert

Es wird häufig argumentiert, PESCO ermögliche Einsparungen, weil innerhalb der EU Doppelstrukturen verzichtbar würden. In Wirklichkeit führen die zahlreichen Projekte jedoch zu Mehrausgaben, die – wie am Beispiel der »militärischen Mobilität« gezeigt – nicht durchgängig im Verteidigungshaushalt auftauchen. Deutschland hat bei sechs PESCO-Projekten die Koordination übernommen (BMVg 2018), u.a. bei folgenden:

  • Mit dem Aufbau eines »Europäischen Logistiknetzwerks« wird die Idee von »Military Schengen« umgesetzt. Perfekt ergänzt werden diese Pläne durch die Einrichtung des neuen NATO-»Kommandozentrums für den rückwärtigen Raum« (Joint Support Enabling Command DEU) in der süddeutschen Stadt Ulm. Das Kommando wurde von der NATO im Juni 2018 beschlossen, soll 2021 voll einsatzbereit sein und ist zuständig für die Militärlogistik, die die schnelle Truppenverlegung innerhalb Europas ermöglicht (Kommando Streitkräftebasis 2018).
  • Das »Europäische Sanitätskommando«, das die medizinische Versorgung für das Militär europaweit effizienter gestalten soll, greift auf die deutsche Erfahrung mit Feldlazaretten zurück. Die Bundeswehrpraxis mit ihrer ortsnahen Versorgung in den Einsatzgebieten hat sich als effizienter erwiesen als das US-Modell, bei dem Verletzte in ein bestens ausgestattetes Militärkrankenhaus in der Etappe ausflogen werden, welches die Opfer oftmals jedoch nicht lebend erreichen.
  • Das »EU-Kompetenzzentrum Trainingsmissionen« soll die Kräfte für Operationen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU ausbilden und im Rahmen der Krisenreaktionskräfte (EUFOR CROC) künftig auch ohne Großbritannien 60.000 Soldaten ins Feld führen können.

Inzwischen wurden 34 PESCO-Projekte beschlossen, die von der Elektronischen Kampfführung (EloKa) in einem elektromagnetischen Umfeld über den Kampfhubschrauber »Tiger Mark 3« bis zur bewaffneten Eurodrohne (MALE RPAS) und dem deutsch-französischen Kampfpanzer (MGCS) reichen.

Finanziert werden diese Projekte zumindest teilweise über den Europäischen Verteidigungsfonds, ein 13 Milliarden schweres Programm, das der parlamentarischen Kontrolle weitgehend entzogen ist. Dieser Fonds wird aus dem allgemeinen EU-Haushalt finanziert, der eigentlich gar keine Ausgaben mit militärischen Bezügen zulässt (siehe dazu z.B. Töpfer 2018).

Dass man die europäische Zusammenarbeit zunehmend auf den militärischen Bereich fokussiert, zeigt sich auch an der von Frankreich angestoßenen »Europäischen Interventionsinitiative« (EI2), die gemeinsame Militärinterventionen erleichtern soll. Da diese Initiative formal außerhalb der EU-Strukturen läuft, wird sie weder vom Brexit tangiert noch behindert sie eine Mitarbeit Dänemarks, das sich von PESCO fernhält. Deutschland zeigte sich ursprünglich gegenüber dieser Idee des französischen Präsidenten Macron skeptisch, schloss sich inzwischen jedoch der neben der NATO und PESCO dritten militärischen Zusammenarbeit in Europa an.

EI2 wird im Gegensatz zu PESCO als nicht-bindend bezeichnet. Mitglieder der EI2 sind Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Portugal und Spanien. Auffallend an dieser Ländergruppe ist die Tatsache, dass nur ein osteuropäischer Staat, mit Finnland aber auch ein Nicht-NATO-Staat dazugehört. Die »Koalition der Willigen« verschafft sich mit EI2 die Option, ohne Mitwirkung der NATO, der USA oder relevanter osteuropäischer Staaten tätig zu sein – stellt sich dabei aber nicht gegen die USA. Die von Macron im Zusammenhang mit der europäischen Militärzusammenarbeit an anderer Stelle geäußerte Ausrichtung auch gegen die USA hatte ihm nicht viel Zuspruch gebracht.

Literatur

Bundesministerium der Verteidigung/BMVg (2018): PESCO – Mehr Zusammenarbeit bei der Verteidigung. 11.12.2018, bmvg.de, Aktuelles.

European Commission/EC (2018): Joint Communication to the European Parliament and the Council on the Action Plan on Military Mobility. Dokument JOIN(2018) 5 final vom 28.3.2018.

EU Defence (2018): Ständige Strukturierte Zusammenarbeit /SSZ) – Vertiefung der Verteidigungszusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaaten. Fact Sheet, November 2018; verfügbar auf eeas.europa.eu.

Henken, L. (2018): Das Zwei-Prozent-Ziel – Deutsche Aufrüstung und kein Ende? S. 27 in dieser Ausgabe von W&F.

Kommando Streitkräftebasis (2018): Joint ­Support Enabling Command DEU. 24.10.2018, ­kommando.streitkraeftebasis.de.

NATO (2017): Doorstep by NATO Secretary General Jens Stoltenberg at the start of the European Union Foreign Affairs Council in Defence format. Transkript von Äußerungen gegenüber Journalisten am 13.11.2017; nato.int.

Schmitt, E. (2018): U.S. Troops Train in Eastern Europe in Echoes of the Cold War. New York Times, 6.8.2017.

Töpfer, E. (2018): Pradigmenwechsel? Rüstungsforschung in der EU. W&F 2-2018, S. 27-30.

Wagner, J. (2018): Trump oder Brexit? Ursachen und Ausprägungen des EU-Rüstungsschubs. W&F 1-2018, S. 28-31.

Christoph Jehle wurde Anfang der 1990er Jahre in Freiburg zum Dr. rer. nat. promoviert und arbeitet seither als Berater für Unternehmen und die öffentliche Hand in Europa und Fernost. Er lebt heute im Markgräflerland südlich von Freiburg sowie in Fernost und schreibt als freier Autor für verschiedene Medien.

Grenzarbeiter*innen

Grenzarbeiter*innen

Akteure und Ortsproduktionen im Grenzregime 2015

von David Scheuing

Der »Balkan-Routen-Korridor«, der sich 2015 im Zuge des »langen Sommers der Migration« von Griechenland bis Deutschland erstreckte, war eine neue Form der transnationalen Grenzziehung quer durch Europa. Die Entstehung dieser »Geographie der Grenze« war den spezifischen Gegebenheiten und dem Handeln der Akteure der damaligen Fluchtbewegungen geschuldet. Vielfach wurden Regierungen und Geflüchtete als diese Akteure identifiziert. Humanitären Akteuren wird oft keine eigene Akteurs-Rolle zugestanden, oder diese wird weitgehend ausgeblendet. Um dieser Verkürzung zu begegnen, untersucht dieser Artikel die Rolle der beteiligten intermediären Akteure am Beispiel der (ehemaligen jugoslawischen) Republik Mazedonien.

Es war ein kalter Januartag 2016, als ich das erste Mal vor dem Lager »TC Tabanovce« im Norden der (ehemaligen jugoslawischen) Republik Mazedonien (im Folgenden: (ej)RM)1 stand und mich mit Mitarbeitenden von UNICEF unterhielt. Das bis heute bestehende Lager ist ein kleiner Teil der neuen Grenzsituation in Europa, die unter dem Namen »Balkan-Routen-Korridor« bekannt wurde (Kasparek 2016; Speer 2017). Der »Korridor« führte von Griechenland durch die (ej)RM, Serbien, kurzzeitig Ungarn, später Kroatien, Slowenien und Österreich nach Deutschland.

Vom Zusammenbruch des Grenzregimes zum Korridor

Der Korridor entstand im langen Sommer der Migration“ (Kasparek/Speer 2015), als das bis dato gültige Grenzregime-Arrangement der Europäischen Union aus Dublin-Verordnung (Dublin III), Schengen-Abkommen und Grenzkon­trollen an der europäischen Außengrenze zusammenbrach (Hess et al. 2017).2 Der Korridor war ein Aushandlungsergebnis der beteiligten Akteure, das heißt die Antwort auf den Zusammenbruch verschiedener Elemente des Grenzregimes. Entgegen früherer Strukturen des Grenzregimes war der Korridor auf den erleichterten Transit vieler Geflüchteter nach EUropa3 ausgerichtet und nicht primär auf deren Abschreckung. Dafür setzte sich das Regime des Korridors als transnationaler Raum über Visa- und Asylprozesse hinweg und figurierte als eine durchgehende, nach innen gekehrte Grenze Europas, an der eine Vielzahl an Akteuren beteiligt war. Wie dieser Korridor als transnationaler Raum entstand, wird hier am Beispiel der (ej)RM analysiert.

»Korridor machen«

Der Korridor ist nicht einfach ein Raum – er wird zu einem solchen gemacht durch die Gestaltung des Diskurses und die Handlungen der beteiligten Akteure. Vertreter*innen handlungstheoretischer Zugänge in der Geographie (Werlen 2010) denken Räumlichkeit, Ort und Geographie stets von den Handlungen der Akteure her. Sie sind als solche ausschließlich soziale Konzepte und nicht materiell vorgeprägte Gegenstände. Es geht also darum, die verräumlichenden Handlungsausführungen, -motive und -legitimierungen der Akteure zu verstehen: ihr Tun und wie sie ihr Tun begründen. Hier kommt die Methode der (ethnographischen) Grenzregimeanalyse nach Tsianos/Hess (2010) zum Einsatz. Sie betrachtet die Konflikthaftigkeit der Positionen aller Akteure und deren gemeinsamen Aushandlungsprozess um die Grenze. Gemeinsam ermöglichen es diese Herangehensweisen, eine »Geographie der Grenze« zu entwickeln.

Zur Rolle und Funktion intermediärer Akteure

In Bezug auf den Balkan-Routen-Korridor fehlte bislang eine Analyse der Rolle und Funktion der intermediären Akteure.4 Daher steht deren spezifische Leistung bei der Herstellung des Korridors hier im Fokus.

Mit intermediären Akteuren ist grob umrissen die Gruppe nicht-staatlicher (inter-) nationaler (Hilfs-) Organisationen gemeint, deren Logos beispielsweise auf allen Zelten, Schlafsäcken, Essensrationen oder Medikamenten prangten. Intermediäre Akteure sind also alle Akteure, die nicht Geflüchtete und nicht direkt zentralstaatliche Akteure sind – egal wie groß dieser Akteur dann jeweils ist. Intermediär nenne ich sie, da sie als »Block« zwischen den oftmals in empirischen Studien einander entgegengesetzten Positionen von Staat und Geflüchteten agieren. Sie vermitteln zwischen den Positionen, sind aber keine durchführenden Mittler, sondern eigenständig agierende Zwischenglieder. Sie sind also nur intermediär, soweit sie ihre Arbeit auf die Geflüchteten hin ausrichten. Akteure sind dabei Individuen oder Organisationen.5

Entwicklungsphasen des Korridors in der (ej)RM

Die Entwicklung des Balkan-Routen-Korridors verlief in drei Phasen, die sich grob wie folgt abgrenzen lassen:

I: Ringen um die Menschlichkeit

Spätestens im Frühjahr 2015 begannen die intermediären Akteure mit ihrer jeweiligen Intervention in der (ej)RM, abhängig von ihrer spezifischen Definition eines »Notfalls«. Für viele war dabei einerseits die politische Krise um das Abschiebegefängnis »Gazi Baba« ausschlaggebend (HRW 2015, Global Detention Project 2017), andererseits die Zahl der täglich ankommenden Flüchtenden.

Zunächst stand das Ringen um die Menschlichkeit im Zentrum: Die autonomen Bewegungen der Geflüchteten hatten den Korridor „aufgebrochen“ (Legis, Interview 17.8.2016), nun galt es die neu entstehenden Routen zu organisieren und für legislative Schritte zu werben.

Intermediäre Akteure intervenierten aufgrund der mazedonischen Gesetzgebung zu Menschenschmuggel zunächst vor allem durch »direkte Hilfe« entlang der Routen: durch Essensausgabe, medizinische (Notfall-) Versorgung oder Fahrradreparaturen. In dieser Phase entstanden zentrale, aber zunächst kurzlebige Anlaufstellen, die dem später etablierten Korridor vorausgingen und weitestgehend vom Staat toleriert wurden (beispielsweise die Versorgung der Geflüchteten in der Sinan-Pascha-Moschee in Kumanovo oder ein vorübergehend genutzter Unterstand am Bahnhof in Gevgelija). Staatliche Akteure waren in dieser Phase nicht organisierend präsent, mit Ausnahme der Polizei als vornehmlich repressivem Akteur.

Parallel lobbyierten nationale wie internationale Nichtregierungs- und Hilfsorganisationen (UNICEF, UNHCR, Legis, Helsinki Committee) und politische Aktivist*innen dafür, eine ähnliche 72-Stunden-Regelung wie Serbien einzuführen. Geflüchteten stand es hiernach in den 72 Stunden nach Einreise frei, Asyl zu beantragen oder das Land wieder zu verlassen. Mit der Gesetzesänderung Ende Juni 2015 war diese Lobbyarbeit der intermediären Akteure erfolgreich.

Die Gesetzesänderung hatte unmittelbar raumkonsitutive Wirkung, indem intermediäre Akteure nun helfen konnten, ohne als vermeintliche Schmuggler*innen kriminalisiert zu werden; Geflüchtete wiederum konnten sich frei bewegen und so versuchen, das Land auf legalem Wege binnen dreier Tage zu durchqueren. Die Orte des Transits blieben allerdings zunächst weiterhin provisorisch – Essen wurde beispielsweise beim Bahnhof Tabanovce weiterhin auf dem Parkplatz ausgegeben. Dieser Ort sollte später zum Durchgangslager Tabanovce werden.

II: Institutionalisierung und Ausnahmezustand

Ende August 2015 verkündete das mazedonische Parlament den lokal begrenzten Ausnahmezustand an den Grenzübergängen bei Gevgelija im Süden und Tabanovce im Norden. Durch den Ausnahmezustand wurde die faktische Bewegungsfreiheit der Geflüchteten wieder stärker staatlich kontrolliert (Legis, Interview 17.8.2016). Zugleich passierten weiterhin mehrere Zugtransporte pro Tag (mit bis zu 700 Menschen pro Zug) das Land.6

Erneut fühlten sich die intermediären Organisationen zur Intervention »gezwungen«, vor allem da der Staat inaktiv blieb, den Transit in irgendeiner Weise leichter oder annehmbarer zu gestalten. Das UNHCR – als der wohl zentralste Akteur – begann, die Durchgangslager zu planen und nach entsprechenden Lokalitäten zu fragen. Aufgrund der Transportsituation schienen Lager nahe der Bahnstrecke vonnöten. So wurden Orte gewählt, die sich in den vorangegangen Monaten durch die Autonomie der Migration herauskristallisiert hatten, wie Tabanovce und Gevgelija, obwohl dies keineswegs selbstevident war: So konnte UNDP als vermittelnder Akteur sogar die Verlegung des Lagers Gevgelija vom Bahnhof in Richtung griechischer Grenze erreichen (UNDP, Interview 15.8.16). Planung, Aufbau und Strukturierung der Lager wurde weitestgehend den intermediären Akteuren überlassen (UNHCR, Interview 31.3.16; UNICEF, Interview 29.3.16; Legis 2015, S. 12). Das UNHCR sah sich gar vor eine vermeintliche Koordinationsverantwortung gestellt, scheute aber davor zurück, quasi-souveräne Rechte innerhalb des Lagers gegenüber lokalen Initiativen auszuüben: „Auf der einen Seite lag die Verantwortung plötzlich bei uns, auf der anderen Seite […] haben wir [hier] gar keine Befugnisse.“ (UNHCR, Interview 31.3.2016) Das Interesse des Staates reduzierte sich in dieser Zeit vornehmlich auf »geordnete Migration« (orderly migration). Im Kern hieß das die möglichst vollständige Registrierung der Flüchtenden (IOM, Interview 20.09.2016). Doch selbst diese hochamtliche Arbeit wurde am Ende von der Nichtregierungsorganisation (NGO) MYLA übernommen, die selbst im Bereich des Asylrechts arbeitet. Sie wurde dafür vom UNHCR bezahlt (UNHCR II, Interview 20.07.16) und von den USA mit Geräten ausgestattet (Deutsche Botschaft, Interview 19.09.16).

Als zum Ende des Jahres 2015 dann doch staatliche Akteure – vornehmlich das mazedonische Ministerium für Arbeit und Sozialpolitik (MLSP/MTSP) und das Krisenkoordinationszentrum – die Verwaltung der Korridorstrukturen übernahmen, mussten Geflüchtete und intermediäre Akteure ein sich zunehmend fortifizierendes Arbeitsumfeld hinnehmen. Zunächst wurden die Lager mit 3 m hohen Zäunen und Nato-Stacheldraht abgesperrt; schließlich wurden auch die Eingangs- und Ausgangskorridore nach Serbien und von Griechenland her eingezäunt. Das UNHCR sprach im Interview von einem zunehmenden „Gefängnis-Design“ (UNHCR II, Interview 20.7.16). Dennoch blieb der Korridor in dieser institutionalisierten Form bis zum Frühjahr 2016 offen.

III: Willkürlicher Arrest und das Ende des Korridors

Am 8. März 2016 endete der Korridor weitestgehend. Als Reaktion auf die angekündigte Schließung der Grenzen in Österreich und Slowenien stoppte die mazedonische Regierung die 72-Stunden-Regelung. Für die Geflüchteten bedeutete dies eine willkürliche Quasi-Gefangennahme in den Durchgangslagern (Global Detention Project 2017). Im April 2016 passte das mazedonische Parlament die Asylgesetzgebung entsprechend an. Die Geflüchteten, die nach dem Ende des Korridors noch in den Lagern verblieben, befanden sich im Limbo der Legalität: Innerhalb der Lager konnten sie (nach Ablauf der 72 Stunden) keinen Asylantrag mehr stellen, „da die Lager sich nicht an der Grenze befinden“ (MLSP/MTSP, Interview 29.9.16). So wurden die Lager zu „legalen Orten für illegalen Aufenthalt“ (MYLA, Interview 27.9.16). Der extraterritoriale Status der Lager vertiefte sich dadurch noch mehr, anstatt beendet zu werden.7

Die intermediären Akteure veränderten folglich ihre Arbeitsweise, blieben aber zu großen Teilen präsent, solange im Lager noch Menschen lebten. So wurde versucht, die Lager auf die Bedingungen eines längeren Aufenthaltes hin umzubauen. Allerdings waren die Lager dafür nicht ausgelegt (UNHCR II, Interview 20.7.2016). Zusätzliche Wohncontainer wurden aufgebaut, Wege gepflastert und Spielplätze angelegt, Wasseraufbereitungsanlagen installiert und das Lager Tabanovce nochmal signifikant vergrößert und verstetigt (hier lebten Anfang März über 1.000 Menschen in widrigen Umständen). Die Ressourcen für den Umbau mobilisierten intermediäre Akteure weitgehend aus internationalen Nothilfe-Töpfen.

Obwohl der Staat nun große Kontrolle ausübte, halfen die NGOs durch ihre Präsenz und Arbeit »solange es eben sein muss« beim Erhalt der Lager mit.

Die Situation wurde auch als Chance begriffen. Einige Interviewte meinten, es sei einfacher geworden, Geflüchteten zu helfen, da sie nun längerfristig vor Ort waren. Erst mit zunehmender Dauer des Limbo wurde die Kritik an der Situation auch unter den Interviewpartner*innen lauter. Außerhalb der Lager begann in dieser Phase überhaupt nur eine NGO mit dem Monitoring der illegalisierten Fluchtbewegungen (Legis 2017), alle anderen Organisationen fokussierten sich auf die Arbeit in den Lagern. Diese Entscheidung hatte konkrete Folgen für die Unterstützung der Geflüchteten: Die Überreste des »Korridors« galten als die »gute« und »legitime« Räumlichkeit, Strukturen zur Unterstützung illegalisierter Fluchtbewegungen bekamen keinen Rückhalt.

„Das ist unser Job“: Bedingungen und Legitimierung des Handelns

Doch nicht nur die konkreten Taten der einzelnen Organisationen und ihr Zusammenwirken sind für die Produktion des Korridors von Interesse. Vielmehr spielt für handlungszentrierte Geographie auch eine Rolle, wie die Organisationen begründen, auf welche Weise und warum sie intervenierten. Hierbei rückten die folgenden Faktoren in den Vordergrund:

  • Die Art des (vorherigen) Engagements: Akteure, die ein langfristiges, sektorales Interesse an Migrationsarbeit hatten, waren in ihren standardisierten Prozessen geübt und bekannte sowie mächtige Akteure. Organisationen, die eher spontan auf den Plan traten, erschienen beinahe willkürlich in ihrer Schwerpunktsetzung. Andererseits waren sie flexibel genug, um ihre Arbeitsfelder der jeweiligen Situation anzupassen. Doch mussten sie sich ihren Status erst erarbeiten (z.B. Legis).
  • Kompetenz und Kapazität im Aufgabenfeld: Die Akteure befanden sich miteinander in einem Ringen um Kompetenzfeststellung und Kapazitäten. Die eigene Effektivität immer wieder neu zu betonen, diente vor allem dazu, sich selbst zu legitimieren. Je mächtiger und zentraler die Akteure, desto eher betonten sie die Notwendigkeit zur Koordination der Intervention. Die zentrale Stellung dieser Akteure wurde zusätzlich gefestigt, da fast alle Gelder in die Hände der bekannten internationalen NGOs und Organisationen flossen.
  • Die Rolle des Staates: Der Staat wurde von fast allen Interviewpartner*innen als „unfähig“ oder „nicht im Stande zu handeln beschrieben.8 Dies erlaubte es den intermediären Akteuren wiederum, relativ frei zu agieren und vielerorts eigenständig zu bestimmen, wie und wo Ressourcen zum Einsatz kamen.

Die Intermediären Akteure legitimierten ihre Intervention im Kern mit drei Argumentationslinien:

  • Die humanitäre Notlage der Geflüchteten: Es galt, die Menschenwürde (humanity) der Geflüchteten zu sichern. Die Art dieser Legitimation variierte je nach Ansatz und reichte von emotionaler Opferdarstellung über Ansätze des Migrationsmanagement bis hin zu einer an den Menschenrechten orientierten prinzipiell-humanitären Einstellung, die Geflüchtete als diskriminierte Gruppe betrachtet. Um die Dringlichkeit der Intervention zu verstärken, griffen Akteure auch auf drastische Raumbilder zurück: »Afrika und Asien« mussten als Vergleichsräume herhalten – Metaphern für vermeintlich ewige humanitäre Krisen.
  • Die notwendige Kontrolle: Hier wurde argumentiert, dass ein menschenwürdiger Verlauf der Migration nur unter Kontrolle effektiv sicherzustellen sei. Sich auf diese Ebene der Sachzwang-Argumentation zu begeben, diente der Entpolitisierung der Interventionen. Dies ging in einigen Fällen so weit, dass Akteure selbst mit den Sicherheitskräften die Grenzen patrouillierten. Damit fallen diese Akteure in eine aus der Literatur wohlbekannte Verschränkung aus Sicherheitslogik und Humanitarismus (Malkki 1995; Fassin 2010; Mezzadra/Neilson 2013, S. 187).
  • Sichere Räume: Da in dieser Logik der Raum, in dem sich Geflüchtete bewegen konnten, ebenfalls kontrolliert werden musste, griffen einige wenige Akteure auf explizite „raumbezogene Semantiken“ (Redepenning 2006) zurück. Der Raum des Korridors wurde als der Ort des Schutzes und der Unterstützung entworfen. »Gefahr« und »Kriminelle« wurden allesamt außerhalb des Korridors lokalisiert, was dieses »Draußen« als per se gefährlich für Geflüchtete markierte. Dies war damit auch Grund, »dort draußen« nicht zu intervenieren. Gleichzeitig funktionierte der Korridor durch seinen räumlichen Ausschluss aus der Nation: Die Lager wurden von den Akteuren als artifizielle Orte markiert, die eigentlich nicht zum Staat gehören. Die Orte der Lager sind damit aus der territorialen Logik des Staates ausgeschnitten, dies macht allerdings wiederum die Intervention der Akteure scheinbar dringlich notwendig.

Intermediäre Akteure in den Geographien der Grenze

Intermediäre Akteure hatten also im Kontext der (ej)RM für die Etablierung des Korridors eine zentrale Rolle und waren relativ handlungsmächtige Akteure, allen voran das UNHCR. Es ist jedoch ersichtlich, dass der Korridor letztlich nur dort zugelassen wurde, wo er den Interessen des Staates (Souveränität, Territorialität, Gewaltmonopol, wirtschaftliche Prosperität) nicht entgegenstand. Später wurden diese Handlungsmöglichkeiten durch staatliche Autorität und deren ausschließende (halb-) legale Regulierung teilweise verunmöglicht. Der Korridor als Grenzregime ist dennoch in seiner Gänze nur zu verstehen, wenn alle beteiligten Akteure in ihrer Rolle und Bedeutung für seine Entstehung betrachtet und kritisch gewürdigt werden. Der übermächtigen Rolle des Staates sind hier zumindest in Teilen Handlungen von Geflüchteten und intermediären Akteuren entgegen- beziehungsweise beigestellt worden.

Kritisch bleibt zu bemerken, dass die meisten der humanitären intermediären Akteure auch in den Lagern aktiv blieben, als der Korridor endete, zumeist in den Feldern Monitoring, Versorgung und Bildung. Die damit einhergehende Komplizenschaft in der Aufrechterhaltung repressiver Systeme wurde allerdings von keinem der Akteure selbst thematisiert. Da der Korridor der legitime Ort für diese Form der Intervention zu sein schien, hinterfragten diese Akteure auch nicht, ob es nicht andere Möglichkeiten geben könnte, sondern hielten an Form und Charakter der Lager fest – auch als sie quasi-Gefängnisse waren. Die Intervention der Akteure lässt sich hier am besten als eine Abwägung der Balance von humanitärer Intervention und Zugeständnissen an staatliche Souveränität fassen. Dies gilt freilich nicht für alle Akteure im Handlungsfeld, die interviewt wurden.

Die Betrachtung der lokalen Aushandlungsprozesse in der (ej)RM verdeutlicht die Einflussmöglichkeiten und die Vielstimmigkeit der Rollen intermediärer Akteure bei der Entstehung des Korridors. Es bleibt festzuhalten: Wenn die »Geographien der Grenze« in Zukunft betrachtet werden, kann das Feld der intermediären Akteure nicht weiter ausgeblendet werden.

Anmerkungen

1) Der Namensstreit um die Benennung des Staates »Mazedonien« hält seit Langem an. Weder zum Zeitpunkt des Forschungsprojekts noch jetzt gibt es eine Entscheidung, die von allen Akteuren international akzeptiert wird bzw. demokratisch abgesichert ist. Daher wird hier das Akronym verwendet.

2) Ein Grenzregime wird in den Handlungen zur und Konflikten um die Grenze einer Vielzahl daran beteiligter Akteure etabliert. Ein Grenzregime muss seine Stabilität stets aufs Neue unter Beweis stellen. Siehe dazu Mezzadra/Neilson 2013, S. 182; Panagiotidis/Tsianos 2007, S. 71

3) Für die Begründung dieser Schreibweise siehe Bialasiewicz 2011.

4) Bis heute ist die einzige vergleichbare Forschung eine Akteursanalyse in Kroatien; vgl. Demir/Larsen/Horvat 2016. Für die Bedeutung der Perspektive vgl. diese Arbeit mit dem konträren Ansatz der Studie von Beznec/Speer/Stojic Mitrovic 2017.

5) Für die Untersuchung wurden Interviews geführt mit Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen/UNDP, Helsinki Committee, Hohe Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen/UNOHCHR, Hohes Flüchtlingeskommissariat der Vereinten Nationen/­UNHCR, Human Rights Watch, International Organization for Migration/IOM, Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen/UNICEF, LaStrada/Open Gate, Legis, Macedonian Young Lawyers Association/MYLA, Regionales Krisenkoordinationszentrum, Rotes Kreuz, ausserdem Vertreter*innen der EU-Mission, der deutschen Botschaft, des Vizbegovo Center for Asylum Seekers, des Ministeriums für Arbeit und Sozialpolitik (MLSP/MTSP) sowie ein Anwohner und politische Aktivist*innen. Für einen Blick auf die bestehende Landschaft der intermediären Akteure in der (ej)RM vor 2011 siehe Geddes/Taylor 2016, S. 601.

6) Das staatliche Bahnunternehmen der (ej)RM verlangte pro Person im Schnitt 25 Euro. Da der Transport im Herbst 2015 quasi auf die Bahn monopolisiert wurde, hat diese mit dem Transport der Geflüchteten vermutlich mehrere Millionen Euro eingenommen.

7) Der Ausnahmezustand, der für die Aufrechterhaltung dieser Situation notwendig ist, wurde seither immer rechtzeitig vom Parlament verlängert, auch nach der Parlamentswahl und dem Regierungswechsel von 2017. Der Ausnahmezustand ist im Oktober 2018 weiterhin in Kraft.

8) Hier ist die nationale mazedonische Politik als Kontextfaktor zu berücksichtigen. Die politische Krise um die nationalkonservative Regierungskoalition VMRO-DPMNE 2015 band viele Ressourcen. Trotz Beilegung des politischen Konfliktes (Przino Agreement vom Juli 2015) kam es auch 2016 zu Protesten (?????? ??????????/Bunte Revolution April-Juli 2016, vgl. Ozimec 2016), sodass auch in dieser Zeit die politischen Kräfte auf andere Themen fokussierten.

Literatur

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Bialasiewicz, L. (ed.) (2011): Europe and the World – EU Geopolitics and the transformation of European Space. Hampshire/Berlington: Ashgate.

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David Scheuing studierte Friedens- und Konfliktforschung in Marburg und ist Preisträger des Christiane-Rajewsky-Preis 2018. Dieser Artikel baut auf seiner prämierten Masterarbeit auf.

Paradigmenwechsel?


Paradigmenwechsel?

Rüstungsforschung in der EU

von Eric Töpfer

Jährlich 500 Millionen Euro will die EU-Kommission im Rahmen eines »Europäischen Verteidigungsfonds« ab 2020 in die Rüstungsforschung investieren. Damit übernimmt sie erstmals und auf fragwürdiger rechtlicher Grundlage die Initiative in einem Feld, das bislang der intergouvernementalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und der Europäischen Verteidigungsagentur vorbehalten war. Angebahnt hat sich die Entscheidung schon länger. Der Beitrag zeichnet nach, wie die Forschungs- und Industriepolitik der EU sukzessive für militär- und rüstungspolitische Interessen instrumentalisiert wurde.

Im Juli 2017 meldete das Handelsblatt einen »Quantensprung« in der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der Europäischen Union. Erstmals, so die Gastautorinnen von der Stiftung Wissenschaft und Politik, werde die Europäische Kommission in der Verteidigungspolitik und -industrie aktiv (Major und Lohmann 2017). Hintergrund waren die Pläne der EU-Kommission für einen Europäischen Verteidigungsfonds, mit dem ab 2020 jährlich 500 Mio. Euro für Wehrforschung und eine Milliarde Euro für die Beschaffung von Rüstungsgütern aus dem EU-Haushalt bereitgestellt werden sollen (Europäische Kommission 2017). Eigentlich verbietet Artikel 41 des EU-Vertrags die Finanzierung gemeinsamer Rüstungsprojekte aus dem Budget der Union, aber die Kommission bemühte mit Artikel 173 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ihre industriepolitischen Kompetenzen, um den Vorstoß zu rechtfertigen (Lösing und Wagner 2017).

In der Tat strebt die Kommission damit nach einer aktiveren Rolle in einem Feld, das lange als exklusive Domäne der Mitgliedstaaten galt. Wirkliches Neuland betrat sie allerdings nicht. Bei der vermeintlichen »stillen Revolution« handelt es sich vielmehr um den vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung, die in vielen kleinen Schritten zur wachsenden Instrumentalisierung der Industrie- und Forschungspolitik der EU für rüstungs- und militärpolitische Interessen geführt hat.

Sicherheitsforschung als Brücke zur Wehrforschung

Zurückverfolgen lässt sich diese Entwicklung bis ins Jahr 2001, als die Kommission die European Advisory Group on Aerospace – eine Gruppe aus fünf EU-Kommissar*innen, dem Hohen Vertreter für EU-Außen- und Sicherheitspolitik, zwei Europaparlamentariern sowie sieben Industrievertretern – einsetzte, um Empfehlungen zur Förderung der Luft- und Raumfahrtindustrie zu erarbeiten. In ihrem Abschlussbericht »The Strategic Aerospace Review for the 21st Century« (STAR 21) betonte die Gruppe die strategische Bedeutung der Luft- und Raumfahrtindustrie als Arbeitgeber und Innovationstreiber sowie als Anbieter von Gütern, welche als entscheidend für die innere Sicherheit und externe Machtprojektion angesehen wurden. Insbesondere mit Blick auf die US-amerikanische Konkurrenz machte sich die Gruppe stark für die Förderung von Forschung im Bereich ziviler Luftfahrt und für eine „europäische Rüstungspolitik, die den Märkten für Verteidigungs- und Sicherheitsausrüstung Struktur verleiht und eine nachhaltige und wettbewerbsfähige technologische und industrielle Basis ermöglicht“ (European Commission 2002, S. 40).

Es folgte – parallel zur Einrichtung der Europäischen Verteidigungsagentur unter dem Dach des Ministerrates und zur Verabschiedung der »Europäischen Sicherheitsstrategie« – die Vorbereitung des ersten Sicherheitsforschungsprogramms der EU-Kommission. Wieder wurde ein informelles Gremium aus EU-Kommissar*innen, dem Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, Europaparlamentarier*innen und Industrievertreter*innen eingesetzt. Zusätzlich beteiligt waren diesmal Forschungseinrichtungen, Vertreter*innen einiger nationaler Verteidigungsministerien sowie von WEAG und OCCAR, zwei Gremien der multilateralen Rüstungskooperation.1 „Als Brücke zwischen ziviler Forschung und Wehrforschung sollte ein europäisches Sicherheitsforschungsprogramm die Vorteile nutzen, die sich aus der Dualität von Technologien und der wachsenden Überschneidung zwischen militärischen und nicht-militärischen Sicherheitsaufgaben ergeben, um die Lücke zwischen beiden Forschungssektoren zu schließen“, hieß es im Abschlussbericht dieser »Group of Personalities« von 2004, der den Auftakt des Programms ankündigte (Group of Personalities 2004, S. 16).

Die anschließende »Preparatory Action for Security Research«, eine von 2004 bis 2006 laufende Vorphase, wurde mit 65 Mio. Euro finanziert. An zwei Dritteln der 39 Pilotprojekte waren große Technologiekonzerne mit starken Rüstungssparten, wie Thales, EADS, Finmeccanica, Sagem oder BAE Systems, beteiligt (Hayes 2009, S. 12). Das eigentliche Sicherheitsforschungsprogramm etablierte die EU-Kommission schließlich unter dem Dach des 7. Forschungsrahmenprogramms (FP7). Etwa 1,4 Mrd. Euro flossen von 2007 bis 2013 in mehr als 250 Projekte zur Entwicklung von Sicherheitstechnologien. Darunter waren Megaprojekte, die mit Budgets von bis zu 45 Mio. Euro auf die Entwicklung großtechnischer Lösungen zur Kontrolle der EU-Außengrenzen, zum Schutz von Großereignissen und Transportinfrastrukturen abzielten. Unter anderem ging es um den Ausbau und die Integration nationaler Grenzüberwachungssysteme, die Nutzung von semiautonomen Robotern für die Migrationsabwehr, Systemlösungen für Sensornetzwerke und algorithmische Überwachung sowie die Entwicklung von Command-and-Control-Plattformen zur »Full Spectrum«-Lagebilderfassung in Echtzeit und die vernetzte Führung heterogener Einsatzkräfte. Wieder dominierten große rüstungserfahrene Technologiekonzerne, wie SELEX, Thales, Indra oder die EADS-Töchter Cassidian und Astrium, aber auch – häufig militärnahe – Einrichtungen der anwendungsorientierten Forschung, wie die deutsche Fraunhofer-Gesellschaft oder die niederländische TNO (Bigo et al. 2014, S. 20f.).

Seit 2014 läuft das neue Forschungsprogramm »Sichere Gesellschaften« im neuen Rahmenprogramm »Horizon 2020«. Budgetiert ist es mit knapp 1,7 Mrd. Euro. Auch wenn eine abschließende Bilanz noch aussteht, gehören bislang wieder die großen Player des sicherheitsindustriellen Komplexes zu den erfolgreichsten Profiteuren der Forschungsförderung (Jones 2017).

Von Beginn an war die europäische Sicherheitsforschung geprägt von Forderungen nach einer integrierten Sicherheits- und Verteidigungsforschung sowie einer engen Abstimmung mit den Aktivitäten der Europäischen Verteidigungsagentur. Das European Security Research Advisory Board (ESRAB), das die Kommission installiert hatte, um die strategischen Leitlinien für das Sicherheitsforschungsprogramm zu entwickeln, schlug bereits 2006 die gemeinsame Beobachtung ziviler und militärischer Technologiemärkte und die Einrichtung einer Plattform zum gegenseitigen Informationsaustausch vor (ESRAB 2006, S. 69). In der Ratsentscheidung über die relevante FP7-Programmlinie heißt es: „Der Schwerpunkt der Forschung liegt ausschließlich auf Anwendungen im Bereich der zivilen Sicherheit. Da jedoch einige Bereiche Technologien mit doppeltem Verwendungszweck, d.h. mit zivilen und militärischen Anwendungen, umfassen, ist ein geeigneter Rahmen für die Abstimmung mit der Tätigkeit der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) zu schaffen.“ (Rat der Europäischen Kommission 2006, S. 219) Und das an ESRAB anschließende European Security Research & Innovation Forum (ESRIF), das eine Agenda für die Sicherheitsforschung bis 2030 entwickeln sollte, empfahl in seinem Abschlussbericht von 2009 ausdrücklich die Förderung der industriellen Nutzung von Synergien und der Interoperabilität von Sicherheits- und Verteidigungslösungen“ (ESRIF 2009, S. 16).

Industriepolitische Weichenstellungen

Entsprechend intensivierte die Kommission mit dem Auftakt des Sicherheitsforschungsprogramms ihre Kooperation mit der Europäischen Verteidigungsagentur (European Defence Agency, EDA) und den Dialog mit der Industrie. Mit der EDA – die durch ihren Gründungsrechtsakt zur „Arbeit in Verbindung mit der Kommission zur Erzielung einer größtmöglichen Komplementarität und maximaler Synergien zwischen Forschungsprogrammen im Verteidigungsbereich und zivilen oder sicherheitsrelevanten Forschungsprogrammen“ verpflichtet ist (Art. 5 Nr. 3.4.6 der Gemeinsamen Aktion 2004/551/GASP) – stimmte die Kommission ihre Forschungsförderung etwa in den Bereichen Funktechnik, unbemannte Systeme und maritime Überwachung ab. So flossen allein von 2006 bis 2009 mehr als 13 Mio. Euro aus dem Forschungsbudget der EU und weitere 11 Mio. Euro aus den von der EDA verwalteten Mitteln in die Entwicklung von »software defined radio« (software-unterstützte Hochfrequenzübertragung). Im Mai 2009 beauftragte der Rat der Verteidigungsminister die EDA, konkrete Vorschläge für eine »European Framework Cooperation« (EFC) zu entwickeln, um die Abstimmung der Forschungsförderung zu systematisieren (Bréant und Karock 2009). Schon im November 2009 wurde die EFC durch den Lenkungsausschuss der EDA verabschiedet. So soll sichergestellt werden, dass es nicht zu unnötigen Doppelfinanzierungen kommt, aber auch, dass »hybride« technische Standards für Dual-use-Güter und interoperable Systeme für zivil-militärische Missionen entwickelt werden (EDA 2010, S. 6). In der Praxis bedeutet die EFC, dass jeweils Expert*innen beider Institutionen an der Entwicklung von Ausschreibungen, der Begutachtung von Anträgen und in Projektbeiräten beteiligt sind.

Im Oktober 2010 kündigte die Kommission im Rahmen ihrer »Europa 2020«-Strategie zur Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise eine »Initiative für die Sicherheitsindustrie« an (Europäische Kommission 2010, S. 33f.). Seit Februar 2011 organisierte sie hierzu öffentlich-private Gesprächsrunden zwischen Vertreter*innen der EU, der Mitgliedstaaten und der Industrie (Europäische Kommission 2011, S. 35). Maßgeblich beteiligt war die European Organisation for Security, eine 2007 gegründeten Lobbyvertretung der Sicherheitsindustrie in Brüssel. Ergebnis dieser »High Level Security Roundtables« war der »Maßnahmenplan für eine innovative und wettbewerbsfähige Sicherheitsbranche», der im Juli 2012 veröffentlicht wurde (Europäische Kommission 2012).

Der Maßnahmenplan sollte den Konzernen in einem vermeintlich krisenfesten Wirtschaftszweig politischen Flankenschutz geben und eine „EU-Marke“ etablieren, um die exportorientierte Massenproduktion von Sicherheitstechnologie anzukurbeln. Dazu wollte die Kommission die Marktfragmentierung mindern und die „Lücke“ zwischen Sicherheitsforschung und Markt schließen. Im Einzelnen sollten EU-weite Standards für Gefahrstoffdetektoren, Grenzkontrollsysteme und interoperable Lagezentren geschaffen, Zertifizierungsverfahren für Flughafenschleusen und Alarmsysteme harmonisiert sowie zivil-militärische Synergien“ durch „hybride Standards“, etwa für Digitalfunk oder Drohnen, gefördert werden. Angekündigt wurde eine Anpassung der Forschungsförderung, um eine schnelle Markteinführung von neuen Produkten zu garantieren. Öffentliche Auftraggeber sollen durch das Instrument der „vorkommerziellen Auftragsvergabe“ – also den Kauf noch nicht marktreifer Produkte – zu „Entwicklungsmotoren“ werden. Zudem wurde einer aggressiven Exportpolitik das Wort geredet, auch wenn es offiziell hieß, man wolle sich für einen „fairen Zugang“ zu öffentlichen Beschaffungsmärkten in Ländern des Südens einsetzen (Töpfer 2012; Jones 2016).

Nur ein Jahr später folgte die »Mitteilung für einen „wettbewerbsfähigeren und effizienteren Verteidigungs- und Sicherheitssektor« (Europäische Kommission 2013b). Bereits 2011 hatten Industriekommissar Antonio Tajani und Binnenmarktkommissar Michel Barnier eine »Taskforce Verteidigung« eingesetzt, um – wie es im begleitenden Memo zur Mitteilung heißt – „alle einschlägigen EU-Politiken in den Dienst des Verteidigungssektors zu stellen“. Angekündigt wurde nun ein Aktionsplan zur Zusammenfassung und Weiterentwicklung der einschlägigen Programme und Rechtsvorschriften – von den beiden Richtlinien zur Vergabe von Rüstungsaufträgen und der Verbringung von Rüstungsgütern im Binnenmarkt von 2009 bis hin zur Sicherheitsforschung. Unter Verweis darauf, dass eine glaubwürdige europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik eine starke industrielle und technologische Basis brauche, sollen „mögliche Synergien und die Ergebnisse des fruchtbaren Austauschs [genutzt werden], die auf das Verschwimmen der Trennlinie zwischen Verteidigung und Sicherheit zurückgehen“ (Europäische Kommission 2013a, S. 7).

Der Aktionsplan orientiert sich in vielerlei Hinsicht am Maßnahmenplan für die Sicherheitsbranche. So sollen die Wettbewerbsfähigkeit durch »Hybridnormen« gefördert, die Synergien zwischen zivilem und militärischem Bereich optimal genutzt und vorkommerzielle Vergabeprogramme für Prototypen von Drohnen, Funktechnik oder Gefahrstoffdetektion unterstützt werden. Vieles davon sollte im Kontext des Sicherheitsforschungsprogramms unter dem Dach von »Horizon 2020«, dem Forschungsrahmenprogramm für den Zeitraum 2014-2020, umgesetzt werden. Zusätzlich kündigte die Kommission – analog zur »Preparatory Action for Security Research« von 2004 – auch eine „vorbereitende Maßnahme“ an, um „Möglichkeiten zur Unterstützung der Forschung im GSVP-Kontext“ auszuloten (Europäische Kommission 2013b, S. 13). Grünes Licht erhielt sie für die Pläne im Dezember 2013, als der Europäische Rat erstmals nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages zum Thema Verteidigung tagte (Europäischer Rat 2013, S. 8).

Auf dem Weg zu einem Rüstungs­forschungsprogramm der EU

In den folgenden Monaten und Jahren machten sich sämtliche EU-Institutionen daran, die ehrgeizigen Pläne für ein eigenständiges EU-Rüstungsforschungsprogramm im 9. Rahmenprogramm (2021-2027) umzusetzen. Die zurückliegenden Jahre hatten gezeigt, dass die Kooperation von Kommission und EDA nicht ohne Probleme ist: Unterschiedliche Regime zum Schutz geistigen Eigentums oder der Geheimhaltungspflichten bei Dual-use-Projekten und die Unvereinbarkeit von Finanzierungsinstrumenten und -regularien standen der unmittelbaren Umsetzung im Wege. Ziel der »vorbereitenden Maßnahme« sollte es daher sein, die Modalitäten einer neuen Form der Zusammenarbeit zu testen: Erstmals sollte nämlich die EDA – quasi als Projektträger der Kommission – Mittel aus dem EU-Haushalt bewirtschaften. Den Auftakt sollten drei Pilotprojekte machen, für die das Europäische Parlament 2014 bereits das Geld freigab. Im Juni 2014 veröffentlichte die Kommission einen Fahrplan zur Umsetzung (Europäische Kommission 2014). Im Oktober 2015 erweiterte der Rat das Mandat der EDA und übertrug ihr die Verantwortung für alle EU-finanzierten Tätigkeiten im Rüstungsbereich (Beschluss (GASP) 2015/1835 des Rates). Im November unterzeichneten Kommission und EDA ein erstes »Delegation Agreement«, und im März 2016 wurde die Ausschreibung für die Pilotprojekte mit einem Budget von 1,4 Mio. Euro veröffentlicht: Es ging um die Entwicklung von Drohnenschwärmen sowie von Navigationssystemen für urbane Kriegsführung und um die Standardisierung von Anti-Kollisionssystemen für Drohnen (EDA 2016). Ende Mai 2017 unterzeichneten Kommission und EDA dann das eigentliche »Delegation Agreement« zur Durchführung der 90 Mio. Euro teuren »vorbereitenden Maßnahme«, für die im Juni 2017 die ersten Ausschreibungen veröffentlicht wurden (EDA 2017).

Wie schon beim Sicherheitsforschungsprogramm waren die Planungen beraten worden von einer 16-köpfigen »Group of Personalities«, die Binnenmarktkommissarin Elzbieta Bienkowska im März 2015 einberufen hatte. Der Abschlussbericht, den die Gruppe im Februar 2016 vorlegte, forderte ein Budget von mindestens 3,5 Mrd. Euro für die Jahre 2021-2027 und schlug darüber hinaus vor, ein European Defence Advisory Board zu etablieren mit direkten Kontakten zur höchsten Ebene der EU-Institutionen, um entsprechendes Gehör bei den Verhandlungen des kommenden mehrjährigen Finanzrahmens der Union zu erhalten. (EUISS 2016, S. 25ff.).

Somit scheinen die wesentlichen Eckpunkte längst festgelegt, auch wenn die Mitteilung und der Verordnungsvorschlag der Kommission für den Europäischen Verteidigungsfonds in mancher Hinsicht bewusst offen gehalten sind, etwa wenn es um die Rolle der EDA geht. Dabei hat sich der militärisch-industrielle Komplex bestens platziert, um sich in Zeiten brutaler Sparpolitik einen sicheren Anteil am Kuchen der nächsten EU-Haushalte zu sichern. Dass es bei der künftigen Rüstungsforschung ausdrücklich nicht um »dual use« gehen wird, ist in der Tat neu. Allerdings ist angesichts der Beschwörung »hybrider Bedrohungen« und der zunehmenden Verflechtung von Politiken und Akteuren der inneren und äußeren Sicherheit nicht auszuschließen, dass die Ergebnisse dieser Forschung irgendwann auch im Inland zum Einsatz kommen.

Anmerkung

1) Die WEAG ist die Western European Armaments Group, die 1992 im Rahmen der Zusammenarbeit westeuropäischer NATO-Staaten in der West-Europäischen Union (WEU) gegründet wurde. OCCAR, die Organisation Conjointe de Coopération en matière d‘Armement, wurde 1996 von den Verteidigungsministern Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und Deutschlands in Leben gerufen.

Literatur

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Europäische Kommission (2014): Ein New Deal für die europäische Verteidigung. Fahrplan zur Umsetzung der Mitteilung COM(2013) 542 – Auf dem Weg zu einem wettbewerbsfähigeren und effizienteren Verteidigungs- und Sicherheitssektor. Brüssel (COM(2014) 387 final).

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Eric Töpfer ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin. Der Aufsatz gibt die persönliche Sichtweise des Autors wieder.

Flüchtlings­verantwortung


Flüchtlings­verantwortung

Europäische Asylpolitik in der Krise

von Anna Lübbe

Die so genannte europäische Flüchtlingskrise ist vor allem eine Krise der Zuordnung (Allokation) von Flüchtlingsverantwortung: Welcher Staat übernimmt das Asylverfahren und gewährt gegebenenfalls den Schutz und die weiteren in der Genfer Konvention vorgesehenen Rechte? Dürfen Flüchtlinge sich ihren Asylstaat aussuchen? In diesem Beitrag wird zunächst dargestellt, was die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zur Zuordnungsfrage sagt. Dann werden die Allokationsmechanismen des geltenden »Dublin-Systems« und die aktuellen Reformvorschläge der Europäischen Kommission diskutiert und bewertet.

Die 1951 verabschiedete GFK enthält kaum Bestimmungen darüber, welcher Vertragsstaat für welche Flüchtlinge die Verantwortung tragen soll.1 Der Notwendigkeit der Verantwortungsteilung war man sich aber bewusst, die Präambel mahnt zwecks Vermeidung unzumutbarer Belastungen für einzelne Staaten eine internationale Zusammenarbeit an.

Aus dem Flüchtlingsbegriff der GFK lässt sich immerhin ableiten, dass die Konvention nicht als völkerrechtliches Instrument konzipiert ist, das nur die Anrainerstaaten von Verfolgerstaaten (Erstaufnahmestaaten) in die Pflicht nimmt. Als Flüchtling ist nicht definiert, wer den Antragsstaat unmittelbar von einem Verfolgerstaat aus betritt, sondern wer sich irgendwo außerhalb seines Staatsangehörigkeitsstaates befindet und verfolgungshalber nicht in ihn zurückgeschickt werden kann. Die GFK geht davon aus, dass Flüchtlinge die vorgesehenen Gewährleistungen im Zweifel dort erhalten, wo sie sie nachfragen. Ein völkerrechtlicher Konsens, die GFK enthalte ein Recht der Betroffenen auf freie Wahl des Asylstaates, hat sich jedoch nicht etablieren können (Foster 2007, S. 235). Staaten können sich entscheiden, von der Zuordnung qua Antragsort durch Zuständigkeits- und Übernahmeabsprachen abzuweichen, also Allokationsregime zu errichten, die für die Betroffenen auch mit Zwangszuordnungen verbunden sein können.

Mangels Konsens über die Verantwortungsteilung haben sich in den Vertragsstaaten unterschiedliche Strategien und Missstände im Umgang mit realen oder befürchteten Überlastungen etabliert (Hathaway und Gammeltoft-Hansen 2015). Die Erstaufnahme- und Transitstaaten gewähren zwar zumeist Refoulement-Schutz,2 aber keine dauerhafte Lebensperspektive. In der Folge halten sich dort teils sehr viele Flüchtlinge auf, jedoch vielfach unter prekären Umständen. Die so genannten Fluchtzielstaaten, darunter Deutschland, tendieren dazu, die Weiterwanderung von Flüchtlingen von Erstaufnahme- und Transitstaaten aus als sekundäre Migration anzusehen und sich dagegen teils unter Einsatz enormer Ressourcen abzugrenzen. Verbreitet etablieren sich Mechanismen, irregulär ins Land gekommene Schutzsuchende rückwärts entlang der Fluchtrouten auf andere Schutzstaaten zurückzuverweisen.

In Zeiten steigenden Flüchtlingsaufkommens, wie aktuell, tendiert der Allokationskonflikt dazu, in unilateralen Abwehrmaßnahmen zu eskalieren. Es kommt vermehrt zu Menschenrechtsverletzungen im Umgang mit Schutzsuchenden, zu Refoulement-Verstößen, unverhältnismäßigen Inhaftierungen, Versorgungsmissständen und »in orbit«-Situationen.3 Zäune werden gebaut, Aufnahme- und Verfahrensstandards werden gesenkt, und Forderungen nach der Setzung nationaler Obergrenzen greifen um sich.

Das Dublin-System

Die Allokation im so genannten Dublin-System ist von ihrem Ursprung im Schengen-Recht4 her nicht solidarisch, sondern sicherheitsorientiert konzipiert. Im Zuge des Abbaus der Binnengrenzen sollte die Grenzsicherung an den Außengrenzen des Kooperationsraumes intensiviert werden. Dazu passt das im Dublin-System vorherrschende Ersteintrittsprinzip: Für den Umgang mit Drittstaatlern soll derjenige Staat verantwortlich sein, der sie in den Kooperationsraum hineingelassen hat. Als Zuordnungsprinzip für Flüchtlingsverantwortung taugt das nicht: Die Staaten dürfen Asylantragsteller*innen nicht zurückweisen, und ohne Bereitstellung regulärer Zugangsmöglichkeiten mindestens für die Schutzbedürftigen unter den Migrant*innen ist die Abwehr irregulärer Migration auch nicht uneingeschränkt legitim.

Im Zuge der Erweiterungen der Europäischen Union, der Supranationalisierung des Asylrechts auf der Grundlage des Vertrags von Amsterdam (1999) und der Reform des Dublin-Systems zur Dublin-III-Verordnung (2013) blieb es bei der Herrschaft des Ersteintrittsprinzips. Es lag im Interesse der einflussreicheren, nicht am südlichen und östlichen Rand des Kooperationsraumes gelegenen Mitgliedstaaten, die Asylverantwortung von sich fernzuhalten und die Randstaaten des Dublin-Raumes zur Abgrenzung nach außen anzuhalten. So ist der Allokationskonflikt mit seinen prekären, kompetitiven Abgrenzungsstrategien an den Außengrenzen des Kooperationsraumes umso schärfer hervorgetreten – mit tödlichen Folgen für viele Tausend Schutzsuchende.

Effizient realisieren ließ sich das Dublin-System bekanntlich nicht (Lübbe 2015). Ungeachtet aller Abgrenzungsbemühungen kommen Schutzsuchende in großer Zahl auf irregulären Wegen nach Europa. Die überproportional belasteten Ersteintrittsstaaten boykottierten das System, indem sie ankommende Schutzsuchende weiterwandern ließen, statt sie zu registrieren. Und die Schutzsuchenden folgen nicht den Zwangszuordnungen des Dublin-Systems, sondern ihren Verbindungsinteressen und Lebenschancen. Die irregulären Dublin-Realitäten führen zu aufwendigen behördlichen und gerichtlichen Mehrfachbefassungen und werfen eine Fülle schwieriger Rechtsfragen auf. Insgesamt kann man sagen, dass sich das europäische Allokationsregime, das als knappes Vorverfahren vor dem Asylverfahren im jeweils zuständigen Staat gedacht war, zum bürokratischen Wasserkopf des Asylverfahrens entwickelt hat, soweit es nicht – von Anfang an und verstärkt unter der Krise – dem Vollzugsdefizit anheimfiel.

Kritik und Reformüberlegungen insbesondere zur Lastenteilung haben die europäische Asylkoordination stets begleitet. An Vorschlägen ist neben der freien Asylwahl und Varianten einer Zuordnung nach Länderquoten die Einräumung europäischer Freizügigkeit für die Anerkannten unter den Schutzsuchenden zu nennen (Sachverständigenrat 2015, S. 61ff). Keiner dieser Vorschläge wurde aufgegriffen. Noch bei der 2014 in Kraft getretenen Reform zur Dublin-III-Verordnung gab es nur unwesentliche Veränderungen des Bisherigen. Verspätete Bemühungen der EU-Kommission, während der Krise über die Aktivierung der Massenzustromrichtlinie und über Umverteilungen doch noch mehr Lastenteilung zu realisieren, scheiterten bzw. kamen mangels Beteiligungsbereitschaft kaum voran.

Reformvorschläge der EU-Kommission

In Reaktion auf die Krise entwickelt die EU derzeit neue Strategien (Europäische Kommission 2016). Die Lastenteilung innerhalb des Dublin-Raumes soll durch einen Umverteilungsmechanismus erreicht werden, der automatisch einsetzt, wenn ein Mitgliedstaat gemessen an einem relativen Soll, das sich an Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft orientiert, über 150 % Anträge zu verzeichnen hat. Die Asylkooperation innerhalb Europas soll durch Migrationspartnerschaften mit Drittstaaten ergänzt werden, auf deren Basis möglichst alle irregulär in Europa ankommenden Schutzsuchenden an außereuropäische Transitstaaten zurückverwiesen werden sollen.

Dem Vorschlag liegt die Idee zugrunde, dass Europa Flüchtlinge künftig möglichst kontingentweise und kontrolliert aufnehmen soll. Dass Schutzsuchende irregulär nach Europa kommen, soll weiterhin und verstärkt verhindert werden. Wer dennoch durchdringt, soll im Ersteintrittsstaat aufgefangen und mit seinem inhaltlich ungeprüften Schutzgesuch von den außereuropäischen »Migrationspartnerstaaten« zurückgenommen werden. Zu den auszuhandelnden Gegenleistungen kann neben finanzieller Unterstützung des Kapazitätsaufbaus vor Ort auch die kontingentweise Aufnahme Schutzbedürftiger aus dem außereuropäischen Ausland (Resettlement)5 gehören. Einmal angenommen, diese Strategie ließe sich für alle großen Zugangsrouten realisieren, liefe das für Europa auf eine Art Obergrenze hinaus, die ich im Unterschied zu Obergrenzen im nationalen Alleingang »kooperative Obergrenze« nennen möchte. Sie funktioniert nicht mit (innereuropäischen) Grenzzäunen, Wasserwerfern und Tränengas, sondern mit »Hotspot-Lagern«, Schnellverfahren und Rückführungen.

Für die Aufnahme von Resettlement-Kontingenten aus dem außereuropäischen Ausland, speziell aus Staaten, die unstreitig weit belasteter sind als Europa und in denen sich Schutzbedürftige unter dauerhaft nicht erträglichen Umständen aufhalten, spricht viel. Fluchtmigration im Rechtssinne ließe sich dabei besser von der sonstigen Migration trennen und in geordnetere, weniger aufwendige und kalkulierbarere Bahnen lenken. Auch fielen die aufwendigen Zuordnungs- und Asylverfahren und damit integrationsschädlich lange Phasen des prekären Aufenthalts weg. Den Ausgewählten würde diese Form des Zugangs lebensgefährliche Fluchtwege und Investitionen in Fluchthelfer ersparen. Und sie eröffnete gerade auch jenen eine Chance, die besonders dringend eine brauchen, weil sie es aus eigener Kraft bis zu einem für sie erträglichen Schutzort nicht schaffen. Schließlich ließe sich so vermeiden, dass durch die Flucht Familien zerrissen werden, denn die würde man als Ganze aufnehmen. Wenn solche regulären Zugangswege in relevantem Ausmaß zur Verfügung stünden, würde gewiss auch mancher Flüchtling, der zunächst nicht ausgewählt wurde, eher noch auf seine Chance warten, als es auf irregulärem Weg zu versuchen. Dadurch ließe sich das Migrationsgeschehen in ruhigere Bahnen lenken, anstelle von Wellen, die möglicherweise nicht nur auf akut schwankenden Schutzbedarfen, sondern auch auf selbstverstärkenden Mechanismen beruhen und die grundsätzlich vorhandene Aufnahmekapazitäten überlasten und -bereitschaften kippen lassen können.

Problematisch ist allerdings die Vorstellung, die Asylverantwortung ließe sich durch die Rückverweisung irregulär ankommender Schutzsuchender an außereuropäische Transitstaaten auf humane, effiziente und solidarische Weise im Wesentlichen auf die kontrolliert aufgenommenen Personen begrenzen. Ein umfangreiches Rückverweisungsregime in Hotspots am Rande Europas wäre auf menschenrechtsgerechte Weise wohl kaum zu realisieren (Markard und Heuser 2016). Und die Einordnung insbesondere der Türkei als tauglicher Verweisungszielstaat ist bis auf Weiteres mit zwingenden, in der Asylverfahrensrichtlinie niedergelegten Voraussetzungen unvereinbar (Peers 2016; Marx 2016).

Bedenken gegen die vorgeschlagene Reform bestehen auch im Hinblick auf die Familieneinheit. Zwar ist zu begrüßen, dass im Entwurf für eine neue Dublin-Verordnung die Relevanz familiärer Beziehungen für die Zuordnung auf Geschwisterbeziehungen und auf Beziehungen erweitert werden soll, die auf der Flucht eingegangen wurden. Jedoch geht in dem Entwurf die Rückführung in Länder außerhalb Europas solchen Zuordnungen zwingend vor. Dass dabei keinerlei Rücksicht auf familiäre Verbindungen in Europa genommen werden soll, ist mit dem Menschenrecht auf Familienleben unvereinbar (Lübbe 2017a).

Positiv ist zu bewerten, dass künftig Schutzsuchenden von Anfang an ein Rechtsbeistand gestellt werden soll. Das effizienzsteigernde Potential von mehr Verfahrensgerechtigkeit anstelle der Reduktion von Verfahrensrechten wird bisher verkannt. Hinsichtlich der Verteilung setzt das neue europäische System indessen nicht auf eine möglichst kooperative und interessengerechte Zuordnung, sondern auf Repression. Die Weiterwanderung Schutzsuchender soll mit drastischen Sanktionen unterbunden werden. Es ist zweifelhaft, ob sich die Zuordnungen auf diese Weise effizient realisieren lassen werden, zumal wenn die Gerichte nach und nach die menschenrechtlichen Grenzen der Anwendung dieser Vorgaben auf die entstehenden Realitäten herausarbeiten.

Im Hinblick auf die Lastenteilung wäre der innereuropäische Umverteilungsmechanismus ein Fortschritt. Inwieweit er allerdings Anwendung findet, hängt davon ab, in welchem Umfang es angesichts der zwingend vorrangigen Rückführungen an außereuropäische Transitstaaten noch zu innereuropäisch zu verteilenden Zugängen käme. Bei einer Überlastung der Ersteintrittsstaaten dürfte es jedenfalls bleiben. Der Ersteintrittsstaat muss vor der Dublin-Zuordnung prüfen, ob das Schutzgesuch auf einen außereuropäischen Staat verwiesen werden, wegen Zugehörigkeit des Betroffenen zu einem so genannten sicheren Herkunftsstaat im Schnellverfahren abgehandelt oder aus Sicherheitsgründen abgelehnt werden kann. Nur Gesuche, bei denen all das nicht der Fall ist, kämen überhaupt noch in das innereuropäische Zuordnungsverfahren.

Global gesehen wäre die kontingentierte Aufnahme Schutzbedürftiger aus dem Ausland an und für sich ein Kristallisationskeim für mehr Verteilungsgerechtigkeit. Die Idee der »geteilten Verantwortung« würde aber zur »verschobenen Verantwortung« pervertiert, würde das Resettlement künftig davon abhängig gemacht, dass die begünstigten Staaten in großem Stil irregulär zugewanderte Schutzsuchende zurücknehmen. Es ist nicht der Sinn des Resettlement, »kooperative Obergrenzen« für hoch entwickelte Regionen durchzusetzen.

Fazit

Eine kooperative Lösung für das Allokationsproblem ist unabdingbar, wenn der Dublin-Raum nicht in einem eskalierenden Abgrenzungswettbewerb ins Inhumane zerfallen soll. Der Lösungsversuch der EU-Kommission enthält positive Ansätze zu mehr innereuropäischer Lastenteilung, stellt sich aber zugleich als Steigerung der das europäische Asylregime ohnehin prägenden Tendenzen dar, die Lasten nach Kräften zu externalisieren. Das ist keine nachhaltige Strategie und verweist auf die Notwendigkeit, die Allokation von Flüchtlingsverantwortung global zu denken (Lübbe 2017b, sub IV.5.). Ein Anreiz für eine global gerechtere Lastenteilung könnte die Überzeugung sein, dass Humanität und Solidarität Werte sind, die zu achten sich auch deshalb lohnt, weil von Fluchtursachen bzw. Überforderung in anderen Zeiten andere Menschen bzw. Staaten betroffen sein können. Der Aufbau eines humanen und effizienten, globalen Regimes zur Allokation von Flüchtlingsverantwortung wird wohl ein längerer Prozess werden. Den im Zuge dieser Umstellung zu Tage tretenden inneren und äußeren Konflikten wird man sich stellen müssen.

Anmerkungen

1) Zuordnungsregeln sind in der GFK insofern enthalten, als Schutzbedürftige, die innerhalb ihres Heimatstaates oder in einem Staat einer weiteren Staatsangehörigkeit Schutz finden können, vom Konventionsflüchtlingsschutz ausgenommen sind (Art. 1(A)2 GFK), ebenso Menschen, die sich in einem Staat mit Rechten wie Staatsangehörige aufhalten (Art. 1(E) GFK). Eine negative Zuordnungsregel ist das Refoulement-Verbot (Art. 33 GFK), das nicht nur die Verweisung der Schutzbedürftigen auf den verfolgenden Heimatstaat, sondern auch auf jeden anderen Verfolgerstaat verbietet.

2) Refoulement-Schutz ist die Nicht-Zurückweisung in Verfolgerstaaten oder Staaten, die ihrerseits in Verfolgerstaaten abzuschieben drohen.

3) Als »refugee in orbit« bezeichnet man einen Flüchtling, der nirgends Zugang zu einem Anerkennungsverfahren und zu den Statusrechten findet.

4) Zum Schengen-Raum gehören bis auf Großbritannien und Irland und die Teilanwender Bulgarien, Rumänien, Zypern und Kroatien sämtliche EU-Staaten sowie die Nicht-EU-Staaten Schweiz, Liechtenstein, Norwegen und Island.

5) Zum Ausbau des Resettlement enthalten die Reformvorschläge allerdings nichts Verbindliches, die Realisierung wird von der Bereitschaft der einzelnen Mitgliedstaaten abhängen. Immerhin besteht insofern ein Anreiz, als Resettlement-Aufnahmen auf den innereuropäischen Lastenteilungsmechanismus angerechnet werden sollen.

Literatur

Europäische Kommission (2016): Vollendung der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems – eine effiziente, faire und humane Asylpolitik. Pressemitteilung, 13. Juli 2016.

Foster, M. (2007): Protection Elsewhere – The Legal Implications of Requiring Refugees to Seek Protection in Another State. Michigan Journal of International Law, 28(2), S. 223-286.

Hathaway, J.C. and Gammeltoft-Hansen, T. (2015): Non-Refoulement in a World of Co­­operative Deterrence. Columbia Journal of Transnational Law 52(2), S. 235-84.

Lübbe, A. (2015): Zur Reform des Europäischen Asylzuständigkeitssystems. Vortrag beim Georg-August-Zinn-Forum 2015 der ASJ/SPD, 11. Juli 2015, Frankfurt am Main; fluechtlinge-mtk.de/uploads/infos/104.pdf.

Lübbe, A. (2017a): Migrationspartnerschaften – Verweisung auf Transitstaaten ohne Rücksicht auf die Familieneinheit? Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 2017/1, S. 15.

Lübbe, A. (2017b): Allokation von Flüchtlingsverantwortung. Jahrbuch für Recht und Ethik, i.E..

Markard, N. und Heuser, H. (2016): Möglichkeiten und Grenzen einer menschenrechtkonformen Ausgestaltung von sogenannten »Hotspots« an den europäischen Außengrenzen. Gutachten, Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Hamburg, Stand 4. April 2016.

Marx, R. (2016): Rechtsgutachten zur unionsrechtlichen Zulässigkeit des Plans der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, die Türkei als sicherer Drittstaat zu behandeln. im Auftrag von Pro Asyl, 14. März 2016.

Peers, S. (2016): The final EU/Turkey refugee deal – a legal assessment. eulawanalysis.blogspot.de, 18. March 2016.

Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2015): Unter Einwanderungsländern – Deutschland im internationalen Vergleich. Jahresgutachten 2015; svr-migration.de.

Anna Lübbe, Juristin und Mediatorin, ist Professorin für Öffentliches Recht und ADR an der Hochschule Fulda. Unter anderem zu den in diesem Beitrag behandelten Fragen hat sie 2016 für das Jahresgutachten 2017 des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration eine Expertise geschrieben.

Kein Frieden mit der EU

Kein Frieden mit der EU

20. Kongress der Informationsstelle Militarisierung, 18.-20. November 2016, Tübingen

von Jürgen Wagner

Im Spätherbst lud die Informationsstelle Militarisierung (IMI) zu ihrem inzwischen zwanzigsten jährlichen Kongress nach Tübingen ein. Insgesamt nahmen über 150 Interessierte an dem Kongress »Kein Frieden mit der Europäischen Union« teil, der sich intensiv mit verschiedensten Aspekten der EU-Außen- und Militärpolitik beschäftigte. Einigkeit bestand dabei vor allem in drei Dingen, die gleichzeitig auch wesentliche Schlussfolgerungen des Kongresses darstellen: Erstens, dass sich der bevorstehende Austritt Großbritanniens aus der EU in Kombination mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten als Brandbeschleuniger auswirken werden, da beide Ereignisse dazu genutzt werden sollen, um die Militarisierung der Europäischen Union und ihren Aufstieg zu einer »Supermacht« in bislang ungekanntem Ausmaß voranzutreiben. Zweitens, dass eine grundsätzliche EU-Kritik auch nicht davor Halt machen darf, die Organisation selbst in Frage zu stellen. Und schließlich drittens, dass alle wesentlichen linken alternativen Europakonzeptionen daran kranken, auf dem »Militärauge« blind zu sein. Die Aufgabe der Friedens- und Antikriegsbewegung besteht deshalb auch darin, diese Lücke zu schließen und antimilitaristische Fragen aktiv in die linke EU-Debatte hineinzutragen.

Nach einer Auftaktveranstaltung am Freitagabend, die sich satirisch mit der »Ideologie EUropa« beschäftigte, begann der Kongress am Samstag mit dem Panel »Europa und die Neusortierung der Welt«. Hier ging Erhard Crome auf die zu erwartenden sicherheitspolitischen Auswirkungen der Wahl Donald Trumps ein. Während zwar eine Chance auf eine Entspannung im Verhältnis zu Russland bestehe, sei andererseits mit einer Verschärfung der Konflikte mit China und mit einem enormen Aufrüstungsdruck auf die EU-Verbündeten zu rechnen. An dieser Stelle setzte der zweite Beitrag von Jürgen Wagner an, der darstellte, wie der anstehende EU-Austritt Großbritanniens und die Wahl Donald Trumps mit der so genannten »Bratislava-Agenda« genutzt werden sollen, die Militarisierung der Europäischen Union massiv voranzutreiben.

Im zweiten Panel, »Chaos und Krieg im ‚Nachbarschaftsraum’«, beschäftigte sich zunächst Claudia Haydt mit der EU-Politik in Osteuropa, die nicht zuletzt in der Republik Moldau bzw. in der Republik Transnistrien erhebliche Konflikte verursacht habe. Aus dem Protest der Moldawier*innen gegen die von der EU angestoßene Militarisierung und durch das bisher unentschiedene Ringen rivalisierender Kräfte im Land entstehe laut Haydt ein ziviler Raum, von dem sie hoffe, dass er genutzt werde. Anschließend stellte Christoph Marischka die Eskalation in Mali zugespitzt als Folge der sich herausbildenden gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU dar. In deren Sicherheitsstrategie von 2003 sei global schwache Staatlichkeit als Bedrohung Europas definiert worden, wobei darunter v.a. die mangelnde Kontrolle peripherer Räume und Grenzgebiete verstanden wurde. Um genau diese Kontrolle zu erlangen, würde in der Sahel-Region und nicht zuletzt in Mali vermehrt Militär – auch aus Deutschland – eingesetzt.

Unter dem Titel »Union in Uniform: Strukturen des Krieges« beschrieb Tobias Pflüger die militärpolitischen Passagen des seit 2009 geltenden Vertrags von Lissabon. Wesentlich sei bei alldem, dass weder das EU-Parlament noch der Europäische Gerichtshof realen Einfluss auf die EU-Militärpolitik hätten, was Pflüger zu dem abschließenden Fazit veranlasste: Das alles ist auf den ersten Blick extrem kompliziert gemacht, aber eigentlich dann auch recht einfach: Es wird alles so organisiert, dass die EU-Militärpolitik möglichst parlamentsfern und öffentlichkeitsfern ihren Lauf nehmen kann.“ Im Anschluss daran beschrieb Lühr Henken die wichtigsten Komponenten des EU-Militärapparates. Namentlich seien dies v.a. die Schnelle Eingreiftruppe und die Battlegroups. Anschließend ging er auf die seit 2003 stattfindenden EU-Einsätze ein, von denen es aktuell zehn »zivile« und sechs militärische gäbe.

Das Abendpodium firmierte unter dem Titel »EUropa unter Waffen« und hatte zum Ziel, einige der aktuell wichtigsten EU-Rüstungsprojekte und Rüstungsdynamiken vorzustellen. Konkret behandelt wurden NexT – das Fusionsprodukt aus Nexter und Kraus-Maffei-Wegmann –, auf das Andreas Seifert einging. Weiter wurden der Airbus A400M (Roman Christof), das EU-Drohnenprojekt (Marius Pletsch) sowie die Bestrebungen zur Aufstellung eines EU-Rüstungsforschungs- und eines EU-Beschaffungshaushalts (Jürgen Wagner) vorgestellt.

Am Sonntag wurde der Blick stärker nach innen gerichtet, als zunächst Jacqueline Andres über die »EU-Migrationsbekämpfung« referierte. Diese spiegele sich inzwischen nicht nur in der Abschottung der Außengrenzen wider (Stichwort Frontex), sondern auch in der Vorverlagerung der Grenzen (u.a. durch diverse EU-Grenzschutzmissionen in Afrika), was es immer gefährlicher mache, in die EU zu gelangen. Gleichzeitig nähmen gegen die Migrant*innen, die sich in der EU befänden, die Repressionen immer weiter zu.

Gerade diese »Innenräume der Militarisierung« nahm das nächste Panel intensiv in den Blick. Martin Kirsch ging auf die Militarisierung der EU-Polizeien mit Fokus auf die Entwicklung in Deutschland ein. Danach sprach Thomas Gruber über die Positionierung der Europäischen Union im Cyberraum. Der dritte Beitrag von Christopher Schwitanski behandelte die Haltung und Arbeitsweise der EU zur »Strategischen Kommunikation« (StratCom), die sich wohl passender als »Propaganda« bezeichnen lasse.

Zum Abschluss des Kongresses sprachen Malte Lühmann und Tobias Pflüger unter dem Titel »Reform? Neugründung? Widerstand? Linke Europakonzeptionen und Ansatzpunkte für konkretes Handeln« über die in den letzten Jahren deutlich lebhafter gewordenen linken Debatten zum Thema EU und Europa. Dafür wurden zunächst die derzeit wohl wichtigsten linken europapolitischen Alternativkonzepte vorgestellt (Europa neu begründen, Plan B, DiEM25, Blockupy, Europa der Alltagskämpfe). Unabhängig davon, wie positiv jedes dieser einzelnen Konzepte bewertet würde, sei besonders auffällig, dass bisher alle Entwürfe daran krankten, antimilitaristische Fragen komplett auszublenden, was eine große Schwäche der aktuellen Debatte darstelle.

Jürgen Wagner

Rüstungsschub, Brexit & Bratislava-Agenda

Rüstungsschub, Brexit & Bratislava-Agenda

von Sabine Lösing

Spätestens seit 1999 auf den Ratsgipfeln in Köln und Helsinki die Aufstellung einer Schnellen Eingreiftruppe in Korpsgröße (60.000 Soldaten) beschlossen wurde, kann von der viel beschworenen »Zivilmacht EUropa« eigentlich keine Rede mehr sein. Zwar wurden seither über 30 Einsätze im Rahmen der so genannten »Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« (GSVP) durchgeführt, dennoch gehen vielen die diesbezüglichen »Fortschritte« nicht weit genug. Als ein wesentliches Hindernis für den weiteren Ausbau des EU-Militärapparates galt bislang Großbritannien, das viele Initiativen blockierte, aus Sorge, dies könnte eine Einschränkung der eigenen macht- und militärpolitischen Beinfreiheit zur Folge haben. Dies erklärt, warum zahlreiche Militarisierungsbefürworter angesichts des bevorstehenden EU-Austritts den Briten kaum eine Träne nachzuweinen scheinen. So äußerte etwa Elmar Brok, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europaparlaments: „Der Brexit hat auch gute Seiten. […] Jahrelang haben uns die Briten aufgehalten. Jetzt geht es endlich voran.

Und in der Tat, lange ließ man sich nicht Zeit, um Nägel mit Köpfen zu machen. Unmittelbar nach dem britischen Referendum am 23. Juni 2016 wurde eine neue EU-Globalstrategie verabschiedet, die das ehrgeizige Ziel vorgibt, dass der Union „das gesamte Spektrum an land-, luft-, weltraum- und seeseitigen Fähigkeiten, einschließlich der strategischen Grundvoraussetzungen, zur Verfügung stehen muss“. Vier Tage danach stellten die Außenminister Deutschlands und Frankreichs das offensichtlich lange vorher erarbeitete Papier »Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt« vor. Darin forderten sie nicht nur einen massiven Ausbau des EU-Militärapparates, sondern auch eine diesbezügliche deutsch-französische Führungsrolle. Nach der Sommerpause präsentierte auch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini ähnliche Vorschläge, und kurz danach, am 12. September 2016, veröffentlichten Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und ihr französischer Kollege Jean-Yves Le Drian das Papier »Erneuerung der GSVP«.

Schließlich griff EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker den Großteil der kursierenden Vorschläge in seiner Rede zur Lage der Union am 14. September 2016 auf, die es allein schon wegen des ungewohnt militaristischen Tonfalls in sich hatte: „Mit zunehmenden Gefahren um uns herum reicht Soft Power allein nicht mehr aus. […] Europa muss mehr Härte zeigen. Dies gilt vor allem in unserer Verteidigungspolitik. Europa kann es sich nicht mehr leisten, militärisch im Windschatten anderer Mächte zu segeln oder Frankreich in Mali allein zu lassen. Wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen, unsere Interessen und die europäische Art zu leben zu verteidigen.

Konkret forderte Juncker u.a. eine profiliertere Rolle der EU in Krisengebieten sowie die Schaffung des symbolträchtigen Postens eines EU-Außenministers. Da als ein Haupthindernis für – noch – mehr EU-Einsätze fehlende stehende Planungskapazitäten gelten, plädierte der Kommissionspräsident ferner für die Schaffung eines EU-Hauptquartiers. Bislang verfügt die EU außerdem über keine eigenen militärischen Mittel, sie werden »bei Bedarf« von einzelnen Mitgliedsstaaten gestellt – auch das soll sich künftig ändern: „Außerdem sollten wir uns auf gemeinsame militärische Mittel hinbewegen, die in einigen Fällen auch der EU gehören sollten. Und weil dies alles reichlich Geld verschlingen dürfte, schlug Juncker in seiner Rede die Einrichtung eines EU-Rüstungshaushalts vor, was gegen Artikel 41(2) des EU-Vertrags verstößt, der es verbietet, „Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen“ aus dem EU-Haushalt zu bestreiten: „Eine starke europäische Verteidigung braucht eine innovative europäische Rüstungsindustrie“, so Juncker. „Deshalb werden wir noch vor Jahresende einen Europäischen Verteidigungsfonds vorschlagen, der unserer Forschung und Innovation einen kräftigen Schub verleiht.

Abschließend verständigten sich die die EU-Staats- und Regierungschefs beim informellen (d.h. ohne Großbritannien durchgeführten) Treffen in der Slowakei am 16. September 2016 auf die so genannte »Bratislava-Agenda«: Bis zum 60-jährigen EU-Jubiläum im März 2017 sollen die bisherigen Vorschläge konkretisiert und zur Abstimmung gebracht werden.

Es ist eine bittere Ironie, dass die wichtigste Schlussfolgerung aus dem Brexit und der Unzufriedenheit (nicht nur) der britischen Bevölkerung darin zu bestehen scheint, kostspielige Militarisierungsinitiativen voranzutreiben, anstatt sich endlich der wirklichen Sorgen und Nöte der Menschen anzunehmen.

Sabine Lösing ist Abgeordnete der linken Fraktion im Europaparlament.

Griechenland: Krise und Streik

Griechenland: Krise und Streik

von Mario Becksteiner

Seit 2008 ist Griechenland ein gesellschaftliches Laboratorium für die Herausbildung von Protesten unter den Bedingungen eines krisenhaften Neoliberalismus. Zugleich ist das Land auch Versuchsanstalt eines zunehmend autoritärer agierenden Regimes neoliberaler Krisenpolitik, wie im folgenden Artikel beschrieben wird.

Die Situation in Griechenland ist nicht zu dechiffrieren als eine entweder ökonomische oder politische Krise, sie nähert sich vielmehr dem an, was der marxistische Philosoph Nicos Poulantzas als eine „dysfunktionale Krise“ beschreibt. Im Gegensatz zu rein ökonomischen Krisen, die für die kapitalistische Akkumulationsdynamik oft funktional sind, da sie zyklisch deren Widersprüche bereinigen, weist in Griechenland vieles in eine andere Richtung. Für Poulantzas können ökonomische Krisen zu systemischen Krisen werden, wenn sie sich ausbreiten und die Krisendynamiken sowohl die politische als auch die staatliche Ebene im engeren Sinne umfassen.1 Für das Krisenverständnis von Poulantzas ist ausschlaggebend, dass eine Krise stark an die Entwicklung der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen gekoppelt ist. Dysfunktionale Krisen zeichnen sich durch das Entstehen neuer Akteurskonstellationen aus, die eine veränderte Strukturierung der Kampfzonen mit sich bringen.

Das, was wir in Griechenland erleben, ist nicht nur ein griechisches Phänomen. In Europa sind mehrere Länder in einen Zyklus sozialer Kämpfe geraten, die grundlegende und sinnstiftende Institutionen unserer Gesellschaft, wie Ökonomie, Ideologie oder Politik, in den Sog der Auseinandersetzungen ziehen. Griechenland ist ein Extremfall, dementsprechend entstehen in den sozialen Auseinandersetzungen am deutlichsten neue Praxen und Akteurskonstellationen.

Diese Veränderungen spiegeln sich auch in der Konfliktzone Arbeit wider. So richtig die Feststellung ist, dass Gewerkschaften in diesem neuen Zyklus mit ihren bisherigen Kampfformen offensichtlich an eine Grenze stoßen, so falsch wäre es, diese Feststellung einfach so im Raum stehen zu lassen. In den sozialen Kämpfen findet vielmehr eine Wiederaneignung und Transformation der Bedeutung und der Praxis gewerkschaftlicher Kämpfe und des Streiks statt, die für die kommenden sozialen Auseinandersetzungen des frühen 21. Jahrhunderts prägend sein könnten.

Im Folgenden werde ich diese Transformation am Beispiel der Industriellen Beziehungen in Griechenland darstellen.

»Metapolifesti«

Griechenland hat auch für südeuropäische Verhältnisse mit 38 Generalstreiks seit 1980 eine enorm hohe Streikdichte. Diese Streiks mit stark politischem Charakter sind Teil der Industriellen Beziehungen Griechenlands. Sie haben ihren historischen Ursprung in der Strukturiertheit der Verhältnisse zwischen Kapital, Arbeit und Staat.

Der Übergang von einem diktatorischen System zu einer bürgerlichen Demokratie ab 1974 war in Griechenland geprägt von einem Elitenkonsens, der die Übergabe der politischen Macht an ein bürgerlich-demokratisches System beinhaltete, ohne an der kapitalistischen Grundausrichtung etwas zu ändern. Politisch dominierten zwei große »Volksparteien«: die sozialdemokratisch ausgerichtete PASOK und die konservative ND.2 Sie waren die bestimmenden Parteien und entwickelten eine starke Verzahnung mit den Gewerkschaften. Diese Konstellation, »Metapolifesti« genannt, zeichnete sich aus Sicht der Industriellen Beziehungen durch drei herausragende Komponenten aus:

1. Es entstand eine ausgeprägte parteistaatliche Kultur des Klientelismus, vermittelt über Steuerpolitik, Versorgung der Parteiangehörigen im Staatsdienst und die enge Verzahnung der Parteien mit der Ökonomie.

2. In den beiden großen gewerkschaftlichen Dachverbänden GSEE (Privatsektor) und ADEDY (Öffentlicher Sektor) sind die beiden PASOK- und ND-nahen Fraktionen tonangebend. Noch 2010 erreichten sie bei Gewerkschaftswahlen 48,2% (PASOK) bzw. 24,7% (ND).

3. Die griechische Ökonomie zeichnet sich durch eine relativ geringe Kapitalkonzentration aus und ist demgemäß geprägt durch eine kleinräumige Strukturierung.

Diese drei Umstände können erklären, warum die griechischen Gewerkschaften sehr stark am Parteienstaat orientiert waren. Durch die kleinräumige Strukturierung der Ökonomie schien der Arbeitsplatz kein geeigneter Ort zu sein, um ArbeiterInnenmacht aufzubauen. Die Durchdringung der Gesellschaft durch den Parteienstaat sowie die klientelistische Politik beförderten eine starke Konzentration auf die Regulationsebene. Arbeitskämpfe, auch im Bereich der Lohnfindung, nahmen in Griechenland sehr schnell einen politischen Charakter an und konzentrierten sich auf die Aktivierung des Institutionellen Machtpotentials.3

Gewerkschaften und Staat in der Post-»Metapolifesti«

Anfang der 1990er Jahre setzte in Griechenland ein neoliberaler Transformationsprozess der Gesellschaft ein. Zudem zeigte sich, dass der klientelistische Parteienstaat anfällig war für Korruption. Alle im Parlament vertretenen Parteien, inklusive der kleinen linken Gruppierungen, unterstützten einen »Modernisierungskurs« unter dem Slogan „Ende der Metapolifesti“.4

Im Rückblick muss heute von einer Erneuerung der »Metapolifesti« auf neoliberaler ökonomischer Basis ausgegangen werden. Allerdings hält Lefteris Krestos für diese Periode fest: „Etliche politische Restrukturierungsinitiativen des letzten Jahrzehnts, wie die Reform der Sozialversicherungen und des Rentensystems sowie die Neuorganisation des Hochschulwesens, wurden durch den Widerstand einer starken sozialen Bewegung effektiv blockiert.“ 5

Die hier erwähnten sozialen Bewegungen hatten sehr unterschiedlichen Charakter. Während die Gewerkschaften – mit ihrer Konzentration auf die politische Regulationsebene – einige Verschlechterungen für ihre Klientel verhindern konnten, verliefen die Kämpfe im Bildungs- und Hochschulsystem anders: Hier etablierte sich eine andere politische Kraft, nämlich ein anarchistisch/antiautoritäres Spektrum.6

Wie Giovanopolous und Dalakoglou7 festhalten, entwickelten sich diese Kämpfe in drei Wellen: 1990-1991, 1998-2000 und 2006-2007. Hierbei war ein Trend in Richtung einer Autonomisierung zu beobachten. Zum einen entledigten sich die rebellierenden HochschülerInnen und SchülerInnen ihrer parteigebundenen Vertretungsorgane und stellen damit seither den organisatorischen Kern des anarchistisch/antiautoritären Spektrums (A/A-Spektrum). Zum anderen kristallisierten sich an den Hochschulen auch politische Aktionsformen heraus, die im Sinne der »Direkten Aktion« eine Autonomie gegenüber dem Staat entwickelten.

Trotz dieser zum Teil erfolgreichen Abwehrkämpfe kam es in Griechenland seit den 1990er Jahren zu einer Ausweitung von Zonen prekärer Arbeit, die insbesondere junge, migrantische ArbeiterInnen und solche in kleinen Unternehmen betrafen.8

Als Ergebnis konnte in der ersten Welle neoliberaler Reformen somit die Ausdehnung der prekären Zone beobachtet werden. Seit 2004 versuchten einige Arbeitgeberverbände zudem verstärkt, die branchen- und flächenorientierten Tariffindungsprozesse unter Beschuss zu nehmen.

Die Krise als Rammbock und eine neue Staatlichkeit

Neben den fiskalpolitischen Strategien steht seit dem Durchschlagen der Krise 2009 insbesondere die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Ökonomie im Fokus. Und es ist kein Wunder, dass dabei die lang gehegten Wünsche des griechischen Kapitals nach einer Zerschlagung der Tariffindungsprozesse auf nationaler und Branchenebene ganz oben rangieren.

Diese Angriffe auf Gewerkschafts- und ArbeiterInnenrechte verliefen seit 2010 in drei Phasen.9

1. Die Phase von Mai bis Dezember 2010 konzentrierte sich vornehmlich auf die Veränderung des individuellen Arbeitsrechtes. Dies war eine Vorbereitung für die Restrukturierung des institutionellen Settings. Neben der Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen wurde vonseiten der Regierung auch Druck auf die Lohnentwicklung ausgeübt.

2. Mit dem Gesetz 3899/2010 wurde ab Dezember 2010 die zweite Phase eingeleitet. Im Zentrum standen die Veränderung der Prozesse kollektiver Lohnverhandlungen, insbesondere die Aushebelung der branchenweiten Verhandlungen und der Schlichtungsprozesse. In dieser Phase kamen die Angriffe ins Stocken, da sie geprägt war vom Auftauchen einer neuen Konstellation in den sozialen Kämpfen.

3. Mit dem Gesetz 4024/2011 im Oktober 2011 begann die dritte Phase, die eine weitere Dezentralisierung der Lohnverhandlungen auf der Agenda hatte und endgültig die Aushebelung der tariflichen Fläche mit sich brachte.

Gewerkschaften und der Staat

Seit dem Beginn der Troika-Politik10 gibt es für ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften einen Schub an Verschlechterungen. Es drängt sich natürlich die Frage auf, weshalb diese trotz der oft spektakulären Streiks durchgesetzt werden konnten.

In Bezug auf die Abwehrkämpfe der Gewerkschaften kann festgestellt werden, dass ihr Institutionelles Machtpotential erodiert.

Der griechische Staat wurde durch die Europäisierung und Internationalisierung seiner Krise transformiert. Er wurde eingebettet in ein transnationales Krisenregime, das sich durch Multiskalarität auszeichnet. Dies macht es für subalterne Klassen in Griechenland schwieriger, ihre „Klassenpraxis“ (Poulantzas) in den Staat einzuschreiben.

Wenn man der Definition von Poulantzas folgt und den Staat als ein „verdichtetes Kräfteverhältnis“ begreift, so kann man11 festhalten, dass Staatlichkeit heute nicht mehr nur im Rahmen des Nationalstaates gedacht werden kann, sondern dass es mehrere Verdichtungsebenen der Kräfteverhältnisse gibt. Brand/Görg benennen dies als „Verdichtungsebenen zweiter Ordnung“, welche neue transnationale Arenen eröffnen.

Dies ist meines Erachtens der wichtigste Moment, um die Schwäche der noch immer stark am Staat ausgerichteten Gewerkschaften zu verstehen. Diese Aushebelung durch die Reskalierung des griechischen Staates wird besonders deutlich seit der zweiten Phase der Restrukturierungen ab 2009.

Im Vorfeld dieser Phase entwickelten die Klassenkämpfe in Griechenland eine neue Dynamik; es kam zu Streiks, die beinahe ausschließlich von der KKE, der SYRIZA12 und den linksradikalen und anarchosyndikalistischen Basisgewerkschaften getragen wurden. Obwohl oft nur symbolisch, waren diese stärker geprägt durch Formen der »Direkten Aktion« und die Mobilisierung ohne die großen Gewerkschaftsdachverbände, was auf einen zumindest partiellen Bruch relevanter Teile der ArbeiterInnenschaft mit den traditionellen Gewerkschaften und deren Staatsorientierung schließen lässt.

Am 25. Mai 2011 entstand eine neue Konstellation in den Protesten, die den Bruch mit dem politischen System noch einmal vertiefte. Hunderttausende strömten auf die Plätze der Städte und besetzten diese unter dem Slogan: „Wie spät ist es? Höchste Zeit, dass sie [die politischen Eliten; Anm. d. Verf.] alle verschwinden!“ Damit verbreiterte sich nicht nur der Bruch mit dem politischen System, es kam überdies zu einem weit verbreiteten Experiment: die Besetzungen basisdemokratisch zu organisieren. Dies ist ein Strukturmerkmal von vielen Protesten der letzten Jahre, ein Legitimationsproblem der politischen Systeme und das Experiment einer demokratischen Selbstorganisation.

Die Reaktion des Staates zeigte, dass diese Form des Protests eine ernsthafte Bedrohung der politischen Ordnung darstellte. Das, was Poulantzas für eine dysfunktionale Krise als charakteristisch bezeichnet, nämlich das Entstehen neuer politischer Konstellationen, die offen zu Tage treten, paralysierte die Handlungsfähigkeit des politischen Systems für einige Zeit.

Dies führte zu einer tiefen Krise der Regierung Papandreou, zu Turbulenzen und schließlich zu einer provisorischen Regierung, bestehend aus PASOK, ND und der rechtsextremen LAOS-Partei.13 Die Schwäche des innenpolitischen Systems gegenüber den Protesten konnte nur aufgefangen werden, indem der Ball, einem Doppelpass gleich, auf die europäische Ebene gespielt wurde. Schwächelt der nationale Rahmen, wird die „Verdichtungsebene zweiter Ordnung“, im konkreten Fall hier die Troika, aktiv. Die seit Oktober 2011 zur Umsetzung kommenden Angriffe im Bereich des Arbeitsgesetzes und all die anderen Maßnahmen wären lediglich über die nationale Politik vermittelt nicht durchsetzbar gewesen.

Meines Erachtens ist dies der Beginn einer neuen politischen und staatlichen Konstellation, die sich dauerhaft durch ihre Krisenhaftigkeit auszeichnen wird. Der Grund hierfür liegt darin, dass in den Protesten die »Metapolifesti« von unten aufgekündigt wird, denn, wie es ein Artikel auf der Internetplattform Indymedia auf den Punkt brachte, viele Menschen haben „aufgehört, in den Kategorien des Systems zu denken“.14

Perspektiven

Die Praxis und Bedeutung des Streiks verändern sich zusehends. Der Bruch breiter Teile der Bevölkerung mit dem Staat öffnet die Streikbewegungen für autonome Taktiken und Strategien. Gleichzeitig erodiert das Institutionelle Machtpotential der großen Gewerkschaften aufgrund des Transformationsprozesses des Staates. Eine These wäre demnach: Die Auseinandersetzungen werden zusehends härter werden. Das kann auch für andere Länder gelten, die sich im transnationalen Krisenregime befinden.

Gleichzeitig dehnen sich in Griechenland Zonen prekärer Beschäftigung aus, was auch in anderen Krisenländern vermehrt zu beobachten ist. In diesen Zonen entstanden in den letzten Jahren 25 neue Basisgewerkschaften, die dem A/A-Spektrum nahe stehen und stark auf die Organisierung der prekären ArbeiterInnen setzen. Dies ist noch kein mehrheitsfähiger Trend in den Klassenkämpfen Griechenlands, doch zeichnet sich darin eine Tendenz ab, die in Europa schulbildend werden könnte, nämlich die primäre Konzentration auf die Organisierung der ArbeiterInnen sowie deren Konfliktfähigkeit und erst danach die Organisierung der Arbeit auf regulatorischer Ebene. Mit der Zerschlagung der Flächentarifstrukturen und der Verbetrieblichung der Lohnpolitik muss stärker auf die Organisationskraft in den Betrieben gesetzt werden. Auch dies ist ein Umstand, der europaweit in unterschiedlicher Intensität zu beobachten ist.

Gerade weil Griechenland eine zugespitzte Situation erlebt, treten hier die Widersprüche eines krisenhaften Neoliberalismus offen zu Tage. Das Land öffnet damit trotz seiner Besonderheiten einen Blick auf das, was europaweit an Entwicklungen in Sachen Streik anstehen könnte: „Wir sind ein Bild eurer Zukunft.“ (Spruch der Revoltierenden Prekären in Athen 2008)

Anmerkungen

1) Vgl. Thomas Sablowski (2006): Krise und Staatlichkeit bei Poulantzas. In: Lars Bretthauser et al.: Poulantzas lesen. Zur Aktualität marxistischer Staatstheorie. Hamburg: VSA.

2) PASOK = Panellinio Sosialistiko Kinima (Panhellenische Sozialistische Bewegung); ND = Nea Dimokratia (Neue Demokratie)

3) Vgl. dazu: Ulrich Brinkmann et al. (2008): Strategic Unionism. Aus der Krise zur Erneuerung – Umrisse eine Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

4) Vgl. dazu Christos Giovanopoulos and Dimitirs Dalakoglou (2010): From rupture to eruption: A genealogy of post-dictatorial revolts in Greece. In: Antonis Vradis and Dimitirs Dalakoglou (eds.):Revolt and Crisis in Greece. Between a present yet to pass and a future still to come. Oakland/Edinburgh/London/Athens: AK Press/Occupied London.

5) Krestsos, Lefteris (2011): Union responses to the rise of precarious youth employment in Greece. In. Industrial Relations Journal 42:5.

6) Vgl. dazu John Malamatinas (2011): Die Krisenproteste in Griechenland. In: Detlef Hartmann und John Malamatinas: Krisenlabor Griechenland. Finanzmärkte, Kämpfe und die Neuordnung Europas. Berlin: Assoziation A, Materialien für einen neuen Antiimperialismus Heft 9.

7) Giovanopoulos and Dimitirs Dalakoglou, op. cit.

8) Lefteris Krestos/ Markaki M. (2008): Learn to Play Judo. Union Revitalization Strategies in Southern Europe and the 700 Euro Movement. Paper presented at IWPLMS Confernce in Porto, Portugal.

9) Horen Voskeritsianand Andreas Kornelakis (2011): Institutional Change in Greek Industrial Relations in an Era of Fiscal Crisis. London School of Econimics and Political Science (LSE), GreeSE Paper No.52 – Hellenic Observatory Papers on Greece and Southeast Europe.

10) Der Troika gehören Vertreter der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission an. Das Gremium führt Verhandlungen für Reformprogramme mit Mitgliedern der Euro-Gruppe, deren Staatshaushalt das vereinbarte Defizitlimit überschreitet.

11) Vgl. Ulrich Brand und Christoph Görg (2003): Postfordistische Naturverhältnisse. Konflikte um genetische Ressourcen und die Internationalisierung des Staates. Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot.

12) KKE = Kommounistikó Kómma Elládas (Kommunistische Partei Griechenlands); SYRIZA = SYRIZA – Enotiko Kinoniko Metopo (SYRIZA – Vereinte Soziale Front).

13) LAOS = Laikós Orthódoxos Synagermós (Völkischer Orthodoxer Alarm).

14) RaGeo: Viele Menschen haben aufgehört in den Kategorien des Systems zu denken – Griechenland: Ein Interview. Indymedia, 24.9.2013.

Mario Becksteiner ist Stipendiat der Hans Böckler Stiftung und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Arbeitssubjektivität, Soziale Bewegungen und Streik.